Brechts Metamorphosen: Von Jesus zu Stirner, Lenin und Lao-tse 9783495824160, 9783495491478


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Table of contents :
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Inhalt
Vorwort
Einleitung
1) Brechts Kämpfe »mit mir gegen mich«
Erinnerungen
2) »Ich muss immer dichten.«
3) Stirner und Lao-tse
4) Ausblicke
Kapitel I: Gläubigkeiten und Ergriffenheiten oder Die Frage nach Sünde, Schuld und Buße
1.1 Im Würgegriff der Herzneurose
Auslassungen eines Märtyrers
Die Bekenntnisse eines Erstkommunikanden
1.2 »Ich bin’s, ich sollte büßen.«
1.3 Passions-Szenarios
1.4 »Wir opfern uns gern.«
Der brennende Baum
Ecce homo
Ardens sed virens
1.5 Erste Zweifel
Sorge
Emaus
Der Hagel
1.6 »Heil mir, dass ich Ergriffene sehe!«
Der heilige Gewinn
Kriegsfürsorge
Hans lody
Der Tod fürs Vaterland
Der Fähnrich
1.7 Der fremde Mann
Epilog
Kapitel II: Umbrüche und Aufbrüche oder Die Suche nach der »Anima naturaliter pagana«
2.1 Einleitung
Das Beschwerdelied
Serenade
2.2 Umbrüche »im Banne Griechenlands«
2.2.1 Goethe und Heine
2.2.2 Feuerbach
2.2.3 Nietzsche
2.3 Der Umbruch im Zeichen Baals
2.3.1 Der biblische Baal
2.3.2 Der Baal des jungen Brecht
Unerhörte Möglichkeiten
Vom Schwimmen in Seen und Flüssen
nasses gedicht
Das Schiff
Grosser Dankchoral
Lobgesang nach: Befiehl du deine Wege
Hymne an Gott
Gegen Verführung
Als ich im weissen Krankenzimmer der Charité
2.4 Der Umbruch im Zeichen Stirners
2.4.1 Das Geheimnis der hohen Stirn
Lied an Herrn Münsterer
2.4.2 Forschungslücken und Forschungsansätze
Gegen Verführung
2.4.3 Stirners Frohe Botschaft für den jungen Brecht
Philosophisches Tanzlied
Lied von den Seligen
2.4.4 Stirners Kritik der gläubigen Unvernunft
2.5 Bilanz und Ausblick
Kapitel III: Selbstverausgabungen und Verklärungen oder Der Einzige Baal und sein Eigentum
3 Vom Einsamen zum Einzigen
3.1 Johsts Einsamer Grabbe
3.2 Brechts Einziger Baal
3.2.1 Der Choral vom grossen Baal
3.2.2 »Baal frisst«
3.2.3 Baal verzehrt sich
3.2.4 »Baal tanzt«
Philosophisches Tanzlied
3.2.5 »Baal verklärt sich«
Der Tod im Wald
3.3 Bilanz und Ausblick
Kapitel IV: Vereinzigungen und Aneignungen oder Der Einzige Kragler und sein Eigentum
4.1 Brechts spätes Unbehagen an seinem frühen Stück
4.2 Kraglers Emanzipation zum Eigner seiner selbst
4.3 Partei und Verein
4.4 Revolutionäre und Empörer
4.5. Bilanz und Ausblick
Kapitel V: Enteinzigungen und Enteignungen oder Der Einzige im Sog des Man
5.1 Einleitung
5.2 Man ist Man
Lied der Kämpfer
5.3 Man ist Niemand
5.4 »Verwisch die Spuren!«
5.5 Bilanz und Ausblick
Kapitel VI: Vereisungen und Gefeitheiten oder Der Kult des kalten Herzens
6.1 Einleitung
6.2 Haltungen tendenzieller Unbetroffenheit: kynisch, zynisch, stoisch, sachlich
Porträt eines Schriftstellers
Septembermorgen
6.3 Exerzitien tendenzieller Unbetroffenheit
6.3.1 »Ist es nicht kälter geworden?«
Eispalast
6.3.2 »Nicht mit dem Herzen, sondern kalt!«
Vereinsamt
Ratschläge einer älteren Fohse an eine jüngere.
6.3.3 Baal III
Ballade von den Abenteurern
6.4 Bilanz und Ausblick
Kapitel VII: Verkennungen und Verblendungen �oder �Weh dem, der mitgeht!
7.1 Einleitung
7.2 Zur Ätiologie des Mitgehens
7.3 Die Einfühlungstheorie
7.4 Brechts Rezeption und Kritik der Einfühlungstheorie
7.5 Platons theatralische Sendung
7.6 Bilanz und Ausblick
Kapitel VIII: Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden oder Weh dem, der seinem Herzen folgt!
8.1 Einleitung
8.2 Neue Gläubigkeiten
Vergiss nicht, dies sind die Jahre
8.3 »Mosaische Unterscheidungen« aller Art
Wer aber ist die Partei
8.4 Das Prinzip Einverständnis
8.5 Selbstbelehrungen aller Art
8.5.1 Ein Lehrstück über Egoismen aller Art
8.5.2 Ein Lehrstück über das Einverständnis mit Enteinzigungen und Enteignungen aller Art
8.5.3 Ein Lehrstück über das Einverständnis mit Säuberungen aller Art
8.5.3.1 Der Handlungsverlauf
8.5.3.2 Lehrstück-Theorie und Lehrstück-Praxis
8.5.3.3 Die ›bürgerliche‹ Rezeption der Massnahme
8.5.3.4 Die kommunistische Rezeption der Massnahme
8.6 Bilanz der Lehrstücks-Phase
8.7 Weitere Aufkündigungen
8.8 Mutter Partei
8.9 Ausblick
Kapitel IX: Erwärmungen und Aufschmelzungen oder Die Entdeckung des ›sanften Prinzips‹
9.1 Einleitung
9.2 Leben »in finsteren Zeiten«
9.2.1 Gewalt-Phantasien aus dem Geiste Lenins
Anrede
9.2.2 Gewalt-Maßnahmen aus dem Geiste Stalins
Gedanken über die Dauer des Exils
9.2.3 Gewalt-Rechtfertigung im Geiste der Soziodizee
Ist das Volk unfehlbar?
9.3 Gewalt-Abwehr im Geiste des Herrn Keuner
9.4 Gewalt-Kritik aus dem Geiste des Lao-tse
9.4.1 Brechts Entdeckung des Taoteking
Die Krücken
Die höflichen Chinesen
Legende von der Entstehung des Buches Taoteking [srtn]auf dem Weg des Laotse in die Emigration
Das Lied vom Rauch
9.4.2 Brechts Aneignung des Taoteking
9.4.3 Das ›sanfte Prinzip‹ und die Frage »Wer wen?«
9.5 Die Wiederkehr des ›Guten Menschen‹
9.5.1 Einleitung
9.5.2 Der ›Gute Mensch‹ in Brechts Frühwerk
9.5.3 Der ›Gute Mensch‹ und die Forderungen des Kollektivs
9.5.4 Die ›Guten Menschen‹ und das ›sanfte Prinzip‹
9.6 »Und er gürtete den Schuh.«
Kapitel X: Zumutungen und Entmutigungen oder Die Frage: »Wer wen?«
10.1 Einleitung
10.2 Zumutung I: Der Streit um die Lukullus-Oper
10.2.1 Die kulturpolitischen Rahmenbedingungen
10.2.2 Der Kampf um Werk und Aufführung
10.3 Zumutung II: Der Streit um Eislers Faustus-Libretto
10.3.1 Eislers Faustus-Libretto im Kontext der Faust-Literatur
10.3.2 Der Prozess gegen Eislers Faustus-Libretto
10.4 Zumutung III: Der Aufstand vom 17. Juni 1953 und der böse Morgen danach
Die Lösung
10.5 Entmutigung I: Verfremdete Existenz
Böser Morgen
Dann wieder war ich in Buckow
10.6 Entmutigung II: »Ich bin’s, ich sollte büßen!«
Nicht feststellbare Fehler der Kunstkommission
Nicht so gemeint
Der Zar hat mit ihnen gesprochen
10.7 Wer wen? – Eine Bilanz.
10.8 Confessio »in finsteren Zeiten«
An die Nachgeborenen
Anmerkungen
Abbildungen
Nachwort
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Brechts Metamorphosen: Von Jesus zu Stirner, Lenin und Lao-tse
 9783495824160, 9783495491478

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Literatur & Philosophie

Lenz Prütting

Brechts Metamorphosen Von Jesus zu Stirner, Lenin und Lao-tse

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495824160

.

B

Lenz Prütting Brechts Metamorphosen

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Literatur & Philosophie Herausgegeben von Jennifer Pawlik und René Torkler Wissenschaftlicher Beirat: Katharina Bauer, Monika Class, Josef Früchtl, Barbara Hahn, Vittorio Hösle Band 1

https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Lenz Prütting

Brechts Metamorphosen Von Jesus zu Stirner, Lenin und Lao-tse

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Lenz Prütting Brecht’s metamorphoses From Jesus to Stirner, Lenin and Lao-tse Bertolt Brecht was not only a Marxist, but in the course of his intellectual development he adopted a whole range of religious and philosophical positions and made them fruitful for his poetic work. The present study takes a closer look at those positions which have been neglected so far, overlooked or simply denied in Brecht’s research: the pietistically influenced national Protestant beginnings of the very young author in his Augsburg period, the neo-pagan attitude under the sign of the biblical Baal, the close orientation to the philosophy of Max Stirner in the early Augsburg dramas and the equally close orientation to Lao-tse in the late classical works.

The Author: Lenz Prütting, born in 1940, studied philosophy, literature and theatre studies in Erlangen and Munich. After his dissertation and after ten years of work at the Institute for Theatre Studies at the University of Munich, he went into theatre practice and worked at various theatres as a dramaturg and director as well as translator of dramatic texts (Shakespeare, Molière, Synge).

https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Lenz Prütting Brechts Metamorphosen Von Jesus zu Stirner, Lenin und Lao-tse Bertolt Brecht war nicht nur Marxist, sondern hat im Laufe seiner geistigen Entwicklung eine ganze Reihe von religiösen und philosophischen Positionen eingenommen und für sein poetisches Werk fruchtbar gemacht. Die vorliegende Studie fasst diejenigen Positionen näher ins Auge, welche bisher in der Brecht-Forschung zu kurz gekommen, übersehen oder schlichtweg geleugnet worden sind: die pietistisch geprägten nationalprotestantischen Anfänge des ganz jungen Autors in seiner Augsburger Zeit, die neuheidnische Gesinnung im Zeichen des biblischen Baal, die enge Orientierung an der Philosophie von Max Stirner in den frühen Augsburger Dramen und die ebenso enge Orientierung an Lao-tse in den späten klassischen Werken.

Der Autor: Lenz Prütting, Jahrgang 1940, begann sein Berufsleben als Bergmann im Ruhrgebiet, machte dann Abitur und studierte in Erlangen und München Philosophie, Literatur- und Theaterwissenschaft. Nach seiner Dissertation und nach zehn Jahren Arbeit am Institut für Theaterwissenschaft der Universität München ging er in die Theaterpraxis und wirkte dort an verschiedenen Theatern als Dramaturg und Regisseur sowie als Übersetzer dramatischer Texte (Shakespeare, Molière, Synge). Im Verlag Alber sind vom Autor bereits erschienen: Homo ridens. Eine phänomenologische Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens (2016); Seinem Führer treu ergeben. Mein Vater im Dritten Reich (2019).

https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49147-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82416-0

https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Ein Mann mit einer Theorie ist verloren. Er muss mehrere haben, vier, viele! Er muss sie sich in die Taschen stopfen wie Zeitungen, immer die neuesten, es lebt sich gut zwischen ihnen, man haust angenehm zwischen den Theorien. Brecht

https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Für Rudi Schweikert alias Rudi ben Nemsi

https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Inhalt

Vorwort

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17

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1) Brechts Kämpfe »mit mir gegen mich« 2) »Ich muss immer dichten.« . . . . . 3) Stirner und Lao-tse . . . . . . . . . 4) Ausblicke . . . . . . . . . . . . . .

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19 19 27 33 35

Kapitel I Gläubigkeiten und Ergriffenheiten oder Die Frage nach Sünde, Schuld und Buße . 1.1 Im Würgegriff der Herzneurose . . 1.2 »Ich bin’s, ich sollte büßen.« . . . . 1.3 Passions-Szenarios . . . . . . . . . 1.4 »Wir opfern uns gern.« . . . . . . 1.5 Erste Zweifel . . . . . . . . . . . . 1.6 »Heil mir, dass ich Ergriffene sehe!« 1.7 Der fremde Mann . . . . . . . . .

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38 38 44 50 56 62 69 74

Kapitel II Umbrüche und Aufbrüche oder Die Suche nach der »Anima naturaliter pagana« 2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Umbrüche »im Banne Griechenlands« . . 2.2.1 Goethe und Heine . . . . . . . . . 2.2.2 Feuerbach . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Nietzsche . . . . . . . . . . . . .

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76 76 80 80 85 88

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11 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Inhalt

2.3 Der Umbruch im Zeichen Baals . . . . . . . . . . . 2.3.1 Der biblische Baal . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Der Baal des jungen Brecht . . . . . . . . . . 2.4 Der Umbruch im Zeichen Stirners . . . . . . . . . . 2.4.1 Das Geheimnis der hohen Stirn . . . . . . . . 2.4.2 Forschungslücken und Forschungsansätze . . . 2.4.3 Stirners Frohe Botschaft für den jungen Brecht 2.4.4 Stirners Kritik der gläubigen Unvernunft . . . 2.5 Bilanz und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . .

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93 93 101 117 117 126 135 144 149

Kapitel III Selbstverausgabungen und Verklärungen oder Der Einzige Baal und sein Eigentum . . . . . . . . . . . . . .

152

3 Vom Einsamen zum Einzigen . . . . 3.1 Johsts Einsamer Grabbe . . . . . . 3.2 Brechts Einziger Baal . . . . . . . 3.2.1 Der Choral vom großen Baal 3.2.2 »Baal frisst« . . . . . . . . . 3.2.3 Baal verzehrt sich . . . . . . 3.2.4 »Baal tanzt« . . . . . . . . . 3.2.5 »Baal verklärt sich« . . . . . 3.3 Bilanz und Ausblick . . . . . . . .

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Kapitel IV Vereinzigungen und Aneignungen oder Der Einzige Kragler und sein Eigentum . . . . . . . . . 4.1 Brechts spätes Unbehagen an seinem frühen Stück 4.2 Kraglers Emanzipation zum Eigner seiner selbst . 4.3 Partei und Verein . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Revolutionäre und Empörer . . . . . . . . . . . 4.5 Bilanz und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . .

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152 152 156 157 160 166 169 172 180

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182 182 190 195 198 201

12 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Inhalt

Kapitel V Enteinzigungen und Enteignungen oder Der Einzige im Sog des Man . . . . . 5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . 5.2 Man ist Man . . . . . . . . . . 5.3 Man ist Niemand . . . . . . . 5.4 »Verwisch die Spuren!« . . . . 5.5 Bilanz und Ausblick . . . . . .

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Kapitel VI Vereisungen und Gefeitheiten oder Der Kult des kalten Herzens . . . . . . . . . . . . 6.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Haltungen tendenzieller Unbetroffenheit: kynisch, zynisch, stoisch, sachlich . . . . . . 6.3 Exerzitien tendenzieller Unbetroffenheit . . 6.3.1 »Ist es nicht kälter geworden?« . . . . 6.3.2 »Nicht mit dem Herzen, sondern kalt!« 6.3.3 Baal III . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Bilanz und Ausblick . . . . . . . . . . . . .

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205 205 208 223 228 235

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237 245 245 251 260 264

Kapitel VII Verkennungen und Verblendungen oder Weh dem, der mitgeht! . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Zur Ätiologie des Mitgehens . . . . . . . . . . . . . 7.3 Die Einfühlungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Brechts Rezeption und Kritik der Einfühlungstheorie 7.5 Platons theatralische Sendung . . . . . . . . . . . . 7.6 Bilanz und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . .

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265 265 267 279 283 289 292

13 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Inhalt

Kapitel VIII Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden oder Weh dem, der seinem Herzen folgt! . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Neue Gläubigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 »Mosaische Unterscheidungen« aller Art . . . . . . . . 8.4 Das Prinzip Einverständnis . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Selbstbelehrungen aller Art . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.1 Ein Lehrstück über Egoismen aller Art . . . . . . 8.5.2 Ein Lehrstück über das Einverständnis mit Enteinzigungen und Enteignungen aller Art . . . 8.5.3 Ein Lehrstück über das Einverständnis mit Säuberungen aller Art . . . . . . . . . . . . . . 8.5.3.1 Der Handlungsverlauf . . . . . . . . . . . 8.5.3.2 Lehrstück-Theorie und Lehrstück-Praxis . . 8.5.3.3 Die ›bürgerliche‹ Rezeption der Massnahme 8.5.3.4 Die kommunistische Rezeption der Massnahme . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Bilanz der Lehrstück-Phase . . . . . . . . . . . . . . . 8.7 Weitere Aufkündigungen . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8 Mutter Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.9 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel IX Erwärmungen und Aufschmelzungen oder Die Entdeckung des ›sanften Prinzips‹ . . . . . . . . . . . . 9.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Leben »in finsteren Zeiten« . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Gewalt-Phantasien im Geiste Lenins . . . . . . 9.2.2 Gewalt-Maßnahmen im Geiste Stalins . . . . . 9.2.3 Gewalt-Rechtfertigung im Geiste der Soziodizee 9.3 Gewalt-Abwehr im Geiste des Herrn Keuner . . . . . 9.4 Gewalt-Kritik aus dem Geiste des Lao-tse . . . . . . . 9.4.1 Brechts Entdeckung des Taoteking . . . . . . . 9.4.2 Brechts Aneignung des Taoteking . . . . . . . 9.4.3 Das ›sanfte Prinzip‹ und die Frage »Wer wen?« . 14 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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295 295 301 309 317 320 320 326 337 337 343 345 351 359 362 367 370

372 372 374 374 383 389 398 408 408 420 432

Inhalt

9.5 Die Wiederkehr des ›Guten Menschen‹ . . . . . . . 9.5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5.2 Der ›Gute Mensch‹ in Brechts Frühwerk . . . 9.5.3 Der ›Gute Mensch‹ und die Forderungen des Kollektivs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5.4 Die ›Guten Menschen‹ und das ›sanfte Prinzip‹ 9.6 »Und er gürtete den Schuh.« . . . . . . . . . . . . .

. . 443 . . 443 . . 446 . . 452 . . 453 . . 475

Kapitel X Zumutungen und Entmutigungen oder Die Frage: »Wer wen?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Zumutung I: Der Streit um die Lukullus-Oper . . . . 10.2.1 Die kulturpolitischen Rahmenbedingungen . . 10.2.2 Der Kampf um Werk und Aufführung . . . . . 10.3 Zumutung II: Der Streit um Eislers Faustus-Libretto . 10.3.1 Eislers Faustus-Libretto im Kontext der FaustLiteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2 Der Prozess gegen Eislers Faustus-Libretto . . 10.4 Zumutung III: Der Aufstand vom 17. Juni 1953 und der böse Morgen danach . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Entmutigung I: Verfremdete Existenz . . . . . . . . . 10.6 Entmutigung II: »Ich bin’s, ich sollte büßen!« . . . . . 10.7 Wer wen? – Eine Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . 10.8 Confessio »in finsteren Zeiten« . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

483 483 489 489 497 507

. 507 . 524 . . . . .

534 540 555 563 565

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

568

Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

629

15 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Vorwort

Brecht war nicht nur Marxist, auch wenn uns dies viele Vertreter der Brecht-Philologie lange Jahre hindurch gepredigt haben mochten, sondern hat im Laufe seiner geistigen Entwicklung eine ganze Reihe von religiösen und philosophischen Positionen eingenommen und für sein poetisches Werk fruchtbar gemacht, von denen die marxistische nur eine von vielen gewesen ist, und wahrscheinlich nicht einmal die wichtigste und die poetisch fruchtbarste schon gar nicht. Aus diesem Grund bietet es sich an, ganz unbefangen und mit einem neuen Blick auf Brecht und sein Werk bei der inneren Dynamik dieser immer wieder erfolgten Umbrüche und neuen Aufbrüche anzusetzen und die einzelnen Stationen dieser ideologischen Entwicklung aufzuzeigen und ausführlich darzulegen, wie diese aufgegriffen, überwunden und wieder aufgekündigt worden sind, und dabei vor allem die Positionen näher ins Auge zu fassen, die bisher in der Brecht-Forschung zu kurz gekommen, übersehen oder schlichtweg geleugnet worden sind: die pietistisch geprägten nationalprotestantischen Anfänge des ganz jungen Autors in seiner Augsburger Zeit, die neuheidnische Gesinnung im Zeichen des biblischen Baal, die enge Orientierung an der Philosophie von Max Stirner in den frühen Augsburger Dramen und die ebenso enge Orientierung an Lao-tse in den späten klassischen Werken. Die Frage aber, wer in all diesen Wandlungen und Phasen der wahre Brecht gewesen sei, stellt sich somit nicht, denn wer möchte sich erdreisten, die Frage nach der wahren Farbe eines Chamäleons überzeugend beantworten zu wollen?

17 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Einleitung

1)

Brechts Kämpfe »mit mir gegen mich«

Auf den letzten Seiten seiner monumentalen Brecht-Biographie, mit der er dem Leser verspricht, Brechts »Umgang mit den Welträtseln« 1 darzustellen und zu deuten, muss Werner Mittenzwei eingestehen, dass für ihn bestimmte Verhaltensweisen Brechts völlig rätselhaft geblieben seien, denn er schreibt: »Bei den Begräbnisvorbereitungen stellte sich heraus, dass Brecht, den viele [und sicher auch Mittenzwei selbst, L. P.] für einen ausgesprochenen Rationalisten hielten, einige Merkwürdigkeiten mit sich herumgeschleppt hatte, die den Tod betrafen. So hatte er verfügt, dass ihm die Ärzte die Herzschlagader öffneten, denn er ängstigte sich zeitlebens, er könne scheintot begraben werden. Der Eingriff wurde am 15. August mittags vorgenommen, bevor man den Sarg schloss. Weiterhin wollte er in einem Stahlsarg begraben werden.« (II,664)

Dass Brecht zeit seines Lebens von der Angst geplagt gewesen sei, er könne einmal scheintot begraben werden, belegt Mittenzwei allerdings nicht durch ein explizites autobiographisches Zeugnis, sondern behauptet dies einfachhin, weil ihm diese traditionelle Erklärung für diese auf den ersten Blick so seltsame Verfügung wohl am plausibelsten erschien. 2 Denn ganz so aus der Luft gegriffen ist diese Erklärung ja auch wieder nicht, weil es v. a. im 19. Jahrhundert eine ganze Reihe von Autoren gegeben hat, die von der gleichen Angst umgetrieben worden sind, wie z. B. Nestroy, Poe, Gogol, Lenau, Keller, Schopenhauer und Schnitzler, sodass dieses Thema des Scheintodes in der Literatur des 19. Jahrhunderts 3 denn auch eine gewisse Rolle gespielt hat. Dann fährt Mittenzwei fort: »Aus solchen Details zu schließen, dass es in Brechts Denken eine verborgene Schicht gegeben habe, in der das Wunderbare, das Abseitige und Geheimnis-volle nisteten, wäre ganz verfehlt.« (II,664)

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Einleitung

Doch dann nimmt er diese Behauptung sofort wieder weitgehend zurück und bietet das Argument an: »Bei Menschen, die ihr ganzes Leben unter eine große Aufgabe gestellt haben, bleibt meist ein Rest, der nicht in Übereinstimmung zu bringen ist mit den Denkgewohnheiten, die sie ein Leben lang verfolgen. Brecht selber wusste darum, daß nicht alles in einem Menschen auf einen Nenner zu bringen ist, dass Abseitiges bleibt, ohne dass es das Wesen in Frage stellt.« (II,664)

Einige Seiten vorher hatte Mittenzwei schon vorsichtig eine ganz andere Erklärung für diese so irritierende letztwillige Verfügung angedeutet, die in der Behauptung bestand, Brecht habe aus seiner Augsburger Kindheit auch »viel Abergläubisches« (II,656) bis an sein Lebensende mit sich herumgeschleppt. Worin diese »abergläubischen« Kindheitsreste bestanden haben könnten, auf die Mittenzwei hier anspielt, und in welcher Verbindung sie mit dieser seltsamen letztwilligen Verfügung stehen, wird deutlich in einem Gedicht, das Brecht kurz nach dem Tod seiner Mutter geschrieben hat und das diese »abergläubischen« Kindheitsreste heraufbeschwört, auf das Mittenzwei in diesem Zusammenhang aber nicht verweist, welches hier aber zitiert werden muss: Erinnerungen Meine Mutter sagte: die Einfältigen liebt der Herr, Kind Und legte mir die Bibel immer auf den Tisch Ich habe drin gelesen, bis mir die Augen zugefallen sind Dann war ich am anderen Morgen auch frisch. Ich war immer gern lang auf dem Abort Und meine Mutter schämte sich vor andern Leuten dessen Und ich hörte oft aus ihrem Mund das Wort: Die Drohnen werden von den Bienen gefressen. Den tiefen Sinn verstand ich damals noch nicht Jetzt liegt meine Mutter unter der Erde Ich höre sie noch, wie sie meinen Konfirmationsspruch spricht: Es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde. 4

Brechts Konfirmationsspruch, den seine überaus fromme Mutter für ihren vermeintlich herzkranken »Aigin« ausgesucht hatte (so sprach sie seinen Vornamen Eugen aus), stammt aus dem Brief des Paulus an die Hebräer und lautet in der Lutherbibel: 20 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Brechts Kämpfe »mit mir gegen mich«

»Lasset euch nicht mit mancherlei und fremden Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.« (Hebr. 13,9)

Wir werden sehen, dass sich Brecht zwar sehr wohl mit »fremden Lehren« aller Art »umtrieb«, das in seinem Konfirmationsspruch formulierte Programm aber tatsächlich in die Lebenspraxis umzusetzen suchte, wenn auch auf eine ganz andere Art und Weise, als seine Mutter dies wohl beabsichtigt haben mochte, denn diese lebenspraktische Umsetzung bestand in dem Entschluss, das eigene Herz völlig dem eigenen Willen zu unterwerfen, und das hieß eben: »Ich kommandiere mein Herz.« 5 Und diese rabiate letztwillige Verfügung des alten Brecht, nach seinem eigenen Tod auch sein Herz eigens noch zerstören und damit endgültig stillstellen zu lassen, hieß doch wohl: »Ich kommandiere mein Herz auch noch über meinen eigenen Tod hinaus.« Es wäre dies somit der letzte Schritt in dem lebenslangen Bestreben, die uneingeschränkte Herrschaft über das eigene Herz und über alles zu behalten, wofür das Herz stellvertretend steht. So gesehen gibt es also viel triftigere Gründe für diese letztwillige Verfügung als die Angst davor, lebendig begraben zu werden. Werner Mittenzweis Scheu, näher auf diese »abergläubischen« Kindheitsreste einzugehen, dürfte zwei Gründe gehabt haben. Der eine Grund könnte darin bestanden haben, dass er durch die Darstellung dieser Augsburger Kindheitsreste das Bild des marxistisch orientierten Rationalisten, das er über tausend Seiten hinweg von Brecht entworfen hatte, wieder hätte beeinträchtigen oder gar widerrufen müssen. Und der andere Grund bestand wohl darin, dass er zur Erörterung dieser Augsburger Kindheitsreste allzu viele Anleihen bei der ›bürgerlichen‹ Wissenschaft hätte nehmen müssen, was er sich als der langjährige Inhaber des Lehrstuhls für Geisteswissenschaften beim ZK der SED 6 wohl nicht erlauben wollte. Doch all dies mindert den Wert seiner überaus informativen Brecht-Biographie in keiner Weise. Auf die wegweisende Studie von Carl Pietzcker über Brechts Herzneurose 7 oder den umfangreichen Aufsatz des Psychologen Hans A. Hartmann 8 konnte er zwar nicht zurückgreifen, weil diese, als er seine Brecht-Biographie abgeschlossen hatte, noch nicht erschienen waren. Er hätte aber sehr wohl die Studie von Horst-Eberhard Richter und Dieter Beckmann über Herzneurosen 9 zu Rate zie21 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Einleitung

hen können, die schon seit den frühen siebziger Jahren vorlag und wiederum als Grundlage für Pietzckers und Hartmanns Studien diente. Hier hätte er einen Deutungsansatz finden und aufgreifen können, um Brechts letztwillige Verfügung als einen zwar reichlich rabiaten, aber doch in sich konsequenten letzten Schritt eines lebenslangen Kampfes gegen das eigene Herz zu deuten, der ja auch in Brechts Werk in einem fort ausagiert wird, wenn z. B. bestimmte Gestalten seiner Stücke, die der Stimme des eigenen Herzens folgen, sofort gnadenlos vernichtet werden. Jan Knopf hätte für seine Brecht-Biographie Carl Pietzckers Studie sehr wohl zu Rate ziehen können, fegt sie aber mit einer verächtlichen Handbewegung vom Tisch, wenn er das Kapitel Herzneurose: Fehlanzeige mit den Sätzen beendet: »Dass er [Brecht, L. P.] sein Verhalten und Denken, einschließlich sein Schreiben, unbeherrschten oder gar unbewussten Kräften auslieferte, wie das bei Neurotikern der Fall sein könnte, ist nicht belegt. Dass er Angst hatte, an den Herzschocks zu sterben, lässt sich ebenfalls nur mit Anstrengung neurotisch deuten; denn Extrasystolen (unregelmäßiger, zu schneller Herzschlag) lösen physische Beklemmungen und damit Angstzustände aus, die vorbei sind, wenn die Attacke überstanden ist. Alle Äußerungen Brechts gehen in diese Richtung. Dieses Thema ist damit ad acta zu legen.« 10

In den drei letzten Kapiteln seiner Brecht-Biographie geht Knopf zwar ausführlich auf Brechts Gesundheitszustand ein, auch auf die nach dem 17. Juni 1953 »plötzlich wieder auftretenden Herzbeschwerden« (S. 507) und deren Behandlung, kommt aber nicht auf die Idee, dass diese »plötzlich« wieder aufgetretenen Herzbeschwerden eine neue Herzneurose und somit eine psychosomatische Antwort auf die tiefe Verstörung durch den 17. Juni 1953 hätte sein können, und erwähnt Brechts rabiate letztwillige Verfügung auch mit keinem Wort. 11 Dass Knopf der Argumentation Pietzckers weder folgen wollte noch ihr folgen konnte, zeigt schon der erste Satz des betreffenden Kapitels, in dem es heißt, es gelte als ausgemacht, »Brecht habe unter einer angeborenen (!) Herzneurose gelitten, die wesentlich sein poetisches Werk bestimmte.« (S. 16) Doch das hatte ja niemand behauptet, und Pietzcker und Hartmann schon gar nicht, denn kein Psychologe wird je von einer »angeborenen« Herzneurose reden, weil eine Herzneurose ein Verhalten ist, mit dem man auf eine akute bedrängende Situation antwortet, die erst mal vorhanden sein muss, damit 22 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Brechts Kämpfe »mit mir gegen mich«

man auf sie reagieren kann, und dann reagiert man auf sie eben mit allem, was man ist und hat und kann und tut, also synergetisch. Der 17. Juni 1953, der für Brecht, wie er im Tagebuch notiert, »die ganze Existenz verfremdet« 12 hatte, war so eine synergetisch bedrängende Situation, auf die er als Autor zwar mit den Buckower Elegien und mit dem Turandot-Stück reagierte, als Person aber auch mit dieser »plötzlich« wieder auftretenden Herzneurose, die sich nun aber als besonders fatal erwies, weil sie sich an einem eh schon kranken Herzen austobte. Bei Jan Knopfs verächtlicher Abweisung psychoanalytischer Methoden für die Analyse literarischer Werke hat wohl Brecht selbst Pate gestanden, der die Psychoanalyse immer zutiefst verachtete und sie im Hinblick auf ihre Wissenschaftlichkeit noch jenseits der Astrologie 13 ansiedelte. Das mochte vielleicht für die Psychoanalytiker der ersten Generation gelten, die noch die erkenntnis-theoretischen Hypotheken ihres Lehrers 14 mit sich herumschleppten, nicht jedoch für die der dritten Generation, zu der eben auch Autoren wie Carl Pietzcker, Walter Muschg oder Peter von Matt gehören. An diesem Punkt setzt nun meine eigene Untersuchung an, indem ich den jungen Berthold Eugen Brecht selbst beim Wort nehme und von einem Eintrag im Tagebuch vom 21. Oktober 1916 ausgehe, in dem es heißt: »Ich kommandiere mein Herz. Ich verhänge den Belagerungszustand über mein Herz. Es ist schön, zu leben.« 15

Am Tag darauf heißt es dann allerdings wieder: »Nein, es ist sinnlos, zu leben. Heute Nacht habe ich einen Herzkrampf bekommen, dass ich staunte, diesmal leistete der Teufel erstklassige Arbeit. Heute philosophiere ich wieder … Ich bin schon etwas verdorben, wild und hart und herrschsüchtig. Wenn ich jemand hätte, der still ist und gütig und mit mir gegen mich kämpfen wollte, könnte alles wieder gut werden.« 16

Hier hätte auch schon Mittenzwei ansetzen können, denn in diesem Eintrag des 18-Jährigen ist der Kreuzzug schon vorformuliert, den der erwachsene Brecht dann zeit seines Lebens »mit mir gegen mich« und zugleich damit gegen sein Herz führen sollte, und der dann in dieser rabiaten letztwilligen Verfügung seinen krönenden Abschluss gefunden hat.

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Einleitung

Mittenzwei hätte sich aber auch an der Studie der Brüder Hartmut und Gernot Böhme Das Andere der Vernunft 17 orientieren können, die am Beispiel Kants aufgezeigt haben, zu welchen Verlusten es führen muss, wenn eine radikal einseitige Form von Rationalität Denken und Handeln bestimmt, denn auch bei Kant ließe sich dieser Kampf »mit mir gegen mich« nachweisen, und das heißt eben auch gegen das eigene Herz mit dem Ziel, dieses restlos dem eigenen Willen verfügbar zu machen. Auch diese Orientierung musste sich Werner Mittenzwei verbieten, weil auch dieses Werk für ihn wohl zu sehr ›bürgerliche‹ Wissenschaft war. Doch genau bei den hier genannten Ansätzen ›bürgerlicher‹ Wissenschaft, die Mittenzwei links und rechts liegenließ, wollen wir in dieser Studie ansetzen. Wie dieser Kampf »mit mir gegen mich« als Bürgerkrieg in der eigenen Brust durchzuführen wäre, hat, soweit ich sehe, Augustinus besonders anschaulich in seiner Abhandlung über die einzig wahre Religion dargestellt, denn dort ruft er alle Männer dazu auf, sich als wahre Männer zu erweisen und den inneren Schweinehund, der für ihn »das Weib in uns« ist, bedingungslos zu bekämpfen und zu vernichten: »Unterwerfen wir uns das Weib [in uns], wenn wir Männer sind.« 18 Das hinter diesem Programm stehende Prinzip aber lautet in aller Kürze: »Wer wen?« und in gut platonischer Tradition: »Beherrschen, was andernfalls uns beherrscht; in unseren Besitz (in nostram possessionem) nehmen, was ansonsten uns besitzt.« 19

Und Sloterdijk fügt als Kommentar hinzu: »Man kann hier mit Händen greifen, wie der repressive Askesebegriff, als Diktatur über die ›innere Natur‹, zu seinem Siegeszug durch die christlichen Jahrhunderte ansetzt.« (S. 268)

Das Programm des jungen Brecht »Ich kommandiere mein Herz!« wäre also auch als ein solcher Versuch anzusehen, über dieses augustinische »Weib Welt in uns« restlos zu verfügen, und das würde wiederum heißen: »Ich kommandiere auch die strenge Mutter in mir, damit nicht sie über mich verfügt, sondern ich über sie!« Wie dieser Kampf verlaufen ist und wer wann in diesem Kampf gesiegt hat, werden wir zu verfolgen haben. Problemgeschichtlich gesehen stellte sich also schon der junge Brecht mit seinem Tagebuch-Eintrag vom 21. 10. 1916 in eine ideologische Tradition, die mit Platon und den Stoikern beginnt, von Augustinus aufgegriffen und in die christlich-monastische Tradition 20 24 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Brechts Kämpfe »mit mir gegen mich«

weitergereicht und dort fortgeführt wird, bei Bacon und Descartes und schließlich auch noch vom Marxismus weiter radikalisiert wird. Am prägnantesten ausformuliert aber wird sie in den überaus frommen Meditationen des Thomas von Kempen und im Hauptwerk von Max Stirner, durch die außerdem auch deutlich wird, wie eng und innig Selbstermächtigung und Weltbemächtigung hier miteinander verschränkt sind, denn Thomas ruft hier seinem Leser zu: »Hast du dich gänzlich bezwungen, unterwirfst du unschwer alles übrige. Der Sieg ist vollkommen, sobald man über sich selber triumphiert. Wer sich im Zaum hält, so dass die Sinne der Vernunft in allem gehorchen, der hat sich selbst besiegt, und die Welt liegt ihm zu Füßen. Ersehnst du diese Ruhe, gilt es, mannhaft zu beginnen und die Axt an die Wurzel zu legen, um die geheime ungeordnete Anhänglichkeit an dich selbst und alle Außendinge auszurotten.« 21

Und Max Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum, das den Selbstgewinn, den Selbstbesitz, die Selbstverwertung, den Selbstgenuss und schließlich auch die Selbstverausgabung und den Selbstverzehr des Eigners in hymnischen Tönen preist, endet mit den Sätzen: »Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin es dann, wenn Ich Mich als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewusstseins. Stell’ Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem Vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und Ich darf sagen: Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt.« 22

Das klingt nun fast wie eine Vorwegnahme des Programms, das Sigmund Freud seiner Psychoanalyse als Aufgabe gestellt hatte, wenn er in seiner Vorlesung von 1933 von ihr behauptet: »Ihre Absicht ist ja, das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern, so dass es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee. 23

Wie man sieht, ist Freud aber nicht so vermessen, dass er das Ich von Es und Über-Ich völlig unabhängig machen will, sondern nur etwas unabhängiger, weil er offenbar wusste, dass die Staudämme, die die dem Meer des Es abgetrotzten Landmassen schützen, auch mal bre25 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Einleitung

chen können und dass auch mal das Ich vor den Forderungen des Über-Ich kapitulieren und sich in nichts auflösen kann. Doch so vorsichtig war der junge Brecht nicht, sondern glaubte offenbar, er könne mit diesem Entschluss, sein Herz hinfort zu kommandieren, einen Zustand von kalter Besonnenheit und Selbstbesitz auf Dauer stellen und zum Normalzustand erheben, also gleichsam die Zuydersee im eigenen Inneren restlos in den Griff bekommen, und dann all dies, was dort schlummert, sich verfügbar machen, um es ästhetisch zu verwerten. An dieses naiv optimistische Menschenbild als der Illusion, nicht nur immer »Herr im eigenen Haus« zu sein und dies auch zu bleiben, sondern sich außerdem auch noch die Welt auf beliebige Weise verfügbar machen zu können, hat Brecht lange Jahre geglaubt und ist darin durch seine Marxismus-Studien auch noch bestätigt worden, bis er im dänischen Exil wieder auf die Philosophie des Lao-tse stieß, die ihn dazu brachte, sich wiederum ganz neu zu orientieren, dadurch aber auch ganz neue schöpferische Kräfte in ihm freisetzte und zu einer wahren Explosion an Kreativität führte, in der die fünf großen Stücke entstanden sind, die dann Brechts Weltruhm begründet haben. Philosophisch-anthropologisch formuliert ist Brechts Kreuzzug gegen sich selbst also ein rabiater Anspruch auf absolute Selbstermächtigung und Weltbemächtigung und ist als solcher wiederum letztlich ein Kreuzzug gegen den Widerfahrnis-Charakter der je eigenen Leiblichkeit. Hermann Schmitz bezeichnet dieses ›faustische‹ Allmachts-Streben als »die dynamistische Verfehlung des abend-ländischen Geistes« 24, und diese besteht für ihn »in einseitiger Forcierung des Strebens nach menschlicher Selbstbemächtigung und Weltbemächtigung, wobei die Weltbemächtigung entweder unmittelbar als menschliche intendiert ist oder mittelbar durch Gott hindurch oder im Namen Gottes [oder im Namen einer allmächtigen und allwissenden Partei, L. P.] oder auch so, dass die angenommene Macht Gottes [oder die einer allmächtigen und allwissenden Partei, L. P.] über die Welt oder den Menschen das affektive Betroffensein [also das Herz, L. P.] des Menschen einseitig auf das Interesse am Erfolg der Machtergreifung konzentriert und dadurch zur Bündelung im Verlangen nach direkter menschlicher Weltbemächtigung erzieht.« 25

Aber nicht nur das affektive Betroffensein, also all das, was man als ›Sprache des Herzens‹ zu bezeichnen pflegt, soll durch Allmachts-

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»Ich muss immer dichten.«

Phantasien dieser Art in engste Bahnen gelenkt, begrenzt und nach Möglichkeit ausgeschaltet werden, sondern der Widerfahrnis-Charakter des Lebens und der Leiblichkeit überhaupt, insbesondere wenn es sich um Widerfahrnisse handelt, die sich als tendenziell unverfügbares Verhalten an uns und mit uns vollziehen, weil all dies den angemaßten totalen Selbstbesitz als eitlen Wahn offenbaren würde. Am Kampf Platons und der christlichen Kirchenväter gegen das Lachen 26, das sich ja als ein besonders spektakuläres tendenziell unverfügbares Verhalten an uns und mit uns vollzieht, lässt sich dieses wahnhafte Streben nach totalem Selbstbesitz besonders deutlich ablesen. Bei Brecht zeigt sich diese Tendenz darin, dass er zeit seines Lebens gegen das »Mitgehen« 27 des Publikums polemisierte und dieses völlig natürliche Verhalten lächerlich zu machen suchte.

2)

»Ich muss immer dichten.«

In der antiken Literatur war es üblich, den Widerfahrnis-Charakter literarischer Kreativität auf das Eingreifen der Musen zurückzuführen und kreative Einfälle aller Art als Eingebungen der Musen zu deuten, denen man dafür auch dankbar zu sein hatte. Aus diesem Grund beginnen alle größeren Werke der antiken Literatur mit einem obligaten Anruf der Musen, in dem der Autor diesen Musen den ihnen gebührenden Dank abstattet. Platon sieht dies etwas anders und viel radikaler, denn für ihn agieren bei dichterischer Inspiration die Götter selbst und direkt, sodass für ihn die Dichter nichts sind »als Sprecher der Götter, besessen jeder von dem, der ihn eben besitzt.« »Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewusstlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt.« 1

Auf diese berühmte Stelle in Platons Ion-Dialog spielt Goethe an, wenn er in der letzten Strophe seines Werther-Gedichtes in der Trilogie der Leidenschaft schreibt: Wie klingt es rührend, wenn der Dichter singt, Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt! Verstrickt in solche Qualen halbverschuldet, Geb’ ihm ein Gott zu sagen, was er duldet. 2

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Einleitung

Da Goethe dies im Hinblick auf den Selbstmörder Werther schrieb, muss man diese Verse wohl so verstehen, dass Goethe seinen Werther stellvertretend sterben ließ oder vielleicht sogar sterben lassen musste, um selbst weiterleben zu können, dass er also gleichsam den Roman über den unglücklichen Selbstmörder Werther als Selbsttherapie 3 geschrieben hat, und nicht nur diesen Roman, sondern letztlich sein gesamtes Werk. Ganz ähnlich liegt, wie mir scheint, der Fall bei Brecht, nur spricht er in diesem Zusammenhang nicht von Göttern oder Musen, die ihm seine dichterischen Inspirationen liefern, sondern formuliert es ganz schlicht und profan, wenn er unter dem 15. Dezember 1913 im Tagebuch notiert: »Ich muss immer dichten.« 4 In diesem auf den ersten Blick so schlichten Satz wird aber trotzdem etwas von der Besessenheit und Getriebenheit des jungen Berthold Eugen Brecht sichtbar, damit aber auch der Widerfahrnis-Charakter seiner früh einsetzenden literarischen Kreativität, aber diese Besessenheit ist nicht, wie Platon meint, die Besessenheit durch einen bestimmten Gott, der einen eben besitzt, sondern ein kreativer Drang, den er wohl auch als eine Art von kontraphobischen Abwehrzauber brauchte, um der neurotisierenden Atmosphäre zu begegnen, die seine Mutter durch ihre bigotten pietistischen Rituale in dieser Familie erzeugte, um ihm, einem offenbar extrem hellwachen Kind, ein exemplarisches Sündenbewusstsein einzubläuen. Wenn Brechts fromme Mutter gehofft hatte, das Herz ihres geliebten »Aigin« könne gefestigt werden durch die Gnade Gottes, wie sie dies durch die Wahl seines Konfirmationsspruches programmatisch festschreiben wollte, dann hatte sie sich offensichtlich getäuscht, denn die intensive Beschäftigung mit religiösen Themen, die sie ihm dadurch verordnete, bewirkte das genaue Gegenteil und versetzte sein eh schon leicht erregbares Herz in noch größere Erregung, weil durch das damit verstärkte pietistische Bewusstsein radikaler Sündhaftigkeit seine Angstzustände immer wieder aufs neue geweckt wurden. Wie quälend dies für ihn gewesen sein muss, geht aus dem Tagebuch des Jahres 1913 hervor, in dem es z. B. unter dem 18. Mai 1913 heißt: »Mein Herz ist sehr rebellisch. Ich mag nicht immer mit Klagen die andern belästigen! (…) Bis 11 Uhr hatte ich starkes Herzklopfen. Dann schlief ich ein, bis 12 Uhr, da ich erwachte. So stark, dass ich zu Mama ging. Es war schrecklich. Endlich schlief ich ein. Am andern Morgen schleppte ich mich zur Schule. Nachmittags kehrte ich am Kreuz wieder um. Herzklopfen!« 5

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»Ich muss immer dichten.«

Im Eintrag vom 22. Mai 1913 heißt es: »In der Nacht hatte ich zuerst entsetzliches Herzklopfen, dann wurde der Schlag ganz leise u. schnell. Papa wachte lange am Bett. Ich hatte Angst. Eine schreckliche Angst. Die Nacht war endlos!« 6

Und im Eintrag vom 8. Juli 1913 lesen wir: »Als ich heut früh um 8 Uhr vor der Schule mich in der Bank umdrehte, gab’s mir im Rücken einen Ruck. Ich konnte nicht mal atmen. Der Schmerz dauerte bis 10 Uhr. Dann wuchs er. Ging heim ins Bett. Abends konnte ich kaum mehr Luft kriegen. Herz (später) gut. Neher, Abwechslung!« 7

Hier horcht man sofort auf, denn offenbar war der Besuch seines Freundes und Klassenkameraden Caspar Neher, mit dem er später ein Leben lang befreundet sein sollte, ein Besuch, der seine künstlerische Kreativität ansprach. In den Sommerferien 1913 wird dann der Plan gefasst, die literarische Zeitschrift Die Ernte zu gründen, und das zeigt auch sofort eine Wirkung auf sein Befinden, denn unter dem 30. August schreibt er: »Die Zeitschrift wird sehr nett. Zwei Gedichte von mir, beide in der zweiten No. Die Vakanz eilt ganz blödsinnig. Herz sehr gut.« 8

Und unter dem 23. Oktober heißt es schließlich: »Will Pfanzelt Text zu einer Oper schreiben. – Die Zeitung blüht. Schade, müssen aufhören. Herz sehr gut. Ebenso Kopf. Nerven schlecht.« 9

Hier hatte sich offensichtlich ein rettender Ausweg aufgetan, der seiner speziellen Begabung angemessen war: Die ernsthafte literarische Produktion, auch wenn dies vorerst nur im bescheidenen Rahmen einer literarisch orientierten Schülerzeitung geschah. Nicht die Gnade Gottes sollte sich also als die wirksame Therapie seiner herzneurotischen Ängste erweisen, wie Brechts Mutter gehofft hatte, sondern die Gnade der Kreativität, die diese Ängste aber nicht einfach beendete, als hätte es sie nie gegeben, sondern sie kreativ umsetzte in ein literarisches Werk, so bescheiden dies vorerst auch noch sein mochte. Mit diesen frühen Gedichten, die wir aus seinem Tagebuch und aus seiner Zeitschrift kennen, konnte diese literarische Selbsttherapie aber noch nicht ganz gelingen, sondern erst mit literarischen Werken, in denen selbstgeschaffene Gestalten auftraten, an die der junge Brecht all seine Konflikte, Ängste und kränkenden Erfahrungen dele29 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Einleitung

gieren konnte, damit diese all das performativ ausagieren und zu einer Lösung führen sollten, woran er selbst zu leiden hatte, und wenn nötig auch in der Form eines stellvertretenden Leidens und Sterbens, das nach Möglichkeit aber zu Auferstehung und Verklärung führt, damit der Autor in seinen Gestalten die eigene Auferstehung und Erlösung feiern konnte. Aus diesem Grund tendierten die vom frühen Brecht bevorzugten Stoffe und Motive tendenziell zu Passions-Ritualen aller Art, weshalb er auch als Leser und Zuschauer auf all die Werke besonders intensiv reagierte, die man als Passions-Rituale verstehen kann oder die explizit schon als solche geschrieben sind, denn hier musste er sofort zu der Erkenntnis kommen: Mea ipsissima res agitur! Wie intensiv er z. B. bei einer Aufführung von Bachs Matthäus-Passion mitging, werden wir schon im nächsten Kapitel darzustellen haben, denn die dort agierenden Gestalten waren ihm aus seiner Bibel-Lektüre so vertraut als habe er sie als Autor selbst geschaffen. Diese ästhetisch-poietische Selbsttherapie ist als säkulare Selbsterlösung aber nur möglich, wenn das Werk, durch das dies bewirkt werden soll, wirklich zur Vollendung kommt und in sich stimmig ist. Schafft der angehende Autor dies noch nicht, so ist er nach wie vor dazu verdammt, seine Konflikte in Form irgendwelcher Krankheitsbilder performativ auszuagieren, also z. B. in Form einer Herzneurose, weshalb der junge Berthold Eugen Brecht noch lange an seiner Herzneurose litt, bis er endlich mit seinem Baal zum Stückeschreiber und mit seinen frühen Gedichten und Balladen auch zum lyrischen Autor herangereift war. Schaffte er dies als Autor aber nicht mehr, weil er ›ausgeschrieben‹ war und seine Kreativität sich erschöpft hatte, wie dies beim alten Brecht in seiner DDR-Zeit der Fall war, sodass ihm der erlösende Ausweg ins Werk versperrt blieb, so musste das Herz selbst die selbsttherapeutische Funktion übernehmen; doch dafür war es mittlerweile zu erschöpft und stellte den Dienst ein. So gesehen ist Brechts Werk im höchsten Maß, aber eben versteckt autobiographisch geprägt, und deshalb muss eine Analyse und Deutung dieses Werkes auch notgedrungen biographisch orientiert sein und damit auch psychogenetisch vorgehen, weil Brechts Gesamtwerk als eine Abfolge von Stationen ideologischer Exerzitien mit dem Ziel der Selbstfindung, Selbsterziehung und Selbststilisierung erscheint. Dies verlangt aber, dass man auch den letzten Rest von Brecht30 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

»Ich muss immer dichten.«

Frömmigkeit ablegt, an der die Brecht-Forschung von Anfang an gelitten hat, weil sie allzusehr bemüht war, Brechts Werk immer nur ›im Sinne des Meisters‹ zu interpretieren und nicht auch mal gegen den Strich zu lesen. Besonders rabiat ging dabei John Fuegi in seiner monumentalen Brecht-Biographie vor, der sein Augenmerk v. a. auf die Funktion von Brechts Mitarbei-terinnen bei der Entstehung seiner Stücke richtete und dabei zu erstaunlichen und z. T. auch recht erschreckenden Ergebnissen sexueller Hörigkeit gekommen sein will, weil natürlich auch die Biographie dieser Mitarbeiterinnen in diese Texte mit eingeflossen sei und damit zugleich auch die Verletzungen, die sie von Brecht bei dieser Arbeit erfahren haben sollen. Und deshalb ist für ihn der Blick in Brechts Stücke ein Blick in ein veritables Gruselkabinett: »Nirgendwo in dieser Theaterlandschaft gibt es einen liebevollen oder wirklich präsenten Vater, oder gar eine Mutter, die es nicht durch Unterlassung oder absichtlich zuließe, dass ihre Kinder hingeschlachtet werden. Selbst die liebenden und schützenden »Mütter« oder mehr oder weniger eigenständigen Frauen, die mit Hauptmann, Steffin und Berlau in Brechts Werk Einzug halten, sind entweder Huren wie Shen Te in Der gute Mensch von Sezuan oder Dienstboten wie Grusche in Der kaukasische Kreidekreis. Leibliche Mütter – wie Pelagea Wlassowa in der Mutter, Natella, die Frau des Gouverneurs im Kaukasischen Kreidekreis, oder Mutter Courage im gleichnamigen Stück – bringen ihre Kinder dem Krieg, einem Ideal oder dem Geschäft zum Opfer. Nirgends gibt es einen starken, sorgenden und engagierten Mann in einer dauerhaften Beziehung mit einer Frau oder einem Kind. Brechts Dichtung und Stücke spiegeln das intimste Leben des Brechtkreises, ein Grimmsches Märchen von Unterwerfung und Herrschaft, von labilen, bewusst aufgespaltenen Persönlichkeiten. In seinen letzten Jahren (die seine frühen Jahre wiederholen) verbrachte Brecht täglich Stunden mit Versuchen, Verbindungen zwischen früheren Geliebten oder Freunden zu zerstören, um sicherzustellen, dass seine Kontrolle über eine andere Person unangefochten blieb. Alle seine bekannten Briefe zeigen, dass es ihm praktisch unmöglich war, einem anderen Menschen wirklich nahe zu sein.« 10

Zu dieser Sicht auf Brecht und sein Werk konnte Fuegi aber nur dadurch kommen, dass er Brechts Orientierung am ›sanften Prinzip‹ des Lao-tse, die das gesamte späte Werk so intensiv geprägt hat, einfach ausblendet, denn nicht einmal der Name Lao-tse kommt in Fuegis Buch vor.

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Einleitung

Bei dieser hier angestrebten psychoanalytisch orientierten Betrachtungsweise von Brechts Leben und Schaffen wollen wir uns aber nicht direkt an Freuds Schriften 11 orientieren und z. B. mit der freudianischen Wünschelrute in der Hand nach dem Ödipus-Komplex in Brechts Werk suchen 12, sondern uns ein Beispiel an seinen Schülern der zweiten und dritten Generation nehmen, weil schon Peter von Matt davor gewarnt hatte, sich in literaturtheoretischen Fragen allzu eng an Freud selbst anzuschließen, denn: »Freuds persönlicher Begriff vom Kunstwerk bleibt weit hinter dem zurück, was seine Anthropologie für den Kunstbegriff der Moderne bedeutet. In der Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst und dem literarischen Text konnte er sich von den traditionellen Fragen nach der Biographie des Künstlers und ihrem Niederschlag im Werk nie ganz befreien. Die radikalen Konsequenzen, die sich aus seiner Lehre für die Arbeit des Textverstehens und für den Textbegriff selbst ergeben, haben erst die Späteren gezogen.« 13

Einer der ersten dieser Späteren war Paul Ricœur, der in seiner FreudStudie von 1965 eine wegweisende Erkenntnis formuliert hatte, an der wir uns auch hier orientieren wollen, denn er stellt klar: »Das Kunstwerk ist nicht nur gesellschaftlich gültig, sondern, wie der Moses des Michelangelo und der Leonardo es deutlich gemacht haben und wie die Erörterung des König Ödipus von Sophokles es eindringlich zeigen wird: wenn diese Werke Schöpfungen sind, dann insofern, als sie nicht bloße Projektionen der künstlerischen Konflikte sind, sondern die Skizzierung ihrer Lösung; der Traum blickt zurück, in die Kindheit, in die Vergangenheit; das Kunstwerk ist dem Künstler selbst voraus: es ist mehr ein prospektives Symbol der persönlichen Synthese und der Zukunft des Menschen als ein regressives Symptom seiner ungelösten Konflikte.« 14

Damit besitzt jedes einigermaßen gelungene Kunstwerk eine tendenziell unerschöpfliche Erkenntnisfunktion, die weit über den Erkenntnisstand des Künstlers selbst hinausreichen kann, sodass man mit einem gewissen Recht sagen kann, ein gelungenes Werk sei immer klüger als sein Autor und wisse mehr über sich und seinen Autor als dieser selbst. Das kann sogar dazu führen, dass ein Autor über das eine frühe Werk nur noch staunen, vor einem anderen aber auch tief erschrecken kann, weil er dort Erkenntnisse vorformuliert findet, die er selber, als er das Werk schrieb, noch nicht einmal dunkel ahnte und die er, als er das Werk schrieb, noch weit von sich gewiesen hätte. Eine Erkenntnisfunktion, wenn auch eine von ganz anderer Art, haben aber auch mehr oder weniger misslungene Werke und ins32 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Stirner und Lao-tse

besondere Frühwerke eines Autors, weil dort vor allem das Gewollte sichtbar wird, weshalb wir die frühesten noch recht unbeholfenen und z. T. auch völlig missratenen Gedichte, wie sie in den Tagebüchern vorliegen, genauso ernst nehmen wollen wie die späteren vollendeten. Doch bei alledem gilt es auch die Grenzen psychoanalytischer Erkenntnis genau zu beachten, die schon Freud in seinem Aufsatz über Leonardo da Vinci deutlich markiert hatte, wenn er von zwei Eigentümlichkeiten Leonardos spricht, die auch durch psychoanalytische Bemühung unerklärbar bleiben: »Seine ganz besondere Neigung zu Triebverdrängungen und seine außerordentliche Fähigkeit zur Sublimierung der primitiven Triebe. Die Triebe und ihre Umwandlungen sind das letzte, das die Psychoanalyse erkennen kann. Von da an räumt sie der biologischen Forschung den Platz. Verdrängungsneigung sowie Sublimierungsfähigkeit sind wie genötigt, auf die organischen Grundlagen des Charakters zurückzuführen, über welche erst sich das seelische Gebäude erhebt. Da die künstlerische Begabung und Leistungsfähigkeit mit der Sublimierung innig zusammenhängt, müssen wir zugestehen, dass auch das Wesen der künstlerischen Leistung uns psychoanalytisch unzugänglich ist.« 15

Und dies gilt nicht nur für Leonardo, sondern auch für jeden anderen Künstler, und eben auch für Brecht.

3)

Stirner und Lao-tse

Es gibt aber noch zwei andere Themen, die sich durch Brechts Werk ziehen und dort eine breite Spur hinterlassen haben, aber weder von der ›bürgerlichen‹ noch von der marxistisch orientierten Brecht-Forschung in ihrer Bedeutung erkannt und deshalb auch nicht eingehend untersucht worden sind. Ich meine damit den massiven Einfluss von Max Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum auf Brechts Frühwerk, insbesondere auf die beiden Stücke Baal und Trommln in der Nacht, und den ebenso massiven Einfluss von Lao-tse, den Brecht während der Arbeit an seinem Spartakus-Stück durch Döblins Roman Die drei Sprünge des Wang-lun für sich entdeckt hatte, und über den er in seinem Tagebuch vom September 1920 überrascht notiert, »der stimmt mit mir so sehr überein« 1, dass man nur staunen könne. Der Name Stirners aber taucht in den erhaltenen und veröffentlichten 33 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Einleitung

persönlichen Aufzeichnungen Brechts, also in den Notizbüchern, Tagebüchern oder Briefen, nirgendwo auf, auch im Nachlass nicht, wie meine Anfrage im Brecht-Archiv ergeben hat, und dies deutet darauf hin, dass hier eine Spur sorgfältig verwischt worden ist, von wem auch immer. Die Orientierung an Stirners Philosophie, die Brecht in dem großen Gedicht Gegen Verführung zusammenfasste, prägte Brechts Werk aber nur etwa zehn Jahre lang bis etwa 1927/28, denn mit dem Stück Mann ist Mann begann Brecht sich wieder von Stirners Philosophie zu emanzipieren, und diese Emanzipation kulminierte dann in den Lehrstücken, denn diese Lehrstücke, die er gegen Ende der Zwanzigerjahre schrieb und die auf den ersten Blick die eigene marxistische Selbstbelehrung organisieren sollten, dienten Brecht zugleich auch dazu, Stirners philosophischen Egoismus wieder abzuschütteln. Brechts Kampf »mit mir gegen mich« wurde also auch auf diesem Feld ausgefochten. Restlos gelungen ist ihm diese Emanzipation von Stirner jedoch nie, weil Stirner sogar noch in Brechts Berliner Spätwerk deutliche Spuren hinterlassen hat. Brechts frühe Orientierung an Stirners Philosophie muss auch deshalb sorgfältig untersucht werden, weil durch sie der junge Autor Berthold Eugen Brecht schlagartig säkularisiert wurde und seine christlich-pietistische Ausrichtung verlor, die sein Frühwerk bis dahin entscheidend geprägt hatte. Brechts Orientierung an Lao-tse kulminierte in den späten Dreißigerjahren, als Brecht »unter dem dänischen Strohdach« im Exil lebte, und schlug sich nicht nur in dem großen Gedicht Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration vom Mai 1938 nieder, sondern prägte das gesamte Spätwerk, insbesondere aber die fünf großen Stücke, die er im skandinavischen Exil schrieb und die ihn zu Recht weltberühmt gemacht haben, weil sich das ›sanfte Prinzip‹ des Lao-tse als eine fundamentale Kritik der Gewalt erwies, durch die sich Brecht von den Gewaltphantasien, die er noch in den marxistischen Lehrstücken so vehement vertreten hatte, befreien konnte. So gesehen ist es kein Wunder, dass auch der Name Lao-tse in der marxistisch geprägten Brecht-Forschung überhaupt nicht auftaucht, genau so wenig wie der Name Max Stirner, was man durch einen kurzen Blick in die großen Brecht-Biographien von Werner Mittenzwei und Jan Knopf leicht nachprüfen kann. Dass auch John Fuegi weder Stirner noch Lao-tse in seiner 34 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Ausblicke

Brecht-Biographie erwähnt, liegt wahrscheinlich daran, dass Fuegi das Werk von Max Stirner überhaupt nicht kannte und das von Laotse nicht zur Kenntnis nehmen wollte, weil es nicht in sein BrechtBild passte. Stephen Parker erwähnt in seiner umfangreichen und ganz vorzüglichen Brecht-Biographie 2 zwar Lao-tse, nicht aber Stirner, den offenbar auch er nicht kennt. In der ›bürgerlichen‹ Brecht-Forschung gibt es aber glücklicherweise die wegweisende Studie von Heinrich Detering über Brechts enge Beziehung zu Lao-tse 3, auf die man aufbauen kann und die ich auch dankbar benutzt habe. Doch da die enge Anlehnung des jungen Brecht an Stirner bislang weder von der marxistischen noch von der ›bürgerlichen‹ Brecht-Forschung erkannt worden ist, stehe ich mit meinem energischen Hinweis auf Stirner in der Brecht-Forschung offensichtlich allein auf weitem Feld und kann mich nur trösten mit einem dezenten Hinweis auf die Pfeilspitze in Ötzis Lunge, die man auch jahrelang nicht bemerkt hat, die aber jetzt, nachdem sie endlich entdeckt worden ist, sogar jeder Blinde auf den ersten Blick erkennt. Deshalb, so meine Hoffnung, dürfte die hier vorliegende Studie auch für den vermeintlichen Brecht-Kenner einige Überraschungen bereithalten und ihn zu einem neuen Blick auf Brecht und Brechts Werk ermuntern.

4)

Ausblicke

Damit müßten Ansatz, Plan und Ziel dieser Studie eigentlich deutlich geworden sein. Ich will so vorgehen, dass ich zunächst die These von Hartmann und Pietzcker aufgreife, der junge Brecht habe an einer Herzneurose gelitten, und sie anhand der Studie von Richter und Beckmann erläutere, aber mit Details aus Brechts Biographie ergänze, die Hartmann und Pietzcker übersehen haben. In den folgenden Kapiteln soll dann aufgezeigt werden, von wem Brecht sich bei diesem aberwitzigen Vorhaben, sein Herz zu kommandieren, Hilfe erhoffte und sich dementsprechend leiten ließ. Da dieser Prozess gegen sich selbst in verschiedenen Schüben erfolgte und jede Werksphase immer zugleich auch die Korrektur, Zurücknahme und Verleugnung der jeweils früheren Werke mit dem Ziel einer energischen Selbstdisziplinierung und umfassenden Neuorientierung bedeutete, müssen wir jeden dieser Schübe einzeln darstellen und deshalb 35 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Einleitung



















zunächst auf die Katastrophe vom Frühjahr 1914 eingehen, also auf den herzneurotischen Anfall während der Matthäus-Passion, der schließlich Brechts Entschluss nach sich zog, das eigene Herz hinfort restlos dem eigenen Willen zu unterwerfen. Dann werden wir ausführlich auf den noch sehr bibelfrommen jungen Dichter Berthold Eugen Brecht eingehen müssen und auf die Art und Weise, wie er seinen Konfirmationsspruch in Leben und Werk zu befolgen und in das Programm ›Festigkeit des Herzens beim Selbstopfer eines Märtyrers‹ poetisch umzusetzen suchte. Dann gilt es die entscheidende Wende von 1916/17 darzustellen, die zugleich eine religiöse wie eine philosophische Wende war. Die religiöse führte zu seiner Abwendung vom christlichen Glauben und zu einem Neuheidentum unter dem Zeichen des biblischen Gegengottes Baal; die philosophische radikalisierte diese Abwendung weiter durch die Bekanntschaft mit dem Werk von Max Stirner, wodurch Brecht, der sich nunmehr Bert Brecht nannte, das Programm des stellvertretenden Selbstopfers eines Märtyrers durch das neue Programm des ›Egoismus eines sich selbst verausgabenden Eigners‹ ersetzte und später in den Gestalten Baal und Kragler auch dramatisch gestaltet hat. Dann haben wir auf den Kult des kalten Herzens in der Ära der Neuen Sachlichkeit einzugehen, ab der Brecht seinen Vornamen von Bert endgültig zu Bertolt änderte; dann auf das platonisch-stoische Erbe in seiner Theatertheorie und seine pene-trante Polemik gegen das Mitgehen im »aristotelischen« Theater; dann auf die Phase der Lehrstücke, in der Brecht versuchte, die ›Hypothek Stirner‹ loszuwerden, indem er sie durch die ›Hypothek Marxismus‹ ersetzte; dann auf den Stückeschreiber Brecht, der in der mittleren Phase seines Gesamtwerks jede seiner Dramengestalten, die spontan dem Ruf ihres Herzens folgt, auf der Stelle vernichtete; dann auf die zweite fundamentale philosophische Wende Brechts, die es ihm durch die Orientierung am ›sanften Prinzip‹ des Lao-tse ermöglichte, sich von der Soziodizee der Gewalt zu lösen, die er im Rahmen seiner Lehrstücke noch vehement vertreten und gerechtfertigt hatte; und schließlich auf den Autor der großen Stücke, in denen bestimmte Gestalten dem Ruf ihres Herzens endlich folgen dürfen.

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Ausblicke



Abgeschlossen wird die Studie mit der Darstellung, wie Brecht in der DDR durch keunerische Listen aller Art im Umgang mit der Macht sein Lebenswerk zu retten suchte, aber dem Ansturm einer erneuten Herzneurose erlag, mit der er auf die Zumutungen und Entmutigungen des DDR-Stalinismus reagierte.

So gesehen stehen die verschiedenen Stadien von Brechts Entwicklung unter dem Signum bestimmter Gestalten, die diese Stadien jeweils prägen. Der erste in dieser Reihe ist der biblische Jesus, auf ihn folgt der biblische Baal, dann tritt Max Stirner auf den Plan, dann Lenin und schließlich erscheint auch noch Lao-tse, wobei jede dieser Gestalten die Stichworte zur Überwindung des jeweiligen Vorgängers liefert. Wer von all diesen genannten der wahre, alles beherrschende Mentor Brechts gewesen ist, wage ich nicht zu sagen, und genauso wenig, wer der wahre Brecht gewesen sei. Da könnte man ebenso die Frage nach der wahren Farbe eines Chamäleons oder nach der wahren Gestalt des Proteus stellen, doch auch diese Fragen stelle ich lieber nicht. Gegründet sind all diese Stadien, die zu immer wieder neuen Werkphasen geführt haben, auf jeweils neuen Einstellungen, deren Skala von restloser Selbstpreisgabe bis zu verbissener Selbstbehauptung reicht. Dieser Ansatz als Frage nach der Einstellung ergibt sich aus dem Befund, dass Einstellungen dem jeweiligen Verhalten gleichsam wie ein Filter vorgeschaltet sind und deshalb auch Leben und Werk in ihrer Gesamtheit überformen und ausrichten, also in allem, was man ist und hat und kann und tut. Deshalb wird es nötig sein, in den einzelnen Kapiteln diese jeweils neue Einstellung, Gesinnung und innere Haltung deutlich aufzuzeigen, die dann auch die jeweilige Werkphase geprägt hat. Besonders deutlich wird sich dies an den Wandlungen Baals zeigen, der sich in den verschiedenen Fassungen des Stücks auf einer breiten Skala zwischen hinhaltender Hingabe und zynisch-sachlichem Verfügungswillen bewegt. Und auch hier wäre es vermessen, eine bestimmte Einstellung als Brechts wahre Einstellung bestimmen zu wollen.

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Kapitel I Gläubigkeiten und Ergriffenheiten oder Die Frage nach Sünde, Schuld und Buße 1.1 Im Würgegriff der Herzneurose Die wegweisende Studie von Horst-Eberhard Richter und Dieter Beckmann über die Herzneurose, auf die sich Carl Pietzcker und Hans A. Hartmann berufen, ist das Ergebnis eines fünfjährigen Forschungsprogramms an der Gießener Psycho-somatischen Universitätsklinik und kommt zu dem Ergebnis, dass die Herzneurose keine pathologische Kreislaufstörung ist, sondern ein psychosomatisches hypochondrisches Syndrom, für deren Behandlung also nicht der Internist zuständig sei, sondern der Psychotherapeut, denn: »Für die eigentliche Herzneurose haben die Kreislaufbefunde keine maßgebliche pathognomische Bedeutung. Die hypochondrischen Ideen, die hartnäckige Klagsamkeit und die Verlaufskurve des Krankheitsverhaltens stehen in keinerlei adäquatem Verhältnis zu den unbedeutenden objektiven Auffälligkeiten am Kreislauf.« (S. V)

Aus diesem physiologischen Befund, dass der Herzneurotiker letztlich doch ein Hypochonder ist, der nicht an einem kranken Herz leidet, sondern daran, dass er sich etwas zu sehr zu Herzen genommen hat, das ihm dann die Möglichkeit bietet, sich wie ein echter Herzkranker zu verhalten, leiten Richter und Beckmann die These ab, die Ursache einer Herzneurose liege »in einer primär gestörten psychischen Grundverfassung« (S. V), die aus der engeren sozialen, meist also aus der familiären Situation des Patienten abzuleiten und somit auch daraus zu erklären sei. Dieser Befund, die Herzneurose sei ein hypochondrisches Syndrom, darf nun aber keinesfalls zu dem Schluss führen, ein Herzneurotiker sei ein Blender, der seiner Umgebung aus irgendwelchen Gründen eine Krankheit vorspielen wolle, denn ein herzneurotischer Anfall wird vom Patienten als genauso quälend und bedrohlich empfunden wie z. B. eine echte Angina pectoris, sodass dieser Patient das 38 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Im Würgegriff der Herzneurose

gleiche Gefühl hat, der Tod greife nach ihm mit einem umfassenden synergetischen Würgegriff, mit einem Würgegriff also, der ihm jeglichen Spielraum nimmt bei allem, was er ist und hat und kann und tut. Dies geht auch aus den klassischen Beschreibungen eines solchen Anfalls hervor: »Das Gesicht der betreffenden Kranken drückt Angst und Unruhe aus, und dieselben klagen in der Tat außer dem ›Herzklopfen‹ über ein Gefühl von Beklemmung und Druck auf der Brust, über ein Zusammenschnüren des Halses und des Schlundes, über ein heftiges Klopfen im Kopfe und über Schwindel und Anwandlungen zur Ohnmacht, wozu sich in der Tat auch manchmal eine wirkliche Ohnmacht gesellt.« (S. 3)

Das Grunderlebnis des Herzneurotikers ist also Angst, weshalb dieses Krankheitsbild oft auch als »Angstneurose«, »Herzphobie« oder »Herzkrampf« (S. 2) bezeichnet wird. Brecht selbst verwendete immer die Ausdrücke »Herzschock« oder »Herzkrampf«. Aber was ist Angst, szenisch und situativ gesehen? Hermann Schmitz definiert sie überaus treffend als »gehemmten Fluchtdrang« 1, also als den übermächtigen Impuls »Nichts wie weg hier!«, der aber unauflöslich an das Bewusstsein geknüpft ist, dass diese lebensrettende Flucht gar nicht möglich ist 2, weshalb das typische Angstverhalten in eine Panik übergeht, die sich als Fortbewegungauf-der-Stelle bzw. als rasender Stillstand manifestiert und bei einem herzneurotischen Anfall vor allem mit dem Herzen ausagiert wird, das rasend schnell schlägt, weil man dazu tendiert, diesen übermächtigen, aber abgewürgten Drang zur Flucht synergetisch auszuagieren, also mit allem, was man ist und hat und kann und tut. Wie Brecht selbst sich bei derartigen Anfällen verhalten hat, geht aus einer Beschreibung von Paula Banholzer hervor, die 1919 einen derartigen Anfall miterlebte, als Brecht sie in Kimratshofen im Allgäu besucht hatte, wohin sie von ihrer Familie verbannt worden war, um dort das Kind auszutragen, das sie von Brecht empfangen hatte. Nach einem langen gemeinsamen Spaziergang geschah es dann: »In meinem Zimmer angekommen, wollte Brecht plötzlich schnell zu Bett gehen. Er legte sich ins Nebenzimmer und schlief Wand an Wand mit mir. Entweder war es die Erregung der Wiedersehensfreude oder es waren die anregenden Gespräche – jedenfalls wurde ich nicht müde und träumte mit wachen Augen lange in meinem Bett.

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I · Gläubigkeiten und Ergriffenheiten

Plötzlich hörte ich Brecht deutlich und erschreckend stöhnen. Aufgeregt sprang ich aus dem Bett und betrat sein Zimmer. Brecht lag mit schweren Herzkrämpfen in seinem Bett und war schweißgebadet. Glücklicherweise war ich hellwach und behielt die Nerven. Ohne ihn zu fragen, lief ich zum nächsten Wasserhahn, ließ das Wasser etwas laufen, damit es kälter wurde, und machte ihm dann Wickel. Die Krämpfe ließen rasch nach. Instinktiv hatte ich das Richtige gemacht. Wir hatten schon früher einmal über seinen Herzfehler gesprochen. Aber ein solcher Anfall – das hatte ich zum ersten Mal erlebt. Ich blieb dann lange an seinem Bett sitzen, und Brecht beruhigte sich allmählich. Wir sprachen sehr behutsam miteinander, und er gestand mir dann, dass er diese Anfälle öfter habe. Sichtlich war dieser Anfall in dieser Nacht besonders stark, denn Brecht gestand mir auch, dass er Angst hätte. So blieb ich die ganze Nacht bei ihm, und es gelang ihm tatsächlich, etwas zu schlafen. Am Morgen war alles vorbei, und er schien sich wieder erholt zu haben.« 3

Die Herzattacke, die Brechts Baal in seiner Dachkammer erlebt, allerdings nur in den ersten beiden Fassungen des Stücks, folgt ganz dem Verlauf der von Brecht selbst erlebten Anfälle, denn Baals Mutter beschreibt sie in einem Gemisch aus Sorge und Zorn so: »Hör doch auf mit dem Geschnaufe! Das kenne ich anfangs! Darf ich schnaufen? Da flackt er da wie ein Tier und bricht zusammen, in Schweiß gebadet, und zittert als habe er Gott weiß was gearbeitet, und derweil ist er vollgesoffen wie ein Schwamm und hat nichts getan, als geträumt!« 4

Möglicherweise erlebte Brecht seine eigenen Anfälle auch als besonders bedrohlich, weil er schon als Kind ein etwas geschwächtes Herz hatte, weshalb seine Mutter des Öfteren mit ihm ein Kurbad 5 aufsuchte. Da eine Herzneurose aber letztlich doch ein rein hypochondrisches Syndrom ist, betonen Richter und Beckmann, man müsse bei der Anamnese dieser Anfälle die biographische Vorgeschichte genau ins Auge fassen und insbesondere nach der Beziehung der Patienten zu ihrer Mutter fragen, und hier wiederum in besonderem Maße nach solchen Müttern, »welche die späteren Patienten als Kinder sehr stark symbiotisch an sich gebunden und in bestimmter Weise eingeschüchtert haben.« (S. 25 f.) So gesehen entscheidet dann eher der Zufall, ob ein Kind auf den würgenden Zugriff einer solchen Mutter mit einer Herzneurose oder mit Asthma antwortet, um damit seine bedrohlich beengende Situation performativ sichtbar zu machen. 40 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Im Würgegriff der Herzneurose

Richter und Beckmann weisen außerdem darauf hin, dass diese dominierenden Mütter meist nicht durch ihre herrisch harte Art, sondern durch ihre demonstrierte Schwäche und Ängstlichkeit ihre Kinder zu dominieren suchen, indem sie ihre eigenen Krankheiten als Druckmittel einsetzen, sich aus dieser Ängstlichkeit heraus an ihr Kind klammern, es in diesem mütterlichen Würgegriff zu ersticken drohen und es mit alledem daran hindern, selbständig zu werden. Bei Brechts Mutter war dies nach all dem, was wir über sie wissen, zweifelsfrei der Fall, weil sie schon sehr früh an Krebs erkrankt war, sodass Brecht sie in den letzten zehn Jahren ihres Lebens – sie starb am 1. Mai 1920 – nur als Leidende erlebt hat. Dazu kam, dass sie als streng gläubige Pietistin ein extrem ausgeprägtes Sündenbewusstsein hatte, das sie dann gleichsam Arm in Arm mit Gott auch ihrem geliebten »Aigin« einzuimpfen suchte, indem sie ihm, als er in der Pubertät zu onanieren anfing, beständig diese »Sünden gegen das sechste Gebot« vor Augen hielt und ihn geradezu als »Pornografist« empfand. In einem Gedicht hat Brecht rück-blickend diese quälenden Auseinandersetzungen mit seiner Mutter bitter beklagt: Auslassungen eines Märtyrers 1 Ich zum Beispiel spiele Billard in der Bodenkammer Wo die Wäsche zum Trocknen aufgehängt ist und pisst Meine Mutter sagt jeden Tag: es ist ein Jammer Wenn ein erwachsener Mensch so ist 2 Und so was sagt, wo ein anderer Mensch nicht an so etwas denkt Bei der Wäsche, das ist schon krankhaft, so was macht ein Pornografist Aber wie mir dieses Blattvordenmundnehmen zum Hals heraushängt Und ich sage zu meiner Mutter: was kann denn ich dafür, dass die Wäsche so ist! 3 Dann sagt sie: so etwas nimmt man nicht in den Mund, nur ein Schwein Dann sage ich: ich nehme es ja nicht in den Mund Und dem Reinen ist alles rein Das ist doch ganz natürlich, wenn einer sein Wasser lässt, das tut doch jeder Hund.

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I · Gläubigkeiten und Ergriffenheiten

4 Aber dann weint sie natürlich und sagt: von der Wäsche! Und ich brächte sie noch unter die Erde Und der Tag werde noch kommen, wo ich sie werde mit den Nägeln auskratzen wollen Aber dann sei es zu spät, und dass ich es noch merken werde Was ich an ihr gehabt habe, aber das hätte ich dann früher bedenken sollen. 5 Da kannst du nur weggehen und deine Erbitterung niederschlucken Wenn mit solchen Waffen gekämpft wird, und rauchen bis du wieder auf der Höhe bist Dann sollen sie eben nichts von der Wahrheit in den Katechismus drucken Wenn man nicht sagen darf, was ist. (S. 487 f.)

Und in einem zweiten Gedicht beklagt er sich nicht weniger verbittert über das schlechte Gewissen, das man ihm in seiner Pubertät deswegen eingebläut hat: Die Bekenntnisse eines Erstkommunikanden Kälbermax hat eine Hostie geschluckt Aber er meint, für ihn gibt es noch eine Rettung dereinst Es steht im Katechismus klein gedruckt Aber so einer wie ich ist verloren, es hilft dir da nichts, wenn du auch meinst. Und Kälbermax war schon weiß wie Leinewand Und dem hat seine Mutter nicht die Hände auf die Bettdecke binden müssen Vielleicht kommt Kälbermax doch durch, das kann man nicht wissen Aber mich packt es, ich war Erstkommunikand Ich habe bei zwei Kerzenlichtern zu Gott gesprochen Es hat nichts geholfen, ich habe es nicht gehalten Nachts war eben wieder alles beim alten Meine Mutter hat es am Nachthemd gerochen Manchmal bin ich wieder ganz kalt Und ich meine, wenn ich später tüchtig rauche, vergeht es Aber meistens glaube ich, es wird nie besser mit mir, ich habe keinen Halt Später tue ich es dann zwei Mal am Tage, das weiß doch ein jedes

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Im Würgegriff der Herzneurose

Es ist mir wahrscheinlich angeboren So einer ist dann verfallen mit Haut und Haaren Er kann machen, was er will, er ist eben verloren Er ist einfach verdammt schon mit vierzehn Jahren. (S. 639 f.)

Angst ist, wie aus diesen Versen hervorgeht, für jemanden, der eine pietistisch bestimmte Erziehung erfahren und durchlitten hat, im wesentlichen Sündenangst, und das wiederum heißt Höllenangst. Zur genaueren Bestimmung solcher Ängste muss man aber nicht erst die psychologische Literatur durchforsten, es genügt schon ein Blick ins Gesangbuch, in den Katechismus oder in Bachs Matthäus-Passion, wo man Angst-Szenarien in lehrbuchreifer Ausführung findet. Wir werden gleich im nächsten Kapitel auf ein solches Szenario stoßen. Die Frage nach dem ersten Auftreten herzneurotischer Anfälle wird in der von Richter und Beckmann überprüften Forschungsliteratur und gemäß ihren eigenen Beobachtungen so beantwortet, dass sie in der Regel bei »inneren oder äußeren Ablösungskämpfen gegenüber Mutterfiguren« (S. 32) akut werden, also immer dann, wenn sich jemand aus irgendwelchen emotionalen Bindungen lösen will, dies aber gleichsam nur ›mit angezogener Handbremse‹ durchführen kann: »Die Herzneurose wird in dem Augenblick manifest, in dem sich entweder die wesentliche Bezugsperson von dem Patienten zurückzieht oder der Patient seinerseits die Beziehung löst oder zumindest in Gefahr bringt. Dabei zeigt sich, dass die Kranken – ohne dass es vor der Erkrankung schon immer deutlich geworden sein muss – nur eine äußerst schwache Selbstsicherheit haben und sich fast nicht mehr lebensfähig fühlen, wenn sie glauben, dass sie des Partners verlustig gehen, auf den sie sich in ihrer Phantasie vollständig angewiesen glauben. Das eigentliche Dilemma für den Patienten besteht nun darin, dass sie innerlich gegen diese maximale Abhängigkeit aufbegehren, ohne deren Aufrechterhaltung sie kaputt zu gehen fürchten. Sie wünschen sich eine stärkere Verselbständigung, aber oft werden sie gerade in dem Augenblick krank, in dem sie diese Verselbständigung durchsetzen könnten oder äußerlich bereits erreicht haben. (…) Es ist so, als ob etwas in den Kranken sie dafür ›straft‹, dass sie durch äußere Umstände oder durch ihre eigene Initiative ein Mehr an Selbständigkeit gegenüber dem Partner erreichen – oder zumindest zu erreichen im Begriff sind –, an den sie bisher wie gefesselt waren. Wie zur Strafe macht die Krankheit die Patienten nun erst recht hilflos und ohnmächtig. Die durchbrechende Herzangst verstärkt bei vielen ihre Anklammerungs-bedürfnisse.« (S. 32)

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I · Gläubigkeiten und Ergriffenheiten

Und dieses Bedürfnis nach Anklammerung weckt dann wiederum den Wunsch, sich aus dieser Umklammerung von Mamas Armen wieder zu befreien. Mit diesen Worten ist, wie mir scheint, zugleich auch das Verhältnis des Konfirmanden Brecht zu seiner Mutter in all seiner Ambivalenz beschrieben, also als ein Ineinander und Gegeneinander von Anklammerungs- und Ablösungs-Impulsen, das sich nur als heftige und quälende Bewegung-auf-der Stelle manifestieren kann. Ein ähnlich ambivalentes Verhältnis dürfte er zu Paula Banholzer als der Mutter seines unehelichen Kindes gehabt haben, weshalb es auch zu dem oben von ihr geschilderten Herzanfall kam, »denn Kinder fürchtet sogar Baal«.

1.2 »Ich bin’s, ich sollte büßen.« In einem Brief an seinen damaligen Freund Arnolt Bronnen vom 12. Januar 1923 datiert Brecht selbst seinen ersten Herzanfall ungefähr auf das Jahr 1911, wenn er schreibt: »In meinem dreizehnten Lebensjahr erzielte ich durch Verwegenheit einen nachweislichen Herzschock.« 1 Deshalb datiert Hartmann Brechts ersten Herzanfall genau so ungefähr auf die Jahre 1911/12 2 und rahmt diesen Vorfall interpretatorisch damit ein, dass er zunächst darauf verweist, dass es wohl Brechts Mutter selbst war, die für ihn den oben zitierten Konfirmationsspruch ausgesucht habe. Und dann fährt er fort: »Bibel, Mutter, Konfirmationsspruch, Herz, Herzanfall und Onanie stehen für [den Konfirmanden, L. P.] Brecht in engem Zusammenhang. Erinnern wir uns, dass er seinen Herzschaden in Verbindung mit der Musik bringt, die er in der Barfüßerkirche – dort wurde er konfirmiert – gehört hatte, (…) und vergessen wir nicht, dass die Onaniegedichte sich auf das vierzehnte Lebensjahr und die Konfirmation beziehen, so kann all dies uns zu dem Schluss berechtigen, dass es zum ersten Herzanfall im Umfeld der Konfirmation (März 1912) kam.« (S. 35)

Die Musik, die der Konfirmand Brecht in der Augsburger Barfüßerkirche gehört hat, muss die Matthäus-Passion von Bach gewesen sein, die er um diese Zeit besucht hatte und offenbar zusammen mit seiner Mutter, und die für ihn ein entscheidendes Erlebnis gewesen sein muss, das sein Verhältnis zur Musik fundamental geprägt zu

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»Ich bin’s, ich sollte büßen.«

haben scheint, denn noch am 18. August 1944 notiert er im Arbeitsjournal: »schon als junge, als ich die matthäuspassion in der barfüßerkirche gehört hatte, beschloss ich, nicht mehr so wo hinzugehen, da ich den stupor verabscheute, in den man da verfiel, dieses wilde koma, und außerdem glaubte, es könne meinem herzen schaden (das durch schwimmen und radfahren etwas verbreitert war). Bach kann ich jetzt, wie ich denke, ungestraft hören, aber den beethoven mag ich immer noch nicht, dieses drängen zum unterund überirdischen, mit den oft (für mich) kitschigen effekten und der ›gefühlsverwirrung‹. das ›sprengt alle bande‹ wie der merkantilismus, da ist diese innige pöbelhaftigkeit, dieses ›seid umschlungen, millionen‹, wo die millionen den doppelsinn haben (als ginge es weiter, ›dieses coca cola der ganzen welt!‹).« 3

Meine These lautete nun zunächst, dass der junge Brecht seinen ersten herzneurotischen Anfall – eben dieses »wilde Koma« – beim Besuch der Matthäus-Passion am Karfreitag, den 5. April 1912 in der Augsburger Barfüßerkirche an der Seite seiner Mutter erlitten haben muss, weil der Text der Matthäus-Passion, so beschaffen ist, dass all das Sündenbewusstsein, das seine Mutter ihm durch ihre pietistisch orientierte Erziehung über Jahre hinweg schon eingebläut hatte, nun, befeuert durch Bachs machtvolle Musik, gleichsam als geballte Ladung auf ihn einstürmte und ihn so ergriff, dass er dies geradezu als die Attacke eines strafenden Gottes erlebt haben muss, dessen Würgegriff er sich wehrlos ausgeliefert sah und den er wehrlos zu erleiden hatte. Mit einem Wort: Bachs Matthäus-Passion sollte sich für ihn als sein eigenes Passions-Erlebnis erweisen, das er dann in der ersten Phase seiner literarischen Produktion abzuarbeiten suchte. Diese These muss ich nun aber dahingehend korrigieren, dass Brecht am 5. April 1912 in der Augsburger Barfüßerkirche nicht seinen ersten herzneurotischen Anfall erlebt haben muss, sondern zwei Jahre später, am 29. März 1914, in der Augsburger Kirche von St. Anna einen besonders heftigen und außerdem in aller Öffentlichkeit, denn dort wurde Bachs Matthäus-Passion aufgeführt, wie der Augsburger Brechtforscher Michael Friedrichs herausgefunden 4 hat, doch die räumliche und zeitliche Verlegung dieses Schlüsselerlebnisses verändert meine These im Kern nicht. Woher aber diese vielen Erinnerungsfehler bei Brecht rühren, ist eine ganz andere Frage, der wir hier wohl nicht nachgehen müssen, weil wir sie eben nicht beantworten können.

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I · Gläubigkeiten und Ergriffenheiten

Bachs Matthäus-Passion stammt aus den 1720er-Jahren, aus einer Zeit also, in der der deutsche Pietismus sich schon machtvoll ausgebreitet hatte und zur beherrschenden Lebensform im protestantischen Deutschland 5 geworden war. Ablesbar ist dies z. B. an dem Umstand, dass genau zu dieser Zeit die Historie der Wiedergebohrnen von Johann Henrich Reitz 6, also das Hauptwerk des deutschen Pietismus, viele Auflagen erlebte und auf diese Weise zum ersten Bestseller der deutschen Literaturgeschichte wurde. Es empfiehlt sich also, auch Bachs Oratorium als ein Dokument des deutschen Pietismus zu lesen und zu interpretieren, das, gut pietistisch, mit allen möglichen poetischen und musikalischen Mitteln der Affekt-Mobilisierung, Überwältigung und Erschütterung zur »Wiedergeburt in Christo« anleiten und hinführen sollte und auch so aufgenommen werden wollte. Aus diesem Grund orientiert sich die Dramaturgie von Bachs Oratorium 7 in der Handlungsführung zwar ganz an den Stationen der Passion Jesu, wie sie im Evangelium des Matthäus berichtet wird, ergänzt all dies aber immer wieder durch Choräle, die z. T. von der Gemeinde mitgesungen werden können, und erzwingt dadurch von jedem einzelnen Mitglied dieser Gemeinde eine Stellungnahme zum Passions-Geschehen, die ihm vom Text des jeweiligen Chorals genau vorgegeben ist, und organisiert auf diese Weise den krisenhaften Bußkampf, der zum Durchbruch 8 der pietistischen Wiedergeburt führen soll, ganz so wie er in den exemplarischen Bekehrungsgeschichten von Johann Henrich Reitz beschrieben ist. Die Handlung des Oratoriums setzt beim 26. Kapitel des Matthäus-Evangeliums ein, also bei der Ankündigung Jesu, er werde in zwei Tagen gekreuzigt werden; dann folgt der Verrat des Judas, dann das Passah-Mahl, dann die Nacht am Ölberg, dann die Gefangennahme Jesu und die Flucht der Jünger, die Vernehmung Jesu vor dem Hohen Rat und seine Verurteilung und Geißelung, dann die Verleugnung durch Petrus und schließlich die Kreuzigung mit dem Tod Jesu (Mt.27,50). Der Erzähltext wird vom Evangelisten als Rezitativ vorgetragen, alle direkten Reden der beteiligten Personen werden von entsprechenden Solisten gesungen. Die Stellungnahme der Gemeinde zum Passionsgeschehen, die gemäß der Augsburger Aufführungstradition durch die z. T. mitgesungenen Choräle organisiert wird, besteht wesentlich in Bekundungen der eigenen Sündhaftigkeit und Schuldbeladenheit, weil die Gemeinde mit diesen Chorälen immer wieder die Schuld, die Jesus durch 46 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

»Ich bin’s, ich sollte büßen.«

sein Leiden abzubüßen hat, als eigene Schuld bekennt und eine eigene Bestrafung einfordert, die mit dem Leiden und Sterben Jesu mindestens vergleichbar sein müsse. Wenn z. B. Jesus während des Abendmahles zu seinen Jüngern sagt: »Einer unter euch wird mich verraten«, und alle Jünger ihn fragen: »Herr, bin ich’s?«, so fällt die Gemeinde mit einer Strophe aus einem Choral von Paul Gerhard ein und singt: Ich bin’s, ich sollte büßen, An Händen und an Füßen Gebunden in der Höll. Die Geißeln und die Banden, Und was du ausgestanden, Das hat verdienet meine Seel. (S. 137 f.)

Und an anderer Stelle heißt es im Choral der Gemeinde: Was ist die Ursach aller solcher Plagen? Ach meine Sünden haben dich geschlagen; Ich, ach! Herr Jesu, habe dies verschuldet, Was du erduldet. (S. 148)

Oder nach der Geißelung Jesu singt die Gemeinde: Wer hat dich so geschlagen, Mein Heil, und dich mit Plagen So übel zugericht’? Du bist ja nicht ein Sünder, Wie wir und unsre Kinder, Von Missetaten weißt du nicht. (S. 171)

Oder nach der Verleugnung des Petrus: Bin ich gleich von dir gewichen, Stell ich mich doch wieder ein; Hat uns doch dein Sohn verglichen Durch sein’ Angst und Todespein. Ich verleugne nicht die Schuld; Aber deine Gnad und Huld Ist viel grösser als die Sünde, Die ich stets in mir befinde.(S. 174)

Mit dieser Sünde, »die ich stets in mir befinde«, ist natürlich die ominöse Erbsünde gemeint, ein theologisches Konstrukt des christlichen Kirchenvaters Aurelius Augustinus, das in der Augsburger Konfession von 1530 eigens nochmal aufgegriffen und zu einem protestan47 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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tischen Dogma erhoben worden ist und auch die theologische Grundlage von Bachs Matthäus-Passion bildet. Der protestantische Theologe Wolfhart Pannenberg bezeichnet diese ominöse Erbsünde als eine Sünde, »mit der die Menschen bereits empfangen und geboren werden.« 9 Denn, so Pannenberg: »Die Menschen werden nicht durch ihre Taten erst und durch die Nachahmung des schlechten Beispiels anderer zu Sündern, sondern sie sind es schon vor allem eigenen Tun.« (S. 116 f.)

So gesehen ist Bachs Oratorium geradezu ein hell aufloderndes Schuld- und Sündenbekenntnis, das ganz der pietistischen Erweckungs-Dramaturgie folgt, und die totale Zerknirschung des gläubigen Zuhörers zum Ziel hat, weil für den wahren Pietisten nur dieser Zustand der totalen Zerknirschung zur erstrebten »Wiedergeburt in Christo« führen kann. An welcher Stelle der Matthäus-Passion der junge Brecht seinen ersten Herzanfall hatte, wissen wir nicht, sodass wir hier auf Vermutungen angewiesen sind. Es bietet sich aber an, dass dies an einer Stelle geschehen sein dürfte, an der die Gemeinde einen Text singt – und er mit ihr zusammen –, der seiner eigenen damaligen Situation am nächsten kam, und außerdem bei einem pietistisch erzogenen Knaben den höchsten Grad an Betroffenheit auslösen konnte, und das dürfte beim Tod Jesu gewesen sein, wenn der Evangelist berichtet: »Aber Jesus schrie abermal laut, und verschied.« (S. 202) Denn dann singt die Gemeinde, und der junge Berthold Eugen an der Seite seiner Mutter singt Verse mit, in denen sein eigenes Herz angesprochen wird. Es heißt da nämlich: Wenn ich einmal soll scheiden, So scheide nicht von mir, Wenn ich den Tod soll leiden, So tritt du dann herfür! Wenn mir am allerbängsten Wird um das Herze sein, So reiß mich aus den Ängsten Kraft deiner Angst und Pein! (S. 202)

An der Stelle könnte es gewesen sein, dass er, von einem Herzkrampf erfasst, seiner Mutter in die Arme sank, weil er sich das Leiden Jesu so sehr zu Herzen genommen hatte. Es hätte natürlich auch schon die Passage sein können, in der Jesus die Frage nach dem Verräter unter

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»Ich bin’s, ich sollte büßen.«

den eigenen Jüngern stellt, worauf die Gemeinde sich selbst als diesen Verräter bezeichnet und sich in die Hölle verdammt: Ich bin’s, ich sollte büßen, An Händen und an Füßen Gebunden in der Höll. Die Geißeln und die Banden, Und was du ausgestanden, Das hat verdienet meine Seel. (S. 137 f.)

Denn die Strafe, zu der die Gemeinde sich hier verdammt, ist genau das Angst-Szenario des verhinderten Impulses zur Flucht aus der Situation, verbunden mit dem sicheren Wissen, dass diese Flucht in aller Ewigkeit nicht gelingen kann, und außerdem verbunden mit dem Bewusstsein, dass man all dies auch selbst verschuldet hat. Es könnte aber auch so gewesen sein, dass diese Erinnerung an die eigene Angst-Situation zu Beginn des Oratoriums den Ausbruch des herzneurotischen Anfalls gegen Ende nur vorbereiten half. Brechts fromme Mutter dürfte mit diesem gemeinsamen Besuch der Matthäus-Passion wohl sehr zufrieden gewesen sein, weil sie hautnah erlebt hatte, wie sehr sich ihr geliebter Aigin die Botschaft von Bachs Oratorium zu Herzen nahm und wie genau der von ihr gewählte Konfirmationsspruch auf ihn zutraf. Und dass sein Herz fest werden würde durch die Gnade Gottes und nicht durch die Kunst der Ärzte, stand für sie als fromme Pietistin sowieso fest. Noch passender wäre es im Sinne meiner These gewesen, wenn gegen Ende des Oratoriums nicht nur die achte, sondern auch die neunte Strophe von Paul Gerhards Choral O Haupt voll Blut und Wunden gesungen worden wäre, denn dann hätte dieser Text dem frommen Eugen Brecht die Ätiologie seiner Herzneurose eigens nochmal verdeutlicht, weil er dann hätte hören können, wie seine Mutter singt: Da will ich nach dir blicken, da will ich glaubensvoll dich [meinen lieben Aigin, L. P.] fest an mein Herz drücken! Wer so stirbt [also im mütterlichen Würgegriff, L. P.], der stirbt wohl. 10

Doch auch so sollte sich dieses »wilde Koma« unter den Klängen von Bachs Oratorium für den jungen Brecht als typisch pietistisches Erweckungs-Erlebnis erweisen, aus dem er als pietistisch frommer Dichter hervorging, der in der ersten Phase seiner literarischen Pro49 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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duktion das Motiv des freiwilligen Selbstopfers, das ja schon das zentrale Thema von Bachs Oratorium war, aufgreift und in vielfältiger Form gestaltet und umgestaltet. So gesehen haben Hans-Harald Müller und Tom Kindt völlig recht, wenn sie in ihrer Brecht-Studie behaupten: »Von Gott muss reden, wer von Brecht redet. Brechts Weltbild und Lebensgefühl waren in der Jugend vom christlichen Glauben geprägt.« 11

Da dies aber nur für den jungen Brecht gilt, stellt sich natürlich sofort die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass der spätere Brecht bestimmt nicht mehr als christlicher Dichter gelten kann, und da müssen Müller und Kindt gestehen: »Aufgrund welcher Ereignisse und Erfahrungen das eingetreten ist, was in der Literatur meist als Verlust oder Zusammenbruch seines christlichen Glaubens bezeichnet wird, ist unbekannt.« 12

Nun, den Männern kann geholfen werden, denn wir werden bald sehen, durch welche Lese-Erfahrungen Brecht seine protestantischpietistische Erziehung abgeworfen und welche Konsequenzen dies für sein poetisches Werk gezeitigt hat. Zuerst aber müssen wir auf dieses poetische Frühwerk selbst eingehen, das in enger thematischer Orientierung an der Matthäus-Passion entstanden ist, in dem sich aber schon gewisse Tendenzen zeigen, die den jungen Brecht später zur völligen Ablösung vom Christentum führen sollten.

1.3 Passions-Szenarios Irgendwann während seiner Konfirmationszeit scheint Brecht Dostojewskijs Roman Die Brüder Karamasoff 1 gelesen zu haben, vielleicht aber auch bloß die berühmte Geschichte vom Großinquisitor. Dass er diesen Text schon sehr früh gekannt haben muss, geht allein schon daraus hervor, dass am Ende des Gedichts Lied von den Seligen von 1917 von »Bruder Baal und Bruder Karamasoff« (S. 480) die Rede ist, womit eigentlich nur Iwan Karamasoff gemeint sein kann, der im 5. Kapitel des 5. Buches seinem Bruder Alexej diese Geschichte vom Großinquisitor erzählt. Und außerdem finden sich in diesem Text Dostojewskijs einige Formulierungen, die dann auch bei Brecht wieder auftauchen. So ist 50 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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z. B. von einem See die Rede, in dem irgendwelche Sünder versinken, »und die vergißt schon Gott.« (S. 330) Genau dieses Bild findet sich in dem wunderbaren Gedicht Vom ertrunkenen Mädchen in der Hauspostille wieder, das mit den Versen endet: Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war Geschah es (sehr langsam), dass Gott sie allmählich vergaß Erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt erst ihr Haar. Dann ward sie Aas in Flüssen mit vielem Aas. (S. 114)

Oder wenn der Großinquisitor die Parole ausgibt »Sättige die Masse und dann erst verlange Tugend von ihr!« (S. 337), so denkt man natürlich sofort an den mittlerweile sprichwörtlich gewordenen Vers aus der Dreigroschenoper »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.« (S. 149) Die frühen Gedichte, die sich als Echos der Passionsgeschichte lesen lassen, also die Gedichte Emaus (S. 426), Christus vor dem Hohen Rat (S. 439) und Gethsema-neh 2 zeigen ganz im Stil Dostojewskijs einen schweigenden Christus, nur in dem Gedicht Judas Ischarioth (S. 421) spricht Jesus einen kurzen Satz, mit dem er Judas wegen seines Verrats zur Rede stellt. Dass Brechts Jesus auch beim Verhör vor dem Hohen Rat schweigt, widerspricht eigentlich der Passionsgeschichte, weil Jesus sich dort explizit dazu bekennt, der Sohn Gottes zu sein 3, und dadurch seine sofortige Verurteilung provoziert. Offenbar wollte Brecht lieber die effektvolle Szene aufgreifen, die er bei Dostojewskij vorfand, wo Jesus schweigend durch die Menge geht und aufgrund seiner charismatischen Ausstrahlung sofort von allen als der Christus erkannt wird: »Mit unwiderstehlicher Gewalt drängt sich das Volk zu Ihm hin, es umgibt Ihn, es wächst um Ihn herum und folgt seinen Schritten. Schweigend wandelt Er unter ihnen mit dem stillen Lächeln unendlichen Mitgefühls. Die Sonne der Liebe brennt in seinem Herzen, Strahlen von Licht und Kraft fließen aus seinen Augen, strömen über die Masse hin und entzünden die Herzen aller in Gegenliebe. Er streckt die Hände nach ihnen aus. Er segnet sie, und von seiner Berührung, ja vom Saume seines Gewandes geht heilende Kraft aus.« (S. 332)

Deshalb heißt es wohl auch in Brechts Fassung zu Beginn der VerhörSzene:

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Dann, als die Stufen des Palastes er ersteigt Von silbernem Lanzengefunkel umschwankt Von Fackeln rot in irrem Tanz umzuckt Steht all das dunkle Volk geduckt Als ob ihm vor dem König bangt Der still und groß zur Krönung geht – Steht all das dunkle Volk ganz totenstill – Doch von Ihm aus – obgleich er immer schweigt – Fleht noch für alle, alle ein Gebet Das unter Tränen Trost noch lächeln will. (S. 439)

Das beharrliche Schweigen Jesu nach dem verweigerten Widerruf schildert Brecht dann ebenfalls in enger Orientierung an Dostojewskij als eine Atmosphäre von bezwingender Umhaftigkeit, oder er versucht es zumindest: Die Stille schwillt und schwingt in wehem Beben Es ist, als ob mit seltsamen Gesängen Die Türen rings ganz plötzlich sprängen Und Blütengärten, nachtblau überbaut Durchtönt von süßem Violinenlaut Festlich einluden wie zu tiefem Leben … Er aber steht noch immer. Sein Gesicht Weiß, starr zurückgebeugt zum Ampellicht. Ringsum brütet noch immer Totenruh … Seht nur: In Seinen Augen steigt Das helle, lohe, golden tiefe Licht – Geblendet sich das Haupt zu Boden neigt – – Und Christus – schweigt. – – Rings wehen geisterleis die weiten Türen zu. (S. 440)

In den Sommerferien 1913 fassten Brecht und einige seiner Freunde den Plan, sich ernsthaft der Literatur zu widmen und eine Zeitschrift zu gründen, der sie den Titel Die Ernte 4 gaben. Von dieser Zeitschrift erschienen dann vom September 1913 bis Februar 1914 sieben Hefte und ein Sonderheft. Brecht selbst steuerte ungefähr ein Dutzend Texte bei, von denen für unsere Fragestellung aber nur drei von größerer Bedeutung sind, auf die wir deshalb auch eigens eingehen müssen: • Ein kurzer Aufsatz über Gerhart Hauptmann in Heft 2 vom Oktober 1913 • Der Einakter Die Bibel in Heft 5 vom Januar 1914 • Das Gedicht Der brennende Baum in Heft 7 vom Februar 1914.

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Der kurze Aufsatz über Gerhart Hauptmann, die erste öffentliche Stellungnahme Brechts zu einem Schriftsteller-Kollegen überhaupt, hatte einen konkreten aktuellen Anlass, weil das Festspiel in deutschen Reimen, das Hauptmann zur Jahrhundertfeier der Völkerschlacht von Leipzig und zu Befreiung Deutschlands von der Fremdherrschaft Napoleons geschrieben hatte, dem offiziellen Deutschland nicht patriotisch genug war, und deshalb bald nach der Uraufführung vom 31. Mai 1913 in Breslau abgesetzt worden war. In seinem Tagebuch No.10 von 1913 hatte Brecht schon am 29. Juni 1913 zu dieser Absetzung Stellung genommen und recht selbstbewusst notiert: »Schreibe ein Jahrhundertfestspiel, das sogar den Breslauern gefällt« (S. 42). Er hat diesen Plan aber dann doch nicht ausgeführt, möglicherweise deshalb, weil dieses Opus ein Paradebeispiel an patriotischer Gesinnung hätte sein müssen und außerdem eine literarische Großform, die er sich noch nicht so recht zutraute. In seinem kleinen Aufsatz über Gerhart Hauptmann stellt er diesen etwas altklug im Stil eines Literaturhistorikers vor, nennt ihn »den führenden Mann der deutschen Dramatik« (S. 92) und preist v. a. seine Dramen Das Friedensfest, Die Weber, Einsame Menschen, Die Versunkene Glocke und Hanneles Himmelfahrt als »Blüten echter Dichtkunst« (S. 95). Am Ende seiner Betrachtung schreibt er dann aber in deutlicher Anspielung auf das Breslauer Festspiel: »Und wenn auch Gerh. Hauptmann jetzt eine weniger glückliche Schaffensperiode durchlebt, darf man von ihm immer noch viele, große und erhabene Werke erwarten.« (S. 95)

Angesichts dieser etwas ambivalenten Haltung zu Hauptmann ist es völlig abwegig, wenn Jürgen Hillesheim als der Herausgeber der Reprint-Ausgabe der Ernte behauptet, schon der 15jährige Schüler Brecht »beziehe hier erstmals eine klare Position gegen den patriotischen Zeitgeist und deute in dieser Hinsicht voraus auf seine kritische Auseinandersetzung mit dem Aufsatzthema Dulce et decorum est pro patria mori.« (vgl. S. 57) Denn wenn man Brechts Texte aus dieser Zeit unvoreingenommen liest, zeigt sich sehr bald, in welch hohem Maß er diesem protestantisch-patriotischen Zeitgeist des wilhelminischen Reiches auf das engste verhaftet war und wie sehr er ihm gehuldigt hat. Dass dies nicht ewig so geblieben ist, wird sich bald zeigen, und es wird sich auch zeigen, warum dies nicht so geblieben ist. Deshalb ist es auch nicht nötig, die politischen Positionen, die 53 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Brecht später eingenommen und vertreten hat, so gewaltsam in den frühen Brecht hineinzuprojizieren. So findet sich z. B. in Heft 7 vom Februar 1914 aus Brechts Feder eine heftige Polemik gegen den Tango, der damals in einem wahren Siegeszug ganz Europa eroberte, in der Brecht im Stil eines deutschnationalen Bußpredigers gegen artfremdes undeutsches Wesen wettert und die Rückbesinnung auf die eigene Kultur einklagt: »Die Deutschen lassen sich die Religionen von Italien, die Mode von Frankreich und den Tango von Amerika diktieren.« (S. 143)

Und deshalb: »Weg mit allen exotischen Manieren! Fort mit fremdem Usus, die uns Deutsche nur blamieren. – – Denket Deutsche: Quod licet bovi non licet Jovi.« (S. 143)

Das heißt doch wohl: Was welschem Pöbel erlaubt sein mag, das ziemt sich für deutsche Herrenmenschen noch lange nicht! Dass es sich bei dieser Bußpredigt nicht um Camouflage handelt, sondern um unverstellte Rede, zeigt das Sonderheft zur Einweihung des Leipziger Völker-schlacht-Denkmals im Herbst 1913, das ebenfalls in diesem entschieden deutschnationalen Ton gehalten ist und »jene eiserne Zeit« (S. 111 f.) feiert, an der sich auch hundert Jahre später noch jeder echte deutsche Patriot zu orientieren habe, denn die beiden letzten Strophen dieses langen Gedichtes über das Jahr 1813 lauten: Und jetzt, nach 100 Jahren, steht wieder eine Welt Starr gegen uns und wir sind ganz allein Da heißt es denn vom Rhein bis an den Belt, recht stark und einig sein. Schaut, Deutsche, in Vergangenheit! In jene eiserne Zeit! Oh, gib uns, Gott, in Kriegen und Gefahren Echt deutsche Männer dann, von Stahl u. Eisen, die, wie im Kampf vor 100 Jahren, dem Feinde trotzig deutsche Männer weisen dass die Enkel bestaunen das Kämpfen v. heute das war eine eiserne Zeit! (S. 112)

Diese säbelrasselnden Verse stammen zwar nicht von Brecht selbst, und der Herausgeber Hillesheim schweigt sich denn auch darüber

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aus, wer der Verfasser gewesen sein könnte, als Herausgeber der Zeitschrift muss Brecht diese Verse aber zumindest hingenommen haben. Ihr spezifisches zeitgenössisches Aroma bekommen diese Verse aber erst, wenn man sich vor Augen hält, dass schon eine Woche nach den patriotischen Fest- und Feiertagen zur Einweihung des Leipziger Denkmals im Oktober 1913 die Affäre Zabern begann, die allgemein als tiefe Krise des Kaiserreiches empfunden wurde, weil sie mit einem Schlag die innere Brüchigkeit dieses Regimes offenbarte. In Zabern, einer Kleinstadt im Elsass, die seit 1871 wieder zum Deutschen Reich gehörte, hatte sich am 28. Oktober 1913 ein junger preußischer Leutnant so schnöselhaft arrogant aufgeführt, als ob er sich in einer Kolonie in Afrika befände, denn er hatte seine Rekruten angewiesen, bei irgendwelchen Auseinandersetzungen mit den Bürgern von Zabern sofort den Säbel zu ziehen und dann hinzugefügt: »Wenn ihr dabei einen solchen Wackes über den Haufen stecht, schadet es auch nichts.« 5 Da der Ausdruck »Wackes« als extrem abfälliges Schimpfwort zur Bezeichnung der Elsässer galt und die Verachtung der preußischen Besatzungsmacht gegenüber den zurückeroberten Provinzen deutlich werden ließ, kam es in Zabern sofort zu heftigen Unruhen, auf die das preußische Militär wiederum so arrogant reagierte wie eine Kolonialmacht gegenüber Eingeborenen, und so wuchs sich die Affäre Zabern im Spätherbst 1913 alsbald zu einer veritablen Staatsaffäre aus, die dadurch noch weiter gesteigert wurde, dass der deutsche Kronprinz sich nicht entblödete, in einem Telegramm nach Zabern die Parole »Immer feste druff!« auszugeben. Brecht kommentierte die preußische Säbelherrschaft, die in der Affäre Zabern sichtbar wurde, im 7. Heft der Ernte vom Februar 1914 mit einer sarkastischen antipreußischen Glosse, die mit den Worten »Es ist Fasching. Die Zeit zum Lachen« beginnt. Und dann heißt es über die »paar Krautjunker und schneidigen Militärs« von Zabern: »Überhaupts! Wenn wo was Großes unternommen wird, ist’s von Preußen! Es waren natürlich auch Preußen bei der Schose im Elsaß. Wo das schneidige Militär in Zabern die frechen Wackes zurecht wies. – Es ist endlich Zeit, dass man die Dinge beim rechten Namen nennt: Preussische Flotte, Preussischer Rhein und natürlich Preussische Wehrsteuer.« (S. 146)

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Abgezeichnet ist diese Glosse mit »Eugen Brecht«. Doch auch diese deutlich antipreußische Haltung darf man nicht einfachhin als prinzipielle Opposition zum Kaiserreich verstehen oder gar den jungen Brecht zu einem konsequenten Pazifisten hochstilisieren, wie Hillesheim dies versucht. Wie verfehlt eine solche Deutung von Brechts Frühwerk schon im Ansatz ist, wird sich in aller Deutlichkeit jedoch erst zeigen, wenn wir auf seine Gedichte aus den Jahren 1914–1916 eingehen werden, in denen er das Kriegsgeschehen auf der Folie eines pietistisch-patriotischen Blut-und Wunden-Kultes deutete. Doch so weit sind wir jetzt noch nicht.

1.4 »Wir opfern uns gern.« Der weitaus wichtigste Text, den Brecht in seiner Zeitschrift veröffentlichte, ist sicher der Einakter Die Bibel in Heft 6 vom Januar 1914, denn diese drei kurzen Szenen sind sein erstes Drama überhaupt, so winzig es auch immer sein mag. Ort der Handlung ist eine von katholischen Truppen belagerte und schon sturmreif geschossene protestantische Stadt in den Niederlanden während der Religionskriege, ganz so verlassen und von Feinden eingekreist, wie das anonyme 1813er Gedicht in der Ernte die Lage des Deutschen Reiches von 1914 beschreibt. Das Motiv stammt aus dem Buch Judith, das auch Hebbel schon in einem Drama verwendet hatte, und dieses Drama kannte Brecht natürlich. Die Handlung selbst beginnt damit, dass der Großvater, ein veritabler Gottprotz vor dem Herrn, aus dem Matthäus-Evangelium die Sterbeszene Jesu vorliest (Mt.27,46 ff.), wenn auch mit leichten Veränderungen im Text, und somit behandelt auch Brechts erstes Stück das Thema des freiwilligen Selbstopfers für andere. Aus dem Dialog zwischen Großvater und Enkelin erfahren wir, dass Vater und Bruder mit den Worten »Wir opfern uns gern« (S. 130) aus dem Haus gegangen sind, um die Stadt zu verteidigen, weshalb das Mädchen um das Leben der beiden bangt, wohingegen der Großvater mit dogmatisch verhärtetem Herzen erneut zur Bibel greift und daraus vorliest, um damit sein unerschütterliches Gottvertrauen zu bekunden. Doch da greift das Mädchen zu einem Argument, das in der weiteren religiösen Dichtung Brechts eine entscheidende Rolle spielen und seine allmähliche Ablösung vom pietistisch geprägten Christentum seiner Mutter vorbereiten wird, denn sie erwidert ihrem Großvater: 56 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

»Wir opfern uns gern.«

»Erzähle etwas anderes! Deine Bibel ist kalt. Erzähle etwas von Not und Tod, aber von der Hilfe Gottes. Erzähle von dem guten rettenden Gott. Deine Bibel kennt nur den Strafenden.« (S. 131)

Ihre Polemik richtet sich also, deutlich erkennbar, gegen den von Augustinus erfundenen Gott und gegen dessen gnadenlose Gnadenlehre 1, auf die sich auch der geradezu pathologische Sündenstolz des Pietismus von Anfang an gegründet hat. Doch dieser Streit wird nicht weiter ausgetragen, weil Vater und Bruder auftreten, die völlig aussichtslose Lage der Stadt beschreiben und die Bedingungen nennen, unter denen der feindliche Feldherr die sturmreife Stadt verschonen werde, und diese beiden Bedingungen lauten: Die Stadt soll verschont werden, wenn alle protestantischen Bewohner zum katholischen Glauben übertreten und wenn außerdem die Tochter des Bürgermeisters sich dem feindlichen Feldherren für eine Bettnacht opfert. Nach längeren inneren Kämpfen entscheidet sich das Mädchen dann, sich für die Stadt zu opfern, da sie eben die Tochter des Bürgermeisters ist, wird aber von ihrem Großvater mit dem Argument davor zurückgehalten, dass ihr privates Selbstopfer ja nur eine der beiden Bedingungen des feindlichen Feldherren erfülle, und sie selbst ja auch die Konfession wechseln müsse, sodass ihr Selbstopfer also letztlich sinnlos sei. Und so beruft er sich denn direkt auf Jesus selbst mit dem Appell: »Kennst du das Wort Gottes nicht? Wer mich verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen 2 vor meinem himmlischen Vater! Mädchen, Mädchen! Ist deine Seele nicht mehr wert als die Körper von Tausenden? Wahrlich, sagt der Herr, wer Vater und Mutter 3 mehr lieb hat, als mich, ist meiner nicht wert! – Du musst fest bleiben, denk an deine Seele!« (S. 134)

Diese dogmatisch theologische Argumentation lehnt nun aber der Bruder wieder ab und appelliert an sie, ihrem ersten spontanen Entschluss zu vertrauen, wohl auch mit dem Hintergedanken, dass es ihr vielleicht sogar gelingen könnte, in der Nacht den Feldherrn dazu zu bringen, auf die zweite Bedingung zu verzichten, und will sie gleich mitnehmen: »Schweig, du alter Narr! Mit deiner Bibel, die so kalt und gerecht ist, wie du! Folge deinem Herzen, Mädchen! Ist es nicht schön, für Tausende zu leiden? Komm …, schnell!« (S. 134)

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Doch das Mädchen weigert sich und gehorcht letztlich doch dem Großvater und damit eben auch seiner »kalten Bibel« und dem strafenden Gott des Augustinus, worauf Vater und Sohn sich ihrerseits entschließen, zur Verteidigung ihrer Stadt in den Kampf zu ziehen, auch wenn dieser Kampf noch so aussichtslos sein mag, und sich als Helden zu opfern, denn: »Wir opfern uns gern.« In der dritten und letzten Szene ist die Stadt gestürmt und geht unter dem frommen Lärm aller Kirchenglocken in Flammen auf, worin das Mädchen die Stimme des strafenden Gottes zu erkennen glaubt. Und dann heißt es in der Regieanweisung: »Starr und stumm schreitet sie, an Großvater vorbei, hinaus. Der Großvater sieht ihr starr nach. – Das Donnern wird stärker und schwillt rollend auf. Ein betäubender Krach, ganz dicht am Haus. Rauch und Feuer schießen zum Fenster herein. Das Haus brennt. Dann wird plötzlich alles still.« (S. 136)

Und in diese Stille hinein spricht dann der Großvater »laut und hallend« Verse aus der Emaus-Szene (Lukas 24,29): »Herr bleibe bei uns! Denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget.« (S. 136) Und dann endet das Stück mit den Worten: »Der Vorhang rauscht über dem brennenden Gemach zusammen.« (S. 136) Dieser Schluss ist zwar nicht ganz unkomisch durch den Kontrast zwischen dem pastoral gestimmten Text aus der Emmaus-Szene und der Wagnerschen Walhall-Apokalyptik, und das Mädchen schreitet zwar bloß stumm in das Flammenmeer hinaus und reitet nicht mit einem einzigen Satz in einen brennenden Scheiterhaufen, aber die Analogie zwischen Brechts Bibel-Stück und Wagners Götterdämmerung ist doch deutlich genug, weil in beiden Szenen eine ganze Welt in Flammen untergeht. Und wie alles »plötzlich« still werden kann, will mir auch nicht so recht einleuchten. Für Hans-Harald Müller und Tom Kindt ist Brechts dramatischer Erstling »ein Drama um die Nachfolge Christi« (S. 22), sie fügen aber vorsichtshalber hinzu: »Er lässt die Menschen seines Stückes aber an ihr scheitern. Sein Einakter endet nicht, wie der biblische Text [also das Buch Judith, L. P.] glücklich, sondern in einer Katastrophe: Hoffnung auf eine Lösung ist nirgendwo erkennbar, die Gesellschaft will oder kann der imitatio Christi nicht gerecht werden.« (S. 22)

Ganz ähnlich argumentiert Eberhard Rohse 4, der als erster das Frühwerk Brechts unter theologischen Aspekten analysiert hat. Doch bei58 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

»Wir opfern uns gern.«

de übersehen, dass in dem Satz von Vater und Bruder »Wir opfern uns gern« sehr wohl eine Variante der Nachfolge Christi sichtbar wird, wenn auch im Gewand eines halb säkularen und halb christlichen patriotischen Blut-und-Wunden-Kultes, wie er im pietistischen Milieu des 18. Jahrhunderts entwickelt und in protestantischen Kreisen bis ins 20. Jahrhundert überliefert worden ist und im Kult von Langemarck dann seinen Höhepunkt fand, und an diesem patriotischen Blut-und-Wunden-Kult hat der junge Brecht als Poet eine ganze Weile kräftig mitgewirkt. Wir werden eigens darauf eingehen. Das Flammen-Inferno am Ende von Brechts dramatischem Erstling wirft aber noch eine andere Frage auf, denn Brechts offenkundige Faszination durch dieses Motiv zeigt sich auch in dem Gedicht Der brennende Baum, das er für so wichtig hielt, dass er es auch in das letzte Heft seiner Zeitschrift Die Ernte von Februar 1914 aufnahm. Abgezeichnet ist es mit »Eugen Brecht«. Der brennende Baum Durch des Abends dunstig roten Nebel Sahen wir die roten, steilen Flammen Schwelend schlagen in den schwarzen Himmel. In den Feldern dort in schwüler Stille Prasselnd Brannte ein Baum. Hochauf reckten sich die schreckerstarrten Äste Schwarz, von rotem Funkenregen Wild und wirr umtanzt. Durch den Nebel brandete die Feuerflut. Schaurig tanzten wirre, dorre Blätter Aufjauchzend, frei, um zu verkohlen Höhnend um den alten Stamm. Doch still und groß hinleuchtend in die Nacht So wie ein alter Recke, müd, todmüd Doch königlich in seiner Not Stand der brennende Baum. Und plötzlich reckt er auf die schwarzen, starren Äste Hoch schießt die Purpurlohe an ihm auf – Hoch steht er in dem schwarzen Himmel eine Weile Dann kracht der Stamm, von Funken rot umtanzt Zusammen. 5

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Hier wird einem alten majestätischen Baum offensichtlich etwas angetan: Er steht einsam, aber königlich da in seiner Not, wird gequält und verhöhnt, bäumt sich in einem letzten Akt von Widerstand noch einmal auf und kracht dann zusammen. Wir haben es also mit einer weiteren Passions-Geschichte und einer Variante der Nachfolge Christi zu tun, bei der sich der biblische Jesus gleichsam in einen Baum verwandelt hat, der nun dessen Leiden und Sterben nachvollzieht. Aber diese Passionsgeschichte des brennenden Baumes ist kein stellvertretendes Leiden und Sterben mit dem Anspruch, eine Erlösung für andere zu bewirken, sondern ein rein physikalischer Vorgang, so faszinierend der Anblick eines solch gewaltigen Untergangs auch immer sein mag. Aber warum ist davon die Rede, dass die Blätter »aufjauchzen«, weil sie nun verkohlen können? Und warum sollten sie den Baum »verhöhnen«, dessen Teile sie doch einmal waren und eigentlich immer noch sind? Sollte der junge Brecht vielleicht Goethes Werther-Roman gelesen haben, in dem Werther im Brief vom 18. August das Bild einer sich selbst zerstörenden und uroborisch sich selbst verzehrenden Natur als Spiegelbild seiner eigenen Verfassung entwirft, wenn er schreibt: »Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabs. Kannst du sagen: Das ist! da alles vorüber geht? da alles mit der Wetterschnelle vorüberrollt, so selten die ganze Kraft seines Daseins ausdauert, ach! in den Strom fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird? Da ist kein Augenblick, der dich nicht verzehrte und die Deinigen um dich her, kein Augenblick, da du nicht ein Zerstörer bist, sein musst; der harmloseste Spaziergang kostet tausend armen Würmchen das Leben, es zerrüttet ein Fußtritt die mühseligen Gebäude der Ameisen, und stampft eine kleine Welt in ein schmähliches Grab. Ha! nicht die große seltene Not der Welt, diese Fluten, die eure Dörfer wegspülen, diese Erdbeben, die eure Städte verschlingen, rühren mich; mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt; die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte. Und so taumle ich beängstigt, Himmel und Erde und ihre webenden Kräfte um mich her: Ich sehe nichts, als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer.« 6

Wir könnten Brechts Gedicht Der brennende Baum natürlich auch im Lichte eines berühmten Gedichtes von Nietzsche lesen, in dem ebenfalls dargestellt wird, wie etwas nach dem Prinzip consumendo 60 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

»Wir opfern uns gern.«

consumor sich selbst verzehrt und das sich liest, als ob Brechts brennender Baum über sich selbst spreche: Ecce homo Ja ich weiß, woher ich stamme! Ungesättigt gleich der Flamme Glühe und verzehr ich mich. Licht wird alles, was ich fasse, Asche alles, was ich lasse: Flamme bin ich sicherlich. 7

Dieses ›uroborische‹ Motiv 8, dass etwas sich selbst verzehrt, taucht in Brechts Œuvre in dem frühen Gedicht Der brennende Baum zum ersten Mal und nur ganz kurz auf, wird aber nach der Wende von 1916/17 für einige Jahre zum zentralen Motiv überhaupt werden und sich in der Gestalt Baal verdichten. Das aber heißt zugleich auch, dass das bislang zentrale christlich bestimmte Motiv des stellvertretenden Selbstopfers-für-andere abgelöst wird durch das dann genauso zentrale Motiv des egoistischen Selbstverzehrs eines uroborischen Eigners im Sinne von Max Stirner. Der auf den ersten Blick naheliegende Vergleich dieses brennenden Baumes mit dem brennenden Dornbusch, der bei der Berufung Moses eine so wichtige Funktion hat, weil dieser brennende Dornbusch am Fuß des Gottesberges Horeb die Anwesenheit eines Gottes bekundet, führt hier aber nicht weiter, weil dieser brennende Dornbusch eben gerade nicht verbrennt und im Brennen sich selbst verzehrt, und auch deshalb, weil Mose von diesem Busch und seinem göttlichen Feuer eigens ferngehalten wird, denn es heißt dort über Mose: »Und der Engel des Herrn erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Busch. Und er sah, dass der Busch mit Feuer brannte und er ward doch nicht verzehrt; und sprach: Ich will dahin und beschauen dies große Gesicht, warum der Busch nicht verbrennt. Da aber der Herr sah, dass er hinging, zu sehen, rief Gott aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe aus von deinen Füßen: denn der Ort, darauf du stehst, ist ein heilig Land.« (2. Mose 3,2–5)

Der brennende Dornbusch bei der Berufung Moses ist also gerade kein Objekt der Identifikation, und auch kein Modell für eine mögliche Selbstverausgabung und Verklärung, sondern als Ort für die Of61 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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fenbarung eines Gottes das fundamental Andere und auf ewig Fremde. Auch ein Bezug zu dem Gedicht Ardens sed virens aus den späten dreißiger Jahren führt uns nicht weiter, denn der Refrain dieses Gedichts »Brennend, aber nicht verzehrt« heißt doch wohl »für mich brennend, aber nicht von mir verzehrt/verwertet/verbraucht«: Ardens sed virens Herrlich, was im schönen Feuer Nicht zu kalter Asche kehrt! Schwester, sieh, du bist mir teuer Brennend, aber nicht verzehrt. Viele sah ich schlau erkalten Hitzige stürzen unbelehrt Schwester, dich kann ich behalten Brennend, aber nicht verzehrt. Ach, für dich stand, wegzureiten Hinterm Schlachtfeld nie ein Pferd Darum sah ich dich mit Vorsicht streiten Brennend, aber nicht verzehrt. (S. 1226 f.)

1.5 Erste Zweifel Am 5. Dezember 1913 notiert Brecht bekümmert in sein Tagebuch, sein Vater sei krank, und befürchtet, es könne sich um Magenkrebs handeln. Und dann fügt er hinzu: »Was ist das Christentum eine bequeme Religion: man glaubt fest an die Hilfe Gottes! – Und ich zweifle!« (S. 90)

Und weil er an der Hilfe durch Gott offenbar schon zweifelte, versuchte er seine Sorgen um den Vater durch ein Gedicht zu artikulieren: Sorge Dumpf ist der Tag. Die graue Sorge geht Still in dem stillen Hause um. Es ist, als taste ein Gebet Durch schwüle Räume. Und ein Etwas steht Dort vor der Türe riesengroß und stumm.

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Erste Zweifel

Dumpf ist der Tag. Der Dämmertag verweht – – – 2 Sterbekerzen schwälen rot u. stumm, u. Thränen schluchzen im Gebet … Seid still, die graue Sorge geht still in dem stillen Hause um. 1

Die Krankheit des Vaters konnte zwar geheilt werden, aber das war zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen, weshalb die Frage, wie weit man auf die Hilfe Gottes vertrauen dürfe, wenn man ihn vertrauensvoll anrief, für den jungen Dichter Brecht weiterhin ein aktuelles Thema blieb, das er in weiteren Gedichten zu gestalten unternahm. Da Brecht in seinen späteren Selbstdarstellungs-Gedichten gerne darauf verwies, er stamme »aus den schwarzen Wäldern« (S. 124), darf man annehmen, dass die Schwarzwälder Dorfgeschichten von Berthold Auerbach im Bücherschrank seiner Eltern gestanden haben dürften, und dort findet sich u. a. die Erzählung Luzifer, ein sehr typisches Zeugnis der deutschen Vormärz-Literatur, das mit der Ideologie der Heiligen Allianz streng ins Gericht geht und außerdem genau die Frage nach der Rechtfertigung Gottes aus seinem Wirken in der Welt aufwirft, die dem jungen Brecht damals auf den Nägeln brannte. Erzählt wird die Auseinandersetzung eines Bauern mit dem Dorfpfarrer, einem fanatischen ultramontanen Hassprediger, die damit endet, dass der Bauer Luzian Hillebrand zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird und nach seiner Entlassung nach Amerika auswandert. Der Grund für diesen erbitterten Streit, der von beiden Seiten mit allen Mitteln und aller Härte geführt wird, ist der Umstand, dass Luzian eine Hagelversicherung abgeschlossen hat, was für diesen ultramontanen Hassprediger natürlich ein Misstrauensvotum gegen Gott und die Gnadenmittel der katholischen Kirche darstellt, sodass er diesen Schritt von der Kanzel herab in einer flammenden Bußpredigt als Beweis dafür darstellt, dass auch schon hier in seinem frommen Dorf der »Aufkläricht« 2 um sich gegriffen und die Seelen vergiftet habe. Und als dann tatsächlich ein Gewitter aufzieht, das die Ernte völlig vernichtet und Luzian seine Versicherungssumme abholt, eskaliert der Streit zwischen beiden Kontrahenten bis an die Schmerzgrenze, weil sich das profane Mittel einer Hagelversicherung als effektiver als alle Bittprozessionen erwiesen hat. Und mit einer solchen Bittprozession beginnt denn auch die Erzählung:

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»Die Morgenglocken tönen und klingen und wollen nicht enden, durch die stillwogende Saat wallt in langer Reihe eine fromme Schaar, die Kirchenfahnen blau und roth flattern und knattern im sanften Windhauch, laut ausgerufene Worte werden nachgemurmelt in der endlosen Reihe, Gesänge schallen hin über Wiese und Feld und der rauschende Wald verschlingt sie. Hoch oben im Blau verborgen schmettert die Lerche ihr Lied und badet im lichten Aether; erfrischender Duft athmet von den Höhen und aus den Gründen, und die Weihrauchwölkchen aus den geschwungenen Kesseln zertheilen sich rasch. Dort senkt sich der Zug den Feldweg hinab, die Fahnen sind versunken und die Menschen mit ihnen, dort aber steigen sie schon wieder die Höhe jenseits hinan; weit voraus sind die Ersten und noch bewegt das Ende des Zuges zwischen den Hecken der Gärten am Dorfe. Die Menschen ziehen hin durch die Flur und danken dem Gotte, der so reiche Saat emporsprossen ließ, sie flehen um ferneren Schutz und segnen die Frucht ihrer Arbeit. Es ist der Bittgang durch das Feld.« 3

Dieses Bild eines latent bedrohten ländlichen Friedens verwendet nun auch der junge Brecht in zweien seiner ganz frühen Gedichte, die kurz nacheinander im Juni 1913 entstanden sind: Einmal in dem Gedicht Emaus 4, indem er diese pastorale Szene mit dem bekannten Schlafzimmerbild Christus im Ährenfeld von Johann Raphael Wehle überblendet, das damals in unendlich vielen Öldruck-Reproduktionen verbreitet war und womöglich auch über dem Ehebett von Brechts Eltern hing. Emaus Er ging mit seinen Jüngern über Feld – Der Abend legte seinen weichen Schatten, auf goldene, glänzende Ährenmatten, bald schlummert die Welt. Hoch stehen die Halme in goldener Wucht, ragen träumend in die Abendluft u. rings war ein Atmen von schwerem Duft, v. würzigem Duft der Erdenfrucht, der stark und kräftig am Boden hing. Die Halme stehen hoch und hehr, recken stolz u. herrisch in die Höhe sich – –##– Doch wenn der Herr vorüber ging, dann neigten sie sich so feierlich als wenn ein König wandle einher. 5

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Erste Zweifel

Wie bedroht dieser ländliche Frieden sein kann, zeigt Brecht in dem Gedicht Der Hagel 6, mit dem er die pastorale Stimmung des EmausGedichtes rabiat konterkariert und damit nicht nur erste und sofort auch massive Zweifel an der Theodizee-Ideologie anmeldet, derzufolge ein allwissender Gott kräftig zu loben sei, weil er »alles so herrlich regieret« 7, denn hier wird ein Gott dargestellt, der mit den gläubigen Bauern ein geradezu sadistisches Szenario veranstaltet und sie genauso lustquält wie im Alten Testament der gläubige Gottesknecht Hiob von seinem Gott gequält worden ist. Zeigt das erste Gedicht also den Beginn von Auerbachs Erzählung, so zeigt das zweite deren katastrophales Ende: Der Hagel Der Hagel fiel …… Stürzt sich hinunter auf Feld und Hag Wie in grausamem, teuflischem Spiel. Auf die geduckte Erde pochen -#-#Wie Steine schwer Seine knöchernen, harten Finger mit stummem Schlag. Diese Gottesfinger schlagen Aus dem dräuenden, tückischen Wolkenmeer In jauchzendem Jagen Alles zusammen. An den blinden Fensterchen im Dorfe stehen Müßig die Bauern u. sehen mit stummen Klagen graue Mauern sich auf die arme Erde senken. Was sie erarbeitet in vielen Wochen Müssen sie untergehen sehen. Und die Bauern standen mit bangem Gesicht Sie begriffen es nicht ……. Warum nur der Herr sie schlug? Sie waren doch in die Kirche gegangen Wenn am Sonntag die Glocken sangen ….. Sie hatten die Felder gesegnet mit heißem Beten ……… sie kannten nicht Lug und Trug …. Warum hatte dafür Gott alles zertreten? Hatten sie nicht einen alten Schwur:

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»Rufe mich an in der Not, ich will dich erretten!« 8 Warum dann der Hagel schlug? Warum nur? (S. 425 f.)

Wie man sieht, unterscheiden sich beide Gedichte nicht nur in der dort geschilderten Atmosphäre, also in dem Kontrast zwischen einer pastoralen und einer katastrophalen Stimmung, sondern auch in der Perspektive, die das lyrische Ich dem jeweiligen Hauptakteur gegenüber einnimmt: Im Emaus-Gedicht reiht es sich gleichsam als Jünger Jesu in dessen Gefolge mit ein und genießt mit ihm zusammen die Verehrung, die die Natur ihm durch ihre Verneigungen bezeugt. Im Hagel-Gedicht solidarisiert es sich mit den Bauern, die ihren Gott zwar gläubig angerufen haben, weil sie auf dessen Hilfe vertrauten, die aber erleben müssen, dass dieser Gott ihnen nicht hilft, sondern dass sie sich eher selber helfen und dem Beispiel Luzians folgen sollten, und genau so lässt Brecht später auch Pelagea Wlassowa in seinem Stück Die Mutter argumentieren, weil die frommen Bauern, wenn ein Gewitter am Himmel steht, nur beten und auf die Hilfe Gottes vertrauen: »Und dann kommen die Gewitter, und dann hagelt es. Und die Kuh wird doch krank. Gibt es in eurer Gegend noch keine Bauern, die in einer Versicherung sind gegen Missernte und Viehseuchen? Die Versicherung hilft, wenn das Beten nichts geholfen hat. Sie brauchen also nicht mehr zu Gott zu beten, wenn die Gewitter am Himmel stehen, aber sie müssen versichert sein. Denn das hilft ihnen. Wenn er so unwichtig ist, das ist günstig für Gott. So besteht doch Hoffnung, dass dieser Gott, wenn er erst über euren Feldern verschwunden sein wird, auch in euern Köpfen verschwindet.« 9

Damit stehen wir also wieder vor der verstörenden Frage, die Albrecht von Haller schon im 18. Jahrhundert auf dem Höhepunkt der Theodizee-Diskussion 10 gestellt hatte: Hat seinen Kindern Gott kein besser Glück gegönnt? Hat er es nicht gewollt, hat er es nicht gekönnt? 11

Doch dann scheint Albrecht von Haller vor seinen eigenen Zweifeln erschrocken zu sein, weshalb er sich sofort wieder zusammenreißt und alles wieder zurücknimmt, vor seinem Gott auf die Knie fällt und ihm zuruft: Nein, deine Huld, o Gott, ist allzu offenbar! Die ganze Schöpfung legt dein liebend Wesen dar:

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Erste Zweifel

Die Huld, die Raben nährt, wird Menschen nicht verstoßen, Im Kleinen ist er groß, unendlich groß im Großen. Wer zweifelt denn daran? Ein undankbarer Knecht! Drum werde, was du willst, dein Wollen ist gerecht! Noch (weder) Unrecht, noch Versehn kann vom Allweisen kommen, Du bist an Macht, an Gnad, an Weisheit ja vollkommen! 12

Und nicht nur das: O Vater, Rach und Hass sind fern von deinem Herzen, Du hast nicht Lust an Qual, noch Freud an unsern Schmerzen. Du schufest nicht aus Zorn, die Güte war der Grund, Weswegen eine Welt vor nichts den Vorzug fund! 13

Aber auch hier treibt die der Theodizee eigene innere Ambivalenz den Autor sofort wieder zum Erschrecken vor der eigenen Denkbewegung, weshalb er fortfährt: Wie dass, o Heiliger!, du dann die Welt erwählet, Die ewig sündiget und ewig wird gequälet? War kein vollkommner Riss im göttlichen Begriff, Dem der Geschöpfe Glück nicht auch entgegenlief? Doch wo gerat ich hin? Wo werd ich hingerissen? Gott fodert ja von uns zu tun und nicht zu wissen! Sein Will ist uns bekannt, er heißt die Laster fliehn Und nicht, warum sie sind, vergebens uns bemühn. 14

Wir sehen also, wie schnell die Theodizee-Ideologie, also die Rechtfertigung Gottes aus seiner Schöpfung, durch die schlichte Frage nach der Herkunft des Übels in der Welt (unde malum?) zur Empörung gegen eben diesen Gott umschlagen kann, der angeblich »alles so herrlich regieret«. Oder anders formuliert: Die Theodizee-Ideologie trägt, wenn man sie wirklich ernsthaft beim Wort nimmt, offenbar von Anfang an den Keim der Rebellion gegen diesen vorweg gefeierten Gott latent in sich, und diese kann jederzeit ausbrechen, sobald das Stichwort »unde malum?« fällt. So wie Albrecht von Haller dies tat, konnte man 1734 vielleicht noch schreiben und sich mehr oder weniger bereitwillig zu einem sacrificium intellectus durchringen. Nach der Aufklärung war dies jedoch nicht mehr möglich, weshalb Heinrich Heine diese Frage nach dem Ursprung des Übels in der Welt schon viel zorniger stellte und die Bereitschaft zum sacrificium intellectus auch nicht mehr aufbringen wollte, weil er diese »verdammte Frage« 1853/54 aus seiner Matratzen-gruft heraus als ein zweiter Hiob stellen musste: 67 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Lass die heilgen Parabolen, Lass die frommen Hypothesen – Suche die verdammten Fragen Ohne Umschweif uns zu lösen. Warum schleppt sich blutend, elend, Unter Kreuzlast der Gerechte, Während glücklich als ein Sieger Trabt auf hohem Roß der Schlechte? Woran liegt die Schuld? Ist etwa Unser Herr nicht ganz allmächtig? Oder treibt er selbst den Unfug? Ach, das wäre niederträchtig. Also fragen wir beständig, Bis man uns mit einer Handvoll Erde endlich stopft die Mäuler – Aber ist das eine Antwort? 15

Natürlich ist das keine Antwort, aber wer solche Fragen wie die nach der Herkunft des Übels in der Welt stellt, kann auch gar keine vernünftige Antwort bekommen, weil er mit seiner Frage schon stillschweigend voraussetzt, dass all unsere Widerfahrnisse unbedingt fremde Handlungen sein müssen, mit denen irgendein Täter uns etwas antun will, und das kann eben auch ein Gott sein. Wir sehen also, dass das Glaubenskonstrukt Theodizee immer schon eine naive Metaphysik der Widerfahrnisse in sich schließt und dadurch einen Gott als Universal-Täter voraussetzt, auf den letztlich auch all unsere Widerfahrnisse zurückzuführen sind. In dieser Argumentationstradition der Theodizee stand, bedingt durch seine fromme Erziehung, auch der junge Brecht mit seinem Hagel-Gedicht und seiner Frage »Warum nur?« und damit stand er schon knapp vor der Rebellion gegen seinen Gott, vor einer Rebellion, vor der Albrecht von Haller noch zurückgezuckt war und die auch der alte kranke Heinrich Heine nicht mehr wagte, nachdem er zum jüdischen Gott seiner Väter zurückgekehrt war. Die definitive Emanzipation des jungen Brecht von der christlich-pietistischen Welt seiner Mutter verzögerte sich aber noch etwas, weil mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 eine pietistisch-patriotische Tradition aktuell wurde, die in Deutschland eine Atmosphäre patriotischer Ergriffenheit erzeugte, der für kurze Zeit auch der junge Dichter Berthold Eugen Brecht verfiel und der er in 68 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

»Heil mir, dass ich Ergriffene sehe!«

zahlreichen Gedichten gehuldigt hat. Das Motiv des stellvertretenden Selbstopfers wurde also erneut aktuell, nun aber unter pietistischpatriotischer Perspektive als nationaler Blut-und-Wunden-Kult.

1.6 »Heil mir, dass ich Ergriffene sehe!« Dass der junge Brecht von der patriotischen Euphorie des Kriegsbeginns ergriffen wurde, die damals wie eine Welle durch das Deutsche Reich schwappte und zu einer »geistigen Mobilmachung« 1 der deutschen Intellektuellen führte, kann eigentlich nicht verwundern, da er durch das schon mehrfach angesprochene Motiv des stellvertretenden Selbstopfers gleichsam von vornherein darauf eingestimmt war, und so war diese geistige Mobilmachung für ihn sofort auch eng verbunden mit einer erneuten religiösen Mobilmachung. Doch das war nicht nur bei ihm der Fall. So schrieb z. B. Rilke, der den August 1914 in München erlebte, den Gedicht-Zyklus Fünf Gesänge, in dem er das Ende einer nicht mehr recht bejahten Friedenszeit und die Epiphanie eines neuen Gottes feierte: Endlich ein Gott. Da wir den friedlichen oft Nicht mehr ergriffen, ergreift uns plötzlich der Schlacht-Gott, schleudert den Brand: und über dem Herzen voll Heimat schreit, den er donnernd bewohnt, sein rötlicher Himmel. Heil mir, dass ich Ergriffene sehe. Schon lange War uns das Schauspiel nicht wahr, und das erfundene Bild sprach nicht entscheidend uns an. 2

In ganz ähnlichen Tönen erging sich sein junger Kollege Berthold Eugen Brecht in seinen ersten Kriegs-Gedichten, von denen sich viele so lesen, als habe der Autor beim Schreiben Melodien aus dem Gesangbuch im Ohr gehabt: Der heilige Gewinn Das ist so schön, dass alle Stimmen schweigen Und still vor dieser einen Stimme sind Die sich erhob mit Donnerton im Reigen Der Zeit, die sonst so größelos zerrinnt.

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Das ist so schön, schön über all’ Ermessen Dass Mütter klagelos die Söhne sterben sehn Dass alle ihre Sorgen still vergessen Und um des Großen Sieg nun beten gehen. Das ist so schön, dass diese schweren Zeiten Fast wie ein Segen unser Haupt gestreift Dass dieses bittre und doch heil’ge Streiten In uns so opferstarke Kraft gereift. (S. 443 f.)

Diese »opferstarke Kraft« wird von ihm auch in einem weiteren Gedicht beschworen und dringlich eingefordert: Kriegsfürsorge Gar viele Tausend zogen hinaus Fürs Vaterland sie starben Und ließen Weib und Kind zu Haus Die müßten jetzt darben Die müßten hungern, wenn Dir nicht Mein Volk, die Dankbarkeit nun Ehrenpflicht. Zu teilen heißt es jetzt sein Hab und Gut Mit denen, deren Nährer mit dem Schwert In den Fäusten ließen stolz für Dich ihr Blut. Jetzt zeige Dich, mein Volk, der Opfer wert! (S. 445 f.)

Hier spricht nicht einfach bloß ein selbsternannter Prediger im selbstgegebenen Auftrag und im Namen von Thron und Altar und fordert von seinem Volk noch größere Opferbereitschaft, als er schon ein Jahr zuvor während der Feiern zum 25jährigen Thron-Jubiläum seines Kaisers Wilhelm II. im Juni 1913 mit dem Gedicht Opfere! 3 eingefordert hatte, sondern hier spricht ein veritabler Erweckungs-Prediger in pietistischer Tradition, der ein patriotisches Pfingst-Erlebnis herbei-wünscht, bei dem dann die Ausgießung des patriotischen Geistes erfolgen soll. 4 Die Saat, die der Pfarrer Detzer von der Kanzel der Barfüßerkirche herab für Thron und Altar und soldatischen Opfertod verstreut hatte, war bei Brecht offenbar voll aufgegangen. Bald fanden sich auch die ersten Helden, die aus der anonymen Schar der feldgrauen Landser als stellvertretende Opfer herausragten und als vorbildliche Jünger des neuen deutschen Kriegsgottes gefeiert und verklärt werden konnten. Einer davon war Carl Hans Lody, ein Offizier der deutschen Marine, der in England als deutscher Spion 5 festgenommen und erschossen worden war, und diesen Märtyrer für

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»Heil mir, dass ich Ergriffene sehe!«

die deutsche Sache feierte nun auch der junge Dichter Berthold Eugen mit einem Gedicht: Hans lody Du starbst verlassen An einem grauen Tag den einsamen Tod. Die dich hassen Gaben dir letztes Geleite und letztes Brot. Liedlos, ehrlos war deine Not. Aber du hast dein Leben dafür gelassen Dass eines Tages in hellem Sonnenschein Deutsche Lieder brausend über dein Grab hinziehen Deutsche Fahnen darüber im Sonnengold wehen Und deutsche Hände darüber Blumen ausstreun. (S. 447)

Diese anrührende Geschichte des Helden Hans Lody musste aber bald hinter einer weitaus wirkungsmächtigeren Heldengeschichte zurücktreten, die schon deshalb eine eminente Langzeitwirkung in der deutschen Mythologie entfalten konnte, weil sie auch eine lange Vorgeschichte hatte, die weit ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Ich meine den Mythos von Langemarck, der von nun als an das klassische Muster eines patriotischen Selbstopfers galt. Der ominöse Mythos von Langemarck besteht in der Mär, am 10. November 1914 sei ein deutsches Regiment, das im wesentlichen aus jungen Kriegsfreiwilligen bestanden habe, in der Nähe von Ypern in Flandern unter Absingen des Deutschlandliedes gegen die feindlichen Stellungen vorgestürmt und habe diese Stellungen auch erobert, wenn auch unter gewaltigen Verlusten. Obwohl diese Mär eine glatte Propagandalüge 6 der Obersten Heeresleitung war, an der buchstäblich kein einziges Wort stimmt, wurde diese Geschichte auch noch in der Weimarer Zeit nur allzu gerne geglaubt, weil dieser Mythos vom freudig erbrachten patriotischen Selbstopfer idealistischer Jünglinge die beiden anderen Propagandalügen des Ersten Weltkrieges, man sei »im Felde unbesiegt« geblieben und nur durch einen »Dolchstoß« an der Heimatfront unterlegen, auf das prächtigste ergänzte. Der Mythos von Langemarck las sich nämlich so, als habe schon Hölderlin als deutscher Prophet all dies in einer seiner berühmtesten Oden vorhergesehen und dichterisch gestaltet:

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Der Tod fürs Vaterland Du kömmst, o Schlacht, schon wogen die Jünglinge Hinab von ihren Hügeln, hinab ins Tal, Wo keck herauf die Würger dringen, Sicher der Kunst und des Arms, doch sichrer Kömmt über sie die Seele der Jünglinge, Denn die Gerechten schlagen, wie Zauberer, Und ihre Vaterlandsgesänge Lähmen die Kniee den Ehrelosen. O nimmt mich, nimmt mich mit in die Reihen auf, Damit ich einst nicht sterbe gemeinen Tods! Umsonst zu sterben, lieb’ ich nicht, doch Lieb’ ich zu fallen am Opferhügel Fürs Vaterland, zu bluten des Herzens Blut Fürs Vaterland, und bald ist’s geschehn! Zu euch, Ihr Teuern! komm’ ich, die mich leben Lehrten und sterben, zu euch hinunter! Wie oft im Lichte dürstet’ ich euch zu sehn, Ihr Helden und ihr Dichter aus alter Zeit! Nun grüßt ihr freundlich den geringen Fremdling, und brüderlich ist’s hier unten; Und Siegesboten kommen herab: Die Schlacht Ist unser! Lebe droben, o Vaterland, Und zähle nicht die Toten! Dir ist, Liebes! nicht Einer zu viel gefallen. 7

Hier haben wir schon all die Motive, die für den Langemarck-Mythos konstitutiv sind: der Soldat als patriotischer Märtyrer; das freudig erbrachte Selbstopfer, das nicht nach den politischen Zielen fragt, die durch diese Schlacht erreicht werden sollen; die vaterländischen Gesänge; der Glaube, dass der Tod im Kampf für das Vaterland ein ganz besonders wertvoller Tod sei, der sich vom banal- privaten Tod im bürgerlichen Leben grundsätzlich unterscheidet; und schließlich die Behauptung, dass möglichst viele diesen Opfertod sterben sollten, weil dieser gar so verdienstvoll ist. Es ist aber auch gut möglich und sogar sehr wahrscheinlich, dass der Langemarck-Mythos nach der Vorlage von Hölderlins Ode eigens erfunden worden ist, weil Hölderlins Werk unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkriegs durch die Edition von Norbert von Hellingrath

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»Heil mir, dass ich Ergriffene sehe!«

einen mächtigen Rezeptionsschub erlebt hatte und dadurch das deutsche Volk zum »Volk Hölderlins« 8 erhoben worden war. Diesen patriotischen Blut- und Wunden-Kult hat aber nicht erst Hölderlin mit seiner Ode gestiftet, sondern diese steht selbst wieder in einer Tradition, die aus dem deutschen Pietismus stammt und deren Entstehung Gerhard Kaiser in einem berühmten Buch über die pietistischen Ursprünge dieser spezifisch deutschen Variante von Patriotismus dargestellt hat. Das Kernstück dieses deutsch-protestantischen Glaubenskonstrukts ist die Idee des freiwillig, ja sogar freudig erbrachten Selbstopfers für andere, ein Selbstopfer in der Nachfolge Christi also, allerdings gezielt säkularisiert und eingebettet in einen patriotischen Kult 9 um Blut und Wunden. So gesehen ist auch die Kriegslyrik des Gymnasiasten Brecht eine Fortführung von zentralen Motiven aus der Matthäus-Passion, allerdings über-tragen ins Deutsch-Patriotische. Deshalb darf es nicht verwundern, dass auch er sich dem Langemarck-Mythos annäherte und ein Gedicht schrieb, in dem ein Jüngling in die Reihen seiner schon toten Kameraden aufgenommen werden will, um am Opferhügel zu fallen und ihnen dort in den Tod zu folgen. Allerdings finden sich in diesem Text schon Wendungen, die darauf hindeuten, dass das Herz dieses patriotischen Märtyrers durchaus nicht mehr so fest ist, wie man dies von einem Helden im Stil Hölderlins erwarten sollte. Und außerdem erlaubt Brecht jetzt auch den Müttern, anders als in dem Gedicht Der heilige Gewinn, über den Tod ihrer Söhne sogar zu weinen. Vor allem aber wird das Motiv des stellvertretenden patriotischen Selbstopfers gar nicht mehr erwähnt, weil der neu verstandene Held sich gleichsam in eigener Sache und in uroborischer Selbstverausgabung opfert: Der Fähnrich In jenen Tagen der großen Frühjahrsstürme schrieb er’s nach Haus: Mutter … Mutter, ich halt’s nicht mehr länger aus …– Schrieb es mit steilen, zittrigen Lettern neben der flackernden Stallaterne. Sah, bevor er es schrieb, in das Dunkel, seltsam geschüttelt, hinaus Wo ein Gespenst herschattete, grauenhaft, fremd und fern. Lauschte dem harten Klirren der Schaufeln, die seine toten Freunde einscharrten. Und schrieb es besinnungslos nieder, das »Mutter, ich halt’s nicht mehr aus«.

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Und drei Tage drauf, als seine Mutter über dem Brief schon weinte Riss er hinweg über Blut und Leibergekrampf Den zierlichen Degen gezückt, die Kompanie zum Kampf Schmal und blass, doch mit Augen wie Opferflammen. Stürmte und focht und erschlug, umnebelt von Blut und Dampf In trunkenem Rasen – fünf Feinde … Dann brach er im Tod mit irren, erschrockenen Augen, aufschreiend zusammen. (S. 454)

Dass das Ende dieses Gedicht so sehr an das Gedicht Der brennende Baum von 1914 erinnert, in dem zum ersten Mal das uroborische Motiv in Brechts Werk auftauchte, könnte darauf hindeuten, dass der junge Brecht sich damals schon nicht nur vom patriotischen Blut-und-Wunden-Kult allmählich zu lösen begann und sich einem Ethos einer uroborischen Selbstverausgabung annäherte, sondern dass er, ganz konsequent, sich auch vom christlichen Gedanken des stellvertretenden Selbstopfers zu lösen begann, wie er in der biblischen Passionsgeschichte dargestellt ist.

1.7 Der fremde Mann Ablesbar ist diese Tendenz zur Emanzipation an dem Gedicht Karfreitag von 1915, dessen zweiter Teil den Titel Epilog trägt und dadurch auf das biblische Passions-Geschehen gleichsam schon mit einer gewissen inneren Distanz zurückblickt. So gesehen ist dieses Gedicht gewissermaßen eine Kontrafaktur zu dem Gedicht Emaus, auf das wir oben ja schon eingegangen sind, bzw. dessen explizite Zurücknahme. Epilog Abermals gingen einige über ein Feld zur Abendzeit. Der Himmel war dunkel. Wind ging. Das Korn blühte weit. Sie gingen gebeugt und schwer im letzten Licht. Ein fremder Mann ging mit ihnen. Sie kannten ihn nicht. Sie waren traurig, weil Jesus gestorben war. Aber einmal sagte einer: Es ist sonderbar. Er starb für mich. Und starb ohne Sinn und Gewinn. Dass ich auch nicht leben mag; dass ich einsam bin. Sagt ein anderer: Er wusste wohl nicht, was uns frommt. Sagt ein dritter: Ich glaube nicht, dass er wieder kommt. Sie gingen gebeugt und schwer im letzten Licht.

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Der fremde Mann

Ein fremder Mann ging mit ihnen. Sie kannten ihn nicht. Und einer sah übers Ährenfeld und fühlte seine Augen brennen. Und sprach: Dass es Menschen gibt, die für Menschen sterben können! Und er fühlte Staunen in sich (als er weiter spann): Und dass es Dinge gibt, für die man sterben kann. Und jeder hat sie und er hat sie nicht Weil er’s nicht weiß. – Das sagte er im allerletzten Licht. Es war ein junger Mensch. Es ging um die Abendzeit. Der Himmel war dunkel. Wind ging. Das Korn blühte weit. Sie gingen gebeugt und schwer im letzten Licht. Ein fremder Mann ging mit ihnen. Sie kannten ihn nicht. (S. 452)

Da stellen sich natürlich sofort einige Fragen: Wer sind diese Männer, die da durchs Ährenfeld gehen? Sind es Jünger Jesu oder sind es Leute, die Jesus und seine Jünger nur vom Hörensagen kennen? Und wer ist dieser fremde Mann? Ist der fremde Mann, den niemand kennt, vielleicht Jesus selbst, der aber, anders als in Dostojewskijs Legende, nicht als der Christus erkannt wird, weil man nicht mehr an dessen Auferstehung glaubt? Oder ist es schon ein neuer Prophet mit einer ganz anderen, neuen, aber noch verschwiegenen Botschaft? Und wer ist der junge Mann, der den christlichen Gedanken des Selbstopfers für andere und für bestimmte Ideen mit einem Gemisch aus Zweifel und Staunen kommentiert? Ist es Brecht selbst, der hier seine eigenen Zweifel weiter bebrütet? Oder ist auch er ein Fremder? Und wenn ja, wer? Und, so darf man wohl weiter fragen: Starb auch der Fähnrich im gleichnamigen Gedicht »ohne Sinn und Gewinn« genau wie schon Hans Lody? Und vielleicht auch wie Jesus? Keine dieser Fragen lässt sich jetzt schon eindeutig beantworten, weil dieses Gedicht alles in der Schwebe hält. Deutlich ist nur, dass wir es mit einer Abschieds-Szenerie zu tun haben, dass hier also etwas zu Ende geht, und der Blick des Autors sich auf Neues richtet.

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Kapitel II Umbrüche und Aufbrüche oder Die Suche nach der »Anima naturaliter pagana« 1 2.1 Einleitung Wenn man Brechts lyrisches Frühwerk unvoreingenommen durchblättert, stößt man in dem Beschwerdelied von 1916 plötzlich auf einen ganz neuen, skeptisch-ironischen und gleichsam eisgekühlten Tonfall, den man als den typisch Brechtschen Tonfall kennt, der in den Balladen der Hauspostille (1927) und den Songs der Dreigroschenoper (1928) vorherrscht und hier zum ersten Mal auftaucht. Da hatte ein junger Dichter offenbar seinen ganz eigenen Ton gefunden und konnte sich nun mit vollem Recht als der Eigner eines eigenen lyrischen Tonfalls fühlen. Und wenn man dieses Beschwerdelied mit der Ballade von der Unzuläng-lichkeit Menschlichen Planens aus der Dreigroschenoper vergleicht, die zwölf Jahre später entstanden ist, merkt man auch, warum bestimmte Passagen aus dem frühen Text so problemlos in den späteren eingebaut werden konnten und warum man beide Texte sogar auf dieselbe Melodie singen kann. In der dritten Strophe der berühmten Ballade aus der Dreoigroschenoper heißt es nämlich: Ja, renn nur nach dem Glück Doch renne nicht zu sehr Denn alle rennen nach dem Glück Das Glück rennt hinterher. Denn für dieses Leben Ist der Mensch nicht anspruchsvoll genug. Drum ist all sein Streben Nur ein Selbstbetrug. (S. 150 f.)

Und die Vorwegnahme dieser bekannten Ballade lautet:

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Einleitung

Das Beschwerdelied So mancher rennt sich müd Weil er die Ruh zu sehr Liebt. Alle rennen nach dem Glück: Das Glück rennt hinterher. Wer sich lang zermartert Kommt zu spät zum Fraß. Wer sich kurz zermartert Rennt die falsche Straß. Weit schneller rennt man ohne Kopf Verliert ihn gern und dann Greift man die Frucht und staunt, dass man Ohne Kopf nicht fressen kann. Wollt ihr Sterne langen Müßt ihr rennen sehr Denn ihr tragt an Stangen Schnell sie vor euch her. Der Baum des Lebens strotzt Von Früchten überall: Steig nicht hinauf, du schindst dich nur: Man pflückt sie nur im Fall! Wird euch von der Meute Zahnwerk eingehauen Müßt ihr Zahn und Beute Ungekaut verdauen. Und flaggst du faul im Gras Und streckst die Zung heraus: Plumpst dir die Frucht ins große Maul Und schlägt die Zähn dir aus. Rauft ihr um das Saufen Wird der Wein verschüttet Und ihr seid vom Raufen Statt vom Wein zerrüttet. Und kommt ihr hoch, so kommt Ihr höchstens auf ein Weib Das zieht ihr aus, sie euch hinab: Ihr zahlt den Zeitvertreib. Schön ist das Leben Wenn du schöner bist: Dann bleibst du dran kleben Weil es schmutzig ist.

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Das ewig Weibliche Ja manchen zieht’s hinan: An einem Galgen sehr solid! Nur hängt kein Mann dann dran. Sind zu kurz die Brücken Was das Herz beschweren! Ob viel oder wenig fehlt Dass sie lang gnug wären! (S. 467 f.)

Was ist da mit dem jungen Dichter Brecht geschehen, der kurz vor dem Beschwerdelied noch das lange Gedicht Der Tsingtausoldat (S. 461 ff.) geschrieben hatte, in dem ein deutscher Soldat im fernen China mit dem Ruf »Mein Deutschland!« ein ekstatisches Selbstopfer feiert, oder in dem zur gleichen Zeit entstandenen Gedicht Die Orgel (S. 463) einen Organisten verherrlicht hatte, der den Heldentod seines Sohnes in seinem Orgelspiel als Dankgebet an Gott verarbeitet? Eine Antwort auf diese Fragen ist nicht leicht zu finden, weil für den Zeitraum zwischen Dezember 1913 und Frühjahr 1920 keine Tagebuch-Einträge vorliegen. Erhalten sind nur einige wenige Seiten 1 aus der Zeit Ende Oktober 1916. Dass es Tagebücher aus der Zeit zwischen 1913 und 1920 gegeben haben muss, darf man mit Recht vermuten, weil die Aufzeichnungen von 1919 mitten im Satz 2 beginnen. Möglichweise sind all diese Aufzeichnungen irgendwann vernichtet worden, vielleicht sogar von Brecht selbst, oder sie sind während der Emigration verschollen. Seltsamerweise sind Brechts Notizbücher 3 wiederum erhalten, beginnen aber erst mit dem Jahr 1918. Ähnlich lückenhaft ist der Bestand an Briefen, denn in der vom Berliner Brecht-Archiv betreuten Ausgabe 4 klafft zwischen November 1914 und Januar 1917 seltsamerweise ebenfalls eine Lücke. Sollte Brecht tatsächlich zwei Jahre lang keinen einzigen Brief geschrieben haben? Das mag glauben, wer will; ich habe es nie glauben können und glaube es auch heute immer noch nicht. Da man mir aber auf meine Anfrage hin vom Brecht-Archiv in einer Mail vom 22. Mai 2018 glaubhaft versichert hat, dass es keinen ›Giftschrank‹ mit zurückgehaltenen Briefen aus dieser Zeit gebe, müssen hier entweder schon sehr früh Briefe gezielt zurückgefordert und vernichtet worden sein, um eine bestimmte Spur zu vertilgen, oder sie sind schlicht verlorengegangen. Aus all diesen Gründen sind wir auf detektivische Vermutungen angewiesen, um diesen Umbruch im Werk des jungen

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Einleitung

Dichters Brecht auf den Begriff zu bringen, denn dieser Umbruch muss sich genau in dieser Lücke vollzogen haben. Dass es auch einen Umbruch im Selbstverständnis des Autors gegeben haben muss, geht allein schon aus dem Umstand hervor, dass Brecht irgendwann 1916 seinen Vornamen wechselte und seine Gedichte und Briefe von nun an nicht mehr mit »Eugen« oder »Berthold Eugen« abzeichnete, sondern mit »Bert«. Das Chamäleon Brecht hatte also zum ersten Mal seine Farbe gewechselt. Das erste Gedicht, das diesen Namenswechsel explizit bezeugt und ebenfalls schon diesen neuen Brechtschen Balladenton aufweist, ist 1917 entstanden und lautet: Serenade Jetzt wachen nur noch Mond und Katz Die Menschen alle schlafen schon Da trottet übern Rathausplatz Bert Brecht mit seinem Lampion. Wenn schon der junge Mai erwacht Die Blüten sprossen für und für Dann taumelt trunken durch die Nacht Bert Brecht mit seinem Klampfentier Und wenn ihr einst in Frieden ruht Beseligt ganz vom Himmelslohn Dann stolpert durch die Höllenglut Bert Brecht mit seinem Lampion. (S. 469 f.)

Dass er mal in die Hölle kommen würde, hatte ihm seine fromme Mutter damals wohl schon oft genug angedroht, doch diese Drohung scheint er sich mittlerweile nicht mehr so zu Herzen genommen zu haben wie Jahre vorher in der Matthäus-Passion, sodass er sich jetzt darüber nur noch lustig machen konnte. Meine These lautet nun, dass Brecht in diesen Schlüsseljahren 1916/17 zwei elementare Umbrüche in seinem Selbst- und Weltverständnis erlebt haben muss: •

einen religiösen, der zu seiner Abwendung vom pietistischen Christentum seiner Mutter und damit auch zur Abwendung vom Gott der Christen und zur Hinwendung zu dessen biblischem Gegenspieler Baal geführt hat,

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und einen philosophischen, der durch die Bekanntschaft mit dem Werk von Max Stirner ausgelöst worden ist.

Beide Umbrüche ergänzen einander insofern, als der philosophische den voraus-gegangenen religiösen voraussetzt, diesen aber aufgreift und weiter radikalisiert, sodass schließlich auch der biblische Gegengott Baal seine Göttlichkeit verlieren und sich zum Eigner Baal wandeln musste. Und damit hatte auch Brecht selbst seine »anima naturaliter pagana«, also seine heidnische Seele in sich entdeckt und diese auch freudig akzeptiert. Mit dieser entschiedenen Abwendung vom Christentum stand der junge Brecht allerdings nicht alleine da, sondern bewegte sich auf einer geistesgeschichtlichen Traditionslinie, die schon mit Goethe und Schiller begonnen hatte, und dann von Heine, Stirner, Feuerbach, Marx und Nietzsche fortgesetzt und immer weiter radikalisiert wurde, und auf die wir hier eingehen müssen, um deutlich zu machen, worin das Spezifische an Brechts befreitem Heidentum bestand. Brechts Vorgänger orientierten sich bei ihrer Suche nach einer Alternative zum Christentum meist an den alten Griechen und machten sich deshalb auf, diese geistige Landschaft ohne Sündenbewusstsein mit der Seele zu suchen, und dabei ging Goethe wieder einmal allen voran.

2.2 Umbrüche »im Banne Griechenlands« 1 2.2.1 Goethe und Heine Goethe hatte in seiner Abhandlung über Winckelmann 2 von 1805 in dem Kapitel Heidnisches betont, Winckelmanns Entdeckung der Antike sei ihm nur möglich gewesen, weil er in sich selbst schon diesen »heidnischen Sinn« (S. 12) als immer schon vorgegebene Sympathie gespürt habe, und dann fährt er fort: »Diese seine Denkweise, diese Entfernung von aller christlichen Sinnesart, ja seinen Widerwillen dagegen muss man im Auge haben, wenn man seine sogenannte Religionsveränderung beurteilen will. Diejenigen Parteien, in welche sich die christliche Religion teilt, waren ihm völlig gleichgültig, indem er, seiner Natur nach, niemals zu einer der Kirchen gehörte, welche sich ihr subordinieren.« (S. 12 f.)

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Wichtig und geradezu revolutionär und deshalb auch folgenträchtig war an diesen wenigen Sätzen die These, Religion sei weniger ein theologisch definierbares Bekenntnis, sondern Teilaspekt eines Naturells, also eine Einstellung oder innere Haltung zum Leben. Dieser kühle und gleichsam phänomenologische Blick Goethes auf Religionen aller Art hat dann tatsächlich Schule gemacht und die folgende Diskussion über die Emanzipation vom überkommenen Christentum bis heute entscheidend geprägt. Aus Goethes Schrift über Winckelmann konnte man aber auch herauslesen, dass er Winckelmanns Distanz zum Christentum, ja auch seinen Widerwillen dagegen durchaus teilte, was ihm von seinen frommen Zeitgenossen viel Kritik und von einigen sogar den entschiedensten Hass eingetragen hat. Zu diesen Goethe-Hassern gehörten vor allem der Literaturhistoriker Wolfgang Menzel und der Publizist Ludwig Börne, weshalb Heine wiederum Börne in seiner Denkschrift von 1840 auf das heftigste attackierte, und da er selbst Goethe genau so leidenschaftlich verehrte wie Börne ihn hasste, brachte er das Verhältnis zwischen Goethe und Börne auf die Formel: »Der kleine Nazarener (eben Börne) hasste den großen Griechen (eben Goethe), der noch dazu ein griechischer Gott war.« 3

Und dann erläutert Heine, der sich damals selbst gern in die Nähe Goethes rückte und auch sich selbst ein bißchen als einen griechischen Gott sah, was er unter der »nazarenischen Beschränktheit« (S. 18) verstand, die er Börne vorwarf: »Ich sage nazarenisch, um mich weder des Ausdrucks ›jüdisch‹ noch ›christlich‹ zu bedienen, obgleich beide Ausdrücke für mich synonym sind und von mir nicht gebraucht werden, um einen Glauben, sondern ein Naturell zu bezeichnen. ›Juden‹ und ›Christen‹ sind für mich ganz sinnverwandte Wörter im Gegensatz zu ›Hellenen‹, mit welchem Namen ich ebenfalls kein bestimmtes Volk, sondern eine sowohl angeborene als angebildete Geistesrichtung und Anschauungsweise bezeichne. In dieser Beziehung möchte ich sagen: alle Menschen sind entweder Juden oder Hellenen, Menschen mit ascetischen, bildfeindlichen, vergeistigungssüchtigen Trieben, oder Menschen, mit lebensheiterem, entfaltungsstolzem und realistischem Wesen.« (S. 18)

Wie man sieht, argumentiert Heine ganz so wie Goethe in seiner Schrift über Winckelmann und sieht deshalb in Religionen in erster Linie nicht eine Konfession, sondern ein Naturell. Goethe hätte sich selbst vielleicht sogar als ein neuer Grieche gesehen, aber sich selbst 81 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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nie in die Verstiegenheit verrannt, in sich einen griechischen Gott zu sehen, denn was er sich aus dem Griechentum zum Vorbild nahm, war lediglich eine umfassende Unbefangenheit. Ganz anders Heinrich Heine, der in Menschen von Goethes Geistesart und Anschauungsweise schon die »Götter der Zukunft« 4 erblickte und sich deshalb nicht scheute, sein saint-simonistisches Programm lauthals zu verkündigen: »Wir befördern das Wohlsein der Materie, das materielle Glück der Völker, nicht weil wir gleich den Materialisten den Geist missachten, sondern weil wir wissen, dass die Göttlichkeit des Menschen sich auch in seiner leiblichen Erscheinung kund gibt, und das Elend den Leib, das Bild Gottes, zerstört oder aviliert [herabwürdigt, L. P.], und der Geist dadurch ebenfalls zu Grunde geht. (…) Wir kämpfen nicht für die Menschenrechte des Volks, sondern für die Gottesrechte des Menschen. (…) Wir stiften eine Demokratie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbeseligter Götter.« 5

Aber wer sind diese ominösen »Götter der Zukunft«, die Heine erträumte und mit zu erschaffen suchte? Im Vorwort zu Alexander Weills elsässischen Dorfgeschichten 6 von 1847 wird er etwas konkreter und wagt es sogar, deren baldige Epiphanie zu prophezeien: »Ach! ich bin ja noch ein Kind der Vergangenheit, ich bin noch nicht geheilt von jener knechtischen Demut, jener knirschenden Selbstverachtung [eben von jenem Nazarenertum, L. P.], woran das Menschengeschlecht seit anderthalb Jahrtausenden siechte, und die wir mit der Muttermilch eingesogen. (…) Aber unsere gesünderen Nachkommen werden in freudigster Ruhe ihre (eigene) Göttlichkeit betrachten, bekennen und behaupten. (…) Wenn sie einst, eine freudige Götterversammlung, in ihren Tempelpalästen sitzen, um den Altar, den sie sich selber geweiht haben, und sich von alten Menschheitsgeschichten unterhalten, die schönen Enkel, dann erzählt vielleicht einer der Greise, dass es ein Zeitalter gab, in welchem ein Toter als Gott angebetet und durch ein schauerliches Leichenmahl gefeiert ward, wo man sich einbildete, das Brot, welches man esse, sei sein Fleisch, und der Wein, den man trinke, sei sein Blut. Bei dieser Erzählung werden die Wangen der Frauen erbleichen und die Blumenkränze sichtbar erbeben auf ihren schönlockichten Häuptern. Die Männer aber werden neuen Weihrauch auf den Herdaltar streuen, um durch Wohlduft die düsteren, unheimlichen Erinnerungen zu verscheuchen. Geschrieben zu Paris am Karfreitage 1847.« (S. 7)

Wenn Heine davon spricht, »von jener knechtischen Demut« und »jener Selbstverachtung« der Nazarener geheilt werden zu wollen, 82 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Umbrüche »im Banne Griechenlands«

so hat er die christliche Lehre von der Erbsünde im Auge, weshalb für Dolf Sternberger, dem wir eine gründliche Untersuchung zu diesem Thema 7 verdanken, Heines vernichtende Kritik am Nazarenertum auf die Abschaffung der Sünde oder genauer: auf die Abschaffung des Sündenbewusstseins zielte. Laut Sternberger setzt Heines Argumentation bei der These des Apostels Paulus an, »das Gesetz schaffe die Sünde, die zu tilgen es ergangen ist. Bleibt die Gnade aus dem Spiel, auf die Paulus setzt, welche die Sünde mitsamt dem Gesetz aufhebt, so wäre eine schlichte und auch schnöde Konsequenz davon: Kassiere das Gesetz, so verschwindet die Sünde, oder so hört die fragliche Handlung auf, eine Sünde zu sein! Und das ist in der Tat die Konsequenz Heines, der Kern und die Haupttendenz seiner Religionskritik.« (S. 227)

Die Aufhebung des Sündenbewusstseins ist aber nur eine Konsequenz, die Heine aus seiner Kritik am Nazarenertum gezogen hat. Die andere und viel radikalere Konsequenz lautet für Sternberger: »Da aber die Sündhaftigkeit – vermöge der Geschichte und der Lehre von der Erbsünde – in der christlichen Welt und auch in der christlichen Anthropologie ein Merkmal der Abhängigkeit des Menschen von der gnädigen Herrschaft der einzigen Instanz ist, die Sünde vergeben kann, so muss die Abschaffung der Sünde aus dem Menschen ein anderes Wesen machen: einen Gott. Nur Götter kennen keine Verbote, nur Götter sind wahrhaft emanzipiert. Die Entsündlichung des Menschen muss seine Vergöttlichung bedeuten.« (S. 227 f.)

Doch ist dieser Schluss wirklich zwingend? Muss der Mensch wirklich zu einem Gott werden, wenn er das nazarenische Bewusstsein der fundamentalen Sünd-haftigkeit seiner Existenz ablegt? Oder genauer gefragt: Muss der Mensch sich wirklich für einen Gott halten, muss er wirklich ein göttliches Selbstbewusstsein entfalten, wenn er sich weigert, sich eine fundamentale Sündhaftigkeit einreden zu lassen? Genügt nicht schon das Erlebnis einer neuen Unbefangenheit jenseits aller offenbarten Religion, wie Goethe dies vorgelebt hat, die letztlich auch die viel umfassendere Befreiung mit sich bringt als irgendeine angemaßte Göttlichkeit? Hier liegt ganz offensichtlich ein Denkfehler vor, denn die Emanzipation vom theologischen Konstrukt der Erbsünde und damit vom allfälligen Sünden-Bewusstsein kann zwar ein völlig neues Gefühl von Freiheit vermitteln, doch dieses Gefühl einer neuen Freiheit muss den Menschen durchaus nicht zwingend zu einer neuen Hybris 83 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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führen und ihn zu einer angemaßten Göttlichkeit aufblähen, denn dies ist nur möglich, wenn man die eigene vorgegebene und unentrinnbare Leiblichkeit und kreatürliche Bedürftigkeit radikal verleugnet und aus dem eigenen Bewusstsein ausblendet. Oder anders formuliert: Jede Art von Selbstvergöttlichung kann nur mit einem gehörigen Maß an Selbstverkennung und durch totale Verblendung erkauft werden, weil damit zugleich auch der Lastcharakter menschlicher Existenz ausgeblendet und verleugnet werden muss, und damit muss wiederum das Wahngebilde eines mangellosen Lebens als möglich vorausgesetzt werden. Wer so wie Heine argumentiert, muss sich also sagen lassen, dass er einseitig spiritualistisch argumentiert, weil er glaubt, das menschliche Selbstverständnis ausschließlich auf das Bewusstsein gründen zu können, denn dabei übersieht er völlig die unaufhebbare leibliche, kreatürliche und damit bedürftigkeitsbekundende Existenz des Menschen. Allerdings darf man diese fundamentale Bedürftigkeit des Menschen auch nicht als eine der Konsequenzen der Erbsünde bestimmen wollen, weil man damit wieder zu den Fundamenten nazarenischer Welt-und Selbstdeutung zurückkehren würde. So gesehen ist Heines Vision der menschlichen Götter der Zukunft ein heilloses Konstrukt, das nicht weniger empörend und auch nicht weniger lachhaft ist als das von ihm so heftig bekämpfte Nazarenertum. Wie wahnhaft diese Vision eines göttergleichen mangellosen Lebens war, der Heine viele Jahre lang anhing, verspürte er spätestens am eigenen Leibe, als er schwerkrank und hilflos in seiner Matratzengruft lag und deshalb in seinen Geständnissen recht kleinlaut zugeben musste: »Ich war jung und stolz, und es tat meinem Hochmut wohl, als ich von Hegel erfuhr, dass nicht, wie meine Großmutter meinte, der liebe Gott, der im Himmel residiert, sondern ich selbst hier auf Erden der liebe Gott sei. (…) Aber die Repräsentationskosten eines Gottes, der sich nicht lumpen lassen will und weder Leib noch Börse schont, sind ungeheuer; um eine solche Rolle mit Anstand zu spielen, sind besonders zwei Dinge unentbehrlich: viel Geld und viel Gesundheit. Leider geschah es, dass eines Tages – im Februar 1848 – diese beiden Requisiten mir abhanden kamen, und meine Göttlichkeit geriet dadurch sehr in Stocken.« (11,272 f.)

Und deshalb kehrte Heine als todkranker Mann reumütig wieder zu seinem alten jüdischen Gott Jahwe zurück und verglich sich mit dem babylonischen König Nebukadnezar, der sich auch schon mal für 84 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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einen Gott gehalten hatte, dann aber »von der Höhe seines Dünkels erbärmlich herabstürzte, wie ein Tier am Boden kroch und Gras aß« (11,478 f.), und schrieb diese Warnung auch seinen alten Freunden aus der Hegel-Schule, diesen »gottlosen Selbstgöttern« (11,479) als Mahnung und Warnung, aber auch zur erbaulichen Beherzigung ins Stammbuch. Damit müsste deutlich geworden sein, dass Heines Weg bei der Emanzipation vom theologischen Konstrukt Erbsünde ein Irrweg war, weil sein Wahngebilde der Vergöttlichung des Menschen nur mit einer mangellosen Existenz jenseits aller Leiblichkeit und Kreatürlichkeit erreicht werden könnte, also nur mit einem weiteren Wahngebilde. Zu solchen Wahngebilden hatte Goethe sich bei seiner Emanzipation vom Nazarenertum nie verstiegen, weil er den Traum einer mangellosen Existenz nie geträumt hatte und die Kreatürlichkeit menschlicher Existenz für ihn eine Selbstverständlichkeit war, die er einfach als gegeben hinnahm.

2.2.2 Feuerbach Wenn man diese Texte von Heine liest, in denen er dieses hoch idealisierte Bild der alten Griechen malt, möchte man meinen, er habe beim Schreiben Schillers elegische Verse Die Götter Griechenlands von 1788 im Ohr gehabt, in denen Schiller die Welt der alten Griechen als »holdes Blütenalter der Natur« 8 verherrlicht und dessen Wiederkehr in der kalten und rundum entgötterten Welt der Moderne herbei sehnt. Schuld an diesem metaphysischen Kahlschlag ist laut Schiller der jüdisch-christliche Monotheismus, denn: Alle jene Blüten sind gefallen Von des Nordes winterlichem Wehn, E i n e n zu bereichern unter allen, Musste diese Götterwelt vergehn.

Und dieser Eine war dann auch noch ein narzisstischer Kaspar Hauser inmitten einer selbst erstellten ewigen Leere: Freundlos, ohne Bruder, ohnegleichen, Keiner Göttin, keiner Ird’schen Sohn, Herrscht ein Andrer in des Aethers Reichen, Auf Saturnus’ umgestürzten Thron. Selig, eh sich Wesen um ihn freuten,

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Selig im entvölkerten Gefild, Sieht er in dem langen Strom der Zeiten Ewig nur – sein eignes Bild. 9

All dies hat laut Schiller die fatale Folge, dass dieser sich selbst ewig fremde Gott seinen Geschöpfen, die er nach seinem Ebenbild geschaffen hat, denselben Makel mitgegeben hat: Da die Götter menschlicher noch waren, Waren Menschen göttlicher. (S. 64)

Hier setzte nun Ludwig Feuerbach an, und zwar sowohl inhaltlich als auch methodologisch, weil es ihm wesentlich darum ging, dieses Bewusstsein vom »göttlicheren Menschen« wiederherzustellen, und deshalb schreibt er in seinen Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie von 1843, die als extreme Kurzfassung seiner Philosophie gedacht sind: »Die christliche Religion hat den Namen des Menschen mit dem Namen Gottes in den einen Namen des Gottmenschen verbunden – den Namen des Menschen also zu einem Attribut des höchsten Wesens erhoben. Die neue Philosophie [also seine eigene, L. P.] hat der Wahrheit gemäß dieses Attribut zur Substanz, das Prädikat zum Subjekt gemacht – die neue Philosophie ist die realisierte Idee – die Wahrheit des Christentums. Aber eben weil sie das Wesen des Christentums in sich hat, gibt sie den Namen des Christentums auf. Das Christentum hat die Wahrheit nur im Widerspruch mit der Wahrheit ausgesprochen. Die widerspruchslose, reine, unverfälschte Wahrheit ist eine neue, autonome Tat der Menschheit.« 10

Damit greift er ausdrücklich auf, was er zwei Jahre vorher im Schlusskapitel seines Hauptwerkes Das Wesen des Christentums geschrieben hatte, denn er hatte dort folgende Bilanz gezogen: »Wir haben bewiesen, dass der Inhalt und Gegenstand der Religion ein durchaus menschlicher ist, und zwar menschlicher in dem doppelten Sinne dieses Wortes, in welchem es eben sowohl etwas Positives als Negatives bedeutet, dass die Religion nicht nur die Mächte des menschlichen Wesens, sondern selbst auch die Schwachheiten, die subjektivsten Wünsche des menschlichen Herzens, wie z. B. in den Wundern, unbedingt bejaht – bewiesen, dass auch die göttliche Weisheit menschliche Weisheit, dass das Geheimnis der Theologie die Anthropologie, des absoluten Geistes der sogenannte endliche subjektive Geist ist. Aber die Religion hat nicht das Bewusstsein von der Menschlichkeit ihres Inhalts; sie setzt sich vielmehr dem

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Menschlichen entgegen, oder wenigstens sie gesteht nicht ein, dass ihr Inhalt ein menschlicher ist. Der notwendige Wendepunkt der Geschichte ist daher dieses offene Bekenntnis und Eingeständnis, dass das Bewusstsein Gottes nichts andres ist als das Bewusstsein der [menschlichen, L. P.] Gattung, dass der Mensch sich nur über die Schranken seiner Individualität erheben kann und soll, aber nicht über die Gesetze, die positiven Wesensbestimmungen seiner Gattung, dass der Mensch kein andres Wesen als absolutes Wesen denken, ahnen, vorstellen, fühlen, glauben, wollen, lieben und verehren kann als das Wesen der menschlichen Natur.« (V,317)

Und das wiederum heißt: »Ist das Wesen des Menschen das höchste Wesen des Menschen, so muss auch praktisch das höchste und erste Gesetz die Liebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini deus est – dies ist der oberste praktische Grundsatz, dies der Wendepunkt der Weltgeschichte.« (V,318)

Wie man sieht, folgt Feuerbach Schiller auch in methodologischer Hinsicht: Hatte Schiller vom biblischen Schöpfergott behauptet, er sehe in seinen Geschöpfen, insbesondere im Menschen, den er ja nach seinem Ebenbild geschaffen habe, immer nur sich selbst, so sieht Feuerbach durch seine Reduktion der Theologie auf Anthropologie in allen Göttern und auch im biblischen Gott immer nur den Menschen als »sein eignes Bild«, also letztlich sich selbst, den Philosophen Ludwig Feuerbach. Allerdings geht Feuerbach bei dieser Vergöttlichung des Menschen längst nicht so weit wie Heine, weil er diese Vergöttlichung nicht mit dem Wahngebilde eines mangellosen Lebens verbindet und aus der theologisch postulierten »Bedürfnis-losigkeit der Götter« (V,320) keine analoge Bedürfnislosigkeit des vergöttlichten Menschen ableitet, sondern gleichwohl die Leiblichkeit, Kreatürlichkeit und Bedürftigkeit dieses vergöttlichten Menschen ausdrücklich betont, denn: »Der Name Mensch bedeutet insgemein nur den Menschen mit seinen Bedürfnissen, Empfindungen, Gesinnungen – den Menschen als Person, im Unterschiede von seinem Geiste.« (III,242)

Feuerbachs Credo »Homo homini deus est« greift später auch Max Stirner in seinem Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum auf und unterzieht es einer vernichtenden Kritik mit dem Tenor, Feuerbach hätte sich damit begnügen können, die pessimistische These von Thomas Hobbes – »Homo homini lupus est« – in den Appell abzuän87 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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dern: »Homo homini homo est.« Und deshalb lautet Stirners bissiger Kommentar zu Feuerbachs These: »Eigentlich ist [mit dieser These, L. P.] aber nur der Gott verändert, der Deus, die Liebe ist geblieben; dort Liebe zum übermenschlichen Gott, hier Liebe zum menschlichen Gott, zum homo als Deus. Also der Mensch ist Mir – heilig. Und alles »wahrhaft Menschliche« ist Mir – heilig!

Und dann zitiert er weiter Feuerbach V, 318 f.: »Die Ehe ist durch sich selbst heilig. Und so ist es mit allen sittlichen Verhältnissen. Heilig ist und sei Dir die Freundschaft, heilig das Eigentum, heilig die Ehe, heilig das Wohl des Menschen, aber heilig an und für sich selbst.« [Und fährt fort:, L. P.] »Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer ist sein Gott? Der Mensch? Was das Göttliche? Das Menschliche! So hat sich allerdings das Prädikat nur ins Subjekt verwandelt 11, und statt des Satzes »Gott ist die Liebe« heißt es »die Liebe ist göttlich«, statt »Gott ist Mensch geworden« – »der neue Mensch ist Gott geworden« usw. Es ist eben nur eine neue – Religion.« (EE,62)

Dies deshalb, weil auf dem Platz des »höchsten Wesens« nur ein Austausch des Personals stattgefunden hat, der Platz des jeweils höchsten Wesens selbst aber unangetastet geblieben ist. Und auch für diese neue Religion hat Stirner nicht weniger Hohn und Spott übrig als für alle alten Religionen.

2.2.3 Nietzsche Da Nietzsche Heines Werk sehr gut gekannt hat, darf man annehmen, dass er auch Heines Unterscheidung zwischen Hellenentum und Nazarenertum gekannt haben dürfte. Sein Aphorismus über die Herkunft des Sündenbewusstseins liest sich jedenfalls so, als habe er die einschlägigen Passagen aus Heines Denkschrift über Börnes Nazarenertum im Ohr gehabt, als er schrieb: »Sünde, so wie sie jetzt überall empfunden wird, wo das Christentum herrscht oder einmal geherrscht hat: Sünde ist ein jüdisches Gefühl und eine jüdische Erfindung, und in Hinsicht auf diesen Hintergrund aller christlichen Moralität war in der Tat das Christentum darauf aus, die ganze Welt zu ›verjüdeln‹. Bis zu welchem Grade ihm dies in Europa gelungen ist, das spürt man am feinsten an dem Grade von Fremdheit, den das griechische Altertum – eine Welt ohne Sündengefühle – immer noch für unsere

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Empfindung hat, trotz allem Willen zur Annäherung und Einverleibung, an dem es ganze Geschlechter und viele ausgezeichnete einzelne nicht haben fehlen lassen. »Nur wenn du bereust, ist Gott dir gnädig« – das ist einem Griechen ein Gelächter und ein Ärgernis: er würde sagen, »so mögen Sklaven empfinden«. Hier [beim jüdisch-christlichen Gottesbild, L. P.] ist ein Mächtiger, Übermächtiger und doch Rachelustiger vorausgesetzt: seine Macht ist so groß, dass ihm ein Schaden überhaupt nicht zugefügt werden kann außer in dem Punkt der Ehre. Jede Sünde ist [für ihn, L. P.] eine Respekts-Verletzung, ein crimen laesae majestatis divinae 12 – und nichts weiter! Zerknirschung, Entwürdigung, Sich-im-Staube-wälzen – das ist die erste und letzte Bedingung, an die seine Gnade sich knüpft: Wiederherstellung also seiner göttlichen Ehre! Ob mit der Sünde sonst Schaden gestiftet wird, ob ein tiefes, wachsendes Unheil mit ihr gepflanzt ist, das einen Menschen nach dem andern wie eine Krankheit fasst und würgt – das lässt diesen ehrsüchtigen Orientalen im Himmel unbekümmert: Sünde ist ein Vergehen an ihm, nicht an der Menschheit! wem er seine Gnade geschenkt hat, dem schenkt er auch diese Unbekümmertheit um die natürlichen Folgen der Sünde. Gott und die Menschheit sind hier so getrennt, so entgegengesetzt gedacht, dass im Grunde an letzterer überhaupt nicht gesündigt werden kann – jede Tat soll nur auf ihre übernatürlichen Folgen hin angesehen werden, nicht auf ihre natürlichen: so will es das jüdische Gefühl, dem alles Natürliche das Unwürdige an sich ist.« (II,131 f.)

So gesehen dürfte Paulus für Nietzsche der Erznazarener schlechthin gewesen sein, der für ihn als »der erste Christ« zugleich auch »der Erfinder der Christlichkeit« (I,1058) war und trotzdem »der ewige Jude par excellence« (I,1230) geblieben ist, und damit zugleich auch als der eigentliche Erfinder des christlichen Sünden-Bewusstseins zu gelten hat. Aus diesem Grund gilt es laut Nietzsche, diesen Zustand vor der Erfindung der Sünde aufzusuchen und wiederherzustellen, indem man zunächst aufzeigt, durch welche ideologischen Manipulationen dieses ominöse Sündenbewusstsein überhaupt erst erfunden und dann den Menschen eines bestimmten Kulturkreises eingebläut worden ist. Es gilt also, mit anderen Worten, »der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen, unschuldigen (unschuldsbewussten) Menschen ebenso regelmäßig hervorzubringen, wie sie jetzt [im Zeichen des Christentums, L. P.] den unweisen, unbilligen, schuldbewussten Menschen (…) hervorbringt« (I,515), den Menschen also, der vom Gefühl der Erbsünde schon gebeutelt wird schon »vor jeder Tat« 13. Dieses Gefühl radikaler Sündhaftigkeit und Erlösungssüchtig-

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keit unterstellt Paulus in seinem berühmt-berüchtigten Römerbrief sogar auch der außer-menschlichen Kreatur, wenn er behauptet: »Das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes. Sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit ohne ihren Willen, sondern um deswillen, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung. 14 Denn auch die Kreatur wird frei werden von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass alle Kreatur sehnt sich mit uns und ängstet sich noch immerdar.« (Römer 8,19– 22)

War Paulus für Nietzsche »der erste Christ«, so war Augustinus für ihn gleichsam der nicht weniger bedeutsame und nicht minder verhängnisvolle »zweite Christ«, der in seiner Abhandlung Von der wahren Religion dem wahren Christen die Selbstbekämpfung und Selbstbesiegung in einem inneren Bürgerkrieg zur zentralen Aufgabe macht. Ausgangspunkt ist für ihn die Passage aus dem ersten Johannes-Brief, wo es heißt: »Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. So jemand die Welt liebhat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters [d. h. die Liebe zum Vater, L. P.]. Denn alles, was in der Welt ist: des Fleisches Lust und der Augen Lust und hoffärtiges Wesen, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Und die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit.« 15

All dies Weltliche ist für Augustinus Grund und Objekt der Begierde (cupiditas), und erscheint ihm in weiblicher Gestalt, gleichsam als »das Weib Welt«, das der wahre Christ aber in sich und um sich herum entschlossen zu bekämpfen und zu besiegen hat: »Besiegen wir also die Lockungen und Belästigungen der Begierde, unterwerfen wir uns dies Weib, wenn wir Männer sind! Haben wir die Führung erlangt, wird es selber besser sein und dann nicht mehr Begierde, sondern Mäßigung heißen. Wenn aber das Weibsbild führt und wir ihm folgen, dann wird es Begierde und Wollust genannt werden, und im Hinblick auf uns wird man von Frechheit und Torheit reden. Folgen wir aber Christus, unserem Haupte, dann wird auch sie uns folgen, deren Haupt wir sind. (…) Wenn aber der Mann, das heißt der Geist und die Vernunft, sich von dem Teil unterwerfen lässt, den wir nach Gottes Willen beherrschen und wieder unter unsere Botmäßigkeit bringen sollen, wozu Gott uns mahnt und wobei er uns behilflich sein will – wenn er, sage ich, aus Nachlässigkeit und Gott-

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Umbrüche »im Banne Griechenlands«

losigkeit sich unterwerfen lässt, dann wird der Mensch erbärmlich und elend sein.« (S. 499)

Demgegenüber betont Nietzsche gerade die Unschuld aller Kreatur, die »jenseits von Gut und Böse« existiert, und wird nicht müde, die paulinisch-augustinisch-nazarenische Erfindung des schlechten Gewissens »vor jeder Tat« als Wahngebilde zu geißeln. So heißt es z. B. in seiner Abhandlung Zur Genealogie der Moral über die Entstehung dieses umfassenden nazarenischen Sündenbewusstseins, die sich liest wie eine Beschreibung der Seelenkämpfe des Konfirmanden Berthold Eugen Brecht im Widerstreit gegen seine pietistische Erziehung: »Man wird bereits erraten haben, was eigentlich mit dem allen und unter dem allen geschehen ist: jener Wille zur Selbstpeinigung, jene zurückgetretene Grausamkeit des innerlich gemachten, in sich selbst zurückgescheuchten Tiermenschen, des zum Zweck der Zähmung in den ›Staat‹ Eingesperrten, der das schlechte Gewissen erfunden hat, um sich weh zu tun, nachdem der natürlichere Ausweg dieses Weh-tun-wollens verstopft war – dieser Mensch des schlechten Gewissens hat sich der religiösen Voraussetzung bemächtigt, um seine Selbstmarterung bis zu der schauerlichsten Härte und Schärfe zu treiben. Eine Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird ihm zum Folterwerkzeug. Er ergreift in ›Gott‹ die letzten Gegensätze, die er zu seinen eigentlichen und unablösbaren Tier-Instinkten zu finden vermag, er deutet diese Tier-Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott (als Feindschaft, Auflehnung, Aufruhr gegen den ›Herrn‹, den ›Vater‹, den Urahn und Anfang der Welt), er spannt sich in den Widerspruch ›Gott‹ und ›Teufel‹, er wirft alles Nein, das er zu sich selbst, zur Natur, Natürlichkeit, Tatsächlichkeit [also zur Kreatürlichkeit, L. P.] seines Wesens sagt, aus sich heraus als ein Ja, als seiend, leibhaft, wirklich, als Gott, als Heiligkeit Gottes, als Richtertum Gottes, als Henkertum Gottes, als Jenseits, als Ewigkeit, als Marter ohne Ende, als Hölle, als Unausmeßbarkeit von Strafe und von Schuld. Dies ist eine Art Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit, der schlechterdings nicht seinesgleichen hat: der Wille des Menschen, sich schuldig und verwerflich zu finden bis zur Unsühnbarkeit, sein Wille, sich bestraft zu denken, ohne dass die Strafe je der Schuld äquivalent werden könne, sein Wille, den untersten Grund der Dinge mit dem Problem von Schuld und Strafe zu infizieren und giftig zu machen, um sich aus diesem Labyrinth von ›fixen Ideen‹ ein für allemal den Ausweg abzuschneiden, sein Wille, ein Ideal aufzurichten – das des ›heiligen Gottes‹ –, und angesichts desselben seiner absoluten Unwürdigkeit handgreiflich gewiss zu sein. O über diese wahnsinnige traurige Bestie Mensch!« (II,833)

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Mit einem Wort: »Hier ist Krankheit! es ist kein Zweifel, die furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im Menschen gewütet hat.« (II,834) Und deshalb kann es für Nietzsche nicht um die paulinisch-nazarenische Erlösung von der Sünde gehen, sondern nur um die Emanzipation vom paulinisch-nazarenischen Sündigkeits-Bewusstsein. Soweit Nietzsches Analyse des Nazarenertums, die weitaus genauer und auch um einiges radikaler ist als die von Heine. Doch Nietzsches Alternative zum Nazarenertum steht auf genauso tönernen Füßen wie die von Heine, weil auch er auf das Prinzip Hoffnung setzt, ganz so wie Heine seine »Götter der Zukunft« entworfen hat und einen neuen »Menschen der Zukunft« heraufbeschwört, der die Menschheit vom Fluch des Nazarenertums erlösen soll, wenn dereinst der »Große Mittag« anbricht: »Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen [nazarenischen, L. P.] Ideal erlösen wird als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muss einst kommen …« (II,837)

Gemeint ist damit der »Übermensch«. Aber, so muss man doch wohl fragen dürfen, ist dieser von Nietzsche anvisierte »Übermensch« nicht auch wieder der Entwurf einer mangellosen Existenz ohne jede kreatürliche Bedürftigkeit, ganz so wie dies Heines »Götter der Zukunft« sein sollte und somit doch wieder nur ein neuer Gott in neuer, aber menschlicher Gestalt? Für einen Propheten, der in seinem Zarathustra so intensiv vor der Verachtung des Leibes 16 gewarnt hatte, ist dieser Übermensch schon ein reichlich seltsames Konstrukt. Wir sehen also, dass auch Nietzsches Alternative zum Nazarenertum in die Irre geführt hat. Das lag aber nicht daran, dass er sich an den Griechen orientiert hatte, denn das hatte ja auch Goethe getan, aber ohne in derartige Verstiegenheiten zu geraten, weil er sich bei seiner Orientierung an den Griechen damit begnügte, eine neue Unbefangenheit im Umgang mit der Umwelt, mit sich selbst und der eigenen kreatürlichen Bedürftigkeit zu gewinnen. Der Fehler von Heine, Feuerbach und Nietzsche bei ihrer Suche nach der Anima naturaliter pagana bestand also darin, sich mit dieser Unbefangenheit

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allein nicht zu begnügen, sondern einen ganz neuen mangelfreien und deshalb gottgleichen Menschen zu fordern. Wenn ich oben gesagt habe, das lange Zitat aus Nietzsches Genealogie der Moral illustriere ziemlich genau auch die Seelennöte des Konfirmanden Berthold Eugen Brecht bei seinem verzweifelten Versuch, sich aus den Banden seiner pietistischen Erziehung zu lösen, so darf das nicht so verstanden werden, dass der junge Brecht sich auch die ideologischen Verstiegenheiten Nietzsches zu eigen gemacht haben muss, da er den Entwurf eines mangellosen gottgleichen Übermenschen offenbar auch bald als wahnhafte Schimäre durchschaute, denn schon um 1916 gestand er seinem Freund Hanns Otto Münsterer, »dass er Nietzsche nicht mehr mag« 17. So steht es ja auch im Tagebuch unter dem 21. Oktober 1916. Und er mochte Nietzsche damals wohl deshalb nicht mehr, weil er mittlerweile schon auf den anderen und viel wichtigeren Mentor Max Stirner gestoßen war.

2.3 Der Umbruch im Zeichen Baals 2.3.1 Der biblische Baal Im Gegensatz zu Winckelmann, Goethe, Schiller, Heine und Nietzsche, die das Land der Griechen mit der Seele gesucht hatten, um sich von den Fesseln des Christentums zu befreien, bewegte sich der junge Brecht bei seiner Suche nach einer Alternative zum Christentum seiner Kindheit und Jugend einzig in der Bibel selbst und fand dort auch, was er gesucht hatte. Die griechische Antike spielte für ihn auch im späteren Werk nie eine bedeutende Rolle. Auf den syrischen Gott Baal dürfte Brecht schon in sehr jungen Jahren gestoßen sein, weil er von seiner frommen Mutter zur intensiven Lektüre der Lutherbibel angehalten worden war, und dabei konnten ihm die Kämpfe nicht entgangen sein, die die Jahwe-Propheten gegen diesen Gott Baal auszufechten hatten, weil die Israeliten immer wieder von ihrem Gott Jahwe abgefallen sind und sich dem weitaus attraktiveren Kult des Gottes Baal hingegeben haben. Dieser Gott Baal war einer der vielen Wettergötter, die es überall auf der Welt in allen Ackerbau-Kulturen gibt und immer gegeben hat, weshalb er auf den wenigen Abbildungen, die von ihm überliefert sind, auch mit einer Donnerkeule und einem Blitzspeer ausgerüstet ist. Er war aber zugleich auch ein Vegetationsgott, dessen alljähr93 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Abb. 1 Gott Baal

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liches rituelles Sterben und Wiederaufleben die theologische Deutung des Naturgeschehens aus bäuerlicher Sicht darstellt. So gesehen war dieser Gott Baal ein sehr typischer Gott der frühen Bronzezeit, als die Völker des Vorderen Orients seßhaft wurden und zu Ackerbau und Viehzucht übergegangen sind. Diesem rituellen Sterben bei der Saat und dem Wiederauferstehen beim Aufgang der Saat entsprach dann auch der jahreszeitliche Ablauf der Feste und deren liturgische Dramaturgie, die eine bäuerlich geprägte Gesellschaft im ganzen prägen: Wenn Baal vom Todesgott Mot besiegt wird und in die Totenwelt hinabsinkt, ganz so wie das Saatkorn in der Erde verschwindet, vertrocknet erst mal die Natur. Wenn Baals Schwester und Gattin Anat hingegen wiederum den Todesgott besiegt, und ihn zwingt, Baal wieder aus der Totenwelt freizugeben, steigt Baal aus dem Totenreich wieder auf, und analog dazu fängt es an zu regnen, die Saat geht auf, und alsbald kann geerntet werden. Im bäuerlichen Festkalender ist es dann so weit, dass die fröhlichsten Erntedankfeste mit Musik und Tanz und Schmausereien aller Art begangen werden, um diesem Gott der Fruchtbarkeiten den ihm gebührenden Dank zu bezeugen. Und ein bißchen ritueller Beischlaf darf bei diesen Festen deshalb auch nicht fehlen. Hier zeigt sich noch ein weiterer Aspekt des Gottes Baal, weshalb er auch mit Stierhörnern ausgestattet ist, die an die sexuelle Potenz eines Stiers erinnern sollen. Welche Freß-und Sauforgien bei solchen Festen üblich waren, geht aus den Anklagen des Propheten Jesaja hervor, der über diese Feste im Zeichen Baals schreibt: »Beide, Priester und Propheten (des Gottes Baal), sind toll von starkem Getränk, sind in Wein ersoffen und taumeln von starkem Getränk; sie sind toll beim Weissagen und wanken beim Rechtsprechen. Denn alle Tische sind voll Speiens und Unflats an allen Orten.« (Jes. 28,7–8)

All diese religionsgeschichtlichen Details 1 muss der junge Brecht aber gar nicht gekannt haben, als er bei seiner Bibellektüre auf diesen Gott Baal stieß, weshalb wir bei ihm nur das an Kenntnissen über diesen Gott Baal voraussetzen dürfen, was er aus der Bibel selbst über ihn erfahren konnte, und dabei dürfte sich für ihn folgendes Bild ergeben haben:

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Baal ist ein Gott aller sinnlichen Freuden, weshalb sein Kult für die Israeliten ja auch so verführerisch gewesen sein muss. Baal ist damit der gefährlichste Rivale des jüdischen Gottes Jahwe, vor dem schon im ersten Gebot gewarnt wird, das sich dann zu dem Verbot konkretisiert: Du sollst keinen anderen Gott neben mir haben, besonders nicht diesen Gott Baal. Baal ist der Gott einer naturnahen Lebensführung, die ein Sündenbewusstsein noch nicht bzw. nicht mehr kennt. Baal ist der Gott, dessen Botschaft die Unschuld des kreatürlichen Werdens und Vergehens verkündet und damit die kreatürliche Bedürftigkeit ausdrücklich als naturgegeben hinnimmt und ausdrücklich akzeptiert.

Da der junge Brecht seine Bibel natürlich auch als historischen Bericht gelesen haben wird, ergab sich für ihn religionsgeschichtlich gesehen folgendes Bild: Als das Volk Israel am Ende seines Zuges durch die Wüste nach Kanaan eindrang, dieses Land eroberte und dann wie die vorherigen Bewohner zur bäuerlichen Lebensform überging, bot es sich an, auch die dazugehörige Religion anzunehmen und den vom Sinai mitgebrachten asketisch bildlosen Kult des Gottes Jahwe durch den bilder- und sinnenfreudigen und zur neuen bäuerlichen Lebensform passenden Kult des Gottes Baal zu ersetzen, weil der Kult dieses Wetter- und Fruchtbarkeitsgottes Baal eine so verführerische und überzeugende theologische Sinnstiftung der bäuerlichen Lebensform darstellte. Die eigentliche Gefahr, die die Jahwe-Propheten im Kult des Gottes Baal sahen, bestand aber darin, dass Baal im Unterschied zu den meisten anderen Göttern des damaligen Vorderen Orients kein Nationalgott war, dessen Kult die Identität eines bestimmten Volkes zu sichern hatte, sondern ein Gott, der zu einer bestimmten, eben der bäuerlichen Lebensform gehörte, die sich nicht auf ein bestimmtes Volk beschränkte, sondern die ganze damals bekannte Welt prägte. Wenn die Jahwe-Propheten also gegen diesen Gott Baal wetterten und auf der ausschließlichen Anbetung des jüdischen Nationalgottes Jahwe bestanden, so vor allem deshalb, weil sie um die religiöse Identität des Volkes Israel bangten, die immer zugleich auch eine nationale Identität war und die beim Abfall von Jahwe sofort auf dem Spiel stand. Das religionsgeschichtlich Neue am Gott der Israeliten bestand nämlich in der theologischen These, dass dieser Gott Jahwe im Unter96 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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schied zu Baal und zu allen anderen Vegetationsgöttern, die sich im alljährlich wiederkehrenden Geschehen der Natur offenbaren und dieses bestimmen, sich in einem einmaligen historischen Akt sein eigenes Volk ausgewählt und diesem und allein diesem sich offenbart hatte. Damit erscheint Baal als der Herr eines regelmäßig wiederkehrenden Natur-Geschehens, Jahwe hingegen als der Herr einer einmaligen Heils-Geschichte mit Anfang und Ende. Und außerdem ist er bei diesem Selbstverständnis auch ein Gott, der, anders als Baal, prinzipiell keinen anderen Gott 2 neben sich dulden kann. Ob man dieses religionsgeschichtliche Novum als Fluch oder als Segen zu bewerten hat, ist eine Frage, über die man trefflich streiten 3 kann, vor allem deshalb, weil mit einem Monotheismus dieser Art sofort ein Impuls der prinzipiellen Unduldsamkeit gegenüber anderen Göttern, Kulten und Lebensformen verbunden ist, die sich dann als Bekehrungswut oder gar als Vernichtungslust manifestieren kann. Diese Konsequenzen lassen sich schon an den Passagen der Bibel deutlich ablesen, die von den Kämpfen gegen Baal und seine Anhänger erzählen. Die früheste Erwähnung Baals findet sich im vierten Moses-Buch, in dem berichtet wird, wie die Israeliten im Land Moab im Osten des Toten Meeres zum ersten Mal dem Baal-Peor begegnen, also dem Kult des Gottes Baal am Berg Peor, und sofort fasziniert sind von der Atmosphäre ausschweifender und überwältigender Sinnlichkeit, die an dieser Kultstätte herrschte: »Und Israel wohnte in Sittim. Und das Volk [Israel, L. P.] hob an zu huren mit der Moabiter Töchtern, welche luden das Volk zum Opfer ihrer Götter [also der Fruchtbarkeitsgötter Baal und Aschera, L. P.]. Und das Volk aß und betete ihre Götter an. Und Israel hängte sich an den Baal-Peor. Da ergrimmte des Herren Zorn über Israel, und er sprach zu Mose: Nimm alle Obersten des Volkes und hänge sie dem Herrn auf an der Sonne, auf dass der grimmige Zorn des Herrn von Israel gewandt werde. Und Mose sprach zu den Richtern Israels: Erwürge ein jeglicher seine Leute, die sich an den Baal-Peor gehängt haben.« (4. Mose 25, 1–5)

Dann wird ausführlich geschildert, wie der wackere Gottesstreiter Pinchas ein kopulierendes Paar zum Lob seines Gottes Jahwe mit einem Speer ›mittendrin‹ aufspießt und damit am Boden festnagelt. Und dann folgt ein Blutbad zur Bestrafung aller Abtrünnigen: »Da hörte die Plage auf von den Kindern Israel. Und es wurden getötet in der Plage 24 000.« (V. 8–9)

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In dieser kurzen Geschichte finden sich schon alle Elemente des religionspolitischen Szenarios, das späterhin die Auseinandersetzungen zwischen den Jahwe- und den Baals-Anhängern bestimmen wird: •

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die Verführung der Israeliten durch sinnlich-leibliche Genüsse und ekstatische Schleimhautfreuden aller Art, was in der Bibel immer als »Hurerei« bezeichnet wird; die dadurch ausgelöste rasende Eifersucht des Gottes Jahwe; der Befehl des Gottes Jahwe zur sofortigen rabiaten Bestrafung der Abtrünnigen; und das Gericht über die Abtrünnigen in Form eines verheerenden Massakers, dem niemand entkommt.

Szenarios dieser Art finden sich vor allem in den beiden Büchern der Könige, die erfüllt sind von den Kämpfen der Jahwe-Propheten gegen den Baals-Kult, dem die meisten Könige des Nordreiches Israel zuneigten, weil sich dies aus außenpolitischen Gründen für sie anbot, um mit den Staaten der Mittelmeerküste in Kontakt 4 zu treten und mit ihnen Handel zu treiben. Und so heißt es denn im Deuteronomischen Geschichtswerk, das ganz aus dem Geiste der fundamentalistischen Jahwe-allein-Bewegung 5 geschrieben ist und die Politik des Nordreiches allein unter theologischen und religionspolitischen Aspekten beurteilt, immer wieder ganz stereotyp: »Und der König XYZ tat, was dem Herrn übel gefiel und diente Baal und betete ihn an und erzürnte den Herrn, den wahren Gott Israels.«

Diese Kämpfe der Jahwe-Propheten gegen den Baals-Kult im Nordreich erreichten ihren Höhepunkt in zwei Maßnahmen von erschreckender Gewalttätigkeit: Einmal im Götterwettstreit auf dem Berg Karmel (1. Könige 18,16–40), bei dem ein Jahwe-Prophet mit dem programmatischen Namen Elija 6 gegen eine Hundertschaft von Baals-Priestern antritt, sie natürlich alle besiegt und abschlachtet und dann ihre Altäre zu Aborten umbaut. Der zweite Höhepunkt dieser rabiaten Religionspolitik ist der von dem Jahwe-Propheten mit dem ebenso programmatischen Namen Elischa 7 angestiftete Staatsstreich des Kampfwagen-Generals Jehu gegen das omridische Königspaar Ahab und Isebel, der in der rituellen Abschlachtung Isebels gipfelt: Sie wird auf seinen Befehl hin aus dem Fenster des Palastes gestürzt, von dem herab sie ihn hatte bezirzen wollen, und dann fährt der wackere Gottprotz Jehu 8 mit seinem Kampfwagen immer 98 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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wieder grölend über sie hinweg und lässt sie auch noch durch seine Pferde zertrampeln, bis am Ende von ihr nichts mehr übrigbleibt als ein Brei aus Hackfleisch, Blut und Scheiße. 9 Zu welchen Drohungs- und Verfluchungs-Tiraden dieser Gott Jahwe sich hinreißen lassen konnte, wenn er fürchtete, seine Anhänger könnten von ihm wieder abfallen, lässt sich im Deuteronomium nachlesen, wo Jahwe seinem Volk Israel droht: »Wenn du aber nicht gehorchen wirst der Stimme des Herrn, deines Gottes, dass du hältst und tust alle seine Gebote und Rechte, die ich dir heute gebiete, so werden alle diese Flüche über dich kommen und dich treffen. Verflucht wirst du sein in der Stadt, verflucht auf dem Acker. Verflucht wird sein dein Korb und dein Backtrog. Verflucht wird sein die Frucht deines Leibes, die Frucht deines Landes, die Frucht deiner Rinder und die Frucht deiner Schafe. Verflucht wirst du sein, wenn du eingehst, verflucht, wenn du ausgehst. Der Herr wird unter dich senden Unfall, Unruhe und Unglück in allem, was du vor die Hand nimmst, was du tust, bis du vertilgt werdest und du untergehst um deines bösen Wesens willen, darum dass du mich verlassen hast. Der Herr wird dir die Pestilenz anhängen, bis dass er dich vertilge in dem Lande, dahin du kommst, es einzunehmen. Der Herr wird dich schlagen mit Darre, Fieber, Hitze, Brand, Dürre, giftiger Luft und Gelbsucht und wird dich verfolgen, bis er dich umbringe.« (5. Mose 28,15–22)

Und so geht es dann seitenlang weiter. Wenn man die sehr knappen Angaben der Bibel über den BaalsKult sichtet, so fällt auf, dass dabei neben den heitersten sinnlichen Genüssen v. a. der Einsatz von Feuer eine große Rolle gespielt zu haben scheint. Immer wieder ist davon die Rede, dass dem Baal geräuchert wird (z. B. Jer.7,9; 11,3; 11,17), dass seine Anhänger entweder selbst durchs Feuer gehen (z. B. 2. Kön.17,16 f.) oder gar ihre eigenen Kinder verbrennen (z. B. Jer.19,5). Doch dies dürfte wohl eher eine gezielt kontrafaktische Behauptung sein, um den Kult des Gottes Baal mit der Moloch-Praxis 10, eben dem Gang durchs Feuer oder gar ins Feuer in eins zu setzen und dadurch als besonders abstoßend erscheinen zu lassen. Außerdem scheinen bestimmte Ekstasetechniken eine wichtige Rolle gespielt zu haben, die aus rituellen Tänzen und Selbstverletzungen bestanden und die Baalspriester in Trance versetzten und zu Weissagungen befähigten. Die ausführlichste Schilderung derartiger Praktiken findet sich in der Beschreibung des Götterwett99 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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kampfs auf dem Berg Karmel, in der die Baalspriester als die letzten Scharlatane und Idioten erscheinen, wenn sie unter dem Hohngelächter des Elija ihrem Gott ein Opfer darbringen wollen: »Und Elia sprach zu den Propheten Baals: Erwählet ihr einen Farren und richtet zu am ersten, denn euer ist viel; und rufet eures Gottes Namen an und leget kein Feuer daran. Und sie nahmen den Farren, den man ihnen gab, und richteten zu und riefen an den Namen Baals von Morgen an bis an den Mittag und sprachen: Baal, erhöre uns! Aber da war keine Stimme noch Antwort. Und sie hinkten um den Altar, den sie gemacht hatten. Da es nun Mittag ward, spottete ihrer Elia und sprach: Rufet laut! denn er ist ein Gott; er dichtet oder hat zu schaffen oder ist über Feld oder schläft vielleicht, dass er aufwache. Und sie riefen laut und ritzten sich mit Messern und Pfriemen nach ihrer Weise, bis dass ihr Blut herabfloss. Da aber der Mittag vergangen war, weissagten sie bis um die Zeit, da man das Speisopfer tun sollte; und war da keine Stimme noch Antwort noch Aufmerken.« 11

Nachdem die Baals-Priester sich und ihren Gott Baal also blamiert hatten, macht sich der Jahwe-Prophet Elija an die Arbeit und beweist die unendliche Überlegenheit seines Gottes Jahwe durch eine Vielzahl von Wundern. Und dann folgt das obligatorische Blutbad: »Und da die Zeit war, Speisopfer zu opfern, trat Elia, der Prophet, herzu und sprach: Herr, Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, lass heute kund werden, dass du Gott in Israel bist und ich dein Knecht, und dass ich solches alles nach deinem Wort getan habe! Da fiel das Feuer des Herrn herab und fraß Brandopfer, Holz, Steine und Erde und leckte das Wasser auf in der Grube [die Elija vorher eigens mit Wasser gefüllt hatte, L. P.]. Da das alles Volk sah, fiel es auf sein Angesicht und sprach: Der Herr ist Gott, der Herr ist Gott! Elia aber sprach zu ihnen: Greift die Propheten Baals, dass ihrer keiner entrinne! Und sie griffen sie. Und Elia führte sie hinab an den Bach Kison und schlachtete sie daselbst.« (1. Kön.18,36–40)

Und außerdem empören sich die Jahwe-Theologen natürlich immer wieder darüber, dass für diesen Baal Bilder gegossen werden ganz so wie auch schon am Berg Sinai ein Goldenes Kalb gegossen, umtanzt, umfeiert und angebetet wurde. All dies klingt gewiss nicht sonderlich attraktiv und allein dies dürfte den jungen Brecht auch nicht dazu bewogen haben, sich diesen 100 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Gott Baal als Objekt der Verehrung und als Orientierungsgestalt auszusuchen und gegen den jüdisch-christlichen Gott seiner Kindheit in Stellung zu bringen. Seine Abkehr vom biblischen Gott seiner Mutter muss also andere, zusätzliche Gründe gehabt haben.

2.3.2 Der Baal des jungen Brecht Nun hatte das frühe Christentum durch die Entscheidung, die hebräische Bibel zu ihrem eigenen Alten Testament und damit zur Vorgeschichte ihres Neuen Testaments zu erklären, zugleich auch den jüdischen Gott Jahwe als ihren eigenen christlichen Gott vereinnahmt, was die Juden jedoch nie akzeptiert haben, sodass der biblische Gott Baal zugleich auch der Gegengott zum Gott der Christen geworden war, und von Brecht auch so empfunden wurde. Was der junge Brecht aus diesen biblischen Schauergeschichten über das Wirken der Jahwe-Propheten ablesen konnte, war also genau das Bild eines rabiat strafenden Gottes, das ihm seine pietistische Mutter schon über Jahre hinweg vor Augen geführt hatte, dem er auch in der Matthäus-Passion wieder begegnet war und das auch in seinem Stück Die Bibel als Gottesbild des Großvaters sichtbar wird. Vor diesem Bild eines eifersüchtigen und straffreudigen Gottes konnte der biblische Gegengott Baal natürlich nur gewinnen und dürfte auf den jungen Brecht genau so verführerisch gewirkt haben, wie er schon auf das Volk Israel gewirkt hatte. Denn wenn man den Kult dieses Gottes Baal einmal unvoreingenommen und mit religionsgeschichtlich kühlem Blick betrachtet, seine nazarenisch geprägte Entrüstungsbereitschaft zügelt und sich vorschnelle Igitt-Reaktionen verbietet, so schält sich aus den spärlichen Berichten über den Kult des Gottes Baal mit all seinen ekstatischen Tänzen und Schleimhautfreuden aller Art ein Programm heraus, das man auch aus dem griechischen Kult des Dionysos und aus der Dramaturgie der athenischen Theaterfestspiele 1 kennt und das seit dem Hochmittelalter in Form des Osterlachens 2 sogar seinen Einzug in den christlichen Festkalender gehalten hatte, bis es dann durch die Reformatoren resolut abgeschafft wurde, die wohl mit Recht hier viel zu viel baalische Lebensfreude entdeckten: Ich meine das Programm uroborischer Katharsis 3, also ein Programm kultisch ritualisierter Selbst-verausgabung als Hingabe an bestimmte Affekte, die gezielt erregt werden, damit sie 101 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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sich dann wieder uroborisch verzehren und auf diese Weise eine kathartische Wirkung zu erzielen. Allerdings darf man Katharsis hier in keiner Weise als moralische Läuterung oder gar als Sündenvergebungs-Prozess 4 verstehen, sondern allein als Spiel von Spannung und Lösung weit jenseits von jeglicher Schuld und jeglicher Sühne. Dass der junge Brecht dieses baalische Programm sofort in voller Klarheit und in all seinen Konsequenzen erfasst habe, darf man sicher bezweifeln. Dass er die Bekanntschaft mit den Gott Baal aber als überwältigende Befreiung von dem ihm eingebläuten nazarenischen Sündigkeitsbewusstsein empfunden haben dürfte und daraus eine ganz neue Unbefangenheit gewonnen haben muss, dies scheint mir gewiss. Es genügt ja auch schon, dass er all dies nur vage geahnt und sich vertrauensvoll auf sein poetisches Genie verlassen hat, das ihn dann ›wie von selbst‹ aus all diesen Ahnungen dieses Frühwerk schaffen ließ, vor dem wir heute voller Bewunderung stehen. Und so erschien ihm dieser Gott Baal als der willkommene Lotse, um ihn aus dem Land seiner bibelfrommen Mutter herauszuführen, ganz so wie der strenge Gott Jahwe das Volk Israel aus der Knechtschaft in Ägypten geführt haben soll. Mit anderen Worten: Der biblische Gott Baal sollte für den jungen Bert Brecht genau die Funktion übernehmen, die Baals Rivale Jahwe für das Volk Israel gehabt hatte: Die Stiftung einer neuen Identität in Leben und Werk, die Brecht dann auch durch die Änderung seines Vornamens deutlich machte. Aus diesem Grund stattete der junge Brecht diesen Gott Baal mit all den wünschenswerten Eigenschaften aus, die der Gott der Judenund-Christen nicht hatte und machte ihn somit zu einer Projektionsfläche all seiner eigenen Wünsche und Sehnsüchte, aber auch all seiner Begabungen. Diese Funktion als Erwecker all seiner Begabungen hat der biblische Baal für den jungen Dichter dann auch wirklich erfüllt und ihn in eine Bewusstseinslandschaft vor der Erfindung der Sünde geführt, was bei ihm einen ganz neuen Schub an Kreativität freigesetzt hat, der seinen Blick auf alles Naturhaft-Kreatürliche richtete. Zugleich damit löste sich für ihn auch das Bewusstsein seiner radikalen Sündhaftigkeit in nichts auf, das seine pietistische Mutter ihm jahrelang eingebleut hatte, denn nun konnte er der überkommenen paulinischaugustinischen bösen Botschaft der Nazarener von der durch die Erbsünde bedingten radikalen Sündhaftigkeit aller Kreatur die ganz andere frohe Botschaft des biblischen Baal von der Unschuld aller Kreatur entgegenstellen, die da lautet: Anima naturaliter pagana, denn 102 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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was von nun an für Brecht galt und von ihm als sein neues poetisches Programm dargestellt werden wollte, war die Botschaft von der Unschuld des kreatürlichen Werdens und Vergehens und damit ein Programm absoluter Diesseitigkeit. In Baals Welt harrt die Kreatur auch nicht in phimotischer Erstarrung ängstlich auf die Erlösung aus ihrem sündigen Zustand, sondern öffnet sich schwellend nach allen Seiten und nimmt den Menschen in Empfang, sofern dieser bereit ist, sich wiederum ihr hinzugeben, denn in dieser umfassend erotisierten Welt bieten sich die von Baal gestifteten Unerhörten Möglichkeiten für profane Himmelfahrten aller Art an, die aber auch in dem Augenblick angenommen und genossen werden wollen, in dem sie sich anbieten, und die der junge Dichter denn auch annimmt und hymnisch besingt, und er tut dies auf eine Weise, der man anmerkt, wie tief dieses prinzipielle Einverständnis mit der Welt reicht. So gesehen könnte man die lyrischen Bekundungen des »baalischen Lebensgefühls« 5 auch als Oden auf das ›Prinzip Einverständnis‹ bezeichnen, durch das auch ganz profane Himmelfahrten möglich sind: Unerhörte Möglichkeiten 1 O die unerhörten Möglichkeiten Wenn man Frauen um die Hüfte nimmt Zwischen Schenkeln sanft im Abwärtsgleiten Durch das grüne Meer der Wollust schwimmt. 2 Oder Schnaps trinkst in den Schmutzspelunken Und die Reden in den Himmel knallst Alle, alle liebst ganz rasend, trunken! Und mit Singen auf den Boden fallst. 3 O sage nicht, dass nur in Schenken Höchste Seligkeit mich ganz durchriss Einst war Sitzen schön in Kirchenbänken Wo der Segen mich zum Himmel schmiss! 4 Auch auf wilden Abendkarussellen Wo man billig rasend schaukeln darf War ich selig, wenn ich mich in hellen Billig strahlend in den hellen Himmel warf!

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5 Auch im Gras, ganz faul, und schwer wie Eisen Wo man gar nichts weiter denken muss Als: warum die Gräser nackte Leiber beißen Macht das Leben ganz im Ernst Genuss! 6 Auch in Betten in ein Weib verknächelt Zwischen schlanke Beine hingestreckt Wie er atmet, Freunde! Wie er lächelt Wenn er sich, um groß zu werden, reckt! 7 Aber welch orangene Seligkeiten Hat der bloße Himmel, wenn man nackt Im Geäst der hohen Bäume reiten Kann, dass man den Wind wie Weiber packt. 8 Oder wenn dich tolle Strudel reißen Wenn du sinnlos auf dem Rücken liegst, dass du meinst, dass du im Himmel fliegst Blau und weit, wo um dich Wolken kreisen Wenn du dich, die sanfte Taube, wiegst. 9 Seht, wir wissen, Freunde, dass das alles Nackter Schwindel ist und untergeht Doch auch dieses: dass man besten Falles Eines Morgens nimmer oben steht … 10 Was man haben kann an blauem Himmel Wind und Mensch, reicht nicht einmal zur Not – Und auch dieses kriegen nur die Lümmel Und es reicht nicht und wird schnell zu Kot. 11 Doch wer dich nicht griff mit Fluchen und Morden Hat in reinen Händen nichts, sagt Baal – Denn ihr sterbt, bevor es schal geworden Und ihr sterbt vor eurer letzten Qual. (S. 501 f.)

Was an diesem Gedicht sofort auffällt, ist eine im besten Sinne heidnische Unbefangenheit und eine ungehemmte und vor allem völlig angstfreie Bereitschaft zur Hingabe an den jeweiligen Augenblick, auch im Wissen darum, dass es sich dabei ›nur‹ um augenblickliche 104 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Der Umbruch im Zeichen Baals

Freuden und Glücksgefühle handelt und dass es sich auch nur um solche handeln kann. So gesehen hatte der biblische Gegengott Baal bei Brechts Kampf »mit mir gegen mich« seine Aufgabe erfüllt, hatte ihn an der Hand genommen und ihn aus dem Land seiner angstbesetzten christlichen Kindheit hinaus in das offene angstfreie Gelände einer heidnischen Unbefangenheit geführt. Davon zehrte auch noch der reife Brecht, als er Ende der Dreißigerjahre Überlegungen zu einem Stück über einen Glücksgott anstellte, der deutlich in der Tradition Baals stehen und evtl. sogar Baal selbst sein sollte, denn in einem Lied stellt dieser Glücksgott sich mit den Worten vor: Freunde, wenn Ihr Euch mir verschreibt Und das könnte sich lohnen Wisst, dass Ihr dann nicht geduldet bleibt Mehr in den höhren Regionen! Denn die Götter von Ruf und Stand Haben auf alle Fälle Mich kleinen Dicken endgültig verbannt In die Schweineställe. Und noch kein Pfäfflein mit Selbstrespekt Hat mich je seinen Kunden empfohlen Wer sich nur einmal wollüstig reckt Wird sofort zur Beichte befohlen. Wer, meiner Weine gedenkend, schmatzt Wer zum Bette ein Polster fordert Wer an bestimmten Stellen sich kratzt Wird aus der Stube der Guten beordert. Wen ein gelungener Hintern entzückt Was sind dem die frühesten Metten? Wer sich so tief zum Irdischen bückt Der ist schon nicht mehr zu retten. Und ein Stück Fleisch und ein Dach überm Kopf Ist der Mensch etwa dazu geboren? Gutes Leben? Dem niedrigen Tropf Wird vom Himmel Rache geschworen. Schon ein Lächeln kann missliebig sein Ein Gelächter ist immer verdächtig! Wer nicht nach Sternen langt, ist ein Schwein Wer da lacht, der ist niederträchtig.

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II · Umbrüche und Aufbrüche

Ich bin der Gott der Niedrigkeit Der Gaumen und der Hoden, Denn das Glück liegt nun einmal, tut mir leid Ziemlich niedrig am Boden. (S. 1230 f.)

Diese großartige Offenheit für den glücklichen Augenblick, so vergänglich er auch immer sein mag, ist wohl der entscheidende Aspekt dessen, was in der Brecht-Literatur gern als »baalisches Lebensgefühl« bezeichnet wird. Worin dieses spezifische Lebensgefühl eigentlich besteht, wird aber erst deutlich, wenn man nicht allein auf die Objekte und Situationen schaut, die dabei eine Rolle spielen, sondern wenn man der Frage nachgeht, welche Einstellung, welche innere Haltung dahintersteckt und wovon diese sich fundamental unterscheidet. Als Musterbeispiel für dieses baalische Lebensgefühl wird gern und natürlich auch das mit Recht so berühmte Gedicht über das Schwimmen aus der Hauspostille zitiert: Vom Schwimmen in Seen und Flüssen 1 Im bleichen Sommer, wenn die Winde oben Nur in dem Laub der großen Bäume sausen Muss man in Flüssen liegen oder Teichen Wie die Gewächse, worin Hechte hausen. Der Leib wird leicht im Wasser. Wenn der Arm Leicht aus dem Wasser in den Himmel fällt Wiegt ihn der kleine Wind vergessen Weil er ihn wohl für braunes Astwerk hält. 2 Der Himmel bietet mittags große Stille. Man macht die Augen zu, wenn Schwalben kommen. Der Schlamm ist warm. Wenn kühle Blasen quellen Weiß man: ein Fisch ist jetzt durch uns geschwommen. Mein Leib, die Schenkel und der stille Arm Wir liegen still im Wasser, ganz geeint Nur wenn die kühlen Fische durch uns schwimmen, Fühl ich, dass Sonne überm Tümpel scheint. 3 Wenn man am Abend von dem langen Liegen Sehr faul wird, so, dass alle Glieder beißen Muss man das alles, ohne Rücksicht, klatschend In blaue Flüsse schmeißen, die sehr reißen. Am besten ist’s, man hält’s bis Abend aus.

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Weil dann der bleiche Haifischhimmel kommt Bös und gefräßig über Fluss und Sträuchern Und alle Dinge sind, wie’s ihnen frommt. 4 Natürlich muss man auf dem Rücken liegen So wie gewöhnlich. Und sich treiben lassen. Man muss nicht schwimmen, nein, nur so tun, als Gehöre man einfach zu Schottermassen. Man soll den Himmel anschaun und so tun Als ob einen ein Weib trägt, und es stimmt. Ganz ohne großen Umtrieb, wie der liebe Gott tut Wenn er am Abend noch in seinen Flüssen schwimmt. (S. 72 f.)

Was hier beschrieben wird, sind Erfahrungen glückhafter ekstatischer Weitung, wenn, wie bei Eichendorff, die Seele weit ihre Flügel ausspannt, Zustände also, bei denen der Lastcharakter leiblicher Existenz sich auflöst in das Gefühl, schwerelos zu sein wie ein Fötus im Fruchtwasser und auf diese Weise getragen zu werden, »dass es stimmt«. Aber es »stimmt« eben nur, wenn man sich diesen Flüssen und Seen angstfrei und unbefangen anvertraut, ganz so wie ein Fötus sich fühlen mag, weil man sich nur dann im Einklang mit dem Element und dem Augenblick befinden kann. Und wenn Brecht schreibt, dass auch »der liebe Gott« auf diese Weise in seinen Flüssen schwimmt, so ist damit natürlich nicht der liebe Gott seiner Mutter bzw. der seiner bibelfrommen Kindheit gemeint, sondern der biblische Gegengott Baal, der eben nicht im Himmel wohnt, sondern inmitten der Natur und dieser es damit erspart, ängstlich auf ihre Erlösung durch ihn zu harren. Denn dort im Haifischhimmel wohnt nur der biblische Gott der Nazarener aller Konfessionen. Peter Sloterdijk würde Brechts Gedicht über das Schwimmen wahrscheinlich als das Evangelium einer »Uterodizee« 6 bezeichnen, denn »Schoß wird zu einem Denkbild, das den ›Gott von unten‹ : die Göttin und die Erde, evoziert« (S. 194): »In psychologischer Perspektive lässt sich die Orientierungsmacht des Schoßhaften als Zone und Zustand leicht verstehen. Gleichgültig, ob das in gremio realpsychologisch als Sein-in-der-Mutter aufgefasst wird oder ob es metaphysisch als gottnahe Präexistenz imaginiert wird – es verbindet sich mit dem Selbstsein im Schoße, sofern keine Katastrophen dazwischentreten, in beiden Fällen ein Wähnen vom präobjektiven Schweben im Optimum.« (S. 194)

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Mephisto würde diesen »schönen, süßen Zeitvertreib« in der Natur sicher ganz anders und entsprechend zynisch, aber nicht weniger treffend kommentieren, denn er verhöhnt seinen Kumpan Faust, der sich in Wald und Höhle dem Erdgeist genau so nahe fühlt wie Brechts Schwimmer dem Gott Baal, mit den Worten: Ein überirdisches Vergnügen! In Nacht und Tau auf den Gebirgen liegen, Und Erd’ und Himmel wonniglich umfassen, Zu einer Gottheit sich aufschwellen lassen, Der Erde Mark mit Ahndungsdrang durchwühlen, Alle sechs Tagewerk’ im Busen fühlen, In stolzer Kraft ich weiß nicht was genießen, Bald liebewonniglich in alles überfließen, Verschwunden ganz der Erdensohn, Und dann die hohe Intuition – (mit einer Gebärde) Ich darf nicht sagen, wie – zu schließen. (V. 3282 f.)

Doch erst Carl Pietzcker liefert uns das richtige Stichwort, wenn er zur Interpretation von Brechts Schwimm-Gedicht auf das spätere Gedicht Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus aus den Svenborger Gedichten verweist, in dem es u. a. heißt: Wie ist dies Nichts, Meister? Wir alle möchten Abtun alle Begierde, wie du empfiehlst, aber sage uns Ob dies Nichts, in das wir dann eingehen Etwa so ist wie dies Einssein mit allem Geschaffenen Wenn man im Wasser liegt, leichten Körpers, im Mittag Ohne Gedanken fast, faul im Wasser liegt oder in Schlaf fällt Kaum noch wissend, dass man die Decke zurechtschiebt Schnell versinkend, ob dies Nichts also So ein fröhliches ist, ein gutes Nichts, oder ob dies dein Nichts nur einfach ein Nichts ist, kalt, leer und bedeutungslos. 7

Um dann fortzufahren: »Hier [im frühen Gedicht über das Schwimmen, L. P.] gestaltet Brecht ein ›gutes Nichts‹, ein Schweben ohne Widerstand und deshalb ohne Leiden, ein Getragensein ohne Mühe. Das Gedicht verkündet als Evangelium die Frohe Botschaft nihilistischer Erlösung in der Natur. Das ›dichtende Ich‹ phantasiert seine Erlösung ›hier auf Erden‹ ; dazu wählt es den sommerlichen Teich, wo ihm die Immanenz nicht zu widerstehen scheint, so dass es Immanenz negieren und dennoch in ihr verbleiben kann. Diese negierte und zugleich bewahrte Immanenz befreit das Ich von all dem, woran es

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leidet, von seiner Vereinzelung, von der Gesellschaft, von den Wertungen, Gedanken, Gefühlen und Begierden, ohne es dabei aufzulösen wie das ›ertrunkene Mädchen‹, und gewährt ihm so das beglückende Gefühl, nahezu kein Selbstgefühl zu haben, in eine Totalität aufgenommen zu sein und dennoch fortzubestehen.« (S. 193 f.)

Doch weil Brechts Gedicht mit Regieanweisungen aller Art gespickt ist (»man muss«, »man soll«), fügt Pietzcker noch hinzu: »Das Ich schafft sich Distanz zu seinem Naturerlebnis und der Erlösung, die es mit ihm phantasiert, indem es eine Anleitung zum Verhalten in der Natur im Stil einer Turnanweisung gibt. Es objektiviert seine eigene Innerlichkeit und verhindert die unmittelbare Identifikation des Lesers mit ihr. Die Macht des Erlebnisses, die Einheit von Subjekt und Objekt sowie die Erfahrungen von Intensität, Unmittelbarkeit und Totalität werden gebrochen. Das Erlebnis fällt nicht zu, sondern wird aufgesucht, Ort und Zeit werden ausgewählt; an die Stelle des Erlebnisses tritt die Erlebnistechnik.« (S. 196) »Diese Distanzierung vom Naturerlebnis zeigt, wie stark das Ich versucht ist, sich ihm hinzugeben, wie stark es aber andererseits dagegen ankämpft, als Ich zu erlöschen. Es regrediert in seiner Phantasie und sucht sich durch Distanzierung davor zu retten, der Regression zu verfallen.« (S. 197) »Im Gleichgewicht von Selbstaufgabe und Selbstbewahrung, Reduktion des Bewusstseins und Helle des Bewusstseins, Passivität und Aktivität, Bewegungslosigkeit und Bewegung sucht das ›dichtende Ich‹ seine Identität ohne die Schmerzen der Individuation zu bewahren.« (Ebd.)

Die innere Haltung, die Brecht als Evangelium seines neuen Gottes Baal in seinen frühen Natur-Gedichten verkündet, ließe sich also zwischen den beiden Polen Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe im Sinne von Helmuth Plessner 8 ansiedeln und als angstfreie hinhaltende Hingabe 9 bestimmen, und das Evangelium des Gottes Baal bestünde dann in der Bereitschaft, sich voller Vertrauen und frei von Ängsten aller Art in die verschiedensten Formen personaler Regression 10 fallen zu lassen ›wie in einen Heuhaufen‹, weil man weiß, dass man dabei nicht ins Bodenlose fällt. Wilhelm Kamlah nennt dieses Vertrauen die »Grunderfahrung« 11 angstfreier eudämonistischer Lebenskunst. Und das von Brecht gewünschte und gesuchte »feste Herz« wäre eben genau das Zeichen dieser angstfreien eudämonistischen Lebenskunst, die er hier unter der Führung Baals gewonnen haben dürfte. Der Gegentyp zu Brechts Schwimmer, der sich voller Selbstvertrauen den Elementen anvertraut und sich von ihnen tragen lässt, 109 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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»als ob einen ein Weib trägt, und es stimmt«, wäre dann jemand, der als ängstliche Kreatur sich phimotisch in sich selbst zurückzieht, vor der ängstlich harrenden Natur selber auch ängstlich verharrt und sich nichts zutraut, und genau diesen Typus hat Ernst Jandl in einem Gedicht beschrieben, das sich wie eine Übersetzung von Brechts Schwimmer-Gedicht aus dem Ekstatisch-Baalischen ins phimotischnazarenisch Verzagte liest: nasses gedicht das schwimmen hat mir immer sehr geschadet ich habe niemals gern in meer see teich gebadet ich fühlte nie des schwimmers todeslust hab immer stracks zurück zum strand gemusst mein abscheu gilt auch fließendem gewässer denn fließendes gewässer ist ja noch viel nässer die karpfen blöde aus der donau äugen von hallenbädern lass ich mich nicht säugen bei jedem atemzug drängt sich ein wasserguss in meinen mund bis ich ersticken muss ich lieber halte mich an trocken holz fern von des haies und torpedos stolz auch badehosen trug ich immer nur mit scham weil drin mein genital nur wenig raum einnahm 12

Für Hans-Harald Müller und Tom Kindt ist Brechts Lyrik »seit der Zäsur von 1916 bis in die Mitte der zwanziger Jahre« (S. 41) bestimmt durch einen Gedicht-Typus, der durch »die Motive von Opfer, Untergang und Verklärung« (S. 41) gekennzeichnet sei. Doch dieser Deutungsansatz ist immer noch viel zu christlich orientiert, bedingt durch die allzu enge Anlehnung an Rohses Dissertation 13 über den frühen Brecht und seine Beziehung zur Bibel, denn in Baals Welt tritt an die Stelle des Selbstopfers für andere die uroborische Selbstverausgabung, weil es hier das christlich bestimmte stellvertretende Leiden und Sterben nicht mehr gibt und jeder nur noch seinen eigenen Tod stirbt. An die Stelle des Untergangs tritt hier das kreatürliche Verenden in aller Unschuld, weil der Tod nicht mehr im Sinne von Paulus als »der Sünde Sold« (Römer 6,13) gilt, und eine Verklärung ›nach oben‹ findet hier sowieso nicht mehr statt, weil Baals Welt eine rein diesseitige ist, die nur die Unschuld des Werdens und Vergehens kennt. Dass Brecht seinem ersten Stück den Titel »Baal frisst! Baal 110 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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tanzt!! Baal verklärt sich!!« 14 geben wollte, dies dann aber doch nicht getan und den einfachen Titel Baal gewählt hat, zeigt deutlich genug, dass auch er selbst noch gewisse Schwierigkeiten hatte, sich vom christlichen Wortschatz seiner Kindheit zu lösen. Es könnte aber auch sein, dass er das Phänomen der Verklärung völlig neu verstand. Wir werden sehen. Wenn also in Baals Welt gestorben wird, so ist dies ein rein natürlicher Vorgang, ein kreatürliches Verenden jenseits von Schuld und Sühne und jenseits von Höllenangst und Himmelssehnsucht und geschieht in rückhaltloser Ergebung in den unabwendbaren biologischen Prozess. Später, in der Phase seiner Lehrstücke, wird Brecht für diese innere Haltung den Begriff »Einverständnis« verwenden, doch dieses Einverständnis wird zunächst einmal ein Einverständnis mit der eigenen Enteignung und der eigenen Einschmelzung in irgendwelche Kollektive sein. Ein besonders deutliches Beispiel für dieses baalische Einverständnis mit natürlichen Prozessen aller Art ist ein Gedicht, in dem der junge Dichter in enger Anlehnung an Rimbauds berühmtes Gedicht LE bateau ivre das Sterben eines Schiffes darstellt, das sich wie eine Schwangerschaft vollzieht, an deren Ende aber nicht die Geburt eines Kindes, sondern der eigene Tod steht. Und natürlich lässt sich dieses Gedicht auch lesen als poetische Kontrafaktur zum biblischen Mythos von der Arche Noah, in der alle Kreatur versammelt war und auf diese Weise die Sintflut überlebte. Das Schiff 1 Durch die klaren Wasser schwimmend vieler Meere Löst ich schaukelnd mich von Ziel und Schwere Mit den Haien ziehend unter rotem Mond. Seit mein Holz fault und die Segel schlissen Seit die Seile modern, die am Strand mich rissen Ist entfernter mir und bleicher auch mein Horizont. 2 Und seit jener hinblich und mich diesen Wassern die entfernten Himmel ließen Fühl ich tief, dass ich vergehen soll. Seit ich wusste, ohne mich zu wehren Dass ich untergehen soll in diesen Meeren Ließ ich mich den Wassern ohne Groll.

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3 Und die Wasser kamen, und sie schwemmten Viele Tiere in mich, und in fremden Wänden freundeten sich Tier und Tier. Einst fiel Himmel durch die morsche Decke Und sie kannten sich in jeder Ecke Und die Haie blieben gut in mir. 4 Und im vierten Monde schwammen Algen In mein Holz und grünten in den Balken: Mein Gesicht ward anders noch einmal. Grün und wehend in den Eingeweiden Fuhr ich langsam, ohne viel zu leiden Schwer mit Mond und Pflanze, Hai und Wal. 5 Möw und Algen war ich Ruhestätte Schuldlos immer, dass ich sie nicht rette. Wenn ich sinke, bin ich schwer und voll. Jetzt, im achten Monde, rinnen Wasser Häufiger in mich. Mein Gesicht wird blasser. Und ich bitte, dass es enden soll. 6 Fremde Fischer sagten aus: sie sahen Etwas nahen, das verschwamm beim Nahen. Eine Insel? Ein verkommnes Floß? Etwas fuhr, schimmernd von Möwenkoten Voll von Alge, Wasser, Mond und Toten Stumm und dick auf den erbleichten Himmel los. (S. 44 f.)

Eine Bitte wie die, »dass es enden soll«, kann man natürlich nur aussprechen, wenn man die Angst vor dem Tod und vor dem, was ›danach‹ noch kommen könnte, schon abgelegt hat. Wie weit sich Brecht damals schon vom Christentum seiner Kindheit geistig emanzipiert hatte und wie sehr sein Wortschatz gleichwohl noch geprägt war von Luther-Bibel, Katechismus und Gesangbuch, zeigen seine Choral-Parodien, die er damals und auch später noch geschrieben hat. Ein sehr typisches Beispiel dafür ist die Parodie auf Joachim Neanders Choral Lobe den Herren 15, in der er noch einmal auf sein Hagel-Gedicht zurückgreift, in dem er dargestellt hatte, wie dort ein strafender Gott mit knöchernen Gottesfingern aus tückischen Wolken heraus alles zusammenschlägt, ganz anders als in Neanders Choral, in dem ein Gott aus dem Himmel 112 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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»Ströme der Liebe« regnen lässt und dir »mit Liebe begegnet«, und deshalb lautet Brechts Parodie: Grosser Dankchoral 1 Lobet die Nacht und die Finsternis, die euch umfangen! Kommet zuhauf Schaut in den Himmel hinauf: Schon ist der Tag euch vergangen. 2 Lobet das Gras und die Tiere, die neben euch leben und sterben! Sehet, wie ihr Lebet das Gras und das Tier Und es muss auch mit euch sterben. 3 Lobet den Baum, der aus Aas aufwächst jauchzend zum Himmel! Lobet das Aas Lobet den Baum, der es fraß Aber auch lobet den Himmel. 4 Lobet von Herzen das schlechte Gedächtnis des Himmels! Und dass er nicht Weiß euren Nam noch Gesicht Niemand weiß, dass ihr noch da seid. 5 Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben! Schauet hinan: Es kommet auf euch nicht an Und ihr könnt unbesorgt sterben. (S. 77 f.)

Dieses unbesorgt angstfreie Sterben wird auch noch in einer weiteren Choral-Parodie beschworen, in der Brecht Paul Gerhardts hoffnungsfrohen Choral 16 buchstäblich in sich selbst kontert, indem er Gerhardts zuversichtliche Hoffnung auf Gott umdreht in die Hoffnung, diesen Gott endlich loszuwerden, weil der Gott seiner bibelfrommen Kindheit für Brecht nie ein hoffnungsstiftender, sondern immer nur ein angstbereitender, weil strafender Gott war. Bei Gerhardt heißt es in der letzten Strophe:

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MACH ENd, o Herr, mach Ende an unser aller Not; Stärk unsre Füß und Hände und lass bis in den Tod Uns allzeit deiner Pflege und Treu empfohlen sein, so gehen unsre Wege gewiss zum Himmel ein. (S. 478)

Dieser zuversichtlichen Bitte setzt Brecht nun die ganz andere Zuversicht entgegen, dass man auch ohne diesen strafenden Gott seiner bibelfrommen Kindheit getrost leben und sterben kann: Lobgesang nach: Befiehl du deine Wege 1 Befiehl du deine Wege Dem alles Helfen frommt Der allertreuesten Pflege Des, der wohl morgen kommt Wer Wolken, Luft und Winden Genug hat zugesehen Der wird es leicht verwinden Wenn sie ihm untergehen. 2 Es kann dir nichts geschehen Solang du bei dir bleibst Im Guten wie im Wehen Dich niemals selbst entleibst Und liegst du gleich im Dunkeln So bleibt bei dir die Nacht Und red von Sternenfunkeln Zu dir mit aller Macht. 3 Es kann dir nichts geschehen Solang du nicht entfliehst Im Guten wie im Wehen Den gleichen Himmel siehst Und Wolken, Luft und Winden Hast du ja nichts getan Es wird sich niemand finden Der dich verstoßen kann. (S. 525 f.)

Viel ernster als in diesen locker hingeschriebenen Choral-Parodien ist der Ton, den der junge Brecht in einem Gedicht von 1917 anschlägt, das sich außerdem wie ein Echo seiner eigenen Bibel-Lektüre liest, bei 114 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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der er u. a. auch auf Hiobs bittere Rechtfertigungsrede und seine Anklage gegen seinen Gott (Hiob 9) gestoßen war, der ein sadistisches Ritual mit ihm inszeniert hatte. Und deshalb heißt es im TagebuchEintrag vom 20. 10. 1916: »Ich lese die Bibel. Ich lese sie laut, kapitelweise, aber ohne auszusetzen: Hiob und die Könige. Sie ist unvergleichlich schön, stark, aber ein böses Buch. Sie ist so böse, dass man selber böse und hart wird und weiß, dass das Leben nicht ungerecht, sondern gerecht ist und dass es nicht angenehm ist, sondern fürchterlich.« 17

Im Ton von Hiobs Anklage ist denn auch dieses bitterböse Gedicht geschrieben, das sich als Gegenhymne präsentiert: Hymne an Gott 1 Tief in den dunkeln Tälern sterben die Hungernden. Du aber zeigst ihnen Brot und lässest sie sterben. Du aber thronst ewig und unsichtbar Strahlend und grausam über dem ewigen Plan. 2 Ließest die Jungen sterben und die Genießenden Aber die sterben wollten, ließest du nicht … Viele von denen, die jetzt vermodert sind Glaubten an dich und starben mit Zuversicht. 3 Ließest die Armen arm sein manches Jahr Weil ihre Sehnsucht schöner als dein Himmel war Starben sie leider, bevor mit dem Lichte du kamst Starben sie selig doch – und verfaulten sofort. 4 Viele sagen, du bist nicht und das sei besser so. Aber wie kann das nicht sein, das so betrügen kann? Wo so viel leben von dir und anders nicht sterben konnten – Sag mir, was heißt das dagegen – dass du nicht bist? (S. 476 f.)

Noch viel ernster aber ist der Ton, den er in dem großen Gedicht Gegen Verführung anschlägt, das ursprünglich den Titel Luzifers Abendlied 18 hatte und nicht umsonst im prophetenhaften Ton der Zarathustra-Reden gehalten ist, weil es gleichsam Baals Evangelium der absoluten Diesseitigkeit darstellt und deshalb auch das Schlusskapitel der Hauspostille bildet, weil es ja auch deren Bilanz verkündet: 115 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Gegen Verführung 1 Lasst euch nicht verführen! Es gibt keine Wiederkehr. Der Tag steht in den Türen: Ihr könnt schon Nachtwind spüren: Es kommt kein Morgen mehr. 2 Lasst euch nicht betrügen! Das Leben wenig ist. Schlürft es in vollen Zügen! Es wird euch nicht genügen Wenn ihr es lassen müsst! 3 Lasst euch nicht vertrösten! Ihr habt nicht zu viel Zeit! Lasst Moder den Erlösten! Das Leben ist am größten: Es steht nicht mehr bereit. 4 Lasst euch nicht verführen! Zu Fron und Ausgezehr! Was kann euch Angst noch rühren? Ihr sterbt mit allen Tieren Und es kommt nichts nachher. (S. 120 f.)

Hier haben wir das Gegen-Evangelium des biblischen Gegen-Gottes Baal in gleichsam kanonischer Form vor uns, eine Frohbotschaft, die auch noch in den letzten Gedichten als Echo widerhallt, die Brecht kurz vor seinem Tod schrieb, denn: Als ich im weissen Krankenzimmer der Charité Aufwachte gegen Morgen zu Und eine Amsel hörte, wusste ich Es besser. Schon seit geraumer Zeit Hatte ich keine Todesfurcht mehr, da ja nichts Mir je fehlen kann, vorausgesetzt Ich selber fehle. Jetzt Gelang es mir, mich zu freuen Alles Amselgesangs nach mir auch. (S. 1564 f.)

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Der Umbruch im Zeichen Stirners

Für Peter Paul Schwartz ist das Gedicht Gegen Verführung ein Musterstück von »aufklärerischem Nihilismus« 19, vor dem ihn förmlich schaudert. Ganz anders dagegen Hannah Arendt, die Brechts frühes Meisterwerk geradezu hymnisch feiert, wenn sie behauptet: »Ich kenne nichts im neueren Schrifttum, das sich inhaltlich diesen Versen an die Seite stellen ließe, weil nirgendwo sonst so klar zum Ausdruck kommt, dass Nietzsches Wort vom Tode Gottes weder notwendigerweise der Verzweiflung zu entspringen braucht noch zu ihr hinzuführen braucht, dass vielmehr das Wegfallen der Furcht vor der Hölle mit dem Fortfall der Hoffnung auf Auferstehung nicht zu teuer bezahlt ist.« 20

Ja, sie sieht in diesem Gedicht geradezu eine neue Frohbotschaft der Befreiung, denn »dass es einen Gott nicht gibt, (…) dass es kein Jenseits gibt, befreit von Furcht; das ist alles.« (S. 90) Und dann fügt sie noch hinzu, die Einsicht, dass »nichts nachher komme«, sei sogar besser, »als auf der Erde sein Leben mit der Hoffnung aufs Paradies und der Furcht vor der Hölle zu verbringen. (…) In seiner jubelnden Ablehnung aller Jenseitsspekulationen und seinen Preisgesängen auf Baal, den Gott der Erde, schwingt eine wahrhaft enthusiastische Dankbarkeit. Nichts, sagt er, kann größer sein als das Leben, das uns, so wie es ist, gegeben wurde – und solcher Dankbarkeit wird man kaum in dem, was man gemeinhin Nihilismus nennt, oder in Reaktionen gegen diesen, begegnen.« (S. 90)

Und Recht hat sie!

2.4 Der Umbruch im Zeichen Stirners 2.4.1 Das Geheimnis der hohen Stirn Ich habe oben die These aufgestellt, dass der große Umbruch, den der junge Brecht 1916 erfahren hat, sich in zwei Schüben vollzogen habe, in einem religiösen Umbruch und einem philosophischen, der den religiösen noch weiter radikalisierte und durch die Bekanntschaft mit dem Werk Stirners ausgelöst worden sei. Aus diesem Grund werden wir auf dieses große Warnungs-Gedicht noch einmal zurückkommen müssen, weil es sich im Lichte der Stirnerschen Philosophie wieder ganz anders und noch radikaler liest und ein noch größeres Gewicht erlangt. Im August 1917 schreibt Brecht an seine damalige Freundin 117 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Paula Banholzer aus der Villa des Kommerzienrates Conrad Kopp 1 am Tegernsee, wo er während der Sommerferien dem Sohn des Hauses Nachhilfeunterricht in Latein erteilte: »Geliebte Paula! Angebetete! Erlaube Deiner Majestät unterthänigster Kreatur, Dir seine ehrfurchtsvollsten Unterwürfigkeiten vor die zarten Füßchen zu legen. Er hat sonst wenig zu tun. Salaam. (…) Oh, du Stern in der Nacht meines Unglücks! Denn: Ich bin unglücklich. Fehlen mir die Freunde, Schafe, Kamele, Ruhe meiner Heimat, oder fehlst Du mir, Gegenstand meiner Ekstasen? Ich bin voll Schwermut. So, wie ein Baum voll süßen Honig sein mag, zur Zeit da er faul wird.« 2

In diesem Stil könnte der Liebesbrief erst mal weitergehen, und wäre für uns nicht weiter von Belang, doch dann folgt ein seltsames Geständnis, das einem eigentlich völlig banalen Ereignis sofort ein so großes Gewicht verleiht, dass man ins Stutzen und Staunen gerät, denn Brecht fährt fort: »Ganz kurz habe ich mir das Haar schneiden lassen. Wie Simson. Und nun warte ich, dass es wächst. Denn ich muss etwas zu tun haben. Ich muss auf etwas warten können, oh Du Geliebte vieler Liebhaber. Siehe! Ich bin voll Unruhe, sie ist in mir, also wie ein Löwe in einer Mäusefalle. Mache Dir nichts daraus, trübe nicht Deine herrlichen Augen, Du Bewunderin meiner Vergleiche!« (S. 12)

Durch diesen Hinweis auf den biblischen Simson 3 klingt diese Nachricht zunächst wie das Kokettieren mit einer absichtsvoll herbeigeführten männlichen Selbstent-machtung, da Simsons übermenschliche Kraft in seiner Haarpracht gesteckt haben soll, weshalb er von den feindlichen Philistern auch erst überwältigt werden konnte, nachdem seine Geliebte Delila ihm die Locken abgeschnitten hatte, während er schlief. Doch mit diesem Hinweis auf den biblischen Simson hatte Brecht wohl eine falsche Spur gelegt, denn er hatte sich ja nicht den Kopf kahlscheren lassen, sondern nur »den Haaransatz abrasiert, damit seine Stirn höher schien.« 4 Paula Banholzer kommentiert diese Manipulation seiner äußeren Erscheinung im Rückblick denn auch auf eine typisch weibliche Art, wenn sie meint: »Nun – das war seine Art von Eitelkeit, denn sonst hat er nie viel Aufhebens von sich gemacht. Man kann eher sagen, dass er seine Kleidung geradezu vernachlässigte.« (S. 27)

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Als Ausdruck seiner Eitelkeit wertete sie auch den Umstand, »dass sich Brecht eines Tages in eine Nische des Augsburger Theaters stellte, sich dort fotografieren ließ und dann verkündete: »Hier wird eines Tages meine Büste stehen!« (S. 119)

Wenn man das Foto, das Brecht in der Dichternische des Augsburger Stadttheaters zeigt, mit anderen Fotos aus der gleichen Zeit und der Zeit vor und nach 1917 vergleicht, so fällt sofort auf, dass er sich von Sommer 1917 bis zum Winter 1917/18 eine veritable Stirnglatze zugelegt hatte, die sein Erscheinungsbild deutlich veränderte. Trotzdem hat die bislang vorliegende Brecht-Literatur diesem Umstand nie irgendeine Bedeutung beigemessen. Auch Brechts Zeitgenossen aus den Augsburger Jahren schweigen sich entweder zu dem Thema aus, oder sie kommentieren dieses Outfit ähnlich wie Paula Banholzer mit der Vermutung, er habe »den Haaransatz abrasiert, um mit einer höheren Stirn intelligenter zu wirken.« (S. 141) Sonderlich plausibel ist dies nicht, denn das hatte der junge Brecht doch gar nicht nötig, und das klassische Argument des glatzköpfigen Philosophen Synesios von Kyrene wird weder Brecht selbst gekannt haben noch die eher naive Paula Banholzer: »Wenn einer weise ist, hat er eine Glatze. Und umgekehrt: Wenn einer keine Glatze hat, dann ist er auch nicht weise.« 5

Fragen wir also lieber danach, in welchem konkreten Kontext das Thema Stirnglatze bei Brecht selbst auftaucht und auf welche Art und Weise er selbst dazu Stellung nimmt. Fündig werden wir hier wieder bei Hanns Otto Münsterer, der in den Jahren zwischen 1917 und 1922 mit Brecht engen Umgang hatte und den Brecht im Herbst 1917 folgendermaßen andichtete: Lied an Herrn Münsterer Er barg in Augen sanft und schön nur wüsten Fluch. Ihm hing vom zerfranzten Knopfloch obszön eine weiße sanfte Nelke mit einem Leichenruch. Weit mehr als hohe Stirnen war ihm ein goldenes Haar; doch entjungferte er Dirnen nicht unter 15 Jahr.

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Abb. 2 Brecht mit normalem Haaransatz

Und ging es, so ging er nicht schief: Er hatte bläuliches Blut. Er zog vor jedem schönen Baume tief seinen (sonderbar schäbigen) Hut. Trug stets einen feinen grauen Handschuh verflucht elegant: Er gab nur Tieren und Frauen seine nackte Hand. (S. 14)

Dass diesem neuen Freund Münsterer »hohe Stirnen« nicht viel galten, könnte man vielleicht so verstehen, dass auch Brecht selbst ihm in dieser Aufmachung nicht sehr viel gegolten hat, weshalb Brecht selbst ihm gegenüber wiederum das Geheimnis seiner hohen Stirn nicht preisgegeben hat, vielleicht auch gar nicht preisgeben wollte. Wahrscheinlich hat auch Münsterer selbst nie begriffen, warum sein damaliger Freund Brecht sich diese hohe Stirn zugelegt hatte, weil er in dem in der Dichternische des Augsburger Stadttheaters posierenden Brecht schon »den neuen Friedrich von Schiller« (S. 57) zu sehen glaubte, obwohl Brecht weder damals noch später irgendeine Affini120 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Der Umbruch im Zeichen Stirners

Abb. 3 Brecht mit Stirnglatze Ende 1917

tät zu Schiller hatte erkennen lassen und Schiller selbst ja keine Stirnglatze hatte. Eine wieder andere Erklärung präsentiert Johann Harrer, ein anderer Jugendfreund aus der Augsburger Zeit, der in seinem Interview erst ausführlich Brechts Mansardenzimmer beschreibt und dann fortfährt: »Einmal hängte er seine eigene Gipsmaske auf, die er sich von einem Bildhauer hatte abnehmen lassen, der im Hof des Johannisvereins wohnte. Dazu musste sich Brecht, wie er mir sagte, die Haare ganz kurz scheren lassen. Es sei eine unangenehme Prozedur gewesen.« 6

Auch diese Erklärung der hohen Stirn will nicht recht überzeugen, denn offenbar hat Brecht auch hier eine falsche Spur gelegt, um sein Geheimnis zu bewahren. Da uns diese Zeugnisse aus Brechts Augsburger Bekanntenkreis offenkundig nicht weiter helfen, müssen wir also anders vorgehen und fragen, ob, und wenn ja, in welcher Weise diese tiefgreifenden Veränderung, die der junge Brecht im Sommer 1917 an seinem Er121 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Abb. 4 Brecht mit Stirnglatze und Gitarre

scheinungsbild vorgenommen hat, sich auch in anderen analogen Umbrüchen in seinem Werk, in seiner Einstellung zur Welt und zu sich selbst und in seinem allgemeinen Auftreten zeigen. Auf einige dieser Umbrüche sind wir ja schon gestoßen, z. B. darauf, dass er im Sommer 1917 seinen Vornamen von Eugen in Bert geändert hat. Auf den völlig neuen Ton in seiner Lyrik sind wir auch schon gestoßen, und dass der junge Brecht um diese Zeit endgültig den christlichen Glauben seiner Kindheit abgelegt hat, konnten wir auch schon feststellen. Dazu kommt noch, dass in dem letzten Gedicht, das er als Eugen Brecht geschrieben hatte, die heldenhaft duldenden Soldaten-Mütter des Weltkriegs gefeiert und verklärt werden, denn das Gedicht Mütter Vermisster, in dem Brecht das ergebene und gläubige Hoffen und Warten dieser Mütter auf die Rückkehr ihrer Söhne feiert, endet mit den Versen:

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Abb. 5 Brecht mit Stirnglatze in Dichternische

Sie fragen und sagen: sie hören kaum hin. Sie sehen durch Fenster und sehen doch nicht. Hörten Windbrausen nicht. Sahn nicht Wolken gehn. Waren taub, wenn der Regen rann, waren blind, wenn sie Sonne sehn Doch die alten Augen in müdem Gesicht Werden strahlend und jung: sie denken an ihn. Und glauben sie nur und verzweifeln sie nicht So wird einmal Licht. Oh, einmal wird Licht; sonst kann Gott nicht sein – Und sei’s, wenn sie stürben, in letzter Zeit: Die dunklen Zimmer werden weit. Und hell im Licht steht einer breit. Sein Stuhl ist frei. Sein Mahl bereit.

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II · Umbrüche und Aufbrüche

Und sie bricht ihnen Brot und reicht ihnen Wein Und sie lächeln im Sterben verklärt und befreit Und gehen sehr leicht in den Himmel ein. (S. 469)

Wie sehr der junge Brecht in vielen Kriegs-Gedichten dem pietistisch-patriotischem Langemarck-Mythos 7 gehuldigt hat, haben wir ja gesehen. Umso bemerkenswerter ist deshalb der rabiate Bruch, den er nun im Sommer 1917 mit dem Themen-Komplex Christentum & Thron & Altar & Heldentum & Selbstopfer vollzieht und all dies mit einer entschlossenen Handbewegung vom Tisch fegt und in den Mülleimer seiner eigenen Problemgeschichte versenkt, als er einen Schulaufsatz über den patriotischen Horaz-Vers »Dulce et decorum est pro patria mori« zu schreiben hatte, denn dort verweigerte er sich dem Ansinnen dieses Verses so kompromisslos wie nur möglich und verursachte damit einen veritablen Skandal bei seinen Lehrern, dass er um ein Haar von der Schule verwiesen worden wäre. Er schrieb da nämlich: »Der Ausspruch, dass es süß und ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben, kann nur als Zweckpropaganda gewertet werden. Der Abschied vom Leben fällt immer schwer, im Bett wie auf dem Schlachtfeld, am meisten gewiss jungen Menschen in der Blüte ihrer Jahre. Nur Hohlköpfe können die Eitelkeit so weit treiben, von einem leichten Sprung durch das dunkle Tor zu reden, und auch dies nur, solange sie sich weitab von der letzten Stunde glauben. Tritt der Knochenmann aber an sie selbst heran, dann nehmen sie den Schild auf den Rücken und entwetzen, wie des Imperators feister Hofnarr bei Philippi, der diesen Spruch ersann.« 8

Hier haben wir schon den kynisch-egoistischen Tonfall Kraglers aus Brechts Spartakus-Stück vor uns, in dem sich der vermeintliche Revoluzzer Kragler von seinen Kumpanen verabschiedet, die von ihm verlangen, beim Sturm auf die Zeitungen mitzumachen, um die Revolution zu einem Ende zu bringen: »Mein Fleisch soll im Rinnstein verwesen, dass eure Idee in den Himmel kommt? Seid ihr besoffen?« 9

Und dieser Ton des Egoisten Kragler ist wiederum das Echo Stirners, der gegen Ende seines Hauptwerks Der Einzige und sein Eigentum die höhnische Frage stellt: »Was, bin Ich dazu in der Welt, um Ideen zu realisieren?« (EE,411) Diesen Ton schlägt Stirner aber auch schon in den ersten Sätzen seines Hauptwerks an, wenn er höhnt:

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»Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend anderer Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. (…) Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist! Ihr meint, Meine Sache müsse wenigstens die ›gute Sache‹ sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber Meine Sache, und Ich bin weder gut noch böse. Beides hat für Mich keinen Sinn. Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche ist Sache ›des Menschen‹. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich!« (EE,3 ff.)

Und einige Seiten weiter heißt es dann nicht minder höhnisch: »Wie Ich Mich hinter den Dingen finde, und zwar als Geist, so muss Ich Mich später auch hinter den Gedanken finden, nämlich als ihr Schöpfer und Eigner. In der Geisterzeit wuchsen Mir die Gedanken über den Kopf, dessen Geburten sie doch waren; wie Fieberphantasien umschwebten und erschütterten sie Mich, eine schauervolle Macht. Die Gedanken waren für sich selbst leibhaftig geworden, waren Gespenster wie Gott, Kaiser, Papst, Vaterland usw. Zerstöre Ich ihre Leibhaftigkeit, so nehme Ich sie in die Meinige zurück und sage: Ich allein bin leibhaftig. Und nun nehme Ich die Welt als das, was Mir ist, als die Meinige, als Mein Eigentum: Ich beziehe alles auf Mich. Stieß Ich als Geist die Welt zurück in tiefster Weltverachtung, so stoße Ich als Eigner die Geister oder Ideen zurück in ihre ›Eitelkeit‹. Sie haben keine Macht mehr über Mich.« (EE,14 f.)

Gemeint sind hier insbesondere »pfäffische Geister« (EE,88) aller Art, die sich um die Erziehung der Jugend zur Demut bemühen, und diesen ruft Stirner zu: »Die frechen Buben werden sich von Euch nichts mehr einschwatzen und vorgreinen lassen und kein Mitgefühl für all die Torheiten haben, für welche Ihr seit Menschengedenken schwärmt und faselt: sie werden das Erbrecht aufheben, d. h. sie werden Eure Dummheiten nicht erben wollen, wie Ihr sie von den Vätern geerbt habt; sie vertilgen die Erbsünde. Wenn Ihr ihnen befehlt: Beuge Dich vor dem Höchsten – so werden sie antworten: Wenn er Uns beugen will, so komme er selbst und tue es; Wir wenigstens wollen Uns nicht von freien Stücken beugen. Und wenn Ihr ihnen mit seinem Zorne und seinen Strafen droht, so werden sie’s nehmen, wie ein Dro-

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hen mit dem Wauwau. Glückt es Euch nicht mehr, ihnen Gespensterfurcht einzujagen, so ist die Herrschaft der Gespenster zu Ende, und die Ammenmärchen finden keinen – Glauben.« (EE,89)

In diesen paar Sätzen konnte der junge Brecht bei seinem Versuch, den engen Banden seiner bibelfrommen Erziehung zu entkommen, seine eigene Situation wiedererkennen, weshalb er nach dem biblischen Gegengott Baal nun auch den Gegenphilosophen Max Stirner zum zweiten Lotsen aus seiner christlichen Kindheit erkor, der dann die erste Emanzipation im Zeichen Baals noch weiter radikalisierte. Zu welchen Konsequenzen dies in Brechts Leben und Werk führte, wird sich gleich zeigen. Und nun haben wir endlich auch eine plausible Erklärung für die Stirnglatze, die sich der junge Brecht im Sommer 1917 rasieren ließ: Diese Stirnglatze war das sichtbare Zeichen für seine enge Orientierung an Stirners Philosophie, denn ihm kann nicht verborgen geblieben sein, dass Stirner, der eigentlich Johann Caspar Schmidt hieß, den Namen »Max Stirner« deshalb als Autorennamen angenommen hatte, weil seine Freunde ihn damit frozzelten, dass er eine so extrem hohe, sozusagen maximale Denkerstirn sein eigen nennen konnte, um damit nach dem Motto ›Stirn –Stirner – am stirnsten‹ drauflos zu stirnern. Und so trug eben auch Brecht einige Monate lang seine Stirner-Stirn demonstrativ vor sich her, um deutlich zu machen, wes Geistes Kind und Stirners Stirn er war. Unter welchen Umständen er an Stirners Philosophie 10 geraten war, wissen wir nicht, weil er selbst sich darüber ausgeschwiegen hat, zumindest in den bislang veröffentlichten Lebenszeugnissen. Möglicherweise standen Stirners Werke in der Bibliothek der Villa Kopp am Tegernsee, wo er ja auch fleißig Schopenhauer 11 las. Jedenfalls – so meine These – erklärt die Bekanntschaft mit Stirners Philosophie im Sommer 1917 weitaus am plausibelsten die tiefe Zäsur, die die BrechtForschung immer wieder in Brechts Werk um diese Zeit festgestellt hat, aber nicht so recht zu erklären wusste.

2.4.2 Forschungslücken und Forschungsansätze Mit der These, die tiefe Zäsur in Brechts Leben und Werk um 1917 resultiere aus seiner Bekanntschaft mit dem Werk Max Stirners, stehe ich offenbar ziemlich alleine da, denn in der bisherigen Stirner126 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Der Umbruch im Zeichen Stirners

Abb. 6 Max Stirner

Forschung taucht der Name Brecht nirgendwo auf, und in der BrechtForschung taucht wiederum der Name Stirner nicht auf. Dass dies in der marxistisch orientierten Brecht-Forschung so der Fall ist, kann eigentlich auch nicht verwundern, weil man Brecht dort für einen Marxisten hält und deshalb meint, man könne Brecht nur auf der Grundlage eines ideologischen Syllogismus angemessen interpretieren und deshalb richtet man dort den Blick gar nicht erst auf Stirner, den Marx und Engels in ihrer Deutschen Ideologie ja buchstäblich massakriert hatten, denn ihr Urteil über Stirner lautet dort, dieser »Sankt Max« sei nichts weiter als ein elender Schwätzer »in der Leerheit des Unsinns«. 1 Warum Marx und Engels dann allerdings 300 Seiten brauchen, um Stirners angeblichen Unsinn als Unsinn zu erweisen, ist eine ganz andere Frage. In der ›bürgerlichen‹ Brecht-Forschung ist die Lage nicht viel anders, denn auch in den Studien von Gier/Hillesheim 2, Koopmann/ Stammen 3 und Müller/Kindt 4, die ihr Augenmerk vor allem auf den jungen Brecht gerichtet haben, findet sich kein Verweis auf Stirner, auch nicht bei Peter Paul Schwartz 5 und Carl Pietzcker 6, wo man dies wegen der dort vertretenen Nihilismus-These noch am ehesten hätte erwarten können, und auch nicht bei Dirk von Petersdorff 7, der im 127 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Rahmen seiner Studie über Varianten der Ich-Konstitution in der deutschen Lyrik des 20. Jahrhunderts ausführlich auch auf Brecht eingeht und sehr fündig geworden wäre, wenn er Brechts Orientierung an Stirners Kult des Einzigen in seine Untersuchung mit einbezogen hätte. Ganz ähnlich ist die Sachlage bei den Bänden mit Materialien zu den frühen Stücken Baal und Trommeln in der Nacht 8, so verdienstvoll diese sonst auch sein mögen. Auch Reinhold Grimm, der Brechts Beziehung zu Nietzsche untersuchte, tat nicht den entscheidenden Schritt hin zu Stirner, obwohl dies aus vielen Gründen nahegelegen hätte, verrät aber einiges über die Scheuklappen seiner Kollegen aus der Germanistik, denen er von seinem Vorhaben berichtet hatte, Brechts Verhältnis zu Nietzsche zu untersuchen: »Als ich die beiden Namen Nietzsche und Brecht, verknüpft durch jenes fatale ›und‹, zum erstenmal vor gewissen [marxistisch, L. P.] keuschen Ohren nannte, fuhr man zurück wie von einer Tarantel gestochen. Man begegnete diesem Thema mit äußerster Missbilligung, ja mit Abscheu. Das war nicht nur, begreiflicherweise, im Osten der Fall; auch einige meiner westlichen Freunde, die auf ihren Lukács schwören, reagierten entsprechend. Denn wie? Der Dichter der Maßnahme und der Mutter, des Dreigroschenromans, des Solidaritätsliedes und der Tage der Commune – und jener präfaschistische Apostel des Herren-, ja des Übermenschentums? War dies nicht ein völlig abwegiger, ein fast perverser Gedanke? Man hatte sich doch längst darüber geeinigt, Nietzsche als Vorläufer der Nazis einzustufen; und damit basta.« 9

Scheuklappen dieser Art kann man sich natürlich auch aufsetzen, wenn man nicht wahrhaben will, dass Stirner auf den jungen Brecht einen massiven Einfluss ausgeübt habe, denn auch im Fall Stirner hatte man sich ja längst darauf geeinigt, dass er als der Prophet des primitivsten Egoismus zu gelten habe und als Schmuddelkind der deutschen Philosophiegeschichte nicht ernst zu nehmen sei. Und außerdem hätten Marx und Engels schon längst alles gesagt, was über ihn zu sagen sei. Und so dürfte meine These über Brechts Beziehung zu Stirner für bestimmte keusche Ohren wohl nicht minder skandalös erscheinen als Grimms These über Brechts Nähe zu Nietzsche. Dass Grimms Buch von der marxistischen Brecht-Forschung jahrelang mit einem dröhnenden Schweigen beantwortet wurde, versteht sich so gesehen eigentlich von selbst. Doch ich rede ja nur vom jungen Brecht in der Zeit zwischen 1917 und 1926, denn danach hat sich Brecht von Stirner wieder ab128 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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und dem Marxismus zugewendet und den Versuch unternommen, seine frühen an Stirner orientierten Stücke, insbesondere Baal umzuschreiben, was ihm jedoch nie recht gelingen wollte. Dass er sich zeit seines Lebens mit dem Stoff um den Egoisten Fatzer herumschlug, ohne zu einem Ende zu kommen, das ihn hätte befriedigen können, zeigt aber, dass das Stirner-Thema immer noch in ihm rumorte, weshalb er in den 50er-Jahren mit den Plänen zu einer Oper über den Glücksgott und dem Büsching-Garbe-Stoff wieder Stirnersche Themen aufgriff. So schreibt er z. B. in dem Aufsatz Bei Durchsicht meiner ersten Stücke über seinen Baal, es gebe Leute, die in diesem Stück »kaum etwas anderes als die Verherrlichung nackter Ichsucht [à la Stirner, L. P.] erblicken«, weil sie nicht gelernt haben, »dialektisch zu denken.« 10 Und dann unterscheidet er säuberlich zwischen zwei Arten von Egoismus, denn: »Es ist nicht zu sagen, wie Baal sich zu einer Verwertung seiner Talente stellen würde, er wehrt sich gegen ihre Verwurstung.« (S. 8) Das ist nun aber wieder ganz im Sinne Stirners argumentiert, denn dessen zentrale Maxime lautet ja: »Verwertet euer Eigentum [also das, was euch eigen ist, L. P.]! Über der Pforte unserer Zeit steht nicht jenes apollinische »Erkenne dich selbst!«, sondern ein: »Verwerte Dich!»« 11

Dass dieser Stirnersche Wortschatz kein Werk des Zufalls ist, zeigt sich auch darin, dass Peter Palitzsch, der damals am Berliner Ensemble arbeitete, berichtet, Brecht habe ihm dringend empfohlen, Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum 12 zu lesen. Möglicherweise hegte Brecht damals sogar die Hoffnung, man könne im real existierenden Sozialismus der DDR sich ohne Entfremdung verwerten, ohne sich verwursten lassen zu müssen. Doch all dies ist schon nicht mehr mein Thema und sollte in einer eigenen Studie untersucht werden, die das Stirner-Thema durch Brechts gesamtes Werk von Baal über das Fatzer-Material bis zum Glücksgott-Fragment verfolgt. Oder anders formuliert: Hier wartet ein überaus dankbares Dissertations-Thema darauf, dass sich jemand mit zureichender Unbefangenheit und Verwunderungsbereitschaft seiner annimmt. Ich denke, er wird es nicht bereuen. Soweit ich sehe, bin ich also tatsächlich der erste, der sich mit dem Thema »Brecht und Stirner« beschäftigt hat, denn ich habe für unsere Produktion von Trommeln in der Nacht am Stadttheater 129 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Abb. 7 PgH Ingolstadt, Trommeln in der Nacht

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Ingolstadt in der Spielzeit 1985/86 einen Programmheft-Aufsatz mit dem Titel Der Einzige und sein Eigentum. Einige Anmerkungen zu »Trommeln in der Nacht« geschrieben, Brecht auf der Titelseite des Programmhefts mit Stirner-Glatze abgebildet und im Aufsatz selbst Kragler als einen Stirnerschen Helden porträtiert. Und im Programmheft zu unserer Produktion von Baal an den Städtischen Bühnen Augsburg in der Spielzeit 1992/93 habe ich wiederum einen umfangreichen Programmheft-Aufsatz mit dem Titel Vom Einsamen zum Einzigen. Einige Anmerkungen zu Brechts »Baal« vorgelegt, der dann 2004 zusammen mit dem Ingolstädter Aufsatz in Heft 2 der damals neugegründeten Stirner-Zeitschrift Der Einzige unter dem Titel Stirner und Brecht – Zwei Aufsätze 13 abgedruckt worden ist. Im Februar 1993 fand dann an den Städtischen Bühnen Augsburg ein Brecht-Symposion unter dem Titel Brecht und Stirner statt, zu dem auch der Stirner-Spezialist Bernd Kast eingeladen war, der dann die Anregungen, die er bei diesem Symposion bekommen hatte, in dem schon erwähnten Aufsatz Bemerkungen zu einem beunruhigenden Faktor in Brechts Leben und Werk in Heft 1 des Einzigen veröffentlichte, in dem er sich locker an meinen Augsburger Programmheft-Aufsatz anlehnte und die enge Orientierung von Brechts Baal an Stirners Einzigem darstellte. Mehr gibt es aus der bisherigen Brecht-Literatur zum Thema Stirner nicht zu berichten. Nicht viel anders steht es mit der Literatur zur Rezeptionsgeschichte Stirners, in der man wiederum nirgendwo auf den Namen Brecht stößt. Bei den Arbeiten aus marxistischer Perspektive ist dies auch nicht verwunderlich, weil Stirner dort als präfaschistischer Autor gilt. So beginnt z. B. Hans G Helms seine umfangreiche ideologiegeschichtliche Stirner-Studie von 1966 im Gestus eines alttestamentarischen Warnungs-Propheten mit den Sätzen: »Die ideologische Lage in der Bundesrepublik war der Anlass, ihre gefährliche Entwicklung der Motor dieser Arbeit. Analyse und historische Genesis der hier und jetzt herrschenden Ideologie sind ihr Inhalt, ihr nach Kräften entgegenzuwirken ist ihr Sinn.« 14

Dies deshalb, weil laut Helms die damals in der Bundesrepublik herrschende Ideologie latent oder schon manifest faschistisch gewesen sei, und weil laut Helms »Stirnerianismus und Nationalsozialismus Variationsformen desselben faschistischen Ungeists sind« (S. 5), sei Stir131 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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ners Philosophie als die typische »Ideologie der Mittelklasse« (S. 3) die geheime staatstragende und gesellschaftsprägende Ideologie der Bundesrepublik von 1966, denn: »Die Interessen des ›Einzigen‹ gehen mit den Interessen des vielberufenen Mannes von der Straße konform. Darauf beruht Stirners Virulenz und Aktualität.« 15

Dass es trotz dieser angeblichen Virulenz und Aktualität Stirners damals keine öffentliche Debatte über Stirner gegeben hat, scheint Helms in seiner ideologischen Verstiegenheit jedoch nicht gestört zu haben. Selbstverständlich kommt auch der Name Brecht in der außerordentlich gründlichen rezeptionsgeschichtlichen Studie von Hans G Helms nicht vor; dies liegt aber auch daran, dass hier bestimmte Rezeptionsbereiche gezielt ausgeklammert worden sind, denn: »In den historischen Kapiteln sind lediglich die Hauptströmungen des Stirnerschen Einflusses behandelt worden. Völlig außer acht gelassen wurden Themata wie Stirners Einfluss auf die Jugendbewegung und auf die Literatur zwischen 1895 und 1930 und auch heute wieder, für den es reichlich Dokumente gibt (und immer neue werden bekannt).« (S. 4 f.)

Wahrscheinlich dachte er hier an Autoren wie Carl Sternheim 16 oder die Dadaisten 17. Ob er aber, wenn er all dies nicht außer acht gelassen hätte, auch auf den Einfluss Stirners auf den jungen Brecht eingegangen wäre, ist eine ganz andere Frage. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er diesen Einfluss nicht mal hätte feststellen können, weil seine marxistische Verbohrtheit ihn mit Blindheit geschlagen hätte. Und außerdem wissen wir von Palmström, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Von einer ganz anderen Position geht Bernd A. Laska aus, der mit seinem »Projekt LSR« schon seit 1984 die Ehrenrettung der drei Außenseiter Julien Offray de La Mettrie, Max Stirner und Wilhelm Reich durch die Gründung eines eigenen Verlags betreibt und in diesem Zusammenhang auch eine Wirkungsgeschichte Stirners 18 vorgelegt hat. Allerdings taucht auch dort der Name Brecht nicht auf, obwohl Laska diesen Namen sicher freudestrahlend präsentiert hätte, wenn ihm Stirners Einfluss auf den jungen Brecht aufgefallen wäre. Zu einem ähnlichen Ergebnis wie Helms kommt Alexander Stulpe 2010 in seiner Rezeptionsgeschichte Stirners, trägt sie aber in einem ganz anderen Tonfall vor, weil er Stirner unter einer ganz an132 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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deren Perspektive sieht und beurteilt. Auch Stulpe betont, genau wie Helms, »Stirners Virulenz und Aktualität«, sieht darin aber durchaus keinen Grund, alle Warnlampen anzuschalten, sondern stellt ganz nüchtern fest: »Spätestens seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts gerät Stirner, von wenigen, weitgehend unbemerkten stirnerianischen Publikationen, einigen fachwissenschaftlichen Monographien und Handbuchartikeln abgesehen, vollends in Vergessenheit. Allerdings ist Stirner heute vermutlich aus anderen Gründen vergessen, als in der Zeit vor seiner Wiederentdeckung in der Stirner-Renaissance [also in der Zeit zwischen 1895 und 1925, L. P.] nicht deswegen, weil der Einzige zu absurd, realitätsfern oder sonstwie irrelevant wäre, sondern im Gegenteil, weil der Einzige mittlerweile in gewisser Weise allgegenwärtig und zur Selbstverständlichkeit geworden ist.« 19

Auch bei Stulpe kommt der Name Brecht nicht vor. Wieder ganz anders liegt der Fall bei dem schon einmal erwähnten Stirner-Forscher Bernd Kast, der 2016 seine Dissertation 20 über Stirner in einer etwas überarbeiteten Form neu herausgegeben hat 21, dort aber jeden Bezug zu Brecht vermeidet, obwohl er diesen Bezug in einem Aufsatz 22 von 2004 ja schon einmal explizit hergestellt hatte und obwohl dieser Bezug in der Neufassung seiner Dissertation geradezu mit Händen zu greifen ist. Kast geht im zweiten Teil seiner Arbeit nämlich ausführlich auf Stirners Weigerung ein, sich am Prinzip Hoffnung zu orientieren und demgegenüber die Erfüllung des Anspruchs auf Glück hier-und-jetzt-und-zwar-sofort zu verlangen. Und dann fährt er fort: »Nicht mehr der apollinische Wahrheitsmythos des »Erkenne dich selbst« steht ›über der Pforte unserer Zeit‹, sondern ein »Verwerte Dich!« (EE 318/ 353), und das bedeutet für Stirner: sich selbst Wert geben (EE 259/282), sich seiner eigenen Kraft bewusst zu werden, zu fühlen, dass eine ungeahnte Gewalt besteht, ›die Gewalt über Mich selbst, d. h. über alles, was nur Mir eignet und nur ist, indem es mein eigen ist‹(EE 260/284). Folgerichtig spricht Stirner von einer »scheidenden Geschichtsperiode« (EE 324/360) und einer »abgestorbenen Welt« (EE 297/328), in der Prinzipien zählten, denen jede Zukunft versagt ist. Stirner geht es jedoch, da sein individuelles Dasein mit seinen Forderungen einziges Kriterium ist, um die Jetztbewältigung und nicht um die Mitarbeit an einer teleologischen Konstruktion. Wegen seines ›Prinzips‹ verwirft er den zeitlichen Aufschub seiner Forderungen und drängt auf deren Erfüllung hier und jetzt.« 23

Für Kast ist dieses Prinzip 133 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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»die in der Endlichkeit der Existenz erlebte Jetzterfahrung und die daraus abgeleitete Negation der Vertröstung (!) zugunsten unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung.« (S. 120)

Warum Bernd Kast an dieser Stelle zur Illustration von Stirners Prinzip nicht Brechts großes Gedicht Gegen Verführung zitiert hat, wird wohl ewig sein Geheimnis bleiben, denn wenn es einen poetischen Text gibt, um Stirners Prinzip adäquat zu illustrieren, dann ist es dieses Gedicht, das ich deshalb eigens noch einmal zitiere, weil es sich nun wieder etwas anders liest: Gegen Verführung 1 Lasst euch nicht verführen! Es gibt keine Wiederkehr. Der Tag steht in den Türen: Ihr könnt schon Nachtwind spüren: Es kommt kein Morgen mehr. 2 Lasst euch nicht betrügen! Das Leben wenig ist. Schlürft es in vollen Zügen! Es wird euch nicht genügen Wenn ihr es lassen müsst! 3 Lasst euch nicht vertrösten! Ihr habt nicht zu viel Zeit! Lasst Moder den Erlösten! Das Leben ist am größten: Es steht nicht mehr bereit. 4 Lasst euch nicht verführen! Zu Fron und Ausgezehr! Was kann euch Angst noch rühren? Ihr sterbt mit allen Tieren Und es kommt nichts nachher. (S. 120 f.)

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2.4.3 Stirners Frohe Botschaft für den jungen Brecht Da Bernd Kast die Verbindung zwischen Brechts großem Gedicht Gegen Verführung als den innersten Kern dieser Verbindung nicht explizit hergestellt hat, wollen wir dies hier nachreichen und aufzeigen, was sich der junge Brecht aus Stirners Denkwerk angeeignet und für sein dichterisches Werk und sein eigenes Weltverständnis fruchtbar gemacht hat. Da ist zunächst einmal die Befreiung vom angstmachenden biblischen Gott der eigenen Kindheit – »Was kann uns Angst noch rühren?« –, der zunächst durch den biblischen Gegengott Baal ersetzt und dann durch Stirner endgültig und zusammen mit diesem Gegengott überwunden und verabschiedet worden ist, ohne jedoch in die argumentatorischen Sackgassen des Gottmenschentums zu geraten, in denen sich Heine und Nietzsche verirrt hatten und auf die wir auch bei Ludwig Feuerbach 1 gestoßen wären, wenn wir ausführlicher auf ihn eingegangen wären. Stirner fügt nämlich zwischen den beiden Hauptteilen seines Buches ein ganz kurzes Gelenk-Kapitel ein, in dem er nicht nur den Tod aller Götter verkündet, sondern auch den Tod aller Gottmenschen, die nun dem Eigner Platz machen müssen, der aber auf alle göttlichen Attribute definitiv verzichtet: »An dem Eingange der neuen Zeit steht der ›Gottmensch‹. Wird sich an ihrem Ausgange nur der Gott am Gottmenschen verflüchtigen, und kann der Gottmensch wirklich sterben, wenn nur der Gott an ihm stirbt? Man hat an diese Frage nicht gedacht und fertig zu sein gemeint, als man das Werk der Aufklärung, die Überwindung des Gottes, in unsern Tagen zu einem siegreichen Ende führte; man hat nicht gemerkt, dass der Mensch den Gott getötet hat, um nun – ›alleiniger Gott in der Höhe‹ zu werden. Das Jenseits außer Uns ist allerdings weggefegt, und das große Unternehmen der Aufklärer vollbracht; allein das Jenseits in Uns ist ein neuer Himmel geworden und ruft Uns zu erneutem Himmelsstürmen auf: der Gott hat Platz machen müssen, aber nicht Uns [der konkreten einmalig leibhaftigen Person in all ihrer kreatürlichen Bedürftigkeit, L. P.], sondern – dem Menschen [als einem abstrakten Bild vom Menschen, L. P.]. Wie mögt Ihr glauben, dass der Gottmensch [im Sinne von Heine, Feuerbach und Nietzsche, L. P.] gestorben sei, ehe an ihm außerdem Gott auch der Mensch [als abstraktes Bild vom Menschen, L. P.] gestorben ist?« 2

Der Erbe und Nutznießer dieser Generalabrechnung mit aller offenen und verdeckten Metaphysik ist für Stirner der Eigner, weshalb er gleich auf den folgenden Seiten daran geht, das Wesen dieser Eigen135 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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heit (EE 171 ff.) zu beschreiben, die sich in all ihrer Einmaligkeit, Leiblichkeit, Kreatürlichkeit und Bedürftigkeit oder kurz: in all ihrer Meineigenheit manifestiert, denn es gibt nun mal Sachverhalte als subjektive Tatsachen, die nur der als Aussage formulieren kann, dem sie zugehören, und deshalb schreibt Stirner über diese Art von Meineigenheit: »Eigenheit, das ist mein ganzes Wesen und Dasein, das bin ich selbst. Frei bin ich von Dem, was Ich los bin, Eigner von dem, was Ich in meiner Macht habe, oder dessen Ich mächtig bin. Mein eigen bin Ich jederzeit und unter allen Umständen, wenn Ich Mich zu haben verstehe und nicht an Andere wegwerfe. Das Freisein kann Ich nicht wahrhaft wollen, weil Ich’s nicht machen, nicht erschaffen kann: Ich kann es nur wünschen und danach – trachten, denn es bleibt ein Ideal, ein Spuk. Die Fesseln der Wirklichkeit schneiden jeden Augenblick in meinem Fleisch die schärfsten Striemen. Mein eigen aber bleibe Ich. Einem Gebieter leibeigen hingegeben, denke Ich nur an Mich und meinen Vorteil; seine Schläge treffen Mich zwar: Ich bin nicht davon frei; aber Ich erdulde sie nur zu meinem Nutzen, etwa um ihn durch den Schein der Geduld zu täuschen und sicher zu machen, oder auch um nicht durch Widersetzlichkeit Ärgeres Mir zuzuziehen. Da Ich aber Mich und meinen Eigennutz im Auge behalte, so fasse Ich die nächste, gute Gelegenheit beim Schopfe, den Sklavenbesitzer zu zertreten. Dass Ich dann von ihm und seiner Peitsche frei werde, das ist nur die Folge meines vorangegangenen Egoismus.« (EE 173 f.)

Hinter diese existentielle Erfahrung der Meineigenschaft oder Meineigenheit, hat man sie einmal gemacht, kann man laut Stirner nie wieder zurück, und das zieht sofort die Konsequenz entschlossener Selbstbehauptung nach sich: »Auf eure Pfaffen, Eltern und guten Menschen könnt Ihr Euch nicht berufen, denn die werden eben als eure Verführer von jenen bezeichnet, als die wahren Jugendverführer und Jugendverderber, die das Unkraut der [nazarenischen, L. P.] Selbstverachtung und Gottesverehrung emsig aussäen, die jungen Herzen verschlämmen und die jungen Köpfe verdummen.« (EE179)

Und all dies mit dem Ziel, »dass Wir Uns erbsündlich, für geborene Teufel halten.« (EE 178) Um dieses christliche Glaubenskonstrukt der Erbsünde, das im Pietismus noch einmal zu einem umfassenden Sündenbewusstsein radikalisiert worden ist, endgültig zu aus den Angeln zu heben, setzt Stirner im vorletzten Kapitel seines Hauptwerks eigens noch einmal zu einer höhnischen Gegenpredigt an, um deutlich zu machen, dass Glaubenskonstrukte dieser Art nicht objektiv vorgegebene transzen136 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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dente Wertvor-stellungen sind, sondern historisch bedingte Setzungen, die alle auch anders geartet sein und durch völlig andere ersetzt werden könnten, wenn man nur will, denn: »Kein Gedanke ist heilig, denn kein Gedanke gelte für »Andacht«, kein Gefühl ist heilig (kein heiliges Freundschaftsgefühl, Muttergefühl etc.), kein Glaube ist heilig. Sie sind alle veräußerlich, mein veräußerliches Eigentum, und werden von Mir vernichtet wie geschaffen.« (EE 402)

Und speziell für das Sündenbewusstsein gilt laut Stirner: »Hat die Religion den Satz aufgestellt, Wir seien allzumal Sünder, so stelle Ich ihm den andern gegenüber: Wir sind allzumal vollkommen! Denn wir sind in jedem Augenblick Alles, was Wir sein können, und brauchen niemals mehr zu sein. Da kein Mangel an Uns haftet, so hat auch die Sünde keinen Sinn. Zeigt Mir noch einen Sünder in der Welt, wenn’s Keiner mehr einem Höheren recht zu machen braucht! Brauche Ich’s nur Mir recht zu machen, so bin Ich kein Sünder, wenn Ich’s Mir nicht recht mache, da Ich in Mir keinen »Heiligen« verletze; soll Ich dagegen fromm sein, so muss Ich’s Gott recht machen, soll Ich menschlich handeln, so muss Ich’s dem Wesen des Menschen, der Idee des Menschheit usw. recht machen. Was die Religion den »Sünder nennt, das nennt die Humanität den »Egoisten«. (…) Wir sind allzumal vollkommen, und auf der ganzen Erde ist nicht Ein Mensch, der ein Sünder wäre! Es gibt Wahnsinnige, die sich einbilden, Gott Vater, Gott Sohn oder der Mann im Monde zu sein, und so wimmelt es auch von Narren, die sich Sünder zu sein dünken; aber wie jene nicht der Mann im Monde sind, so sind diese – keine Sünder. Ihre Sünde ist eingebildet.« (EE 403 f.)

Diesem eingebildeten Sündenbewusstsein setzt Stirner die entschlossene Selbstbehauptung als oberstes Prinzip entgegen: »Ich bin Mir Alles und tue Alles Meinethalben.« (EE 179) Und diese entschlossene Selbstbehauptung als Egoismus, Eigenheit oder Meinhaftigkeit verschafft ein ganz neues Gefühl von Freiheit, weshalb Stirner seinen Lesern zuruft: »Schüttelt das ab! Suchet nicht die Freiheit, die Euch gerade um Euch selbst bringt, in der ›Selbstverleugnung‹, sondern suchet Euch Selbst, werdet Egoisten, werdet jeder von Euch ein allmächtiges Ich. Oder deutlicher: Erkennet Euch nur wieder, erkennet nur, was Ihr wirklich seid, und lasst eure heuchlerischen Bestrebungen fahren, eure törichte Sucht, etwas Anderes zu sein, als Ihr seid.« (EE 181)

Aus all dem ergibt sich für Stirner zwingend die Konsequenz:

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»Indem der Egoist sich gegen die Anmutungen und Begriffe der Gegenwart wendet, vollzieht er unbarmherzig die maßloseste – Entheiligung. Nichts ist ihm heilig!« (EE 202)

Und das wiederum heißt: »Der Entheiliger spannt seine Kraft gegen jede Gottesfurcht, denn Gottesfurcht würde ihn in allem bestimmen, was er als heilig bestehen ließe. Ob am Gottmenschen der Gott oder der Mensch die heiligende Macht übe, ob also etwas um Gottes oder um des Menschen (der Humanitär) willen heilig gehalten werde, das ändert die Gottesfurcht nicht, da der Mensch so gut als ›höchstes Wesen‹ verehrt wird, als auf dem speziell religiösen Standpunkte der Gott als ›höchstes Wesen‹ unsere Furcht und Ehrfurcht verlangt, und beide Uns imponieren.« (EE 202)

Und dann schreibt Stirner Heine und Feuerbach als den Verkündern des Gottmenschentums ins Stammbuch: »Die eigentliche Gottesfurcht hat längst eine Erschütterung erlitten und ein mehr oder weniger bewusster ›Atheismus‹, äußerlich an einer weit verbreiteten ›Unkirchlichkeit‹ erkennbar, ist unwillkürlich Ton geworden. Allein, was dem Gott genommen wurde, ist dem Menschen zugesetzt worden, und die Macht der Humanität vergrößerte sich in eben dem Grade, als die Frömmigkeit an Gewicht verlor: ›der Mensch‹ ist der heutige Gott, und die Menschenfurcht an die Stelle der alten Gottesfurcht getreten. Weil aber der Mensch nur ein anderes höchstes Wesen vorstellt, so ist in der Tat am höchsten Wesen nichts als eine Metamorphose vor sich gegangen und die Menschenfurcht bloß eine veränderte Gestalt der Gottesfurcht. Unsere Atheisten sind fromme Leute.« (EE 202 f.)

Diese Gegenpredigt hat der junge Brecht offensichtlich überaus bereitwillig in sich aufgenommen und in der Gestalt Baal exemplarisch verdichtet, sodass er von ihr auch sagen konnte: In der Sünder schamvollem Gewimmel lag Baal nackt und wälzte sich voll Ruh: Nur der Himmel, aber immer Himmel Deckte mächtig seine Blöße zu. 3

Doch spätestens hier stellte sich für den Stirner-Adepten Brecht ein Problem, das eine Lösung verlangte: Wenn nämlich dieser Impuls zur Entheiligung sich gegen jede Art von Gottesfurcht und Gottesverehrung wendet und damit auch gegen jede Art von Gott, so kann sie auch vor dem biblischen Gegengott Baal nicht haltmachen, genau so wenig wie vor dem biblischen Gott der Juden und Christen. Und des138 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Der Umbruch im Zeichen Stirners

halb dürfte Brecht bei seiner Lektüre von Stirners Hauptwerk einigermaßen gestutzt haben, als er dort »Gott und Belial« (EE 179) in einem Atemzug genannt sah, denn Belial spielt im Neuen Testament (2 Kor 6, 15) in etwa die Rolle wie Baal im Alten: So wie Baal dort als Gegengott zu Jahwe auftritt, so erscheint hier Belial als der widergöttliche Gegenspieler zu Christus, weshalb er auch bald mit dem Teufel 4 gleichgesetzt wurde. Doch für Stirner sind beide, Gott wie Gegengott und Christus wie Belial nur Hirngespinste, fixe Ideen, »Flausen« und »Sparren«, mit denen man jahrhunderte-lang. Den Gläubigen aller Couleur »Kopf und Herz vollgestopft und verrückt gemacht hat« (EE 179) und von denen man sich endlich lossagen sollte. Diese Gläubigen aller Couleur sind für Stirner der direkte Gegentyp zum Egoisten, also Leute, die sich einer anderen Person oder auch nur einer Idee oder Ideologie unterworfen haben und ihr eigenes Verhalten davon bestimmen lassen, weshalb er auch nicht müde wird, über jeden Gläubigen kübelweise Hohn und Spott auszugießen und ihm zuruft: »Mensch, es spukt in Deinem Kopfe; Du hast einen Sparren zu viel! Du bildest Dir große Dinge ein und malst Dir eine Götterwelt aus, die für Dich da sei, ein Geisterreich, zu welchem Du berufen seist, ein Ideal, das Dir winkt. Du hast eine fixe Idee! Denke nicht, dass ich scherze oder bildlich rede, wenn ich die am Höheren hängenden Menschen, und weil die ungeheure Mehrzahl hierher gehört, fast die ganze Menschenwelt für veritable Narren im Tollhause ansehe. Was nennt man denn eine ›fixe Idee‹ ? Eine Idee, die den Menschen sich unterworfen hat.« (EE 46)

Und dann zählt er eine ganze Reihe solcher »Sparren« auf: Religionen aller Art, insbesondere den religiösen fundamentalistischen Fanatismus (EE 48 f.), das angeblich ewige Sittengesetz (EE 50 f.), den politischen Fanatismus à la Saint Just und Robespierre (EE 83), die Hochachtung vor tradierten Hierarchien aller Art (EE 71 ff.), aber auch Gespensterfurcht (EE 89) und natürlich auch das Dogma der Erbsünde (EE 89). Mit einem Wort: Alles, was irgendwie zur Fremdbestimmung des Menschen führt oder auch nur dazu führen könnte, ist für Stirner ein »Sparren«, und jeder, der dergleichen »Sparren« predigt, ist für ihn ein »Pfaffe«, und das gilt v. a. auch für seine Zeitgenossen wie Heine und Feuerbach, die die Göttlichkeit des Menschen gepredigt und damit eine »neue Religion« (EE 62) verkündigt hatten. Wir

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II · Umbrüche und Aufbrüche

würden heute vielleicht eher von einer Ideologie 5 reden, aber auch Ideologien aller Art wären für Stirner nichts als »Sparren« und ebenso all das, was Freud »Über-Ich« nennt. Schon von hier aus gesehen lässt sich erahnen, warum Marx und Engels in ihrer Deutschen Ideologie mit einem so unbändigen Hass auf Stirner eingedroschen haben und warum alle Partei-Marxisten nach ihnen bis herunter zu Helms und Holz diesen Hass auf Stirner sich zu eigen gemacht haben. Und nun erklärt sich wohl auch die Unfähigkeit der marxistisch orientierten Brecht-Forschung, Stirners Einfluss auf den jungen Brecht überhaupt wahrnehmen zu können. Der junge Brecht fand Stirners Appell, sich von »Sparren« aller Art loszusagen, offensichtlich überzeugend und verabschiedete sich nun auch von den biblischen Gegengöttern Baal und Belial genau so entschieden, wie er sich vom biblischen Gott seiner frommen Kindheit verabschiedet hatte, behielt aber den Namen Baal bei, um damit einen bestimmten Typus zu bezeichnen, eben den im Sinne Stirners egoistischen Eigner, der nun für ihn zum »Manne Baal« und zum »Bruder Baal« in all seiner menschlich-allzumenschlichen Leiblichkeit, Kreatürlichkeit, Bedürftigkeit und egoistischen Meinhaftigkeit wird, sich in seiner uroborischen Selbst-verausgabung verzehrt und damit zum Helden ganz neuer poetischer Werke werden kann, denn auch dieser Baal könnte, genau wie Siegfried in Wagners Götterdämmerung, von sich sagen: Einzig erbt’ ich den eig’nen Leib; lebend zehr’ ich den auf. 6

Auf diese uroborische Selbstverausgabung des Eigners bei seinem Selbstgenuss verweist Stirner nicht nur eigens im letzten Satz seines Hauptwerks, wo er vom »sterblichen Schöpfer seiner selbst« spricht, »der sich selbst verzehrt« (EE 412), sondern dieses Motiv des uroborischen Selbstverzehrs im egoistischen Selbstgenuss zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Werk 7, weshalb er auch mehrfach auf Nikolaus Lenaus Gedicht von den drei Zigeunern 8 anspielt, die musizierend, rauchend und schlafend voller Hingabe den aktuellen Augenblick genießen. Dieses schöne Gedicht endet mit den Versen: An den Kleidern trugen die Drei Löcher und bunte Flicken, Aber sie boten trotzig frei Spott den Erdengeschicken.

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Der Umbruch im Zeichen Stirners

Dreifach haben sie mir gezeigt, Wenn das Leben uns nachtet, Wie man’s verraucht, verschläft, vergeigt, Und es dreimal verachtet. 9

Diesen Tonfall und damit auch diese Einstellung Stirners und Lenaus greift nun auch der junge Brecht auf und feiert in den Gedichten der Zeit zwischen 1917 und 1920 die heitere Hingabe an den jeweiligen Augenblick, ohne diesem jedoch zu verfallen und sich an ihn zu klammern, sodass auch jeder Verzicht leicht fallen kann und auch der Gedanke an den eigenen Tod diese gleichsam göttlich heitere Gelöstheit und Gelassenheit nicht eintrüben kann, weil sich nun hienieden ganz neue säkulare Himmel für diese neuen säkularen Seligen auftun. Dass man das Leben sogar verachten kann, indem man es intensiv lebt und verlebt, ist ein Gedanke, den Brecht um diese Zeit auch für seine eigene Lebensführung reklamierte, denn am 8. Juni 1917 schreibt er an seinen Freund Max Hohenester, nachdem seine Beziehung zu seiner Geliebten Paula Banholzer in die Brüche gegangen war: »Ab und zu besuchte mich Neher, der im Feld ein großes Original wurde, auch geradezu genial lächerlich und stundenlang mit mir über die Weiber schimpfte. Dabei fiel manches bedeutende Wort, wie es 2 Männern, die das Leben durchschaut haben und, sei es durch Veranlagung oder Bauchweh, verachten, nicht anders sein darf. Die Geschichte mit Paula ging unrühmlich und lächerlich aus. Als ich sie aufgab, ihr zornentbrannt 2 Reden hielt, lächelnd den Segen entgegenschleuderte, da stand der Handelsschüler am (–) und ›ersetzte‹ mich.« (S. 13)

Das uroborische Prinzip des Verbrauchens, Verlebens, Verschwendens, Verachtens, Vernichtens und Verzehrens, das immer auch Selbstverzehren ist, wird von Brecht auch noch eigens in einem Gedicht aufgegriffen und dort geradezu als ein neues lebensphilosophisches Evangelium hymnisch verkündet: Philosophisches Tanzlied Wer nie sein Leben verachten darf Der ist vom Tod betört Wer nie sein Leben aufschnaufend wegwarf Dem hat es nie gehört.

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II · Umbrüche und Aufbrüche

Wem Gott Geduld, Geschick und Gefrett Und keinen Mut dazu gab: Dem wird als erstes Ruhebett Ein unerwünschtes Grab. Dem, der die eigene Last nie gehasst Nie sie fluchend zu Boden warf Erlaubt Gott gnädig, dass er die Last Auch der Faulen noch tragen darf. Wer immer seinen Schuh gespart Dem ward er nie zerfranst Und wer nie müd noch traurig war Der hat auch nie getanzt. Und wenn aus Altersschwäche sogar In Staub zerfällt dein Schuh: Der ganz wie du nur für Fußtritte war War glücklicher doch noch als du! Wir tanzten nie mit mehr Grazie Als über die Gräber noch: Gott pfeift die schönste Melodie Stets auf dem letzten Loch. (S. 488 f.)

Und daraus ergibt sich eine gründliche Umwertung aller bisherigen heiligen Werte mit dem Ergebnis eines angstfreien Lebensgefühls und einer umfassenden heidnischen Unbefangenheit, wie sie auch in dem folgenden Gedicht zum Ausdruck kommt: Lied von den Seligen Wenn ihr sterbt, dann werden einige in den Himmel eingehn. Die werden sich nicht wundern, denn sie haben ihn schon gesehn. Mörder und Säufer werden darinnen sein. Wer die nicht lieben kann, kommt nicht herein. Wer den Bruder schlug, der findet den Himmel nicht so schwer Die Betrunkenen gehen sehr leicht diese Wege her … Wer die Sterne sah, als er in Gossen lag Der erhebt sich leicht an seinem Ehrentag. Wer nie blind war, wird den Himmel nie sehn Keiner allein kann in den Himmel gehen Leiden werden auch dorten sein. Alle tragen aller Last gemein.

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Der Umbruch im Zeichen Stirners

Kinder und Narren, die gehen wohl ins helle Land … Mörder und Opfer, die gehen Hand in Hand. Arm in Arm, wer von Blut und Tränen troff Bruder Baal und Bruder Karamasoff. (S. 480)

Am 1. Mai 1920 starb Brechts Mutter nach langer Leidenszeit, und Brecht kommentierte dies im Tagebuch mit den bitteren Sätzen: »Meine Mutter ist gestorben am 1. Mai. Der Frühling erhob sich. Schamlos grinste der Himmel. (…) Ich liebte sie auf meine Weise, aber sie sie wollte auf die ihre geliebt sein.« 10

Dass der christliche Himmel den Tod seiner geliebten Mutter mit einem »schamlosen Grinsen« kommentierte, erinnerte Brecht wahrscheinlich an das höhnische Gelächter, mit dem der biblische Gott auf die Leiden und Klagen Hiobs 11 reagiert, und damit war für ihn der Bruch mit dem Christentum endgültig vollzogen, da nur noch seine fromme Mutter die allerletzten dünnen Verbindungsfäden zu seinem Kinderglauben in Händen gehalten hatte, die ihr nun aber entglitten waren. Hätte Brecht damals schon seinen Lessing gekannt, so hätte er sich wohl in den Schlusssätzen von dessen Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet wiedererkannt, wo Lessing mit dem Christentum in äußerster Härte ins Gericht geht, wenn er schreibt: »Gleichwohl ist es gewiss, dass auch diejenige Religion, welche dem Menschen zuerst entdeckte, dass auch der natürliche Tod die Frucht und der Sold der Sünde 12 sei, die Schrecken des Todes unendlich vermehren musste. Es hat Weltweise gegeben, welche das Leben für ein Strafe hielten; aber den Tod für eine Strafe zu halten, das konnte, ohne Offenbarung, schlechterdings in keines Menschen Gedanken kommen, der nur seine Vernunft brauchte.« 13 Nachdem mit dem Tod seiner Mutter ein prägender Abschnitt seines Lebens endgültig abgeschlossen war, musste der junge Brecht Bilanz ziehen, und er zog sie deutlich im Sinne Stirners als entschiedener Eigner und Einziger, der die Welt als sein Eigentum und Aigintum reklamiert, denn er schreibt im Tagebuch: »Wiewohl ich erst 22 Jahre zähle, aufgewachsen in der kleinen Stadt Augsburg am Lech, und nur wenig von der Erde gesehen habe, außer den Wiesen um diese Stadt mit Bäumen und einige andere Städte, aber nicht lang, trage ich den Wunsch, die Welt vollkommen [als mein alleiniges Eigentum, L. P.] überliefert zu bekommen. Ich wünsche alle Dinge mir ausgehändigt sowie

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II · Umbrüche und Aufbrüche

die Gewalt über die Tiere, und ich begründe meine Forderung damit, dass ich nur einmal vorhanden bin.« 14

Er hätte auch schreiben können: »dass ich ein Einziger bin.« Stirners Botschaft der »Selbst-Vereinzigung« 15 war bei Brecht also angekommen und von ihm in aller Form angenommen worden.

2.4.4 Stirners Kritik der gläubigen Unvernunft Dass Stirner etwas rüde von »Sparren«, »Hirngespinsten« und »fixen Ideen« spricht, wenn er Glaubenskonstrukte und Ideologien aller Art meint, darf uns nicht dazu verführen, seine Argumentation weniger ernst zu nehmen als sie es verdient, denn sie verdient sogar, sehr ernst genommen zu werden, weil in ihr genau zu der Zeit, als die politischen und gesellschaftlichen Reaktionäre der Heiligen Allianz die Aufklärung als »Aufkläricht« verhöhnten, eben diese Aufklärung mit äußerster Konsequenz zu Ende geführt wurde, denn Stirner stellte sich mit seiner Kritik der »Sparren« bewusst und gezielt und v. a. auch sehr mutig in die Tradition von Kant, der in seiner Kritik der reinen Vernunft 1 eine exemplarische Genealogie von Glaubenskonstrukten aller Art vorgelegt hatte, hinter die man einfach nicht mehr zurückgehen kann, wenn man sein eigenes Urteilsvermögen ernst nimmt. Kant geht nämlich gegen Ende dieses Werks in dem Kapitel Vom Meinen, Wissen und Glauben eigens auf das hier in Rede stehende Problem ein und schreibt dort: »Das Fürwahrhalten, oder die subjektive Gültigkeit des Urteils, in Beziehung auf die Überzeugung (welche zugleich objektiv ist), hat folgende drei Stufen: Meinen, Glauben und Wissen. Meinen ist ein mit Bewusstsein sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es Glauben. Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten das Wissen.« (II,689)

Wenn also jemand irgend einen Glauben bekundet, so verwendet er Behauptungssätze, die Kant »problematische Urteile« (II,114) nennt, und das sind »solche, wo man das Bejahen oder Verneinen als bloß 144 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Der Umbruch im Zeichen Stirners

möglich (beliebig) annimmt« (II,114), d. h. es sind Behauptungen, die man weder beweisen noch widerlegen kann und die deshalb auch keinerlei objektiv überprüfbaren Wahrheitsgehalt beanspruchen können. Auf diese grundstürzende Entdeckung der »problematischen Urteile«, die einen veritablen Quantensprung in der sprachkritisch orientierten Erkenntnistheorie bedeutete und Kant von seinem Zeitgenossen Benedikt Stattler den Vorwurf einbrachte, er sei ein »Alleszermalmer« 2, war Kant wahrscheinlich dadurch gekommen, dass in den 1760er-Jahren durch die Intelligenzblätter Europas die Geschichte geisterte, man habe in Neapel eine Frau namens Teofania Adamo als Hexe verbrannt, weil sie mit einem von ihr erfundenen und deshalb nach ihr »Aqua tofana« benannten Gift ungezählt viele Menschen ermordet habe. Und von diesem unheimlichen Gift ging die Mär, es sei farblos, geschmacklos und geruchlos wie Wasser, absolut tödlich und im Körper des Vergifteten nicht nachweisbar. Als Kant dies las, wahrscheinlich in irgendeiner Ausgabe des Pitaval, muss es bei ihm im Hirn geblitzt haben, denn ihm war sofort klar, dass man bei jedem beliebigen Todesfall behaupten konnte, auch dieser Tote sei ein Opfer von Aqua tofana, denn diese Behauptung ließ sich zwar nicht beweisen, ließ sich aber auch nicht widerlegen. Und da sie sich aber sehr wohl glauben ließ, rankten sich um das legendäre Gift Aqua tofana alsbald Verschwörungstheorien aller Art, weil man alsbald die Jesuiten, die Freimaurer und die Illuminaten verdächtigte, sie seien im Besitz dieses Giftes und würden damit ihre Feinde auf elegante Weise beseitigen. Es gab sogar das Gerücht, Mozart sei mit Aqua tofana vergiftet worden. Dann muss es in Kants Hirn aber gleich nochmal geblitzt haben, weil er erkannte, dass auch die zentralen Dogmen des Christentums in diesem Sinn nichts als problematische Urteile sind, sodass sich Vernunft und Offenbarung eben doch nicht decken, wie man seit Augustinus und Thomas von Aquin immer gelehrt hatte. Und so fegte er in den letzten Kapiteln seiner Kritik der reinen Vernunft alle Gottesbeweise vom Tisch und verwies sie auf den Müllhaufen der allgemeinen Kulturgeschichte 3, und genau dies brachte ihm dann auch den Titel »Alleszermalmer« ein und verschaffte ihm einen Ehrenplatz auf dem katholischen Index der verbotenen Bücher, obwohl er doch bloß die Grenze zwischen dem, was man wissen kann und dem, was man glauben muss, genauer gezogen hatte. Somit lautet seine Bilanz, er werde zwar weiterhin an ein Dasein 145 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

II · Umbrüche und Aufbrüche

Gottes und ein Leben nach dem Tode glauben, müsse sich aber dagegen verwahren, wenn man ihm ansinnen wolle, dies für eine beweisbare Wahrheit zu halten. Und dann fährt er mit dem ihm eigenen Sarkasmus fort: »Zwar wird freilich sich niemand rühmen können: er wisse, dass ein Gott und dass ein künftig Leben sei; denn wenn er das weiß, so ist er gerade der Mann, den ich längst gesucht habe. Alles Wissen (wenn es einen Gegenstand der bloßen Vernunft betrifft) kann man mitteilen, und ich würde also auch hoffen können, durch seine Belehrung mein Wissen in so bewunderungswürdigen Maße ausgedehnt zu sehen.« (II,693)

Wenn wir nun die Probe aufs Exempel machen und eine Reihe problematischer Urteile im Sinne Kants zusammenstellen, so zeigt sich sofort, was sich auf einer derartigen Palette alles auflisten lässt und was sich alles glauben lässt und tatsächlich auch geglaubt wird. Zu Zeiten Kants lauteten die am heftigsten diskutierten problematischen Urteile vielleicht: • Dieser Tote ist ein Opfer von Aqua tofana. • Es gibt einen Gott. • Das Verhalten des Menschen ist geprägt durch die Erbsünde. • Die Seele des Menschen ist unsterblich. Zu Zeiten Stirners lauteten sie aber schon etwas profaner: • Es gibt keinen Gott. • Die Weltgeschichte folgt dem Prinzip göttlicher Vernunft. • Die klassenlose Gesellschaft ist das Ziel der Menschheitsgeschichte. • Gott will diesen Krieg und deshalb ist dieser Krieg ein gerechter Krieg. Und heute lauten sie z. B.: • Letztlich bestimmt das Unbewusste unser gesamtes Verhalten. • Die nordische Rasse ist von der Vorsehung zur Weltherrschaft berufen. • Es gibt eine jüdische Weltverschwörung mit dem Ziel jüdischer Welt-herrschaft. • Es gibt Außerirdische, die Menschengestalt annehmen können und dann unerkannt unter uns wandeln. • Werte haben eine objektive Realität. • Hokuspokus Globulus!

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Der Umbruch im Zeichen Stirners

Zwar ist keine dieser Behauptungen in sich plausibler als jede andere, weil alle nur geglaubt werden können, doch das Potential an Aktivität, das sie zu entfesseln vermögen, kann äußerst unterschiedlich sein. Wer z. B. daran glaubt, dass die nordische Rasse zur Weltherrschaft bestimmt sei und selbst zu dieser Rasse gehört, wird sehr leicht Allmachtsgefühle entwickeln und bei der Durchsetzung dieses Programms extreme Energien bis hin zum Fanatismus entfesseln können, weil er hier in dem Bewusstsein aktiv sein kann, dass er eh nur das tut, was ohnehin geschehen muss und auch geschehen wird. Wer hingegen in jedem Toten ein Opfer von Aqua tofana erblickt, kann leicht einen Verfolgungswahn entwickeln und starr vor Angst auf seine eigene Vergiftung warten. Wir sehen also, dass Religionen, Ideologien, Historizismen und transzendentale Wertsetzungen aller Art nur auf dem Fundament problematischer Urteile erstellt werden können, oder kürzer: dass all dies geglaubt werden muss, weil es nicht gewusst, sondern nur geglaubt werden kann, und da stellt sich natürlich die Frage, wo man die Grenzen dieser Gläubigkeiten ziehen will. Will man also z. B. wohlwollend hinnehmen, dass jemand zwar an die ›ehernen Gesetze der Geschichte‹ oder an die Wirkung von Globuli glaubt, an Gott hingegen nicht, oder will man da eine Skala der Zumutbarkeiten installieren, die dann vorgibt, welche Arten von Gläubigkeiten tolerabel sind und welche nicht, welche als förderwürdig, welche aber als gefährlich und welche bloß als lachhaft zu gelten haben? Heinrich Heine hat dieses Problem sofort gesehen und in seiner Geschichte der deutschen Philosophie auf eine amüsante Weise dargestellt. Nachdem er erst erläutert hatte, was Kant unter »problematischen Urteilen« versteht und welche erkenntnis-theoretischen Konsequenzen diese Entdeckung nach sich ziehen musste, fährt er fort: »Ihr meint, wir könnten jetzt nach Hause gehn? Bei Leibe! es wird noch ein Stück aufgeführt. Nach der Tragödie kommt die Farce. Immanuel Kant hat bis hier den unerbittlichen Philosophen traciert [d. h. sich als ein solcher präsentiert, L. P.], er hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es gibt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen – das röchelt, das stöhnt – und der alte Lampe (Kants Diener) steht dabei mit seinem Regenschirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Tränen rinnen ihm vom Gesichte.

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II · Umbrüche und Aufbrüche

Da erbarmt sich Immanuel Kant und zeigt, dass er nicht nur ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist, und er überlegt, und halb gutmütig und halb ironisch spricht er: »der alte Lampe muss einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich sein – der Mensch soll aber auf der Welt glücklich sein – das lehrt die praktische Vernunft – meinetwegen – so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen«. In Folge dieses Arguments unterscheidet Kant zwischen der theoretischen Vernunft und der praktischen Vernunft, und mit dieser, wie mit einem Zauberstäbchen, belebte er wieder den Leichnam des Deismus, den die theoretische Vernunft getötet.« 4

Genau hier war der Punkt, an dem Stirner Kant die Gefolgschaft aufkündigte und den Leichnam des Deismus Leichnam sein ließ, doch er kündigte nicht nur den Glauben an einen Gott auf, sondern jeden Glauben überhaupt, also auch den Glauben an Religionen, Ideologien, teleologisch ausgerichtete Geschichtsphilosophien und transzendentale Wertsetzungen aller Art und verwirft damit all dies als lachhafte Sparren mit einem entschiedenen »Weg damit!«. Laut Stirner brauchte Kants Diener Lampe also durchaus keinen Gott, und alle anderen brauchen auch keinen. So gesehen wäre nicht schon Kant, sondern erst Stirner der wirkliche »Alleszermalmer«. Doch was bleibt dann noch als Orientierung? Stehen wir dann nicht vor einem Abgrund an Nihilismus? Sind wir dann nicht in der Situation des Seefahrers, den Nietzsche in § 124 seiner Fröhlichen Wissenschaft klagen lässt: »Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! Sieh dich vor!« (II,126)

Denn: »Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt (…) und es gibt kein ›Land‹ mehr!« (II,126)

Oder anders gefragt: Könnte es sein, dass Nietzsche Max Stirner 5 im Auge hatte, als er den »tollen Menschen« (II,126) den Tod Gottes auf dem Marktplatz verkünden ließ, der in Wahrheit eine Ermordung Gottes darstellt, denn dieser tolle Mensch klagt und fragt da: »Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich

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Bilanz und Ausblick

nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt das Blut von uns ab? Mit welchem Wasser können wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selbst zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« (II,127)

Nochmal gefragt: Was also bleibt?

2.5 Bilanz und Ausblick Stirners Antwort auf diese Frage haben wir schon einmal aus dem Munde Siegfrieds gehört, und diese lautet schlicht: Einzig erbt’ ich den eig’nen Leib; lebend zehr’ ich den auf. 1

Und Stirners Rat haben wir auch schon vernommen, und auch dieser lautet sehr schlicht: »Verwerte dich!« Genauer: Verwerte dich hierund-jetzt-und-zwar-sofort, doch lass’ dich nicht durch das Prinzip Hoffnung zu Gläubigkeiten irgendeiner Art verführen! Was als Orientierung bleibt, ist also die Einsicht in die eigene Leiblichkeit, Bedürftigkeit und Kreatürlichkeit, die man mit allen anderen Menschen teilt und die die Grundlage für eine allumfassende kreatürliche Solidarität bildet. Dass Nietzsche seinen »tollen Menschen« diese metaphysischen Ängste bekunden lässt, ist seltsam genug angesichts der Tatsache, dass er in seinen Zarathustra eigens ein Kapitel aufgenommen hat, in dem er den »Verächtern des Leibes« (II,300 f.) die Leviten liest und die These verkündet: 149 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

II · Umbrüche und Aufbrüche

»Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe.« (II,300)

Denn die nihilistischen Klagen des »tollen Menschen« verraten, dass Nietzsche ihn als puren Bewusstseinsträger, oder besser und mit Schopenhauer gesprochen: als »geflügelten Engelskopf ohne Leib« 2 argumentieren lässt, der die Erkenntnis, »Leib ganz und gar« zu sein, selber noch nicht wirklich begriffen hat. Bei Stirner allerdings wird diese Erkenntnis schon vorweggenommen, denn er schreibt im letzten Kapitel seines Hauptwerks: »Der fromme Wunsch der Alten war die Heiligkeit, der fromme Wunsch der Neuen ist die Leibhaftigkeit. (…) Dem, was die heidnischen Stoiker als ›den Weisen‹ aufstellten, entspricht in der heutigen Bildung ›der Mensch‹, jener wie dieser ein – fleischloses Wesen. Der unwirkliche ›Weise‹, dieser leiblose ›Heilige‹ der Stoiker, wurde eine wirkliche Person, ein leiblicher ›Heiliger‹ in dem fleischgewordenen Gotte; der unwirkliche ›Mensch‹, das leiblose Ich, wird wirklich werden im leibhaftigen Ich, in Mir.« (EE 407 f.)

Diese Erkenntnis, »Leib ganz und gar« zu sein, hat überhaupt erst Hermann Schmitz richtig ernst genommen und daraus ein imponierendes Denkwerk 3 entwickelt, von dem aus gesehen nun auch Stirners rabiate Kritik aller Metaphysik sich ganz neu lesen lässt. Der junge Brecht leitete aus seiner Stirner-Lektüre offensichtlich keine nihilistische Position ab, sondern eher ein Ethos kreatürlicher Solidarität, wie dies v. a. in den Kapiteln »Bittgänge«, »Chroniken« und »Kleine Tagzeiten der Abge-storbenen« seiner Hauspostille in vielen Gedichten zum Ausdruck kommt, die zum Besten gehören, was er je geschrieben hat. Ich verweise nur auf die Balladen über den Eltern-Mörder Jakob Apfelböck und die Kindsmörderin Marie Farrar; auf die Ballade Vom ertrunkenen Mädchen oder auf das Gedicht Erinnerung an Marie A. Doch diese kreatürliche Solidarität kündigte Brecht nach der Publikation seiner Hauspostille 1927 wieder auf, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, in dem er sich auch von Stirners Philosophie emanzipierte, um sich dann in seiner Berliner Zeit einem Kult des kalten Herzens zu verschreiben, der mit einem Kult der Entindividualisierung einherging, in Konsequenz dessen er nun auch wieder den schon von Schopenhauer verhöhnten »geflügelten Engelskopf ohne Leib« als reines cartesisches Cogito zum idealen Zuschauer seines neu konzipierten Theaters erhob.

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Bilanz und Ausblick

Und nach diesem Schub an Exerzitien der Unbetroffenheit verschrieb er sich in der Phase seiner »Lehrstücke« wieder einer neuen Gläubigkeit, kehrte aber nicht zurück zum frommen Nationalprotestantismus seiner frühesten Lyrik in der Augsburger Zeit, sondern wurde Marxist und reihte sich ein in die Rhapsoden der »großen Gesänge« 4, die sich in ihrer Bigotterie bemühten, der kommunistischen Partei und ihren Führern die göttlichen Attribute Allmächtigkeit, Allgegenwart und Allwissenheit zuzuschreiben. Mit einem Wort: Er argumentierte nun als ein Stirner-Renegat ganz so, als habe es Stirners fundamentale Kritik an all diesen »Sparren« nie gegeben. Doch auch dies war noch nicht seine letzte Wandlung, weil noch weitere folgten.

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Kapitel III Selbstverausgabungen und Verklärungen oder Der Einzige Baal und sein Eigentum 3

Vom Einsamen zum Einzigen

3.1 Johsts Einsamer Grabbe Bekanntlich ist Brechts dramatischer Erstling Baal von Hanns Johsts Drama Der Einsame. Ein Menschenuntergang 1 angeregt worden, das am 30. März 1918 an den Münchner Kammerspielen aufgeführt und dann in Artur Kutschers Theaterseminar 2 besprochen worden ist, das auch Brecht damals besuchte. Aus diesem Grund bietet es sich an, dass wir erst auf Johsts Stück eingehen, damit deutlich werden kann, was Brecht im Hinblick auf Personal und Handlungsführung davon übernommen hat und aus welchen Gründen dies geschehen sein könnte. Johsts Einsamer ist der Dramatiker Christian Dietrich Grabbe (1801–1836), und Johsts Stück beginnt damit, dass Grabbe soeben sein monumentales Stück Napoleon oder die hundert Tage 3 beendet hat, dessen Handlung unmittelbar vor Beginn der Schlacht bei Belle Alliance endet, die Napoleons Niederlage mit sich bringen wird. Mit diesem Sieg der vielen Kleinen und Minderwertigen über das eine große Genie Napoleon ist zugleich auch das zentrale Motiv von Johsts Stück benannt, das anhand von Grabbes Biographie das Scheitern eines genialen Autors an Kleingeist und Unverständnis seiner bösartig spießbürgerlichen Umwelt schildert. Zunächst aber schwelgt Johsts Grabbe noch in Stolz und Schaffensrausch, weil er sich dessen sicher ist, dass hier ein Genie über ein anderes Genie ein geniales Werk geschaffen habe, und gerät vor Glück über das eben vollbrachte Werk in Ekstase, ganz so wie Ovid in den letzten Versen seiner Metamorphosen:

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Johsts Einsamer Grabbe

»Oh! Dies Gefühl! Nicht um einen Thron möchte ich es eintauschen! Dies Göttergefühl! Ich bin der Kosmos! (…) Napoleon! Du mein Werk! Du wirst einen langen Weg nehmen! (…) Du, mein flammendes Buch, wirst leben!« (S. 8 f.)

Doch in den folgenden Bildern häufen sich dann die Katastrophen: Grabbes Frau stirbt im Kindbett 4, er betrügt seine Freunde, überwirft sich mit seiner Mutter, sein Verleger wendet sich von ihm ab, er verliert seine bürgerliche Anstellung, seine Mutter stirbt und er verkommt mehr und mehr, bis er schließlich in Armut, Krankheit, Suff und Verwahrlosung buchstäblich verreckt. Doch dieser Tod, in bürgerlicher Sicht ein Tod in Schimpf und Schande, in mythologischer Sicht aber eine veritable Passionsgeschichte, ist zugleich der Augenblick seiner Verklärung und Auferstehung, weil eine Passionsgeschichte, mag sie auch noch so profan aussehen, mit Verklärung und Auferstehung zu enden hat, denn der sterbende Grabbe spricht »tief vom Wirbel des Todes gefasst«: Demut ist Anfang! Und Demut ist Ende! Schon nahen dunkle, verhängte Gelände – – – Jetzt reißen die Nebel … Das Auge wird weit … – – Tod! Du, die Unsterblichkeit? (S. 108)

Und dann dröhnt nur noch die Orgel und feiert Grabbes Aufstieg in den Himmel der unsterblichen Genies. Diese überdeutlichen Anspielungen auf den Text von Kleists Grabstein am Wannsee – »Er lebte, sang und litt in trüber schwerer Zeit, er suchte hier den Tod und fand Unsterblichkeit.« 5 –, der selbst wieder an den Verklärungs-Monolog des Prinzen von Homburg anschließt – »Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!« 6 –, empfand Johst offensichtlich als zwingend notwendig, weil er in seinem Grabbe den einzig legitimen dramatischen Erben Kleists sah, denn in seiner Bekenntnisschrift Ich glaube! lässt er sein Kleist-Portät damit enden, dass Kleists Doppelselbstmord am 21. 11. 1811 von dem damals 10-jährigen Grabbe telepathisch miterlebt wird und ihn zum Dichtertum beruft, indem Kleists Schuss in den eignen Mund dem jungen Grabbe gleichsam die Zunge zum dichterischen Wort löst, denn es heißt da: »Dann [nach dem Schuss auf Henriette Vogel, L. P.] sank er in die Knie und wieder allein gelassen und einsam führte er die Pistole zum Munde, um den Zufall aus der Welt zu schaffen und das Schicksal zu vollenden.

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III · Selbstverausgabungen und Verklärungen

In diesem Augenblicke kauerte im letzten, besonnten Winkel des Zuchthauses zu Detmold ein schmalgliedriger Knabe über einer zerlesenen Schrift. Er las, und jedes Wort, vom Auge aufgenommen, sprang, eine Explosion wieder, von innen her aus dem zerfetzten Munde. Der junge Mensch, der dieses las, hieß Christian Dietrich Grabbe und trat in diesem Augenblick auf seine Weise das kleistische Erbe an.« 7

Und nach dieser reichlich blutrünstigen makabren Berufungsszene entschließt sich Johsts Grabbe, auch ein Stück Hermannsschlacht 8 zu schreiben, um sich seinem Vorbild Kleist als würdig zu erweisen. In der Brecht-Literatur wird zwar gern von einer »Fehde« 9 des jungen Brecht gegen Hanns Johst gesprochen und damit suggeriert, schon der junge Brecht habe Johst als politischen Gegner empfunden und irgendwie geahnt, dass Johst später bei den Nazis eine fulminante Karriere erleben werde, die ihn bis an die Spitze der Reichsschrifttumskammer führte, weshalb er seinen Baal als explizite literarische Kontrafaktur und »Antithese« 10 zu Johsts Einsamen geschrieben habe, doch wenn man die spätere politische Entwicklung dieser beiden Autoren erst mal ausblendet, die ja keiner von beiden um 1918 schon voraussehen konnte, wenn man sich also hütet, spätere Positionen der beiden in diese frühe Zeit hineinzuprojizieren, so bietet sich ein etwas anderes Bild, denn dann erscheint Brechts »Fehde« gegen Johst als eine rein literarische Episode, wie sie im literarischen Betrieb immer wieder vorkommt, also als der Versuch eines jungen Autors, sich an einem etwas älteren und schon etwas etablierten Autor zu messen. Johst war ja nur acht Jahre älter als Brecht. An anderen Autoren hatte sich ja schon der ganz junge Brecht gern gemessen, denn am 21. 10. 1916 hatte er in seinem Tagebuch vermerkt: »Schreiben kann ich, ich kann Theaterstücke schreiben, bessere als Hebbel, wildere als Wedekind.« 11 Und nun wollte er sich eben an Hanns Johst messen, und genau wie dieser ein Stück über einen genialen Autor schreiben. Aus diesem Grund schickte er Johst die ersten beiden Fassungen seines Stücks zu; doch dieser zeigte sich offenbar sehr ungnädig, weil er natürlich sofort sah, wie eng sich Brecht an seinem Grabbe-Stück orientiert hatte. Und diese Analogien sind ja auch offenkundig genug: Beide Stücke zeigen den Untergang eines Dichters, der im Untergang jedoch eine Verklärung erfährt; beide Lebensläufe erscheinen als eine Passionsgeschichte mit deutlichen Anspielungen auf die biblische Passionsgeschichte; beide Helden betrügen ihren besten Freund mit dessen Frau, die sich daraufhin das Leben nimmt; beide Helden haben 154 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Johsts Einsamer Grabbe

eine höchst ambivalente Beziehung zur eigenen Mutter; beide Helden scheitern als bürgerliche Existenz und verlieren ihre Anstellung; beide Helden landen schließlich am Rande der Gesellschaft in einem asozialen Milieu; beide Autoren spiegeln sich überdeutlich in ihren Helden Grabbe und Baal; und schließlich zitieren beide Autoren immer wieder aus ihren eigenen Werken, wobei Baals Gedichte und Songs eben die von Brecht selbst sind, sodass die Selbstfeier Brechts in seinem Helden Baal die Selbstfeier Johsts in seinem Helden Grabbe deutlich übertrumpft. Genau dies dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass Johst so ungnädig auf die Zusendung des Baal reagiert hat. Da Johst auf Brechts Zusendung seines Stücks nicht sofort antwortete, schrieb Brecht ihm an der Jahreswende 1918/19 aus München folgenden Brief, der ganz und gar nicht in das Szenario einer literarischen »Fehde« passt: Lieber Hanns Johst, ich fühle mich sehr gedemütigt, dass Sie mir nichts über »Baal« schreiben. Ich sitze in meiner dunklen Stube, es regnet, und da fällt mir plötzlich ein, dass Sie schweigen und ich auf irgend etwas gewartet habe. Ich kann es gut glauben, dass Sie »Baal« nicht gut gefunden haben, ohne dass ich an ihm oder Ihnen verzweifle, vielleicht hat es Sie nachträglich doch verstimmt, dass ich stellen weise den gleichen Vorwurf benutzt habe wie Sie im »Einsamen«, wiewohl darauf bei mir kein Nachdruck liegt und ich die Nabelschnur noch vollends abbeißen kann, indem ich die Szenen herauswerfe, wenn Sie es wünschen (obgleich ein Rest bleiben muss, aber den hat »Peer Gynt« und manches andere). (…) Ich habe volles Verständnis dafür, wenn Sie sagen, »Baal« und alles, was ich noch schreiben werde, sei ein Saumist, aber wenn Sie gar nichts sagen, dann meine ich, Sie wünschen, ich solle beleidigt sein. Bitte verzeihen Sie diesen Brief, weil es eben regnet. Ihr Bert Brecht. 12

Auf diesen Brief scheint Johst tatsächlich geantwortet und Brecht sogar zu einem Besuch eingeladen zu haben, weil Brecht kurz darauf wieder an ihn schreibt: Lieber Hanns Johst, ich danke Ihnen herzlich für Ihren Brief, der mir starke Freude bereitet hat. Inzwischen habe ich mein Stück überarbeitet und z. B. alle Szenen mit der Mutter herausgeschmissen. Dadurch verscheuche ich das Gespenst des »Einsamen« ziemlich an die Peripherie. Ungeheuer gern würde ich mit Ihnen über Dramaturgisches reden, und ich werde auch, sobald ich kann,

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III · Selbstverausgabungen und Verklärungen

nach Oberallmannshausen herauskommen. Da bringe ich dann den ganzen Quark (der jetzt bald anfängt, mir aus dem Hals zu wachsen) mit. Ich danke auch Ihrer lieben Frau für ihren Gruß und grüße Sie Herzlich Ihr Bert Brecht. 13

Offensichtlich spricht Brecht hier schon von Überlegungen zu einer dritten ›sachlichen‹ und ›kalten‹ Fassung seines Baal, der er später den Titel Lebenslauf des Mannes Baal 14 gegeben hat, für die er in der Tat alle Szenen mit der Mutter gestrichen hat, die sich aber auch sonst noch sehr von den ersten beiden Fassungen unterscheidet. (Wir kommen in Kapitel V darauf zurück.)

3.2 Brechts Einziger Baal Die ersten beiden Fassungen des Baal unterscheiden sich von Johsts Stück trotz aller Analogien in Personal und Handlungsführung v. a. dadurch, dass Brechts Baal ein Lyriker ist, der in den von ihm vorgetragenen Gedichten und Liedern, die ausnahmslos von Brecht selbst stammen, das vielberedete »baalische Lebensgefühl« bekundet, das ihm auf der Grundlage hinhaltender Hingabe beglückende Einleibungs-Erfahrungen im Umgang mit allen Geschöpfen von ›Mutter Natur‹ ermöglicht. An diesem »baalischen Lebensgefühl« orientierte sich wohl auch der Umstand, dass Brecht seinem Stück erst den Titel Baal frisst! Baal tanzt!! Baal verklärt sich!!! 1 geben wollte. Dass er dann schließlich doch den einfachen Titel Baal gewählt hat, sollte uns aber nicht dazu verleiten, die im ursprünglichen Titel angesprochenen Themen nicht ernst zu nehmen, und deshalb werden wir auch eigens darauf eingehen. Johsts Grabbe erfährt zwar auch eine Verklärung, hat aber überhaupt keine Beziehung zum Kreatürlichen und zur Natur, denn Grabbes Stück spielt ausschließlich in geschlossenen Räumen. Ein weiterer fundamentaler Unterschied zu Grabbes Stück besteht darin, dass Brecht die Beziehung des Künstler-Paares Baal und Ekart homosexuell unterfüttert hat, offensichtlich in Anlehnung an die Beziehung zwischen Paul Verlaine und Arthur Rimbaud. Und schließlich ist da noch das Bild »Gefängniszelle« in den beiden ersten Fassungen, in dem Baal einem Geistlichen Stirners Philosophie verkündet, für die der rundum gläubige Hanns Johst mit Sicherheit nicht 156 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Brechts Einziger Baal

das geringste Verständnis aufgebracht haben dürfte. Auf all diese Themen müssen wir nun einzeln eingehen.

3.2.1 Der Choral vom grossen Baal In den ersten beiden Fassungen des Baal findet sich der Choral vom grossen Baal, der in der ersten Fassung, dramaturgisch nicht sehr überzeugend, weil völlig unvermittelt, zwischen dem 17. Und dem 19. Bild steht, in der zweiten Fassung aber ganz am Anfang und in dieser Form gleichsam den Rahmen absteckt, innerhalb dessen sich die dann folgenden Szenen aus dem Leben Baals abspielen. Für die Hauspostille hat Brecht diesen Choral von achtzehn Strophen auf neun und für die dritte »sachliche« Fassung Lebenslauf des Mannes Baal weiter auf sieben Strophen gekürzt. In der letzten Berliner Fassung aber taucht dieser Choral wieder in vollem Umfang, wenn auch leicht verändert, wieder auf. Wir haben schon in Kapitel II gesehen, mit welcher Lust der junge Brecht Lieder aus dem Gesangbuch seiner christlichen Kindheit parodierte. Dieser mehr oder weniger aggressive Gestus gegenüber dem überlieferten christlichen Liedgut zum Gotteslob prägt nun auch diesen Choral vom grossen Baal, der sich stellenweise liest wie eine explizite Kontrafaktur zum allgemein bekannten Choral Grosser Gott, wir loben dich von Ignaz Franz aus dem 18. Jahrhundert, dessen dritte Strophe lautet: Heilig, Herr Gott Zebaoth; Heilig, Herr der Kriegerheere; Starker Helfer in der Not: Himmel, Erde, Luft und Meere Sind erfüllt von deinem Ruhm; Alles ist dein Eigentum. 2

Also auch das Eigentum des Einzigen, was diesem durchaus nicht gefallen dürfte, sodass er alles dran setzt, diesen biblischen Gott Zebaoth zu enteignen, und deshalb setzt Brecht nun dem christlichen Gotteslob sein Lob des großen Baal entgegen, das zugleich auch ein dickes Stück Selbstlob ist, da Baals Gedichte ja Brechts eigene Gedichte sind, und versieht seinen Baal mit einem eigenen, aber leeren Himmel, den der christliche Gott längst geräumt hat und den Baal deshalb

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III · Selbstverausgabungen und Verklärungen

als sein alleiniges Eigentum beansprucht, denn nach der Enteignung des biblischen Gottes Zebaoth gilt: Als im weißen Mutterschoße aufwuchs Baal war der Himmel schon so groß und weit und fahl blau und ungeheuer wundersam wie ihn Baal dann liebte – als Baal kam. Und der Himmel blieb in Lust und Kummer da auch wenn Baal schlief, selig war und ihn nicht sah: Nachts er violett und trunken Baal. Baal früh fromm – er aprikosenfahl. Und durch Schnapsbudicke, Dom, Spital trottet lässig Baal und – und gewöhnt sichs ab – Mag Baal müd sein, Kinder, nie sinkt Baal: Baal nimmt seinen Himmel mit hinab. In der Sünder schamvollem Gewimmel 3 lag Baal nackt und wälzte sich voll Ruh: Nur der Himmel, aber immer Himmel Deckte mächtig seine Blöße zu. 4

Denn: Ob es Gott gibt oder keinen Gott kann solang es Baal gibt, Baal gleich sein. Aber das ist Baal zu ernst zum Spott: Ob es Wein gibt oder keinen Wein. (S. 59)

Und außerdem gilt: Alle Laster sind zu etwas gut – nur der Mann nicht, sagt Baal, der sie tut. Laster sind was, weiß man was man will – Sucht euch zwei aus: Eines ist zu viel! Nicht so faul, sonst gibt es nicht Genuss! Was man will, sagt Baal, ist was man muss. Wenn ihr Kot macht ist, sagt Baal, gebt acht besser noch als wenn ihr gar nichts macht! Seid nur nicht so faul und so verweicht, denn Genießen ist bei Gott nicht leicht! Starke Glieder braucht man und Erfahrung auch und mitunter stört ein dicker Bauch.

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Man muss stark sein, denn Genuss macht schwach; Geht es schief, sich freuen noch am Krach! Der bleibt ewig jung, wie ers auch treibt, der sich jeden Abend selbst entleibt. (S. 59)

Wie man sieht, ist aus dem biblischen Gegengott Baal der Mensch als »Mann Baal« und sogar der »Bruder Baal« geworden, aber nicht irgendeiner, sondern eben der »große« Baal, der aber trotzdem kein Gottmensch im Sinne von Heinrich Heine oder auch nur ein Übermensch im Sinne von Friedrich Nietzsche ist, sondern ein Mensch, der das vom biblischen Gegengott Baal verkündete Gegen-Evangelium absoluter Diesseitigkeit als Unschuld des kreatürlichen Werdens und Vergehens konsequent und durch alle Höhen und Tiefen verkündet und selbst auch demonstrativ auslebt. Doch damit ist dieses geniale frühe Stück Brechts noch lange nicht auf den Punkt gebracht, denn es bietet sich auch noch eine andere Deutung an, die weit über diesen Befund hinausgeht. Man kann nämlich diese frühe Fassung von Baal auch als blasphemischen Gegenentwurf zum Kernstück christlicher Theologie lesen, und dann ergibt sich folgender Befund: So wie Jesus als eingeborener Sohn Gottes Mensch geworden ist, um durch sein stellvertretendes Leiden und Sterben die Menschheit von ihren Sünden zu erlösen, so wäre auch der große Baal im »Bruder Baal« Mensch geworden als der eingeborene Sohn des biblischen Gegengottes Baal, um in einer analogen Passionsgeschichte die Christenheit von ihrem nazarenischen Sündigkeitswahn zu erlösen und sie wieder zu einer neuheidnischen Unschuld des kreatürlichen Werdens und Vergehens zurückzuführen. Der im Choral gefeierte »große Baal« wäre also ein oder vielleicht sogar der Gegen-Christus, dessen Existenz ebenfalls in Tod und Verklärung endet. Oder anders formuliert: Der Choral vom grossen Baal wäre dann in Brechts Gesamtwerk die erste explizite Zurücknahme von Bachs Matthäus-Passion, der dann aber noch weitere folgen werden. Der entscheidende Unterschied zwischen dieser baalischen und der biblischen Passionsgeschichte besteht darin, dass für die Christenheit das Leiden und Sterben Jesu als ein stellvertretendes Leiden und Sterben gilt, wohingegen die Passionsgeschichte des Eigners Baal als uroborische Selbstverausgabung seiner Eigenheit eine ganz egoistische eigene Erfahrung ist. Diese Tendenz hatte sich ja schon, wie wir Kapitel I,6 gesehen haben, in Brechts Kriegsgedichten abgezeichnet.

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Und der Tod, den Baal dann stirbt, ist ebenfalls ganz und gar sein eigener Tod, und er stirbt ihn »mit allen Tieren, und es kommt nichts nachher«: Zu den feisten Geiern blinzelt Baal hinauf die im Sternenhimmel warten auf den Leichnam Baal. Manchmal stellt sich Baal tot. Stürzt ein Geier drauf – speist Baal einen Geier. Stumm. Zum Abendmahl. Unter düstern Sternen, in dem Jammertal grast Baal weite Felder schmatzend ab. Sind sie leer, dann trollt sich singend Baal in den ewigen Wald zum Schlaf hinab. Und wenn Baal der dunkle Schoß hinunter zieht: Was ist Welt für Baal noch? Baal ist satt. Soviel Himmel hat Baal unterm Lid, dass er tot noch grad gnug Himmel hat. (S. 60)

3.2.2 »Baal frisst« Die erste Szene des Stücks zeigt eine literarische Soiree in einem bemüht bildungsbürgerlichen Milieu, zu der auch Baal eingeladen ist, um sich als Autor zu produzieren und bestaunen zu lassen. Doch Baal zeigt sich an den vorgetragenen Werken nicht sonderlich interessiert, sondern frisst eine Schneise durchs Buffet und säuft sich dabei voll. Er benimmt sich also nach bürgerlichen Maßstäben entschieden daneben, sodass die ganze Szene in einer Rauferei endet, aus der er jedoch als triumphaler Sieger hervorgeht: »Ich will euch zeigen, wer Herr ist!« Doch diese Art von Hunger ist nicht der einzige Hunger, der Baal umtreibt, weil sich sein Hunger auf alles richtet, also auf »das Weib Welt« schlechthin, das er sich buchstäblich einverleiben möchte, weshalb er auch in dem Bild »Gefängniszelle« dem Geistlichen, der ihm ins Gewissen reden will, erklärt: »Mich interessiert alles, soweit ich es fressen kann. Töten ist keine Kunst. Aber auffressen! Aus den Hirnschalen meiner Feinde, in denen ein schmackhaftes Hirn einst listig meinen Untergang bedachte, trinke ich mir Mut zu. Ihre Bäuche fresse ich auf, und mit ihren Därmen bespanne ich meine Klampfe. Mit ihrem Fett schmiere ich meine Schuhe, dass sie beim Freudentanz nicht drücken und nicht knarren bei der Flucht.« (S. 54)

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Auf diese kannibalischen oder auch ›kannibaalischen‹ Bekenntnisse kann der Geistliche nur mit hellem Entsetzen reagieren, weil er in Baal das apokalyptische »Tier aus der Tiefe« zu erkennen glaubt: »Sie lästern Gott. Sie sind ein Tier. Sie sind das Tier. Das Urtier! Ein schmutziges, hungriges Tier, das schön ist und gemein. Eine Plage des Himmels. Aber Sie werden sterben.« (S. 55)

Denn von diesem Tier aus der Tiefe heißt es in der Offenbarung des Johannes: »Und ich trat an den Sand des Meers und sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern Namen der Lästerung.« (Offbg.13,1)

Hätte dieser Geistliche seinen Stirner gekannt, so hätte er sofort gemerkt, dass Baal sich hier nicht in der Rolle des apokalyptischen Drachens gefällt, sondern dass seine Rede das Echo einer zentralen Passage aus Stirners Hauptwerk darstellt, denn dort heißt es: »Wo Mir die Welt in den Weg kommt – und sie kommt Mir überall in den Weg – da verzehre Ich sie, um den Hunger meines Egoismus zu stillen. Du bist für Mich nichts als meine Speise, gleichwie auch Ich von Dir verspeist und verbraucht werde. Wir haben zueinander nur Eine Beziehung, die der Brauchbarkeit, der Nutzbarkeit, des Nutzens. Wir sind einander nichts schuldig, denn was Ich Dir schuldig zu sein scheine, das bin Ich höchstens Mir schuldig. Zeige Ich Dir eine heitere Miene, um Dich gleichfalls zu erheitern, so ist Mir an Deiner Heiterkeit gelegen, und meinem Wunsche dient meine Miene; tausend Anderen, die Ich zu erheitern nicht beabsichtigte, zeige Ich sie nicht.« (EE 331 f.)

Dieses Thema des verzehrenden und letztlich auch sich selbst verzehrenden Hungers 5 zieht sich nun wie ein roter Faden durch Stirners gesamtes Werk und wird auf immer neue Weise durchgespielt. So gibt es z. B. eine Passage, mit der der Stirnerkenner Baal diesen Gefängnis-Geistlichen genau so tief hätte erschrecken und verstören können, denn dort werden zentrale Inhalte des christlichen Dogmas direkt angegriffen, wenn von der Unbefangenheit des menschlichen Begehrens die Rede ist und davon, dass diese Unbefangenheit durch die kirchliche Lehre auf dem christlichen Altar einer neuen, gezielt gezüchteten nazarenischen Befangenheit geopfert werden soll: »Um den Altar aber wölbt sich eine Kirche, und ihre Mauern rücken immer weiter hinaus. Was sie einschließen, ist – heilig. Du kannst nicht mehr dazu

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gelangen, kannst es nicht mehr berühren. Aufschreiend in verzehrendem Hunger schweifst Du um diese Mauern herum, das wenige Profane aufzusuchen, und immer ausgedehnter werden diese Kreise Deines Laufes. Bald umspannt jene Kirche die ganze Erde, und Du bist zum äußersten Rande hinausgetrieben; noch ein Schritt und die Welt des Heiligen hat gesiegt: Du versinkst in den Abgrund. Darum ermanne Dich, dieweil es noch Zeit ist, irre nicht länger umher im abgegrasten Profanen, wage den Sprung und stürze hinein durch die Pforten in das Heiligtum selber. Wenn Du das Heilige verzehrst, hast Du’s zum Eigenen gemacht! Verdaue die Hostie und Du bist sie los!« (EE 106)

So gesehen ist jede Art von Aneignung, also auch jede Art von ›rein geistiger‹ Aneignung ein Verschlingen, Verzehren und Verdauen, denn: »Als Ich aber verschlinge Ich das Meinige wieder, bin Herr desselben, es ist nur meine Meinung, die Ich jeden Augenblick ändern, d. h. vernichten, in Mich zurücknehmen und aufzehren kann.« (EE 382)

All das klingt, wie gesagt, in der Tat auf den ersten Blick reichlich kannibalisch und scheint das uralte Vorurteil zu bestätigen, Stirner sei der Propagandist des krudesten Egoismus, seine Philosophie sei eine wahre Haifischphilosophie, eine Apologie des Faustrechts 6 und des Krieges aller gegen alle. In dieser Weise hatte ja auch der Gefängnisgeistliche auf Baals Bekundungen reagiert, der in Baal das apokalyptische Tier aus der Tiefe zu sehen glaubte. Aber auch Stirners Zeitgenosse Moses Heß zeigte sich in seinem Pamphlet Die letzten Philosophen 7 von Stirners Philosophie ähnlich tief irritiert, in dem er die drei Hegel-Schüler Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer und eben auch Max Stirner vorstellt. Im Zentrum seines Interesses steht dabei ein Vergleich der Egoismus-Varianten von Bruno Bauers Typ des »Einsamen« 8 und Stirners Typ des »Einzigen«: »Man sieht es den beiden letztgenannten Philosophen schon auf den ersten Blick an, dass sie nur die beiden Seiten des auseinander gerissenen Menschen sind. Der »Einsame« und der »Einzige« haben sich gegenseitig, wie Staat und bürgerliche Gesellschaft, zur Voraussetzung, und wir müssen, um den »Einzigen« zu beleuchten, den »Einsamen«, wenn auch nur beiläufig hinzuziehen. Der Religion ist es schon längst von der Philosophie selbst nachgewiesen worden, dass in ihrem Hintergrunde der krasseste Egoismus schlummere. Was ist aber der philosophische Humanismus anders, als krasser Privategoismus? Ist der consequente Philosoph, wie er in Bruno Bauer erscheint, nicht der selbstgenügsame Egoist, der Einsame, der in seinem Selbst-

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Brechts Einziger Baal

bewusstsein selig und allmächtig ist? Hat er nicht die ganze Natur und die ganze Gattung verschlungen, verzehrt, aufgelöst, und verdaut? Kann er nicht so gut, wie der fromme Christ, der sein Abendmahl eingenommen hat, getrost aus der schlechten, verworfenen Welt scheiden? Hat er in der Welt etwas anderes zu thun, als die Welt – verachten 9 zu lernen? – Leset Bruno Bauer! Die Verachtung der Welt der »Masse« ist noch von keinem Kirchenvater und keinem Staatsmanne cynischer ausgesprochen worden, als von ihm, dem letzten Philosophen.« (S. 384 f.)

Denn: »Das [von Stirner dargestellte, L. P.] egoistische Leben ist das mit sich selbst zerfallene, sich selbst verzehrende Leben der Thierwelt. Die Thierwelt ist eben die Naturgeschichte des mit sich zerfallenen, sich selber zerstörenden Lebens überhaupt, und unsere bisherige Geschichte ist nichts als die Geschichte der socialen Thierwelt. Wodurch unterscheidet sich aber die sociale Thierwelt von der Thierwelt im Walde? Durch nichts, als ihr Bewusstsein. Die Geschichte der socialen Thierwelt ist eben die Geschichte des Bewusstseins der Thierwelt, und ist die letzte Spitze der natürlichen Thierwelt das Raubthier, so ist der Höhepunkt der socialen Thierwelt eben das bewusste Raubthier. Die civilisirte Barbarei fängt gerade da an, wo die uncivilisirte Wildheit aufhört.« (S. 387) »Der Egoismus hat keinen Inhalt, sein Inhalt ist ihm entfremdet, und er kann daher nur Anderes »verzehren«, »genießen«, nichts Anderes schaffen. Verzehren kann auch nur der bewusste Egoist. Selbst der Gott-Mensch Christus wird nur »verzehrt«, im Abendmahl »genossen«. Auch der Gattungsmensch, »Geist« der Menschheit, »Wesen« des Menschen, kann vom Egoisten nur erworben, ergriffen, erfasst, begriffen, aufgelöst, verzehrt, verdaut, »genossen« werden.« (S. 387 f.)

Und deshalb kommt Heß zu dem Schluss als »Stirners neue Weisheit«: »Die »Consequenz« des »Einzigen«, rationell ausgedrückt, ist der kategorische Imperativ: Werdet Thiere! Die »Consequenz« des »Einsamen«, rationell ausgedrückt, ist der kategorische Imperativ: Werdet Pflanzen!« (S. 389)

Dieser Vorwurf tierisch-kannibalischer Gesinnung taucht in der zweiten Fassung des Baal sogar explizit und wortwörtlich auf, denn dort hat Brecht als Bild 15 eine neugeschriebene Szene eingebaut, in der Baal und Ekart auf Wanderschaft sind, aber von der schwangeren Sophie Dechant verfolgt werden, die Baal als den Vater ihres Kindes nicht verlieren will, von diesem aber rüde abgewiesen wird, weil er 163 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

III · Selbstverausgabungen und Verklärungen

sich mittlerweile Ekart weitaus inniger verbunden fühlt. Und dann wird die Szene dramatisch: SOPHIE DECHANT Baal, lass mich mitgehen. Ich will sonst nichts von dir. BAAL Nein. Es ist aus. Komm, Ekart! SOPHIE DECHANT Ich bin müd. Könnt ihr nicht noch ein wenig da bleiben … BAAL Es wird Abend. SOPHIE DECHANT Eine Viertelstunde … BAAL Es liegt kein Grund vor. SOPHIE DECHANT Und wo soll ich hingehen? BAAL Zur Bühne. Oder in den Himmel. SOPHIE DECHANT Mit meinem Kind? BAAL Vergrab es! SOPHIE DECHANT Ich wünsche mir, dass du nie mehr daran denken musst, was du mir jetzt sagst unter dem schönen Himmel, der dir gefällt. Meine Stimme ist schwach, sie reicht nicht zu dir. Du bist ganz fremd, der einmal so nahe war. Du gehst fort, der einmal bei mir lag, und ich bin schwer von dir und kann nimmer laufen. EKART Ich will mit dir gehen, wenn du mir sagst, dass du dieses Tier nimmer lieben willst. BAAL Sie liebt mich. SOPHIE DECHANT Ich liebe es.

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Brechts Einziger Baal

EKART Stehst du noch da, Scheusal? Hast du keine Kniee? Muss man dich prügeln, Raubtier, Bestie, verkommenes Tier! Verkommenes Tier! BAAL Schwachkopf! ekart auf ihn los: Tier! Sie ringen. Baal holt mit der Gitarre zum Schlag aus. SOPHIE DECHANT Jesus Christus! Es sind Raubtiere! (S. 121 f.)

Es zeigt sich also, dass Ekart diesem Baal schon genau so verfallen ist wie Sophie Dechant dies lange Zeit war, und gegen Baal in jeder Hinsicht machtlos ist: Beide machen sich auf den Weg und lassen die verzweifelte Sophie allein zurück. Wie man sieht, deutet sich in dieser zweiten Fassung des Baal ein Zug in Baals Verhalten an, den man durchaus als primitiven Egoismus bezeichnen könnte, ein Zug, der, wie wir sehen werden, sich in der dritten Fassung noch einmal massiv verstärken wird. Diese tierisch-kannibalische Deutung von Stirners und Baals verzehrendem Egoismus scheint sich zunächst weiterhin zu bestätigen, wenn wir das Thema »Fressen« noch etwas weiter verfolgen und andere spektakuläre Fresser etwas genauer ins Auge fassen, und hier bietet sich zunächst Erysichthon aus dem achten Buch der Metamorphosen 10 des Ovid an, der aus unersättlicher Geldgier und gegen das ausdrückliche Verbot der Göttin Ceres eine heilige Eiche fällt, worauf diese ihn mit einer unersättlichen Freßgier schlägt und in ihm und um ihn eine immer größer werdende gähnende Leere erzeugt, sodass sich ein unstillbarer Hunger in ihn hineinfrisst: Haucht dem Mann sich ein, weht Hals und Brust und Gesicht an, Und in dem hohlen Geäder verstreut er nüchterne Leere. (V. 819 f.)

Und dann kann er nur fressen und fressen mit allem was er ist und hat und kann und tut: Und er begehrt um so mehr, je mehr in den Bauch er hinabsenkt. (V. 834)

Und als er dann all sein Hab und Gut verfressen und um sich herum eine große Leere erzeugt hat, wendet sich seine Freßgier auch gegen ihn selbst:

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III · Selbstverausgabungen und Verklärungen

Fängt er selbst an, sein Gebein mit verstümmelndem Biß zu benagen, Und nährt unselig den Leib durch des Leibes Verminderung. (V. 877 f.)

An diesen Erysichthon wird man erinnert, wenn man das 13. Bild von Brechts Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny 11 liest, denn dort singt erst der Chor das bekannte Lied vom Fressen, das vor der der Moral kommt, und dass man alles dürfen darf, und dann meldet sich der Vielfraß Jakob Schmidt beim Fressen zu Wort: Jetzt hab ich gegessen zwei Kälber Und jetzt esse ich noch ein Kalb Alles ist nur halb Ich äße mich gerne selber. (S. 44)

Und als er dazu ermuntert wird, weiter drauflos zu fressen wie der unselige Erysichthon und dazu auch ansetzt, fällt er tot 12 um.

3.2.3 Baal verzehrt sich Doch, so muss man wohl fragen dürfen, ist diese Art von Verfressenheit, die sogar vor dem eigenen Fleisch nicht haltmacht, auch Baals Art von Gefräßigkeit? Oder anders gefragt: Ist diese Art des entfremdeten uroborischen Fressens à la Erysichthon oder Jakob Schmidt tatsächlich die Moral, die Baal in der Gefängnisszene vorträgt? Und weiter gefragt: Ist diese Art von Gefräßigkeit, von der Baal hier spricht, überhaupt im Sinne Stirners oder hat er hier Stirners Philosophie nicht grob missverstanden, also genau so missverstanden wie Stirners Zeitgenosse Moses Heß, der Stirners Philosophie auf die gedankenschlichte Formel brachte: »Werdet Thiere!« Sollten wir deshalb nicht besser das Wort »fressen« durch das Wort »verzehren« ersetzen, um damit den Bedeutungsspielraum so zu erweitern, dass er Stirners Argumentation eher gerecht wird, also ganz so, wie Wagners Siegfried es formuliert, wenn er bei seinem Auftritt an Gunters Hof sich mit den Worten vorstellt: »Einzig erbt ich den eignen Leib, lebend zehr ich den auf.« Stirner selbst spricht ja an der Stelle, deren Echo Baal in seiner Gegenpredigt dem Gefängnisgeistlichen vorträgt, davon, dass er die Welt »verzehren« möchte, um den Hunger seiner Meineigenheit zu stillen, betont aber durch sein ganzes Werk hindurch, dass dieses Ver166 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Brechts Einziger Baal

zehren von Welt immer zugleich auch ein Selbstverzehren ist. Und deshalb heißt es im letzten Satz seines Hauptwerks, mit dem er die Bilanz seines Denkansatzes zieht, vom Einzigen, er sei zwar der sterbliche Schöpfer seiner selbst, aber gerade deshalb auch als dieser Eigner jemand, »der sich selbst verzehrt.« (S. 412) Wir tun also gut daran, hier die Formel ›consumendo consumor‹ so ernst zu nehmen, wie sie dies auch verdient, um dieses Phänomen des uroborischen Selbstverzehrs angemessen zu verstehen, und sollten uns deshalb, um diese Formel auf den Begriff zu bringen, nicht ein kannibalisches Szenario vorstellen, sondern z. B. eine Kerze, die sich, während sie brennt und Licht verströmt, selbst verzehrt, also sich so lange aufbraucht, bis nichts mehr von ihr übrig ist. Man kann sich natürlich auch die sterbenden Bäume 13 vorstellen, die in Brechts frühen Gedichten immer wieder auftreten und möglicherweise durch das schon mal zitierte Gedicht Nietzsches Ecce homo angeregt worden sind, in dem sich das lyrische Ich als eine Flamme darstellt, die sich unersättlich selbst verzehrt: Ecce homo Ja ich weiß, woher ich stamme! Ungesättigt gleich der Flamme Glühe und verzehr ich mich. Licht wird alles, was ich fasse, Asche alles, was ich lasse: Flamme bin ich sicherlich. (II,32)

Diese inflammatio-Metapher verwendet übrigens auch Stirner selbst, der in den ersten Sätzen des Kapitels Mein Selbstgenuss wieder einmal davor warnt, sich von dem Prinzip Hoffnung verführen zu lassen und dagegen den Genuss des je aktuellen Augenblicks propagiert, indem er schreibt: »Wer nur besorgt ist, dass er lebe, vergißt über diese Ängstlichkeit leicht den Genuss des Lebens. Ist’s ihm nur ums Leben zu tun und denkt er, wenn Ich nur das liebe Leben habe, so verwendet er nicht seine volle Kraft darauf, das Leben zu nutzen, d. h. zu genießen. Wie aber nutzt man das Leben? Indem man’s verbraucht, gleich dem Lichte, das man nutzt, indem man’s verbrennt. Man nutzt das Leben und mithin sich, den Lebendigen, indem man es und sich [selbst, L. P.] verzehrt. Lebensgenuss ist Verbrauch des Lebens.« (EE 358 f.)

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An einer anderen Stelle heißt es ganz analog: »Ich Meinesteils gehe von der Voraussetzung aus, indem Ich Mich voraussetze; aber meine Voraussetzung ringt nicht nach ihrer Vollendung, wie der ›nach einer Vollendung ringende Mensch‹, sondern dient Mir nur dazu, sie zu genießen und zu verzehren. Ich zehre gerade an meiner Voraussetzung allein und bin nur, indem Ich sie verzehre. Darum aber ist jene Voraussetzung gar keine; denn da Ich der Einzige bin, so weiß ich nichts von der Zweiheit eines vorauszusetzenden und vorausgesetzten Ich’s (…), sondern, dass Ich Mich verzehre, heißt nur, dass Ich bin.« (EE 167)

Und an einer dritten Stelle, der philosophisch anspruchsvollsten, wird dieser uroborisch-transitorische Impuls frontal gegen Fichtes IchPhilosophie der Wissen-schaftslehre ausgespielt, denn Stirner betont hier: »Wenn Fichte sagt: ›Das Ich ist Alles‹, so scheint dies mit meinen Aufstellungen vollkommen zu harmonieren. Allein nicht das Ich ist Alles, sondern das Ich zerstört Alles, und nur das sich selbst auflösende Ich, das nie seiende Ich, das – endliche Ich ist wirklich Ich. Fichte spricht vom ›absoluten‹ Ich 14, Ich aber spreche von Mir, dem vergänglichen Ich.« 15

Dieses vergängliche, an die jeweils aktuelle Situation gebundene Augenblicks-Ich Stirners, das zugleich mit der sich verflüchtigenden Situation selbst auch vergeht, indem es sich verzehrt, ist zugleich auch ein sich selbst verausgabendes Ich, weshalb Baal in dem Streitgespräch mit dem Gefängnisgeistlichen denn auch bekennen muss, er habe sich als Künstler, der er ist, zeit seines Lebens nach Reinheit und Schönheit verzehrt und sich zugleich damit als Künstler im künstlerischen Schaffen verzehren und verausgaben müssen, worauf der Geistliche ihn daran erinnert, dass er eben auch mal sterben müsse, wie jeder andere normale Mensch auch. Und dann entwickelt sich folgender Dialog: BAAL Sterben? Ich lasse mich nicht überreden. Ich wehre mich bis aufs Messer. Ich will noch ohne Haut leben. Ich ziehe mich in die Zehen zurück. Ich falle wie ein Stier. Es muss noch Genuss sein im Sichkrümmen. Ich glaube an kein Fortleben und bin aufs Hiesige angewiesen. DER GEISTLICHE Sie treiben Notzucht am Leben. Sie werden das einmal teuer bezahlen.

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BAAL Ich habe es bezahlt. Teurer als ihr alle. Darum will ich es haben. Es ist nur ein Rest. Wer hat mehr gelitten als ich um ein bißchen Freude. Ich habe immer aus Eigenem drauf gezahlt, bekam nie etwas geschenkt. Ich bin im Dreck gelegen vor der Reinheit, und für die Schönheit habe ich mich zum Krüppel schlagen lassen müssen. Sie haben mich so lange geprügelt, dass ich jetzt eine Hornhaut habe, hinter der ich ab und zu sogar wieder zartfühlend sein kann. (S. 55)

Die Einstellung, die sich in diesen Sätzen bekundet, ist wieder die Einstellung hinhaltender Hingabe an das »große Weib Welt«, die das »baalische Lebensgefühl« generell prägt und damit zugleich auch die Einstellung ist, durch die man dieses Sichverzehren und Sichverzehrenlassen überhaupt so bereitwillig auf sich nehmen kann. Im Choral vom grossen Baal wird diese hinhaltende Hingabe explizit beschrieben: Torkelt über den Planeten Baal Bleibt ein Tier vom Himmel überdacht Blauem Himmel. Über seinem Bett war Stahl Wo das große Weib Welt mit ihm wacht. Und das große Weib Welt, das sich lachend gibt Dem, der sich zermalmen lässt von ihren Knien Gab ihm rasende Ekstase, die er liebt, aber Baal starb nicht – er sah nur hin. Und wenn Baal nur Leichen um sich sah War die Wollust immer doppelt groß. Man hat Platz, sagt Baal, es sind nicht viele da, Man hat Platz, sagt Baal, in dieses Weibes Schoß. (S. 58)

3.2.4 »Baal tanzt« Da Brecht seinem Stück über den großen Baal zuerst den Titel Baal frisst! Baal tanzt!! Baal verklärt sich!!! geben wollte, sollte man eigentlich annehmen, dass sein Baal in ebenso vielen Szenen tanzt wie er in anderen Szenen frisst. Doch dies ist durchaus nicht der Fall, denn in der ersten Fassung gibt es nur ein einziges Bild, das Bild Bauernschenke (S. 63 ff.), in dem Baal in seiner göttlichen Besoffenheit etwas zu wild mit einem Mädchen tanzt, sich dabei aber völlig verausgabt; und dann überkommt ihn das heulende Elend. Im Bild Diele am Abend mit offenen Fenstern der zweiten 169 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Fassung (S. 137 ff.) tanzt Baal erst allein, greift sich dann aber ein Mädchen aus dem Kreis der anderen tanzenden Paare und wird deshalb von den empörten Bauernburschen vom Tanzboden verjagt. Dass Brecht trotz dieser wenigen Tanzszenen seinen Baal gleichwohl als eine Gestalt gesehen haben wollte, die nicht nur frisst und sich verklärt, sondern auch tanzt, könnte darin begründet sein, dass sich auch im Tanzen das vielberedete »baalische Lebensgefühl«, also die Einstellung hinhaltender Hingabe offenbart, also die Hingabe an die Tanzmusik, an den Tanz selbst und an den Tanzpartner, was dann auch bis zur völligen, typisch baalischen Selbstverausgabung ausgekostet werden kann, denn in den Regieanweisungen heißt es ja ausdrücklich, dass Baal hier »wild« (S. 65) und ekstatisch tanzt. Möglicherweise spielen aber auch noch gewisse biblische Reminiszenzen mit hinein, weil in der Bibel immer wieder beschrieben wird, wie die Baalspriester zu Ehren ihres Gottes bis zur Selbstverausgabung ekstatische Tänze 16 aufführen. Und schließlich darf man hier auch auf das schon einmal zitierte Gedicht Philosophisches Tanzlied erinnern, das gleichzeitig mit der ersten Fassung des Baal entstanden ist und sich anhört, als ob es vom tanzenden Baal gesungen würde, und deshalb zitiere ich es hier noch einmal: Philosophisches Tanzlied Wer nie sein Leben verachten darf Der ist vom Tod betört Wer nie sein Leben aufschnaufend wegwarf Dem hat es nie gehört. Wenn Gott Geduld, Geschick und Gefrett Und keinen Mut dazu gab: Dem wird als erstes Ruhebett Ein unerwünschtes Grab. Dem, der die eigene Last nie gehasst Nie sie fluchend zu Boden warf Erlaubt Gott gnädig, dass er die Last Auch der Faulen noch tragen darf. Wer immer seinen Schuh gespart Dem ward er nie zerfranst Und wer nie müd noch traurig war Der hat auch nie getanzt.

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Und wenn aus Altersschwäche sogar In Staub zerfällt dein Schuh: Der ganz wie du nur für Fußtritte war War glücklicher doch noch als du! Wir tanzten nie mit mehr Grazie Als über die Gräber noch: Gott pfeift die schönste Melodie Stets auf dem letzten Loch. (S. 488 f.)

Den gleichen Geist atmet auch das andere Gedicht Tanzlied, das ebenfalls gleichzeitig mit der zweiten Fassung des Baal entstanden ist, und das sich ebenfalls so anhört, als habe es Baal beim Tanzen erfunden und würde es beim Tanzen singen, denn auch dieses Gedicht feiert die Wonnen der baalischen Selbstverausgabung und das Glück des Augenblicks im Selbstgenuss hier-und-jetzt-und-gleich: Tanz, o tanz – nicht lange mehr Hebst du die federnden Glieder zum Tanz. Einst sind die Füße dir allzu schwer Aus schütterm Haar fällt dir ein welker Kranz. Tanz! Tanz! Die Brust soll dir springen! Der Boden soll dir die Füße brennen! Keiner weiß, wie lang ihm die Geigen klingen Und wie lang die müden Geiger können. Tanz, o tanz – auch die Nacht vergeht. Noch strahlen die trunkenen Augen dir im Tanz Wenn bleiches Frühlicht ins Fenster weht Fällt dir aus todmüden Augen aller Glanz. Tanz! Tanz! Ins Licht sollst du starren! Dir sollen vor lauter Lichtern die Augen erblinden! Keiner weiß, wann sie ihn ins Dunkel scharren Es soll der Tod mir schlaffe Hände binden. Tanz, o tanz – noch glühn die Ampeln rot Noch schlägt dein junges Herz an meinem Herzen. Oh, vor der Schwelle hockt der graue Tod Und in der Türe stehn die Brüder Schmerzen. Keiner darf zuviel tanzen und küssen. Keiner darf sparen, keiner aufheben – Keiner kann wissen, wann wir sterben müssen Keiner weiß, wann wir gestorben sind vor unserm Leben. (S. 508 f.)

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3.2.5 »Baal verklärt sich« Schon in Hanns Johsts Stück finden sich, wie wir gesehen haben, deutliche Bezüge zur biblischen Passionsgeschichte 17, sodass es nahelag, es auch mit Tod und Verklärung des Helden enden zu lassen. Man kann sogar so weit gehen, in jeder aktuellen Aufführung dieses Stückes eine Wiederauferstehung Grabbes zu sehen, und so könnte Johst es sogar selbst auch gemeint haben. Orientiert hat sich Johst dabei am Schluss von Kleists Stück über den Prinzen von Homburg, der im Glauben, vor das Standgericht geführt, dort verurteilt und dann auch hingerichtet zu werden, seine Verklärung vorwegnimmt und als Himmelfahrt auf der göttlichen Wolke Schechina 18 mit den berühmten Versen beschreibt: Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein! Du strahlst mir, durch die Binde meiner Augen, Mit Glanz der tausendfachen Sonne zu! Es wachsen Flügel mir an beiden Schultern, Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist; Und wie ein Schiff, vom Hauch des Winds entführt, Die muntre Hafenstadt versinken sieht, So geht mir dämmernd alles Leben unter: Jetzt unterscheid ich Farben noch und Formen, Und jetzt liegt Nebel alles unter mir. (I,707)

Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen, dass man Brechts Baal auch als bewusst blasphemische Kontrafaktur zur biblischen Passionsgeschichte bzw. zu Bachs Matthäus-Passion lesen kann und dass dies von Brecht selbst wohl auch so gemeint gewesen sei. Das aber heißt, dass man in Baal dann auch den eingeborenen Sohn des biblischen Gegengottes Baal zu sehen hätte, den dieser am Ende genauso verklärt wie schon der biblische Gott seinen eingeborenen Sohn Jesus verklärt hatte. Dargestellt ist diese Verklärungs-Szene bei allen drei Synoptikern in einem fast identischen Wortlaut 19, und ihren Ort in der Passionsgeschichte Jesu hat diese vorläufige Verklärung unmittelbar nach der Szene 20, in der Petrus Jesus ausdrücklich und in aller Bestimmtheit als den Messias bezeichnet, sodass sich die VerklärungsSzene wie eine explizite göttliche Bestätigung dessen liest, was Petrus gerade behauptet hatte. Und dann treten Jesus und seine Jünger den Weg nach Jerusalem an, wo dann die eigentliche Passionsgeschichte stattfinden wird, die mit dem Leiden und Sterben, Tod und Auferste172 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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hung und der endgültigen Verklärung Jesu enden wird. So gesehen ist diese vorläufige Verklärung auf dem Berg Hermon gleichsam der Prolog 21 zur eigentlichen Passionsgeschichte. Bei Markus, also der ältesten Fassung der Verklärungs-Szene, die den beiden anderen Evangelisten als Vorlage gedient hat, vollzieht sich die Verklärung Jesu auf folgende Weise: »Und nach sechs Tagen nahm Jesus zu sich Petrus, Jakobus und Johannes und führte sie auf einen hohen Berg besonders allein und verklärte sich vor ihnen. Und seine Kleider wurden hell und sehr weiß wie der Schnee, dass sie kein Färber auf Erden kann so weiß machen. Und es erschien ihnen Elia und Mose und hatten eine Rede mit Jesu. Und Petrus antwortete und sprach zu Jesus: Rabbi, hier ist gut sein. Lasset uns drei Hütten machen: dir eine, Mose eine und Elia eine. Er wusste aber nicht, was er redete, denn sie waren bestürzt. Und es kam eine Wolke, die überschattete sie. Und eine Stimme fiel aus der Wolke und sprach: Das ist mein lieber Sohn, auf den sollt ihr hören! Und bald darnach sahen sie um sich und sahen niemand mehr denn allein Jesum bei ihnen. Da sie vom Berge herabgingen, verbot ihnen Jesus, dass sie niemand sagen sollten, was sie gesehen hatten, bis der Menschensohn auferstünde von den Toten.« (Markus 9,2–9)

Aus dieser Beschreibung, übrigens der einzigen Verklärungs-Szene in der Bibel, geht hervor, • • • • • •

dass sich bei einer Verklärung eine überwältigende göttliche Macht von oben offenbart; dass eine Verklärung deshalb keine selbstherrliche Eigenleistung des Betroffenen ist, sondern dessen Widerfahrnis; dass es mehrere Auserwählte geben kann, denen eine derartige Gnade widerfährt; dass dieses Widerfahrnis als Handlung eines Gottes zu verstehen ist; dass dieser Gott als bannende Atmosphäre 22 auftritt, also in der Gestalt der göttlichen Wolke Schechina; dass der Verklärte eine akute Verwandlung ins Lichte, Helle, Leichte erfährt, also gleichsam von einer inneren Lichtquelle erleuchtet wird;

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dass dem Verklärten explizit eine besondere Beziehung zu seinem Gott attestiert wird, wodurch er zugleich auch mit einem besonderen Charisma ausgestattet ist; • und dass eine Verklärung als Einbruch des Plötzlichen bei den Zeugen dieser Verklärung einen tiefen Schrecken und eine nachhaltige Verstörung, eben den Gottesschrecken, hervorruft. Damit hätten wir einige Kriterien bestimmt, die uns helfen können, nachzuprüfen, in welcher Art und Weise sich Baals Verklärung vollzieht und worin das Besondere seiner Verklärung besteht, insbesondere unter dem Aspekt, dass Brechts Baal als blasphemische Kontrafaktur zur biblischen Passionsgeschichte konzipiert war, denn so gesehen müsste auch Baals Verklärung ein Werk seines Gottes Baal sein, der sich in dieser Szene dann auch auf seine ganz eigene Weise offenbart. Außerdem müsste auch Baal selbst sich in irgendeiner Weise ins Lichte, Helle Leichte verwandeln, die Zeugen dieser Verklärung müssten ebenfalls von einer spezifischen Art von Gottesschrecken erfasst werden, und schließlich müsste diese Verklärung als vorläufige Verklärung auch Baals endgültige Verklärung in Tod und Auferstehung vorwegnehmen. Nun haben wir schon öfter gesehen, dass der junge Brecht ein ganz besonders inniges Verhältnis zu Bäumen hatte, was sich nicht nur daran zeigt, dass er Vom Klettern in Bäumen als einer Möglichkeit zum Erlebnis hinhaltender Hingabe wahre Hymnen zu singen weiß und das entsprechende Gedicht mit den Versen enden lässt: •

Es ist ganz schön, sich wiegen auf dem Baum! Doch sollt ihr euch nicht wiegen mit den Knien! Ihr sollt dem Baum so wie ein Wipfel sein: Seit hundert Jahren abends: Er wiegt ihn! (S. 71)

Er hätte wohl auch schreiben können: »Er wiegt ihn, wie einen ein Weib wiegt, und es stimmt.« Außerdem haben wir gesehen, dass schon der ganz junge Brecht in seiner Schülerzeitschrift ein Gedicht veröffentlicht hat, in dem er die Passionsgeschichte eines brennenden Baumes (S. 435) darstellt. Und eine weitere, noch ausführlichere und noch qualvollere Passionsgeschichte eines Baumes schildert er in dem Lied vom Geierbaum, in dem sich ein Baum lange Zeit vergeblich gegen eine Schar von Geiern wehrt, die gnadenlos auf ihn einhacken und ihn schließlich zur Strecke bringen. Dieses lange Gedicht endet mit den Versen: 174 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Von der Mitternacht nur bis zum Hahnenschrei Hocken die schlummernden Geier mit schauernden Flügeln Und manchmal mit heiserem Schrei Kummervoll auf dem stöhnenden Baum. Verstumpft sind die Krallen; die Schwingen verdorben Und sie träumen vom Baum, dass er unsterblich sei. – Wenn sie im Frührot mit schmerzendem Schweben Schläfrig in den dämmernden Frühlingsmorgen sich heben Füllen mit ihren ehernen Klingen die müden Flügel den Raum Und sie schauen von oben wie Spuk und gespenstigen Traum: Unten den Baum Und der Baum ist gestorben. (S. 471)

Diese heidnisch anmutende innige Verbundenheit mit Bäumen zeigt auch Brechts Baal, der im 9. Bild der ersten Fassung Strasse vor einer niederen Schänke sich darüber erregt, dass man zum Schmuck der Häuser für eine Fronleichnams-Prozession junge Birken gefällt hat, weshalb er hochofenhaft zornlodernd lostobt: »Wer hat die Bäume hier ausgeschnitten und aufgestellt? Wer war dieser bestialische Schweinehund, der Bäume schändet?« (S. 39)

Und als man ihm entgegenhält, das sei eben bei Fronleichnam so der Brauch, tobt er weiter: »Junge Bäume abschlagen! Dieser schamlosen Reklameplapperei wegen, welch eine viehische Roheit!« (S. 39)

Dass bei Fronleichnam allerlei Baumschmuck verwendet wird, geht darauf zurück, dass dies schon beim Einzug Jesu in Jerusalem so gehandhabt worden sei, denn dort heißt es in den Evangelien: »Die Jünger (…) brachten die Eselin und ein Füllen und legten ihre Kleider darauf und setzten ihn darauf. Aber viel Volks breitete die Kleider auf den Weg: die anderen hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Das Volk aber, das vorging und nachfolgte, schrie und sprach: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!« (Matth. 21,6 ff.)

Vor diesem religionsgeschichtlichen Hintergrund ist für Baal der christlich-fromme Baumschmuck nichts als ein schlimmer Baumfrevel à la Erysichthon, ja geradezu ein Sakrileg gemäß der Wertewelt des Gottes Baal, dessen Botschaft Baal als der eingeborene Sohn, Glaubenszeuge und Messias dieses Gottes Baal hier verkündet. 175 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Dieser christliche Baumfrevel wird nun von Brecht in seiner blasphemischen Gegenpassion in der Form gekontert, dass sich Baal im Augenblick seines Todes in einen Baum verwandelt und in dieser Gestalt dann verklärt wird. Derlei Verklärungen als Verwandlung in einen Baum kannte Brecht aus den Meta-morphosen des Ovid zur Genüge, wo z. B. im achten Buch die Geschichte von Philemon und Baucis berichtet wird, die den Göttervater Zeus ohne ihn zu erkennen so treusorgend beherbergten, dass dieser ihnen einen Wunsch gewährte, und als sie wünschen, dass sie, wenn es denn mal so weit sei zu sterben, gleichzeitig sterben dürften, damit keiner von beiden um den andern trauen müsse, wird ihnen dieser Wunsch auch gewährt und sie verwandeln sich im Augenblick ihres Todes in zwei Bäume: Da, gelöset von Jahren und Alter, Einst vor den heiligen Stufen das Paar stand und von der Gegend Loose zu sprechen begann, sah Baucis mit Laub den Philemon, Sah der greise Philemon mit Laub aussprossen die Baucis. Bis schon über das kalte Gesicht der Wipfel emporwuchs, Wechselten, weil es vergönnt, sie Gespräch’: Leb wohl, o du Gatte, Sprachen sie beide zugleich, und zugleich umhüllte das Antlitz Beider Gebüsch. 23

In den Evangelien erfährt, wie wir gesehen haben, Jesus auf dem Berg Hermon eine vorläufige Verklärung und tritt dann den Weg zur eigentlichen Passion in Jerusalem an, die dann mit der endgültigen Verklärung in Form von Tod und Auferstehung vollendet wird. Dieser heilsgeschichtlichen Dramaturgie folgt nun auch Brecht in seiner blasphemischen Kontrafaktur Baal, indem er Baals Tod und Verklärung in Bild 21 der ersten (S. 63 ff.) und Bild 22 der zweiten Fassung (S. 135 ff.) in einem Gedicht vorwegnimmt, das Brecht unter dem Titel Vom Tod im Wald (S. 82) mit einigen kleinen Veränderungen später in die Hauspostille aufgenommen hat. Im Stück ist es ein Gedicht, das Baal eben geschrieben hat und sofort seinem Freund Ekart vortragen möchte, worauf dieser antwortet: »Lies es, dann kenne ich dich.« (S. 63/S. 135) Im Stück heißt dieses Gedicht Der Tod im Wald Und ein Mann starb im ewigen Wald, wo ihn Sturm und Strom umbrauste. Starb wie ein Tier im Wurzelwerk verkrallt, Starrte hoch in die Wipfel, wo über dem Wald Sturm seit Tagen über alles sauste.

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Und es standen einige um ihn und sie sagten, dass er stille werde: Komm, wir tragen dich nach Hause, Gefährte! Aber er stieß sie mit seinen Knieen spuckte aus und sagte: Und wohin? Denn er hatte weder Kind noch Erde. »Morsch sind dir die Zähne im Maul. Willst du in ewiger Heide lungern? Morsch sind Kleider, Hirn und Knochen, leer der Sack und tot der Gaul. Stirb ein wenig – du bist schon faul. Warum willst du immer hungern?« Und der Wald war laut um ihn und sie. Und sie sahn wie er zum Himmel schrie. Und sie sahn ihn sich am Baume halten. Und es grauste ihnen so wie nie, dass sie zitternd ihre Fäuste ballten. Denn es war ein Mann wie sie. »Unnütz bist du, räudig, toll, du Tier. Eiter bist du, Dreck du, Lumpenhaufen! Luft schnappst du uns weg und nur aus Gier.« Sagten sie. Und er, er, das Geschwür: »Leben will ich! Eure Sonne schnaufen! Und im Lichte reiten so wie ihr!« Das war etwas was kein Freund verstand dass sie, zitternd vor dem Ekel, schwiegen. Ihm hielt Erde seine nackte Hand Und von Meer zu Meer im Wind liegt Land »und ich muss hier unten stille liegen.« Ja des armen Lebens Übermaß hielt ihn so, dass er auch noch sein Aas seinen Leichnam in die Erde preßte: In der frühen Dämmerung fiel er tot ins dunkle Gras. Voll von Ekel gruben sie ihn, voll von Hass in des Baumes dunkelstes Geäste. Und sie ritten stumm aus dem Dickicht. Spähten um noch einmal aus der Weite Fanden auch den Grabbaum drüben und sie wunderten sich beide.

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Der Baum war oben voll Licht. Und sie bekreuzten ihr junges Gesicht und sie ritten in Sonne und Heide. (S. 135 ff.)

An die Stelle einer von oben herabschwebenden Aura, die die Verklärung des Sterbenden bewirkt, ist hier also eine von unten tief aus der Erde emporwachsende Aura getreten, die den in die Wurzeln eines Baumes hineingewachsenen Toten hoch bis zu dessen Krone trägt, wo er dann seine Verklärung erfährt Diese direkte Umpolung der Hauptvollzugsrichtung des Geschehens erklärt sich wohl daraus, dass der biblische Gegengott Baal, der diese »Verklärung von unten« bewirkt, ein Gott der animalischen Kreatürlichkeit ist, der deshalb auch nicht in irgendeinem Haifischhimmel wohnt, sondern tief unten im Herz der Erde und von dort aus wirkt. Der Tod seines Jüngers Baal in einer Blockhütte im Wald unter Holzfällern vollzieht sich denn auch genauso, wie er dies in seinem Gedicht vorweggenommen hat. In deutlicher Anspielung auf die biblische Szene im Garten Gethsemane, wo Jesus seine Jünger bittet, doch noch etwas länger bei ihm zu bleiben, um ihm in seiner Todesangst 24 beizustehen, bittet auch der sterbenskranke Baal die Holzfäller, ihn im Sterben nicht allein zu lassen, wird aber von ihnen verhöhnt, verlacht und angespuckt, woraufhin er die Hütte verlässt, in den Wald hinauskriecht, seinen Gott Baal anruft, um dann wie im Gedicht in den Wurzeln eines Baumes zu sterben und in diesem Baum dann auch durch seinen Gott Baal verklärt zu werden. Baals Sterbe-Monolog lautet: »Lieber Gott. Fort. Stöhnt. Es ist nicht so einfach. Das ist bei Gott nicht so einfach. Wenn ich nur. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Hilft nicht. L i e b e r Gott. Lieber Gott. Fiebert. Mama. Ekart soll weg gehen. Oh, Marie! Der Himmel ist so verflucht nah da. Zum Greifen. Mein Herz hüpft fort. Eins. Zwei. Drei. Vier. Wimmert, plötzlich laut. Ich kann nicht. Ich will nicht. Man erstickt hier. Ganz klar. Es muss draußen hell sein. Ich will. Mühsam sich hebend. Baal 25, ich werde hinausgehen. Scharf. Ich b i n keine Ratte. Er taumelt vom Bett und fällt. Teufel! Lieber Gott! Bis zur Tür! Er kriecht auf den Händen zur Schwelle. Sterne … Hm. Er kriecht hinaus.« (S. 75/S. 148)

Und mit dieser Verklärung ›von unten‹ ist Baals Passionsgeschichte als die Geschichte von Baals Selbstverausgabung denn auch vollendet.

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Dass Brecht wie vor ihm schon Johst diese Analogien seines Helden zur biblischen Passionsgeschichte gezielt gestaltet hat, hängt natürlich auch damit zusammen, dass er seine Prägung durch die machtvolle Sprache der Luther-Bibel nie loswerden konnte. Wie tief diese Prägung war, zeigt eine Notiz im Tagebuch unter dem 4. September 1920, in der er über die tiefe Wirkung nachdenkt, die das Passionsstück der Gebrüder Adolf und Georg Faßnacht auf ihn ausgeübt hat, weil diese Wirkung offenbar mit der der Matthäus-Passion durchaus vergleichbar gewesen sein muss: »Abends in der »Großen deutschen Passion« der Brüder Faßnacht. Elender Text, geschmacklose Aufmachung. Aber gewisse Bibelworte nicht totzukriegen. Sie gehen durch und durch. Man sitzt unter Schauern, die einem, unter der Haut, den Rücken lang herunterstreichen, wie bei der Liebe.«

Doch dann macht er sich wieder frei von diesen Erinnerungen an seine christliche Vergangenheit und stellt sofort dramaturgische Überlegungen darüber an, wie man einen solchen Stoff dramatisch behandeln müsse: »Im übrigen wäre die Jesusgestalt zu zeichnen durch Eindrücklichkeit und Lässigkeit. Ein Mensch für die Menschen, für jetzt, für den Platz, wo er ist, schnauft, redet, leidet. Das Ganze ist lyrisch, ungeeignet fürs Drama, weil unlogisch, ja alogisch, eine reine Zerstörung des Folgebegriffs. Es sind mystische Visionen, ein guter Mensch unter einem Feigenbaum, das Herz auf der Zunge, ein lebender Eindruck, ein ganz nabelloser Mensch, ein gelungenes Geschöpf, zwecklos, ohne Benötigung irgendeiner Rückensteifung (Pflichterfüllung oder so). Ein unverletzbarer Mensch, weil widerstandslos. Ganz lavierend, biegsam, wolkengleich, voll von Sternenhimmeln, mildem Regen, Weisheiten, Fröhlichkeit, Vertrauen, Möglichkeiten. Der gute Mensch in einem. Er kann nicht gestaltet werden im Drama: Er bietet keinen Widerstand. Er bietet keinem Ding ein eigenes Gesicht – es wäre ein Affront, ein Aufsichbeharren, ein Hochmut, ein Eingriff in den andern.« (I,153 f.)

Ein solches Stück hat Brecht jedoch gleichwohl geschrieben, denn der Held seines Fragment gebliebenen Stückes Hans im Glück 26, das 1919 gleichzeitig mit der zweiten Fassung des Baal entstand, ist genau dieser Typ des »guten Menschen«, der als Gegentyp zu Baal entworfen zu sein scheint, und von dem man den Eindruck hat, als sei Baals Jünger Johannes in diesem Hans wiedererstanden und präsentiere in seiner altruistischen Grundeinstellung den genauen Gegen179 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

III · Selbstverausgabungen und Verklärungen

entwurf zu Baals Egoismus. Folgt Baal der Stirnerschen Maxime »Verwerte dich selbst und dein Eigentum!«, so folgt dieser rundum wehrlose Hans der Maxime »Gib alles hin, dich selbst und dein Eigentum!« (Wir werden in Kapitel 9.5.2 auf dieses Stück nochmal eingehen.)

3.3 Bilanz und Ausblick Wie wir gesehen haben, hat der junge Brecht Stirners Lehre vom Einzigen als Eigner seiner selbst offenbar genau verstanden und adäquat in den ersten beiden Fassungen seines Baal dramaturgisch umgesetzt, sodass sein Held Baal als ein solcher Eigner die ganze Egoismus-Palette von Selbstbehauptung, Selbstbesitz, Selbstverwertung und Selbstgenuss ausagieren kann, dabei aber auch ein entsprechendes Maß an Selbstverausgabung und Selbstverzehr erfährt und schließlich verklärt werden kann. Das Eigentum, das dieser Einzige als Eigner seiner selbst behauptet, besitzt, verwertet und genießt, aber auch verausgabt, ist all das, was ihm nicht nur niemand nehmen, sondern das er auch an niemanden abtreten kann, also seine eigene Leiblichkeit, seine Erlebnisse, seine Gefühle und vor allem auch seine poetische Begabung, mit einem Wort: die Gesamtheit der subjektiven Tatsachen seiner Existenz. Das Eigentum dieses Eigners darf also nicht als Besitz im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches verstanden und dadurch missverstanden werden, oder gar als Eigentum an bestimmten Produktionsmitteln im Sinne des Marxismus, die auch jeder andere zeitweilig besitzen könnte oder die man durch einen Akt der Enteignung an neue Besitzer transferieren könnte, weil diese Art von Besitz oder Eigentum eben nur eine objektive Tatsache wäre. Und der sehr spezielle Egoismus dieses Eigners seiner selbst ist ein Egoismus, der sich durch die Art, wie er gelebt und ausagiert wird, aber auch selbst verzehrt, ganz so, wie Stirner dies im letzten Satz seines Hauptwerks vom Einzigen als dem »sterblichen Schöpfer seiner selbst« sagt, oder so wie Wagners Siegfried bei seinem Auftritt am Hof Gunters diesen Satz als Echo wiederholt oder Baal in der Gefängnisszene. Der Egoismus all dieser Eigner besteht also im Bestreben, von niemand anderem verbraucht, verwertet, verwurstet, verwaltet, verführt, vertreten oder gar verletzt, verzehrt oder vernichtet zu werden. 180 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Bilanz und Ausblick

Für Peter Sloterdijk ist dieses Ethos des Einzigen im Sinne Stirners das Ergebnis einer »konsequenten Gespensteraustreibung« 1, durch die der Egoist gleichsam seine eigene Erziehung rückgängig 2 machen muss. Und das Ergebnis dieser rabiaten Gegenpädagogik 3 lautet dann: »Der Einzige geht aus der Arbeit an seiner Selbst-Vereinzigung hervor: Die geschieht im Modus der vollständigen Evakuierung des Ich von idealistischsozialen Okkupationen. Die Räumung – die primordiale Dekonstruktion – setzt sich so lange fort, bis zu guter Letzt die furchtlos unverschämte Tautologie erreicht ist, die ihre »Sache« in jeder Hinsicht auf nichts stellt. Ich bin Ich und somit reales freies Nichts von dem Moment an, in dem ich die Übergriffe des Etwas und es Anderen auf mich erfolgreich zurückgeschlagen habe – ob diese Größen nun die »Gesellschaft«, die Klasse, das Allgemeine, das Gute, das Gewissen, das Ideale, das Familiale heißen.« 4

Allerdings haben wir gesehen, dass in der zweiten Fassung des Baal sich eine Szene findet, in der Baal eine Form von zynischem Egoismus an den Tag legt, die die Kritik von Moses Heß an Stirners Philosophie, sie laufe auf die Maxime »Werdet Thiere!« hinaus, zu bestätigen scheint, denn genau zu diesem Ergebnis kommt dort auch Sophie Dechant, die von Baal so überaus rüde behandelt wird, dass selbst Ekart dagegen protestiert. Und deshalb werden wir zu prüfen haben, wie sich Baals Egoismus in den späteren Fassungen des Stücks entwickeln wird, in welchen Verhaltensweisen sich dies manifestieren wird, wodurch es bedingt sein wird und auf welche Einstellungen sich dies jeweils gründen wird. Doch so weit sind wir im Gang unserer Untersuchungen noch nicht. Wir müssen erst noch auf ein weiteres frühes Werk Brechts eingehen, das genau wie Baal entscheidend von Stirners Philosophie geprägt ist, denn auch hier kulminiert das dramatische Geschehen in einem Akt entschlossener Selbst-Vereinzigung und in einer Absage an die verführerischen, aber letztlich doch zu aufdringlichen Zumutungen der Anderen. Ich meine damit die Komödie Trommeln in der Nacht, die Brecht 1919 in Augsburg zwischen der ersten und zweiten Fassung des Baal und gleichzeitig mit dem Gesang des Soldaten der Roten Armee geschrieben hat, und dessen Held Andreas Kragler sich genau wie Baal als Eigner seiner selbst versteht und sich deshalb ebenfalls strikt weigert, sich von anderen im Dienste eines hehren Ideals manipulieren, verwerten und missbrauchen zu lassen.

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Kapitel IV Vereinzigungen und Aneignungen oder Der Einzige Kragler und sein Eigentum Brechts zweites Stück, auf das wir hier eingehen wollen, ist die Komödie Trommeln in der Nacht, die ursprünglich den Titel Spartakus trug. Erzählt wird dort die Geschichte des Soldaten Kragler, der jahrelang in Afrika in Kriegsgefangenschaft war und den man deshalb für tot hielt. Bei seiner unverhofften Heimkehr trifft er auf seine ehemalige Braut, die gerade ihre Verlobung mit einem anderen Mann feiert, weil sie von ihm ein Kind erwartet. Aus Erbitterung darüber tendiert Kragler zunächst dazu, sich zusammen mit anderen in die Kampfhandlungen der Berliner November-Revolution zu stürzen und damit sein sinnlos gewordenes Leben zu beenden, besinnt sich dann aber doch eines anderen, vielleicht auch eines besseren, als er seine Braut, die ihm gefolgt war, unverhofft wieder trifft. Deshalb verabschiedet er sich von der Revolution und geht mit seiner wiedergefundenen Braut lieber ins Bett, »um sich zu vermehren«.

4.1 Brechts spätes Unbehagen an seinem frühen Stück Als Brecht 1953 seine drei ersten Stücke Baal, Trommeln in der Nacht und IM Dickicht der Städte für eine Veröffentlichung nochmal durchsah, um eventuell einige Änderungen daran vorzunehmen, musste er in dem auf März 1954 datierten Vorwort Bei Durchsicht meiner ersten Stücke gestehen, dass ihm dabei das Stück Trommeln in der Nacht die größten Schwierigkeiten bereitet habe, denn dieses Vorwort beginnt mit den Sätzen: »Von meinen ersten Stücken ist die Komödie »Trommeln in der Nacht« das zwieschlächtigste. Die Auflehnung gegen eine zu verwerfende literarische Konvention 1 führte hier beinahe zur Verwerfung einer großen sozialen Auflehnung. Die »normale«, d. h. konventionelle Führung der Fabel hätte dem aus dem Krieg kehrenden Soldaten, der sich der Revolution anschließt, weil sein Mädchen sich anderweitig verlobt hat, entweder das Mädchen zu-

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Brechts spätes Unbehagen an seinem frühen Stück

rückgegeben oder endgültig verweigert, in beiden Fällen jedoch den Soldaten in der Revolution belassen. In »Trommeln in der Nacht« bekommt der Soldat Kragler sein Mädchen zurück, wenn auch »beschädigt«, und kehrt der Revolution den Rücken. Dies erscheint geradezu als die schäbigste aller möglichen Varianten, zumal da auch noch eine Zustimmung des Stücke-schreibers geahnt werden kann.« (S. 5)

Zu seiner Rechtfertigung kann er nur anführen: »Anscheinend reichten meine Erkenntnisse nicht dazu aus, den vollen Ernst der proletarischen Revolution des Winters 1918/19, sondern nur dazu, den Unernst der Beteiligung meines randalierenden »Helden« an der Erhebung zu realisieren. Die Initiatoren des Kampfes waren Proleten; er war der Nutznießer. Sie benötigten keinen Verlust, um sich zu empören; er konnte entschädigt werden. Sie waren bereit, seine Sache mitzubesorgen; er gab die ihre preis. Sie waren tragische Gestalten; er war die komische. Dies hatte mir, wie die Lektüre des Stücks ergab, durchaus vor Augen gestanden, aber es war mir nicht gelungen, den Zuschauer die Revolution anders sehen zu lassen, als der »Held« Kragler sie sah, und er sah sie als etwas Romantisches. Die Technik der Verfremdung stand mir noch nicht zur Verfügung.« (S. 6)

Aus diesem Grund griff Brecht in den Text nochmal ein, schrieb den dritten, vierten und fünften Akt des Stückes um und verlegte außerdem die Handlung vom November 1918 in den Januar 1919. Dies Eingriffe nahm er allerdings gleichsam ›mit angezogener Handbremse‹ vor, sodass man nicht recht weiß, ob diese Änderungen aus purer Hilflosigkeit so zögerlich sind, wie sie eben sind, oder aber aus keunerischer List, denn er muss selber zugeben: »Allzuviel konnte ich freilich nicht tun. Die Figur des Soldaten Kragler, des Kleinbürgers, durfte ich nicht antasten. Auch die relative Billigung seiner Haltung musste ihm erhalten bleiben. (…) Ich verstärkte jedoch vorsichtig [warum dann bloß vorsichtig?, L. P.] die Gegenseite. Ich gab dem Schankwirt Glubb einen Neffen, einen jungen Arbeiter, der in den Novembertagen als Revolutionär gefallen ist. In diesem Arbeiter, freilich nur skizzenhaft sichtbar [und zwar so skizzenhaft, dass man diesen Gegenspieler schon mit der Lupe suchen muss, L. P.], jedoch durch die Skrupel des Schankwirts immerhin sich verdichtend, gewann der Soldat Kragler eine Art Gegenpart [aber noch lange keinen ernstzunehmenden Gegenspieler, L. P.].« (S. 7)

Überprüft man die Einträge im Tagebuch, in denen der junge Brecht über die Arbeit an seinem Stück nachdenkt, am Stücktext selbst, so kann die Zustimmung des Autors zum Verhalten seines Helden Kragler nicht nur »geahnt« werden, sondern sie kann Wort für Wort 183 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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nachgelesen werden, und es ist auch keine »relative Billigung seiner Haltung«, sondern eine sehr dezidierte. Und die Gründe für diese sehr nach-drückliche Billigung lassen sich an anderen Zeugnissen aus der Entstehungszeit des Stücks in den Jahren 1919/20 erschließen. Brecht hatte schon 1919 eine erste Fassung unter dem Titel Spartakus begonnen, an der er dann bis 1920 hinein unter dem endgültigen Titel arbeitete, wusste zunächst aber nicht so recht, wie er das Stück enden lassen sollte. So notiert er z. B. am 3. August 1920 im Tagebuch: »Ich habe den Anfang des 3. Aktes der »Trommeln« neu gemacht und den zweiten Schluss (ad libitum) des 4. Aktes. Jetzt ist das Ganze fertig und, wiewohl ohne Anläufe in die kühleren Höhen der Kunst, durch seinen Impetus und seine Menschlichkeit nicht ganz verlorene Arbeit. Den 4. Akt habe ich viermal, den 5. dreimal gemacht. Jetzt habe ich zwei Schlüsse: komisch und tragisch.« (I,132)

Doch schon vier Wochen später ist die Frage nach einem komischen oder tragischen Ausgang entschieden, denn nun kann er voller Zufriedenheit schreiben: »Und der starke, gesunde, untragische Ausgang, den das Stück von Anfang an gehabt hat, wegen dem es geschrieben ist, ist doch der einzige Ausgang, alles andere ist ein Ausweg, ein schwächliches Zusammenwerfen, Kapitulation vor der Romantik. (…) Das Bett als Schlussbild. Was Idee, was Pflicht!« (I,151)

Und einen Tag später denkt er im Tagebuch über die Wonnen der Intensität des rückhaltlos akzeptierten und durchlebten Augenblicks im Vergleich zum leblosen Prinzip Hoffnung nach und kommt dabei zu dem Schluss: »Um glücklich zu sein, gut zu operieren, faul sein zu können, hinter sich zu stehen, braucht’s nur eines: Intensität. Intensiv unglücklich zu sein, das heißt, nicht an die [eigene, L. P.] Sache glauben. Ein Unternehmen draus machen. Amor fati. Alles mit ganzer Seele und ganzem Leibe tun! Was, das ist gleichgültig! Klein oder groß! Beides! Nicht immer Politik, Hoffnung auf Zukunft, Sonnenschein! Sauft ihn, den Regen! Bei seinem Unglück dabeisein, sich ihm widmen, mit Haut und Haar! Nur die Stunden sind verloren, unter dem Preis verkitscht, Angstverkäufe, Feigheitsgewinste, wo man nichts zu sagen hätte zu sich, über die Dinge. Wo man nicht brüllte, nicht aufschrie, nicht lachte, nicht die Zähne bleckte, nicht den Finger in die Schläfe bohrte, nicht einmal schwamm oder hasenäugig schlief.« (I,152)

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Brechts spätes Unbehagen an seinem frühen Stück

Nach diesem lebensphilosophischen Bekenntnis aus dem Geiste Stirners und Nietzsches fährt er fort und beschreibt seinen Helden Kragler: »Ich suche eine Geste für all dies, sichtbar bis auf die Galerie, zu riechen und hinreißend: für »Trommeln«, 4. Akt. Wo einer was macht, dann was andres macht (- aber: macht). [Wo einer, L. P.] Eine ganze Stadt tumultuiert, Betrogene in die Zeitungen hetzt, Armselige besoffen macht, mit Reden füllt, mit Waffen spickt: dann heimgeht. Sie, sie sollen in die Zeitungen! Er ist nimmer betrogen, nimmer armselig. Die Hauptsache: die Geste, mit der er heimgeht, den Rock auszieht, sich die Halsbinde herabreißt, mit den Händen am Hals aufschnauft; »es ist ein Krampf« sagt und mit der Frau ins Bett abgeht.« (I,152 f.)

Brechts Unbehagen bei der Rückschau auf sein frühes Stück war auch aus einem anderen Grund mehr als berechtigt, weil man, wie gesagt, die Zustimmung des Autors zur antirevolutionären Haltung seines Helden Kragler nicht nur ahnen, sondern mit Texten aus Brechts Frühwerk sogar schwarz auf weiß belegen und ihm polemisch vorhalten konnte, und dies brachte ihn in eine prekäre politische Situation. Im März 1954 zog Brechts Berliner Ensemble zwar ins Theater am Schiffbauerdamm ein, doch diese Möglichkeit, endlich einmal an einem eigenen Theater die eigenen theaterästhetischen Konzepte praktisch umsetzen zu können, wäre sofort wieder zunichte gewesen, wenn irgendein missgünstiger Zeitgenosse z. B. Brechts frühes Gedicht Gesang des Soldaten der Roten Armee aus der frühen Fassung der Hauspostille öffentlich zitiert hätte, denn dieser Text, der 1919 gleichzeitig mit der Augsburger Fassung von Trommeln in der Nacht entstanden war, atmet ganz denselben Geist wie die Absage Kraglers an seine vermeintlichen Genossen. Und so konnte Brecht nur hoffen, dass niemand, z. B. alte Feinde wie Alfred Kurella oder Alexander Abusch, auf die Idee kommen möge, in seinen frühen Texten frühe politische Sünden aufzuspüren und der Öffentlichkeit zu präsentieren, denn dieser Gesang des Soldaten der Roten Armee hätte dem ZK der SED gar zu schrill in den Ohren geklungen, weil es da heißt: 1 Weil unser Land zerfressen ist Mit einer matten Sonne drin Spie es uns aus in dunkle Straßen Und frierende Chausseen hin.

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2 Schneewasser wusch im Frühjahr die Armee Sie ist des roten Sommers Kind! Schon im Oktober fiel auf sie der Schnee Ihr Herz zerfror im Januarwind. 3 In diesen Jahren fiel das Wort Freiheit Aus Mündern, drinnen Eis zerbrach. Und viele sah man mit Tigergebissen Ziehend der roten, unmenschlichen Fahne nach. 4 Oft abends, wenn im Hafer rot Der Mond schwamm, vor dem Schlaf am Gaul Redeten sie von kommenden Zeiten Bis sie einschliefen, denn der Marsch macht faul. 5 Im Regen und im dunklen Winde War Schlaf uns schön auf hartem Stein. Der Regen wusch die schmutzigen Augen Vom Schmutz und vielen Sünden rein. 6 Oft wurde nachts der Himmel rot Sie hielten’s für das Rot der Früh. Dann war es Brand, doch auch das Frührot kam Die Freiheit, Kinder, die kam nie. 7 Und drum: wo immer sie auch warn Das ist die Hölle, sagten sie. Die Zeit verging. Die letzte Hölle War doch die allerletzte nie. 8 Sehr viele Höllen kamen noch. Die Freiheit, Kinder, die kam nie. Die Zeit vergeht. Doch kämen jetzt die Himmel Die Himmel wären ohne sie. 9 Wenn unser Leib zerfressen ist Mit einem matten Herzen drin Speit die Armee einst unser Haut und Knochen In kalte flache Löcher hin.

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Brechts spätes Unbehagen an seinem frühen Stück

10 Und mit dem Leib, vom Regen hart Und mit dem Herz versehrt von Eis Und mit den blutbefleckten leeren Händen So kommen wir grinsend in euer Paradeis. (S. 45 ff.)

Bestätigt sehen konnte sich der junge Brecht in dieser radikal pessimistischen Beurteilung der russischen wie der deutschen Revolution durch einen Vortrag zur aktuellen Lage Rußlands, den er in München hörte und den er im Tagebuch unter dem 12. September 1920 mit den Worten kommentiert: »Ich sitze im Kindl-Keller und lausche Herrn Goldschmidt, der über die Wirtschaftslage Rußlands redet, lauter abstrahiertes Zeug von Verbänden und Kontrollsystemen. Ich laufe bald wieder fort. Mir graut nicht vor der tatsächlich erreichten Unordnung dort, sondern vor der tatsächlich angestrebten Ordnung. Ich bin jetzt sehr gegen den Bolschewismus: Allgemeine Dienstpflicht, Lebensmittelrationierung, Kontrolle, Durchstecherei, Günstlings-wirtschaft. Außerdem, im günstigsten Fall: Balance, Uniformierung, Kompromiss. Ich danke für Obst und bitte um ein Auto.« (I,163)

Wenn man diese Notiz unbefangen liest, muss man den Eindruck gewinnen, Brecht habe damit auf ein Schauergemälde reagiert, das der Vortragsredner von der jungen Sowjetunion entworfen hatte. In Wahrheit war es aber ganz anders, denn der Vortragsredner, der Wirtschaftsjournalist Alfons Goldschmidt, war ein erklärter Freund der Sowjetunion, der im Auftrag von Karl Radek und Lenin in Deutschland unterwegs war und im Münchner Kindl-Keller im Rahmen einer von der KPD organisierten Versammlung für eine möglichst enge Zusammenarbeit von Sowjet-Rußland und Deutschland werben wollte, speziell aber werben wollte für die eben erst gegründete »Interessengemeinschaft der Auswandererorganisation nach Sowjet-Rußland«. Und deshalb malte er das Bild der jungen Sowjetunion in seinen beiden Büchern Moskau 1920 und Die Wirtschaftsorganisation Sowjet-Russlands 2 auch in den strahlendsten Farben. Wahrscheinlich hatte Brecht, als er diesen höhnischen Kommentar zu Goldschmidts Vortrag schrieb, eine Passage aus Stirners Hauptwerk im Ohr, die schon sein großes Gedicht über den Soldaten der Roten Armee geprägt hatte, denn dessen Held grinst wohl deshalb so zynisch, weil er weiß, dass diese Armee keine Freiheit wird bringen können, sondern nur eine neue und andere Art von Knechtschaft 187 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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unter einem neuen und anderen Wappen. In dieser Passage schreibt Stirner nämlich über die Französische Revolution, auch sie habe keine wirkliche Freiheit gebracht, denn: »Die Revolution war nicht gegen das Bestehende gerichtet, sondern gegen dieses Bestehende, gegen einen bestimmten Bestand. Sie schaffte diesen Herrscher ab, nicht den Herrscher, im Gegenteil wurden die Franzosen aufs unerbittlichste beherrscht; sie tötete die alten Lasterhaften, wollte aber den Tugendhaften ein sicheres Bestehen gewähren, d. h. sie setzte an die Stelle des [adeligen, L. P.] Lasters die [bürgerliche, L. P.] Tugend.« (EE 121)

Denn: »Immer wird nur ein neuer Herr an die Stelle des alten gesetzt, und der Umsturz ist ein – Aufbau. Es bleibt bei dem Unterschiede des jungen von dem alten Philister. Spießbürgerlich begann die Revolution mit der Erhebung des dritten Standes, des Mittelstandes, spießbürgerlich versiegte sie. Nicht der einzelne Mensch – und dieser allein ist der Mensch – wurde frei, sondern der Bürger, der citoyen, der politische Mensch, der eben deshalb nicht der Mensch, sondern ein Exemplar der Menschengattung und spezieller ein Exemplar der Bürgergattung, ein freier Bürger ist.« (EE 121)

Möglicherweise war Brecht während Goldschmidts Vortrag aber auch ein zweiter Text durch den Kopf gegangen, den er gerade zu dieser Zeit las und in dem ebenfalls eine Revolution beschrieben wird, denn er notiert ein paar Seiten später unter dem 14. September 1920, er habe zwei Romane von Alfred Döblin gelesen: »Erst ›Wadzeks Kampf‹ und jetzt ›Wang-lun‹« 3, die ihm offenbar sein Freund, der Zionist Frank Warschauer, empfohlen hatte, und über diesen Freund heißt es dann etwas kritisch distanziert: »Er hat zuviel Ziel in sich, er wickelt in alle Verhältnisse Sinn, er glaubt an den Fortschritt und dass ein Lurch eben nicht anders kann, als irgendeinmal ein Affe werden. Aber er zeigt mir Lao-tse, und der stimmt mit mir so sehr überein, dass er [Warschauer, L. P.] immerfort staunt.« 4

Ganz offensichtlich glaubte Brecht damals durchaus nicht an den Fortschritt und schon gar nicht an einen Fortschritt, der durch Gewalt vorangetrieben oder gar durch eine politische Revolution erzwungen werden soll, und sah sich in dieser Einstellung nicht nur durch die Philosophie von Max Stirner, sondern auch durch die des Lao-tse ausdrücklich bestätigt, die jede Art von Gewalt verpönt und in Döblins Roman Die drei Sprünge des Wang-lun ausführlich dargestellt

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Brechts spätes Unbehagen an seinem frühen Stück

wird, weil auch Döblins Held Wang-lun sich letztlich zu ihr bekennt. Die zentrale Maxime dieser Philosophie lautet im Roman: »Die Welt erobern wollen durch Handeln, misslingt. Die Welt ist von geistiger Art, man soll nicht an ihr rühren. Wer handelt, verliert sie; wer sie festhält, verliert sie.« 5

Im Taoteking selbst hat der Spruch Nr. 29 die Überschrift Vom Nichthandeln und lautet: Die Welt erobern wollen durch Handeln: Ich habe erlebt, dass das misslingt. Die Welt ist ein geistiges Ding, das man nicht behandeln darf. Wer handelt, verdirbt sie. Wer sie festhält, verliert sie. Denn: die Geschöpfe gehen voran oder folgen, sie seufzen oder schnauben, sie sind stark oder schwach, sie siegen oder unterliegen. Also auch der Berufene: Er meidet das Heftige. Er meidet das Üppige. Er meidet das Großartige. 6

Diese Philosophie der gewaltfreien Bescheidung und Selbstzurücknahme liest sich wie die explizite Kontrafaktur zur elften FeuerbachThese von Karl Marx, derzufolge es nicht gilt, die Welt bloß zu interpretieren, wie die Philosophen dies zu tun pflegen, sondern in die Welt aktiv einzugreifen und sie zu verändern, wenn es sein muss auch mit revolutionärer Gewalt. Und laut Marx muss dies auch so sein. Wir werden sehen, dass Brechts geistige Entwicklung immer wieder zwischen diesen beiden Polen Lao-tse und Karl Marx, zwischen der Haltung hinhaltender Hingabe an die Welt und gewaltbereitem Zugriff auf die Welt, also zwischen explizitem Gewalt-Verzicht und explizitem Bekenntnis zur Anwendung von Gewalt hin und her pendelt, bis er schließlich 1938 das ›sanfte Prinzip‹ des Lao-tse in dem großen Gedicht Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration gleichsam als die Frohe Botschaft des Lao-tse verkünden wird, die auch ihm selbst nach eigenen Verirrungen in Gewalt-Phantasien während sei-

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ner Lehrstück-Phase einen ungeheuren Schub an neuer Kreativität beschert hat. Man könnte in dieser ambivalenten Haltung auch zwei Varianten des ›Prinzips Einverständnis‹ sehen, wobei die aktivistische Variante in die Geschehnisse eingreift, um diese im Sinne dessen, was ohnehin geschehen muss und geschehen wird, entschlossen zu beschleunigen, wohingegen die resonanzbereit mitschwingende Variante die Einstellung hinhaltender Hingabe kultiviert, die bis zum uroborischen Selbstverzehr reichen kann und von Brecht in all den Bekundungen des »baalschen« Lebensgefühls dargestellt worden ist, die man in den Gedichten der Hauspostille nachlesen kann.

4.2 Kraglers Emanzipation zum Eigner seiner selbst Mit der Entscheidung zu einem lebensphilosophischen und untragischen Schluss hatte die »Augsburger Fassung« 1 von Trommeln in der Nacht ihre endgültige Form gefunden, und diese Form war wie schon Baal zutiefst der Philosophie Stirners verpflichtet, sodass man mit Fug und Recht Brechts Helden Andreas Kragler als einen Stirnerschen Helden bezeichnen kann, als einen Eigner also, der Stirners Appell angenommen und in die Tat umgesetzt hat: »Die Freiheit lehrt nur: Macht Euch los, entledigt Euch alles Lästigen; sie lehrt Euch nicht, wer Ihr selbst seid. Los, los! so tönt ihr Losungswort, und Ihr, begierig ihrem Rufe folgend, werdet Euch selbst sogar los, »verleugnet Euch selbst«. Die Eigenheit aber ruft Euch zu Euch selbst zurück, sie spricht: »Komm zu Dir!« Unter der Ägide der Freiheit werdet Ihr Vielerlei los, aber Neues beklemmt Euch wieder: »den Bösen seid Ihr los, das Böse ist geblieben.« 2 Als Eigene seid Ihr wirklich Alles los, und was Euch anhaftet, das habt Ihr angenommen, das ist Eure Wahl und Euer Belieben. Der Eigene ist der geborene Freie, der Freie von Haus aus; der Freie dagegen nur der Freiheitssüchtige, der Träumer und Schwärmer.« (EE 181)

Und deshalb gilt es für Stirner eben, all diese »fixen Ideen«, »Sparren« und fremdbestimmte Besessenheiten 3 entschlossen »abzuschütteln« (EE,181) und sich ehrlich zu seinem Egoismus zu bekennen. Die oben von Brecht gemeinte Geste ist wohl die fundamentale Entschluss-Geste als rabiater Rundumschlag und als Absage an jede Art von Fremdbestimmung, also die entschlossen egoistische Umkehr Kraglers als seine Abwendung von den vermeintlichen Genossen und 190 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Kraglers Emanzipation zum Eigner seiner selbst

seine Hinwendung zu seiner ureigenen Sache im Sinne Stirners, denn dessen Hauptwerk beginnt mit Sätzen, die sowohl in Brechts Tagebuch-Notizen als auch in Kraglers Absage als Echo wiederklingen und die wir zum ersten Mal im skandalösen Horaz-Aufsatz als Echo gehört haben: »Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. »Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt!« (EE,3) »Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist! Ihr meint, Meine Sache müsse wenigstens die »gute Sache« sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber Meine Sache, und Ich bin weder gut noch böse. Beides hat für Mich keinen Sinn. Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache »des Menschen«. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie, usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich!« (EE 5)

Doch zu dieser Einstellung kommt Kragler erst am Ende des Stücks, und diesen Erkenntnisweg müssen wir nun nachzeichnen. Im dritten Akt platzt Kragler in die Verlobungsfeier, will seine Braut zurückhaben und sie heiraten, wird aber von ihr abgewiesen, da sie ja von Murk schwanger ist: »Ich kann dir nichts sagen, du darfst nicht fragen. Ich kann dir nicht gehören. Gott weiß es. Und ich bitte dich auch, Andree, dass du gehst.« (S. 37 f.)

Damit ist für Kragler der Grund für seine Heimkehr nichtig geworden, weshalb er sein nunmehr als sinnlos empfundenes Leben wegwerfen will und sich dorthin begibt, wo ihn am ehesten eine Gewehrkugel treffen könnte, denn es ist der Abend des 9. November 1918, also der Tag der deutschen Revolution. Der sentimentale Kellner Manke, der in der Geschichte von Kragler und Anna einen tränenseligen Kitschroman sieht, greift nun energisch in die Handlung ein, um diesen Kitschroman in seinem Sinne zu befördern und zu einem Happy-End zu führen, weshalb er Anna mit einem Edelbibber in der Stimme beschwört: »Er ist fort. Weggeblasen! Die Vorstädte haben ihn vielleicht schon verschlungen! Sie schießen allenthalben, in den Zeitungen passiert allerhand,

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gerade diese Nacht, und er kann sogar erschossen werden. Man kann fortlaufen, wenn geschossen wird; aber man kann auch nicht fortlaufen. Jedenfalls in einer Stunde findet ihn kein Mensch mehr. (…) Er hat den Mond im Kopf. Erläuft jeder Trommel nach. Gehen Sie! Retten Sie ihn, der Ihr Geliebter war, nein, ist. (…) Vor die Hunde wird er gehen und in Glubb’s Schnapssalon und wenn es ganz gut geht, werden sie ihn an die Wand stellen.« (S. 40 f.)

Diese Beschwörung durch den sentimentalen Manke zeigt auch die gewünschte Wirkung, sodass Anna sich nunmehr von Murk lossagt und sich auf die Suche nach ihrem Andree Kragler macht, was der tränenselige Manke wiederum gerührt kommentiert, weil für ihn nun ein Happy-End und die Verklärung der Liebenden in Sicht zu sein scheint: »Der Liebhaber ist schon verschollen, aber die Geliebte eilt ihm nach auf den Flügeln der Liebe. Der Held ist zu Fall gebracht, aber die Himmelfahrt ist schon vorbereitet.« (S. 45)

Den besoffenen Spießer Murk aber fertigt er ab mit dem Satz: »Setz dich! Du bist nicht der Einzige!« (S. 41) Denn auch er hatte offensichtlich seinen Stirner gelesen. Und deshalb hätte er auch fortfahren können: »Und diese Anna ist nicht dein Eigentum, sondern das Eigentum Kraglers, denn er ist hier der einzige Einzige!« Der vierte Akt in Glubbs Schnapskneipe (S. 45 ff.) beginnt damit, dass Glubb Brechts »Ballade vom toten Soldaten« 4 zur Klampfe vorträgt. Diese makabre Moritat vom toten und schon halb verwesten Soldaten, der mit einem »geweihten Spaten« aus seinem Heldengrab ausgebuddelt, notdürftig wiederhergestellt, k.v. geschrieben und dann erneut in den Krieg geschickt wird, um ein zweites Mal den Heldentod für Kaiser, Reich und Vaterland zu sterben, ist eine grausige Parodie auf Brechts eigene frühe nationalprotestantische Kriegslyrik 5, und die Wiederauferstehung des toten und halb verwesten Soldaten aus dem Grab ist außerdem eine blasphemische Parodie auf die biblische Passionsgeschichte, die bekanntlich mit der Auferstehung Christi endet. Außerdem kann man diese grausige Moritat auch noch als gezielte Kontrafaktur zu den oben zitierten Eingangs-Sätzen von Stirners Hauptwerk Der Einzige und Sein Eigentum lesen, weil all dies, was dieser Soldat nach seiner Wiederauferstehung tut, ganz bestimmt nicht »seine Sache« ist, sodass er als die direkte Negation des Einzigen erscheint.

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Kraglers Emanzipation zum Eigner seiner selbst

Dass gerade Glubb diese Moritat vorträgt, der schon durch seine Erscheinung an den »roten Becker« 6 erinnert, also an einen der bekanntesten Helden aus der deutschen Revolution von 1848, muss wohl so verstanden werden, dass dieser Glubb sich selbst damit in eine revolutionäre Tradition einordnet und außerdem seine Gäste dazu bringen will, sich ebenfalls in diese Tradition einzuordnen, die aktuelle deutsche Revolution als ihre Sache zu sehen und dementsprechend zu handeln. Und so inszeniert er sich eben als ein apokalyptischer Racheengel, der von hoher Zinne 7 herab zur Revolution aufruft: »Ihr, die Ihr in Schnaps ersoffen seid – Ihr, die Ihr von dem Ausschlag zerfressen seid – Ihr, die sie mit Bajonetten gestoßen haben – Ihr, die sie mit Kanonen und Säbeln zu Mördern gemacht haben – Ihr, die man immer geschlagen und bespieen hat – Ihr, die man nicht geliebt hat, Kommt her und seht, Eure Stunde ist gekommen, Und Ihr sollt einziehen in das Reich!« (S. 55)

Das sind nun allerdings etwas seltsame Töne für jemanden, der sich als einen Revolutionär versteht. Wenn man aber etwas genauer nach den Motiven Glubbs und all der anderen sucht, die er zu seiner Revolution aufzurufen vermag, so stellt sich sehr schnell heraus, dass sie alle einen sehr privaten und letztlich unpolitischen Frust abreagieren wollen, weil sie glauben, ihnen sei ein schweres Unrecht widerfahren. So gesehen sind sie also gar keine Revolutionäre, die das aktuelle gesellschaftliche und politische System abschaffen und durch ein bestimmtes anderes ersetzen wollen, und wenn nötig auch mit Gewalt, sondern sind eher Wutbürger, die ihre zentrifugale Wut auf allesund-jedes richten können, um sie dadurch loszuwerden, sodass sie eben auch empfänglich sind für Glubbs Aufruf: »Wir wollen fortgehen in alle Lokale, wo sie Foxtrott tanzen wie du und ich und die Tanzenden mit nehmen und die Trinker und ihr Gedächtnis auffrischen und sie sollen auch mitgehen und schreien, dass ihnen ein Unrecht geschehen ist.« (S. 57)

Oder kürzer: »An die Maschinengewehre mit euch!« (S. 55) Da kann denn auch Kragler nicht widerstehen und lässt sich vom allgemeinen Aufbruch mitreißen, weil ihm ja auch ein großes Unrecht widerfahren ist: »Ich bin nur ein Leichnam, aber ihr könnt ihn haben, es ist nicht schad drum.« (S. 57) 193 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

IV · Vereinzigungen und Aneignungen

Auf dem Weg in die Kampfzone des Zeitungsviertels trifft diese Gruppe von Empörern aber auf Anna, die zusammen mit dem Journalisten Babusch sich auf die Suche nach ihrem Andree gemacht hatte. Kragler, zum Sterben entschlossen, beschimpft erst Anna auf unflätige Weise – »Du bist eine Hur!« (S. 62) –, lässt sich dann aber durch Babusch wieder besänftigen, der ihn dazu bringt, seine Situation nochmal genau zu reflektieren und dabei zu entscheiden, was wirklich seine Sache sei: »Lassen Sie sich nicht zum Helden machen, Kragler! Wenn Sie wollen, ist es keine Tragödie. Tun Sie, was Sie wirklich wollen! Jeder Mann ist der beste in seiner Haut!« (S. 65)

Das ruft nun wieder den apokalyptischen Prediger Glubb auf den Plan – »Es kommt auf die Idee an!« (S. 65) –, der Kragler weiterhin als Kampfgenosse in seinem Rachekreuzzug behalten will. »O Andree! Geh mit uns mit. Wir müssen in unsere schwerste Stunde hinein und ins Dunkle. Geh nicht weg von uns. Was sollen wir mit dem Schnaps im Hirn, wenn wir so wenig sind? Was wird das Tier 8 tun, wenn wir unterliegen? Ich kenne dich erst vier Stunden und doch sind Sternenhimmel seitdem hinabgeschwommen und Reiche haben sich aufgegeben. Ich kenne dich 4 Zeitalter lang, o, enttäusche mich nicht!« (S. 67)

Doch Glubb hat den Kampf um Kraglers Seele schon verloren, weil das Argument von Babusch – »Tun Sie, was Sie wirklich wollen!« – letztlich doch stärker ist als Glubbs apokalyptischer Furor, und deshalb fällt Kraglers Entscheidung als eine Entscheidung für die eigene Sache: »Man muss nur selber tun, was man will. Dann muss man nicht tun, was die Andern wollen. Ich aber will heimgehen. Ich habe nie mehr wollen.« (S. 68)

Als seine vermeintlichen Kumpane ihn deshalb als Feigling, Verräter und Schwein beschimpfen, bricht es denn auch aus ihm heraus: »Mein Fleisch soll im Rinnstein verwesen, dass die Idee siegt? Seid ihr besoffen?« (S. 72)

Und dann setzt er zu einer großen nicht enden wollenden Arie aus Lachkotze 9 an, die aber nicht in einem zynischen Auslachen-vonoben, sondern in einem kynischen Auslachen-von-unten besteht, das aber in ein Auslachen-von-oben umkippt und in den Sätzen gipfelt: 194 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Kraglers Emanzipation zum Eigner seiner selbst

»Leckt mich jetzt am Arsch! Ich bin der Liebhaber. Jetzt kommt das Bett, das große, weiße, breite Bett, komm!« (S. 73)

So gesehen ist das Trotzlachen immer eine Form defensiv-aggressiver Selbst-behauptung, und genau dies ist ja auch der Impuls, dem Kragler hier folgt, weil hier genau die Situation vorliegt, in der sich jemand mit aller Macht als Eigner seiner selbst behaupten muss.

4.3 Partei und Verein Als Kragler zum ersten Mal in aller Deutlichkeit erklärt, er werde jetzt heimgehen (S. 68 f.), wird er von seinen vermeintlichen Genossen wie ein Verräter an der gemeinsamen Sache behandelt und wüst beschimpft: »Schwein, Schwein, Schwein! Ein Schwein bist du!« (S. 69) Der Brecht von 1954 hätte für diese Empörung über Kraglers »Fahnenflucht« vielleicht sogar ein gewisses Verständnis aufgebracht, wenn auch nicht sonderlich viel, weil er Kraglers kleinbürgerlich egoistisches Verhalten ja verurteilen musste, um weiterhin als Marxist gelten zu können, obwohl er sich andererseits auch wieder eine »relative Billigung seiner Haltung« (S. 7) nicht verkneifen konnte. Von dieser ambivalenten Haltung des späten Brecht seinem Helden gegenüber war der junge vormarxistische Brecht weit entfernt und zeigte sich im Tagebuch hochzufrieden mit dem »starken, gesunden, untragischen Ausgang« des Stückes, den er endlich gefunden hatte, denn: »Hier kehrt ein Mensch auf der scheinbaren Höhe des Gefühls plötzlich um, er schmeißt die ganze Pathetik zum alten Eisen, lässt sich von seinen Bewunderern und Jüngern am Arsch lecken und geht mit der Frau heim, wegen der er das ganze tödliche Tohuwabohu gemacht hat.« (I,151)

Als genauer Kenner von Stirners Hauptwerk hätte Brecht aber noch einen weiteren Grund anführen können, um Kraglers Verhalten zu rechtfertigen. Ich meine damit Stirners Unterscheidung von Partei und Verein bzw. von Gesellschaft und Verein. Ausgangspunkt all seiner Überlegungen zu diesem Thema ist die Passage: »Mir, dem Egoisten, liegt das Wohl dieser »menschlichen Gesellschaft« nicht am Herzen, Ich opfere ihr nichts, Ich benutze sie nur; um sie aber

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vollständig benutzen zu können, verwandle Ich sie vielmehr in mein Eigentum und mein Geschöpf, d. h. Ich vernichte sie und bilde an ihrer Stelle den Verein von Egoisten.« (EE 196)

Dieser Verein von Egoisten ist für Stirner das genaue Gegenteil von Partei, Staat oder Gesellschaft, von sozialen Gebilden also, in denen über die einzelnen Mitglieder Macht ausgeübt wird, was Stirners Einziger in keiner Weise dulden kann, und deshalb entwickelt Stirner einen diesbezüglichen Gedankengang, der sich zugleich wie eine dramaturgische Analyse von Kraglers Verhalten liest: »Im Staate gilt die Partei. »Partei, Partei, wer sollte sie nicht nehmen!« 1 Der Einzelne aber ist einzig, kein Glied der Partei. Er vereinigt sich frei und trennt sich wieder frei. Die Partei ist nichts als ein Staat im Staate, und in diesem kleineren Bienenstaate soll dann ebenso wieder »Friede« herrschen, wie im größeren. Gerade diejenigen, welche am lautesten rufen, dass im Staate eine Opposition sein müsse, eifern gegen jede Uneinigkeit in der Partei. Ein Beweis, wie auch sie nur einen – Staat wollen. Nicht am Staate, sondern am Einzigen zerscheitern alle Parteien. Nichts hört man jetzt 2 häufiger als die Ermahnung, seiner Partei treu zu bleiben, nichts verachten Parteimenschen so sehr als einen Parteigänger. Man muss mit seiner Partei durch dick und dünn laufen und ihre Hauptgrundsätze unbedingt gutheißen und vertreten. Ganz so schlimm wie mit geschlossenen Gesellschaften steht es hier zwar nicht, weil jene ihre Mitglieder an feste Gesetze oder Statuten binden (z. B. die Orden, die Gesellschaft Jesu usw.). Aber die Partei hört doch in demselben Augenblicke auf, Verein zu sein, wo sie gewisse Prinzipien bindend macht und sie vor Angriffen gesichert wissen will; dieser Augenblick ist aber gerade der Geburtsakt der Partei. Sie ist als Partei schon eine geborne Gesellschaft, ein toter Verein, eine fix gewordene Idee.« (EE 260)

Im Namen einer solchen fix gewordenen Idee, also eines religiösen oder politischen Dogmas kann man dann auch von jedem Mitglied ein Mindestmaß an Selbstaufopferung verlangen, ja sogar sie zur Pflicht machen, weshalb es in dem Gedicht Herweghs, auf das Stirner hier anspielt, auch ausdrücklich heißt: Der Menschheit gilt’s ein Opfer darzubringen, Der Menschheit auf dem Altar der Partei! (S. 88)

Doch genau gegen diese Zumutung setzt sich Stirners Einziger vehement zur Wehr durch die Parole:

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Kraglers Emanzipation zum Eigner seiner selbst

»Was schiert Mich die Partei. Ich werde doch genug (weitere Einzige) finden, die sich mit Mir vereinigen, ohne zu meiner Fahne zu schwören.« (EE 261)

Damit ist das entscheiden Stichwort denn auch gefallen und das einzige soziale Gebilde benannt, das laut Stirner als Alternative zu einer Partei gelten darf und dem sich ein Einziger problemlos anschließen kann: Gemeint ist der Verein 3, dem man freiwillig beitritt und den man freiwillig und ungehindert wieder verlässt, wenn die jeweils aktuelle Situation dies nahelegt: »So könnte ein Egoist also niemals Partei ergreifen oder Partei nehmen? Doch, nur kann er sich nicht von der Partei ergreifen und einnehmen lassen. Die Partei bleibt für ihn allezeit nichts als eine Partie: er ist von der Partie, er nimmt teil.« (EE 262)

Und das heißt: Er nimmt teil an einem situationsbedingt entstandenen und situationsverhafteten Zusammenschluss von einzelnen Egoisten, deren Interessen mehr oder weniger zufällig für eine gewisse Zeit situationsbedingt harmonieren, denn: »Den Verein hält weder ein natürliches noch ein geistiges Band zusammen, und er ist kein natürlicher, kein geistiger Bund. Nicht Ein Blut, nicht Ein Glaube (d. h. Geist) bringt ihn zu Stande. In einem natürlichen Bunde, – wie einer Familie, einem Stamme, einer Nation, ja der Menschheit – haben die Einzelnen nur den Wert von Exemplaren derselben Art oder Gattung; in einem geistigen Bunde – wie einer Gemeinde, einer Kirche – bedeutet der Einzelne nur ein Glied desselbigen Geistes; was Du in beiden Fällen als Einziger bist, das muss – unterdrückt werden. Als Einzigen kannst Du dich bloß im Vereine behaupten, weil der Verein nicht Dich besitzt, sondern Du ihn besitzest oder Dir zu Nutze machst. Im Vereine, und nur im Vereine, wird das Eigentum anerkannt, weil man das Seine von keinem Wesen mehr zu Lehen trägt. Die Kommunisten 4 führen nur konsequent weiter, was während der religiösen Entwicklung und namentlich im Staate längst vorhanden war, nämlich die Eigentumslosigkeit, d. h. das Feudalwesen.« (EE 349 f.)

Um diese fundamentale Differenz zwischen dem Verein auf der einen Seite und den sozialen Gebilden Partei, Gesellschaft und Staat noch deutlicher werden zu lassen, fährt Stirner fort: »In den Verein bringst Du deine ganze Macht, dein Vermögen, und machst Dich geltend, in der Gesellschaft wirst Du mit deiner Arbeitskraft verwendet (also von anderen verwertet); in jenem lebst Du egoistisch, in dieser menschlich, d. h. religiös, als ein »Glied am Leibe des Herrn«: der Gesell-

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schaft schuldest Du, was Du hast, und bist ihr verpflichtet, bist von »sozialen Pflichten« – besessen, den Verein benutzest Du und gibst ihn, »pflichtund treulos« auf, wenn Du keinen Nutzen weiter aus ihm zu ziehen weißt. Ist die Gesellschaft mehr als Du, so geht sie Dir über Dich; der Verein ist nur dein Werkzeug oder das Schwert, wodurch Du deine natürliche Kraft verschärfst und vergrößerst; der Verein ist für Dich und durch Dich da, die Gesellschaft nimmt umgekehrt Dich für sich in Anspruch und ist auch ohne Dich; kurz die Gesellschaft ist heilig, der Verein dein eigen: die Gesellschaft verbraucht Dich, den Verein verbrauchst Du.« (EE 350 f.)

Und deshalb ist der Verein im Sinne Stirners auch die einzige Möglichkeit, seine Maxime »Verwerte Dich!« (EE 353) optimal zu verwirklichen. Im Lichte dieser Ausführungen müsste deutlich geworden sein, dass für den frühen Brecht Kraglers Umkehr weder ein Verrat an irgendwelchen Idealen noch irgendeine Art von Fahnenflucht ist, sondern der schlichte Austritt aus einem Verein von Wutbürgern und Empörern, der sich eher zufällig gebildet hatte, der für ihn aber durch das unverhoffte Wiedersehen mit Anna Balicke seine Funktion verloren hat, weil dadurch seine eigene Situation eine grundlegend andere geworden ist. Und somit kann er sich auch mit bestem Gewissen von seinen vermeintlichen Gesinnungsgenossen trennen und braucht sich keine Vorwürfe gefallen zu lassen.

4.4 Revolutionäre und Empörer Im Vorwort zur Neuausgabe seiner frühen Stücke sucht Brecht diese deutlich vom zeitgenössischen Expressionismus abzugrenzen, sein Stück Trommeln in der Nacht also z. B. von Stücken wie Die Wandlung 1 von Ernst Toller, dessen idealistischer Held ebenfalls ein Kriegsheimkehrer ist, der aber, anders als Kragler, mit expressio-nistischem Pathos zu einer umfassenden geistigen Revolution aufruft. Stücke dieser Art fand, wie aus seinem oben zitierten Brief an Caspar Neher hervorgeht, schon der frühe Brecht widerlich, der Brecht von 1954 aber nicht weniger, denn: »Die Oh-Mensch-Dramatik dieser Zeit mit ihren unrealistischen Scheinlösungen stieß den Studenten der Naturwissenschaften 2 ab. Hier wurde ein höchst unwahrscheinliches und bestimmt uneffektives Kollektiv »guter« 3 Menschen konstruiert, das dem Krieg, diesem komplizierten, tief in der Gesellschaft verwurzelten Phänomen, hauptsächlich durch moralische Ver-

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Revolutionäre und Empörer

femung ein ewiges Ende bereiten sollte! Ich wusste nahezu nichts Genaues über die russische Revolution 4, aber schon meine bescheidenen Erfahrungen als Sanitätssoldat im Winter 1918 ließen mich ahnen, dass eine ganz andere, eine neue Kampfkraft von säkularem Ausmaß den Schauplatz betreten hatte: das revolutionäre Proletariat.« (S. 6)

Von diesem revolutionären Proletariat ist seinem Stück aber nichts zu sehen, weder in der frühen Fassung noch in allen späteren, und auch die 1953 nachträglich eingearbeitete Gestalt von Glubbs Neffen Paul, der, wie es heißt, in den Novembertagen 1918 »als Revolutionär gefallen ist« (S. 7), ist nur ein Schemen, denn er wird nur einmal (S. 171) kurz erwähnt, soll aber trotzdem laut Brecht dramaturgisch als Vertreter des revolutionären Proletariats und damit als Alternativ-Gestalt zu Kragler fungieren, der für den späten Brecht nur ein kleinbürgerlicher Randalierer ist. Somit haben wir ein Stück vor uns, dessen Handlung zwar im Revolutions-Winter 1918/19 spielt, in dem aber gar keine Revolutionäre auftreten, und die Revolution immer nur als ein fernes Geschehen »weit hinten in den Zeitungen« erscheint. Der frühe Brecht sah seine Gestalten des Stücks etwas genauer als der späte, denn für ihn war keine einzige dieser Gestalten ein Revolutionär, sondern alle waren lediglich Empörer und Wutbürger, die vom Gefühl getrieben werden, man habe ihnen ein großes Unrecht angetan, und die deshalb ihre Wut abreagieren wollen, gegen wen und gegen was auch immer. Der frühe Brecht schätzte schon deshalb seine Gestalten nicht als Revolutionäre ein, weil er aus seinem Stirner gelernt hatte, Revolutionäre und Empörer genau zu unterscheiden, und dazu brauchte er auch nicht die marxistische Brille, die sich der späte Brecht aufgesetzt hatte, denn bei Stirner konnte er lesen: »Revolution und Empörung dürfen nicht für gleichbedeutend angesehen werden. Jene besteht in einer Umwälzung der Zustände, des bestehenden Zustandes oder status, des Staats oder der Gesellschaft, ist mithin eine politische oder soziale Tat; diese hat zwar eine Umwandlung der Zustände zur unvermeidliche Folge, geht aber nicht von ihr, sondern von der Unzufriedenheit der Menschen mit sich aus, ist nicht eine Schilderhebung, sondern eine Erhebung der Einzelnen, ein Emporkommen, ohne Rücksicht auf die Einrichtungen, welche daraus entsprießen. Die Revolution zielt auf neue Einrichtungen, die Empörung führt dahin, Uns nicht mehr einrichten zu lassen, sondern Uns selbst einzurichten, und setzt auf »Institutionen« keine glänzende Hoffnung. Sie ist kein Kampf gegen das Bestehende, da, wenn sie gedeiht, das Bestehende von selbst zusammenstürzt, sie ist nur ein Heraus-

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arbeiten Meiner aus dem Bestehenden. Verlasse Ich das Bestehende, so ist es tot und geht in Fäulnis über. Da nun nicht der Umsturz eines Bestehenden mein Zweck ist, sondern meine Erhebung darüber, so ist meine Absicht und Tat keine politische oder soziale, sondern, als allein auf Mich und meine Eigenheit gerichtet, eine egoistische 5. Einrichtungen zu machen gebietet die Revolution, sich auf- oder emporzurichten heischt die Empörung.« (EE 354)

Dass der erklärte Verzicht auf das revolutionäre Streben nach neuen Einrichtungen sehr gut Hand in Hand gehen kann mit einer allgemeinen schicksalsergebenen Resignation, sieht natürlich auch schon der junge Brecht und legt deshalb seinem Helden Kragler die entsprechenden Sätze in den Mund, an denen sich dann wieder das Unbehagen des späten Brecht entzündet, denn der schon angesoffene Kragler räsoniert da in Glubbs Schnapskneipe vor sich hin: »Kann man das Militär abschaffen oder lieben Gott? (…) Kann man es abschaffen, dass es Leiden gibt und Qualen, die die Menschen den Teufel gelehrt haben? Man kann es nicht abschaffen, aber man kann trinken. Schnaps kannst du trinken und schlafen, auch auf Steinen.« (S. 53 f.)

Diese resignativen Bekundungen hören sich an wie ein Echo aus Döblins Wang-lun-Roman, denn dort setzt Wang-lun zu einer ganz ähnlichen Rede an, in der er sich von seinen Genossen mit den Worten verabschiedet: »Man hat nicht gut an uns getan: das ist das Schicksal. Man wird nicht gut an uns tun: das ist das Schicksal. Ich habe es auf allen Wegen, auf den Äckern, Straßen, Bergen, von den alten Leuten gehört, dass nur eins hilft gegen das Schicksal: nicht widerstreben. Ein Frosch kann keinen Storch verschlingen. Ich glaube, liebe Brüder, und ich will mich daran halten: dass der allmächtige Weltenlauf starr, unbeugsam ist, und nicht von seiner Richtung abweicht. Wenn ihr kämpfen wollt, so mögt ihr es tun. Ihr werdet nichts ändern, ich werde euch nicht helfen können. Und ich will euch dann, liebe Brüder, verlassen, denn ich scheide mich ab von denen, die im Fieber leben, von denen, die nicht zur Besinnung kommen.« (S. 79 f.)

Diese Resignation als Verzicht auf die revolutionäre Tat steigert Brecht im Gesang des Soldaten der Roten Armee dann noch weiter bis zur Verbitterung nach der revolutionären Tat, denn hier zeigt er einen Teilnehmer an der Revolution, der zunächst für die Idee der Freiheit gekämpft und sein Leben riskiert hat, der also tatsächlich Partei ergriffen hat, und dies mit allen Konsequenzen, sich nun aber eingestehen muss, dass diese Revolution gescheitert ist, weil sie eben 200 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Bilanz und Ausblick

doch nicht die Freiheit gebracht hat und wahrscheinlich auch nie bringen wird. Und so steht er am Ende da mit »leeren« und »blutbefleckten Händen« und einem gefühllos gewordenen »Herz versehrt von Eis« und kann nur noch zynisch grinsend und voller Selbstverachtung von unten auf sich herabschauen. Oder anders formuliert: Aus dem Idealisten, der sich für die Sache der Revolution gern geopfert hätte, ist ein desillusionierten Revolutionär geworden und aus diesem wiederum ein zynischer Parasit 6, der zu der Einsicht gekommen ist, dass er auf seinem unendlich langen Marsch durch ein auch von ihm zerstörtes Land immer nur über die eigene Leiche gegangen war, denn, so Nietzsche, »Zynismus ist die einzige Form, in der gemeine Seelen an das streifen, was Redlichkeit ist.« (II,592) Brecht aber wird Jahre später aus Wang-luns Maxime, man solle und dürfe dem Schicksal nicht widerstreben, ein ganz eigenes Ethos ableiten, das man als ›Prinzip Einverständnis‹ bezeichnen könnte, in der Phase seiner Lehrstücke zum ersten Mal auch dramaturgisch virulent wird und dann das gesamte Spätwerk, aber auch sein eigenes Leben entscheidend prägen sollte, wobei dieses ›Prinzip Einverständnis‹ aber ebenfalls einem dauernden Wandel unterworfen sein wird. (Wir kommen darauf zurück.)

4.5. Bilanz und Ausblick Im Gegensatz zu diesem Rotgardisten der Ballade ist Kragler für den jungen Brecht immer eine eindeutig bejahte Gestalt gewesen, die er auch später 1 noch entschieden verteidigte. Die dramaturgische Orientierung an der Philosophie Max Stirners aber war mit den beiden ersten Fassungen von Baal und mit Trommeln in der Nacht erst mal ausgereizt, denn mit dem Material über den Egoisten Fatzer kam Brecht zeit seines Lebens nicht zurecht, und für alle anderen Stücke, die er nach seinen beiden Erstlingsstücken in Angriff nahm, spielten Stirners Theoreme keine Rolle mehr. Wenn man will, kann man eine Szene in dem Stück Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny 2 sogar als förmliche Verabschiedung Stirners interpretieren, denn dort tritt ein Vielfraß namens Jakob auf, der sich buchstäblich zu Tode frisst (S. 45) und dann von seinen Freunden mit den Versen verabschiedet wird:

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Sehet, Schmidt ist gestorben! Sehet, welch ein glückseliger Sehet, welch unersättlicher Ausdruck auf seinem Gesicht ist! Weil er sich gefüllt hat Weil er nicht beendet hat Ein Mann ohne Furcht! (S. 45)

Nun heißt der hier betrauerte Vielfraß zwar Jakob Schmidt und nicht Johann Caspar Schmidt, wie Max Stirner mit bürgerlichem Namen hieß, aber immerhin heißt er Schmidt, weshalb man, wenn man will, in diesem Tod des Jakob Schmidt eine Szene sehen kann, in der Brecht, geschickt versteckt, Stirner aus seinem eigenen Werk verabschiedet, weil dieser seine Mission für ihn erfüllt hat, zumindest für die Werksphase zwischen 1917 und 1927 erfüllt hat, also zwischen der Bekanntschaft mit Stirners Werk und der Publikation der Hauspostille. Man könnte Brechts Emanzipation von Stirner sicher auch an dem Fatzer-Fragment aufzeigen, das den Untergang des Egoisten Johann Fatzer 3 zum Inhalt hat, doch müßte man hier viel weiter ausholen und dieser Analyse die verschiedensten Bearbeitungsstufen dieses Fragment gebliebenen Projekts zugrunde legen, was den Rahmen unserer Untersuchung jedoch sprengen würde. Dass ihm diese Verabschiedung Stirners nicht ganz so leicht gefallen sein dürfte, lässt sich in Brechts Werk daran ablesen, dass in dem Badener Lehrstück vom Einverständnis von 1929 ein weiterer Herr Schmitt, diesmal ein riesiger Clown, sterben muss, den man buchstäblich demontiert, indem man ihm unter schallendem Gelächter Arme und Beine absägt und ihm schließlich auch noch dem Kopf abschraubt. Die wichtigste dramaturgische Konsequenz aus dieser Verabschiedung Stirners wird, wie wir sehen werden, darin bestehen, dass alle später auftretenden Egoisten in Brechts Werk nicht mehr kynische Egoisten sein werden wie Baal oder Kragler, sondern zynische Egoisten, und das wird schon in der dritten Fassung des Baal der Fall sein. Es gibt aber noch ein zweites Indiz, dem man entnehmen kann, dass der frühe Brecht sich vorsichtig von Stirner zu emanzipieren beginnt. Im Tagebuch findet sich nämlich unter dem 24. September 1920 die Notiz:

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Bilanz und Ausblick

»Warum bin ich zu feig, großen Kränkungen in die schielenden Augen zu sehen? Immer sehe ich gleich ein, was mich lähmt: dass ich über niemanden Macht habe.« (I,170)

Und einen Tag später kommt er sofort wieder auf den gleichen Gedanken zurück und notiert: »Immerfort beschäftigt mich: die geringe Macht, die der Mensch über den Menschen hat. Es gibt keine Sprache, die jeder versteht. Es gibt kein Geschoß, das ins Ziel trifft. Die Beeinflussung geht anders herum: Sie vergewaltigt. (Hypnose.) Dieser Gedanke belagert mich seit vielen Monaten. Er darf nicht hereinkommen, denn ich kann nicht ausziehen.« (I,172)

Das ist nun ganz und gar unstirnerisch gedacht, denn es gibt in Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum zwar das Kapitel Meine Macht (EE 204–231), doch dort räsoniert Stirner nicht über die Macht, die ein Eigner über andere haben will oder haben sollte, sondern allein darüber, dass man und wie man die Machtansprüche anderer abzuwehren habe, weil diese letztlich immer auf die Enteignung des Eigners zielen, sodass dann der Einzige ohne all sein Eigentum übrigbliebe. Gemeint sind mit diesen Machtansprüchen anderer nicht nur Personen, sondern viel mehr Institutionen aller Art wie Parteien, Orden, Kirchen, Armeen und natürlich auch der Staat, die alle versuchen, den Einzelnen für sich und die eigenen Ziele zu instrumentalisieren. Gegen diese angestrebte Fremdverwertung mobilisiert nun Stirner die Selbstbehauptung und Selbstermächtigung des Einzigen als Eigner seiner selbst, der alles, was er an Eigentum und Eigenheit sein eigen nennen kann, vor dem Zugriff anderer zu schützen sucht. Und dies war ja auch die Haltung Kraglers. Diese von Stirner erstrebte Macht in Form von Selbstbehauptung und Selbstermächtigung ist also wesentlich kynisch-defensiv und nicht zynisch-offensiv. Die Haltung der Gestalten, denen wir im nächsten Kapitel begegnen werden, ist deshalb auch nicht mehr die Einstellung hinhaltender Hingabe, sondern die Haltung verfügender Zugriffigkeit. Dies gilt, wie wir sehen werden, v. a. für den Baal der dritten Fassung. Wir werden aber auch sehen, in welch hohem Maß der Wunsch des jungen Brecht, Macht über andere zu haben und auszuüben, in späteren Jahren in Erfüllung gehen wird, als er den »Brechtkreis« um sich scharte, den John Fuegi dann in seiner Brecht-Biographie sarkastisch als »Brecht & Co.« bezeichnete. Vor allem aber sollte Brechts 203 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Wunsch in Ostberlin in Erfüllung gehen, als es ihm gelang, den dortigen Machthabern ein eigenes Theater abzutrotzen, in dem er dann regierte wie ein absolutistischer Fürst, also als ein Einziger inmitten seines Eigentums. Stirners Philosophie des Eigners, der sich selbst verzehrt, war damit geradezu ins Gegenteil verkehrt.

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Kapitel V Enteinzigungen und Enteignungen oder Der Einzige im Sog des Man 5.1 Einleitung Wir haben in Kapitel II gesehen, wie massiv die Umbrüche im geistigen Haushalt des jungen Brecht und deren Niederschlag in seinen frühesten Werken durch die Orientierung am biblischen Gegengott Baal und am Gegenphilosophen Max Stirner waren. Da Brecht diesen Max Stirner in Gestalt des Herrn Schmidt in Mahagonny und als Herrn Schmitt im Badener Lehrstück vom Einverständnis aber sterben ließ, stellt sich nun die Frage, welche Konsequenzen dieser erneute Umbruch für den Brecht dieser neuen Werksphase mit sich brachte, welche dominanten Einstellungen nun kultiviert wurden und an welchen neuen Gestalten dies in den nunmehr entstandenen Werken ausagiert wurde bzw. welche schon vorliegende Werke nun in einem neuen Licht erschienen und aufs neue überarbeitet werden wollten. Dies gilt natürlich v. a. für Baal. Dass Brecht seinen frühen philosophischen Mentor Max Stirner in Gestalt der Herren Schmidt/Schmitt auf so spektakuläre Weise sterben ließ, darf uns aber nicht zu dem Schluss verleiten, damit sei seine Orientierung an Stirner eine in sich abgeschlossene Werksphase, die in Brechts Entwicklung keine weiteren Spuren hinterlassen habe, sondern wir müssen fragen, ob nicht auch die Emanzipation von Stirner in Bahnen verlaufen ist, die von Stirner selbst vorgegeben sind. Wenn Stirner nämlich im letzten Satz seines Hauptwerks vom Einzigen spricht als »dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt«, so stellt sich sofort die Frage, was aus diesem Einzigen als dem Eigner seiner selbst wird, nachdem er sich selbst und zugleich damit auch seine Eigenheit verzehrt hat. Wird also, anders gefragt, aus dem Einzigen als dem Eigner seiner selbst ein Verleugner seiner selbst, ein Mensch ohne Eigenheit, ohne ein unveräußerliches proprium, ein Mensch also, der gerade wegen seiner Eigenschaftslosigkeit prinzipiell jede Rolle problemlos antreten und ausfüllen kann? 205 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Wird aus ihm ein »Mann ohne Eigenschaften« im Sinne von Robert Musil? Oder ein Mann mit beliebig austauschbaren Eigenschaften? Oder wird aus ihm gar eine austauschbare Unperson? Dieses Thema verlierbarer und verlorener Identität scheint Brecht schon sehr früh beschäftigt zu haben, denn schon während er an Baal und an Trommeln in der Nacht schrieb, beschäftigte er sich mit einem Stoff, den man als Vorstufe von Mann ist Mann verstehen kann, denn auch die Geschichte dieses guten Joseph Galgei besteht darin, dass er ganz wie später Galy Gay in einen bösen Andern verwandelt wird: Das war der Bürger Galgei Mit schwerem Kopf und dick Dem sagten Schurken einst, er sei Der Butterhändler Pick. Es waren böse Menschen Die schenkten ihm den Strick Er wollt es nicht und wurde Am End der böse Pick. Er konnt es nicht beweisen Es stand ihm keiner bei. Steht nicht im Katechismus Dass er der Galgei sei. Der Name stand im Kirchbuch. Und am Begräbnisstein? Der Bürger Galgei konnte Gut auch ein andrer sein. Der Bürger Joseph Galgei Geboren im April Fromm, ordentlich und ehrlich Wie Gott der Herr es will. 1

Und in einer der wenigen Szenen wird diesem Galgei eingehämmert, nachdem er es gewagt hatte, zu behaupten, »dass ich Galgei bin, ich denke, ich weiß, ich bin nicht Pick. Aber dann weiß ich nicht mehr sicher, dass ich Galgei bin«: »Bilde dir nicht ein, du seist Galgei, der Tischler, noch Pick, der Butterhändler. Sondern du bist nichts. Ängstige dich nicht, denn du bist kein Wolf, überhebe dich nicht, denn ein Lamm bist du nicht: du bist nichts. Das Gras hat keinen Namen, es gibt zuviel und es verdorrt am Abend und ist nicht

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Einleitung

gewesen. Darum muss man demütig sein und sich verbeugen, rundherum und nach unten und auch nach oben.« (S. 27)

So gesehen ist das Fragment Galgei der erste Schritt zur Emanzipation Brechts von Stirners Ethos der Eigenheit und Vereinzigung. Wir werden auch sehen, dass Brecht in dieser Phase seines Werks zwei Gestalten erfindet, die er als zwei verschiedene Erben des Einzigen bzw. als Kontrafakturen zum Einzigen auftreten lässt. Da ist zum einen der ewig unmündige Galy Gay als Verleugner seiner selbst, der sich seine jeweiligen Rollen und Identitäten durch die jeweilige Situation vorschreiben lässt, weil er einfach »nicht nein sagen kann« und deshalb in jedem beliebigen Kader als Kollektiv-Ich und als perfekter Funktionär Karriere machen kann. Und da ist zum andern »Herr Keuner, der Denkende«, der als die ironische Variante des Verleugners seiner selbst auftritt, seine Rollen prinzipiell selbst wählt und bei alledem immer der konsequente Einzelgänger bleibt. Wir dürfen allerdings auch nicht übersehen, dass diese beiden neuen Gestalten in Brechts Denkwerk deutlich reduziert sind. So ist das Verhalten des Galy Gay mit massiven Schüben von personaler Regression erkauft, vielleicht sogar notwendigerweise damit erkauft, denn eine Gestalt wie der Packer Galy Gay, der »nicht nein sagen kann«, hat eben dadurch, dass er »nicht nein sagen kann«, letztlich doch mehr verloren als gewonnen. Und ein Herr Keuner, der auf den Typus des »Denkenden« festgelegt wurde, ist deshalb, weil er ein nur Denkender ist, eben auch nur ein Denkender, gleichsam das gestaltgewordene cartesische Cogito, und somit ist letztlich auch er eine reduzierte Gestalt, weil das Denken eben nur einen Teil menschlicher Existenz ausmacht. Trotzdem scheut sich Brecht in dieser Phase seines Werks nicht, diese beiden Gestalten als Beispiele eines bzw. des »Neuen Menschen« zu verkünden und stellt sich damit in eine geistige Strömung 2, die das ganze 20. Jahrhundert durchzogen und fatale Effekte erzeugt hat, denn Hannah Arendt hat natürlich völlig recht, wenn sie moniert, das Phantom des »Neuen Menschen« sei nichts als »der alte utopische Unsinn«, denn die Erfahrung habe gezeigt, dass alle Versuche, diesen »Neuen Menschen« hervorzubringen, zwangsläufig in »Gewaltherrschaft« enden und außerdem in einer »Entmenschlichung des Menschen.« 3

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5.2 Man ist Man Zur gleichen Zeit als Brecht in Berlin an seinem Stück Mann ist Mann schrieb, brütete Martin Heidegger in seiner Hütte im Schwarzwald über seinem epochalen Werk Sein und Zeit, in dem er u. a. auch ausführlich auf das Problem des Daseins im Status des »Man« eingeht. Das thematisch einschlägige Kapitel 27 lautet: Das alltägliche Selbstsein und das Man 1. Es hätte vielleicht auch lauten können: »Das alltägliche Selbstsein als das Man«, weil Heidegger hier sorgfältig zwischen dem »alltäglichen Selbstsein« und dem »eigentlichen Selbstsein« unterscheidet, das sich als ein von sich selbst »eigens ergriffenes Selbst« (S. 129) weiß und sich demenentsprechend verhält. Ausgehend von Wendungen wie »das tut man so« bzw. »das tut man nicht« ist für Heidegger das »Man« »die Herrschaft des Anderen« (S. 126) bzw. die Herrschaft aller Anderen, der man sich bei seinem eigenen Verhalten anzugleichen und unterzuordnen hat. Diese bereitwillige Unterordnung unter das, was man zu tun und zu lassen hat, sieht Heidegger, der hier wie ein fernes Echo Stirners spricht, weil sein »Man« dem in etwa ähnlich ist, was Stirner als »Besessenheiten« 2 bezeichnet, durchaus kritisch, weil dieses willige Mitschwingen im Sog der Anderen eine fatale »Seinsentlastung« (S. 127) suggeriere, die wiederum eine ebenso fatale »Tendenz zum Leichtnehmen und Leichtmachen« (S. 128) in sich berge, was Heideggers eigener Forderung, im Bewusstsein von Härte, Schwere, Schicksal und Tragik zu leben, total widerspricht: »Und weil das Man mit der Seinsentlastung dem jeweiligen Dasein ständig entgegenkommt, behält es und festigt es seine hartnäckige Herrschaft.« (S. 128)

Mit einem Wort: »Jeder ist der Andere und Keiner er selbst.« (S. 128) Denn: »Das Man, mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat.« (S. 128)

Vor diesem Hintergrund kann man Brechts Stück Mann ist Mann 3 durchaus als Illustration dessen verstehen, was Heidegger als »das Man« bestimmt hat, obwohl und gerade weil es in der Tendenz explizit gegen Heideggers Ontologie des Man gerichtet ist, weil Brecht den Identitäts-Verlust und den daran sich anschließenden Identitäts-Aus208 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Man ist Man

tausch seines Helden Galy Gay ausdrücklich als Existenz-Gewinn verstanden wissen wollte, wenn er im Vorspruch zu seinem Stück über seinen zum Soldaten der britischen Armee »ummontierten« Galy Gay schreibt: »Und er hat nicht nur nichts an Kraft verloren, sondern er blüht im Gegenteil sichtlich auf, er wird stärker und stärker. Unter den Vielen [also den vielen Anderen, L. P.] einer von Vielen [also im Status des Man, L. P.], erlangt er seine größte ihm mögliche Entfaltung, er ist gleichsam der Erste von allen, der durch die Masse an Stärke wirklich gewinnt. (…) Denn seine Schwäche war es gewesen, nicht nein sagen zu können, aber seine Stärke wurde es, ja sagen zu können.« (S. 66)

So gesehen zeigt sich Brechts Stück Mann ist Mann von 1926 als das Schlüsselstück der Werksphase, der wir uns nun zuzuwenden haben, weil in diesem Stück die Probleme dieser neuen Werksphase in besonderer Schärfe und Ausprägung sichtbar werden. Denn so wie Brecht beim Umbruch von 1917 seinen Vornamen von »Berthold Eugen« in »Bert« verändert hatte, um damit deutlich zu machen, dass er sich in seinem Selbstverständnis als Person und Autor entscheidend verändert habe, so nennt sich Brecht nun in seiner Berliner Zeit ab 1924 nochmal um in »Bertolt Brecht«, um einen weiteren Umbruch in seinem geistigen Haushalt anzudeuten. Bei der ungewöhnlichen Schreibweise »Bertolt« statt »Berthold« diente ihm sein damaliger Freund Arnolt Bronnen als Vorbild, der seinen Vornamen »Arnold« in »Arnolt« verändert hatte, damit dieser etwas zackiger, härter und ›sachlicher‹ klingen sollte, und diesen Effekt wünschte sich wohl auch Brecht bei dem neuen Vornamen »Bertolt«. Das Chamäleon Brecht hatte also wieder einmal eine andere Farbe angenommen. Die Handlung des Stücks besteht in der Verwandlung des gutmütigen und nicht besonders intelligenten Packers Galy Gay zu der menschlichen Kampfmaschine Jeraiah Jip durch eine Gruppe von Soldaten der britischen Armee in Indien, die einen Ersatzmann für ihren Kameraden Jeraiah Jip brauchen, der ihnen bei einem Einbruch verlorengegangen ist. Dieser Plot könnte in der Tat die Grundlage für eine Lustspielhandlung abgeben, weil sich dadurch immer wieder Situationen ergeben können, in denen dieser Galy Gay immer wieder im unpassendsten Moment in seine alte Identität zurückfällt, sodass sich beide Identitäten auf eine komische Weise aneinander reiben. Doch von alledem ist in Brechts Stück nicht einmal ansatzweise die 209 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Rede, weil Brecht sein Stück zwar als Lustspiel bezeichnet, mit ihm aber letztlich ein Thesenstück geschrieben hat, das die Behauptung beweisen soll, dass man »mit einem Menschen beliebig viel machen kann« (S. 190), denn im Geltungsbereich des »Man« sind eben nicht nur alle Katzen grau, sondern auch alle Individuen austauschbar. Damit der Beweis für diese These auch dramaturgisch leichter fällt und die Verwandlung Gal Gays in Jeraiah Jip problemlos gelingt, wird dieser Galy Gay zunächst als jemand vorgestellt, »der nicht nein sagen kann«, auch nicht nein zu seiner neuen Identität, die man ihm aufgeschwatzt und aufgezwungen hat. Außerdem wird auch noch eine Intrige inszeniert, die darin besteht, dass Galy Gay dazu angestiftet wird, einen nicht mal existenten Elefanten als Heeresgut der Armee zu verkaufen, woraufhin er des Betrugs und des Diebstahls an Heeresgut angeklagt und zum Tod verurteilt wird. Diese ziemlich dämliche Intrige gelingt dann seltsamerweise tatsächlich, der verwandelte Galy Gay wird vor das Erschießungs-kommando gestellt, das auch auf ihn anlegt, ihm aber noch die Möglichkeit gibt, ein letztes Wort vor seinem Tod zu sagen. Und dann setzt der ummontierte Galy Gay zu seinem Identitäts-Bekenntnis an: »Wenn ihr jetzt losschießt, müsst ihr mich ja treffen. Halt! Nein, noch nicht. Hört mich! Ich gestehe! Ich gestehe, dass ich nicht weiß, was mit mir geschehen ist. Glaubt mir, und lacht nicht, ich bin einer, der nicht weiß, wer er ist. Aber Galy Gay bin ich nicht, das weiß ich. Der erschossen werden soll, bin ich nicht. Wer aber bin ich? Denn ich hab’s vergessen; gestern abend, als es regnete, wusst ich’s. Gestern abend regnete es doch? Ich bitte euch, wenn ihr hierher schaut oder dorthin, wo diese Stimme herkommt, das bin ich, ich bitte euch. Ruft die Stelle an, sagt Galy Gay zu ihr oder andere Wörter, erbarmt euch, gebt mir ein Stück Fleisch! Worin’s verschwindet, das ist der Galy Gay und das, woraus es kommt. Mindestens das: so ihr einen findet, der vergessen hat, wer er ist, das bin ich. Und den lasst, ich bitte euch, noch einmal laufen.« (S. 202 f.)

Dann folgt der Befehl »Feuer!«, aber bevor geschossen wird, fällt Galy Gay in Ohnmacht und erwacht erst wieder, als eine Beerdigung im Gange ist, bei der, wie man ihm sagt, ein gewisser Galy Gay begraben werden soll, den man exekutiert habe, und dem er doch bitte eine Leichenrede halten möge. Und weil er eben auch nach seinem Tod und seiner Auferstehung und in seiner neuen Identität immer noch nicht nein sagen kann, tut er dies denn auch und hält diese Rede in seiner neuen Identität als der berühmte Jeraiah Jip aus Tipperary:

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»Hier ruht Galy Gay, ein Mann, der erschossen wurde. Er ging weg, einen kleinen Fisch zu kaufen am Morgen, hatte am Abend schon einen Elefanten und wurde in derselbigen Nacht noch erschossen. Glaubt nicht, meine Lieben, er war der nächste beste, solange er lebte. Er hatte sogar eine Strohhütte am Rande der Stadt und auch sonst noch einiges, worüber man allerdings besser schweigt. Es war ein großes Verbrechen, das er beging, der ein guter Mann war. Und man mag sagen, was man will, und eigentlich war es ein kleines Versehen, und ich war zu sehr betrunken, meine Herren, aber Mann ist Mann, und darum musste er erschossen werden.« (S. 210)

Und als später der echte Jeraiah Jip wieder bei der Truppe auftaucht, macht man diesem klar, dass er ganz und gar nicht Jeraiah Jip ist, sondern Galy Gay und bietet ihm sogar dessen Wehrpass an, worauf dieser seine ehemaligen Kameraden verflucht und sich aus dem Staub macht. Der neue Jeraiah Jip aber präsentiert sich in den nächsten Gefechten als die perfekte »menschliche Kampfmaschine« (S. 223) und erobert eine tibetanische Bergfestung fast im Alleingang. Wenn man dieses Stück als Lustspiel liest oder inszeniert, so muss man seine komische Potenz schon fast mit der Lupe suchen; liest man es jedoch als Thesenstück und im Hinblick darauf, was den Brecht dieser Werksphase wesentlich bewegt hat, so erweist es sich geradezu als Fundgrube, wie dies bei misslungenen Texten fast immer der Fall ist, weil die Diskrepanz zwischen dem Gewollten und dem faktisch Geleisteten das Gewollte umso deutlicher sichtbar werden lässt. In der Fassung von 1926 stellt Brecht den Charakter seines Lustspiels Mann ist Mann als Thesenstück und dessen Handlung als Experiment am lebenden Objekt ausdrücklich nochmal klar, wenn er seine erkenntnisleitende These im Zwischen-spruch durch die Witwe Begbick vortragen lässt: Herr Bertolt Brecht behauptet: Mann ist Mann. Und das ist etwas, was jeder behaupten kann. Aber Herr Bertolt Brecht beweist auch dann, Dass man mit einem Menschen beliebig viel machen kann. Hier wird heute abend ein Mensch wie ein Auto ummontiert, Ohne dass er irgend etwas dabei verliert. Dem Mann wird menschlich näher getreten, Er wird mit Nachdruck, ohne Verdruß gebeten, Sich dem Laufe der Welt schon anzupassen Und seinen Privatfisch schwimmen zu lassen.

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Herr Bertolt Brecht hofft, Sie werden den Boden, auf dem Sie stehen, Wie einen Schnee unter sich vergehen sehen Und werden schon merken bei dem Packer Galy Gay, Dass das Leben auf Erden gefährlich sei. (S. 190)

Da wird man doch wohl einige Fragen zu stellen haben, zum Beispiel folgende: •





• • •

• •

Beweist die Handlung des Stücks tatsächlich die behauptete These, man könne aus einem Menschen beliebig viel machen? Oder folgt auf diese erste Behauptung bloß eine zweite Behauptung, die dann aber als Beweis der ersten Behauptung ausgegeben wird? Oder lässt sich die These, man könne mit einem Menschen beliebig viel machen, überhaupt nur mit einem gezielt verdooften Typ wie diesem Galy Gay durchexerzieren, weil dieser eben nicht nein sagen kann? Muss man wirklich Angst um die eigene Identität haben, wenn man dieser angeblich so leichten und erfolgreichen Ummontierung eines Menschen zuschaut, weil man dabei merkt, dass einem all dies auch passieren könnte? Warum eigentlich sollte man auf seine Privatheit verzichten und sich dem Lauf der Welt anpassen? Und worin besteht überhaupt dieser Lauf der Welt? Und verliert man wie dieser Galy Gay wirklich nichts, wenn man seine Identität so bereitwillig aufgibt und sich in irgendein Kollektiv einschmelzen lässt? Und ist diese Einschmelzung in ein Kollektiv wirklich so ein großer Gewinn? Und wenn ja, was könnte man dabei denn gewinnen?

Brecht selbst sah in seinem verwandelten Galy Gay zunächst einen positiven Helden 4, was er im Schluss-Monolog der Aufführung von 1928 auch ausdrücklich verkünden lässt, denn dort zieht die Witwe Begbick die Bilanz des Abends mit den Worten: Da marschieren sie hin der neue Mann immer voran einmal war er Galy Gay der Packer aber dann wurde er verwandelt er wurde dadurch stärker.

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Jetzt hat er schon eine Bergfestung erobert und niemand weiß, was morgen sein wird. Mann ist Mann. Aber der »neue« Mann ist der bessere Mann. (S. 228)

Ob dieser »neue Mann« tatsächlich »der bessere Mann« ist, kann man faktisch nicht wissen, weil das mit ihm angestellte Experiment keine rechte Beweiskraft hat, sondern bloß eine neue Behauptung darstellt. Dass man es aber glauben kann und laut Brecht auch glauben soll, zeigt, in welchem Maß Brechts Ablösung von Stirners rabiater Kritik aller »Sparren« bei ihm die Bereitschaft zu neuen Formen von Gläubigkeiten aller Art freigesetzt haben muss, und diese Entwicklung wollen wir nun etwas genauer verfolgen. Der im allgemeinen sehr brechtfromme Brecht-Exeget Jan Knopf meint zu Galy Gays Metamorphose in eine »menschliche Kampfmaschine«: »Das Eingehen in die Masse, das Brecht vorführt und das den Sinn des Stücks ausmacht, hat schließlich auch noch zwei Seiten: die eine, die Brecht vorschwebt, soll zeigen, wie das Individuum als neues Individuum aus dem Kollektiv hervorgeht, sich nicht im Gegensatz zu ihm definiert, sondern sich durch das Kollektiv bestimmt und auch ›gekräftigt‹ sieht; die andere, die sich dann im Faschismus durchsetzt, degradiert das Individuum zum Massenteil, und zwar zum bewusstlosen, verhetzten, die eigenen Möglichkeiten und die Menschlichkeit leugnenden Herdentier mit allen freigesetzten niedrigen Instinkten und löscht es damit aus. Dass der Stoff beide – bzw. alle – aufgeführten Möglichkeiten in sich trägt, hat nichts mit interpretatorischer Beliebigkeit oder beliebigen Umdeutungen des Stoffs durch den Verfasser zu tun, es liegt am Stoff, an der Realität, auf die er verweist, selbst: er ist widerspruchsvoll, es gibt nicht nur eine Lösung des Problems.« (S. 23)

Jan Knopf hatte, als er diese Unterscheidung zwischen dem Eingehen in eine fortschrittliche kommunistische Masse und eine reaktionäre faschistische vornahm, wahrscheinlich Brechts Auseinandersetzung mit Georg Lukács im Ohr, die Brecht in den späten dreißiger Jahren führte, und in der der schon zum Marxismus konvertierte Brecht scharf zwischen den durch den gesetzmäßigen historischen Prozess emporkommenden proletarischen und den zwangsläufig absteigenden bürgerlichen Massen und der diesen jeweiligen Massen zuzuordnenden Literatur unterschied. Und da Lukács gefordert hatte, auch die kommunistische Literatur müsse sich am klassischen bürger213 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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lichen realistischen Erbe orientieren, widersprach er ihm scharf mit dem Argument: »Es wird nicht angeknüpft an das gute Alte, sondern an das schlechte Neue.« 5

Denn: »Der Mensch wird nicht wieder Mensch, indem er aus der Masse herausgeht, sondern indem er hineingeht in die Masse. Die Masse wirft ihre Entmenschtheit ab, damit wird der Mensch wieder Mensch (nicht einer wie früher). Diesen Weg muss die Literatur in unserem Zeitalter gehen, wo die Massen an sich zu ziehen beginnen, was es an Wertvollem, Menschlichem gibt, wo die Massen diese Leute mobilisieren gegen die Entmenschung durch den Kapitalismus in seiner faschistischen Phase.« (II,108)

Doch ist der Unterschied zwischen dem Eintauchen in ein jeweils militärisches, kommunistisches, faschistisches oder auch klerikales Kollektiv oder auch bloß in ein alltagsbürgerliches »Man« im Sinne von Heidegger wirklich so groß, wie Brecht und sein Jünger Jan Knopf meinen, ja, besteht da überhaupt ein Unterschied? Die Offenheit der Mann-ist-Mann-Fabel nach allen ideologischen Seiten hin scheint sogar Brecht selbst gemerkt zu haben, weshalb er während der Nazizeit Überlegungen anstellte, wie man die Fabel des Stücks ideologisch kontern könne, indem man aus Galy Gay einen SA-Mann macht, denn: »Die Parabel »Mann ist Mann« kann ohne große Mühe konkretisiert werden. Die Verwandlung des Kleinbürgers Galy Gay in eine »menschliche Kampfma-schine« kann statt in Indien in Deutschland spielen. Die Sammlung der Armee zu Kilkoa kann in den Parteitag zu Nürnberg verwandelt werden. Die Stelle des Elefanten Billy Humpf kann ein gestohlenes, nunmehr der SA gehörendes Privatauto einnehmen. Der Einbruch kann statt in den Tempel des Herrn Wang in den Laden eines jüdischen Trödlers erfolgen. Jip würde dann als arischer Geschäftsteilhaber von dem Krämer angestellt. Das Verbot sichtbarer Beschädigung jüdischer Geschäfte wäre mit der Anwesenheit englischer Journalisten zu begründen.« (S. 249)

Wenn also überhaupt ein Unterschied zwischen dem Eintauchen in unterschiedliche Massen besteht, dann besteht er jedenfalls nicht im faktischen Sein und im Grad der »Ummontierung«, sondern im Bewusstsein, genauer: in der jeweiligen Gläubigkeit, denn natürlich kann man mit Brecht an das »schlechte Neue« glauben, und natürlich kann man auch daran glauben, mit dem Eintauchen in eine proleta214 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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risch-kommunistische Masse habe man bei dieser »Ummontierung« die Entmenschtheit und die Entfremdung schlagartig abgestreift, an der man bis dahin gelitten habe. Aber all das ist halt leider auch nur wieder ein Glaube, einer unter vielen, ein »Sparren« wie jeder andere auch, weshalb die Texte, mit denen solche Glaubenskonstrukte bekundet werden, sich denn auch so fatal ähnlich sind. Und schließlich ist die Zahl der Renegaten, die der kommunistischen Heilsbotschaft und diesem »Gott, der keiner war« 6, wieder den Rücken gekehrt haben, nicht gerade gering. So formuliert z. B. der Nazi-Lyriker Gerhard Schumann dieses emphatische Jasagen zum Lauf der Welt in einem für ihn sehr typischen spätexpressionistischen Gedicht folgendermaßen: Ja O münde in die Welt. O gib dich hin. Die dunkle Not, der blaue Tag ist dein. Schrei der Verzweiflung und verzückter Traum, Die Wand der Frage und der Raum der Sterne. O gehe du hinaus. O gib dich hin. Sieh, du verlierst dich nicht. Stumm hält es dich. Gehorch dem inneren Stern und willige ein. Wer ja sagt, ist erlöst. 7

Erlöst also davon, ein vereinzeltes und entsprechend entfremdetes Individuum sein zu müssen, was Schumann offenbar als Last, vielleicht sogar als Schuld empfunden zu haben scheint. Jedenfalls gilt auch für den Nazi-Lyriker Schumann, genau wie für den Brecht dieser hier in Rede stehenden Werksphase, das Dasein im Kollektiv und damit auch im Status des »Man«, dem man sich mit einem umfassenden »Ja!« anheimgibt, als eine Existenzform, die weitaus wertvoller ist als das Dasein als Einziger mit all seinem Eigentum, weil es, wie Heidegger sagen würde, eine umfassende »Seinsentlastung« mit sich bringt, die einem hilft, alles und selbst das Schwerste leichter oder gar leicht zu nehmen. Man kann Brechts Moral seines Stücks Mann ist Mann und seine Behauptung, der ummontierte Galy Gay sei »der bessere Mann« natürlich auch werten als ein Plädoyer für den Kadavergehorsam, der über Leichen geht, denn schließlich ist das Kollektiv, dem dieser Galy Gay nach seiner Metamorphose angehört, nicht ein biederer Männergesangsverein, sondern eine imperialistische Armee 215 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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mit dem Ethos des Kadavergehorsams und dem Auftrag, möglichst viele Leichen zu produzieren, in der dieser Galy Gay nach seiner Metamorphose als »menschliche Kampfmaschine« wirken soll. Beschworen wird all dies in dem Refrain des Mann-ist-Mann-Songs: Drauf kommt’s nicht an, Denn ein Mann ist ein Mann. Wie? warum? wann? Aber Tom, schau, darauf kommt’s ja gar nicht an! Denn Mann ist Mann! Und darauf kommt’s an! Die Sonne von Kilkoa scheint Auf siebentausend Männer hin, Die sterben alle unbeweint, Und ’s ist bei keinem schad um ihn; Drum sagen wir: ’s ist gleich, auf wen Die rote Sonne von Kilkoa schien! 8

Diese »menschlichen Kampfmaschinen« und ihren auf Hingabe gegründeten Kadavergehorsam hat natürlich auch der Nazi-Lyriker Schumann in einem Gedicht verherrlicht, das sich wie eine Kontrafaktur zu Brechts Gesang des Soldaten der Roten Armee liest: Lied der Kämpfer Als wir die Fahne durch das Grauen trugen – Wir fragten nicht und wussten kaum warum. Wir folgten, weil die Herzen herrisch schlugen, Durch Hohn und Hass, marschierten treu und stumm. So sind wir drohend in den Sieg gezogen. Wir fragten nicht, wir dienten unserm Schwur. Die Banner rauschten und die Lieder flogen – Wir ruhten nicht. Uns riss des Sternbilds Spur. Auch als der schwarze Tag uns schier zerschmettert, Wir fragten nicht, wir brachen nicht ins Knie. Wir folgten dem, das aus der Fahne wettert. Wir zogen stumm, wenn auch das Herz uns schrie. Die Vielzuvielen sind versprengt, verlaufen, Vom Feuer blind, das über uns gebraust. Die heut marschieren in den erznen Haufen, Wir fragen nicht. Wir sind des Führers Faust.« (S. 71)

Spätestens hier ist es sinnvoll, Brechts Behauptung, dass man aus 216 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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einem Mann beliebig viel machen könne, neu zu formulieren und nun etwas vorsichtiger als die Frage, ob es allgemeinmenschliche Dispositionen gebe, die man in bestimmten Situationen gezielt abrufen könne, um sie dann in bestimmten militanten Kollektiven gezielt zu instrumentalisieren und für bestimmte Zwecke einzusetzen, die man dann auch als Gehorsam gegenüber bestimmten Glaubenskonstrukten rechtfertigen kann. Wie wir gesehen haben, hat Stirner all diese Gläubigkeiten entschlossen vom Tisch gefegt und all diese Überzeugungstäter als »Besessene« 9 verhöhnt. Und so ist eben auch Galy Gay nach seiner Metamorphose zu Jeraiah Jip als »menschliche Kampfmaschine« in diesem Sinn ein »Besessener«, man könnte auch sagen: ein perfekter Tötungs-Funktionär, dessen Besessenheit sich, wie im letzten Satz des Stücks angedeutet wird, auch gegen die Mitglieder des eigenen Kollektivs richten kann, weil Polly vor ihm erschrickt und ahnungsvoll sagt: »Der lässt uns noch alle köpfen!« (S. 223) Denn offenbar geht der Wille zur Schaffung eines Neuen Menschen immer auch einher mit dem Willen, die Vertreter des von der Entwicklung vermeintlich überholten älteren Menschentyps gezielt auszurotten. Brecht selbst sah seinen Galy Gay später ebenfalls ähnlich kritisch und dürfte wohl auch ein bißchen vor der von ihm geschaffenen Gestalt erschrocken sein, denn in einem Gedicht von 1937, in dem er auf einige seiner frühen Dramengestalten zurückblickt, heißt es: Du, Galy Gay, der du ausgingst, einen Fisch zu kaufen Gierig nach einem Auftrag, deinen Namen tauschend Mit jedem andern, bis du Mit dem bösen Uria, der dich kannte, dem Seelenbauer Im fernen Tibet marschiertest, ein Williger Schlächter. (S. 1156)

Und weiterhin wäre zu fragen, welche von all diesen Dispositionen die fundamentalste sei. Wahrscheinlich ist es die Bereitschaft zur rückhaltlosen Hingabe, die sich z. B. darin zeigt, dass man wie Galy Gay von vornherein schon nicht nein sagen kann oder aber sich dazu entschließt, von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr nein sagen zu wollen, sodass diese Haltung buchstäblich zur zweiten Natur des ominösen »Neuen Menschen« wird. Eine plausible Antwort auf unsere Frage nach dieser fundamentalen Disposition findet sich schon in der monastischen Literatur des

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Hochmittelalters in den Geistlichen Unterweisungen von Meister Eckehart, der gleich im ersten Satz schreibt: »Aufrichtige und völlige Hingabe ist eine Tugend vor allen Tugenden. Kein Werk von Belang kann ohne sie zu stande kommen. Und wie unbedeutend ein Geschäft auch ist und wenig im Ansehn, doch ist’s mit Hingabe getan, förderlicher als Messe lesen oder hören, als beten, kontemplieren oder was du gedenken magst – nimm, sag ich, das schnödeste Geschäft von der Welt: deine aufrichtige Hingabe verleiht ihm Adel und höhern Wert.« 10

Mit diesen paar Sätzen hat Meister Eckehart schon um 1300 die Ethik des perfekten Funktionärs formuliert, der mit notorisch gutem Gewissen zu allem bereit ist, auch zu allen Schandtaten, und darüber hinaus auch noch bereit ist, strotzend vor Demut über Leichen zu gehen und, wenn es denn sein muss, sogar noch über die eigene. In dieser monastischen Tradition des absoluten Gehorsams sieht Eugen Drewermann generell den Typ des Klerikers, also des klerikalen Funktionärs, dem er eine umfangreiche und äußerst erhellende psychogenetische Studie 11 gewidmet hat, deren Ergebnisse sich prinzipiell auch auf die Funktionäre aller anderen militanten Kollektive ausweiten und anwenden lassen, weil auch dort analoge Strukturen gelten. Ausgangspunkt für diese willige Einschmelzung in ein militantes Kollektiv ist für Drewermann die radikale Enteinzigung und Entpersönlichung, also die schon von der Benediktiner-Regel eingeforderte »Selbstverdemütigung«: »Es geht stufenweise um ein System verinnerlichter Außenlenkung, innerhalb dessen niemals das eigene unwürdige, sündige, unzuverlässige und aufsässige Ich, statt dessen aber die Weisung anderer: das Vorbild Christi und die Leitung des Oberen bzw. des geistlichen Meisters als maßgebend gilt Ob Christus oder der Orden – der Ort der Wahrheit liegt grundsätzlich außerhalb der eigenen Person; und eben diese Gleichsetzung alles Eigenen mit dem Unwahren, dem Unchristlichen, ja, dem Gottwidrigen muss ein ständiges Misstrauen gegenüber der eigenen Psyche erzeugen sowie eine verzweifelte Tendenz, sein Heil in der Fremdbestimmung durch andere zu suchen. Nimmt man die Anweisung zur »Demut« 12 in dieser Form beim Wort, so entsteht im Erleben eine Werteskala, nach der alles Eigene grundsätzlich falsch ist, ganz einfach weil es etwas Eigenes ist, und alles Fremde als wahr erscheinen muss, ganz einfach weil es von außen kommt und deshalb als selbstlos gilt. Auf diese Weise wird das Göttliche, die Wahrheit, in die rein abstrakte Negation des eigenen Willens gesetzt, der damit von allem konkreten Inhalt entleert wird, um sich rein formal auf das Wollen des Nicht-selber-Wollens

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zu reduzieren. Es geht also keinesfalls nur darum, die »egoistische« Motivation eines Willens zu überwinden, der seinen Inhalt wesentlich darin sieht, einzig sich selber zu wollen, es geht darum, die Grundlage des Selber-Wollens überhaupt zu zerstören: Nicht, dass das Ich zum alleinigen Objekt des Wollens erhoben würde, gilt als das Mangelhafte, sondern, dass es überhaupt das Subjekt seines Wollens sein möchte, wird als das Unvollständige, Verkehrte, zu Überwindende betrachtet; Subjekt des Wollens sein zu wollen wird identisch gesetzt mit der Subjektivität des Wollens selber und daher für die Quelle des Übels gehalten. Die Frage ist bereits rein logisch natürlich unter diesen Umständen nicht beantwortbar, wieso das fremde Ich, die Person des Vorgesetzten z. B., von dieser vermeintlichen Fehlerhaftigkeit und Sündhaftigkeit des Ichs ausgenommen sein sollte oder könnte; indessen wird das Problem gemeinhin mit der Auskunft kaschiert, dass in dem anderen der Geist Gottes selber bzw. »die Kirche Christi« das Wort ergreife und schon deshalb die göttliche Wahrheit an und für sich zum Ausdruck komme. Es entsteht so die Illusion eines subjektlosen Kollektivs, in dem, was immer geschieht oder verordnet wird, als von Gott gewirkt ausgegeben wird. Mit anderen Worten: die Ausschaltung des individuellen Ichs geht notwendig einher mit der Ideologisierung der Gruppe zu einer absoluten Größe, die, als Kollektiv, nicht hinterfragbar, die Wahrheit selber zu sein und zu verkörpern beansprucht.« 13 »Zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven gibt es von daher keine andere Vermittlung als die der vollständigen Unterwerfung – des Gehorsams, der Beugung, ja, der Ausrottung des eigenen Willens zugunsten des absoluten Wahrheitsmonopols der Gruppe im Verband.« 14

Im Lichte dieser Ausführungen, die sich geradezu wie eine indirekte Apologie der Stirnerschen Philosophie lesen lassen, zeigt sich erst, welchen Preis Brecht für seine Absage an Stirner zu zahlen hatte und welchen Risiken er sich durch diese Absage an Stirner aussetzte, Risiken, die sich insbesondere für seine poetische Begabung auftaten, die durch die Bekanntschaft mit dem biblischen Baal und der Philosophie Stirners ja erst wesentlich entfaltet worden war, nun aber in den Dunstkreis neuer Gläubigkeiten und neuer Tabus geriet. Wenn man Drewermanns Analyse der individuellen Selbstpreisgabe auf analoge militante Kollektive überträgt, also z. B. auf einen faschistischen Kampfverband, wie dies der Nazi-Lyriker Gerhard Schumann in seinem Gedicht getan hat, oder auf eine kommunistische Kaderpartei, wie Brecht dies später in seinem kommunistischen Oratorium Die Massnahme tun wird oder wie Wolfgang Leonhard dies bei der Darstellung seiner Lehrjahre in der Komintern 15 gezeigt hat, so handelt es sich bei all diesen »selbstverdemütigten« Funktio219 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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nären im Dienste einer »heiligen Sache« in der Tat um Personen, die nicht mehr nein sagen konnten, weil sie ab dem Zeitpunkt ihrer jeweiligen Bekehrung zu diesem militanten Kollektiv nicht mehr nein sagen wollten. Aus alledem ließe sich sogar eine plausible Inszenierungsidee für das Stück Mann ist Mann ableiten, die darin bestünde, dass Galy Gay sich bei jedem einzelnen Schritt seiner »Ummontierung« um einen Klon-Zwilling vermehrt und sich dann immer weiter verdoppelt, sodass aus ihm am Ende ein Kollektiv aus gesichtslosen Dutzend-Menschen wird, das in all seinen Lebensäußerungen ein perfektes Schwarmverhalten an den Tag legt, keine Spur von Gewissen mehr zeigt, durch eine volonté générale geleitet wird, und als perfekte »menschliche Kampfmaschine« nur noch synchron marschieren, synchron denken, synchron handeln und synchron empfinden kann. Und damit wäre ein Wesen entstanden, wie es sich alle totalitären Systeme schon immer gewünscht haben. All dies führt uns in die Gefilde, die Hannah Arendt die »unheimliche Welt absoluter Selbstlosigkeit« 16 genannt hat, und dazu schreibt Michael Großheim in seiner Studie über Varianten der entfremdeten Subjektivität: »Unheimlich ist diese »Welt absoluter Selbstlosigkeit« in einem doppelten Sinn: Den Betroffenen ist unheimlich zumute, und ihr Verhalten erscheint dem Außenstehenden unheimlich. Das, woran man als gewöhnlicher Mensch zu hängen pflegt, der Besitz etwa oder das eigene Leben, hat hier seine Bedeutsamkeit verloren. Mit den Worten Hannah Arendts: »Selbstlosigkeit, nicht als Güte, sondern als Gefühl, dass es auf einen selbst nicht ankommt, dass das eigene Selbst jederzeit und überall durch ein anderes ersetzt werden kann.« 17 (…) Diese Selbstlosigkeit kann sich als Erhabenheit und Souveränität im genießerischen Spiel ausleben, sie kann aber auch verzweifelt den Schutz eines »Gehäuses« (Jaspers), d. h. einer Konfession, eines Kollektivs oder einer Ideologie, suchen.« 18

Und dann listet Großheim eine ganze Reihe von Formeln auf, mit denen dieser Sprung in die gewollte Selbstlosigkeit umschrieben worden ist: »Lust an der Ent-ichung« (Alfred Döblin), »Verlust des Ich an das Totale« (Gottfried Benn), Flucht in ein schützendes Ein-für-allemal« (Martin Buber), »überhastete Flucht zu bindenden Dogmen« (Martin Heidegger), »Zug zur Zugehörigkeit« (Max Horkheimer), »Bedürfniss nach Glauben« (Friedrich Nietzsche), »gewaltsames Glaubenwollen« (Karl Jaspers), und »Furcht vor der Freiheit« (Erich Fromm).«19

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Da viele dieser Formeln auch auf Brecht selbst, auf den Brechtkreis, den er schon in den zwanziger Jahren um sich geschart hatte und später auf das Berliner Ensemble 20 zutreffen, werden wir in den folgenden Kapiteln auch wieder auf diese Formeln zurückgreifen müssen, um ihn und sein Werk zu analysieren. Doch vorerst bleiben wir noch bei Galy Gay und wollen versuchen, sein Verhalten noch etwas genauer auf den Begriff zu bringen. Wenn es sich bei dem Galy Gay also um eine Person handelt, die von vornherein und immer schon nicht nein sagen konnte, so lohnt es sich, hier mal noch etwas genauer nachzufragen, denn psychogenetisch gesehen gibt es tatsächlich einen Entwicklungsstand im Leben des Menschen, auf dem man nicht bzw. noch nicht nein sagen kann. Ich meine damit den Zeitpunkt innerhalb der ontogenetischen Entwicklung des Kleinkindes unmittelbar vor der Fremdelphase 21, den ein Kleinkind im Alter von acht bis zehn Monaten zu erreichen pflegt. In der Fremdelphase selbst aber regiert ein generelles Nein!, denn hier überlagern sich einige Prozesse in der psychogenetischen Entwicklung, die durchweg von einem Impuls zur Selbstbehauptung geprägt sind: •



• •

Das Kind richtet sich mit äußerster Energie zur aufrechten Haltung auf, nimmt also buchstäblich einen Standpunkt ein, den es auch mit aller Macht zu behaupten sucht. Das Kind lächelt nicht mehr automatisch und ›ohne Ansehen der Person‹ zurück, wenn es angelächelt wird, sondern wählt jetzt genau aus, bei wem es mit seinem Resonanzlächeln zurücklächelt und bei wem nicht. Das Kind wählt ebenso genau aus, wessen Blickkontakt es erwidert oder wem es den Blickkontakt verweigert. Das Kind unterscheidet genau zwischen fremden und vertrauten Personen und Hand in Hand damit auch zwischen den Personen, von denen es sich anfassen lässt und denen, die dies nicht dürfen. Wird es von diesen aber trotzdem angefasst, so trotzt es und verweigert sich und kann evtl. sogar in Panik geraten.

All dies geschieht jedoch nicht zufällig zur gleichen Zeit, sondern geschieht zugleich, weil all dies nur einzelne Aspekte eines umfassenden Prozesses sind, den man im Sinne von Hermann Schmitz als »personale Emanzipation« bezeichnen darf und durch den das kleine Kind zur Person wird, auch wenn es in diesem Alter vorerst nur ein 221 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Persönchen sein kann. Oder anders formuliert: Das Zusammenspiel von Sichaufrichten, Trotzen, Neinsagen und Fremdeln bildet gleichsam die zweite und endgültige Abnabelung des Kindes und somit den Urknall der Personalität. Bekanntlich hat Klaus Theweleit in seinen Männerphantasien in enger Anlehnung an Margret Mahler 22 die These aufgestellt, der faschistische Mann sei der »nicht fertig geborene oder auch nicht zu Ende geborene« 23 Mann. Diese These lässt sich hier übernehmen, gezielt verallgemeinern auf alle Männer, die dazu neigen, sich freudig bereit in Kollektiven aller Art enteinzigen zu lassen und dahingehend weiter präzisieren, dass diese Männer in dem speziellen Sinne nicht ganz zu Ende geboren sind, dass sie die zweite, extrauterine Geburt 24, also die zweite Abnabelung durch die Fremdelphase nicht geschafft haben und sich deshalb wieder lustvoll in den Schoß irgendwelcher Kollektive zurückschlürfen lassen. So gesehen liest sich Stirners Philosophie durch den ihr immanenten Impuls zur rabiaten Selbstbehauptung, Selbstvereinzigung und Selbstbeeignung geradezu als die Frohe Botschaft der auf Dauer gestellten Fremdelphase. Und umgekehrt erscheint jeder, der nicht nein sagen kann oder nicht mehr nein sagen will, als jemand, der in seiner Entwicklung die Fremdelphase entweder nie erreicht hat oder durch einen massiven Schub an selbstverschuldeter Regression in diesen Zustand vor der Fremdelphase zurückgefallen ist, sodass man von diesem Abenteurer, der seine Abenteurer-Existenz nicht aushält, mit Brechts Worten sagen kann, er sei in den Schoß seiner Mutter zurückgekehrt, »wo es stille war und man schlief und man war da.« (S. 177) Diktatoren und militante Kollektive aller Art freuen sich natürlich, dass es solche gescheiterten Abenteurer in so großer Zahl gibt, denn diese sind ja die idealen Funktionärs-Aspiranten, die man zu allen beliebigen Zwecken instrumentalisieren kann, weil sie eben nie nein sagen und geradezu süchtig sind nach einem völligen Einverständnis und einer völligen Symbiose mit ihrem jeweiligen Befehlshaber. Helmuth Plessner hat die politischen Gefahren, die sich aus dieser Disposition des gescheiterten Abenteurers ergeben, schon früh erkannt und in seiner Kampfschrift Grenzen der Gemeinschaft 25 von 1924 vor diesem Sog in Gemeinschaften, also in Kollektive aller Art gewarnt und leidenschaftlich für das durch Distanz und Rollenhaftigkeit geprägte Ethos der Gesellschaft geworben, denn, so Plessner: 222 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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»Stark ist, wer die Gesellschaft beherrscht, weil er sie bejaht; schwach ist, wer sie um der Gemeinschaft willen flieht, weil er sie verneint; stark ist, wer die Distanz zu den Menschen, die Künstlichkeit ihrer Formen, das Raffinement des Lebens, die Steigerung seiner Reizmöglichkeiten nicht nur erträgt, auch nicht als Kompensation seiner vitalen Schwäche aufsucht und wollüstig von ihrer Wucht sich erdrücken lässt, vielleicht auch in heroischer Resignation sie gleich Schwertern in seine gemeinschaftliche Brust stößt, – stark ist, wer den ganzen Wesenskomplex der Gesellschaft um der Würde des einzelnen Menschen und der Gesamtheit willen bejaht, schwach ist, wer die Würde um der Brüderlichkeit in der Gemeinschaft willen preisgibt.« (S. 29)

Im Kern ist für Plessner »die Alternative Gesellschaft – Gemeinschaft« (S. 30) aber nicht nur eine politisch-soziologische Fragestellung, sondern: »Hier steht Gesinnung gegen Gesinnung.« (S. 30) Personalisiert man diese Alternative, so lautet sie für Plessner: »War Nietzsche bewusster Gesellschaftsfeind aus Aristokratismus, so wirkt Marx gesellschaftsfeindlich aus Sozialismus durch die Mobilisierung des Masseninstinkts. Der Individualist hebt die Gesellschaft zugunsten des großen Einzelnen, der Sozialist zugunsten der Gemeinschaft auf.« (S. 31)

Plessners Plädoyer blieb damals leider ungehört, weil der Sog in die Kollektive auf der Rechten wie auf der Linken offenbar schon zu stark war. Die Folgen sind bekannt.

5.3 Man ist Niemand Im neunten Gesang der Odyssee wird erzählt, wie Odysseus den dummen einäugigen Riesen Polyphem, der schon einige seiner Freunde erschlagen und gefressen hatte, erst besoffen macht und dann blendet, worauf er zusammen mit seinen Genossen aus der Höhle des Polyphem entkommen kann. Vorgestellt hatte er sich diesem Kyklopen unter dem mehrdeutigen Namen »Outis«, den man sowohl mit dem Wort ›Odysserl‹ als auch mit den Worten ›Niemand‹ oder ›Keiner‹ übersetzen kann. Und so antwortet der geblendete Polyphem auf die Frage der Götter, warum er denn so schreie und wehklage, und ob man ihm denn was antue oder angetan habe, in all seinem Schmerz und ohnmächtigen Zorn:

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V · Enteinzigungen und Enteignungen

Niemand würgt mich, ihr Freunde, arglistig! Und keiner gewaltsam! Drauf antworteten sie, und schrien die geflügelten Worte: Wenn dir denn keiner Gewalt anthut in der einsamen Höhle; Gegen Schmerzen, die Zeus dir schickt, ist kein anderes Mittel: Fliehe zu deinem Vater, dem Meerbeherrscher Poseidon! Also schrien sie, und gingen. 1

Was der listige Odysseus wiederum mit den Worten kommentiert: Mir lachte die Seele vor Freude, Dass sie mein falscher Name getäuscht und mein trefflicher Einfall. (V. 413 f.)

An diese Episode ist man versucht zu denken, wenn man in Heideggers Kapitel über das »Man« die schon zitierten Sätze noch einmal liest: »Jeder ist der Andere und Keiner er selbst. Das Man, mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat.« 2

An diesen Odysseus, der sich unter dem nichtssagenden Namen ›Niemand‹ oder ›Keiner‹ versteckt hatte, darf man aber auch denken, wenn der schon zu Jeraiah Jip verwandelte Galy Gay in seiner langen Rede seinen Kameraden zuruft: »Ein Mann, der in den Niederungen geweilt hat, wo der Tiger den Jaguar 3 nach seinen Zähnen fragt, weiß, wie gut es ist, etwas schwarz auf weiß bei sich zu haben, denn sehen Sie, allenthalben wollen sie einen heutzutage um seinen Namen bringen, ich weiß, was ein Name wert ist. Oh, ihr Knäblein, warum habt ihr mich statt Galy Gay damals nicht gleich Garniemand genannt? Das sind gefährliche Späße.« (S. 221)

Und schließlich darf man natürlich auch an den Herrn Keuner denken, an Brechts neue Gestalt, die um 1930 in seinem Werk die Bühne betritt und dem homerischen Odysseus in ihrer Listigkeit sicher ebenbürtig ist. Dieser Herr Keuner hat seine Wurzeln offensichtlich in Augsburg, genauer: im Augsburger Dialekt, in dem man das Wort ›Keiner‹ als Koynr ausspricht, also mit einem ausgiebig geschnurrten silbischen Zungen-Rrr. Für Walter Benjamin hat Brechts Herr Keuner sogar zwei Ahnen: einmal Heideggers »Man«, und dann aber auch Paul Valérys Monsieur Teste, und deshalb schreibt er in seiner Kritik zum ersten Band von Brechts Versuchen von 1930, in denen dieser Herr Keuner zum ersten Mal 4 auftritt: 224 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Man ist Niemand

»An erster Stelle möchte ich da den besagten Herrn Keuner nennen, der erst im letzten Werk von Brecht [eben in den Versuchen, L. P.] sich hervorwagt. Woher der Name, kann auf sich beruhen. Nehmen wir einmal mit Lion Feuchtwanger, einem ehemaligen Mitarbeiter von Brecht, an, es stecke darin die griechische Wurzel koinos – das Allgemeine, alles Betreffende, alle Gehörende [eben das Man Heideggers, L. P.]. In der Tat ist Herr Keuner der alles Betreffende, allen Gehörende, nämlich der Führer. Er ist es nur ganz anders, als man sich einen Führer gewöhnlich vorstellt; beileibe kein Rhetor, kein Demagoge, kein Effekthascher oder Kraftmensch. Seine Hauptbeschäftigung liegt meilenweit fort von dem, was man sich heute unter einem Führer vorstellt. Herr Keuner ist nämlich der Denkende.« 5

Und nicht nur das, denn: »Herrn Keuners Laster ist, kalt und unbestechlich zu denken.« (S. 663) Wie Benjamin zur Charakterisierung dieses Herrn Keuner auf den Begriff »Führer« kommen konnte, der damals um 1930 ja schon fest von Hitler okkupiert war, wird wohl ewig sein Geheimnis bleiben, auch wenn er den Begriff »Führer« sofort wieder relativiert 6, denn es hätte doch viel näher gelegen, diesen Herrn Keuner ganz umstandslos als Philosophen, als Denker oder noch schlichter als Lehrer zu bezeichnen, weil in den Keuner-Geschichten des öfteren von seinen Schülern die Rede ist. Auch der biblische Begriff »Meister«, mit dem Jesus sich anreden lässt und den Stefan George sich bei seiner Schar von Jüngern vorbehalten hatte, würde für diesen Herrn Keuner nicht so recht passen, weil er viel zu feierlich wirkt und aus keiner Geschichte hervorgeht, dass er mit einem besonderen Charisma ausgestattet sei, sondern eher die Rolle des unauffälligen, aber umso listigeren Zeitgenossen spielt, sodass er gleichsam als ein moderner Herr Jedermann erscheint, der auf ganz leisen Sohlen daherkommt und auf den ersten Blick Jeder-und-Keiner sein kann. Oder anders und sehr frei nach Stirner formuliert: Auch Herr Keuner ist ein Einziger, aber ein Einziger ohne Eigentum, weil er als cartesisches Ich und damit als »geflügelter Engelskopf ohne Leib« von sich eben gerade nicht wie Siegfried sagen kann: »Einzig erbt ich den eignen Leib, lebend zehr ich den auf.« Viel erhellender ist Benjamins Hinweis auf die Verwandtschaft des Herrn Keuner mit Paul Valérys Monsieur Teste 7, weil auch dieser nicht nur ein Denkender ist, sondern sogar »die Figur eines reinen Denkmenschen ohne Affekte« (S. 663), über den Benjamin in einem andern Text sich noch etwas genauer äußert, indem er darauf verweist, dass das französische Wort »teste« die alte Schreibweise von 225 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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»tête« war, sodass dieser Monsieur Teste auf Deutsch »Herr Kopf« heißen müßte. Somit ist Valérys Monsieur Teste für Benjamin »eine Personifikation des Intellekts« 8, und lebt deshalb nach der extrem fragwürdigen Maxime: »Jede Erregung, jedes Gefühl ist Anzeichen eines Fehlers in der Konstruktion und der Anpassung« (S. 225), denn »die wichtigsten Gedanken seien die, die unserm Gefühl widersprechen.« (S. 225) Valérys Monsieur Teste wäre demnach eine Gestalt, die, wenn sie konsequent nach ihrem selbstgewählten Ethos lebt, keinerlei Gefühlsleben hat, ja Gefühle nicht einmal kennt und deshalb auch keinem Gefühl nachgibt. Wir könnten auch mit den Worten des frühen Brecht sagen, dieser Monsieur Teste sei als Kunstfigur das Ideal eines Menschen, der sein Herz voll im Griff hat und es komplett kommandiert. Und diese Kunstfigur ohne jede affektive Regung könnte Brecht sehr wohl vor Augen gehabt haben, als er seinen Herrn Keuner erfand und zur Orientierungsgestalt für diese Phase seiner Werksentwicklung nach dem Abschied von Baal und Stirner erhob. Wenn Benjamin nun über diesen »valérischen Sonderling« schreibt, für ihn stelle »der Gedanke die einzige Substanz dar« (S. 225), so ordnet er, ohne explizit darauf zu verweisen, diesen »reinen Denkmenschen ohne Affekte« (S. 663) zugleich in eine spezifisch französische philosophische Tradition ein, weil Monsieur Teste dann geradezu als die Personifikation des cartesischen Cogito erscheint, als das »leib- und sprachlose ›Bewusstsein‹ gegenüber einer mechanistisch gedeuteten ›Außenwelt‹, (als) der ›Geist‹ gegenüber der ›Natur‹, als ihr ›maître et possesseur‹.« 9 In diese philosophische Ahnenreihe konnte auch Brecht seinen Herrn Keuner problemlos einfügen, den er in seinen Geschichten ja immer als den »Denkenden« vorstellt, obwohl ihm dieses gestaltgewordene cartesische Cogito doch an Schopenhauers witzig-höhnische Formel hätte erinnern müssen, dieses von Descartes konzipierte »rein erkennende Subjekt« sei letztlich nichts anderes als ein »geflügelter Engelskopf ohne Leib« (I,150), auf den auch sein anderer philosophischer Mentor Stirner im letzten Kapitel seines Hauptwerks immer wieder anspielt, wenn er schreibt: »Der unwirkliche ›Weise‹, dieser leiblose ›Heilige‹ der Stoiker, wurde eine wirkliche Person, ein leiblicher ›Heiliger‹ in dem fleischgewordenen Gotte; der unwirkliche ›Mensch‹, das leiblose Ich, wird wirklich werden im leibhaftigen Ich, in Mir.« (EE 408)

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Man ist Niemand

In Herrn Keuner aber blieb der unwirkliche Mensch unwirklich und auch das leiblose Ich blieb leiblos. Erdmut Wizislas Anmerkungen zu Keuner gehen in etwa in die gleiche Richtung, denn er schreibt im Nachwort zu seiner Edition der »Zürcher Fassung« der Keuner-Geschichten, nachdem er erst versucht hatte, einige biographische Daten dieses ominösen Herrn Keuner aus seinen Geschichten zu erschließen: »Je mehr man zusammenträgt, desto deutlicher zeigt sich aber, dass Keuner in hohem Maße unpersönlich bleibt. Die biographischen Merkmale erweisen sich als trügerisch, sie stiften keine Identität, das über Keuner zusammengetragene Material wehrt sich gegen Zuschreibungen. Sein Gesicht ist eine Maske. Er ist ein »Mann ohne Eigenschaften« (Klaus Heinrich). Die Spannung zwischen dem Spiegelbild des Autors und einer völlig von ihm gelösten Denkgestalt prägt die Geschichten, vor allem, wenn man sie als Folge liest. Es ist ein übermütiges Spiel mit einer Figur, der Umstände, Affekte und Gewohnheiten angedichtet wurden und die dennoch nicht zur Person wird, sondern Phantom, Kopfgeburt, Prinzip bleibt.« 10

Trotzdem glaubte Brecht in seiner eigenen Phase einer neuen affektfreien Sachlichkeit auch Nietzsches Warnungen in den Wind schlagen zu können, der vor dieser radikalen Verkopfung der Philosophie doch mit so großem Nachdruck gewarnt hatte, als er in seiner Genealogie der Moral über die Nutzbarmachung der Affekte für die Erkenntnis schrieb: »Seien wir zuletzt, gerade als Erkennende, nicht undankbar gegen solche resolute Umkehrungen der gewohnten Perspektiven und Wertungen, mit denen der Geist allzulange scheinbar freventlich und nutzlos gegen sich selbst gewütet hat: dergestalt einmal anders sehn, anders sehn-wollen ist keine kleine Zucht und Vorbereitung des Intellekts zu einer einmaligen ›Objektivität‹ – letztere nicht als ›interesselose Anschauung‹ verstanden (als welche ein Unbegriff und Widersinn ist), sondern als das Vermögen, sein Für und Wider in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhängen: so dass man sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntnis nutzbar zu machen weiß. Hüten wir uns nämlich, meine Herren Philosophen, von nun an besser vor der gefährlichen alten Begriffs-Fabelei, welche ein reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis angesetzt hat, hüten wir uns vor den Fangarmen solcher kontradiktorischer Begriffe wie ›reine Vernunft‹, ›absolute Geistigkeit‹, ›Erkenntnis an sich‹ ; – hier wird immer ein Auge zu denken verlangt, das gar nicht gedacht werden kann, ein Auge, das durchaus keine Richtung haben soll, bei dem aktiven und interpretierenden Kräfte unter-

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bunden sein sollen, fehlen sollen, durch die doch Sehen erst ein EtwasSehen wird, hier wird also immer ein Widersinn und Unbegriff vom Auge verlangt. Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ›Erkennen‹ ; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, umso vollständiger wird unser ›Begriff‹ dieser Sache, unsre ›Objektivität‹ sein. Den Willen aber überhaupt eliminieren, die Affekte samt und sonders aushängen, gesetzt, dass wir dies vermöchten: wie? hieße das nicht den Intellekt kastrieren? …« (II,860 f.)

Doch genau dieser affekt-kastrierte neusachliche Jedermann mit dem ausgekühlten Herzen und dem leiblosen Denkerkopf sollte einige Jahre lang Brechts Maßstab aller Dinge und der implizite Zuschauer seiner Vision eines »Epischen Theaters« werden.

5.4 »Verwisch die Spuren!« Auf Zeugnisse dieses Kults der listigen Verstellung und der konsequenten Selbstbeherrschung à la Odysseus stößt man auch, wenn man Brechts Gedichtsammlung Aus dem Lesebuch für Städtebewohner 1 aufschlägt, die man als die lyrische Ernte seiner ersten Berliner Jahre werten darf. Schon beim ersten Gedicht, das der ganzen Sammlung gleichsam als Gesamt-Programm vorgeschaltet ist, taucht das Prinzip »larvatus prodeo« auf, also der Impuls, sich zu tarnen, die eigene Identität zu verschleiern, allseits auf Abstand zu achten, keine allzu intime Beziehungen zu anderen zuzulassen oder gar selbst zu suchen und generell eine sehr genau kontrollierte distanzierte Haltung zu bewahren, mit anderen Worten, sich am Ideal des stoischen Weisen zu orientieren, der sich und seine Affekte voll im Griff hat. Oder anders formuliert: Brechts Lesebuch liest sich wie eine Anleitung zum Fremdeln und damit auch zum Neinsagen in allen denkbaren Situationen und ist, so gesehen, geradezu eine Aufforderung zur Kultivierung des Inneren Vorbehalts: Trenne dich von deinen Kameraden auf dem Bahnhof Gehe am Morgen in die Stadt mit zugeknöpfter Jacke Suche dir Quartier und wenn dein Kamerad anklopft: Öffne, o öffne die Tür nicht Sondern Verwisch die Spuren! Wenn du deinen Eltern begegnest in der Stadt Hamburg oder sonstwo

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»Verwisch die Spuren!«

Gehe an ihnen fremd vorbei, biege um die Ecke, erkenne sie nicht Zieh den Hut ins Gesicht, den sie dir schenkten Zeige, o zeige dein Gesicht nicht Sondern Verwisch die Spuren! Iss das Fleisch, das da ist! Spare nicht! Gehe in jedes Haus, wenn es regnet, und setze dich auf jeden Stuhl, der da ist Aber bleibe nicht sitzen! Und vergiss deinen Hut nicht! Ich sage dir: Verwisch die Spuren! Was immer du sagst, sag es nicht zweimal Findest du deinen Gedanken bei einem andern: verleugne ihn. Wer seine Unterschrift nicht gegeben hat, wer kein Bild hinterließ Wer nicht dabei war, wer nichts gesagt hat Wie soll der zu fassen sein! Verwisch die Spuren! Sorge, wenn du zu sterben gedenkst Dass kein Grabmal steht und verrät, wo du liegst Mit einer deutlichen Schrift, die dich anzeigt Und dem Jahr deines Todes, das dich überführt! Noch einmal: Verwisch die Spuren! (Das wurde mir gesagt.) (S. 159 f.)

All dies erinnert wieder an das Verhalten des Odysseus, der nach seiner Ankunft daheim in Ithaka als Bettler auftritt, sich in dieser Rolle auch allerlei Grobheiten und Beleidigungen von den Freiern gefallen lassen muss, die wie Drohnen die vermeintliche Witwe Penelope umschwirren, jedoch immer in der Lage ist, trotz all dieser Beleidigungen und brachialen Angriffe sein Herz zu kommandieren und seine Affekte zu bemeistern, denn: Im Innersten bellte sein Herz So wie die muthige Hündin, die zarten Jungen umwandelnd, Jemand, den sie nicht kennt, anbellt, und zum Kampfe hervorspringt; Also bellte sein Herz, durch die schändlichen Gräuel erbittert. Aber er schlug an die Brust, und sprach die zürnenden Worte: Dulde, mein Herz! Du hast noch härtere Kränkung erduldet, Damals, als der Kyklop, das Ungeheuer! die lieben Tapferen Freunde dir fraß. Du duldetest bis dich ein Anschlag Aus der Höhle befreite, wo dir dein Tod schon bestimmt war. 2

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Die an Odysseus orientierte innere Haltung, die in den Gedichten des Lesebuchs sichtbar wird, ist deshalb auch nicht mehr die baalische Einstellung hinhaltender Hingabe, wie wir sie in den Gedichten der Hauspostlle angetroffen haben, die z. B. vom Schwimmen oder vom Klettern in Bäumen handeln. Es ist auch nicht mehr die ekstatisch uroborische Selbstverausgabung Baals in der ersten Fassung des Stücks, und schon gar nicht die Bereitschaft zum Selbstopfer für Andere, die sich in Brechts frühen nationalprotestantischen Kriegsgedichten manifestiert hatte. Es ist aber auch nicht die aggressiv trotzige Haltung des Empörers Kragler im Gefolge Stirners, sondern viel eher die innere Haltung des Herrn Keuner, die man als eine kalkulierte Flucht in die Unscheinbarkeit bezeichnen könnte. Hand in Hand mit dieser gezielt eingenommenen und sorgfältig ausagierten Schutzhaltung eigener Unscheinbarkeit ändert sich aber auch die Haltung den unendlich vielen anderen Städtebewohnern gegenüber, die ebenfalls unscheinbar werden und sich auf eine ganz analoge Weise gleichsam zu entfärben und zu entwerten scheinen. Dieses für das Leben in Millionenstädten typische Phänomen hat Georg Simmel in dem berühmten Aufsatz Die Grossstädte und das Geistesleben 3 schon 1903 beschrieben, der sich aber liest, als sei er zwanzig Jahre später und als Beitrag zur Diskussion um die »Neue Sachlichkeit« entstanden. Für Georg Simmel ist diese »unbarmherzige Sachlichkeit« (S. 14) die typische innere Haltung für die Beziehungen großstädtischer Städtebewohner zueinander, die er aus dem Zusammenspiel von großstädtischer Lebensform und Geldwirtschaft ableitet und etwas unglücklich als »Blasiertheit« 4 bezeichnet und wohl besser als »tendenzielle Unbetroffenheit« hätte bezeichnen sollen, denn: »Dieselben Faktoren, die so in der Exaktheit und minutenhaften Präzision der [großstädtischen, L. P.] Lebensform zu einem Gebilde von höchster Unpersönlichkeit zusammengeronnen sind, wirken andrerseits auf ein höchst persönliches hin. Es giebt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit. Sie ist zunächst die Folge jener rasch wechselnden und in ihren Gegensätzen eng zusammen-gedrängten Nervenreize, aus denen uns auch die Steigerung der groß-städtischen Intellektualität hervorzugehen schien; weshalb denn auch dumme und von vornherein geistig unlebendige Menschen nicht gerade blasiert zu sein pflegen.« (S. 19)

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»Verwisch die Spuren!«

Dann geht Simmel ausführlich auf das Phänomen der Reizüberflutung im großstädtischen Leben und auf die »blasierte« Schutzhaltung ein, mit der man diesem Phänomen begegnen kann, und fährt dann fort: »Mit dieser physiologischen Quelle der großstädtischen Blasiertheit vereinigt sich die andere, die in der Geldwirtschaft fließt. Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge [und Personen, L. P.], nicht in dem Sinne, dass sie nicht wahrgenommen werden würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, dass die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge [und Personen, L. P.] und damit der Dinge [und Personen, L. P.] selbst als nichtig empfunden wird. Sie erscheinen dem Blasierten in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung, keines wert, dem anderen vorgezogen zu werden.« (S. 20)

Doch wenn alle Dinge und Personen gleich wert bzw. gleich unwert sind, so erübrigt es sich, überhaupt noch nach Wertigkeiten zu fragen, was nach der Erfahrung der fatalen Inflation ja auch nicht verwunderlich sein kann. Doch die hat Simmel nicht mehr erlebt, da er schon 1918 starb. Diese innere Haltung tendenzieller Unbetroffenheit ist zwar immer noch eine Form von Selbstbehauptung, aber eine, die sich nicht pathetisch oder aggressiv aufbläht und der Welt entgegenruft: »Hier stehe ich, ich bin der-und-der und kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen!«, sondern die auf ganz leisen Sohlen daher kommt, um bloß nicht aufzufallen und möglichst lange möglichst unauffällig zu bleiben, weshalb in all diesen Gedichten auch nie ein lautes Wort fällt: Ich weiß, du hörst nicht mehr Aber Sage nicht laut, die Welt sei schlecht Sage es leis. (S. 161)

Wenn jemand auf diese Weise seine eigenen Spuren verwischt, um sich durch Unscheinbarkeit zu tarnen, so ist es nur konsequent, dann auch die Spuren der geistigen Väter zu verwischen, die das eigene Denken und Verhalten geprägt haben. Deshalb ließ Brecht in seiner Berliner Zeit seinen früheren philosophischen Mentor Max Stirner nicht nur in den Gestalten Schmidt und Schmitt sterben, sondern auch ganz anonym im dritten Gedicht des Lesebuchs, in dem er sich von seinen geistigen Vätern Schopenhauer, Nietzsche und Stirner verabschiedet, die zwar ungenannt bleiben, von denen man aber zumindest Nietzsche anhand bestimmter Anspielungen noch deutlich 231 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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erkennen kann. All diese geistigen Väter werden nun »nicht mehr gewollt« und dürfen deshalb »nicht gewesen sein«: Wir wollen nicht aus deinem Haus gehen Wir wollen den Ofen nicht einreißen Wir wollen den Topf auf den Ofen setzen. Haus, Ofen und Topf kann bleiben Und du sollst verschwinden wie der Rauch im Himmel 5 Den niemand zurückhält. Wenn du dich an uns halten willst, werden wir weggehen Wenn deine Frau weint, werden wir unsere Hüte ins Gesicht ziehen Aber wenn sie dich holen, werden wir auf dich deuten Und werden sagen: das muss er sein. Wir wissen nicht, was kommt, und haben nichts Besseres Aber dich wollen wir nicht mehr. Vor du nicht weg bist Lasst uns verhängen die Fenster, dass es nicht morgen wird. Die Städte dürfen sich ändern Aber du darfst dich nicht ändern. Den Steinen wollen wir zureden Aber dich wollen wir töten Du musst nicht leben. Was immer wir an Lügen glauben müssen: Du darfst nicht gewesen sein. (So sprechen wir mit unsern (geistigen)Vätern.) (S. 162)

Helmut Lethen hat darauf verwiesen, dass in den zwanziger Jahren Graciàns Handorakel von 1647 eine gewisse Aktualität errang. Das Ziel dieser höfischen Verhaltenslehre mit dem Ideal der »kalten persona« 6 bestand darin, dem Höfling am absolutistischen Hof einige Regeln an die Hand zu geben, mit deren Hilfe er sich im Dschungel eines absolutistischen Hofes inmitten all der Intrigen, Eifersüchteleien, Bevorzugungen und Zurückweisungen zumindest in etwa zurechtfinden konnte, und offensichtlich gab es in der allgemeinen Werteverwirrung nach dem Ersten Weltkrieg einen gewissen Bedarf an solchen Verhaltenslehren, so exotisch sie immer auch sein mochten. Das oberste Ziel eines absolutistischen Höflings war es, als »stoischer sapiens bei Hofe« 7 nie in eine Situation zu geraten, in der man negativ auffallen und deshalb ausgelacht und dadurch zur Unperson werden könnte, denn laut La Rochefoucaulds vielzitierter Maxime Nr. 326 galt, dass Lächerlichkeit eine größere Schande sei als Ehrverlust: »Le ridicule déshonore plus que le déshonneur.« 8 232 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

»Verwisch die Spuren!«

Von dieser speziellen Gefahr ist in Brechts Verhaltenslehre zwar nicht die Rede, dafür aber umso mehr von der Notwendigkeit, im Dschungel einer Millionenstadt und inmitten der weltanschaulichen Bürgerkriegs-Atmosphäre der Weimarer Republik sich möglichst unauffällig zu verhalten, damit man kein Ziel für Aggressionen aller Art abgibt, denn Gefahr droht hier von allen Seiten, wie gleich die dritte Keuner-Geschichte Massnahmen gegen die Gewalt zeigt: »Als Herr Keuner, der Denkende, sich in einem Saale vor vielen gegen die Gewalt aussprach, merkte er, wie die Leute vor ihm zurückwichen und weggingen. Er blickte sich um sah hinter sich stehen – die Gewalt. »Was sagtest du?« fragte ihn die Gewalt. »Ich sprach mich für die Gewalt aus«, antwortete Herr Keuner. Als Herr Keuner weggegangen war, fragten ihn seine Schüler nach seinem Rückgrat. Herr Keuner antwortete: »Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich muss länger leben als die Gewalt.« 9

Und genau auf diese keunerische Art wird Brecht später auch seinen Helden Galilei agieren lassen, um den Gewaltmaßnahmen der Inquisition zu begegnen. Wie eng sich wiederum dieser Herr Keuner hier an seinem Vorbild Odysseus alias »Niemand« orientiert, zeigt die Geschichte, die er dann über einen Herrn Egge alias Ego erzählt, um sein auf den ersten Blick feiges Verhalten zu erklären und zu rechtfertigen, weil auch dieser Herr Egge ganz wie der als Bettler maskierte Odysseus seine Affekte zu kommandieren weiß: »In die Wohnung des Herrn Egge, der gelernt hatte, nein zu sagen, kam eines Tages in der Zeit der Illegalität ein Agent, der zeigte einen Schein vor, welcher ausgestellt war im Namen derer, die die Stadt beherrschten, und auf dem stand, dass ihm gehören solle jede Wohnung, in die er seinen Fuß setze; ebenso sollte ihm auch jeder Mann dienen, den er sähe. Der Agent setzte sich in einen Stuhl, verlangte Essen, wusch sich, legte sich nieder und fragte mit dem Gesicht zur Wand vor dem Einschlafen: »Wirst du mir dienen?« Herr Egge deckte ihn mit einer Decke zu, vertrieb die Fliegen, bewachte seinen Schlaf, und wie an diesem Tage gehorchte er ihm sieben Jahre lang. Aber was immer er für ihn tat, eines zu tun hütete er sich wohl: das war, ein Wort zu sagen. Als nun die sieben Jahre herum waren und der Agent dick geworden war vom vielen Essen, Schlafen und Befehlen, starb der Agent. Da wickelte ihn Herr Egge in die verdorbene Decke, schleifte ihn aus dem Haus, wusch das Lager, tünchte die Wände, atmete auf und antwortete: »Nein.«« (S. 25 f.)

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V · Enteinzigungen und Enteignungen

Dieser Herr Egge ist also durchaus kein Jasager, der wie Galy Gay nicht nein sagen kann, sondern strotzt geradezu vor Selbstbehauptung, die er aber unter einer Maske von kommentarlosem Gehorsam zu verbergen weiß. Man könnte auch sagen, seine scheinbare Unterwürfigkeit sei eine besonders pfiffige List, weil es eine List mit langem Atem ist, die diesen Herrn Egge in den Stand versetzt, gespannt, aber geduldig wie ein Lauerjäger den geeigneten Zeitpunkt abzuwarten, um sein Nein auszusprechen, das dann aber nichts mehr entscheidet, sondern nur die Bilanz seines vorherigen Verhaltens zieht und dieses scheinbar so demütige Verhalten nach dem Prinzip des inneren Vorbehalts auf den Punkt bringt. Doch ob die Machthaber, als deren Vertreter dieser Agent zu Herrn Egge ins Haus gekommen war, immer noch die Stadt beherrschen, erfahren wir in Herrn Keuners Geschichte leider nicht, obwohl dies doch auch wichtig wäre, um zu beurteilen, wie riskant oder wie mutig dieses Nein zu diesem Zeitpunkt für ihn war und wie riskant oder mutig es war, die Spuren dieser Herrschaft des Agenten so restlos zu verwischen. Wenn man die Gedichte aus Brechts Lesebuch im Lichte dieser eben zitierten Keuner-Geschichte liest, möchte man meinen, in all diesen Gedichten herrsche die Atmosphäre eines Belagerungszustandes, also die Atmosphäre latenter Gewalt, die sich jederzeit, überall und gegen jeden manifestieren kann, und gegen die man sich deshalb mit allen Varianten von listig getarnter Selbstbehauptung nach dem Prinzip des inneren Vorbehalts zu wehren habe. Und deshalb heißt es im Gedicht Nr. 8: Lasst eure Träume fahren, dass man mit euch Eine Ausnahme machen wird. Was eure Mutter euch sagte Das war unverbindlich. Lasst euren Kontrakt in der Tasche Er wird hier nicht eingehalten. Lasst nur eure Hoffnungen fahren Dass ihr zu Präsidenten ausersehen seid. Aber legt euch ordentlich ins Zeug Ihr müsst euch ganz anders zusammennehmen Dass man euch in der Küche duldet.

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Bilanz und Ausblick

Ihr müsst das ABC noch lernen. Das ABC heißt: Man wird mit euch fertig werden. Denkt nur nicht nach, was ihr zu sagen habt: Ihr werdet nicht gefragt. Die Esser sind vollzählig. Was hier gebraucht wird, ist Hackfleisch. Aber das soll euch Nicht entmutigen. (S. 167)

5.5 Bilanz und Ausblick Aus der Karl-May-Lektüre in unserer Jugend wissen wir alle, dass der edle Winnetou ein Bärenfell hinter sich drein zu schleppen pflegte, um seine Spuren zu verwischen. Wer aber seine Spuren verwischt, kann dies nur, wenn er in Bewegung bleibt, und dabei orientiert er sich weit mehr nach vorn als nach hinten. Wenn wir diese Überlegung auf den Brecht der frühen Berliner Zeit übertragen, so kommen wir zu dem Befund, dass er in dieser Phase entschlossener Enteinzigungen offenbar zugleich auch Ausschau hielt nach Personen, Programmen und Werten, an denen er sich nach diesem Ablösungsprozess aufs neue orientieren konnte. Und offensichtlich suchte er sich mit dem letzten Vers des eben zitierten Gedichts entsprechend Mut zu dieser erneuten Suche zu machen, bei der vielleicht sogar noch weitere Personen, Programme und Werte geopfert und abgestoßen werden mussten, die einer wirklichen Neuorientierung im Wege gestanden hätten.

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Kapitel VI Vereisungen und Gefeitheiten oder Der Kult des kalten Herzens 6.1 Einleitung In der nun darzustellenden Phase seiner poetischen und weltanschaulichen Entwicklung verabschiedet Brecht aber nicht nur Max Stirner aus seinem Denken, sondern auch den biblischen Gegengott Baal, der ihn Jahre zuvor aus der Wüste seiner frommen Kindheit ins heidnische Land Kanaan geführt und ihm all die neuen Glücks- und Verklärungs-Erlebnisse ermöglicht hatte, zu der allein eine anima naturaliter pagana fähig ist. In der bislang vorliegenden Brecht-Forschung ist man sich weitgehend einig, dass Brecht in seiner Berliner Zeit, also ab 1924, sich weitgehend am Programm der Neuen Sachlichkeit orientiert habe, und diesem Befund kann man auch in etwa zustimmen, obwohl Brecht selbst das Wortfeld »sachlich« oder »Neue Sachlichkeit« kaum einmal explizit verwendet hat, um seine Arbeiten damit zu charakterisieren. Wenn man diesen Befund aber im Lichte von Brechts Ablösung von Stirner sieht, stellen sich einige ganz neue Fragen, insbesondere dann, wenn man außerdem Stirner in einen größeren problemgeschichtlichen Zusammenhang rückt und ihn als einen späten Erben der Kyniker versteht, denn dann stellt sich sofort die Frage, welche Grundhaltung Brecht nach seiner Ablösung von Stirners Kynismus eingenommen hat und in welcher Weise sich dies in seinem Werk niedergeschlagen hat. Konkret gefragt heißt dies: Wurde er zum Zyniker oder zum Stoiker, orientierte er sich also an Haltungen, die im Programm der Neuen Sachlichkeit explizit kultiviert wurden, oder wandte er sich einem neuen Humanismus zu oder gar einer Form neuer Gläubigkeit? Wir werden sehen, dass Brecht zunächst die sachlich-zynischstoische Option wählte, die mit einer allgemeinen Auskühlung und Verhärtung des Herzens verbunden ist, und dies wohl auch deshalb, 236 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Haltungen tendenzieller Unbetroffenheit: kynisch, zynisch, stoisch, sachlich

weil er offenbar glaubte, auf diese Weise sein Herz weitaus besser »kommandieren« zu können. Niedergeschlagen hat sich diese Haltung in vielen Gedichten und v. a. in der dritten Fassung des Baal. Auf die beiden anderen Optionen eines neuen Humanismus bzw. einer neuen Gläubigkeit werden wir in späteren Kapiteln einzugehen haben.

6.2 Haltungen tendenzieller Unbetroffenheit: kynisch, zynisch, stoisch, sachlich Klaus Heinrich, Heinrich Niehues-Pröbsting und Arnold Gehlen 1 haben das Verdienst, den Kynismus der Antike neu entdeckt und durch die Unterscheidung kynisch vs. zynisch etwas genauer bestimmt zu haben. Auf diese Studien konnte auch Peter Sloterdijk aufbauen, als er seine monumentale Kritik der zynischen Vernunft vorlegte, und die Unterscheidung zwischen den beiden Prädikaten »kynisch« und »zynisch« noch weiter präzisierte. Sloterdijk hat aber außerdem das Verdienst, in seiner Studie ausdrücklich auf Max Stirner 2 verwiesen zu haben, der bei Heinrich, Niehues-Pröbsting und Gehlen mit keinem Wort erwähnt wird, obwohl Stirner sich schon mit den ersten Sätzen seines Hauptwerks doch überdeutlich in die Tradition des Kynikers Diogenes stellt, denn das kynische Autarkie-Ideal als das Bestreben, niemandem verpflichtet, an niemanden gebunden und vor allem auch niemandem ergeben oder gar hörig zu sein, kehrt in Stirners Verständnis von »Eigentum« wieder, weil »Eigentum« im Sinn von Stirner nicht irgendein Besitz ist, den man auch an jemanden verkaufen oder verleihen könnte, sondern das unveräußerliche proprium eines Menschen, durch das er als ein Einziger und Eigner erscheint: »Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist! Ihr meint, Meine Sache müsse wenigstens die ›gute Sache‹ sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber Meine Sache, und ich bin weder gut noch böse. Beides hat für Mich keinen Sinn.« (EE 5)

Nun habe ich oben in Kapitel 4.2 bei der Analyse von Kraglers Lacharie zwischen einem zynischen Auslachen-von-oben und einem kynischen Auslachen-von-unten unterschieden und in dem Zusammenhang Kraglers höhnische Lacharie als ein typisches Trotzlachen bestimmt. An solchen Hauptvollzugsrichtungen bestimmter Verhal237 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

VI · Vereisungen und Gefeitheiten

tensweisen orientiert sich auch Niehues-Pröbsting, wenn er darauf verweist, dass für Sloterdijk der Zusammenhang zwischen Kynismus und Zynismus wesentlich am Verhältnis zur Macht sichtbar wird, denn: »Bei Sloterdijk stellt er sich vornehmlich als ein Positionswechsel von unten nach oben dar: Kynismus ist die Aufsässigkeit, die Frechheit und die Kritik derer, die nicht an der Macht partizipieren – folglich davon auch nicht korrumpiert sind – und als Machtkritik per se legitim. Zynismus dagegen ist in einem eminenten Sinn »Herrenzynismus«, »Kritik, die das Lager gewechselt hat«; eben das macht ihn suspekt und nimmt ihm die moralische Rechtfertigung. Kynismus befreit, Zynismus unterdrückt. In dieser handlichen und eingängigen Dichotomie – deren Konstellation zum Begriff des »diffusen Zynismus« allerdings unklar bleibt – wird der Kynismus zu einem unbedenklichen, ja attraktiven Identifikationsangebot: Der Kyniker ist frech und keck – aber nicht hämisch, kritikfreudig – aber nicht verbissen, gelassen – aber nicht indolent, reflektiert – aber nicht gebrochen oder gar schizoid; kynische Äußerungen von Misanthropie oder Verachtung der Menge sind »herber Realismus«. Beim Zyniker gelten durchweg die umgekehrten Bestimmungen, und so wird der Zynismus Gegenstand eindeutig ablehnender Kritik.« 3

Ich selbst habe in Homo ridens das Verhältnis von kynischer und zynischer Haltung im Hinblick auf das Rollenfach des philosophischen Narren bestimmt und dabei v. a. nach der Hauptvollzugsrichtung der allfälligen Verachtungsbereitschaft gegenüber der Umwelt gefragt, die das Verhalten in diesen beiden Rollenfächern prägt. Entscheidend ist auch hier das Umkippen der Hauptvollzugsrichtung des Verhaltens, denn sobald sich die Verachtungsbereitschaft des Kynikers auch gegen ihn selbst richtet, zerbricht sofort die Festungsmauer kynischer Autarkie, die Selbstpreisgabe beginnt und die personale Selbstbehauptung kollabiert: »Aus Kynismus wird Zynismus, aus der umfassenden Weltverachtung wird auch noch Selbstverachtung, und aus dem philosophischen Narren wird der philosophische Stricher, »das aufgeklärte falsche Bewusstsein« 4. Schaut der Kyniker mit spöttisch-kaltem Blick und bissigem Lachen von unten und außen auf die Welt herab, so schaut der Zyniker mit schiefem Grinsen 5 von unten auch noch auf sich selbst herab. Der Trotz den anderen gegenüber ist umgeschlagen in Ekel vor sich selbst, und das Trotzlachen ist umgeschlagen in Ekelgelächter, mit dem der Zyniker auch noch sich selbst bekotzt.« 6

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Haltungen tendenzieller Unbetroffenheit: kynisch, zynisch, stoisch, sachlich

Das klassische literarische Paradigma eines solchen Zynikers ist Rameaus Neffe im gleichnamigen Werk von Denis Diderot, den der Autor selbst als »Genie der Verächtlichkeit« 7 charakterisiert, weil er die eigene Verächtlichkeit und Würdelosigkeit sogar selbst erkennt, reflektiert und achselzuckend akzeptiert und sich ohne jeden Widerspruch als »Kotseele« 8 beschimpfen lässt. Die Grundeinstellung des Stoikers bzw. des stoischen Weisen hat Cicero in einem schon in der Antike vielzitierten Vers formuliert, den deshalb auch Seneca in seinem Brief 107 an seinen Schüler Lucilius anführt: Ducunt volentem fata, nolentem trahunt. 9

Auf deutsch: Den Willigen führen und leiten die Schicksalsmächte; den aber, der sich ihnen verweigert, schleifen sie hinter sich drein. Dieses grundsätzliche Einverständnis des Stoikers mit den Schicksalsmächten betont auch Epiktet am Ende seines Handbüchleins der Moral in einem »goldenen Spruch«, in den er Ciceros berühmten Vers eigens einbaut: Allmächt’ger Zeus und du, Verhängnis, führet mich Dahin, wo ich nach eurem Willen stehen soll. Ich will nicht zögern, euch zu folgen. Wollt’ ich nicht, Ich wär ein Frevler, und ich müßte doch. 10

So gesehen ist es sicher kein Zufall, dass die stoische Philosophie immer in der Nähe der absoluten Macht ihre größte Blüte erlebte, also z. B. im Rom der Kaiserzeit oder in der Epoche des Absolutismus, also immer dann, wenn der Zugriff des Staates auf den Einzelnen besonders direkt und ungeniert ist. Und so gesehen ist es sicher auch kein Zufall, dass Brecht genau diese stoische Haltung später in seinen kommunistisch orientierten Lehrstücken kultiviert und dort unter dem Stichwort »Einverständnis« zum Thema macht, auch wenn er dort nicht vom Einverständnis mit den Schicksalsmächten spricht, sondern vom Einverständnis mit den ›ehernen Gesetzen der Geschichte‹ und dem daraus sich ergebenden historisch notwendigen ›Fluss der Dinge‹, den die marxistischen Klassiker als solchen glaubten erkannt zu haben und lehren zu müssen. Und nach seiner kommunistischen Phase wird, wie wir sehen werden, die Parole ›Einverständnis mit dem Fluss der Dinge‹ wieder eine andere und diesmal taoistische Bedeutung annehmen und Brechts Werk auf eine wieder andere Weise entscheidend prägen. 239 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

VI · Vereisungen und Gefeitheiten

Maximilian Forschner schreibt zu dieser Haltung des grundsätzlichen Einverständnisses in seiner Studie über die stoische Ethik: »Von entscheidender Bedeutung für den stoischen Weisen ist seine Disposition, wie er innerlich ist und sich fühlt. Wenn er auch den äußeren Fluss der Ereignisse nicht zu beeinflussen vermag, so kann er doch seine eigene Stellung zu den Ereignissen bestimmen und ein Bewusstsein der Freiheit jenen Widerfahrnissen, Handlungen und Handlungswirkungen gegenüber gewinnen, die er erfährt, ausführt und intendiert oder die er auszuführen gezwungen ist. Was immer dem Menschen vorgegeben ist und ihm widerfährt, kann und soll durch die Affirmation des Fatums seines Zwangscharakters entledigt und damit zu etwas werden, dem gegenüber das Subjekt in Freiheit sich verhält.« 11

Wenn demnach das Schicksal den Willigen führt, den Widerspenstigen aber hinter sich drein schleift, so fühlt man sich nur frei, wenn man nicht an den Ketten zerrt, mit denen man gefesselt ist, und Freiheit erscheint dann nicht als ein objektiv nachprüfbarer Zustand, sondern als eine Frage der inneren Haltung und kann problemlos reduziert werden auf den Kult des inneren Vorbehalts und der Gedankenfreiheit. Diese Haltung haben wir ja schon am Verhalten des Herrn Keuner bei seinem Umgang mit der Gewalt studieren können, der sich hier als echter Stoiker erwiesen hat. Zum Ethos des Stoikers gehört neben diesem Kult des inneren Vorbehalts aber auch noch das Ideal der emotionalen Selbstbeherrschung, denn für den stoischen Weisen ist jedes affektgesteuerte Urteil immer schon ein falsches Urteil, weil es aus einem exzessiven Impuls 12 resultiert. So gesehen ist auch Monsieur Teste ein typischer Stoiker. Die innere Haltung, die man in der Literaturgeschichtsschreibung als »Neue Sachlichkeit« zu bezeichnen pflegt, bewegt sich nun genau auf dem Feld, auf dem sich zynische und stoische Haltungen überlagern 13 und zelebriert auf diesem Feld einen exzessiven Kult der Kälte. Die kynische Haltung findet sich auf diesem Feld hingegen kaum. So gesehen ist der Begriff »Neue Sachlichkeit« vielleicht sogar etwas ungenau, weil er suggeriert, diese Sachlichkeit sei eine emotional neutrale Haltung oder sei gar frei von Emotionen aller Art, weshalb man eher von einem Kult der tendenziellen Unbetroffenheit sprechen oder Helmut Lethen folgen sollte, der von »Verhaltenslehren der Kälte« 14 spricht, um den Generalnenner dieser literarischen Epoche zu bestimmen, weil die hier ausagierte Kälte eine bestimmte

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Haltung oder Pose ist und somit ein bestimmtes Rollenfach zelebriert, also tatsächlich eine bestimmte Verhaltenslehre ist, die man sich gezielt verordnen und nicht weniger gezielt einüben muss, um sie ausagieren zu können. Wir werden sehen, wie intensiv auch Brecht in dieser Phase seiner Entwicklung diesen Kult der Kälte gepflegt hat. Soweit ich sehe, hat Brecht sich selbst und seine Art zu schreiben nur ganz selten mal explizit als »sachlich« bezeichnet, so z. B. in einem Gedicht aus dem Jahr 1922, in dem er sich an eine Geliebte erinnert, die ihm einst ein Foto von ihm geschenkt und ihn darauf als »REIN. SACHLICH. BÖSE« (S. 638) charakterisiert habe, weshalb er das Gedicht mit der Strophe abschließt: So war sie. Bei Gott, ich wollte, man läse Auf meinem Grabstein dereinst: hier ruht B. B. REIN. SACHLICH. BÖSE. Man schläft darunter bestimmt sehr gut. (S. 639)

Man könnte aber auch, um die innere Haltung der »Neuen Sachlichkeit« zu beschreiben, eine Anleihe beim Fachjargon der Reiter machen und hier das Prädikat ›versammelt‹ verwenden, das eine Haltung und eine Art der Bewegung bezeichnet, bei der man sich ›zusammenreißt‹ und dadurch eine erhöhte Körperspannung erzeugt, die jede Bewegung ausdrucksstärker erscheinen lässt. Brecht selbst hat, wie gesagt, das Wortfeld »sachlich/Sachlichkeit« eher vermieden, um seine eigenen Arbeiten zu charakterisieren, und sicher auch mit Recht, weil dieses Begriffsfeld »sachlich« so inflationär gebraucht worden ist, dass es bald alles und jedes 15 bezeichnen und bedeuten konnte. So findet sich z. B. in Heinrich Manns Roman Der Untertan von 1918 der Satz »Sachlich sein, heißt deutsch sein!« 16, den der Held des Romans Diederich Heßling sich als Motto gewählt hat und der auch hätte lauten können »Deutsch sein, heißt sachlich sein!«, weil »sachlich sein« hier soviel bedeuten soll wie »bloß nicht sentimental oder gar weich werden, sondern Härte zeigen wo auch immer und gegen wen auch immer!«. Für wieder andere hieß »sachlich« so viel wie »modern« 17, und wieder ganz anders verwendet der Lyriker und Bergsteiger Leo Maduschka 18 den Begriff, für den die Prädikate »sachlich« und »romantisch« keine Gegensätze darstellen, sodass er von seiner eigenen Generation behauptet, sie sei »romantisch und sachlich zugleich« 19, denn: 241 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Es ruft die Zeit … Sie reift in tausend Dingen Für uns und euch. Wir Jungen sind bereit: Sie fromm und kühl ins schlichte Bild zu zwingen … In jedem Ding ist Gott und Sachlichkeit. (S. 218)

Dass die Haltung der »Neuen Sachlichkeit« so sachlich aber gar nicht war, geht auch aus einem weiteren Gedicht von Leo Maduschka hervor, der dort von sich sagt, er sei einer, der mit seiner sachlich-kühlen Haltung »voll Geist und Zucht« »die eigne Not« und damit auch all die dadurch anstürmenden Affekte »umzäunt«, obwohl er sich sehr wohl an sie verlieren könnte. Was Maduschka hier beschreibt, ist also letztlich doch wieder das Hohelied des Stoikers und das Ideal tendenzieller Unbetroffenheit: Porträt eines Schriftstellers Er ist noch jung, jedoch sein Antlitz zeigt Erfahrungen und Disziplin. Er spricht gescheit, elastisch und weist ein Gesicht, das weniger enthüllt, als es verschweigt. Die Züge sehr markant; spröd, wachsam und manchmal nervös belebt: da rillen sich in seine Stirne Linien, und zum Strich und streng vor Leidenschaft wird dann sein Mund. In seinen Augen wohnt die Welt. Sein Blick, gespannt von Sachlichkeit, ist wie sein Stil: voll Geist und Zucht, dabei gepaart mit viel und weiser Skepsis über sein Geschick. So scheint er kritisch kühl und resigniert – doch er umzäunt nur so die eigne Not … denn keiner ist wie er so sehr bedroht, und er ist einer, der sich viel verliert: an Traum und Trauer, Schwermut, Nacht und Tod. 20

Das Porträt, das Leo Maduschka hier von sich selbst zeichnet, lässt sich auch als exakte Beschreibung der Haltung verstehen, die man in der Reitersprache als ›versammelt‹ bezeichnet, also »streng vor Leidenschaft« und gerade deshalb »gespannt von Sachlichkeit«, also »versammelt«. Als Vorbild für seine hoch riskante Lebensform als Extremkletterer, die er schließlich ja auch mit dem Leben bezahlte, hatte Maduschka sich offenbar den selbsternannten »Hyperboreer« Nietzsche 242 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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(II,1165) gewählt, der in seinem spätem Werk Ecce Homo sich zum Philosophen stilisiert hatte, der im Hochgebirge inmitten von Eis und Schnee und Kälte mit den ganz großen Themen ringt: »Wer die Luft meiner Schriften zu atmen weiß, weiß, dass es eine Luft der Höhe ist, eine starke Luft. Man muss für sie geschaffen sein, sonst ist die Gefahr keine kleine, sich in ihr zu erkälten. Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! wie frei man atmet! wieviel man unter sich fühlt! – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein, alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann getan war.« (II,1066)

Dass man das literarische Programm »Neue Sachlichkeit« nicht einfachhin mit sachlicher Rede gleichsetzen darf, wird noch deutlicher, wenn wir einige poetologische Überlegungen von Franz Koppe heranziehen, der streng zwischen »apophantischer« und »endeetischer« Rede 21 unterscheidet, also zwischen nüchtern feststellender oder behauptender Rede, bei der die je eigene Bedürftigkeit und aktuelle Betroffenheit nicht ins Spiel kommt, und bekundender und wertender Rede, die auf die je eigene Bedürftigkeit und aktuelle positive wie negative Betroffenheit eingeht und diese überformt. Koppe erläutert diese Unterscheidung mit einem verblüffenden Experiment, bei dem er poetisch-endeetische Rede in wissenschaftlich-apophantische Rede übersetzt. Das ›Opfer‹ bei diesem Experiment ist ein Gedicht von Eduard Mörike: Septembermorgen Im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst Du, wenn der Schleier fällt, den blauen Himmel unverstellt, herbstkräftig die gedämpfte Welt in warmem Golde fließen.

Übersetzt ins Apophantisch-Meteorologische wird daraus eine banale Wettervorhersage: Zunächst noch verbreitet Morgennebel, besonders in den Niederungen. Später aufklarend und sonnig Bei warmen Herbsttemperaturen. 22

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Damit müsste eigentlich klargeworden sein, dass die innere Haltung, die sich als »Neue Sachlichkeit« versteht, nicht die unpersönliche Sachlichkeit des Wissenschaftlers ist, und schon gar nicht die des Naturwissenschaftlers, der seine Phänomene durch Messen und Zählen bestimmt und beschreibt und dabei die eigene Person und die eigene Situation völlig aus dem Spiel lassen kann, sondern tatsächlich eine bestimmte Verhaltenslehre tendenzieller Unbetroffenheit, die sich dem stoischen Ideal der Apatheia verpflichtet weiß und deshalb die eigenen Affekte soweit wie möglich zu beherrschen und dadurch den Selbstzwang im Zivilisationsprozess 23 weiter voranzutreiben sucht. Und nun dürfte auch deutlich geworden sein, warum Brechts Ziel, sein Herz zu kommandieren, sich mit dem Programm der »Neuen Sachlichkeit« so gut vereinbaren ließ. Allerdings ist dieser Selbstzwang des Stoikers nicht ganz ohne Risiken, worauf schon Nietzsche hingewiesen hat, der in seiner Abhandlung Die fröhliche Wissenschaft nachdrücklich vor dieser stoisch inspirierten Unterdrückung der Leidenschaften warnt, und davor, den Prozess der Zivilisation zu weit zu treiben: »Wenn man sich anhaltend den Ausdruck der Leidenschaften verbietet, wie als etwas den »Gemeinen«, den gröberen, bäuerlichen Naturen zu Überlassendes – also nicht die Leidenschaften selber unterdrücken will, sondern nur ihre Sprache und Gebärde: so erreicht man nichtsdestoweniger eben das mit, was man nicht will: die Unterdrückung der Leidenschaften selber, mindestens ihre Schwächung und Veränderung – wie dies zu belehrendem Beispiele der Hof Ludwigs des Vierzehnten und alles, was von ihm abhängig war, erlebt hat.« (II,69)

Noch viel härter urteilt Erasmus von Rotterdam über das Ideal des stoischen Weisen in seinem Lob der Torheit, wo er über den »Superstoiker Seneca« lästert, er schaffe sich mit diesem Ideal »einen neuen Gott, den es nirgends jemals gab noch geben wird; oder, um mich noch deutlicher auszudrücken: Der Mensch, so wie er ihn vor uns hinstellt, ist eine Marmorstatue, leblos-starr und bar jeder menschlichen Gefühlsregung. (…) Wer würde denn nicht voll Schauder wie vor einem Ungeheuer und Schreckgespenst vor einem solchen Menschen fliehen, der allen natürlichen Empfindungen gegenüber taub ist, keinen Funken Leidenschaft mehr in sich hat und weder durch Liebe noch durch Mitleid sich stärker rühren lässt, »als wenn harter Granit dastünde, marpesischer Marmor«; nichts entgeht einem solchen Menschen, nirgends zeigt er eine Schwäche, sondern wie Lynkeus durchschaut er alles, prüft alles genau mit der Richtschnur, kennt keine Nachsicht und ist nur mit sich selbst zufrie-

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Exerzitien tendenzieller Unbetroffenheit

den, ist allein reich, allein vernünftig, allein König, allein frei, kurz, alles allein, freilich nur nach seinem eigenen Urteil. (…) Angenommen, es käme zu einer freien Wahl: Welche Bürgerschaft, ich frage euch, möchte einen derartigen Magistraten haben wollen, welches Heer würde sich solch einen Kommandanten wünschen? Und erst recht: Welche Frau ersehnte oder ertrüge einen so gearteten Mann, welcher Wirt einen Gast dieses Schlages, welcher Knecht einen Herrn mit einem solchen Charakter? Wer aber zöge nicht diesem Ausbund an Weisheit einen mitten aus der Masse der erzdummen Menschen vor, einen x-beliebigen, der, selbst ein Tor, Toren zu befehlen oder zu gehorchen versteht, nicht nur bei seinesgleichen Anklang findet, sondern bei möglichst vielen, seiner Frau gegenüber ein Kavalier ist, bei Freunden wohlgelitten, ein charmanter Gast, ein umgänglicher Mitmensch, kurz, jemand, »dem nichts Menschliches fremd ist«.« 24

Wer möchte da widersprechen?

6.3 Exerzitien tendenzieller Unbetroffenheit 6.3.1 »Ist es nicht kälter geworden?« Im 34. Gesang der Divina Commedia wird geschildert, wie der Berichterstatter und sein Mentor Vergil am tiefsten Punkt der Hölle angekommen sind und dort auf die schlimmsten Sünder und Satan selbst treffen, die allesamt in einem riesigen Eisblock eingeschlossen sind: Dort war ich, wo – ich sing’ es noch mit Schrecken – Die Geister, in durchsicht’ges Eis gebannt, Ganz drin, wie Splitterchen im Glase stecken. Der lag darin gestreckt, und Mancher stand, Der aufrecht, jener auf dem Kopf; der bückte Sich bogengleich, das Haupt zum Fuß gewandt. 1

Satan selbst ist nicht ganz im Eis eingeschmolzen, damit er weiterhin die Möglichkeit hat, seine Opfer zu quälen: Der Kaiser von dem thränenvollen Reiche Entragte mit der halben Brust dem Glas, Und wie ich eines Riesen Maß erreiche, Erreicht’ ein Riese seines Armes Maß. 2

Dann wird ausführlich beschrieben, auf welche Art und Weise dieser dreiköpfige Satan die schlimmsten Sünder, also die Verräter Judas, 245 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

VI · Vereisungen und Gefeitheiten

Brutus und Cassius zerkaut, und dass von ihm solch ein eisiger Wind ausgeht, dass der Berichterstatter selbst fast zu Eis erstarrt und erfroren wäre, wenn sein Mentor ihn nicht rechtzeitig weitergeführt hätte. 3 Ein letzter Rest dieses alten, christlich geprägten Topos findet sich, soweit ich sehe, in der zeitgenössischen deutschen Literatur nur noch in Thomas Manns Faustus-Roman, wenn im 25. Kapitel Adrian Leverkühn seine Begegnung mit dem Teufel beschreibt und sich dabei wieder deutlich an den von Dante erwähnten Gletscherwind erinnert fühlt: »Da war er wieder, der unbändige Ekel, der mich schon einmal vorher gepackt hatte, und der mich schüttelte, zusammen mit der gletscherhaft verstärkten Welle von Frost, die wieder von dem knapp behosten Mannsluder auf mich eindrang.« 4

Allerdings fügt Thomas Mann hier noch als weiteres Motiv das Liebesverbot hinzu, das schon Richard Wagner in seinem Ring des Nibelungen an das Motiv des Goldbesitzes geknüpft hatte: »Liebe ist dir verboten, insofern sie wärmt. Dein Leben soll kalt sein – darum darfst du keinen Menschen lieben.« (S. 334)

Denn: »Kalt wollen wir dich, dass kaum die Flammen der Produktion heiß genug sein sollen, dich darin zu wärmen. In sie wirst du flüchten aus deiner Lebenskälte.« (S. 335)

Und damit ist ein Prinzip ästhetischer Produktion formuliert, das auch für die »Neue Sachlichkeit« gültig war. Im 19. Jahrhundert und nach den tiefen geistigen Verwerfungen durch die Französische Revolution ändert sich dies grundlegend: Die konservativen Autoren, die im Sinne der Heiligen Allianz schreiben und die Folgen der Französischen Revolution bekämpfen, behalten diesen Topos des Satanischen als Kombination von Eiseskälte, Sündhaftigkeit und Gottferne bei, verbinden ihn aber noch mit einer fundamentalen Kritik an der Geldwirtschaft als Inbegriff der Moderne und leiten daraus einen reichlich naiven romantischen Antikapitalismus ab, als dessen Leitmotiv das kalte, enge und versteinerte Herz 5 erscheint. Oft wird damit auch das Motiv des »verlorenen Lachens« 6 verbunden.

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Exerzitien tendenzieller Unbetroffenheit

Die Autoren des Vormärz, die die Heilige Allianz bekämpfen, säkularisieren diesen satanischen Topos der Eiseskälte, projizieren ihn auf das System der Heiligen Allianz selbst und beschwören dann irgendwelche Wärmeströme, die dieses reaktionäre und menschenfeindliche System erwärmen, dadurch menschengerechter machen und schließlich ganz hinwegfegen sollen. Und schließlich gibt es noch eine dritte Position, die den Tod Gottes schon festgestellt und hingenommen hat, die dadurch eingetretene Auskühlung der Welt sehr wohl feststellt, diese Kälte aber ebenso hinnimmt wie sie den Tod Gottes hingenommen hat, dieses neue Ambiente von Eiseskälte und Entgötterung aber nicht als Zustand der Sündhaftigkeit empfindet, sondern als eine neue Situation jenseits von Gut und Böse. Zugleich damit verschwindet aus dem Topos der Eiseskälte Satan selbst, der durch den Tod Gottes ebenfalls seine Funktion verloren und sich in nichts aufgelöst hat. Typisch für die erste Position sind Autoren wie Ferdinand Raimund und Wilhelm Hauff, typisch für die zweite ein politischer Lyriker wie Ferdinand Freiligrath, und Vertreter der dritten Position sind in Frankreich die Autoren der École du Mal wie Gérard de Nerval, Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud, und in Deutschland vor allem Friedrich Nietzsche. Der naive romantische Antikapitalismus unter dem Motto »Steinherz und Geldseele« wurde entscheidend durch die Inflation von 1825 7 geprägt, und lässt sich an dem Zaubermärchen Der Bauer als Millionär von Ferdinand Raimund, das auf dem Höhepunkt dieser Inflation 1826 entstand, besonders deutlich ablesen, denn Raimund, ein stockkonservativer Katholik, entwickelt dort eine pönitential-kasuistisch fundierte Theorie des Geldes, um die Sündhaftigkeit der Geldwirtschaft 8 und des Geldes überhaupt deutlich zu machen, spart das Motiv der Kälte aber aus. Die Hauptperson des Stücks, ein Bauer mit dem sprechenden Namen Fortunatus Wurzel, erzählt dort nämlich, auf welch wundersame Weise er zum Millionär geworden sei, denn eines Tages sei ihm der Neid in menschlicher Gestalt begegnet und habe ihm angeboten, ihn reich und glücklich zu machen, er müsse nur heimgehen und den Schatz heben, der dort auf ihn warte. Daheim findet er dann nach langem Suchen auf dem Dachboden einen großen Haufen Galläpfel, weiß aber nicht so recht, was er damit anfangen soll:

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VI · Vereisungen und Gefeitheiten

»Jetzt gschieht mir recht, denk ich mir, was kann man vom Neid anders erwarten als Gall und Verdruß, komm in Zorn und beiß einen auf. Was ist drinn? Ein Dukaten! Lenzl, jetzt hättest du die Beißerei sehen sollen. Ich kann sagen, ich hab mein Vermögen bitter erworben. Vierzehn Tag nichts als Galläpfel aufbeißen, das wird doch eine hantige (bittere) Arbeit sein.« 9

In dieser scholastisch-pönitentialkasuistisch geprägten Genealogie des Reichtums aus den Todsünden Neid, Geiz und Zorn ist der naive Antikapitalismus der katholischen Romantik auf den Punkt gebracht: Geldwirtschaft ist schlichtweg Teufelszeug und wurde deshalb ja auch den Christen jahrhundertelang verboten. Und deshalb schließt das Stück denn auch mit der Abkehr Wurzels von seinen Reichtümern und mit einer Hymne auf die Zufriedenheit, die einen geradezu paradiesischen Zustand weit jenseits aller Geldwirtschaft verspricht. In Wilhelm Hauffs bekannter Erzählung Das kalte Herz von 1828 wird ganz ähnlich argumentiert. Erzählt wird dort die Geschichte des armen Kohlenbrenners Peter Munk aus dem Schwarzwald, der eines Tages an drei seltsame Gestalten gerät, die in ihm den Neid wecken, weil sie mit Geld nur so um sich schmeißen und dieses auch gegen Zinsen verleihen, die allerdings aber auch allseits verhasst sind durch ihren »unmenschlichen Geiz« und ihre »Gefühllosigkeit gegen Schuldner und Arme« 10. Dann wird ausführlich beschrieben, wie der arme Peter Munk allmählich in die Netze des dämonischen Holländer Michel gerät, der einer dieser drei Geldprotze ist und ihm das Angebot macht, auch er könne reich und mächtig und angesehen werden, wenn er ihm sein Herz gebe und sich dafür eines aus Stein einsetzen lasse. Und dann zeigt er ihm seine Sammlung von Herzen, die er schon durch einen Tausch dieser Art erworben, in Gläser gesammelt und wie Trophäen beschriftet hatte: »Da war das Herz des Amtmanns in F., das Herz des dicken Ezechiel, das Herz des Tanzbodenkönigs, das Herz des Oberförsters; da waren sechs Herzen von Kornwucherern, acht von Werbeoffizieren, drei von Geldmäklern – kurz, es war eine Sammlung der angesehensten Herzen in der Umgebung von zwanzig Stunden.« (S. 155)

Und da ihm der Holländer Michel gleich 100 000 Taler auf die Hand für sein Herz anbietet, kann der arme Schlucker Peter Munk natürlich nicht widerstehen und willigt in den Handel ein, merkt aber bald, wie sehr er sich durch diesen Tausch der Herzen verändert hat: »Er fuhr zwei Jahre in der Welt umher und schaute aus seinem Wagen links und rechts an den Häusern hinauf, schaute, wenn er anhielt, nichts als den

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Exerzitien tendenzieller Unbetroffenheit

Schild seines Wirtshauses an, lief dann in der Stadt umher und ließ sich die schönsten Merkwürdigkeiten zeigen. Aber es freute ihn nichts, kein Bild, kein Haus, keine Musik, kein Tanz, sein Herz war von Stein, nahm an nichts Anteil, und seine Augen, seine Ohren waren abgestumpft für alles Schöne. Nichts war ihm mehr geblieben als die Freude an Essen und Trinken und der Schlaf, und so lebte er, indem er ohne Zweck durch die Welt reiste, zu seiner Unterhaltung speiste und aus Langeweile schlief.« (S. 157)

Und außerdem merkt er, dass er sein vormals heiteres Lachen verloren hat, obwohl er bzw. gerade weil er der reichste Mann weit und breit ist, und sich mehr und mehr mit den Leuten gemein macht, deren Herzen er in der Trophäen-Sammlung des Holländer Michel gesehen hat, denn: »Sein Hauptgeschäft war, mit Korn und Geld zu handeln. Der halbe Schwarzwald wurde ihm nach und nach schuldig, aber er lieh Geld nur auf zehn Prozente aus, oder verkaufte Korn an die Armen, die nicht gleich zahlen konnten, um den dreifachen Wert. Mit dem Amtmann stand er jetzt in enger Freundschaft, und wenn einer Herrn Peter Munk nicht auf den Tag bezahlte, so ritt der Amtmann mit seinen Schergen hinaus, schätzte Haus und Hof, verkaufte flugs und trieb Vater, Mutter und Kind in den Wald.« (S. 159)

Aber natürlich endet auch hier die Geschichte versöhnlich und entsprechend kitschig, weil der böse Peter unter vielen frommen Gebeten sein Herz wieder gewinnt und dadurch auch wieder der liebe brave Peter wird, der er vor seinem Reichtum immer gewesen war. Und dann wird genau wie in Raimunds Zaubermärchen auch hier am Ende das hohe Lied der Zufriedenheit angestimmt und im letzten Satz die Moral verkündet: »Es ist doch besser, zufrieden zu sein mit wenigem, als Geld und Güter haben, und ein kaltes Herz.« (S. 173)

Da möchte man doch glatt auf der Stelle arm werden, bloß um sein Seelenheil zu retten! Ein grundsätzlich anderer Ton herrscht in Ferdinand Freiligraths 11 politischer Lyrik, in der der Gegensatz von warm und kalt als politische Metapher verwendet wird, denn hier steht das reaktionäre System der Heiligen Allianz für Kälte und der politische Fortschritt im Sinne des Liberalismus für Wärme, was an dem Begriffspaar »Eiszeit« und »Tauwetter« geknüpft wird, das wir ja auch heute noch verwenden, und einem berühmten Gedicht von 1846 zugrunde

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legt, das den »Winterfrost der Tyrannei« (III,123) und dessen Überwindung durch natürliches und politisches Tauwetter beschwört: Eispalast Ihr Alle, mein’ ich, habt gehört von jenem seltnen Eispalast! Auf der gefrornen Newafluth aufstarrte der gefrorne Glast! Dem Willen einer Kaiserin, der Laune dienend einer Frau, Scholl’ über Scholle stand er da, gediegen Eis der ganze Bau! Um seine blanken Fensterreih’n, um seine Giebel pfiff es kalt: Doch innen hat ihn Frühlingsweh’n und hat ihn Blumenhauch durchwallt! Allüberall, wohin man schritt, Musik und Girandolenglanz, Und durch der Säle bunte Flucht bewegte wirbelnd sich der Tanz! Also, bis in den März hinein, war seine Herrlichkeit zu schau’n; Doch – auch in Russland kommt der Lenz, und auch der Newa Blöcke thau’n! Hui, wie bei’m ersten Sturm aus Süd der ganze schimmernde Koloss Hohl in sich selbst zusammensank, und häuptlings in die Fluthen schoss! Die Fluthen aber jauchzten auf! Ja, die der Frost in Bande schlug. Die gestern eine Hofburg noch und eines Hofes Unsinn trug, Die es noch gestern schweigend litt, dass man ihr Auflud Pomp und Staat, Dass eine üpp’ge Kaiserin hoffärtig sie mit Füßen trat: – Dieselbe Newa jauchzt’ empor! Abwärts mit brausendem Erguss, Abwärts durch Schnee und Eis und Schollenwerk schob sich und drängte sich der Fluss! Die letzten Spuren seiner Schmach malmt’ er und knirscht’ er kurz und klein – Und strömte groß und ruhig in’s ewig freie Meer hinein! (III,122 f.)

Wie man sieht, ist Dantes Eisblock zu einem Eispalast säkularisiert, der auch nicht mehr Satan selbst und die großen Verräter einschließt, sondern die Vertreter der politischen Reaktion, aber auch diese werden vernichtet. Diese fundamentale Verurteilung der metaphysischen Kälte wird dann aber in Frankreich von den Vertretern der École du Mal, also von Nerval, Baudelaire und Rimbaud, und in Deutschland von Nietzsche entschieden zurückgenommen, in ihr Gegenteil verkehrt und geradezu zu einem Kult der Kälte umfunktioniert: bei Rimbaud z. B. in seiner Höllenfahrt 12, bei Nietzsche durch seine Selbststilisierung zum Hochgebirgswanderer in Eis und Schnee und Kälte und durch seine These: Je wärmer das Herz, desto dümmer der Kopf, denn 250 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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in seinen Überlegungen zu Anzeichen höherer und niederer Kultur behauptet er, nachdem er erst mal eine Attacke auf den Sozialstaat geritten und das große Lob der Gewalt gesungen hatte: »Nun will das warme, mitfühlende Herz gerade die Beseitigung jenes gewaltsamen und wilden Charakters, und das wärmste Herz, das man sich denken kann, würde eben darnach am leidenschaftlichsten verlangen: während doch gerade die Leidenschaft aus jenem wilden und gewaltsamen Charakter des Lebens ihr Feuer, ihr Wärme, ja ihre Existenz genommen hat; das wärmste Herz will also Beseitigung seines Fundamentes, Vernichtung seiner selbst, das heißt doch: es will etwas Unlogisches, es ist nicht intelligent. Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in einer Person beisammen sein, und der Weise [also auch Herr Keuner, der Denkende, L. P.], welcher über das Leben das Urteil spricht, stellt sich auch über die Güte, und betrachtet diese nur als etwas, das bei der Gesamtrechnung des Lebens mit abzuschätzen ist.« (I,591)

Damit war der Topos des kalten Herzens erneut installiert, nun aber als Erkenntnis- und ästhetisches Produktions-Prinzip und damit jenseits von Gut und Böse und weit ab von aller scholastischen Pönitentialkasuistik. Und auch Brecht hat diese These Nietzsches, je wärmer das Herz sei, desto dümmer sei auch der Kopf, begeistert aufgegriffen und zu einem zentralen Kern seiner Weltsicht erhoben.

6.3.2 »Nicht mit dem Herzen, sondern kalt!« Wechselwarme Tiere frieren nicht, weil ihre Körpertemperatur sich immer der jeweils aktuellen Außentemperatur ihres Habitats angleicht, sodass sie sogar bis zur Erstarrung auskühlen können. So gesehen befolgen wechselwarme Tiere immer schon Ciceros Rat, den Schicksalsmächten willig zu folgen und sich der Welt und der je aktuellen Situation anzupassen. Ist die Welt also kalt oder wird sie auch nur als kalt empfunden, so ist es durchaus von Vorteil, selbst auch kalt zu sein, und wenn’s denn sein muss, auch ›kalt bis ans Herz hinan‹, weil man dann ganz unproblematisch im Einklang und in Einverständnis mit dieser kalten Welt leben und abwarten kann, bis sie sich vielleicht mal wieder erwärmt. Deshalb ist es auch konsequent stoisch gedacht, wenn Brecht in seiner Verhaltenslehre für die Bewohner der kalten Asphaltstädte im 10. Gedicht schreibt:

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Wenn ich mit dir rede Kalt und allgemein Mit den trockensten Wörtern Ohne dich anzublicken (…) So rede ich doch nur Wie die Wirklichkeit selber (…) Die du mir nicht zu erkennen scheinst. (S. 169)

Diese Wirklichkeit aber ist die allumfassende Kälte, die auch über alle Menschen gekommen ist, und die deshalb auch Brecht selbst in sich trägt, denn: Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern. Meine Mutter trug mich in die Städte hinein Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder Wird in mir bis zu meinem Absterben sein. (S. 124)

In einer etwas früheren Fassung des Gedichts, als er seinen Vornamen noch nicht so hart-sachlich-zackig schrieb, hatte die erste Strophe noch gelautet: ICH, BERTOLD BRECHT, bin aus den schwarzen Wäldern. Meine Mutter trug mich in die Städte hinein Als ich in ihrem Leibe lag. Es müssen die Wälder Aber dennoch in mir geblieben sein. (S. 615)

Dass diese Wälder und alles, was aus ihnen stammt, kalt sind, wird dann in weiteren Strophen nachgetragen, wenn es heißt: Aber in den Bettstatten aus Tannenholz war mir Immer kalt und das Schlechteste war die Nacht. Von den vielen Kammern, die ich bewohnte Hab ich keine wohnlich gemacht. (S. 616)

Und die beiden letzten Strophen lauten: Mag sein, denke ich, ich bin in Papier und Weiber verschlagen Und aus der Asphaltstadt komme ich nie mehr heraus: So habe ich doch über den Dächern einen bleichen Waldhimmel für mich. Und eine schwarze Stille in mir und ein Tannengebraus. Trinke ich oder nicht: wenn ich die schwarzen Wälder sehe Bin ich ein guter Mann in meiner Haut, gefeit. Ich, Bertold Brecht, in die Asphaltstädte verschlagen Aus den schwarzen Wäldern in meiner Mutter in früher Zeit. (S. 616)

Aber der Brecht dieser beiden Gedichte aus seiner frühen Berliner 252 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Zeit trägt die Kälte der heimischen Wälder und der ganzen Welt nicht nur in sich, er akzeptiert sie auch, ja, er kultiviert sie sogar noch in sich selbst und um sich herum, um gegen sie »gefeit« zu sein, weshalb er seinen parodistisch-blasphemischen Großen Dankchoral aus der Hauspostille auch mit der Strophe enden lässt: Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben! Schauet hinan: Es kommet nicht auf euch an Und ihr könnt unbesorgt sterben. (S. 78)

Dass Brecht diese »Gesamterkältung« 1 der Welt und der eigenen Person akzeptieren konnte, verdankte er dem Beispiel Nietzsches, denn Nietzsche hatte auf die schon mal zitierte Frage des tollen Menschen aus dem Zarathustra »Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden?« (II,127) mit einem Gedicht geantwortet, das für Brecht sehr früh zu einem prägenden Leseerlebnis 2 geworden sein muss, weil er es in seinem eigenen Werk immer wieder paraphrasiert hat: Vereinsamt Die Krähen schrein Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnein, – Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat! Nun stehst du starr, Schaust rückwärts, ach! Wie lange schon! Was bist du Narr Vor Winters in die Welt entflohn? Die Welt – ein Tor Zu tausend Wüsten stumm und kalt! Wer das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt. Nun stehst du bleich, Zur Winter-Wanderschaft verflucht, Dem Rauche gleich, Der stets nach kältern Himmeln sucht. Flieg, Vogel, schnarr Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! – Versteck, du Narr, Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

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Die Krähen schrein Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnein, – Weh dem, der keine Heimat hat! 3

Auf den ersten Blick ist man versucht, die erste und letzte Strophe als Klammer zu sehen, die das Gedicht zusammenhält, die letzte Strophe für die Zurücknahme der ersten zu halten und das Gedicht als elegische Klage eines vereinsamten Menschen zu verstehen, der von einem zufriedenen »Wohl dem!« zu einem verzweifelten »Weh dem!« gelangt. Brecht scheint dieses Gedicht offensichtlich immer ganz anders gelesen und deshalb die vierte und fünfte Strophe als die zentralen verstanden zu haben, in denen das lyrische Ich sich mit dem Rauch vergleicht, »der stets nach kältern Himmeln sucht«, sodass also auch das lyrische Ich nicht gegen seinen Willen in die Kälte getrieben wird, sondern die Kälte gezielt aufsucht, weil dadurch auch sein ehemals warmes Herz zu Eis erstarrt und inmitten dieser allumfassenden Vereisung vielleicht auch besser zu »kommandieren« ist. Deshalb schreibt Brecht in einem Gedicht von 1920, mit dem er nach dem Tod seiner Mutter Abschied von der durch sie geprägten Phase seines Lebens nimmt: IN DEN FRÜHEN TAGEN meiner Kindheit, Die, man sagt es, nun vergangen ist Liebte ich die Welt und wollte Blindheit Oder Himmel, der am reinsten ist. Aber früh, am Morgen, ward mir das Verkünden: Dass erblinden muss, wer jenen reinen Glanz des Himmels sehen will, erblinden! Und ich sah ihn. Und ich sah ihn scheinen. Wozu bettelhäftig sich vor Türen drücken? Hilft’s, wenn karge Jahre niemals enden? Sollen wir den roten Mohn nicht pflücken Weil er abends hinwelkt in den Händen? Darum sagt ich: lass es! Rauch den schwarzen Rauch Der in kältere Himmel geht. Ach, sieh ihm Nach: so gehst du auch. 4

So gesehen liegt Jürgen Bay mit seiner kleinen Studie, in der er Brechts Utopie über die Abschaffung der Kälte 5 darstellen wollte, völ-

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lig daneben, weil er Brechts durchaus ambivalentes Verhältnis zur Kälte der Welt und v. a. seinen Kult der Kälte überhaupt nicht sieht. Ganz anders und entsprechend erhellender sieht Peter von Matt 6 das Problem, für den die Kälte-Metapher in Brechts Werk nicht bloß ein »Lieblingsmotiv« ist, sondern geradezu eine »Obsession« (S. 297) darstellt, und da er dieses Motiv psychoanalytisch angeht, kommt er zu dem Ergebnis, Brechts Obsession durch dieses Motiv der Kälte sei die Bekundung einer »kreativen Regression« (S. 306), also das Streben, nicht in einen warmen, sondern in einen kalten Schoß zurückzukehren und aus diesem kalten Schoß ein zweites Mal als Dichter geboren zu werden. Die Verhaltenslehre der kalten Unbetroffenheit, die Brecht in den Werken seiner Berliner Zeit verkündet, an sich selbst ausprobiert und seinen großstädtischen Zeitgenossen anempfiehlt, liest sich über weite Strecken so, als solle hier die traumatisierende Erfahrung bei dem Besuch der Matthäus-Passion im Nachhinein korrigiert, das eigene Herz ein für alle Mal unter Kuratel gestellt und kommandiert werden, auch deshalb, weil ein kaltes Herz laut Nietzsche angeblich einen Erkenntnis-Vorsprung sichert. Paradigmatisch durchexerziert wird dies in dem Gedicht Ratschläge einer älteren Fohse an eine jüngere. In diesen Ratschlägen einer erfahrenen Hure, die sich hier als ein Musterstück von Versammeltheit präsentiert, geht es wieder darum, das eigene Herz zu »kommandieren«, aber eben nicht nur das eigene Herz und damit zugleich auch die eigenen Gefühle, weshalb sich all diese wohlgemeinten Ratschläge lesen wie eine sachlich-technische Gebrauchsanweisung beim Umgang mit den eigenen Geschlechtsteilen und denen des jeweiligen Kunden. In Brechts sehr freier Aneignung von Ovids klassischem Werk über die Liebeskunst liegt damit ein Gedicht vor, das sicher mit zu den obszönsten Werken der deutschen Literatur gehört, gerade weil es so ungeniert den Beischlaf als Kunsthandwerk und perfekten Dienst am Kunden jenseits aller Schamgrenzen beschreibt. Der Titel dieses Gedichts könnte, wenn man die obszöne Sprache übernimmt, in der es geschrieben ist, also auch lauten: Sex sachlich oder Wie man mit eiskalter Fotze fickt:

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Ratschläge einer älteren Fohse an eine jüngere. 1 Wenn ich dir sag, wie man als Fohse liebt So hör mir zu mit Fleiß und ohn Verdruss Weil ich schon lang durch Kunst ersetzen muss Was dir die Jugend einige Zeit noch gibt Doch wisse, dass du desto jünger bleibst Je weniger mechanisch du es treibst. 2 Mit Faulheit ist’s bei jedem gleich verhunzt Riskier nur, dass er dich zusammenstaucht Und er, wenn du ihn fickst, dass dir die Fotze raucht Stinkfaul am Arsch liegt und: »Mehr Demboh« grunzt. Und nennt der Herr die beste Arbeit schlecht Halt deinen Rand: der Herr hat immer recht. 3 Klug musst du sein wie Pfaffen, nur genauer Sie zahlen dir nicht das für dich Bequeme! Und ihre Schwänze sind für dich Probleme Genau wie Pfeifen für den Orgelbauer. Jung ahnt man nicht, was alles daran hängt Doch was ist eine Fohse, die nicht denkt? 4 Was seinem Weib nicht frommt, der Fohse frommt’s Drum – musst du ihn hereinziehn auch am Strick – Seufz, wenn er drinnen ist: »Ihrer ist dick!« Und wenn’s ihm kommt, dann stöhne schnell: »Mir kommt’s!« Denn bei den Jungen grad wie bei den Alten Du musst sie immerfort im Aug behalten. 5 Sag ihm, es macht dich geiler, wenn der Herr Dein Ohr leckt. Leckt er’s, stöhn: »Ich bin so scharf!« Und glaubt er’s, stöhn: »Ich bitt, dass ich mich strecken darf!« Und dann: »Entschuldigen Sie, ich bin so nass parterre.« Dass ihr ein Herz und eine Seele schient Er zahlt dafür, dass er dich gut bedient. 6 Nicht immer ist es schmackhaft, ungesalzen Sich einen bärtigen Schwanz ins Maul zu stecken Und ihn, als wär es Lebertran, zu lecken Doch oft ist’s saubrer, ihn dort zu umhalsen.

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Und er verlangt nicht nur, dass er genießt Sondern auch, dass du selbst erregt aussiehst. 7 Wenn du es je nicht schaffst, dich aufgeregt zu stellen Halt deinen Atem an, als sitzt du auf dem Topf Dann scheint’s, als steige dir das Blut zu Kopf Bequemer ist’s, als wie ein Fisch zu schnellen. Auch einen sanften Mann kannst du empören Denkst du an Dinge, die nicht hergehören. 8 Vergiss nie, dass es sich um Liebe handelt Vergisst du’s doch, so fall nicht gleich aufs Maul Und mache aus dem Saulus einen Paul Ein Finger im Arsch hat manchen schon gewandelt. Du hast noch nie erlebt, was ihrer harrt Der Fohsen ohne Geistesgegenwart. 9 Für unsereinen ist es eine harte Nuss Sieht sie, dass ihre Fotz zu weit wird (wie bei mir) So dass ein Mann gar nichts mehr spürt bei ihr Und er sich um den Schwanz ein Handtuch wickeln muss. So eine muss beizeiten daran denken Ob ihr die Gäule was fürs Vögeln schenken. 10 Die Bürgermädchen, die auf Gartentischen Die älteren Brüder längst zusammenhaun Machen die Fotze enger mit Alaun Um sich für ewig einen Mann zu fischen. Wo’s angebracht ist, richte dich nach denen Und: was ist eine Fohse ohne Tränen? 11 Sehr viele Männer vögeln gern Gesichter Das Weib muss oben so wie unten naß sein Bei einem solchen darf es für das Weib kein Spaß sein Er selbst erscheint sich umso ausgepichter. Vor diesen also heuchle ruhig Qualen Wo’s angebracht ist. Denn auch diese zahlen. 12 Der Herr weiß selber selten, was er will Du musst es wissen! Tritt er in die Kammer Weißt du: ist er heut Amboß oder Hammer?

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Gehen ich gevögelt, hält Er heute still? Die Menschen zu erkennen, ist die Kunst Das muss so spielend gehen, wie einer brunzt. 13 Die schlimmsten Leute sind die klugen Leute Ich hätt oft lieber doch mit einem Hund geschlafen Die klugen Leute, du, sind unsere Strafen Die graben sich ein, das seh ich an mir heute. Ich selbst, obgleich ich nie, was ich tat, gern getan Ich tat noch keinem etwas Kluges an. 14 Doch wisse, dass ich selber mich verachte! Wenn du, nachdem du lustlos unter Männern lagst Einmal nicht ganz im Dreck verrecken magst So mach es anders, als ich selbst es machte. Wenn du einmal was Kluges findst, dann tu’s Hab ich es nicht geschafft, vielleicht schaffst du’s. (S. 765 ff.)

Die innere Haltung, die diese alterfahrene Hure hier ihrer jüngeren Kollegin anempfiehlt, ist also nicht die hinhaltende Hingabe Baals und schon gar nicht die rückhaltlose wechselseitige Hingabe eines Liebespaares, sondern die Haltung entschiedener innerer Selbstbehauptung bei extremer äußerer Selbstpreisgabe, die zwangsläufig zur zynischen Selbstverachtung führen muss, was sie ja auch selber weiß und schließlich auch zugibt. Wie sehr sich die Atmosphäre in Brechts Texten seit seiner Phase unter dem Zeichen Baals geändert hat, sieht man sofort, wenn man z. B. den Refrain der Ballade über die Kindesmörderin Marie Farrar mit dem Refrain im Lied der Jenny von 1927 vergleicht. Dort hieß es: Doch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen. (S. 40 f.)

Und nun heißt der Refrain: Denn wie man sich bettet, so liegt man Es deckt einen da keiner zu Und wenn einer tritt, dann bin ich es Und wird einer getreten, dann bist’s du. (S. 762 f.)

Dass derlei zynisch-herrenmenschliche Äußerungen in Brechts Texten des öfteren anzutreffen sind, kann man in der Studie von Reinhold Grimm über das Nietzsche-Erbe bei Brecht 7 nachlesen, und von

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dieser Art ist ja auch die Moral des Lehrstücks Die Ausnahme und die Regel 8, die in der Erkenntnis besteht, dass keiner keinem hilft, denn, so der richterliche Befund: Die Regel ist: Auge um Auge! Der Narr wartet auf die Ausnahme. Dass ihm sein Feind zu trinken gibt Das erwartet der Vernünftige nicht. (…) [Denn:, L. P.] In dem System, das sie gemacht haben, Ist Menschlichkeit eine Ausnahme. Wer sich also menschlich erzeigt Der trägt den Schaden davon. Fürchtet für jeden, ihr Der freundlich aussieht! Haltet ihn zurück Der da helfen will! (…) Weh dem, der das vergisst! (S. 200)

Die Lehre hätte auch lauten können. Weh dem, der das vergisst und seinem allzu warmen Herzen folgt! In dem Gedicht Komm mit mir nach Georgia wird diese Verhaltenslehre der kalten Unbetroffenheit außerdem noch mit einem Fatalismus des Fortschritts verbunden, der in einem späteren Gedicht mit dem Refrain »Alles Neue / Ist besser als alles Alte« (S. 829 f.) sogar als sicheres Wissen ausgegeben wird, das man an irgendwelche Genossen weitergeben darf. 1 Seh diese Stadt und seh: sie ist alt Du erinnerst dich, wie lieblich sie war Jetzt betrachte sie nicht mit dem Herzen, sondern kalt Und sage: es ist genug Komm mit mir nach Georgia Dort bauen wir eine neue Stadt Und wenn diese Stadt alt sein wird Werden wir weitergehen 2 Seh diese Frau und seh: sie ist verbraucht Erinnere dich, wie sie einst aussah Jetzt betrachte sie nicht mit dem Herzen, sondern kalt Und sage: es ist genug Komm mit mir nach Georgia

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Dort gibt es neue Frauen Und wenn diese Frauen alt sein werden Werden wir weitergehen 3 Seh deine Ansichten und seh: sie sind alt Erinnere dich, wie gut sie waren Jetzt betrachte sie nicht mit dem Herzen, sondern kalt Und sage: es ist genug. Komm mit mir nach Georgia Dort gibt es neue Ansichten Und wenn diese Ansichten alt sein werden Werden wir weitergehen (S. 689)

Sonderlich menschenfreundlich klingt auch dies nicht, sondern ebenfalls eher zynisch. Und außerdem darf man natürlich auch die Frage stellen, ob alles Neue wirklich besser sei als alles Alte, bloß weil es neu sei, und ob manches Neue nicht auch der letzte Mist sein könnte. Wir sehen also, wie leicht sich diese »neusachliche« Haltung tendenzieller Unbetroffenheit zu purem Zynismus steigern kann, und auf dieses Problem stoßen wir auch in der dritten Fassung des Baal.

6.3.3 Baal III Der dritten Fassung seines Baal, die er schon unter dem neuen Vornamen Bertolt veröffentlichte, gab Brecht den Titel Lebenslauf des Mannes Baal, bezeichnete dieses Stück als »Dramatische Biografie« und gab dem Stück einen Vorspruch mit einer leicht ironisch moralisierenden Tendenz mit, den man auch als vorsichtige Distanzierung des Autors von seinem Helden Baal verstehen kann, denn er wendet sich an den Leser und Zuschauer mit den Worten: »In dieser dramatischen Biographie von Bertolt Brecht sehen Sie das Leben des Mannes Baal, wie es sich abgespielt hat im Anfang des Jahrhunderts. Sie sehen die Abnormität Baal, wie sie sich zurechtfindet in der Welt des zwanzigsten Jahrhunderts. Baal, der relative Mensch, Baal, das passive Genie, das Phänomen Baal von seinem ersten Auftauchen unter gesitteten Menschen bis zu seinem entsetzlichen Ende, mit seinem ungeheuerlichen Verbrauch von Damen der besten Gesellschaft, in seinem Umgang mit Menschen. Das Leben dieser Erscheinung war von sensationeller Unsittlichkeit. Sie wurde durch die Bearbeitung für die Bühne stark gemildert. Die Vorstellung beginnt mit Baals erstem Auftauchen als Lyriker unter gesitteten Menschen

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im Jahre 1904. Als Auftakt sehen Sie Baal plastisch von allen Seiten und hören aus seinem eigenen Munde, wie er seinen bekannten Choral vom großen Baal vorzutragen pflegte, und zwar unter Begleitung durch sein von ihm selbst erfundenes Original-Blechseiten-Banjo.« (S. 151)

Denselben distanziert ironisch moralisierenden Ton wählte Brecht auch für die Titel der einzelnen Bilder, die nun, anders als in den ersten beiden Fassungen, nicht mehr bloß die Schauplätze, Ort und Zeit bezeichnen wie z. B. »Gefängniszelle« oder »Ebene. Himmel. Abend«, sondern die Szene selbst vorweg kommentieren. So heißt es z. B. zum 2. Bild: »Baal beim unbedenklichen Missbrauch göttlicher Gaben.« (S. 156), beim 3. Bild: »Baal missbraucht seine Macht über eine Frau.« (S. 155), zum 7. Bild: »Baal verlässt die Mutter seines ungeborenen Sohnes.« (S. 169), oder zum letzten Bild: »Baal stirbt elend unter Holzfällern im Jahre 1912.« (S. 179) Was an diesem Manne Baal sofort auffällt, ist die überaus rüde Art, die er im Umgang mit Frauen an den Tag legt, die er bedenkenlos verführt oder auch vergewaltigt und dann wegwirft wie einen dreckigen Lappen, sodass die einzelnen Stationen seiner dramatischen Biographie sich lesen wie eine Abfolge zynischer Exerzitien. Hand in Hand damit ist die homoerotische Beziehung zwischen Baal und Eckart, die sich an der Beziehung zwischen Verlaine und Rimbaud orientiert, etwas stärker ausgemalt als in den ersten beiden Fassungen. Möglicherweise war dies auch angeregt durch die Septembernovelle von Arnolt Bronnen, mit dem er damals enger befreundet war. Wir hatten ja schon gesehen, dass Brecht in den Tagebuch-Notizen vom 24. und 25. September 1920 sich darüber beklagte, keine Macht über andere Menschen zu haben, und in dem Zusammenhang habe ich darauf verwiesen, dass dies ein ganz und gar unstirnerischer Gedanke sei, weil der kynische Impuls, der Stirners Philosophie im ganzen prägt, nicht dazu tendiert, Macht über andere auszuüben, sondern herrenzynische Machtansprüche anderer auf uns selbst entschlossen abzuwehren. Diese zynischen Machtspielchen, die Brecht damals selbst gern angestellt hätte, aber nicht ausagieren konnte, delegiert er nun an diesen Mann Baal, distanziert sich aber zugleich auch davon und kommentiert dessen zynisch offensive Zugriffigkeit dann in ironisch moralisierender Entrüstung. Im Handlungsverlauf unterscheidet sich diese dritte Fassung des Baal ebenfalls stark von den ersten beiden Fassungen, da Brecht hier, wie schon im Brief an Hanns Johst angekündigt hatte, die engen Be261 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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züge zu Johsts Grabbe-Stück getilgt und deshalb auch alle Szenen, in denen Baals Mutter auftritt, ersatzlos gestrichen hat. Gestrichen ist damit zugleich auch die Szene, in der Baal seinen herzneurotischen Anfall erleidet. Die massivsten und folgenreichsten Eingriffe in den Text bestehen aber darin, dass Brecht die Gefängnisszene und damit das Streitgespräch Baals mit dem Geistlichen ersatzlos gestrichen und damit alle Bezüge seines Stücks zu Stirners Philosophie getilgt hat. Und außerdem fehlt in der Sterbeszene die Anrufung des Gottes Baal, wie dies in den ersten beiden Fassungen der Fall war. Zugleich damit hat diese dritte Fassung den Charakter als blasphemische Kontrafaktur zur biblischen Passions-geschichte verloren, den die ersten beiden Fassungen hatten. Und das wiederum heißt, dass diese dritte Fassung mit dem ursprünglich geplanten Szenario Baal frisst! Baal tanzt!! Baal verklärt sich!!! überhaupt nichts mehr zu tun hat, denn dieser neue Mann Baal verzehrt sich nicht mehr uroborisch bei all seinen existentiellen Verausgabungen, er tanzt auch nicht mehr, und verklärt wird er schon gar nicht, weil er keinen Bezug mehr zum Gott Baal hat, der ihn verklären könnte. Und deshalb ruft er beim Sterben diesen Gott Baal auch nicht mehr an, denn seine letzten Worte lauten nun, während er aus der Holzfällerhütte hinauskriecht: »Man erstickt hier ja. Draußen muss es heller sein. Ich will hinaus. Tut den Baum weg! Ich werde hinausgehen! Ich bin keine Ratte. Es muss draußen heller sein. Zur Tür komme ich noch. Es ist hier gar keine Tür. In der Tür ist es besser. Mensch! Stämme. Wind. Laub. Sterne. Hm!« (S. 181 f.)

Mit dieser Lossagung von Stirners Philosophie und vom biblischen Gegengott Baal in der Fassung des Baal von 1926 begann zwar eine neue Phase seiner weltan-schaulichen und poetischen Entwicklung, Brecht hat sich aber zugleich auch von den beiden Quellen verabschiedet, aus denen ihm in seiner vorigen Entwicklungsphase all die emanzipatorischen Impulse zugeflossen waren, die ihn zu einem großen Dichter gemacht hatten, sodass die Phase, in die er jetzt eintrat, dem kritischen Betrachter seines Gesamtwerks durchaus als eine Phase der erneuten Regression erscheinen muss, die ihn wieder anfällig machte für all die »Sparren«, die er durch das Stirner-Erlebnis erst mal losgeworden war. So gesehen ist das 10. Bild der dritten Fassung die Schlüsselszene des ganzen Stücks, deren Bedeutung aber weit über das Stück selbst 262 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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hinausreicht. Angekündigt wird sie im Text mit dem Vorspruch: »Baal erliegt im Jahre 1911 seiner natürlichen Bestimmung zum Mörder« (S. 173), weil er am Ende dieser Szene seinen Freund Eckart aus Eifersucht ersticht und dann flüchtet. Ort der Handlung ist eine schäbige Kaschemme in Baals Heimatstadt, in die er zurückgekehrt war, um beim Begräbnis seiner Mutter anwesend zu sein. In dieser Kaschemme trifft er nun auf alte Bekannte und auf ehemalige Opfer seiner Verführungskünste, und in dieser Situation endgültiger Mutterlosigkeit singt er nun eine Ballade aus der Hauspostille, mit der er seine eigene aktuelle Situation als ein viel zu früh Geborener darstellt. Es ist die Ballade von den Abenteurern Von Sonne krank und ganz von Regen zerfressen Geraubten Lorbeer im zerrauften Haar Hat er seine ganze Jugend, nur nicht ihre Träume vergessen Lange das Dach! Nie den Himmel, der drüber war. Oh Ihr, die Ihr aus Himmel und Hölle vertrieben Ihr Mörder, denen viel Leides geschah! Warum seid Ihr nicht im Schoß Eurer Mütter geblieben? Wo es stille war und man schlief und man war da … Er aber sucht noch in absynthenen Meeren Wenn ihn schon seine Mutter vergisst Grinsend und fluchend und zuweilen nicht ohne Zähren Immer das Land, wo es besser zu leben ist. Im Tanz durch Höllen und gepeitscht durch Paradiese Trunken von Güssen unerhörten Lichts Träumt er gelegentlich von einer kleinen Wiese Mit blauem Himmel drüber und sonst nichts.(S. 177 f.)

Was sich hier artikuliert, ist doch wohl ein überaus massiver Drang zur Regression zurück in einen vorgeburtlichen und ebenso weltlosen wie ichlosen Zustand, »wo es stille war und man schlief und man war da«. Dieses hoch problematische Nebenein-ander von rüdem Zynismus und Macho-Haltung einerseits und Regressions-Sehnsucht andererseits ist seltsam genug und lässt vermuten, dass diese ambivalente Haltung sich nicht lange würde durchhalten lassen und nach einer Auflösung streben musste, und dies geschah denn auch alsbald.

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6.4 Bilanz und Ausblick Diese massiv regressive Tendenz als angestrebte innere Haltung unterscheidet sich nun aber auch fundamental von dem »baalischen Lebensgefühl« der früheren Lyrik und den ersten beiden Fassungen des Baal, die wir als hinhaltende Hingabe bestimmt hatten, eine Einstellung, die sich im Verhalten der Gestalten, die nunmehr in Brechts Werk auftreten, nicht mehr findet, weil diese sich entweder als Zyniker gebärden oder aber sich seltsam reduziert verhalten, sodass man von ihnen den Eindruck gewinnt, sie seien als Fötus ›nicht ganz fertig gebacken‹ worden oder auf einem frühkindlichen Stadium stehen geblieben. Doch auf diese regressiven Tendenzen sind wir in Kapitel 5.3 ja schon ausführlich eingegangen. Die Ablösung von Stirners Philosophie, also die Zurückweisung des funda-mentalen emanzipatorischen Impulses, der dieser Philosophie eigen ist und den Brecht in seinem großen Gedicht Gegen Verführung so meisterhaft in Verse gefasst hatte, zog für Brechts eigene Haltung aber auch höchst fatale Konsequenzen nach sich, weil er nun wieder bereit war, sich durch »Sparren« aller Art aufs neue verführen zu lassen, sich also wieder neuen Gläubigkeiten hinzugeben und, wie wir bald sehen werden, sich und bestimmte Gestalten seines Werks in den Schoß gottgleicher schrecklicher Mütter zurückschlürfen zu lassen, die dann in Gestalt einer Armee oder einer Partei auftraten. Es fehlte nur noch die Einkehr in den Schoß der alleinseligmachenden katholischen Kirche. Doch dazu kam es dann doch nicht.

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Kapitel VII Verkennungen und Verblendungen oder Weh dem, der mitgeht! 7.1 Einleitung Da eine einigermaßen gründliche Darstellung von Brechts Theorie des »Epischen Theaters« den Rahmen der vorliegenden Studie völlig sprengen müsste, können wir nur auf einen einzigen, aber doch zentralen Aspekt dieser Theorie eingehen, der auch für unser Thema überaus wichtig ist. Ich meine damit die Frage, welche Wirkung diese Art von Theater auf den Zuschauer haben sollte, und in welcher Art und Weise dabei wiederum das Herz des anvisierten Zuschauers angesprochen werden darf. Aufgrund dieser strikten Begrenzung unserer Fragestellung können wir die überaus umfangreiche Literatur zur Theorie und Praxis des »Epischen Theaters« auch ruhig links liegenlassen und uns auf einige zentrale Äußerungen von Brecht selbst konzentrieren. Die früheste dieser theoretischen Äußerungen zu einer Art von Theater, die er später »episch« nannte, findet sich schon in einem Tagebuch-Eintrag vom 10. Februar 1922, wo er eine Art wirkungsästhetischer Bilanz zu seinen frühen Stücken zieht, denn dort heißt es: »Einen großen Fehler sonstiger Kunst hoffe ich im »Baal« und »Dickicht« vermieden zu haben: ihre Bemühung, mitzureißen. Instinktiv lasse ich hier Abstände und sorge, dass meine Effekte (poetischer und philosophischer Art) auf der Bühne begrenzt bleiben. Die splendid isolation des Zuschauers wird nicht angetastet, es ist nicht sua res, quae agitur, er wird nicht beruhigt dadurch, dass er eingeladen wird, mitzuempfinden, sich im Helden zu inkarnieren und, indem er sich gleichzeitig betrachtet, in zwei Exemplaren, unausrottbar und bedeutsam aufzutreten. Es gibt eine höhere Art von Interesse: das am Gleichnis, das an Andern, Unübersehbaren, Verwunderlichen.« (I,271)

Hier sind schon all die entscheidenden Denkfehler genannt, die Brecht dann später zu einer Theorie des »Epischen Theaters« verbin-

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det: Einmal der Glaube, der Autor selbst könne entscheiden, ob der Zuschauer das auf der Bühne dargestellte Geschehen als »seine Sache« empfindet oder nicht, denn das entscheidet allein der Zuschauer. Dann die Meinung, das Mitgehen beruhe allein auf dem »Mitempfinden« irgendwelcher Gefühle, weshalb hier immer wieder die ominöse »Einfühlungs-theorie« bemüht wird, um dieses Phänomen des »Mitgehens« zu erklären. Und schließlich der Gedanke, das durch »Einfühlung« begründete »Mitgehen« bestehe in einer rückhaltlosen Identifizierung des Zuschauers mit einer Bühnengestalt. Da die marxistisch orientierte Brecht-Forschung ganz allgemein die Tendenz hatte, Brechts »Episches Theaters« für sich zu vereinnahmen und als genuin marxistisch zu interpretieren, wollte Jürgen Hillesheim in einer umfangreichen Studie 1 aufzeigen, dass der junge Brecht schon lange vor seiner marxistischen Phase das Konzept eines »Epischen Theater« in aller Form in Anlehnung an Nietzsche konzipiert hatte, aber in seiner Brecht-Frömmigkeit und ausgehend von dem oben angeführten Zitat erkannte auch Hillesheim die eben genannten Brechtschen Denkfehler nicht, und so konnte er auch nicht zu einem wirklich überzeugenden Ergebnis kommen, denn eine Theorie des »Epischen Theaters« im Zeichen Nietzsches 2 kann nicht viel überzeugender sein als eine im Zeichen von Marx und Lenin, weil Nietzsche ja keine Gelegenheit ausgelassen hat, sich über asketische Ideale lustig zu machen, an denen sich ja auch Brechts Vision eines »Epischen Theaters« orientiert. Und außerdem spricht allein schon Nietzsches Hohn auf das »Dogma der unbefleckten Erkenntnis« (II,860 f.), also sein Plädoyer für den erkenntnissichernden Perspektivismus affektiver Zuwendung zu einem Geschehnis dagegen, ihn zum Kronzeugen eines irgendwie gearteten »Epischen Theaters« zu erheben. Das soll aber nicht heißen, dass man die Theorie des »Epischen Theaters« nun wieder als genuin marxistisch zu bewerten habe, sondern dass man sie unter anthropologischen Aspekten analysieren sollte, um sie wirklich angemessen beurteilen zu können. Nun haben wir ja oben in Kapitel 1.2 gesehen, wie massiv der junge Brecht von Musik ergriffen werden konnte, und daraus die These abgeleitet, er müsse während der Aufführung von Bachs Matthäus-Passion einen herzneurotischen Anfall erlitten und daraus ein fundamentales Misstrauen der Musik gegenüber abgeleitet haben, das ihn zeit seines Lebens nicht mehr verlassen hat. So gesehen ist es eigentlich auch verständlich, wenn er in seinem Arbeitsjournal dreißig Jahre nach diesem aufwühlenden Erlebnis schreibt: 266 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Zur Ätiologie des Mitgehens

»schon als junge, als ich die matthäuspassion in der barfüßerkirche gehört hatte, beschloss ich, nicht mehr so wo hinzugehen, da ich den stupor verabscheute, in den man da verfiel, dieses wilde koma, und außerdem glaubte, es könne meinem herzen schaden (das durch schwimmen und radfahren etwas verbreitert war). Bach kann ich jetzt, wie ich denke, ungestraft hören, aber den beethoven mag ich immer noch nicht, dieses drängen zum unterund überirdischen, mit den oft (für mich) kitschigen effekten und der ›gefühlsverwirrung‹.« (S. 676)

Im Lichte dieses eigenen jugendlichen Passions-Erlebnisses lesen sich die theatertheoretischen Texte, mit denen Brecht in seiner Berliner Zeit sein Konzept eines »Epischen Theaters« zu begründen suchte, ganz neu, weil nun einigermaßen plausibel wird, warum dieses Konzept von Theater so erpicht darauf ist, dem Theaterpublikum nach Möglichkeit jede Form von Mitgehen zu unterbinden. Auf die kürzeste Formel gebracht läuft diese Theorie denn auch auf den Appell hinaus: Weh dem, der mitgeht! Aber was heißt »Mitgehen« eigentlich?

7.2 Zur Ätiologie des Mitgehens Brechts eben erwähntes fundamentales Misstrauen gegenüber den verführerischen und zum Mitgehen reizenden Möglichkeiten der Musik 1 artikuliert sich besonders deutlich in dem Aufsatz Über die Verwendung von Musik für ein Episches Theater 2, wenn er dort davon spricht, die traditionelle ›bürgerliche‹ Musik ziele auf die »Herstellung von Rauschwirkungen« (III,275) und gehöre deshalb zum »allgemeinen Rauschgifthandel des bürgerlichen Theaterbetriebes« (III,277), weil diese Art von Musik darauf ziele, »narkotische Wirkungen« (II,277) bei ihrem Publikum zu erzeugen. Und dann greift er machtvoll in die Saiten und beschreibt diese bürgerlichen Zuhörer als eine Versammlung von schwer angeschlagenen Patienten: »Wir sehen ganze Reihen in einem eigentümlichen Rauschzustand versetzter, völlig passiver, in sich versunkener, allem Anschein nach schwer vergifteter Menschen. Der stiere, glotzende Blick zeigt, dass diese Leute ihren unkontrollierten Gefühlsbewegungen willenlos und hilflos preisgegeben sind. Schweißausbrüche beweisen ihre Erschöpfung durch solche Exzesse. Der schlechteste Gangsterfilm behandelt seine Zuhörer mehr als denkende Wesen. Die Musik tritt auf als »das Schicksal schlechthin«. Als das überaus komplizierte, absolut nicht zu übersehende Schicksal dieser Zeit grauen-

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vollster, bewusster Ausbeutung der Menschen durch den Menschen. Diese Musik hat nur mehr rein kulinarische Ambitionen. Sie verleitet den Zuhörer zu einem entnervenden, weil unfruchtbaren Genussakt.« (III,278)

Und in seinem Kleinen Organon für das Theater 3 beschreibt er in § 26 auf eine ganz analoge Weise die Wirkung, die das normale ›bürgerliche‹ Theater auf sein Publikum ausübe, denn man sehe auch hier überall nur »ziemlich reglose Gestalten in einem eigentümlichen Zustand: sie scheinen in einer starken Anstrengung alle Muskeln anzuspannen, wo diese nicht erschlafft sind in einer starken Erschöpfung. Untereinander verkehren sie kaum, ihr Beisammensein ist wie das von lauter Schlafenden, aber solchen, die unruhig träumen, weil sie, wie das Volk von den Albträumen sagt, auf dem Rücken liegen. Sie haben freilich ihre Augen offen, aber sie schauen nicht, sie stieren, wie sie auch nicht hören, sondern lauschen. Sie sehen wie gebannt auf die Bühne, welcher Ausdruck aus dem Mittelalter stammt, der Zeit der Hexen und Kleriker. Schauen und Hören sind Tätigkeiten, mitunter vergnügliche, aber diese Leute scheinen von jeder Tätigkeit entbunden und wie solche, mit denen etwas gemacht wird. Der Zustand der Entrückung, in dem sie unbestimmten, aber starken Empfindungen hingegeben scheinen, ist desto tiefer, je besser die Schauspieler arbeiten, so dass wir, da uns dieser Zustand nicht gefällt, wünschten, sie wären so schlecht wie nur möglich.« (VII,23 f.)

Wenn man im Fernsehen das Publikum bei irgendwelchen Schlagersendungen betrachtet, das sich in diesem musikalischen Mist voller Wonne wälzt, so möchte man Brecht erst mal recht geben, weil man selbst Ekelgefühle vor einem solchen Publikum empfindet. Und doch wird man diese extrem verzerrten Beschreibungen eines ›bürgerlichen‹ Publikums wohl kaum ernst nehmen, gerade weil sie so absurd verzerrt sind. Man wird sie aber auch nicht mit einem Achselzucken oder einem höhnischen Lachen abtun können, weil man spätestens nach dem Stichwort »Schweißausbrüchen« sofort an den herzneurotischen Anfall denkt, den der junge Brecht während der MatthäusPassion erlitten hat, denn dann liest man diese beiden Texte nicht mehr als die mehr oder weniger verzerrte, aber doch konkrete Darstellung irgend eines ›bürgerlichen‹ Publikums an irgend einem Theater in irgend einer Stadt, sondern als extrem scham- und angstbesetzte Erinnerung an ein eigenes traumatisierendes Erlebnis, das auch viele Jahre später immer noch verdrängt werden muss und aus dem der junge Brecht dann den kategorischen Imperativ abgeleitet haben muss: Das darf mir nie wieder passieren! Aber auch den Im268 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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puls: Und dies darf auch niemandem sonst je passieren! Und deshalb kommandierte er von da an sein eigenes Herz und versuchte, auch die Herzen anderer so zu kommandieren, dass auch diese unergreifbar und unangreifbar werden sollten. Obwohl dieser Verdrängungs-Impuls gut nachvollziehbar ist, steckt in diesen beiden Beschreibungen eines ›bürgerlichen‹ Publikums doch so viel an unreflektierten und unhaltbaren erkenntnistheoretischen und wirkungsästhetischen Theoremen, die der Überprüfung bedürfen, dass es nicht genügt, das dort implizit entworfene Konzept eines »Epischen Theaters« bloß als Versuch zu verstehen, den eigenen frühen Zusammenbruch während der Matthäus-Passion explizit zurückzu-nehmen, sondern es zwingt uns auch, die unhaltbaren Theoreme, auf die dieses Gegenkonzept zum ›bürgerlichen‹ bzw. »aristotelischen« Theater gegründet ist, problemgeschichtlich einzuordnen und ihre anthropologische Unhaltbarkeit aufzuzeigen. Und deshalb ist es nötig, erst einmal deutlich zu machen, worin dieses Mitgehen eigentlich besteht. Am 1. Oktober 1775 schreibt Georg Christoph Lichtenberg an seinen Freund Heinrich Christian Boie seinen ersten Brief aus England und berichtet darin über eine Theatervorstellung, in der er den damals überaus berühmten Schauspieler David Garrick erleben durfte. Und dort heißt es: »Seine Art zu gehen, die Achseln zu zucken, die Arme einzustecken, den Hut zu setzen, bald in die Augen zu drücken, bald seitwärts aus der Stirn zu stoßen, alles mit der leichten Bewegung der Glieder, als wäre jedes seine rechte Hand, ist daher eine Erquickung anzusehen. Man fühlt sich selbst leicht und wohl, wenn man die Stärke und Sicherheit in seinen Bewegungen sieht, und wie allgegenwärtig er in den Muskeln seines Körpers scheint. (…) Seine Mienen sind bis zur Mitteilung deutlich und lebhaft. Man sieht ernsthaft mit ihm aus, man runzelt die Stirn mit ihm und lächelt mit ihm; in seiner heimlichen Freude, und in der Freundlichkeit, wenn er in einem Beiseite den Zuhörer zu seinem Vertrauten zu machen scheint, ist so etwas Zutuliches, dass man dem entzückenden Manne mit ganzer Seele entgegen fliegt.« 4

Was Lichtenberg hier so eindrucksvoll beschreibt, bezeichnet man im Theaterjargon als »mitgehen«. Lichtenberg ging also mit Garrick mit. Er hatte aber auch, wie man im Theaterjargon sagt, entsprechend ›aufgemacht‹. Im Sprachgebrauch der ästhetischen Theorie würde man sagen: Lichtenberg war ein »illudierter Zuschauer«. Oder: Er

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befand sich im »Zustand theatraler Illusion«, genauer: im Zustand »selbstbewusster theatraler Illusion« 5. Dieses Verhalten im Zustand selbstbewusster theatraler Illusion beschreibt Johann Jakob Engel, ein Zeitgenosse Lichtenbergs in seinem theatertheoretischen Standardwerk Ideen zu einer Mimik folgendermaßen: »Alle Mienen der Acteure, sogar mancher ihrer Bewegungen, ahmt der so ganz illudirte Zuschauer, wenn auch schwächer, nach; ohne dass er noch weiß, was gesagt werden wird, wird er ernsthaft mit dem Ernsthaften, fröhlich mit dem Fröhlichen: sein ganzes Gesicht wird zum Spiegel, der alle die abwechselnden Gebehrden der auftretenden Personen, Verdruss, Spott, Neugier, Zorn, Verachtung, getreu zurückwirft. Nur dann, wenn seine eigenen Empfindungen die von außen kommenden Empfindungen kreuzen und Ausdruck fordern, wird diese nachahmende Malerei unterbrochen.« 6

In dieser Beschreibung des Mitgehens wird sofort deutlich: Auch wenn der Zuschauer sich noch so bereitwillig auf das Bühnengeschehen einlässt und noch so willig mitgeht und noch so intensiv mitfühlt, dankt er als urteilsfähige Person und damit als mündiger Partner der Bühnengestalten doch nie ab, sondern kann sich jederzeit wieder vom Bühnengeschehen distanzieren und zu ihm Stellung nehmen. Er kann also, wie man im Theaterjargon sagt, jederzeit aus dem Mitgehen wieder ›aussteigen‹ und irgendwann später auch wieder ›einsteigen‹ und weiterhin mitgehen. Er kann also, so oft er will, zwischen den Einstellungen hinhaltender Hingabe und selbstbewusster Distanz hin und her wechseln, ganz so wie dies Brechts Schwimmer in dem schönen Gedicht der Hauspostille tut. Und diese Erfahrung kann jeder Theaterzuschauer jederzeit an sich selbst machen und hat sie wohl auch schon oft genug gemacht. So gesehen ist Brechts Behauptung, der ›bürgerliche‹ Zuschauer sei »hinge-geben«, »entrückt«, »narkotisiert«, »vergiftet«, »willenlos und hilflos preis-gegeben« und damit ein völlig passives Opfer des theatralen Geschehens, nicht nur eine maßlose Übertreibung, sondern barer Unsinn. Noch absurder aber wird das Bild, das der Brecht der Berliner Jahre vom ›bürgerlichen‹ Publikum in den Theatern und Konzertsälen zeichnet, dadurch, dass er ihm das Publikum der großen Sportarenen als Vorbild anpreist, das laut Brecht »das klügste und fairste Publikum der Welt« 7 sei. Und deshalb verkündete er in dem Aufsatz Mehr guten Sport 1926 in totaler Verkennung des realen Publikums 270 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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in den Sportarenen, das bekanntlich seit eh und je seine Helden in rückhaltloser Hingabe feiert: »Unsere Hoffnung gründet sich auf das Sportpublikum.« 8 Offensichtlich sah Brecht im Sportpublikum in erster Linie Arbeiter, in denen er wiederum den »Edlen Wilden« Rousseaus wiedererkannte, der ja bekanntlich, wie man seit Chateaubriands Edlem Huronen weiß, ein veritabler Stoiker ist und deshalb seine Affekte völlig im Griff hat. Angesichts dieser Verblendungen erlaubt sich sogar Werner Mittenzwei einige Zweifel 9 an Brechts Vertrautheit mit dem realen Sportbetrieb seiner Zeit und muss leider konstatieren, Brecht habe von Sport, Sportlern und Sportpublikum seiner Zeit überhaupt keine Ahnung gehabt. Möglicherweise wäre der Brecht der späteren Berliner Jahre etwas weniger in solche weltfremde Wahnideen abgedriftet, wenn er sich enger an den Theaterjargon gehalten und sich dessen Erkenntnisfunktion anvertraut hätte, weil dort eine jahrhundertelange handwerklich geprägte Erfahrung und ein den Phänomenen angemessener Wortschatz vorliegt, der in den meisten Fällen viel genauer 10 ist als der Wortschatz der Bildungssprache und sogar der der ästhetischen Theorie. Doch das Wortfeld »mitgehen« taucht, soweit ich sehe, in seinen theatertheoretischen Schriften niemals auf. Das ist jammerschade, denn in der Fähigkeit zum Mitgehen zeigt sich eine nicht mehr weiter hintergehbare kommunikative Kompetenz, die im Theaterjargon als eine der vielen Varianten des ›Verstehens mit dem Bauch‹ bezeichnet wird, weil sie präreflexiv und vorsprachlich funktioniert und somit geradezu als eine anthropologische Konstante gewertet werden darf. Und hier liegt auch der große Erkenntniswert des Theaterjargons. Stattdessen orientierte sich Brecht, um das Phänomen des Mitgehens zu thematisieren, an der Einfühlungstheorie und bekämpfte sie vehement, aber durchaus nicht deshalb, weil er die offenkundigen erkenntnistheoretischen Aporien dieser Theorie als solche erkannt hätte, sondern weil er glaubte, die Einfühlungstheorie verabsolutiere das Gefühl und müsse allein schon deshalb bekämpft werden, denn, so Brecht über die Art und Weise, wie man die Gestalten seiner Stücke zu spielen habe: »Sie müssten, entgegen der bisherigen Gepflogenheit, ganz kalt, objektiv, klassisch vor den Zuschauer hingestellt werden. Denn sie sind kein Objekt der Einfühlung, sie sollen verstanden werden. Das Gefühl ist Privatsache und borniert. Der Verstand hingegen ist loyal und relativ umfassend.« 11

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Aus solchen Kraftsprüchen hat man dann in der Brecht-Forschung die These abgeleitet, Brecht sei ein in der Wolle gefärbter Rationalist. Und außerdem schien Brecht dem Irrglauben anzuhängen, das Phänomen des Mitgehens beruhe auf dieser ominösen Einfühlung, weshalb wir lieber noch einmal fragen sollten, was Mitgehen eigentlich sei, um diesen Irrglauben aus der Welt zu schaffen. Mitgehen ist nämlich ein transorchestrales Resonanz-Verhalten 12 und hat wie jede andere Variante von Resonanz-Verhalten auch mit Gefühlen irgendwelcher Art nicht viel zu tun, sondern entsteht durch willig aufgenommene Bewegungs-Suggestionen aller Art, die uns aus unserer eigenen Leibhaftigkeit vertraut sind, weshalb Hermann Schmitz, um das Resonanz-Verhalten auf den Begriff zu bringen, auch nicht von »Einfühlung« spricht, sondern von »Einleibung« 13, weil man mitgeht mit allem, was man ist und hat und kann und tut. So gesehen ist das Mitgehen als resonanzbereites Mitschwingen die präreflexive und vorsprachliche Variante des »Prinzips Einverständnis«, das Brecht mit seiner Polemik gegen das Mitgehen aber seltsamerweise explizit aufkündigt. Wenn wir nun daran gehen, dieses von Lichtenberg und Engel so eindrucksvoll beschriebene Phänomen des transorchestralen Mitgehens im einzelnen zu analysieren, so zeigt sich sofort, dass man das Mitgehen nicht isoliert betrachten darf, weil es eingebettet ist in ein ganzes Ambiente von vorbereitenden, begleitenden, unterstützenden und räsonierenden Verhaltensweisen, als da sind: • • • • • •

aufmerken; sich ausrichten (= sich zuwenden); aufmachen (= sich öffnen, sich einlassen, sich überlassen, sich gehen lassen, sich loslassen); einleiben; mitgehen; urteilen und kommentieren.

Zu diesen Verhaltensweisen ist im einzelnen folgendes zu sagen: 1) Die Auflistung ›aufmerken‹ – ›ausrichten‹ – ›aufmachen‹ – ›einleiben‹ – ›mitgehen‹ suggeriert keine zeitliche Abfolge dieser einzelnen Verhaltensweisen, sondern alle sind notwendige Einzelaspekte einer spezifisch geprägten Gesamtsituation. Die eben zitierte Auflistung impliziert aber sehr wohl eine Tendenz vom eher aktiven zum eher passiven Verhalten, ohne dass jedoch am Ende dieser Reihe das Mitgehen als reines Widerfahrnis 14 stünde. Es ist vielmehr so, dass in 272 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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allen angeführten Verhaltensweisen sich Aktivität und Passivität auf eine ganz eigentümliche Art durchdringen und verschränken. Und deshalb ist der mitgehende Zuschauer auch durchaus und beileibe kein ›passiver‹ Zuschauer, der aus diesem unwürdigen Zustand durch irgendwelche ›Aktivierungen‹ erlöst werden müßte, denn das Gerede von der angeblichen ›Passivität‹ des Zuschauers resultiert ja auch nicht aus der Analyse des idealtypischen Zuschauerverhaltens, sondern aus der gedankenschlichten Übertragung der von Popper sarkastisch als »Eimer-Theorie« bezeichneten Theorie sinnlicher Wahrnehmung, die diesen Vorgang eben als pures Widerfahrnis deutet, wobei die Sinne als Eimer zu verstehen sind, in die es die Wahrnehmungsdaten einfach so hineinregnet. Für diesen Vorgang der willigen Hinnahme sowohl des fremden als auch des eigenen Verhaltens in reziproker Korrespondenz, bei dem es kein deutlich agierendes und dominierendes autonomes Akt-Zentrum gibt, fehlt bislang eine allgemein akzeptierte Bezeichnung. Dass sie fehlt, hängt wohl damit zusammen, dass unsere Grammatik uns die Alternative aktiv/passiv so suggestiv aufdrängt, als ob es daneben keine anderen Möglichkeiten mehr geben könne. Kamlah verweist in seiner Philosophischen Anthropologie zwar auf derlei Phänomene 15, schlägt aber keinen Terminus dafür vor, offenbar deshalb, weil er keinen passenden finden konnte. Gernot Böhme spricht in seiner Anthropologie-Vorlesung von »medialem Geschehen« 16, weil es in solchen Situationen um ein beide oder mehrere Partner umgreifendes Geschehen geht, das sich mit den Subjekten und an ihnen und manchmal auch über sie hinweg vollzieht, ein Geschehen also, dessen Medium sie sind, nicht allein dessen Täter oder dessen pure Opfer. 2) ›Aufmerken‹ und ›sich ausrichten / sich zuwenden‹ kann nur dann zum Mitgehen führen, wenn es mit ›aufmachen‹ verbunden ist. Denn nur wenn ich mich dem Partner willig öffne, nur wenn nichts mehr zwischen ihm und mir steht, kann ich mit ihm ›mitgehen‹. Die Zuwendung des Blicks und die intensive Fokussierung der Blickrichtung auf ihn allein genügt jedoch noch nicht, denn dieser Blick kann ja auch kritisch, misstrauisch, zweifelnd, spöttisch, aggressiv, mit einem Wort: distanzierend sein. Die Zuwendung des Zuschauers zum Schauspieler, die zum Mitgehen führen soll, ist also nur möglich auf der Basis einer bestimmten wohlwollenden Einstellung, die man etwas genauer als hinhaltende Hingabe bestimmen kann. Nur dann, wenn man sich, wie Lichtenberg in unserem Beispiel, zum »Ver273 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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trauten« machen lässt und dem Schauspieler »mit ganzer Seele entgegenfliegt«, kann man auch mit ihm mitgehen. Dieses Aufmachen, diese Bereitschaft, sich dem Bühnengeschehen zu öffnen und die eigene Selbstbefangenheit für eine befristete Zeit und unter ganz bestimmten Bedingungen aufzugeben, sich also bedingt ›loszulassen‹, ist aber nicht nur konstitutiv für eine bestimmte Form des Umgangs mit theatraler Kunst und jeder anderen Kunst auch, sondern ist auch weit darüber hinaus für Kamlah eine notwendige »Grundeinsicht«, die er als Voraussetzung für ein »wahrhaft gelingendes Leben« 17 überhaupt ansieht. Genau dies hat Brecht, wie wir gesehen haben, zutiefst verabscheut und wurde in seinen theoretischen Schriften nicht müde, diese Art von Zuschau-Verhalten zu geißeln. Der Ton jedoch, in dem er gegen das »bürgerlich-illusionistische« Einfühlungstheater polemisiert, verrät, dass das Mitgehen für ihn ein im höchsten Maß mit Angst besetztes Verhalten war, weil er hier die Gefahr spürte, dass seine unter großen Mühen errichtete Festung von Selbstbesitz 18 dadurch angegriffen, erobert und geschleift werde könnte. 3) Wenn der Zuschauer ›mitgeht‹, so kann er dies nur, wenn er dazu bereit und fähig ist, sich auch ›gehen zu lassen‹, d. h. wenn er für eine bestimmte Zeit, unter bestimmten Bedingungen und in einer genau definierten Situation eine bestimmte Einstellung einnimmt, die man als die Haltung ›hinhaltender Hingabe‹ bezeichnen könnte. Als ›Hingabe‹ deshalb, weil man dabei etwas von seiner Selbstbehauptung preisgibt, als ›hinhaltend‹ deshalb, weil all dies gleichsam unter Vorbehalt und ›mit angezogener Handbremse‹ geschieht und weil diese hinhaltende Hingabe jederzeit wieder aufgekündigt werden kann, sodass der Zuschauer auch jederzeit wieder aus dieser inneren Haltung hinhaltender Hingabe ›aussteigen‹ und zu der Haltung mündiger Selbstbehauptung zurückkehren kann, ganz so, wie Johann Jakob Engel dies in der oben zitierten Passage aus seinen schauspieltheoretischen Lehrbriefen beschrieben hat. 4) Wenn der Zuschauer ›mitgeht‹, so geht er in dieselbe Richtung mit und in etwa auch in derselben Geschwindigkeit. Aber selbst wenn er noch so ›gefesselt‹ oder ›gebannt‹ sein sollte, so geht er doch nicht so mit, wie ein Verhafteter im Polizeigriff abgeführt wird, und lässt sich auch nicht gefangennehmen, wie man jemanden in den Käfig sperrt. Er kann das Einleiben und Mitgehen nämlich jederzeit durch einen Wechsel der Einstellung aufkündigen und aus der Haltung des Vertrauten zu der des Kritikers hinüberwechseln, wie es der 274 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Regisseur auf den Proben und der Kritiker in der Vorstellung ständig tun. Mit anderen Worten: Der Zuschauer kann, wie schon gesagt, jederzeit auch wieder aus dem Mitgehen ›aussteigen‹. 5) Das Aufmerken, Sichausrichten und Mitgehen wird vorbereitet und unterstützt durch bestimmte Vorgaben, insbesondere durch die Organisation gerichteter Räume, also dadurch, dass die zunächst und immer wieder mal frei schwebende Aufmerksamkeit des Zuschauers konzentriert wird und durch die Verdunklung des Zuschauerraums, durch das Aufgehen des Vorhangs und die Ausleuchtung der Bühne, durch die Sitzordnung und durch die Fensterlosigkeit der Theaterräume viele Blicke auf die Bühne fokussiert werden. Je mehr Blicke um mich herum auf die Bühne gerichtet sind, desto konzentrierter ist auch mein eigener Blick dorthin gerichtet, und auch dies ist eine Variante des Mitgehens als Resonanz-Verhalten innerhalb des Publikums. Wie wichtig es ist, dass, bezogen auf die jeweilige Größe des Theaterraums, genügend Zuschauer anwesend sind, zeigt sich erst privativ, also erst dann, wenn ein Zuschauerraum fast leer ist und zur Bühne ›hinauf gähnt‹ bzw. die Schauspieler ›angähnt‹, denn in diesem Fall schiebt sich derart viel unorientiert leerer Raum zwischen Schauspieler und Zuschauer, dass sich kein verbindendes Medium mehr herstellen und kein transorchestraler Gesamtleib mehr bilden kann, sodass beide Partner sich in ihre jeweilige Enge wieder zurückziehen. 6) Mitgehen ist eine Form von Resonanz-Verhalten, das man im Theaterjargon als ein vorprädikatives und präreflexives ›Verstehen mit dem Bauch‹ bezeichnet, von Hermann Schmitz aber mit dem glücklichen Terminus »Einleibung« bezeichnet wird, als Form »leiblicher Kommunikation« verstanden und dahingehend beschrieben wird, dass man das auf diese Weise Eingeleibte »am eigenen Leibe spürt und doch nicht als etwas vom eigenen Leibe, sondern als etwas Fremdes« 19, aber eben nicht als etwas Fremdes, das von uns in dem Maße Besitz ergriffen hat, dass wir nicht mehr Herr unserer selbst wären, sondern nur die Anmutung des Anderen an uns und in uns spüren, die wir auch zulassen. Wenn also Lichtenberg über Garrick und sich selbst schreibt, man fühle sich selbst »leicht und wohl, wenn man die Stärke und Sicherheit in seinen Bewegungen sieht«, hat das von ihm beschriebene Phänomen mit Gefühlen im landläufigen Sinn und auch im Sinne der Einfühlungs-Theorie überhaupt nichts zu tun. Lichtenberg be275 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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schreibt hier ja nichts anderes, als dass man im Vollzug dieser Einleibung sich selbst und den eingeleibten Partner als eigenleibliches Spüren präsent hat. Es handelt sich beim Einleiben und Mitgehen also gar nicht um das Erlebnis von Gefühlen, wie Johann Jakob Engel glaubte, sondern um »leibliche Dispositionen« (Schmitz) und darum, dass diese auch nicht, »wie die Rede von Einfühlung nahelegt, nachträglich [also mit einer gewissen Reaktionszeit, L. P.] in an sich neutrale wahrgenommene Gestalten hineingetragen werden [also aus dem eigenen Inneren heraus in das fremde ausgedehnte Äußere hinein, L. P.], sondern von vornherein darin zum Vorschein kommen. Keineswegs wird eine von sich aus als leibfremd sich darbietende Sphäre des Wahrgenommenen mit eigener Leiblichkeit als einem Pandaemonium projizierter Kräfte und Tendenzen angefüllt, sondern an den [eingeleibten, L. P.] sinnfälligen Gestalten werden unmittelbar Bewegungs-suggestionen gewahrt, die auch aus dem eigenleiblichen Spüren bekannt sind und daher den wahrgenommenen Gestalten ohne zusätzliche Leistungen eine gleichfalls sinnfällige Verwandtschaft mit dem gespürten Leiblichen verleihen.« 20

7) Das Mitgehen ist als Ergebnis transorchestraler Einleibung eine Reaktion ohne Reaktionszeit, worauf ja schon Engel in dem obigen Zitat verwiesen hat, als er das Bild des Spiegels verwendete. Das Mitgehen vollzieht sich also nicht im nachhinein, und der Zuschauer vollzieht Mimik und Gestik des Schauspielers auch nicht ansatzweise nach, sondern er vollzieht sie synchron mit, also »wie in einem Spiegel« (Engel). Ja, das Mitgehen des Zuschauers vollzieht sich nicht nur gleichzeitig mit dem Spiel des Schauspielers, es vollzieht sich genaugenommen zugleich mit ihm, weil durch die transorchestrale reziproke Einleibung von Schauspieler und Zuschauer eine die beiden Partner übergreifende quasileibliche Einheit entstanden ist, die gleichfalls leibliche Struktur besitzt und sich als transorchestraler Gesamtleib gemäß dem »Alphabet der Leiblichkeit« 21 verhält. Dass der Zuschauer im Rahmen eines so beschaffenen transorchestral übergreifenden Gesamtleibes diesem nicht verfällt, sondern nach wie vor mündiger Partner bleibt, der sich jederzeit wieder ausklinken kann, hängt offenbar damit zusammen, dass sich auch im Rahmen derartiger Gesamtleiber Leibinseln bilden können, ganz so wie dies bei Einzel-Leibern der Fall ist. 8) Es liegt auf der Hand, dass Einleiben und Mitgehen im Umgang von Mensch zu Mensch ganz besonders leicht erfolgen kann, zumal hier immer auch reziproke Einleibung möglich ist, und meis276 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Zur Ätiologie des Mitgehens

tens ist dies auch so. Dass Einleiben und Mitgehen aber auch im Umgang mit statischen Kunstwerken möglich ist, in solchen Fällen also, wo die klassische Einfühlungs-Theorie von ›Beseelung‹ sprechen würde, hat, soweit ich sehe, Herder in seiner Ästhetik als erster systematisch beschrieben. Das ist auch kein Zufall, weil Herder in seiner Kalligone in polemischer Distanzierung von Kants Kritik der Urteilskraft ausdrücklich vom leibhaftigen Umgang des Menschen mit den Gegenständen seiner Umwelt ausgeht und diesen deshalb nicht auf ein leibloses Bewusstsein verkürzt, also auf den von Schopenhauer höhnisch so genannten »geflügelten Engelskopf ohne Leib« (I,150), auf den wir in Kapitel 2.5 schon mal gestoßen sind, weil auch Brechts früher Mentor Max Stirner diese höhnische Formulierung Schopenhauers aufgegriffen hatte, um das cartesische Ich zu bezeichnen, und dem wir in Kapitel 5.3 in den Gestalten des Monsieur Teste und des Herrn Keuner wieder begegnet sind. Dabei kommt Herder dem Schmitzschen Kategorien-System der Leiblichkeit schon ziemlich nahe, wenn er z. B. im Kapitel über bildende Kunst über den Betrachter, der beim Betrachten einer Plastik diese einleibt und »sympathetisch« mitgeht, schreibt: »Jede Form der menschlichen Gestalt spricht zu uns, weil wir selbst, mit dieser Form bekleidet, den Geist fühlen, der sich in dieser Form offenbaret. (…) Mein Arm erhebt sich mit jedem Fechterarm; meine Brust schwillt mit jener Brust, auf welcher Antäus erdrückt wird. Meine Gestalt schreitet mit Apollo, oder lehnt sich mit ihm, oder schaut begeistert empor. (…) Der Ausdruck der plastischen Kunst ist leibhaft, also auch mittelst leibhafter Formen geisterhaft, d. i. sympathetisch-wirksam.« 22

9) Mitgehen ist, wie wir aus Lichtenbergs, Engels und Herders Beschreibungen ersehen können und auch aus eigener Erfahrung wissen, tendenziell ein lustbetontes Verhalten. Das Lustvolle daran liegt offenbar in dem Umstand, dass man sich im Mitgehen zwar gehen lässt, dass man dies aber im vollen Bewusstsein tut und damit auch im vollen Bewusstsein dessen, dass man jederzeit durch einen bloßen Wechsel der Einstellung auch wieder ›aussteigen‹ kann. Man verliert beim Mitgehen auch nicht den Kopf wie im Rausch, in der Ekstase, in der Panik oder in hypnotischen Zuständen, sondern bleibt jederzeit Herr seiner selbst und kann sich jederzeit wieder durch einen Wechsel der Einstellung in die distanzierte Haltung zurückholen, auch wenn man noch so sehr ›dabei ist‹. Mitgehen ist deshalb zwar eine Form von »personaler Regression« im Sinne von Hermann Schmitz, 277 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

VII · Verkennungen und Verblendungen

allerdings eine Form personaler Regression auf Widerruf, bei der man keinerlei Einbußen »personaler Emanzipation« 23 zu befürchten hat, weil all dies in der Einstellung hinhaltender Hingabe vor sich geht. So gesehen sind Brechts Ängste, die sich in seinen beiden Beschreibungen eines mitgehenden Publikums offenbart hatten, eigentlich völlig gegenstandslos. Dass sie aber gleichwohl seine Ängste waren, liegt offenbar daran, dass er sie in seiner frühen Jugend an sich selbst gespürt hat und dieser Erinnerung offenbar nie recht loswerden konnte. 10) Mitgehen setzt voraus, dass der Zuschauer weiß, worum es geht und wohin es gehen soll, und dies außerdem auch akzeptiert. Je fremder das Bühnengeschehen dem Zuschauer bleibt, je weniger er davon versteht, desto weniger wird er mitgehen, denn wer mitgehen soll, muss folgen können und auch folgen wollen. Mit anderen Worten: Das vorsprachliche ›Verstehen mit dem Bauch‹ und das sprachbestimmte Verstehen mit dem Kopf, das Pathische und das Gnostische muss im Theater Hand in Hand gehen. Das »Alphabet der Leiblichkeit« (Schmitz) einerseits und die Sprache andererseits sind zwei Medien und Kommunikations-Systeme, die sich gegenseitig ergänzen und stützen und dies auch problemlos können, denn beiden ist gemein, dass sie nicht nur offene, sondern prinzipiell unabschließbare Systeme möglicher Kommunikation darstellen, die ständig erweitert werden können. 11) Mitgehen als ein ›Verstehen mit dem Bauch‹ ist kein Kommunikations-Verhalten, das ausschließlich im Bereich der performativen Künste Musik und Theater ausagiert werden könnte, und auch nicht nur jede Art des Umgangs mit ästhetischen Gegenständen aller Art prägt, sondern auch weit darüber hinaus jede Art von Kommunikation bestimmt, weil es auch kein spezifisch ästhetisches Verhalten ist, sondern eine fundamentale kommunikative Kompetenz für jede Art von intentionaler Bezugnahme und somit eine anthroponome Konstante. Aus diesem Grund kann und darf man es auch nicht als typisch für die eine oder andere Art von Theater reklamieren, weil es prinzipiell jede Art von Theater prägt. Allerdings ist das Mitgehen kein proprium hominis im Sinne von Aristoteles, also etwas, das ausschließlich dem Menschen vorbehalten ist und ihn deshalb in seinem Wesen charakterisiert wie z. B. die Sprache oder das Lachen und Weinen, sondern kommt schon im Tierreich vor und ermöglicht dort jede andere Art von tierischer Kommunikation, allerdings ohne die Möglichkeit, die ihr zugrunde278 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Die Einfühlungstheorie

liegende Einstellung zu wechseln. Tiere reagieren immer nur in höchster Betroffenheit und Ergriffenheit ohne jede Möglichkeit, von sich selbst und von der je aktuellen Situation Abstand zu wahren. 12) Bei alledem darf man nicht übersehen, dass jeder einzelne dieser Aspekte des Mitgehens kommentarfähig ist und vom Zuschauer faktisch auch kommentiert wird, und die Art des Kommentars kann vom betroffenen Schweigen über den Szenen-Applaus bis zum offenen Protest reichen, weil der Zuschauer immer auf der Höhe des szenischen Geschehens bleiben kann, wenn er will und somit immer auch der mündige Partner des Schauspielers bleiben kann, wenn er nur will.

7.3 Die Einfühlungstheorie Da Brecht, wie gesagt, sich bei seinen theatertheoretischen Überlegungen immer wieder negativ auf die Einfühlungstheorie berufen und das darauf gegründete Illusions-Theater als spezifisch ›bürgerlich‹ verstanden hat, müssen wir kurz auf die ominöse Einfühlungstheorie eingehen, damit deutlich wird, was ihn an ihr so irritiert, aber auch so fasziniert hat. Nicht umsonst bezeichnete er in dem Aufsatz Über experimentelles Theater von 1939 die Einfühlungstheorie als den »Grundpfeiler der herrschenden Ästhetik« 1. Theodor Lipps, der Klassiker der Einfühlungs-Ästhetik, bezeichnet Einfühlung als ein »primäres psychologisches Phänomen«, das allen psychischen Leistungen zugrunde liegt und diese allererst ermöglicht, denn auch in Pflanzen und Tiere, ja selbst in anorganische Gebilde fühlen wir uns ein. Demnach wäre Einfühlung resp. das Einfühlungsvermögen die oben angesprochene gesuchte vorsprachliche kommunikative Kompetenz, die Bedingung der Möglichkeit jeglicher nichtsprach-licher Kommunikation 2 überhaupt. Bei solchen Einfühlungs-Vorgängen projizieren wir laut Lipps Gefühle aus dem eigenen Inneren in ein fremdes Äußeres hinein, sodass wir unser ureigenes Denken-Fühlen-Wollen in den Gegenständen jeglicher Wahrnehmung wiederfinden, als ob es das spontane Leben dieser Objekte selbst sei und nicht bloß das Echo unseres eigenen Inneren. Moritz Geiger beschreibt diesen geheimnisvollen Vorgang unter Berufung auf Lipps anhand eines konkreten ästhetischen Erlebnisses folgendermaßen:

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VII · Verkennungen und Verblendungen

»Wenn wir den Zorn des Moses des Michelangelo erleben, so steht uns dieser Zorn nicht gegenständlich gegenüber, sondern wir sind in ihm, wir leben in diesem Zorn, er hat die volle (zuständliche) Selbstgegebenheit des Zorns, den wir selbst zu haben pflegen. (…) Und er ist nicht nur bildmäßig für mich vorhanden, als anschaulich vorgestellter Zorn, sondern er ist mein wirklich erlebter Zorn.« 3

Bei der »vollen Einfühlung« stellt sich nach Lipps und Geiger das ästhetische Erlebnis dann gleichsam als mystische Einheit zwischen dem ästhetischen Objekt und dem Betrachter dar: »Es ist, solang ich in diesem fremden Zorn lebe, gar nicht zweierlei vorhanden: mein Ich, das hier an dieser Raumstelle sich befindet, in diesem Leibe, und das fremde Ich an einer anderen Raumstelle, sondern nur eines: Ich lebe in dem fremden Körper und bin innerlich darin. Erst nachträgliche Reflexion nimmt die Scheidung vor zwischen mir und dem Fremden, im Erleben existiert dieser Gegensatz nicht. Ich bin im Fremden darin, ich bin eines mit ihm.« 4

Und dann folgt die Begründung: »Für mein Bewusstsein liegt in dem fremden Körper ein Seelisches, ein Ich. Von einem Ich, von einem Bewusstsein, von Wille und Gefühlen aber weiß ich nur aus meinem eigenen Erleben. Trauer und Zorn kenne ich nur aus mir. Und so können, psychologisch gesprochen, die fremden Iche nichts sein als Reproduktionen meines eigenen Ich und ihre Gefühle nur Reproduktionen meiner eigenen Gefühle, die ich in den fremden Körper hineinverlege, hineinfühle, einfühle. Das ist der Gedankengang, der die gesamte Einfühlungs-literatur beherrscht. Gefühle kenne ich nur aus mir und verlege sie dann in den fremden Körper hinein.« 5

Und dies geschieht immer nachträglich und durch eine eigens zu erbringende Leistung. Sind diese fremden Körper lebendige Wesen, so spricht man bei voller Einfühlung von »Identifikation«, also z. B. von der Identifikation des Zuschauers mit dem Schauspieler; sind es unbelebte Körper, obwohl sie bei voller Einfühlung als lebendig und damit als beseelt vermeint werden, so spricht man davon, dass eine »Beseelung« stattgefunden habe, eine Beseelung des ästhetischen Objektes durch seinen Betrachter. Dieser Wortschatz – »Beseelung«, »eigenes Inneres«, »fremdes Äußeres« – ist deutlich erkennbar cartesianisches Erbe. Ob die Einfühlungs-Ästhetiker dieses Erbe in ihren Überlegungen mit reflektierten, billigend in Kauf nahmen oder es stillschweigend voraussetzten, mag hier einmal offenbleiben. Wenn wir jedoch versuchen, die 280 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Die Einfühlungstheorie

Einfühlungs-Ästhetik zu verstehen und zu kritisieren, so sind wir gezwungen, auch ihre unausgesprochenen, vielleicht auch völlig verinnerlichten philosophischen Grundlagen mit zu explizieren. Folgen wir hier Helmuth Plessner, der als einer der ersten mit dem Ruf »Los von Descartes!« Ernst gemacht hat. Er schreibt in seinem anthropologischen Hauptwerk: »Ursprünglich ist die (cartesische) Scheidung alles Seins in res extensa und res cogitans ontologisch gemeint. Sie enthält jedoch von selbst eine methodologisch fortwirkende Bedeutung, die sie in gewissem Sinne der ontologischen Kritik entzieht. Mit der Gleichsetzung von Körperlichkeit und Ausdehnung ist die Natur ausschließlich der messenden Erkenntnis zugänglich gemacht. Alles, was an ihr zur intensiven Mannigfaltigkeit der Qualitäten gehört, muss als solches für cogitativ gehalten werden, da zur einzigen Gegensphäre der Ausdehnung die res cogitans bestimmt ist. Es gibt demnach nur die beiden Möglichkeiten, entweder die qualitativen Daseins- und Erscheinungsweisen der Körper mechanisch aufzufassen, sie also in Quantitäten aufzulösen, oder aber bei Vermeidung dieser Analyse sie für Inhalte von Cogitationen, für Inhalte und Produkte unserer Innerlichkeit zu erklären.« 6

Den ersten Weg geht die moderne Naturwissenschaft, den zweiten die Einfühlungstheorie, denn auch sie projiziert Innerlichkeit – sie nennt es »Gefühl« – aus dem eigenen Inneren hinaus in fremdes ausgedehntes körperliches Äußeres hinein und versteht diesen Vorgang dann als Einfühlung. Und das heißt wiederum, je nachdem: »Identifikation mit schon beseelten Gegenständen« oder »Beseelung von nicht beseelten Gegenständen«. Ich muss noch etwas weiter Plessner zitieren, diesmal aus seinem Aufsatz Die Deutung des mimischen Ausdrucks, wobei ich den Leser bitte, sich vor Augen zu halten, dass Plessner im Folgenden nicht von Einfühlungstheorie spricht, sondern von cartesischer Erkenntnistheorie, obwohl man dies, wenn man Geigers Ausführungen noch in den Ohren hat, gar nicht glauben möchte, weil die Analogien derart verblüffend sind. Dort heißt es nun: »Da der Andere nur als bewegtes Bild erscheint, glaubte man, die Leibhaftigkeit des eigenen Körpers mit diesem Plus an Innengegebenheit begründen zu sollen und erhielt die Entgegensetzung: Ich bin mir nur als Leib, der andere ist mir nur als Körper gegenwärtig. Um ihn als Leib auffassen zu können, muss eine Beseelung stattgefunden haben. Seelisches kenne ich aber originär nur durch Erfassung meiner selbst, durch Rückschau und Wendung der Aufmerksamkeit in mich hinein.« 7

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Dies deshalb, weil allein diese Rückschau nach innen eben Seelisches oder Beseeltes adäquat erfassen kann. Hatten wir am Beispiel des Moses einen ästhetischen Gegenstand, der durch Ein-fühlung des ästhetischen Betrachters beseelt werden musste, so soll nun gezeigt werden, wie die Einfühlungs-Ästhetiker sich diese Identifikation mit schon beseelten Gegenständen vorstellen. So beschreibt Lipps z. B. einen Akrobaten in der Zirkuskuppel und die Einfühlung des Zuschauers in ihn folgendermaßen: »Ich vollziehe die Bewegungen, soweit der ›Vollzug der Bewegungen‹ nicht ein äußerliches, sondern ein innerliches Tun ist, in dem Akrobaten selbst. Ich bin nach Aussage meines unmittelbaren Bewusstseins in ihm; ich bin also da oben. Ich bin dahin versetzt. Nicht neben den Akrobaten, sondern genau dahin, wo er sich befindet. Dies ist nun der volle Sinn der ›Einfühlung‹.« 8

Kann man derartige Beschreibungen, wie wir sie bei Geiger und Lipps gefunden haben, nachvollziehen? – Wohl kaum. Und doch weiß jeder, dass an diesen Beschreibungen ›etwas dran ist‹. Es ist ja in der Tat so, dass wir beim Mitgehen in einer zunächst schwer zu fassenden Art immer auch dort beim Andern sind und dass die Distanz zu ihm geschwunden zu sein scheint. Aber wieso muss ich denn laut Lipps dort draußen »in ihm« sein? Doch offenbar nur deshalb, weil in seiner Beschreibung des Mitgehens das cartesische Prinzip nachwirkt, von dem uns mittlerweile schon vertrauten »geflügelten Engelskopf ohne Leib« 9 auszugehen, also vom »leib- und sprachlosen isolierten Bewusstsein« 10, das dann durch eine eigens und nachträglich zu erbringende Leistung in Form von Analogieschlüssen über Abgründe hinweg sich des Andern überhaupt erst versichern muss, damit es dort so etwas wie Innerlichkeit entdecken kann. Descartes selbst hat dies in seiner sechsten Meditation 11 ja exemplarisch vorexerziert. Statt von der Inselhaftigkeit der Bewusstseins-Subjekte auszugehen, hätte man lieber gleich nach einem immer schon vorgegebenen Kommunikations-Medium suchen sollen, das weder nur subjektiv »in mir« noch nur objektiv »dort draußen« existiert, sondern wie eine Kategorie Seins- und Anschauungsform zugleich ist und deshalb »immer schon immer auch dort« 12 ist, denn ein solches Kommunikations-Medium liegt in der menschlichen Fähigkeit zu allen möglichen Formen von Resonanz-Verhalten ja immer schon vor, über

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Brechts Rezeption und Kritik der Einfühlungstheorie

die man mit Mephisto beim Aufstieg auf den Blocksberg sagen kann: »Du glaubst zu schieben und du wirst geschoben.« (V. 4117)

7.4 Brechts Rezeption und Kritik der Einfühlungstheorie Brechts Einschätzung der Einfühlungstheorie findet sich zusammengefasst in dem Aufsatz Über experimentelles Theater 1 von 1939, in dem er zugleich auch einen theatertheoretischen Gegenentwurf als Kritik des »aristotelischen« Theaters vorstellt. Ausgangspunkt für ihn ist die These, das traditionelle ›bürgerliche‹ Theater orientiere sich im Kern an der Poetik des Aristoteles und diese wiederum gründe sich hinsichtlich der theatralen Mittel auf das Prinzip der Einfühlung und hinsichtlich der angestrebten theatralen Wirkung auf das Erlebnis der Katharsis, denn: »Die Einfühlung ist ein Grundpfeiler der herrschenden Ästhetik. Schon in der großartigen Poetik des Aristoteles wird beschrieben, wie die Katharsis, das heißt die seelische Läuterung des Zuschauers, vermittels der Mimesis herbeigeführt wird. Der Schauspieler ahmt den Helden nach 2 (den Oedipus oder den Prometheus), und er tut es mit solcher Suggestion und Verwandlungskraft, dass der Zuschauer ihn darin nachahmt und sich so in Besitz der Erlebnisse des Helden setzt.« (III,96 f.)

Die vielberedete Katharsis 3 versteht Brecht, wie er an anderer Stelle schreibt, als »die Reinigung des Zuschauers von Furcht und Mitleid durch die Nachahmung von furcht- und mitleiderregenden Handlungen. Diese Reinigung erfolgt auf Grund eines eigentümlichen psychischen Aktes, der Einfühlung des Zuschauers in die handelnden Personen, die von den Schauspielern nachgeahmt (dargestellt) werden.« 4

Seltsamerweise geht Brecht nun nicht der Frage nach, ob diese Deutung der aristotelischen Katharsis überhaupt plausibel ist, denn so gesehen bestünde das Ziel der Tragödie ja darin, dem Zuschauer jede Regung von Furcht und Mitleid auszutreiben und abzugewöhnen und ihn zu einem indolenten Zyniker zu erziehen, der ganz wie die Helden der Neuen Sachlichkeit den Kult des kalten unberührbaren Herzens pflegt. Allzu genau kann Brecht diese Deutung der aristotelischen Katharsis also nicht durchdacht haben, weil er diese Art von Theater dann ja enthusiastisch hätte feiern müssen. Die andere traditionelle 283 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Deutung der aristotelischen Katharsis, die das Ziel in der Läuterung der tragischen Affekte phobos und eleos selbst sieht, scheint er gar nicht gekannt zu haben. Und die neueste Deutung, die das Ziel der Katharsis im uroborischen Selbstverzehr 5 der tragischen Affekte phobos und eleos sieht, konnte er sowieso nicht kennen. Was ihn an der so verstandenen aristotelischen Katharsis aber trotzdem störte, war die Überzeugung, diese Art von Theater sei unfähig, den Zuschauer zu vernünftiger gesellschaftlicher Praxis anzuregen, die auf die Veränderung der gesellschaftlichen Realität abziele, sondern wirke eher als ein Quietiv und bleibe somit gesellschaftlich und politisch folgenlos. Dies wird schon in den nächsten Sätzen noch deutlicher, wenn er verlangt, die Aufgabe des Theaters müsse darin bestehen, »vermittels der Mittel des Theaters ein praktikables Weltbild herzustellen« (III,97), was durch ein EinfühlungsTheater aber nicht möglich sei. Hinter dieser Forderung steckt natürlich die berühmt-berüchtigte elfte Feuerbach-These von Karl Marx aus der Deutschen Ideologie, die da lautet: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.« 6

Und hinter dieser Forderung im Gefolge von Karl Marx, durch das Theater aktiv ins Weltgeschehen einzugreifen, steckt aber wieder eine andere, etwas ältere im Gefolge von René Descartes, der in seinem Discours de la Méthode im 6. Kapitel definitiv eine in jeder Hinsicht praktikable Philosophie fordert, auf die er durch seine prinzipiellen Überlegungen ja auch schon gestoßen sei: »Denn sie haben mir gezeigt, dass es möglich ist, zu Kenntnissen zu kommen, die von großem Nutzen für das Leben sind, und statt jener spekulativen Philosophie, die in den Schulen gelehrt wird, eine praktische zu finden, die uns die Kraft und die Wirkungsweise des Feuers, des Wassers, der Luft, der Sterne, der Himmelsmaterie und aller anderen Körper, die uns umgeben, ebenso genau kennen lehrt, wie wir die verschiedenen Techniken unserer Handwerker kennen, so dass wir sie auf ebendieselbe Weise zu allen Zwecken, für die sie geeignet sind, verwenden und uns so zu Herren und Eigentümern (maîtres et possesseurs) der Natur machen könnten.« 7

Genau diese klassische Stelle aus dem Discours dürfte Brecht auch im Ohr gehabt haben, wenn er dann fortfährt:

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Brechts Rezeption und Kritik der Einfühlungstheorie

»Fasst man nämlich die Menschheit mit all ihren Verhältnissen, Verfahren, Verhaltensweisen und Institutionen nicht als etwas Feststehendes, Unveränderliches auf und nimmt man ihr gegenüber die Haltung ein, die man der Natur gegenüber mit solchem Erfolg seit einigen Jahrhunderten einnimmt, jene kritische, auf Veränderungen ausgehende, auf die Meisterung der Natur abzielende Haltung, dann kann man die Einfühlung nicht verwenden. Einfühlung in änderbare Menschen, vermeidbare Handlungen, überflüssigen Schmerz und so weiter ist nicht möglich. Solange in der Brust des König Lear seines Schicksals Sterne sind, solange er als unveränderlich genommen wird, seine Handlungen naturbedingt, ganz und gar unhinderbar, eben schicksalhaft hingestellt werden, können wir uns einfühlen. Jede Diskussion seines Verhaltens ist so unmöglich, wie für den Menschen des zehnten Jahrhunderts eine Diskussion über die Spaltung des Atoms unmöglich war.« 8

Denn: »Kam der [transorchestrale, L. P.] Verkehr zwischen Bühne und Publikum auf der Basis der Einfühlung zustande, dann konnte der Zuschauer nur jeweils soviel sehen, wie der Held sah, in den er sich einfühlte. Und er konnte bestimmten Situationen auf der Bühne gegenüber nur solche Gemütsbewegungen haben, wie die ›Stimmung‹ auf der Bühne ihm erlaubte. Die Wahrnehmungen, Gefühle und Erkenntnisse des Zuschauers waren denjenigen der auf der Bühne handelnden Personen gleichgeschaltet. Die Bühne konnte kaum Gemütsbewegungen erzeugen, Wahrnehmungen gestalten und Erkenntnisse vermitteln, welche auf ihr nicht suggestiv repräsentiert wurden.« (III,98)

Diese äußerst fragwürdigen Thesen werden dann anhand des »Lear« durch nicht minder fragwürdige Argumente verdeutlicht, wenn Brecht schreibt: »Der Zorn des Lear über seine Töchter steckte den Zuschauer an, das heißt der Zuschauer konnte, zuschauend, nur ebenfalls Zorn erleben, nicht etwa Erstaunen oder Beunruhigung, also andere Gemütsbewegungen. Der Zorn des Lear konnte also nicht auf seine Berechtigung hin geprüft oder mit Voraussagen seiner möglichen Folgen versehen werden. Er war nicht zu diskutieren, nur zu teilen. Die gesellschaftlichen Phänomene traten so als ewige, natürliche, unabänderbare und unhistorische Phänomene auf und standen nicht zur Diskussion.« (III,98)

Wie man sieht, scheint Brecht den ›bürgerlichen‹ Theaterzuschauer für ein durch und durch unmündiges Wesen gehalten zu haben, das zu keinem Zeitpunkt während der Vorstellung zu einem eigenen Urteil über das Verhalten der dramatischen Personen auf der Bühne im285 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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stande ist und lediglich ›gleichgeschaltet‹ mitgehen und niemals aus dem Mitgehen austeigen kann. Im Vergleich zu diesem absurden Horror-Gemälde des ›bürgerlichen‹ Zuschauers war der Blick des Theatertheoretikers Johann Jakob Engel da viel genauer und unbefangener, der im achten Lehrbrief seiner Mimik schreibt, das Mitgehen des illudierten Zuschauers, also seine »nachahmende Malerei«, werde sofort unterbrochen, »wenn seine eigenen Empfindungen die von außen [d. h. von der Bühne, L. P.] kommenden Eindrücke durchkreuzen und Ausdruck fordern.« (I,50) Man sieht sofort, dass hier ein Hauptvertreter der deutschen Aufklärung spricht, der darauf setzt, dass jeder Mensch selber denken kann und deshalb auch selber denken soll. Im Gegensatz dazu ist das Menschenbild, das Brecht in dieser Phase seiner Entwicklung vor Augen hat, ganz anders und viel weniger schmeichelhaft, denn für ihn ist der Normalzustand des Zuschauers im ›bürgerlichen‹ Theater so »traumbefangen«, »naiv«, »gekidnappt« und »in das Schicksal ergeben« (III,100), dass er aus diesem unwürdigen Zustand der »Hypnose« (III,100) mit Gewalt erlöst werden muss. Und deshalb fasst Brecht auf den letzten Seiten seines Aufsatzes eigens nochmals zusammen, was die von ihm erstrebte Art von Theater an praktisch verwertbaren Erkenntnissen erbringen würde und stellt sich dabei nochmals explizit in die cartesische Tradition des gottgleich verfügenden »Herren und Eigentümers der Natur«, dem sich die Welt gefälligst zu fügen hat: »Was ist damit gewonnen? Damit ist gewonnen, dass der Zuschauer die Menschen auf der Bühne nicht mehr als ganz unänderbare, unbeeinflussbare, ihrem Schicksal hilflos ausgelieferte dargestellt sieht. Er sieht: dieser Mensch ist so und so, weil die Verhältnisse so und so sind. Und die Verhältnisse sind so und so, weil der Mensch so und so ist. Er ist aber nicht nur so vorstellbar, wie er ist, sondern auch anders, so wie er sein könnte, und auch die Verhältnisse sind anders vorstellbar, als sie sind. Damit ist gewonnen, dass der Zuschauer im Theater eine neue Haltung bekommt. Er bekommt den Abbildern der Menschenwelt auf der Bühne gegenüber jetzt dieselbe Haltung, die er als Mensch dieses Jahrhunderts der Natur gegenüber hat. Er wird auch im Theater empfangen als der große Änderer, der in die Naturprozesse und die gesellschaftlichen Prozesse einzugreifen vermag, der die Welt nicht nur hinnimmt, sondern sie meistert. Das Theater versucht nicht mehr, ihn besoffen zu machen, ihn mit Illusionen 9 auszustatten, ihn die Welt vergessen zu machen, ihn mit seinem Schicksal auszusöhnen. Das Theater legt ihm nunmehr die Welt vor zum Zugriff.« (III,102)

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Brechts Rezeption und Kritik der Einfühlungstheorie

Denkt man diesen Gedanken konsequent zu Ende, müsste sich dieser herrische Zugriff auch erstrecken auf die Natur, die wir selber sind, also auf all die Prozesse, die sich beim Zuschauen an uns und mit uns als tendenziell unverfügbare Widerfahrnisse vollziehen, sodass wir auch als Zuschauer uneingeschränkt ›Herr im eignen Haus‹ wären und gleichsam göttergleich über uns selbst verfügen könnten. Und tatsächlich läuft Brechts Theatertheorie in letzter Instanz auf dieses Ziel hinaus. Dass für das Mitgehen in einem solchen Konzept kein Platz ist und auch keiner sein kann und sein darf, liegt auf der Hand, weil das Mitgehen, wie wir gesehen haben, auf ein irreduzierbares Mindestmaß von hinhaltender Hingabe angewiesen ist, auch wenn man diese jederzeit wieder aufkündigen kann. Doch das hat Brecht offenbar nie gesehen, wahrscheinlich aber auch nie sehen wollen. Wäre Brecht als Theaterdenker wirklich konsequent gewesen, hätte er auch merken müssen, dass in seinem Theaterkonzept kein Platz für das Lachen ist, weil auch Lachen in all seinen Varianten ohne ein Mindestmaß an Verzicht auf totalen Selbstbesitz, also ohne ein Mindestmaß an personaler Regression 10 gar nicht möglich ist, denn wer lacht, hat den Anspruch auf totalen Selbstbesitz immer schon preisgegeben, und deshalb kann es auch nicht verwundern, dass Brecht als Dramatiker nach der sehr frühen ganz wunderbaren Komödie Die Kleinbürgerhochzeit keine wirkliche Komödie mehr geschrieben hat und das Lachen in seinen theatertheoretischen Schriften faktisch keine Rolle spielt. Und das spielt seltsamerweise, vielleicht aber auch bezeichnenderweise wiederum in der umfangreichen Literatur zur Theorie des »Epischen Theaters« keine Rolle. Da Brecht aber offenbar gemerkt hat, dass dieser totale Zugriff auf die Natur, die wir selbst sind, prinzipiell nicht gelingen kann, ist es in sich ganz konsequent, dass er sie letztlich auch nicht auf den realen empirischen Zuschauer bezieht, sondern auf einen idealen Zuschauer, also auf eine eigens erstellte spezifische Kunstfigur. Diese Kunstfigur kennen wir aber schon, weil sie uns in Kapitel V in Gestalt des Herrn Keuner bzw. in Gestalt von Monsieur Teste schon begegnet ist, denn Paul Valérys Monsieur Teste ist ja laut Walter Benjamin »die Figur des reinen Denkmenschen ohne Affekte« 11, also die »Personifikation des Intellekts« 12 und damit laut Benjamin ein Wesen, das nach der Maxime lebt: »Jede Erregung, jedes Gefühl ist Anzeichen eines Fehlers in der Konstruktion und der Anpassung«, denn »die wichtigsten Gedanken seien die, die unserem Gefühl wider287 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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sprechen.« 13 Und gleiches gilt für den Herrn Keuner, »den Denkenden«, denn laut Walter Benjamin gilt: »Herrn Keuners Laster ist, kalt und unbestechlich zu denken.« 14 Er hätte auch hinzufügen können: »Und deshalb hat Herr Keuner auch nie die Tendenz, bei irgendwelchen Vorführungen mitzugehen.« Walter Benjamin fügt zur Charakterisierung dieser tief irritierenden Gestalt Monsieur Teste aber auch noch hinzu: »Er ist denn auch die Negation des »Menschlichen«: Nichts Ausladendes, Pathetisches, nichts »Menschliches« geht in den Umkreis dieses valérischen Sonderlings ein, dem der Gedanke die einzige Substanz darstellt, aus welcher das Vollkommene sich bilden lässt.« 15

Und damit meint Benjamin offenbar nicht das Allzumenschliche, sondern das Allgemeinmenschliche, das man bei jedem voraussetzen darf, das aber schon Brechts Galy Gay nach seiner Verwandlung in eine unmenschlich-menschliche Kampf-maschine abgeschüttelt hatte. Die philosophische Ahnenschaft dieser beiden Kunstfiguren Keuner und Teste haben wir natürlich auch schon kennengelernt: Es ist das cartesische Ego, »ein zeitloses oder zeitfremdes Ich« 16 bzw. ein »weltloses, körperloses und entleibtes Bewusstsein« 17 und damit der uns schon von Schopenhauer her bekannte »geflügelte Engelskopf ohne Leib« (I,150), über den sich schon Stirner 18 lustig gemacht hatte, und der in Descartes’ Discours de la Méthode von sich behauptet, »dass ich eine Substanz bin, deren ganzes Wesen oder deren Natur nur darin besteht, zu denken und die zum Sein keines Ortes bedarf, noch von irgendeinem materiellen Dinge abhängt, so dass dieses Ich, d. h. die Seele, durch die ich das bin, was ich bin, völlig verschieden ist von dem Körper, ja dass sie sogar leichter zu erkennen ist als er, und dass sie, selbst wenn er nicht wäre, doch nicht aufhörte, alles das zu sein, was sie ist.« 19

Man könnte in freier Anlehnung an Wolfgang Isers Konzept vom »impliziten Leser« 20 aber auch davon sprechen, dass Brechts Konstrukt des »Epischen Theaters« einen ganz speziellen »impliziten Zuschauer« verlangt, und diesem eine genau bestimmte Rolle zuweist, sodass dieser, gemessen am »impliziten Zuschauer« des ›bürgerlichen‹ aristotelischen Theaters, geradezu als seelischer Krüppel erscheint, weil er, mit Nietzsche gesprochen, als »reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses (und eben auch leibloses) Subjekt der Erkenntnis« (II,860) gedacht werden muss.

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Platons theatralische Sendung

Offensichtlich hat Brecht nie gemerkt, in welchen Sackgassen eine solche Theorie des »Epischen Theaters« enden muss, wenn man sie unter philosophisch-anthropologischen Aspekten untersucht, weil damit ein Menschenbild vorausgesetzt werden muss, das uns weit hinter die Errungenschaften der deutschen Aufklärung zurückwirft, denn diese war wesentlich dadurch geprägt, dass sie nach »dem ganzen Menschen« 21 fragte, also nach dem Menschen mit allem was er ist und hat und kann und tut, und deshalb den Menschen auch nicht zu einem »geflügeltem Engelskopf ohne Leib« und ohne Emotionen verkürzte, auch wenn sich dies in den Schriften von Kant des öfteren so angehört haben mag, weil dort immer wieder eine ›Festungs-Mentalität‹ im Stil von Seneca eingefordert wird.

7.5 Platons theatralische Sendung Brechts Theatertheorie steht aber noch in einer weiteren philosophischen Tradition, auf die Brecht selbst aber nie verwiesen hat, ebensowenig wie auf die cartesische, und die in der Brecht-Literatur, soweit ich sehe, auch kaum beachtet worden ist. Wahrscheinlich hat er diese Ahnenschaft nicht einmal gesehen und ist auch von niemandem aus seinem Freundeskreis darauf aufmerksam gemacht worden. Und wenn er diese Ahnenschaft bemerkt hätte, so hätte er sie wohl auch nicht wahrhaben wollen, obwohl gerade durch diese Ahnenschaft der auf den ersten Blick so seltsame Ausdruck „Episches Theater“ sofort plausibel erscheint. Ich meine damit Platons Politeia, die nicht nur als Staats- und Gesellschaftsmodell, sondern auch als Entwurf einer integralen Anthropologie gelesen werden kann, in deren Zentrum wiederum ein Modell der menschlichen Seele steht, und wahrscheinlich war sie auch so gemeint. Alle drei Denkmodelle, das gesellschafts-politische, das anthropologische und das psychologische sind strikt hierarchisch aufgebaut und gleichsam ineinandergeschoben, sodass man immer alle drei im Auge haben muss, auch wenn man bloß eines verstehen will. Und außerdem wird in den Büchern III und X der Politeia auch noch eine Theorie ästhetischer Wirkung entwickelt, die uns hier natürlich besonders interessiert. Platons Staatswesen ist ein veritabler Ständestaat und besteht aus drei Klassen, also aus einigen wenigen Herrschern, den Archonten, vielen Wächtern, den Phlyaken, und der großen Masse der Bau289 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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ern und Handwerker, den Demiurgen. Doch diese drei Stände leben durchaus nicht in inniger Harmonie zusammen, sondern als eine Klassengesellschaft, die von heftigen Spannungen durchzogen ist, weshalb dort ständig irgendwo ein Aufruhr droht, der immer von unten nach oben gerichtet ist und somit letztlich immer die Herrschaft der Archonten bedroht. Aus diesem Grund hängt das Wohl und Wehe dieses Staatswesens ganz wesentlich davon ab, wem es gelingt, die mittlere Klasse der Wächter auf seine Seite zu ziehen und gegen die jeweilige dritte Klasse zu mobilisieren. Das Gesetz des Handelns lautet also auch in Platons Idealstaat: Wer wen? Und selbstverständlich zählt sich Platon selbst rückhaltlos zur Partei der Archonten. Ganz analog dazu und ebenso hierarchisch ist laut Platon der Mensch aufgebaut, dessen drei Teile durch einen Menschen-im-Menschen als Analogon zu den Archonten, einem allzeit wachen Löwenim-Menschen als Analogon zu den Wächtern und durch eine Bestieim-Menschen als Analogon zu den körperlich hart arbeitenden Massen versinnbildlicht werden. Und wiederum strikt analog dazu teilt Platon auch die Seele des Menschen in drei Potenzen, wobei die vernünftige Besonnenheit dem Mensch-im-Menschen entspricht, die gezügelte Leidenschaft dem Löwen-im-Menschen und die Gesamtheit der ungezügelten Begierden der Bestie-im-Menschen. Dass die vernünftige kühle Besonnenheit als alleiniger Maßstab für alle Verhaltensweisen zu gelten hat und alle anderen seelischen Fähigkeiten uneinge-schränkt zu kommandieren hat, steht für Platon zwar fest, ist für ihn aber leider nicht immer der Fall, weil der Mensch in einem fort in Situationen geraten kann, durch die die vernunftgeleitete Besonnenheit mehr oder weniger beeinträchtigt werden kann. Eine dieser Situationen ist der Umgang mit den Künsten, insbesondere mit den performativen Künsten, weil diese zum Mitgehen verführen können, weshalb man laut Platon den Wächtern den Zugang zu den Künsten strikt verwehren sollte, weil sie sich, sobald sie mitgehen, sich den Demiurgen zu sehr angleichen und sich ungehemmt ihren begehrlichen Affekten hingeben würden. In Platons Bilderwelt würde dies heißen, dass der allezeit wache Löwe-im-Menschen der Bestie-im-Menschen unterliegen würde, wodurch dann letztlich auch die Macht des Menschen-im-Menschen gefährdet werden könne und vielleicht sogar zusammenbrechen würde. 290 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Platons theatralische Sendung

Ist für Platon schon die Lektüre des Homer gefährlich für das innere Gleichgewicht des Menschen, so ist es der rhapsodische Vortrag dieser Epen erst recht, weil die dort dargestellten Affekte den Zuhörer zum Mitgehen, also z. B. zum Mitleiden, Mitweinen oder Mitlachen verführen könnten. Noch viel gefährlicher aber ist für Platon das Theater, weil dort leibhaftige Gestalten auftreten, denen aufregende Erlebnisse zustoßen, die sie durch eine Vielfalt von Affekten zu verarbeiten suchen, was die Zuschauer wiederum besonders massiv zum Mitgehen verführt. Und deshalb lautet Platons Anklage gegen die dramatische Kunst im zehnten Buch, sie sei allzusehr imstande, »auch die [eigentlich vernünftigen, L. P.] Wohlgesinnten, einige gar wenige ausgenommen, zu verderben, das ist doch gar arg. (…) Auch die Besten von uns, wenn wir den Homeros hören [vorgetragen durch einen Rhapsoden, L. P.] oder einen andern Tragödiendichter, wie er uns [auf der Bühne, L. P.] einen Helden darstellt in trauriger Bewegung und eine lange Klagerede haltend, oder auch singende und sich heftig gebärdende: so wird uns wohl zumute, wir geben uns hin und folgen mitempfindend [d. h. wir gehen bereitwillig mit, L. P.], und die Sache ernst nehmend loben wir den einen guten Dichter, der uns am meisten in diesen Zustand versetzt.« 1

Um diesen gefährlichen, weil staatsgefährdenden Zustand zu vermeiden, gibt es für Platon nur die Konsequenz, die performativen Künste in seinem Idealstaat nach Möglichkeit auf das Erzählen zu reduzieren und das leibhaftige Darstellen zu verbieten, es sei denn, es fördere durch die Darstellung tapferer Gestalten die Tapferkeit der Wächter. Und deshalb entscheidet sich Platon bei der Frage »Erzählung durch Darstellung« oder »Erzählung ohne Darstellung« 2 eindeutig für das Prinzip »Erzählung ohne Darstellung« bzw. »Darstellen durch Erzählen«, weil ihm hier die Versuchung zum Mitzugehen weitaus geringer zu sein scheint. Das Prinzip »Erzählung durch Darstellung« aber verfällt gnadenlos der Zensur: »Bei diesem und allem dergleichen wollen wir den Homeros und die andern Dichter bitten, uns nicht zu zürnen wenn wir sie ausstreichen [verbieten, L. P.], nicht als ob es nicht dichterisch wäre und dem Volke angenehm zu hören, sondern weil es, je dichterischer, um desto weniger gehört werden darf von Knaben und Männern, welche frei gesinnt sein sollen und die Knechtschaft [auch die Knechtschaft unter ihre eigenen Affekte, L. P.] mehr scheuen als den Tod.« 3

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VII · Verkennungen und Verblendungen

Falls aber beide Formen performativer Vermittlung von Dichtung verwendet werden müssen, weil es keine andere Möglichkeit gibt, lässt Platon den Kompromiss zwischen »der Darstellung und der eigentlichen Erzählung« zu, jedoch nur so, »dass in einem großen Umfange von Rede nur ein kleiner Teil Darstellung vorkommen wird.« 4 Dass Platon außerdem auch das Lachen in seinem Idealstaat nicht gerne sieht und es den Wächtern generell verbieten möchte, ist eine weitere Analogie zu Brechts Konstrukt eines »Epischen Theaters«, und in sich auch konsequent, weil jede Form von Gelächter unumgänglich mit einem Mindestmaß an personaler Regression und einem mehr oder weniger großen Verlust an Selbstbeherrschung verbunden ist, weshalb er von seinen Wächtern verlangt: »Aber auch sehr lachlustig dürfen sie nicht sein. Denn wenn sich jemand in heftigem Lachen gehenlässt, so sucht dergleichen auch immer wieder eine heftige Umwendung [Verlust der Besonnenheit und zugleich damit den Verlust der aufrechten Haltung, L. P.]. Weder also, wenn uns jemand Menschen, die der Rede wert sind, vom Gelächter überwältigt darstellt, dürfen wir uns gefallen lassen, noch viel weniger aber, wenn Götter [sich so verhalten, L. P.]. Also wollen wir dem Homeros auch das nicht durchgehen lassen von den Göttern: Doch unermeßliches Lachen erscholl den seligen Göttern, Als sie sahn, wie Hephaistos in emsiger Eil umherging; Das dürfen wir nicht gelten lassen.« 5

Hätte Platon es ein klein wenig anders formuliert und eine Kunst gefordert nach dem Prinzip »Darstellung als ob es Erzählung sei« oder noch kürzer »Darstellen durch Erzählen«, so hätte nicht erst Brecht als der Erfinder eines »Epischen Theaters« zu gelten, sondern schon Platon. In der Intention aber waren sich beide durchaus einig, weil sie beide ein Theater mit einem extrem reduzierten MitgehPotential forderten, und so könnten wir den von Brecht immer wieder verwendeten Ausdruck »anti-aristotelisches Theater« auch gut und gern durch den Ausdruck »platonisches Theater« ersetzen.

7.6 Bilanz und Ausblick Wie wir gesehen haben, stehen auch Brechts theatertheoretische Überlegungen unter dem generellen Impuls der Zurücknahme eigener früherer Haltungen, Positionen, Überzeugungen und ästhetischer Bemühungen. Zurückgenommen wird z. B. die frohe Botschaft 292 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Bilanz und Ausblick

des Gottes Baal, also die Haltung hinhaltender Hingabe an die Welt. Zurückgenommen wird deshalb auch die Bereitschaft zu uroborischer Selbstver-ausgabung; zurückgenommen wird die damit eng verwandte frohe Botschaft Max Stirners und dessen Appell, die eigene Leiblichkeit zu entdecken und ungeniert zu genießen; zurückgenommen wird deshalb auch die Wiederentdeckung der Anima naturaliter pagana, also die skrupelfreie Unbefangenheit, und zurückgenommen wird vor allem die Kritik der gläubigen Unvernunft und die grundsätzliche Ablehnung aller Arten von Glaubenskonstrukten, also aller »Sparren«. Was das Personal angeht, wird dieses baalische Erbe ersetzt durch leibfreie Kunstfiguren mit reduzierter Menschlichkeit aus dem Geiste von Descartes und Valéry oder durch unmenschliche Kampfmaschinen aus dem Geiste militanter Kollektive. Analog dazu ändert sich auch die innere Haltung fundamental, weil der feste Wille, sich nicht verführen zu lassen, einer Bereitschaft zu neuen Gläubigkeiten gewichen ist, die sich, wie wir sehen werden, alsbald auch in frommen kommunistischen Bekenntnissen aller Art bekunden sollte. So gesehen erscheint Brechts Versuch, dem ›bürgerlichen‹ aristotelischen Theater einen anderen, eigenen Entwurf entgegenzusetzen, weniger als Antwort auf die objektive gesellschaftliche und politische Situation seiner Zeit, und schon gar nicht in erster Linie als ein Beitrag zum Klassenkampf, so sehr er dies auch immer betonte, sondern viel eher als ein höchst privates Projekt, das das Ziel verfolgte, mit sich selbst ins Reine zu kommen und sich bei diesem Kampf »mit mir gegen mich« selbst vollständig in die Hand zu bekommen. Unter diesem Aspekt wäre auch der andere durchgehende Impuls in Brechts Werks- und Entwicklungsgeschichte zu sehen, also der herrische Zugriff auf das eigene Herz und damit zugleich auch auf die eigenen Gefühle, der im Lichte von Benjamins Charakterisierung des Monsieur Teste durchaus als »Verlust des Menschlichen« gesehen und gewertet werden muss. Zu welchen Ergebnissen diese Ausschaltung des Herzens führen muss, haben wir an der entmenschten menschlichen Kampfmaschine Galy Gay ja schon studieren können, werden wir aber nochmals anhand von Brechts kommunistischen Passionsstücks Die Massnahme studieren müssen. In diesem Zusammenhang werden wir auch auf einen Aspekt von Brechts Kritik an der ›bürgerlichen‹ Einfühlungstheorie eingehen müssen, den wir bisher unbeachtet gelassen haben, auf die Behaup293 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

VII · Verkennungen und Verblendungen

tung nämlich, dass die Einfühlung nur noch als Einschmelzung des Einzelnen in ein militantes Kollektiv und dessen volonté générale sinnvoll sei, weil dies dem historischen Gebot der Stunde entspreche und damit auch den Forderungen des Klassenkampfes. In Kapitel V sind wir auf dieses Thema zwar schon gestoßen, müssen es aber nun im Lichte von Platons Theatertheorie nochmals überdenken und aufs Neue analysieren. Dabei wird sich zeigen, dass das Mitgehen als die resonanzbereit mitschwingende Variante des »Prinzips Einverständnis«, das Brecht im Rahmen seiner Theatertheorie so vehement abgelehnt hatte, nunmehr ins rein Aktivistische gewendet wird und nun unter dem Titel »Einverständnis mit den ehernen Gesetzen der geschichtlichen Entwicklung« oder kürzer: »Einverständnis mit der Soziodizee« eine ganz neue Bedeutung bekommt. Eine ganz andere Frage aber ist die, ob man Brechts Theorie des »Epischen Theaters« kennen und unbedingt befolgen muss, um seine Stücke angemessen auf die Bühne zu bringen, und diese Frage lässt sich dahingehend beantworten, dass man dies natürlich nicht muss, vor allem deshalb nicht, weil sich alsbald zeigen wird, dass Brecht als Stückeschreiber seiner Theorie des »Epischen Theaters« oft genug zuwider gehandelt hat und dass seine großen Stücke auf die Befolgung seiner Theatertheorie durchaus nicht angewiesen sind, sondern auch ohne sie ihren vollen Glanz entfalten können.

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Kapitel VIII Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden oder Weh dem, der seinem Herzen folgt! 8.1 Einleitung In der ›bürgerlichen‹ Brecht-Forschung gilt Brechts Phase der Lehrstücke, die mit dem Badener Lehrstück vom Einverständnis 1 beginnt und in dem Stück Die Massnahme 2 ihren Höhepunkt findet, meist als eine beklagenswerte Phase der Verirrung, in der Brecht sein großes Talent an unwürdige Projekte verschleudert und dürre marxistische Propaganda von der Bühne herab verkündet habe, »vorgetragen mit einer in sich selbst verliebten Attitüde der schulmeisterlichen Pedanterie.« 3 In der westlichen, aber marxistisch geprägten Brecht-Forschung, die während des »roten Jahrzehnts« 4 entstand, wird die Phase der Lehrstücke hingegen geradezu als der Höhepunkt von Brechts Gesamtwerk verherrlicht. So behauptet z. B. Reiner Steinweg in seiner Studie über die Lehrstücke, hier habe Brecht in der Nachfolge Schillers, aber in der Intention gegen Schillers Idealismus ein Musterbeispiel »pädagogisch-ästhetischer Erziehung« vorgelegt, das man nur bewundern könne, und kommt deshalb zu dem Fazit, Brechts Lehrstücke seien »Entwürfe eines sozialistischen Theaters der Zukunft« 5, denn: »Nicht das epische Schaustück, sondern das Lehrstück kommt als Modell für ein sozialistisches Theater in der sozialistischen Gesellschaft in Frage.« 6

Und das wiederum heißt für Steinweg, »dass das Lehrstück in der Theater-Theorie Brechts nicht etwa geringeren Stellenwert hat als die ›großen‹ bekannten Schaustücke, sondern dass umgekehrt die Schaustücke des epischen Theaters Kompromisse sind, Formen, die der konterrevolutionären Entwicklung seit 1932 Rechnung tragen. Bei den Arbeiten, die Brecht in der Emigration angefertigt hat, handelt es sich um Not- und Übergangslösungen. Wenn man sie zur ›Klassik‹ hochstili-

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VIII · Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden

siert, verschüttet man den revolutionären Ansatz für ein Theater der Zukunft, wie es mit dem Typus Lehrstück gegeben ist.« 7

Da fragt man sich natürlich, warum Brecht nach seiner Emigration keine Lehrstücke mehr geschrieben und die Aufführung des Lehrstücks Die Massnahme sogar ausdrücklich verboten hat, sondern ›nur noch‹ seine großen Stücke schrieb, die ihn dann mit Recht zum Klassiker gemacht haben. Begründet wird diese hohe Einschätzung des Lehrstücks meist damit, dass Brecht selbst kurz vor seinem Tod gegenüber Manfred Wekwerth diese Bewertung vertreten 8 habe, aber auch damit, dass für ihn das Lehrstück das integrale Medium der von ihm ins Auge gefassten »Großen Pädagogik« gewesen sei, über die er selbst schreibt: »Die Große Pädagogik verändert die rolle des spielens vollständig sie hebt das system spieler und zuschauer auf sie kennt nur mehr spieler die zugleich studierende sind nach dem grundsatz »wo das interesse des einzelnen das interesse des staates ist bestimmt die begriffene geste die handlungsweise des einzelnen« wird das imitierende spielen zu einem hauptbestandteil der pädagogik demgegenüber führt die Kleine Pädagogik in der übergangszeit der ersten revolution lediglich eine demokratisierung des theaters durch die zweiteilung bleibt im grunde bestehen jedoch sollen die spieler möglichst aus laien bestehen (…) und das publikum aktiviert werden (…) der zuschauer muss partei ergreifen statt sich zu identifizieren.« 9

Denn, so Brecht an anderer Stelle: »das lehrstück lehrt dadurch, dass es gespielt, nicht dadurch, dass es gesehen wird. prinzipiell ist für das lehrstück kein zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich verwertet werden. es liegt dem lehrstück die erwartung zugrunde, dass der spielende durch die durchführung bestimmter handlungsweisen, einnahme bestimmter haltungen, wiedergabe bestimmter reden usw. gesellschaftlich beeinflusst werden kann. die nachahmung hochqualifizierter muster spielt dabei eine große rolle, ebenso die kritik, die an solchen mustern durch ein überlegtes andersspielen ausgeübt wird. es braucht sich keineswegs nur um die wiedergabe gesellschaftlich positiv zu bewertender handlungen und haltungen zu handeln; auch von der (möglichst großartigen) wiedergabe assozialer handlungen und haltungen kann erzieherische wirkung erwartet werden.« 10

Nimmt man die Kriterien dieser beiden Pädagogiken ernst, so bestünde die »Kleine Pädagogik« in der Aufführung von Brechts »epischen« 296 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Einleitung

Theaterstücken, die »Große Pädagogik« aber aus den performativen Exerzitien der Lehrstücke, die genau wie die Exerzitien des Ignatius von Loyola nach bestimmten Vorlagen ausagiert werden, um die Selbstbemeisterung 11 des Exerzierenden zu organisieren und darüber hinaus auch noch die leibhaftige Erfahrung verschiedenster gesellschaftlicher Einstellungen und Verhaltensweisen zu ermöglichen. Aus diesem Grund hätte Brecht diese Textsorte auch als »Lernstücke« oder als »Selbstbelehrungsstücke« bezeichnen können. Doch diese säuberliche Trennung von »großer« und »kleiner Pädagogik«, von »Lehrstück« zum Zweck der Selbstbelehrung und »Epischem Theater« zum Zweck der Fremdbelehrung bestand nur in der Theorie, denn faktisch wurden Brechts Lehrstücke nicht anders aufgeführt als jedes andere Theaterstück auch, also ausgearbeitet als detaillierte Spielvorlage für Schauspieler, Sänger und Orchestermusiker, vorbereitet durch intensive Proben, dargeboten vor einem Publikum, das sich dann verhalten konnte wie jedes andere Publikum auch, und beurteilt durch die Zunft der Theater- und Musikkritiker, die die jeweilige Inszenierung dann auch nach genau denselben Kriterien beurteilten, denen sie auch sonst zu folgen pflegten. Faktisch waren die auf diese ganz konventionelle Art aufgeführten Lehrstücke also nichts anderes als Theaterstücke mit einer expliziten politischen Botschaft, also eine säkularisierte Form von propaganda fidei im Stil der Matthäus-Passion, aber eben im Sinne des Kommunismus. Dass Brecht all diese Lehrstücke schrieb, hatte sicher vielfältige Gründe, und die Absichten, die er damit verfolgte, waren sicher ebenfalls recht vielfältig. So konnte es z. B. die Absicht sein, sich der Kommunistischen Partei als neuer Autor anzudienen, oder seinen neuen Freunden zu beweisen, wie kompetent er schon in Sachen Marxismus war. Möglicherweise glaubte er auch, er könne mit diesen Texten direkt in den Klassenkampf eingreifen und damit die elfte FeuerbachThese von Marx in die Tat umsetzen und die Welt nicht nur mit theatralen Mitteln interpretieren, sondern sie auch mit solchen Mitteln verändern. Doch all das ist nicht unser Thema, weil wir hier nur Brechts Kampf »mit mir gegen mich« weiter verfolgen und deshalb diese Lehrstücke als Versuche zur Selbstbelehrung und Selbstbemeisterung deuten wollen und deshalb prüfen müssen, wie dieser Kampf »mit mir gegen mich« hier geführt worden ist und wie das Ergebnis war. Insbesondere gilt es zu klären, ob dadurch die Emanzipation von Stirner gelungen ist oder nicht. Allein schon aus diesem Grund ist es 297 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

VIII · Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden

eher verfehlt, Brechts Lehrstück-Phase als eine beklagenswerte Verirrung zu verstehen, weil sie sich im Zuge seiner ideologischen Wandlungen zwingend ergeben hatte und deshalb auch in diesem Sinne gewürdigt und analysiert werden muss. Wenn es in den Lehrstücken also um Enteinzigungen, Enteignungen und Säuberungen geht, so sind dies immer zugleich auch hoch ritualisierte Selbst-Enteinzigungen, Selbst-Enteignungen und Selbst-Säuberungen, die sich Brecht hier selbst verordnete und dann als Autor an den Gestalten seiner Lehrstücke in effigie vollzogen hat. So gesehen bekommt das »Prinzip Einverständnis« wieder einmal eine neue Bedeutung, weil Brecht nun in eine Runde des Kampfes »mit mir gegen mich« tritt, um ein neues Einverständnis mit sich selbst zu gewinnen, das im Einverständnis mit den Lehren der marxistischen Klassiker bestehen sollte. Im Vergleich zu Reiner Steinweg urteilt z. B. Werner Mittenzwei in seiner Brecht-Biographie viel weniger enthusiastisch über die Lehrstücke, die er in einer früheren Stellungnahme schon mal als »einen notwendigen Umweg« 12 bezeichnet hatte. Speziell die beiden wichtigsten Lehrstücke, also Das Badener Lehrstück vom Einverständnis und Die Massnahme, scheinen ihn offenbar doch etwas peinlich berührt zu haben, weshalb er sie und ihren Autor mit dem Argument zu verteidigen sucht, sie gehörten ganz und gar nicht zum Typus »bolschewistisches Propaganda-stück« (I,317) und keines von beiden sei »ein verstiegenes theologisches Werk über das Verhältnis zum Tode« (I,317), wie die ›bürgerliche‹ Kritik behauptet und bemängelt habe, denn: »Das Neue [an diesen beiden Lehrstücken, L. P.] bestand gerade darin, dass über die vorgeführten Haltungen diskutiert werden sollte. Durch die Diskussion, vor allem durch Mitspielen hatte der Zuschauer herauszufinden, was (für ihn selbst) zu bejahen und was zu verneinen sei. Nicht, was der Autor wollte, sondern zu welchem Schluss der Zuschauer kam, war wichtig: Hilfeverweigerung ist keine einzunehmende Haltung, sondern ein Diskussionspunkt; Armut, das Aufgeben aller Dinge keine Existenzweise, die einfach zu akzeptieren, sondern zu überprüfen ist; der Tod nicht mystischer Vorgang, sondern eine notwendige Einsicht in das Unvermeidliche, um ohne Angst leben zu können.« (I,317)

Wenn man will, kann man aus diesen etwas gewundenen Sätzen sogar eine vorsichtige Distanzierung Mittenzweis von den beiden wichtigsten Lehrstücken Brechts herauslesen, denn Mittenzwei vermeidet

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Einleitung

es hier doch, Brechts Lehrstücke unumwunden als kommunistische Bekenntnistexte zu akzeptieren und geht sogar so weit, die Handlung der Massnahme als »politische Mordgeschichte« (I,314) zu bezeichnen, für deren angemessene Gestaltung Brecht leider noch gar nicht richtig reif gewesen sei, denn »die Technik des Lehrstücks, verschiedene Haltungen einzunehmen, um daraus zu lernen, stand Brecht beim Schreiben (damals) noch nicht zur Verfügung. Zunächst setzte sich nur seine Neigung durch, von einem Vorgang zugleich auch das Gegenteil mitzuliefern.« (I,317)

Recht geben muss man Mittenzwei allerdings, wenn er schreibt, die Phase der Lehrstücke sei für Brecht eine Zeit der Umbrüche und Aufbrüche gewesen, eine Zeit der fundamentalen Neuorientierung im Welt- und Selbstverhältnis, denn: »Die Zeit, die jetzt [gegen Ende der Weimarer Republik, L. P.] aufkam, empfand er als Prüffeld: Vor dem Aufbau einer neuen Welt werde dem Menschen noch einmal alles abverlangt. Damit er für das Neue bereit sei, müsse er sich von allem Vertrauten, Gewohnten lossagen. Diese Haltung attackierte den Anspruch auf ein persönliches Schicksal. Erst wenn der Mensch einverstanden sei, dass es auf sein persönliches Schicksal nicht ankomme, könne ihm geholfen werden.« (I,317)

Dieser Überzeugung hatte Brecht, wie wir gesehen haben, ja schon in der Geschichte Galy Gays Ausdruck verliehen, der auf seine individuelle Existenz verzichtete und sich mit vollem Einverständnis in ein Kollektiv einschmelzen ließ, denn, so Brecht: »Ein Kollektiv ist nur lebensfähig von dem Moment an und so lang, als es auf die Einzelleben der in ihm zusammengeschlossenen Individuen nicht ankommt.« 13

Dies deshalb, weil es laut Brecht allein darauf ankommt, wie gut sich ein Individuum im Kollektiv und für das Kollektiv »verwerten« 14 lässt. Mittenzwei illustriert seine These dann ein paar Seiten später durch eine Anspielung auf Brechts Gedicht Der Weg nach unten (S. 824 f.), das er durch den Zwischentitel Der Gang in die Tiefe (I,323 ff.) paraphrasiert, hätte seine These aber auch durch das Gedicht Alles Neue ist besser als alles Alte (S. 829 f.) illustrieren können, in dem Brecht sogar das unverstandene Neue blindlings besser findet als das verstandene Alte, denn es heißt da gleich in der ersten Strophe: 299 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

VIII · Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden

Woher weiß ich, Genosse Dass ein Haus, das heute gebaut ist Einen Nutzen hat und gebraucht wird? Und die nie gesehenen Konstruktionen Die aus dem Straßenbild herausfallen und Deren Zweck ich nicht kenne Mir so einleuchten? Weil ich weiß: Alles Neue Ist besser als alles Alte. (S. 829)

Und diese kühne Behauptung wird dann noch dreimal wiederholt. Was Mittenzwei als fundamentale Neuorientierung Brechts bezeichnet, lässt sich aber auch als die weiter vorangetriebene Zurücknahme all der Umbrüche und Aufbrüche verstehen, die wir oben in Kapitel II behandelt haben, also als eine weitere Ablösung von Stirners Philosophie des sich selbst verzehrenden Egoismus und seiner rabiaten Kritik aller »Sparren« bzw. als eine Hinwendung zu neuen Gläubigkeiten, neuen Enteinzigungen und Enteignungen, die, wie in Kapitel V dargestellt, mit dem Stück Mann ist Mann schon begonnen hatten und nun weiter radikalisiert werden sollten. Auf die kürzeste Formel gebracht könnte man sagen, Brechts Umbruch am Ende der zwanziger Jahre bestand darin, dass Karl Marx an die Stelle von Max Stirner in der Rolle als philosophischer Mentor trat. Dass Brecht diesen philosophischen Mentor seiner frühen Augsburger Jahre Johann Caspar Schmidt alias Max Stirner in Gestalt der Herren Schmidt und Schmitt in effigie hatte sterben bzw. umbringen lassen, haben wir in Kapitel IV und V ja schon gesehen. Das aber heißt zugleich, dass Brecht auch die Helden seiner frühen Stücke Baal und Kragler, die als Einzige im Sinne Stirners konzipiert waren, ebenfalls nachträglich wieder enteinzigen und enteignen musste, wie er dies schon im Fall von Galy Gay getan hatte, und die Helden seiner Lehrstücke als Gestalten konzipieren musste, die ihre Enteinzigung und Enteignung entweder gerade vollziehen oder sie schon hinter sich gebracht haben. Und wenn einer dieser Helden es wagte, sich trotzdem noch einen Rest von Eigenheit bewahren zu wollen, z. B. dadurch, dass er nicht irgendwelchen Befehlen von außen oder oben, sondern allein seinem Herzen folgt, musste er sofort gnadenlos vernichtet werden. Und genau dieses Thema soll uns im Folgenden zentral beschäftigen, nicht so sehr die Problematik der

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Neue Gläubigkeiten

mehr oder weniger Großen Pädagogik und ihrer Funktion im Klassenkampf.

8.2 Neue Gläubigkeiten Laut Mittenzwei hat sich Brecht schon seit Oktober 1926 intensiv mit dem Marxismus beschäftigt, indem er sich in Das Kapital vertieft und einen Freundeskreis um sich versammelt habe, der in seiner Mehrheit aus Marxisten bestand. Zu nennen wären hier z. B. Walter Benjamin, Karl Korsch, Fritz Sternberg, Erwin Piscator, Hanns Eisler und vor allem auch Helene Weigel, die im April 1929 ja auch seine Frau wurde. In Brechts Gedichten finden sich, soweit ich sehe, die ersten Spuren dieser marxistischen Umorientierung aber erst im Jahr 1929. So wird z. B. in dem Gedicht Der Weg nach unten (S. 824 f.) der Adressat des Gedichts noch mit »Kamerad« angeredet, in dem Gedicht Alles Neue ist besser als alles Alte (S. 829 f.) aber schon mit »Genosse«. Ein Vokabular explizit marxistischer Theorie taucht ebenfalls erst 1929 in dem Gedicht Die Ausbeutung soll verschwinden auf, in dem sich aber marxistische und Stirnersche Wendungen auf eine seltsame Weise durchdringen, sodass man nicht recht weiß, auf welcher Seite der Autor eigentlich steht: auf der Seite der Eigner, die enteignet werden sollen oder auf der Seite der Enteigner, die gegen die Eigner angetreten sind: Die Ausbeuter sollen ausgerottet werden Aber nicht verschwinden soll Die Haltung der Ausgebeuteten. Die bereit sind zu nehmen Sollen abtreten, aber Die bereit sind zu geben Sollen an ihre Seite treten. Ihr Sieg ist: die Enteigner zu schlagen, aber Ihr Triumph ist: Enteignet zu werden. (S. 821 f.)

Trotz alledem weiß man nicht, wann genau Brecht Marxist bzw. Kommunist wurde, da er der Kommunistischen Partei ja auch nie in aller Form beigetreten ist. Fritz Sternberg, mit dem Brecht seit 1927 befreundet war, meint, der 1. Mai 1929 sei für Brechts Hinwendung 301 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

VIII · Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden

zum Kommunismus ein entscheidendes Erlebnis gewesen, weil er an diesem Tag miterleben musste, wie eine kommunistische Demonstration durch die Berliner Polizei mit Schüssen auseinandergetrieben wurde, wobei es auch einige Tote 1 gegeben habe. Und dann berichtet Sternberg über die Rundfahrt in Brechts Auto durch das politisch extrem erregte Berlin im Stil eines Revolutions-Touristen: »Die Polizei hatte vielfach ganze Straßenzüge abgeriegelt und leitete die Autos um; man war höflich zu uns, da wir ja in einem Privatauto saßen und nicht, wie einer der Polizeioffiziere bemerkte, zum Pöbel gehörten. Dass Arbeiter, die wie seit Jahrzehnten am 1. Mai demonstrieren wollten, für die Polizei nur Pöbel darstellten, war wiederum für Brecht ein Erlebnis, das er nicht mehr vergaß, noch Jahrzehnte später, als wir bereits in der Emigration waren, erzählte er davon.« 2

In Brechts Werk hat dieses angeblich so tiefgreifende Erlebnis allerdings, soweit ich sehe, keine tieferen Spuren hinterlassen. Vielleicht ist es aber auch schon im Ansatz falsch, bei Brecht nach einem klassischen Erweckungs-oder Bekehrungs-Erlebnis zu suchen, wie sie in allen möglichen Lebensbereichen vorzukommen pflegen und ausführlich geschildert worden sind, im religiösen Bereich z. B. von Augustinus, von Jakob Böhme oder in der pietistischen Anthologie von Johann Henrich Reitz 3, im philosophisch-wissenschaftlichen Bereich als »Heureka!«-Erlebnis von Michel Onfray 4 und im politischen Bereich von Michael Großheim 5. Meist verlaufen diese Erweckungs- und Bekehrungs-Erlebnisse nach dem Schema Anspannung – Zuspitzung – Durchbruch – Ekstase 6. Viel plausibler scheint es mir, im Fall von Brecht auf diese individualisierende Sichtweise zu verzichten und danach zu fragen, ob solch eine fundamentale Neuorientierung, die Brecht gern mit dem Begriff »Einverständnis« wiedergab, unbedingt als einmaliger Durchbruch vor sich gehen müsse und ob sie vielleicht auch gleichsam als länger sich hinziehende Erosion geschehen könnte, also als Resonanz-oder Ansteckungs-Phänomen nach dem Prinzip »Du glaubst zu schieben und du wirst geschoben«, als ein allmähliches Hineingleiten in eine neue Überzeugung, ganz so, wie man sich vom Lachen oder Weinen 7 anderer anstecken lassen kann, wenn man sich denn anstecken lassen will. Doch ob Karl Marx Brechts Mentor tatsächlich auch geblieben und Stirner aus Brechts geistigem Haushalt völlig verschwand, ist damit noch lange nicht gesagt, und schon gar nicht, ob nicht noch ein weiterer Mentor aufgetreten ist, der schließlich beide ersetzt hat. 302 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Neue Gläubigkeiten

Wenn man Brechts Werk auf dieses Thema hin durchsucht, wird man auch sofort fündig, denn genau diesen halb bewusst, halb unbewusst und damit »wie von selbst« sich vollziehenden Entscheidungsprozess hat Brecht ja in dem wundervollen Gedicht über die Entstehung des Buches Taoteking dargestellt, wo er schildert, wie ein gewöhnlicher Zöllner dem Philosophen Lao Tse durch die unerwartete Erfahrung eines tiefgehenden Einverständnisses seine Philosophie gleichsam hebammenhaft abnötigt. Deshalb endet dieses klassische Gedicht mit den Versen: Aber rühmen wir nicht nur den Weisen Dessen Name auf dem Titel prangt! Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. Darum sei der Zöllner auch bedankt: Er hat sie ihm abverlangt. (S. 298)

Aus diesem Grund müssen wir auch nicht lange nach einem konkreten Datum für Brechts kommunistisches Erweckungs-Erlebnis suchen, denn es dürfte eher so gewesen sein, dass der Freundeskreis um Brecht sich in der Zeit zwischen 1928 und 1930 gleichsam in den Kommunismus hineindiskutiert hat. Oder anders formuliert: Wir sollten nicht nach einem plötzlichen kommunistischen ›Durchbruch‹ in der Art der pietistischen Bekehrungen suchen, sondern eher nach einer kommunistischen ›Gendrift‹ innerhalb eines Freundeskreises, dessen Mitglieder sich ihren Marxismus gleichsam gegenseitig »abverlangt« haben und auf diesem Weg zu einem immer größeren Einverständnis gekommen sind. Die Kehrseite dieses Einverständnisses war dann die Ausstoßung von Arnolt Bronnen aus diesem Kreis, als Bronnen sich mit seinem Roman »O.S.« 8 offen zum Nationalsozialismus bekannte, sodass sich innerhalb dieses Freundeskreises um Brecht im kleinen derselbe Dissoziations-Prozess vollzog wie in der Gesellschaft der Weimarer Republik im großen, wenn auch in umgekehrter Richtung, weil die Weimarer Republik ab 1928 sehr rasch nach rechts driftete. Ablesbar ist dieser Prozess am deutlichsten an den Ergebnissen der ASTA-Wahlen an den Universitäten und Technischen Hochschulen, da diese jährlich stattfanden und nicht wie die Reichtags-Wahlen in größeren Abständen. Bei den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 hatte die NSDAP bekanntlich nur 12 Mandate erzielt, beim politischen »Erdrutsch« vom 14. September 1930 aber gleich 107. Dieser Umbruch in der politischen Stimmung scheint sich also zur Jahres303 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

VIII · Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden

wende 1929/30 vollzogen zu haben, wurde aber an einigen Universitäten in den ASTA-Wahlen schon lange vorher vorweggenommen, denn der NS-Studentenbund hatte z. B. bei den ASTA-Wahlen der Universität Erlangen 9 im WS 1927/28 ein Viertel aller Sitze, im WS 1928/29 schon ein Drittel, im WS 29/30 aber schon weit mehr als die Hälfte aller Sitze errungen und im WS 1930/31 sogar zwei Drittel. Sicher spielte bei diesem tiefgreifenden Umbruch der politischen Stimmungslage auch der »schwarze Freitag« eine gewichtige Rolle, also der Börsenkrach an der Wallstreet vom 25. Oktober 1929, der auch in Deutschland zu einem explosionsartigen Anwachsen der Arbeitslosigkeit geführt hatte. Vor dem Hintergrund dieses allgemeinen politischen Stimmungswandels sind nun auch die beiden Lehrstücke zu sehen, auf die wir näher eingehen wollen, denn Das Badener Lehrstück vom Einverständnis entstand 1929, also noch unmittelbar vor dem allgemeinen politischen Stimmungswandel im Reich, Die Massnahme im Frühjahr 1930, also unmittelbar danach. Doch Brecht täuschte sich ganz gewaltig, wenn er glaubte, er bewege sich mit seiner eigenen Entwicklung in Richtung Marxismus und seiner Parteinahme für den Kommunismus im Einklang und im Einverständnis mit der Gesamtentwicklung Deutschlands und der ganzen Welt, denn diese Entwicklung bewegte sich genau in die entgegengesetzte Richtung. Vielleicht ahnte er dies sogar schon selbst, denn ein sehr nachdenkliches Gedicht aus dem Jahr 1929 lässt sich durchaus in diesem Sinne deuten, weil es da heißt: Vergiss nicht, dies sind die Jahre Wo es nicht gilt zu siegen, sondern Die Niederlagen zu erfechten Der den Sieg zu erfechten liebt Kennt den Sieg nicht Der aus dem sinkenden Schiffe schwimmt Sucht nicht die beste Insel, sondern Die nächste. Die Welt zu verändern Heißt nicht: siegen. Ziehe nicht aus, die Welt zu verändern, und Siege in deiner Stadt, die Unverändert bleibt.

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Neue Gläubigkeiten

Du hast den Sieg vorbereitet Du hast den Kampf gekämpft, jetzt Könntest du siegen Siege nicht! Kämpfe weiter! Aber in diesen Jahren, von denen ich dir sage Dass sie nicht die der Siege sind Sei anwesend bei all deinen Niederlagen Lass keine aus, höre Jedes Schmähwort, jedes aber höre wie eine Frage, schreie du jede Antwort! Iss und trink, Kämpfer Auf den Kampf wartend mit Begierde Verbessere den Stuhl, auf dem du sitzest Lache mit den Lachenden Heile deine Nieren aus und Lies die Gedanken der Verstorbenen in Ruhe Die Jahre der Siege können Nach dir kommen. (S. 820 f.)

In Kapitel 2.4.4 haben wir gesehen, dass Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft durch eine sprachkritische Argumentation Wissen und Glauben zwar strikt unterschieden hat, seinem Diener Lampe aber gleichwohl seinen Glauben an einen Gott zugestehen wollte. Wir haben allerdings auch gesehen, wie rabiat Max Stirner jede Art von Gläubigkeit verworfen hat und Glaubenskonstrukte aller Art unterschiedslos vom Tisch fegte und als »Sparren« verhöhnte. Und wir haben schließlich auch gesehen, wie bereitwillig der junge Brecht sich diese tabula-rasa-Philosophie Stirners zu eigen gemacht hat. All dies musste nun von Brecht auf dem Altar seiner neuen marxistischen Gläubigkeit geopfert werden, weil nunmehr neue »Sparren« dieser Art wieder als unbezweifelbare Wahrheiten akzeptiert und vertreten sein wollten: Der Kommunismus als ein teleologisch ausgerichtetes historizistisches 10 Gedanken-gebäude aus dem 19. Jahrhundert, niedergelegt von Autoren wie Marx, Engels und Lenin, die nun auch als unantastbare »Klassiker« gewürdigt werden wollten und deshalb ihr vorkantisches und vorkritisches Glaubenskonstrukt als Wissenschaft ausgaben, ganz so als ob es Kants strikte Unterscheidung von Meinen, Wissen und Glauben nie gegeben hätte. Und im Rahmen dieses neuen Glaubenskonstrukts musste nun auch das Proletariat als der neue Heilsbringer, also als der von der Geschichte aus305 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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ersehene säkulare Paraklet, akzeptiert werden. Wie naiv gläubig Brecht all dies aufgenommen haben muss, geht aus dem Gedicht Lob des Kommunismus hervor, in dem es heißt: Er ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist leicht. Du bist doch kein Ausbeuter, du kannst ihn begreifen. Er ist gut für dich, erkundige dich nach ihm. Die Dummköpfe nennen ihn dumm, und die Schmutzigen nennen ihn schmutzig. Er ist gegen den Schmutz und gegen die Dummheit. Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen. Aber wir wissen: Er ist das Ende ihrer Verbrechen. Er ist keine Tollheit, sondern Das Ende der Tollheit. Er ist nicht das Rätsel Sondern die Lösung. Er ist das Einfache Das schwer zu machen ist. (S. 235)

Da es hier also letztlich um Glaubensfragen geht und nicht um Wissen, und da der Kommunismus immer mit einem totalitären Anspruch aufgetreten ist, den wir auch bei fundamentalistischen Religionen antreffen, ist es sinnvoll, eine Unterscheidung zu Rate zu ziehen, die Jan Assmann in seinem Buch über »totale Religionen« 11 vorschlägt. Er unterscheidet dort zwischen »Konversion« und »Assimilation«, wonach der Assimilant seine ursprüngliche Identität völlig vergißt 12, ganz so wie dies bei Galy Gay der Fall ist, wohingegen der Konvertit sich seiner neuen Identität nie ganz sicher ist und deshalb ewig den Hass auf seine eigene »sündige« und »ungläubige« Vergangenheit mit sich herum schleppt 13, weil diese Vergangenheit auch nie ganz vergehen will, weshalb der Konvertit auch ewig gegen sie ankämpfen muss, um »den Heiden in sich auszurotten« (S. 73) bzw. den Ungläubigen in sich immer wieder aufs neue zum rechten Glauben zu bekehren. Und dabei ist es zwingend notwendig, bereitwillig auch über die eigene Leiche zu gehen. So gesehen sind die SelbstmordAttentate der frisch bekehrten fundamentalistischen Islam-Konvertiten unserer Tage ein in sich ganz konsequentes und stimmiges Szenario, weil die damit verbundene Selbstvernichtung definitiv die Möglichkeit verhindert, jemals wieder in die ehemalige sündig-ungläubige Identität zurückzufallen.

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Neue Gläubigkeiten

Im Lichte von Jan Assmanns Unterscheidung war Brecht kein marxistischer Assimilant, sondern viel eher ein marxistischer Konvertit, der seine früheren Identitäten als nationalprotestantischer Christ und als Stirner-Anhänger in einem ewigen Kampf »mit mir gegen mich« zum Thema machen musste, um diese alten und ältesten Identitäten immer wieder aufs neue in sich auszurotten. In den Selbstaussagen des Ozeanfliegers Lindbergh nennt er dies den »Kampf gegen das Primitive«: Ich Fliege gegen die Dampfschiffe Im Kampf gegen das Primitive. Mein Flugzeug, schwach und zittrig Meine Apparate voller Mangel Sind besser als die bisherigen, aber Indem ich fliege Kämpfe ich gegen mein Flugzeug und Gegen das Primitive. Also kämpfe ich gegen die Natur und Gegen mich selber. Was immer ich bin und welche Dummheiten ich glaube Wenn ich fliege, bin ich Ein wirklicher Atheist. Zehntausend Jahre lang entstand Wo die Wasser dunkel wurden am Himmel Zwischen Licht und Dämmerung unhinderbar Gott. Und ebenso Über den Gebirgen, woher das Eis kam Sichteten die Unwissenden Unbelehrbar Gott, und ebenso In den Wüsten kam er im Sandsturm und In den Städten wurde er erzeugt von der Unordnung Der Menschenklassen, weil es zweierlei Menschen gibt Ausbeutung und Unkenntnis, aber Die Revolution liquidiert ihn. Aber Baut Straßen durch das Gebirg, dann verschwindet er Flüsse vertreiben ihn aus der Wüste. Das Licht Zeigt Leere und Verscheucht ihn sofort.

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Darum beteiligt euch An der Bekämpfung des Primitiven An der Liquidierung des Jenseits und Der Verscheuchung jedweden Gottes, wo Immer er auftaucht. Unter den schärferen Mikroskopen Fällt er Es vertreiben ihn Die verbesserten Apparate aus der Luft Die Reinigung der Städte Die Vernichtung des Elends Machen ihn verschwinden und Jagen ihn zurück in das erste Jahrtausend. So auch herrscht immer noch In den verbesserten Städten die Unordnung Welche kommt von der Unwissenheit und Gott gleicht Aber die Maschinen und die Arbeiter Werden sie bekämpfen, und auch ihr Beteiligt euch an Der Bekämpfung des Primitiven! (S. 839 ff.)

Im Lichte solcher apostatischen Bekundungen könnte man versucht sein, den Kommunismus, wie Brecht ihn verstand und in seinen Gedichten feierte, als »politische Religion« im Sinne von Eric Voegelin zu verstehen, denn auf den ersten Blick sind hier all die Kriterien versammelt, die laut Voegelin eine politische Religion konstituieren, denn: »Die innerweltliche Religiosität, die das Kollektivum, sei es die Menschheit, das Volk, die Klasse, die Rasse, oder der Staat, als Realissimum erlebt, ist Abfall von Gott; und manche christliche Denker lehnen es darum ab, die innerweltliche politische Religion mit der Geistreligion des Christentums auch nur sprachlich auf eine Stufe zu stellen; sie sprechen von Dämonologien im Gegensatz zum Gottesglauben, oder von einem Glauben, der Menschenwerk ist, einer »mystique humaine«, zum Unterschied vom wahren Glauben. Der Glaube an den Menschen als Quelle des Guten und der Verbesserung der Welt, wie er die Aufklärung beherrscht, und der Glaube an das Kollektivum als geheimnisvoll göttliche Substanz, wie er sich seit dem 19. Jahrhundert ausbreitet, ist antichristlich in der Sprache des Frankfurters, ist Abkehr.« 14

Wir tun aber gut daran, Brechts Kommunismus nicht als politische Religion oder auch nur als politische Gegenreligion zu deuten, denn 308 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

»Mosaische Unterscheidungen« aller Art

Religionen verlangen zwar Glauben von ihren Anhängern, aber Gläubigkeit allein macht einen Glaubensinhalt noch lange nicht zu einer Religion. Aber auch die auf den ersten Blick verblüffenden Analogien zwischen den Ritualen »totaler Religionen« im Sinne von Jan Assmann und totalitären Systemen machen deren Ideologie noch lange nicht zu einer Religion, sondern sind eben nur Analogien zu einer Religion 15, weshalb es ratsam ist, den Begriff »Religion« ausschließlich für Glaubenskonstrukte zu verwenden, die einen expliziten »Transzendenzbezug« 16 aufweisen, und genau dieser Zug fehlt eben bei totalitären Ideologien wie Kommunismus oder Nationalsozialismus.

8.3 »Mosaische Unterscheidungen« aller Art In den späten 90er-Jahren veröffentlichte Jan Assmann die Studie Moses der Ägypter 1, in der er gleich im ersten Kapitel den Begriff der »mosaischen Unterscheidung« einführte, derzufolge es, sobald man einmal das Konzept des Monotheismus ins Auge gefasst habe, nur noch »wahre« und »falsche« Religionen gibt, weil neben dem eigenen einzigen und einzig wahren Gott alle anderen Götter allenfalls Götzen sein können. Das aber hat weitreichende Konsequenzen, denn: »Solche kulturellen, religiösen und intellektuellen Unterscheidungen konstituieren nicht nur eine Welt, die voller Bedeutung, Identität und Orientierung, sondern auch voller Konflikte, Intoleranz und Gewalt ist.« (S. 17)

Die religionsgeschichtlich erste dieser »mosaischen Unterscheidungen« erfolgte durch den Pharao Echnaton 2, für den es nur einen einzigen Gott gab und der deshalb alle anderen Götter, die man bis dahin in Ägypten angebetet hatte, auszurotten befahl. Diese erste monotheistische Revolution blieb bekanntlich nur eine Episode, denn nach dem Tod Echnatons kehrten die Ägypter wieder zu ihren altvertrauten Göttern zurück. Sehr viel folgenreicher hingegen war die »mosaische Unterscheidung« im Judentum, wie sie im biblischen Mythos als Auszug aus Ägypten unter der Führung von Moses und als Verkündung der zehn Gebote am Sinai dargestellt wird, denn in diesen großen Erzählungen wurde auf eine geradezu archetypische Weise die Unterscheidung zwischen der wahren Religion des einen und einzigen Gottes 309 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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und dem ›Heidentum‹ der vielen Götzen in Ägypten und Kanaan festgeschrieben und wollte von nun an verkündet, geglaubt und, wenn es denn sein musste, auch mit Gewalt durchgesetzt werden. Laut Assmann wirkt diese »mosaische Unterscheidung« aber nicht nur nach außen als Abgrenzung gegenüber den anderen und »falschen« Religionen, sondern auch nach innen, weil kein Anhänger dieser einzig wahren Religion dagegen gefeit ist, irgendwann wieder abtrünnig zu werden und ins frühere ›Heidentum‹ zurückzufallen oder aber die einzig wahre Religion durch irgendwelche Irrlehren zu verfälschen. Und deshalb gilt für die drei klassischen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, insbesondere aber für ihre fundamentalistischen Varianten: »Nur sie kennen Ketzer und Heiden, Irrlehren, Sekten, Aberglauben, Götzendienst, Idolatrie, Magie, Unwissenheit, Unglauben, Häresie und wie die Begriffe alle heißen mögen für das, was sie an Erscheinungsformen des Unwahren denunzieren, verfolgen und ausgrenzen.« 3

Und, so dürfen wir hinzufügen: was sie als Erscheinungsformen des Unwahren nicht nur ausgrenzen, sondern auch ausrotten. Welche Orgien an Gewalt allein der Kampf der fundamentalistischen Jahweallein-Sekte im alten Israel 4 gegen den ›heidnischen‹ Baals-Kult zu entfesseln vermochte, haben wir ja oben in Kapitel 2.2.1 zur Genüge gesehen. Es war v. a. Assmanns These, die allen monotheistischen Religionen zugrundelie-gende »mosaische Unterscheidung« berge in sich ein enormes Potential an Gewalt nach innen wie nach außen, die dann zu einer intensiven öffentlichen Diskussion 5 geführt hat, weil sie ebenso heftig vertreten wie bestritten wurde. Auf diese religionspolitische Diskussion und deren Ergebnisse müssen wir hier aber nicht weiter eingehen, denn Assmanns These der »mosaischen Unterscheidung« ist für unsere Fragestellung nur deshalb von Bedeutung, weil sie den Blick für bestimmte Phänomene schärft, die nicht nur für »totale Religionen«, sondern auch für totalitäre Gebilde aller Art von Bedeutung sind, und zu diesen sozialen Gebilden totalitärer Struktur gehört eben auch die Kommunistische Partei, die sich in diesem Punkt von allen anderen politischen Parteien fundamental unterscheidet, denn auch sie beruht auf einer gleichsam »mosaischen Unterscheidung«, weil auch sie den Anspruch erhebt, allein im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein. Und genau dieser Anspruch der Kommunistischen Partei, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, 310 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

»Mosaische Unterscheidungen« aller Art

und der daraus abgeleitete totalitäre Anspruch, jeden ihrer Anhänger in Besitz zu nehmen mit allem, was dieser ist und hat und kann und tut, dürfte sie für Brecht auch so attraktiv gemacht haben. Dieser totalitäre Anspruch ist als ein reines Glaubenskonstrukt zwar nicht weniger irrational als die Behauptung, es könne nur einen einzigen Gott geben, der natürlich auch immer der eigene ist, vermag aber das gleiche Potential an Gewalt und Intoleranz nach innen wie nach außen zu entfesseln, was sich dann historisch in überaus aggressiven politischen Machtkämpfen gegen andere Parteien und in rabiaten Säuberungen aller Art unter den eigenen Leuten manifestiert hat. Wenn wir nun etwas genauer fragen und nach dem konkreten politischen Analogon zum Wahrheitskriterium der »mosaischen Unterscheidung« in den »totalen Religionen« im Sinne von Jan Assmann suchen, so stoßen wir in der politischen Theorie alsbald auf das Prinzip der volonté générale, das Rousseau im Rahmen seiner Überlegungen zum Gesellschaftsvertrag postuliert hatte, und das allen politischen Entscheidungen eine unbezweifelbare Wahrheit und Richtigkeit sichern soll, weil sich die volonté générale laut Rousseau prinzipiell nicht irren kann. Rousseau unterscheidet in seinen Überlegungen 6 zum Contrat social genau zwischen dem »Gemeinwillen«, also der volonté générale, und dem »Willen aller«, der volonté de tous bzw. dem Willen der Mehrheit, der volonté de la majorité, und betont, dass beide durchaus nicht immer und auch nicht zwingend identisch seien und dies auch nicht unbedingt sein müssten, obwohl deren Identität höchst wünschenswert sei. Der Wille aller bzw. der Wille der Mehrheit lässt sich ganz einfach dadurch ausfindig machen, dass man bestimmte Probleme in aller Öffentlichkeit intensiv durchdiskutiert und dann darüber abstimmt, und auf diesem Prinzip beruht ja auch die Demokratie im großen und die innerparteiliche Demokratie im kleinen. Allerdings muss laut Rousseau dieser Wille der Mehrheit durchaus nicht immer richtig und gerecht sein, weil auch die Mehrheit eines Volkes falsch 7 wählen kann, wenn sie irgendwelchen Demagogen folgt. Im Gegensatz dazu ist der Gemeinwille laut Rousseau zwar immer gut, gerecht, unfehlbar und unzerstörbar 8, lässt sich aber durch ein solches rationales Verfahren wie eine Abstimmung durchaus nicht zweifelsfrei erfassen, sodass es letztlich kein rationales Verfahren gibt, die volonté générale in einer konkreten politischen Situa311 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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tion zu ermitteln, zu befragen und sich dann danach zu richten, weshalb Iring Fetscher in seiner Studie über Rousseaus politische Theorie zu dem Schluss kommt: »Der Rousseausche Gemeinwille ist keine juristische Fiktion, sondern eine moralisch-metaphysische Wesenheit.« (S. 113)

Oder anders formuliert: Rousseaus volonté générale ist ein pures Glaubenskonstrukt, ein völlig irrationales Gebilde, dem man deutlich anmerkt, dass es lange vor Kants genauer Grenzziehung zwischen Meinen, Glauben und Wissen konzipiert worden ist, weil die volonté générale ein Gebilde ist, das nur durch problematische Behauptungen im Sinne Kants formuliert werden kann, sich deshalb auch nicht angemessen benennen und in ihrer Existenz schon gar nicht beweisen lässt. Sehr wohl aber kann man an ihre Existenz und Gültigkeit glauben und sie dann mit allem Fanatismus in politische Wirklichkeit umzusetzen suchen. Aus diesem Grund ist es auch plausibel, wenn Fetscher Rousseaus volonté générale mit dem »gesetzgeberischen Willen Gottes« (S. 113) identifiziert und Rousseaus politische Theologie in Analogie zu den physikotheologischen Glaubenskonstrukten der TheodizeeIdeologen des 18. Jahrhunderts sieht, wie sie bis zum Erdbeben von Lissabon 1755 im Schwange waren, denn: »Was der Naturforscher als Naturgesetz entdeckt, das kann der Theologe im Hinblick auf seinen Ursprung auch volonté générale Gottes nennen. Dieser Wille Gottes schien dem Zeitalter der Physikotheologie als durchaus erkennbar. In allen Wesen schien sich Gottes allgemeiner Wille in einer schönen Ordnung zu spiegeln.« 9

Aus diesem Grund scheint es angemessen, dieses Glaubenskonstrukt »Theodizee«, sofern es in den Bereich politisch-gesellschaftlicher Argumentation übertragen wird und dort dann als volonté générale erscheint, als »Soziodizee« zu bezeichnen. Und weil auch Rousseau fest an das Wirken von Gottes Willen in der Natur glaubte, griff er in seinem offenen Brief an Voltaire diesen auch auf das schärfste an, als dieser gegen das Erdbeben von Lissabon, gegen die Theodizee und gegen Alexander Popes kühne These, alles sei gut, im Namen der Vernunft 10 protestiert hatte. Und dann veröffentlichte Voltaire auch noch seinen Candide, in dem er die Anhänger der Theodizee in aller Form der Lächerlichkeit preisgab.

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»Mosaische Unterscheidungen« aller Art

Das zeitgenössische deutsche Gegenstück zu Voltaires Candide ist Johann Carl Wezels philosophischer Roman Belphegor, der Voltaires Roman insofern übertrifft, als Wezel die Theodizee-Ideologie nicht bloß wie Voltaire verspottet, sondern in einer Art, die Kants Argumentation in der Kritik der reinen Vernunft vorwegnimmt, als haltlose Spekulation und pures Glaubenskonstrukt 11 entlarvt. Methodologisch gesehen basiert die Ideologie der Theodizee und der Physikotheologie, also der Rechtfertigung Gottes aus seiner Schöpfung, auf einem erkenntnistheoretischen Echo-Effekt, der darin besteht, den guten Willen Gottes erst mal in die Natur »hineinzuglauben«, um diesen guten Willen Gottes dann wiederum aus der Natur herauszulesen, denn, so Kant in seiner Abhandlung Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee von 1791: »Die Theodizee hat es, wie hier gezeigt worden, nicht sowohl mit einer Aufgabe (d. h. einer Preisgabe oder einer Kapitulation) zum Vorteil der Wissenschaft, als vielmehr mit einer Glaubenssache zu tun.« 12

Ganz analog dazu muss man auch Rousseaus volonté générale erst in die politischen Phänomene ›hineinglauben‹, um ihn dann als den Willen Gottes bzw. als den Willen der Allgemeinheit oder gar als das eherne Gesetz der Weltgeschichte aus den politischen Gegebenheiten wieder herauszulesen. Und bei alledem merkt man nicht einmal, dass es der eigene, aber als solcher unerkannte Wille ist, den man da erst in die Phänomene hineingeglaubt und hineingelesen und dann wieder aus ihnen herausgelesen hat. Das wirklich Fatale an diesem erkenntnistheoretischen Echo-Effekt der Soziodizee aber besteht darin, dass dieser in den politischen Phänomenen aufscheinende eigene, als solcher aber unerkannte Glaube sich als ein vermeintlich sicheres Wissen geriert, das man dann auch allen anderen glaubt ansinnen zu dürfen, die man dann, wenn sie dies nicht als Willen Gottes akzeptieren wollen, auch mit Gewalt dazu zwingen darf, dies zu tun, und zwar deshalb, weil laut Rousseau die volonté générale leider nicht immer mit der volonté de tous identisch ist, dies aber sehr wohl sein sollte. Aus diesem Grund haben die Kommunisten, sobald sie irgendwo an der Macht waren, geradezu zwanghaft Wahlergebnisse aller Art in der Form manipuliert, dass sich am Ende immer mindestens eine hundertprozentige Zustimmung zum Willen der Kommunistischen Partei ergab, weil diese sich ja selbst als die Verkörperung der volonté 313 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

VIII · Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden

générale verstand. Und wer diese Wahlergebnisse anzweifelte, stellte sich allein dadurch schon außerhalb der volonté générale und charakterisierte sich damit als ein Feind des Ganzen, den man mit bestem Gewissen zum Wohle des Ganzen auch vernichten durfte. Ein Blick in den berühmt-berüchtigten Kurzen Lehrgang Stalins 13 genügt, um nachzufühlen, wie gut das Gewissen derer war, die sich als die Verkörperung dieser ominösen kommunistischen volonté générale verstanden. Wenn man die Geschichte des Kommunismus unter diesem Aspekt überblickt, sieht man sofort, zu welch mörderischen Konsequenzen 14 Rousseaus fatales Glaubens-konstrukt der volonté générale führt, wenn man eine revolutionäre Kaderpartei und dann auch noch Staat und Gesellschaft nach diesem Prinzip ausrichtet. Die Kommunisten verstanden sich ja nicht nur als die volonté générale des Proletariats, sondern die Idee der volonté générale war zugleich auch das Strukturprinzip der Kommunistischen Partei selbst, sodass sich das Zentralkomitee als die volonté générale der Partei, der erste Mann dieses Zentralkomitees aber wiederum als dessen volonté générale verstand, gegen dessen Wille kein anderer bestehen durfte, weil es genau genommen auch keinen anderen Willen als den des charismatischen Parteiführers geben konnte. Allerdings verwendeten die Kommunisten den Ausdruck volonté générale normalerweise nicht, sondern übersetzten ihn mit dem Begriff »Parteilinie«, als deren Verkörperung sich dann der jeweilige Parteiführer verstand. So gesehen war der Personenkult im Stalinismus 15 durchaus keine Verirrung oder Verfallserscheinung des wahren Kommunismus, sondern entsprach exakt der inneren Logik dieses Systems. In die innere Logik dieses Systems passt auch der Umstand, dass durch den Glauben an die vorgegebene Existenz einer »Parteilinie« eine kommunistische Partei sich in einem fort vor sich selbst in acht nehmen muss und deshalb ihre eigenen Mitglieder weitaus misstrauischer überwachen muss als ihre politischen Gegner, um diese ominöse »Parteilinie« ja nicht durch Abweichler verschummern zu lassen. Ganz so haben auch Lenin und Stalin 16 ihre Rollen gesehen und deshalb jede Form von »Fraktionsbildung« 17 auf dem 10. Parteitag 1921 auf das strengste verworfen und explizit verboten, was alle anderen kommunistischen Parteien dann auch treulich übernommen haben. Ganz so hat übrigens auch Brecht selbst seine Rolle im Brechtkreis gesehen, den er schon sehr bald um sich geschart hatte, und 314 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

»Mosaische Unterscheidungen« aller Art

später auch seine Rolle im Berliner Ensemble, das in seiner sozialen Struktur das treue Abbild der totalitären Gesellschaft des DDR-Staates war und so wie es war, auch nur dort möglich war. Es war, wie Fuegi schreibt, »die Puppe in der Puppe« und existierte als »geschlossenes System »innerhalb des geschlossenen Systems der DDR« 18, ausgerichtet auf Brecht als der volonté générale dieses Theaters, neben der es keine andere ästhetische Parteilinie geben konnte. Am Beispiel der »Häresie des Trotzkismus« 19 lässt sich dieser Mechanismus innerparteilicher Machtausübung zur Disziplinierung und gegebenenfalls auch zur Vernichtung oppositioneller Genossen exemplarisch studieren. Doch all dies scheint Brecht nicht gestört zu haben, obwohl Trotzki schon 1927 von Stalin aus der Partei ausgeschlossen und 1929 außer Landes gejagt worden ist. Im Lichte dieser neuen Gläubigkeit kann es dann auch nicht verwundern, wenn Brecht der Kommunistischen Partei als der ›Kirche‹ dieses neuen Glaubens in dem Gedicht Lob der Partei quasi gottgleiche Züge von Allmacht, Allgegenwart und Allwissenheit andichtet: Der einzelne hat zwei Augen Die Partei hat tausend Augen. Die Partei sieht sieben Staaten Der einzelne sieht eine Stadt. Der einzelne hat seine Stunde Aber die Partei hat viele Stunden. Der einzelne kann vernichtet werden Aber die Partei kann nicht vernichtet werden Denn sie ist der Vortrupp der Massen Und führt ihren Kampf Mit den Methoden der Klassiker, welche geschöpft sind Aus der Kenntnis der Wirklichkeit. (S. 235)

Und auf die Frage, wer diese quasi gottgleiche Partei denn eigentlich sei, gibt Brecht die schlichte Antwort, sie sei eben nichts anderes als die volonté générale von uns allen: Wer aber ist die Partei Wer aber ist die Partei? Sitzt sie in einem Haus mit Telefonen? Sind ihre Gedanken geheim, ihre Entschlüsse unbekannt? Wer ist sie?

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Wir sind sie. Du und ich und ihr – wir alle. In deinem Anzug steckt sie, Genosse, und denkt in deinem Kopf. Wo ich wohne, ist ihr Haus, und wo du angegriffen wirst, da kämpft sie. Zeige uns den Weg, den wir gehen sollen, und wir Werden ihn gehen wie du, aber Gehe nicht ohne uns den richtigen Weg Ohne uns ist er Der falscheste. Trenne dich nicht von uns! Wir können irren, und du kannst recht haben, also Trenne dich nicht von uns! Dass der kurze Weg besser ist als der lange, das leugnet keiner Aber wenn ihn einer weiß Und vermag ihn uns nicht zu zeigen, was nützt uns seine Weisheit? Sei bei uns weise! Trenne dich nicht von uns! (S. 236)

Die Behauptung, dass sich zwar der einzelne Kommunist irren kann, die kommunistische Partei selbst jedoch nie, weil sie eben die volonté générale der Geschichte selbst sei und deshalb nur das vollzieht, was sowieso kommen wird, weil die ehernen Gesetze der Geschichte dies so verlangen, ist ein Gemeinplatz, der sich sogar in den Äußerungen der kommunistischen Renegaten findet, weil es offenbar dieser Aberglaube war, der ihnen im Rückblick auf die eigenen Verirrungen am peinlichsten war. So lässt z. B. Arthur Koestler seinen Helden Rubaschow in seinem Roman Sonnenfinsternis dozieren: »Die Partei kann sich nicht irren. (…) Du und ich – wir können uns irren – die Partei nicht. Die Partei, Genosse, ist mehr als du und ich und tausend andere wie du und ich. Die Partei ist die Verkörperung der revolutionären Idee in der Geschichte. Die Geschichte kennt kein Schwanken und keine Rücksichten. Sie fließt, schwer und unbeirrbar, auf ihr Ziel zu. An jeder Krümmung lagert sie Schutt und Schlamm und die Leichen der Ertrunkenen ab. Aber – sie kennt ihren Weg. Die Geschichte irrt sich nicht. Wer diesen unbedingten Glauben an die Partei nicht hat, gehört nicht in ihre Reihen.« 20

Diese gottgleiche Partei war also die neue Autorität, die von Brecht mit solchen Versen in den Rang eines höchsten Wesens hinaufgehimmelt wird, und sie war deshalb für ihn auch die neue Helferin bei 316 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Das Prinzip Einverständnis

seinem Kampf »mit mir gegen mich« und gegen das eigene rebellische Herz, an die er nunmehr all die Verfügungsmacht delegierte, die er über sich selbst immer schon gern gehabt hätte.

8.4 Das Prinzip Einverständnis Jan Knopf hat mit Recht darauf hingewiesen, dass der Begriff »Einverständnis« in Brechts Werk eine ganz zentrale Stelle einnimmt und zwar nicht nur in den Lehrstücken 1, weshalb man gut beraten ist, wenn man diesen Begriff etwas genauer analysiert. Nicht gesehen hat Knopf hingegen, dass Brechts Drang nach Einverständnis im Rahmen seines allgemeinen Kampfes »mit mir gegen mich« gesehen werden muss, um diesen Kampf »mit mir gegen mich« möglichst zu bändigen oder gar zu einer Entscheidung zu führen und damit zu beenden. Brecht selbst dürfte das »Prinzip Einverständnis« 2 direkt von Francis Bacon übernommen haben, dessen Neues Organon er auch sonst sehr schätzte, weil Bacon im Geiste von Descartes das »faustische« Verfügen über die Natur als fortschrittliches Bewusstsein feierte. Und gleich im dritten Aphorismus heißt es dort: »Wissen und menschliches Können ergänzen sich insofern, als ja Unkenntnis der Ursache die Wirkung verfehlen lässt. Die Natur nämlich lässt sich nur durch Gehorsam bändigen; was bei der Betrachtung als Ursache erfasst ist, dient bei der Ausführung als Regel.« 3

Der Kern dieses Aphorismus ist natürlich der Satz »Natura enim non nisi parendo vincitur«, den Brecht selbst wohl so übersetzt hätte: »Die Natur lässt sich nur beherrschen und kommandieren, wenn man mit ihr einverstanden ist« bzw. »lässt sich nur beherrschen im Einverständnis mit ihr«. Diesen zentralen Satz wiederholt Bacon im vorletzten Aphorismus, in dem er eine Art von Bilanz zieht, noch einmal und bettet ihn dabei in einem etwas größeren Zusammenhang ein: »Es gehört zur Sache, drei Arten oder Grade des Ehrgeizes bei den Menschen zu unterscheiden. Bei der ersten ist man darauf aus, die eigene Macht in seinem Vaterlande zu vermehren; dies ist die gewöhnliche und teilweise unedle Art; bei der zweiten strebt man dahin, des Vaterlandes Macht und Herrschaft über das menschliche Geschlecht zu erweitern; diese Art ist gewiss würdiger, reizt aber zu stärkerer Begierde; erstrebt nun jemand, die

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VIII · Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden

Macht und die Herrschaft des Menschengeschlechtes selbst über die Gesamtheit der Natur zu erneuern und zu erweitern, so ist zweifellos diese Art von Ehrgeiz, wenn man ihn so nennen kann, gesünder und edler als die übrigen Arten. Der Menschen Herrschaft aber über die Dinge beruht allein auf den Künsten und Wissenschaften. Die Natur nämlich lässt sich nur durch Gehorsam besiegen.« (S. 271)

Auf die primitivste Formel gebracht lautet das Baconsche Programm ganz schlicht »Wissen ist Macht«, beim jungen Brecht lautete es bezogen auf die Natur, die wir selbst sind: »Ich kommandiere mein Herz«, und in der Phase seiner marxistischen Lehrstücke übertrug er das Baconsche Programm ganz im Sinne der marxistischen Klassiker von der Natur auf Staat und Gesellschaft, sodass sich daraus das Programm ergab: Auch die Geschichte lässt sich durch »eingreifendes Denken« beherrschen, wenn man die Gesetze kennt, nach denen die Geschichte sich richtet und sich bei seinen Eingriffen ebenfalls an diesen Gesetzen orientiert. Oder kürzer und als elfte FeuerbachThese formuliert: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.« 4 So gesehen könnte man das Gesamtprogramm von Brechts Lehrstücken auch unter ein Motto stellen, das sich aus Ciceros Maxime »Ducunt volentem fata, nolentem trahunt« und aus Bacons Aphorismus »Natura enim vincitur non nisi parendo« zusammensetzt und dann lauten könnte: »Vincitur fata non nisi parendo«: Man kann die Schicksalsmächte nur überwinden, indem man mit ihnen einverstanden ist, wenn man also im Einverständnis mit den Gesetzen lebt und handelt, denen sie selbst gehorchen, wobei für Brecht allerdings galt, dass diese Schicksalsmächte nicht blindwütig vor sich hin walten, sondern Geschehnisse sind, die von Menschen in der Verfolgung bestimmter Interessen verursacht werden. Brecht selbst demonstriert dieses »Prinzip Einverständnis« im siebten Bild seines Badener Lehrstücks vom Einverständnis am Beispiel einer ars moriendi jenseits des Christentums, die sich strikt an der inneren Haltung konsequenter Selbstpreisgabe orientiert, denn dort doziert der Sprecher vor der Mannschaft des abgestürzten Flugzeugs folgendermaßen: »1. Wer etwas entreißt, der wird etwas festhalten. Und wem etwas entrissen wird, der wird es auch festhalten. Und wer etwas festhält, dem wird etwas entrissen. 5 Welcher von uns stirbt, was gibt der auf? Der gibt doch nicht nur seinen Tisch und sein Bett auf! Wer von uns stirbt, der weiß auch, ich gebe auf,

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Das Prinzip Einverständnis

was da vorhanden ist, mehr als ich habe, schenke ich weg. Wer von uns stirbt, der gibt die Straße auf, die er kennt, und auch, die er nicht kennt. Die Reichtümer, die er hat, und auch, die er nicht hat. Die Armut selbst. Seine eigene Hand. Wie nun wird der einen Stein heben, der nicht geübt ist? Wie wird der einen großen Stein heben? Wie wird, der das Aufgeben nicht geübt hat, seinen Tisch aufgeben oder: alles aufgeben, was er hat und was er nicht hat? Die Straße, die er kennt, und auch, die er nicht kennt? Die Reichtümer, die er hat, und auch, die er nicht hat? Die Armut selbst? Seine eigene Hand? 2. Als der Denkende in einen großen Sturm kam, saß er in einem großen Fahrzeug und nahm viel Platz ein. Das erste war, dass er aus seinem Fahrzeug stieg, das zweite war, dass er seinen Rock ablegte, das dritte war, dass er sich auf den Boden legte. So überwand er den Sturm in seiner kleinsten Größe. (…) 3. Um einen Menschen zu seinem Tode zu ermutigen, bat der eingreifend Denkende ihn, seine Güter aufzugeben. Als er alles aufgegeben hatte, blieb nur das Leben übrig. Gib mehr auf, sagte der Denkende. 4. Wenn der Denkende den Sturm überwand, so überwand er ihn, weil er den Sturm kannte und er einverstanden war mit dem Sturm. Also, wenn ihr das Sterben überwinden wollt, so überwindet ihr es, wenn ihr das Sterben kennt und einverstanden seid mit dem Sterben. Wer aber den Wunsch hat, einverstanden zu sein, der hält bei der Armut. An die Dinge hält er sich nicht! Die Dinge können genommen werden, und dann ist da kein Einverständnis. Auch an die Gedanken hält er sich nicht, die Gedanken können auch genommen werden, und dann ist da auch kein Einverständnis.« (S. 21 f.)

Dieses dialektische Prinzip »Selbstbehauptung durch Selbstpreisgabe« versucht Jan Knopf mit dem Argument zu erläutern: »›Das Einverständnis‹ ist also kein sinnloses Unterwerfen, auch nicht Irrationalismus, sondern im Gegenteil eine realistische Haltung, die die Möglichkeiten des Umgangs, des Aushaltens, des Überwindens und Beherrschens mit den Dingen bzw. der Dinge (der Realität) aus ihnen, ihren Gesetzen, ihrem »Sein« selbst bezieht. Brecht wendet das naturwissenschaftliche Prinzip auf die Gesellschaft und ihre Realität, ihre Prozesse an: sie sind erst so genau zu sehen, zu reflektieren und auch »anzuerkennen«, im Sinn: »einverstanden« zu sein mit ihnen, nicht aber, um sich ihnen sinnlos auszuliefern, anzupassen, sondern aus ihnen die realen Möglichkeiten ihrer Beherrschung zu entnehmen.« (S. 77)

Leider wird das überaus wichtige »Prinzip Einverständnis« durch diesen Versuch einer Erläuterung durchaus nicht klarer, was vor allem daran liegt, dass das »Prinzip Einverständnis« nicht, wie Knopf suggeriert, wenn er vom »Beherrschen« spricht, ein bestimmtes Verhal319 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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ten bezeichnet, sondern eine bestimmte Einstellung, Gesinnung oder innere Haltung, die dem eigentlichen Handeln und Verhalten gleichsam als Filter vorgeschaltet ist und bestimmte Verhaltensweisen ermöglicht und fördert, andere aber verhindert. Zu welchen praktischen Konsequenzen dieses »Prinzip Einverständnis« führen kann, werden wir erst in Kapitel X sehen, wo aufgezeigt werden soll, wie Brecht durch sein demonstratives »keunerisches« Einverständnis mit der SED-Herrschaft sich faktisch unangreifbar machte und sich dadurch wiederum optimal verwerten konnte. Und die angesprochene ars moriendi lässt sich viel besser erklären, wenn man sie als Aspekt der Emanzipation von Stirner bestimmt, also als ein Einverständnis mit der Enteinzigung und Enteignung.

8.5 Selbstbelehrungen aller Art 8.5.1 Ein Lehrstück über Egoismen aller Art Wir haben schon in den Kapiteln 3.2.2 und 6.3.3 gesehen, dass Brecht seinem Baal in der zweiten und dritten Fassung des Stücks die Züge eines egoistischen und rücksichtslosen Zynikers verliehen hat und ihn damit in etwa so sah, wie Moses Heß die Philosophie Max Stirners einschätzte, über die er in seiner Abhandlung Die letzten Philosophen von 1845 schreibt: »Der Egoismus hat keinen Inhalt, sein Inhalt ist ihm entfremdet, und er kann daher nur Anderes »verzehren«, »genießen«, nicht Anderes schaffen. Verzehren kann auch nur der bewusste Egoist. Selbst der Gott-Mensch Christus wird nur »verzehrt«, im Abendmahl »genossen« 1. Auch der Gattungsmensch, »Geist« der Menschheit, »Wesen« des Menschen, kann vom Egoisten nur erworben, ergriffen, erfasst, begriffen, aufgelöst, verzehrt, verdaut, »genossen« werden.« 2

Mit einem Wort: »Die »Consequenz« des »Einzigen«, rationell ausgedrückt, ist der kategorische Imperativ: Werdet Thiere!« (S. 389)

Gemeint ist natürlich: Werdet Raubtiere! Man möchte fast meinen, Brecht habe diese massive Kritik von Moses Heß an Stirners Philosophie gekannt, obwohl davon, soweit ich sehe, in Brechts Werk nir320 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Selbstbelehrungen aller Art

gendwo die Rede ist. Ebenso unwahrscheinlich ist, dass Brecht um 1929/30 Die deutsche Ideologie von Marx und Engels gekannt hat, in der Stirner noch viel heftiger angegriffen wird als bei Heß, weil dieses Werk erst 1932 vollständig veröffentlicht worden ist, denn auch diese Kritik der marxistischen Klassiker wird, soweit ich sehe, in Brechts Werk nirgendwo erwähnt. Man darf aber annehmen, dass in Brechts marxistischem Freundeskreis, also v. a. bei Karl Korsch oder Walter Benjamin, Stirner als philosophische Unperson gegolten haben dürfte, weshalb Brecht seine frühe Orientierung an eben dieser Unperson seinen Freunden wohlweislich verschwiegen haben wird. Dass sie selbst diese frühe Orientierung ihres Freundes an Stirner offenbar nicht gemerkt haben, ist allerdings seltsam genug und stellt ihrer philosophischen Bildung kein sehr gutes Zeugnis aus. Da Brecht seine frühe Orientierung an Stirner um 1929/30 also eher peinlich gewesen sein dürfte, waren die Lehrstücke nicht nur marxistische Propaganda eines frisch bekehrten Konvertiten, sondern viel mehr Exerzitien der Selbstvergewisserung und der eigenen philosophisch-politischen Neuorientierung, um die letzten Reste der Stirnerei in sich auszumerzen. Und so bot es sich eben an, bei dem Aspekt »Egoismus« anzusetzen und eine vierte Fassung des Baal als Lehrstück zur Selbstbelehrung zu erarbeiten, die den Titel Der böse Baal der asoziale haben sollte. Der Brecht-Forscher Dieter Schmidt hat in seiner Edition dieses Materials 3 aus dem Brecht-Nachlass zwei Textschichten 4 erschlossen, die er z. T. auf die Zeit um 1929/30, also in die Phase der Lehrstücke, und z. T. in die Ostberliner Zeit um 1954 einordnet. Die »erste Schicht« (S. 78) besteht fast nur aus mehr oder weniger kurzen Notizen, die »zweite Schicht« (S. 82) z. T. schon aus kurzen Szenen. Ein durchgehendes Thema ist in all diesen Notizen aber nicht erkennbar, weil es in der »ersten Schicht« eher um das Thema »Egoismus« geht, in der »zweiten Schicht« eher um das Thema »Verwertung«. Auf das Thema »Verwertung« werden wir erst in Kapitel X eingehen, wenn es gilt, die fünfte und damit letzte Fassung des Baal vorzustellen. Jetzt wollen wir uns ganz auf die Passagen konzentrieren, die schon rein formal den Lehrstücken nahestehen, und da fällt der Blick sofort auf das Fragment B6. 18 (S. 84 ff.), das ganz stark an das Lehrstück Die Ausnahme und die Regel 5 erinnert, denn auch dort wird in einer Art Gerichtsverfahren die Frage aufgerollt, ob der Mensch dem Menschen hilft bzw. wer wem in welcher Situation auch immer hilft. 6 Dort vertritt nämlich ein Kaufmann Nietzsches Position, also das 321 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Recht des Stärkeren, demzufolge man das, was fällt, auch noch stoßen solle, eine Haltung, die Brecht selbst schon in einem Song 7 zum Thema gemacht hatte, und die er nun wohl für faschistisch hielt: Der kranke Mann stirbt und der starke Mann ficht Und das ist gut so. Dem Starken wird geholfen, dem Schwachen hilft man nicht Und das ist gut. Lass fallen, was fällt, gib ihm noch einen Tritt Denn das ist gut so. Es setzt sich zum Essen, wer den Sieg sich erstritt Das ist gut so. Und der Koch nach der Schlacht zählt die Toten nicht mit Und er tut gut so. Und der Gott der Dinge, wie er sie schuf, schuf Herr und Knecht! Und das war gut so. Und wem’s gut geht, der ist gut; und wem’s schlecht geht, der ist schlecht Und das ist gut so. (S. 187 f.)

Zu diesem Ergebnis, das sich wie eine Parodie auf die »Sieben Gleichnisse vom Reiche Gottes« aus dem Matthäus-Evangelium 8 anhört und von Brecht wohl auch so gemeint war, kommt in diesem Lehrstück dann auch der Richter, der die »Regel« verkündet, also das Grundgesetz »entmenschter Menschheit« (S. 173), demzufolge heutzutage im Kapitalismus niemand jemandem hilft, weil niemand seinem Herzen folgt, weshalb es die Ausnahme ist, dass jemand jemandem hilft: Die Regel ist: Auge um Auge! 9 Der Narr wartet auf die Ausnahme. Dass ihm ein Feind zu trinken gibt Das erwartet der Vernünftige nicht. (…) In dem System, das sie gemacht haben, Ist Menschlichkeit eine Ausnahme. Wer sich also menschlich erzeigt, Der trägt den Schaden davon. Fürchtet für jeden, ihr Der freundlich aussieht! Haltet ihn zurück Der da jemand helfen will!

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Neben dir dürstet einer: schließe schnell deine Augen! Verstopf dein Ohr: neben dir stöhnt jemand! Halte deinen Fuß zurück: man ruft dich um Hilfe! Wehe dem, der sich da vergisst! Er Gibt einem Menschen zu trinken, und Ein Wolf trinkt. (S. 200)

Das Grundgesetz entmenschter, also laut Brecht heutiger Menschheit ist also so beschaffen, dass man nur klagen kann: Weh dem, der seinem Herzen folgt! Doch dieser Befund ist nicht das letzte Wort in diesem Lehrstück, denn die Spieler wenden sich am Ende direkt an das Publikum und ziehen ihre eigene Bilanz aus diesem Gerichtsverfahren, und diese lautet: Ihr habt gehört und habt gesehen. Ihr saht das Übliche, das immerfort Vorkommende. Wir bitten euch aber: Was nicht fremd ist, findet befremdlich! Was gewöhnlich ist, findet unerklärlich! Was da üblich ist, das soll euch erstaunen. Was die Regel ist, das erkennt als Missbrauch Und wo ihr den Missbrauch erkannt habt Da schafft Abhilfe! (S. 202)

Das Fragment B6. 18 mit dem Titel Der böse Baal der asoziale und die zwei Mäntel 10 besteht aus einer kurzen Szene, in der das »Grundgesetz der entmenschten Menschheit« nochmals in verschärfter zynischer Form durchexerziert wird, denn diese Szene ist die direkte Kontrafaktur zu der klassischen Heiligenlegende, in der der noch ungetaufte Heide Martin seinen Mantel mit einem Bettler teilt. Die Leganda aurea beschreibt diesen Martin denn auch als einen Ausbund an Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft und berichtet die anrührende Geschichte der Mantelteilung folgendermaßen: »Nun hatten die (römischen) Kaiser das Gebot gegeben, dass die Söhne der alten Ritter für ihre Väter sollten kriegen; also geschah, dass Sanct Martinus seines Alters im fünfzehnten Jahr musste Ritterschaft auf sich nehmen. Er ritt nicht mehr denn mit einem Knecht, demselben diente er mehr, denn ihm der Knecht diente, und zog ihm oft seine Schuhe ab und putzte sie. Es geschah an einem Wintertag, dass er ritt durch das Tor von Amiens, da begegnete ihm ein Bettler, der war nackt und hatte noch von niemandem ein Almosen empfangen. Da verstand Martinus, dass von ihm dem Armen sollte Hilfe kommen; und zog sein Schwert und schnitt den Mantel, der ihm

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allein noch übrig war, in zwei Teile, und gab die eine Hälfte dem Armen, und tat selber das andere Teil wieder um. Des Nachts darnach sah er Christum für ihn kommen, der war gekleidet mit dem Stücke seines Mantels, das er dem Armen hatte gegeben. Und der Herr sprach zu den Engeln, die um ihn standen, »Martinus, der noch nicht getauft ist, hat mich mit diesem Kleide gekleidet«. Davon ward aber der Heilige nicht hoffärtig, sondern ließ sich taufen.« 11

Brechts Mantelszene zeigt den bösen asozialen Baal in einer Situation allgemeiner innerer und äußerer Kälte, gegen die sich Baal gleich mit zwei Mänteln zu schützen sucht: »seit gestern abend laufe ich bei zunehmender kälte durch die wälder dorthin wo sie schwärzer werden. der abend war eisig. eisiger wurde die nacht und ein haufe von sternen verkroch sich gegen morgen in einem weißlichen nebel. heute nehmen die gesträuche den kleinsten raum ein im ganzen jahr. was weich ist erfriert. was hart ist zerbricht. (S. 84)

Da trifft er auf einen Armen, der sich als »Josef, dein Bruder« 12 vorstellt und ihn um einen seiner beiden Mäntel bittet, da ihn gar so friert. Doch Baal verweigert ihm in aller Schroffheit nicht nur diese Hilfe, sondern nimmt ihm auch noch seinen Rock ab, sodass der Bettler auf der Stelle erfriert und tot umfällt, was Baal mit einem schadenfrohen Gelächter und dem Kommentar quittiert: »Josef du warst einer der zum erfrieren bestimmt war.« (S. 86) Baals Verhalten wird dann von zwei Chören kommentiert und vorangetrieben, wobei der »linke Chor« eine menschenfreundliche Position vertritt, der »rechte Chor« aber eine Position, die man um 1930 wohl in der Tradition Nietzsches sah und als prä-faschistisch bewertet haben dürfte und die Moses Heß sicher als die Position Stirners bestimmt hätte, denn dieser »rechte Chor« verkündet das Ideal radikaler zynischer Unbetroffenheit, auf das wir schon in Kapitel VI als »Kult des kalten Herzens« gestoßen sind: der mann ohne mantel erfriert weil es kalt ist denn die welt ist kalt und der denkende liebt die welt wie sie ist (S. 85)

Und im zweiten Chorlied verwendet der »rechte Chor« sogar ein Vokabular, das wir aus der Gefängnis-Szene der ersten Baal-Fassung kennen, wo der Geistliche in Baal das apokalyptische Tier aus der Tiefe zu erkennen glaubt, das wir aber auch in der Charakterisierung 324 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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der Stirnerschen Philosophie bei Moses Heß angetroffen haben, denn es heißt da: lobet das schöne tier das grausame. Sein klares auge spiegelt wider den natürlichen schrecken der unänderbaren welt ohne zusatz. es ist ohne furcht vor der zukunft und dem hunger des feinds. es nimmt hin was kommt für andre und sich (S. 85)

Das letzte Wort in diesem Lehrstück-Fragment behält natürlich der »linke Chor«, sodass Baals zynisches Gelächter über den toten Bettler mit Worten gekontert wird, die wieder einmal die elfte FeuerbachThese von Karl Marx beschwören: die welt ist kalt darum verändert sie ist der mensch wärme gewohnt und erfriert ohne mantel gebt ihm den mantel gleich der denkende liebt die welt wie sie wird (S. 86)

Wie man sieht, unterscheidet sich das Lehrstück-Fragment über den bösen asozialen Baal von allen anderen Fassungen des Baal durch die dominante Funktion der Chöre, die ja für alle Lehrstücke dramaturgisch dominant sind, weil sie gleichsam die volonté générale einer marxistischen Position zu artikulieren haben. Dies heißt aber auch, dass dieses Baal-Fragment nicht so recht zu den anderen Fassungen des Stücks passen will und im Rahmen dieser Fassungen sich auch recht fremd ausnimmt. Auf diesen Umstand verweist übrigens auch schon der Herausgeber des Fragments Dieter Schmidt, wenn er schreibt, dass dieses Konvolut von Notizen »sich inhaltlich weit von den Fassungen des »Baal« entfernt, sich aber mit dem Namen der Hauptfigur noch auf sie bezieht«. (S. 115) Die Hauptfigur dieses Fragments müßte also gar nicht zwingend Baal heißen; sie könnte sehr wohl auch jeden anderen beliebigen Namen tragen, und z. B. auch Johann Caspar Schmidt. Da also nicht eindeutig klar 13 ist, ob dieses Lehrstück-Fragment über den bösen asozialen Baal aus der Zeit um 1929/30 oder aus der 325 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Ostberliner Zeit um 1954 stammt, fällt es auch schwer zu entscheiden, ob der Satz »Weh dem, der seinem Herzen folgt!« hier als Drohung gemeint ist wie im Lehrstück Die Massnahme oder als Klage, wie in dem Stück Die heilige Johanna der Schlachthöfe, oder ob dieser Satz nicht überhaupt lauten müßte »Weh dem, der seinem Herzen nicht folgt!«, wie es die Kommentare des »linken Chors« ja auch nahelegen. Da aber mehr dafür spricht, daß diese Passagen aus der Zeit um 1929/30 stammen, deuten diese Unklarheiten darauf hin, dass Brecht sich um 1930 immer noch in einer Art von ideologischem Schwebezustand befand, der zu einer Entscheidung drängte, insbesondere zu der Entscheidung, auf welche Weise und mit welchen Mitteln man seinem Herzen folgen sollte, um dem »Grundgesetz entmenschter Menschheit« entgegen zu treten und es schließlich auch zu überwinden.

8.5.2 Ein Lehrstück über das Einverständnis mit Enteinzigungen und Enteignungen aller Art Wir haben in Kapitel V am Beispiel des Galy Gay gesehen, wie jemand, ohne es zu wollen und ohne es richtig zu begreifen, zu einem Niemand »ummontiert« und in ein Kollektiv eingeschmolzen wird, in dem er dann zu einer »menschlichen«, aber unmenschlichen »Kampfmaschine« mutiert, vor der sich Feind und Freund nur noch fürchten können. Ein im engeren Sinn politisches Motiv für diese »Ummontierung« Galy Gays war in dem Stück Mann ist Mann allerdings noch nicht erkennbar, auch wenn Brecht etwas vage davon sprach, diese Enteinzigung des Galy Gay sei als ein Gewinn zu betrachten, denn er habe »nicht nur nichts an Kraft verloren, sondern er blüht im Gegenteil sichtlich auf, er wird stärker und stärker. Unter den Vielen einer von Vielen [also im Kollektiv der Masse, L. P.] erlangt er seine größte ihm mögliche Entfaltung, er ist gleichsam der Erste von allen, der durch die Masse an Stärke wirklich gewinnt. Tief im fernen Tibet erobert der Mann, der ausgezogen war, einen Fisch zu kaufen, eine ganze Bergfestung, die der Armee den Weg nach Tibet versperrte. Denn seine Schwäche war es gewesen, nicht nein sagen zu können, aber seine Stärke wurde es, ja sagen zu können.« 1

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Somit ist Galy Gay der erste Jasager und Einverständige unter Brechts Dramengestalten, dem in den Lehrstücken 2 bald andere folgen sollten. Das Einverständnis zu seiner »Ummontierung«, das dem Simplex Galy Gay, einem Ausbund an »ontologischer Unsicherheit« 3, durch eine Intrige seiner Kameraden abgewonnen wird, die er nie so richtig durchschaut, macht Brecht nun in seinem Badener Lehrstück aufs neue zum Thema, wobei das Neue darin besteht, dass eine derartige »Ummontierung« nunmehr als explizite Enteinzigung und Enteignung nach Maßgabe eines konkreten politisch-pädagogischen Programms buchstäblich durchexerziert wird, damit dieses Einverständnis des Erziehungs-Objektes mit dem Ziel seiner Erziehung tatsächlich auch erreicht wird. Dazu Holthusen: »›Einverständnis‹ bedeutet hier das Sich-Schicken des Einzelnen in die Belehrung durch einen »gelernten Chor«, d. h. ein politisches Kollektiv, das den Sinn der Geschichte schon verstanden und angenommen hat. Einverständnis heißt begreifen, was Dialektik ist, nämlich Entwicklung durch ständig fortschreitende Selbstwiderlegung und Selbstverleugnung der menschlichen Welt: »Habt ihr sie Welt verbessernd die Wahrheit vervollständigt, so Vervollständigt die vervollständigte Wahrheit. Gebt sie auf!« Heißt aber nicht nur begreifen, sondern sich von diesem Prozess wollend und handelnd (»marschierend«) ergreifen lassen, den Einzelwillen aufgeben und sich dem objektiven Willen der Geschichte [also deren volonté générale, L. P.] unterwerfen: »Ändernd die Welt, verändert euch! Gebt euch auf!« (S. 31)

Die Lehre, die Brecht mit seinem Lehrstück verbreiten will, ist also das Verständnis des Marxismus und das Einverständnis mit ihm. Das aber verlangt auch die endgültige Abkehr von Max Stirners Philosophie der Einzigkeit und Eigentümerei, die im Stück gleich zweimal geschieht: Einmal in der rituellen Demontierung und schließlichen Ermordung eines Clowns namens »Schmitt«, hinter dem sich wohl Johann Caspar Schmidt alias Max Stirner verbirgt, und dann in der Enteignung, Verniemandung, Verabschiedung und Vertreibung des Fliegers, der, anders als seine Gefährten, partout noch »eigentümlich« (S. 29) bleiben will als der Eigner seiner selbst und seines Eigentums. Die dramaturgische Form des Ganzen ist eine Art Gerichtsverfahren, bei dem ein »gelernter Chor« mit einem Chorführer als Richter fungiert und über die Mannschaft eines abgestürzten Flugzeugs, d. h. über den Piloten und seine drei Monteure urteilen soll, ob diese 327 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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auch bereit sind zum Einverständnis damit, »dass alles verändert wird« (S. 31), weil sie ja, wie der Absturz zeigt, irgendwie erst mal gescheitert sein müssen, was aber verlangt, dass Flugzeug und Mannschaft von Grund auf verändert werden. Und dies wiederum verlangt, dass sie gleichsam von sich selbst Abschied nehmen müssen, indem sie sich selbst aufgeben und, ähnlich wie Galy Gay, in ein neues Kollektiv eintreten, in dem sie dann, ganz wie Galy Gay, wieder stärker werden können. Dieses Kollektiv aber ist das Kollektiv der marxistischen Klassenkämpfer im Rahmen der Kommunistischen Partei, was die drei Monteure denn auch akzeptieren, der Flieger jedoch verweigert, sodass nur sie in diesem Kollektiv mitmarschieren. Seltsamerweise verweist Holthusen, der ja in einem protestantischen Pfarrhaus aufgewachsen ist, mit keinem Wort auf die deutlich erkennbaren Analogien dieses Lehrstücks zu Texten der christlichen ars moriendi, insbesondere zu Bachs Matthäus-Passion. Ganz anders der erklärte Marxist Ernst Schumacher, der diese »Parallele zu einem christlichen Schul-, genauer gesagt, Schulungsstück in christlicher Tugendhaftigkeit und Nachfolge Christi« 4 sehr wohl sieht und das Motiv der Selbstverleugnung an konkreten Bibelstellen festmacht, aber doch den »abstrakt-scholastischen Charakter« (S. 322) dieses seiner Ansicht nach misslungenen Lehrstücks monieren muss, denn: »Dadurch, dass bei Brecht die moralischen Qualitäten nicht eine konkrete Beziehung zur Gesellschaft, insbesondere zur revolutionären Partei haben, geraten sie in ihrer abstrakten Verabsolutierung in die Nähe dieser christlichen Tugenden und erscheinen als deren Säkularisierung.« (S. 323)

Da Brecht, wie wir in Kapitel I gesehen haben, eine sehr fromme protestantisch geprägte Kindheit und Jugend hatte und seine frühesten Texte so sehr durch Luther-Bibel und Gesangbuch geprägt sind, kann es eigentlich auch nicht verwundern, wenn man beim Lesen dieses Lehrstücks immer wieder den Eindruck hat, an der oder jener Stelle müsse Brecht beim Schreiben bestimmte Choräle oder Bibelstellen im Ohr gehabt haben, insbesondere bei den Passagen, in denen die Wonnen der Selbstpreisgabe geschildert werden, z. B. also in dem bekannten Choral von Heinrich Isaak: O Welt, ich muss dich lassen, ich fahr dahin mein’ Straßen ins ewige Vaterland;

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mein’n Geist will ich aufgeben, dazu mein Leb und Leben setzen in Gottes gnädge Hand. Mein’ Zeit ist nun vollendet, der Tod das Leben endet, Sterben ist mein Gewinn. Kein Bleiben ist auf Erden, das Ewig muss mir werden; mit Fried und Freud fahr ich dahin. (…) Drum will ich fröhlich sterben, das Himmelreich ererben, wie er mirs hat bereit; hier mag ich nicht mehr bleiben, der Tod tut mich vertreiben; mein Seele sich vom Leibe scheidt. 5

An die biblische Passionsgeschichte und damit auch an Bachs Matthäus-Passion denkt man deshalb, weil die rituelle Abschlachtung des Clowns Schmitt sich unter schallendem Gelächter 6 der beiden anderen Clowns vollzieht, man selbst als Leser im szenischen Geschehen aber nicht den geringsten Grund für dieses schallende Gelächter erkennen kann, woraus man schließen darf, dass Brecht bei der Niederschrift dieser Szene bestimmte andere Szenen im Kopf gehabt haben muss, in denen ausgiebig gelacht wird. Diesem Riesen-Clown namens Schmitt wird also von den beiden anderen Clowns erst mal der linke Fuß abgesägt, und dann geht die Szene folgendermaßen weiter: HERR SCHMITT Einen Stock, bitte. Sie geben ihm einen Stock. EINSER Nun, können Sie jetzt besser stehen, Herr Schmitt? HERR SCHMITT Ja, links. Den Fuß müsst ihr mir aber geben, ich möchte ihn nicht verlieren. EINSER Bitte, wenn Sie Misstrauen haben … ZWEIER Wir können ja auch gehen …

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HERR SCHMITT Nein, nein, jetzt müsst ihr dableiben, weil ich doch nicht mehr gehen kann allein. EINSER Hier ist der Fuß. Herr Schmitt nimmt den Fuß unter den Arm. HERR SCHMITT Jetzt ist mir mein Stock heruntergefallen. ZWEIER Dafür haben Sie ja Ihren Fuß wieder. Beide lachen schallend. HERR SCHMITT Jetzt kann ich wirklich nicht mehr stehen. Denn jetzt fängt natürlich auch das andere Bein an, weh zu tun. EINSER Das lässt sich denken. (S. 15 f.)

Dann wird dem Herrn Schmitt auch das zweite Bein abgesägt, das linke Ohr »abgeschraubt« (S. 16), der linke Arm und eine Hälfte des Kopfes abgesägt und schließlich wird ihm auch noch der Kopf »herausgeschraubt« (S. 18), und all das unter »schallendem Gelächter« obwohl dieser Herr Schmitt die Rückgabe seiner »in Verlust geratenen Gliedmaßen an mich, ihren Eigentümer« (S. 16) auf das heftigste fordert. Die Szene scheint bei der Uraufführung einigermaßen grausig gewesen zu sein, weil Hanns Eisler im Rückblick über die seltsamsten Reaktionen bestimmter Zuschauer berichtet: »Eine Episode war die Clownsszene: zwei Clowns sägen einem dritten – nach einigen Diskussionen belehrenden Inhalts, die Schwäche menschlicher Natur betreffend, – die Füße ab. Diese Füße waren ganz plump aus Holz gemachte Stelzen. Dieser grobe Spaß schlug bei vielen Zuhörern in Entsetzen um. Einige wurden ohnmächtig, obwohl doch nur Holz gesägt wurde und es gewiss keine naturalistische Darstellung war. Ich saß neben einem bekannten Musikkritiker, der ohnmächtig wurde. Ich half ihm hinaus und verschaffte ihm ein Glas Wasser.« 7

Da all diese Szenen in keiner Weise komisch sind, sondern eher verstörend, und deshalb auch keinen Grund für das heitere BekundungsLachen bieten, mit dem man normalerweise komische Situationen quittiert, muss dieses ominöse »schallende Gelächter« also eine ganz 330 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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andere Art von Gelächter sein, und da bietet sich eigentlich nur das höhnische Auslachen an, mit dem Sadisten aller Art ihre Macht über ein wehrloses Opfer genießen und hinausbellen. Und genau diese Szene kennen wir aus der biblischen Passionsgeschichte, genauer: aus der Verspottung und Verhöhnung Christi durch eine Gruppe römischer Soldaten, einer Szene, die in der bildenden Kunst immer wieder dargestellt worden ist, und an die Brecht hier wohl auch gedacht haben dürfte. Wenn Luther in seiner Übersetzung der Passage Matthäus 27,22 ff. das Wortfeld »spotten/verspotten« verwendet, um damit die sadistischen Rituale der römischen Soldateska zu bezeichnen, so klingt dies für unser heutiges Sprachgefühl noch viel zu schwach, weshalb ich für diese Art von aggressivem vernichtungslüsternem Auslachen-von-oben die Bezeichnung »Lach-Kotze« 8 vorgeschlagen habe, denn genau diese Art von Gelächter ist hier gemeint, wenn Brecht von »schallendem Gelächter« der beiden Clowns spricht, die hier gleichsam in den Spuren der römischen Soldateska gehen und sich denn auch dementsprechend verhalten. Wir haben also keine komische Szene vor uns, sondern ein beklemmendes sadistisches Szenario. In Bachs Matthäus-Passion wird die entsprechende Szene so dargestellt, dass der Evangelist das Geschehen berichtet und der Chor den Part der römischen Soldaten übernimmt: EVANGELIST Da nahmen die Kriegsknechte des Landpflegers Jesum zu sich in das Richthaus und sammleten über ihn die ganze Schar und zogen ihn aus und legten ihm einen Purpurmantel an und flochten eine dornene Krone und setzten sie auf sein Haupt und ein Rohr in seine rechte Hand und beugeten die Knie vor ihm und spotteten ihn und sprachen: CHOR I = II Gegrüßet seist du, Jüdenkönig! EVANGELIST Und speieten 9 ihn an und nahmen das Rohr und schlugen damit auf sein Haupt.

Und dann singen Chor und Gemeinde gleichsam als Kommentar dazu den Choral:

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O Haupt voll Blut und Wunden, Voll Schmerz und voller Hohn, O Haupt, zu Spott gebunden Mit einer Dornenkron, O Haupt, sonst schön gezieret Mit höchster Ehr und Zier, Jetzt aber hoch schimpfieret, Gegrüßet seist du mir! Du edles Angesichte, Dafür sonst schrickt und scheut Das große Weltgewichte, Wie bist du so bespeit; Wie bist du so erbleichet! Wer hat dein Angesicht, Dem sonst kein Licht nicht gleichet, so schändlich zugericht’? (S. 190 f.)

Nachdem dieser ominöse Herr Schmitt unter der Lachkotze der beiden anderen Clowns offenbar stirbt oder bereits gestorben ist, geht die Einweisung der Flugzeug-Mannschaft ins Einverständnis mit dem Sterben bzw. mit der Selbstpreisgabe weiter. Die drei Monteure sind schon so weit in diese neue, nach-christliche ars moriendi eingedrungen, dass sie fähig und bereit sind zu der Einsicht: »Wir sind niemand.« (S. 24) Im Gegensatz dazu betont der Flieger immer noch, er sei sehr wohl noch jemand und habe immer noch einen Namen und trage diesen auch immer noch voller Stolz, weil er ja immerhin ein berühmter Mann sei: »Ich bin Charles Nungesser.« (S. 25) Wie hoch immer ich flog, höher flog Niemand. Ich wurde nicht genug gerühmt, ich Kann nicht genug gerühmt werden Ich bin für nichts und niemand geflogen. Ich bin für das Fliegen geflogen. Niemand wartet auf mich, ich Fliege nicht zu euch hin, ich Fliege von euch weg, ich Werde nie sterben. (S. 26)

Und deshalb muss er, um die neue, nämlich die zum rechten kommunistischen Bewusstsein gehörende ars moriendi endlich kennenzulernen und damit einverstanden zu sein, in aller Form enteinzigt, enteignet, entpersönlicht und enticht werden, damit auch er endlich 332 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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im allgemeinen »Fluss der Dinge« (S. 30) mitschwimmen kann und der Chor dann endlich auch zu ihm sagen darf: »Du Keinmenschmehr!« (S. 29), denn, so der gelernte Chor weiter: Du bist aus dem Fluss gefallen, Mensch. Du bist nicht im Fluss gewesen, Mensch. Du bist zu groß, du bist zu reich. Du bist zu eigentümlich. Darum kannst du nicht sterben. (S. 29)

Der gelernte Chor könnte zum Flieger auch sagen: Du bist immer noch zu sehr ein Einziger mit seinem Anspruch auf sein Eigentum und auf seine Eigenheiten, und du bist auf all das immer noch viel zu stolz, als dass du dich selbst aufgeben und die neue ars moriendi à la Galy Gay lernen, akzeptieren und dann ausagieren könntest. Mit einem Wort: Du hängst immer noch viel zu sehr an der Philosophie deines Max Stirner, du hast immer noch die Stirn, ein Stirnerianer zu sein und Ich-Ich-Ich zu sagen. Der gelernte Chor hätte aber auch noch hinzufügen können: Und all das gilt auch für deinen Autor Bertolt Brecht, denn auch der muss noch weiter entstirnert werden! Und aus diesem Grund folgt auf das Bild »Ruhm und Enteignung« (S. 26 ff.) sofort das Bild »Die Austreibung« (S. 29), in dem der gelernte Chor den Flieger davonjagt, weil er offenbar ein hoffnungsloser Fall ist, der nie zum Einverständnis mit der historischen Notwendigkeit des Klassenkampfes gelangen wird: Einer von uns An Gesicht, Gestalt und Gedanke Uns gleichend durchaus Muss uns verlassen, denn Er ist gezeichnet über Nacht, und Seit heute morgen ist sein Atem faulig. Seine Gestalt verfällt, sein Gesicht Einst uns vertraut, wird schon unbekannt. Mensch, rede mit uns, wir erwarten An dem gewohnten Platz deine Stimme. Sprich! Er spricht nicht. Seine Stimme Bleibt aus. Jetzt erschrick nicht, Mensch, aber Jetzt musst du weggehen. Gehe rasch! Blick dich nicht um, geh Weg von uns. (S. 29 f.)

Und das tut der Flieger denn auch. Er wird also nicht etwa gleich liquidiert, sondern nur davongejagt, ähnlich wie Trotzki, der in etwa 333 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

VIII · Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden

gleichzeitig mit der Uraufführung dieses Lehrstücks von Stalin des Landes verwiesen und erst viel später in Mexiko in Stalins Auftrag ermordet wurde. Eine vergleichbare mörderische Maßnahme stellt Brecht erst in seinem nächsten Lehrstück Die Massnahme dar, in dem ein junger Genosse liquidiert wird, der genau wie der Pilot ebenfalls immer noch zu »eigentümlich« ist, als dass er Parteiarbeit auf der exakten Linie der Partei hätte leisten können. Und genau diesen Vorwurf wird Brecht selbst sich nach der Uraufführung der Massnahme von Partei-Kommunisten gefallen lassen müssen. Den drei Monteuren jedoch, die mit der neuen ars moriendi einverstanden waren und deshalb Tod und Auferstehung erfahren durften, wird vom gelernten Chor feierlich »Das Einverständnis« verkündet: Ihr aber, die ihr einverstanden seid mit dem Fluss der Dinge Sinkt nicht zurück in das Nichts. Löst euch nicht auf wie Salz im Wasser, sondern Erhebt euch Sterbend euren Tod wie Ihr gearbeitet habt eure Arbeit Umwälzend eine Umwälzung. Richtet euch also sterbend Nicht nach dem Tod Sondern übernehmt von uns den Auftrag Wieder aufzubauen unser Flugzeug. Beginnt! Um für uns zu fliegen An den Ort, wo wir euch brauchen Und zu der Zeit, wo es nötig ist. Denn Euch Fordern wir auf, mit uns zu marschieren und mit uns Zu verändern nicht nur Ein Gesetz der Erde, sondern Das Grundgesetz: Einverstanden, dass alles verändert wird Die Welt und die Menschheit Vor allem die Unordnung Der Menschenklassen, weil es zweierlei Menschen gibt Ausbeutung und Unkenntnis. (S. 30 f.)

Und natürlich erklären sich die drei Monteure für einverstanden mit dem Prinzip, dauernder Änderung zum Wohle der Menschheit und 334 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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erklären sich auch dazu bereit, die Technik des Flugzeugs zu ergänzen, die Sicherheit des Fliegens zu erhöhen und die Geschwindigkeit des Flugzeugs weiter zu steigern, auf dass erfüllet würde, was geschrieben steht bei den Klassikern. Dass sie auch dazu bereit sind, sich selbst laufend zu verändern, erklären sie zwar nicht ausdrücklich, soll aber wohl von Leser und Zuschauer erschlossen werden. Und so endet dieses Lehrstück mit einem pathetischen Finale, in dem der gelernte Chor in einem fort die Forderung erhebt, alles Denkbare zu verändern, zu vervollständigen und zu verbessern, indem man es überwindet: Habt ihr die Welt verbessert, so Verbessert die verbesserte Welt. Gebt sie auf! (…) Habt ihr die Welt verbessernd die Wahrheit vervollständigt, so Vervollständigt die vervollständigte Wahrheit. Gebt sie auf! (…) Habt ihr die Wahrheit vervollständigend die Menschheit verändert, so Verändert die veränderte Menschheit. Gebt sie auf! (…) Ändernd die Welt, verändert euch! Gebt euch auf! (S. 31 f.)

Der Führer des gelernten Chors aber kennt nur einen einzigen Befehl, den er den Aufrufen des Chores jeweils hinzufügt, und dieser lautet schlicht und einfach: »Marschiert!« Wenn man von hier aus auf Brechts frühes Stück Trommeln in der Nacht und auf dessen Helden Andreas Kragler zurückblickt, wird nochmal unter einem anderen Aspekt deutlich, dass dieses Badener Lehrstück als explizite Zurücknahme von Stirners Philosophie der Einzigkeit gedacht war. Man muss sich nur mal vorstellen, wie der Einzige Andreas Kragler auf diesen Marschbefehl reagieren würde, wenn er schon auf Glubbs Aufforderung, sich den Spartakisten anzuschließen, mit Hohngelächter reagiert: »Mein Fleisch soll im Rinnstein verwesen, dass eure Idee siegt! Seid ihr besoffen?« (S. 72) Der letzte Aufruf des gelernten Chores an die drei Monteure – »Gebt euch auf!« – lässt sich deshalb auch nicht mehr im Sinne Stirners als eine Aufforderung zur uroborischen Selbstverzehrung à la Baal verstehen, sondern nur noch als Aufforderung zur freiwilligen 335 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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und gläubig-freudigen Selbstaufopferung zugunsten eines Kollektivs, also ganz so, wie Brecht dies in seinem allerersten Stück Die Bibel und in seiner nationalprotestantischen Kriegslyrik unter dem Motto »Wir opfern uns gern« 10 gepriesen hatte. Ob auch der desillusionierte Rotgardist mit den blutbefleckten leeren Händen und dem zynischen Grinsen im Gesicht, der jahrelang hinter der »roten unmenschlichen Fahne« drein marschiert war, diesem erneuten Aufruf zum Marschieren folgen, neue Hoffnung schöpfen und sich erneut auf den Marsch begeben wird, um endlich die Freiheit zu erkämpfen, wissen wir natürlich nicht. Als Brecht dieses Lehrstück nach seiner Uraufführung am 31. 8. 1929 in Baden-Baden für den Druck freigab, fügte er im Anhang noch die Notiz hinzu: »Das Lehrstück erwies sich beim Abschluss als unfertig: dem Sterben ist im Vergleich zu seinem doch wohl nur geringen Gebrauchswert zuviel Gewicht beigemessen.« (S. 33)

Da fragt man sich natürlich, worin denn der »Gebrauchswert« des Sterbens bestehen könne, ob dieser auch mehr oder weniger groß sein könne und für wen es diesen »Gebrauchswert« überhaupt geben könne, für den Sterbenden selbst oder für etwaige Hinterbliebene des Verstorbenen. Ich vermute, dass bei Brecht sich auch hier wieder ein Erinnerungsrest an Texten aus seiner frommen Kindheit und Jugend in Augsburg zu Wort gemeldet hat, denn in dem oben zitierten Choral von Heinrich Isaak heißt es ja ausdrücklich »Sterben ist mein Gewinn« und »Drum will ich fröhlich sterben, das Himmelreich ererben«, was man mit einiger Phantasie sehr wohl als »Gebrauchswert« des Sterbens verstehen kann, auch wenn die Formulierung »Gebrauchswert des Sterbens« eine reichlich saloppe Formulierung für diese christliche ars moriendi ist. Es könnte aber auch sein, dass Brecht mit dem seltsamen Ausdruck »Gebrauchswert des Sterbens« die dramaturgische Funktion der rituellen Abschlachtung des Herrn Schmitt gemeint hat, die er im Rückblick auf sein Werk vielleicht doch etwas zu umfangreich und vielleicht auch etwas zu geschmacklos fand. Und schließlich könnte es noch eine dritte Erklärung für diese seltsame Anmerkung geben, die sich als Konsequenz der neuen, marxistischen Gläubigkeit ergibt, weil auch diese Art von Gläubigkeit das stellvertretende Selbstopfer für andere nahelegt, das dann aber auch eine angemessene Darstellung verlangt, was im Badener Lehrstück 336 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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aber nicht geleistet worden ist. Da Brecht aber, wie gesehen, die These vertrat, nur das Kollektiv sei lebensfähig, in dem es »auf das Einzelleben der in ihm zusammen-geschlossenen Individuen nicht ankommt« 11, hatte er mit der Rede vom »Gebrauchswert des Sterbens« wohl den Gebrauchswert im Auge, den das Sterben des Einzelnen für das Kollektiv hat, zu dem er gehört, und damit hätten wir wieder die säkularisierte Form der christlichen ars moriendi als freiwilliges Selbstopfer für andere vor uns, die wir schon in den Kriegsgedichten des jungen Brecht kennengelernt haben. In dem Lehrstück Der Jasager 12 hat Brecht die Darstellung dieses freiwilligen Selbstopfers dann nachgeholt, wenn auch immer noch in einer eher vorläufigen Form. Die endgültige Form für diese parteikonforme ars moriendi für andere finden wir dann in dem kommunistischen Passionsstück Die Massnahme, auf das wir nun eingehen müssen.

8.5.3 Ein Lehrstück über das Einverständnis mit Säuberungen aller Art 8.5.3.1 Der Handlungsverlauf Brechts Lehrstück Die Massnahme 1 beginnt mit einem Prolog, der dem eigentlichen Lehrstück vorgeschaltet ist, dessen Rahmen absteckt, dessen dramaturgische Mittel ankündigt und dessen Lehrziel verkündet, das er auch gleich im voraus als erreicht erklärt und vorwegnehmend gutheißt. Die Akteure sind ein Kontrollchor und vier Agitatoren: DER KONTROLLCHOR Tretet vor! Eure Arbeit war glücklich, auch in diesem Lande Marschiert die Revolution, und geordnet sind die Reihen der Kämpfer auch dort. Wir sind einverstanden mit euch. DIE VIER AGITATOREN Halt, wir müssen etwas sagen! Wir melden den Tod eines Genossen. DER KONTROLLCHOR Wer hat ihn getötet? DIE VIER AGITATOREN

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Wir haben ihn getötet. Wir haben ihn erschossen und in eine Kalkgrube geworfen, darüber fordern wir euer Urteil. DER KONTROLLCHOR Stellt dar, wie es geschah und warum, und ihr werdet hören unser Urteil. DIE VIER AGITATOREN Wir werden anerkennen euer Urteil. (S. 37)

Wir haben also eine Art Parteigericht vor uns, das nicht aus einem einzigen Richter oder einem Kollegium von Richtern besteht, sondern aus einem riesigen Chor 2, der offensichtlich die volonté générale der Kommunistischen Partei darstellen soll. Und weil die vier Agitatoren hier vor der Verkörperung der volonté générale der Partei stehen, der sie ja auch selbst angehören, stehen sie gleichsam vor dem eigenen Gewissen, weil sie ja selbst ebenfalls Repräsentanten dieser volonté générale sind. Aus diesem Grund kann es auch gar nicht anders sein, als dass sie das Urteil des Gerichts unbesehen und ohne Widerspruch akzeptieren, bevor es überhaupt gesprochen ist, und aus dem gleichen Grund kann auch das Gericht sein Einverständnis mit der Arbeit dieser vier Agitatoren verkünden, bevor es sie in allen Details überhaupt kennengelernt hat. So gesehen ist dieses Gerichtsverfahren eher ein dramaturgisches Spiegelkabinett, das man unter das Motto »Das große Einverständnis aller mit allen und allem« stellen könnte, was auch nicht weiter verwunderlich ist, weil hier letztlich die volonté générale der Partei mit sich selbst spricht, über sich selbst urteilt und zwangsläufig auch mit sich selbst einverstanden ist. Konflikte gibt es nur im Rahmen der Geschehnisse, die die vier Agitatoren berichten und vorspielen und die sie auch zu verantworten haben, und dazu schreibt Brecht selbst: »Der Inhalt des Lehrstücks ist kurz folgender: vier kommunistische Agitatoren stehen vor einem Parteigericht, dargestellt durch den Massenchor. Sie haben in China kommunistische Propaganda getrieben und dabei ihren jüngsten Genossen erschießen müssen. Um nun dem Gericht die Notwendigkeit dieser Maßnahme der Erschießung des Genossen zu beweisen, zeigen sie, wie sich der junge Genosse in den verschiedenen politischen Situationen verhalten hat. Sie zeigen, dass der junge Genosse gefühlsmäßig ein Revolutionär war, aber nicht genügend Disziplin hielt und zu wenig seinen Verstand sprechen ließ, so dass er, ohne es zu wollen, zu einer schweren Gefahr für die Bewegung wurde. Der Zweck des Lehrstücks ist also, politisch unrichtiges Verhalten zu zeigen und dadurch richtiges Verhalten zu

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lehren. Zur Diskussion soll durch diese Aufführung gestellt werden, ob eine solche Veranstaltung politischen Lehrwert hat.« (S. 237)

Und der politische Lehrwert dieses Lehrstücks wäre dann eben dessen »Gebrauchswert als Entstirnerungs-Exorzismus«. Der eine Konflikt, der das Geschehen bei der propagandistischen Arbeit der vier Agitatoren vorantreibt, ist laut Brecht also der Konflikt zwischen Gefühl und Vernunft, auf den wir bei Brecht als Kampf »mit mir gegen mich« immer wieder gestoßen sind, und der andere Konflikt, den Brecht in seiner Inhaltsangabe aber nicht erwähnt, ist die Frage, in welchem Maß der Junge Genosse zu der für die aktive Parteiarbeit nötigen Selbstenteinzigung und Selbstenteignung bereit und fähig war. Und genau von daher stellt sich auch die Frage nach dem politischen Lehrwert und Gebrauchswert dieses Lehrstücks als die Frage, an wen sich dieses Lehrstück mit seinem Lehrwert eigentlich wendet: Wendet es sich an Kommunisten, um diese in ihrer kommunistischen Gläubigkeit zu bestärken? Oder wendet es sich an Sympathisanten des Kommunismus, um diese endgültig für die Partei des Proletariats zu gewinnen? Oder wendet es sich an politische Gegner, die es zu bekämpfen, zu verunsichern oder vielleicht sogar zu bekehren gilt? Oder wendet es sich an den Autor selbst, der mit dieser nach außen verlagerten und an den Jungen Genossen delegierten Gewissensprüfung sich seiner selbst vergewissern wollte? Diesen Jungen Genossen kennzeichnet Brecht nun genau nach dem Bild des idealistisch verstiegenen Expressionisten vom Schlage eines Ernst Toller oder Franz Werfel, die er schon um 1920 verachtet 3 hatte, denn dieser Junge Genosse stellt sich mit den Worten vor: »Ich bin der Sekretär des Parteihauses, welches das letzte nach der Grenze zu ist. Mein Herz schlägt für die Revolution. Der Anblick des Unrechts trieb mich in die Reihen der Kämpfer. Ich bin für die Freiheit. Ich glaube an die Menschheit. Und ich bin für die Maßnahmen der kommunistischen Partei, welche gegen Ausbeutung und Unkenntnis für die klassenlose Gesellschaft kämpft.« (S. 38)

Mehr als dieses wie angelesen wirkende Glaubensbekenntnis erfahren wir von ihm nicht, müssen wir aber auch nicht, denn schon im nächsten Bild Die Auslöschung wird dem Jungen Genossen, genau wie den anderen Agitatoren auch, der letzte Rest von Identität genommen, indem sie durch Masken in gesichtslose Gestalten verwan339 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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delt werden, und diese Enteinzigung und Enteignung bringt der Leiter des Parteihauses auf die Formel: »Dann seid ihr nicht mehr ihr selber, du nicht mehr Karl Schmitt 4 aus Berlin, du nicht mehr Anna Kjersk aus Rjasan und du nicht mehr Peter Sawitsch aus Moskau, sondern allesamt ohne Namen und Mutter 5, leere Blätter, auf welcher die Revolution ihre Anweisung schreibt.« (S. 41)

Und natürlich sind sie alle mit dieser Auslöschung ihrer Identität genauso einverstanden wie dies schon bei Galy Gay der Fall war, sodass nun alle nötigen Voraussetzungen dafür geschaffen wären, dass die vier Agitatoren die Arbeit im Sinne der Partei beginnen können, die der Kontrollchor denn auch noch mal eigens mit einem Choral zum Lob der illegalen Arbeit anpreist, nachdem er vorher schon in einem andern Choral das Lob der U.S.S.R. (S. 39 f.) in den höchsten Tönen gesungen hatte. Doch diese Agitationsarbeit im Sinne der kommunistischen Partei gestaltet sich zunächst als eine einzige Katastrophe, weil der Junge Genosse alles falsch macht, was man bei der Vorbereitung und Durchführung des Klassenkampfes nur falsch machen kann, weil er immer nur seinem Herzen folgt und deshalb trotz aller Warnungen immer nur als purer Gesinnungsethiker handelt, ohne die weiteren Folgen seines aktuellen Verhaltens zu bedenken. Man könnte auch sagen, dieser Junge Genosse verhalte sich ganz nach den Maximen, die der junge Brecht aus der Philosophie Max Stirners herausgelesen und in seinem exemplarischen Gedicht Gegen Verführung und in den großen Balladen seiner Hauspostille 6 dargestellt hatte, also nach Maßgabe einer allumfassenden kreatürlichen Solidarität, die hier und jetzt und sofort eingreifen will, ohne auf das »Prinzip Hoffnung« zu setzen. Da er damit aber zugleich auch gegen die Lehren der marxistischen Klassiker verstößt, die den aktiven Klassenkampf ja gezielt in ein großes historizistisches Szenario verortet hatten, kommt es in Bild VI Empörung gegen die Lehre zur Wende des ganzen Geschehens. Erst beschwören die drei Agitatoren noch einmal die Allwissenheit der Partei, um den Jungen Genossen ein letztes Mal zu ermahnen, indem sie das irgendwann einmal eintretende kommunistische Pfingstwunder beschwören: Denn sie beruht auf der Lehre der Klassiker Welche geschöpft ist aus der Kenntnis der Wirklichkeit Und bestimmt ist, sie zu verändern, indem sie, die Lehre

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Die Massen ergreift. (S. 57)

Dieses kommunistische Pfingstwunder, bei dem irgendwann einmal der Heilige Geist der kommunistischen Klassiker ausgegossen werden soll, der dann wie von selbst die Massen ergreift, sodass jeder von sich sagen kann »Heil mir, dass ich Ergriffene sehe« 7 und alle Probleme wie von selbst beseitigt werden, will der Junge Genosse aber nicht abwarten, weil er sich nicht auf das »Prinzip Hoffnung« vertrösten lassen möchte, sondern das Prinzip »Hier-und-jetzt-undzwar sofort!« verwirklicht sehen will, weshalb er nun die bisher so verehrten Klassiker frontal angreift und damit das ganze Lehrstück zu seinem dramaturgischen Höhepunkt führt: DER JUNGE GENOSSE So frage ich: dulden die Klassiker, dass das Elend wartet? DIE DREI AGITATOREN Sie sprechen nicht von Mitleid, sondern von der Tat, die das Mitleid abschafft. DER JUNGE GENOSSE Dann sind die Klassiker also nicht dafür, dass jedem Elenden gleich und sofort und vor allem geholfen wird? DIE DREI AGITATOREN Nein. DER JUNGE GENOSSE Dann sind die Klassiker Dreck, und ich zerreiße sie; denn der Mensch, der lebendige, brüllt, und sein Elend zerreißt alle Dämme der Lehre. Darum mache ich jetzt die Aktion, jetzt und sofort; denn ich brülle und ich zerreiße die Dämme der Lehre. Er zerreißt die Schriften.

Und dann ergänzt er diesen herostratischen Akt eigens noch mit dem Argument: Alles das gilt nicht mehr; im Augenblick des Kampfes verwerfe ich alles, was gestern noch galt, kündige alles Einverständnis mit allen, tue das allein Menschliche. Hier ist eine Aktion. Ich stelle mich an ihre Spitze. Mein Herz schlägt für die Revolution. Hier ist sie. (S. 58)

Damit aber folgt er eher seinem Herzen als der Lehre der kanonischen Klassiker, weshalb er sich auch noch die Maske vom Gesicht reißt und damit auch die ihm vorher angesonnene und von ihm auch akzeptier-

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te Enteinzigung und Enteignung wieder zurücknimmt und sich definitiv von seinen Genossen trennt: Ich sah zu viel. Darum trete ich vor sie hin Als der, der ich bin, und sage, was ist. (S. 59)

Auf diese blasphemisch-apostatische Selbstoffenbarung des Jungen Genossen als Apostat der gottgleichen Partei, der genau wie der biblische Jahwe von sich sagt »Ich bin, der ich bin«, können die Genossen natürlich nur noch damit reagieren, dass sie diesen Ketzer niederschlagen und davonschleppen, um ihn verschwinden zu lassen. Würde das Lehrstück an diesem Punkt der Handlung und auf diese Weise enden, so wäre dieses Stück nicht viel mehr als die Geschichte eines politischen Fememordes nach dem Prinzip: »Verräter verfallen der Feme!«, und der von Brecht angestrebte Lehrwert dieses Lehrstücks wäre eher gering, insbesondere aber gering für ihn selbst, denn wenn Brecht seinem Jungen Genossen erlaubt hätte, nach seiner Absage an die kommunistischen Klassiker und an seine Genossen sich ungestraft als Einziger mit all seinem Eigentum zu präsentieren, so wäre damit zugleich auch die von Brecht erstrebte eigene Emanzipation von Stirner gescheitert. Deshalb durfte Brecht schon aus dramaturgischen Gründen diesen Jungen Genossen nicht einfachhin töten lassen, sondern musste diese Tötung noch durch zwei weitere Motive umrahmen: Einmal durch das explizite Einverständnis des Jungen Genossen mit seiner Tötung, und zwar nicht nur deshalb, weil dann die drei Genossen ihr blutiges Handwerk mit einem etwas besseren Gewissen durchführen können, sondern weil nur mit diesem Einverständnis des Jungen Genossen zu seiner Tötung Brechts eigene Ablösung von Stirner überhaupt gelingen konnte. Und außerdem mussten die drei Agitatoren diesen Mord ja auch noch vor sich selbst rechtfertigen können, weil ihnen diese Tat trotz des Einverständnisses des Opfers immer noch schwer genug gefallen sein dürfte: Klagend zerschlugen wir uns unsere Köpfe mit unseren Fäusten Dass sie uns nur den furchtbaren Rat wussten: jetzt Abzuschneiden den eigenen Fuß vom Körper; denn F u r c h t b a r i s t e s, z u t ö t e n . Aber nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es nottut. Da doch nur mit Gewalt diese tötende Welt zu ändern ist, wie

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Jeder Lebende weiß. Noch ist es uns, sagten wir, Nicht vergönnt, nicht zu töten. 8. Einzig mit dem Unbeugbaren Willen, die Welt zu verändern, begründen wir Die Maßnahme. (S. 63)

Dann wird der Junge Genosse erschossen und zur zweiten und endgültigen Auslöschung in eine Grube mit ungelöschtem Kalk geworfen, wo sein Körper bis zur Unkenntlichkeit zerfressen wird, sodass von ihm buchstäblich keine Spur mehr übrigbleibt. Und damit sollte auch das Kapitel Stirner für Brecht abgeschlossen sein. Da kann der Kontrollchor die vier Agitatoren natürlich nur noch loben, weil er zugleich auch im Namen Brechts spricht: Und eure Arbeit war glücklich. Ihr habt verbreitet Die Lehre der Klassiker Das ABC des Kommunismus Den Unwissenden Belehrung über ihre Lage Den Unterdrückten das Klassenbewusstsein Und den Klassenbewussten die Erfahrung der Revolution Und die Revolution marschiert auch dort Und auch dort sind geordnet die Reihen der Kämpfer Wir sind einverstanden mit euch. (S. 64)

Der Kontrollchor hätte auch, um sein Einverständnis zu bekunden, aus Georg Herweghs Gedicht AN Ferdinand Freiligrath die beiden Verszeilen zitieren können: Der Menschheit gilt’s ein Opfer darzubringen, Der Menschheit auf dem Altar der Partei! 9

8.5.3.2 Lehrstück-Theorie und Lehrstück-Praxis In seinen theoretischen Schriften zur Begründung des Lehrstücks hatte Brecht das Lehrstück-Theater gleichsam als gesteigertes oder potenziertes »Episches Theater« bestimmt, für das ebenfalls alle Anweisungen zum »Epischen Theater« und zwar in gesteigerter Form zu gelten haben. Dies gilt laut Brecht insbesondere für den V-Effekt 1 als dem expliziten Gestus des Zeigens, weil damit das Mitgehen des Zuschauers am ehesten verhindert werden kann. Wenn man unter diesem Aspekt den Text der Maßnahme durchgeht, so stößt man auch immer wieder auf Passagen, die diesen Ge343 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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stus des Zeigens deutlich und manchmal auch überdeutlich ausstellen, indem sie z. B. die Übernahme von Rollen oder auch den Rollenwechsel eigens verkünden (»Ich bin XYZ«), bestimmte Szenen eigens ankündigen (»Wir zeigen es«) und damit gleichsam mit einer Überschrift versehen oder den Rollenwechsel durch das Aufsetzen von Masken deutlich machen. All dies lädt in der Tat nicht sonderlich zum Mitgehen ein und soll es ja auch nicht, hilft aber sehr, sich im Geschehen zu orientieren. Wenn man jedoch die Kritiken liest, scheint auf den Proben von diesem distanzierenden und verfremdenden Gestus nicht mehr sehr viel übriggeblieben zu sein, weil dieser offenbar ›eingetheatert‹ worden ist. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, weil allein schon der Riesenapparat von Massenchor und Orchester diese Inszenierung auf ein Pathos-Niveau hinaufstemmen musste, das mit der Theorie des Lehrstücks völlig unvereinbar war. Der alte Lehrsatz, dass das Theater alles ›eintheatert‹ und die Musik sich alles gefügig machen kann, scheint sich hier wieder einmal bewahrheitet zu haben, sodass das Lehrstück Die Massnahme sich zu einem Oratorium im Stil der Matthäus-Passion steigern musste. In den Kritiken ist denn auch davon die Rede, die Wirkung dieses politischen Oratoriums sei »erschütternd und hinreißend« 2 bzw. »mitreißend und aufwühlend« 3 gewesen, und dies war wohl auch unvermeidlich allein schon dadurch, dass ein Massenchor von einigen hundert Sängern einen sympathetischen Sog ausstrahlt, dem man sich kaum entziehen kann, sodass man einfach mitgehen muss. All dies spricht dafür, dass die Uraufführung dieses »Lehrstücks mit Musik« eher ganz konventionelles Theater war, das sich vom sonstigen Berliner Theaterbetrieb nur durch die Radikalität seiner politischen Botschaft unterschied. Diese fatale Diskrepanz zwischen dem von der Lehrstück-Theorie geforderten distanzierenden Gestus des Zeigens und dem konkreten Text des Stücks zeigt sich auch, wenn man diesen Text auf seine Vortragszeichen hin durchsucht, denn eigentlich dürften in einem Lehrstück dieser Art keine Ausrufungszeichen stehen, die einen emotionalen Ausbruch signalisieren. Doch Ausrufungszeichen dieser Art finden sich in einem fort, insbesondere dort, wo die Handlung sich zu einem Konflikt zuspitzt, also v. a. in Bild VI, wenn der Junge Genosse sich von der Partei lossagt und die Schriften der Klassiker zerreißt. Hier ist dem Autor offensichtlich die Handlungsführung so sehr aus den Händen geglitten, 344 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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dass er die Fesseln seiner eigenen Lehrstück-Theorie abgeworfen und sich beim Schreiben selbst so sehr in die Szene »eingefühlt« hat, dass er selbst mitgehen musste. Und deshalb kann man sich schon beim Lesen dem Sog dieser Szene kaum entziehen, geschweige denn als Zuschauer im Theater. Dass genau diese Szene so suggestiv wirkt und zum Mitgehen animiert, liegt nicht nur daran, dass sie den Höhepunkt des Stücks bildet und somit auch den Wendepunkt der Handlung, sondern weit mehr daran, dass Brecht hier sein eigenes Problem auf die Szene gehoben hat, weil er in dieser Szene und mit ihr seine eigene, aber an den Jungen Genossen delegierte Selbstvergewisserung und philosophische Um- und Neu-orientierung ausagieren und zu einer Lösung bringen wollte. Dass dies gleichsam ›seitenverkehrt‹ geschieht, weil der Junge Genosse sich genau von der Philosophie lossagt, an der sich Brecht selbst neu orientierte, ist kein Widerspruch in sich, sondern sichert der ganzen Szene überhaupt erst ihr Betroffenheits-Niveau, denn in ihr spielt sich genau dieser »Kampf mit mir gegen mich« ab, der Brechts ganzes Werk durchzieht und hier wieder mal zu einem Höhepunkt gelangt. Wenn man diese Szene nun auch noch im Rahmen von Brechts Gesamtwerk sieht, zeigt sich alsbald, dass auch sie zu den Szenen gehört, in denen Brechts dramatische Gestalten unmittelbar ihr Herz sprechen lassen und in diesem Kampf »mit mir gegen mich« sich dem Appell ihres Herzens beugen. Und dies sind dann immer die großen Szenen, die schon den Leser und dann erst recht den Zuschauer zum Mitgehen geradezu zwingen. Man denke nur an die Trommel-Szene der stummen Kattrin, die buchstäblich mit ihrem Herzschlag die Stadt Halle wachrüttelt und deshalb erschossen wird. 8.5.3.3 Die ›bürgerliche‹ Rezeption der Massnahme Es liegt auf der Hand, dass an einem derart radikalen Stück wie der Massnahme sich die Geister scheiden mussten. Wenn man die von Reiner Steinweg zusammen-gestellten zeitgenössischen Kritiker durchgeht, zeigt sich sofort, dass die allermeisten ›bürgerlichen‹ Kritiken sich ehrlich um ein Verständnis dieses so sperrigen Werkes bemüht haben. Die liberalen Kritiker verfuhren dabei so, dass sie Die Massnahme entweder in die Entwicklung von Brechts Gesamtwerk einzuordnen suchten, um es dort sinnvoll zu verorten, und verwiesen dabei meist darauf, dass Die Massnahme das zentrale Thema der bis 345 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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dahin vorliegenden Lehrstücke 1 aufgreift und weiter radikalisiert. Oder sie zogen den Kreis der Betrachtung etwas größer und versuchten, das Stück stoff- und motivgeschichtlich einzuordnen, wobei sie dann z. B. auf verblüffende Analogien zwischen der Massnahme und Kleists letztem Stück Der Prinz von Homburg 2 oder auf die Verwandtschaft der Massnahme mit dem Lehrtheater der Jesuiten in der Epoche der Gegenreformation 3 stießen, das ja ebenfalls der Verkündigung einer Lehre diente. In all diesen Kritiken von ›bürgerlicher‹ Seite wird Die Massnahme als ein kommunistisches Propaganda-Stück gesehen und manchmal auch als säkularer Kult einer politischen Religion 4 gedeutet, was dann wiederum entweder von katholischer Seite 5 mit heller Empörung oder von liberaler Seite mit einigem Spott 6 quittiert wird. Der Tenor all dieser Kritiken von ›bürgerlicher‹ Seite ist also rundweg ablehnend, was auch nicht weiter verwunderlich sein kann. Dies gilt aber auch für die einzige sozialdemokratisch orientierte Kritik, die Steinweg in seine Sammlung aufgenommen hat, und diese Kritik fällt besonders schroff ablehnend aus, weil für David Josef Bach das Einverständnis des Jungen Genossen mit seiner Auslöschung nichts weiter ist als eine zynische Glorifizierung eines politischen Mordes. Aber auch die kommunistischen Kritiker hatten an Brechts Stück unendlich viel auszusetzen und wiesen es letztlich als »unmarxistisch« und »kleinbürgerlich-idealistisch« zurück, sodass sich die Aufführung der Massnahme letztlich zwar nicht als ein ästhetisches, aber sehr wohl als ein ideologisches Desaster erwies. Dass die ideologische Auseinandersetzung um dieses Stück v. a. auf der politischen Linken mit einer solchen Härte geführt worden ist, liegt wohl in erster Linie daran, dass es bei diesem Streit um die Massnahme auch darum ging, wer die Kriterien bestimmte, nach denen sich die Kulturarbeit der deutschen Arbeiterbewegung zu richten habe, ob diese ideologisch-ästhetische Meinungs-führerschaft also bei der KPD oder bei der SPD und in deren Gefolge bei den Gewerkschaften liegen solle, und in diesem Streit spielten die Arbeiter-Gesangvereine eine besonders wichtige Rolle, genauso wie dies ja auch im Stück selbst der Fall ist. Seine besondere Schärfe erhielt dieser Streit durch die von Stalin und Sinowjew schon sehr früh verkündete »SozialfaschismusThese« 7, also durch die Behauptung, die Sozialdemokratie sei nichts anders als der linke Flügel des Faschismus, weshalb es für die kom346 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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munistischen Parteien in erster Linie darum gehen müsse, die Sozialdemokraten zu bekämpfen. Diese absurde These galt noch um 1930 und bestimmte deshalb auch die Kulturpolitik der deutschen Kommunisten und damit eben auch den Kampf um die Hoheit bei den deutschen Arbeiter-Gesangvereinen und den Sprechchor-Ensembles. Doch all diese inner-marxistischen Streitigkeiten sollen uns hier nicht weiter beschäftigen, weil unser Interesse sich vornehmlich auf die Frage richten soll, welche Aspekte in dieser öffentlichen Debatte um Brechts Lehrstück zur Sprache kamen, die uns selber helfen können, diesen Text besser zu verstehen, im Idealfall sogar besser zu verstehen, als Brecht selbst 8 ihn verstanden hat. Der schärfste Verriss aus ›bürgerlicher‹ Sicht stammt von dem Musikkritiker Alfred Einstein, den dieser unter dem Kürzel »A. E.« im liberalen Berliner Tageblatt veröffentlichtet und in dem er Brecht sein Stück buchstäblich um die Ohren haute. Für Einstein ist Die Massnahme »ein miserables Stück. Weil es unklar ist, weil es an die Vorstellungskraft der primitiven Gemüter, an die es sich wendet, viel zu hohe Ansprüche stellt – die vier angeklagten Agitatoren müssen stets in neue Rollen schlüpfen –, weil es eine so papierene Sprache spricht wie ein talentloser Leitartikel. Es ist so unklar, so lang und langweilig, dass es nicht einmal seinen agitatorischen Zweck erreicht – die ängstliche Polizei kann es laufen lassen, so viel es will.« 9

Diesen Fundamentalverriss begründet Einstein aber nicht nur ästhetisch, sondern vor allem auch politisch, weil er in diesem kommunistischen Lehrstück offenbar auch ein Dokument für die mentalitätsgeschichtlichen Wende der Weimarer Republik und ihr Abdriften in Richtung einer totalitären Diktatur sah, wobei ihm der Totalitarismus von links nicht weniger gefährlich erschien als der von rechts, und deshalb nennt er Kommunisten und Nationalsozialisten auch ungeniert in einem Atem: »Die ›Maßnahme‹ – was für eine schöne Anleihe des Dichters Bert Brecht bei der scheußlichsten polizeilichen Büro-Sprache – ist die Tötung eines Genossen aus Gründen der kommunistischen (nationalsozialistischen) Parteitaktik oder Parteidisziplin. (Denn darüber, liebe Freunde, sind wir uns doch alle klar: dieser ganze Vorgang braucht statt des kommunistischen nur mit dem Vorzeichen des Hakenkreuzes versehen zu werden, und er läuft auch dann genau so ab, nur heißt er dann: Fememorde. Denn der Genosse würde auch ohne sein ›Einverständnis‹ gekillt werden.)« (S. 334 f.)

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Ähnlich scharf urteilt später auch David Josef Bach, der Musikkritiker und Feuilletonchef der Wiener Arbeiter-Zeitung, dem Organ der SPÖ, nach der Wiener Aufführung vom 20. 9. 1932 und begründet seine totale Ablehnung von Brechts Lehrstück mit dem Argument: »Es lehrt einfach die Jesuitenmoral: der Zweck heiligt die Mittel. Es lehrt nationalsozialistische Moral: alles ist erlaubt, und nur die Gewalt kann helfen. Wenn die Agitatoren sich unkenntlich machen, ›ihr Gesicht auslöschen‹, so löschen sie auch das Menschliche aus und das Recht des einzelnen auf Menschlichkeit und Menschheit. Diese Anschauung stammt noch aus der Zeit der ›Kollektivseele‹.« (S. 401)

Das von Einstein angeführte Argument, dass der Junge Genosse auch ohne sein Einverständnis getötet worden wäre, gilt aber nur, wenn wir in der Massnahme allein eine stalinistische Tragödie bzw. eine Tragödie des Stalinismus in der Art wie Heiner Müllers Philoktet vor uns hätten, das sein tragisches Potential aus dem »gräßlichen Fatalismus der Geschichte« (Büchner) bezieht, und nicht ein Stück, in dem und mit dem Brecht seine eigene weltanschauliche Um- und Neuorientierung ausagieren wollte, was das Einverständnis des Jungen Genossen zwar nicht aus dramaturgischen, sehr wohl aber aus individualpsychologischen Gründen zwingend nötig macht. Der Junge Genosse musste also geopfert werden, und er musste damit auch einverstanden sein, und die Handlung musste so geführt werden, dass der Junge Genosse sich in den Augen der anderen Genossen schuldig machte und seine Opferung gleichsam als den Höhepunkt seines individuellen Heilsplans herauf-beschwor und dadurch dieses Lehrstück von einer stalinistischen Tragödie in ein säkulares Passionsstück umfunktionierte, das auch mit dem ars-moriendi-Choral von Heinrich Isaak hätte enden können, den der Junge Genosse andächtig singt, während seine Genossen ihn abknallen: Mein’ Zeit ist nun vollendet, der Tod das Leben endet, Sterben ist mein Gewinn. Kein Bleiben ist auf Erden, das Ewig muss mir werden; mit Fried und Freud fahr ich dahin. (…) Drum will ich fröhlich sterben, das Himmelreich ererben, wie er mirs hat bereit; hier mag ich nicht mehr bleiben,

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der Tod tut mich vertreiben; mein Seele sich vom Leibe scheidt. 10

Wie man sieht, hatte Brecht um 1930 seine christlichen Anfänge 11 immer noch nicht ganz vergessen, weil er immer noch Gestalten schuf, die von sich sagen können: »Wir opfern uns gern.« Doch bei dieser Betrachtung bleibt unentschieden und wohl auch unentscheidbar, ob der Junge Genosse sich für seinen Autor opfert oder ob der Autor ihn statt seiner selbst opfert. Alfred Einstein verweist in seiner Kritik auch noch auf die enge Verwandtschaft der Massnahme mit Kleists Prinz von Homburg, weil in beiden Stücken der Konflikt zwischen Spontaneität und Disziplin die Handlung bestimmt, aber auch dieser Verweis auf einen der Gipfelpunkte deutscher Literatur ist durchaus nicht als Kompliment gemeint, weil Einstein auch dieses Stück offenbar nicht sonderlich schätzte, denn: »Wo ist mir dergleichen doch schon vorgekommen? Wo hat dieser Konflikt doch schon seine klassische Lösung gefunden? Richtig: Heinrich von Kleist, »Prinz von Homburg«; ob kommunistische, ob militärische Disziplin, gilt ganz gleich. Da hat auch einer nicht genügend Disziplin gehalten und zu wenig seinen Verstand sprechen lassen: ja, auch das Einverständnis mit der eignen Tötung ist vorhanden. Bert Brechts »Maßnahme« ist ein Lehrstück des kommunistischen Militarismus, des Militarismus in Reinkultur. Aber Lehrstück hin oder her, Diskussionsthema hin oder her – es ist ein miserables Stück.« (S. 335)

Über diesen Vergleich mit Kleists Prinz von Homburg 12 dürfte sich Brecht gewaltig geärgert haben, da ihm Kleists Werk und insbesondere dieses Stück immer extrem fremd geblieben sind, weshalb er eigens ein Sonett geschrieben hat, um Kleist und sein Stück zu verhöhnen: O Garten, künstlich in dem märkischen Sand! O Geistersehn in preußischblauer Nacht! O Held, von Todesfurcht ins Knien gebracht! Ausbund von Kriegerstolz und Knechtsverstand! Rückgrat, zerbrochen mit dem Lorbeerstock! Du hast gesiegt, doch war’s dir nicht befohlen. Ach, da umhalst nicht Nike dich. Dich holen Des Fürsten Büttel in den Block. So sehen wir ihn denn, der da gemeutert

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Mit Todesfurcht gereinigt und geläutert Mit Todesschweiß kalt unterm Siegeslaub. Sein Degen ist noch neben ihm: in Stücken. Tot ist er nicht, doch liegt er auf dem Rücken Mit allen Feinden Brandenburgs in Staub. (S. 268 f.)

Nicht weniger als über die Kritik von Alfred Einstein dürfte sich Brecht über die von Lutz Weltmann geärgert haben, die in der liberalen Zeitschrift Die Literatur erschien, aber nicht die Uraufführung der Massnahme im Auge hatte, sondern den Abdruck des Textes im Sonderheft der Versuche von 1930. Weltmann untersucht dort Brechts Lehrstücke im Kontext seiner bis dahin vorliegenden dramatischen Werke und kommt dabei zu dem Ergebnis, Die Massnahme diene wohl in erster Linie der Selbstbelehrung des Autors, weshalb dieses profane Passionsspiel auch so stark an das Schultheater der Jesuiten in der Epoche der Gegenreformation erinnere, denn: »Aufersteht in dem von Schülern für Schüler zu spielenden »Jasager« das Schultheater der Jesuiten, lehrend, wie der Einzelne von der Aufopferung für die Familie zum Opfer für die Gemeinschaft sich fortentwickeln muss, so bildet die »Maßnahme« das Oratorium, die Tragödie der Antike und den Film weiter. (…) Es ist ein neues Ethos, wenn die Hinrichtung nicht vollzogen wird, ehe der Verurteilte zur Maßnahme der Genossen ja gesagt hat.« (S. 362)

Diese demonstrative Verkündung eines kommunistisch-jesuitischen Kadavergehor-sams gegenüber einer Instanz, die sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnt, scheint Weltmann tief irritiert zu haben, weil er den Eindruck hatte, in dem von der kommunistischen Partei für sich reklamierten Anspruch auf Unfehlbarkeit melde sich eine ganz neue »Hybris« (S. 362) zu Wort, weshalb ihn der pfäffische Grundton des Stücks auch gewaltig störte, denn: »Brecht schwört wie die Agitatoren der »Maßnahme« und die Partei auf die Schriften der ›Klassiker‹, d. h. der marxistischen, wie auf das Evangelium.« (S. 362)

Natürlich ist der Anspruch der Kommunistischen Partei, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein und sich deshalb auch nicht irren zu können, genau wie der analoge Anspruch der Katholischen Kirche tatsächlich die pure Hybris. Doch in diesem Stück muss sie eben verkündet, muss sie geglaubt und aufs neue verkündet werden, weil sein Autor sich sonst nicht aus seiner »ontologischen Unsicherheit« (Dre-

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wermann) hätte lösen und sich zu einem neuen Selbstverständnis und Selbstverhältnis hätte durchringen können. Genau dies scheint Weltmann auch geahnt zu haben, weil er seine Besprechung mit den nachdenklichen Sätzen beendet: »Warum hat man bei diesem »Versuch« das Gefühl, dass er vielleicht das Drama von morgen vorwegnimmt? Weil der Kommunismus für Brecht, der als Parteimitglied vielleicht ein unsicherer Kantonist sein mag, eine kultische Bindung bedeutet – wie der Katholizismus für die Romantiker. Aber auch, weil die »Maßnahme« auf der Linie von Brechts Entwicklung liegt. Schon bei seiner Lyrik, seiner zwingendsten dichterischen Ausdrucksform, gab es Gebrauchsan-weisungen 13, die praktischen Werkcharakter haben. In der – im Format verfehlten – Schnurre »Mann ist Mann« brachen die Kollektiv-Idee und die Lustspielhandlung noch auseinander, in der »Maßnahme« decken Form und Inhalt einander, in der Klarheit seiner Sprache ist Ausdruck, in ihrer Sachlichkeit Form. Hier ist dramatische Morgenluft.« (S. 363)

8.5.3.4 Die kommunistische Rezeption der Massnahme Wichtiger als die bisher dargestellte ›bürgerliche‹ Kritik der Massnahme ist für unsere Fragestellung allerdings die Kritik von kommunistischer Seite, aber nicht deshalb, weil diese von vornherein kompetenter wäre, sondern allein deswegen, weil sie zeigt, ob Brecht mit seinem Stück tatsächlich auch dort angekommen war, wo er ankommen wollte und ob er in seinem Stück die Kommunistische Partei tatsächlich auch so dargestellt hatte, wie diese selbst sich sah bzw. wie diese selbst gesehen sein wollte. Doch das war offensichtlich nicht der Fall, denn die marxistische Kritik war letztlich noch weit negativer als die ›bürgerliche‹ und in einigen Fällen wirklich vernichtend. Schon die erste Kritik in der Parteizeitung Die Rote Fahne, die ohne Verfassernamen erschien und damit wohl andeuten sollte, dass hier nicht irgendein einzelner Genosse spricht, sondern die Stimme der Partei selbst, kommt zu dem Ergebnis, die Aufführung sei vom Stand der Arbeitersängerbewegung her gesehen, aber eben auch nur von dorther, »eine Aufführung von epochaler Bedeutung« (S. 338), aus der Sicht der Partei jedoch rundweg abzulehnen, denn: »Wir halten diese ganze Konzeption für falsch und unmarxistisch.« (S. 337) Um dem Autor, der ausdrücklich nicht als Genosse angesprochen wird, aber noch eine Brücke zu bauen, fügt diese anonyme Stimme

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der Partei aber noch etwas gönnerhaft hinzu: »Doch darüber wird man noch mit Brecht kameradschaftlich zu sprechen haben.« (S. 337) Die zweite Kritik in der Roten Fahne, die ein paar Tage später erschien und mit dem sprechenden Pseudonym »Durus« 1 abgezeichnet ist, hinter dem sich ein Alfred Kemény verbirgt, kommt zu dem gleichen negativen Urteil, argumentiert jedoch etwas differenzierter, indem sie direkt die Frage nach dem effektiven »Lehrwert« (S. 341) dieser ganzen Unternehmung stellt, die Aufführung im Rahmen der kommunistischen Bemühungen um eine eigenständige Arbeiter-Kultur sieht und dann zu dem Ergebnis kommt: »Eine entscheidende revolutionäre Bedeutung hat die Einstudierung und die Aufführung für die deutsche Arbeitersängerbewegung. Die »Maßnahme« ist in Deutschland das erste von Arbeiterchören aufgeführte, abendfüllende Chorwerk mit einer Tendenz: im marxistisch-leninistischem Sinne zu belehren. Dies gelingt auch dort, wo das Erlebnis der revolutionären Theorie übermittelt wird (Lob der Partei, der Illegalität, Song über Angebot und Nachfrage); misslingt aber dort, wo das Erlebnis der revolutionären Praxis einsetzen sollte. Die Belehrung erfolgt auf der Grundlage einer konstruierten Handlung. Falsch ist vor allem die Erschießung des jungen Genossen, da es den Tatsachen der revolutionären Wirklichkeit widerspricht und einen kaum möglichen extremen Fall darstellt; schief ist, dass ein gefühlsmäßig unklarer Genosse von erprobten Bolschewisten zu immer schwierigeren Aufgaben herangezogen wird. Trotz dieser Fehler ist aber die Aufführung ein für die deutsche revolutionäre Bewegung politisch und künstlerisch außerordentlich wichtiger erstmaliger Versuch.« (S. 342)

Die individualpsychologische Betrachtung von Werk und Autor, wie sie Lutz Weltmann angestellt hatte, findet sich aber auch in einigen kommunistisch orientierten Kritiken, denn der österreichische Kommunist Paul Friedländer kommt in dem linken Berliner Boulevardblatt Die Welt am Abend zu einem ganz ähnlichen Ergebnis wie Lutz Weltmann, argumentiert aber noch etwas genauer, denn er verweist erst einmal auf das Lehrstück Der Lindbergh-Flug und dessen »wirklich albernen Text« (S. 367) und wertet im Vergleich dazu Die Massnahme als gewaltigen Fortschritt in Brechts künstlerischer und ideologischer Enzwicklung, denn: »Eine Welt liegt zwischen der Verherrlichung eines Rekordfluges im Dienste des Imperialismus und der befeuernden Darstellung des Kampfes der Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Partei gegen die Imperialisten, gegen ihre Unterdrücker. Das kann nicht genug anerkannt werden. Und das ist

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eine außerordentliche Probe geistiger und künstlerischer Wandlung. Brecht hat in diesen zwei Jahren gelernt. Aber lernen und lehren ist zweierlei. Was will »Die Maßnahme« lehren? Sie will die Unterordnung des einzelnen unter die Partei, die Einordnung der Teilaktion in die große revolutionäre Bewegung lehren. Also ein Lehrstück der Parteidisziplin.« (S. 367 f.)

Dann referiert Friedländer kurz die Handlung und moniert, dass dieser Junge Genosse, obwohl er immer wieder versagt, trotzdem für immer größere Aufgaben eingesetzt wird, an denen er natürlich erneut scheitert: »Als hätte es nicht zum Einmaleins kommunistischer Parteitätigkeit gehört, ihn gleich von seinem Posten abzurufen. So wird das Lehrstück zum Zerrstück. Das Lehrbild der kommunistischen Parteiaktion und -disziplin wird zum Zerrbild.« (S. 368)

Auf die Frage, wie es zu diesem fatalen Zerrbild der kommunistischen Partei kommen konnte, weiß Friedländer nur die Antwort, dass Brecht die kommunistische Partei und ihre Arbeit von innen und aus eigener Erfahrung überhaupt nicht kenne, deshalb dieses Stück auch gar nicht als Beitrag zur Diskussion eben dieser Parteiarbeit geschrieben habe, weil sein Impuls, dieses Werk zu schreiben und dessen Handlung im Einverständnis des Jungen Genossen mit seiner Auslöschung gipfeln zu lassen, ein rein privater Impuls war, denn: »Brecht rechnet hier in einer zwar oberflächlichen, aber gefühlsstarken Weise mit seinem eigenen Individualismus ab. Er schafft ein Lehrstück für sich selbst, aber nicht für die klassenbewusste Arbeiterschaft.« (S. 368)

Diese individualpsychologische Argumentation, Brecht habe sich mit diesem Stück in erster Linie selbst belehren wollen, übernimmt dann auch Alfred Kemény in seiner zweiten Kritik, wenn er schreibt, Brechts Lehrstück sei »zwar ein epochales Werk« (S. 374), leide aber zu sehr an »ideologischen Mängeln« (S. 374), die sich sowohl aus der Biographie des Autors als auch aus der Entwicklung seines Gesamtwerks ergeben, denn: »Die »Maßnahme« ist ein Beispiel dafür, dass ein Stück, auf idealistischer Basis entstanden, unter bestimmten Umständen von entscheidender Bedeutung sein kann für die weitere Entwicklung der proletarisch-revolutionären Kunst. Und der Fall Brecht beweist, dass sich die verschärfte Krise des Kapitalismus bereits auf anarchistische Dichter auszuwirken beginnt. Sie werden unsicher in ihrer Ideologie, erkennen die historische Überlegenheit des Marxismus an, können sich aber in Fällen eines extremen Individualismus

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nur schwer für die Praxis des revolutionären Marxismus entscheiden.« (S. 371)

Und das heißt konkret: »›Die Maßnahme‹ ist ein idealistisches Lehrstück mit marxistischer Terminologie und mit marxistisch-leninistisch einwandfreien Einzelheiten. Die ideologische Klarheit einzelner weniger Ausschnitte und die Unklarheit in der großen Linie hat ihren Grund darin, dass Brecht sich wohl mit der T h e o r i e der proletarischen Revolution, den Werken der Klassiker des Marxismus eingehend auseinandergesetzt hat, die P r a x i s der proletarischen Revolution ihm aber bisher verschlossen blieb.« (S. 371 f.)

Doch diese Praxis, so Kemény, könne man eben nur lernen, wenn man sich den Mühen der tagtäglichen Parteiarbeit geduldig und ergeben unterziehe, was er Brecht offenbar nicht zutraute, und so kommt er zu dem nüchternen Fazit: »Es zeigt sich hier nun kraß, dass der höchste Grad der dichterischen Genialität (und Brecht ist ein genialer Kerl und »Die Maßnahme« ist ein geniales Werk) die Beherrschung der revolutionären Theorie (und Brecht hat sich in der Erfassung des Marxismus in verhältnismäßig kurzer Zeit meisterlich bewährt) den Mangel an eigenen revolutionären Erlebnissen und Erfahrungen nicht ersetzen kann. Der Dichter mag noch so viele Werke der Klassiker des Marxismus gelesen haben, er wird kein kommunistischer Dichter werden, wenn er nicht zu einem Kämpfer für den Kommunismus wird, mit allen Konsequenzen auch der organisatorischen Bindung an die revolutionäre Vorhut der kämpfenden Arbeiterklasse. Ohne revolutionäre Theorie kann es auch in der proletarisch-revolutionären Literatur und Musik keine revolutionäre Praxis geben. Aber ohne revolutionäre Praxis wird die revolutionäre Theorie auf beiden Füßen hinken, so in der Praxis der unmittelbaren Politik, wie in der Praxis der revolutionären Literatur. Theoretisch klar ist Brecht in der »Maßnahme« dort, wo er Grunderkenntnisse und Grundgedanken des Marxismus reproduziert (z. B. »Song von Angebot und Nachfrage«). Als die Denkweise eines unmarxistischen Idealisten entpuppt sich seine Denkweise, wo er sich selbst reproduziert (z. B. »Ändere die Welt, sie braucht es«). Der Text der »Maßnahme« in seiner Gesamtheit ist eine Vergewaltigung der revolutionären Wirklichkeit durch gehirnliche Konstruktionen.« (S. 372)

Wie man weiß, ist Brecht dieser Aufforderung, möglichst schnell in die Kommunistische Partei einzutreten und dort brav und ergeben konkrete Parteiarbeit zu leisten, weder damals um 1930 noch später je gefolgt, und so ging Keménys Appell völlig ins Leere. Brecht wollte 354 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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sich letztlich eben doch nicht zähmen lassen, und schon gar nicht von Leuten, die diesen oberlehrerhaften Ton anschlugen, und so zeigte sich wiederum Kemény recht hellsichtig mit seiner Feststellung: »Im allgemeinen ist der Marxismus für Brecht noch keine alles umfassende Weltanschauung, nur eine ökonomisch-politische. So ist es zu erklären, dass er einstweilen neben der Produktion von marxistisch-revolutionären Lehrstücken von der Herstellung bürgerlich-anarchistischer Theaterstücke nicht abrücken will.« (S. 373)

Die ausführlichste, gründlichste und gleichsam hochoffizielle Kritik von kommunistischer Seite stammt von Alfred Kurella, einem Kulturfunktionär der KPD und der Komintern, der sich als Wächter und Hoher Priester der jeweils offiziellen Parteilinie in Fragen der Literatur verstand und die exakte Befolgung dieser Parteilinie dann von den Autoren auch mit allem Nachdruck einklagte. Hochoffiziell war diese Kritik Kurellas insofern als sie in der Zeitschrift Literatur der Weltrevoultion in Moskau erschien, deren Aufgabe darin bestand, die jeweilige offizielle Leitlinie für kommunistische Literatur weltweit vorzugeben und deren Befolgung auch zu überwachen. Kurella geht in seiner Kritik so vor, dass er erst sehr ausführlich die Handlung der Massnahme referiert, dann der Frage nachgeht, bei welchen von den Gestalten des Stück linksradikale oder rechts-opportunistische Abweichungen 2 moniert werden müßten, und kommt erst dann zu seinem eigentlichen Thema, nämlich zur Frage, warum dieses Werk so ganz und gar misslungen sei, und hier liegt er ganz auf der Linie, die sich schon in den Kritiken von Friedländer und Kemény gezeigt hatte und lautet schlicht, Brecht und Eisler hätten sich zwar einiges von Marx angelesen, den Kommunismus aber »idealistisch« verstanden und damit völlig missverstanden, und vor allem hätten sie von Lenins dialektischem Materialismus nicht die geringste Ahnung, denn: »Eine idealistische Grundauffassung geht durch das ganze Stück hindurch. Am deutlichsten kommt sie zum Ausdruck in der Auffassung des Kommunismus und der kommunistischen Partei. Der Kommunismus ist für die Autoren eine Idee, er besteht in der »Lehre der Klassiker«. Das macht seine Stärke aus. Das ist die Grundlage der Partei. Wenn das Stück die Partei verherrlicht (und diese Stellen sind dichterisch wie auch musikalisch von großer Schönheit) und die Unterordnung des Einzelnen unter die Partei fordert, so geschieht es, weil die Partei »Die Lehre« verkörpert. Ja der Bestand und die Unzerstörbarkeit der Partei beruht, nach Meinung der Autoren, nicht darauf, dass diese Partei das Proletariat darstellt,

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die aufsteigende, zur Herrschaft berufene Klasse, die nicht vernichtet werden kann, es sei denn, dass die ganze Gesellschaft in der Barbarei untergehe, sondern wiederum »auf die [sic!] Lehre der Klassiker«.« (S. 384)

Diese »idealistische Entstellung« (S. 385) der Rolle der Partei kann sich Kurella nur durch die bürgerliche Herkunft der beiden Autoren Brecht und Eisler 3 erklären, also durch die »klassenmäßigen Wurzeln dieser idealistischen Betrachtungsweise« (S. 385), weshalb er zu dem Fazit kommt: »Wir haben hier den idealistischen Rest der Denkweise des radikalen Kleinbürgers vor uns, den die Erfahrung aus dem Lager der Bourgeoisie zum Proletariat treibt.« (S. 385)

Das aber ist laut Kurella noch lange nicht genug, weil ein »kleinbürgerlicher Revolutionär« (S. 380) wie Brecht oder Eisler den Kommunismus überhaupt erst verstanden habe, wenn er sich selbst als Person ganz in den jeweils aktuellen Klassenkampf eingegliedert und konkrete Parteiarbeit geleistet habe. Und weil dies v. a. bei Brecht nicht der Fall sei, habe sich für ihn gleichsam unter der Hand die Parteiarbeit der vier Agitatoren und insbesondere das Verhalten des Jungen Genossen auf die rein theoretische Frage nach dem »Primat des Verstandes über das Gefühl« (S. 387) verschoben: »›Dem Verstand folgen ist richtig – dem Gefühl folgen ist falsch‹, das ist die eigentliche Lehre des Stückes und aus dieser grundfalschen, unmarxistischen Fragestellung, die im Anfang der Konzeption des ganzen Stückes steht, ergeben sich alle Fehler der Erfindung, des Aufbaus, der Durchführung und der Formulierung der »Lehren« des Stückes.« (S. 387)

Das für die ›bürgerliche‹ und sozialdemokratische Kritik so verstörende Thema der Opferung des Jungen Genossen ist für Kurella hingegen kein zentrales Thema. Er erwähnt es zwar kurz als Frage, ob man einen Genossen, »der für die gemeinsame Sache arbeitet, im Interesse der gemeinsamen Sache« (S. 386) töten dürfe, schiebt dieses Problem dann aber mit der Bemerkung zur Seite, das sei wohl eher ein Thema, das »mehr in der künstlerischen Biographie Brecht’s« (S. 386) anzusiedeln sei, also in den Stücken und Gedichten, die Brecht vor der Massnahme geschrieben habe. Für den Erzstalinisten Kurella ist die Liquidierung des Jungen Genossen schon deshalb kein Thema und kaum der Erörterung wert, weil Fragen dieser Art für ihn schon längst durch Lenin entschieden 356 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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worden waren, denn Lenin hatte schon 1920 den Rahmen einer »kommunistischen Moral« 4 abgesteckt, innerhalb dessen sich solche Entscheidungen beim aktiven Klassenkampf zu bewegen hätten. Auf diese Moral Lenins hatte ja schon David Josef Bach in seiner Kritik der Massnahme angespielt, als er schrieb, die Lehre dieses Lehrstücks sei eine »Jesuitenmoral: der Zweck heiligt die Mittel« (S. 401) und zugleich eine »nationalsozialistische Moral: alles ist erlaubt« (S. 401), denn Lenin hatte damals dekretiert: »Wir verneinen jede Sittlichkeit, die aus übernatürlichen klassenlosen Begriffen abgeleitet wird. Wir erklären das für einen Betrug, für einen Schwindel, für eine Verdummung der Arbeiter und Bauern im Interesse der Gutsbesitzer und Kapitalisten. Wir erklären, dass unsere Sittlichkeit vollkommen den Interessen des proletarischen Klassenkampfes untergeordnet ist. Unsere Sittlichkeit leiten wir aus den Interessen des proletarischen Klassenkampfes ab.« (S. 302)

Mit diesem Imperativ des Klassenkampfes unter dem Titel »Roter Terror« hatte Lenin faktisch jedem Kommunisten im konkreten Klassenkampf die Entscheidung über Leben und Tod seiner Mitgenossen anheimgestellt, allerdings mit der Auflage, diese Entscheidung sowohl an der jeweils aktuellen Generallinie der Partei als auch an der jeweiligen konkreten Situation auszurichten, beide miteinander zu vermitteln und dabei objektiv und unbestechlich zu bleiben. Weil Kurella diese Kriterien leninistischer Moral in Brechts Text vergeblich suchte und in dem Konflikt zwischen Gefühl und Verstand stattdessen nur eine typisch »bürgerliche-idealistische« fand, kommt er zu dem vernichtenden Schluss, Brecht schleppe noch viel zu viel an bürgerlicher Ideenwelt mit sich herum: »Eine der Erscheinungsformen des Kampfes von bürgerlicher und proletarischer Ideologie in den Köpfen der zur Revolution kommenden bürgerlichen Intellektuellen ist das Auftreten von Konflikten zwischen Verstand und Gefühl. Eine besondere Rolle dabei spielt übrigens immer die Frage des roten Terrors und der Anwendung der Tötung. Wenn der Intellektuelle schon gedanklich durchaus die Richtigkeit der kommunistischen Gedanken verstanden hat, so lehnt sich noch sein Gefühl gegen viele praktische Maßnahmen der kommunistischen Partei auf. Der Widerstreit zwischen Verstand und Gefühl ist also ein Grunderlebnis des bürgerlichen Intellektuellen, der eben im Begriffe ist, sich dem revolutionären Proletariat anzuschließen.« (S. 390)

Wie man sieht, orientiert sich Kurellas Ideal des kommunistischen 357 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Funktionärs deutlich am Typus des Monsieur Teste, der ja, wie wir wissen, »ein reiner Denkmensch ohne Affekte« ist und deshalb diese Skrupel gar nicht kennen kann. Und dann zieht Kurella sein endgültiges Fazit mit den Sätzen: »Wäre das Lehrstück richtig angepackt worden, hätten die Autoren den Widerspruch von Gefühl und Verstand beim Revolutionär mit den Mitteln der materialistischen Dialektik [also im Rahmen der von Lenin vorgegeben Richtlinien kommunistischer Moral, L. P.] dargestellt, wie wir es oben angedeutet haben, so könnte man das Werk gar nicht genug begrüßen. In dieser idealistischen Fragestellung allerdings ist es ein typisch kleinbürgerliches, intellektualistisches Werk.« (S. 390 f.)

Dieses Urteil von höchster Stelle war für einen Sympathisanten des Kommunismus, als den Brecht sich ja verstand, schlichtweg vernichtend, denn er wurde mit diesem Urteil von der Partei, der er sich hatte andienen wollen, schroff zurückgewiesen und befand sich damit genau in der Situation des Piloten im Badener Lehrstück vom Einverständnis, der vom gelehrten Chor davongejagt wird: Jetzt musst du weggehen. Gehe rasch! Blick dich nicht um, geh Weg von uns. (S. 30)

Brecht war denn auch tief beleidigt und brach seine Beziehung zu Kurella mit dem Satz ab: »Sie san mei Freind net mehr!« 5 Dieser Groll auf den Genossen Kurella hielt noch lange an und brachte Brecht dazu, sich an Kurella auch in literarischer Form zu rächen, indem er ihn in einem höhnischen Gedicht als den Großinquisitor der Parteilinie in Dingen der Literatur darstellt und dieses Gedicht als eine Laudatio auf den Genossen Kurella zu dessen 40. Geburtstag maskiert, und dieses Gedicht zitiert man wirklich gern, denn es lautet: 1

EIN GLAS WASSER FÜR DEN GENOSSEN ALFRED! Er soll die Wahrheit erfahren! Geht vorsichtig um mit dem Genossen Alfred! Sprecht nicht zu hart mit dem Genossen Alfred! In der Partei seit siebenzehn 6 Jahren! 2 Ein Fehler bei dem Genossen Alfred!

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Bilanz der Lehrstücks-Phase

Aber worin, aber wodurch, aber wieso? Das ist doch ausgeschlossen bei dem Genossen Alfred! Da fragt ihr doch am besten einfach den Genossen Alfred! Es war sicher wieder nur das Büro! 3 Einen Posten für den Genossen Alfred! Er hat immer das Beste gewollt! Und der Posten ist der beste für den Genossen Alfred! Drum den Posten für den Genossen Alfred! Unsern ältesten Linienbold! (S. 1090 f.)

Wie tief Brechts Groll auf Kurella gewesen sein muss, geht auch aus einer Tagebuch-Notiz von Walter Benjamin vom Sommer 1938 hervor, als dieser Brecht in dessen Exil in Dänemark besuchte, also kurz nach dem Ende der Expressionismus-Debatte 7 und auf dem Höhepunkt der Moskauer Schauprozesse 8. Und da sich natürlich auch Kurella in die Expressionismus-Debatte eingemischt und dabei die absurde These verkündet hatte, der deutsche Expressionismus sei die Vorstufe des Nationalsozialismus 9 gewesen, notierte Benjamin in seinem Tagebuch: »Wir kamen auf die russische Literaturpolitik. ›Mit diesen Leuten‹, sagte ich, mit Beziehung auf Lukács, Gabor, Kurella, ›ist eben kein Staat zu machen.‹ Brecht: ›Oder nur ein Staat, aber kein Gemeinwesen. Es sind eben Feinde der Produktion. Die Produktion ist ihnen nicht geheuer. Man kann ihr nicht trauen. Sie ist das Unvorhersehbare. Man weiß nie, was bei ihr herauskommt. Und sie selber wollen nicht produzieren. Sie wollen den Apparatschik spielen und die Kontrolle der andern haben. Jede ihrer Kritiken ist eine Drohung.‹« 10

8.6 Bilanz der Lehrstücks-Phase Dass Brecht nach der Massnahme keine nennenswerte Lehrstücke mehr geschrieben hat, sondern nur noch ›normale‹ kommunistische Agitprop-Stücke wie Die Mutter oder Die Gewehre der Frau Carrar könnte darauf hindeuten, dass diese Form der marxistischen Belehrung und der indirekten marxistischen Selbstbelehrung zumindest für ihn selbst ein abgeschlossenes Kapitel war, das er vielleicht auch abgeschlossen hätte, wenn die kommunistischen Linienbolde ihn nicht so rüde zurückgewiesen hätten. So gesehen ist es auch erklärlich, dass er einfach nicht mehr den 359 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

VIII · Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden

Impuls verspürte, aus seinem Baal unter dem Titel Der böse Baal der asoziale in einer wiederum neuen Fassung ein Lehrstück zu machen, und deshalb notiert er unter dem 4. März 1939: »Heute begriff ich endlich, warum es mir gelungen ist, die kleinen Lehrstücke von den Abenteuern des »Bösen Baal, des assozialen« herzustellen. Die assozialen Leute spielen keine Rolle. Es sind einfach die Besitzer der Produktionsmittel und sonstigen Lebensquellen, und sie sind es nur als solche. Natürlich sind es auch ihre Helfer und Helfershelfer, aber eben auch nur als solche. Es ist gerade d a s Evangelium des Feindes der Menschheit, dass es assoziale Triebe gibt, assoziale Persönlichkeiten usw.« 1

Und unter dem 7. März 1941 notiert er: »Der große Irrtum, der mich hinderte, die Lehrstückchen vom »Bösen Baal dem assozialen« herzustellen, bestand in meiner Definition des Sozialismus als einer g r o ß e n O r d n u n g . Er ist hingegen viel praktischer als g r o ß e P r o d u k t i o n zu definieren. Produktion muss natürlich im weitesten Sinn genommen werden, und der Kampf gilt der Befreiung der Produktivität aller Menschen von allen Fesseln. Die Produkte können sein Brot, Lampen, Hüte, Musikstücke, Schachzüge, Wässerung, Teint, Karakter, Spiele usw. usw.« 2

Diesen reichlich kryptischen Notizen lässt sich eigentlich nur und auch nur mit aller Vorsicht entnehmen, dass Brecht seinen Baal, den er ja immer als überaus fruchtbaren Produzenten, aber nicht als Eigentümer von Produktionsmitteln verstanden und dargestellt hatte, der andere damit für sich produzieren lässt, nicht als eine asoziale Gestalt sehen und darstellen konnte, und schon gar nicht als eine asoziale Gestalt in einem Sozialismus, der als ein Gesellschaftssystem zu verstehen wäre, das alle Produktivkräfte aller Menschen freisetzt und sich entfalten lässt. Oder anders formuliert: In einem so verstandenen Sozialismus könnte es Asozialität gar nicht geben, auch nicht für einen Baal. So gesehen konnte Brecht später wieder problemlos und mit gutem Gewissen zu den beiden ersten Fassungen seines Baal zurückkehren und daraus eine letzte Fassung erstellen. Mit dem Ende der Lehrstück-Phase war für Brecht offenbar auch die Hypothek Stirner abgearbeitet, von der seine marxistischen Kritiker vielleicht sogar eine dunkle Ahnung hatten, weil sie, wie wir gesehen haben, des öfteren auf den anarchistisch-individualistischen Zug in seinen frühen Werk hingewiesen haben. Das heißt aber noch lange nicht, dass Brecht dadurch auch ein praktizierender Partei-Kommunist geworden wäre, denn da er den 360 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Bilanz der Lehrstücks-Phase

Kommunismus nur in der damaligen latent stalinistischen deutschen Variante vor Augen haben konnte, machte dieser es ihm auch reichlich schwer, von ihm akzeptiert und praktiziert zu werden, weil sich schon im November 1932 KPD und NSDAP zu einem Aktionsbündnis zusammenschlossen, um den Streik in den Berliner Verkehrs-betrieben 3 zu organisieren, der gegen die SPD, gegen die Gewerkschaft und letztlich gegen die Weimarer Republik überhaupt gerichtet war, um diese in die Knie zu zwingen. Und so ein fatales Bündnis konnte Brecht nun mal nicht gefallen! Wenn man will, kann man in diesem Bündnis zwischen NSDAP und KPD schon die Vorwegnahme des Hitler-Stalin-Paktes vom August 1939 im kleinen sehen, genauso, wie man die Liquidation des Jungen Genossen schon als Vorwegnahme der Moskauer Schauprozesse 4 deuten kann. So gesehen wirkt es dann reichlich blauäugig, wenn Brecht in einem Rollengedicht von 1932 sich zum Mitkämpfer in einer Kolonne des Rotfrontkämpferbundes stilisiert und die »Rote Einheitsfront« 5 beschwört, weil 1932 ja immer noch Stalins These vom »Sozialfaschismus« die Linie der kommunistischen Parteien bestimmte und deshalb die SPD zum Hauptfeind erklärt hatte. Trotzdem heißt es in diesem Gedicht: ALS DER FASCHISMUS IMMER STÄRKER WURDE in Deutschland Und sogar die Massen der Arbeiter ihm immer mehr zuströmten Sagten wir uns: unser Kampf war nicht richtig. Durch das rote Berlin gingen frech zu vieren und fünfen Nazis, neu uniformiert, und erschlugen uns Die Genossen. Aber es fielen Leute von uns und Leute des Reichsbanners 6. Da sagten wir den Genossen von der SPD: Sollen wir dulden, dass sie die Genossen erschlagen? Kämpft mit uns in dem antifaschistischen Kampfbund! Wir bekamen die Antwort: Wir würden vielleicht mit euch kämpfen, aber unsere Führer Warnen uns, roten Terror gegen den weißen zu stellen. Täglich, sagten wir, schrieb unsere Zeitung gegen den Einzelterror Täglich aber auch schrieb sie: wir schaffen es nur durch Rote Einheitsfront. Genossen, erkennt doch jetzt, dieses kleinere Übel, womit man Jahre um Jahre von jeglichem Kampf euch fernhielt Wird schon in nächster Zeit Duldung der Nazis bedeuten. Doch in den Betrieben und auf allen Stempelstellen

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VIII · Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden

Sahen wir den Willen zum Kampf bei den Proleten. Auch im Osten Berlins grüßten Sozialdemokraten Uns mit Rot Front und trugen sogar schon das Zeichen Der antifaschistischen Aktion. Die Lokale Waren an den Diskussionsabenden übervoll. Und sofort wagten die Nazis Sich bald nicht mehr einzeln durch unsere Straßen Denn die Straßen zumindest sind unser Wenn sie die Häuser uns rauben. (S. 932 f.)

Allzu ernst kann Brecht die in diesem Gedicht formulierte politische Lage in Deutschland und die Gefahr des heraufkommenden Faschismus aber nicht genommen haben, weil er sich im gleichen Jahr 1932 in Utting am Ammersee 7 einen feudalen Landsitz kaufte und damit zum Ausdruck brachte, dass er gewillt war, die nächsten Jahre dort zu verbringen.

8.7 Weitere Aufkündigungen Neben der Hypothek Stirner gab es aber noch eine zweite, von der Brecht glaubte, er müsse sie endlich abarbeiten. Ich meine damit das christliche Erbe, das er seit seiner Augsburger Kindheit und Jugend mit sich herumgeschleppt hatte. Also entschloss er sich zu einem förmlichen kontrafaktischen Exorzismus, also zu einer veritablen Christus-Austreibung, und da er dafür eine paradigmatisch fromme Gestalt als Handlungsträger brauchte, der ihr Christentum ausgetrieben werden muss, entschied er sich für eine Heldin, die in der Heilsarmee tätig ist, orientierte sich ein bisschen an Schillers Stück über Jeanne d’Arc, dunkelte diese strahlende Heldin aber herab zu einer Johanna Dark und verlegte die Handlung in die Schlachthöfe von Chicago. Auf den ersten Blick gehört das Stück Die heilige Johanna der Schlachthöfe1, das Brecht in etwa gleichzeitig mit den anderen bisher behandelten Lehrstücken geschrieben hat, nicht in die Reihe dieser Stücke, schon aus formalen und dramaturgischen Gründen nicht. Wenn man aber, wie wir es bisher getan haben, die Zielsetzung der Lehrstücke nicht in erster Linie in der Fremdbelehrung und in der Propaganda für den Marxismus sieht, sondern in der Selbstbelehrung, Selbstbekehrung und Selbstvergewisserung und als Versuch, sich von eigenen früheren ideologischen Positionen abzunabeln, so 362 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Weitere Aufkündigungen

darf man auch das Johanna-Stück mit in diese Reihe aufnehmen und auch nach den gleichen Kriterien beurteilen, obwohl wir es hier, stoffund motivgeschichtlich gesehen, mit einer Art von Parodie auf eine Heiligenlegende zu tun haben. Auf diesen sehr privaten Impuls dazu, dieses Stück auf diese Weise zu schreiben, hat, soweit ich sehe, Ernst Schumacher als erster verwiesen, wenn er erst kurz die weltwirtschaftliche Lage nach dem Schwarzen Freitag darstellt und dann streng marxistisch und in enger Anlehnung an Kritiker wie Kurella und Kemény argumentierend fortfährt: »Die heilige Johanna der Schlachthöfe war aber nicht nur Ausdruck des Bemühens von Brecht, aktuelle, brennende, hochbedeutende Erscheinungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit literarisch zu bewältigen, sondern auch Ausdruck einer subjektiven ethisch-moralisch-politischen »Selbstverständi-gung«, wie wir sie bereits aus den »Lehrstücken« kennen. Brecht war mit Die Maßnahme und Die Mutter eindeutig auf die Seite der proletarisch-revolutionären Kräfte übergegangen, aber das hieß nicht, dass er sich schon in allen entscheidenden Punkten im wirklichen inneren »Einverständnis« mit der Praxis dieser Bewegung, vor allem mit der Handhabung der Gewalt-Theorie befunden hätte. Unter dieser inneren »Nötigung«, sich vor allem mit dieser Frage auseinanderzusetzen, verlieh Brecht daher dem Mädchen Johanna in verstärktem Maße jene kleinbürgerlichen, auf »Verstehen« und Verständigung der Klassen drängenden reformistischen Züge, mit denen in erster Linie die in das Lager des Proletariats übergehenden Intellektuellen fertig werden müssen. Wie sehr die Problematik des Mädchens Johanna Brechts eigene war, wird sich daran zeigen, dass die Darstellung der proletarischen Kräfte und ihrer Praxis in dem Stück zu kurz kommt. Der »existentielle« Charakter der Fragestellung tritt zwar nicht mehr mit derselben Intensität in Erscheinung wie etwa in Die Maßnahme, aber Anlage und Gestaltung der Figur der Johanna lassen erkennen, dass Brecht mit der als schwierig geschilderten Loslösung der Johanna aus kleinbürgerlichen Illusionen auch ein zentrales subjektives Anliegen »sich vom Hals schaffte«, um einen Ausdruck des jungen Marx für diese Art Selbstverständigung zu gebrauchen.« 2

Dazu kommt, dass in diesem Stück gleich zwei Gestalten der Prozess gemacht wird, die nur allzugern ihrem Herzen folgen, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen, sodass die Maxime »Weh dem, der seinem Herzen folgt!« im Hinblick auf den Fleischkönig Mauler eher eine Ermahnung darstellt, im Hinblick auf die Titelheldin aber eine Klage, denn Johanna ist der sprichwörtliche Gute Mensch der Heiligenlegende, deren Herz sich vom Elend der Welt rühren lässt, wes363 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

VIII · Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden

halb sie sich auch der Heilsarmee anschließt, um auf diesem Wege dieses Elend zumindest ein wenig zu mildern, wohingegen der Fleischkönig Mauler ein sentimentaler Kotzbrocken ist, der sich nicht entblödet, von sich zu sagen, dass sein Herz »vor dem Gebrüll der Kreatur sich aufbäumt« (S. 25), auch mal angesichts des Elends in der Welt in Ohnmacht fallen kann (S. 27) und einmal sogar als scheinbar bekehrter Christ vor lauter Selbstzerknirschung zu einer förmlichen Reue-Arie ansetzt und dabei vor Selbstmitleid fast zu Rotz zerfließt: Ich klag mich an der Ausbeutung Missbrauchs der Gewalt, Enteignung aller Im Namen des Eigentums. Sieben Tage hielt ich Diese Stadt Chicago am Hals Bis sie verreckt ist. (…) Aber gleichzeitig führ ich an, dass ich am siebenten Alles von mir abtat, so dass ich jetzt Ohne Habe dasteh. Schuldlos nicht, aber bereuend. (…) Ja, und von Reue zerfleischt. (S. 122)

Worauf der Chor der Heilsarmisten nur genauso gerührt antworten kann: Wir haben erwartet mit Gebeten Den reichen Mauler, aber herein Trat der Bekehrte Sein Herz Trug er uns entgegen, aber sein Geld nicht. Darum ist unser Herz gerührt, aber Unsre Gesichter sind lang. (S. 123)

Die Handlung des Stücks, soweit sie uns hier interessiert, verläuft so, dass Johanna erst die Arbeiter und dann sogar Mauler selbst zum Christentum als der Religion des guten Herzens bekehren will. Dann versucht sie aus Mitleid mit den Arbeitern dabei mitzuhelfen, einen Streik zu organisieren, scheitert aber letztlich an all diesen Vorhaben bei diesem wiederholten Gang in die Tiefen des Elends und in die Kälte der Welt und holt sich dabei eine tödliche Krankheit. Erst sterbend kommt sie zu der Erkenntnis, die ihr die Arbeiter aber schon längst verraten hatten, die sie aber zuerst nicht wahrhaben wollte, »dass es nur mit Gewalt geht« und dass man sein Schicksal nicht in die Hand eines Gottes legen darf, sondern selbst in die Hand nehmen 364 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Weitere Aufkündigungen

muss (S. 108). Und so zieht sie denn, schon dem Tode nahe, die bittere Bilanz, während eine unheilige Allianz aus Heilsarmisten und Fabrikanten Johannas Apotheose organisiert und sie zur Heiligen der Schlachthöfe verklärt: Geredet habe ich auf allen Märkten Und der Träume waren unzählige, aber Den Geschädigten war ich ein Schaden Nützlich war ich den Schädigern. (…) Eines habe ich gelernt und weiß es für euch Selber sterbend: (…) Ich zum Beispiel habe nichts getan. Denn nichts werde gezählt als gut, und sehe es aus wie immer, als was Wirklich hilft, und nichts gelte als ehrenhaft mehr, als was Diese Welt endgültig ändert: sie braucht es. Wie gerufen kam ich den Unterdrückern! O folgenlose Güte! Unmerkliche Gesinnung! Ich habe nichts geändert. Schnell verschwindend aus dieser Welt ohne Furcht Sage ich euch: Sorgt doch, dass ihr die Welt verlassend Nicht nur gut wart, sondern verlasst Eine gute Welt! (S. 142 f.)

Da diese Behauptung, es genüge nicht, bloß ein guter Mensch zu sein, weil die Welt selbst gut sein müsse, den Heilsarmisten natürlich nicht gefallen kann, beschwören sie Johanna, wieder zu ihrem ehemaligen Gottvertrauen zurückzukehren, worauf diese aber zu einer großen Verfluchungs-Arie ausholt und dieses Gottvertrauen definitiv von sich weist, also ganz so, wie Kragler sich von seinen Kumpanen verabschiedet hatte oder der Junge Genosse in der Massnahme die Lehre der Klassiker verflucht, auf die er einst geschworen hatte. Aber anders als der Junge Genosse, der letztlich im Einverständnis mit seinen Genossen stirbt, aber ähnlich wie Kragler, der seine ehemaligen Kumpane mit seiner Lachkotze überschüttet, ist Johanna nicht bereit, sich mit ihren ehemaligen Mitstreitern aus der Heilsarmee und mit ihrem Gott wieder zu versöhnen, sondern stirbt mit einem Fluch auf den Lippen: Darum, wer unten sagt, dass es einen Gott gibt Und ist keiner sichtbar Und kann sein unsichtbar und hilft ihnen doch

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Den soll man mit dem Kopf auf das Pflaster schlagen Bis er verreckt ist. (…) Und auch die, welche ihnen sagen, sie könnten sich erheben im Geiste Und stecken bleiben im Schlamm, die soll man auch mit den Köpfen auf das Pflaster schlagen. Sondern Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind. (S. 145 f.)

Diese letzte Botschaft der nunmehr ganz unheiligen Johanna wird überbrüllt von frommen Chören, die das Hohe Lied des Kapitalismus singen, indem sie das siebte Gleichnis von den Talenten aus dem Evangelium des Matthäus variieren, das da lautet: »Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat.« (Mt. 13. 12) In den vereinten Chorälen von Heilsarmee und Maulers Leuten, also von Christentum und Kapital, klingt dies dann so: Reiche den Reichtum dem Reichen! Hosianna! Die Tugend desgleichen! Hosianna! Gib dem, der da hat! Hosianna! Gib ihm dem Staat und die Stadt! Hosianna! Gib du dem Sieger ein Zeichen! 3 Hosianna! (S. 146)

Mit diesem opernhaften Finale, in dem alle Register des parodistischen und kontrafaktischen Zitierens 4 gezogen werden und gezielt Kitsch auf Kitsch gehäuft wird, dürfte Brecht wohl auch die letzten Reste des Christentums, das man ihm in seiner Kindheit und Jugend eingebleut hatte und das er auch schon sehr früh in Literatur umgesetzt hatte, abgelegt haben. Zumindest dürfte dies das Ziel dieser ganzen Inszenierung gewesen sein, und so glaubte Brecht ein weiteres Kapitel im Prozess seiner Selbstvergewisserung abschließen zu können. Der Prozess seiner Selbstvergewisserung war mit diesen beiden Verab-schiedungen von Christentum und Stirnerschen Eigentümerei aber noch lange nicht abgeschlossen, weil er dort, wo er hinwollte, noch lange nicht angekommen war, schon gar nicht mit einem Gedicht, in dem er sich in einem längeren Gedankenspiel als Straßenkämpfer des Rotfrontkämpferbundes Arm in Arm mit anderen Genossen präsentierte. Dass er dort, wo er hin wollte, auch mit seinem Johanna-Stück noch lange nicht angekommen war, muss auch Ernst Schumacher feststellen, der streng moniert, dass Brecht als »typi366 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Mutter Partei

scher Kleinbürger«, der sich zum Kommunismus hingezogen fühlte, »mit der Praxis dieses Proletariats und seiner kämpferischen, revolutionären Partei noch nicht in dem Maße vertraut [war] wie mit der ›vertrauten‹ Welt, die er verlassen hat.«. Und dann fügt Schumacher noch einige Einwände gegen Brechts Stück an, die vermuten lassen, dass er Brechts kommunistische Gesinnung im Grunde nicht wirklich ernst nehmen konnte: »Dafür ist bezeichnend, dass die Vertreter der herrschenden kapitalistischen Klasse und des Kleinbürgertums in seinem Stück, also Mauler, Cridle, Slift und Johanna viel plastischer gezeichnet sind als die Vertreter der Arbeiterschaft. Die Erstgenannten tragen individuelle Züge, in denen doch gleichzeitig die wesentlichen Züge ihrer Klasse aufgehoben sind, während die Arbeiter kaum individuelle Züge erkennen lassen. Gemessen an der gesellschaftlichen Konkretheit, die die Kapitalisten und Johanna wie auch andere Kleinbürger, zum Beispiel Snyder, besitzen, sind selbst die auftretenden Arbeiterführer nur Episodenfiguren mit undeutlicher Charakterisierung. Die klassenbewussten Arbeiter des Stückes sind schematische Bestandteile eines Kollektivs. Es ist bezeichnend, dass Brecht die Theorie, dass Organisation und Gewalt für das Proletariat unabdingbar sind, von den Arbeitern im Chor vortragen lässt, nicht aber in derselben Konkretheit zu gestalten vermag wie die Manöver und Machenschaften der Kapitalisten. Wenn Mauler ein ›negativer Held‹ ist, so fehlt der ›positive Held‹ auf seiten der Arbeiterschaft.« (S. 480)

8.8 Mutter Partei Wie konnte es für Brecht nach diesem ideologischen Fiasko der Lehrstücke und der massiven Zurückweisung durch die ideologischen Linienbolde der Kommunistischen Partei weitergehen? Durfte er, wenn es ihm mit dem Kommunismus ernst war, weiterhin seinen PrivatMarxismus pflegen? Und konnte er weiterhin so vertraut mit all den anderen kommunistischen Ketzern und Abweichlern wie Karl Korsch, Fritz Sternberg oder Walter Benjamin umgehen? Oder sollte er, wie man ihm ja ausdrücklich geraten hatte, in aller Form der Kommunistischen Partei beitreten, die »Mühen der Ebenen« auf sich nehmen und unter der Aufsicht all dieser Linienbolde praktische Parteiarbeit leisten und dabei den Gehorsam gegenüber dieser neuen strengen Mutter lernen und einüben, deren Regiment sicher nicht weniger streng sein würde als das seiner Mutter während seiner

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VIII · Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden

Augsburger Kindheit und Jugend, weil er sicher sein durfte, dass unter dem Regiment dieser neuen Mutter dieselbe neurotisierende Atmosphäre herrschen werde wie er sie durch die pietistische Bigotterie seiner leiblichen Mutter erfahren und erlitten hatte, denn auch hier im Kommunismus wurden einem ständig Sünden vorgehalten, die es zu bekennen und abzubüßen galt, bloß um die richtige Lehre und die jeweils aktuelle Parteilinie nicht zu verfehlen. Trotzdem wagte er es, sich dieser neuen Mutter mit einem neuen Stück gleichsam probeweise anzudienen. Da Brecht die Kommunistische Partei offenbar nie als Männerbund empfand, sondern als eine Art von Mutter, war es naheliegend, dass er in diesem Stück die kommunistische Partei auch in einer Muttergestalt porträtierte und deshalb ein Agitprop-Stück nach Gorkis Roman Die Mutter 1 schrieb. Da Gorki ein persönlicher Freund von Lenin war und als der Erfinder des »sozialistischen Realismus« galt, sodass sein Roman als ein Musterbeispiel dieser literarischen Gattung propagiert wurde, war Gorki in kommunistischen Kreisen eine absolut unanfechtbare Autorität 2, an die man sich mit bestem Gewissen anlehnen konnte, um vor den Einwänden der literarischen Linienbolde einigermaßen sicher zu sein. Und sicher sein konnte man auch, dass die Gestalten, die man da auftreten ließ, die von der Partei geforderten positiven Helden waren. Die positivste Heldin dieses Stückes ist natürlich die Titelgestalt Pelagea Wlassowa selbst, die Witwe eines Arbeiters und Mutter eines Arbeiters, die in der Uraufführung von Brechts Frau Helene Weigel gespielt wurde und deren Ruhm als Schauspielerin entscheidend mitbegründete. Das Stück stellt dar, wie diese Pelagea Wlassowa, bedingt durch die Klassen-kämpfe des zaristischen Rußland, nach und nach den Kommunismus erlernt und durch diesen Lernprozess, der mit dem Beginn der Russischen Revolution von 1917 abgeschlossen ist, geradezu zur Verkörperung der Kommunistischen Partei wird. Die Entwicklung der Pelagea Wlassowa stellt also gleichsam die Wunschbiographie von Brecht selbst 3 dar, transponiert in eine andere Zeit und ein anderes Milieu. Liest man das Stück wesentlich unter diesem Aspekt, könnte man es mit einigem Recht als eine Variante der Lehrstücke mit etwas anderen dramaturgischen Mitteln verstehen, da auch dieses Stück wesentlich der Selbstbelehrung und Selbstvergewisserung dient. Deshalb wird der Kommunismus in diesem Stück auch nicht als ein konkretes gesellschaftspolitisches System verstanden und dar368 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Mutter Partei

gestellt, sondern in dem schon mal zitierten Lied Lob des Kommunismus als eine Frohe Botschaft und als eine finale Heilsordnung, denn dieses Loblied, das die Wlassowa hier singt, endet mit den Versen: Er ist das Ende der Verbrechen. Er ist keine Tollheit, sondern Das Ende der Tollheit. Er ist nicht das Chaos Sondern die Ordnung. Er ist das Einfache Das schwer zu machen ist. (S. 34)

Dieses Lob des Kommunismus, das Brechts neue Mutter hier singt, ist aber zugleich auch eine explizite Selbstkorrektur, weil Brecht damit eine Verfluchung des Kommunismus zurücknimmt, die er am 12. September 1920 in seinem Tagebuch niedergeschrieben hatte, denn dort hatte er auf einen Vortrag von Alfons Goldschmidt über die Lage in Rußland 4 mit dem höhnischen Kommentar reagiert: »Mir graut nicht vor der tatsächlich erreichten Unordnung dort, sondern vor der tatsächlich angestrebten Ordnung. Ich bin jetzt sehr gegen den Bolschewismus: Allgemeine Dienstpflicht, Lebensmittelrationierung, Kontrolle, Durchstecherei, Günstlingswirtschaft. Außerdem, im günstigsten Fall: Balance, Uniformierung, Kompromiss. Ich danke für Obst und bitte um ein Auto.« (I,163)

Das Stück endet damit, dass Pelagea Wlassowa beim Anbruch der Russischen Revolution von 1917 allen Revolutionären die rote Fahne voranträgt und alle Bedenken, ob die Zeit denn schon reif sei für eine kommunistische Revolution, mit ihrem Aufruf wegwischt: Wer noch lebt, sage nicht niemals! Das Sichere ist nicht sicher So, wie es ist, bleibt es nicht. Wenn die Herrschenden gesprochen haben Werden die Beherrschten sprechen. Wer wagt zu sagen niemals? An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns. An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird? Ebenfalls an uns. Wer niedergeschlagen wird, der erhebe sich! Wer verloren ist, der kämpfe! Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein? Denn die Besiegten von heute sind die Sieger von morgen Und aus niemals wird: heute noch. (S. 77)

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Dieser pathetische Schluss, der an den Schluss des Johanna-Stückes erinnert, aber anders als dieser ganz und gar nicht parodistisch gemeint ist, sondern ganz im Sinne des sozialistischen Realismus 5 als Aufruf zur revolutionären Tat gemeint war, scheint Brecht später doch etwas peinlich gewesen zu sein, weil Pathos-Passagen in jeder Form sofort zum Mitgehen einladen, weshalb er in seinen Anmerkungen zur »Mutter« den nicht ganz unkomischen Vorschlag machte, gezielt geschulte Claqueure unter die Zuschauer zu mischen, um das allzu spontane Mitgehen des Publikums nach Möglichkeit zu verhindern: »Um das »Versinken« des Zuschauers, das »freie« Assoziieren zu bekämpfen, können im Zuschauerraum kleine Chöre plaziert werden, welche ihm die richtige Haltung vormachen, ihn einladen, sich Meinungen zu bilden, seine Erfahrungen zu Hilfe zu rufen, Kontrolle zu üben. Solche Chöre richten einen A p p e l l a n d e n P r a k t i k e r i m Z u s c h a u e r, rufen ihn zur Emanzipation gegenüber der dargestellten Welt und auch der Darstellung selber auf.« (S. 83)

Dann fügt Brecht einige Chor-Passagen für diese Claque an, gibt auch genau an, welche Szenen diese Claqueure damit kommentieren sollen, fügt aber nicht hinzu, auf welche Art und Weise wiederum die Claqueure durch weitere Claqueure kommentiert werden könnten oder kommentiert werden sollten, und diese wiederum durch wieder andere, und all dies, damit ja keine Spur von Mitgehen aufkommen kann. Die Theorie des »Epischen Theaters« führt hier letztlich ins Absurde und verzehrt sich gleichsam selbst. Brechts Kampf »mit mir gegen mich« war also offenbar auch zu einem absurden Kampf zwischen dem Theater-Theoretiker einerseits und dem Theater-Praktiker und Stückeschreiber andererseits geworden und wird dies, wie wir sehen werden, auch noch einige Zeit bleiben.

8.9 Ausblick Doch war für Brecht mit all diesen Ankündigungen und Aufkündigungen auch der Kampf gegen das eigene Herz als Kampf »mit mir gegen mich« entschieden? Wenn man die letzten Sätze des JohannaStücks betrachtet, kann man dies bestimmt nicht behaupten, denn hier setzen sich die parodistischen Zitate in der Form fort, dass nun von den zwei Seelen die Rede ist, die, ach!, in Fausts Brust wohnen, 370 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Ausblick

und die nun auch Mauler in der seinen vorfindet, denn nun klagt Mauler: Ach, in meine arme Brust Ist ein Zwiefaches gestoßen Wie ein Messer bis zum Heft. Denn es zieht mich zu den Großen Selbst- und Nutz- und Vorteilslosen Und es zieht mich zum Geschäft Unbewusst!

Und darauf antworten alle im Chor: Mensch, es wohnen dir zwei Seelen In der Brust! Such nicht eine auszuwählen Da du beide haben musst. Bleibe stets mit dir im Streite! Bleib der Eine, stets Entzweite! Halte die hohe, halte die niedere Halte die rohe, halte die biedere Halte sie beide! (S. 149)

Und mit diesem Rat ist zugleich auch die programmatische Ausrichtung vorweg formuliert, die Brechts Leben und Werk weiterhin prägen wird. Der Kampf mit dem eigenen Herzen als Kampf »mit mir gegen mich« wird sich also erst mal fortsetzen, aber weiterhin an Gestalten im Werk delegiert, die diesen Prozess dann stellvertretend für den Autor auszuagieren haben. Doch muss man sich den Streit zwischen diesen zwei Seelen nicht unbedingt als einen faustisch-tragischen Konflikt vorstellen; er bietet ja auch die Möglichkeit, die unterschiedlichsten inneren Haltungen einzunehmen und auszuprobieren, um auf die jeweils aktuelle Situation möglichst geschmeidig zu reagieren, und das wird Brecht in den folgenden Jahren oft genug nötig haben. Und er wird es auch schaffen.

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Kapitel IX Erwärmungen und Aufschmelzungen oder Die Entdeckung des ›sanften Prinzips‹ 9.1 Einleitung Durch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 lag das Gesetz des Handelns erst mal bei Hitler, und alle anderen, die bis dahin im Spiel der politischen Kräfte mitgemischt hatten, konnten nur noch mehr oder weniger hilflos reagieren, natürlich auch die deutschen Kommunisten, auf die Brecht bis dahin seine Hoffnungen gesetzt hatte, denn diese Konkurrenz hatte sich Hitler durch ein Verbot sofort vom Hals geschafft. Und die bürgerlichen Parteien waren so naiv, dem Ermächtigungs-Gesetz am 23. März 1933 geschlossen zuzustimmen, obwohl sie hätten wissen müssen, dass sie damit einem Gesetz zur eigenen politischen Selbstentmachtung zustimmten. Mit dieser Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz der Nazis zerbrach auch das Verfassungsbündnis zwischen den Sozialdemokraten, den Liberalen und dem Zentrum, die zusammen das Reichsbanner gegründet und getragen hatten, weil die SPD gegen das Gesetz stimmte, das Zentrum und die Liberalen aber dafür. Und damit hatte die Weimarer Republik sich letztlich selbst aufgegeben. Spätestens nach den öffentlichen Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 musste jedem deutschen Schriftsteller klar sein, wes Geistes oder Ungeistes Kind diese neuen Machthaber waren, denn schon Heine hatte prophezeit, dass man dort, wo man Bücher verbrenne, bald auch Menschen verbrennen werde. Und so kam es denn, dass fast alle deutschen Autoren von Rang und Namen fluchtartig das Land verließen, Brecht schon am Tag nach dem Reichstagsbrand, also am 28. Februar 1933. Diese Flucht führte ihn über einige Umwege schließlich nach Skovbostrand auf der dänischen Insel Fünen, wo er auch die nächsten Jahre blieb und einen gewaltigen Schub an Kreativität erlebte, der ihn befähigte, nahezu all die Stücke zu schreiben, die ihn zu einem Klassiker der Moderne erhoben haben. Dieser unerhörte Schub an Kreativität im nordischen Exil ist 372 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Einleitung

vergleichbar mit dem in seiner frühen Augsburger Zeit, als die Orientierung am biblischen Baal und die Bekanntschaft mit Stirners Philosophie all die Umbrüche und Aufbrüche in Gang setzten, die ihn dazu befähigten, die Altlasten seiner pietistischen Erziehung abzuschütteln, wodurch sich ihm durch die dadurch neu gewonnene grandiose Unbefangenheit ganz neue kreative Freiräume eröffneten, in denen dann die ersten Stücke und die Lyrik der Hauspostille entstehen konnte. Dieses kreative Erweckungserlebnis wiederholt sich also nun im nordischen Exil, denn nun stößt er auf eine weitere Frohe Botschaft, die man als die Entdeckung des ›sanften Prinzips‹ aus dem Geiste des Lao-tse bezeichnen könnte. Und genau wie die Entdeckung der Anima naturaliter pagana sich Hand in Hand mit der Emanzipation vom christlich-biblischen Denken vollzogen hatte, so vollzieht sich jetzt die Entdeckung des ›sanften Prinzips‹ Hand in Hand mit einer fundamentalen Kritik aller Gewalt, insbesondere aber als Kritik der politischen Gewalt in Form des Roten Terrors, die Brecht als essentiellen Aspekt kommunistischer Praxis akzeptiert und bis zu diesem Zeitpunkt auch für unverzichtbar gehalten hatte. Man könnte auch sagen: Im Lichte des ›sanften Prinzips‹ von Lao-tse verliert für Brecht die elfte Feuerbach-These ihre Verbindlichkeit, die sie bis dahin für ihn besessen hatte. Denn nun schärfte ihm Lao-tse den Blick nicht nur auf seine eigenen Lehrstücke, sondern auch den Blick auf die fatalen Analogien zwischen den GewaltMaßnahmen in seinen Lehrstücken und den Orgien an politischer Gewalt, die sich in den stalinistischen Säuberungen vollzogen und denen ja auch enge Freunde von ihm zum Opfer gefallen sind. All dies las sich jetzt ganz neu, und Brecht konnte vor der Hellsicht seines eigenen Werkes nur erschrecken. Diese fundamentale Kritik des gewaltbereit zugreifenden Denkens durch das ›sanfte Prinzip‹ des Lao-tse führt aber zugleich auch zu einer Distanzierung vom Pathos der Kälte, das Brecht in seinem Werk in seiner Berliner Zeit so ausgiebig kultiviert hatte, sodass von nun an in Brechts Werk Gestalten auftreten können, die ihr Herz nicht mehr auskühlen lassen und in dieser Kälte kommandieren wollen, sondern es erscheint der neue Typ des »Guten Menschen«, und dieser erscheint fast immer in Gestalt junger Frauen, die dieses ›sanfte Prinzip‹ exemplarisch verwirklichen. Zusammengefasst und auf den Punkt gebracht wird diese neue Grundstimmung in Brechts Werk wieder in einem großen Gedicht, 373 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

IX · Erwärmungen und Aufschmelzungen

der Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Lao Tse in die Emigration, ganz so wie Brecht die ersten beiden Aufbrüche der Augsburger Zeit in dem Choral vom Manne Baal und dem Gedicht Gegen Verführung in grandiose Verse gefasst hatte.

9.2 Leben »in finsteren Zeiten« 9.2.1 Gewalt-Phantasien aus dem Geiste Lenins Wie wir gesehen haben, hatte sich Brecht von den kommunistischen Kritikern der Massnahme sagen lassen müssen, er habe keinerlei Ahnung von den wirklichen Problemen praktischer Parteiarbeit und solle sich deshalb möglichst bald damit vertraut machen, wenn er als kommunistischer Autor ernst genommen werden wolle. Insbesondere solle er die Reste kleinbürgerlicher Vorstellungen abwerfen, die er offensichtlich immer noch mit sich herumschleppe, und das hieß laut Kurella konkret: »Eine der Erscheinungsformen des Kampfes von bürgerlicher und proletarischer Ideologie in den Köpfen der zur Revolution kommenden bürgerlichen Intellektuellen ist das Auftreten von Konflikten zwischen Verstand und Gefühl. Eine besondere Rolle dabei spielt übrigens immer die Frage des roten Terrors und die Anwendung der Tötung.« 1

Gemeint ist damit sowohl die Tötung von Feinden der eigenen Ideologie als auch die Liquidierung von abtrünnigen Genossen. Offenbar hatte Brecht Einwände dieser Art im Ohr, als er ein halbes Jahr nach der Premiere seiner Massnahme bei einem Arbeitsurlaub in Le Levandou im Gespräch mit Walter Benjamin durch ein längeres Gedankenspiel demonstrieren wollte, wie entschlossen er seine kleinbürgerlichen Hemmungen in Fragen der revolutionären Gewalt schon abgelegt habe, denn Benjamin notiert in seinem Tagebuch unter dem 12. Juni 1931, Brecht habe seinen neuen kommunistischen Freunden schon ganz detaillierte »Kollektivmaßnahmen« zum Thema Roter Terror vorgeschlagen. Und dann heißt es wörtlich: »Wenn er in einem berliner Exekutivkommitee säße: er würde einen Fünftageplan ausarbeiten, aufgrund dessen in der genannten Frist wenigstens 200 000 Berliner zu beseitigen seien. Sei es auch nur, weil man damit »Leute

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hineinzieht«. »Wenn das durchgeführt ist, so weiß ich, da sind mindestens 50000 Proletarier, als Ausführende, beteiligt.«« 2

Brecht phantasiert sich hier also in die Rolle eines allmächtigen Schreibtischtäters hinein, der zwar nicht selbst die Knarre in die Hand nimmt und aktiv mordet, sondern eine ganze Armee von Proletariern befehligt, die er sich offenbar als Klone von Galy Gay vorstellt und die man ebenso wie diesen zu »menschlichen Kampfmaschinen« »ummontiert« hat, sodass diese dann »mit Tigergebissen« der »roten unmenschlichen Fahne« nachziehen und ein Zehntel der Berliner Bevölkerung ausrotten. Nach Maßgabe welcher Kriterien diese Opfer ausgewählt werden sollten, wird aus diesem Plan zu einer ›Berliner Bartholomäusnacht‹ nicht ersichtlich; er schließt aber ein, dass diese kommunistische Revolution alsbald erfolgen werde, sodass dann auch das Vermächtnis der sterbenden Johanna in die Tat umgesetzt werden kann: Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind. (S. 146)

Nicht viel anders hieß es ja auch im letzten Bild der Massnahme, wenn die vier Agitatoren ihren Fememord vor dem Kontrollchor der Partei mit dem Argument rechtfertigen: F u r c h t b a r i s t e s, z u t ö t e n . Aber nicht nur andere nur, auch uns töten wir, wenn es nottut Da doch nur mit Gewalt diese tötende Welt zu ändern ist, wie Jeder Lebende weiß. Noch ist es uns, sagten wir Nicht vergönnt, nicht zu töten. Einzig mit dem Unbeugbaren Willen, die Welt zu verändern, begründeten wir Die Maßnahme. (S. 63)

Dieser Hang, sich an gewaltigen Zahlen von Opfern der eigenen Machtvoll-kommenheit zu berauschen, dürfte bei Brecht wieder mal biblisches Erbe sein, denn schon Mose befiehlt seiner Leibstandarte vom Stamme Levi all diejenigen zu töten, die um das Goldene Kalb getanzt hatten, mit den herrischen Worten: »Her zu mir, wer dem Herrn angehört! Da sammelten sich zu ihm alle Kinder Levi. Und er sprach zu ihnen: So spricht der Herr, der Gott Israels: Gürte ein jeglicher sein Schwert um seine Lenden und durchgehet hin und zurück von einem Tor zum andern das Lager, und erwürge ein jeglicher

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seinen Bruder, Freund und Nächsten. Die Kinder Levi taten, wie ihnen Mose gesagt hatte; und fielen des Tages vom Volk dreitausend Mann.« (2. Mose 32, 26–28)

Noch größere Leichenbergen türmt ein anderer biblische Erzähler auf, wenn es gilt, die eigenen Leute zu bestrafen, die zum Kult des Gottes Baal übergelaufen waren und sich den dort üblichen Schleimhaut-Orgien hingegeben hatten, denn hier kennt Mose erst recht keine Gnade: »Und Mose sprach zu den Richtern Israels: Es würge ein jeglicher seine Leute, die sich an den Baal-Peor gehängt haben. (…) Da hörte die Plage auf von den Kindern Israel. Und es wurden getötet in der Plage 24 000.« (4. Mose 25,1–9)

Noch viel schlimmer sind die Gewaltphantasien im Buch Josua, in dem sich der Erzähler geradezu daran berauscht, serienweise ganze Städte zu Ehren seines Gottes auszurotten. Und in dieser alttestamentarischen Tradition von Gewaltphantasien steht auch das Kocherl in Brechts Dreigroschenoper, das sich in die Rolle der allmächtigen Seeräuberjenny hineinträumt, eine ganze Stadt dem Tod überantwortet (S. 138 ff.) und dann auf dem Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen entschwindet. Ob Brecht all diese Gewaltphantasien wirklich auch in die Tat umgesetzt hätte, wenn er die Möglichkeit dazu gehabt hätte, ist natürlich eine ganz andere Frage, die man sich zwar stellen, aber nicht plausibel beantworten kann, weshalb wir lieber fragen wollen, ob es ihm selbst irgendwann einmal peinlich gewesen sein könnte, sich solchen Gewaltphantasien überhaupt mal hingegeben zu haben, denn im Lichte der tatsächlichen politischen Ereignisse erwiesen sich diese Phantastereien alsbald als grotesk weltfremd, weil die proletarische Revolution, deren Eintreten die ideologischen Linienbolde der Partei in ganz naher Zukunft erwartet hatten, weil sie laut Theorie einfach kommen musste, nicht nur nicht stattfand, sondern Hitlers Machtantritt am 30. Januar 1933 alle, die auf diese proletarische Revolution gehofft hatten, zur sofortigen Flucht aus Deutschland gezwungen hatte. Und so saß denn auch Brecht alsbald in seinem dänischen Exil, »geflüchtet unter das dänische Strohdach«, und war dazu verdammt, über seine eigene extrem prekäre Situation nachzudenken und die Folgen daraus für sich und sein Werk zu ziehen. Natürlich konnte er Gedachtes, Gesagtes und Geschriebenes nicht ungeschehen machen, konnte all dies aber sehr wohl im Lichte 376 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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der neuen und höchst prekären Situation nochmals überprüfen und neu bewerten, und so las sich nun auch das eine oder andere Gedicht ganz neu, weil es gleichsam seine Unschuld verloren hatte. Dies gilt z. B. für zwei Gedichte aus dem Lesebuch für Städtebewohner, die sich nunmehr lesen wie das schlechte Gewissen des Täters vor der Tat. Das eine lautet: Anrede Du bist erschossen worden Ordnungsgemäß. Ich habe das Protokoll gesehen. In der Stadt weiß man die Stunde. Mache uns nichts vor. Während du redest, weiß jedermann Dass du doch nichts mehr siehst. Gib es zu: Du hast In Gewehrläufe geschaut. Die Salve war abgefeuert. Die Mannschaft Marschierte ab. Der Rauch an der Mauer Erhob sich: Du Bliebst liegen. Wasche nur, wasche! An deinem Gesicht der Kalk Wird nicht weggehn. Sprich mich Bitte nicht an! Wenn ich sehe dein Gesicht Erinnre ich mich an dich: Du bist Erschossen worden. (S. 178 f.)

Das andere klingt noch etwas brutaler, denn hier spricht eine nicht näher bezeichnete Gruppe oder die Vertreter einer anonymen Macht zu einem offenbar wehrlosen Einzelnen, der vernichtet wird, ohne dass man erfährt, aus welchen Gründen vernichtet werden soll: Wir wollen nicht aus deinem Haus gehen Wir wollen den Ofen nicht einreißen Wir wollen den Topf auf den Ofen setzen.

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Haus, Ofen und Topf kann bleiben Und du sollst verschwinden wie der Rauch im Himmel Den niemand zurückhält. Wenn du dich an uns halten willst, werden wir weggehen Wenn deine Frau weint, werden wir unsere Hüte ins Gesicht ziehen Aber wenn sie dich holen, werden wir auf dich deuten Und werden sagen: das muss er sein. Wir wissen nicht, was kommt, und haben nichts Besseres Aber dich wollen wir nicht mehr. Vor du nicht weg bist Lasst uns verhängen die Fenster, dass es nicht morgen wird. Die Städte dürfen sich ändern Aber du darfst dich nicht ändern. Den Steinen wollen wir zureden Aber dich wollen wir töten Du musst nicht leben. Was immer wir an Lügen glauben müssen: Du darfst nicht gewesen sein. (So sprechen wir zu unsern Vätern.) (S. 162)

Natürlich hätte Brecht auch nachlesen können, wie ein anderer großer deutscher Dichter seine eigenen Gewaltphantasien dichterisch verarbeitet hat, denn in Caput VI und VII von Deutschland. Ein Wintermärchen beschreibt Heinrich Heine ein beklemmendes Szenario, in dem auch er selbst mit dem eigenen Werk konfrontiert wird. Der Dichter, der aus dem französischen Exil zu einem kurzen Besuch nach Deutschland gekommen ist, begegnet in Köln einem unheimlichen Gesellen, den er schon von früher kennt und der sich ihm als das Andere seiner selbst vorstellt, indem er ihm die fatalen Konsequenzen seiner revolutionären Schriften aufzeigt, denn: Ich selbst, wenn ich am Schreibtisch saß Des Nachts, hab ich gesehen Zuweilen einen vermummten Gast Unheimlich hinter mir stehen. 3 Unter dem Mantel hielt er etwas Verborgen, das seltsam blinkte, Wenn es zum Vorschein kam, und ein Beil, Ein Richtbeil, zu sein mir dünkte.

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Er schien von untersetzter Statur, Die Augen wie zwei Sterne; Er störte mich im Schreiben nie, Blieb ruhig stehn in der Ferne. Seit Jahren hatte ich nicht gesehn Den sonderbaren Gesellen, Da fand ich ihn plötzlich wieder hier In der stillen Mondnacht zu Köllen. Ich schlenderte sinnend die Straßen entlang, Da sah ich ihn hinter mir gehen, Als ob er mein Schatten wäre, und stand Ich still, so blieb er stehen. Blieb stehen, als wartete er auf was, Und förderte ich die Schritte, Dann folgte er wieder. So kamen wir Bis auf des Domplatz’ Mitte. Es ward mir unleidlich, ich drehte mich um Und sprach: »Jetzt steh mir Rede, Was folgst du mir auf Weg und Steg Hier in der nächtlichen Öde? Ich treffe dich immer in der Stund’, Wo Weltgefühle sprießen In meiner Brust und durch das Hirn Die Geistesblitze schießen. Du siehst mich so stier und fest – Steh Rede: Was verhüllst du Hier unter dem Mantel, das heimlich blinkt? Wer bist du und was willst du?« (1,449 f.)

Und darauf antwortet diese unheimliche Schattengestalt: »Ich bin von praktischer Natur, Und immer schweigsam und ruhig. Doch wisse: was du ersonnen im Geist, Das führ ich aus, das tu ich. Und gehen auch Jahre drüber hin, Ich raste nicht, bis ich verwandle In Wirklichkeit, was du gedacht; Du denkst, und ich, ich handle.

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Du bist der Richter, der Büttel bin ich, Und mit dem Gehorsam des Knechtes Vollstreck ich das Urteil, das du gefällt, Und sei es ein ungerechtes. (…) Ich bin dein Liktor, und ich geh Beständig mit dem blanken Richtbeil hinter dir – ich bin Die Tat von deinem Gedanken.« (1,449 ff.)

Der Schattenmann hätte wohl auch sagen können: »Ich bin der Täter oder Vollstrecker deiner Gedanken«. Oder: »Ich bin das, was du kaum zu denken und schon gar nicht zu vollstrecken wagtest.« Oder auch: »Ich bin die Gestalt gewordene elfte Feuerbach-These.« Oder schließlich kurz und bündig: »Ich bin der politische Terror selbst und kann, wenn’s denn sein muss, auch der Rote Terror sein.« Tief erschrocken durch die Offenbarungen dieses dunklen Doppelgängers flüchtet sich der Dichter dann ins Bett, fängt aber sofort wieder an, seine Phantasien von revolutionärer Gewalt weiter zu träumen und findet sich deshalb plötzlich wieder vor dem Kölner Dom, den er eben erst als »des Geistes Bastille« 4 zum Teufel gewünscht und am liebsten in einen Pferdestall hatte verwandeln 5 wollen, um Deutschland »protestantische Sendung« 6 endlich zu vollenden. Aber auch sein Schatten ist wieder da: Und hinter mir ging wieder einher Mein schwarzer, vermummter Begleiter. Ich war müde, mir brachen die Knie, Doch immer gingen wir weiter. (1,452)

Und weil Heine eben ein großer Dichter war, kann er nicht verschweigen, dass Gewalt in jeder Form immer zugleich auch auf den Gewalttätigen selbst zurückwirkt, sodass der Täter immer zugleich auch sein eigenes Opfer wird, weshalb er fortfährt: Wir gingen weiter. Mein Herz in der Brust War klaffend aufgeschnitten, Und aus der Herzenswunde hervor Die roten Tropfen glitten. (1,452)

In der Gewaltphantasie, die er gleichwohl weiter ausfabuliert, stilisiert er sich dann zum alttestamentarischen Würgeengel des jüdischen Gottes Jahwe, der beim Auszug der Juden aus Ägypten unter

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den ägyptischen Erstgebornen ein Blutbad 7 veranstaltet, weshalb es im Gedicht weiter heißt: Ich tauchte manchmal die Finger hinein, Und manchmal ist es geschehen, Dass ich die Haustürpfosten bestrich Mit dem Blut im Vorübergehen. Und jedesmal, wenn ich ein Haus Bezeichnet in solcher Weise, Ein Sterbeglöckchen erscholl fernher, Wehmütig wimmernd und leise. Am Himmel aber erblich der Mond, Er wurde immer trüber; Gleich schwarzen Rossen jagten an ihm Die wilden Wolken vorüber. Und immer ging hinter mir einher Mit seinem verborgenen Beile Die dunkle Gestalt – so wanderten wir Wohl eine gute Weile. (1,453)

Dann betreten die beiden den Dom, der Dichter verspottet die Gebeine der Heiligen Drei Könige, die dort als Reliquien liegen, und fordert seinen Begleiter auf, jetzt aktiv zu werden und all diesen Plunder christlichen Aberglaubens zu vernichten: So sprach ich, und ich drehte mich um, Da sah ich furchtbar blinken Des stummen Begleiters furchtbares Beil – Und er verstand mein Winken. Er nahte sich, und mit dem Beil Zerschmetterte er die armen Skelette des Aberglaubens, er schlug Sie nieder ohn’ Erbarmen. Es dröhnte der Hiebe Widerhall Aus allen Gewölben, entsetzlich! – Blutströme schossen aus meiner Brust, Und ich erwachte plötzlich. (1,455)

Dieses erlösende Erwachen war Brecht allerdings nicht vergönnt, denn er stürzte, als er durch die erzwungene Emigration allmählich aus seinen Gewaltphantasien erwachte, alsbald in ganz neue Alpträume, weil er erleben musste, dass man in Rußland und in der Kom381 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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intern seine Gewaltphantasien tatsächlich in die Tat umsetzte und dies mit einer mörderischen Konsequenz, wie er dies nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Es war auch keine vermummte Gestalt hinter ihm, die sich ihm als der Täter seiner Gedanken anbot, sondern der unverhüllte Stalin selbst, der ganz systematisch die alten Mitstreiter Lenins bei der Revolution von 1917 aus dem Weg räumte und dies als Säuberung der Partei von trotzkistischen Verschwörern, verkappten Faschisten, Spionen und Antikommunisten ausgab, um sich dadurch die Alleinherrschaft in Staat und Partei zu sichern. Sagen wir es so: Hätte Brecht bei seinen Gewaltphantasien von seinen Zahlen-kolonnen aufgeblickt und in den Spiegel geschaut, so hätte er dort nicht sein eigenes Gesicht gesehen, sondern Stalin hätte ihn angegrinst, als er gerade wieder eine Liste von Todesurteilen abgesegnet hatte. Brecht hatte sich bei seinen Gewaltphantasien mit jedem zehnten Berliner begnügt, für Stalin aber musste es schon jeder zehnte Sowjetbürger sein, sodass am Ende auf seiner Liste nicht 200 000 standen, sondern etliche Millionen. Laut Jan Knopf sind all diese Überlegungen jedoch völlig haltlos und deshalb auch überflüssig, weil Brecht sich mit diesen GewaltPhantasien nur einen Jux gemacht habe, weshalb diese vermeintlichen Gewaltphantasien ganz anders zu bewerten seien: »Wie Benjamin nahm auch die Forschung solche Äußerungen beim Wort und verwies auf angebliche Zusammenhänge mit dem Lesebuch und den Lehrstücken, die auf ebensolchen makabren Gedankenspielen fußten. (…) Benjamin verstand Brechts Witz nicht, der zugleich eine böse Abrechnung mit dem deutschen Proletariat bedeutete, wenn er gleich 50 000 Proletarier auf der Seite der Ausübenden sah: willige Vollstrecker. Brecht reagierte ironisch-zynisch auf Berichte aus Deutschland, die davon ausgingen, dass es mit einer proletarischen Revolution nicht weit her sei. Also konstruierte er auf sowjetischer Basis eine Kollektiv-Liquidierung, an der sich (natürlich) die unpolitischen deutschen Proleten massenhaft beteiligen würden, weil er ihnen nicht traute, und er führte mal wieder seinen Gesprächspartner vor.« 8

Wenn Knopf meint, er könne Brechts Gewaltphantasien zu einem makabren Spiel mit dem Entsetzen herunterspielen, um Brecht in einem etwas besseren Licht erscheinen zu lassen, dann geht diese Argumentation nur auf, wenn Brecht auch in anderen Äußerungen aus dieser Zeit seine Verachtung des deutschen Proletariats in ähnlicher Weise bekundet hätte.

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Doch dies ist ganz und gar nicht der Fall, wie aus dem oben in Kapitel 8.6 zitierten Gedicht hervorgeht, in dem er die Volksfront propagiert und dem sich problemlos weitere analoge Äußerungen an die Seite stellen ließen, z. B. das Hammer-und-Sichel-Lied (S. 1009 f.) oder Resolution (S. 289 f.). Ein Beispiel dafür unter vielen ist das Saarlied, mit dem sich Brecht aus dem dänischen Exil an das deutsche Proletariat wenden wollte, um dieses dazu zu bewegen, bei der Abstimmung im Saarland am 13. Januar 1934 gegen die Wiedereingliederung ins Deutsche Reich zu stimmen, denn der Refrain dieses Liedes macht ja nur Sinn, wenn Brecht daran glaubte, dass die Arbeiter an der Saar klassenbewusste Proletarier seien, die sich bei der Abstimmung korrekt antifaschistisch verhalten und gegen den Wiederanschluss an Deutschland stimmen würden. Hätte er dies nicht geglaubt, hätte er wohl nicht den beschwörenden Refrain geschrieben: Haltet die Saar, Genossen Genossen, haltet die Saar. Dann werden das Blatt wir wenden Am 13. Januar. (S. 1001 f.)

Dass die Arbeiter 1934 an der Saar nicht viel anders abstimmten als die bürgerlichen Wähler, konnte Brecht 1931 ja noch nicht wissen, wird ihn aber 1934 einigermaßen entsetzt haben.

9.2.2 Gewalt-Maßnahmen aus dem Geiste Stalins Brechts Erwachen aus seinen eigenen Gewaltphantasien und aus seinem Glauben an die Legitimität und die Notwendigkeit von Rotem Terror setzte aber nicht sofort mit Beginn der Emigration ein, sondern zog sich noch einige Jahre hin. Als er im Frühjahr 1935 Moskau besuchte und dort die Einweihung der Metro und die Feiern zum 1. Mai erlebte, was beides als ein großes Volksfest 1 begangen wurde, glaubte er sich offensichtlich in seinem Glauben an den Kommunismus bestätigt sehen zu dürfen, weil er durch die überwältigende Atmosphäre dieser Festivitäten den Eindruck gewann, hier sei tatsächlich eine ganz neue Form des Zusammenlebens entstanden, gleichsam eine auf Dauer gestellte gehobene Stimmung als Normalzustand der Gesellschaft. Das lange Gedicht, das er über die Inbesitznahme der grossen Metro durch die Moskauer Arbeiterschaft am 27. April 383 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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1935 schrieb, endet denn auch mit einer Apotheose des Sozialismus russischer Prägung, weil im Bau der Moskauer Metro die Vision des Sozialismus exemplarisch verwirklicht sei: Denn es sah der wunderbare Bau Was keiner seiner Vorgänger in vielen Städten vieler Zeiten Jemals gesehen hatte: als Bauherren die Bauleute! Wo wäre dies je vorgekommen, dass die Frucht der Arbeit Denen zufiel, die da gearbeitet hatten? Wo jemals Wurden die nicht vertrieben aus dem Bau Die ihn errichtet hatten? Als wie sie fahren sahen in ihren Wägen Den Werken ihrer Hände, wussten wir: Dies ist das große Bild, das die Klassiker einstmals Erschüttert voraussahen. (S. 307 ff.

Jan Knopf meint zwar in seiner Brecht-Biographie, dieses Gedicht sei sozialistische Gesinnungs-Mimikry und begründet diese Behauptung mit dem Argument: »Dass es keine Hymne ist, belegt der Beginn: »Wir hörten:« Es handelt sich folglich nicht um einen lyrischen Augenzeugenbericht, sondern um ein On-dit, ein Gerücht. Folglich kommt der Jubel über die Inbesitznahme nicht vom lyrischen Wir, sondern von denen, die ihm den Bericht übermittelt haben. Damit ist ausgeschlossen, den Text autobiografisch zu lesen. Auch alle weiteren Äußerungen Brechts [über seinen Aufenthalt in Moskau, L. P.] verdankten sich in erster Linie seiner Taktik, sich in einem sozialistischen Land als Sozialist auszuweisen.« (S. 310)

Diese Argumentation überzeugt aber nicht recht, weil sich der Anfangssatz »Wir hörten« nur auf die erste Strophe des Gedichts beziehen kann, die von den eigentlichen Bauarbeiten berichtet, der Rest des Gedichtes aber, der mit den Wendung beginnt »Als nun die Bahn gebaut war (…) und die Besitzer kamen, sie zu besichtigen« (S. 307), aus der Optik des lyrischen Wir berichtet wird, was den letzten oben zitierten Versen ja auch deutlich zu entnehmen ist. Allzu genau kann Knopf dieses Gedicht also nicht gelesen haben. Ähnlich euphorisch ist der Ton des Gedichtes, in dem Brecht den zwanzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution feiert und in dem er ausgiebig das »O Mensch!«-Pathos der deutschen Expressionisten bemüht, das er ansonsten immer so tief verachtet hatte, denn dieses Gedicht beginnt und endet mit den Versen:

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O großer Oktober der Arbeiterklasse! Endliches Sichaufrichten der so lange Niedergebeugten! O Soldaten, die ihr Endlich die Gewehre in die richtige Richtung richtetet! Die den Boden bestellten im Frühjahr Taten es nicht für sich selber. Der Sommer Beugte sie tiefer. Noch die Ernte Ging in die Scheuern der Herren. Aber der Oktober Sah das Brot schon in den richtigen Händen! (…) O großer Oktober der Arbeiterklasse! (S. 309 f.)

Aus diesem Vertrauensvorschuss in die Sowjetunion Stalins schöpfte Brecht offenbar auch die Kraft, in seinem dänischen Exil ganz nahe an der deutschen Grenze weiterhin ausharren zu können, als er merkte, dass dieses Exil doch viel länger dauern werde als er zunächst gedacht hatte, und auch diese Einsicht fasste er wieder in ein Gedicht: Gedanken über die Dauer des Exils 1 Schlage keinen Nagel in die Wand Wirf den Rock auf den Stuhl! Warum für vier Tage vorsorgen? Du kehrst morgen zurück! Lass den kleinen Baum ohne Wasser! Wozu einen Baum pflanzen? Bevor er so hoch wie eine Stufe ist Gehst du froh weg von hier! Ziehe die Mütze ins Gesicht, wenn die Leute vorbeikommen! Wozu in einer fremden Grammatik blättern? Die Nachricht, die dich heimruft, Ist in bekannter Sprache geschrieben. So wie der Kalk vom Gebälk blättert (Tue nichts dagegen!) Wird der Zaun der Gewalt zermorschen Der an der Grenze aufgerichtet ist Gegen die Gerechtigkeit. 2 Sieh den Nagel in der Wand, den du eingeschlagen hast! Wann, glaubst du, wirst du zurückkehren? Willst du wissen, was du im Innersten glaubst?

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Tag um Tag Arbeitest du an der Befreiung Sitzend in der Kammer schreibst du Willst du wissen, was du von deiner Arbeit hältst? Sieh den kleinen Kastanienbaum im Eck des Hofes Zu dem du die Kanne voll Wasser schlepptest! (S. 351 f.)

Dieser durch den Moskau-Besuch neubelebte Glaube an den Kommunismus dürfte auch der Grund dafür gewesen sein, dass Brecht die Nachrichten, die er über Säuberungen hörte, die Stalin, angeregt durch Hitlers Schlag gegen die SA am 30. Juni 1934 in Staat, Partei und Armee, aber auch unter der ganz normalen Bevölkerung vornahm, zunächst nicht so recht glauben wollte. Entscheidend bestärkt wurde er in dieser Haltung durch seinen alten Freund und Mentor Lion Feuchtwanger, der 1937 Moskau besuchte, dort dem Prozess gegen Pjatakow und Radek 2 beiwohnte, auch von Stalin höchstpersönlich empfangen wurde und darüber den Bericht Moskau 1937 schrieb, in dem er die Moskauer Schauprozesse ausdrücklich verteidigte und rechtfertigte. Über dieses Buch, das er sofort nach Erscheinen las, schrieb Brecht an Feuchtwanger im August 1937: »Lieber Doktor, (…) Ihr »De Russia« 3 finde ich das Beste, was von Seiten der europäischen Literatur bisher in dieser Sache erschienen ist. Es ist ein so entscheidender Schritt, die Vernunft als etwas so Praktisches, Menschliches zu sehen, etwas, was seine eigene Sittlichkeit und Unsittlichkeit hat; dabei kommt erst ihr experimenteller Charakter heraus, an dem die Menschheit doch interessiert ist und der verschwindet, wenn man eine starre Moralität über sie setzt, da ja das Experimentieren selber schon etwas von sittlich zweifelhafter Natur ist. Ich bin sehr froh, dass Sie das geschrieben haben.« 4

Feuchtwanger hatte, wie gesagt, in seinem Bericht nicht nur die Moskauer Schauprozesse, sondern auch den Roten Terror allgemein als notwendige revo-lutionäre Gewalt ausdrücklich gerechtfertigt und deshalb im letzten Kapitel seines Buches die Bilanz gezogen: »Alles in allem finde ich die Haltung, die viele westliche Intellektuelle der Sowjet-Union gegenüber eingenommen haben, kurzsichtig und unwürdig. Sie sind blind vor der weltgeschichtlichen Leistung, die hier vollbracht wird; sie wollen nicht begreifen, dass man Historie nicht in Handschuhen machen kann. Sie kommen mit ihren absoluten Maßstäben und wollen auf den Millimeter genau messen, bis wohin hier Freiheit und Demokratie geht. So offenkundig vernünftig und im höchsten Sinne human die Zwecke der Sowjet-Union sind, diese westlichen Intellektuellen sind ungeheuer purita-

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nisch in der Kritik der Mittel. Für sie heiligt in diesem Fall nicht der Zweck die Mittel, sondern die Mittel schänden den Zweck. Ich begreife das. Ich selber gehörte in meiner Jugend zu dieser Art von Intellektuellen, die das Prinzip des absoluten Pazifismus, der integralen Gewaltlosigkeit aufstellten. Während des Krieges habe ich umgelernt. Schon während des Krieges habe ich ein Stück geschrieben, »Warren Hastings«, in dem ein Prozess dargestellt wird, der seinerzeit die Welt ähnlich aufgerührt hat wie jetzt uns die Moskauer Trotzkistenprozesse. Es führte aber dieser Prozess der englische Generalgouverneur Warren Hastings, einer der Männer, welcher die Herrschaft Englands und die Einführung der westlichen Zivilisation in Indien begründeten. Er hielt das für eine progressive Tat, und wir, wenn wir historisch denken, werden ihm wohl beipflichten. Dieser mein Warren Hastings also kommt zu der Erkenntnis: »Humanität kann man dem Menschengeschlecht nur mittels Kanonen beibringen.« (…) Ich glaube, wir alle haben während des Krieges und hernach mannigfache Ursache gehabt, unsere Anschauungen über Gewaltlosigkeit zu revidieren und ernsthafte Reflexionen über die Gewalt anzustellen. Wenn solche ›réflexions sur la violance‹ 5, dazu bestimmt, Lenin zu rechtfertigen, auch von Mussolini herangezogen werden – Hitler hat den Namen Georges Sorel wohl kaum je gehört –, so verlieren sie dadurch nicht an Richtigkeit. Es ist ein Unterschied zwischen dem Raubmörder, der auf einen Passanten, und dem Polizisten, der auf den Raubmörder schießt.« 6

In den letzten Sätzen seines Buches beschwört Feuchtwanger ähnlich wie Brecht in seinem Gedicht über die Eröffnung der Moskauer Metro eigens nochmal die allseits beglückende und festliche Atmosphäre, die, ganz anders als im Westen, in Stalins Sowjetunion herrsche, und greift dann nochmals kräftig in die Saiten seiner Harfe, um das Hohelied des Kommunismus anzustimmen: »Die Luft, die man im Westen atmet, ist verbraucht und schlecht. Es gibt innerhalb der westlichen Zivilisation keine Klarheit und Entschiedenheit mehr. Man wagt nicht, sich gegen den andrängenden Barbarismus mit der Faust zu wehren oder auch nur mit starken Worten, man tut es mit halbem Herzen, mit vagen Gesten, und die Erklärungen der Verantwortlichen gegen den Faschismus sind verzuckert und verklausuliert. Wen widert nicht die Flauheit und Heuchelei an, mit der diese Verantwortlichen auf den Überfall der spanischen Republik durch die Faschisten reagierten? Man atmet auf, wenn man aus dieser drückenden Atmosphäre einer verfälschten Demokratie und eines heuchlerischen Humanismus in die strenge Luft der Sowjet-Union kommt. Hier versteckt man sich nicht hinter mystischen, phrasenhaften Schlagworten, es herrscht vielmehr eine nüchterne Ethik, wirklich ›more geometrico constructa‹ 7, und diese ethische Vernunft allein bestimmt den Plan, nach welchem man die Union aufbaut. Es

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ist also eine neue Methode, nach der sie dort bauen, und es ist vollkommen neues Material, das sie verwenden. Aber die Zeit des Experimentierens liegt bereits hinter ihnen. Noch ist überall Schutt und schmutziges Gerüst, aber schon hebt sich rein und deutlich der Umriss des gewaltigen Baus. Es ist ein wahrer Turm von Babel, doch ein solcher, der nicht die Menschen dem Himmel, sondern den Himmel den Menschen näherbringen will. Und das Werk ist geglückt, sie haben sich ihre Sprache nicht verwirren lassen, sie verstehen sich untereinander. Es tut wohl, nach all der Halbheit des Westens ein solches Werk zu sehen, zu dem man von Herzen Ja, Ja, Ja sagen kann.« (S. 152 f.)

In einer Reihe von Notizen zu den Moskauer Prozessen, die Werner Hecht mit deutlich parteilichem und apologetischem Interesse zusammengestellt hat, rechtfertigt Brecht die Prozesse mit dem Argument, es müsse letztlich doch eine internationale Verschwörung gegen die Sowjetunion gegeben haben, gegen die Stalin sich durch diese Prozesse habe wehren müssen: »Einzugehen auf die Frage, ob sich die Sowjetunion in ihrer jetzigen Lage imstande sieht, bei der Aufdeckung und Diffamierung lebensgefährlicher Verschwörungen mit konterrevolutionärer Tendenz den Forderungen des bürgerlichen Humanismus nachzukommen, ist da ganz müßig. Lenin selbst hat im Verlauf der großen Revolution, als er den Terror verlangte, immer wieder gegen die rein formalistische Forderung nach einem, dem tatsächlichen gesellschaftlichen Zustand nicht entsprechenden, in factum konterrevolutionären Humanismus schärfstens protestiert. Damit wird nicht der physischen Folterung das Wort geredet, eine solche kann unmöglich angenommen werden und braucht auch nicht angenommen zu werden.« 8

Ähnliche Verklärungen Stalins und ähnlich vehemente Rechtfertigungen seiner Schauprozesse kann man auch bei Ernst Bloch und Heinrich Mann 9 nachlesen, auch wenn die nicht wie Feuchtwanger vor Begeisterung zu stottern anfingen, und bezeichnenderweise stellten sich all die Genannten auf die Seite der Täter, keiner auf die der Opfer. Und seltsamerweise fühlte sich auch keiner der Genannten durch die Angeklagten an den biblischen Hiob erinnert, der von seinem Gott, an den er so fest geglaubt hatte, einem sadistischen Szenario unterworfen wird. Bei alledem muss man sich schon wundern, warum all diese Stalin-Verehrer wie Heinrich Mann, Ernst Bloch und Lion Feuchtwanger dann doch nicht die Sowjetunion als Exil wählten, sondern genau wie Brecht zum Klassenfeind in die USA emigrierten.

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Man darf allerdings auch nicht übersehen, dass Brechts Lob auf Feuchtwangers Bericht ein bisschen keunerisch vergiftet ist, denn wenn er Feuchtwangers Buch über Rußland durch die Wahl dieses Titels »De Russia« mit dem Bericht DE Germania von Tacitus auf eine Stufe stellt, sagt er damit zugleich auch, dass man Feuchtwangers Buch genau so wenig ernst nehmen darf wie den Bericht des Tacitus, der ja nicht so sehr als ethnologische Studie über die ach so vorbildlichen Germanen gemeint war, sondern als Spiegel, den er den eigenen Landsleuten vorhalten wollte, die ihm reichlich dekadent vorkamen. Dass Feuchtwangers Bericht von vielen leichtgläubigen Linken genauso gern gelesen und geglaubt worden sein dürfte wie das Lob des Tacitus auf die vorbildlichen Germanen von den alldeutschen Sinnbewirtschaftern im wilhelminischen Zeitalter 10, dürfte Brecht wohl klar gewesen sein. Und wahrscheinlich hat er’s auch so gemeint.

9.2.3 Gewalt-Rechtfertigung im Geiste der Soziodizee Feuchtwangers Apologie der Moskauer Prozesse scheint stark von Hegels geschichtsphilosophischen Überlegungen geprägt zu sein, die Hegel selbst als eine neue Art von Theodizee verstand, weil er in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte behauptet, die Weltgeschichte sei nicht ein Werk des Zufalls, sondern die »Produktion der schöpferischen Vernunft«, die diese Welt regiere: »Unsere Erkenntnis geht darauf, die Einsicht zu gewinnen, dass das von der ewigen Weisheit Bezweckte, wie auf dem Boden der Natur, so auf dem Boden des in der Welt wirklichen und tätigen Geistes herausgekommen ist. Unsere Betrachtung ist insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibniz metaphysisch auf seine Weise in noch abstrakten, unbestimmten Kategorien versucht hat: das Übel in der Welt überhaupt, das Böse mit inbegriffen, sollte begriffen, der denkende Geist mit dem Negativen versöhnt werden; und es ist in der Weltgeschichte, dass die ganze Masse des konkreten Übels uns vor die Augen gelegt wird.« 1

Aber: »Diese Aussöhnung [mit dem Übel in der Welt, L. P.] kann nur durch die Erkenntnis des Affirmativen [also durch Einverständnis, L. P.] erreicht werden, in welchem jenes Negative zu einem Untergeordneten und Überwundenen verschwindet – durch das Bewusstsein, teils was in Wahrheit der Endzweck der Welt sei, teils dass derselbe in ihr verwirklicht worden sei

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und nicht das Böse neben ihm ebensosehr und gleich mit ihm sich geltend gemacht habe. Die Rechtfertigung [des Übels in der Welt, L. P.] geht darauf hinaus, das Übel gegenüber der absoluten Macht der Vernunft [als etwas Notwendiges, L. P.] begreiflich zu machen. Es handelt sich um die Kategorie des Negativen, von der vorher die Rede war, und die uns sehen lässt, wie in der Weltgeschichte das Edelste und Schönste auf ihrem Altar geopfert wird.« (S. 48)

Begründet und gerechtfertigt wird dieses Einverständnis mit dem notwendigen Übel in der Weltgeschichte mit einem Glaubenssatz, den Hegel auch offen und ungeniert als einen solchen benennt, und dieser alles begründende Glaubenssatz, mit dem Hegel behauptet, der Lauf der Weltgeschichte entspreche dem Willen Gottes, weshalb die Weltgeschichte so, wie sie sei, letztlich auch gerechtfertigt sei, lautet: »Den Glauben und Gedanken muss man zur Geschichte bringen, dass die Welt des Wollens nicht dem Zufall 2 anheimgegeben ist. Dass in den Begebenheiten der Völker ein letzter Zweck das Herrschende, dass Vernunft in der Weltgeschichte ist, – nicht die Vernunft eines besonderen Subjekts, sondern die göttliche, absolute Vernunft, – ist eine Wahrheit, die wir voraussetzen; ihr Beweis ist die Abhandlung der Weltgeschichte selbst: sie ist das Bild und die Tat der Vernunft.« (S. 29)

Jeden einzelnen dieser Sätze könnte auch jeder Marxist unterschreiben; er müßte nur an die Stelle Gottes die »ehernen Gesetze der Geschichte« 3 setzen, die die marxistischen Klassiker ja angeblich als solche erkannt und bündig formuliert haben. Denn erst wenn Hegels Geschichtsphilosophie auf diese Weise säkularisiert worden ist, kann man zum zweiten Glaubenssatz übergehen, demzufolge der Kommunismus, insbesondere der von Stalins Gnaden, die Verwirklichung dieser absoluten Vernunft in der Geschichte sei und dass Stalin der Organisator dieses historisch notwendigen Prozesses sei, dessen Opfer in diesem Prozess eben notwendig und deshalb gerechtfertigt seien, weil hier eben in vollem Einverständnis mit diesen »ehernen Gesetzen der Weltgeschichte« gehandelt werde. Mit einem Wort: Aus der säkularisierten Theodizee wird eine Soziodizee. Maurice Merleau-Ponty hat diese Rechtfertigung revolutionärer Gewalt besonders aggressiv vertreten, denn er schreibt ungeniert in seiner heillosen ideologischen Verblendung: »List, Lüge, vergossenes Blut und Diktatur sind gerechtfertigt, insofern sie die Herrschaft des Proletariats ermöglichen, und nur dann. Die marxisti-

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sche Politik ist ihrer Form nach diktatorisch und totalitär. Doch diese Diktatur ist die Diktatur der Menschen, die am reinsten Menschen sind; diese Totalität ist die Totalität aller Arbeiter, die vom Staat und den Produktionsmitteln Besitz ergreifen. Die Diktatur des Proletariats ist nicht der Wille einiger Funktionäre, die, wie Hegels Staatsbeamte, als einzige in das Geheimnis der Geschichte eingeweiht sind, sondern sie gehorcht der spontanen Bewegung des Proletariats aller Länder, sie stützt sich auf den »Instinkt« der Massen.« 4

Und speziell die Moskauer Schauprozesse rechtfertigt Merleau-Ponty mit dem schlagenden Argument, dass darüber eigentlich nur bestimmte Leute urteilen dürfen und alle anderen nicht, denn: »Da eine Revolution bei denen, die sie machen, das sichere Verständnis dessen voraussetzen, was sie leben, beherrschen die Revolutionäre ihre Gegenwart, wie die Historiker die Vergangenheit beherrschen. Das ist bei den Moskauer Prozessen wirklich der Fall: Staatsanwalt wie Angeklagte sprechen im Namen der universalen, wenngleich unvollendeten Geschichte, weil sie diese im marxistischen Absoluten der untrennbar subjektiv-objektiven Aktion zu erreichen glauben. Die Moskauer Prozesse sind nur unter Revolutionären verständlich, das heißt unter Menschen, die überzeugt sind, die Geschichte zu machen, und die infolgedessen die Gegenwart bereits als Vergangenheit und die Zögernden als Verräter betrachten.« (S. 72)

Genau dies scheint auch Feuchtwanger geglaubt zu haben, und möglicherweise 5 auch Brecht selbst. Zumindest zunächst einmal, denn Feuchtwangers Orientierung an Hegels Theodizee der Weltgeschichte scheint bei Brecht eine Denkbewegung in Gang gesetzt zu haben, die wieder bei der Frage »unde malum?« ansetzte, die ihn, wie wir in Kapitel I,5 gesehen haben, schon bei seinen frühesten Gedichten umgetrieben hatte, als er auf die systemimmanenten Tücken und Fallen der Theodizee-Ideologie stieß. Damals führte ihn dies zur allmählichen Emanzipation vom Christentum seiner Kindheit und Jugend, diesmal wird es ihn zur Ablösung vom stalinistisch deformierten Kommunismus führen, weil er sich in beiden Fällen nicht oder nicht mehr nur auf die Seite der Täter, sondern auch auf die der Opfer stellte. Diese frühen Zweifel an der Theodizee-Ideologie konzentrierten sich in dem in Kapitel I,5 schon einmal zitierten Gedicht, in dem Brecht darstellt, wie ratlos fromme Bauern darauf reagieren, dass ihnen ein allmächtiger Gott in einem sadistischen Szenario die Ernte vernichtet, sodass sie nur noch ratlos und verzweifelt fragen können:

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Warum nur der Herr sie schlug? Sie waren doch in die Kirche gegangen Wenn am Sonntag die Glocken sangen Sie hatten die Felder gesegnet mit heißem Beten sie kannten nicht Lug und Trug …. Warum hatte dafür Gott alles zertreten? Hatten sie nicht einen alten Schwur: »Rufe mich an in der Not, ich will dich erretten!« Warum dann der Hagel schlug? Warum nur? (S. 425 f.)

Als Brecht die Protokolle 6 der Moskauer Prozesse las, die er sich alsbald besorgt hatte, dürften ihn die Schlussworte der Angeklagten trotz aller Reuebekenntnisse nicht nur an dieses eigene frühe Gedicht erinnert haben, sondern auch an den frommen Hiob, den sein Gott so schlimm misshandeln lässt, denn auch hier konnte er wieder einen allmächtigen Sadisten am Werk sehen, der seine Anhänger auf das übelste malträtieren lässt, bis aufs Blut demütigt und schließlich vernichtet. Am deutlichsten konnte man dies an Bucharins Schlussworten ablesen, der sich in Reue-Bekundungen geradezu wälzte – »Die Ungeheuerlichkeit unserer Verbrechen ist grenzenlos!« 7 – und Stalin im Angesicht des eigenen nahen Todes trotzdem noch zum Abgott der Menschheit erhob. Bucharin ging sogar so weit, Feuchtwangers Bericht über die Moskauer Prozesse noch zu korrigieren, weil dieser das Wesen dieser Prozesse letztlich doch nicht wirklich begriffen habe, denn »die Weltgeschichte ist das Weltgericht«: »Aber man kann es nicht so machen, wie es Feuchtwanger besonders in bezug auf Trotzki macht, wenn er ihn mit Stalin auf eine Linie stellt. Das ist eine vollständig falsche Betrachtung bei ihm. Denn in Wirklichkeit steht hinter Stalin das ganze Land, er ist die Hoffnung der Welt, der Schöpfer.« 8

Es waren aber nicht so sehr die grotesken Selbstbezichtigungen 9 der Angeklagten, die Brecht misstrauisch machten und an der Korrektheit der Moskauer Prozesse zweifeln ließen, sondern erst die bestürzende Entdeckung, dass auch Freunde und Bekannte in der Sowjetunion, von deren Unschuld er überzeugt war, plötzlich spurlos 10 verschwanden. In dieser Situation und mit diesen Tatarenbotschaften im Kopf schrieb er dann im Mai 1938 sein großes Gedicht Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration, in dem es gleich in den ersten Versen heißt, 392 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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die Güte sei im Lande »wieder einmal schwächlich« gewesen und die Bosheit habe wieder einmal »kräftig zugenommen«, weshalb der alte Philosoph sich zur Emigration entschlossen habe. In den Tagebuch-Notizen von Walter Benjamin vom Sommer 1938 werden Brechts Zweifel an der kommunistischen Theodizee denn auch des öfteren angesprochen. So heißt es z. B. unter dem 25. Juli 1938 über Brecht: »Der russischen Entwicklung folge er; und den Schriften von Trotzki 11 ebenso. Sie beweisen, dass ein Verdacht besteht; ein gerechtfertigter Verdacht, der eine skeptische Betrachtung der russischen Dinge fordert. Solcher Skeptizismus sei im Sinne der Klassiker. Sollte er eines Tages erwiesen werden, so müsste man das Regime bekämpfen – und zwar öffentlich. Aber »leider oder Gottseidank, wie Sie wollen«, sei der Verdacht heute noch keine Gewissheit. Eine Politik wie die Trotzkische aus ihm abzuleiten, sei nicht zu verantworten. »Dass auf der anderen Seite, in Russland selbst, gewisse verbrecherische Cliquen am Werke sind, darin ist kein Zweifel. Man ersieht es von Zeit zu Zeit an ihren Untaten.«« 12

Anfang August 1938 kommt Brecht laut Benjamins Tagebuch nochmals direkt auf die Zustände in Russland zu sprechen und behauptet, es herrsche dort nicht die von den Klassikern geforderte und vorausgesagte Diktatur des Proletariats, sondern »eine Diktatur über das Proletariat« (S. 135), eine Art von »Arbeitermonarchie« (S. 135). Diese Einschätzungen der Lage in Stalins Sowjetunion lassen darauf schließen, dass Brecht Trotzkis Buch Verratene Revolution von 1936 gelesen haben dürfte, weil Trotzki dort zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt. Und im Januar 1939 zieht Brecht eine Bilanz und listet all die Verluste an Freunden auf, die er selbst durch Stalins Säuberungen erlitten hat, und diese Bilanz ist katastrophal: »Auch Kolzow verhaftet in Moskau. Meine letzte russische Verbindung mit drüben. Niemand weiß etwas von Tretjakow, der »japanischer Spion« sein soll. Niemand etwas von der Neher, die in Prag im Auftrag ihres Mannes trotzkistische Geschäfte abgewickelt haben soll. Reich und Asja Lacis schreiben mir nie mehr, Grete bekommt keine Antwort mehr von ihren Bekannten im Kaukasus und in Leningrad. Auch Béla Kun ist verhaftet, der einzige, den ich von den Politikern gesehen habe. Meyerhold hat sein Theater verloren, soll aber Opernregie machen dürfen. Literatur und Kunst scheinen beschissen, die politische Theorie auf dem Hund, es gibt so etwas wie einen beamtenmäßig propagierten dünnen blutlosen proletarischen Humanismus. (…) Das Fluktuieren der Arbeiter (zwischen den verschieden entlohnenden Fabriken) ist gesetzlich gestoppt, und es soll Streiks gegeben

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haben. Über die politische »Demokratie« erfährt man nichts als Phrasen, und nichts erfährt man über die soziale Organisationsform der Produktion. Für die Marxisten außerhalb [also auch für ihn selbst, L. P.] ergibt sich ungefähr die Stellung wie die Marxens zur deutschen Sozialdemokratie: Positiv kritisch.« 13

Und diese »positiv kritische« Stellung, die Marx zur deutschen Sozialdemokratie hatte, bestand darin, dass er sie im Briefwechsel mit Engels als »Lumpenpack« und Scheißkerle« 14 bezeichnete. Brecht hat zwar seinen Freund Feuchtwanger gebeten, sich bei Stalins Sekretär vorsichtig nach dem Schicksal von Carola Neher 15 zu erkundigen, hat aber selbst nie zum Schicksal seiner verschwundenen Freunde öffentlich Stellung bezogen, oder gar in Form eines offenen Briefes an Stalin Auskunft über deren Schicksal verlangt, und musste sich deshalb von dem Trotzkisten Walter Held in einem offenen Brief angreifen lassen: »Das traurigste und beschämendste Kapitel an dieser blutigen Tragödie (die Ermordung Carola Nehers und anderer Emigranten) ist die Haltung der offiziellen deutschen Emigration gegenüber dem Schicksal ihrer nach der Sowjetunion ausgewanderten Mitglieder. Die deutsche ›Volksfront‹ : die Herren Heinrich und Thomas Mann, Bertold Brecht, Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig, die ›Weltbühne‹, die ›Pariser Tageszeitung‹, die ›Volkszeitung‹ (…) sie alle, alle hüllen sich in Schweigen. Sie, Herr Brecht, haben Karola Neher gekannt. Sie wissen, dass sie weder eine Terroristin, noch eine Spionin, sondern ein tapferer Mensch und eine große Künstlerin ist. Weshalb schweigen Sie? Weil Stalin Ihre Publikation ›Das Wort‹, die verlogenste und verkommenste Zeitschrift, die jemals von deutschen Intellektuellen herausgegeben worden ist, bezahlt? Woher nehmen Sie noch den Mut, gegen Hitlers Mord an Liese Hermann, an Edgar André und Hans Litten zu protestieren? Glauben Sie wirklich, dass Sie mit Lüge, Knechtseligkeit und Niedrigkeit die Kerkerpforten des Dritten Reiches sprengen können?« 16

Selbstverständlich hat Brecht auf diese Anwürfe nicht öffentlich 17 geantwortet – was hätte er zu seiner Verteidigung auch sagen können? –, sondern weiterhin öffentlich geschwiegen, denn in jeder Form von öffentlicher Stellungnahme zu den Vorwürfen von Walter Held hätte er auch in irgendeiner Form zu Stalin und seinem Regime Stellung nehmen müssen, und gerade das wollte er unbedingt vermeiden, weil auch schon die leiseste Kritik an Stalin überaus unangenehme Folgen haben konnte. Walter Held, der so unvorsichtig war,

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durch die Sowjet-Union zu fahren, um in die USA auszuwandern, wurde z. B. aus dem Zug geholt und auf der Stelle erschossen. Wenn man will, kann man eine solche Haltung Brechts als Feigheit, Opportunismus oder Gesinnungslumperei verdammen, man kann darin aber auch lebenskluge Vorsicht sehen, und schließlich auch die zynische Variante des »Prinzips Einverständnis«, wie Brecht selbst sie in der langen Ballade von der Billigung der Welt formuliert hat: 1 Ich bin nicht ungerecht, doch auch nicht mutig Sie zeigten mir da heute ihre Welt Da sah ich nur den Finger, der war blutig Da sagt ich eilig, dass sie mir gefällt. 2 Den Knüppel über mir, die Welt vor Augen Stand ich vom Morgen bis zur Nacht und sah. Sah, dass als Metzger Metzger etwas taugen Und auf die Frage: freut’s dich? Sagt ich: ja. 3 Und von der Stunde sagt ich ja zu allen Lieber ein feiger als ein toter Mann Nur um in diese Hände nicht zu fallen Billigte ich, was ich nicht billigen kann. (…) 28 Ich sah die Mörder und ich sah die Opfer Und nur des Muts und nicht des Mitleids bar Sah ich die Mörder ihre Opfer wählen Und schrie: ich billige das, ganz und gar! 29 Ich seh sie kommen, seh den Zug der Schlächter Will doch noch brüllen: Halt! Und da, nur weil Ich weiß: es stehen, Hand am Ohr, die Wächter Hör ich mich ihm entgegenbrüllen: Heil! 30 Da Niedrigkeit und Not mir nicht gefällt Fehlt meiner Kunst in dieser Zeit der Schwung Doch zu dem Schmutze eurer schmutzigen Welt Gehört – ich weiß es – meine Billigung. (S. 240–244)

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Einen ganz anderen, tiefbetroffenen Ton schlägt das Gedicht an, mit dem Brecht auf den Tod seines Freundes Tretjakow und all der anderen Freunde reagiert, die in Rußland Stalins Opfer wurden, und dem er all seine Skrupel, Zweifel und Selbstanklagen anvertraut, das er aber natürlich auch wieder nicht sofort veröffentlichte: Ist das Volk unfehlbar? 1 Mein Lehrer Der große, freundliche Ist erschossen worden, verurteilt durch ein Volksgericht. Als ein Spion. Sein Name ist verdammt. Das Gespräch über ihn Ist verdächtig und verstummt. Gesetzt, er ist unschuldig? 2 Die Söhne des Volkes haben ihn schuldig gefunden. Die Kolchosen und Fabriken der Arbeiter Die heroischsten Institutionen der Welt Haben in ihm einen Feind gesehen. Keine Stimme hat sich für ihn erhoben. Gesetzt, er ist unschuldig? 3 Das Volk hat viele Feinde. In den höchsten Stellungen Sitzen Feinde. In den nützlichsten Laboratorien Sitzen Feinde. Sie bauen Kanäle und Dämme zum Wohl ganzer Kontinente und Kanäle Verschlammen und die Dämme Stürzen ein. Der Leiter muss erschossen werden. Gesetzt, er ist unschuldig? 4 Der Feind geht in Verkleidung. Er zieht eine Arbeitermütze ins Gesicht. Seine Freunde Kennen ihn als eifrigen Arbeiter. Seine Frau Zeigt die löchrigen Sohlen Die er sich im Dienst des Volkes durchlaufen hat. Und er ist doch ein Feind. War mein Lehrer ein solcher? Gesetzt, er ist unschuldig?

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5 Über die Feinde reden, die in den Gerichten des Volkes sitzen können Ist gefährlich, denn die Gerichte brauchen ihr Ansehen. Papiere verlangen, auf denen schwarz auf weiß die Beweise der Schuld stehen Ist unsinnig, denn es muss keine solchen Papiere geben. Die Verbrecher halten Beweise ihrer Unschuld in Händen. Die Unschuldigen haben oft keine Beweise. Ist also schweigen das beste? Gesetzt, er ist unschuldig? 6 Was fünftausend gebaut haben, kann einer zerstören. Unter fünfzig, die verurteilt werden Kann einer unschuldig sein. Gesetzt, er ist unschuldig? 7 Gesetzt, er ist unschuldig Wie mag er zum Tod gehn? (S. 1223 ff.)

Was Brecht so erschrecken musste, waren aber nicht nur die Schauprozesse selbst, in denen die ehemaligen Mitkämpfer Lenins bei der Russischen Revolution von Stalin systematisch vernichtet wurden, sondern auch die Kämpfe innerhalb der Gruppe von deutschen kommunistischen Literaten, die in Moskau im Exil lebten und sich in verschiedenen Sitzungen der deutschen Parteigruppe innerhalb des Sowjet-schriftstellerverbandes durch exzessive gegenseitige Denunzierungen einen Kampf auf Leben und Tod lieferten und dabei Stalins Schauprozesse gleichsam im kleinen Rahmen nachvollzogen. In den Kämpfen im September 1936, die man in der Dokumentation von Reinhard Müller nachlesen kann, kam man u. a. auch auf Brecht zu sprechen, der v. a. von Julius Hay und Gustav von Wangenheim beschuldigt 18 wurde, gegen die Interessen der Partei aktiv geworden zu sein. Irgendwie muss Brecht von diesen Denunziationen erfahren haben, und damit auch davon, dass, wie Knopf meint, »die Vorwürfe, welche die ›Genossen‹ auf der geschlossenen Partei-versammlung von 1936 gegen Brecht vorbrachten, für ein sofortiges Todesurteil ausgereicht hätten« 19, denn allein schon die Behauptung, jemand sei ein Trotzkist, konnte diesen vor die Erschießungskommandos bringen, denn Brecht wusste ja:

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Papiere verlangen, auf denen schwarz auf weiß die Beweise der Schuld stehen Ist unsinnig, denn es muss keine solchen Papiere geben.

Hätte Brecht um diese Zeit seine Lehrstücke, insbesondere seine Massnahme, nochmal durchgeblättert, wäre er wohl etwas erschrocken über die Genauigkeit, mit der er diese stalinistischen Säuberungen dort schon Jahre vorher als zwingende Entwicklung vorhergesehen, vorweggenommen und dargestellt hatte. In den persönlichen Aufzeichnungen, also in Brechts Briefen oder in den Tagebüchern, findet sich, soweit ich sehe, von solchen Überlegungen allerdings nichts.

9.3 Gewalt-Abwehr im Geiste des Herrn Keuner Doch was Brecht selbst nicht getan hat, bleibt uns ja unbenommen, weshalb wir noch einmal einen Gedanken aufgreifen wollen, auf den wir schon in der Einleitung gestoßen waren. Ich meine damit die These von Ricœur, ein in sich stimmiges literarisches Kunstwerk sei nicht die bloße Projektion der unbewältigten persönlichen Konflikte des Autors in ein Werk, wie Freud und einige seiner ersten Schüler noch gemeint hatten, die das literarische Kunstwerk in Analogie zum Traum 1 sehen wollten, sondern schon »die Skizzierung ihrer Lösung« 2, denn: »Der Traum blickt zurück in die Kindheit, in die Vergangenheit; das Kunstwerk ist dem Künstler selbst voraus: es ist mehr ein prospektives Symbol der persönlichen Synthese und der Zukunft des Menschen als ein regressives Symptom seiner ungelösten Konflikte.« 3

Dies gilt jedoch nur für in sich stimmige Werke, weil nur die ästhetische Arbeit, die diese immanente Stimmigkeit herbeiführt, zugleich damit auch diese prospektive Hellsichtigkeit des literarischen Kunstwerks erarbeitet. Und das wiederum heißt, dass der Autor zugleich mit der Arbeit an der immanenten Stimmigkeit des literarischen Werks auch an der eigenen Selbsttherapie arbeitet. So gesehen gleicht ein Künstler, der sich auf diese Weise selbst therapiert, dem Baron von Münchhausen, der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht. Da also ein in sich stimmiges literarisches Werk immer etwas klüger und hellsichtiger sein kann als sein Autor zum Zeitpunkt der Niederschrift, kann immer wieder der Fall eintreten, dass ein Autor 398 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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vor der Hellsichtigkeit seines eigenen Werkes erschrickt, sich von ihm sehr wohl aber auch belehren lassen kann. Ob er diese Belehrung dann auch noch eigens zugibt oder sogar öffentlich macht, ist aber eine ganz andere Frage und kommt wohl eher selten vor, weshalb man nicht enttäuscht sein darf, dass man derartige Geständnisse in den Aufzeichnungen von Autoren eher selten findet. Bei Brecht finden wir, soweit ich sehe, derartige öffentliche Geständnisse nicht, sehr wohl aber stillschweigende Korrekturen früherer Positionen, sowie Umbrüche und Aufbrüche zu neuen Themen und Haltungen, und dies war bei ihm auch während seines dänischen Exils der Fall, als er, erschrocken über die Hellsichtigkeit seiner Massnahme angesichts des Roten Terrors in Stalins Reich, sich gezwungen sah, seine Betrachtung und Bewertung der Gewalt, insbesondere der politischen Gewalt in Form des Roten Terrors, einer fundamentalen Revision zu unterziehen und er tat dies denn auch, allerdings in einer gleichsam maskierten Form, indem er seine eigenen Probleme mit Stalins Terror an eine Dramengestalt delegierte, um seine Kritik auf diese Weise ungefährdet artikulieren zu können, und hierzu wählte er den Physiker Galileo Galilei, der wegen seiner Forschungen gewaltige Probleme mit der katholische Kirche und der Inquisition bekommen hatte. In beiden Fällen ging es darum, dass die Verkündigung von Wahrheiten durch die Androhung von Gewalt unterdrückt wird, und außerdem um die Frage, wie man sich als Betroffener dagegen wehren könnte. Dieses Stück über den Physiker Galileo Galilei 4, der alle Möglichkeiten ergreift, seine Kenntnisse und Fähigkeiten zu erweitern, zu vertiefen und vor allem auch finanziell zu verwerten, liest sich über weite Strecken aber auch wie die Vorwegnahme von Brechts eigener späterer Existenz in der DDR, wo er die einzige Möglichkeit sah, ein eigenes Theater in die Hand zu bekommen, um an diesem seine Theatertheorie in theatrale Praxis umzusetzen, die kulturpolitische Herrschaft der ideologischen Linienbolde aber in Kauf nahm, ganz so, wie Galilei vom sicheren aber geizigen Venedig aus nach Florenz ging, wo die Fleischtöpfe winkten, aber auch die Pfaffen herrschten und mit der Inquisition drohen konnten. Oder mit Paul Ricœur gesprochen: In dem Galilei-Stück war Brecht »sich selbst voraus«, weil das GalileiStück sich als das »prospektive Symbol« seiner eigenen Zukunft erweisen sollte. Natürlich hätte Brecht dieses Thema auch an einem anderen Opfer der Inquisition abhandeln können, z. B. an Michel Servet, den 399 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Calvin 1553 in Genf auf den Scheiterhaufen schickte oder an Giordano Bruno, der 1600 in Rom verbrannt wurde. Doch Galilei erschien ihm wohl deshalb als der geeignetste Kandidat, weil er zwar unter dem Druck der Inquisition seine Lehre widerrufen, aber mit seinem leise hingemurmelten legendären Satz »Und sie bewegt sich doch!« einen Grundgestus von hinhaltendem Widerstand bekundet hatte, der ihn für Brecht zu einem idealen Helden für ein Stück machte, das eine Ethik im Sinne des Herrn Keuner aufzeigen sollte, eine Ethik für das Leben »in finsteren Zeiten«, an der sich auch er selbst orientierte, weil man in solchen finsteren Zeiten eigentlich nur faule Kompromisse schließen kann und am Ende immer irgendwie mit befleckten Händen dasteht, manchmal aber auch trotz alledem mit vollen. Es müssen ja nicht immer gleich blutbefleckte Hände sein. Nun haben wir schon oben in Kapitel 5.4 anhand der KeunerGeschichte Massnahmen gegen die Gewalt gesehen, wie geschickt dieser Herr Keuner sein auf den ersten Blick so feiges Verhalten mit dem Argument zu rechtfertigen weiß, es sei einfach dumm, als Wehrloser trotzigen Heldenmut zu zeigen, denn er habe nun mal »kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich muss länger leben als die Gewalt.« 5 In dieser Wendung »gerade ich« wird aber auch deutlich, dass hier jemand den Anspruch erhebt, für ihn gelte eine ganz spezielle Ethik, gleichsam eine Ethik für Ausnahmemenschen, die ihm ein Verhalten erlaubt oder gar aufzwingt, das man anderen, gewöhnlichen Leuten nicht erlauben darf, weil er über ein ganz einzigartiges Wissen und Können verfüge, das unter allen Umständen und mit allen Mitteln geschützt und erhalten werden müsse, und seien diese Mittel auch noch so schäbig. Und genauso wie Herr Keuner angesichts der Gewalt so verhält sich auch Galilei in seinem Inquisitions-Prozess und seinem öffentlichen Widerruf seiner Erkenntnisse, doch nach seinem öffentlichen Widerruf verhält er sich wiederum ganz so wie der Herr Egge in Keuners Erzählung, wenn er während seines Hausarrests unter der Aufsicht der Inquisition den frommen Sohn der Kirche mimt, aber heimlich und gleichsam ›hinter seinem eigenen Rücken‹ eine Abschrift der Discorsi anfertigt und sie dann seinem Schüler Andrea übergibt, damit dieser sie über alle Grenzen nach Holland schmuggelt, sodass sie dort endlich veröffentlicht werden können. In den finsteren Zeiten totalitärer Machtausübung kann die Abwehr von Gewalt offenbar tatsächlich nicht in Form von heroischem Trotz, sondern nur als heimlicher hinhaltender Widerstand geschehen. 400 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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In der ersten Fassung des Stücks hat Galilei in Zusammenarbeit mit einem Handwerker, der hier offensichtlich ›das Volk‹ vertreten soll, sogar ein regelrechtes System zum heimlichen Vertrieb seiner Schriften 6 aufgebaut, um die Überwachung durch die Inquisition zu unterlaufen, und dieses System scheint offensichtlich auch zu funktionieren. Aber auch dieses Prinzip des heimlichen Wissens-Transfers wird schon in der Keuner-Geschichte Von den Trägern des Wissens vorweggenommen und begründet, denn Herr Keuner behauptet: »Wer das Wissen trägt, der darf nicht kämpfen; noch die Wahrheit sagen; noch einen Dienst erweisen; noch nicht essen; noch die Ehrungen ausschlagen; noch kenntlich sein. Wer das Wissen trägt, hat von allen Tugenden nur eine: dass er das Wissen trägt.« 7

Genau diese Sätze könnte auch Galilei seinem Schüler Andrea Sarti mit auf den Weg geben, wenn dieser ihn mit der Wahrheit unterm Rock verlässt, um die Discorsi nach Holland zu schmuggeln und dort zu veröffentlichen. Im Galilei-Stück legt sich Andrea das Verhalten seines Lehrers so zurecht, dass dieser den Kriterien einer ganz neuen Ethik gefolgt sei, die sich so anhört, als habe er sie aus Max Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum abgeleitet: Galilei als der Einzige und sein Werk als sein Eigentum, das einzig Galilei schreiben konnte und niemand sonst, und für das einzig Stirners Maxime gilt: »Verwertet Euer Eigentum!« 8, denn: »Über der Pforte unserer Zeit steht nicht jenes apollinische: »Erkenne Dich selbst«, sondern ein: Verwerte Dich!« 9. Und dies gilt eben in besonderer Weise für Wissenschaftler und Künstler, und somit auch für Galilei und auch für Brecht selbst. Ganz offensichtlich sieht auch Andrea dies so, denn er präsentiert die Abschrift der Discorsi, ehe er sie an sich genommen hat und unter seinem Rock verschwinden lässt, in der zweiten Fassung mit den Sätzen: »Dies ändert alles. Alles. (…) Sie versteckten die Wahrheit. [Aber Sie versteckten sie, L. P.] Vor dem Feind. Auch auf dem Felde der Ethik waren Sie uns um Jahrhunderte voraus. (…) Mit dem Mann auf der Straße sagten wir: Er wird sterben, aber er wird nie widerrufen, – Sie kamen zurück: Ich habe widerrufen, aber ich werde leben. – Ihre Hände sind befleckt, sagten wir. – Sie sagten: Besser befleckt als leer.«

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Und darauf antwortet Galilei: »Besser befleckt als leer. Klingt realistisch. Klingt nach mir. Neue Wissenschaft, neue Ethik.« (S. 150)

Klingt aber auch nach Brecht, dessen sehr früher Gesang des Soldaten der Roten Armee die exakte Alternative zeigt, weil er mit der Strophe endete: Und mit dem Leib, von Regen hart Und mit dem Herz, versehrt von Eis Und mit den blutbefleckten leeren Händen So kommen wir grinsend in euer Paradeis. (S. 47)

Da sich der Stirnersche Imperativ des Verwertens durch das ganze Werk zieht, weil Galilei alle Möglichkeiten ergreift, seine wissenschaftlichen Entdeckungen auch in praktisch-technisch verwertbares Wissen zu verwandeln und damit wiederum auch in finanziell verwertbares Wissen, verschiebt sich das ethisch-moralische Problem dieses Imperativs des Verwertens letztlich auf die Frage, ob Galilei am Ende mit befleckten und leeren oder mit befleckten, aber vollen Händen dasteht und ob das Werk, das er Andrea am Ende des Stücks zu treuen Händen übergibt, es wert war, dass sein Urheber all diese moralischen Verrenkungen und den Verlust der ›aufrechten Haltung‹ auf sich genommen hat. Ob Herr Keuner das Recht hatte, von sich zu behaupten, gerade er müsse länger leben als die Gewalt, wissen wir nicht, weil wir nicht wissen, ob er wirklich der Träger eines unersetzlichen Wissens war und schon gar nicht wissen, von welcher Art dieses Wissen ist, als dessen Träger er sich in seinen Geschichten darstellt, es sei denn, wir identifizieren ihn einfach und direkt mit Brecht selbst. Doch von Galilei wissen wir es und wir wissen auch, dass dieses Werk es wert war, auf diese Weise erworben, geschützt und weitergegeben zu werden, aus welchen Händen auch immer. Und da auch der Galilei des Stücks in gewisser Weise eine Maske von Brecht selbst ist, wird man seinen Kult des inneren Vorbehalts und sein auf den ersten Blick feiges und schäbiges Verhalten im Umgang mit dem kommunistischen Großinquisitor Stalin und seinen Helfershelfern in der Komintern eben auch an dieser »neuen Ethik« des Verwertens in finsteren Zeiten messen dürfen, und dann wird man wohl zu dem Schluss kommen können, dass auch Brecht am Ende mit etwas schmutzigen, aber eben auch vollen Händen dastand 402 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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und ein Werk präsentieren konnte, vor dem man sich trotzdem in Ehrfurcht verneigen muss. Dass Brecht sich überhaupt eine Gestalt gewählt hat, die Probleme mit der Inquisition hatte, hängt mit dem Umstand zusammen, dass es so viele fatale Analogien zwischen der katholischen Kirche zur Zeit der Gegenreformation und der Komintern unter der Herrschaft Stalins gibt, die sich insbesondere in der Bekämpfung von Häretikern aller Art zeigen, denn diese Analogien zwischen beiden Systemen boten Brecht die Möglichkeit, das Wesen und Unwesen des Stalinismus in Form des Roten Terrors in einer gleichsam klerikal maskierten Form darzustellen und zugleich damit auch seine Kritik daran, ohne mit den Schergen der Komintern in Konflikt geraten zu müssen. In kirchlicher Sicht war Galilei in der Tat ein klassischer Häretiker und wird im Stück auch so geschildert, was sich sofort zeigt, wenn man in der Studie von Klaus-Georg Riegel das Kapitel über die »Häresie des Trotzkismus« 10 nachliest, weil hier schon im Titel des Kapitels deutlich gemacht wird, wie massiv die Analogien zwischen der Praxis der Inquisition und den Moskauer Schauprozessen waren, wenn es galt Häretiker zu bekämpfen und zu vernichten: »Als Häresie kann jede Doktrin bezeichnet werden, die gegen die Heilige Schrift verstößt, öffentlich verkündet und hartnäckig verteidigt wird. Nach dieser aus der mittelalterlichen Tradition der Ketzerverfolgung stammenden Definition verharrt der Häretiker in seinem Irrtum und ist nicht bereit, ihn öffentlich zu widerrufen und in den Kreis der Gemeinschaft der Gläubigen, deren sichtbarer Ausdruck die Amtskirche ist, zurückzukehren. Der Häretiker weigert sich, Zerknirschung und Reue über die begangene Verfehlung zu empfinden und durch die Ableistung der geforderten Bußwerke die Gemeinschaft der Gläubigen zu überzeugen, dass der Irrtum überwunden und ausgelöscht sei. Zeigt sich der Häretiker nicht einsichtig, schließt ihn die Amtskirche aus, stigmatisiert ihn mit dem Bannfluch der Häresie und stößt ihn in die Illegalität verfolgungswürdiger häretischer Lehre und Praxis. Durch die Exkommunikation und die Stigmatisierung zeigt die Amtskirche öffentlich an, dass sie die einzige Anstalt ist, die binden und lösen kann und Sünder und Gläubige mit Verdammnis wie Rettung überziehen kann. Die Amtskirche verfügt auch über die notwendigen institutionellen Vorkehrungen (Synoden, Konzile, Inquisitionstribunale), um Wahrheit von Falschheit unterscheiden zu können. Ein gesicherter Bestand an bindenden Dogmen und päpstlichen Verlautbarungen erleichtert die Wahrheitsermittlung und Wahrheitsfindung. Ketzermanuale beschreiben Art und Inhalt häretischen Tuns und Lehrens, geben erste Hinweise auf ver-

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dächtige Momente und Merkmale, die zum Einschreiten auffordern. Ein in der Ketzerverfolgung geschultes Personal und der ihm zur Verfügung stehende Erzwingungsstab erleichtern die Suche nach Ketzern und ihre Festsetzung bis zum Tag der endgültigen Verurteilung oder der bedingten Freilassung.« (S. 46)

All dies finden wir auch in Brechts Galilei-Stück und all das finden wir in übertragener Form auch in der inquisitorischen Praxis der Komintern und in den Moskauer Schauprozessen, sodass man gar nicht anders kann, als Brechts Galilei-Stück immer auch vor der Folie der Moskauer Prozesse und als seinen Kommentar dazu zu lesen. Besonders deutlich wird dies im 13. Bild, in dem Galilei nach dreiwöchiger Untersuchungshaft, in der man ihm ausgiebig die Instrumente gezeigt hatte, als völlig gebrochener Mann auftritt, während sein Widerruf öffentlich verkündet wird, denn in der Regieanweisung heißt es ausdrücklich, er sei »völlig, bis zur Unkenntlichkeit verändert durch den Prozess« (S. 139), also ganz so, wie dies bei vielen der Angeklagten in den Moskauer Schauprozessen der Fall war, denen man offenbar ebenfalls viele Instrumente gezeigt und die man einige auch hatte verspüren lassen. An die z. T. geradezu absurden Selbstbezichtigungen der Angeklagten wird man auch erinnert, wenn man die lange Predigt liest, die Galilei in der zweiten Fassung des Stücks seinem Schüler Andrea beim Abschied mit auf den Weg gibt. Den Schluss der zweiten Fassung des Stücks schrieb Brecht unter dem Schock, den der Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima bei ihm ausgelöst und das Berufsbild des Physikers und damit auch das Bild Galileis bei ihm beträchtlich eingetrübt hatte. Galilei bezichtigt sich hier nämlich als Verräter am Geist der Wissenschaft und klagt sich an, er habe versagt: »Ich habe meinen Beruf verraten. Ein Mensch, der das tut, was ich getan habe, kann in den Reihen der Wissenschaftler nicht geduldet werden.« (S. 155)

Skrupel dieser Art hatte Brecht aber auch schon vor dem Abwurf der Atombombe, denn am 6. April 1944 notiert er in seinem Tagebuch, er empfinde ein gewisses Unbehagen an seinem Stück, insbesondere am Ausgang des Stücks und damit an seiner Moral, und fährt dann fort: »So prüfte ich die Moral noch einmal nach, die mich immer leise beunruhigt hat; gerade weil ich hier der Geschichte zu folgen versuchte und keine moralischen Interessen hatte, ergibt sich eine Moral, und ich bin nicht glücklich damit. Galilei kann dem Aussprechen der Wahrheit so wenig wi-

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derstehen wie dem Verschlingen eines lockenden Gerichts, es ist ihm ein sinnlicher Genuss. Und er baut seine Persönlichkeit so leidenschaftlich und weise auf wie sein Weltbild. Eigentlich fällt er zweimal. Das erste Mal, wenn er der Lebensgefahr wegen die Wahrheit verschweigt oder widerruft, das zweite Mal, wenn er sie trotz der Lebensgefahr wieder sucht und verbreitet. Seine Produktion zerstört ihn. Nun höre ich mit Unwillen, ich hätte es für richtig gehalten, dass er öffentlich widerrufen hat, um insgeheim seine Arbeit fortsetzen zu können. Das ist zu flach und zu billig. Galilei zerstörte schließlich nicht nur sich als Person, sondern auch den wertvollsten Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit. Die Kirche (d. h. die Obrigkeit) verteidigte die Bibellehre ausschließlich, um sich, ihre Autorität, ihre Möglichkeit, zu unterdrücken und auszubeuten, zu verteidigen. Das Volk interessierte sich für Galileis Gestirnlehre ausschließlich, weil es unter der Herrschaft der Kirche litt. Galilei gab den eigentlichen [d. h. gesellschaftlichen, L. P.] Fortschritt preis, als er widerrief, er ließ das Volk im Stich, die Astronomie wurde wieder ein [rein akademisches, L. P.] Fach, Domäne der Gelehrten, unpolitisch, isoliert. Die Kirche trennte diese »Probleme« des Himmels von denen der Erde, festigte ihre Herrschaft und erkannte danach die neuen Lösungen bereitwillig an.« 11

Und deshalb lässt Brecht seinen Galilei am Ende der neuen Fassung seine Selbstanklage mit dem Argument begründen: »Ich habe die Überzeugung gewonnen, Sarti, dass ich niemals in wirklicher Gefahr schwebte. Einige Jahre war ich ebenso stark wie die Obrigkeit. Und ich überlieferte mein Wissen den Machthabern, es zu gebrauchen, es nicht zu gebrauchen, es zu missbrauchen, ganz, wie es ihren Zwecken diente.« (S. 155) »Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden!« (S. 154 f.)

Diese Selbstanklage Galileis mag als Schockreaktion Brechts auf den Abwurf der ersten Atombombe nachvollziehbar sein, aber bezogen auf die Situation des historischen Galilei und den des Stücks ist sie schlichtweg absurd, denn auf seinen Tod in den Flammen des Scheiterhaufens hätte die Welt nicht anders reagiert als auf den Tod von Giordano Bruno: Seine Freunde und Kollegen hätte ihm wohl einige Tränen nachgeweint, hätten vielleicht auch die Kirche verflucht und wären dann zur Tagesordnung übergegangen, aber die Discorsi wären eben nie geschrieben worden. Galileis heroisches stellvertretendes Selbstopfer im Namen der Wissenschaft und für die Wissenschaft wäre also völlig vergeblich gewesen. Der Galilei der ersten Fassung 405 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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hätte wohl auf diese Predigt des Galilei der zweiten Fassung geantwortet: »Klingt nicht sehr realistisch. Klingt also nicht nach mir. Klingt eher nach idealistischer Verstiegenheit und nach dogmatischer Ethik.« 12 Galileis Selbstanklage kann schon deshalb nicht überzeugen, weil ein hippokratischer Eid der Wissenschaftler eigentlich nur im Hinblick auf angewandte Wissenschaften sinnvoll sein kann, und auch hier nur dort, wo es um überschaubare Anwendungsmöglichkeiten geht, wie dies z. B. bei der Herstellung von Waffen aller Art der Fall ist, nicht aber für Grundlagenforschung. Mit anderen Worten: Galilei war im Hinblick auf die moralische Verantwortung des Wissenschaftlers für seine Forschungen einfach der falsche Kandidat, und die Astronomie war das falsche Fach, um dieses Problem abzuhandeln, denn die von Brecht behauptete gesellschaftliche und politische Relevanz der Astronomie zu Zeiten Galileis ist einfach ein Phantom. Und die Behauptung Galileis, er sei durch die politische Relevanz seiner astronomischen Forschungen »einige Jahre ebenso stark wie die Obrigkeit« gewesen, ist eine maßlose Übertreibung der eigenen sozialen Stellung und erinnert fatal an bestimmte Vorstellungen des George-Kreises, in dem man vom »Dichter als Führer« träumte, denn der eigentliche Skandal bestand ja darin, dass das Volk zu Zeiten Galileis unter der Herrschaft der Kirche gerade nicht litt, sondern den Pfaffen mit völlig verglaubten Gesichtern nachlief, ihnen brav gehorchte und sich von ihnen auch noch zu heiligen Kriegen verhetzen ließ, denn während des Prozesses gegen Galilei war der Dreißigjährige Religionskrieg schon seit fünfzehn Jahren im Gang. Um die moralische Verantwortung des Naturwissenschaftlers für seine Arbeit zum Thema zu machen, hätte Brecht schon eher ein Stück über J. Robert Oppenheimer oder Albert Einstein schreiben müssen, doch der Plan, ein Stück über Einstein zu schreiben, kam über einige kurze Skizzen nicht hinaus, und über Oppenheimers moralische Skrupel nach dem Abwurf der Bombe konnte er sich in einer Tagebuch-Notiz vom 8. Juli 1954 nur lustig machen, denn: »Seine Schrift liest sich wie die eines Mannes, der von einem Kannibalenstamm angeklagt wird, er habe sich geweigert, Fleisch zu besorgen. Und der jetzt, sich zu entschuldigen, vorbringt, er sei während der Menschen-jagd beim Holzsammeln für den Kochkessel gewesen! Was für eine Finsternis!« 13

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Ganz anders liest sich die Selbstanklage Galileis, die so fatal an die Selbstanklage Bucharins 14 erinnert, wenn man sie im Lichte der Ausführungen von Paul Ricœur als prospektive Selbstaussage Brechts betrachtet, mit der er seine eigene Funktion als politischer Autor in den finsteren Zeiten des Stalinismus umreißt und kritisch analysiert, denn anders als sein Galilei hat er sehr wohl »in wirklicher Gefahr geschwebt« und anders als der historische Galilei hat er sehr wohl sein Wissen und Können den jeweils aktuellen Machthabern überliefert, »es zu gebrauchen, es nicht zu gebrauchen, es zu missbrauchen, ganz, wie es ihren Zwecken diente.« Und ganz anders als sein Galilei musste Brecht sich auch fragen und fragen lassen, ob es nicht auch einen hippokratischen Eid der Autoren geben müßte, wie ihn der Trotzkist Walter Held in seinem offenen Brief von ihm ja faktisch eingefordert hatte. Doch ob jemand in den Reihen der Autoren noch geduldet werden dürfe, entscheidet sich letztlich doch wieder durch die Antwort auf die Frage, wie es denn mit der »Wahrheit unterm Rock« (S. 155) stehe, also mit dem vorgelegten Werk, und da stand Brecht wahrlich nicht mit leeren Händen da. Und noch einmal ganz anders liest sich die Selbstanklage Galileis, wenn man sie mit den Augen eines Partei-Marxisten liest, denn ihm muss sie als die pure Hybris erscheinen, als wahnhafte Selbstüberschätzung eines Intellektuellen, der sich allein schon durch sein Werk für einen Führer der Volksmassen hält und damit in Konkurrenz zur kommunistischen Partei tritt, die ja das Monopol auf diese Funktion beansprucht und tatsächlich auch zu haben glaubt, weil sie sich für die volonté générale der werktätigen Massen hält. Wir werden auf die Frage nach der tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Verantwortung des Wissenschaftlers später noch einmal stoßen, wenn es gilt, die Diskussion über Hanns Eislers Opern-Libretto Johann Faustus darzustellen, denn auch Eisler hatte hier eine Gestalt geschaffen, die im Bauernkrieg sich eigentlich ohne Wenn und Aber an die Spitze der Bauern hätte stellen müssen, sie aber letztlich doch im Stich lässt und damit die ihm vom Autor zugewiesene historische Mission genauso verrät wie schon Brechts Galilei sie verraten hatte. Und auch hier hatten es die Vertreter der SED als ungeheure Anmaßung empfunden, dass Eisler seinem Faustus eine soziale Rolle in der Bauern-Revolution zugesprochen hatte, die ihm als Intellektuellen überhaupt nicht zustand, denn laut Wilhelm Girnus von der SED gilt bei Revolutionen aller Art: »Die Volksmas-

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sen (…) gehen auf der Straße, die Intellektuellen begleiten sie auf dem Bürgersteig.« 15 Am 17. Juni 1953 gingen die Volksmassen tatsächlich auf die Straße, doch die Intellektuellen der DDR begleiteten sie nicht auf dem Bürgersteig oder gingen ihnen gar voran, sondern diskutierten in grotesker Verkennung der eigenen und der aktuellen historischen Situation immer noch über die Frage, ob Eislers Faustus oder Brechts Galilei das Volk im Augenblick einer revolutionären Situation im Stich gelassen hätten und damit als Verräter anzusehen seien oder nicht. Und unter diesem Aspekt liest sich die Selbstanklage Galileis nochmal ganz anders.

9.4 Gewalt-Kritik aus dem Geiste des Lao-tse 9.4.1 Brechts Entdeckung des Taoteking In etwa zu der Zeit, als Brecht mit dem Galilei-Stück anfing, das ihm die fatalen Analogien zwischen der stalinistischen und der kirchlichen Inquisition ständig vor Augen führte, scheint er das Bedürfnis gehabt zu haben, zumindest einige seiner ideologischen Krücken loszuwerden, und tat dies auch in einem schönen kleinen Gedicht: Die Krücken Sieben Jahre wollt kein Schritt mir glücken. Als ich zu dem großen Arzte kam Fragte er: Wozu die Krücken? Und ich sagte: Ich bin lahm. Sagte er: Das ist kein Wunder. Sei so freundlich, zu probieren! Was dich lähmt, ist dieser Plunder. Geh, fall, kriech auf allen vieren! Lachend wie ein Ungeheuer Nahm er mir die schönen Krücken Brach sie durch auf meinem Rücken Warf sie lachend in das Feuer. Nun, ich bin kuriert: ich gehe. Mich kurierte ein Gelächter. Nur zuweilen, wenn ich Hölzer sehe Gehe ich für Stunden etwas schlechter. (S. 1199)

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Wer der große Arzt war, der den Dichter auf diese drastische Art kurierte, wird uns hier nicht verraten, aber mit einem gewissen Recht dürfen wir vermuten, dass es wohl der chinesische Philosoph Lao-tse gewesen sein dürfte, der ihm hier demonstrierte, wie man den aufrechten Stand auch wiedergewinnen kann, wenn man sich nur mutig genug fallen lässt, und diesem neuen und letzten Lehrer Brechts müssen wir uns nunmehr zuwenden, weil er Brechts Spätwerk ganz entscheidend geprägt hat, indem er ihm durch seine Kritik der Gewalt die Möglichkeit gab, die Gewaltphantasien zu überwinden, die er in seinen marxistischen Lehrstücken ausagiert hatte. Wahrscheinlich liegt hier auch der Grund dafür, dass Lao-tse sowohl in der Brecht-Biographie vom Werner Mittenzwei als auch in der von Jan Knopf mit keinem Wort erwähnt wird. Wie wir in Kapitel 4.1 gesehen haben, war Brecht schon sehr früh auf die Philosophie des Lao-tse 1 gestoßen, die er durch den Roman Die drei Sprünge des Wang-lun von Alfred Döblin kennengelernt hatte. Diese Entdeckung des Taoteking scheint für den jungen Brecht eine ähnlich aufwühlende Offenbarung gewesen zu sein wie die Entdeckung von Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum, weil er im Tagebuch unter dem 14. September 1920 über Lao-tse schreibt, »der stimmt mit mir so überein« 2, dass man nur staunen könne. Die Grundlage für dieses verblüffend innige Einverständnis mit Lao-tses Prinzip des »Nichthandelns«, »Nichteingreifens« und »Nichtwiderstehens«, das sich auch durch Döblins Roman wie ein roter Faden zieht, dürfte das »baalische Lebensgefühl« des jungen Brecht gewesen sein, das in den Gedichten der Hauspostille so überaus suggestiv bekundet und dargestellt wird und, wie wir gesehen haben, in einem resonanzbereit mitschwingenden Verhalten im Umgang mit der Natur besteht, das sich wieder auf die Einstellung hinhaltender Hingabe gründet. In Döblins Roman wird Lao-tses Wuwei-Prinzip mit den Worten wiedergegeben: »Die Welt erobern wollen durch Handeln, misslingt. Die Welt ist von geistiger Art, man soll nicht an ihr rühren. Wer handelt, verliert sie; wer sie festhält, verliert sie.« 3

Dieser Spruch Nr. 29 des Taoteking, den Döblin hier paraphrasiert, beschreibt zugleich auch die Geschichte seines Helden Wang-lun, der zwischen den zwei Haltungen des Rebellen und des Heiligen, also des gewaltbereiten Zugreifens, Eingreifens und Angreifens einerseits und 409 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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der der resignativen Selbstzurücknahme andererseits hin und hergerissen wird, wobei er immer auch viele andere zu seinem jeweiligen Verhalten mitreißt, bis er schließlich zu der Einsicht kommt: »Wer im Fieber lebt, erobert Länder und verliert sie; es ist ein Durcheinander, weiter nichts. Die Wölfe und Tiger sind schlechte Tiere; wer sich diese zum Vorbild nehme, fresse und werde gefressen. Die Menschen müßten denken, wie der Boden denkt, das Wasser denkt, die Wälder denken: ohne Aufsehen, langsam, still; alle Veränderungen und Einflüsse nehmen sie hin, wandeln sich nach ihnen. Sie, die wahrhaft schwach gegen das gute Schicksal waren, seien gezwungen worden zu kämpfen. Die reine Lehre [des Wuwei, L. P.] dürfte nicht ausgerottet werden, gelöscht wie eine schlechte Tusche. Nun sei alles Kämpfen für sie vorbei, sollte vorbei sein; Beile, Schwerter, Sensen brauchten sie nur noch einmal zu nehmen. Das Wu-wei sei eingegraben in die Geister der hundert Familien. Es würde sich nach ihnen ausbreiten in heimlicher, wunderstrotzender Weise. (…) Schwach sein, ertragen, sich fügen hieße der reine Weg. In die Schläge des Schicksals sich finden hieße der reine Weg. Angeschmiegt an die Ereignisse, Wasser an Wasser, angeschmiegt an die Flüsse, das Land, die Luft, immer Bruder und Schwester, Liebe hieße der reine Weg.« (S. 471)

Der Spruch 29 des Taoteking, den Döblin hier gleich zweimal paraphrasiert, hat in der Übersetzung von Richard Wilhelm, die auch Brecht immer verwendet hat, die Überschrift Vom Nichthandeln und lautet: Die Welt erobern wollen durch Handeln: Ich habe erlebt, dass das misslingt. Die Welt ist ein geistiges Ding, das man nicht behandeln darf. Wer handelt, verdirbt sie. Wer sie festhält, verliert sie. Denn: die Geschöpfe gehen voran oder folgen, sie seufzen oder schnauben, sie sind stark oder schwach, sie siegen oder unterliegen. Also auch der Berufene: Er meidet das Heftige. Er meidet das Üppige. Er meidet das Großartige. 4

Wenn man die Übersetzung Wilhelms mit anderen Übersetzungen 5 vergleicht, so wird noch etwas deutlicher, dass wir es bei diesem Wuwei-Prinzip mit einer expliziten Kontrafaktur zur elften Feuerbach410 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Abb. 8 Laotse auf dem Büffel

These von Karl Marx zu tun haben, derzufolge man sich nicht damit begnügen solle, die Welt bloß zu interpretieren, sondern sich gefälligst dran machen solle, sie zu verändern. Für Brecht, der sich diese These voll zu eigen gemacht hatte, als er Marxist wurde, war diese elfte Feuerbach-These eine Aufforderung, das rein kontemplative Denken durch ein »eingreifendes Denken« zu ersetzen, an dem sich letztlich auch die Theaterpraxis zu orientieren habe, insbesondere die Praxis der Lehrstücke. 411 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Wie fundamental Lao-tses Wu-wei-Prinzip dieser Forderung nach einem »eingreifenden Denken« widerspricht, wird erst wirklich deutlich, wenn wir die Übersetzung von Zensho W. Kopp ins Auge fassen, denn dort wird der Spruch Nr. 29 unter dem Titel Die Weisheit des Nichteingreifens folgendermaßen wiedergegeben: Begehrt man, die Welt zu ergreifen, um sie zu verändern, ich sehe, dass es misslingt. Die Welt ist ein geistiges Gebilde, man darf nicht auf sie einwirken. Wer auf sie einwirkt, zerstört sie, wer sie ergreift, verliert sie. (…) Darum der Weise: Er meidet das Allzusehr. Er meidet das Allzuviel. Er meidet das Allzugroß. 6

Diese Ermahnung zur tendenziell gewaltfreien Bescheidung und sachten Selbstzurücknahme hatte sich offenbar schon der junge Brecht zu eigen gemacht, denn er schrieb um 1920 als direkte Reaktion auf Lao-tses Ethos des Wu-wei ein Gedicht, in dem diese Lehre des behutsamen Umgangs mit sich selbst und der Welt verkündet wird: 1 IN DEN FRÜHEN TAGEN meiner Kindheit Die, man sagt es, nun vergangen ist Liebte ich die Welt und wollte Blindheit Oder Himmel, der am reinsten ist. Aber früh, am Morgen, ward mir das Verkünden: Dass erblinden muss, wer jenen reinen Glanz des Himmels sehen will, erblinden! Und ich sah ihn. Und ich sah ihn scheinen. Wozu bettelhäftig sich vor Türen drücken? Hilft’s, wenn karge Jahre niemals enden? Sollen wir den roten Mohn nicht pflücken Weil er abends hinwelkt in den Händen? Darum sagt ich: lass es! Rauch den schwarzen Rauch Der in kältere Himmel geht. Ach, sieh ihm Nach: so gehst du auch.

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2 Oftmals denk ich, wenn ich Opium koche Was mein Feind macht, der verfault im Mohn. Und der Stier? Ich beugte ihn so gut dem Joche Und vor roten Fahnen schritt ich schon! Aber schon im Mittag ward mir die Gewissheit: Was denn sollen mir Kampf und Beschwerden? Da ihr alle lange doch gewiss seid Dass sie keinem von uns helfen werden. Wozu Feinde schlagen? Ach, es traut leicht Sich ein Stärkrer heute mich zu schlagen! Wird doch keiner dicker als die Haut reicht Und wozu noch Fett zu Grabe tragen? Darum sagt ich: lass es! Rauch den schwarzen Rauch Der in kältre Himmel geht! Ach sieh ihm Nach: so gehst du auch. 3 Seit den Tagen meiner Kindheit lief ich Säte Hirse, ging die Gräser mähen Bei den Weibern lag ich, zu den Göttern rief ich Kinder macht ich, die jetzt Hirse säen. Aber spät am Abend wars mir die Belehrung: Dass kein Hahn schreit, wenn ich auch verrecke Und dass auch die innerste Bekehrung Keinen Gott aus seinem Schlafe weckte. Wozu ewig Hirse säen in den Steinigen Boden, der sich niemals bessert Wenn doch keiner mehr den TamarindenBaum, wenn ich gestorben, weiter wässert? Darum sag ich: lass es! Rauch den schwarzen Rauch Der in kältre Himmel geht; ach sieh ihm Nach: so gehst du auch. (S. 569 f.)

Aus Richard Wilhelms ausführlichen Einleitung zu seiner Übersetzung des Taoteking, die 1911 bei Eugen Diederichs erschienen war, konnte Brecht entnehmen, dass der Name Lao-tse gar kein Eigenname sei, sondern »ein Appellativum«, das am besten mit der Wendung »der Alte« (S. IV) zu übersetzen sei und dass man über sein Leben nichts Genaues wisse, sodass er sehr wohl auch eine erfundene legendenhafte Gestalt gewesen sein könne, der man bestimmte Weis-

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Abb. 9 Lao-tse trifft Yin-hi an der Grenze

heitssprüche zugeschrieben habe, wie dies auch mit dem König Salomo des Alten Testaments geschehen ist. Neuere Forschungsergebnisse 7 deuten jedoch darauf hin, dass Lao-tse tatsächlich eine historische Person gewesen sein dürfte, die um das Jahr 300 vor Beginn der christlichen Zeitrechnung und damit mitten in der sog. »Epoche der kämpfenden Reiche« gelebt haben muss, die von 475 bis 221 dauerte, also in einer Zeit innerchinesischer Bürgerkriege, in der sich niemand mehr an friedliche Zeiten erinnern konnte. Außerdem dürfte auch sein Taoteking von ihm selbst stammen, dürfte also keine Kompilation in der Art der Weisheitssprüche Salomos sein, sondern das eigenständige Werk eines bestimmten Autors, um den sich aber gleichwohl bestimmte Legenden gebildet haben können. Somit wäre Lao-tse ein hervorragender Repräsentant der »Achsenzeit« 8, in deren Verlauf charismatische Gestalten wie Buddha, Zarathustra, Konfuzius, die griechischen Philosophen und die Propheten Israels geistige Entwürfe vorgelegt haben, die heute noch unser Denken bestimmen.

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Zu den eher legendenhaften Zügen gehört aber die Geschichte über die Entstehung des Taoteking, die Wilhelm mit den Sätzen wiedergibt: »Als die öffentlichen Zustände 9 sich so verschlimmerten, dass keine Aussicht auf Herstellung der Ordnung mehr vorhanden war, soll Laotse sich zurückgezogen haben. Als er an den Grenzpass Han Gu gekommen sei, nach späterer Tradition auf einem schwarzen Ochsen reitend, habe ihn der Grenzbeamte Yin Hi gebeten, ihm etwas Schriftliches zu hinterlassen. Daraufhin habe er den Taoteking, bestehend aus mehr als 5000 chinesischen Zeichen, niedergeschrieben und ihm übergeben. Dann sei er nach Westen gegangen, kein Mensch weiß, wohin.« (S. V)

Diese legendenhafte Episode verwertete Brecht alsbald zu einer Kurzgeschichte mit dem Titel Die höflichen Chinesen Weniger bekannt in unserer Zeit ist es, wie sehr ein der Allgemeinheit geleisteter Dienst der Entschuldigung bedarf. So ehrten die höflichen Chinesen ihren großen Weisen Laotse, mehr als meines Wissens irgendein anderes Volk seinen Lehrer, durch die Erfindung folgender Geschichte. Laotse hatte von Jugend auf die Chinesen in der Kunst zu leben unterrichtet und verließ als Greis das Land, weil die immer stärker werdenden Unvernunft der Leute dem Weisen das Leben erschwerte. Vor die Wahl gestellt, die Unvernunft der Leute zu ertragen oder dagegen etwas zu tun, verließ er das Land. Da trat ihm an der Grenze des Landes ein Zollwächter entgegen und bat ihn, seine Lehren für ihn, den Zollwächter, aufzuschreiben, und Laotse, aus Furcht, unhöflich zu erscheinen, willfahrte ihm. Er schrieb die Erfahrungen seines Lebens in einem dünnen Buche für den höflichen Zollwächter auf und verließ erst, als es geschrieben war, das Land seiner Geburt. Mit dieser Geschichte entschuldigen die Chinesen das Zustandekommen des Buches Taoteking, nach dessen Lehren sie bis heute leben. 10

In Wilhelms Übersetzung fand Brecht außerdem eine chinesische Zeichnung, auf der der Abschied des Lao-tse von dem Zöllner Yin Hi dargestellt ist: Lao-tse sitzt schon wieder auf dem Ochsen und schaut auf den Zöllner zurück. Der Zöllner hat das Werk offenbar soeben empfangen, das er, um es zu schützen, in die weiten Ärmel seines Gewandes eingehüllt hat und feierlich in Richtung Lao-tse hochhält. Und der Junge trägt ein fest verschnürtes Schriftenbündel an einer Bambusstange über der Schulter, offenbar eine zweite Niederschrift, die Lao-tse für sich selbst angefertigt hat und nun mitnehmen will. 415 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Einige Details aus dieser Zeichnung hat Brecht in sein Gedicht übernommen, manches aber auch verändert: So ist z. B. die Kleidung 11 des Zöllners durchaus nicht so dürftig, wie Brecht sie im Gedicht schildert, und auch der Baum in der Mitte des Bildes ist irgendein Laubbaum, im Gedicht aber eine Föhre, weil Brecht eben einen passenden Reim 12 brauchte. Wenn man diese beiden frühen Fassungen der Entstehungsgeschichte des Taoteking mit Brechts großem Gedicht von 1938 vergleicht, sieht man sofort, dass der äußere Handlungsrahmen zwar beibehalten ist, die Pointe der Geschichte aber darin besteht, dass zwei Personen in einem kurzen Blickkontakt blitzartig ihr Einverständnis entdecken – »Auch du?« – und der Philosoph, betroffen durch dieses unerwartete Einverständnis mit dem einfachen Zöllner, dazu gebracht wird, seine zentrale Erkenntnis über die Macht des scheinbar Schwachen als die Antwort auf die Frage »Wer wen?« niederzuschreiben. Und außerdem lässt sich das ganze Gedicht auch noch als eine poetisch gefasste Poetologie lesen, die den medialen und auch die Widerfahrnis-Aspekte des kreativen Handelns wunderbar auf den Begriff bringt: Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration 1 Als er siebzig war und war gebrechlich Drängte es den Lehrer doch nach Ruh Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu. Und er gürtete den Schuh. 2 Und er packte ein, was er so brauchte: Wenig. Doch es wurde dies und das. So die Pfeife, die er immer abends rauchte Und das Büchlein, das er immer las. Weißbrot nach dem Augenmaß. 3 Freute sich des Tals noch einmal und vergaß es Als er im Gebirg den Weg einschlug. Und sein Ochse freute sich des frischen Grases Kauend, während er den Alten trug. Denn dem ging es schnell genug.

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4 Doch am vierten Tag im Felsgesteine Hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt: »Kostbarkeiten zu verzollen?« – »Keine.« Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach: »Er hat gelehrt.« Und so war auch das geklärt. 5 Doch der Mann in einer heitren Regung Fragte noch: »Hat er was rausgekriegt?« Sprach der Knabe: »Dass das weiche Wasser in Bewegung Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Du verstehst, das Harte unterliegt.« 6 Dass er nicht das letzte Tageslicht verlöre Trieb der Knabe nun den Ochsen an. Und die drei verschwanden schon um eine schwarze Föhre Da kam plötzlich Fahrt in unsern Mann Und er schrie: »He du! Halt an! 7 Was ist das mit dem Wasser, Alter?« Hielt der Alte: »Intressiert es dich?« Sprach der Mann: »Ich bin nur Zollverwalter Doch wer wen besiegt, das intressiert auch mich. Wenn du’s weißt, so sprich! 8 Schreib mir’s auf! Diktier es diesem Kinde! So was nimmt man doch nicht mit sich fort. Da gibt’s doch Papier bei uns und Tinte Und ein Nachtmahl gibt es auch: ich wohne dort. Nun, ist das ein Wort?« 9 Über seine Schulter sah der Alte Auf den Mann: Flickjoppe. Keine Schuh. Und die Stirne eine einzige Falte. Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu. Und er murmelte: »Auch du?« 10 Eine höfliche Bitte abzuschlagen War der Alte, wie es schien, zu alt. Denn er sagte laut: »Die etwas fragen

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Die verdienen Antwort.« Sprach der Knabe: »Es wird auch schon kalt.« »Gut, ein kleiner Aufenthalt.« 11 Und von seinem Ochsen stieg der Weise Sieben Tage schrieben sie zu zweit. Und der Zöllner brachte Essen (und er fluchte nur noch leise Mit den Schmugglern in der ganzen Zeit). Und dann war’s soweit. 12 Und dem Zöllner händigte der Knabe Eines Morgens einundachtzig Sprüche ein Und mit Dank für eine kleine Reisegabe Bogen sie um jene Föhre im Gestein. Sagt jetzt: Kann man höflicher sein? 13 Aber rühmen wir nicht nur den Weisen Dessen Name auf dem Buche prangt! Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. Darum sei der Zöllner auch bedankt: Er hat sie ihm abverlangt. (S. 296 ff.)

Bald nach diesem großen Gedicht greift Brecht noch einmal auf das Gedicht mit dem Rauch-Refrain zurück, das er bei seiner ersten Begegnung mit Lao-tse verfasst hatte und schreibt es neu, nun aber zwanzig Jahre älter und resignierter, und verschärft es dementsprechend, sodass es nun lautet: Das Lied vom Rauch Einstmals, vor das Alter meine Haare bleichte Hofft mit Klugheit ich mich durchzuschlagen. Heute weiß ich, keine Klugheit reichte Je, zu füllen eines armen Mannes Magen. Darum sagt ich: lass es! Sieh den grauen Rauch Der in immer kältre Kälten geht: so Gehst du auch. Sah den Redlichen, den Fleißigen geschunden So versucht ich’s mit dem krummen Pfad Doch auch der führt unsereinen nur nach unten Und so weiß ich mir halt fürder keinen Rat.

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Und so sag ich: lass es! Sieh den grauen Rauch Der in immer kältre Kälten geht: so Gehst du auch. Die da alt sind, hör ich, haben nichts zu hoffen Denn nur Zeit schafft’s und an Zeit gebricht’s. Doch uns Jungen, hör ich, steht das Tor weit offen Freilich, hör ich, steht es offen nur ins Nichts. Und auch ich sag: lass es! Sieh den grauen Rauch Der in immer kältre Kälten geht: so Gehst du auch. (S. 1285)

Als Brecht dieses Gedicht über den Rauch schrieb, waren Hitler und Stalin immer noch Verbündete, und da enge Freunde von ihm Stalins Säuberungen in Rußland und Hitlers Verfolgung in Deutschland zum Opfer gefallen waren, hatten sich Hitler und Stalin für Brecht wie für viele andere auch als Brüder im Ungeiste enthüllt, sodass Brechts Euphorie über den »Großen Oktober der Arbeiterklasse« längst in tiefe Resignation umgeschlagen war, weil sich hinter der Maske von Stalins Staatssozialismus die Fratze der nackten Gewalt offenbart hatte. Nun brauchte Brecht ein Argumentationsmodell für eine Kritik der Gewalt jenseits von Marxismus und ›bürgerlicher‹ Philosophie, aber auch jenseits von Stirner, und hier bot sich die Philosophie des Lao-tse an, die er ja schon seit seiner Augsburger Zeit kannte und nun aufs neue entdeckte und intensiv studierte. Das Ergebnis dieses Studiums war nicht nur das große Gedicht über die Legende von der Entstehung des Taoteking, in dem Brecht zugleich seine eigene Neuentdeckung von Lao-tses ›sanftem Prinzip‹ nachvollzog, sondern Brecht schuf in den Stücken, die er um diese Zeit schrieb, zugleich auch einen Typ von Gestalten, die sich in ihrem Verhalten eng an Lao-tses ›sanftem Prinzip‹ orientierten, sodass auch das Verhalten dieser Gestalten sich als eine implizite Kritik der Gewalt verstehen lässt. Mit einem Wort: Es entstand in Brechts Werk der neue Typ des »Guten Menschen« aus dem Geiste des Lao-tse als Gegenentwurf zum Typ des entschlossen und gewaltbereit zugreifenden Täters aus dem Geiste der elften Feuerbach-These.

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9.4.2 Brechts Aneignung des Taoteking Da es sich im Rahmen des Gedankengangs, den diese Studie darzulegen sucht, anbietet, Lao-tses Taoteking mit den Augen Brechts zu lesen, der dieses Werk in der Situation, in der er sich 1938 befand, in erster Linie als Kritik der Gewalt gelesen haben dürfte, muss für uns das Wu-wei-Prinzip des Lao-tse im Mittelpunkt all unserer hermeneutischen Bemühungen stehen. Außerdem maße ich mir nicht an, die Philosophie des Lao-tse besser zu verstehen als Brecht selbst und ihn von daher zu kritisieren, sodass wir nur so vorgehen können, dass wir versuchen, Lao-tse so zu sehen, wie Brecht ihn in seiner damaligen Situation gesehen haben dürfte. Da die Zunahme der Gewalt im Lande der Grund für den Entschluss des Lao-tse war, in die Emigration zu gehen, und er wohl auch nicht der einzige war, der diese Zunahme der Gewalt verspürte, ist es kein Wunder, dass dieses Thema auch im Mittelpunkt des kurzen Gespräches steht, das die beiden Reisenden mit dem Zöllner führen, denn auf die etwas saloppe Frage des Zöllners, was dieser Gelehrte denn so herausgekriegt habe, antwortet der Knabe, froh darüber, dass er auch mal dozieren darf, an dessen Stelle und präsentiert stolz den Kern von Lao-tses Handlungslehre, indem er die Sprüche 36, 43, 76 und 78 1 in einen Satz zusammenzieht: »Dass das weiche Wasser in Bewegung / Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.« (S. 297) Und da er merkt, dass der Zöllner stutzt, weil ihn diese These einigermaßen verblüfft, weil sie der allgemeinen Meinung auf den ersten Blick zu widersprechen scheint, fügt er noch hinzu: »Du verstehst, das Harte unterliegt.« Er hätte auch das Sprichwort hinzufügen können: »Steter Tropfen höhlt den Stein.« Ganz offenbar hat der kleine Dozent seinen Meister richtig verstanden und auch richtig wiedergegeben, denn dessen Spruch 78 beginnt mit den Sätzen: Auf der ganzen Welt gibt es nichts Weicheres als das Wasser. Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt, kommt ihm nichts gleich. Es kann durch nichts verändert werden. Dass Schwaches das Starke besiegt, weiß jedermann auf Erden, aber niemand vermag danach zu handeln. 2

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Und damit ist für den kleinen Dozenten das Thema erst mal erledigt und er treibt den Ochsen zum Aufbruch an. Durchaus nicht erledigt ist das Thema jedoch für den Zöllner, dessen Erfahrungen zeit seines Lebens offenbar ganz andere gewesen sein müssen, sodass er etwas genauer wissen möchte, was dieser unbekannte Lehrer denn für seltsame Lehren verkündet habe, weshalb er sich nun direkt an den Alten wendet, der genau wie sein Schüler mit den Gedanken schon auf dem Weg ist, und ihm die uralte und ewig aktuelle Frage »Wer wen?« nachruft. In dem Augenblick, in dem sich der Alte, getroffen durch diesen Willen nach Erkenntnis, sich dem Zöllner nun zuwendet, wendet sich auch die ganze Geschichte, die hier erzählt wird, denn der Blickkontakt zwischen dem Philosophen und diesem Mann aus dem Volk offenbart beiden, wie sehr sie sich, ohne dass sie es hätten ahnen können, immer schon in einem tiefen Einverständnis befunden haben müssen, weil sie merken, dass sie beide zeit ihres Lebens über die gleiche Frage »Wer wen und wie?« nachgedacht hatten, sodass nun auch der Zöllner zu dem Philosophen sagen könnte: »Auch du?« Und dann wird dieses plötzlich entdeckte Einverständnis auch sofort in die Tat umgesetzt: Die beiden Reisenden bleiben erst mal da, schreiben Lao-tses Wissen auf, übergeben es dem Zöllner zu treuen Händen und setzen dann ihre Reise fort. Unsere Aufgabe besteht nun darin zu klären, wie Brecht selbst dieses Wu-wei-Prinzip des Lao-tse verstanden haben dürfte, und außerdem darin, wie man dieses geheimnisumwitterte Wu-wei-Prinzip in einer Sprache wiedergeben könnte, die uns hier und jetzt vertraut ist. Wenn man nämlich die umfangreiche Literatur zu diesem Gedicht 3 und zum Taoteking selbst 4 sichtet, so merkt man bald, wie weit die Deutungen auseinanderklaffen, weshalb es ratsam ist, dort anzusetzen, wo sich alle Kommentatoren des Taoteking einig sind, und sie sind sich einig darin, •

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dass das Wu-wei-Prinzip in die praktische Philosophie gehört und eine bestimmte Verhaltenslehre ist, die als eudämonistische Lebenskunst verstanden werden will; dass diese eudämonistische Verhaltenslehre deshalb auch keine Sollens-Ethik, sondern eine Könnens-Ethik darstellt; dass das Wu-wei-Prinzip nichts spezifisch und ausschließlich Chinesisches ist, sondern prinzipiell allen Menschen angesonnen werden kann. 421 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Aus diesem Befund, der wohl auch für Brecht selbst die Grundlage für seine Aneignung des Taoteking gewesen sein dürfte, ergibt sich die methodologische Konsequenz, dass wir die Begrifflichkeit, mit der wir das Wu-wei-Prinzip wiedergeben, erörtern und beurteilen wollen, zuerst selbst dadurch erstellen müssen, dass wir uns an schon vorliegenden phänomenologisch-anthropologischen Überlegungen orientieren, die diesseits und jenseits von Religion und Metaphysik liegen, damit wir uns den Horizont nicht allzusehr verengen. Diese Vorsicht ist auch schon deshalb geboten, weil Handlungs- und Verhaltenslehren, die durch Religionen und Metaphysik geprägt sind, sich in der Regel nicht als Könnens- sondern als Sollens-Ethiken präsentieren, und dann Gebote und Verbote verkünden, ohne zu klären, in welchen Situationen diese auch befolgt 5 werden können. Außerdem werden wir uns nicht damit begnügen können, bloß bestimmte Handlungs- und Verhaltensweisen zu beschreiben und zu beurteilen, die in den Rahmen einer solchen Könnens-Ethik passen, sondern wir müssen bis zu den Einstellungen oder Gesinnungen vorstoßen, die diese jeweiligen Handlungs- und Verhaltensweisen ermöglichen, fördern, behindern oder gar unmöglich machen, weil sie diesen gleichsam als Filter 6 vorgeschaltet sind. All dies wären aber Methoden zur philosophischen und damit zur rein begrifflichen Rezeption und Analyse des Wu-wei-Prinzips, die sich von der Art und Weise, wie Brecht selbst seinen Lao-tse gelesen haben dürfte, fundamental unterscheidet, weil Brecht eben nicht in erster Linie begrifflich dachte und argumentierte, sondern grundsätzlich szenisch, und deshalb das Wu-wei-Prinzip immer in Haltungen und Verhaltensweisen von Gestalten in bestimmten Situationen übersetzte und es sich auf diese Weise aneignete und szenisch umsetzte. Wie sehr es sich empfiehlt, jede Art von Metaphysik von unserer Betrachtung fernzuhalten, geht schon aus der Einleitung hervor, die Richard Wilhelm seiner Übersetzung des Taoteking beigegeben hat, denn dort muss er zugeben: »Die ganze Metaphysik des Taoteking ist aufgebaut auf einer grundlegenden Intuition, die der strengen begrifflichen Fixierung unzugänglich ist, und die Laotse, um einen Namen zu haben, »notdürftig« mit dem Worte TAO (sprich »dao«) bezeichnet. (…) In Beziehung auf die richtige Übersetzung dieses Wortes herrschte von Anfang an viele Meinungsverschiedenheit. »Gott«, »Weg«, »Vernunft«, »Wort«, »logos« sind nur ein paar der vorgeschlagenen Über-setzungen, während ein Teil der Übersetzer einfach

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das »Tao« unübertragen in die europäischen Sprachen übernimmt. Im Grunde genommen kommt auf den Ausdruck wenig an, da er ja auch für Laotse selbst nur sozusagen ein algebraisches Zeichen für etwas Unaussprechliches ist. Es sind im wesentlichen ästhetische Gründe, die es wünschenswert erscheinen lassen, in einer deutschen Übersetzung ein deutsches Wort zu haben. Es wurde von uns durchgängig das Wort SINN gewählt. Dies geschah im Anschluss an die Stelle im Faust I, wo Faust vom Osterspaziergang zurückkehrt, sich an die Übersetzung des Neuen Testaments macht und die Anfangsworte des Johannesevangeliums u. a. mit: »Im Anfang war der Sinn« wiederzugeben versucht. Es scheint das die Übersetzung zu sein, die dem chinesischen »dao« in seinen verschiedenen Bedeutungen am meisten gerecht wird.« (S. XV)

Da Richard Wilhelm in der Zeit um 1900 als christlicher Missionar in China tätig war, ist seine Sprache auch dort, wo dies nicht nötig wäre, massiv durch die Luther-Bibel geprägt, sodass sich in seinen Texten immer wieder irritierende Bedeutungs-verschiebungen ergeben, die für eine phänomenologisch orientierten Analyse bestimmter Handlungs- und Verhaltensweisen eher hinderlich sind. Dies ist leider v. a. bei dem Thema der Fall, um das es uns in erster Linie geht, also bei der Analyse des Wu-wei-Prinzips, denn auch dort schlägt in Wilhelms Sprache immer wieder der Wortschatz der Lutherbibel massiv durch und zwar sowohl in der eigentlichen Übersetzung als auch im Kommentar. So heißt z. B. der Titel 7 von Spruch 61, den Wilhelm eigens hinzugefügt hat, Leben der Demut, und der Spruch selbst lautet in seiner Übersetzung: Ein großes Reich muss sich unten halten, so wird es der Vereinigungspunkt der Welt. Es ist das Weibliche der Welt. Das Weibliche siegt durch seine Stille über das Männliche. Durch seine Stille hält es sich unten. Darum: ein großes Reich wird dadurch, dass es sich unten hält, die kleinen Reiche gewinnen. Ein kleines Reich wird dadurch, dass es sich unten hält, das große Reich gewinnen. Das eine hält sich unten und gewinnt die Menschen, das andere hält sich unten und gewinnt dadurch die Menschen. Wenn das große Reich nichts wünscht als Menschen zu einigen und zu nähren, wenn das kleine Reich nichts wünscht als sich anzuschließen und zu dienen:

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so erhalten beide den Platz, den sie wünschen, aber das große muss sich unten halten. (S. 66)

Um diesen seltsamen Wortschatz zu erläutern und zu rechtfertigen, schreibt Wilhelm in seinem Kommentar: »Das ›sich unten halten‹ hat die Meinung [d. h. soll bedeuten, L. P.]: ›sich frei halten von Prätensionen, sich zurückhalten‹.« (S. 108) Da fragt man sich als Leser natürlich, warum er nicht gleich den Ausdruck »sich zurückhalten« gewählt hat, um das ›sanfte Prinzip‹ des Wu-wei zu illustrieren und diesen Ausdruck dann gleichsam einzubetten in das Wortfeld »Behutsamkeit / Achtsamkeit / Nachsicht/ Vorsicht / Zurückhaltung / Höflichkeit / Freundlichkeit / Takt«, um damit den schonend zurückhaltenden Umgang von Personen und Staaten miteinander zu charakterisieren. Was der verqueren Formulierung »sich unten halten« fehlt, durch die Formulierung »sich zurückhalten« aber sehr wohl vermittelt würde, ist der Umstand, dass das Wortfeld »Zurückhaltung« nicht nur ein bestimmtes Verhalten beschreibt, sondern außerdem auch eine innere Haltung bezeichnet, also eine Einstellung, die alles überformt, was man ist und hat und kann und tut. Wahrscheinlich hat Wilhelm deshalb das Wort »Demut« gewählt, weil auch damit eine bestimmte innere Haltung bezeichnet wird, die zu diesem Wu-weiPrinzip zwar passt, dieses Prinzip aber in den Rahmen monastischer Tugenden 8 stellt, in den es als ein rein weltliches Ethos einfach nicht gehört. Viel klarer wird der Sachverhalt, wenn wir nachprüfen, wie Brecht selbst das sanfte Wu-wei-Prinzip verstanden hat, weil er es sich nicht, wie wir dies tun müssen, in erster Linie begrifflich, sondern szenisch übersetzte. Im letzten Bild seines Stücks Der kaukasische Kreidekreis soll bekanntlich dadurch entschieden werden, wer die wahre Mutter des kleinen Kindes ist, dass die zwei Frauen, die dies von sich behaupten, das Kind aus dem Kreidekreis zu sich herüberziehen sollen, und dies sind die Gouverneursfrau, die das Kind geboren, und die Magd Grusche, die es adoptiert und aufgezogen hat. Bei dieser brachialen Entscheidung zerrt die Gouverneursfrau mit aller Macht an dem Kind, wohingegen Grusche es sofort loslässt und sich mit dem Argument rechtfertigt: »Soll ich’s zerreißen? Ich kann’s nicht.« 9 Die leibliche Mutter aber zerrt in ihrer Gier das Kind mit aller Gewalt zu sich hin, weil an dem Besitz des Kindes noch viel anderer Besitz hängt, und so stehen sich in dieser Szene eben nicht 424 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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nur zwei Frauen von sehr unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit gegenüber, sondern auch zwei grundverschiedene Handlungs- und Verhaltensweisen und überdies auch noch zwei grundverschiedene Einstellungen: das herrschsüchtige und aggressive Zugreifen, das, wenn’s sein muss, auch über die Leiche des eigenen Kindes geht, und wenn’s unbedingt sein muss, auch über die eigene Leiche, und dann die gelöste innere Haltung der Magd Grusche, die, wenn’s sein muss, im entscheidenden Moment auch loslassen und verzichten kann, weil ihr das Wohl des geliebten Kindes ungleich wichtiger ist als das eigene. Mit einem Wort: Die Magd Grusche tritt hier auf als die Verkörperung des Wu-wei-Prinzips, als die Personifizierung des ›sanften Prinzips‹ im Sinne des Lao-tse, das laut Tauteking ja auch eher weibliche Züge hat, weshalb es in Brechts großen Stücken immer von jungen Frauen verkörpert wird. Hier hätte auch John Fuegi ansetzen können, um seine These vom dominanten Anteil von Frauen an Brechts Werk zu belegen, doch auch in seiner Brecht-Biographie kommt der Name Lao-tse nicht einmal vor, genau so wenig wie bei Jan Knopf und Werner Mittenzwei. Wenn wir nun oben zu dem Ergebnis gekommen sind, Lao-tses Lehre sei eine eudämonistische Könnens-Ethik, die wir diesseits und jenseits von Religion und Metaphysik verstehen wollen, weil sie nur dann auch von jedermann angenommen und befolgt werden kann, dann ist es auch sinnvoll, einmal nachzuprüfen, von wem in der bisherigen Philosophiegeschichte eine eudämonistische Könnens-Ethik vorgelegt worden ist, die ebenfalls diesseits und jenseits von Metaphysik und Religion angesiedelt ist, aber in einer Sprache vorliegt, die uns auf Anhieb so vertraut ist, dass man damit wiederum die Sprüche des Lao-tse wiedergeben, analysieren und beurteilen kann. Diese von uns gesuchte eudämonistische Könnens-Ethik liegt nun in der Tat vor, stammt von Wilhelm Kamlah und trägt den Titel Philosophische Anthropolo-gie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik 10. Da das Ziel dieser explizit als Könnens-Ethik gemeinten Studie die »Wieder-entdeckung des Widerfahrnischarakters des menschlichen Lebens« (S. 39) ist, beginnt sie im ersten Teil damit, einige grundlegende anthropologische Termini zu klären, die auch für unsere Fragestellung von größter Bedeutung sind, z. B. »Widerfahrnis und Handlung« (S. 34 ff.), »Handeln und Verhalten« (S. 49 ff.) und »Begehren und Bedürfen« (S. 52 ff.). 425 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Im zweiten Teil wird eine eudämonistische Ethik entworfen, die praktische Philosophie als Lebenskunst versteht und deshalb als klassische Könnens-Ethik auftritt, weil sie explizit die Frage nach dem Leben-können (S. 145 ff.) ins Zentrum der Betrachtung rückt, dann nach den Lebensbedingungen fragt (S. 166 ff.) und schließlich in eine Apologie des Freitodes (S. 175 ff.) einmündet, weil auch der Freitod 11 sinnvoll nur im Rahmen einer solchen Könnens-Ethik diskutiert werden kann, die sich als Lebenskunst versteht. Das Verblüffende an Kamlahs Werk besteht nun darin, dass es sich über weite Strecken wie ein Kommentar zum Taoteking des Lao-tse liest, obwohl an keiner Stelle explizit darauf angespielt wird. Sehr wohl aber stellt Kamlah den Bezug zu Brecht her, wenn er moniert, die an den deutschen Universitäten gelehrte praktische Philosophie tendiere eher dazu, sich dieser zentralen Frage nach dem Lebenkönnen zu verweigern und überlasse dies lieber den Künsten, also dem Roman, dem Theater und dem Film, denn, so Kamlah: »Wo mehr als Unterhaltung geboten wird, da werden Menschen gezeigt, die in Schwierigkeiten und Konflikte verstrickt sind, die »nicht mehr weiter können«, die an sich selbst oder an andern die »Leere« erfahren, in der sie leben, ohne eigentlich zu leben und so fort. Die Literatur ist heute – oder war es bis vor kurzem – vielfach philosophischer als die Zunftphilosophie, und der Schriftsteller wird mehr beachtet als der Philosophieprofessor, weil er »wesentliche Lebensfragen« immerhin stellt, wenn auch nicht immer beantwortet.« (S. 147)

Und dann fügt Kamlah in einer Anmerkung hinzu, dieses Missverhältnis habe Brecht klar gesehen und verweist auf einen Aufsatz seines Freundes und Kollegen Manfred Riedel 12, in dem dieser Brechts Verhältnis zur Philosophie darin begründet sieht, dass dieser sie immer im Hinblick auf ihre praktische Brauchbarkeit und ihren faktischen Gebrauch untersuchte, denn: »Brecht verhält sich zur Philosophie nicht wie ein Lehrling zur Zunft, sondern als Stückeschreiber, der nach Figuren und Stoffen sucht. Er nimmt sich, was er braucht, und nicht jeder Gedanke ist brauchbar. Brauchbar für den Stückeschreiber ist die Dialektik, die mit dem Dialog und durch ihn mit Handlung zu tun hat; brauchbar ist alle Philosophie, der eine Haltung zugrunde liegt, wie der Skepsis oder auch den Tugendlehren der Ethik, und brauchbar schließlich ist jede Theorie, deren Begriffe und intellektuelle Operationen die Erfahrung herstellen und organisieren, indem sie Dinge und Vorgänge durch Konfrontierung mit ihrer ›gedachten Negation‹ auf-

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fällig machen. Die Parallele zur Verfremdungstheorie des epischen Theaters liegt auf der Hand.« (S. 71)

Das letzte Ziel dieser Art und Weise, Philosophie in Lebenspraxis umzusetzen, ist, »das ethisch-politische Problem des guten Lebens (bene vivere)« (S. 73) zu lösen, um damit das ewig aktuelle »Glücksverlangen des Menschen« (S. 73) zu befriedigen, und genau diese Fragestellung fand er eben auch bei Lao-tse. Wir wollen nun so vorgehen, dass wir das aus Kamlahs Ausführungen aufgreifen, was uns hilft, das Wu-wei-Prinzip des Lao-tse besser zu verstehen und außerdem zu klären, welche Einstellung dieses ominöse »nicht-handelnde Handeln« allererst möglich macht. Anzusetzen wäre hier bei der Unterscheidung von Handlung und Widerfahrnis bzw. bei der Unterscheidung von »handeln« und »verhalten«. Handlungen werden gemeinhin so vollzogen, dass ihnen eine Entscheidung vorhergeht, also der Entschluss eines Einzelnen oder der Beschluss einer Gruppe, wobei diese Entscheidung wiederum durch eine mehr oder weniger gründliche Überlegung oder Beratung vorbereitet worden ist. Ob ich z. B. am Abend eine zweite Flasche Wein öffne oder nicht, kann ich auf diese Weise entscheiden, ob ich aber über einen Witz lache oder einem Ast, der mir bei einem Spaziergang im Wald ins Gesicht schnellt, ›automatisch‹ ausweiche, muss ich nicht lange entscheiden, denn hier handelt es sich nicht um Handlungen, sondern um Verhaltensweisen, und solche Verhaltensweisen werden auch nicht vorsätzlich vollzogen, sondern vollziehen sich ›von selbst‹, weshalb Kamlah die beiden Verben »handeln« und »verhalten« einander so zuordnet, dass »das Handeln sich stets mehr oder weniger aus dem Verhalten gleichsam herausprofiliert«. (S. 49) Damit hätten wir schon eine erste wichtige Unterscheidung dahingehend, dass Handeln vorsätzlich geschieht, Sichverhalten aber nicht. Und außerdem gilt, dass man Verhaltensweisen jederzeit problemlos als Handlungen wiederholen kann, wenn man dies will, nicht aber umgekehrt vorsätzliche Handlungen als Verhaltensweisen, weil diese erst mal intensiv eingeübt werden müssen. Konkret gesprochen heißt dies: Die ersten Griffe auf der Gitarre vollzieht man mit größter Aufmerksamkeit als Handlungen, später, wenn man’s kann, geht es ganz leicht und gleichsam ›wie von selbst‹ : Aus Handlungen sind sekundäre Verhaltensweisen geworden. Damit hätten wir eine erste möglich Bestimmung von Lao-tses »nicht-handelndem Handeln« und können es als eine Form von Ver427 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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halten ansehen, das keiner expliziten Entscheidung bedarf, um vollzogen zu werden. Doch diese erste Bestimmung genügt noch lange nicht, um das Wu-wei-Prinzip angemessen zu verstehen, weshalb wir als zweites Kriterium die Unterscheidung zwischen Handlung und Widerfahrnis hinzunehmen müssen. Dass das Wort ›Widerfahrnis‹ so altertümlich klingt, obwohl die damit bezeichnete Sache so aktuell ist wie eh und je, hat ideologische und mentalitäts-geschichtliche Gründe, weil es zum ›faustischen‹ Selbstverständnis des Westens gehört, sich als handlungsfreudiger ›Mann der Tat‹ zu verstehen, denn nicht umsonst übersetzt Faust den Beginn des Johannes-Evangelium mit dem Satz: »Im Anfang war die Tat.« 13 Und später, im vierten Akt des zweiten Teils, greift er diese Entscheidung noch einmal auf und verkündet: Herrschaft gewinn’ ich, Eigentum! Die Tat ist alles, nichts der Ruhm. (V. 10187 f.)

Goethe selbst sprach in seiner Farbenlehre noch ungeniert von den »Taten und Leiden des Lichts«, also von den Taten und Widerfahrnissen des Lichts, aber schon in den klassischen philosophischen Wörterbüchern taucht das Stichwort »Widerfahrnis« nicht mehr auf und auch die zeitgenössischen 14 zeigen, dass sich die heutigen Philosophen für dieses Thema kaum interessieren. Bei all diesen ›faustisch‹ gesinnten Zunftphilosophen mahnt Kamlah nun an: »Unser aller Leben ist eingespannt zwischen den Widerfahrnissen Geburt und Tod. Gleichsam das erste und das letzte Wort hat für uns nicht das Handeln. Aber auch, wenn wir handeln, widerfährt uns etwas. Es gibt Widerfahrnisse ohne [eigenes oder fremdes, L. P.] Handeln, aber es gibt kein pures Handeln [ohne Widerfahrnisse irgendwelcher Art, L. P.]. Auch ein so mächtiges Handeln wie das sogenannte »schöpferische« ist doch stets auf vorgegebene Bedingungen [z. B. auf Einfälle, L. P.] angewiesen und Störungen ausgesetzt, so dass es mehr oder weniger oder gar nicht »gelingt«.« (S. 35)

Dass diese Ausblendung der Widerfahrnisse aus dem Bewusstsein trotz ihrer Allgegenwart vorwiegend ideologische Gründe hat, sieht natürlich auch Kamlah und bemerkt dazu: »Gegen die hier für nötig erachtete »Wiederentdeckung des Widerfahrnischarakters des menschlichen Lebens« wird der Einwand erhoben, so zu denken sei eine Eigentümlichkeit der vorindustriellen agrarischen Kulturen gewesen und so zu denken habe freilich damals in etwa der Lebenserfah-

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rung von jedermann entsprochen, habe aber zugleich auch dazu gedient, die Menschen den damaligen Herrschaftsformen gefügig zu erhalten. Diesem Einwand ist zu erwidern: Sofern er so etwas wie kultur- oder sozialgeschichtliche Aussagen enthält, dürfte er zutreffen. Auf dieser Ebene wäre dann aber hinzuzufügen: Mag man in agrarischen Kulturen den »Widerfahrnischarakter des Lebens« (…) überschätzt haben, so hat man ihn ebenso sicher unterschätzt, seit der Imperialismus der modernen Naturwissenschaft, Technik und Industrie sich durchgesetzt und philosophisch zum schieren Pragmatismus oder gar Aktionismus geführt hat. Es kommt also gewiss nicht drauf an, hier etwas »wiederzuentdecken« und dadurch etwa gar Haltungen quietistischer Fügsamkeit aufs neue zu fördern. Wohl aber kommt es darauf an zu sehen, dass auch die Industriekultur zu Selbsttäuschungen geführt hat, die es, unter Wahrung eines ruhigen Augenmaßes, nunmehr zu durchschauen gilt.« (S. 39 f.)

Dass man, wenn man will, Lao-tses Wu-wei-Prinzip sehr wohl auch als Hinführung zu einer solchen Haltung »quietistischer Fügsamkeit« verstehen kann, zeigt Döblin in seinem Roman, weil dessen Held Wang-lun in einem fort zwischen den Haltungen quietistischer Fügsamkeit und rebellischem Aktionismus hin und her gerissen wird und gegen Ende des Romans zu der Einsicht kommt: »Schwach sein, ertragen, sich fügen hieße der reine Weg. In die Schläge des Schicksals sich finden hieße der reine Weg. Angeschmiegt an die Ereignisse, Wasser an Wasser, angeschmiegt an die Flüsse, das Land, die Luft, immer Bruder und Schwester, Liebe hieße der reine Weg.« (S. 471)

Auf diese Weise mochte vielleicht auch der frühe Brecht Döblins Roman und damit auch Lao-tses Wu-wei-Prinzip verstanden haben, sodass er den Eindruck gewinnen konnte, dieser Lao-tse denke ganz wie er selbst, und er selbst verstand das »Nicht-tun« des Lao-tse genau wie Döblin eben als »Nichts-tun« und damit falsch. Der Brecht im nordischen Exil von 1938 verstand seinen Lao-tse aber bestimmt nicht mehr als einen Künder »quietistischer Fügsamkeit«, weil der kleine Dozent in seinem Lao-tse-Gedicht das Wu-weiPrinzip und die Frage »Wer wen?« ja bewusst in einem Atemzug erwähnt. Das heißt aber zugleich auch, dass für den Brecht des Lao-tseGedichts sowohl das fügsam quietistische »Nichts-tun« als auch die faustisch-aktivistische Ideologie nicht mehr gilt, die er schon bei Descartes und Bacon, vor allem aber in der elften Feuerbach-These vorfand und die er in seinen Lehrstücken ja auch selbst explizit verkündet hatte. Dies aber verlangt wiederum eine noch genauere Klärung des Handlungs-Begriffs. 429 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Um diesen Unterschied zwischen Handeln und Verhalten noch genauer zu bestimmen, müssen wir erst noch die Palette möglicher Widerfahrnisse auffächern, und dabei ergibt sich, dass man folgende Phänomene als Widerfahrnisse verstehen kann: •



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fremde Handlungen, die als positive oder negative Zuwendung auf uns bezogen sind, die uns also ›meinen‹, und dabei ist ein Geschenk ebenso ein Widerfahrnis wie ein Faustschlag; urheberlose Ereignisse, die uns irgendwie betreffen und deshalb irgendwelche Auswirkungen auf unser Verhalten haben, obwohl sie uns nicht direkt ›meinen‹, also z. B. Wind und Wetter oder ein Erdbeben; Einfälle aller Art; Gefühle, die uns überkommen, wenn z. B. der Zorn in uns ›hochkocht‹ und uns zu übermannen droht oder auch tatsächlich übermannt; Erfahrungen der eigenen Leiblichkeit in Form von Schmerz, Hunger, Durst, Müdigkeit, Frische etc.; unverfügbare Verhaltensweisen, die sich an uns und mit uns vollziehen, wie z. B. ein Schüttelfrost, ein Lachkrampf, ein epileptischer Anfall oder irgendein Reflex, der durch einen bestimmten Reiz ausgelöst worden ist; Resonanz-Verhalten diesseits und jenseits der Grenze der Verfügbarkeit, zu dem wir uns anstecken lassen, wenn wir uns davon anstecken lassen wollen, was von der jeweils eingenommenen Einstellung abhängt; intensiv eingeübte Handlungen, die man so gut beherrscht, dass sie ganz mühelos und ›wie von selbst‹ ablaufen und somit gleichsam sekundäre Verhaltensweisen geworden sind; Beispiele hier wären Rollentexte auf der Bühne, bestimmte Bewegungsabläufe beim Musizieren, im Handwerk oder im Sport; das Gelingen oder Misslingen vorsätzlich vollzogener eigener Handlungen.

Für die Klärung des Wu-wei-Prinzips sind nur die beiden letztgenannten Wider-fahrnisse von Bedeutung, sodass wir nunmehr in einem zweiten Näherungsschritt sagen können, das »nicht-handelnde Handeln« im Sinne von Lao-tse sei ein grundsätzlich gelingendes Handeln, das als ein sekundäres Verhalten ›wie von selbst‹ vor sich geht, aber durchaus vorsätzlich vollzogen wird. Doch weil es ›wie von selbst‹ geschieht, oder, wie Kamlah sagt, als »nicht-könnendes Kön430 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Gewalt-Kritik aus dem Geiste des Lao-tse

nen« (S. 159), kann es nur im Lichte einer bestimmten Einstellung vollzogen werden, die man als »Gelöstheit«, »Gelassenheit« oder »Losgelassenheit« bezeichnen könnte. Diese spezifische Einstellung bewirkt nun auch, dass man den Widerfahrnis-Charakter des eigenen Handelns, wenn man ihn denn überhaupt erst einmal bemerkt hat, genau so locker, leicht und gelöst akzeptiert wie man seine Handlungen vollzieht. Das fällt aber nur dann einigermaßen leicht, wenn man erst einmal den Unterschied zwischen »begehren« und »bedürfen« begriffen hat 15, weil wir ständig dazu neigen, die eigenen und oft genug sehr subjektiven Begehrungen als objektive Bedürfnisse zu verstehen und zu behaupten und dann deren Erfüllung durch aggressives Quengeln einzuklagen. So sind z. B. Essen, Trinken, Wohnen, Schlaf und Gesundheit Bedürfnisse, ohne deren Erfüllung wir gar nicht leben könnten; der alljährliche Urlaub im Süden hingegen ist nichts als ein Begehren, ein Luxus also, auf den man auch problemlos verzichten könnte, denn, so Kamlah in aller Kürze: »Begehren ist ein Fall von Sichverhalten, Bedürfen dagegen nicht« (S. 55), denn Bedürfnisse sind vorgegebene Tatbestände, die bestimmte Verhaltensweisen nach sich ziehen können, die u. a. auch begehrlicher Art sein können, dies aber nicht sein müssen. Aus diesem Grund ist auch nur das Begehren und Verzichten moralisch relevant, weil man hier zuraten und abraten kann, das Bedürfen hingegen nicht. Wer nun aber dazu neigt, mehr oder weniger unnötige Begehrungen als existentiell notwendige Bedürfnisse auszugeben, ist zu dieser Gelöstheit und Losgelassenheit des Verhaltens schon gar nicht mehr fähig, weil er schon im Käfig seiner begehrlichen Selbstbefangenheit gelandet ist und dort im Feuer seiner Suchten schmort und sich der Illusion hingibt, er könne, müsse und dürfe alles Begehrte auch erreichen, wenn er nur energisch genug zugreife, und wenn es sein muss, auch mit brachialer Gewalt. So gesehen entpuppt sich das Wu-wei-Prinzip des Lao-tse tatsächlich als eine Kritik der Gewalt und der Gewaltgläubigkeit. Kamlah schließt seinen Gedankengang mit dem Hinweis auf einen Vers Rilkes ab, bei dem man sofort an das oben zitierte Krücken-Gedicht Brechts erinnert wird, denn dort heißt es: »Eins muss er wieder können: fallen, / geduldig in der Schwere ruhn.« 16 Und dann fügt Kamlah als Kommentar hinzu, in diesem Gedicht werde

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»ein triftiger Hinweis aufgegriffen, dessen Metaphorik sich für das zu Sagende eignet. Denn wahres Leben-können ist in der Tat zu allererst ein »fallen können«, sich loslassen können, »ruhen können«. Wer sich fallen lässt – im Sinne dieser Metapher –, eben der macht die unerwartete Erfahrung, dass er nicht ins Leere fällt, sondern im Ruhen-können das Lebenkönnen erst eigentlich gewinnt. Diese Erfahrung soll von jetzt an die »Grunderfahrung« heißen.« (S. 158)

Und, so meine These, diese »Grunderfahrung«, die auf der Einstellung hinhaltender Hingabe beruht, deckt sich weitgehend mit dem Wu-wei-Prinzip des Lao-tse und ist somit tatsächlich etwas allgemein Menschliches, das jedermann angesonnen werden kann. Man muss sich nur darüber im Klaren sein, dass dieses Ruhen-können im »nicht-handelnden Handeln« besteht und nicht im »Nichts-tun« und somit durchaus keine phlegmatische Faulenzerei ist, sondern sehr wohl eine bestimmte Art des Handelns ist, geprägt durch eine bestimmte Einstellung.

9.4.3 Das ›sanfte Prinzip‹ und die Frage »Wer wen?« Wenn ich hier als deutsche Übersetzung von Lao-tses Wu-wei-Prinzip den Ausdruck »das sanfte Prinzip« gewählt habe, so deshalb, weil mit dieser Formulierung, wie ich hoffe, sowohl eine Einstellung als auch eine Handlungs- und Verhaltensweise bezeichnet und beschrieben wird, und außerdem auch ein bestimmter ästhetischer Stil, sobald all dies für die Kunst relevant wird, aber auch ein bestimmter politischer Stil, sobald das sanfte Prinzip in Politik umgesetzt wird, weil dieses Wu-wei-Prinzip als eine fundamentale Kritik der Gewalt in jeder Form zu verstehen ist. Wer sich in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts auskennt, wird durch den Ausdruck »das sanfte Prinzip« sicher sofort an das »sanfte Gesetz« erinnert werden, von dem Adalbert Stifter in der Vorrede zu einem Werk Bunte Steine von 1853 redet, und das soll auch so sein, denn genau so, wie Lao-tses Wu-wei-Prinzip seine Antwort auf die innerchinesischen Bürgerkriege war, so war auch Stifters »sanftes Gesetz« seine Antwort auf die Wiener Revolutionswirren von 1848, die er als eine wahre Hölle 1 empfunden haben muss. Dieses »sanfte Gesetz« sieht Stifter in erster Linie in der Natur walten, wünscht sich aber, dass es auch das Verhalten der Menschen bestimmen möge, denn: 432 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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»Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers das Wachsen der Getreide das Wogen des Meeres das Grünen der Erde das Glänzen des Himmels das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer.« 2

Und ganz analog dazu heißt es dann über die menschliche Welt: »So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes. Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit Einfachheit Bezwingung seiner selbst Verstandesgemäßheit Wirksamkeit in einem Kreise Bewunderung des Schönen verbunden mit einem heiteren gelassenen Sterben halte ich für groß: mächtige Bewegungen der Gemüter furchtbar einherrollenden Zorn die Begier nach Rache den entzündenden Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört, und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer.« (S. 99)

Solche Sätze könnten auch von Lao-tse stammen und würden gut in den Kontext der Sprüche 10, 22, 23, 29, 46, 61 und 68 passen, in denen vor dem Wahn gewarnt wird, der herrisch-gierige Zugriff auf die Welt könne alle Probleme lösen, oder auch zu den Sprüchen 2, 3, 57, 58 und 60, in denen, analog dazu, Zurückhaltung beim Handeln in jeder Form anempfohlen wird. Lao-tses Prinzip des erfolgreichen weichen Widerstandes, dessen Lob er in den Sprüchen 36, 43, 76 und 78 verkündet, hat auch Stifter in der Erzählung Katzensilber denn auch ausführlich dargestellt. Dort beschreibt Stifter wieder einmal eine verheerende Naturkatastrophe 3, diesmal einen Hagelschlag, gegen den sich Kinder durch Reisigbündel zu schützen suchen: »Die Kinder hatten kaum Zeit gehabt, sich unter die Bündel zu legen, und eben wollten sie lauschen, was geschehen würde, als sie in den Haselstauden einen Schall vernahmen, als würde ein Stein durch das Laub geworfen. (…) Im Augenblick kam auch der Sturm (…) und jagte den Hagel auf sie nieder, dass es wie weiße herabsausende Blitze war. (…) Die Hagelkörner waren so groß, dass sie einen erwachsenen Menschen hätten töten können. (…) Was Widerstand leistete, wurde zermalmt, was fest war, wurde zerschmettert, was Leben hatte, wurde getötet. Nur weiche Dinge widerstanden, wie die durch die Schlossen zerstampfte Erde und die Reisigbündel.« (S. 231 f.)

Wie man sieht, ist in dieser Erzählung vom »sanften Gesetz«, das laut Stifter in der Natur waltet, nicht viel übriggeblieben, aber das ›sanfte 433 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Prinzip‹ des hinhaltenden weichen Widerstandes hilft sehr wohl gegen das Wüten der Natur. So gesehen liest sich Stifters Schilderung dieser Naturkatastrophe auf den ersten Blick geradezu wie eine Illustration der Sprüche 36, 43, 76 und 78 des Taoteking, wo davon die Rede ist, dass und wie das Weiche dem Harten widerstehen und es am Ende sogar beseitigen kann, weil das Weiche dem Harten zwar widerstehen kann, aber nur dadurch, dass es dem Angriff des Harten erst mal nachgibt, sich dadurch verformt und nur durch diese Verformung weiterhin bestehen kann, wohingegen beim Zusammenprall des einen Harten mit dem andern Harten beide zerstört werden. Doch die Koinzidenz des ›sanften Prinzips‹ von Lao-tse mit dem »sanften Gesetz« Stifters zeigt sich nur auf den ersten Blick; denn schaut man etwas genauer in Stifters Werk, so sieht man alsbald, dass er in seinen Erzählungen und Romanen, die er nach 1849 geschrieben hat, genau die von Kamlah angesprochene »quietistische Fügsamkeit« (S. 40) preist und den Aspekt des ›sanften Prinzips‹, dass das Weiche dem Harten nicht nur erfolgreich widerstehen, sondern es am Ende sogar besiegen kann, völlig ausblendet. Oder anders formuliert: Das »sanfte Gesetz« Stifters ist, ganz anders als das ›sanfte Prinzip‹ von Lao-tse oder gar das von Brecht, nicht geknüpft an die Frage »Wer wen?«, sondern Stifters »sanftes Gesetz« ist, übertragen auf die gesellschaftlich-politische Welt 4, ein durch und durch restauratives Programm der »quietistischen Ergebenheit«, das denn auch die späten Erzählungen der 1850er-Jahre und v. a. den Roman Nachsommer bis in die Details hinein entscheidend prägt. Aus diesem Grund werden wir fortan das ›sanfte Prinzip‹ des Lao-tse immer nur im Hinblick auf seine Verbindung mit der Frage »Wer wen?« und im Hinblick auf die durch Kamlah bereitgestellten Erkenntnisse einer anthropologisch fundierten Könnens-Ethik ins Auge fassen. Wenn wir uns nun, neu fokussiert, dem Text von Lao-tse erneut zuwenden und nachprüfen, ob und wie sich diese neu erworbenen Kenntnisse dazu eignen, das Taoteking hermeneutisch aufzuschließen, so werden wir beim Spruch 64 besonders fündig, weil dort zwei sehr unterschiedliche Einstellungen und die daraus sich ergebenden Handlungs- und Verhaltensweisen gegeneinander gestellt werden, die »der Berufene«, also der »wahre Mensch« 5 befolgen bzw. meiden sollte: Einerseits das hemmungslos begierige Zugreifen und verbissene Festhalten und andererseits der gelöste und zurückhaltende Um434 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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gang mit sich selbst und mit Anderen jenseits von Selbstbefangenheit oder gar Selbstbesessenheit, denn genau dies zeichnet eben laut Laotse »den Berufenen« aus, also den wahren vorbildlichen Weisen in der Fülle seiner Möglichkeiten: Was noch in Ruhe ist, kann man leicht behandeln. Was noch nicht entschieden ist, kann man leicht bedenken. Was noch saftig ist, kann man leicht brechen. Was noch winzig ist, kann man leicht zerstreuen. Man muss wirken auf das, was noch nicht da ist. Man muss ordnen, was noch nicht in Verwirrung ist. Ein Baum von zwei Klafter 6 Umfang wächst aus einem haarfeinen Sprößling 7 Ein Turm von neun Stockwerken entsteht aus einem Erdhaufen 8. Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt. Wer handelt, verdirbt 9 es. Wer festhält, verliert es. Also der Berufene: Er handelt nicht, so verdirbt er nichts. Er hält nicht fest, so verliert er nichts. Die (gewöhnlichen) Leute gehen an ihre Sachen: Und immer wenn sie fast fertig sind, so verderben sie es. Das Ende ebenso in Acht nehmen wie den Anfang: Dann gibt es keine verdorbenen Sachen. Also auch der Berufene: Er wünscht Wunschlosigkeit. Er hält nicht wert schwer zu erlangende Güter. Er lernt das Nichtlernen. Er wendet sich zu dem zurück, an dem die Menge vorübergeht. Dadurch fördert er den natürlichen Lauf der Dinge. Und wagt nicht zu handeln. (S. 69)

Den letzten Satz übersetzt Schwarz: »und wagt nur eines nicht: wider die natur zu handeln« (S. 114); bei Strauss heißt es: »und wagt doch nicht, zu tun« (S. 145). So gesehen müsste Wilhelms Satz, wenn er ihn durch Kommas regeln würde, lauten: »Und wagt nicht, zu handeln.« Man könnte ihn aber auch so lesen, dass er dann lautet: »Und wagt, nicht zu handeln«, weil nur dann wirklich deutlich wird, dass dieses Nicht-tun kein Nichts-tun ist, sondern eine bestimmte, genau definierbare Form des behutsamen Umgangs mit sich selbst und der Welt, der sich durchaus nicht von selbst versteht, sondern eigens erlernt und geübt werden muss, und damit eben auch zugleich eine explizite Kritik an jeder Form von Gewalt darstellt. 435 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Genau so sieht es auch Heinrich Hackmann in seiner Geschichte der chinesischen Philosophie, in der er dem Wu-wei-Prinzip ein eigenes Kapitel gewidmet hat. Für ihn ist das Wu-wei-Prinzip ein bestimmter Stil der Lebensführung, also ein leitendes Prinzip einer eudämonistischen Lebenskunst, weshalb er betont: »Der vielerörterte Begriff »Wu wei« (…), zentral wie er für taoistische Lebensführung ist, (…) bedeutet nicht Untätigkeit, ein passives Sichzurückziehen von der Welt, obwohl allerdings das Meiste, was in der Welt geschieht, dem Wu wei zuwider läuft, indem es nur Äußerung der »Betriebsamkeit« der menschlichen Leidenschaften ist. Diese Betriebsamkeit muss freilich (…) zunächst völlig abgetan werden. An dem Streben der Leidenschaften und allem, was damit zusammenhängt, nimmt das Wu wei ganz und gar nicht teil. Übrigens aber ist das Wu wei nicht Untätigkeit, nicht buddhistische Kontemplation oder etwas Ähnliches, sondern die Entfaltung jener geräuschlosen, feinen Art von Tätigkeit, die nur vom Tao getragen und getrieben wird. Um für die Wirkungsart des Tao ein Auge und Ohr zu bekommen, muss man den Bereich der Begierden erst verlassen haben.« 10

Hat man das geschafft, so führt dies laut Hackmann wie von selbst zu einem bestimmten Stil des Verhaltens, der durch die Einstellung hinhaltender Hingabe beim Umgang mit Widerfahrnissen geprägt ist, denn: »Kennzeichen solchen höheren Lebens sind vor allem: Gütigkeit gegen andere, Genügsamkeit in Bedürfnissen, freiwilliges Zurücktreten.« (S. 65)

Denn: »Es ist eine andere Art von Handeln als das Handeln derer, die etwas erreichen wollen in der Welt. Von den Mitteln der Gewaltsamkeit will es nichts wissen. Natürlich vor allem von jenem Äußersten der Gewaltsamkeit, das wir Krieg nennen.« (S. 65 f.)

Ganz ähnlich ist die Interpretation von Gellért Béky, der sich hier ganz in den Spuren von Heinrich Hackmann bewegt, wenn er über das Wu-wei-Prinzip schreibt: »Das wu-wei hat schon oft die Gemüter, vor allem bei den Abendländern, erregt. Quietistische Leser freuen sich, auch bei Lao-tzu ihre Ideen wiederfinden zu können. Andere erblicken im wu-wei ein Zeichen der Gleichgültigkeit des Lao-tzu der Welt der Tätigkeit gegenüber, die er verachtet und verurteilt haben soll. Viele sehen in diesem Ausdruck den Beweis einer beispiellosen Passivität und damit die radikale Ablehnung der Kultur. Materia-

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listen machen dem Lao-tzu zum Vorwurf, dass der Kampf der Gegensätze die treibende Kraft der Entwicklung ist, indem er die Bedeutung und die Notwendigkeit des (Klassen-) Kampfes übersah. Richtiger und tiefer sieht Hackmann, wenn er die Wurzel des wu-wei einerseits im mythischen Denken, andererseits in der Leere des Tao sieht. Im mythischen Denken wird nämlich die Welt nicht in kausalen Zusammenhängen, sondern nach den Entsprechungen eines feststehenden Weltbildes erfasst. Aus diesem Weltbild heraus ist auch das wu-wei zu beurteilen. Durch die Potenz des »Te« 11 wird der Mensch mit dem Tao verbunden und in die Welt eingefügt. Dieser Potenz eignen nun ganz bestimmte Entsprechungen. Durch das bloße Sich-in-Einklang-Bringen mit diesen Entsprechungen erreicht man die höchste Leistung. Das Tao wirkt im Menschen durch das wu-wei, und es wird durch das wu-wei erreicht.« (S. 86 f.)

Und damit deutlich wird, das das Wu-wei »auf keinen Fall als bloße Negation des Handelns aufzufassen ist« (S. 87), sondern als ein ganz bestimmtes Handeln und Verhalten aufgrund einer ganz bestimmten Einstellung, fügt Béky noch hinzu, das Wu-wei sei »Prinzip und Haltung zugleich« (S. 88), eine »intendierte Absichtslosigkeit, die, jede voluntaristische Intention übersteigend, die reinste Form einer schöpferischen Spontaneität darstellt. Kein Wunder, dass man diese Art von Haltung noch an ehesten und am häufigsten im künstlerischen Schaffen (Poesie, Malerei, Gewandtheit in »Fach«) und im mystischen Erlebnis antrifft.« (S. 88)

Damit kommt Béky zu einem Ergebnis, auf das wir auch schon bei Kamlah gestoßen sind, der die »Grunderfahrung« als »paradoxes nicht-könnendes Können« versteht, das man zwar erlernen kann, aber natürlich nicht im Schnellkurs. Doch auch dieser Gedanke findet sich bei Béky, denn auch er betont eigens: »So verstanden ist das wuwei ein anziehendes, nur schwer erreichbares Ideal und kein billiges Rezept für schnellen Erfolg.« 12 Nun hatte der kleine Dozent das Wu-wei-Prinzip im Sinne seines Meisters ja ausdrücklich mit der Frage »Wer wen?« verbunden, indem er die Sprüche 36, 43 76 und 78 kurz zusammenfasste, und genau dies hatte den Zöllner ja auch so hellwach werden lassen, weil damit klar ist, dass das sanfte Prinzip des Wu-wei eben nicht nur eine Orientierung für die rein private Lebensführung an die Hand gibt, sondern zugleich auch eine politische Handlungslehre in sich birgt, und hier auch wieder nicht nur für das eigene Handeln als Politiker, sondern auch für den ganz normalen Sterblichen, der sich als Opfer

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der Politik empfindet und Mittel und Wege sucht, wie er seinen Widerstand dagegen organisieren könnte. Béky verweist hier auf Chin-Shun Yang, einen marxistischen Übersetzer und Kommentator des Taoteking, der das Wu-wei-Prinzip ganz offensichtlich völlig anders verstanden hat als die Mehrheit der ›bürgerlichen‹ Lao-tse-Interpreten, denn für Yang ist Lao-tse ein Vorläufer von Karl Marx und deshalb gilt für ihn: »Das Tao ist die unerbittliche Notwendigkeit der materiellen Welt, und seinen Gesetzen sind alle Wesen unterworfen. Auf seinem Weg vernichtet es alles, was ihm hinderlich ist.« 13

Hier erscheint also das Weltgesetz des Tao in der Gestalt des Marxismus-Leninismus mit seinen »ehernen Gesetzen« der historisch-materialistischen Soziodizee und damit zugleich auch als Rechtfertigung des Roten Terrors und jeder anderen Form revolutionärer Gewalt. Und das Wasser, das den mächtigen Stein des historischen Anstoßes besiegt, kann sich Yang offenbar nur als Sturzbach oder als Tsunami oder, wie bei Stifter, als vernichtenden Hagelschlag vorstellen, also als ein Element, das in harter oder ad hoc verhärteter Form auftritt und dann seine verheerende Wirkung entfaltet. Doch so hatte der kleine Dozent die Lehre seines Meisters ja gerade nicht wiedergegeben, sondern hatte ausdrücklich vom »weichen Wasser« gesprochen, das allerdings »in Bewegung« sein muss, damit es den »mächtigen Stein« »mit der Zeit« »besiegt«, indem es ihn auswäscht, ins Rollen bringt, dabei langsam abschleift und zu immer kleinerem Kies und endlich zu Sand zermahlt, denn nicht nur am Grunde der Moldau rollen die Steine, sondern auch in allen anderen Flüssen der Welt, und so bleibt überall groß nicht das Große und klein nicht das Kleine. Auf diesen Umstand weist nun auch Allan Watts in seiner Einführung in den Taoismus mit besonderem Nachdruck hin, der er den bezeichnenden Titel Der Lauf des Wassers gegeben hat, wenn er das sanfte Wu-wei-Prinzip als Kunst des Widerstehens und damit nicht als »Vorwärts-Verteidigung«, sondern als »Defensiv-Angriff« bestimmt: »Wu-wei als ›nicht zwingen‹ bedeutet also mit dem Strich gehen, mit dem Stoß rollen, mit der Strömung schwimmen, die Segel nach dem Wind richten, die Gezeiten mit der Flut nützen, ›sich erniedrigen, um zu erobern‹. Das beste Beispiel dafür sind vielleicht die japanischen Künste judo und

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aikido, in denen der Gegner durch den Impetus seines eigenen Angriffs besiegt wird.« 14

Oder anders formuliert: Diese sanfte Kunst der Selbstbehauptung besteht darin, dass man sich zwar mit seinen eigenen Bewegungen in die Bewegungen des feindlichen Angriffs einschwingt und sich in Resonanz mit ihnen mitbewegt, jedoch nur, um diesen Angriff zu beschleunigen und damit ins Leere laufen zu lassen. Man weicht z. B. zurück, um den Angreifer ins Stolpern zu bringen, und das heißt: Abgewehrt wird nicht jede einzelne Angriffs-Bewegung, sondern der gesamte Angriffs-Impuls, der dann als ganzer ins Leere gehen soll. Oder mit wieder anderen Worten: In diesem Wu-wei-Prinzip der sanften Selbstbehauptung haben wir wieder eine neue Variante des ›Prinzips Einverständnis‹ vor uns, auf das wir schon in Kapitel VIII ausführlich eingegangen sind. Lao-tse selbst hat diese gleichsam keunerische Haltung, die sich absichtlich klein macht, um am Ende die »Wer wen?«-Frage für sich selbst zu entscheiden, am deutlichsten in Spruch 36 formuliert, weil dort dargestellt wird, wie das scheinbar Mächtige sich dadurch selbst schwächt, indem es sich uroborisch verzehrt: Was man zusammenziehen will, das muss man erst sich richtig ausdehnen lassen. Was man schwächen will, das muss man erst richtig stark werden lassen. Was man beseitigen will, das muss man erst richtig sich ausleben lassen. Wo man nehmen will, da muss man erst richtig geben. Das heißt die geheime Erleuchtung. Das Weiche siegt über das Harte, Das Schwache siegt über das Starke. (S. 38)

Die Einstellung aber, die dieses Verhalten allererst ermöglicht, ist die Einstellung wachsam hinhaltender Hingabe, auf die wir schon in Kapitel II und III beim wohlig-baalischen Schwimmen in Seen und Flüssen und in Kapitel VII bei der Analyse des ›Mitgehens‹ gestoßen sind. In Kapitel X werden wir dieser Einstellung nochmal begegnen, wenn es darzustellen gilt, wie Brecht durch keunerische Listen aller Art den Angriffen der kunstpolitischen Linienbolde aus der SED widerstand und sein Werk letztlich doch erfolgreich verwertete. Diese keunerische Widerständigkeit hatte er schon lange vor seiner DDR-Zeit in 439 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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der Ballade von der Billigung der Welt vorweg formuliert, die mit der Strophe endet: Da Niedrigkeit und Not mir nicht gefällt Fehlt meiner Kunst in dieser Zeit der Schwung Doch zu dem Schmutze eurer schmutzigen Welt Gehört – ich weiß es – meine Billigung. (S. 245)

Und diese Strophe erinnert wiederum sofort an den Spruch 78 des Lao-tse, aus dem wir zwar schon einige Zeilen zitiert haben, den wir hier aber ganz zitieren müssen, weil er das Wu-wei-Prinzip besonders schön zusammenfasst und außerdem einen kleinen Blick in Lao-tses Selbstverständnis vermittelt: Auf der ganzen Welt gibt es nichts Weicheres als das Wasser. Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt, kommt ihm nichts gleich. Es kann durch nichts verändert werden. Dass Schwaches das Starke besiegt Und Weiches das Harte besiegt, weiß jedermann auf Erden, aber niemand vermag danach zu handeln. Also auch hat ein Berufener gesagt: »Wer den Schmutz des Reiches auf sich nimmt, der ist der Herr bei den Erdopfern. Wer das Unglück des Reiches auf sich nimmt, der ist der König der Welt.« 15 Wahre Worte sind wie umgekehrt. (S. 83)

Was mit der in Wilhelms Übersetzung völlig missratenen letzten Zeile gemeint ist, wird deutlich, wenn man andere Übersetzungen zu Rate zieht, denn bei Knospe/Brändli lautet der Satz: »Die Wahrheit klingt oft so, als wäre sie voller Widersprüche.« Und bei Rousselle und Eckardt heißt es: »Wahre Worte sind/scheinen oft widersinnig.« Dass Lao-tse seine Handlungslehre auch auf das politische Handeln angewendet wissen wollte, geht besonders deutlich aus den Sprüchen 30 und 31 hervor, die beide ausdrücklich vor der Anwendung von Gewalt warnen. Der Spruch 30 lautet: Wer nach dem SINN [also im Sinne des Tao, L. P.] dem Menschenherrscher hilft, zwingt nicht mit Waffen die Welt. Seine Art ist es, den Rückzug zu lieben [d. h. sich eher zurückzuhalten, L. P.]. Wo Kämpfer geweilt, wachsen Disteln und Dornen.

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Gewalt-Kritik aus dem Geiste des Lao-tse

Hinter den großen Heeren her kommt sicher böse Zeit. Der Tüchtige will Entscheidung und nichts mehr. Er wagt nicht Eroberung mit Gewalt. Entscheidung, ohne sich zu brüsten, Entscheidung, ohne sich zu rühmen, Entscheidung, ohne stolz zu sein, Entscheidung, weil’s nicht anders geht, Entscheidung, ferne von Gewalt. Sind die Geschöpfe stark geworden, altern sie. Denn das ist Wider-SINN (d. h. entspricht nicht dem Tao). Und Wider-SINN ist nah dem Ende. (S. 32)

Aus alledem darf man wohl mit einigem Recht die Bilanz ziehen, dass die Handlungslehre des Lao-tse, sofern man sie vom Privaten ins Politische ausweitet, sich tatsächlich als eine explizite Kritik der Gewalt in jeder Form lesen lässt und vom Autor auch so gemeint ist, obwohl sie auf den ersten Blick vielleicht etwas paradox erscheinen mag, aber eben tatsächlich nur auf den ersten Blick, im Hinblick auf revolutionäre Gewalt und besonders auf revolutionärem Terror aber sofort überzeugt, weil hierbei nicht die terroristischen Mittel durch die politischen Zwecke letztlich gerechtfertigt werden, sondern umgekehrt die politischen Zwecke durch die Mittel gleichsam entheiligt werden, durch die sie verwirklicht werden sollen. Bei dem Versuch hingegen, gesellschaftlichen und politischen Fortschritt auf evolutionärem Wege durch eine unendliche Vielzahl von kleinen und kleinsten Schritten zu erreichen, können Kollateralschäden jeder Art tunlichst vermieden werden. So gesehen entpuppt sich die Handlungslehre des Lao-tse als kompletter Gegenentwurf zu der politischen Handlungslehre, die Brecht in der Phase seiner marxistisch-leninistisch orientierten Lehrstücke vertreten hatte. Und so gesehen darf man sich auch nicht wundern, dass die marxistisch orientierte Brecht-Forschung um Brechts Beziehung zu Lao-tses Handlungslehre einen genauso weiten Bogen gemacht hat wie um seine Beziehung zu Max Stirners Egoismus des Eigners. Und erst recht darf man sich nicht wundern, dass Brecht genau zu der Zeit, als er die Laotse-Legende schrieb, alsbald mit seinem großen Stück über die Mutter Courage und ihre Kinder im Dreißigjährigen Krieg begann, weil ihm dieser Krieg offenbar wie die deutsche Entsprechung zum großen chinesischen Bürgerkrieg in der »Epoche der kämpfenden Reiche« erschien, der sogar 230 Jahre dauerte und Lao-tses Kritik aller Gewalt provoziert hatte. 441 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Lao-tses Kritik der Gewalt in jeder Form hatte für Brecht aber noch einen weiteren Effekt, und zwar einen individualpsychologischen, weil diese Kritik der Gewalt auch eine Kritik an Brechts Kampf »mit mir gegen mich« war, also eine Kritik an dem Bürgerkrieg, den er seit seiner Jugend in der eigenen Brust führte und dem er nun ein Ende setzen konnte, indem er endlich sich mit sich selbst und auch mit seinem Herzen aussöhnte. Endlich konnte er den Wahn ablegen, sein Herz »kommandieren«, verhärten und auskühlen zu müssen. Endlich konnte er sein Herz gleichsam in die Mündigkeit entlassen. Hier bei Lao-tse fand Brecht in den Sprüchen 3 und 49 das explizite Gegen-Programm zu seinem Tagebuch-Eintrag vom 21. Oktober 1916, denn dieser Spruch 49 lautet: Der Berufene hat kein Herz für sich. Er macht der Leute Herz zu seinem Herzen. Zu den Guten bin ich gut, und zu den Nichtguten bin ich auch gut; denn das LEBEN ist die Güte. Zu den Treuen bin ich treu, und zu den Nichttreuen bin ich auch treu; denn das LEBEN ist die Treue. Der Berufene lebt in der Welt ganz still, aber er macht sein Herz weit für die Welt. Die Leute alle starren auf ihn und horchen. Der Berufene behandelt sie alle als seine Kinder. (S. 54)

Aus diesem Spruch 49 hat Brecht den neuen Typ des ›Guten Menschen‹ entwickelt, aber nicht begrifflich, sondern dramaturgisch und szenisch, indem er Gestalten entwarf, die endlich einmal der Stimme ihres Herzens folgen dürfen. Gestalten dieser Art hatte er zwar schon mit dem Jungen Genossen der Massnahme oder mit der Johanna in den Schlachthöfen von Chicago geschaffen, doch diese beiden bereuten es schließlich, der Stimme ihres Herzens gefolgt zu sein und bekannten sich ausdrücklich zur Gewalt in jeder Form. Nun aber treten in Brechts Werk Gestalten auf, die, wenn sie der Stimme ihres Herzens folgen, durchaus mit sich im reinen sind. Man denke an Shen Te, die ausdrücklich als »der gute Mensch von Sezuan« bezeichnet wird, an die schon erwähnte Magd Grusche, oder an die stumme Kattrin, denn das vorletzte Bild von Mutter Courage und ihre Kinder liest sich geradezu wie die szenische Illustration von Lao-tses Spruch 49, weil die stumme Kattrin die Stadt Halle buch-

442 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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stäblich mit ihrem Herzen wach trommelt, um die dort lebenden Kinder vor dem Tod zu retten, wobei sie aber selber zu Tode kommt. Es dürfte also dieser durch Lao-tse ausgelöste große historische Kompromiss mit sich selbst gewesen sein, der Brechts Kampf »mit mir gegen mich« zunächst einmal beendete und es möglich machte, dass Brecht in den Jahren nach 1938 diese unerhörte Explosion an Kreativität erlebte, die ihn befähigte, in kürzester Zeit und z. T. auch nebeneinander die fünf großen Stücke zu schreiben, die dann seinen Weltruhm als Dramatiker begründet haben. Denn genau so wie er um 1920 bei seiner ersten Explosion an Kreativität die Stücke Baal und Trommeln in der Nacht und die Lyrik der Hauspostille schrieb, so entstanden nun ›wie von selbst‹ Leben des Galilei, Mutter Courage und ihre Kinder, Der gute Mensch von Sezuan, Herr Puntila und sein Knecht Matti und etwas später Der kaukasische Kreidekreis und daneben noch Lyrik in Hülle und Fülle. Und deshalb kann man nur staunen, dass es Brecht-Forscher gibt, in deren Arbeiten der Name Lao-tse überhaupt nicht vorkommt.

9.5 Die Wiederkehr des ›Guten Menschen‹ 9.5.1 Einleitung Die Behauptung, dass Brechts Orientierung an der taoistischen Ethik des Lao-tse ihn in die Lage versetzte, in den Werken seiner Reife den Typ des ›Guten Menschen‹ zu schaffen, darf jedoch nicht so verstanden werden, dass dieser Typ des ›Guten Menschen‹ völlig neu in Brechts Werk aufgetaucht sei, weil es diesen Typ schon im Frühwerk gab und weil er auch später in immer wieder neuer Gestalt aufgetreten ist, sodass diese Parade ›Guter Menschen‹ sich gleichsam als eine Palette der Selbstlosigkeit darbietet, die sich analog den philosophischen Wandlungen Brechts in immer wieder neuen Formen entfaltet. Hat man die Etappen dieser philosophischen Wandlungen im Auge, kann man sogar eine Abfolge bestimmter Stadien erkennen, die mit dem christlichen Stadium des Frühwerks und mit dem ›Modell Jesus‹ beginnt, das während des ersten Weltkriegs ins nationalprotestantische Stadium mit dem ›Modell Langemarck‹ übergeht, in dem der freiwillige und stellvertretende Heldentod auf dem ›Feld der Ehre‹ hymnisch gefeiert wird. Diese Phase wird dann von dem ›Modell Hiob‹ abgelöst, das den wehrlos frommen ›Guten Menschen‹ 443 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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zeigt, dem nicht nur von seinen Mitmenschen, sondern vor allem von seinem Gott übel mitgespielt wird und in dem die immanenten Widersprüche der Theodizee-Ideologie durch die schlichte Frage »unde malum?« zum Ausbruch kommen. Und dann wird durch die egoistische und neuheidnische Wende Brechts im Zeichen Stirners und Baals das Thema des ›Guten Menschen‹ erst mal insgesamt obsolet. Brechts marxistisch-kollektivistische Wende in den späten Zwanzigerjahren bringt dann den völlig neuen Typ des ›Guten Menschen‹ hervor, der sich willig ins Kollektiv einschmelzen lässt, was dann allerdings wieder neue Probleme mit sich bringt, und durch die taoistische Wende in den späten Dreißigerjahren nähert sich der Typ des ›Guten Menschen‹ wieder dem ›Modell Jesus‹ an, allerdings in einer strikt säkularen Form, weil nun das freiwillige Selbstopfer des ›Guten Menschen‹ nicht mehr im Rahmen eines vorgegebenen Heilsplanes erfolgt und deshalb auch kein metaphysisch verankertes stellvertretendes Leiden und Sterben mehr darstellt, um irgendwelche Sünden abzuarbeiten. Was sich gleichbleibt durch all diese Wandlungen hindurch ist die ausgeprägte Wehrlosigkeit des ›Guten Menschen‹, die ihn zum Opfer aller anderen weniger guten Menschen prädisponiert. Einer der schlimmsten dieser weniger guten Menschen war laut John Fuegi Brecht selbst, denn laut John Fuegi spiegelt sich in dem Umstand, dass der Typ des ›Guten Menschen‹ in den späten Stücken immer von einer jungen Frau repräsentiert wird, vor allem der Entstehungsprozess all dieser Stücke wider, an denen Brechts selbstlose und wehrlose Helferinnen 1 mitzuarbeiten hatten. Und die obligatorische Wehrlosigkeit des ›Guten Menschen‹ und sein stellvertretendes Arbeiten, Leiden und Sterben ist für Fuegi wiederum vor allem ein Verweis auf die sexuelle Hörigkeit dieser jungen Frauen, die Brecht brutal und rücksichtslos verwendet, verwertet, ausgebeutet und um den Lohn ihrer Mühen auch finanziell betrogen haben soll. In den Berliner Jahren seien dies v. a. Elisabeth Hauptmann, im dänischen Exil v. a. Margarete Steffin und später Ruth Berlau gewesen. Fuegi geht sogar so weit zu behaupten, dass mit dem Tod von Margarete Steffin, der weitaus begabtesten all dieser Gehilfinnen, die die Brecht-Gruppe im Juni 1941 in Moskau todkrank zurückgelassen hatte, wo sie dann auch bald starb, zugleich auch Brechts poetisches Potential als Stückeschreiber weitgehend erschöpft gewesen sei:

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»Steffins Tod (…) beendete die fruchtbarste Periode der Produktion von Brecht-Texten. Mit Ausnahme einer Handvoll von Theaterstücken und Bearbeitungen, die in den folgenden Jahren zusammen mit Ruth Berlau oder nach dem Krieg mit Elisabeth Hauptmann fertiggestellt wurden, war die Karriere Brechts, des Dramatikers von Weltrang, im Juni 1941 zusammen mit Margarete Steffin zu Grabe getragen worden.« 2

Fuegi hätte diese These sogar noch mit dem Argument stützen können, die ›Guten Menschen‹ in den früheren und ganz frühen Werken seien deshalb Männer, weil Brecht damals seine Stücke ganz allein und ohne die Mitarbeit seiner ihm hörigen Helferinnen geschrieben habe. Und so ganz abwegig wäre diese These ja auch nicht, soweit sie sich auf das Frühwerk bezieht; bezogen auf das Gesamtwerk aber halte ich sie für maßlos übertrieben, insbesondere deshalb, weil Fuegi Brechts Orientierung an Lao-tses sanftem Prinzip überhaupt nicht sieht. Hätte er Brechts großes Lao-Tse-Gedicht wirklich ernst genommen, angemessen verstanden und auch als eine versteckte Poetologie gelesen, so hätte er dessen Schluss auch als Verweis auf Brechts poietische Hebammenkunst verstehen können, die darin bestand, dass man sich in dieser sehr spezifischen »gemeinsamen Situation« (Schmitz) gegenseitig die kreativen Einfälle abverlangt, sodass man am Ende, frei nach Brecht, sagen kann: Darum sei mein Partner auch bedankt, Der mir den Einfall abverlangt.

Und wenn der Einfall dann endlich formuliert ist, fällt es schwer, eindeutig zu entscheiden, von wem der Einfall eigentlich stammt. Kleist bringt diese »Hebammenkunst der Gedanken« 3 in seinem Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden auf den Punkt mit der Formulierung: »Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß.« 4 Und analog dazu könnte man sagen: Denn nicht wir schaffen, sondern es ist ein gewisser Zustand unsrer, welcher schafft, und dieser Zustand kann sehr wohl auch ein gemeinsamer in einer gemeinsamen kreativen Situation 5 sein, in der die kreativen Einfälle dann »wie von selbst« zu kommen scheinen und ohne dass man so recht weiß, von wem genau sie gekommen sind. Dazu Günter Blamberger in seinem Kommentar zu Kleists Aufsatz:

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»Insofern ist Kreativität, das zeigen Kleists Exempel, keineswegs ein kalkulierbarer Prozess im Sinne einer Transformation von Wissen und Plänen in praktisches Handeln, sondern Modus der Erfahrung im Handeln selbst: im Reden und Weiterreden ebenso wie im Schreiben und Weiterschreiben, in den Arbeitsprozessen des Malers oder Bildhauers ebenso wie in dem des Komponisten. Kunst ist Erfahrung, die Erfahrung verteilter Handlungsmacht, zwischen Künstler und Medium oder Material, Künstler und imaginärem oder realem Beobachter. Als Kreativer ist man Teil der Versuchsanordnung, es gibt kein Außen in kreativen Experimenten.« 6

Doch genau dies hat Fuegi nicht gesehen, weil er sich den Künstler offenbar nur als ›Einzelkämpfer‹ mit klar abgrenzbaren Besitzansprüchen auf sein geistiges Eigentum und klaren Unterscheidungen von Mein und Dein vorstellen kann, und dieser schiefe Blick auf kreative Prozesse beruht offensichtlich wiederum darauf, dass Fuegi den Widerfahrnis-Aspekt von Kreativität nicht zu kennen scheint, den in der Antike jeder Autor ausdrücklich anerkannte und dem er durch seinen obligatorischen Appell an die Musen seine Reverenz zu erweisen pflegte.

9.5.2 Der ›Gute Mensch‹ in Brechts Frühwerk Die prominenteste Gestalt in der Parade all dieser ›Guten Menschen‹ in Brechts Frühwerk ist natürlich der biblische Jesus, weil in ihm alle entscheidenden Elemente dieses Motivs in exemplarischer Weise vereint sind: Die völlige Unschuld, das freiwillige stellvertretende Selbstopfer im Rahmen eines Heilsplans, das er für die Erlösung der gesamten Menschheit auf sich nimmt, vor allem aber das volle Einverständnis mit diesem vorgegebenen Heilsplan, aus dem sich wiederum seine Wehrlosigkeit gegenüber all dem ergibt, was er zu erdulden hat. Aus diesem Grund kreisen all diese Gedichte des jungen Dichters Brecht um die Passionsgeschichte und beginnen mit Szenen aus dem Garten Gethsemane und enden mit der Erscheinung des auferstandenen Jesus. Besonders typisch scheint mir das Gedicht Gethsemaneh vom September 1913, in dem der Autor darstellt, wie Jesus mit einem Engel als der Stimme seines Gottes ringt, dann aber mit einer Entschlussgeste sein Einverständnis mit der Rolle als unschuldiges Opfer im Rahmen des Heilsplanes bekundet, den sein Gott ihm auferlegt hat, und dann entschlossen seinem Leiden und Sterben entgegen geht. 1 446 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Man könnte auch auf das Gedicht Judas Ischarioth verweisen, in dem geschildert wird, wie der auferstandene Jesus dem Judas erscheint und diesen fragt, warum er ihn verraten habe und dann in der Nacht verschwindet, worauf Judas in ein Höllengelächter 2 ausbricht und sich aufhängt 3. Zu nennen wäre auch das Gedicht Christus vor dem Hohen Rat 4, bei dem sich Brecht eher an Dostojewskijs Legende vom Großinquisitor als am Neuen Testament orientiert und deshalb einen konsequent schweigenden Christus 5 zeigt. Die nationalprotestantische Variante des Motivs vom ›Guten Menschen‹, die während des Krieges Brechts lyrisches Werk dominierte, preist im wesentlichen Soldaten, die den Heldentod sterben, indem sie sich für Kaiser, Volk und Vaterland opfern, und Mütter, die bereitwillig ihre Söhne für dieses patriotische Selbstopfer 6 hingeben. Das letzte Gedicht in dieser Serie von Gedichten nach dem ›Modell Langemarck‹ ist das Gedicht Mütter Vermisster von 1916, in dessen letzten Versen der schöne Tod auch dieser frommen Heldenmütter hymnisch gefeiert wird, weil ihnen statt des vermissten Sohnes der auferstandene Jesus selbst erscheint und ihnen das Sterben leichtmacht. Doch nach diesem Gedicht Mütter Vermisster von 1916 bricht diese Serie von Gedichten nach dem ›Modell Langemarck‹ schlagartig ab, weil Brecht auf Stirners Philosophie stößt, durch die ihm jede Form von stellvertretendem Leiden und Sterben sofort als absurd und lächerlich vorkommt, was er dann ja auch in dem Skandal-Aufsatz über den bekannten Horaz-Vers 7 überdeutlich zum Ausdruck bringt. Und außerdem ändert er genau zu dem Zeitpunkt auch seinen Vornamen von Berthold Eugen in Bert. Das Chamäleon Brecht hatte also zum ersten Mal seine Farbe gewechselt. Angekündigt hatte sich diese egoistische Wende schon in dem Gedicht Karfreitag von 1915, oder genauer: im Übergang vom Prolog dieses Gedichts zum Epilog, denn im Prolog wird das freiwillige Selbstopfer für andere noch gefeiert, im Epilog aber schon in seiner Sinnhaftigkeit angezweifelt, indem sich hier jemand darüber wundert, »dass es Dinge gibt, für die man sterben kann.« 8 Das ›Modell Hiob‹ blieb für den jungen Brecht etwas länger relevant, auch noch nach seiner neuheidnischen Wende im Geiste Stirners und Baals, weil der ›Gute Mensch‹ in diesem Szenario das selbstlose Einverständnis mit seiner Situation als Opfer aufkündigt und erst recht das ihm angesonnene stellvertretende Selbstopfer, weil er keinen übergreifenden Heilsplan mehr erkennen oder anerkennen 447 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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kann, im Rahmen dessen ein Selbstopfer für andere sinnvoll sein könnte. Wehrlos aber bleibt er gleichwohl, eine mehr oder weniger wehrlose Kreatur, die nur noch auf das genauso kreatürliche Mitgefühl anderer hoffen kann. In den Gedichten und Balladen der Hauspostille über die verführten oder ertrunkenen Mädchen oder über die Kindsmörderin Marie Farrar hat Brecht ja einigen dieser armen Kreaturen ein lyrisches Denkmal gesetzt. Ein erster Anklang an dieses ›Modell Hiob‹ findet sich schon in dem Hagel-Gedicht 9 von 1913, das fromme Bauern schildert, denen ihr grausamer Gott gnadenlos die Ernte vernichtet. Und da erhebt sich natürlich sofort die klassische Frage »unde malum?«, die jede Art von Theodizee sofort unterminiert und die dazugehörige Gläubigkeit je nach Temperament in offene Rebellion, beharrliche Renitenz, hinhaltenden Widerstand, stumpfes Leiden und Dulden oder auch in klaglose »quietistische Ergebenheit« verwandeln kann. Im Sommer 1920 trug sich Brecht eine Zeitlang sogar mit dem Gedanken, ein Jesus-Stück 10 zu schreiben, verwarf den Plan aber bald wieder, als er im September 1920 eine Aufführung des Passionsstücks der Brüder Adolf und Georg Faßnacht sah und an diesem Werk ablesen konnte, in welche dramaturgische Schwierigkeiten man geraten kann, wenn man ins Zentrum eines Stückes einen exemplarisch guten Menschen stellt, und deshalb notiert er im Tagebuch dazu: »Im übrigen wäre die Jesusgestalt zu zeichnen durch Eindringlichkeit und Lässigkeit. Ein Mensch für die Menschen, für jetzt, für den Platz, wo er ist, schnauft, redet, leidet. Das Ganze ist lyrisch, ungeeignet fürs Drama, weil unlogisch, ja alogisch, eine reine Zerstörung des Folgebegriffs. Es sind mystische Visionen, ein guter Mensch unter einem Feigenbaum, das Herz auf der Zunge, ein lebender Eindruck, ein ganz nabelloser Mensch, ein gelungenes Geschöpf, zwecklos, ohne Benötigung irgend einer Rückensteifung (Pflichterfüllung oder so). Ein unverletzbarer Mensch, weil widerstandslos. Ganz lavierend, biegsam, wolkengleich, voll von Sternhimmeln, milden Regen, Weisheiten, Fröhlichkeit, Vertrauen, Möglichkeiten. Der gute Mensch in einem. Er kann nicht gestaltet werden im Drama: Er bietet keinen Widerstand. Er bietet keinem Ding ein eigenes Gesicht – es wäre ein Affront, ein Aufsichbeharren, ein Hochmut, ein Eingriff in den andern.« 11

An diesen Überlegungen fällt sofort auf, wie konsequent Brecht die Frage ausblendet, ob der Jesus-Stoff überhaupt gestaltet werden kann, ohne dass man aus ihm ein Passionsspiel macht, das sich an gläubige Christen wendet, denn an welches Publikum sollte sich ein profanes Jesus-Stück sonst wenden können? 448 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Doch wirklich ernsthaft dürfte Brecht diesen Plan eines JesusStückes auch nie verfolgt haben, weil es im Nachlass keine einzige Notiz dazu gibt, und außerdem war seine Kritik am Passionsstück der Brüder Faßnacht zugleich eine versteckte Selbstkritik, denn er hatte kurz vorher mit der Szenenfolge Hans im Glück selbst ein Stück geschrieben, dessen Zentralgestalt ebenfalls ein exemplarisch guter Mensch ist und auf den viele der dramaturgischen Einwände zielen, die Brecht in seiner Kritik gegen den Jesus der Brüder Faßnacht ins Feld führt, denn auch sein Hans, der eher als ein »Hans im Unglück« erscheint, ist so ein »unverletzbarer Mensch« und der veritable »gute Mensch in einem«, weshalb er am 14. September 1920 im Rahmen einer Gesamtbilanz seiner bisherigen dramatischen Produktion zu dem Urteil kommt: »Immer mehr stört mich das Chaos meiner Papiere: Die »Sommersinfonie« ein grünes Obst, ungenießbar. »Hans im Glück« misslungen, ein Ei, das halb stinkt. »Trommeln in der Nacht« immer am Rand der Beendung, weitab von irgendeiner Vollendung. Die Novellen skizzenhaft hingeworfen, ungenügend ge»dichtet«. »Baal« befriedigt mich nimmer, scheint mir nimmer frisch und ursprünglich, viel zu abgeschliffen, verfeinert, verflacht.« 12

Das Text-Material von Hans im Glück liegt in einer in sich geschlossenen Szenenfolge von elf Bildern und einigen Notizen vor, die den Titelhelden, ähnlich wie im Märchen der Brüder Grimm, auf den verschiedenen Stationen eines Gabentausches zeigt, der für ihn immer nachteiliger zu sein scheint, von ihm selbst aber eher als eine Befreiung empfunden wird. Wenn man dieses Text-Material 13 durchstudiert, möchte man den Text vor der harten Kritik des Autors jedoch vehement in Schutz nehmen, denn man sieht sofort, dass der Typ des ›Guten Menschen‹ sehr wohl im Drama gestaltet werden kann, was die szenische Lesung, als die wir damals an den Städtischen Bühnen Augsburg den Text uraufgeführt haben, auch deutlich gezeigt hat, denn in der Kritik hieß es: »Das erstaunlichste, neben der bisherigen Nichtbeachtung des »Hans im Glück«, ist wohl der Status der Aufführbarkeit dieser gut eineinhalbstündigen Passion des guten Menschentums. Elf fertige Szenen und ein mühelos anzufügendes Schlussbild, das Dramaturg Prütting unter den Splittern einer weiteren Version des Dramas fand, beschreiben die Stationen eines dem Grimm-Märchen formal nachgebauten Gabentausches. Er endet für den dummen, kräftigen, guten Hans mit einer konsequent betriebenen Demontierung seiner sozialen Person, während er

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selbst als subjektiv empfindendes Individuum die Befreiung von der Last der Dinge und sozialen Verpflichtungen als »schön« und »gut« preist. (…) Die Wonnen des Nachgebens und der Hingabe, die Hans – Gegenpol der fast zeitgleich entstandenen Baal-Figur – auslebt, wirken in diesem Frühtext Brechts indes nicht lächerlich. Sie sind vielmehr mit einer lyrisch komponierten, an schönste BB-Gedichte erinnernden Poesie unterfüttert – Bilder von ziehenden Wolken, von überaus zarter Liebe zu seiner Frau Hanne, von Natur-Hingabe lassen das fast pantheistische Ein- und Abtauchen Hansens in die Vergänglichkeit nachvollziehen.« 14

Ich selbst schrieb damals im Programmheft einen kurzen Essay unter dem Titel Der gute Mensch vom Lech, in dem ich versucht habe, die Fassung zu erläutern, die ich aus dem vorliegenden Material erstellt habe und dieses Stück in Brechts Frühwerk einzuordnen, und dort heißt es u. a.: »In die unmittelbare Nähe zu »Baal« gehört »Hans im Glück« nicht nur aus formal-dramaturgischen Gründen – beides sind typische Stationen-Stücke –, sondern v. a. auch deshalb weil man den Eindruck hat, Baals Jünger Johannes sei hier als Hans wiedererstanden und lebe eine Existenzform vor, die als strikter Gegenentwurf zur baalischen Lebensweise gedacht ist. Denn so wie Baal dem Egoismus von Max Stirner folgt und dessen Maxime »Verwerte dich, verwerte dich selbst und dein Eigentum!« folgt und deshalb die Welt, seine Mitmenschen und am Ende auch sich selbst verzehrt, so könnte man die Lebensform dieses Hans im Glück auf die Formel bringen: »Gib alles hin, dich selbst und all dein Eigentum!« Somit stünden die beiden Stücke »Baal« und »Hans im Glück« in einem ähnlichen Verhältnis zueinander wie »Penthesilea« und »Käthchen von Heilbronn« bei Kleist, und damit wie zwei Gestalten, von denen die eine ebenso mächtig durch »Handeln« ist wie die andere durch »gänzliche Hingebung« (Kleist). (…) Im späten Werk des reifen, klassischen Brecht kehrt das Prinzip der dramaturgischen Zwillingsbildung übrigens wieder, und zwar in der Form, dass Shen Te und Shui Ta zusammen, aber schizophren gespalten, den guten Menschen von Sezuan bilden. Und dass sich außerdem die vielfältigsten Querverbindungen zu Büchners »Woyzeck«, zu Molnars »Liliom«, zu Dostojewskijs »Idiot« und zu Molières »Tartuffe« und »George Dandin« in Brechts »Hans im Glück« finden, ist bei einem Autor, der ungeniert im Verwerten des literarischen Erbes war, eigentlich selbstverständlich.« 15

Aus den Notizen zum Stück geht auch hervor, dass Brecht ein recht klares Bild von der äußeren Erscheinung seines Hans hatte: »Ein dicker Bursch mit dickem Kopf, zottigen Haaren, Strähne über der Stirn, etwas dumm, ungelenk.« (S. 75) Schon aus der körperlichen Konstitution geht also hervor, dass Brecht sich diesen Hans als ein 450 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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ganz großes Kind vorstellte, also als einen Menschen, der körperlich groß, geistig aber infantil und ewig unmündig geblieben ist. Diesen Typ kannte Brecht aber nicht nur aus der Literatur, sondern auch aus seiner Bibel, genauer aus dem Römerbrief, wo Paulus das Wesen der »Kinder Gottes« beschreibt: »Denn auch die Kreatur wird frei werden von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.« (Römer 8,21)

Von hier aus gesehen muss man Brechts dramaturgische Überlegungen zur Frage, ob der Typ des ›Guten Menschen‹ im Drama überhaupt gestaltet werden könne, weil er angeblich »keinen Widerstand« und »keinem Ding ein eigenes Gesicht bietet«, kritisch überprüfen, indem man die Frage stellt: Muss eine Dramengestalt wirklich unbedingt der Welt eine »eigenes Gesicht« bieten? Kann sie nicht auch als Spiegel fungieren, in dem alle anderen, also nicht nur die anderen Dramengestalten, sondern auch der Zuschauer sich als den erkennen, der sie selbst sind, sodass sie u. U. auch vor dem eigenen Spiegelbild erschrecken, weil sie sich von diesem ›Guten Menschen‹ allzusehr unterscheiden? Und genau dieses Stück hat Brecht mit seinem Hans im Glück eben geschrieben und mit dem Fragment Galgai versucht, auf das wir in Kapitel 5.1 kurz eingegangen sind. Er konnte diese Einstellung aber auch in Döblins Wang-lun-Roman nachlesen, den er genau um diese Zeit kennengelernt hatte, denn dort predigt Wang-lun seinen Gefolgsleuten das Evangelium der »Wahrhaft Schwachen«, die eben auch die wahrhaft Guten sind: »Geht mit mir. Wir sind Ausgestoßene und wollen es eingestehen. Wenn wir so schwach sind, sind wir doch stärker als alle anderen. Glaubt mir, es wird uns keiner erschlagen; wir biegen jeden Stachel um. Und ich verlass euch nicht. Wer uns schlagen wird, wird seine (eigene) Schwäche fühlen.« (S. 81)

Einige Jahre später, als auch Brecht dem Kult des kalten Herzens anhing, sah er all dies ganz anders; der ›Gute Mensch‹ als Typus verschwand aus dem Kreis seiner Gestalten, und deshalb heißt es in einem Song der Dreigroschenoper: Der Mensch ist gar nicht gut Drum hau ihm auf den Hut. Hast du ihm auf den Hut gehaun Dann wird er vielleicht gut.

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Denn für dieses Leben Ist der Mensch nicht gut genug Darum haut ihm eben Ruhig auf den Hut! (S. 151)

Diese sarkastische Empfehlung richtete sich auch gegen die Ideologie des Gutmenschentums, die die expressionistische Kitsch-Autoren vom Schlag eines Franz Werfel wie eine Monstranz vor sich her trugen, weil dort nicht vom einzelnen guten Menschen die Rede ist, sondern vom Menschen generell.

9.5.3 Der ›Gute Mensch‹ und die Forderungen des Kollektivs Gleichzeitig mit seiner marxistisch-kollektivistischen Wende, die sich schon in dem Stück Mann ist Mann andeutet, taucht in Brechts Werk ein Gestaltentypus auf, der einige der entscheidenden Züge aufweist, die Brecht an der Jesus-Gestalt aufgefallen waren, denn auch der Held dieses Stückes, Galy Gay, hat »kein eigenes Gesicht« und auch er bietet all den Ansinnen, die an ihn herangetragen werden, »keinen Widerstand«, sodass man mit ihm auf der Grundlage dieser umfassenden Selbstlosigkeit, Wehrlosigkeit und Gesichtslosigkeit alles machen kann, sogar eine »menschliche Kampfmaschine«. Alle Züge, die er nach dieser Ummontierung aufweist, bezieht er allein aus dem Kollektiv, in das er nunmehr eingeschmolzen ist. Versteht sich dieses Kollektiv als Krieger-Kaste, so versteht auch er sich als eine »Kampfmaschine«, und versteht sich dieses Kollektiv als die Vorhut irgendeiner Revolution, so versteht sich auch er als ein Revolutionär und verhält sich entsprechend. Die Freudianer würden ihn wohl als »Über-Ich-Krüppel« bezeichnen, als jemanden also, dessen Ich-Instanz unterentwickelt geblieben ist und der deshalb ausschließlich von seinem Über-Ich dominiert wird. Mit einem Wort: Aus dem Typ des selbstlosen ›Guten Menschen‹ ist der selbstlose, gesichtslose und gewissenlose Allround-Funktionär im Rahmen eines Kollektivs geworden, der für alles verwendet werden kann. Wenn Brecht nun im Schlussmonolog seines Stückes Mann ist Mann von 1938 behauptet, dieser Galy Gay sei durch seine Verwandlung »stärker« geworden als er jemals vorher war, und dieser »neue Mann« sei auch »der bessere Mann« 1, so kann man natürlich fragen, ob dieser »bessere Mann« noch ein »guter Mensch« sei, oder gar ein »extra guter Mensch«. 452 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Die Antwort auf diese Frage kann nur lauten: Er ist es natürlich nicht, weil der ideale Funktionär, der er nunmehr ist, sich subjektiv ja diesseits und jenseits von Gut und Böse bewegt, weil für ihn nur noch das Kriterium der Funktionalität und situationsangemessenen Verwendbarkeit zu zählen hat. Hand in Hand mit dieser Ummontierung des ›Guten Menschen‹ zum »besseren Mann« und Funktionär wandelt sich ja auch der Begriff der Selbstlosigkeit, denn »selbstlos« heißt nun nicht mehr, dass jemand für jemanden etwas tut, ohne dabei auf den eigenen Nutzen und Nachteil zu achten, sondern »Selbstlosigkeit« heißt nun soviel wie »Man ist Niemand« 2. Doch genau hier tut sich eine weitere Möglichkeit auf, den Typus des ›Guten Menschen‹ zum Helden eines Dramas zu machen, weil er, wenn er auch nur einen kleinen Rest von Identität behält, jederzeit in eine Situation geraten kann, in der er mit den Anforderungen des Kollektivs kollidiert. In den Lehrstücken, insbesondere in der Massnahme, hat Brecht diesen Konflikt in klassischer Weise gestaltet, dass ein moralisch selbstlos guter Mensch die funktionale Selbstlosigkeit des Funktionärs aufkündigt, sich innerhalb des Kollektivs plötzlich als Einzelner und damit wiederum als Außenseiter empfindet und gegen das Kollektiv rebelliert. Ist dieses Kollektiv ein gewaltgeprägtes, dessen Aggressivität sich ebenso nach außen gegen Feinde wie nach innen gegen die eigenen Mitglieder wenden kann, so wird aus dem Ethos der Selbstlosigkeit die grundsätzliche Bereitschaft zum Selbstopfer 3 abgeleitet, das dem rebellierenden Genossen denn auch angesonnen wird. Und ist er dazu nicht bereit, so wird er bedenkenlos geopfert 4 und man erwartet von ihm auch noch das volle Einverständnis mit der Parole: »Wir opfern uns gern!« Und diese Parole konnte man in den Schlussworten der Angeklagten bei den Moskauer Schauprozessen immer wieder hören, unter welchen Umständen diese Schlussworte auch immer entstanden sein mögen.

9.5.4 Die ›Guten Menschen‹ und das ›sanfte Prinzip‹ Als Brecht gerade im dänischen Exil angekommen war, geriet für ihn das Prinzip des ›Guten Menschen‹ insgesamt in eine Krise, weil für ihn als Emigranten, der die Zustände im Nazi-Reich nur hilflos und wehrlos von außen verfolgen konnte, der Aspekt der Wehrlosigkeit des ›Guten Menschen‹ angesichts eines menschenver-achtenden poli453 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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tischen Systems ganz ins Zentrum des Problems rückte. Und dadurch wandelte sich das Thema des ›Guten Menschen‹ für ihn von einem eher moralischen zu einem eher politischen Problem, dem er in dem Gedicht Was nützt die Güte von 1935 auch Ausdruck verlieh: 1 WAS NÜTZT DIE GÜTE Wenn die Gütigen sogleich erschlagen werden oder es werden erschlagen Die, zu denen sie gütig sind? Was nützt die Freiheit Wenn die Freien unter den Unfreien leben müssen? Was nützt die Vernunft Wenn die Unvernunft allein das Essen verschafft, das jeder benötigt? 2 Anstatt nur gütig zu sein, bemüht euch Einen Zustand zu schaffen, der die Güte ermöglicht und besser: Sie überflüssig macht! Anstatt frei zu sein, bemüht euch Einen Zustand zu schaffen, der alle befreit Auch die Liebe zur Freiheit Überflüssig macht! Anstatt nur vernünftig zu sein, bemüht euch Einen Zustand zu schaffen, der die Unvernunft der einzelnen Zu einem schlechten Geschäft macht! (S. 1083)

Nachdem er aber hatte erfahren müssen, dass auch Freunde von ihm den stalinistischen Säuberungen zum Opfer gefallen waren, denen er mit dem Gedicht Ist das Volk unfehlbar? 1 nur noch nachtrauern konnte, weil die Zustände in Stalins Reich die Hoffnung auf Güte und Vernunft und die Liebe zur Freiheit durchaus nicht überflüssig gemacht hatten, war das Ethos des ›Guten Menschen‹, genauer: das Ethos des einzelnen guten Menschen im konkreten Einzelfall wieder aktuell und durch die erneute Beschäftigung mit der Philosophie des Lao-tse auch noch ausdrücklich bekräftigt worden und wollte nun auch für die Stücke dramaturgisch nutzbar gemacht werden, die im skandinavischen Exil entstehen sollten. Das erste dieser großen Stücke war Mutter Courage und ihre Kinder 2, das Brecht zwischen Ende September und Anfang November 1939 schrieb und somit seine direkte Antwort auf den Feldzug 454 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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von Hitler und Stalin gegen Polen war, mit dem der Zweite Weltkrieg begann. Die Fabel des Stücks besteht in einer Szenenfolge, in der gezeigt wird, wie die Courage in dem Wahn, ein Krieg könne auch für sie ein Geschäft sein, ein Kind nach dem andern und überhaupt alles verliert, und sie verliert alles gerade deshalb, weil sie nichts loslassen und hergeben kann. Da diese Einstellung des Loslassenkönnens aber eine der zentralen Tugenden des sanften Prinzips Wu-wei ist, liest sich die Fabel des Stücks in dieser Lesart so, dass das Wu-wei-Prinzip des Lao-tse an zwei Protagonisten des Stücks demonstriert wird, die unter diesem Gesichtspunkt, und nur der interessiert uns hier, als direkte Gegenspieler erscheinen. Da ist zum einen die Courage, die gleich mit ihrem ersten Wort und ihrem ersten Song sich als eine Geschäftemacherin vorstellt, die mit ihren Mitteln die Soldaten in den Tod führt und daran auch noch verdienen will. Und deren Gegenspielerin ist ihre Tochter, die stumme Kattrin, gleichsam das Wu-wei-Prinzip in Person, von der die Courage, nachdem ihr Sohn Eilif Soldat geworden ist, gleich im ersten Bild sagt: »Und jetzt bleibst nur noch du mir sicher, du bist selbst ein Kreuz: du hast ein gutes Herz. Ich möchte schier verzweifeln.« Und dann schärft sie ihr ein: »Sei nicht zu gutmütig, Kattrin, seis nie mehr!« (S. 17) Natürlich geht dieser Versuch fehl, die stumme Kattrin auf das Wolfsgesetz des Krieges und auf eine Einstellung des bedingungslosen und herrisch-gierigen Zugreifens und Festhaltens einzuschwören, und weil diese Kattrin völlig unbelehrbar immer wieder der Stimme ihres guten Herzens folgt, versucht die Courage all dies dadurch auszugleichen, dass sie selbst sich immer weiter verhärtet, immer gieriger und geiziger wird, sich an allem, was sie gerade hat, immer unerbittlicher festkrallt und am Ende geradezu versteinert, ganz gleich, ob es dabei wie im dritten Bild um den Wagen geht, den sie günstig verkaufen könnte, oder bloß, wie im fünften Bild, um ein paar Hemden, die als Verbandszeug verwendet werden sollen – immer lautet ihr Prinzip: »Ich gib nix, ich mag nicht, ich muss an mich selber denken.« (S. 62) Denn: Ich lass mir den Krieg von euch nicht madig machen. Es heißt, er vertilgt die Schwachen, aber die sind auch hin im Frieden. Nur, der Krieg nährt seine Leut besser.

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Sie singt: Und geht er über deine Kräfte Bist du beim Sieg halt nicht dabei. Der Krieg ist nix als die Geschäfte Und statt mit Käse ists mit Blei. (S. 75)

Kein Wunder, dass sie wegen dieser blind-egoistischen Haltung vom Feldprediger einmal als »Hyäne des Schlachtfelds« (S. 82) bezeichnet wird. Ähnlich egoistisch und rücksichtslos-selbstbefangen wie die Courage ist die Einstellung des Kochs, der im neunten Bild diese Einstellung auch in einem Song als die in Kriegszeiten einzig richtige anpreist, indem er aufzeigt, wie verhängnisvoll hier die klassischen Tugenden Weisheit, Kühnheit, Redlichkeit und Gottesfurcht sind, die nur für das Zusammenleben in friedlichen Zeitläuften taugen. Die Haupttugend des Guten Menschen aber ist im Krieg geradezu fatal: Ja, da heißts selbstlos sein und teilen, was man hat, aber wenn man nix hat? Denn die Wohltäter habens vielleicht auch nicht leicht, das sieht man ein, nur, man braucht halt doch was. Ja, die Selbstlosigkeit ist eine seltene Tugend, weil sie sich nicht rentiert. Der heilige Martin, wie ihr wisst, Ertrug nicht fremde Not. Er sah im Schnee ein armen Mann Und er bot seinen halben Mantel ihm an Da frorn alle beide zu Tod. Der Mann sah nicht auf irdischen Lohn! Und seht, da war es noch nicht Nacht Da sah die Welt die Folgen schon: Selbstlosigkeit hatt’ ihn so weit gebracht! Beneidenswert, wer frei davon! (S. 95)

Ganz und gar nicht frei von Selbstlosigkeit ist hingegen die stumme Kattrin, die z. B. im neunten Bild ihre Mutter heimlich verlassen will, damit diese zusammen mit dem Koch ins friedliche Utrecht auswandern kann, weil sie erfahren hat, dass der Koch sie dabei nicht mitnehmen will. Doch die Courage nimmt ihrerseits dieses selbstlose Selbstopfer ihrer Tochter nicht an, verzichtet auf das Leben im friedlichen Holland an der Seite des Kochs, aber nicht nur, weil sie durch dieses selbstlose Selbstopfer ihrer Tochter so gerührt wäre, sondern auch deshalb, weil sie nicht auf ihren Wagen verzichten kann, mit dem sie immer noch ihren Schnitt machen will. 456 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Der dramatische Höhepunkt des Stücks ist das elfte Bild, in dem sich die stumme Kattrin zum zweiten Mal als Selbstopfer anbietet, indem sie die Stadt Halle wachtrommelt und bei dieser Aktion erschossen wird. Dass in dieser genial geschriebenen Szene die stumme Kattrin ausgerechnet mittels einer Trommel spricht, um die schlafende Stadt aufzuwecken, mit dem einzigen Instrument also, das den Herzschlag imitieren kann, sodass die stumme Kattrin endlich eine Möglichkeit gefunden hat, direkt durch ihr Herz zu anderen zu reden, fegt die ganze Theorie des ›Epischen Theaters‹ schon beim ersten Trommelschlag vom Tisch, denn wenn es eine Szene gibt, die den Zuschauer zum Mitgehen zwingt, dann ist es diese, an der man wunderbar ablesen kann, wie ein genialer Autor beim Schreiben seine penibel ausgedachte Dramen-und Theater-Theorie schlichtweg vergessen hat. Man könnte auch sagen, hier habe der Theater-Praktiker über den Theater-Theoretiker gesiegt, was der Theater-Theoretiker aber nie so recht einsehen wollte, denn als nach der Züricher Uraufführung Leopold Lindtberg freudestrahlend an Brecht telegraphierte, wie erschüttert das Publikum gewesen sei, soll Brecht in einer nicht ganz unkomischen Reaktion zurückgeschrieben haben: »Stück sofort absetzen!« 3 Die Sterbeszene der stummen Kattrin hat aber noch einen zweiten Aspekt, auf den wir eingehen müssen, denn der Umstand, dass sich die stumme Kattrin buchstäblich mit einem Trommelwirbel als der Sprache ihres Herzens an die Welt wendet, zeigt, dass hier eine Dramengestalt endlich ihrem Herzen nicht nur folgt, sondern es zugleich auch kommandiert. Und dies gilt auch für den Autor selbst, bei dem sich der Knoten gelöst zu haben scheint, in den er sich schon als Achtzehnjähriger geknüpft hatte. Oder genauer: Es gilt für den Autor als Stückeschreiber, aber noch lange nicht für den Autor als Propagandisten einer Theorie des ›Epischen Theaters‹, an der Brecht auch später immer noch genau so verbissen festhielt wie die Courage an ihrem Wagen. Wenn in diesem elften Bild die Bäuerin zur Kattrin hoch ruft, ob sie denn kein Mitleid und kein Herz (S. 102) habe, so kann man darauf nur antworten, dass diese stumme Kattrin als der ›Gute Mensch von Halle‹ nicht nur sehr wohl ein Herz hat, sondern sogar »ganz Herz« ist, so wie man von jemandem sagt, er sei »ganz Ohr«, wenn er intensiv lauscht. Auch am Beispiel der stummen Kattrin zeigt sich also, dass die Zweifel des jungen Brecht von 1920 an der Eignung des ›Guten Menschen‹ für eine dramatische Gestaltung unberechtigt waren, weil eine 457 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

IX · Erwärmungen und Aufschmelzungen

Dramengestalt dieser Art durchaus nicht »widerstandslos« sein muss, also sehr wohl »ein eigenes Gesicht haben« und den anderen Dramengestalten sehr wohl einen Widerstand bieten kann. Und bühnen-wirksam ist eine solche Gestalt allemal, und außerdem eine fantastische Rolle, um die man sich als Schauspielerin geradezu reißen möchte. Das Stück Der kaukasische Kreidekreis 4 liest sich auf weiten Strecken wie das märchenhaft heitere Gegenstück der Küchenmagd Grusche als dem ›Guten Menschen vom Kaukasus‹ zu den Tragödien der Mutter Courage und ihrer Tochter Kattrin, obwohl auch hier eine in Geiz und Habgier versteinerte Mutter gezeigt wird, die am Ende ihr Kind durch eigene Schuld verliert und obwohl auch hier Krieg herrscht, der alle Konflikte radikalisiert. Diese Gouverneurswitwe Natella Abaschwili, ein wahrer Weibsdrachen, verliert ihr einziges Kind sogar zweimal, erst beim Aufbruch zur Flucht vor den Aufständischen, weil sie dabei nur die Rettung ihrer teuren Kleider im Sinn hat, und dann durch den Richterspruch Azdaks, der damit das Ergebnis eines Entscheidungs-Rituals bestätigt, das an den Rechtsbrauch des mittelalterlichen Gottesurteils erinnert. Bei diesem Ordal wird der kleine Michel, den Grusche bei der Flucht seiner Mutter zu sich genommen und drei Jahre lang unter größten Mühen und Entbehrungen gepflegt, geschützt und aufgezogen hat, in einen Kreidekreis gestellt, aus dem ihn die beiden Frauen, die ein Anrecht auf ihn angemeldet haben, zu sich herüberziehen sollen. Doch zu diesem für ein Ordal entscheidenden Zweikampf kommt es gar nicht erst, weil Grusche nach dem Kommando »Zieht!« das Kind sofort loslässt, um dem Kind nicht weh zu tun, wohingegen die leibliche Mutter es auf Biegen und Brechen zu sich herüberreißt. Und als diese mörderische Prozedur wiederholt wird, lässt Grusche abermals sofort los und begründet diese Zurückhaltung, die ja zugleich einem Verzicht auf das geliebte Kind gleichkommt, mit dem Argument: »Soll ich’s zerreißen?« (S. 140) Auch diese Szene liest sich wieder wie die dramatische Umsetzung des Spruches 49 aus dem Taoteking des Lao-tse, den ich hier nochmals zitieren muss: Der Berufene hat kein Herz für sich. Er macht der Leute Herz zu seinem Herzen. Zu den Guten bin ich gut, und zu den Nichtguten bin ich auch gut; denn das LEBEN ist die Güte.

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Die Wiederkehr des ›Guten Menschen‹

Zu den Treuen bin ich treu, und zu den Nichttreuen bin ich auch treu; denn das LEBEN ist die Treue. Der Berufene lebt in der Welt ganz still, aber er macht sein Herz weit für die Welt. Die Leute alle starren auf ihn und horchen. Der Berufene behandelt sie alle als seine Kinder. (S. 54)

Im Lichte von Lao-tses Spruch 49 ist die Szene im Kreidekreis das eher märchenhaft versöhnliche Gegenstück zur Trommel-Szene in Courage, weil nur die Selbstlosigkeit der stummen Kattrin zu einem stellvertretenden Selbstopfer führt, die Selbstlosigkeit der Grusche aber dazu führt, dass letztlich all ihre Wünsche erfüllt werden zum heiteren Beschlusse des Ganzen. Und somit endet dieses Stück mit einem typischen versöhnlichen Märchen-Schluss, bei dem die Guten belohnt, die Bösen aber bestraft werden, denn Azdaks Richterspruch lautet: Und damit hat der Gerichtshof festgestellt, wer die wahre Mutter ist. Zu Grusche: Nimm dein Kind und brings’s weg. Ich rat dir, bleib nicht in der Stadt mit ihm. Zur Gouverneursfrau: Und du verschwind, bevor ich dich wegen Betrug verurteil. Die Güter [der Familie Abaschwili, L. P.] fallen an die Stadt, damit ein Garten für die Kinder draus gemacht wird, sie brauchen ihn, und ich bestimm, dass er nach mir ›Der Garten des Azdak‹ heißt. (S. 140)

Und natürlich werden Grusche und ihr Verlobter Simon endlich ein Paar, und der kleine Michel gehört auch zu dieser Familie. Und der Sänger und Kommentator des ganzen Geschehens muss nun auch nicht mehr singen: »Schrecklich ist die Verführung zur Güte!« (S. 39), weil hier die Güte der Guten reichlich belohnt worden ist und das sanfte Prinzip des Lao-tse wahre Triumphe feiern darf. Allerdings ist dieser Märchen-Schluss nur dadurch möglich geworden, dass der für solche Schlüsse obligatorisch zuständige ›reitende Bote des Königs‹ die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen hat, indem er neue Ernennungen des Großfürsten verkündet, die u. a. aus dem Delinquenten Azdak im Handumdrehen einen Richter machen, sodass dieser auf seine ganz eigene Weise die Guten belohnen und die Bösen bestrafen kann. Und vor allem gereicht die Wehrlosigkeit der ›Guten Menschen‹ diesen nicht zum Nachteil; wer loslässt, muss also nicht zwangsläufig ins Bodenlose stürzen.

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IX · Erwärmungen und Aufschmelzungen

Der Spruch 49 des Taoteking ist auch der Schlüssel für das Verhalten der Shen Te, die im Titel explizit als Der gute Mensch von Sezuan 5 bezeichnet wird, und von den andern Gestalten des Stücks auch all die Eigenschaften zugesprochen bekommt, die den Typus des Guten Menschen auszeichnen: Auch Shen Te kann nicht nein sagen, wenn sie um etwas gebeten wird (S. 12 u. 21); auch von ihr wird gesagt, sie sei »einfach zu gut« (S. 21), sie habe ein gutes Herz (S. 31 u. 74), sei selbstlos und freigebig (S. 77), weshalb sie auch als »der Engel der Vorstädte« (S. 54) gilt, und auch sie sei wehrlos gegen die eigenen Gefühle, insbesondere aber wehrlos gegen die Liebe und das Mitleid. Mit einem Wort: Sie verzehrt sich ob ihrer Güte und Hilfsbereitschaft uroborisch selbst, ähnlich wie dies in Brechts Frühwerk bei dem gutmütigen Hans im Glück der Fall ist. Und genau wie Joseph Galgei und Galy Gay wechselt auch sie im Verlauf der Handlung ihre Identität, wenn auch aus ganz anderen Gründen, und v. a. tut sie dies aus eigenem Entschluss und nicht durch eine Intrige anderer, denn sie verwandelt sich dadurch in den egoistisch harten und entsprechend erfolgreichen kapitalistischen Unternehmer Shui Ta. Mit dieser Doppelung der Hauptgestalt versuchte Brecht wohl auf ein drama-turgisches Problem zu reagieren, das ihn schon 1920 beschäftigt hatte, als er im Tagebuch über den Typus des ›Guten Menschen‹ nachdachte und zu dem Ergebnis kam, der Typ des ›Guten Menschen‹ sei für das Drama eigentlich eher ungeeignet, weil er »kein eigenes Gesicht« (I,154) habe und deshalb auch den anderen Dramengestalten »keinen Widerstand« (I.154) bieten könne. Um nun diesen ›Guten Menschen‹ Shen Te ein Mindestmaß an dramatischem Widerstand zu sichern, verlegte er diesen Widerstand in die Gestalt Shen Te selbst und machte aus ihr einen »gemischten Charakter«, also einen Menschen, der, mit Brecht gesprochen, ständig einen Kampf »mit mir gegen mich« kämpft, also mit sich selbst uneins ist, mit sich selbst ringt und hadert und deshalb in bestimmten Situationen immer wieder mit sich selbst in Konflikt gerät, und dies illustrierte er außerdem noch dadurch, dass er nach dem dramaturgischen Modell der »feindlichen Brüder« die Hauptgestalt des Stückes einfach verdoppelte und die gute Shen Te durch den bösen Shui Ta ergänzte, ganz so wie er im nächsten Stück den Gutsbesitzer Puntila in einen guten besoffenen und bösen nüchternen Puntila trennte. Da aber beide Kontrahenten nie gleichzeitig auf der Szene agieren können, kann der Konflikt, den sie verkörpern, auch nicht wirk460 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Die Wiederkehr des ›Guten Menschen‹

lich ausgetragen und schon gar nicht gelöst werden. Und so darf man sich auch nicht wundern, dass das Stück in allgemeiner Ratlosigkeit und einem hilflosen Stottern endet. Ausgangspunkt der Handlung ist, typisch für Brecht, wieder einmal das Problem der Theodizee und damit die Frage »unde malum?«, die hier aber nicht nur die Menschen bewegt, sondern sogar die Götter selbst, die sich durchaus nicht einig sind in der Frage, ob die Welt, so wie sie ist, von ihnen gut eingerichtet ist, sodass sie auch so bleiben kann, wie sie ist, oder ob sie geändert werden müßte. Und außerdem scheinen den Göttern die von ihnen erlassenen Gesetze einigermaßen fragwürdig geworden zu sein, weil sich zeigt, dass die Menschen selbst dann kein menschenwürdiges Leben führen können, wenn sie sich streng an diese Gesetze halten. Da den Göttern also ihre eigene Sollens-Ethik fragwürdig geworden ist, haben sie den Beschluss gefasst, durch eine Abordnung von drei Göttern an Ort und Stelle prüfen zu lassen, ob die Welt so bleiben kann, wie sie ist, und dies wird als möglich akzeptiert, »wenn genügend Menschen gefunden werden, die ein menschenwürdiges Dasein leben können.« (S. 10) Doch damit haben die Götter, offenbar ohne dies zu merken, die eigene metaphysisch abgesegnete Wertewelt verlassen, weil sie schon nicht mehr nach den Kriterien einer Sollens-Ethik, sondern nach denen einer Könnens-Ethik argumentieren, wenn sie nach Leuten suchen, »die in der Lage sind, unsere Gebote zu halten.« (S. 10) Diese Exposition erinnert auf den ersten Blick an die Vätergeschichten der Genesis, wo 1. Mose 18–19 erzählt wird, dass Jahwe die Stadt Sodom vernichten will, weil dort gar zu viele Sünder ihr Unwesen treiben und seiner Gebote spotten, und der ›Gute Mensch‹ Abraham versucht, seinem Gott zumindest einige dieser sündigen Seelen abzuhandeln, damit diese von der Vernichtung verschont werden. Am Ende bleibt bei diesem frommen Schacher Abrahams mit seinem Gott aber nur sein Neffe Lot samt Familie übrig, der dem Untergang Sodoms denn auch knapp entkommt. Schaut man etwas genauer hin, bemerkt man aber bald einen fundamentalen Unterschied zwischen der Sodom-Fabel und der Sezuan-Fabel, weil in der biblischen Vorgeschichte die Sollens-Ethik göttlicher Gebote mit aller Härte bis zur Vernichtung der Sünder durchexerziert und die Frage nach einer Könnens-Ethik überhaupt nicht gestellt wird. Und außerdem merken die Götter, die Brecht hier auftreten lässt, sehr wohl, wie begrenzt ihre Macht mittlerweile ge461 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

IX · Erwärmungen und Aufschmelzungen

worden ist und wie problematisch die Gesetze ihrer Sollens-Ethik anmuten müssen, auch wenn der erste Gott sich dies durchaus nicht eingestehen will, weshalb er während der Gerichtsverhandlung losbrüllt: »Sollen wir eingestehen, dass unsere Gesetze tödlich sind? Sollen wir verzichten auf unsere Gebote? Verbissen: Niemals! Soll die Welt geändert werden? Wie? Von wem? Nein, es ist alles in Ordnung!« (S. 140 f.)

Und damit ist zugleich auch von höchster Stelle verordnet, dass die Frage »Wer wen?« nicht gestellt werden darf, weil sie nicht gestellt werden muss, und auch die Frage »Wem nützt die Güte?« nicht. Und dann ermahnt dieser erste Gott Shen Te noch zu der Grundeinstellung »quietistischer Fügsamkeit« 6, weil dies die einzig angemessene Haltung zur besten aller denkbaren Welten ist, besteigt eine »rosa Wolke« (S. 141) und zelebriert mit seinen beiden göttlichen Begleitern seine Himmelfahrt in einen rosigen Kitschhimmel, den wir schon aus dem Schlussbild des Schlachthof-Stückes kennen, da auch Johanna als ›Der gute Mensch von Chicago‹ eine ähnliche Himmelfahrt erleben soll. Aber wenn diese drei Götter dann das »Terzett der entschwindenden Götter auf der Wolke« singen, so wissen sie offenbar nicht recht, was sie damit sagen, wenn sie singen: Leider können wir nicht bleiben Mehr als eine flüchtige Stund: Lang besehn, ihn zu beschreiben Schwände hin der schöne Fund. Eure Körper werfen Schatten In der Flut des goldnen Lichts Drum müßt ihr uns schon gestatten Heimzugehn in unser Nichts. (S. 142)

Dieser Abgang nach oben in die vertikale Sackgasse göttlicher Verstiegenheit erinnert sehr an das Schlussbild von Rheingold, wo die Götter gemessenen Schrittes auf einer Regenbogenbrücke entschwinden und Loge deren nahes Ende mit den sarkastischen Sätzen kommentiert: Ihrem Ende eilen sie zu, die so stark im Bestehen sich wähnen. Fast schäm ich mich mit ihnen zu schaffen;

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Die Wiederkehr des ›Guten Menschen‹

zur leckenden Lohe mich wieder zu wandeln spür’ ich lockende Lust. Sie aufzuzehren, die einst mich gezähmt, statt mit den blinden blöd zu vergeh’n – und wären’s göttlichste Götter – nicht dumm dünkte mich das! Bedenken will ich’s: Wer weiß, was ich tu’. 7

Wahrscheinlich hat’s auch Brecht so gesehen und deshalb das Finale seines Sezuan-Stücks in diesen ironisierenden Kitsch getaucht, denn natürlich ist mit dem Richtspruch dieser Götter kein einziges Problem gelöst, und schon gar nicht das Problem, »gut zu sein und doch zu leben« (S. 139), und außerdem ist keine einzige Frage beantwortet, weder die Frage »Wer wen?«, noch die Frage »Wem nützt die Güte?«, und auch nicht die Frage »unde malum?, die Albrecht von Haller schon im 18. Jahrhundert auf die Formel gebracht hatte: Hat seinen Kindern Gott kein bessere Los vergönnt? Hat er es nicht gewollt? Hat er es nicht gekönnt? 8

Die drei Sezuan-Götter, die am Ende auch einigermaßen ramponiert daherkommen, haben es jedenfalls »nicht gekönnt«, obwohl ihr Anführer in all seiner göttlichen Verstiegenheit eben noch behauptet hatte, die Welt sei so, wie sie sei, ganz in Ordnung. Da diese drei Götter all die im Stück aufgeworfenen Fragen nicht beantworten konnten, ja sie nicht einmal gestellt haben, versucht dies nun Shen Te in ihrem Lied über die Machtlosigkeit der Götter und die Wehrlosigkeit der Menschen, in dem sie sich Götter in der Art des Jahwe aus dem Alten Testament herbeiwünscht, die an der SezuanWelt genauso ein Exempel statuieren wie dies Jahwe an Sodom statuiert hatte: In unserem Lande Braucht der Nützliche Glück. Nur Wenn er starke Helfer findet Kann er sich als nützlich erweisen. Die Guten Können sich nicht helfen und die Götter sind machtlos.

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Warum haben die Götter nicht Tanks und Kanonen Schlachtschiffe und Bombenflugzeuge und Minen Die Bösen zu fällen, die Guten zu schonen? Es stünde wohl besser mit uns und ihnen. Die Guten Können in unserem Lande nicht lang gut bleiben. Wo die Teller leer sind, raufen sich die Esser. Ach, die Gebote der Götter Helfen nicht gegen Mangel. Warum erscheinen die Götter nicht auf unsern Märkten Und verteilen lächelnd die Fülle der Waren? Und gestatten den von Brot und Weine Gestärkten Miteinander nun freundlich und gut zu verfahren? Um zu einem Mittagessen zu kommen Braucht es der Härte, mit der sonst Reiche gegründet werden. Ohne zwölf zu zertreten Hilft keiner einem Elenden. Warum sagen die Götter nicht laut in den obern Regionen Dass sie den Guten nun einmal die gute Welt schulden? Warum steh sie den Guten nicht bei mit Tanks und Kanonen Und befehlen: Gebt Feuer! Und dulden kein Dulden? (S. 65 f.)

Nimmt man diesen Text für sich allein, ist er eine große Klage in der Haltung frommer Gottergebenheit über die Machtlosigkeit der Götter, die leider nicht »alles so herrlich regieren«, wie ein frommer Choral dies behauptet, obwohl dies, wie der Choral meint, eigentlich ihre Aufgabe wäre. Da sich Shen Te aber während dieses Liedes in Shui Ta verwandelt, verwandelt sich auch diese elegische Klage unter der Hand in das Aktionsprogramm eines Selbsthelfers, der sich nun nicht mehr auf die Hilfe der Götter verlassen will, sondern sein Schicksal selbst in die Hand nimmt und sich in einen kapitalistischen Unternehmer verwandelt, der die Welt so wie sie ist erst mal akzeptiert, um in diesem vorgegebenen Rahmen rücksichtslos Gewinn zu machen, den er dann in seiner zweiten Gestalt wieder als Wohltat verteilen kann. Sein Programm besteht also, politisch gesehen, gerade nicht darin, die gesellschaftlichen Bedingungen und die Besitz- und Produktionsverhältnisse durch eine Reform oder gar durch eine Revolution zu verändern, sondern sie so wie sie sind, egoistisch zu verwerten. Mit einem Wort: Shui Ta orientiert sich politisch nicht an Karl Marx, sondern an Max Stirner. Und deshalb gilt auch Brechts Gedicht als Antwort auf die Frage, wem die Güte nützen könne, für ihn nicht: 464 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Die Wiederkehr des ›Guten Menschen‹

Anstatt nur gütig zu sein, bemüht euch Einen Zustand zu schaffen, der die Güte ermöglicht, und besser: Sie überflüssig macht! (S. 1083)

In diesem Sinne argumentiert Shen Te auch vor Gericht, wenn sie, als Shui Ta angeklagt, sie habe die spurlos verschwundene Shen Te entführt oder vielleicht sogar getötet, ihre Doppelexistenz als Shen Te und Shui Ta offenbart und das egoistisch kapitalistische Geschäftsgebaren als Shui Ta damit rechtfertigt, dass Güte allein sich nur uroborisch verzehren kann, wenn Selbstlosigkeit allein zum Prinzip des Verhaltens erhoben wird. Und deshalb dreht sie jetzt den Spieß um und klagt als Angeklagte wiederum die Götter an, die über sie richten sollen, indem sie sich als der klassische »gemischte Charakter« vorstellt: Euer einstiger Befehl Gut zu sein und doch zu leben Zerriss mich wie ein Blitz in zwei Hälften. Ich Weiß nicht, wie es kam: gut zu sein zu andern Und zu mir konnte ich nicht zugleich Andern und mir zu helfen, war mir zu schwer. Ach, eure Welt ist schwierig! Zu viel Not, zu viel Verzweiflung! Die Hand, die dem Elenden gereicht wird Reißt er einem gleich aus! Wer den Verlorenen hilft Ist selbst verloren! Denn wer könnte Lang sich weigern, böse zu sein, wenn da stirbt, wer kein Fleisch ißt? Aus was sollte ich nehmen, was alles gebraucht wurde? Nur Aus mir! Aber dann kam ich um! Die Last der guten Vorsätze Drückte mich in die Erde. Doch wenn ich Unrecht tat Ging ich mächtig herum und aß vom guten Fleisch! Etwas muss falsch sein an eurer Welt. Warum Ist auf die Bosheit ein Preis gesetzt und warum erwarten die Guten So harte Strafen? Ach, in mir war Solch eine Gier, mich zu verwöhnen! Und da war auch In mir ein heimliches Wissen, denn meine Ziehmutter Wusch mich mit Gossenwasser! Davon kriegte ich Ein scharfes Aug. Jedoch Mitleid Schmerzte mich so, dass ich gleich in wölfischen Zorn verfiel Angesichts des Elends. Dann Fühlte ich, wie ich mich verwandelte und Mir die Lippe zur Lefze wurd. Wie Asche im Mund Schmeckte das gütige Wort. Und doch Wollte ich gern ein Engel sein in den Vorstädten. Zu schenken War mir eine Wollust. Ein glückliches Gesicht

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Und ich ging wie auf Wolken. Verdammt mich: alles, was ich verbrach Tat ich, meinen Nachbarn zu helfen Meinen Geliebten zu lieben und Meinen kleinen Sohn vor dem Mangel zu retten. Für eure Pläne, ihr Götter War ich armer Mensch zu klein. (S. 139 f.)

Doch diese dialektische Art zu argumentieren scheint die intellektuelle Kapazität der Götter weit zu überfordern, weshalb sie sich lieber wieder in ihren Himmel zurückziehen, die Menschen in all ihrem Elend allein lassen und speziell die arme Shen Te ihren »Peinigern« (S. 141) ausliefern, die schon wieder auf sie warten, um sich dann sofort wieder wie Zecken an sie hängen und sie auszusaugen. Und sie wird sich nur dagegen wehren können, wenn sie zugleich und immer wieder auch die Haltung des Shui Ta einnimmt. Für Werner Mittenzwei ist diese Doppelexistenz als »gemischter Charakter« die »menschliche Grundsituation der antagonistischen Gesellschaft« (I,664), weil in der bürgerlichen kapitalistischen Klassengesellschaft das Problem »gut zu sein und doch zu leben« (I,665 f.) grundsätzlich nicht zu lösen sei, womit er unterstellt, dass im Sozialismus, so er denn mal verwirklicht sein sollte, genau der Zustand geschaffen sei, der die Güte überhaupt erst ermöglicht bzw. sie tatsächlich überflüssig macht. Und für die Vernunft und die Liebe zur Freiheit gelte dies ebenso. Da möchte man schon etwas genauer wissen, wie das menschliche Zusammenleben dann aussehen könnte. Würde dann auch das ›sanfte Gesetz‹ des Wu-wei in all seinen Varianten als Freundlichkeit, Höflichkeit, Takt, Rücksicht-nahme und Humor überflüssig? Oder könnte die Doppelexistenz à la Shen Te und Shui Ta vielleicht doch die Lösung sein, also eine gemischte Gesellschaft aus gemischten Charakteren? Oder könnte der besoffene gute, aber nüchtern böse Puntila das Modell sein, an dem man sich orientieren sollte? Oder gar der nicht sehr edle Schlachthauskönig Mauler mit seinen zwei Seelen in der ach! so faustischen Brust, die er »von einem rosigen Schein beleuchtet« (S. 149) mit den Worten anpreist: Mensch, es wohnen dir zwei Seelen In der Brust! Such nicht eine auszuwählen Da du beide haben musst. Bleibe stets mit dir im Streite!

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Die Wiederkehr des ›Guten Menschen‹

Bleib der Eine, stets Entzweite! Halte die hohe, halte die niedere Halte die rohe, halte die biedere Halte sie beide! (S. 149)

Für Brecht selbst scheint sich mit diesem Sezuan-Stück das Problem des ›Guten Menschen‹ in einer nicht sehr guten Welt nicht wirklich gelöst zu haben, weshalb man das im Epilog verkündete Eingeständnis der Ratlosigkeit wohl auch als seine eigene Ratlosigkeit verstehen darf, die ihn buchstäblich zum Stottern bringt: Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruss: Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluss. Vorschwebte uns: die goldene Legende 9. Unter der Hand nahm sie ein bitteres Ende. Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen Den Vorhang zu und alle Fragen offen. (…) Was könnt die Lösung sein? Wir konnten keine finden, nicht einmal für Geld. Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt? Vielleicht nur andere Götter? Oder keine? Wir sind zerschmettert und nicht nur zum Scheine! Der einzige Ausweg wäre aus dem Ungemach: Sie selber dächten auf der Stelle nach Auf welche Weis dem guten Menschen man Zu einem guten Ende helfen kann. Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss! Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss! (S. 144)

Für John Fuegi ist die Sachlage sehr viel einfacher, weil er das ganze Stück schlichtweg als Abbild der Beziehung zwischen Brecht und Margarete Steffin sieht: »Das Stück schreit die Qualen Margarete Steffins heraus, die einen Großteil ihres Lebens als Schriftstellerin in männlicher [also brechtischer, L. P.] Verkleidung verbrachte. Shen Te weiß, dass ihr Liebhaber Yang Sun ein brutaler Kerl ist, der ihr Geld stiehlt, ein berechnender und rücksichtsloser Mensch, ein Typus wie die Männerfiguren, die Brecht in seinen eigenen Gedichten so oft positiv 10 dargestellt hat. Aber selbst als sie das herausfindet, hört sie nicht auf, ihn zu lieben, und schlägt gleichzeitig Nutzen aus seiner Brutalität, indem sie ihn ihre neu errichtete Fabrik führen lässt, in der sie den Armen und Obdachlosen Arbeit gibt. Sun arbeitet für sie, weil er glaubt, dass nicht Shen Te (die er unbeirrt von oben herab behandelt) seine Chefin ist, sondern der energische und zähe Shui Ta (vor dem er ebenso unbeirrt katzbuckelt).« 11

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Natürlich ist die von Fuegi vorgestellte Lesart eine mögliche Lesart, aber es ist natürlich nicht die zwingendste und schon gar nicht die einzig mögliche, weil es von jeder Fabel prinzipiell unendlich viele mögliche Lesarten gibt und eben auch von dieser. So wie man den Kreidekreis als die märchenhafte Kontrafaktur zu Courage ansehen kann, so kann man auch Puntila als die komische Kontrafaktur zu Sezuan verstehen, da auch hier die Titelgestalt sich in zwei konträre Gestalten aufspaltet, in den auf den ersten Blick guten besoffenen und den bösen nüchternen Gutsbesitzer Puntila. Im Gegensatz zum ›Guten Menschen‹ Shen Te, die sich notgedrungen die alternative Existenz des bösen Shui Ta zulegt, damit sie die Existenz der guten Shen Te weiterhin aufrechterhalten kann, wird hier gleich im Prolog deutlich gemacht, wer der eigentliche und wahre Puntila ist bzw. es wird dem Zuschauer nahegelegt, wie er diesen Puntila gefälligst einzuschätzen hat, denn in diesem Prolog wird Puntila vorgestellt wie ein lebendes Fossil aus längst entwichenen Zeiten, das allenfalls noch ein historisches, archäologisches oder gar paläontologisches Interesse beanspruchen kann: Wir zeigen nämlich heute abend hier Euch ein gewisses vorzeitliches Tier Estatium possessor, auf deutsch Gutsbesitzer genannt Welches Tier, als sehr verfressen und ganz unnützlich bekannt Wo es noch existiert und sich hartnäckig hält Eine arge Landplage darstellt. Sie sehn dies Tier, sich ungeniert bewegend In einer würdigen und schönen Gegend. 12

Mit diesem Prolog orientiert sich Brecht, soweit ich sehe, zum ersten Mal explizit an Kriterien marxistischer Ästhetik zur Theorie des Komischen und Lächerlichen, die die These vertritt, das Komische und Lächerliche an einer Gestalt sei seinem Wesen nach nicht individuell, sondern historisch-gesellschaftlich bedingt, sodass die Aufgabe der komischen Kunstgattungen darin besteht, eine vom historischen Prozess überholte und deshalb komische und lächerliche Gestalt lachend zu Grabe zu tragen, ob dies nun der Ritter Don Quijote ist, der als lebendes Fossil der Ritterzeit durch die Lande zieht und in seinem Wahn seine alten Ideale hochhält und dabei an der Realität beständig scheitert, oder eben ein Gutsbesitzer wie Puntila, der sich wie ein Großfürst aufführt, obwohl unter ihm schon der Boden wankt.

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Die Wiederkehr des ›Guten Menschen‹

Die Fundamente dieser Ästhetik des Komischen und Lächerlichen wurden von Marx in einigen eher beiläufigen Sätzen gelegt, von Georgina Baum aber zu einer Studie von ätzender Dogmatik 13 aufgetürmt, in der die klassische Ständeklausel, derzufolge nur Gestalten von Rang und Namen einer ernsten Gestaltung würdig seien, das Volk aber eher komisch und lächerlich wirkt, buchstäblich auf den Kopf gestellt wird, sodass nun die Vertreter der zwar noch herrschenden, aber vom historisch-gesellschaftlichen Prozess der Soziodizee eigentlich schon überholten Klasse als komisch oder lächerlich zu gelten haben, denn, so Georgina Baum: »Das Volk ist hier [bei Marx, L. P.] nicht Gegenstand der komischen Gestaltung, es ist vielmehr Meister der Komik, das Volk lacht, und es wird nicht verlacht. Das Lachen wird zu einem Mittel in seiner Hand, in der Hand der aufstrebenden, historisch berechtigten Kräfte, um die Unfähigkeit und Nichtigkeit des historisch Überlebten zu entlarven, um sich heiter von der überwundenen Vergangenheit zu trennen.« 14

Da für die Vertreter einer solchen dogmatisch marxistischen Ästhetik auch die Komödie ein Mittel des Klassenkampfes ist, erteilt Georgina Baum dem Philosophen Hegel eine strenge Rüge, weil dieser in seiner Ästhetik mit Nachdruck das versöhnende Element in der Komödie betont hatte, denn bei Hegel musste sie zu ihrem Ärger lesen: »Die Komödie hat daher das zu ihrer Grundlage und ihrem Ausgangspunkt, womit die Tragödie schließen kann: das in sich absolut versöhnte, heitere Gemüt, das, wenn es auch sein Wollen durch seine eigenen Mittel zerstört und an sich selbst zuschanden wird, weil es aus sich selbst das Gegenteil seines Zweckes hervorgebracht hat, darum doch nicht seine Wohlgemutheit verliert, (…) so dass in dieser Rücksicht also immer nur das an sich selber Nichtige und Gleichgültige zugrunde geht und das Subjekt ungestört aufrecht stehen bleibt.« 15

Und genau diese Forderung Hegels nach dem versöhnenden Impuls in jeder Art von heiterem Gelächter über Komik aller Art wird von Baum in aller dogmatischen Härte abgeschmettert, weil dadurch die Einsicht in die Notwendigkeit unerbittlicher Härte im Klassenkampf getrübt werden könnte, weshalb sie gegen Hegels These die eigene These ›im Sinne des Meisters‹ setzt und konsequenterweise auch das Belachen von Komik durch das Verlachen von Lächerlichkeit ersetzt und zur Grundlage des Lachtheaters erhebt:

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IX · Erwärmungen und Aufschmelzungen

»Die Anmaßung einer geschichtlichen Erscheinung kann in der Realität nicht zur Versöhnung führen, sie wird vielmehr als komisch [gemeint ist: als lächerlich, L. P.] erkannt, sie wird verlacht, und dieses Lachen [im Sinne von Verlachen, L. P.] ist der Anfang vom Ende, die geschichtliche Erscheinung wird vernichtet und lachend [verlachend, L. P.] zu Grabe getragen.« 16

Wenn man an den grotesken Auftritt von Erich Mielke in der Volkskammer der DDR denkt, die eben den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik beschlossen hatte – »Ich liebe Euch doch alle!« –, erhält Baums These sogar noch eine weltgeschichtliche Bestätigung, wenn auch in einem ganz anderen Sinn, als sie dies wohl gedacht haben mochte, als sie ihre These niederschrieb, denn hier wurde am 3. Oktober 1991 tatsächlich eine angemaßte geschichtliche Erscheinung hohnlachend zu Grabe getragen. Nach den Kriterien dieser Ästhetik kann es in Zeiten des Klassenkampfes also strenggenommen nur noch die Verlach-Komödie geben, in der auch keine komischen Gestalten aus dem Bürgertum oder gar aus dem Adel auftreten, deren komisches Verhalten belacht werden könnte, sondern nur noch lächerliche, die es verdienen, verlacht zu werden, und als eine solche Gestalt ist auch Puntila angelegt. Ist man bereit, dem Prolog zu folgen und in Puntila eine solche lächerliche Gestalt zu sehen, die genauso ein lebendes Fossil ist wie die anderen Gestalten des Stücks, die sich auf seiner gesellschaftlichen Ebene bewegen, also wie Richter, Attaché, Advokat, Probst und Pröbstin, so heißt das, dass man auch all das, was der besoffene und vermeintlich gute Mensch Puntila an Gerede so von sich gibt, nicht besonders ernst nehmen darf, insbesondere nicht das, was er von sich selbst behauptet, wenn er z. B. gleich im ersten Bild in all seiner seligen Besoffenheit verkündet: »Ich hab ein gutes Herz, da bin ich froh darüber.« (S. 11) Aus diesem Grund ist es ratsam, bei diesem Puntila nicht mehr zwischen dem guten besoffenen und dem bösen nüchternen zu unterscheiden, sondern zwischen dem besoffenen sentimentalen und dem nüchternen herrisch egoistischen. Aber dann fügt er gleich noch einen Satz hinzu, der aufhorchen lässt, weil hier nicht Puntila spricht, sondern Brecht selbst und einen weiteren Schritt in der Abkehr von Stirner bekundet, denn Puntila fährt im gleichen selbstgefälligen Ton fort mit dem Satz: »Ich kann nicht leiden, wenn einer »ich« mit einem großen I schreibt. Das soll man [ihm] mit einem Ochsenziemer austreiben.« (S. 11) Hier kann natürlich nur Max Stirner gemeint sein, der in seinem Hauptwerk

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Die Wiederkehr des ›Guten Menschen‹

Der Einzige und sein Eigentum eine wahre Marotte aus dieser Schreibweise gemacht hat. Und wie sich dies für eine lächerliche Komödiengestalt gehört, charakterisiert sich Puntila mit diesem Satz zugleich auch ein bißchen selbst, weil er sich selbst auf seinem Eigentum wie ein Einziger aufführt, sobald er auch nur etwas nüchterner ist. Bezeichnenderweise wird dieser Puntila, der sich für einen besonders guten Menschen hält, von keiner anderen Gestalt als ein solcher bezeichnet, da man ihn eher für einen sentimentalen Kotzbrocken hält, sodass sein Gutmenschentum also ein pures Wahngebilde ist und somit exakt das Kriterium der Lächerlichkeit erfüllt nach dem Motto: »Verkenn dich selbst und mach dich lächerlich!« 17 Auf seiner Suche nach einem weiteren ›Guten Menschen‹, an den er seine Tochter Eva verheiraten könnte, gerät er schließlich, nachdem sich der Attaché, den er zuerst als Schwiegersohn ausersehen hatte, als kompletter Idiot erwiesen hat, an seinen Chauffeur Matti, und als auch die etwas angesoffene Eva diesem Matti einen Heiratsantrag macht, veranstaltet Puntila ein Examen, um zu klären, ob diese beiden auch zusammenpassen. Und sie passen natürlich nicht zueinander, weil Eva bei diesem Examen merkt, dass der vermeintlich Gute Mensch Matti ja die Anlage zu einem veritablen Haustyrannen hat, woraufhin sie die Verlobung sofort wieder auflöst, weil das gesellschaftliche Sein eben das Bewusstsein bestimmt, wie man seit Marx zu wissen meint. Und so endet das Stück, das als Komödie begonnen und sich dann zu einer Verlachkomödie 18 weiterentwickelt hat, letztlich doch recht ernst, weil die Güte des vermeintlich guten Menschen eben doch nicht herbeigesoffen werden kann, was Matti bei seinem Abschied auch in aller Deutlichkeit ausspricht: Die Stund des Abschieds ist nun da Gehab dich wohl, Herr Puntila. Der Schlimmste bist du nicht, den ich getroffen Denn du bist fast ein Mensch, wenn du besoffen. Der Freundschaftsbund konnt freilich nicht bestehn Der Rausch verfliegt. Der Alltag fragt: Wer wen? Und wenn man sich auch eine Zähr abwischt Weil sich das Wasser mit dem Öl nicht mischt Es hilft nichts und’s ist schade um die Zähren: ’s wird Zeit, dass deine Knechte dir den Rücken kehren. Den guten Herrn, den finden sie geschwind Wenn sie erst ihre eignen Herren sind. (S. 129 f.)

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IX · Erwärmungen und Aufschmelzungen

Wie am Ende von Sezuan sind auch hier wieder alle Fragen offen, denn man darf auch hier wieder fragen: Ist dieser hier in Rede stehende »gute Herr« nun gedacht als der ›Gute Mensch‹ als Herr, unter dessen Herrschaft die Frage »Wer wen?« nicht mehr gestellt werden muss, weil sie obsolet geworden ist? Oder soll behauptet werden, dass jemand, der sein eigener Herr ist, zugleich damit auch schon ein ›Guter Mensch‹ geworden ist, weil das gesellschaftliche Sein angeblich das Bewusstsein bestimmt? Oder muss man diese Bilanz des Stücks, gerade weil sie vom Knecht Matti gezogen wird, der sich in seinem Examen mit Eva gerade nicht als der Typ des ›Guten Menschen‹ erwiesen hat, nicht besonders kritisch betrachten? Herrscht da nicht auch ein selbstgefälliger Wahn, der dem selbstgefälligen Wahn des Herrn Puntila von der eigenen Güte durchaus vergleichbar ist, weil hier die Vision eines ›Guten Menschen der Zukunft‹ an die Wand gemalt wird? Und klingt die Beschwörung einer glücklichen sozialistischen Zukunft im letzten Vers angesichts der Tatsache, dass 1940, als Brecht diese Worte schrieb, Hitler und Stalin immer noch Verbündete waren, nicht außerdem ein bißchen hohl? Als Brecht vom Hitler-Stalin-Pakt erfuhr, muss es ihm förmlich die Sprache verschlagen haben, weil dieser Pakt vom 24. August 1939 für ihn nicht nur als ein rein militärisch-strategischer Schachzug gelten konnte, sondern zugleich auch die moralische und politische Integrität der kommunistischen Führungsmacht in Frage stellte, denn in Brechts Tagebuch findet sich erst am 9. September 1939 ein Kommentar dazu, der einiges von der Verwirrung seiner Gefühle ahnen lässt: »Große Verwirrung richtete natürlich der deutsch-russische Pakt an bei allen Proletariern. Die Kommunisten behaupteten sofort, es sei ein Respekt verlangender Beitrag der (Sowjet-)Union zum Frieden. Allerdings brach kurz darauf – einige Stunden darauf – der Krieg aus, und Hitler begründete die Möglichkeit seiner Führung in großen Aufrufen mit diesem Pakt. Nun mag es sein, dass die Union annahm, die Westmächte würden niemals wegen Polen einen Krieg führen. Heute, am achten Tag, ist diese Annahme noch nicht widerlegt. Tatsächlich würde jetzt die Union mit Polen allein Deutschland gegenüberstehen, denn der Westen kämpft nicht. (…) Jetzt aber wird womöglich Polen ohne großen Krieg unterworfen, und Polen ist im Osten, nicht im Westen. Und die Union trägt vor dem Weltproletariat das fürchterliche Stigma einer Hilfeleistung an den Faschismus, den wildesten und arbeiterfeindlichsten Teil des Kapitalismus. Ich glaube nicht, dass mehr gesagt werden kann, als dass die Union sich eben rettete,

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Die Wiederkehr des ›Guten Menschen‹

Abb. 10 Englische Karikatur zum Hitler-Stalin-Pakt: Rendezvous

um den Preis, das Weltproletariat ohne Losungen, Hoffnungen und Beistand zu lassen.« 19

Aber dann erfolgte schon am 17. September der russische Einmarsch in Polen und die Besetzung Ostpolens, und Stalins Sowjetunion hatte sich damit vor der Weltöffentlichkeit als eine imperialistische Macht enthüllt, die Hand in Hand und Seit’ an Seit’ mit Hitler ihre Feldzüge durchführt, um fremdes Land zu erobern. Noch ohne von diesem Einmarsch zu wissen, notierte Brecht am selben Tag in seinem Journal einige Vermutungen und Überlegungen, die verraten, wie ambivalent sein Verhältnis zu Stalins Sowjetunion mittlerweile geworden war, weil er die innere Logik des Hitler-Stalin-Paktes erkannte und sah, dass auch Stalins Politik in erster Linie großrussische imperialistische Machtpolitik war: 473 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

IX · Erwärmungen und Aufschmelzungen

Abb. 11 Englische Karikatur zum Hitler-Stalin-Pakt: Aufteilung Europas

»Tatsächlich wird durch den deutsch-russischen Pakt zunächst die Luft klarer. Man hat einen Krieg zwischen imperialistischen Staaten. Man hat Deutschland als Angreifer und Kriegsbrandstifter. Man hat einen aggressiven Kapitalismus [der Mittelmächte, L. P.] gegen einen defensiven [der Westmächte, L. P.]. Die Mittelmächte brauchen den Krieg, um zu erobern, die Westmächte brauchen ihn, um Erobertes zu verteidigen. Man hat soviel Barbarei, als zur Aufrechterhaltung barbarischer Zustände nötig ist. Eine Teilnahme am Krieg wäre für die USSR [eigentlich, L. P.] nur auf der westlichen Seite möglich, wäre aber mehr ›staatlich‹, gliche mehr dem Umfall der sozialdemokratischen Parteien im Weltkrieg, wäre mehr Machtpolitik, Beteiligung an kapitalistischen Auseinandersetzungen, als das Fernbleiben.« 20

Als er dann vom Eintritt der Roten Armee in den Krieg und ihrem Einmarsch in Polen erfuhr, versuchte er sofort, dieser Maßnahme irgendwas Positives abzu-gewinnen und kommentiert diesen ganzen Vorgang am 19. September mit den Worten:

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»Und er gürtete den Schuh.«

»In einer eigentümlich napoleonischen Form ging der sowjetrussische Einmarsch in Polen vor sich. Da gab es keinerlei Kriegspropaganda voraus, keine Vorbereitung der ›Öffentlichkeit‹, keine Räte, die etwas beschlossen oder genehmigten. Die Regierung verfügte. Meetings im ganzen Land begrüßten die Verfügung. Die Kommuniqués sind auf nationale Töne abgestimmt. Im Schatten großer Kämpfe werden zwei [ostpolnische, L. P.] Provinzen besetzt, die zum russischen Reich gehörten. Diplomatische Rücksichten? Ein Riesenreich hört, bevor sich eine Riesenarmee in Bewegung setzt, nur, was Europa hören soll. Der Text ist wie von Hitler revidiert. Und doch wird ihm sein Kriegsziel entrissen. Die Rote Armee marschiert in Europa ein.« 21

Aber konnte das ein Trost sein? Angesichts dieser Sachlage, dass Stalin an Hitlers Seite in den Krieg eingriff, konnte auch Brecht selbst wohl nur zum selben Schluss kommen, zu dem er schon im Epilog von Sezuan gekommen war: »Der Vorhang zu und alle Fragen offen.« Vor allem aber musste er fürchten, dass Stalin die Serie seiner Schauprozesse nun fortsetzen und gegen deutsche Kommunisten und damit auch gegen Freunde von ihm richten könnte, die vor Hitler in die Sowjetunion geflüchtet waren, um Hitler zu demonstrieren, wie treu er an seiner Seite und zu dem Pakt stand, den beide am 23. August 1939 geschlossen und am Tag danach verkündet hatten.

9.6 »Und er gürtete den Schuh.« Da sich Hitlers Feldzüge nach dem Sieg über Frankreich auch nach Skandinavien ausweiteten, sah sich Brecht im Frühjahr 1940 gezwungen, Dänemark zu verlassen und ins neutrale Schweden und später sogar nach Finnland auszuweichen. Doch auch hier konnte er nicht bleiben, und so entschloss er sich, in die USA ins Exil zu gehen. Da aber alle denkbaren Häfen Europas für eine Überfahrt nach Amerika schon von der deutschen Wehrmacht besetzt waren, musste er notgedrungen den Weg nach Amerika über Rußland antreten, aus dessen Machtbereich er aber auch so schnell wie möglich wieder verschwinden wollte, weil es ihm dort viel zu unsicher war. Die Brecht-Biographen sind sich weitgehend darin einig, dass er einen längeren Aufenthalt in der Sowjetunion wohl nicht überlebt 1 hätte, weil er für bestimmte kommunistische Literaten als Trotzkist 2 galt. Und außerdem gab es da ja noch die lange Ballade in der Hauspostille, in der 475 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

IX · Erwärmungen und Aufschmelzungen

von »Menschen mit Tigergebissen« die Rede war, die der »roten unmenschlichen Fahne« nachziehen, vergeblich die Freiheit erkämpfen und am Ende mit »blutbefleckten leeren Händen« dastehen. Hätte irgendeiner dieser selbsternannten kommunistischen Linienbolde, z. B. Alfred Kurella, auf diesen Text in der Öffentlichkeit hingewiesen, so hätte man ihn mit Sicherheit umstandslos liquidiert. Glücklicherweise 3 geschah all dies nicht, sodass Brecht zusammen mit seiner Familie von Moskau aus mit der Transsibirischen Eisenbahn Rußland bis nach Wladiwostok durchqueren und am 13. Juni 1941 das Schiff besteigen konnte, das ihn dann am 21. Juli 1941 in Los Angeles ablieferte, wo ihn sein alter Freund Feuchtwanger in Empfang nahm, der diese Reise finanziert und natürlich ebenfalls lieber die USA als die Sowjetunion als Exil gewählt hatte. Während Brecht mit seinem Anhang sich in Sicherheit brachte, brach Hitler seinen Nichtangriffs-Pakt mit Stalin und begann am 22. Juni 1941 mit seinem Rußland-Feldzug. Damit war wiederum auch für Brecht eine völlig neue Situation geschaffen, denn all seine Skrupel wegen des Hitler-Stalin-Paktes waren mit einem Mal gegenstandslos geworden, weil er diesen ominösen Pakt nunmehr im Lichte dieser neuen Situation als taktische Maßnahme im Rahmen einer langfristigen Strategie interpretieren konnte, vor allem aber deshalb, weil sich jeder kommunistische Sympathisant endlich wieder auf der richtigen Seite fand, und dies außerdem noch im sicheren Amerika, in dem man keine Angst davor haben musste, von Stalins Schergen geschnappt, als Trotzkist oder Spion beschuldigt und an die Wand gestellt zu werden. Obwohl Brecht nach seiner ewig langen Flucht buchstäblich dem Tod entronnen war und nun in Kalifornien einigermaßen ungestört leben und arbeiten konnte, war er doch fest entschlossen, sich in den USA nicht wohl zu fühlen, und dafür gab es tatsächlich auch Gründe genug. Ihm gingen nicht nur bestimmte deutsche Emigranten auf die Nerven, allen voran Thomas Mann, der sich hier als die Zentralgestalt der deutschen Emigranten gerierte, den er aber zeit seines Lebens nur hassen und verachten konnte; ihn ärgerte nicht nur, dass er keine richtige Möglichkeit sah, länger und intensiver mit einem Theater zusammenzuarbeiten, weil es in den USA keine Theaterlandschaft gab, die man mit der deutschen auch nur annähernd hätte vergleichen können; er war auch tief gekränkt durch den Umstand, dass er für die Amerikaner ein totaler Nobody war, dessen Werk niemand kannte und noch weniger schätzte; ihm war auch die ganze Atmo476 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

»Und er gürtete den Schuh.«

sphäre tief zuwider, die er hier im Kernland kapitalistischer Lebensformen vorfand, sodass er am 21. Januar 1942 in einer langen Notiz im Tagebuch seinem tiefen Unbehagen Ausdruck verlieh. Sein Ansatzpunkt bei dieser Kritik waren bestimmte atmosphärische Anmutungen an, in denen immer noch etwas von der baalischen Naturseligkeit nachklingt, die er in den Gedichten der Hauspostille beschworen hatte, nun aber schmerzlich vermisste, weil ihm alles irgendwie künstlich vorkam: »Merkwürdig, ich kann in diesem Klima nicht atmen. Die Luft ist völlig geruchlos, morgens und abends gleich, im Haus wie im Garten. Und es gibt keine Jahreszeiten. Überall gehörte es zu meinen Morgenverrichtungen, mich aus dem Fenster zu beugen und Luft zu schnappen; hier habe ich diese Verrichtung gestrichen. Da ist weder Rauch noch Grasgeruch zu haben. Die Pflanzen kommen mir vor wie die Zweige, die wir als Kinder in den Sand steckten; zehn Minuten später hingen die Blätter welk herab. Immerfort wartet man, auch hier könne die Bewässerung plötzlich abgestellt werden, und was dann?«

Doch dann ändert sich die Tendenz der Kritik und geht von atmosphärischen Anmutungen über zu philosophisch-politischen Kriterien, die bei Stirners Imperativ »Verwerte dich!« ansetzen, der ihm hier in aufdringlichster Weise entgegenzutreten und ihn zu bedrängen scheint und außerdem unendlich nervt. Mit einem Wort: Alles, selbst das unscheinbarste Ding, scheint für ihn das Hohe Lied des Verwertungs-Kapitalismus zu plärren, und deshalb fährt er fort: »Mitunter, besonders im Auto nach Beverly Hills fahrend, nehme ich so etwas wie Züge einer Landschaft wahr, die ›eigentlich‹ anziehend wirken: sanfte Hügellinien, Zitronengebüsch, eine kalifornische Eiche und auch die eine oder andere Tankstation ist eigentlich lustig; aber all das steht wie hinter einer Glasscheibe, und ich suche unwillkürlich an jeder Hügelkette oder an jedem Zitronenbaum ein kleines Preisschildchen. Diese Preisschildchen sucht man auch an Menschen. – Es liegt mir an sich nicht, mit meiner Umgebung, unter diesen Umständen besonders, nicht zufrieden zu sein. Ich lege großes Gewicht auf meinen Stand, den distinguierten des Flüchtlings, und dem Flüchtling gegenüber schickt es sich eben gar nicht, so servil und gefallsüchtig zu sein, wie es diese Umgebung ist. Wahrscheinlich aber sind es die Arbeits-verhältnisse, die mich ungeduldig machen. Die Sitte hier verlangt, dass man alles, von einem Achselzucken bis zu einer Idee, zu ›verkaufen‹ sucht, d. h. man hat sich ständig um einen Abnehmer zu bemühen, und so ist man unaufhörlich Käufer oder Verkäufer, man verkauft sozusagen dem Pissoir seinen Urin. Für die höchste Tugend gilt der Opportunismus, die Höflichkeit wird sogleich zur Feigheit.« 4

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IX · Erwärmungen und Aufschmelzungen

Im März 1942 kommt er nochmal auf dieses Thema zurück, dass in Kalifornien selbst die Natur sich zu präsentieren scheint wie ein Artefakt im Schaufenster eines Warenhauses, sodass man sich selbst wiederum deplaziert, verfremdet und unwohl in der eigenen Haut fühlt: »Bemerkenswert, wie hier eine alles depravierende billige Hübschheit einen hindert, halbwegs kultiviert, d. h. würdig zu leben. In meinem Gartenhaus in Utting 5, auch »unter dem dänischen Strohdach« 6 war es möglich, in der Frühe den ›Bellum gallicum‹ zu durchblättern, hier wäre es eine arge Snoberei. (…) Hier kommt man sich vor wie Franz von Assisi im Aquarium, Lenin im Prater (oder Oktoberfest), eine Chrysantheme im Bergwerk oder eine Wurst im Treibhaus. Das Land ist eben riesig genug, um alle andern Länder selbst in der Erinnerung zu verdrängen. Man könnte Dramen schreiben, wenn es selber keine hätte und keine brauchte, aber es hat das alles, im nichtigsten Zustand. Der Merkantilismus erzeugt alles, nur eben in Warenform, und hier schämt sich der Gebrauchswert, nicht der Tauschwert in der Kunst.« 7

Auf den ersten Blick könnte man diese Notizen dahingehend deuten, dass Brecht durch die in den USA völlig ungenierte und unverhüllte Vermarktung aller Lebens-äußerungen gleichsam in einer TrotzReaktion einen weiteren Schub in seinen kommunistischen Überzeugungen erlebt haben muss. Doch dieser marxistische Blick verbindet sich auf eine ganz eigentümliche Art mit einem geradezu dandyhaften alteuropäischen Ästhetizismus, wie man ihn eher von Autoren wie Thomas Mann, Stefan George, Hugo von Hofmannsthal oder Rainer Maria Rilke erwarten könnte, denn wieder einige Tage später am 30. März 1942 bringt er dieses tiefe Unbehagen in einer Art von Bilanz auf einen soziologischen Nenner, der sich bei einem vermeintlich überzeugten Marxisten schon sehr seltsam anhört: »Die Elemente der [amerikanischen, L. P.] Lebensweise hier sind unedel. Es muss die Unwürdigkeit der Produktionsverhältnisse sein, die da alles banal macht. Hier, wenn irgendwo, wäre Distanz nötig, aber niemand respektiert sie. Das Essen, das Gespräch, das Schreiben eines Buches, das Lesen eines Buches, die Geschäfte, all das hat hier noch einen andern Zweck, keinen ganz gut riechenden, und ist so nicht würdig und nicht zulänglich in sich.« 8

Auf ganz ähnliche Töne tiefer Verstörung werden wir in Brechts Tagebuch wieder nach dem 17. Juni 1953 stoßen, wenn er in Buckow, seinem Landsitz in der Märkischen Schweiz schreibt: »Der 17. Juni hat die ganze Existenz verfremdet.« 9

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»Und er gürtete den Schuh.«

Möglicherweise war es dieser Ekel vor dem ungenierten merkantilen Verwer-tungswillen der Amerikaner, der Brecht dazu brachte, seinen Galilei, den er in der dänischen Fassung von 1938/39 ja als einen ebenso ungenierten merkantilen Verwerter seiner Kenntnisse und Fähigkeiten gezeichnet hatte, nunmehr etwas kritischer zu sehen, denn aus dem oben in Kapitel 9.3 zitierten Eintrag vom 6. April 1944 geht hervor, dass er in dem Galilei, der öffentlich seine Lehre widerruft, um heimlich seine Arbeit fortsetzen zu können, keinen keunerischen Helden mehr erkennen kann, der die Inquisition überlistet hat, sondern nur noch einen Verräter am Geist der Wissenschaft, aber zugleich auch einen Renegaten des politischen Fortschritts, weil er nun glaubt, das Volk habe sich aus rein politischen Gründen für Galileis Astronomie interessiert und in ihm eine politische Leitfigur für den eigenen Kampf gegen die Kirche gesehen. So gesehen setzte die Umwertung der Galilei-Gestalt vom keunerischen Helden zum feigen Renegaten also schon deutlich vor dem Abwurf der Atombombe ein, sodass dieser Einsatz der Atombombe diese schon bestehende Umwertung der Galilei-Gestalt nur noch ausdrücklich und mit weitaus plausibleren Argumenten bekräftigen konnte. Dazu kommt, dass Brecht selbst wie viele andere Exilanten aus Deutschland von amerikanischen Geheimdiensten 10 überwacht wurde, von Organisationen also, die man mit der Inquisition sehr wohl vergleichen konnte, sodass auch Brecht selbst sich in einer Situation befand, die der Situation Galileis nach seinem Widerruf durchaus vergleichbar war. Durch dieses tiefsitzende Unbehagen am bedingungslosen kapitalistischen Verwertungswillen der Amerikaner erschienen ihm nun auch bestimmte Züge des Guten Menschen geradezu selbstmörderisch, weshalb er nach Stoffen suchte, um dieses Motiv dramatisch gestalten zu können, und auf dieser Suche stieß er alsbald auch auf das seltsame Leben von Henri Dunant, der sein Leben als Kapitalist begonnen, sich dann zum Menschenfreund gewandelt und das Rote Kreuz gegründet hatte, schließlich aber in einem Schweizer Armenasyl beschließen musste, weil er zu gut zu den Menschen war. Das Stück sollte den Titel haben: Leben des Menschenfreundes Henri Dunant. Diese tragische Biographie eines exemplarisch guten Menschen, dessen Menschenfreundlichkeit sich dann sogar gegen ihn selbst kehrt, kommentiert Brecht in seinem Journal unter dem 2. Mai 1942 dann mit dem sarkastischen Satz: 479 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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»Die Familie, seinen Zustand erkennend, tut alles, ihn auf den rechten [rein egoistischen, L. P.] Weg zurückzubringen, veranlasst ihn zu Geständnissen, Besserungsschwüren, Selbstkasteiungen, aber immer wieder findet er sich in der Gosse der Gutherzigkeit, bis man endgültig die Hand von ihm zieht. Humanität ist in der heutigen [kapitalistischen verwertungsfreudigen, L. P.] Gesellschaft ein Laster, und keines von den geduldeten.« 11

Doch dieses Projekt kam über einige Notizen nicht hinaus. Diese Eintrübung zunächst positiv gesehener Helden vollzog sich offenbar auch bei Brechts Arbeit am Kreidekreis bei den beiden zentralen Gestalten Grusche und Azdak, denn am 8. Mai 1944 notiert er: »Die Schwierigkeiten in der Gestaltung des Azdak hielten mich zwei Wochen auf, bis ich den sozialen Grund seines Verhaltens fand. Zunächst hatte ich nur seine miserable Rechtsführung, bei der die Armen gut wegkamen. Ich wusste, ich durfte nicht etwa zeigen, dass man das übliche Recht biegen muss, damit Gerechtigkeit geübt wird, sondern ich hatte zu zeigen, wie bei nachlässiger, unwissender, eben schlechter Richterei schon etwas herausspringt für diejenigen, die wirklich Recht benötigen. Darum hatte der Azdak die selbstsüchtigen, amoralischen, parasitären Züge zu haben, der niedrigste, verkommenste aller Richter zu sein. Aber es fehlte mir immer noch eine elementare causa gesellschaftlicher Art. Ich fand sie in seiner Enttäuschung darüber, dass mit dem Sturz der alten Herrn nicht die neue Zeit kommt, sondern eine Zeit neuer Herrn. So übt er weiter bürgerliches Recht, nur verlumptes, sabotiertes, dem absoluten Eigennutz des Richtenden dienstbar gemachtes. Freilich darf diese Erklärung nichts ändern an dem, was ich vorher hatte, und den Azdak nicht etwa rechtfertigen.« 12

Auch diese Notiz lässt sich wieder lesen wie eine Vorwegnahme von Brechts Situation in der DDR, denn auch dort kam »keine neue Zeit«, wie von den neuen Herren immer behauptet wurde, sondern nur »eine Zeit neuer Herrn«, unter deren Herrschaft Brecht sein Theater genauso verwertungsfreudig führte wie Azdak sein Richteramt. Sie lässt sich aber auch lesen als ein fernes Echo aus Max Stirners Hauptwerk, der den politischen Liberalismus seiner Zeitgenossen und deren Forderung nach einer Wiederholung der Französischen Revolution in Deutschland mit genau diesem Argument verspottet hatte: »Die Revolution war nicht gegen das Bestehende gerichtet, sondern gegen dieses Bestehende, gegen einen bestimmten Bestand. Sie schaffte diesen Herrscher ab, nicht den Herrscher. (…) Immer wird nur ein neuer Herr an die Stelle des alten gesetzt, und der Umsturz ist ein – Aufbau. Es bleibt bei dem Unterschiede des jungen von dem alten Philister.« 13

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Sogar das Bild des ›Guten Menschen‹ scheint sich für Brecht deutlich eingetrübt zu haben, möglicherweise auch deshalb, weil ihm das Stück über den ›Guten Menschen‹ Simone Machard 14, das er zusammen mit Lion Feuchtwanger geschrieben hatte, etwas zu kitschig geraten war, denn am 15. Juni 1944 notiert er im Tagebuch, Überlegungen, aus der Grusche, die bis dahin als ›Der gute Mensch vom Kaukasus‹ wohl eher die Züge einer Heiligen hatte, einen gemischten Charakter zu machen: »Plötzlich bin ich nicht mehr zufrieden mit der Grusche im ›Kaukasischen Kreidekreis‹. Sie sollte einfältig sein, aussehen wie die Tolle Grete beim Breughel, ein Tragtier. Sie sollte störrisch sein statt aufsässig, willig statt gut, ausdauernd statt unbestechlich usw. usw. Diese Einfalt sollte keineswegs ›Weisheit‹ bedeuten (das ist die bekannte Schablone), jedoch ist sie durchaus vereinbar mit praktischer Veranlagung, selbst mit List und Blick für menschliche Eigenschaften. – Die Grusche sollte, indem sie den Stempel der Zurückgebliebenheit ihrer Klasse trägt, weniger Identifikation ermöglichen und so als in gewissem Sinn tragische Figur (›das Salz der Erde‹) objektiv dastehen.« 15

Als mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands und dem Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima der Krieg endlich sein Ende gefunden hatte, waren sich die Siegermächte, die Nazideutschland gemeinsam niedergerungen hatten, durchaus nicht mehr so einig wie während des Krieges, sodass nun auch die Kommunisten, die in den USA politisches Asyl gesucht und gefunden hatten, für die amerikanischen Geheimdienste in einem neuen und deutlich eingetrübten Licht erschienen und deshalb vor die Ausschüsse geladen wurden, die »unamerikanische Umtriebe« zu erforschen und zu bekämpfen hatten. Vor einen solchen Ausschuss 16 wurde auch Brecht geladen und verhört, ebenso wie die meisten seiner Freunde, spielte dort aber die premierenreife keunerische Rolle des überaus beflissenen und durchaus kooperationsbereiten Angeklagten vor, der sich von anderen Angeklagten tatsächlich auch deutlich unterschied, weil diese es abgelehnt hatten, die Frage, ob sie jemals Mitglied der kommunistischen Partei gewesen seien, überhaupt zu beantworten. Brecht konnte sich auf dieses in der amerikanischen Verfassung garantierte Recht nicht berufen, weil er die amerikanische Staatsangehörigkeit ja nicht hatte, musste es auch nicht, da er ja tatsächlich niemals Mitglied der KPD gewesen war und konnte deshalb mit einem klaren Nein antworten.

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Und damit waren die Herren vom Ausschuss offenbar auch zufrieden. Brecht selbst notiert dazu im Tagebuch unter dem 30. Oktober 1947 mit einiger Befriedigung, wie er dem Vorsitzenden des Ausschusses die Fabel seiner Massnahme mit dem Argument erläutert hatte, in dem Stück gehe es nach einer alten japanischen Vorlage ganz allgemein um »die Hingabe an eine Idee« und bestritt entschieden, hier werde ein »politischer Mord« exekutiert, denn es handle sich hier lediglich »um eine Selbstauslöschung« 17. Und die Herren im Ausschuss waren naiv genug, ihm dies auch zu glauben. Und so konnte Brecht die Bilanz ziehen: »Das Verhör ist unverhältnismäßig höflich und endet ohne Anklage; es kommt mir zugute, dass ich mit Hollywood beinahe nichts zu tun hatte, in amerikanische Politik nie eingriff und meine Vorgänger auf dem Zeugenstand den Kongressleuten die Antwort verwehrt hatten. (…) Ich verlasse Washington sofort. (…) Abends höre ich mit Helli und Buzislawskis im Radio Teile meines Verhörs.« 18

Am Tag darauf verließ Brecht Amerika, dessen Bild sich für ihn durch den Abwurf der Atombombe noch weiter eingetrübt hatte, und flog nach Paris. Und wieder einige Tage später war er in Zürich, wo sein alter Freund Caspar Neher ihn erwartet hatte und nun in Empfang nahm, freudig bereit zu neuen gemeinsamen Taten. Und nun konnte auch Brecht Stirners Imperativ »Verwerte Dich!« endlich auch selbst wieder befolgen, der ihn in Amerika so genervt hatte, wenn andere ihn befolgt und in die merkantile Tat umgesetzt hatten, und machte sich ans Werk.

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Kapitel X Zumutungen und Entmutigungen oder Die Frage: »Wer wen?« 10.1 Einleitung Im Vorwort zur Edition seiner frühen Stücke von 1954 schreibt Brecht über seinen Baal: »Das Stück »Baal« mag denen, die nicht gelernt haben, dialektisch zu denken, allerhand Schwierigkeiten bereiten. Sie werden darin kaum etwas anderes als die Verherrlichung der nackten Ichsucht erblicken. Jedoch setzt sich hier ein »Ich« gegen die Zumutungen und Entmutigungen einer Welt, die nicht eine ausnutzbare, sondern nur eine ausbeutbare Produktivität anerkennt. Es ist nicht zu sagen, wie Baal sich zu einer Verwertung seiner Talente stellen würde: er wehrt sich gegen ihre Verwurstung. Die Lebenskunst Baals teilt das Geschick aller andern Künste im Kapitalismus: sie wird befehdet. Er ist asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft.« 1

Dann geht er kurz auf den Plan zu einer Oper über den Glücksgott ein, den er aber nicht mehr realisieren konnte, weil ihm nach dem 17. Juni 1953 dazu die gestalterische Kraft abhandengekommen war wie für einige andere Projekte auch, und fährt dann fort: »Die erste und letzte Szene des Stückes »Baal« wurden für diese Ausgabe wieder so hergestellt, wie sie in der ersten Niederschrift waren. Sonst lasse ich das Stück, wie es ist, da mir die Kraft fehlt, es zu verändern. Ich gebe zu (und warne): dem Stück fehlt Weisheit.« (S. 9)

Außerdem fügte Brecht auch die Gefängnis-Szene mit dem Dialog zwischen Baal und dem Geistlichen aus der Augsburger Fassung wieder ein, in dem Baal sein Bekenntnis zu Stirners Philosophie deutlich bekundet und den Geistlichen damit aus der Fassung bringt. Hier spricht Brecht, wenn er über Baal spricht, deutlich in eigener Sache, wenn auch entsprechend maskiert, weil er Stirners Imperativ »Verwerte Dich!«, den er unter den amerikanisch-kapitalistischen Verhältnissen nicht recht hatte verwirklichen können, weil er dort immer nur das Gefühl hatte, von anderen verwertet zu werden, 483 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

X · Zumutungen und Entmutigungen

nun in der DDR und im Sozialismus glaubte endlich verwirklichen zu dürfen, weil unter diesen Bedingungen Produktivität jeder Art angeblich nicht mehr ausgebeutet, sondern nur noch ausgenutzt werde. Worin der feine Unterschied zwischen »ausnutzen« und »ausbeuten« besteht, verrät uns Brecht hier leider nicht. Das Gesetz, nach dem er in der DDR angetreten war, sollte nun also lauten: Wer wen? Genauer: Wer verwertet wen? Noch genauer: Wer verwertet wen und wer lässt sich von wem verwerten, doch ohne sich von ihm »verwursten« zu lassen? Oder anders und etwas weniger salopp formuliert: Konnte Brecht den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden verwerten, indem er sich von ihm ein Theater zur Verfügung stellen ließ, an dem er seine Vorstellung davon, wie Theater gemacht werden müßte, ungehindert realisieren konnte? Oder konnte dieser Staat ihn verwerten, indem er Brechts Prestige als Künstler benutzte, um daraus eigenes Prestige und politischen Gewinn zu ziehen? Und damit lautet die entscheidende Frage zugleich auch: Wo lag für beide Partner in diesem Verwertungs-Wettbewerb die Grenze, bis zu der man sich verwerten lassen konnte, ohne dass die Verwertung in »Verwurstung« überging? Und daran schließt sich wiederum die Frage: Wie groß durfte der Spielraum an künstlerischer Narrenfreiheit sein, den die ideologischen Linienbolde der stalinistischen Kulturpolitik Brecht einzuräumen bereit waren? Und für Brecht hieß dies: Wie weit durfte er gehen und welche Zugeständnisse keunerischer Art konnte und musste er eingehen, um sich diese Spielräume zu schaffen und zu erhalten, und welche Verwurstungs-Verhinderungs-Maßnahmen musste er treffen? Oder kürzer formuliert: An welchem Punkt waren die »Zumutungen« nicht mehr zu ertragen und wandelten sich in »Entmutigungen?« Wir werden sehen, dass Brecht diesen Verwertungs-Wettbewerb nur einige Jahre durch keunerische Listigkeiten auf Augenhöhe durchhalten konnte, weil mit dem 17. Juni 1953 und erst recht mit Chruschtschows Enthüllungen über Stalin im Februar 1956 zwei extrem entmutigende Ereignisse von außen hinzukamen, die mit solchen Keunereien aller Art und dem Kult des inneren Vorbehalts nicht mehr zu bewältigen waren und das Gleichgewicht im VerwertungsWettbewerb so fundamental störten, dass Brecht auf diese tiefen Verstörungen nicht mehr ästhetisch-poietisch durch ein künstlerisches Werk reagieren konnte, an das er seine Probleme hätte delegieren können, um sie dort auszutragen und eventuell auch zu lösen, son484 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Einleitung

dern nur noch synergetisch-psychosomatisch mit einer erneuten Herzneurose, an deren Folgen er dann auch starb. Doch zunächst ist die Ausgangs-Situation zu klären, in der beide Partner dieses Wettstreites sich befanden. Als die verschiedenen kommunistischen Gruppen aus dem Moskauer Exil und aus den Gefängnissen und KZs der Nazis im Mai 1945 in dem Bereich des besiegten Deutschland eintrafen, aus dem später die sowjetische Besetzungszone und noch später die DDR wurde, kamen sie zwar nur im Troß der Roten Armee und als Marionetten der sowjetischen Militärverwaltung, aber im stolzen Bewusstsein, trotz all der Niederlagen, die die Nazis ihnen bereitet hatten, letztlich doch als die Sieger der Geschichte dazustehen, und machten sich nun daran, den Teil Deutschlands, den die Rote Armee besetzt hielt, nach ihren Vorstellungen politisch, gesellschaftlich und kulturell neu zu gestalten, wobei man sich zunächst offen nach allen Seiten zeigte, aber streng nach der von Walter Ulbricht ausgegebenen Parole vorging: »Es muss alles demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.« 2 In diesem Geist wurde denn auch die Kommunistische Partei neugegründet und der alte Volksfront-Gedanke neu belebt, der am 21. April 1946 durch die Fusion von KPD und SPD zur SED als der »Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands« auch in aller Form vollzogen wurde. Um den Sozialdemokraten diese Fusion schmackhaft zu machen, betonte man erst, man wolle einen eigenständigen deutschen Weg zum Sozialismus 3 gehen. Doch sobald die Fusion der beiden Parteien vollzogen war, vollzog sich auch sofort die konsequente Sowjetisierung der SED zu einer stalinistischen Kaderpartei, und die Sozialdemokraten, die sich dieser Vereinigung widersetzt hatten oder auch noch nach der Vereinigung auf diesem eigenständigen deutschen Weg zum Sozialismus bestanden, wanderten alsbald in die KZs, in die sie einige Jahre vorher schon mal von den Nazis geschickt worden waren. Die Kommunisten in der SED ließen also nie einen Zweifel darüber aufkommen, dass allein sie die volonté générale dieser neuen Partei seien und damit zugleich aber auch die volonté générale aller Werktätigen außerhalb der Partei, und dass es neben dieser Partei eigentlich auch keine zweite Partei mehr geben könne und deshalb auch nicht geben dürfe. Die bürgerlich anmutenden Blockparteien (»Blockflöten«), die immer zusammen mit der SED auf einer Einheitsliste gewählt werden mussten, hatten lediglich eine Alibi-Funk-

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tion genau nach Ulbrichts Parole: »Es muss alles demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.« Damit war nach der NSDAP zum zweiten Mal auf deutschem Boden eine Partei mit einem umfassenden Machtanspruch entstanden, die die Chance hatte, diesen umfassenden Machtanspruch tatsächlich auch zu verwirklichen, aber nicht aus eigener Kraft und Macht wie die NSDAP, sondern weil sie sich im völligen Einklang mit der Sowjetischen Militäradministration wusste, bei der wirklich die Macht lag: »Der Übergang der SED zu einer Partei neuen Typs, d. h. zu einer kommunistischen Partei nach dem Vorbild der KPdSU, wurde erst 1947/48 öffentlich ausgerufen. Das erste Programm der SED war aber bereits ein Vorgriff auf diese spätere Proklamation. In § 1 bestimmt das Statut der SED: »Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands ist die politische Organisation der deutschen Arbeiterklasse und aller Werktätigen.« Jeder andere Versuch, Arbeiterinteressen politisch zu organisieren, wäre danach nicht allein oppositionelles Aufbegehren gegen die SED, die Organisation der deutschen Arbeiterklasse, sondern ebenso gegen die ›antifaschistisch-demokratischen Parteien‹ gewesen, die allein von der Arbeiterklasse respektive der sie führenden und lenkenden Partei ›geeint‹ werden können. Ihr erstes Programm und Statut machten die SED zu einer ›führenden Kraft‹ und rückten eine mögliche Opposition in die Nähe des Hochverrats an einem Staat, der erst kommen sollte.« 4

Diese Tendenz zur konsequenten Sowjetisierung unter dem Deckmantel eines ganz großen historischen Kompromisses zeigt sich auch in der Kulturpolitik der Gruppen um Ulbricht, die mit der Gründung des »Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« durch den Moskau-Emigranten Johannes R. Becher am 8. August 1945 begann, dessen Antrag zur Gründung dieser Organisation von der Sowjetischen Militäradministration wohlwollend genehmigt worden war, weil man dort sicher sein konnte, dass auch hier Ulbrichts Parole beherzigt werden würde. »Es muss alles demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.« Aus diesem Grund sprach Becher als Gründer und erster Vorsitzender des Kulturbundes auch viele Nicht-Kommunisten an, hierbei mitzuarbeiten und hatte mit diesem Angebot auch Erfolg, und Becher war es denn auch, der in dieser Funktion alsbald auch Brecht bat, nach Berlin zu kommen, dort Theater zu machen und auf diese Weise am Neuaufbau des kulturellen Lebens im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands mitzuwirken. 486 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Einleitung

Doch Brecht zögerte noch und versuchte erst einmal, in der Schweiz sich zu etablieren, kam aber über erste Versuche 5 nicht hinaus, denn nirgendwo gab es für ihn die Möglichkeit, ein eigenes Theater in die Hand zu bekommen. Da ihm aber auch die drei Westzonen verschlossen waren, nahm er im Herbst 1948 Bechers Einladung an und kam nach Berlin, um das kulturelle Gelände zu erkunden. Das Angebot, das man ihm hier machte, bestand zunächst darin, regelmäßig am Deutschen Theater in Berlin mit einem eigenen Ensemble Stücke seiner Wahl zu inszenieren. Brecht akzeptierte dies sofort, weil er damit gleichsam einen Fuß in der Tür hatte, und brachte am 11. Januar 1949 seine Inszenierung von Courage heraus, die sich als ein Riesenerfolg bei Publikum und Kritik erwies. Das Experiment schien also gelungen zu sein. Trotz dieses Erfolges bewegte sich Brecht kulturpolitisch gesehen immer noch auf dünnem Eis, denn die generelle Ausrichtung des politischen und gesellschaftlichen Lebens auf das sowjetische Modell, die die Gruppe Ulbricht mittlerweile durchgesetzt hatte, erstreckte sich eben auch auf das kulturelle Geschehen, und dort galt nach wie vor das von Stalins Kulturfunktionär Andrej Shdanow verkündete Dogma des Sozialistischen Realismus und damit zugleich auch das Verbot all dessen, was als »bürgerlich dekadent«, als »kosmopolitisch« oder als »formalistisch« angesehen wurde. Wer sich als Künstler diesem Dogma nicht beugte, musste damit rechnen, dass die kulturpolitischen Linienbolde mit ihm »diskutierten« und ihm »halfen«, den rechten sozialistisch-realistischen Weg zu finden und zu beschreiten. Und diese Linienbolde wurden wiederum überwacht von der Sowjetischen Militäradministration, insbesondere von Wladimir Semjonow, der unter dem Pseudonym »Orlow« 6 immer wieder direkt ins kulturelle Leben seines Machtbereiches eingriff und kulturelle Debatten in die von ihm gewünschte Richtung leitete, tat dies auch noch nach der Gründung der DDR. All dies konnte Brecht wissen, und wusste es wohl auch, und darum wusste er auch, auf welche Zumutungen er sich einließ, als er das Angebot annahm, nach Ostberlin zu kommen, denn in den Augen der auf Shdanow eingeschworenen kulturpolitischen Linienbolde war seine Art von Theater natürlich Formalismus pur. Er wusste aber auch, dass in diesem stalinistischen System Intellektuelle mit zur Nomenklatura zählten und damit hoch privilegiert waren, dass sie sich diese Privilegien als »Ingenieure der mensch-

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lichen Seele« 7 aber tagtäglich neu durch entsprechendes Wohlverhalten und demonstrative Loyalitätsbekundungen verdienen mussten. So gesehen befand sich Brecht bei seinem Umzug von Zürich nach Ostberlin in etwa in einer Situation wie sein Galilei bei dessen Umzug vom sicheren und liberalen, aber geizigen Venedig in das reiche Florenz, um dort Hofastronom zu werden und an die Fleischtöpfe zu kommen, womit er sich aber auch in den Machtbereich der päpstlichen Inquisition begab, die seine wissenschaftliche Arbeit scharf überwachte und entschlossen eingriff, wenn er die Grenzen überschritt, die sie ihm zugestehen konnten. Doch dieses Risiko war Brecht offenbar bereit einzugehen, denn letztlich hatte er ja keine andere Wahl, wenn er ein eigenes Theater in die Hand bekommen wollte. Da er aber, ehe er mit seiner Arbeit am Berliner Ensemble begann, genügend Verwurstungs-Verhinderungs-Maßnahmen getroffen hatte, indem er sich einen österreichischen Pass, ein schweizer Konto und einen westdeutschen Verleger besorgt hatte und außerdem nie in die SED eintrat und somit keiner Parteidisziplin unterworfen war, glaubte er wohl, er könne diesen Verwertungs-Wettbewerb mit Staat und Partei der DDR wagen und war locker entschlossen, jede Kröte zu schlucken, die man ihm anbot, um dann in aller Öffentlichkeit zu behaupten, eigentlich habe dies doch geschmeckt wie Froschschenkel. Am 7. Oktober 1949 wurde die DDR gegründet und war damit formal nicht mehr nur die Sowjetische Besatzungszone SBZ, sondern ein regelrechter Staat namens Deutsche Demokratische Republik, und Brecht hätte nun auch in aller Form Bürger dieses Staates werden können. Doch genau dies tat er nicht, sondern besorgte sich einen österreichischen Pass 8 und auch dies erst, nachdem das Berliner Ensemble mit der Premiere von Puntila am 12. November 1949 feierlich eröffnet worden war. Da er also nie DDR-Bürger wurde, unterstand er auch nicht der Justiz des Landes und konnte das Land auch jederzeit wieder verlassen oder damit drohen, außer Landes zu gehen. Eine solche keunerische Vorsicht war allerdings auch geboten, weil es in Brechts Frühwerk Passagen gab, die man nur allzuleicht gegen ihn hätte ins Feld führen können. Hätte einer seiner ideologischen Gegner z. B. öffentlich auf sein frühes Gedicht Gesang des Soldaten der Roten Armee verwiesen, so wäre er sofort eine persona non grata gewesen und hätte die DDR verlassen müssen. Er war also in hohem Maße erpressbar, wusste dies natürlich auch und ver488 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Zumutung I: Der Streit um die Lukullus-Oper

hielt sich deshalb auch entsprechend geschmeidig vor den Augen der neuen hohen Herren und verbeugte sich vor ihnen, wenn es nötig war, so tief, dass sein listiges Grinsen nur von denen wahrgenommen werden konnte, die hinter ihm standen. So gesehen hatte sich Brecht also mehrfach abgesichert, um den Clinch mit den ideologischen Linienbolden in der Art von Alfred Kurella, Wilhelm Girnus oder Alexander Abusch zu wagen, mit denen er ja schon zur Zeit seiner Lehrstücke im Clinch gelegen hatte, die nun aber in staatlichen Funktionen saßen und die Machtmittel eines Staates zur Verfügung hatten, um ihm ihre Meinung aufzuzwingen. Zu kontern war diese bürokratische Macht für Brecht nur mit dem Prestige, das er sich durch seine Theaterarbeit erwerben konnte, v. a. durch Gastspiele im westlichen Ausland, mit denen wiederum die DDR-Regierung propagandistisch protzen konnte, obwohl im kulturellen Leben der DDR selbst natürlich weiterhin die Shdanow-Doktrin galt, denn wenn ein Künstler es wagte, sich gegen diese Shdanow-Dogma aufzulehnen, so zeigten ihm diese neuen Inquisitoren auch gern mal ihre Instrumente. Und genau so erging es auch Brecht selbst: Zunächst direkt im Streit um die Lukullus-Oper, und dann indirekt im Streit um Eislers Faustus-Libretto, der in gewisser Weise auch ein Streit um sein Galilei-Stück war.

10.2 Zumutung I: Der Streit um die Lukullus-Oper 10.2.1 Die kulturpolitischen Rahmenbedingungen Im Vorwort zu seiner sehr detaillierten Dokumentation um die Aufführung der Oper Das Verhör des Lukullus 1 im Frühjahr 1951 schreibt Joachim Lucchesi: »Die chronologische Zusammenstellung der hier vorliegenden und zum großen Teil erstmals veröffentlichten Dokumente erfolgte zum einen aus dem Beweggrund, zu einer weiteren Erhellung der komplizierten Werkgeschichte der Oper beizutragen. So erhalten die schon seit längerem publizierten Briefe und Arbeitsjournal-Eintragungen Brechts zum »Lukullus«Streit nun neue Akzente im Kontext behördlicher Verfügungen und sie ergänzender Dokumente. Zum andern wird am Beispiel dieser Oper modellhaft das Verhältnis von Staat und Kunst in den fünfziger Jahren und darüber hinaus deutlich. Doch würde man diesen historischen Ereignissen kaum gerecht werden, wollte man bei dem wie heute gern benutzten jour-

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nalistischen Schlagwort von der gegängelten DDR-Kunst verharren. Denn hierzu gehört eben auch das diffizile Geflecht eines Meinungsstreits, dessen Fronten quer durch das Lager der Diskutanten verliefen: auf seiten des Staats- und Parteiapparates war es der kunstliebende Präsident Wilhelm Pieck, der mit seiner von Dessau kolportierten Frage: »Genossen, was ist, wenn wir uns hier irren?« unmittelbar nach Ansetzung der Oper Gespräche mit Brecht und Dessau aufnahm. Das Ergebnis dieser Diskussion war, dass nach Änderungen am Text und der Musik die Oper erneut in den Spielplan der Staatsoper aufgenommen wurde. Zugleich zeigen sich in der Doppelkontrolle durch die Abteilung Kultur beim ZK der SED sowie durch die Kulturabteilung beim Volksbildungsministerium Kompetenzunsicherheiten sowie Desinformiertheit im Mit- und Gegeneinander von Partei- und Staatsapparat, aber auch die Angst einzelner Funktionäre vor Entscheidungen und der damit zu übernehmenden Verantwortung.« 2

Lucchesi hätte noch hinzufügen können, dass seine Dokumentation ebenso modellhaft die keunerischen Verrenkungen von Brecht und Dessau zeigt und damit zugleich auch den Spielraum offenbart, den man sich als Künstler in einem solchen System auf diese Weise verschaffen konnte. Und schließlich wird durch diese Dokumentation auch noch deutlich, in welchem Maß das kulturelle Geschehen in Ost-Berlin durch die damals noch offene Grenze zu West-Berlin mit beeinflusst werden konnte, weil dadurch die stalinistischen Kulturfunktionäre der SED zumindest ein bißchen in ihre Schranken gewiesen wurden, die ja sowieso von der Sowjetischen Militär-administration durch die offizielle Shdanow-Doktrin an kurzer Leine gehalten wurden und ihrerseits wieder die Künstler an genauso kurzer Leine halten wollten, um ihre angemaßte Universalkompetenz auch im kulturellen Geschehen zu demonstrieren. Modellhaft war der Streit um die Lukullus-Oper aber auch deshalb, weil sich dieser Versuch der Kulturbürokratie, gezielt in das künstlerische Geschehen einzugreifen, in der Geschichte der DDR des öfteren wiederholen sollte: Zunächst beim Streit um Eislers Faustus-Libretto 1952/53, auf den wir gleich im nächsten Kapitel eingehen werden, dann im Herbst 1961 beim Skandal um Heiner Müllers Stück Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande 3 und im Streit um den anarchischen Helden 4 zu Beginn der Sechzigerjahre, dann im legendären »Kahlschlag«-Plenum 5 vom Dezember 1965, und schließlich 1976 beim Versuch, rebellische Autoren nach der Biermann-Ausbürgerung 6 zu disziplinieren, indem man sie aus dem Schriftstellerverband ausschloss. 490 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Zumutung I: Der Streit um die Lukullus-Oper

Der Argumentationsrahmen beim Streit um die Lukullus-Oper war strikt vorgegeben durch die Sowjetische Militäradministration, die schon 1948 eine kleine Sammlung von Reden und Aufsätzen von Andrej Shdanow herausgegeben hatte, die dann 1951 auch in deutscher Übersetzung im Parteiverlag Dietz unter dem Titel Über Kunst und Wissenschaft 7 in Ost-Berlin erschien und die Dogmen stalinistischer Kulturpolitik verkündete, die dann zunächst für die SBZ und später auch noch für die DDR verbindlich werden sollten. Andrej Shdanow (1896–1948) war nicht irgendwer, sondern die rechte Hand Stalins in Sachen Kulturpolitik, sodass man diese Broschüre nicht nur als sein eigenes Vermächtnis ansehen darf, sondern auch als das kulturpolitische Manifest von Stalin selbst, und so war es wohl auch gemeint. Für unsere Fragestellung sind von diesen Texten eigentlich nur die von Bedeutung, in denen Shdanow über Literatur und Musik sich äußert und ihnen ihre Aufgabe beim Aufbau des Sozialismus stalinistischer Art zuweist. Für die Literatur gilt generell, dass sich Schriftsteller laut Stalin als »die Ingenieure der menschlichen Seele« (S. 9, 11, 33) zu verstehen haben, und dass Literatur laut Lenin sich im Einklang mit der wirklichen historischen Entwicklung zu befinden hat, deshalb auch nicht hinter diesem objektiven Fortschreiten zurückfallen darf und deshalb durchweg »parteilich« (S. 32) und »tendenziös« (S. 9) zu sein hat. Und deshalb gilt, wie Shdanow in seiner Rede auf dem ersten Unionskongreß der sowjetischen Schriftsteller von 1934 ausführte, mit dem Stalins erste Kulturkampagne eröffnet wurde, für die Sowjetliteratur generell: »Unsere Literatur ist erfüllt von Enthusiasmus und Heldentum. Sie ist optimistisch, aber nicht aus irgendeiner animalischen »inneren« Empfindung heraus. Sie ist optimistisch ihrem Wesen nach, weil sie die Literatur der aufsteigenden Klasse, des Proletariats, der fortschrittlichen und fortgeschrittenen Klasse ist. Unsere Sowjetliteratur ist stark, weil sie einer neuen Sache, der Sache des sozialistischen Aufbaus, dient.« (S. 8 f.)

Shdanows Äußerungen zur Musik entstanden im Rahmen von Stalins zweiter Kulturkampagne, die sich v. a. gegen Komponisten wie Prokofjew und Schostakowitsch – richtete, weil er deren Musik zu disharmonisch fand. Genau diesen Vorwurf richtet nun auch Shdanow gegen die Oper Die grosse Freundschaft des georgischen Komponisten Wano Muradeli, an der er zu bemängeln hat, es gebe in ihr »keine einzige einprägsame Melodie« (S. 46), diese Musik sei 491 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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»eine chaotische Anhäufung von schrillen Tonverbindungen« (S. 46) und »kakophonischen Interventionen« (S. 47). Und dann zitiert er ausführlich aus der Prawda von 1936, in der unter dem Titel Chaos statt Musik Schostakowitschs Oper Lady Macbeth aus Mzensk schlichtweg als »Kakophonie« (S. 52) und als »Negierung der Oper« (S. 52) abgetan wird. Die Bilanz dieses Prawda-Artikels auf dem Höhepunkt der Säuberungen von 1936 lautete: »Die Gefahr einer solchen Richtung in der Sowjetmusik liegt klar auf der Hand. Die ›linke‹ Entartung in der Oper hat den gleichen Ursprungwie die ›linke‹ Entartung in der Malerei, der Dichtung, der Pädagogik und der Wissenschaft. Das kleinbürgerliche ›Neuerertum‹ führt zur Loslösung von der wahren Kunst, der wahren Wissenschaft und der wahren Literatur.« (S. 52)

Dieses kleinbürgerliche Neuerertum aber sei nur genießbar »für Ästheten und Formalisten, die ihren gesunden Geschmack verloren haben« (S. 53), denn, so Shdanow in seiner Rede von 1948: »Komponisten, deren Werke für das Volk unverständlich sind, brauchen nicht darauf zu warten, dass das Volk, das ihre Musik nicht versteht, zu ihnen »heranwächst«. Das Volk braucht eine Musik nicht, die es nicht versteht. Die Komponisten müssen nicht dem Volk, sondern sich selbst Vorwürfe machen, sie müssen ihre Arbeit einer Kritik unterziehen und begreifen, warum sie ihrem Volke nicht gefallen, warum sie nicht die Zustimmung des Volkes verdient haben und was sie tun müssen, damit das Volk sie versteht und ihren Werken Beifall zollt. Das ist die Richtung, in der man sein Schaffen umstellen muss.« (S. 73 f.)

Da man annehmen durfte, dass Shdanow hier auch völlig im Sinne Stalins gesprochen hatte, erschien am 19. November 1950 in der Täglichen Rundschau, dem offiziellen Organ der Sowjetischen Militärverwaltung, gleichsam als Echo ein Artikel von Wladimir Semjonow unter dem Pseudonym N. Orlow mit dem Titel Das Reich der Schatten auf der Bühne, der vergleichbare Vorwürfe gegen eine Inszenierung von Michail Glinkas Oper Ruslan und Ludmilla an der Berliner Staatsoper erhob. Dieser Artikel war aber nicht bloß ein totaler Verriss dieser Inszenierung, sondern eher ein kulturpolitisches Manifest stalinistischer Ausrichtung, das den Rahmen abstecken sollte, innerhalb dessen sich das Theatergeschehen in der DDR zu bewegen hatte. Aus diesem Grund sind die Passagen in diesem Artikel, die sich auf konkrete Details dieser Inszenierung beziehen, nicht so wichtig; viel wichtiger sind die kulturpolitischen Forderungen, Warnungen und Drohungen, die daraus abgeleitet werden, wenn 492 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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die Kritik z. B. zu dem Fazit kommt: »Die ganze Inszenierung trägt den Stempel der Dekadenz und Zersetzung.« 8 Das Bühnenbild findet der Kritiker »formalistisch« (S. 47) und dann fügt er hinzu: »Die fortschrittlichen Bühnen lehnen derartige formalistische und unkünstlerische Dekorationen schon lange ab und tragen auf ihrem Banner die Devise »Die Kunst dem Volke«. Die Berliner Staatsoper aber, die um viele Jahre hinter dem Leben zurückgeblieben ist, klammert sich hartnäckig an das Alte und greift begierig alles Ungenießbare auf, was es in der verfallenden und degenerierenden Kultur des Westens gibt.« (S. 47)

Dann verweist der Kritiker darauf, dass er auch in anderen Produktionen diese »formalistischen Verrenkungen« (S. 48) habe feststellen müssen und wird dann etwas deutlicher, wenn er hinzufügt: »Die Leitung der Berliner Staatsoper ist von der Öffentlichkeit 9 bereits mehrfach warnend darauf hingewiesen worden, dass sie ihre Einstellung zum Zuschauer revidieren und mit dem volksfremden Stil ihrer Inszenierungen Schluss machen muss. Die Direktion der Berliner Staatsoper, mit dem Intendanten Legal an der Spitze, ist jedoch offensichtlich nicht geneigt, diesen Forderungen Gehör zu schenken, und setzt ihren kunst- und volksfremden Kurs fort. Es wird Zeit, sich mit der Berliner Staatsoper zu beschäftigen und dort Ordnung zu schaffen. Es muss Schluss gemacht werden mit der Herrschaft der Schatten auf der Bühne der Berliner Staatsoper, mit der Verhöhnung der Zuschauer, der Sänger und Orchestermitglieder durch eine Handvoll talentloser Mystiker 10 und Formalisten, die sich in die Leitung eingeschlichen haben. Es muss Schluss gemacht werden mit der hoffnungslosen Rückständigkeit, die aus den meisten Inszenierungen spricht.« (S. 48 f.)

In einem weiteren Orientierungs-Artikel vom 21./23. Januar 1951 weitete Orlow/Semjonow diese Warnungen, Forderungen und Drohungen auch auf die bildende Kunst aus, wobei er im wesentlichen den deutschen Expressionismus im Auge hatte, und verwarf auch diese Kunst als zersetzend, verfault, dekadent und formalistisch. 11 In diesen Artikeln der Sowjetischen Militäradministration bzw. der Sowjetischen Botschaft wird also deutlich die Sprache der Macht gesprochen, indem angemahnt, gefordert, gewarnt und gedroht wird. Man könnte auch sagen: Der Großinquisitor hatte seine Instrumente vorgezeigt, ganz so wie in Brechts Galilei, und erwartete nun von seinem Delinquenten einen angemessenen Grad von Einverständnis und Unterwerfung. Und so wie Semjonow sich als Echo Shdanows gerierte, so gerierte sich wiederum das ZK der SED als Echo Semjonows, indem es 493 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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im März 1951 eigens eine Sitzung anberaumte, um nun auch seinerseits den Kampf gegen den Formalismus in der Kunst zu eröffnen. Das Hauptreferat hielt Hans Lauter, der sich ganz eng an Shdanows Rede auf dem ersten Unionskongress der Sowjetschriftsteller von 1934 12 hielt und deshalb lauthals verkünden konnte: »Der unvergessliche Genosse Shdanow, bei dem wir uns orientieren, formulierte wie folgt: Genosse Stalin hat unsere Schriftsteller »die Ingenieure der menschlichen Seele« genannt. Beim Genossen Shdanow gehen wir in die Schule. Indem wir also die realistischen Methoden der Kunst bei der fortschrittlichsten Kunst, der Kunst der Sowjetunion, studieren, können wir die entsprechenden Schlussfolgerungen auch für uns ableiten. Genosse Shdanow geht davon aus, dass ein Kunstschaffender das Leben kennen muss, um es in seinen künstlerischen Werken richtig darzustellen. Das Leben richtig darstellen heißt aber, es nicht tot, es nicht als einfache Wirklichkeit, sondern in seiner Entwicklung darzustellen, das Neue im Leben zu erkennen, das sich für die Entwicklung der Gesellschaft herauskristallisiert, und dabei muss die wahrheitsgetreue und historisch konkrete künstlerische Darstellung mit der Aufgabe verbunden werden, die werktätigen Menschen im Geiste der Lösung der historischen Aufgaben ihres Volkes umzuformen und zu erziehen.« (S. 144 f.)

Selbstverständlich wurden Lauters Ausführungen vom ZK der SED gebilligt, womit die Instrumente, die zuerst die Großinquisitoren Stalin, Shdanow und Semjonow gezeigt hatten, an die nächst kleineren Inquisitoren der SED übergegangen waren, die sie nun ihrerseits den Künstlern präsentieren und deren Unterwerfung verlangen konnten. Getragen war diese Maßnahme von der Sorge, dass, wie es hieß, reaktionäre und antinationale Tendenzen die nationale Würde und das Nationalbewusstsein des deutschen Volkes zerstören könnten, und deshalb fasste das ZK der SED am 17. März 1951 einen Beschluss, in dem es u. a. hieß: »Eine entscheidende ideologische Waffe des Imperialismus zur Erreichung dieses verbrecherischen Zieles ist der Kosmopolitismus. In der Kunst erfüllt in erster Linie der Formalismus in allen seinen Spielarten die Aufgabe, das Nationalbewusstsein der Völker zu unterhöhlen und zu zerstören. Es ist daher eine der wichtigsten Aufgaben des deutschen Volkes, sein nationales Kulturerbe zu wahren. Vor unseren deutschen Künstlern und Schriftstellern entsteht die Aufgabe, anknüpfend an das kulturelle Erbe eine neue deutsche demokratische Kultur zu entwickeln.« 13

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Um den etwas verwaschenen Begriff »Formalismus« etwas genauer zu fassen, fügte man noch einige Kriterien hinzu, landete dann aber mitten in der kulturkonservativen »Werktreue«-Ideologie 14: »Das wichtigste Merkmal des Formalismus besteht in dem Bestreben, unter dem Vorwand oder der irrigen Absicht, etwas ›vollkommen Neues‹ zu entwickeln, den völligen Bruch mit klassischem Kulturerbe zu vollziehen. Das führt zur Entwurzelung der nationalen Kultur, zur Zerstörung des Nationalbewusstseins, fördert den Kosmopolitismus und bedeutet damit eine direkte Unterstützung der Kriegspolitik des amerikanischen Imperialismus.« 15

Dass all diese selbsternannten Inquisitoren den Anspruch, die Kunst zu reglementieren, nicht als maßlose Anmaßung empfanden, liegt wohl daran, dass sich eine kommunistische Partei für die volonté générale aller Werktätigen hält, zu denen eben auch die Künstler gehören, sodass eine kommunistische Partei grundsätzlich alles besser weiß als alle anderen und diese Anmaßung gar nicht als Anmaßung empfinden kann, weshalb sich all diese kulturpolitischen Linienbolde immer durch ein pathologisch gutes Gewissen auszeichneten und munter drauflos urteilten. Mittlerweile hatte Brechts Inszenierung seines Stücks Die Mutter am 12. Januar 1951 am Deutschen Theater mit Helene Weigel in der Hauptrolle Premiere gehabt, und Brecht war offenkundig mit seiner Produktion und der Resonanz beim Publikum recht zufrieden denn er notiert in seinem Tagebuch unter dem 10. Januar 1951 über eine Voraufführung: »Das durchschnittliche Volksbühnenpublikum geht gut mit. 40 Vorhänge ungefähr, einige eiserne. Die Auflockerung des alten Modells (…) scheint gelungen.« 16

Dass bei dieser Inszenierung Brecht dem Publikum großzügig erlaubte, »mitzugehen« und dadurch das starre Dogma des »Epischen Theaters« »aufgelockert« wurde, das das Mitgehen ja streng verpönte, war übrigens ganz im Sinne Platons als dem ersten Theoretiker des »Epischen Theaters«, der ja ausdrücklich das Mitgehen der Wächter erlaubt hatte, sofern durch die Darstellung von positiven Helden aller Art die heldenhafte Gesinnung der Wächter 17 gefördert werden kann. Und genau diesem Zweck dient ja dieses Stück. Doch einige Oberzuschauer von der SED waren mit dieser Produktion durchaus nicht zufrieden und beschlossen, mit Brecht zu

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»diskutieren« und ihm zu »helfen«, d. h. ihm »die Instrumente zu zeigen«, und verlangten Änderungen 18 in der Inszenierung. Von welcher Art diese Änderungswünsche waren, geht aus den bei Lucchesi abgedruckten Dokumenten nicht unmittelbar hervor, doch in der schon erwähnten Sitzung des ZK der SED, in der zum Kampf gegen den Formalismus 19 in der Kunst aufgerufen wurde, meldete sich u. a. auch Fred Oelßner zu Wort, damals der Chefideologe der SED, und monierte, die Kriterien des Sozialistischen Realismus seien in dieser Inszenierung nicht konsequent genug befolgt worden und mahnte deshalb an: »Ist das wirklich [sozialistischer, L. P.] Realismus? Sind hier typische Gestalten in typischer Umgebung dargestellt? Ich will schon gar nicht reden von den Formen. (…) Entschuldigt, ich bin der Auffassung, das ist kein Theater; das ist irgendwie eine Kreuzung oder Synthese von Meyerhold und Proletkult.« (S. 173)

Diese Verurteilung von Brechts Theaterproduktion war schon eine direkte Drohung, denn jedes Mitglied des ZK der SED dürfte gewusst haben, dass Meyerhold in den stalinistischen Säuberungen 1940 erschossen worden war und dass der Proletkult genau das war, was Shdanow als »kleinbürgerliche ›linke‹ Entartung in der Kunst« bezeichnet hatte. Doch dann wird Oelßner etwas konkreter in seiner Kritik und mäkelt an dem 11. Bild herum, das er offensichtlich überhaupt nicht verstanden hatte, weil er behauptet, dass hier die Mutter »in Panik verfällt und jammert: »Die Partei stirbt.«« Und dann fügt er noch hinzu: »Ist das wirklich eine Charakteristik der objektiven historischen Rolle der bolschewistischen Partei von 1914, die als einzige Partei in der ganzen Internationale ein klares Programm und Ziel hatte und nicht in Panik verfallen ist?« (S. 173)

In Wirklichkeit verläuft die Szene so, dass die Mutter krank darniederliegt, vom Chor der revolutionären Arbeiter mit den Sätzen »Steh auf, die Partei ist in Gefahr! Du bist krank, aber die Partei stirbt« 20 zum Aufstehen aufgefordert wird und dann auch tatsächlich, wenn auch äußerst »mühsam« aufsteht und sich den Arbeitern anschließt. Der Chor der Arbeiter stellt also nicht fest, dass die Partei stirbt, sondern äußert die Befürchtung, dass sie sterben könnte.

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Wir haben also eine klassische Pathos-Szene vor uns, weil die Mutter nur unter Aufbietung aller Kräfte sich vom Krankenlager erhebt, sich ankleidet und den Arbeitern nicht nur folgt, sondern sich sogar an deren Spitze setzt, und diese Mutter ist selbst die Partei, die Partei in Person. Mit einem Wort: In ihrem und mit ihrem mühseligen Aufstehen vollzieht sich der Aufstand der Mühseligen und Beladenen, die sich in ihr und mit ihr zum aufrechten Gang in die Weltgeschichte erheben. So war die Szene wohl von Brecht gedacht, die Oelßner so missverstanden hat, dass er sie »historisch falsch und politisch schädlich« (S. 173) fand und deshalb die Forderung erhob, man müsse unbedingt mit Brecht »diskutieren« (S. 174). Offenbar stand er mit dieser Forderung nicht ganz alleine da, denn in einer späteren Sitzung des ZK der SED wurde tatsächlich beschlossen, die Aufführungen von Brechts Stück »auf ein Mindestmaß zu beschränken« 21. Trotzdem erlebte diese Produktion 113 Aufführungen und Brecht konnte einen kleinen Triumph über die ideologischen Linienbolde von der SED verbuchen.

10.2.2 Der Kampf um Werk und Aufführung Das Verhör des Lukullus war ursprünglich ein Hörspiel, das Brecht zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 in Schweden geschrieben hatte, um auf diese Weise seinem Zorn über diesen Krieg Ausdruck zu verleihen. Es zeigt den eben gestorbenen höchst erfolgreichen Feldherrn Lucius Licinius Lucullus (117–56), der für Rom die reichen Gebiete der heutigen westlichen Türkei erobert hatte, der vor dem Tor des Schattenreiches steht und Einlass ins Reich der Seligen begehrt, aber erst einem Verhör unterzogen wird, um zu prüfen, ob er dies auch verdient oder ob er in den finsteren Hades verstoßen werden soll. Da aber seine Raubzüge im Auftrag Roms unzählige Opfer an Menschenleben gekostet hatten, klagen ihn auch die dabei gefallenen Legionäre an, und weil diese Stimmen entscheidend sind, lautet das Urteil über ihn schließlich: Ah ja, ins Nichts mit ihm und ins Nichts mit Allen wie er! 1

In Berlin entschied sich Brecht dann, dieses pazifistische Hörspiel zu einem Libretto für eine Oper umzuschreiben und bat Paul Dessau, 497 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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mit dem er vorher schon des öfteren zusammengearbeitet hatte, diesen Text zu vertonen. Dessau war dazu auch sofort bereit und machte sich 1949 an die Arbeit 2, und die Deutsche Staatsoper Berlin war auch bereit, dieses Werk uraufzuführen. Doch dann zeigten sich alsbald die ersten Probleme mit den Kulturpolitikern der SED, denn am 15. Januar 1951 notiert Brecht im Tagebuch: »Vormittags Gespräch mit Dessau. Die Chorproben zu »Lukullus« haben schon angefangen, aber jetzt fordert das Volksbildungsministerium die Partitur noch einmal ein, und Dessau würde lieber die Aufführung auf den Herbst verschieben. Ich bin dagegen. Der Stoff ist eben wichtig, wo die amerikanischen Drohungen 3 so hysterisch sind. Natürlich fürchtet Dessau Angriffe auf die Form, aber selbst die werden, sollten sie beabsichtigt sein, weniger drastisch sein, solange der Inhalt so wichtig ist. Schließlich ist sowohl Dessau wie ich davon überzeugt, dass die Form der Oper die Form ihres Inhalts ist. Außerdem muss man die Kritik nie fürchten; man wird ihr begegnen oder sie verwerten, das ist alles. Und warum sollten wir annehmen, dass die Situation im Herbst günstiger sein würde, wenn wir nicht im Frühjahr uns darum bemüht haben? Die Lähmung, welche der Kontakt mit den neuen Schichten von Hörern bei den Musikern ausgelöst hat, muss überwunden werden. Man muss sich engagieren, und man wird sehen.« 4

Diese Zuversicht erwies sich jedoch als deutlich übertrieben, denn es waren weniger die »neuen Schichten von Hörern«, sondern die selbsternannten kulturpolitischen Linienbolde der SED, die massive Lähmungen bei der Arbeit an dieser Produktion verursachten, denn das ZK der SED verfiel sofort in Sorge, diese neue Oper könnte die gleichen Fehler aufweisen, die der allmächtige sowjetische Kulturfunktionär Andrej Shdanow kurz vorher an einer Oper des georgischen Komponisten Muradeli zu bemängeln hatte, und verlangte deshalb selbst noch einmal von der Deutschen Staatsoper einschlägige Unterlagen, um Text und Musik dieses neuen Werkes überprüfen zu lassen, und schickte außerdem eine Delegation zum Besuch einer Probe, die dann zu dem Ergebnis kam, diese Musik enthalte »alle Elemente des Formalismus«, zeichne sich aus »durch ein Vorherrschen destruktiver, ätzender Dissonanzen und mechanischer Schlagzeuggeräusche«, und »das Mittel des Dreiklangs und der Tonalität« werde, wenn überhaupt, nur »zum Zwecke der Parodie oder der archaisierenden Mystik« verwandt, und deshalb sei diese Musik Dessaus »abzulehnen«, denn:

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»Diese Musik scheint uns genau von der Art zu sein wie die, gegen die sich das ZK der KPdSU(B) und Genosse Shdanow anläßlich der Aufführung der Oper »Die große Freundschaft« von Muradelij vor drei Jahren so scharf wandten.« 5

Gegen diese Berufung auf die höchste Autorität stalinistischer Kulturpolitik konnte man in der neugegründeten DDR eigentlich nicht mehr anargumentieren, weshalb Brecht, als ihm dieser Befund zu Ohren gekommen war, sich in einem längeren Brief am 12. März 1951 direkt an Walter Ulbricht wandte und ihn um Hilfe bat, indem er die Aufführung dieser Oper nicht so sehr als eine künstlerische, sondern als eine politische Maßnahme ersten Ranges darstellte und die Entstehung von Text und Musik so weit vorverlegte, dass dieses Werk nicht als bewusster Verstoß gegen die Einwände verstanden werden konnte, die Shdanow gegen Muradelis Oper erhoben hatte. Der Brief lautet: Werter Genosse Ulbricht, gegen die Aufführung der Oper »Das Verhör des Lukullus«, deren Text von mir stammt, werden formale Bedenken betreffs der Musik erhoben – sie scheint ernstlich gefährdet. Die Oper ist eine einzige Verurteilung der Raubkriege, und angesichts des schamlosen Herbeiholens der alten Generäle zum Zweck eines neuen Angriffskriegs in Westdeutschland ist ein solches Werk, in dem ein Eroberer des Altertums von einem Gericht der Nachwelt verdammt wird, in einer Stadt wie Berlin, in der eine starke Ausstrahlung nach dem Westen erfolgen kann, doch wohl aufführenswert. Ich bin nicht für Gleichgültigkeit in der Frage der Form. Ich glaube, dass wir uns besonders um die Verständlichkeit bemühen müssen. Der Text der Oper wurde 1937, die Musik 1944 geschrieben, und das Werk kann also kaum das Werk sein, das das lange erwartete Vorbild einer Form gibt. Ich weiß nicht, ob die Musik ohne weiteres verständlich ist, aber die Oper, ihre Tendenz und ihr Inhalt, ist ohne weiteres verständlich, und nach meiner Meinung sollten wir uns, bis die schwierigen Formfragen gelöst sind, zunächst am Inhalt orientieren. Schließlich können ja die Künstler die Frage der Form auch nur vom Inhalt her lösen. Ich bitte Sie, mir da zu helfen. Mit sozialistischem Gruß Ihr Bertolt Brecht 6

Dieser Brief kam leider zu spät an, denn am selben Tag, also am 12. März 1951 hatte das ZK der SED unter der Leitung von Walter Ulbricht schon getagt und den Entschluss gefasst:

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»Die Oper »Das Verhör des Lukullus« von Brecht/Dessau ist nicht öffentlich uraufzuführen und vom Spielplan abzusetzen. Der Volksbildungsminister Genosse Wandel wird aufgefordert, unverzüglich die schon angesetzte Premiere abzusetzen und zu veranlassen, dass das Stück überhaupt nicht auf den Spielplan kommt. Es ist eine Untersuchung durchzuführen, wer im Volksbildungsministerium verantwortlich ist für die Bestätigung dieses Stückes auf dem Spielplan der Staatsoper. Am 13. 3. findet nach einer Probe in den Räumen der Staatsoper eine Diskussion über die Oper statt, an der namhafte Genossen und Künstler sowie Kulturfunktionäre von Berliner Betrieben, FDJ-Funktionäre, Mitglieder der Akademie der Künste, des Kulturbundes usw. teilnehmen.« 7

Mit diesem Beschluss war der kulturpolitische Schauprozess gegen Brecht und Dessau eröffnet, bei dem beide gegen die geballte Meinungsmacht von Staat und Partei und außerdem noch gegen die »Stimme des werktätigen Volkes« anzutreten hatten, und nun musste sich die Frage »Wer wen?« für Brecht zum ersten Mal entscheiden. Bei dieser Diskussion im Anschluss an die Probe einiger Szenen waren neben Mitgliedern des Ensembles der Produktion Vertreter der Akademie der Künste, der SED-Massenorganisationen FDJ und FDGB, sowie der zuständige Minister für Volksbildung Paul Wandel anwesend, im ganzen etwa 150 Personen, von denen sich etwa zwei Dutzend zu Wort meldeten. Doch eine Diskussion in dem Sinne, dass Partner von vergleichbarer Fachkompetenz auf Augenhöhe um die Lösung eines Problems streiten, war diese Veranstaltung durchaus nicht, sondern eher ein Schauprozess, in dem die beteiligten Künstler als Angeklagte vorgeführt wurden, deren Schuld von vornherein feststand, und alle anderen als Ankläger auftraten. Die Vorwürfe, die gegen Werk und Inszenierung vorgetragen wurden, liefen letztlich darauf hinaus, Brecht und Dessau hätten sich mit ihrem Werk »weit von unseren Werktätigen entfernt« (S. 87), sie seien »nicht auf dem richtigen Weg« (S. 94) und somit im Gegensatz zu den Massen, die schon »ein Stück weiter« (S. 97) seien. Deshalb sei es auch »falsch, wenn man Künstler wie Brecht und Dessau schont.« (S. 99) Hier wird also schlichtweg behauptet, in der eben erst gegründeten DDR laufe ein integraler historischer Prozess in Staat und Gesellschaft ab, bei dem alle Beteiligten in vollem Einverständnis zu agieren haben, ganz so wie in einem Ameisenvolk alle in exakt gleicher Geschwindigkeit marschieren, sodass weder Staus noch Lücken auftre500 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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ten können. Das Tempo aber bestimme eindeutig die Partei. Und das heißt sofort auch: Wer bei diesem umfassenden historischen Prozess drängelt oder lahmt, versündigt sich am Ganzen und muss bestraft werden, wenn er nicht gewillt ist, sich in diesen integralen Gleichschritt einzufügen. Genau so hatte es ja Brecht selbst als kommunistischer Konvertit selbst formuliert, als er die Kommunistische Partei als die volonté générale der Geschichte feierte und sich von ihr sagen ließ: Zeige uns den Weg, den wir gehen sollen, und wir Werden ihn gehen wie du, aber Gehe nicht ohne uns den richtigen Weg Ohne uns ist er Der falscheste. Trenne dich nicht von uns! (S. 236)

Außerdem wird in dieser Diskussion immer wieder beklagt und angemahnt, der Text zeige keine positiven Helden (S. 110), Gestalten also, in denen sich der Fortschritt verkörpert, sondern er zeige nur »negative Helden« (S. 114), denn: »Hier wird nur der Held zerstört, es tritt kein neuer auf.« (S. 115) Die Kritik an Dessaus Musik war nicht weniger harsch, dem man ebenfalls vorwarf, er sei »in dieser Oper nicht auf dem richtigen Weg« (S. 85), denn er arbeite nur »mit den Mitteln der Negation« (S. 85), weil in ihr »das Volkstümliche« (S. 86) fehle, womit er sich »weit von unseren Werktätigen entfernt habe« (S. 87). Mit einem Wort: »Dieses Werk hilft uns nicht weiter; es zerschlägt nur eine alte Welt« (S. 90 f.), weil Dessau »mit musikalischen Mitteln der Destruktion arbeitet.« (S. 91) Und deshalb wird auch gefordert, dass Dessau »dieses Stadium, das nicht das richtige ist, überwinden muss.« (S. 103) Der einzige Ausweg, den die Vertreter der Massenorganisationen sehen, um diesen Komponisten aus seiner Isolation zu holen und wieder auf den rechten Weg zu bringen, lautet daher: »Ich würde empfehlen, doch einmal diese Musik, Stücke oder Ausschnitte daraus, in einem Betrieb zu bringen und dann mit den Arbeitern zu diskutieren, wie sie diese Musik verstehen, wie sie sie auffassen.« (S. 103)

Ein anderer Oberzuhörer meinte: »Was wir hier hören, ist nicht Musik, sondern Unmusik und auf weiten Strecken Geräusch.« (S. 108) Und ein Vertreter der FDJ stieß ins gleiche Horn, verwies aber auch auf größere Zusammenhänge, die hier beachtet werden müssten, indem er ausführte: 501 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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»Ich betrachte die Oper nicht vom musikalischen Standpunkt aus, sondern vom Kampf um den Frieden. Jedes Kunstwerk muss aktiv dem Frieden dienen. Nicht allgemein, sondern vom Standpunkt unserer jungen Aktivisten aus, der Friedenskämpfer etc., müssen wir es ablehnen. Man bekommt keine Kraft aus diesem Stück, man sollte es absetzen, es zeigt keinen Ausweg. Zu dem ›Abgleiten‹ ins Volkstümliche: dieser Standpunkt hilft dem Krieg. Diese Oper ist nicht aufgebaut auf dem gesunden Kulturerbe, sie fördert nicht das, was wir Jungen suchen. Wir wollen nicht abrutschen ins Volkstümliche, sondern hinaufgleiten. Man soll die Oper nicht spielen, man gibt einem Kranken auch keine Medizin, die nicht hilft.« (S. 109)

Paul Dessau gab sich ganz bescheiden, empörte sich auch nicht über die banausenhaften Einwände, die er sich da hatte anhören müssen, verwahrte sich aber entschieden gegen den Vorwurf, er sei isoliert oder habe sich isoliert, sondern verwies auf seine Zusammenarbeit mit verschiedenen Massenorganisationen der SED und der FDJ und schloss seine kurze Stellungnahme mit dem Satz: »Ich fühle mich zu Hause in der Deutschen Demokratischen Republik wie in keinem Land der Welt.« (S. 113)

Brecht hielt sich in dieser »Diskussion« ebenfalls sehr zurück und ließ diese sehr laienhaften Stellungnahmen erst mal über sich ergehen, ergriff dann aber doch das Wort und verlangte eine echte Diskussion mit Experten, und auch diese erst dann, wenn die Inszenierung soweit gediehen sei, dass man bei einem Durchlauf auf die endgültige Gestalt der Inszenierung schließen könne, weil man erst dann beurteilen könne, wie dieses Werk wirken werde, denn: »Ein solches Kunstwerk ist untrennbar. Sie hören eine Musik vollkommen anders, wenn Sie dazu etwas anderes sehen. Sie ist geschrieben zu etwas, was Sie sehen sollen.«

Und dann fügt er noch hinzu: »Ich bitte Sie wirklich, in dieser Phase [des Produktionsprozesses, L. P.] die Diskussion zu beenden und den unmittelbar beteiligten Spezialisten zu überlassen, ihre Wahl auszusprechen und Entscheidungen zu treffen.« (S. 121)

Dieser salomonische Vorschlag zur Güte scheint gewirkt zu haben, denn nachdem sich die große Diskussionsrunde zerstreut hatte, setzte man sich im kleinen Kreis nochmal zusammen und kam auf Vorschlag Brechts zu dem Beschluss, die Inszenierung auf dem aktuellen

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Produktions-Niveau am 17. März in einer geschlossenen Vorstellung vor geladenem Publikum 8 vorzuführen. Doch nun setzte sich der Kleinkrieg zwischen den Kulturpolitikern der SED auf der einen Seite und dem Gespann aus Brecht/Dessau, dem Dirigenten Hermann Scherchen und dem Intendanten Ernst Legal auf der anderen Seite auf einem ganz anderen OrganisationsNiveau als Kampf um die Karten für diese geschlossene Vorstellung fort, denn die beteiligten Künstler verlangten kategorisch 200 Karten, um damit eine Claque zusammenzustellen, die ein Mindestmaß an Zustimmung sichern sollte. Im Gegenzug dazu verlangte das Ministerium für Volksbildung den großen Rest der Karten, um diese auf Genossen von SED, FDJ, FDGB und Volkspolizei zu verteilen und damit ebenfalls eine Claque zusammenzustellen, die ein Mindestmaß an Ablehnung der Lukullus-Inszenierung sicherstellen sollte, denn die Karten wurden den entsprechenden Verteilern ausdrücklich »mit der Aufforderung zugesandt, gute und bewusste Genossen und Freunde, von denen man eine gesunde Einstellung zu dieser formalistischen Musik erwarten konnte, zu schicken. Alle Stellen waren informiert, worauf es in dieser Diskussion ankam.« (S. 243)

Damit war endgültig geklärt, was die SED unter einer kulturpolitischen »Diskussion« und »Hilfe« verstand, nämlich die öffentliche Verurteilung, Ächtung und Brandmarkung eines unliebsamen Künstlers. Oder anders formuliert: So wie im Stück über Lukullus der Stab gebrochen wird, so sollte die von der SED als Gegen-Claque bestellte volonté générale der werktätigen Massen über Brecht und Dessau urteilen und zu dem Schluss kommen: Ah ja, ins Nichts mit ihm! (…) Wie lange noch Dulden wir und dulden die Unsern sie? Ah ja, ins Nichts mit ihm und ins Nichts mit Allen wie er! (S. 40)

Doch das beim Fußvolk der SED vorausgesetzte gesunde Volksempfinden erwies sich als sehr ungesund, vielleicht aber auch, je nachdem, als ganz besonders gesund, denn die meisten der Geladenen verzichteten darauf, die Lukullus-Oper zu besuchen, bloß um sie auszupfeifen, und verkauften ihre Freikarten in West-Berlin, und das auf diese Weise zustande gekommene Premieren-Publikum bereitete der Inszenierung einen »demonstrativen Beifall«. 9.

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Da die Vorgeschichte dieser Premiere natürlich auch in WestBerlin bekannt war, strotzte dort die Berichterstattung über diese Premiere in den meisten Zeitungen geradezu von ätzender Häme. So heißt es z. B. unter der Schlagzeile Befohlener Durchfall fiel aus, nachdem die Vorgeschichte der Produktion kurz dargestellt wurde: »Am Sonnabend ging der Vorhang hoch. Vor einem halb kommandierten, halb heimlich eingeschlichenen Publikum. Die Aufführung dauerte nur zwei Stunden. Nach den ersten Szenen gab es noch Pfiffe und Buh-Rufe. Doch schon setzte der Beifall ein, der zum Schluss zu einem Orkan der Zustimmung anschwoll. Dichter und Komponist küßten sich vor dem Vorhang ab. Der befohlene Durchfall fiel aus. Auch [der Intendant, L. P.] Ernst Legal stellte sich neben Brecht. Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht hatten beim ersten Beifall sofort das Haus verlassen. Auf dem Bahnsteig des S-Bahnhofs Friedrichstraße erkundigte sich ein zum Auspfeifen hingeschickter Volkspolizist bei mir, was denn an diesem Stück so volksfremd sei, dass er hätte pfeifen sollen. Um sich restlos zu blamieren, gab die Regierung heute morgen bekannt, dass die für Dienstag angesetzte Wiederholung ausfällt. Statt ihrer bringt man – ausgerechnet – »Tiefland«. Ja, das ist’s, jenseits des Brandenburger Tors.« (S. 323)

Die Kritik des offiziösen Parteiblatts der SED Neues Deutschland war natürlich ein deutlicher Verriss, in dem es hieß, Autor und Komponist hätten sich »in ein Experiment verirrt, das aus ideologischen und künstlerischen Gründen misslingen musste und misslungen ist.« Und dann folgt sofort ein veritabler Angriff auf die Theaterleitung, in dem der Kritiker Heinz Lüdecke genau den Ton anschlägt, den Jahre vorher schon Semjonow in seiner Kritik von Ruslan und Ludmilla angeschlagen hatte, und rügt, die Theaterleitung sei weit hinter der objektiven Entwicklung der Massen zurückgeblieben und von ihnen völlig isoliert: »Es ist nicht recht begreiflich, warum die Deutsche Staatsoper diese Oper einstudiert hat. Sie hätte sich bei richtiger Einschätzung sagen müssen, dass unsere Bevölkerung nach der Schule des Hitlerkrieges und eines fünfjährigen Friedenskampfes wachsende Ansprüche erhebt. Offensichtlich orientiert sich die Intendanz der Staatsoper weniger auf die weiten fortschrittlichen Kreise unseres Volkes als vielmehr auf eine kleine Minderheit stagnierender Intellektueller.« (S. 330)

Obwohl die Oper nach der Premiere sofort wieder abgesetzt 10 wurde, hätte Brecht eigentlich triumphieren können, weil ihm ein Sieg über die kulturpolitischen Linienbolde der SED gelungen war. Doch das tat 504 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Zumutung I: Der Streit um die Lukullus-Oper

er wohlweislich nicht, denn diese Triumph-Bekundungen hätte man ihm nie verziehen, schon deshalb nicht, weil dieser Theater-Erfolg durch die Beihilfe des Klassenfeindes in Gestalt des Westberliner Premieren-Publikums zustande gekommen war. Deshalb gab er sich erst mal keunerisch unterwürfig und schrieb zwei Tage nach der Premiere einen überaus devoten Brief an Walter Ulbricht, in dem man selbst beim besten Willen keinerlei Ironie-Signale erkennen kann, denn er lautet: Werter Genosse Ulbricht, ich möchte Ihnen und den Genossen dafür danken, dass die Aufführung der Dessauschen Oper ermöglicht wurde. Dies zeigt großes, kameradschaftliches Verständnis der Republik für die Schwierigkeiten der Künstler in dieser Phase des Umbaues. Für die Künstler wie für den fortschrittlichsten Teil des Publikums klärt so eine Veranstaltung den Weg, den Kunst und Publikum einzuschlagen haben. Wir schreiben den Beifall einerseits der mustergültigen Aufführung zu, andererseits der Friedenstendenz des Werkes. Glauben Sie mir, dass Dessau die Bedenken, die gegen die Musiksprache laut wurden, sehr ernst nimmt. Ich selbst bin tief überzeugt, dass es letzten Endes doch Äußerlichkeiten sind, die die Musik für das neue Publikum schwierig machen mögen, Schwierigkeiten, die der Komponist bei seiner großen Begabung und seiner Stellung zu diesem Publikum unzweifelhaft wird abstreifen können. Sein Ziel ist eine verständliche, realistische Volksoper, von der neue sozialistische Impulse ausgehen. Mit nochmaligem Dank und sozialistischem Gruß Ihr Bertolt Brecht. (S. 180 f.)

Analoge Briefe schrieben er und Dessau auch an den Minister für Volksbildung Paul Wandel (S. 181), an den Kulturfunktionär Hans Lauter (S. 182) und Wilhelm Pieck (S. 184 f.), in denen sie ihre Bereitschaft erklärten, ihr Werk nochmal zu überarbeiten, woraufhin es tatsächlich zu einem klärenden Gespräch im kleinen Kreis bei Wilhelm Pieck kam, an dem auch Otto Grotewohl, Paul Wandel, Anton Ackermann und Hans Lauter teilnahmen und in dem man sich darauf einigte, dass die umgearbeitete Fassung in der Spielzeit 1951/52 im normalen Spielbetrieb uraufgeführt werden sollte. Bei diesem Beschluss dürfte die Stimme von Wilhelm Pieck ausschlaggebend gewesen sein, der mit Brecht seit langer Zeit befreundet war, als ein Freund der Künste und auch der Künstler galt und als Staatspräsident der DDR außerdem der eigentliche Hausherr der Berliner Staatsoper war.

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Auch jetzt hätte Brecht wieder triumphieren können, tat es aber auch jetzt nicht und hütete sich auch, öffentlich von einem Verbot 11 der Lukullus-Produktion zu reden, sondern reagierte wieder ganz keunerisch unterwürfig, indem er den am Gespräch bei Pieck beteiligten Genossen all die Änderungen zusandte, die er am Text vornahm und sie höflich fragte, ob sie diesen neuen Text 12 vielleicht akzeptieren könnten. Auf diese Weise wurde aus dem Verhör des Lukullus eine Verurteilung des Lukullus, und die Verurteilung des Lukullus, die schon in der ersten Fassung sehr entschieden war, wurde noch weiter gesteigert, sodass der Titel der neuen Fassung auch die »Verdammung«, die »Verfluchung« oder »Vernichtung« des Lukullus hätte verkünden können. Und ähnliche Änderungen nahm Dessau in der Musik vor, die stellenweise etwas gefälliger klang. In dieser Form wurde die Oper dann am 12. Oktober 1951 uraufgeführt. Die SED war aber immer noch nicht zufrieden mit dieser neuen Fassung und ließ in ihrem Parteiblatt Neues Deutschland durch den Chefredakteur Wilhelm Girnus persönlich monieren, dass auch diese neue Fassung nicht mit den Dogmen des sozialistischen Realismus im Einklang stehe, weil dieser imperialistische Feldherr Lukullus nicht durch eine Revolution der fortschrittlichen Massen gestürzt, entmachtet und vernichtet, sondern bloß durch metaphysische Mächte verurteilt wird: »Es muss festgestellt werden, dass die neue Fassung einen erheblichen Fortschritt gegenüber der ursprünglichen Gestalt darstellt, weil eine Reihe von Schwächen, die ihr anhafteten, ausgemerzt sind. Indes, es darf nicht übersehen werden, dass dem Werk trotzdem die eigentliche dramatische Spannung, die den Zuhörer aus innerer Notwendigkeit zum Mitwirkenden und Parteiergreifenden macht, fehlt, weil sich die Überwindung und Vernichtung des Eroberers nicht in der lebendigen Wirklichkeit, nicht im tatsächlichen Kampfe der progressiven Kräfte der Völker gegen ihre Blutsauger vollzieht, sondern sozusagen nachträglich im Reich der Schatten reproduziert, in dem kein eigentlicher Kampf mehr stattfindet, sondern nur noch das Resultat in Gestalt des Urteils erscheint, das von vornherein feststeht. Dadurch gerät die ganze Konzeption in die gefährliche Nähe des Symbolismus. Es zeigt sich hier, dass das heroisierende Kostüm der Antike, dessen sich die bürgerliche Revolution in ihrer heroisierenden Periode 13 mit Erfolg bediente, zu den fortschrittlichen Potenzen unserer Epoche nicht mehr passt. Sie sind zu mächtig, als dass man sie da noch hineinzwängen könnte, und die führende Kraft unserer Zeit, die Arbeiterklasse, ist in ihrem Wesen selbst heroisch.« 14

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Zumutung II: Der Streit um Eislers Faustus-Libretto

Brechts keunerische Geschmeidigkeit und hinhaltender Widerstand hatten sich also bewährt, sodass die Causa Lukullus in der Tat modellhaft war und das Modell für die Art und Weise hätte abgeben können, wie man den Kulturpolitikern der SED mit List und Tücke und demonstrativem Gehorsam einiges abtrotzen konnte, und Brecht hatte in der Tat vor, ihnen noch einiges abzutrotzen, denn er hatte ja immer noch nicht sein eigenes Theater bekommen, um dort Stücke seiner Wahl und v. a. die eigenen modellhaft aufzuführen. Deshalb schien es ihm geraten, in dieser geschmeidigen Art weiter zu agieren, möglichst wenig Anstoß zu erregen und auf seine Chance zu warten.

10.3 Zumutung II: Der Streit um Eislers Faustus-Libretto 10.3.1 Eislers Faustus-Libretto im Kontext der Faust-Literatur Ende August 1952 hatte Brecht eine ganze Woche mit Eisler zusammengesessen, um mit ihm dessen Faustus-Manuskript dramaturgisch durchzuarbeiten. Dass er dies tat, war wohl nicht nur ein Freundschaftsdienst für Eisler, mit dem er oft und gern zusammengearbeitet hatte, sondern lag sicher auch daran, dass Eisler in seinem Johann Faustus einen politischen Renegaten zeigt, der am Ende über sich selbst Gericht hält und sich geradezu verflucht, denn genau so sah Brecht ja auch seinen Galilei, dessen Verhalten er im Laufe der Arbeit an dem Stück immer kritischer bewertet hatte: »Eisler hier mit seinem ›Faust‹. Wir gehen das Ganze durch, straffen, bringen alles so gut wie möglich in Fokus, oft keine Kleinigkeit bei der Eigenwilligkeit des Werks, das ohne Eislers Kunstverstand ein Sammelsurium von Stilelementen wäre. Es glückt etwa die Umformung des kleinen (dramaturgisch übrigens fraglichen) Orpheusballetts im dritten Akt. Faust wird nicht nur von den Hörern (Studenten) ausgepfiffen; er macht sich vielmehr ihr Urteil zu eigen und kehrt so auf seiner Rückkehr zur Antike selber um (»Was soll uns Orpheus?«). Die Arie selber bekommt einen andern Schluss, nachdem Hanns in meinem Horaz fand, dass Orpheus nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen gebändigt habe. Welches Kunststück er – interessant für unsere Kunstkommission – durch Singen und nicht etwa durch Singen von Menschlichkeit zustande brachte.« 1

Dieser Hinweis auf Notwendigkeit, die Kunstkommission irgendwie bändigen zu müssen, kam nicht von ungefähr, denn die »Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten« 2, wie sie offiziell hieß, war 507 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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gerade ein Jahr vor diesem Gespräch zwischen Brecht und Eisler im August 1951 gegründet worden, war dem Ministerium für Volksbildung zugeordnet und fungierte faktisch als eine Zensur-Behörde, die die Aufgabe hatte, das gesamte kulturelle Geschehen der DDR zu überwachen. Der entscheidende Mann in dieser Kommission war Wilhelm Girnus, alles andere als ein Freund Brechts, sondern ein hartgesottener Linienbold vom Schlag Kurellas. Nun haben wir ja schon im Kapitel über den Streit um die Lukullus-Oper gesehen, wie ungeniert und selbstherrlich, aber auch wie unbedarft bestimmte Kulturpolitiker der SED vorzugehen pflegten, wenn es galt festzustellen, ob ein Kunstwerk in dem Maße »historisch richtig« und »politisch nützlich« sei, wie die Partei dies verlangte. Im Streit um Eislers Faustus-Libretto verschärfte sich der Ton in der Debatte um einiges, weil es hier nicht allein um Machtfragen ging, sondern außerdem noch um die Frage, bei wem die Deutungshoheit im Umgang mit dem nationalen kulturellen Erbe liegen soll, das man dem Bürgertum entreißen wollte, um es heil und rein zu bewahren und weiterzutragen, weil das deutsche Bürgertum dieses nationale humanistische Erbe in der Epoche des Imperialismus und v. a. im Faschismus so fatal verraten habe. Außerdem ging es um die Frage, wie frei man als Künstler mit bestimmten tradierten Stoffen und Motiven umgehen darf, insbesondere mit Stoffen und Motiven, die zentral zum nationalen Erbe gehören. Deshalb war es in dieser Situation der frühen DDR schon von vornherein ein hohes Risiko für Hanns Eisler, sich überhaupt an den Faust-Stoff heranzuwagen, weil sich gerade an diesen Stoff im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte in Deutschland die Aura der »faustischen Ideologie« angelagert und ihn geradezu tabuisiert hatte. Eigentlich ist dieser Vorgang schon seltsam genug, denn der historische Johann Faust (ca.1480-ca.1540) aus Knittlingen war offensichtlich keine besonders eindrucksvolle Gestalt, vor der man vor Verehrung in die Knie hätte gehen müssen, sondern eher ein Hochstapler und Scharlatan 3 und alles andere als eine exemplarische Leitgestalt. Es war wohl die spektakuläre Mär von seinem Pakt mit dem Teufel, die ihn in religiös bewegten Zeitläuften als Gestalt etwas interessanter machte als andere seiner Zeitgenossen, die sich viel eher geeignet hätten, zum Repräsentanten eines deutschen Humanisten der frühen Neuzeit erhoben zu werden. Man denke nur an Geister wie Johannes Reuchlin (1455–1522), Conrad Celtis (1459–1508), Ulrich von Hutten (1488–1523), oder Paracelsus (1493–1541). 508 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Zumutung II: Der Streit um Eislers Faustus-Libretto

Und eigentlich hätte man auch erwarten können, dass in Zeiten zunehmender religiöser Gleichgültigkeit das Interesse an einem Teufelsbündner eher abnehmen sollte, doch das war durchaus nicht der Fall, weil sich auch das Thema der Abwendung vom christlichen Glauben an dieser Faust-Gestalt festmachen und ausagieren ließ, wie dies v. a. in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts der Fall war. Diesen Prozess kann man in dem schönen kleinen Buch von Klaus Völker Faust. Ein deutscher Mann gut verfolgen, weshalb diese Studie auch mit Recht den Untertitel trägt: »Die Geburt einer Legende und ihr Fortleben in den Köpfen«, weil Völker eben nicht nur die Rezeptionsgeschichte des Faust-Stoffes, sondern auch die ideologische Überhöhung der Faust-Gestalt und die Entstehung der »faustischen Ideologie« in der Rezeptionsgeschichte von Goethes Faust kurz skizziert und außerdem noch auf Thomas Manns Faustus-Roman und auf Eislers Faustus-Libretto verweist, die beide wieder auf das Volksbuch 4 von 1587 bzw. auf das Puppenspiel 5 zurückgreifen. Das ergänzende wissenschaftliche Gegenstück zu Klaus Völkers Faust-Buch ist Hans Schwertes rezeptionsgeschichtliche Studie Faust und das Faustische, die schon mit dem Untertitel »Ein Kapitel deutscher Ideologie« 6 deutlich macht, dass hier die ideologische Überhöhung von Goethes Faust zur »faustischen Ideologie« im Zentrum des Interesses steht, weshalb er die Rezeptionsgeschichte von Goethes Stück in Epochen gliedert, in denen sich »kritische Abwertung« und »ideologische Aufwertung« mehrfach abwechseln, und dabei wird uns der machtvolle Schub ideologischer Aufwertung durch die Reichsgründung von 1871 am meisten beschäftigen, weil diese ideologische Aufwertung besonders fatale Folgen hatte. Bei seinen Recherchen zum Faust-Stoff muss Eisler schon sehr früh auch auf die Arbeiten von Friedrich Theodor Vischer gestoßen sein, mit denen er die Anregungen aus dem Puppenspiel ergänzen konnte. Wahrscheinlich geschah dies über Schriften von Georg Lukács, der in seinen Faust-Studien von 1950 die Politikferne von Goethes Faust-Gestalt beklagt und in dem Zusammenhang auf einen von Vischer entworfenen Plan 7 verwiesen hatte, in dem dargestellt wird, wie Goethe den zweiten Teil seines Stückes hätte schreiben müssen: »Er fordert Fausts Teilnahme am Bauernkrieg, und zwar als Liberalen, der alle ›Greuel‹ der Revolution vermeiden will; Mephistopheles jedoch, mit dem Faust schon früher gebrochen hat, soll sich in die aufständische Bewegung einschleichen, sie als ›Radikaler‹ auf die Spitze treiben, ›Exzesse‹ ver-

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ursachen, die Faust zwar nicht will, für die er aber verantwortlich ist. Die Reue darüber soll die Läuterung Fausts hervorrufen.« 8

An diesem Plan moniert Lukács allerdings die ihm zugrundeliegende »liberale Geschichtsphilosophie, (…) nach der die wirklichen Vertreter des mephistophelischen Prinzips die plebejischen Revolutionäre, die Müntzer und Robespierre, gewesen wären.« (S. 158) Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) hatte in den 1830er-Jahren die bis dahin vorliegende Literatur zu Goethes Faust gesichtet und ausführlich rezensiert, und dies natürlich aus der Sicht eines Liberalen und im Geiste des Vormärz, sodass er die Fragestellungen der eigenen Zeit in die Zeit des historischen Faust projizierte, und dann fasste er diese Kritiken 1844 unter dem Titel Kritische Gänge mit einigen anderen Kritiken zu einem Buch zusammen, zu dem er im Vorwort schrieb: »Goethe gedachte im zweiten Teil seinen Helden in höhere, bedeutendere Sphären zu führen, aber er hat es schlecht genug angegriffen. Wollte man Faust in die geforderte politische Lage bringen, ohne die Einheit der Zeit zu sehr zu verletzen, so ließe sich hiezu der B a u e r n k r i e g benützen, diese einzige Erscheinung in der Geschichte des deutschen Volkes, welche, getragen von den reinsten und edelsten Ideen über Freiheit und Menschenrecht, an der Unreifheit der Zeit, an der inneren Unfreiheit der kirchlichen Reformatoren, welche hier geradezu in Schlechtigkeit übergieng, aber auch an der Wildheit schrankenloser Rachsucht und an der Uneinigkeit, wodurch die Unternehmung sich selbst trübte, tragisch gescheitert ist. Der Bauernkrieg wäre eine Situation, welche alle Ideen der späteren politischen Revolution, selbst die neuesten des Kommunismus nicht ausgeschlossen, im Keime enthält; sie wäre symbolisch in dem erlaubten Sinne, durch welche die Wahrheit, die individuelle Haltung und der historische Charakter der wahren Poesie nicht aufgehoben wird. Der Bauernkrieg wäre nur deswegen ein Symbol der modernen Revolution, weil er wirklich der Anfang derselben ist. Faust nun müsste vorher von der Reformation ergriffen und begeistert sein und würde mit Jubel diese Frucht derselben, das Erwachen der politischen Persönlichkeit im Volke begrüßen, er würde als Anführer an die Spitze einer Bauernschar treten.« 9

Dann beschreibt Vischer ausführlich die Greueltaten der durch Mephisto aufgehetzten Bauern, die Faust zu der Einsicht zwingen, die Zeit sei für eine Revolution noch nicht reif, weil die Revolutionäre noch nicht reif genug 10 seien, und deshalb müsse Faust den Vorsatz fassen,

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»ehe er wieder mit solcher Hast in die Wirklichkeit übergreife, sein Inneres durch neue, anhaltende Beschäftigung mit sich selbst erst noch tiefer zu bilden und zu reinigen. Dies wäre dann der Schluss des Gedichts, nach meiner Ansicht der einzig mögliche und richtige.« (S. XVIII)

Doch dann fügt Vischer noch einige Überlegungen hinzu, an denen man ablesen kann, wie schon bei ihm der Faust-Stoff sich sowohl von der Gestalt des historischen Johann Georg Faust aus Knittlingen wie von Goethes Dramengestalt ablöst und sich zum deutsch-faustischen Prinzip ideologisiert: »Allein Faust ist nicht bloß dieser einzelne (Mensch), er ist der strebende Menschengeist, er ist bestimmter der strebende Geist in der großen Krise des achtzehnten Jahrhunderts, da dem Bewusstsein zuerst seine subjektive Unendlichkeit aufgieng, er ist noch näher gefasst dieser Geist in der besonderen Bestimmung des deutschen Naturells.« (S. XIX)

Und dieses deutsche Naturell ist laut Vischer dazu bestimmt, das Erbe der Französischen Revolution zwar zu übernehmen, aber auch durch eine spezifisch deutsche Revolution zu überbieten, sobald dies die Zeit möglich macht. Und deshalb sei laut Vischer auch die Hoffnung erlaubt, »dass vielleicht das deutsche Volk, das so lange in politischem Schlummer begraben nur in den Bergwerken der inneren Bildung arbeitete, einst noch beweisen werde, dass es auch [politisch, L. P.] handeln kann, dass aber seine Handlung reiner und fruchtbarer sein wird, weil eine lange, gründliche, tiefe Bildung des Denkens dieser Handlung voranging. So wäre dieser Faust und dieser Schluss ein Vorbild und Zeichen unserer Hoffnungen und Zukunft.« (S. XIX)

Den eigentlichen Plan zur Gestaltung einer Szenenfolge entwickelte Vischer aber erst 1861 in dem Aufsatz Zum zweiten Teile von Goethes Faust 11, in dem er eine sehr detaillierte Reihenfolge von Szenen entwickelte, von denen dann wiederum Eisler einige in sein Libretto übernehmen konnte. Allerdings verstand Eisler sein Werk nie als Fortführung oder als Korrektur von Goethes Faust, sondern als ganz eigenständige Neufassung des Faust-Stoffes. Und deshalb wählte er auch einen ganz anderen Schluss als den von Vischer geforderten liberalen Schluss, denn bei Vischer triumphiert zunächst Mephisto über den sterbenden Faust mit dem Schrei »Er ist mein!«, wird dann aber sofort durch einen Chor himmlischer Heerscharen korrigiert, denn:

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»In diesem Augenblick öffnet sich der lastende graue, wolkige Himmel, der über dem düstern Bild ruhte, ein Chor von Stimmen ruft: ist unser! und in einer Galerie von Lichtern werden die Gestalten sichtbar, von denen der Ruf kam.« (S. 344 f.)

Diesen positiven liberalen Schluss gibt es bei Eisler nicht, denn wie im Faustbuch von 1587 und im Puppenspiel, aber auch wie in Thomas Manns Faustus-Roman setzt Eislers Faust am Ende zu einer großen Wehklage an, in der er sich selbst als Versager und Verräter bezeichnet: Bin der Sohn eines Bauern gwest, Konnt es nicht ertragen, Dass meine Mutter für eine geringe Nuss Mich viermal hat geschlagen. (…) An die Kirchtor von Wittenberg Tät Luther seine Thesen anschlagen. Die Bauern haben gehört Sein groß Anklagen. In Altstadt fingen die Bauern an, Schloss und Kapelle zu plündern. Münzer hat zugesehn, Tät sie nicht hindern. Da bin ich erschrocken. Ich bin zurückgelaufen, Zurück zu Martin Luther. Kam nur vom Regen in die Traufen. (…) Thomas Münzer geschlagen, Furchtbar war die Not. Mit Brennen und Würgen Tobt der Bauerntod. Als sie im Elend schrien, Bin ich gelaufen, Versuchte die Medizin, Kam nur vom Regen in die Traufen. (…) Der eignen Kraft misstrauend, Hab den Herren ich die Hand gegeben. Gesunken bin ich tiefer als tief, Verspielt hab ich mein Leben.

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Denn wer den Herren die Hand gibt, Dem wird sie verdorren. Dem ersten Schritt folgte der zweite; Beim dritten war ich verloren. Nun geh ich elend zu Grund, Und so soll jeder gehen, Der nicht den Mut hat, Zu seiner Sach zu stehn. 12

Und dann wird Faust vom Teufel geholt mit dem Ruf: »Fauste, in aeternam damnatus es.« (S. 82) auf Deutsch: »Faustus, du bist auf ewig verdammt!« Oder auch: »Ins Nichts mit ihm und ins Nichts mit allen wie er! Ins Nichts mit ihm!« Das Puppenspiel endete mit genau denselben Sätzen, denn auch hier schlägt erst mal die Uhr Mitternacht und dann ertönt »eine dumpfe Stimme von oben« und ruft: »Fauste! Fauste! In aeternam damnatus es!« 13 Dann sinkt Faust zusammen, die Teufel ergreifen ihn und schleppen ihn unter einem Feuerregen von dannen, und dann erscheint das Casperle und kommentiert dieses Geschehen mit einer frommen Warnung ans fromme Publikum: Hört, ihr Herrn, ich lass euch wissen, Mit dem Teufel seid ihr stäts beschissen: Er hält nicht, was er auch verspricht, Bis er euch gar den Hals zerbricht. Zwölf ist der Klock, zwölf ist der Klock. (S. 203)

Bei Marlowe fleht Faust nach dem Ablauf der Vertragsfrist Lucifer noch um Erbarmen an, wird aber von Teufeln in Fetzen gerissen, und der Chor kommentiert dieses Ende mit einer eindringlichen frommen Warnung an alle Christenleut: Faust ist dahin. Denkt seinem Sturze nach: Die Weisen möge warnen sein Geschick, Verbotnen Dingen ja nicht nachzuspüren; Denn ihre Tiefe macht, dass mancher glaubt, Er müsse mehr tun als von Gott erlaubt. 14

Ein Schluss dieser Art hätte den Kulturbürokraten von der SED eigentlich gefallen müssen, denn sie hätten dann Eislers Text als Warnungs-Literatur lesen können, also ganz so, wie Volksbuch und Puppenspiel und auch noch Marlowes Faust ja immer gemeint waren, nur mit dem Unterschied, dass hier bei Eisler die Verurteilung Fausts

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nicht nach metaphysischen und religiösen Kriterien erfolgt, sondern nach politischen im Sinne der kommunistischen Soziodizee. Faustus wird dann also nicht verdammt als Sünder und als jemand, der sich gegen den Willen Gottes gestellt hat, sondern als Verräter an der revolutionären Klasse, die sich gerade in einer revolutionären Situation befand und in deren Reihen er konsequent hätte mitkämpfen müssen, weil er ja aus ihr stammte. Dass die Kulturfunktionäre Eislers Text aber ganz anders lasen und sich dementsprechend darüber empörten, hat wesentlich zwei Gründe: Der eine Grund liegt darin, dass der marxistische Literaturwissenschaftler Ernst Fischer an prominenter Stelle Eislers Stück als Beitrag zur Diskussion über die »deutsche Misere« bezeichnet hatte, und dies offensichtlich mit Eislers Zustimmung. Der andere liegt darin, dass sich Eisler in den Augen der kulturpolitischen Linienbolde der SED mit dieser Sicht auf die Faust-Gestalt am unantastbaren »nationalen Erbe« vergangen hatte, weil sie weder fähig noch willens waren, Goethes Faust nur als eine mögliche Gestaltung des FaustStoffes anzusehen, neben der prinzipiell unendlich viele andere ebenfalls möglich sind, und natürlich auch die von Eisler, und weil sie außerdem Goethes Stück in einer dogmatisierten Auslegung lasen, die sie für ›das Stück selbst‹ hielten. Und schließlich projizierten sie diese Sicht auch noch auf die eher kümmerliche Gestalt des Hochstaplers Johann Faust aus Knittlingen, der dadurch zu einer Leitgestalt des nationalen humanistischen Erbes erhoben wurde. Erschienen ist Eislers Libretto Oktober 1952 im renommierten Aufbau-Verlag und außerdem auszugsweise in der nicht minder renommierten Zeitschrift Sinn und Form, und dort ergänzt durch einen Aufsatz von Ernst Fischer mit dem Titel Doktor Faustus und der deutsche Bauernkrieg 15. Als Kommentator zu Eislers Libretto war Ernst Fischer, ein österreichischer Literat und Kulturpolitiker, geradezu prädestiniert, weil er kurz vorher in einem sehr ausführlichen und kritischen, aber blitzgescheiten Aufsatz über Thomas Manns Faustus-Roman Doktor Faustus und die deutsche Katastrophe 16 das gleiche Thema schon einmal behandelt und dabei auf konzeptionelle Schwächen von Thomas Manns Roman verwiesen hatte, vor dem die ›bürgerliche‹ deutsche Germanistik ja geschlossen in die Knie gegangen war. Sein Hauptargument gegen das Konzept dieses Romans, in dem Thomas Mann der Hauptgestalt viele Züge von Nietzsche gegeben hatte, bestand darin, dass auf dem deutschfaustischen Schicksal Adrian Leverkühns ein Fluch lastet, der sein 514 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Schicksal und zugleich damit auch das deutsche Schicksal belastet und aus dem dann auch der Teufelspakt hervorgeht. In diesem in der Tat äußerst fragwürdigem Konzept sieht Fischer mit Recht einen fatalen »Rückfall in die schlimmste Schicksalstragödie« (S. 42). So gesehen ist Thomas Manns Faustus, der Komponist Adrian Leverkühn, in den Augen Ernst Fischers ein klassischer Renegat des Humanismus, der dies selbst auch weiß und dies vor allem auch als sein tragisches Schicksal akzeptiert, weil der Autor ihn sagen lässt: »Es soll nicht sein. (…) Das Gute und Edle, was man das Menschliche nennt, obwohl es gut ist und edel. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündet haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.« 17

Diese zentrale Passage des Romans kommentiert Fischer dann mit den Worten: »Es liegt nahe, den Doktor Faustus von Thomas Mann als die Zurücknahme von Goethes Faust anzusehen. Die große bürgerlich-humanistische Mensch-heitsdichtung wird zurückgenommen, Goethe hat sich geirrt, das Werk des Faust, es war am Ende ja doch nichts als Teufelswerk.« (S. 51)

Aber dann rafft sich Fischer auf, greift mächtig in die Saiten, um das faustische Erbe doch noch zu retten und ruft entschlossen: »Wir aber sagen: »Nein!« zu dieser pessimistischen Konzeption. (…) Denn wir sehen nicht nur das Stürzende, sondern auch das Werdende, durch Not und Qual und Zerrissenheit die Arbeiterklasse aufsteigen, in ihren Händen tragend, was unsterblich war am faustischen Erbe des Bürgertums, um es hinüberzuretten in die Welt des Sozialismus.« (S. 96 f.)

An diesem Punkt setzt nun sein Aufsatz über Eislers Faustus-Libretto an, der sich ganz anders liest als diese entschiedene Verurteilung von Thomas Manns Faustus-Roman, weil zwar auch Eislers Faustus ein Renegat ist, aber ein Renegat, der sich dessen schämt und sich dessen anklagt, und so ist für Fischer zwar auch Eislers Stück eine Darstellung der deutschen Misere, aber eben zugleich auch ein Beitrag zu ihrer Überwindung. Unter dieser vielberedeten »deutschen Misere« versteht Fischer das traditionelle Zurückzucken der deutschen Intellektuellen vor einer sozialen Revolution, ein Phänomen, das man an der Literatur des deutschen Vormärz 18 sehr gut studieren kann, das aber laut Fischer und Eisler schon zu Beginn der Neuzeit im deutschen Bauernkrieg von 1525 sichtbar geworden sei, denn, so Fischer: 515 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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»In der Stellungnahme zu diesem aufrüttelnden Ereignis schieden sich die Geister: Hie Münzer, hie Luther, hier der Versuch, Deutschland im Klassenkampf gesellschaftlich zu erneuern, hier der Pakt mit den Fürsten, mit den Feudalherren, dieser wahre Teufelspakt der deutschen Geschichte. Jeder Humanist stand damals vor der Entscheidung. Die meisten dieser Renaissance-Intellektuellen haben sich ängstlich bemüht, um die Entscheidung herumzukommen. Sie propagierten revolutionierende Ideen, aber sie schauderten vor der revolutionären Tat zurück. Nach der Niederwerfung des Bauernaufstandes wurden viele der eingeschüchterten Humanisten von Melancholie heimgesucht: Der Durchbruch Deutschlands in ein neues Zeitalter war misslungen, die Nacht der deutschen Misere war angebrochen.« (S. 60)

Aber wie im ersten Faustus-Aufsatz findet Fischer auch hier wieder zum sozialistischen Optimismus zurück, indem er an die letzten Sätze seines ersten FAustus-Aufsatzes und außerdem an die für ihn wegweisende Sickingen-Debatte zwischen Karl Marx und Ferdinand Lassalle 19 von 1859 anknüpft und dann fortfährt: »Seitdem ist viel in Deutschland geschehen, und nichts ist zu Ende, weder die deutsche Geschichte noch die deutsche Misere. In der Geteiltheit Deutschlands, in der Wiederkehr des Imperialismus und dem Leichenschmaus nationaler Entwürdigung in Westdeutschland schleppt sie sich weiter dahin, die furchtbare deutsche Misere; gleichzeitig aber sind wir Zeugen deutscher Wiedergeburt, nationaler Erneuerung in der der Deutschen Demokratischen Republik. Es ist kein Wunder, das über den Glauben geht, es ist die Selbstbesinnung der deutschen Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten Volksschichten, es ist das Beispiel und die Hilfe der Sowjetunion, der Weg des schöpferischen Sozialismus als Weg zu deutscher Würde, Einheit und Humanität, worin die Überwindung der Katastrophe sich ankündigt.« (S. 62 f.)

Dann geht Fischer ausführlich auf einzelne Szenen von Eislers Libretto ein und hebt schließlich noch dessen politische Aktualität hervor, weil in ihm das Faustische in neuer Gestalt entdeckt werden könne, denn schon den ersten Faustus-Aufsatz hatte er mit den Sätzen enden lassen: »Der ewig strebende und den Teufelspakt überwindende Faust [Goethes, L. P.] ist nicht mehr eine Gestalt der Bürgerwelt. Der Faust des zwanzigsten Jahrhunderts ist die revolutionäre Arbeiterklasse.« (S. 97)

Und genau in diese Tradition ordnet er jetzt auch Eislers Libretto ein und schließt diesen Faustus-Aufsatz mit den Worten: 516 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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»Der ›Doktor Faustus‹ Eislers kann werden, was seit einem Jahrhundert fehlt: die deutsche Nationaloper.« (S. 73)

Auch dieser Aufsatz hätte den Kulturbürokraten der SED und der der Kunstkommission eigentlich gefallen müssen, denn sie hätten, wenn sie dieses Libretto akzeptiert hatten, sich als Hüter des bürgerlichen Erbes und des humanistischen Fortschritts und außerdem als Begründer einer neuen sozialistisch geprägten deutschen Nationalkultur empfinden können. Und wenn sie etwas dialektischer gedacht hätten, wäre es ihnen auch leichtgefallen, in einem Renegaten, der sich selbst so rigoros verurteilt und den auch noch der Teufel holt, eine Gestalt zu erkennen, die den Zuschauer optimistisch stimmen kann, wie dies die stalinistische Kunstdoktrin Shdanows ja verlangte. Zumindest Alexander Abusch hätte sich hier anschließen können, denn Abusch hatte noch im mexikanischen Exil in enger Anlehnung an Engels ein Deutschland-Buch mit dem programmatischen Titel Der Irrweg einer Nation geschrieben, in dem er die These vertreten hatte, das Schicksal Deutschlands habe sich durch Luthers »Verrat an der Nation« 20 in den paar Jahren zwischen seinem Thesenanschlag von 1517 und seiner Hetzschrift gegen die aufständischen Bauern von 1525 entschieden, denn dadurch sei nicht nur Luther »zur größten geistigen Figur der deutschen Gegenrevolution für Jahrhunderte« (S. 23) und damit »der Totengräber der deutschen Freiheit« (S. 20) geworden, sondern zusammen mit ihm sei ganz Deutschland auf einen politischen und gesellschaftlichen Irrweg geraten, denn: »Nur das Bündnis der Bauern, der Mehrheit der Städtebürger und des kriegserfahrenen niederen Adels hätte an dieser wichtigen Wende der deutschen Geschichte dem Ruf nach einer freien deutschen Nation eine umstürzende Kraft verleihen können. Der bäuerlich-städtische Sieg wäre zum Geburtshelfer der Nationwerdung Deutschlands geworden; er hätte Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit dreihundert Jahre früher in Deutschland zerstört und durch eine Zentralisierung der Staatsgewalt eine moderne wirtschaftliche Entwicklung angebahnt.« (S. 24)

Und das heißt mit anderen Worten: »Der durch Jahrhunderte die nationale Entwicklung Deutschlands hemmende Streit zwischen dem kaiserlichen Regiment und dem fremden päpstlichen Einfluss wurde nicht im Sinne einer von unten her erneuerten, vereinheitlichten Nation gelöst.« (S. 25)

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Sondern, so darf man ergänzen, immer nur »von oben« wie z. B. durch Bismarck 1871, weshalb »die ganze verpfuschte Geschichte der deutschen Nation« heute zur Kritik steht und endlich einmal »eine tiefe Selbstreinigung« (S. 257) verlangt. Und, so darf man auch noch im Sinne von Abusch hinzufügen, durch die Gründung der DDR werde diese Nationwerdung Deutschlands »von unten her« endlich vollzogen und der Irrweg Deutschland endgültig korrigiert und diese »Selbstreinigung« auch definitiv vollzogen. Doch auch Abusch wollte sich auf Eislers und Fischers Ansatz nicht einlassen, sodass Eisler sich alsbald schärfsten Angriffen ausgesetzt sah, die in der Parteipresse und in den Sitzungen der Akademie der Künste gegen ihn vorgetragen wurden. Und deshalb müssen wir versuchen, die Motive zu ergründen, die hinter dieser massiven Verweigerung stehen. Die Kulturpolitiker der SED hatten ja immer betont, dass sie als Vertreter der revolutionären Arbeiterklasse dazu bestimmt seien, auch das kulturelle Erbe des Bürgertums anzutreten und dieses »aufzuheben«, es also aufzugreifen, zu bewahren und auf ein höheres Niveau zu heben, hatten aber offensichtlich nicht bedacht, dass sie damit zugleich auch die Hypotheken dieses Erbes mit zu übernehmen hatten. Und da als Kronjuwel dieses bürgerlichen kulturellen Erbes eben Goethes Faust galt, sahen sie dieses Werk zugleich auch als das Meisterstück des allgemein menschlichen humanistischen Erbes an, weil sie sich selbst in der Tradition des Humanismus sahen. Damit war für sie Goethes Faust zu einem unantastbaren Werk geworden, um dessen Deutung man sich gar nicht mehr bemühen muss, weil diese ja eh schon feststand. Wird ein Werk aber in dieser Weise tabuisiert, so ergibt sich alsbald eine bestimmte Lesart des Stücks, die sich als ›das Stück selbst‹ vor alle anderen möglichen Lesarten schiebt und diese als unangemessen, als falsch, als unmöglich, ja sogar als Schändung des Stückes erscheinen lässt, obwohl es von jedem Stück prinzipiell unendlich viele Lesarten geben kann. Was sich bei dieser Tabuisierung eines bestimmten kanonischen Textes ergibt, ist also ein erkenntnistheoretischer und hermeneutischer Echo-Effekt 21, bei dem man immer nur das aus dem Text herausliest, was man vorher selbst hineingelesen hat und dies dann für ›das Stück selbst‹ hält. Natürlich kann sich auch dabei eine plausible Deutung des Stücks ergeben, aber was man dann aus dem Stück als ›das Stück selbst‹ herausliest, ist eben nur eine Deutung neben vielen anderen, die ebenfalls möglich sind. Mit einem 518 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Wort: Wird ein Werk auf diese Weise tabuisiert, droht sofort die Gefahr, dass der kreative Rezeptionsprozess im hermeneutischen Umgang mit diesem Werk durch die »Werktreue«-Ideologie 22 blockiert wird. Wenn man unter diesem Aspekt Schwertes Studie über die Phasen »kritischer Abwertung« und »ideologischer Aufwertung« von Goethes Faust verfolgt, so stellt man schnell fest, wie eng dieser Prozess der jeweils aktuellen politischen Großwetterlage verhaftet war. So verwarfen z. B. die Propagandisten der Heiligen Allianz den ungläubigen Faust als schweren Sünder 23, und die Liberalen aus der Gruppe des Jungen Deutschland kreideten ihm an, dass er sich viel zu weit von der Politik 24 fernhielt. Doch diese Sicht änderte sich schlagartig mit der Reichsgründung 25 von 1871, denn nun lasen sich ganze Passagen völlig neu, weil auch Faust als Herrscher auftritt und alle anderen seine Macht rücksichtslos spüren lässt und, wenn es denn sein muss, auch über Leichen geht. Besonders neu liest sich natürlich der Bericht des alten Paares Philemon und Baucis über Fausts Kolonie, die er mit Mephistos Hilfe unter reichlich seltsamen und unheimlichen Umständen errichtet hatte: Wohl! ein Wunder ist’s gewesen! Lässt uns heut noch nicht in Ruh; Denn es ging das ganze Wesen Nicht mit rechten Dingen zu. (…) Tags umsonst die Knechte lärmten Hack’ und Schaufel, Schlag um Schlag; Wo die Flämmchen nächtig schwärmten, Stand ein Damm am nächsten Tag. Menschenopfer mussten bluten, Nachts erscholl des Jammers Qual; Meerab flossen Feuergluten, Morgens war es ein Kanal. Gottlos ist er, ihn gelüstet Unsre Hütte, unser Heim; Wie er sich als Nachbar brüstet, Soll man untertänig sein. (V. 11111–11134)

Kurz nach diesem Bericht geht die Geschichte so weiter, dass die beiden Alten von Mephistos Truppen erschlagen werden, was Faust selbst zwar als Möglichkeit vorausgesehen hatte, aber billigend in Kauf nimmt. Im Lichte unserer heutigen Erfahrungen fällt es schwer, 519 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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bei dieser Schilderung von Fausts Kolonie nicht an Stalins GULag und nicht an die KZs der Nazis zu denken, sodass sich das Bild des alten Faust schon gewaltig eintrübt. Dass Goethes Faust, sobald er Politiker wird, sofort auch Schuld auf sich lädt, weil Leichen seinen Weg säumen und er dies auch billigend in Kauf nimmt, haben natürlich auch die Propagandisten der ideologischen Aufhöhung von Goethes Faust vor dem Hintergrund der deutschen Reichsgründung gesehen, weil der damit möglich gewordene »Griff nach der Weltmacht« ohne Menschenopfer eben nicht gelingen kann, doch dies war für sie offenbar kein Problem, sondern diente dazu, die ideologische Überhöhung des Faustischen noch weiter zu steigern, denn Gustav von Loeper, der diese ideologische Überhöhung von Goethes Faust besonders entschlossen vorangetrieben hatte, gab zwar zu, dass Goethes Faust immer wieder mal schuldig wird: »Doch dürfe man diese Begriffe ›Schuld‹ und ›Buße‹ in gar keiner Weise moralisch nehmen! Fausts Schuld sei kein ›gewolltes Böses‹, seine ›Verbrechen‹ seien eher ›Äußerungen eines tieferen Leidens‹. (…) »Faust’s wahre Schuld und zugleich seine Größe liegt in dem Ankämpfen gegen die Schranken der menschlichen Natur …«« 26

Dazu Schwerte: »Von diesem kleinen Einschub her: ›und zugleich seine Größe‹, der die Schuld aufhob, vielmehr sie heroisierte, begann die radikale Umwertung der ›faustischen Werte‹ – eine Umwertung unter national-imperialen Vorzeichen, die bis 1918, bis 1933 und weiter in verschiedenen Abwandlungen fortwirkte, die nicht nur unsere Geistesgeschichte, sondern im selben starken Maße auch unsere politische Geschichte beeinflusst hat, verhängnisvoll beeinflusst hat.« (S. 154)

Denn: »Es war das Verschweigen der Schuld Fausts, die Goethe selbst, als Tragödie, vorgeführt hatte. Es war das bewusste Umdeuten dieser Schuld in eine nationale (germanische) Sendung; es war das Aufnehmen dieser Schuld in das imperiale Programm. Aus Schuld wurde Größe.« 27

Doch wenn aus Schuld Größe wird, oder genauer: wenn aus tragischer Schuld tragische Größe wird, dann verlangt eine Schuld dieser Art auch nicht nach Sühne, sondern genießt sich selbst in ihrer tragischen Größe und lässt sich vom eigenen Schicksal umwabern.

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Damit müsste klar sein: Wer Goethes Faust für den Gipfelpunkt des humanistischen bürgerlichen Erbes hält, das unversehrt und uneingeschränkt aufgenommen und weitergetragen werden soll, muss sich auch der Frage stellen, wie er diese Schuld Fausts bewertet. Doch dieser Frage stellten sich die Kulturpolitiker der SED schon gar nicht mehr, weil diese Frage für sie, wie wir in Kapitel 8.5.3.4 gesehen haben, durch Lenins Rechtfertigung des Roten Terrors längst beantwortet war, der Fragen der Moral aus den Interessen des proletarischen Klassenkampfes abgeleitet und deshalb diesem Klassenkampf strikt untergeordnet hatte. In diesem Sinne hatten Kurella & Co. um 1930 ja auch Brechts Massnahme beurteilt und sie als »kleinbürgerlichidealistisch« verworfen. Und dass man den Wunsch des alten Faust, endlich Mephistos schwarze Magie 28 loszuwerden, weil diese gar so fatale Effekte zeitigt, dass Leichen seinen Weg säumen, sehr wohl auch im Lichte von Heines Begegnung mit seinem Schatten als dem Vollstrecker seiner Gewaltfantasien 29 sehen kann, scheint den Herren von der Kunstkommission nicht eingefallen zu sein und schon gar nicht, dass die kommunistische Soziodizee eine ganz neue Quelle tragischer Konflikte sein könnte, wie man dies anhand der Stücke von Heiner Müller 30 studieren kann, denn Heiner Müller hätte Schwertes Befund sofort radikalisiert zu der These: »Auch im Klassenkampf, und dort erst recht!, wird aus tragischer Schuld tragische Größe.« Ernst Fischer hat dieses Problem sehr viel genauer erkannt, wenn die revolutionäre Arbeiterklasse bzw. deren Partei sich als Erbe von Goethes schuldbeladenem Faust sieht, denn gegen Ende seines Aufsatzes über Thomas Manns Faustus-Roman verweist er in aller gebotenen Deutlichkeit darauf, »dass auch an ihrer Seite der Schatten des Bösen 31 steht« und dass man auch sie »der Härte, Intoleranz, Unerbittlichkeit« (S. 97) bezichtigen könne, und fährt dann fort: »Wir idealisieren nicht die Arbeiterklasse, sie ist keine makellose Engelsgestalt, so wenig wie der [Goethesche, L. P.] Faust der Vergangenheit, aber mit all den Unzulänglichkeiten verkörpert sie heute die Zukunft des Menschengeschlechts, umfassender und umwälzender als einst in seiner demokratischen Morgenröte das Bürgertum.« (S. 97)

Im Gegensatz zu Ernst Fischer war für die Kulturpolitiker der SED wie Girnus und Abusch Goethes Faust sehr wohl eine ungetrübte Lichtgestalt und Leitgestalt, neben der sie keine andere Faust-Variante sehen wollten, weil sie dem oben erwähnten hermeneutischen Echo-Effekt völlig verfallen waren und deshalb für sie jeder Versuch, 521 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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eine Faustgestalt zu entwerfen, die an ihrer Seite »den Schatten des Bösen« stehen hat oder gar ganz im Schatten des Bösen steht, einer Schändung dieser Lichtgestalt Faust gleichkam und damit als Angriff auf das kulturelle Erbe insgesamt aufgefasst und entsprechend bestraft werden musste. Das Signal zu dieser Sicht auf Goethe und Goethes Faust hatte bei der Feier zum 200. Geburtstag Goethes am 28. August 1949 Johannes R. Becher als Präsident des neugegründeten »Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« im Nationaltheater Weimer gegeben, als er in seiner Festrede den Anspruch auf das sozialistische Alleinerbe der deutschen Klassik verkündete und damit zugleich auch den Anspruch auf das Deutungs-Monopol von Goethes Faust erhob, denn: »Das Reich, das Goethe heißt, wiederzuentdecken, ist gleichbedeutend damit, dass wir Goethe, den Befreier, befreien müssen aus den Händen derer, die sein Erbe so schändlich verschwendet und so schamlos missbraucht haben.« 32

Gemeint waren damit natürlich nicht liberale Germanisten wie z. B. Wilhelm Böhm, der zum hundertsten Todestag Goethes eine Studie mit dem provozierenden Titel Faust, der Nichrfaustische veröffentlicht hatte, sondern konservative und völkische Germanisten, die von einem »Faust im Braunhemd« 33 gefaselt hatten, und die Becher in Westdeutschland immer noch und schon wieder am Werk zu sehen glaubte. Als Angriff auf das Erbe Goethes wurde sogar die Inszenierung des Urfaust durch das Berliner Ensemble empfunden, die am 13. 3. 1953 in Berlin Premiere hatte und von den Kulturfunktionären der SED genauso vernichtend kritisiert wurde wie Eislers FaustusLibretto und Fischers Faustus-Essay, weil sie als ein Exzess an »Formalismus« und als Verletzung des Werktreue-Gebots und deshalb geradezu als ein kulturpolitisches »Alarmsignal« 34 empfunden wurde. Aus diesem Grund war der Streit um Eislers Faustus-Libretto für Brecht nicht nur deshalb von existentieller Bedeutung, weil er an diesem Text mitgearbeitet hatte und weil die Analogien zwischen Eislers Faustus und seinem Galilei bzw. seinem Kragler, für ihn so offensichtlich waren, die alle drei für ihn als Renegaten galten und sich dessen auch bewusst sind, sondern auch deshalb, weil die UrfaustProduktion für die Kulturpolitiker der SED eine »auffallende Ähnlichkeit mit der Programmatik des Eislerschen Operntextes und des522 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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sen Einschätzung durch Ernst Fischer« 35 aufwies, sodass man in der SED offenbar den Verdacht hatte, hier liege eine konzertierte und von langer Hand geplante Aktion vor, die zu einer »Absage an das klassischen Traditionen unserer Nationalkultur« 36 führen sollte. Im Programmheft der Urfaust-Produktion war man nämlich so unvorsichtig gewesen, den Rückgriff auf den Urfaust damit zu begründen, dass es bei der Arbeit an diesem Stück leichter falle, »der Einschüchterung durch die Klassizität [von Faust I und Faust II, L. P.] sich zu erwehren« 37, und diesen Satz legten die Kulturwächter der SED sofort als Versuch aus, »vom klassischen ›Faust‹ abzurücken, hinter ihn zurückzugehen, ihn ›zurückzunehmen‹.« 38 Der Artikel im Parteiblatt Neues Deutschland endet mit einer ernsten Mahnung an Brecht, die man aber auch als Drohung verstehen kann, er werde sein eigenes Lebenswerk zerstören, »wenn er den Weg der Negierung des nationalen kulturellen Erbes weiter beschritte.« 39 Die Autorin dieses Artikels Johanna Rudolph konnte sich solch scharfe Töne leisten, denn nur einen Tag vorher hatte der allmächtige Walter Ulbricht in einer Rede schon genau denselben Ton angeschlagen, als er den Intellektuellen der DDR ihre spezielle Funktion in Staat und Gesellschaft beim planmäßigen Aufbau des Sozialismus deutlich machte und dabei u. a. auch auf bestimmte aktuelle Fehlentwicklungen im kulturellen Leben verwies und in aller Bestimmtheit betonte, er könne einfach nicht zulassen, »dass eines der bedeutendsten Werke unseres großen deutschen Dichters Goethe formalistisch verunstaltet wird, dass man die großen Ideen in Goethes »Faust« zu einer Karikatur macht, wie das in einigen Werken, auch in der Deutschen Demokratischen Republik, geschehen ist, zum Beispiel in dem sogenannten Faust von Eisler und in der Inszenierung des »Urfaust«. Wir führen den Kampf gegen die Verfälschung und Entstellung der deutschen Kultur, gegen die Missachtung des deutschen Kulturerbes, für die Verteidigung der großen Leistungen unserer Klassiker auf allen Gebieten.« 40

So gesehen saßen Eisler und Brecht gleichsam nebeneinander auf der Anklagebank bei diesem Prozess gegen Eislers Faustus-Libretto, sodass Brecht, wenn er für Eislers Libretto eintrat, immer zugleich auch seine eigene Urfaust-Produktion mit verteidigte und darüber hinaus auch noch seinen Anspruch auf ein eigenes Haus für sein Berliner Ensemble rechtfertigte, denn hier waren die Verhandlungen mit der 523 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Staatsmacht so weit gediehen, dass er jeden Tag mit einer Entscheidung rechnen konnte.

10.3.2 Der Prozess gegen Eislers Faustus-Libretto Der kulturpolitische Schauprozess gegen Eislers Faustus-Libretto fand, soweit er öffentlich geführt wurde, in der Akademie der Künste in Ostberlin in den drei Sitzungen vom 13. Mai, 27. Mai und 10. Juni 1953 statt. Eine vierte Sitzung war zwar geplant, kam aber nicht mehr zustande, weil der Aufstand am 17. Juni dazwischen platzte und ganz andere und viel wichtigere Fragen zur Lösung anstanden. Überschattet war die Diskussion jedoch immer durch den Umstand, dass Stalin am 5. März 1953 gestorben war, und zunächst nicht recht feststand, wer sein Nachfolger werden sollte, sodass die Machtkämpfe um diese Nachfolge, die zugleich auch ein Echo in Ostberlin auslösten, eine gewisse Orientierungslosigkeit über die aktuell geltende kulturpolitische Parteilinie der KPdSU auslöste, die ja immer auch die der SED sein musste. Überschattet wurde dieser Prozess gegen Eislers Faustus-Libretto aber auch von der damals hochaktuellen stalinistischen Hatz auf »Titoisten«, »Zionisten« und Renegaten aller Art, denn Rudolf Slánský war eben erst als Kopf einer »Verschwörerbande« angeklagt und am 3. Dezember 1952 zusammen mit seinen »Mitverschwörern« in Prag hingerichtet worden, sodass das Stichwort »Renegat« politisch gefährlich hoch besetzt war und jede Gestalt, die als Renegat bezeichnet werden konnte, sofort in die Nähe all dieser echten Renegaten wie Arthur Koestler oder Ignazio Silone 1 oder der angeblichen Renegaten Rudolf Slánský, Otto Katz und László Rajk geriet. Und da die SED die Verhandlungsakten dieser Prozesse gegen Slánský 2 und Rajk 3 auch noch in offizieller Form veröffentlichte, um allen mutmaßlichen Renegaten im eigenen Herrschaftsbereich »die Instrumente zu zeigen«, musste jeder, der sich über Eislers Renegaten Faustus äußerte, wissen, auf welch dünnem Eis er sich dabei bewegte, weil man jedes seiner Worte immer auch als Kommentar zu der aktuell laufenden Debatte über die politischen Renegaten der eigenen Zeit deuten konnte. Und genau so argumentierte denn auch Hans Rodenberg von der DEFA, der sich nicht scheute, Eislers Faustus als einen »titoistischen Menschen« (S. 162) zu bezeichnen und dann hinzufügt:

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Zumutung II: Der Streit um Eislers Faustus-Libretto

»Der Held des Werkes ist zweifellos – und dagegen hat auch Eisler nichts gesagt – ein Renegat, ein Abtrünniger. Wir haben in der Geschichte der letzten Jahre eine ganze Schreckensgalerie von solchen Abtrünnigen, und es lohnt die Mühe, auch die literarische Mühe, die Gestalt eines solchen Abtrünnigen in der Kunst darzustellen. Ich glaube, niemand wird kommen, Eisler daraus einen Vorwurf zu machen, dass er einen Renegaten künstlerisch gestaltet hat. Die Diskussion geht nicht dagegen, sie geht gegen den Renegaten als Helden, als die zentrale Figur, deretwegen das Stück geschrieben worden ist. Denn dieser Renegat hat keinen Gegenspieler, wenigstens keinen genügend starken. (…) Die Confessio, die – auch von Felsenstein gerühmt – das Fortschrittliche oder das Wesentliche in diesem Stück darstellt, ist typisch im negativen Sinne. Man braucht nur nachzulesen, das letzte Wort Radeks in seinem Prozess oder das letzte Wort von Otto Katz am Schluss des Verhörs – oder sogar das letzte Wort Slanskys. Alle sagen sie: dort bin ich übergelaufen, dort bin ich umgefallen, dort habe ich verraten, und ich muss zugrunde gehen, und so soll es jedem geschehen, der so handelt wie ich.« (S. 163) »Sicher wollte Eisler warnen mit diesem Faustus; aber in diesem Faustus steckt ein tiefes Misstrauen gegen das deutsche Volk, und dieses Misstrauen gegen das deutsche Volk macht eben, dass dieser Renegat so luxuriös mit allen psychologischen Feinheiten ausgestattet ist. Dieser Renegat Doktor Faustus kann – und gerade heute – kein Held eines Werkes sein, das ein nationales Werk sein will. Er kann es nicht und darf es nicht!« (S. 164)

Und deshalb kommt Rodenberg zu dem Fazit, Eislers Stück könne und dürfe nie eine Nationaloper werden, weil es geradezu »national schädlich« (S. 164) sei. Mit diesen Sätzen schloss sich Rodenberg folgsam der Bilanz der quasi offiziellen Stellungnahme des Schriftstellerverbandes der DDR in dessen Zeitschrift Neue Deutsche Literatur an, mit der der Prozess gegen Eislers Libretto eröffnet wurde, denn dieser Aufsatz, der schon in aller Form »Diskussion« und »Hilfe« angedroht hatte, schloss mit den Sätzen, die sich in aller Form gegen Fischers Schlusssatz richteten: »Eine solche Konzeption müssen wir ablehnen und zwar grundsätzlich ablehnen, weil sie grundsätzlich falsch ist.« (S. 42)

Und das bedeutete für Eislers Plan einer Faustus-Oper: »Deshalb kann sie keine Volksoper sein, und sie kann auch keine werden.« (S. 43)

Der Ablauf des eigentlichen Prozesses in den drei Sitzungen der Akademie der Künste war dadurch geprägt, dass die beiden wichtigsten 525 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Ankläger Alexander Abusch 4 und Wilhelm Girnus 5 erst mal längere Aufsätze vortrugen oder verteilen ließen, die sie selbst vorher schon in offiziellen Organen der SED oder des Schriftstellerverbandes veröffentlicht hatten und deshalb den Anspruch erhoben, damit die offizielle Parteilinie zu verkünden. Aus diesem Grund waren auch alle anderen Beiträge, die ebenfalls den Anspruch erhoben, im Sinne der gerade aktuellen kulturpolitischen volonté générale zu sprechen, gespickt mit Rückversicherungs-Zitaten aus den Schriften von Marx und Engels, Lenin, Stalin und Shdanow. So gesehen waren diese »Diskussionen« und »Hilfen« in der Akademie der Künste zu keinem Zeitpunkt ein Meinungsaustausch auf Augenhöhe, sondern weit mehr ein Tribunal, vor dem sich Eisler und Brecht zu verantworten hatten, also genauso, wie Brecht und Dessau sich im Lukullus-Streit bei der öffentlichen Probe vor einer gezielt zusammengestellten Claque zu verantworten hatten, deren Mitgliedern man vorher eigens zu verstehen gegeben hatte, »worauf es in dieser Diskussion ankam« 6. Und selbstverständlich erwartete man von dem »Sünder« Hanns Eisler auch ein umfassendes Eingeständnis seiner Fehler in Form einer umfassenden Selbstkritik, wie dies in den Konfessionsritualen der kommunistischen Parteien 7 üblich war. In der zweiten Sitzung kam es denn auch zu einem Eklat, weil Walter Felsenstein, der Intendant der Komischen Oper, der zum ersten Mal an einem solchen kulturpolitischen Tribunal teilnahm und mit dem »Kaderwelsch« 8 der SED offenbar noch nicht recht vertraut war, sich »außerordentlich bestürzt« (S. 156) darüber zeigte, dass die Form der Kritik an Eislers Libretto »so aggressiv und persönlich« (S. 156) war, sodass er den Eindruck gewann, als wolle man Eisler in dieser Runde »nahezu zum kulturpolitischen Verbrecher und Vaterlandsverräter machen« (S. 157). Und dann beschwerte er sich außerdem noch darüber, dass er von Eislers Kritikern mehr hören musste, »was Eisler hätte schreiben sollen, als eine Kritik an dem Stück, das er geschrieben hat« (S. 158). Und schließlich erinnerte er auch noch an den Satz, mit dem Pieck seine Genossen ermahnt hatte, bei der Kritik an der Lukullus-Oper etwas vorsichtiger zu urteilen, indem er hinzufügte: »Befinden wir uns mit dieser Art der Aggression und Ableitung allgemeiner Absichten Eislers auf seinem Berufsgebiet nicht vielleicht auf einem Irrweg?« (S. 158) Denn er hatte buchstäblich Angst davor,

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»im nächsten Moment plötzlich auch als einer hingestellt zu werden, der die ganze Kulturpolitik, den ganzen Fortschritt überhaupt nicht verstanden hat. Gegen diese Aburteilungsmethode muss ich mich auflehnen – entschuldigen Sie!« (S. 157)

Walter Felsenstein sprach hier auch deutlich pro domo, weil er Eislers Oper gern inszeniert hätte und deshalb schon eine Option auf das Werk angemeldet hatte, sodass er in Sorge war, ebenfalls als Formalist zu gelten, der den Bruch mit dem kulturellen Erbe sucht. Wenn man die Einwände, die gegen Eislers Libretto vorgebracht wurden, unter systematischen Aspekten untersucht, so fällt auf, dass kaum einer von Eislers Kritikern genau zwischen Goethes Faust-Gestalt und Eislers Faustus-Gestalt unterschied. Ob dies nun die pure Unfähigkeit war, dramaturgisch zu denken oder ob es sich um eine infame Taktik handelte, ist schwer zu sagen. Der Effekt dieser Ungenauigkeit war jedenfalls fatal, denn dadurch erschien Eislers Libretto zwangsläufig als ein Versuch, Goethes Stück umzuschreiben, also ganz so, wie schon Vischer Goethes Stück nach einem bestimmten Plan weitergeschrieben wissen wollte bzw. wie er selbst mit seinem Faust iii Goethes Stück weitergeschrieben hatte. Im Kaderwelsch der SED-Kulturpolitiker hieß dies letztlich, Eisler habe Goethes Faust »zurücknehmen« und damit zugleich auch einen Angriff auf das unangreifbare nationale humanistische Erbe durchführen wollen, als das man Goethes Stück zu sehen hatte. Aber nicht nur das, denn durch die Verschmelzung der beiden Gestalten zu einer einzigen erschien Eislers Libretto außerdem noch als ein Versuch, die heroische Lichtgestalt des Goetheschen Faust in einen Renegaten zu verwandeln, zu einem Prototyp der deutschen Misere. So gesehen war es besonders bösartig, wenn Wilhelm Girnus darauf verweist, dass Eisler seinen Text 1951/52 geschrieben habe, also genau zu der Zeit, als im März 1951 die 5. Tagung des ZK der SED den Kampf gegen den Formalismus in der Kunst ausgerufen hatte und im Juli 1952 die 2. Parteikonferenz der SED den »planmäßigen Aufbau des Sozialismus« in der DDR beschlossen hatte, sodass Eislers Arbeit an seinem Text geradezu als explizites Gegenprogramm zu diesen überaus wichtigen Entscheidungen der SED erscheinen musste, denn in dem Beschluss vom 17. März 1951 hatte es ja geheißen:

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»Eine entscheidende ideologische Waffe des Imperialismus zur Erreichung dieses Zieles [die nationale Würde und das Nationalbewusstsein des deutschen Volkes zu zerstören, L. P.] ist der Kosmopolitismus. In der Kunst erfüllt in erster Linie der Formalismus in allen seinen Spielarten die Aufgabe, das Nationalbewusstsein der Völker zu unterhöhlen und zu zerstören. Es ist daher eine der wichtigsten Aufgaben des deutschen Volkes, sein nationales Kulturerbe zu wahren.« (S. 91)

Im Lichte dieser beiden Beschlüsse musste Eisler als der große Sünder dastehen, wenn man sein Libretto so verkürzt als Kontrafaktur zu Goethes Stück las, denn er erschien nun geradezu selbst als ein kulturpolitischer Renegat erster Ordnung. Und dann genierte sich Girnus nicht einmal, gegen Eisler auf das klassische antisemitische Argument zurückzugreifen und monierte an ihm, er habe »die Einflüsse des heimatlosen Kosmopolitismus noch nicht überwunden.« 9 Und somit kommt er zu dem Fazit über Eislers Johann Faustus: »Er ist pessimistisch, volksfremd, ausweglos, antinational. Daher halten wir diesen Text für ungeeignet als Grundlage für eine deutsche Nationaloper.« (S. 101)

Alexander Abusch war in seiner Argumentation nicht ganz so grobschlächtig wie Wilhelm Girnus, kam aber letztlich zum selben Fazit und lehnte Eislers Text ebenfalls rundweg ab. Ausgangspunkt für ihn war die in Thomas Manns Faustus-Roman formulierte explizite Zurücknahme der humanistischen und bürgerlich-revolutionären Traditionen durch Adrian Leverkühn, wobei er aber nicht der Frage nachging, warum er Thomas Manns Renegaten-Roman so hochschätzte, Eislers Renegaten-Libretto aber verwarf. Und so kam er zu dem Fazit: »Thomas Mann kennzeichnet mit diesem tiefen Gedanken von der »Zurücknahme« nicht nur die spätbürgerliche Zersetzung und Auflösung der Kunst, sondern widerspiegelt damit auch die ganze ideologische Todeskrise des Bürgers, der durch seinen Teufelspakt mit dem Imperialismus dem geistigen Untergang verfallen ist. Der nietzscheanische Pseudo-Faust kann nicht mehr in dem strebenden Bemühen, in der ›immer höheren und reineren Tätigkeit bis zum Ende‹ 10 die Erfüllung seines Daseins finden. Er personifiziert die Lebens-verneinung. Warum wird hier daran erinnert? Aus einem klaren Grund: Es kann auch keine »Zurücknahme« von Goethes Faust von »links« her geben. (…) Es hieße, eine wunderbare Gestalt des deutschen literarischen und geistigen Erbes, die dem Genius unseres Volkes Ruhm bei allen Völkern eingebracht hat, entseelen, verfälschen, vernichten, wollte man Faust »in eine Zentralgestalt der deutschen Misere« umwandeln.« (S. 60)

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Und das wiederum heißt: »Die Größe von Goethes Dichtung und ihr unverrückbarer Platz in der Literatur unserer Nation machen, ohne dass man von Goethes Faust ausgeht, das Schaffen einer deutschen Nationaloper mit dem Titel »Johann Faustus« unmöglich.« (S. 60 f.)

In seiner Autobiographie stellt er seine Polemik gegen Eislers Projekt so dar, dass sie sich in erster Linie gegen Fischers Essay gerichtet habe und fügt hinzu: »Sicher wäre Eislers Libretto ohne Fischers Begleitmusik nur beiläufig und milder als eine etwas abwegige Faust-Interpretation kritisiert worden.« 11

Eisler selbst konnte auf all diese Vorwürfe eigentlich nur antworten, dass sein Johann Faustus eine ganz andere Gestalt als Goethes Heinrich Faust sei, weshalb man ihm etwas vorwerfe, was er gar nicht getan habe, denn: »Mit der Oper »Faustus« wollte ich nicht Goethes klassische Faust-Gestalt zurücknehmen, revidieren oder gar entlarven. Ich bewundere sie ebenso wie meine Kritiker. (…) Ich schrieb also, statt das Volksbüchlein zu komponieren, eine neue Version der alten Faust-Sage. Sie sehen also, dass ich nicht von Goethe ausging. Selbstverständlich dachte ich später an seinen gewaltigen Faust. Aber ich sagte mir, dass die Opernbühne, die bis jetzt mit der Verballhornisierung von Gounod auskommen muss, eine Faust-Oper vertragen kann, und dass die neue Version der Volkssage in keine Konkurrenz mit dem Sprechtheater und der Dichtung tritt. Es schien mir möglich, in einer Oper einen kleinen finsteren Faustus zu zeigen, der voll Kummer auf sich weist und bereut. Dagegen, dachte ich, dürfte auch der große Goethe nichts einzuwenden haben, nach allem, was passiert ist.« (S. 139)

Und dann versuchte er seinen Kritikern nochmal klarzumachen, worum es ihm bei dieser Arbeit ging und servierte ihnen gleichsam häppchenweise die Moral seines Librettos und seiner eigenen Sicht auf seine Faustus-Gestalt: »Wer sich gegen sein Volk, gegen die Bewegung seines Volkes, gegen die Revolution stellt, sie verrät, einen Bund mit den Herren schließt, wird vom Teufel geholt. Er wird mit Recht vernichtet.« (S. 139 f.) »Was immer Faustus tut und spricht, aus ihm spricht die von ihm verratene, verkaufte Wahrheit. Und an ihr geht er zugrunde. Er bricht zusammen, als ihn die Bauernschlächter rühmen und ihn Luther umarmt. In seiner »Confessio« wird er ein Mensch, denn indem er sich erkennt, ver-

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menschlicht er sich; und so zeigt diese negative Gestalt auch einen positiven Zug.« (S. 140)

Doch all dies konnte seine Kritiker nicht überzeugen, die ihm immer wieder eine »Frontstellung gegen Goethe« (S. 146), die ungenügende Beachtung der Normen des sozialistischen Realismus und ein falsches Geschichtsbild vorwarfen, weil sie offenbar erwartet hatten, dass sich Eisler in seinem Libretto viel enger an die gleichsam kanonische Darstellung des deutschen Bauernkrieges halten würde, die Friedrich Engels in seinem Buch von 1850 vorgelegt hatte. Schließlich griff auch Brecht in die Diskussion ein, indem er zwölf Thesen zur Verteidigung von Eislers Faustus-Libretto vortrug, in denen es u. a. hieß: »Bei sorgfältiger Untersuchung wird sich ergeben, dass das Werk weder asozial noch antinational genannt werden kann. (…) Eislers Faustus ist keineswegs eine Zerrfigur. Wie Goethes Faust ist er eine zwieschlächtige unruhige Erscheinung mit glänzenden Gaben und weitgesteckten Zielen. Freilich vollzieht sich seine Entwicklung im Untergang wie die der Shakespeareschen Helden. Im Gegensatz zu Goethes Stück ist dies eine Tragödie. (…) Hat Eisler versucht, unser klassisches Faustbild völlig zu zerstören? Entseelt, verfälscht, vernichtet er eine wunderbare Gestalt des deutschen Erbes? Nimmt er den »Faust« zurück? Ich denke nicht. Eisler liest das alte Faust-Buch wieder und findet eine andere Geschichte als Goethe und eine andere Gestalt, ihm bedeutsam erscheinend – freilich bedeutsam in anderer Weise als die Gestalt Goethes. So entsteht für mein Empfinden ein dunkler Zwilling des [Goetheschen, L. P.] Faust, eine finstere, dunkle Figur, die den helleren Bruder nicht ersetzen noch überschatten kann. Von dem dunklen Bruder hebt sich der helle Bruder vielmehr ab und wird sogar heller. So etwas zu machen ist nicht Vandalentum.« (S. 159 ff. bzw. S. 198 ff.)

Von all den Argumenten, die gegen Eislers Libretto angeführt wurden, überzeugt aus der distanzierten Sicht von heute eigentlich nur ein einziges, das außerdem ein rein dramaturgisches ist, denn Wilhelm Girnus hatte in seinen Thesen zum Stück den Autor dafür gerügt, dass sein Faustus keinen richtigen Gegenspieler habe, durch den sich ein für die Zeit typischer gesellschaftlicher Konflikt entzünden und entwickeln und bis zum Ende ausgetragen werden könne: »Faust ist eine negative Gestalt. Dann stellt sich die Frage: Was soll dann, künstlerisch gesehen, überhaupt noch Mephisto in dieser Konzeption, wenn Faust bereits die negative Gestalt ist? Dann haben wir zwei negative Gestalten; Faust, der die Negation verkörpert, und Mephisto laufen sich den Rang

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ab. Das ist kein Konflikt mehr, das ist keine dialektische Einheit des Negativen und des Positiven, die sich gegenseitig einer an dem andern steigern, wie das in Goethes »Faust« ist, wo Faust und Mephisto in ihrer Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit gerade eine Einheit bilden und die innere Entwicklung darstellen.« (S. 152)

Aus diesem Grund verlangte Girnus eine machtvolle Instanz im Stück, die den Renegaten Faustus kraft ihrer Autorität anklagt und verurteilt, und diese Verurteilung des Volksverräters Faustus kann laut Girnus nur »durch das Volk selbst« (S. 201) erfolgen. Aber auch Brecht bemängelte, »dass die verratenen Bauern in der schönen, aber nur flüchtig vorkommenden Gestalt des Bauernveteranen Karl (…) keine genügende Vertretung haben. Ich stimme da mit Girnus überein. Sie dominieren alle Gedanken und Taten des Faustus, sind aber nur psychologisch vorhanden. Wären oder würden sie als Gegenspieler groß gestaltet, könnte das Werk kaum mehr als negativ missverstanden werden.« (S. 159)

Den gleichen Einwand hatte er ja auch schon gegen sein frühes Stück Trommeln in der Nacht erhoben, das er gerade zu dieser Zeit nochmal durchsah und für eine Edition seiner frühen Stücke bearbeitete, denn auch da fehlte ihm ein Gegenspieler zu dem Renegaten Kragler, weshalb er ihm mit Glubbs Neffen eine Kontrastfigur an die Seite stellte, »einen jungen Arbeiter, der in den Novembertagen als Revolutionär gefallen ist. In diesem Arbeiter, freilich nur skizzenhaft sichtbar, jedoch durch die Skrupeln des Schankwirts [Glubb, L. P.] immerhin sich verdichtend, gewann der Soldat Kragler eine Art Gegenpart.« 12

Was also beiden fehlte, und sicher auch mit Recht fehlte, war ein Chor der Bauern, der als der Schatten des Faustus diesen begleitet, dessen Verhalten ständig kommentiert und gegen Ende als Chor der geschlagenen Bauern das schlechte Gewissen des Faustus artikuliert und musikalisch zu dessen Confessio überleitet. Es ist auch in der Tat nicht recht zu verstehen, dass Eisler selbst nicht auf diese Idee gekommen war, seinen Helden zwischen einen Chor der Bauern und einen Chor der Fürsten zu stellen, die beide um seine Parteinahme ringen, was ja auch rein musikalisch viele Gestaltungsmöglichkeiten geboten hätte. Und genau so wie er seinen Faustus zwischen diese beiden Chöre hätte stellen können, so hätte er dies auch mit Luther tun können, um die politische Entscheidung beider Zentralgestalten dadurch szenisch 531 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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zu verdeutlichen, daß sie sich einem dieser Chöre anschließen und sich vielleicht sogar zu dessen Anführer entwickeln. Außerdem hätte er dadurch auch die Möglichkeit gehabt, Faustus und Luther nach einem längeren Entscheidungs-Duett, das mit einer einstimmigen Arie endet, zusammen in den Chor der Fürsten musikalisch einschmelzen zu lassen, um auf diese Weise die politische Parteinahme beider deutlich zu machen und dadurch diese Schicksalsstunde der deutschen Nation zu entscheiden. Auf dieser eher sachlich-fachlichen dramaturgischen Ebene hätte die Diskussion in der Akademie eigentlich als konstruktive Kritik weitergehen und hätte vielleicht sogar zu einem Ergebnis führen können, mit dem sich alle Beteiligten hätten zufrieden geben können, doch dann wurde offenbar die Parteigruppe im Aufbau-Verlag auf Geheiß des ZK der SED »aktiv tätig« und übte durch ihren Vertreter Max Schröder, den Cheflektor des Verlags Max Schröder in der dritten Sitzung der Akademie eine veritable Selbstkritik, in der es u. a. heißt: »Da ich mitverantwortlich für die Drucklegung des Werkes bin, haben wir bei uns im Verlag auch eine Diskussion über dieses Werk eingeleitet und geführt, in der ich gesagt habe, dass ich meine übereilte Befürwortung dieser Drucklegung für einen schweren Fehler halte und dass ich es für einen schweren Fehler halte, eine solche Diskussion, wie wir sie jetzt hier haben, nicht vorher geführt zu haben, und dass ich glaube – und nicht nur glaube, sondern überzeugt bin –, damit unserem Freund Eisler einen sehr schlechten Dienst erwiesen zu haben.« (S. 231)

Und dann zählt Schröder all das auf, was in den beiden Sitzungen vorher an Eislers Libretto schon aus ideologischen Gründen moniert worden war: • • • • • • •

Ein falsches Geschichtsbild; ein falsches weil negatives Bild von Faust, durch das »Eislers Neben-Faust zu einem Gegen-Faust« wird; »eine falsche Einschätzung des nationalen Erbes«; eine falsche Darstellung des amerikanischen Imperialismus in den Atlanta-Szenen; ein Hang zu kosmopolitischer Ideologie; eine Tendenz zum Formalismus und eine falsche Sicht auf die deutsche Geschichte. (S. 231 ff.)

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Zumutung II: Der Streit um Eislers Faustus-Libretto

Auf diesen völlig unerwarteten Angriff, der dafür sorgte, dass die SED doch das letzte Wort in dieser Auseinandersetzung um sein Libretto hatte, konnte Eisler nur noch mit eiskalter Ironie antworten: »Ich danke sehr, lieber Max Schröder.« (S. 233) Doch Eisler war schon zu lange Kommunist und hatte die kommunistischen Rituale schon so sehr verinnerlicht, dass er wusste, was man von ihm erwartete und was auch er selbst von sich erwarten musste, und so übte eben auch er in aller Form Selbstkritik in einer langen eigenen Confessio und schrieb am 30. Oktober 1953 aus Wien einen langen Brief an das ZK der SED, in dem es u. a. heißt: Genossen! Ich bin in Kummer und Sorge über die unglückliche Situation, die durch schwere Fehler meinerseits entstanden sind. Ich bin mir bewusst, dass ich Euch große Ungelegenheiten verursacht habe und kann nur sagen, dass mich das sehr bedrückt. (…) Wahrscheinlich gehört es zum Wesen des künstlerischen Menschen, mit großer Empfindlichkeit auf äußere Umstände zu reagieren: Ihr mögt es für Schwäche halten, aber ich brauch eine Atmosphäre des Wohlwollens, des Vertrauens und der freundlichen Kritik, um künstlerisch arbeitsfähig zu sein. Selbstverständlich ist Kritik notwendig, um die Kunst an den gesellschaftlichen Forderungen zu prüfen, aber nicht Kritik, die jeden Enthusiasmus bricht, das Ansehen des Künstlers herabsetzt und sein menschliches Selbstbewusstsein untergräbt. Nach der Faustus-Attacke merkte ich, dass mir jeder Impuls zu schreiben, abhanden gekommen war. So kam ich in einen Zustand tiefster Depression, wie ich ihn kaum jemals erfahren habe. Ich habe nun aber keine Hoffnung, den für mich lebenswichtigen Impuls, Musik zu schreiben, anderswo zu finden, als in der Deutschen Demokratischen Republik. (…) Mit sozialistischem Gruß (S. 263 f.)

Doch die Musik zu seinem Faustus-Libretto schrieb er nie. Genau wie sein Faustus war auch er ein gebrochener Mann, aber nicht, weil er seine Freunde verraten hatte und von seinem schlechten Gewissen erdrückt worden wäre, sondern weil diese ihn verraten und als Künstler fast vernichtet hatten. Für Brecht selbst war die Diskussion um Eislers Faustus-Libretto zwar kein Anlass, Kraglers finales Hohngelächter auf seine vermeintlichen Genossen zu streichen und durch eine Confessio zu ersetzen, sehr wohl aber ein Anlass, die Confessio seines Galilei nochmal zu überprüfen, denn im Lichte der Confessio von Eislers Faustus las sich die Confessio Galileis wieder ganz neu und noch etwas unerbittlicher, wenn Galilei von sich sagt: 533 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Ich hatte als Wissenschaftler eine einzigartige Möglichkeit. In meiner Zeit erreichte die Astronomie die Marktplätze. Unter diesen ganz besonderen Umständen hätte die Standhaftigkeit eines Mannes große Erschütterungen hervorrufen können. Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden! (…) Einige Jahre lang war ich ebenso stark wie die Obrigkeit. Und ich überlieferte mein Wissen den Machthabern, es zu gebrauchen, es nicht zu gebrauchen, es zu missbrauchen, ganz, wie es ihren Zwecken diente. (…) Ich habe meinen Beruf verraten. Ein Mensch, der das tut, was ich getan habe, kann in den Reihen der Wissenschaftler nicht geduldet werden. (S. 154 f.)

Wir werden sehen, dass sich nach dem 17. Juni 1953 und nach den Enthüllungen über Stalin diese Confessio Galileis noch einmal etwas anders lesen ließ.

10.4 Zumutung III: Der Aufstand vom 17. Juni 1953 und der böse Morgen danach Durch den Tod Stalins am 5. März 1953 ergab sich eine völlig neue Situation im sowjetischen Machtbereich, die auch für die kulturpolitischen Rahmenbedingungen der DDR von einschneidender Bedeutung war, denn sofort stellte sich die Frage, wer von nun an in Moskau und in Berlin die Richtlinien der Kulturpolitik bestimmen würde und ob dadurch die Shdanow-Doktrin weiterhin gültig bleiben oder durch eine neue Doktrin ersetzt würde. Und für Brecht hieß dies konkret, ob durch die neue Situation sich auch für ihn neue Möglichkeiten eröffnen könnten, endlich ein eigenes Theater in die Hand zu bekommen. Wenn man das zweite Heft von Sinn und Form des Jahrgangs 1953 durchblättert und die dort versammelten Nachrufe der Akademie-Mitglieder auf Stalin liest, so fällt sofort auf, dass der Nachruf von Brecht zu den weitaus kürzesten gehört und sich dadurch wohltuend von dem unsäglichen Kitsch unterscheidet, den z. B. Johannes R. Becher und Stephan Hermlin dort abgesondert haben. Brechts Nachruf unterscheidet sich aber auch von den Stalin-Hymnen von Leuten wie Paul Rilla, Alexander Abusch oder Kuba mit dem Tenor »Er war überhaupt in allem der Größte!« Brechts Nachruf lautete nämlich nur:

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Zumutung III: Der Aufstand vom 17. Juni 1953 und der böse Morgen danach

»Den Unterdrückten von fünf Erdteilen, denen, die sich schon befreit haben, und allen, die für den Weltfrieden kämpfen, muss der Herzschlag gestockt haben, als sie hörten, Stalin ist tot. Er war die Verkörperung ihrer Hoffnung. Aber die geistigen und materiellen Waffen, die er herstellte, sind da, und da ist die Lehre, neue herzustellen.« (S. 10)

An diesem Nachruf fällt zunächst auf, dass Brecht annimmt, genau wie er selbst würden auch all seine Genossen mit dem Herzen auf eine wichtige Nachricht reagieren, und dann springt dieses »Aber« ins Auge, das in keinem der anderen Nachrufe vorkommt, denn in diesem Wörtchen »aber« deutet sich an, dass für Brecht Stalin auch nur eine Etappe in der Weltgeschichte und in der Geschichte des Sozialismus war, über die man nun hinausgehen könne und vielleicht auch hinauszugehen habe, indem man auf die wirklichen marxistischen Klassiker zurückgeht. Eine solche Relativierung von Stalins Bedeutung hatte sich sonst niemand erlaubt, weder zu Stalins Lebzeiten noch in den Nachrufen auf ihn, denn im Rahmen des stalinistischen Systems war Stalin ja nicht weniger als die personifizierte volonté générale des Weltkommunismus, durch dessen Tod dieses ganze System erst mal kurzfristig implodierte und sich durch härteste Machtkämpfe an der Spitze neu strukturieren musste. Doch all diese Machtkämpfe in Moskau und Ostberlin 1 und die damit zusammenhängenden Ursachen für den Aufstand am 17. Juni 1953 2 sollen uns hier nur interessieren, insofern sie für Brecht und sein Werk von existentieller Bedeutung waren, und das hieß konkret: Eröffneten sich für ihn neue Spielräume und neue Chancen? Ergaben sich für ihn neue Verwertungsmöglichkeiten? An welchen Gruppierungen musste er sich orientieren? Wieviel Solidarität mit den je aktuellen Machthabern musste er öffentlich bekunden? Mit einem Wort: Bekam er nun endlich sein eigenes Theater oder musste er weiterhin warten? Konnte er nun endlich das Modell »Wagner in Bayreuth« im realsozialistischen Berlin als »Brecht in Berlin« nachvollziehen? Noch am 15. Juni 1953 hatte er aus Buckow an den Ministerpräsidenten der DDR einen taktisch überaus geschickten Bittbrief geschrieben, den man gut und gern als eine sublime Erpressung bezeichnen kann, weil er faktisch damit drohte, die DDR zu verlassen und sich woanders um ein eigenes Theater zu bemühen, denn dort heißt es u. a.:

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Lieber Genosse Grotewohl, durch die Fertigstellung der Volksbühne wird das Schiffbauerdammtheater frei werden. Dies ist das Theater, an dem ich vor meiner Emigration arbeitete und z. B. die »Dreigroschenoper« aufführte. Seit der Gründung des Berliner Ensembles wurde uns dieses Haus für den Fall in Aussicht gestellt, dass die Volksbühne fertig würde. Wir haben bisher die Gastfreundschaft des Deutschen Theaters genossen, und es wurde oft schwer für beide Teile, produktiv zusammenzuarbeiten. Jetzt, bei den so nötigen allgemeinen Sparmaßnahmen, wird es für Helene Weigel und mich immer drückender, dass das Ensemble, wirtschaftlich betrachtet, ein Luxusunternehmen ist, obwohl es sehr gut ein eigenes Haus bespielen könnte. (…) Sie haben vielleicht gehört, dass in Westdeutschland die unsinnigen Gerüchte über Zwistigkeiten zwischen mir und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik wieder verstärkt aufgemacht werden. Die Übernahme des Theaters am Schiffbauerdamm durch das Berliner Ensemble, das weit über Deutschland hinaus bekannt ist, würde meine Verbundenheit mit unserer Republik deutlichst demonstrieren. Vor allem aber ist es Helene Weigel und mir um die weitere fruchtbare Arbeit des Ensembles zu tun, das einen Teil unseres besten Nachwuchses betreut. Mit sozialistischem Gruß Ihr bertolt brecht 3

Nach allem, was wir wissen 4, ist Brecht vom Aufstand der Bauarbeiter an der Stalin-Allee, der sich dann schnell zu einem Flächenbrand im ganzen Land ausweitete, genau so überrascht worden wie die Führung von Staat und Partei der DDR und unternahm deshalb alles Mögliche, um seine Loyalität gegenüber Staat und Partei in aller Form zu bekunden und dadurch wiederum seinem Brief an Grotewohl vom 15. Juni deutlich Nachdruck zu verleihen. Aus diesem Grund bot er Grotewohl am 17. Juni in einem weiteren Brief sofort die Hilfe der Akademie der Künste und des Berliner Ensembles an, und in einem weiteren Brief an Walter Ulbricht schrieb er ganz im Stil seines Nachrufs auf Stalin: Werter Genosse Ulbricht, die Geschichte wird der revolutionären Ungeduld der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ihren Respekt zollen. Die große Aussprache mit den Massen über das Tempo des sozialistischen Aufbaus wird zur Sichtung und zu einer Sicherung der sozialistischen Errungenschaften führen. Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem Augenblick meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auszudrücken. 5

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Zumutung III: Der Aufstand vom 17. Juni 1953 und der böse Morgen danach

Obwohl von diesem Brief nur der letzte Satz im Parteiblatt Neues Deutschland veröffentlicht wurde, sodass die leise Kritik im ersten und die Mahnung im zweiten Satz verlorenging und der Brief dadurch als ein Dokument von rückhaltloser und geradezu liebedienerischer Unterwürfigkeit erscheinen musste, schluckte Brecht seinen Zorn hinunter, nahm diese Manipulation scheinbar kommentarlos hin und übernahm auch sofort die offizielle Lesart der Ereignisse, hier sei »der Tag X« 6 von westlichen Diensten inszeniert worden, um die DDR durch einen konter-revolutionären faschistischen Putsch von innen her aufzurollen. Er ging sogar soweit, seinen Brief an Walter Ulbricht auch in dieser gezielt manipulierten Form noch eigens in der Parteizeitung Neues Deutschland öffentlich zu verteidigen und sich damit von Ulbricht nicht nur politisch verwerten, sondern auch noch »verwursten« zu lassen, indem er schrieb: »Ich habe am Morgen des 17. Juni, als es klar wurde, dass die Demonstrationen der Arbeiter zu kriegerischen Zwecken missbraucht wurden, meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ausgedrückt. Ich hoffe jetzt, dass die Provokateure isoliert und ihre Verbindungsnetze zerstört werden. Zugleich hoffe ich aber, dass die Arbeiter, die in berechtigter Unzufriedenheit demonstriert haben, nicht mit den Provokateuren auf eine Stufe gestellt werden, damit die so dringliche große Aussprache über die allseits gemachten Fehler nicht von vornherein unmöglich gemacht wird.« 7

Da man im Westen nicht wissen konnte, dass Brechts erster Brief an Ulbricht gezielt gekürzt worden war, erschienen dort beide Briefe als ein Zeugnis rückhaltloser Unterwürfigkeit gegenüber dem verhassten »Spitzbart« Walter Ulbricht und führten alsbald dazu, dass Brecht im westlichen Ausland die volle Verachtung traf und die Bühnen in Westdeutschland und in Österreich Brechts Stücke einige Jahre lang nicht mehr spielten. Ganz ähnlich wie in den Briefen an Ulbricht ist der Tenor auch in dem langen Brief, den er zwei Wochen später an Peter Suhrkamp nach Frankfurt schrieb, der aber wohl eher an die eigene Regierung gerichtet war, der er auch auf diese keunerische Weise seine hinhaltende Ergebenheit bekunden wollte, denn er konnte sich ausrechnen, dass man seine Post öffnen und im Hinblick auf sein Wohlverhalten überprüfen werde. Und deshalb endet dieser Brief mit den Worten: »Lieber Suhrkamp, machen wir uns nichts vor: Nicht nur im Westen, auch hier im Osten Deutschlands sind die »Kräfte« [die alten Nazis, L. P.] wieder

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am Werk. Ich habe an diesem tragischen 17. Juni beobachtet, wie der Bürgersteig auf die Straße das »Deutschlandlied« warf und die Arbeiter es mit der »Internationale« niederstimmten. Aber sie kamen, verwirrt und hilflos, nicht durch damit. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands hat Fehler begangen, die für eine sozialistische Partei sehr schwerwiegend sind und Arbeiter, darunter auch alte Sozialisten, gegen sie aufbrachten. Ich gehöre ihr nicht an. Aber ich respektiere viele ihrer historischen Errungenschaften, und ich fühlte mich ihr verbunden, als sie – nicht ihrer Fehler, sondern ihrer Vorzüge wegen – von faschistischen und kriegstreiberischem Gesindel angegriffen wurde. Im Kampf gegen Krieg und Faschismus stand und stehe ich an ihrer Seite.« 8

Aus dem Chor der Ergebenheits-Adressen von Intellektuellen aller Art, die in diesen Tagen im SED-Organ Neues Deutschland abgeduckt 9 wurden, ragt eine heraus, die durch ihre Dreistigkeit Brecht zwang, seine eigene demonstrative Solidarisierung mit Staats- und Parteiführung noch mal eigens zu überdenken, denn Kurt Barthel (»Kuba«), damals Erster Sekretär des DDR-Schriftstellerverbandes, hatte unter dem Titel Wie ich mich schäme! am 20. Juni ebenfalls einen Artikel im ND veröffentlicht, in dem er den Bauarbeitern von der Stalin-Allee in Gutsherrenart von oben herab den Vorwurf machte, sie seien undankbar gegenüber ihrem Staat, sie hätten sein Vertrauen in sie bitter enttäuscht, sie seien nicht wachsam genug gewesen und hätten es deshalb zugelassen, dass sich westliche Agenten und sonstiges Gesindel aus dem Westen unter sie gemischt hätten, die dann bei dieser Demonstration den Ton bestimmten. Barthel begann seinen Artikel damit, dass er die Bauarbeiter erst einmal wie Schlachtvieh beschreibt: »Maurer – Maler – Zimmerleute. Sonnengebräunte Gesichter unter weißleinenen Mützen, muskulöse Arme, Nacken – gut durchwachsen, nicht schlecht habt ihr euch in unserer Republik ernährt, man konnte es sehen. Vierschrötig kamt ihr daher. (…) Gut saht ihr aus, besser als die, welche sich unter euch mischten. Die sahen freilich nicht gut aus, reichlich bunt zwar, aber nicht gut. Sie waren auch viel schlechter genährt als ihr. Halbstarke waren es, mit spitzigen Ellenbögchen, ein häßlicher Anblick – ihr mit denen!«

Aber dann kommen die Vorwürfe des selbsternannten Benimm-Beauftragten:

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Zumutung III: Der Aufstand vom 17. Juni 1953 und der böse Morgen danach

»Bis zum Alex waren es die Normen – richtig. Dann aber sagten die anderen einige Dinge, die hätten euch stutzig machen sollen. Dumme, gefährliche Dinge! (…) Zwischen euch standen tapfere Freunde der Freien Deutschen Jugend, Männer und Frauen eurer Partei, der Partei der Arbeiterklasse, die euch alles sagten. Wieso wollt ihr es nicht gewusst haben? Vielleicht habt ihr nur nicht hingehört? Vielleicht habt ihr zugelassen, dass eure einzigen und wahren Freunde an diesem Tag niedergeschrien wurden? Es gibt keine Ausrede! Und es gab keine Ursache dafür, dass ihr an jenem, für euch – am allermeisten – schändlichen Mittwoch nicht Häuser bautet. (…) Ihr zogt in schlechter Gesellschaft durch die Stadt. Ihr zogt mit dem Gesindel, das, von den großen Weltbrandstiftern gedungen, schon die Benzinflaschen in der Tasche trug, mittels denen sie morgen eure Baugerüste anzünden würden. Das wolltet ihr nicht. Aber als es geschah, ließt ihr es zu. (…) Gegen die Bubis konntet ihr nichts tun? Bedenkt: Baugerüste, Häuser, Autos gingen in Flammen auf. Als wenn man mit der flachen Hand ein wenig Staub vom Jackett putzt, fegte die Sowjetarmee die Stadt rein. (…) Eure schlechten Freunde, das Gesindel von drüben, strich auf seinen silbernen Fahrrädern durch die Stadt wie Schwälbchen vor dem Regen. Dann wurden sie weggefangen. Ihr aber dürft wie gute Kinder um neun Uhr abends schlafen gehen. Für euch und den Frieden der Welt wachen die Sowjetarmee und die Kameraden der Deutschen Volkspolizei. Schämt ihr euch auch so, wie ich mich schäme? Da werdet ihr sehr viel und sehr gut mauern und künftig sehr klug handeln müssen, ehe euch diese Schmach vergessen wird. Zerstörte Häuser reparieren, das ist leicht. Zerstörtes Vertrauen wieder aufrichten ist sehr, sehr schwer.« 10

Bekanntlich hat Brecht auf dieses unsägliche Manifest mit dem vielzitierten Gedicht Die Lösung reagiert, das er zwar mit in die Buckower Elegien aufnahm, aber nicht sofort veröffentlichte. Doch tat er dies nicht, weil er den SED-Reimbold Kuba schonen wollte, sondern weil er noch eine Zeitlang seine taktische Linie einhalten musste, in allen öffentlichen Stellungnahmen so lange strikte Solidarität mit den Spitzen von Staat und Partei zu demonstrieren, bis die »Causa Schiffbauerdamm« geklärt war. Das Gedicht lautet:

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Die Lösung Nach dem Aufstand des 17. Juni Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands In der Stalinallee Flugblätter verteilen Auf denen zu lesen war, dass das Volk Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe. Und es nur durch verdoppelte Arbeit Zurückerobern könne. Wäre es da Nicht doch einfacher, die Regierung Löste das Volk auf und Wählte ein anderes? (S. 394)

10.5 Entmutigung I: Verfremdete Existenz Doch Brecht kommentierte den 17. Juni nicht nur mit diesem bösen Gedicht, sondern mit einer Vielzahl von Äußerungen, die mehr oder weniger öffentlich und dadurch auch mehr oder weniger verschlüsselt waren. Einige dieser öffentlichen und direkten aber extrem taktischen Äußerungen haben wir in Form von offenen Briefen an die Vertreter von Staat und Partei schon kennengelernt, auch den ebenfalls taktisch gemeinten Brief an Peter Suhrkamp. Wenn man aber seine wirkliche Einstellung zu diesem verstörenden Ereignis erfahren will, muss man sich eher an den sehr verschlüsselten und an den privatesten Aufzeichnungen orientieren, weil diese am wenigsten-keunerisch-taktisch überformt sein dürften. So notiert z. B. unter dem 20. August 1953 im Tagebuch: »Buckow. »Turandot«. Daneben die »Buckower Elegien«. Der 17. Juni hat die gesamte Existenz verfremdet.« 1

Er hatte sich also nach Buckow in sein Landhaus zurückgezogen, gleichsam in eine Art von innerer Emigration zur Sammlung, zur Einkehr in sich selbst und zur Neuausrichtung, schrieb zwei Dutzend Gedichte, die er unter dem Titel Buckower Elegien zusammenfasste, und fühlte sich in etwa wie der in die Wildnis vom Tomis verbannte Ovid, der dort seine Tristia schrieb, elegische Klagegesänge, in denen der Dichter versucht, mit sich selbst ins reine zu kommen und all seinen Zorn, sein Leid und seine Klagen einem Buch anvertraut, das er nach Rom zurückschickt, damit es dort von ihm künde. Es beginnt mit den Versen: 540 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Entmutigung I: Verfremdete Existenz

Ohne mich gehst du, mein Büchlein, zur Stadt, und ich will es dir gönnen. Weh mir! Ist deinem Herrn doch diese Reise versagt. Geh denn, bar des Schmucks, wie es ziemt einem Buch des Verbannten: leidvoll trage das Kleid, das diesem Schicksal gemäß! (…) Wenn, wie es möglich im Volk, dort jemand mich nicht vergessen, wenn dort einer, vielleicht, wissen will, wie es mir geht, meldest du ihm, dass ich lebe, verneinst nur, dass ich wohlauf sei, sagst, dass zu leben mir schon gilt als ein Göttergeschenk. Aber so schweigsam sei – wenn weitres die Leser verlangen –, dass du nicht irgendeinmal sagst, was du sagen nicht darfst! Wieder erinnert, bespricht meine »Frevel« aufs neue der Leser: Öffentlich werd’ ich vom Volk schließlich für schuldig erklärt. Ja nicht verteidige mich, wie sehr auch die Reden dir wehtun: steht schon die Sache nicht gut, schadet Verteidigung nur. Jemanden wirst du schon finden, der mich, den Entschwundnen, bedauert und nicht trockenen Augs diese Gedichte durchliest, der in der Stille mir wünscht, so dass kein Böser es höre, dass mir der Kaiser, versöhnt, leichtere Strafe verhängt. Ich auch bete, dass nie ins Elend gerate, wer immer wünscht, dass der Himmlischen Sinn gnädig den Elenden sei: Werde sein Wunsch doch erfüllt und schwinde der Zorn des Gebieters! 2

Mit dem Titel Buckower Elegien wollte Brecht also explizit an Ovids Elegien vom Schwarzen Meer anknüpfen, auch wenn sein Exil ein selbstgewähltes war, sodass die Analogie seiner Situation mit der von Ovid letztlich nur darin besteht, dass beide Dichter sich wehrlos der Willkür eines unberechenbaren Machtapparats ausgesetzt sehen. Aus diesem Grund ist der Grundton beider Dichtungen eher leise, gedämpft, bedrückt und melancholisch, also elegisch. Außerdem hatte Brecht den alten Stückplan Turandot oder der Kongress der Weisswäscher wieder aufgegriffen, um den »schrecklichen 17. Juni« 3 irgendwie zu verarbeiten, eine Satire auf die Käuflichkeit der »Tuis«, wie Brecht die Intellektuellen zu nennen pflegte. Doch was war an diesem 17. Juni für ihn denn so »schrecklich«? War es das offenkundige Scheitern eines Systems, auf das er all seine Hoffnungen gesetzt hatte, weil es den Anspruch erhoben hatte, den Wind der Geschichte im Rücken zu haben und von ihm unterstützt zu werden? Und setzte er vielleicht deshalb als Ausdruck seiner um541 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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fassenden Resignation den Buckower Elegien als Motto die Verse voran: Ginge da ein Wind Könnte ich ein Segel stellen. Wäre da kein Segel Machte ich eines aus Stecken und Plane. (S. 391)

Aber dieser Wind ging eben nicht, denn nach dem niedergeschlagenen Aufstand vom 17. Juni 1953 herrschte auch für Brecht eine umfassende Windstille, die alles lähmte und auch ihn, weil sich kein Impuls mehr anbot, mit dem man taoistisch-keunerisch hätte mitschwingen können, um sich auf diese Weise doch noch einen Rest von Selbstbehauptung zu bewahren. Oder war es dieser Tsunami an Zorn, der da durch die DDR gefegt war und deutlich gemacht hatte, dass die SED ganz und gar nicht die volonté générale der Arbeitermassen repräsentierte, ja nicht einmal die volonté de tous, wie sie immer so stolz behauptet hatte, sondern ein Regime, das vom Großteil der Bevölkerung schroff abgelehnt wurde, und insbesondere von den Arbeitern? Sah er Trotzkis Analyse des Sowjet-Systems von 1936 und Souvarines »bedrückendes Buch über Stalin« 4, das er 1943 im amerikanischen Exil gelesen hatte, aufs neue bestätigt, dass auch das DDR-System genauso wie das Sowjet-System selbst keine Diktatur des Proletariats sei, sondern eine Diktatur über das Proletariat, ausgeübt von einer neuen Klasse von Bürokraten und Apparatschiks, die ihre Macht wiederum nur der Roten Armee verdankten und sogar eine eigene Sprache, eben das »Kaderwelsch«, hatten, die von den Massen gar nicht verstanden wurde? Oder waren es die Reste nazistischer Gesinnung, die er im Verhalten mancher Aufständischen zu erkennen glaubte? Und so grübelte er im Tagebuch unter dem 20. August weiter über den Aufstand vom 17. Juni nach, indem er versuchte, in all seiner Desorientierung dieses verstörende Geschehen vorsichtig tastend marxistisch zu deuten, wobei er sich aber von der offiziellen Lesart des Geschehen nie recht freimachen konnte und immer noch an der These vom faschistischen Putschversuch festhielt: »In aller Richtungslosigkeit und jämmerlicher Hilflosigkeit zeigen die Demonstrationen der Arbeiterschaft immer noch, dass hier die aufsteigende Klasse ist. Nicht die Kleinbürger handeln, sondern die Arbeiter. Ihre Losungen sind verworren und kraftlos, eingeschleust durch den Klassenfeind, und es zeigt sich keinerlei Kraft der Organisation, es entstehen keine Räte, es

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formt sich kein Plan. Und doch hatten wir hier die Klasse vor uns, in ihrem depraviertesten Zustand, aber die Klasse. Alles kam darauf an, diese erste Begegnung voll auszuwerten. Das war der Kontakt [zwischen Arbeiterklasse und SED, L. P.]. Er kam nicht in der Form der Umarmung, sondern in Form des Faustschlags, aber es war doch der Kontakt. – Die Partei hatte zu erschrecken, aber sie brauchte nicht zu verzweifeln. Nach der ganzen geschichtlichen Entwicklung konnte sie sowieso nicht auf die spontane Zustimmung der Arbeiterklasse hoffen. Es gab Aufgaben, die sie unter Umständen, unter den gegebenen Umständen, ohne Zustimmung, je gegen den Widerstand der Arbeiter durchführen musste. Aber nun, als große Ungelegenheit, kam die große Gelegenheit, die Arbeiter zu gewinnen, deshalb empfand ich den schrecklichen 17. Juni als nicht einfach negativ. In dem Augenblick, wo ich das Proletariat (…) wiederum ausgeliefert dem Klassenfeind sah, dem wieder erstarkenden Kapitalismus der faschistischen Ära, sah ich [in der Arbeiterklasse, L. P.] die einzige Kraft, die mit ihr fertig werden konnte.« 5

Da möchte man schon fragen, wer da wem ausgeliefert war: Die streikenden Arbeiter dem Klassenfeind? Oder die Panzer den streikenden Arbeitern? Oder die streikenden Arbeiter den Panzern? Oder die Staatspartei SED allen andern? Und man möchte außerdem fragen, wie in einer solchen Situation Räte (Sowjets) entstehen sollen, wenn Panzer alles niederwalzen? Hat Brecht da nicht eine etwas zu schulbuchmäßige Vorstellung von einer Revolution? Und hat er nicht auch eine etwas zu hohe Meinung von der SED und ihren Funktionären, die in ihrer übergroßen Mehrheit zu feige waren, sich den demonstrierenden Arbeitern überhaupt zu stellen? Sehr überzeugend klingt dieser Versuch einer politischen Analyse des 17. Juni also nicht, sondern verrät vielmehr Brechts eigene umfassende Hilflosigkeit vor diesem Ausbruch von Zorn, Hass und Gewalt auf allen Seiten. Und dafür gab es ja auch Gründe genug, denn als die SED am 9. Juli 1952 den »planmäßigen Aufbau des Sozialismus« beschlossen hatte, bedeutete dies z. B. die planmäßige Enteignung der Landwirtschaft, planmäßige Repressionen gegen den alten Mittelstand aus Gewerbetreibenden, Ladenbesitzern und Freiberuflern, denen man dann auch noch die Lebensmittelmarken entzog. Und für die Arbeiter bedeutete dies eine exzessive Erhöhung der Arbeitsnormen, faktisch also eine Lohnkürzung. All dies hatte zur Folge, dass in der DDR letztlich alle auf Staat, Regierung und Partei böse waren. Viele resignierten und entzogen sich dem Regime durch die Flucht über Westberlin, sodass im Sommer 1953 die DDR monatlich ca. zwanzigtau-

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send Leute verlor. Bis zum Bau der Mauer im August 1961 waren es schließlich zweieinhalb Millionen. Durch den Kurswechsel in Moskau nach dem Tod Stalins ergab sich dann auch in der DDR eine völlig neue Situation, weil die neue Führung um Malenkow die SED-Führung zwang, einen Großteil dieser Repressalien wieder zurückzunehmen, um diese fatale Fluchtbewegung aus der Republik zu stoppen, was denn auch am 9. Juni 1953 geschah. Nicht zurückgenommen wurden allerdings die Normerhöhungen auf den Baustellen und in den Betrieben, weil die SED offenbar in heilloser Verblendung meinte, sie befinde sich völlig im Einklang mit den Arbeitern und könne ihnen alles zumuten, und das empfanden die Arbeiter natürlich als Provokation und streikten am 16. Juni auf den Baustellen der Stalin-Allee. Dieser spontane ProtestStreik wirkte wegen der allgemeinen Zornwolke, die über der ganzen DDR lag, wie ein Funke, der sofort landesweit zu einem Großbrand führte, der sich gegen das Regime als Ganzes richtete: Aus dem Arbeiter-Streik war ein Arbeiter-Aufstand 6 und aus dem Arbeiter-Aufstand war ein Volks-Aufstand geworden. Von all diesen konkreten Gründen als der Vorgeschichte des 17. Juni findet sich in Brechts Versuch einer Analyse nichts, und dies wiederum zeigt, wie hilflos abstrakt auch seine eigene Analyse des Geschehens war, den »Kontakt« zwischen der Arbeiterschaft und der selbsternannten »Partei der werktätigen Massen« auf den Begriff zu bringen, denn es gab ja faktisch gar keinen Kontakt dieser Art, weil die SED-Führung wie gelähmt war und sich den aufständischen Arbeitern gar nicht zeigte. Einen »Kontakt«, der aber etwas mehr als nur ein »Faustschlag« war, gab es nur zwischen den aufständischen Massen und dem Befehlshaber der sowjetischen Truppen in Berlin, weil dieser am 17. Juni den Ausnahmezustand ausrief und seine Panzer auf die Straßen schickte, um den Aufstand niederzuwalzen. Wenn Brecht also von der »Richtungslosigkeit und jämmerlichen Hilflosigkeit« der Arbeiterschaft am 17. Juni spricht und davon, dass ihre Losungen »verworren und kraftlos« gewesen seien und dazu noch »eingeschleust durch den Klassenfeind«, so muss er sich sagen lassen, dass die Forderungen der Streikenden ganz und gar nicht »verworren und kraftlos« gewesen seien, sondern sogar sehr konkret waren, weil sie zunächst nur die Zurücknahme der Normerhöhungen forderten. Und um diese Forderung zu erheben, brauchten sie auch nicht »den Klassenfeind« als Souffleur. Mit einem Wort: Wenn man im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 von »Richtungslosigkeit« 544 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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und »jämmerlicher Hilflosigkeit« sprechen will, so gilt dies nicht für die streikenden Arbeiter, sondern für die Genossen an der Spitze von Staat und Partei und FDGB, gilt aber auch ein bisschen für Brechts eigene Analyse 7 dieses Aufstands. Oder bezog sich Brechts Erschrecken gar nur auf die Dreistigkeit, mit der eine klägliche Gestalt wie Kuba sich anmaßte, sich für die aufständischen Bauarbeiter schämen zu müssen, weil diese Anmaßung Brecht schlagartig das Gefühl vermittelt haben muss, ebenfalls zu dieser Schicht von Privilegierten zu gehören und damit zugleich auch zu einer Klasse von Gestalten von der geistigen Statur eines Kuba, mit denen er sich eben erst in aller Öffentlichkeit demonstrativ solidarisiert hatte? Oder anders formuliert: War es diese verlogene Fremdscham, mit der diese unsägliche Gestalt Kuba sich öffentlich spreizte, die Brecht dazu brachte, sich seinerseits zu schämen für all das, was er am 17. Juni getan, aber auch für das, was er nicht getan hatte? Nochmal gefragt: War es letztlich Scham und Schuldbewusstsein, was ihn nach dem 17. Juni so umtrieb? Von den 23 Gedichten der Buckower Elegien veröffentlichte er sechs noch im gleichen Jahr in der Zeitschrift Sinn und Form 8, sodass die nicht sofort veröffentlichten für unsere Fragestellung die interessanteren sein dürften und von diesen wiederum diejenigen, die den höchsten Grad an Betroffenheit verraten, weil sie uns den tiefsten Einblick in Brechts Befindlichkeit verraten und deshalb am ehesten eine genauere Analyse verdienen. Wenn man so fragt, stößt man sofort auf ein Gedicht in den Buckower Elegien, mit dem sich diese Fragen am ehesten beantworten lassen, denn in diesem Schlüsseltext wird genau das zur Sprache gebracht, was Brechts Existenz nach dem 17. Juni so tief verfremdet haben muss. Doch auch dieses Gedicht wollte Brecht nicht vorweg in Sinn und Form veröffentlichen: Böser Morgen Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit Heut eine alte Vettel. Der See Eine Lache Abwaschwasser, nicht rühren! Die Fuchsien unter dem Löwenmaul billig und eitel. Warum? Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und Sie waren gebrochen.

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Unwissende! schrie ich Schuldbewusst. (S. 394 f.)

Dieses Gedicht liest sich wie eine phänomenologische Analyse des Schuld- und Schamgefühls in konzentriertester Form, wie man dies seit Aristoteles kennt, der in seiner Rhetorik den Phänomenen von Scham und Schande ein eigenes Kapitel gewidmet hat, an dem sich noch Nietzsche und Sartre orientierten, Nietzsche in dem Aphorismus 352 von Morgenröte, Sartre in dem berühmten Kapitel über den Blick in seinem Hauptwerk Das Sein und das Nichts 9. Ausgangspunkt ist dabei immer der Umstand, dass die Scham als »die Schwester der Angst« gilt, weil beide Gefühle, räumlich-szenisch gesehen, durch einen übermächtigen, aber aktuell blockierten FluchtImpuls (»Nix wie weg hier!«) geprägt sind, allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass man beim Gefühl der Angst so weit zurückweicht, bis man nicht mehr weiter kann, dann buchstäblich mit dem Rücken zur Wand steht und dann in die bekannte Panik der Bewegung-auf-der-Stelle verfällt, die die verhinderte Flucht ersetzen soll und sich als Zittern und Hecheln, als Trampeln oder eben als Herzrasen manifestieren kann, wohingegen man beim Gefühl der akuten katastrophalen Scham außerdem noch den Eindruck hat, man stehe wehrlos und hilflos am Pranger, und all dies vollziehe sich im prallen Licht der Öffentlichkeit, weshalb Aristoteles das alte Sprichwort zitiert: »In den Augen ist der Sitz der Scham« 10, also im Blick des Anderen oder aller Anderen, letztlich also im Blick der ganzen Welt, die konzentriert auf den Beschämten schaut, der sich festgebannt am Ort vor Scham windet und durch diese schamspezifische Bewegung, sich auf der Stelle zu winden, dieser Situation entkommen möchte, aber keinen Ausweg finden kann. Beide Situationen sind also geprägt durch die Hauptvollzugsrichtung »Zurück!«, die sich bei Angst als ein Zurückweichen nach hinten, bei Scham hingegen als ein Zurückweichen nach innen manifestiert, und dieser übermächtige zentripetale Impuls beim Schamverhalten wird noch durch das Verhalten der Umstehenden verstärkt, das konzentriert auf den zu Beschämenden ausgerichtet ist. Ob das nun aggressiv deutende, geradezu ›stechende‹ Zeigefinger sind, oder höhnische Zurufe, oder Blicke, oder die Lachkotze einer Lachmeute 11: – immer stellt sich beim Beschämten das Gefühl ein, im Mittelpunkt der Welt zu stehen, wenn man plötzlich von der Schande überfallen wird, denn, so Nietzsche: 546 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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»Man steht dann da wie betäubt inmitten einer Brandung und fühlt sich geblendet wie von einem großen Auge, das von allen Seiten auf uns und durch uns blickt.« (I,1204)

Und wenn man außerdem auch noch das Gefühl hat, man habe diese Verurteilung durch die Anderen tatsächlich verdient, so verstärkt sich das Gefühl von Scham-und-Schuldbewusstsein noch weiter, weil man dann auch selbst durch die Augen aller anderen als Fremder befremdet auf sich selbst zurückschaut und sich dann erst recht gnadenlos verurteilt, denn dann besteht die ganze Welt nur noch aus Augen mit diesem befremdet verfremdendem Blick, und wenn man es wagt, diesen Blick zu erwidern, verhässlichen sich diese Dinge genauso wie das Bild, das man von sich selbst gewonnen hat. In dem Gedicht Böser Morgen ist all dies exemplarisch versammelt und angesprochen: Der zentripetale Impuls in Form von Blicken und deutenden Fingern, die Verhässlichung der vormals schönen Dinge, die Verhässlichung der eigenen Person, die Pranger-Situation und schließlich auch das brennende Schuldgefühl, mit einem Wort: die total »verfremdete Existenz«. Doch was musste Brecht sich vorwerfen und vorwerfen lassen? Wobei und womit hatte er sich schuldig gemacht? War es vielleicht die bestürzende Erkenntnis, dass auch er selbst das »eingreifende Denken« nach Maßgabe der elften Feuerbach-These immer nur von anderen gefordert hatte, aber selber nicht praktizieren konnte und vielleicht gar nicht praktizieren wollte? Hatte er denn nicht wochenlang an der Seite seines Freundes Hanns Eisler dessen Libretto über den reuigen Renegaten Johann Faustus verteidigt und damit zugleich auch sein eigenes Stück über den reuigen Renegaten Galilei? Und nun stand er selbst mitten in einem Aufstand und schlug sich ganz wie Eislers Johann Faustus und sein eigener Galilei sofort auf die Seite der aktuellen Obrigkeit und überlieferte sein Wissen und Können den aktuellen Machthabern, »es zu gebrauchen, es nicht zu gebrauchen, es zu missbrauchen, ganz, wie es ihren Zwecken diente«. Hätte er sich am 17. Juni mit den Arbeitern solidarisieren sollen? Oder hätte er zumindest versuchen sollen, als Vermittler zwischen ihnen und der Regierung zu fungieren, denn faktisch war er doch nur Zuschauer des ganzen Geschehens? Oder hätte er gar versuchen sollen, die russischen Panzer zu stoppen, bevor sie anfingen zu feuern? Die Finger, die er im Traum auf sich gerichtet sah, waren offensichtlich Finger von Leuten, die körperlich hart arbeiten müssen und 547 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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entsprechend »zerarbeitet« aussehen, und dass sie »gebrochen« waren, deutet darauf hin, dass diese Arbeiter das Opfer von Gewalt geworden waren, und die Gewalttäter konnten nach Lage der Dinge nur die Soldaten der Roten Armee und der Volkspolizei gewesen sein, denen Brecht ja bei ihrem Aufmarsch demonstrativ zugewunken 12 hatte. Allein dies wäre schon Grund genug, massive Schuldgefühle zu empfinden und sich zu schämen und damit im »Kampf mit mir gegen mich« wieder eine neue Runde zu beginnen. Jan Knopf sieht das in seinem Kommentar zu den Buckower Elegien natürlich ganz anders, weil er diese hier praktizierte individualpsychologische Sicht auf Brecht rundweg ablehnt und weil sich für ihn die Beschaffenheit der Hände offenbar allein nach dem Bewusstsein des Arbeiters zu richten scheint, nicht nach der Härte der damit geleisteten Arbeit, und deshalb kann er dieses Gedicht auch nur ideologisch und vulgärmarxistisch interpretieren, indem er die offizielle DDR-Lesart des 17. Juni übernimmt, den 17. Juni 1953 also ebenfalls als faschistischen Putschversuch 13 versteht, und diese Deutung auch noch ein bisschen überbietet: »Im Traum sieht das lyrische Ich sich gezeichnet. Auf es wird mit dem Finger gezeigt; es wird quasi bloßgestellt. Die Finger gehören zweifellos Arbeitern; denn die Finger sind »zerarbeitet«. »Zerarbeiten« deutet auf immer noch bestehende entfremdete Arbeit der Arbeiter im Sozialismus: Sie arbeiten immer noch nicht für sich. »Gebrochen« ist doppeldeutig. Einmal verweist das Verb auf Gewaltanwendung, die die Arbeit überhaupt in Frage stellt (dass Brecht als Verursacher nicht die sowjetischen Panzer meint, ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang der Buckower Elegien). Zugleich aber lassen sich gebrochene Finger, das ist der zweite Sinn, nicht mehr zur Faust ballen. Die geschlossene Faust aber war und ist das Symbol der kommunistischen Bewegung (die Internationale z. B. wird mit erhobener Faust gesungen).Wenn der derart gebrochenen Hand noch ein »Gruß« möglich wäre, dann der, den der Faschismus zelebriert hat, freilich nicht mehr in zackiger Form. (…) Die Finger, die derart auf den »Aussätzigen« deuten, lassen sich denn von hier aus als depravierter Hitlergruß deuten.« 14

Über das quälende Schuldbewusstsein des Träumenden weiß Knopf zu berichten: »Das »Ich« scheint sich rechtfertigen zu wollen, indem es die Arbeiter der Unwissenheit beschuldigt; in der Schlusspointe jedoch erkennt das »Ich« den Vorwurf doch auch als berechtigt an. Der Vorwurf der Unwissenheit meint nicht mangelnde Weisheit, sondern mangelnde Unterrichtung. Und dies in zweierlei Hinsicht. Einmal erweisen sich die Arbeiter als unge-

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Entmutigung I: Verfremdete Existenz

nügend über die faschistische Gefahr im eigenen Land unterrichtet (»Wir haben unseren eigenen Westen bei uns«, schreibt Brecht an den Arbeiter 15 Paul Wandel); sie zeigen sich, am 17. Juni auf dem Sprung, ihre eigenen Interessen (Zerarbeitung im Sozialismus) mit fremden Interessen (Zerbrechen durch den Neofaschismus) zu vermischen, sich falschen Parolen anzuschließen. Der andere Bezug besteht im Hinblick auf das lyrische Ich: Als dichtendes Subjekt kümmert es sich scheinbar bloß um Anschauung, Ästhetik, nicht oder zu wenig um die Belange der Arbeiter. Indem er – bezieht man das lyrische Ich auf Brecht – die Privilegien seiner Stellung genießt, erscheint er für die Arbeiter als Außenstehender (»Aussätziger«), der sich – auf ihre Kosten – ein angenehmes Leben leisten kann. Das lyrische Ich beschuldigt die auf es deutenden Arbeiter der Unwissenheit über das, was er als Dichter wirklich für sie tut, dass es sich für ihre Interessen einsetzt, dass es seine Arbeit mit der ihren verbunden sieht. Aber zugleich kann es die Berechtigung des Eindrucks nicht abwehren; denn es geht ihm besser. Der Dichter, der Privilegierte, verrichtet keine entfremdete Arbeit, und er kann sich Genüsse leisten, die den Arbeitern noch lange entzogen sind.« (S. 54 f.)

Und dann zieht Knopf eine Bilanz seiner Deutung dieses Gedichts, die eigentlich auch für die ganze Sammlung Buckower Elegien gelten soll, indem er die Funktion dieser Gedichte als elegische Trauerarbeit entschieden leugnet und sie als eine insgesamt »positive« Botschaft präsentiert, womit er natürlich sehr viel mehr über sich selbst als über diese Gedichte verrät: »Das Gedicht versucht, indem es vorführt, dass die liebgewonnene Ästhetik versagt, als das Versagen der neuen [sozialistischen, L. P.] Gesellschaft droht, die positive Antwort zu geben. Der Naturgenuss und die konventionelle Ästhetik sind nur möglich, wenn sie im Zusammenhang mit nicht entfremdeter Arbeit und außerhalb neofaschistischer Bedrohung stehen. Alle Schönheit zerfällt in dem Moment, wenn die materiellen Voraussetzungen für sie nicht gegeben sind. Diese erarbeiten die Arbeiter. Dass sie schon Geschichte machten, war ein Irrtum; ihn zu entdecken, der böse Morgen.« (S. 55)

Man kann natürlich den Schluss des Gedichtes auch sehr viel einfacher so verstehen, dass sich die Unwissenheit der Ankläger ganz schlicht auf den Umstand bezieht, dass der Brief Brechts an Ulbricht so tendenziös zu einer rückhaltlosen Unterwerfungsgeste verfälscht und dann in dieser Form veröffentlicht worden ist, ohne dass Brecht dies öffentlich richtiggestellt hätte, sodass man diesen kastrierten Brief für seine wahre Einstellung zum Regime halten musste. Und 549 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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diese Zurückhaltung wird man wohl mit einigem Recht als Feigheit bezeichnen dürfen, und allein dies wäre schon Grund genug, sich zu schämen und ein massives Schuldbewusstsein zu entwickeln. Dass man einem Gedicht wie Böser Morgen mit solchen lachhaft verstiegenen ideologischen Girlanden in keiner Weise gerecht wird, wie Jan Knopf sie hier anbietet, scheint er doch irgendwann gemerkt zu haben, weshalb er sich in seiner Brecht-Biographie gezwungen sieht, doch wieder individualpsychologisch zu argumentieren und auf Brechts Gesundheitszustand nach dem 17. Juni einzugehen, und dann zugeben muss: »Tatsächlich baute Brecht im Sommer 1953 körperlich ab, sodass er die wenige Zeit, die ihm unter den dann tatsächlich privilegierten Bedingungen im Theater am Schiffbauerdamm blieb (gerade mal gut zwei Jahre), nur mit erheblichen körperlichen Anstrengungen und den plötzlich wieder auftretenden Herzbeschwerden durchhalten konnte.« (S. 507)

Offensichtlich war seine Herzneurose wieder aufgebrochen, weil er nach dem 17. Juni 1953 in eine Situation geraten war, die er schon während seiner bigott pietistischen Augsburger Kindheit kennengelernt hatte, als man ihm ein monströses Sünden- und Schuldbewusstsein eingebläut und ihn in der Matthäus-Passion dazu gezwungen hatte, sich als Verräter Jesu zu bekennen, indem er den Choral mitsang: Ich bin’s, ich sollte büßen, An Händen und an Füßen Gebunden in der Höll. Die Geißeln und die Banden, Und was du ausgestanden, Das hat verdienet meine Seel. 16

Genau dasselbe drückende Schuldgefühl bekundet sich auch in einem Gedicht, das etwa gleichzeitig mit dem Zyklus der Buckower Elegien entstanden ist, auch thematisch dazugehört und deshalb auch im Titel darauf anspielt: Dann wieder war ich in Buckow Dem hügeligen am See Schlecht beschirmt von Büchern Und der Flasche. Himmel Und Wasser

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Beschuldigten mich, die Opfer Gekannt zu haben. (S. 1534)

Er befand sich also wieder, wie in dem Choral, in der Situation, dass jemand stellvertretend für ihn gelitten hatte und gestorben war und dass er glaubte, dies durch sein eigenes Verhalten mit verschuldet zu haben. Und somit stand er wieder einmal in einer ausweglosen Position mit dem Rücken zur Wand, war dem blockierten Impuls zur Flucht – »Nix wie weg hier!« – wehrlos und tatenlos preisgegeben und konnte diese verhinderte Flucht nur ersatzweise mit dem Herzen durch eine rasende Bewegung-auf-der-Stelle ausagieren, und zwar, anders als in seiner Kindheit und Jugend, nunmehr mit einem tatsächlich kranken Herz. 17 Also versuchte er, genau wie in seiner frühen Augsburger Zeit, wieder den Ausweg ins Werk und machte sich an die Arbeit, um das Turandot-Projekt noch einmal aufzugreifen und zu einem Ende zu führen, aus dem er schon in den Dreißigerjahren eine Intellektuellen-Satire hatte machen wollen. Doch eine erfolgreiche Selbsttherapie war ihm bei diesem Projekt auch diesmal nicht beschieden. Aber warum nicht? Der uralte Turandot-Stoff besteht im Kern aus einer Freierprobe: Eine Prinzessin, die auf einer Burg lebt, die genauso uneinnehmbar ist wie sie selbst, soll verheiratet werden, will aber die möglichen Freier vorher auf ihre Eignung prüfen: Wer diese Prüfung besteht, wird geheiratet, wer sie nicht besteht, wird geköpft. Die verkeuschte Variante dieser Freierprobe besteht darin, dass der Bewerber bestimmte Rätsel lösen muss, die unverkeuschte ursprüngliche darin, dass er sich im Bett beweisen muss. Kurz und derb gesprochen: Er muss bei dieser Freierprobe buchstäblich um sein Leben ficken. Und natürlich müsste Turandot abstoßend hässlich sein, um die Freierprobe noch etwas schwieriger zu gestalten. Und wenn der richtige Begatter endlich gefunden ist, seinen Dienst verrichtet hat und erschöpft im Bett schnarcht, muss sich durch diesen erlösenden Beischlaf natürlich auch die Kröte Turandot in eine strahlende Schönheit verwandelt haben. Ein Stoff dieser Art bietet also eine Fülle von derb-komischem Potential, insbesondere, wenn man die Kern-Fabel gegen den Strich bürstet, sodass ein Stück entsteht, das sich ausnimmt wie eine Kombination aus Arthur Schnitzlers Reigen, Nikolai Gogols Heirat, Johann Gottfried Schnabels Roman Der im Irrgarten der Liebe 551 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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herumtaumelnde Kavalier und den Contes Drôlatiques von Honoré de Balzac. Doch das muss ich hier nicht weiter ausführen. All dies hat Brecht aber nicht getan, sondern das Motiv der Freierprobe mit dem alten Plan einer Intellektuellen-Satire verbunden, sodass die Freierprobe darin besteht, wer am geistreichsten lügen kann. Der Kaiser hat nämlich das Baumwoll-Monopol ergattert, hortet aber alle Baumwolle, um die Preise dafür in astronomische Höhen zu treiben, und nun geht es darum, dass ein Intellektueller diese faulen Geschäfte des Kaisers von China vor der Öffentlichkeit als legitim, gerecht und notwendig erscheinen lassen soll. Und diesen Argumentations-Akrobaten ist Turandot auch bereit zu heiraten, denn sie empfindet Intelligenz schlichtweg als geil, weshalb sie auch mit den Worten vorgestellt wird: »Das Blut schießt ihr zum Herzen beim Anblick einer hohen [Stirner-, L. P.] Stirn, einer vielsagenden Gebärde, beim Anhören eines wohlgerundeten Satzes.« 18

Doch all die Intellektuellen, die hier »Tuis« 19 genannt werden, versagen, weil sie nicht frech und elegant genug lügen. Auch dieser Wettbewerb im Lügen hätte eine Fülle an grotesk-komischen Möglichkeiten geboten, wie man sie z. B. aus den Texten von Michail Sostschenko kennt, doch offenbar fiel Brecht nicht viel mehr ein als seinen Tuis im Stück, weshalb er sie auch alle köpfen lässt. Und damit ist die Intellektuellen-Satire auch schon zu Ende und es beginnt eine ganz neue Geschichte mit der Gestalt des Straßenräubers Gogher Gogh im Mittelpunkt. Dieser Gogher Gogh hat eine auffallende Ähnlichkeit mit Arturo Ui und somit auch mit Hitler, ist selbst ein gescheiterter Tui, gewinnt aber trotzdem die Macht im Staat, weshalb Turandot auch bereit ist, ihn zu heiraten. Doch dazu kommt es wahrscheinlich gar nicht mehr, weil inzwischen Kai Ho als der Anführer der Massen vor den Toren der Hauptstadt angekommen ist, sie erobern und dann durch eine soziale Revolution ein neues Regime errichten wird, in dem nicht mehr gelogen werden muss. Schon bei der Lektüre dieses Textes ist die Aufmerksamkeit des Lesers durchaus enden wollend, und man fragt sich erschrocken, wie Brecht es fertigbringen konnte, ein derart miserables Machwerk vorzulegen, denn Turandot ist geradezu ein dramaturgischer Offenbarungseid. Alle Handlungsfäden reißen alsbald ab, keine einzige Gestalt gewinnt ein Eigenleben, und die Verknüpfung der verschiedenen Handlungsstränge ist nirgendwo überzeugend gelungen. Selbst Wer552 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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ner Mittenzwei meint, Turandot sei nicht viel mehr als »ein dramatisches Puzzle« (II,547). Turandot ist aber nicht nur eine literarische Katastrophe, sondern auch eine psychologische, und das ist viel schlimmer. Ich habe ja schon in der Einleitung auf den überaus fruchtbaren Gedanken von Paul Ricœur verwiesen, ein literarisches Kunstwerk sei für dessen Autor nicht so sehr der Ausdruck seiner Konflikte, sondern schon »die Skizzierung ihrer Lösung« 20, denn: »Der Traum blickt zurück in die Kindheit, in die Vergangenheit; das Kunstwerk ist dem Künstler selbst voraus: es ist mehr ein prospektives Symbol der persönlichen Synthese und der Zukunft des Menschen als ein regressives Symptom seiner ungelösten Konflikte.« 21

Ich habe diesen Gedanken dann in Kapitel 9.3 wieder aufgegriffen und dahingehend ergänzt, dies könne aber nur für einigermaßen gelungene Werke gelten, weil die ästhetische Arbeit, die diese immanente Stimmigkeit eines literarischen Werks herbeiführt, zugleich damit auch die prospektivische Hellsichtigkeit des literarischen Werks erarbeitet. Und dies wiederum heißt, dass der Autor zugleich mit dieser Arbeit an der immanenten Stimmigkeit des literarischen Werks auch an der eigenen Selbsttherapie arbeitet. Diese These muss ich nun nochmal etwas weiter präzisieren, wenn es um dramatische Werke geht, denn für diesen Fall lautet dann die These, dass diese Form von Selbsttherapie nicht gelingt, wenn der Autor seine Konflikte an Chargenrollen delegiert, sondern nur gelingen kann, wenn sie an Charakterrollen delegiert werden können, damit diese sie ausagieren und zu einer Lösung bringen. Der Unterschied 22 zwischen diesen beiden Arten von Rollenfächern besteht darin, dass eine Charakterrolle eine dramatische Gestalt vergegenwärtigt, die eine Entwicklung durchmacht und beim Durchleben und Durchleiden verschiedener Situationen und Konflikte eine Reifung erfährt, wohingegen eine Chargengestalt nie reift und sich ewig gleichbleibt. So besteht z. B. die Commedia dell’arte ausschließlich aus Chargenrollen, die dramaturgisch gesehen immer nur auf der Stelle treten und immer nur dasselbe tun und sagen. Dies kann u. U. auch einigermaßen komisch sein, wenn z. B. der Dottore Graziano sein eitles Gelehrten-Gewäsch in Makkaroni-Latein absondert, ist auf die Dauer aber doch eher ermüdend. Von solchen Chargenrollen wimmelt es nun in Brechts Stück, weil eine Satire nun mal dazu verführt, ein Stück auf Chargenrollen 553 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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aufzubauen, aber diese Chargen, die Brecht uns hier vorführt, sind leider nicht mal komisch. Und so bietet sich dieses Stück aus lauter entwicklungslosen Chargen, im ganzen gesehen, als ein leeres Spektakel in rasendem Stillstand, weil Brecht in den Anmerkungen auch noch verlangt, es müsse »schnell gespielt werden« (S. 130). Somit ist Turandot also, psychologisch gesehen, ein getreues Abbild von Brechts eigener und verfremdeter Existenz nach dem 17. Juni, also mit Ricœur gesprochen, eher »ein regressives Symptom seiner ungelösten Konflikte« als »ein prospektives Symbol für deren Lösung.« Oder, um die Bildersprache des Mottos der Buckower Elegien zu verwenden: Mit einem läppischen Lappen wie Turandot ließ sich kein Segel stellen, auch keines aus irgendwelchen anderen Fetzen und Trümmern zusammenflicken, und deshalb weht in diesem Stück auch kein Wind mehr, und schon gar kein »enormer Wind«, der die Segel bläht, wie dies in den Gedichten der Hauspostille so oft geschehen ist. Doch dies gilt nicht nur für Turandot, sondern auch für Baal, denn als er um diese Zeit seine frühen Stücke neu herausgab, griff er bei Baal wieder auf eine Kombination der ersten beiden Fassungen zurück, in denen die Herzattacke Baals enthalten ist, weil nur diese beiden frühen Fassungen des Baal und die daraus abgeleitete neue Fassung letzter Hand seine eigene Situation als »regressives Symptom seiner ungelösten Konflikte« angemessen wiedergaben. Außerdem fügte er die Gefängnis-Szene wieder ein, in der Baal sich als Anhänger Stirners offenbart. Und das Stück Trommeln in der Nacht schrieb er auch nicht mehr entscheidend um, sondern ließ es immer noch so enden, dass Kragler der Revolution den Rücken kehrt, als Einziger sein Eigentum bekommt und damit zufrieden ist. Brecht blieb deshalb nur noch die Möglichkeit, seine total verfremdete Existenz hinzunehmen und als Krankheitsbild Herzneurose auszuagieren und zu erleiden, genau wie er dies in seiner Augsburger Kindheit und Jugend getan und erlitten hat; entkommen konnte er ihr nicht mehr. Und so dauerte Brechts »böser Morgen« vom Juni 1953 drei Jahre lang, bis er von einem zweiten, noch viel böseren Morgen im Juni 1956 übertroffen wurde, an dem er von den Verbrechen Stalins erfuhr und buchstäblich in sich zusammenbrach und die Implosion des sowjetischen Systems nach dem Fall der Mauer schon lange vor deren Bau vorwegnahm.

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Entmutigung II: »Ich bin’s, ich sollte büßen!«

10.6 Entmutigung II: »Ich bin’s, ich sollte büßen!« Die Zeit nach der Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 hätte Brecht eigentlich als eine Zeit der Ernte betrachten können, denn vieles lief nun in der Kulturpolitik der DDR ganz nach seinen Wünschen, und es lief offenbar auch deshalb so, weil man seine demonstrative Solidarisierung mit Staat und Partei honorieren wollte, auch wenn dabei noch so viel Manipulation im Spiel war. Die Aufarbeitung des 17. Juni war so gesehen ein Höhepunkt wechselseitiger Verwertung und »Verwurstung«. So wurde z. B., wie von Brecht schon lange gefordert 1, im Herbst 1953 die lästige Kulturkommission als Zensur-Behörde abgeschafft, und durch ein neugeschaffenes Ministerium für Kultur ersetzt, an dessen Spitze mit Johannes R. Becher ein alter Freund Brechts berufen wurde, der dann auch dafür sorgte, dass das Berliner Ensemble am 19. März 1954 ins Theater am Schiffbauerdamm einziehen konnte und auch mit den nötigen finanziellen Mitteln ausgestattet wurde. Außerdem wurde Brecht in den Beirat des Ministeriums für Kultur berufen und wurde auch noch Vizepräsident der Akademie der Künste, machte also eine veritable Karriere als Kulturfunktionär, und revanchierte sich bei seinem Gönner Becher damit, dass er dessen Stück Winterschlacht am Berliner Ensemble inszenierte. Der endlich losgewordenen Kunstkommission und ihren Banausen aber, die vor der Akademie der Künste Selbstkritik üben mussten, schickte er ein ätzend höhnisches Gedicht hinterher: Nicht feststellbare Fehler der Kunstkommission Geladen zu einer Sitzung der Akademie der Künste Zollten die höchsten Beamten der Kunstkommission Dem schönen Brauch, sich einiger Fehler zu zeihen Ihren Tribut und murmelten, auch sie Zeihten sich einiger Fehler. Befragt Welcher Fehler, freilich konnten sie sich An bestimmte Fehler durchaus nicht erinnern. Alles, was Ihnen das Gremium vorwarf, war Gerade nicht ein Fehler gewesen, denn unterdrückt Hatte die Kunstkommission nur Wertloses, eigentlich auch Dies nicht unterdrückt, sondern nur nicht gefördert.

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Trotz eifrigsten Nachdenkens Konnten sie sich nicht bestimmter Fehler erinnern, jedoch Bestanden sie heftig darauf Fehler gemacht zu haben – wie es der Brauch ist. (S. 1534)

Doch als die Westberliner Presse die Abschaffung dieser Zensurbehörde genauso bissig kommentierte, sah Brecht sich genötigt, sich gegen diesen ungebetenen Beifall von der falschen Seite zu wehren, um weiterhin am Bild des dem Regime treu ergebenen Künstlers und Kulturpolitikers zu malen, und konterte diese Kommentare aus dem Westen mit einem weiteren Gedicht, in dem er außerdem noch einmal die offizielle These vertrat, der 17. Juni sei ein von westlichen Verschwörern inszenierter Putschversuch gewesen, was in diesem aktuellen Kontext ja gar nicht nötig gewesen wäre: Nicht so gemeint Als die Akademie der Künste von engstirnigen Behörden Die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks forderte Gab es ein Au! und ein Gekreisch in ihrer näheren Umgebung Aber alles überschallend Kam ein betäubendes Beifallsgeklatsche Von jenseits der Sektorengrenze. Freiheit! erscholl es. Freiheit den Künstlern! Freiheit rings herum! Freiheit für alle! Freiheit den Ausbeutern! Freiheit den Kriegstreibern! Freiheit den Ruhrkartellen! Freiheit den Hitlergenerälen! Sachte, meine Lieben! Dem Judaskuss für die Arbeiter [am 17. Juni, L. P.] Folgt der Judaskuss für die Künstler. Der Brandstifter, der die Benzinflasche schleppt Nähert sich feixend Der Akademie der Künste. Aber nicht, um ihn zu umarmen, sondern Ihm aus der schmutzigen Hand die Flasche zu schlagen Forderten wir die Freiheit des Ellbogens. Selbst die schmalen Stirnen In denen Friede wohnt Sind den Künsten willkommener als jener Kunstfreund Der auch Freund der Kriegskunst ist. (S. 1536 f.)

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Entmutigung II: »Ich bin’s, ich sollte büßen!«

Eine weitere Form wechselseitiger Verwertung waren die Gastspiele des Berliner Ensembles mit Mutter Courage im westlichen Ausland, also in Brügge, Amsterdam und Paris, die sich für Brecht als wahre Triumphzüge erwiesen und damit wiederum das kulturpolitische Prestige der DDR gewaltig steigerten. Das System wechselseitiger Verwertung schien also zu funktionieren und von den Kröten, die man sich gegenseitig auftischte, konnte man in der Öffentlichkeit immer noch vermelden, sie schmeckten eigentlich wie Froschschenkel. Doch von all diesen Erfolgen spürt man in den privateren und privatesten Aufzeichnungen Brechts so gut wie nichts, weder in den Briefen noch in den Tagebuchaufzeichnungen, und selbst in den Gedichten finden sich kaum Spuren. Eine Ausnahme bildet das Gedicht 1954, Erste Hälfte, in dem es heißt: Ohne schwere Krankheit, ohne schwere Feindschaft. Genug Arbeit. Und ich bekam meinen Teil von den neuen Kartoffeln Den Gurken, den Spargeln, den Erdbeeren. Ich sah den Flieder in Buckow, den Marktplatz von Brügge Die Grachten von Amsterdam, die Hallen von Paris. Ich genoß die Freundlichkeiten der lieblichen A. T. Ich las die Briefe des Voltaire und Maos Aufsatz über den Widerspruch. Ich machte den Kreidekreis am Schiffbauerdamm. (S. 1545)

Diese Inszenierung, die am 7. Oktober 1954 Premiere hatte, war Brechts letzte Inszenierung eines eigenen Stückes, die er noch zu Ende bringen konnte. Und damit war er zwar in etwa am Ziel seiner Wünsche, also Herr im eignen Theater, aber offenbar auch am Ende seiner Ressourcen angelangt. Das Fiasko des Turandot-Projekts hatte gezeigt, dass er seinen Kampf »mit mir gegen mich« nicht mehr in ein dramatisches Werk abladen und dort ausagieren konnte, sondern nur noch in sich selbst und mit sich selbst und dies auch nur in Form einer Herzneurose. Er war, mit Rilke gesprochen, »ausgesetzt auf den Bergen des Herzens« 2, exponiert, hilflos, ungeborgen und ungeschützt, als ob er am Pranger stünde, und so war er in seiner zweiten Berliner Zeit in eine Situation geraten, die er in seiner frühen Augsburger Zeit schon einmal durchlebt und durchlitten hatte: Damals konnte er seine Konflikte noch nicht in ein dramatisches Werk delegieren, dort austragen und zu einer Lösung führen, jetzt konnte er es, wie das Turandot-Fiasko ge557 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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zeigt hatte, nicht mehr. Und all das wusste er offenbar auch selbst, denn ganz unvermittelt taucht 1956 in dem Gedicht Poem für Erwachsene das Wort »Herzkrampf« auf, in dessen siebter Strophe es heißt: Ich glaube nicht, mein Lieber, dass der Löwe ein Lamm ist. Ich glaube nicht, mein Lieber, dass das Lamm ein Löwe ist. Ich glaube nicht, mein Lieber, an magische Formeln. Ich glaube nicht an Verstand unter Glas. Ich glaube nicht, dass der Tisch vier Beine hat. Ich glaube jedoch, dass das fünfte ein Krampf ist. Und wenn der Krampf sich sehr häuft, mein Lieber Dann stirbt der Mensch langsam am Herzkrampf. (S. 1571)

Die Krämpfe häuften sich sogar ganz gewaltig, denn alle Zeitzeugen, die den Brecht dieser Jahre nach dem Aufstand beschreiben, zeichnen ihn als einen völlig erschöpften Mann. Offenbar hatte Brecht immer größere Mühe, im Wettbewerb wechselseitiger Verwertung mit dem DDR-Regime Schritt zu halten und fühlte sich immer mehr »verwurstet«, je höher er in der kulturpolitischen Hierarchie des Regimes stieg und je mehr Verachtung, Hohn und Spott ihm deshalb aus dem Westen entgegenschlug, weil er die Manipulationen an seinen Solidaritäts-erklärungen nie aufgedeckt hatte. Diese heillose Verstrickung in vernichtende Schuld- und Schamgefühle kannte er zwar auch aus seiner Augsburger Kindheit und Jugend, und er hatte wohl auch noch den Choral im Gedächtnis, den er damals in der Matthäus-Passion mitgesungen hatte, bevor sein Herzanfall ihn niederstreckte, denn in dieser Schlüsselstrophe wird seine Situation auf den Punkt gebracht, wenn man sie einer winzigen Änderung unterzieht und sie damit aus dem christlichen Kontext des stellvertretenden Selbstopfers löst und damit zu einer individualpsychologischen Selbstanalyse erhebt, denn dann wird aus dem Reuebekenntnis eines christlichen Sünders das Reuebekenntnis eines säkularen Renegaten und die Antwort auf die Frage nach dem Schuldigen an diesem »Krampf« könnte lauten: Ich bin’s, ich sollte büßen, An Händen und an Füßen Gebunden in der Höll. Die Geißeln und die Banden, Und was ich ausgestanden, Das hat verdienet meine Seel.

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Entmutigung II: »Ich bin’s, ich sollte büßen!«

Sehr viel anders klingen die Schuld- und Reue-Bekenntnisse von Eislers Faustus und Brechts Galilei auch nicht, und auch die Schuld- und Reue-Bekenntnisse der Angeklagten in den Moskauer Schauprozessen 3 klangen nicht viel anders. Wie krank und erschöpft Brecht zu dieser Zeit war, geht aus den Erinnerungen von Teo Otto hervor, der ihn im Februar 1956 nach Mailand begleitet hatte, wo Giorgio Strehler die Dreigroschenoper am Piccolo Teatro Mailand im Bühnenbild von Teo Ottoinszenierte, denn dort heißt es über Brecht: »Das Piccolo-Theater gab anlässlich der berühmten Dreigroschenoper-Aufführung einen großen Empfang für ihn. Er bat mich, an seiner Seite zu bleiben. Gesundheitlich angegriffen, war er ungeheuer allergisch gegen Menschen und Lärm. Um den Rücken frei zu haben, stellte er sich in eine Ecke. Er zupfte mich am Rock, als es ihm zuviel wurde. Sein Gesicht war schweißüberströmt vor Schwäche. Ich brachte ihn in einen Nebenraum, wo er erschöpft niedersank. Die Augen standen wie zwei Punkte im weißen Gesicht. Sein Hals zuckte nervös. Am nächsten Tag war Brechts Geburtstag. Jeden Versuch, davon Kenntnis zu nehmen, unterband er.« 4

In dieser Beschreibung haben wir wieder deutlich das Angstszenario der Herzneurose und die zentripetale Hauptvollzugsrichtung des dazu gehörenden Verhaltens vor uns: Der Leidende steht wehrlos mit dem Rücken zur Wand, an die er sich zurückgezogen hat; er hat Schweißausbrüche, leidet am Lärm, weil Lärm den umfassenden zentripetalen Impuls sofort massiv steigert, und ist zu Tode erschöpft. Und die nervösen Zuckungen, von denen er heimgesucht wird, hatte Brecht schon in seiner Jugend. Die Herzneurose seiner Kindheit und Jugend hatte ihn also wieder eingeholt und hatte ihn auch nun wieder fest in ihrem Würgegriff. Zwei Wochen nach Brechts Herzanfall vom 9. Februar 1956 hielt Chruschtschow am 25. Februar 1956 in Moskau auf dem XX. Parteitag der KPdSU seine Rede 5 über Stalins Verbrechen, die Brecht wiederum im Juni 1956 zu Gesicht bekam und all die bösen Vermutungen, die er schon 1938/39 im dänischen Exil gegenüber Walter Benjamin geäußert hatte, auf das schlimmste bestätigte. Hatte er damals nicht in einem Gedicht immer wieder nach dem Schicksal des einen oder anderen Freundes gefragt, der zu Opfern von Stalins Wüten geworden waren und dazu die bohrende Frage gestellt: »Gesetzt, er ist unschuldig?« (S. 1223 f.)

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Doch hatte er es nicht schon damals vermieden, die Frage selbst zu beantworten und die Konsequenzen aus dieser Antwort zu ziehen? Hatte er sich nicht damit schon schuldig gemacht und als großer Lügner erwiesen, weil man eben nicht nur lügen kann, wenn man nicht die Wahrheit sagt, sondern auch dann, wenn man die Wahrheit, die man weiß, nicht sagt und die Wahrheit unter dem Rock behält wie Andrea Sarti, aber aus ganz anderen Gründen. Und dabei hatte er doch 1935 in dem Aufsatz Fünf Schwierigketen beim Schreiben der Wahrheit kühn behauptet, man müsse, um die Wahrheit zu verkünden, neben Klugheit, Kunst- und Urteilsfähigkeit und List, vor allem Mut haben, denn: »Es erscheint selbstverständlich, dass der Schreibende die Wahrheit schreiben soll in dem Sinn, dass er sie nicht unterdrücken oder verschweigen und dass er nichts Unwahres schreiben soll. Er soll sich nicht den Mächtigen beugen, er soll die Schwachen nicht betrügen. Natürlich ist es sehr schwer, sich den Mächtigen nicht zu beugen, und sehr vorteilhaft, die Schwachen zu betrügen. Den Besitzenden zu missfallen heißt dem Besitz entsagen. Auf die Bezahlung für geleistete Arbeit verzichten, heißt unter Umständen, auf das Arbeiten verzichten, und den Ruhm bei den Mächtigen ausschlagen heißt oft, überhaupt Ruhm ausschlagen. Dazu ist Mut nötig.« 6

In der Ballade von der Billigung der Welt hatte er noch zugeben müssen: Ich bin nicht ungerecht, doch auch nicht mutig Sie zeigten mir da heute eine Welt Da sah ich nur den Finger, der war blutig Da sagt ich eilig, dass sie mir gefällt. (S. 240)

Dieser Mut hatte ihn im »real existierenden« Sozialismus offensichtlich erst recht verlassen, und so stand er nun vor aller Welt sogar als der Träger des Stalin-Preises da, den er im Mai 1955 verliehen bekommen hatte, und musste lesen, dass dieser Stalin, der den Tod von Millionen Menschen zu verantworten hatte, die in ihrer Mehrheit auch noch Landsleute und vor allem auch selbst Kommunisten waren, eine wahre Bestie gewesen sein muss. Also schrieb er sich den Schrecken von der Seele in fünf Gedichten, die er aber auch wieder nicht veröffentlichte, weil er wiederum nicht den Mut hatte, den westlichen Medien diesen Triumph zu gönnen und darüber berichten zu können, wie ein Träger des Stalinpreises mit Stalin abrechnet. Auch hier behielt er also wieder die Wahrheit lieber unterm Rock.

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Entmutigung II: »Ich bin’s, ich sollte büßen!«

Das aufschlussreichste dieser Gedichte vergleicht Stalin mit dem letzten Zaren, der an dem berüchtigten »Blutigen Sonntag« 7 im Sommer 1905 auf streikende Arbeiter schießen ließ, den Stalin in seiner Mordlust aber weit übertrifft, weil er gleichsam rund um die Uhr Leichenberge produziert und deshalb mit Recht den Titel »Verdienter Mörder des Volkes« trägt: Der Zar hat mit ihnen gesprochen Mit Gewehr und Peitsche Am Blutigen Sonntag. Dann Sprach zu ihnen mit Gewehr und Peitsche Alle Tage der Woche, alle Werktage Der verdiente Mörder des Volkes. Die Sonne der Völker Verbrannte ihre Anbeter. Der größte Gelehrte der Welt Hat das Kommunistische Manifest vergessen. Der genialste Schüler Lenins Hat ihn aufs Maul geschlagen. Aber jung war er tüchtig Aber alt war er grausam Jung War er nicht der Gott. Der zum Gott wird Wird dumm. (S. 1565)

Hätte er dieses Gedicht veröffentlicht, so hätte man sicher sofort den »Blutigen Sonntag« des Zaren Nikolai von 1905 mit dem nicht weniger blutigen Mittwoch am 17. Juni 1953 verglichen, als wieder russische Soldaten auf streikende Arbeiter schossen, und diese Pointe wollte er den westlichen Medien wohl erst recht nicht gönnen und behielt all diese Stalin-Gedichte lieber »unter dem Rock«, aber unter dem eigenen, nicht unter dem eines Schülers. In anderen Gedichten, in denen er die Verdienste und die Verbrechen Stalins gegeneinander abwägt, also die Industrialisierung Rußlands und den Sieg über Hitlerdeutschland mit »dem ungehörten Angstschrei der blutenden Genossen« verrechnet, kommt er zu dem Ergebnis, dass dieser zum Gott erhobene Stalin »madig« sei und stellt den »Anbetern« dieses madigen Gottes die Frage: »Was war falsch? Der Gott? Oder das Beten?« (S. 1566) 561 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

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Und Anbeter dieses madigen Gottes Stalin hatte es ja wahrlich genug gegeben; man muss nur einmal die Nachrufe im zweiten Heft von Sinn und Form von 1953 oder die von Gerd Koenen zusammengestellten Grossen Gesänge 8 durchblättern, um zu sehen, wie hemmungslos sich hier kommunistische Dichter prostituieren konnten und auch prostituiert haben. Da in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu diesen Stalin-Gedichten auch das oben ausschnittweise zitierte Gedicht Poem für Erwachsene entstanden ist, an dessen Ende vom Sterben am Herzkrampf die Rede ist, hat Wolf Biermann sicher recht, wenn er behauptet, er wisse, »woran der Brecht eigentlich gestorben war: am XX. Parteitag der KPdSU und an der zweiten deutschen Fassung seines GalileiStückes.« »Genauer: am Schauspieler Ernst Busch, weil der unbelehrbar die Rolle des Galilei aus der ersten Fassung spielte, wie Brecht sie vor der HiroshimaBombe geschrieben hatte, als ein Lob des Verrats, ein Lob der Feigheit, ein Lob des listigen Gelehrten Galilei.« 9

Und gegen diese Darstellung des Galilei durch Ernst Busch schrieb Brecht eben an, indem er Galileis Confessio immer weiter verschärfte. Wolf Biermann liegt hier wohl deshalb genau richtig mit seiner Behauptung, weil die Confessio Galileis in der letzten Fassung sich nach dem XX. Parteitag der KPdSU und nach der Enthüllung von Stalins Verbrechen tatsächlich noch mal neu liest, insbesondere die Passage, in der er davon spricht, dass er »einige Jahre ebenso stark wie die Obrigkeit« gewesen sei und »niemals in wirklicher Gefahr schwebte«, und dann fortfährt: »Und ich überlieferte mein Wissen den Machthabern, es zu gebrauchen, es nicht zu gebrauchen, es zu missbrauchen, ganz, wie es ihren Zwecken diente. (…) Ich habe meinen Beruf verraten.« (S. 155)

Bezieht man diese Behauptung auf den historischen Galilei, ist sie kompletter Unsinn, denn man hätte Galilei, wenn er nicht widerrufen hätte, genauso ungeniert verbrannt, wie man dies mit Giordano Bruno getan hat, und somit hat Galilei sehr wohl in Gefahr geschwebt und war der Inquisition völlig wehrlos ausgeliefert. Liest man diesen Text hingegen so, dass Galilei als der dramatische Stellvertreter von Brecht selbst spricht, ist diese Rede nicht ganz so absurd, denn Brecht war tatsächlich weder in Dänemark noch in 562 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Wer wen? – Eine Bilanz.

den USA und erst recht nicht in der DDR jemals in wirklicher Gefahr, weil er in der DDR durch den gegenseitigen Verwertungs-Wettbewerb geschützt war, und aus dem gleichen Grund auch tatsächlich einige Macht hatte, die er sehr wohl noch weit mehr hätte einsetzen können als er dies tatsächlich getan hat. Hans Mayer geht sogar so weit zu behaupten, dass der Hochverrats-Prozess gegen Wolfgang Harich und Walter Janka im März 1957 ganz anders verlaufen wäre, wenn Brecht ihn noch erlebt und zugunsten der beiden Angeklagten eingegriffen hätte: »Natürlich wäre die Repression durchgeführt worden, doch hätte sie andere Formen angenommen, und sie hätte sich nicht an jene beiden »Hochverräter« herangewagt. Brecht war der einzige Mensch in der damaligen DDR, dessen Wort machtvoll genug sein konnte, seinen literarischen Mitarbeiter Harich und seinen Verleger Janka zu schützen.« 10

Wolf Biermann hat, wie mir scheint, schon deshalb recht mit seiner Vermutung, Brechts Arbeit an seinem Galilei sei so fatal gewesen, weil er während der Proben an diesem Stück die Confessio des Galilei zu einer immer radikaleren Selbstverurteilung umschrieb, die letztlich ja auch seine eigene Selbstverurteilung war, sodass die Probenarbeit an Galilei, mit Paul Ricœur gesprochen, sich immer nur als »regressives Symptom seiner ungelösten Konflikte« erwies und diese Konflikte immer weiter verschärfen musste, doch nie als »prospektives Symbol der persönlichen Synthese« und damit auch nicht als Selbsttherapie wirken konnte. Seine Schuldgefühle müssen Brecht irgendwann buchstäblich erdrückt haben, und damit war sein Kampf »mit mir gegen mich« auch durch einen umfassenden synergetischen Infarkt seiner verfremdeten Existenz am 14. August 1956 um 23.45 Uhr beendet.

10.7 Wer wen? – Eine Bilanz. Wer hat nun wen erfolgreicher verwertet: Brecht die Möglichkeiten der DDR oder die DDR den Ruf ihres einzigen international renommierten Vorzeigedichters und Theaterkünstlers Bertolt Brecht? Hier, scheint mir, war die Bilanz in etwa ausgeglichen. Doch ganz anders steht es bei der Frage, wer bei diesem Verwer-tungswettbewerb die größeren Opfer zu bringen hatte, und hier lautet die Bilanz so, dass es wohl Brecht war, der die größeren Kröten zu schlucken hatte und 563 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

X · Zumutungen und Entmutigungen

die größeren Zumutungen und Entmutigungen erfahren musste, die mit keunerischen Geschmeidigkeiten nicht mehr auszugleichen waren. Und dies zieht sofort die Frage nach sich, ob er dies auch wirklich nötig gehabt hätte. Er war ja nach dem Krieg in die DDR gegangen, weil er allein dort die Möglichkeit sah, ein eigenes Theater in die Hand zu bekommen und war deshalb auch bereit, alle möglichen Zumutungen vonseiten der dortigen Kulturfunktionäre hinzunehmen, die ihn z. T. regelrecht hassten und die er wiederum herzlich verachtete. Dass ein Dramatiker seine Stücke in einer bestimmten Weise aufgeführt wissen will, ist natürlich verständlich, weil er ja schon beim Schreiben inszeniert und deshalb meist schon eine sehr konkrete ideale Inszenierung seines Stückes im Kopf hat, die er dann auch auf der Bühne realisiert wissen möchte. Und wenn ein Dramatiker dann außerdem auch noch eine bestimmte Theorie des Theaters entwickelt, wie Brecht dies mit seinem Konzept des »Epischen Theaters« getan hat, ist es auch mehr als verständlich, wenn er in Modellinszenierungen einen ästhetischen Mindeststandard für die Inszenierung seiner Stücke erstellen möchte, wie Brecht dies dann im Berliner Ensemble auch getan hat. Das ist, wie gesagt, zwar verständlich, aber zwingend notwendig ist dies durchaus nicht, denn auch eine solche Modellinszenierung ist nur eine von vielen möglichen Inszenierungen, die ästhetisch-theatralisch genauso gut und genauso gültig sein können. Und außerdem sind Brechts Stücke keineswegs zwingend darauf angewiesen, nach Maßgabe der Kriterien des »Epischen Theaters« aufgeführt zu werden. Wer trotzdem glaubt, man müsse, um ein Brecht-Stück zu inszenieren, auf der Probe ständig im Kleinen Organon blättern wie in einem Kochbuch, ist schon längst der kultur-konservativen Werktreue-Ideologie verfallen, der zufolge es letztlich nur eine einzige und deshalb auch einzig richtige Inszenierung eines Stückes geben könne. Mit anderen Worten: Brechts Drang nach einem eigenen Theater war zwar verständlich, letztlich aber unnötig. Er hätte auch getrost auf die Kraft seiner Texte vertrauen können, und hätte sich damit auch viele unnötige Zumutungen und Entmutigungen ersparen können. Ein Stichwort hierzu hat er ja auch selbst gegeben, denn in seinem Nachruf auf Stalin hatte er ihn zunächst als »die Hoffnung der Völker« bezeichnet, dann aber einen völlig neuen Ton angeschlagen, indem er fortfuhr: »Aber die geistigen und materiellen Waffen, die er 564 https://doi.org/10.5771/9783495824160 .

Confessio »in finsteren Zeiten«

herstellte, sind da, und da ist die Lehre, neue herzustellen.« Das darf man nun mit Fug und Recht wohl auch auf Brecht selbst beziehen und auf die Art und Weise, wie man seine Stücke poietisch-hermeneutisch analysiert und theatralisch umsetzt, und dabei ist das »Epische Theater« nur eine Möglichkeit unter unendlich vielen anderen. Eine wieder ganz andere Frage ist die, ob es Brecht gelungen war, sein eigenes Herz in den Griff zu bekommen und zu »kommandieren« und damit die Frage zu beantworten, wer bei diesem Kampf »mit mir gegen mich« Sieger geblieben sei. Diesen Kampf »mit mir gegen mich« hat Brecht eindeutig verloren, weil sein rebellisches Herz seinen eigenen »Aufstand von innen« anstrengte und sich gleichsam in einem eigenen und »inneren 17. Juni« gegen ihn erhob, mit diesem Aufstand sogar erfolgreich war, indem es in einen Dauerstreik trat und seinen Dienst aufkündigte. Brechts letztwillige Verfügung, sein ihm entfremdetes Herz nach seinem Tod zerstören zu lassen, erscheint so gesehen als eine eher hilflose Rache für diese Niederlage im Kampf »mit mir gegen mich« und als der verzweifelte Versuch, diese Niederlage letztlich doch noch in einen Sieg zu verwandeln. Und somit kann man die Bilanz ziehen, dass Brecht in seinem Werk zwar seine Erfüllung gefunden hat, in seinem Leben jedoch nicht, denn, wahrlich, er lebte wohl in allzu finsteren Zeiten.

10.8 Confessio »in finsteren Zeiten« Deshalb ziehe ich mich nunmehr zurück, verabschiede mich von meinem Leser, verneige mich ein letztes Mal tief vor dem Meister des poetischen Wortes Bertolt Brecht und gebe ihm die Möglichkeit, die Bilanz seines Lebens und seines Werkes in eigenen Worten vorzulegen und sich seinerseits vom Leser zu verabschieden mit seinem Nachruf auf sich selbst: An die Nachgeborenen 1 Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende Hat die furchtbare Nachricht Nur noch nicht empfangen.

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X · Zumutungen und Entmutigungen

Was sind das für Zeiten, wo Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! Der dort ruhig über die Straße geht Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde Die in Not sind? Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen. Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt Bin ich verloren.) Man sagt mir: iss und trink du! Sei froh, dass du hast! Aber wie kann ich essen und trinken, wenn Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt? Und doch esse und trinke ich. Ich wäre gerne auch weise In den alten Büchern steht, was weise ist: Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit Ohne Furcht verbringen Auch ohne Gewalt auskommen Böses mit Gutem vergelten Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen Gilt als weise. Alles das kann ich nicht: Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! 2 In die Städte kam ich zu der Zeit der Unordnung Als da der Hunger herrschte. Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs Und ich empörte mich mit ihnen. So verging meine Zeit Die auf Erden mir gegeben war. Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten Schlafen legte ich mich unter die Mörder Der Liebe pflegte ich achtlos Und die Natur sah ich ohne Geduld. So verging meine Zeit Die auf Erden mir gegeben war.

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Confessio »in finsteren Zeiten«

Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit Die Sprache verriet mich dem Schlächter Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich. So verging meine Zeit Die auf Erden mir gegeben war. Die Kräfte waren gering. Das Ziel Lag in großer Ferne. Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich Kaum zu erreichen. So verging meine Zeit Die auf Erden mir gegeben war. 3 Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut In der wir untergegangen sind Gedenkt Wenn ihr von unsern Schwächen sprecht Auch der finsteren Zeit Der ihr entronnen seid. Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung. Dabei wissen wir ja: Auch der Hass gegen die Niedrigkeit Verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht Macht die Stimme heiser. Ach, wir Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit Konnten selber nicht freundlich sein. Ihr aber, wenn es soweit sein wird Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist Gedenket unsrer Mit Nachsicht. (S. 355 ff.) ––––––––––––––––––––

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Anmerkungen

Einleitung 1

Brechts Kämpfe »mit mir gegen mich«

1 (S. 19) Werner Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln, Frankfurt/M. 1987, vorher schon Berlin/Weimar 1986. Ich zitiere nach der Frankfurter Ausgabe. 2 (S. 19) Diese Lücke wurde später geschlossen durch den Aufsatz von Ronald Speirs: Die Meisterung von Meister Tod, in: Brecht Yearbook 32, 2007, S. 31–56 und durch den Sammelband von Stephen Brockmann / Matthias Mayer / Jürgen Hillesheim (Hg.): Ende, Grenze, Schluss? Brecht und der Tod, Würzburg 2008, v. a. durch den Beitrag von Carl Pietzcker: »›Tod dem Tod‹. Brecht and the Fear of Death«, S. 134– 149. 3 (S. 19) Vgl. dazu die kulturgeschichtlich orientierten Darstellungen von Tankred Koch: Lebendig begraben. Geschichte und Geschichten vom Scheintod, Leipzig 1990, Steffen Schäfer: Scheintod. Auf den Spuren der Ängste, Berlin 1994 und Jan Bondeson: Lebendig begraben. Geschichte einer Urangst, Hamburg 2002, sowie die medizingeschichtlich orientierte Studie von Ingrid Stoessel: Scheintod und Todesangst. Äußerungsformen der Angst in ihren geschichtlichen Wandlungen (17.19. Jahrhundert), Köln 1983. Friederike Kempner, die das Thema des Scheintodes zum Hauptthema ihrer poetischen Bemühungen gemacht hat, zwängte ihre Ängste davor, dereinst selbst lebendig begraben zu werden, in die unsterblichen Verse: »Wisst ihr nicht, wie weh das tut, / Wenn man wach im Grabe ruht?« Zitiert nach Gerhart H. Mostar: Friederike Kempner, der schlesische Schwan, München 1965, S. 127. 4 (S. 20) Bertolt Brecht: Die Gedichte, hg. v. Jan Knopf, Frankfurt/M. und Leipzig 2008, S. 561. Das Gedicht trug zunächst den Titel Die Bibel. Ich zitiere alle Brecht-Gedichte nach dieser Ausgabe, sofern sie dort enthalten sind. 5 (S. 21) Bertolt Brecht: Journale, 2 Bde., Berlin / Weimar / Frankfurt/M. 1994, Bd. I, S. 108. 6 (S. 21) Vgl. dazu Mittenzweis überaus informative, aber auch sehr melancholische Rückblicke auf die DDR: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000, Berlin 2003, und: Zwielicht. Auf der Suche nach dem Sinn einer verlorenen Zeit, Leipzig 2004. 7 (S. 21) Carl Pietzcker: »Ich kommandiere mein Herz«. Brechts Herzneurose – ein Schlüssel zu seinem Leben und Schreiben, Würzburg 21988.

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Anmerkungen 8 (S. 21) Hans A. Hartmann: Von der Freundlichkeit der Weiten oder Auf der Suche nach der verlorenen Mutter. Der junge Brecht, in: Helmut Koopmann / Theo Stammen (Hg.): Bertolt Brecht – Aspekte seines Werkes, Spuren seiner Wirkung, München 1994, S. 31–84, v. a. S. 35–42. 9 (S. 21) Horst-Eberhard Richter/Dieter Beckmann: Herzneurose, Stuttgart 1969. 10 (S. 22) Jan Knopf: Bertolt Brecht. Lebenskunst in finsteren Zeiten. Biografie, München 2012, S. 17. Es ist einigermaßen bemerkenswert, wie sehr hier dem Germanisten Knopf in seinem Zorn über den psychoanalytischen Ansatz seines Kollegen Pietzcker die Sprache entgleitet, sodass er nicht mehr unterscheiden kann, ob jemand etwas »neurotisch« oder »als neurotisch« deutet. 11 (S. 22) Wenn man genauere Informationen über Brechts Gesundheitszustand von der Augsburger Kindheit bis zu seinem Tod sucht, ist man sowieso besser beraten, bei Stephen Parker: Bertolt Brecht. Eine Biographie, Frankfurt/M. 2018 nachzulesen, weil Parker durchweg sehr detailliert auf dieses Thema eingeht. 12 (S. 23) Brecht: Journale I,346. Brecht machte diesen Eintrag am 20. August 1953 in seinem Landhaus in Buckow, dem Ort seiner inneren Emigration in der DDR, wohin er sich nach dem 17. Juni zurückgezogen hatte und die Buckower Elegien schrieb. 13 (S. 23) Vgl. dazu Reinhold Grimm: Brecht und Nietzsche oder Geständnisse eines Dichters. Fünf Essays und ein Bruchstück, Frankfurt/M1979, S. 199. 14 (S. 23) Vgl. dazu Lenz Prütting: Homo ridens, Freiburg 42016, S. 1271–1324. 15 (S. 23) Brecht: Journale I,108. 16 (S. 23) Brecht: Journale I,108 f. 17 (S. 24) Hartmut Böhme / Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/M. 1985. 18 (S. 24) Augustinus: Theologische Frühschriften. Vom freien Willen. Von der wahren Religion. Übersetzt und erläutert von Wilhelm Thimme, Zürich / Stuttgart 1962, S. 497. 19 (S. 24) Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt/M. 2009, S. 268. 20 (S. 24) Vgl. dazu Lenz Prütting: Homo ridens, Freiburg 42016, S. 85–141, S. 277– 456 und S. 751–785. 21 (S. 25) Thomas von Kempen: Nachfolge Christi. Meditationen, Solothurn / Düsseldorf 51995, S. 232 f.; vgl. dazu auch Prütting: Homo ridens, S. 61–65. 22 (S. 25) Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Mit einem Nachwort herausgegeben von Ahlrich Meyer, Stuttgart 1981, S. 412; zitiert als »EE«. 23 (S. 25) Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt/M. 42005, S. 81. 24 (S. 26) Hermann Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 37. 25 (S. 26) Ebenda, S. 37; vgl. dazu auch Hermann Schmitz: Der Leib, Bonn 1965, S. 462 ff. 26 (S. 27) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 300–434. 27 (S. 27) Vgl. dazu Lenz Prütting: Über das Mitgehen. Einige Anmerkungen zum Phänomen transorchestraler Einleibung, in: Michael Großheim (Hg.): Leib und Gefühl. Beiträge zur Anthropologie, Berlin 1995, S. 141–152.

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Anmerkungen 2

»Ich muss immer dichten.«

1 (S. 27)

Platon: Sämtliche Werke, Reinbek 1964, Bd. I, S. 97–110, hier S. 103, 534 e

und b. 2 (S. 27) Ich zitiere Goethe immer nach der Ausgabe bei Bong: Goethes Werke. Vollständige Ausgabe in vierzig Bänden, hg. v. Karl Alt, Berlin / Leipzig / Wien / Stuttgart o. J., Bd. 1, S. 400; eine analoge Formulierung verwendet auch Tasso; vgl. Bd. 8, S. 142. 3 (S. 28) Vgl. dazu die Studie von Rainer M. Holm-Hadulla: Leidenschaft. Goethes Weg zur Kreativität, Göttingen 2008. 4 (S. 28) Brecht: Journale I, 98. 5 (S. 28) Ebenda, I,9 f. 6 (S. 29) Ebenda, I,14. 7 (S. 29) Ebenda, I,50. 8 (S. 29) Ebenda, I,72. 9 (S. 29) Ebenda, I,85. 10 (S. 31) John Fuegi: Brecht & Co. Biographie, Hamburg 1997, S. 769. Die wichtigsten dieser Mitarbeiterinnen waren Elisabeth Hauptmann, Margarete Steffin und Ruth Berlau, in deren Schriften man nachlesen kann, wie sich die Zusammenarbeit mit Brecht aus ihrer Perspektive ausnahm; vgl. dazu: Brechts Lai-tu. Erinnerungen und Notate von Ruth Berlau, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Bunge, Darmstadt und Neuwied 1985; Elisabeth Hauptmann: Julia ohne Romeo. Geschichten, Stücke, Aufsätze, Erinnerungen, herausgegeben von Rosemarie Eggert und Rosemarie Hill, Berlin und Weimar 1977; Margarete Steffin: Konfutse versteht nichts von Frauen. Nachgelassene Texte. Herausgegeben von Inge Gellert. Mit einem Nachwort von Simone Barck und einem dokumentarischen Anhang, Berlin 1991. 11 (S. 32) Vgl. dazu Sigmund Freud: »Der Dichter und das Phantasieren«. Schriften zur Kunst und Literatur, Stuttgart 2010. 12 (S. 32) Ein schlimmes Beispiel dieser Art von freudianisierender Analyse ist das Werk von Kurt R. Eissler: Goethe. Eine psychoanalytische Studie. 1775–1786, 2 Bde., Frankfurt/M. 1983–85. 13 (S. 32) Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, Stuttgart 2001, S. 139. 14 (S. 32) Paul Ricœur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M. 1969, S. 184. Ricœur wiederholt diese These auf S. 532 f. 15 (S. 33) Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910) in: S. F.: Schriften zur Kunst und Literatur, Frankfurt/M. 1987, S. 87–161, hier S. 157. Vgl. dazu auch die Antrittsvorlesung von Walter Muschg: Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, in: W. M.: Pamphlet und Bekenntnis. Aufsätze und Reden, hg. v. Peter André Bloch in Zusammenarbeit mit Elli Muschg-Zollikofer, Olten und Freiburg 1968, S. 111–135, hier S. 130 f. Muschg zitiert diese Passage dort mit ausdrücklicher Zustimmung und fügt warnend hinzu: »Angesichts dieses Ausspruchs versteht es sich von selbst, dass die Psychoanalyse Freuds von jedem, der ihr eine restlose begriffliche Zergliederung des Kunstwerks und des Künstlers zutraut oder als Intention zuschreibt, missverstanden wird.« (S. 131)

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Anmerkungen 3

Stirner und Lao-tse

Brecht: Journale I,168. Stephen Parker: Bertolt Brecht. A Literary Life, London 2014; die deutsche Ausgabe hat den Titel: Bertolt Brecht. Eine Biographie, Frankfurt/M. 2018. 3 (S. 35) Heinrich Detering: Bertolt Brecht und Laotse, Göttingen 2008. 1 (S. 33) 2 (S. 35)

Kapitel I Gläubigkeiten und Ergriffenheiten oder Die Frage nach Sünde, Schuld und Buße 1.1

Im Würgegriff der Herzneurose

Hermann Schmitz: Die Gegenwart, Bonn 1964, S. 175. Vgl. ebenda, S. 169–183, sowie Rudolf Bilz: Studien über Angst und Schmerz, Frankfurt/M. 1974, v. a. die Kapitel über Ausweglosigkeit, S. 159 ff. und über Urängste, S. 175 ff. 3 (S. 40) Paula Banholzer: So viel wie eine Liebe. Der unbekannte Brecht. Erinnerungen und Gespräche, hg. v. Axel Poldner und Willibald Eser, München 1981, S. 52 f.; vgl. auch Pietzcker, S. 8. 4 (S. 40) Bertolt Brecht. Baal. Drei Fassungen. Kritisch ediert und kommentiert von Dieter Schmidt, Frankfurt/M. 1966, S. 22 und S. 98. Ich zitiere Brechts Baal immer nach dieser Ausgabe als »Baal A«. Vgl. auch Pietzcker, S. 9. 5 (S. 40) Vgl. dazu Walter Brecht: Unser Leben in Augsburg damals. Erinnerungen, Frankfurt/M. 1984, S. 210. 1 (S. 39) 2 (S. 39)

1.2

»Ich bin’s, ich sollte büßen.«

1 (S. 44) Bertolt Brecht: Briefe. Herausgegeben und kommentiert von Günter Glaeser, Frankfurt/M. 1981, S. 86, bzw. Arnolt Bronnen: Tage mit Brecht. Geschichte einer unvollendeten Freundschaft, Frankfurt/M. 1990, S. 92. 2 (S. 44) Vgl. Hartmann, S. 36. 3 (S. 45) Bertolt Brecht: Arbeitsjournal, 2 Bde. Herausgegeben von Werner Hecht, Frankfurt/M. 19973, S. 676. 4 (S. 45) Vgl. dazu den Aufsatz von Michael Friedrichs: Brechts Erlebnis der Matthäuspassion: In St. Anna, nicht in der Barfüßerkirche, in: dreigroschenheft 3/ 2014, S. 16. 5 (S. 46) Vgl. dazu Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971. 6 (S. 46) Der barock-umständliche, aber dadurch auch genaue Titel des Werkes lautet: Historie Der Wiedergebohrnen, Oder Exempel gottseliger / so bekannt-und benannt-als unbekannt-und unbenannter Christen, Männlichen und Weiblichen Geschlechts/ In Allerley Ständen / Wie Dieselbe erst von GOTT gezogen [gezeugt,

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Anmerkungen L. P.] und bekehret / und nach vielen Kämpffen und Ängsten / durch GOttes Geist und Werk / zum Glauben und Ruh ihres Gewissens gebracht seynd. Zusammengestellt von Johann Henrich Reitz. Fünffte Edition, mit einem Register versehen. Berlenburg 1724. 7 (S. 46) Ich zitiere nach der Ausgabe von Emil Platen: Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach. Entstehung, Werksbeschreibung, Rezeption, Kassel / Basel / London / New York / München 1991. 8 (S. 46) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 992–1022, v. a. S. 1012 ff. 9 (S. 48) Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S. 116. 10 (S. 49) Gesangbuch für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, München 91954, S. 173. 11 (S. 50) Hans-Harald Müller / Tom Kindt: Brechts frühe Lyrik. Brecht, Gott, die Natur und die Liebe, München 2002, S. 21. 12 (S. 50) Müller / Kindt, S. 23. Einige Jahre nach dieser Studie brachten Hans-Harald Müller und Tom Kindt zusammen mit Frank Thomsen eine weitere BrechtStudie unter dem Titel heraus: Ungeheuer Brecht. Eine Biographie seines Werks, Göttingen 2006, kamen dort über den Erkenntnisstand ihrer ersten Studie aber nicht hinaus; vgl. dort S. 16.

1.3

Passions-Szenarios

1 (S. 50) Ich zitiere nach der Ausgabe: Fjodor Michailowitsch Dostojewskij: Die Brüder Karamasoff, Gütersloh o. J. 2 (S. 51) Bertolt Brecht: Tagebuch No 10 1913. Herausgegeben von Siegfried Unseld, Frankfurt/M. 1989, S. 83; immer zitiert als »TB 10«. 3 (S. 51) Vgl. dazu Matthäus 26,64. 4 (S. 52) Bertolt Brechts Die Ernte. Die Augsburger Schülerzeitschrift und ihr wichtigster Autor. Gesamtausgabe. Herausgegeben und kommentiert von Jürgen Hillesheim & Uta Wolf, Augsburg 1997, zit. als »Ernte«. 5 (S. 55) Vgl. dazu Hans-Ulrich Wehler: Symbol des halbabsolutistischen Herrschafts-systems: Der Fall Zabern von 1913/14 als Verfassungskrise des Wilhel-minischen Kaiserreichs, in: H-U. W.: Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte, Göttingen 1970, S. 65–84, hier S. 66.

1.4

»Wir opfern uns gern.«

1 (S. 57) Vgl. dazu: Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. Die Gnadenlehre von 397. Lateinisch–Deutsch. Herausgegeben, erklärt und mit einem Nachwort von Kurt Flasch, Mainz 22008. 2 (S. 57) Zitiert nach Matthäus 10,33. 3 (S. 57) Zitiert nach Matthäus 10,37. 4 (S. 58) Eberhard Rohse: Der frühe Brecht und die Bibel. Studien zum Augsburger Religionsunterricht und zu den literarischen Versuchen des Gymnasiasten, Göttingen 1983, S. 57 ff.

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Anmerkungen 5 (S. 59) Bertolt Brecht: Die Gedichte. Herausgegeben von Jan Knopf, Frankfurt/M. und Leipzig 2008, S. 435 bzw. Ernte, S. 140. 6 (S. 60) Goethe, Bd. 17, S. 42. 7 (S. 61) Ich zitiere Nietzsche immer nach der Ausgabe: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Herausgegeben von Karl Schlechta, München 1966, hier Bd. 2, S. 32. 8 (S. 61) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 50 f., 200 ff., 473 ff., 1700 ff. und 1742 ff.

1.5

Erste Zweifel

TB 1913, S. 91. Die Text-Varianten habe ich weggelassen. Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 827 ff. Das Schimpfwort »Aufkläricht« taucht in der Zeit der Heiligen Allianz auf, in der die damaligen Päpste einen erbitterten Kampf gegen die Folgen der Aufklärung führten, was Fritz Mauthner mit der Bemerkung kommentiert, dass sie damals »die gute alte Aufklärung zu einem schimpflichen Aufkläricht machten.« Vgl. Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, hg. von Ludger Lütkehaus, Aschaffenburg 2011, Bd. 4, S. 84. Vgl. dazu auch Helmut Hiller: Die Geschäftsführer Gottes. Eine kritische Geschichte der Päpste, München 1986, S. 214 ff. 3 (S. 64) Berthold Auerbach: Lucifer, in: B. A.: Schwarzwälder Dorfgeschichten, Stuttgart 1861, Bd. 3, S. 189–386, hier S. 191. 4 (S. 64) S. 426 bzw. TB 10, S. 41. 5 (S. 64) Da im Tagebuch das Gedicht als Sonett bezeichnet wird, gebe ich es hier, anders als im Tagebuch, auch in Sonett-Formation wieder. 6 (S. 65) S. 425 bzw. TB 10, S. 35. 7 (S. 65) Zitat aus dem Choral Lobet den Herren; vgl. Gesangbuch (Anmerkung 10 von Kapitel 1.2) Lied 10, S. 62. 8 (S. 66) Ein Zitat aus Psalm 50,15. 9 (S. 66) Bertolt Brecht: Die Mutter, Frankfurt/M. 1980, S. 64. 10 (S. 66) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 848 ff. 11 (S. 66) Zitiert nach Prütting: Homo ridens, S. 917. 12 (S. 67) Albrecht von Haller: Die Alpen und andere Gedichte. Auswahl und Nachwort von Adalbert Elschenbroich, Stuttgart 2004, S. 74. 13 (S. 67) Ebenda, S. 58. 14 (S. 67) Ebenda, S. 58. 15 (S. 68) Ich zitiere Heine nach der Ausgabe: Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Herausgegeben von Hans Kaufmann, Berlin und Weimar 1980, hier Bd. 2, S. 209. Zum biographischen Kontext vgl. Walter Hinck: Die Wunde Deutschland. Heinrich Heines Dichtung, Frankfurt/M. 1991, S. 272–280, sowie Dolf Sternberger: Heinrich Heine und die Abschaffung der Sünde, Hamburg 1972, S. 314–319. 1 (S. 63) 2 (S. 63)

1.6

»Heil mir, dass ich Ergriffene sehe!«

1 (S. 69) Vgl. dazu Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000.

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Anmerkungen Rainer Maria Rilke: Späte Gedichte, Leipzig 1934, S. 28 f. TB 10, S. 21. 4 (S. 70) Vgl. dazu Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisierung, Frankfurt/M. 1973, S. 57–69. 5 (S. 70) Vgl. dazu Klaus Schuhmann: Der Lyriker Bertolt Brecht 1913–1933, Berlin 1964, S. 18. 6 (S. 71) Vgl. dazu Karl Unruh: Langemarck. Legende und Wirklichkeit, Koblenz 1986, und Bernd Hüppauf: Schlachtenmythen und die Konstruktion des »Neuen Menschen«, in: Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hg.): »Keiner fühlt sich hier mehr Mensch«. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, S. 43–84, sowie Uwe-K. Ketelsen: »Die Jugend von Langemarck«. Ein poetisch-politisches Motiv der Zwischenkriegszeit, in: »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos der Jugend. Herausgegeben von Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz und Frank Trommler, Frankfurt/M. 1985, S. 68–96. 7 (S. 72) Hölderlins Werke. Herausgegeben von Hans Brandenburg, Leipzig o. J., Bd. 1, S. 149. Vgl. dazu Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charismas, München 2007, S. 409. Vgl. dazu auch die Studie von Lenz Prütting: Seinem Führer treu ergeben. Mein Vater im Dritten Reich, Freiburg/München 2019, und dort das Kapitel »Die Grundlagen charismatischer Herrschaft oder Den Führer spielen die Andern«, S. 52–67. 8 (S. 73) Zur literaturpolitischen und ideologischen Einordnung dieses Begriffs vgl. Karlauf, S.409. 9 (S. 73) Vgl. dazu Kaiser: Pietismus und Patriotismus, S. 124–138. 2 (S. 69) 3 (S. 70)

Kapitel II Umbrüche und Aufbrüche oder Die Suche nach der »Anima naturaliter pagana« 1 (S. 76) Die Formel »Anima naturaliter pagana«, die die Formel des Kirchenvaters Tertullian von der »anima naturaliter christiana« konterkariert, übernehme ich von Peter Sloterdijk aus dessen Werk: Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt/M. 2007, S. 185.

2.1

Einleitung

1 (S. 78) Vgl. Journale I, 107–109. Die Einträge des Jahres 1916 beginnen mit dem 10. Oktober und brechen am 22. Oktober wieder ab. Die Einträge der Jahre 1919/20 bestehen in einem einzigen undatierten Blatt (Journale I, S. 113) für 1919 und einigen ebenso undatierten Blättern für 1920, auf denen u. a. der Tod der Mutter am 1. Mai 1920 vermerkt wird, und einigen Einträgen im Juni 1920. Ab Juli 1920 erfolgen die Einträge kontinuierlich (vgl. Journale I, S. 124 ff.). Wenn man die erhaltenen Einträge überfliegt, drängt sich der Eindruck auf, dass einige Einträge

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Anmerkungen erhalten bleiben sollten, die für das spätere Selbstverständnis Brechts besonders wichtig waren, und dies lässt den Verdacht aufkommen, dass die vorhandenen Lücken nicht so sehr durch Zufall, sondern eher durch Absicht entstanden sind. 2 (S. 78) Vgl. Journale I, 113. In diesem Eintrag spricht Brecht von sich etwas distanziert in der dritten Person; sie enden mit dem Satz: »Tagsüber studierte er Medizin, und abends belehrte er Marie und so weiter.« 3 (S. 78) Bertolt Brecht: Notizbücher. Herausgegeben von Martin Kölbel und Peter Villwock im Auftrag des Instituts für Textkritik (Heidelberg) und der Akademie der Künste (Berlin), 14 geplante Bände, Berlin 2012 ff. 4 (S. 78) Bertolt Brecht: Briefe. Herausgegeben und kommentiert von Günter Glaeser, 2 Bde., Frankfurt/M. 1981.

2.2

Umbrüche »im Banne Griechenlands«

1 (S. 80) Eliza M. Butler: Deutsche im Banne Griechenlands. Deutsche verkürzte Ausgabe, bearbeitet und mit einer Einleitung versehen von Erich Rätsch, Berlin 1948. Diese sehr kritische Darstellung der deutschen Griechenland-Begeisterung ist von der deutschen Germanistik recht ungnädig aufgenommen worden, die sich lieber an Walther Rehms Sicht auf die »Griechheit« orientierte: Walther Rehm: Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens, Bern und München 4 1968. Eine Ausnahme bildet der Schweizer Germanist Walter Muschg, der sich mit allem Nachdruck hinter Butlers Darstellung der deutschen Griechenland-Begeisterung stellte; vgl. dazu sein Butler-Porträt in: Studien zur tragischen Literaturgeschichte, Bern und München 1965, S. 228–261. 2 (S. 80) Goethe, Bd. 30, S. 1–36. Zur zeitgenössischen Rezeption dieses Neuheidentums und der christlichen Vereinnahmung der griechischen Antike aus dezidiert protestantischer Sicht vgl. Walther Rehm: Griechentum und Goethezeit, S. 281 ff. und S. 310–318. 3 (S. 81) Heine 7,17. 4 (S. 82) Heine 7,35. 5 (S. 82) Heine 5,570. 6 (S. 82) Alexander Weill: Sittengemälde aus dem elsässischen Volksleben. Erzählungen. Mit einem Vorwort von Heinrich Heine. Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Ruth Glatzer, Berlin 1991. Heines Vorwort findet sich in der HeineAusgabe in Bd. 7, S. 313–315. 7 (S. 83) Siehe oben Anmerkung 42 zu Kapitel I. 8 (S. 85) Schillers Gedichte. Mit einer Einleitung von Karl Goedeke, Stuttgart o. J., S. 59–64, hier S. 63. 9 (S. 86) Ebenda, S. 64. Thomas Mann argumentiert in seinem Josephs-Roman im Kapitel Wie Abraham Gott entdeckte ganz analog; vgl. Thomas Mann: Joseph und seine Brüder, Frankfurt/M. 1964, S. 314–321, v. a. S. 319 f. 10 (S. 86) Ich zitiere Feuerbach nach der Ausgabe: Ludwig Feuerbach: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Erich Thies, Frankfurt/M. 1975, hier III,242. 11 (S. 88) Eine Anspielung auf Feuerbachs Thesen III,343. 12 (S. 89) Auf deutsch: Das Verbrechen der göttlichen Majestätsbeleidigung. 13 (S. 89) Vgl. dazu Anmerkung 13 zu Kapitel I. 14 (S. 90) In der Bibel »in heutigem Deutsch« lautet dieser schwer verständliche Vers

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Anmerkungen 20: »Er hat ja die ganze Schöpfung der Vergänglichkeit preisgegeben, nicht weil sie selbst schuldig geworden ist, sondern weil er sie in das Strafgericht über den Menschen mit einbezogen hat. Er hat aber seinen Geschöpfen die Hoffnung gegeben.« 15 (S. 90) 1. Joh. 2,15–17; vgl. Augustinus, S. 483. 16 (S. 92) Vgl. dazu das Kapitel Von den Verächtern des Leibes aus den Reden Zarathustras (Nietzsche II,300–301). 17 (S. 93) Zit. Nach: Reinhold Grimm: Brecht und Nietzsche, in: R. G.: Brecht und Nietzsche oder Geständnisse eines Dichters. Fünf Essays und ein Bruchstück, Frankfurt/M. 1979, S. 156–245. hier S. 157.

2.3

Der Umbruch im Zeichen Baals

2.3.1 Der biblische Baal 1 (S. 95) Vgl. dazu die Studie von Oswald Loretz: Ugarit und die Bibel. Kanaanäische Götter und Religionen im Alten Testament, Darmstadt 1996, sowie Niels Peter Lemche: Die Vorgeschichte Israels. Von den Anfängen bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts v. Chr., Stuttgart / Berlin / Köln 1996, S. 170 ff. 2 (S. 97) Vgl. dazu Peter Sloterdijk: Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt/Leipzig 2007. 3 (S. 97) Vgl. dazu Jan Assmann: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003, v. a. S. 193 ff. 4 (S. 98) Vgl. dazu Israel Finkelstein: Das vergessene Königreich. Israel und die verborgenen Ursprünge der Bibel, München 2014, v. a. S. 98 ff. 5 (S. 98) Vgl. dazu Bernhard Lang (Hg.): Der einzige Gott. Die Geburt des biblischen Monotheismus, München 1981, v. a. S. 9–46, wo die zentralen Kapitel aus der wegweisenden Studie von Morton Smith abgedruckt sind, und S. 47–83 die Darstellung der Jahwe-allein-Bewegung durch Bernhard Lang. Die Kenntnis dieser Jahweallein-Bewegung ist deshalb so wichtig, weil sie die erste nachweisbare fundamentalistische Bewegung der Religionsgeschichte war, an der man deshalb auch die Probleme des religiösen Fundamentalismus exemplarisch studieren kann. 6 (S. 98) Der Name Elija (bei Luther Elia) bedeutet »Mein Gott (= Eli) ist Jahwe«. 7 (S. 98) Der Name Elischa (bei Luther Elisa) bedeutet »Mein Gott (= Eli) ist der Richter (= Schofet)« oder »Mein Gott richtet (= schafat)«. 8 (S. 98) Den Ausdruck »Gottprotz« übernehme ich von Elias Canetti, der damit einen Charakter bezeichnet, der notorisch im Namen seines Gottes spricht und handelt. Fundamentalisten aller Religionen sind in diesem Sinne Gottprotzen. Vgl. dazu Elias Canetti: Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere, München 1981, S. 86 f. 9 (S. 99) Vgl. 2. Kön. 9,33. Jehu ist der Prototyp des mörderischen Zeloten, ein lachender Täter im Sinne von Theweleit; vgl. dazu Klaus Theweleit: Das Lachen der Täter: Breivik u. a. Psychogramm der Tötungslust, Salzburg 2015, v. a. S. 227 ff. 10 (S. 99) Moloch ist ursprünglich kein Gott, sondern eine bestimmte kultische Praxis, die im rituellen Umgang mit Feuer besteht. 11 (S. 100) 1. Kön. 18,25–29. Vgl. dazu auch Alfred Jepsen: Nabi. Soziologische Studien zur alttestamentlichen Literatur und Religionsgeschichte, München 1934, S. 143 ff.

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Anmerkungen 2.3.2 Der Baal des jungen Brecht Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 165 ff. Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 556–588. 3 (S. 101) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 200–216. 4 (S. 102) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 215 ff. 5 (S. 103) Vgl. dazu Carl Pietzcker: Die Lyrik des jungen Brecht. Vom anarchischen Nihilismus zum Marxismus, Frankfurt/M. 1974, S. 191 ff.; Hannah Arendt: Walter Benjamin. Bertolt Brecht. Zwei Essays, München/Zürich 21986, S. 84 ff.; Michael Schneider: Bertolt Brecht – Ein abgebrochener Riese, in: M. S.: Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Essays, Aphorismen und Polemiken, S. 211–264, hier S. 222 ff.; Axel Schnell: ›Virtuelle Revolutionäre‹ und ›Verkommene Götter‹. Brechts »Baal« und die Menschwerdung des Widersachers, Bielefeld 1993, S. 22 ff.; Müller / Kindt; S. 46 ff. 6 (S. 107) Vgl. Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, Frankfurt/M. 1993, S. 190 ff. 7 (S. 108) Pietzcker: Lyrik, S. 192. 8 (S. 109) Das Begriffspaar »Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe« bildet nicht nur die Grundlage für Plessners berühmte Studie Lachen und Weinen von 1941, sondern zieht sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes philosophisch-anthropologisches Werk. Zu den Graden zwischen diesen beiden Polen Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, die bei Plessner nicht weiter ausdifferenziert sind, vgl. Prütting: Homo ridens, S. 45–61, v. a. S. 53. 9 (S. 109) Vgl. Prütting: Homo ridens, S. 1679 ff. 10 (S. 109) Vgl. Prütting: Homo ridens, S. 1927 ff. 11 (S. 109) Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim / Wien / Zürich 1972, S. 158. 12 (S. 110) Ernst Jandl: Idyllen, Frankfurt/M. 1989, S. 20. 13 (S. 110) Vgl. dazu Eberhard Rohse: Brecht und die Bibel, Göttingen 1983. 14 (S. 111) Vgl. dazu Hanns Otto Münsterer: Bert Brecht. Erinnerungen aus den Jahren 1917–1922, Berlin und Weimar 1966, S. 20. 15 (S. 112) Gesangbuch Lied 12, S. 62. 16 (S. 113) Gesangbuch Lied 400, S. 479. Paul Gerhardts Lied orientiert sich an Psalm 37 in der Weise, dass die Anfangswörter der einzelnen Strophen zusammen den fünften Vers dieses Psalms bilden: »Befiehl dem Herrn deine Wege und hoff’ auf ihn, er wird’s wohl machen.« Deshalb sind diese Anfangswörter auch fettgedruckt. 17 (S. 115) Journale I, S. 107 18 (S. 115) Vgl. Walter Brecht: Unser Leben in Augsburg damals, Frankfurt/M. 1984, S. 311. 19 (S. 117) Vgl. Peter Paul Schwarz: Brechts frühe Lyrik 1914–1922. Nihilismus als Werkszusammenhang der frühen Lyrik Brechts, Bonn 1971, S. 52–55. 20 (S. 117) Arendt, S. 89. 1 (S. 101) 2 (S. 101)

2.4

Der Umbruch im Zeichen Stirners

2.4.1 Das Geheimnis der hohen Stirn Der Kommerzienrat Conrad Kopp besaß in Neusäß bei Augsburg eine Fabrik und hatte dadurch geschäftliche Beziehungen zu Brechts Vater.

1 (S. 118)

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Anmerkungen Bertolt Brecht: Liebste Bi. Briefe an Paula Banholzer. Herausgegeben von Helmut Gier und Jürgen Hillesheim, Frankfurt/M. 1992, S. 12. 3 (S. 118) Vgl. dazu das Buch Richter, Kap. 13–16. 4 (S. 118) Paula Banholzer: S. 27; vgl. auch S. 119 und S. 141. Ganz analog argumentiert Fuegi mit einem Hinweis auf Cesare Lombroso, kommt aber nicht auf die Idee, dass diese Frisur etwas mit Stirner zu tun haben könnte; vgl. Fuegi S. 66f 5 (S. 119) Synesios von Kyrene: Lob der Kahlheit. Übersetzt, kommentiert und mit einem Anhang versehen von Werner Golder, Würzburg 22007, S. 27. 6 (S. 121) Brecht in Augsburg. Erinnerungen, Texte, Fotos. Eine Dokumentation von Werner Frisch und K. W. Obermeier unter Mitarbeit von Gerhard Schneider, Frankfurt/M. 1976, S. 112 (künftig zitiert als »Frisch/Obermeier«). 7 (S. 124) Paula Banholzer in ihren Erinnerungen an Brecht: »Er hat das deutsche Heer, überhaupt das Deutsche Reich, auch den Kaiser, bisweilen geradezu vergöttert und von deutschen Heldentaten geschwärmt.« (S. 128) Vgl. dazu auch das hymnische Gedicht Der Kaiser (S. 448 f.). 8 (S. 124) Walter Brecht, S. 243, bzw. Frisch/Obermeier, S. 86 f. 9 (S. 124) Bertolt Brecht: Trommeln in der Nacht, in: Frühe Stücke. Baal. Trommeln in der Nacht. Im Dickicht der Städte, München 1962, S. 191. 10 (S. 126) Wenn er Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum gelesen hat, so wahrscheinlich in der damals weitverbreiteten Reclam-Ausgabe von 1892. Er könnte Stirner aber auch durch Anselm Ruests Stirner-Brevier von 1906 kennengelernt haben, das ebenfalls einige Auflagen erlebt hat, und eine sehr geschickte Einführung in Stirners Philosophie darstellt: Stirnerbrevier. Die Stärke des Einsamen. Max Stirner’s Individualismus und Egoismus mit seinen eigenen Worten wiedergegeben. Auswahl und Einleitung von Dr. Anselm Ruest, Berlin 31906. 11 (S. 126) An seinen Freund Caspar Neher schreibt Brecht aus der Villa Kopp Anfang September 1917: »Ich bin in Tegernsee Hauslehrer. 3 Stunden im Tag muss ich eintrichtern, dann bin ich der Herr Baron, ich hocke auf meiner Bude, lese Schopenhauer, spiele Laute oder ich liege auf einer Wiese unter Bäumen, voller Schwermut, wie ein Baum voll Honig ist, zur Zeit, da er faul wird.« (Briefe, S. 15) Dies bestätigt auch sein damaliger Schüler Kopp, der davon spricht, dass Brecht »meistens mit seinem Schopenhauer unterm Arm« herumlief. (Frisch/Obermeier, S. 114) 2 (S. 118)

2.4.2 Forschungslücken und Forschungsansätze Karl Marx / Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten, Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, Berlin-DDR 1953, S. 114. Einen guten Überblick über die Kontroverse von Marx und Engels mit Stirner bietet Wolfgang Eßbach: Gegenzüge. Der Materialismus des Selbst und seine Ausgrenzung aus dem Marxismus – eine Studie über die Kontroverse zwischen Stirner und Karl Marx, Frankfurt/M. 1982, sowie Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, Bd. 1, Frankfurt/M. 1983, S. 184 ff. 2 (S. 127) Der junge Brecht. Aspekte seines Denkens und Schaffens, herausgegeben von Helmut Gier / Jürgen Hillesheim, Würzburg 1996. Die Frage nach der Beziehung des jungen Brecht zu Stirner hätte sich v. a. in den Beiträgen der beiden Herausgeber angeboten, also in dem Beitrag von Helmut Gier: Eine Jugend in 1 (S. 127)

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Anmerkungen Augsburg – ein Augsburger in München. Anmerkungen zur Biographie des jungen Brecht, S. 13–30, und Jürgen Hillesheim: Geschichts-pessimismus und fatalistische Vitalität. Georg Büchners »Dantons Tod« und Bertolt Brechts »Baal« im Horizont der Philosophie Schopenhauers, S. 103–125. 3 (S. 127) Bertolt Brecht – Aspekte seines Werkes, Spuren seiner Wirkung. Herausgegeben von Helmut Koopmann und Theo Stammen, München 1994. Allerdings gehen die dort versammelten Beiträge mit Ausnahme des oben schon erwähnten Aufsatzes von Hans A. Hartmann über Brechts Herzneurose (S. 31–84) weniger auf den jungen Brecht ein. 4 (S. 127) Müller / Kindt: Brechts frühe Lyrik – Brecht, Gott, die Natur und die Liebe, München 2002. 5 (S. 127) Schwarz: Brechts frühe Lyrik 1914–1922. Hier hätte sich die dort vertretene Nihilismus-These als Brücke zu Stirner angeboten. 6 (S. 127) Carl Pietzcker: Die Lyrik des jungen Brecht. Vom anarchischen Nihilismus zum Marxismus, Frankfurt/M. 1974. Hier hätte sich das Anarchismus-NihilismusThema als Brücke zu Stirner angeboten. 7 (S. 127) Dirk von Petersdorff: Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, S. 141–192. 8 (S. 128) Vgl. dazu Dieter Schmidt: »Baal« und der junge Brecht. Eine textkritische Untersuchung zur Entwicklung des Frühwerks, Stuttgart 1966 und: Brechts »Trommeln in der Nacht«. Herausgegeben von Wolfgang M. Schwiedrzik, Frankfurt/M. 1990. 9 (S. 128) Reinhold Grimm: Brecht und Nietzsche oder Geständnisse eines Dichters. Fünf Essays und ein Bruchstück, Frankfurt/M. 1979, S. 156. Welche Probleme sich für marxistisch orientierte Brecht-Forscher aus den Befunden Grimms ergaben, zeigt der Aufsatz von Hans-Thies Lehmann und Helmut Lethen: Verworfenes Denken. Zu Reinhold Grimms Essay Brecht und Nietzsche oder Geständnisse eines Dichters im Brecht-Jahrbuch 1980, S. 149–171. 10 (S. 129) Bertolt Brecht: Frühe Stücke. Baal. Trommeln in der Nacht. Im Dickicht der Städte, München 1962, S. 6. 11 (S. 129) Stirner: EE 353, aber auch EE 289 f. und EE 302 f. 12 (S. 129) Bernd Kast: Bemerkungen zu einem beunruhigenden Faktor in Brechts Leben und Werk, in: Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, Nr. 1 (25), 3. Februar 2004 (160 n. St. E.): Max Stirner und die Literatur, S. 16–25, hier S. 20. 13 (S. 131) Lenz Prütting: Stirner und Brecht – Zwei Aufsätze, in: Der Einzige, Nr. 2, 3. Mai 2004: Diverses zu Max Stirner, S. 21–27. 14 (S. 131) Hans G Helms: Die Ideologie der anonymen Gesellschaft, Köln 1966, S. 1. 15 (S. 132) Helms: Ideologie, S. 4; vgl. dazu auch das Pamphlet von Hans G Helms: Fetisch Revolution. Marxismus und Bundesrepublik, Neuwied und Berlin 1969, in dem Helms mit der deutschen Studentenbewegung ins Gericht geht und sie, ihre Wortführer und Stichwortgeber als pure Stirnerianer abqualifiziert. 16 (S. 132) Zu nennen wären hier v. a. Carl Sternheim und B. Traven. Vgl. dazu Sternheims Aufsätze über das deutsche Juste milieu in: Carl Sternheim Gesamtwerk, Bd. 6: Zeitkritik, Neuwied 1966, S. 105–205 und Angelika Machinek: B. Traven und Max Stirner. Der Einfluss Stirners auf das Werk von Ret Marut/B. Traven, Göttingen 1986.

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Anmerkungen 17 (S. 132) Hier wären v. a. Dadaisten wie Johannes Baader zu nennen. Vgl. dazu Ulrich Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983, S. 75 ff. 18 (S. 132) Vgl. dazu Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident. 150 Jahre Stirners »Einziger«. Eine kurze Wirkungsgeschichte, Nürnberg 2004, sowie vom selben Autor den Aufsatz: Vade retro! Zur Repulsionsgeschichte von Stirners Einzigem, in: Anarchismus in Vor- und Nachmärz, hg. v. Detlev Kopp und Sandra Markewitz, Bielefeld 2016, S. 71–100. 19 (S. 133) Alexander Stulpe: Gesichter des Einzigen. Max Stirner und die Anatomie moderner Individualität, Berlin 2010, S. 28. Vgl. auch S. 45 und S. 46. 20 (S. 133) Bernd Kast: Die Thematik des »Eigners« in der Philosophie Max Stirners. Sein Beitrag zur Radikalisierung der anthropologischen Fragestellung, Bonn 1979. 21 (S. 133) Bernd Kast: Max Stirners Destruktion der spekulativen Philosophie. Das Radikal des Eigners und die Auflösung der Abstrakta Mensch und Menschheit, Freiburg/München 2016. Hand in Hand mit dieser Neufassung seiner Dissertation erstellte Bernd Kast auch eine neue Ausgabe von Stirners Hauptwerk: Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Ausführlich kommentierte Studienausgabe. Herausgegeben von Bernd Kast, Freiburg/ München 2009. 22 (S. 133) Kast: Destruktion, S. 119. Da Kast Stirner natürlich nach seiner eigenen Edition zitiert, habe ich die Seitenzahlen der Edition ergänzt, nach der ich hier durchgehend zitiere. 23 (S. 133) Ebenda, S. 119. Die erste Hälfte von Stirners Werk ist eine einzige Polemik gegen Feuerbach.

2.4.3 Stirners Frohe Botschaft für den jungen Brecht Vgl. oben Kapitel 2.2.2. Stirner: EE, 170; vgl. dazu auch Hermann Schmitz: Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität, Bonn 1995, Kap. Stirner und Nietzsche, S. 83–89. 3 (S. 138) Bertolt Brecht: Baal. Drei Fassungen. Kritisch ediert und kommentiert von Dieter Schmidt, Frankfurt/M. 1966, S. 58. 4 (S. 139) Die Passage im Korintherbrief lautet bei Luther: »Wie stimmt Christus mit Belial? Oder was für ein Teil hat der Gläubige mit dem Ungläubigen? Was hat der Tempel Gottes für Gleichheit mit dem Götzen?« In der Bibel »in heutigem Deutsch« wird der Name Belial ausgespart, weshalb es dort heißt: »Sind etwa Christus und der Teufel in Einklang zu bringen? Was verbindet Glauben und Unglauben? Was haben die Götzen im Tempel Gottes zu suchen?« 5 (S. 140) Für Dolf Sternberger war der Saint-Simonismus, dem Heine anhing, eine veritable politische Religion; vgl. dazu Sternberger, S. 52 ff., S. 219 ff. und S. 284 ff. 6 (S. 140) Gesammelte Schriften und Dichtungen von Richard Wagner, Leipzig o. J., Bd. 6, S. 192 bzw. Richard Wagners Musikdramen: Der Ring des Nibelungen. Parsifal, hg. v. Edmund E. F. Kühn, Berlin o. J., S. 211. 7 (S. 140) Vgl. dazu Stirner: EE 106, 167, 199, 330 f., 342, 351, 358 ff., 382. 8 (S. 140) Vgl. dazu Stirner: EE 123, 359, 382, 411. 9 (S. 141) Nikolaus Lenaus sämtliche Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Eduard Castle, Leipzig o. J., Bd. 1, S. 172. 10 (S. 143) Brecht: Journale I, S. 116 f. 1 (S. 135) 2 (S. 135)

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Anmerkungen 11 (S. 143) Vgl. dazu Hiob 9,14–24 und Prütting: Homo ridens, S. 310–312, über die Art und Weise, wie dieser Gott Hiob von oben herab mit seiner Lachkotze (la’ag/ subsannatio) verlacht. 12 (S. 143) Eine Anspielung auf den Römerbrief 6, 23. 13 (S. 143) Lessings Werke. Herausgegeben von Prof. Dr. H. Blümner, Bd. 9,2, Berlin und Stuttgart o. J., S. 368. 14 (S. 144) Brecht: Journale I, S. 118. 15 (S. 144) Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Neuzeit, Frankfurt/M. 2015, S. 455.

2.4.4 Stirners Kritik der gläubigen Unvernunft Ich zitiere Kant immer nach der Ausgabe: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 62005. 2 (S. 145) Der vielzitierte Ausdruck »Alleszermalmer« stammt von dem Jesuiten Benedikt Stattler (1728–1797), einem Philosophen der Universität Ingolstadt, der 1788 ein dreibändiges Werk mit dem Titel Anti-Kant veröffentlichte. Vgl. dazu den Aufsatz von Jakub Sirovátka: Den ›Alleszermalmer‹ zermalmt? Ein Streit um Kant: Joseph Weber, Stattlers ›Anti-Kant‹ und Bischof Sailer, in dem Sammelband: Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselvollen Geschichte. Herausgegeben von Norbert Fischer, Freiburg. Basel. Wien 2005, S. 263–282. 3 (S. 145) Vgl. dazu Kant II,523 ff. 4 (S. 148) Heine Bd. 5, S. 604 f. 5 (S. 148) Dass Nietzsche Stirners Hauptwerk gut gekannt hat, steht mittlerweile fest. Vgl. dazu Carl Albrecht Bernoulli: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, Jena 1908, S. 238 f. Dort wird berichtet, dass Nietzsche gegenüber der Frau seines engen Freundes Overbeck aus seiner Basler Zeit die genaue Kenntnis Stirners gestanden und hinzugefügt habe, dass er so viel von Stirner übernommen habe, dass man sogar von einem Plagiat reden werde. Genauere Angaben machte Nietzsche da nicht, aber es würde sich lohnen, v. a. die Fröhliche Wissenschaft mal auf Anleihen bei Stirner hin zu durchforsten, insbesondere die Bücher IV und V ab § 335 ff. Zu dem Thema vgl. auch den Aufsatz von Bernd A. Laska: Nietzsches initiale Krise. Die Stirner-Nietzsche-Frage in neuem Lichte, in: Germanic Notes and Reviews, Bd. 33, Nr. 2, Herbst 2002, S. 109–133. 1 (S. 144)

2.5

Bilanz und Ausblick

Siehe oben Anmerkung 5 zu Kapitel 2.4.3. Ich zitiere Schopenhauer immer nach der Ausgabe: Arthur Schopenhauer’s sämmtliche Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Eduard Grisebach, Leipzig 2 1892, hier Bd. 1, S. 150. 3 (S. 150) Ich verweise v. a. auf die beiden Werke: Der Leib, Bonn 1965, und: Die Person, Bonn 1980. 4 (S. 151) Vgl. dazu Gerd Koenen: Die großen Gesänge. Lenin, Stalin, Mao, Castro … Sozialistischer Personenkult und seine Sänger von Gorki bis Brecht – von Aragon bis Neruda, Frankfurt/M. 1987, S. 78 ff. und 107 ff. 1 (S. 149) 2 (S. 150)

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Anmerkungen

Kapitel III Selbstverausgabungen und Verklärungen oder Der Einzige Baal und sein Eigentum 3

Vom Einsamen zum Einzigen

3.1

Johsts Einsamer Grabbe

Ich zitiere nach der Ausgabe Hanns Johst: Der Einsame. Ein Menschenuntergang, Berlin 1917. Mit einem Bilder-Anhang von Rolf Badenhausen. 2 (S. 152) Vgl. dazu Dieter Schmidt: »Baal« und der junge Brecht. Eine textkritische Untersuchung zur Entwicklung des Frühwerks, Stuttgart 1966, S. 28 ff. und S. 62 ff., zit. als »Schmidt/Brecht«. 3 (S. 152) Ich zitiere Grabbe nach der Ausgabe, die offensichtlich auch Johst vorgelegen hat, als er sein Grabbe-Stück schrieb: Christian Dietrich Grabbes sämtliche Werke in sechs Bänden. Vollständige Ausgabe mit den Briefen von und an Grabbe. Herausgegeben und mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Nieten, Leipzig ca. 1880, hier Bd. 3, S. 12–130; zit. als »Grabbe/Nieten«. 4 (S. 153) In diesem Punkt weicht Johst völlig von Grabbes Biographie ab. 5 (S. 153) Vgl. dazu Curt Hohoff: Heinrich von Kleist in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1958, S. 152. 6 (S. 153) Ich zitiere Kleist nach der Ausgabe Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Helmut Sembdner, 2 Bde., München 1961, hier Bd. I, S. 707. 7 (S. 154) Hanns Johst: Ich glaube! Bekenntnisse, München 1928, S. 111 f. 8 (S. 154) Vgl. Grabbe/Nieten III, 193–247. 9 (S. 154) Schmidt/Brecht, S. 27 ff. 10 (S. 154) Schmidt/Brecht, S. 28. 11 (S. 154) Journale I,108. 12 (S. 155) Brecht: Briefe I,57. 13 (S. 156) Brecht: Briefe I,58. 14 (S. 156) Bertolt Brecht: Baal. Drei Fassungen. Kritisch ediert und kommentiert von Dieter Schmidt, Frankfurt/M. 1966, zit. als »Baal A«, hier S. 149 ff. 1 (S. 152)

3.2

Brechts Einziger Baal

Baal A, S. 11. Gesangbuch für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, München 9 1954, S. 624. 3 (S. 158) Diese Formulierung dürfte von Stirner angeregt sein, der in dem Kapitel Mein Selbstgenuss gegen das christliche und speziell gegen das lutherische Sündenbewusstsein, demzufolge wir »allzumal Sünder seien« (EE,403), mit den Sätzen polemisiert: »Wir sind allzumal vollkommen, und auf der ganzen Erde ist nicht Ein Mensch, der ein Sünder wäre! Es gibt Wahnsinnige, die sich einbilden, Gott Vater, Gott Sohn oder der Mann im Monde zu sein, und so wimmelt es auch von Narren, die sich Sünder zu sein dünken; aber wie jene nicht der Mann im Monde sind, so 1 (S. 156) 2 (S. 157)

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Anmerkungen sind diese – keine Sünder. Ihre Sünde ist eingebildet.« (EE,404) Diesen Hinweis verdanke ich dem Stirner-Forscher Hauke Stroszeck. 4 (S. 158) Baal A, S. 58. 5 (S. 161) Möglicherweise ist dieses Thema auch angeregt durch Knut Hamsuns Erstlingsroman Hunger, den der junge Brecht um diese Zeit gelesen hat. 6 (S. 162) Vgl. dazu die Auflistung von Fehldeutungen und Missverständnissen, die Bernd Kast seiner Stirner-Ausgabe im Anhang S. 370 ff. beigefügt hat. 7 (S. 162) Moses Heß: Die letzten Philosophen, in: Moses Heß: Philosophische und sozialistische Schriften 1837–1850. Eine Auswahl. Herausgegeben und eingeleitet von Auguste Cornu und Wolfgang Mönke, Berlin 1961, S. 379–393. 8 (S. 162) Vgl. dazu Ernst Barnikol: Das entdeckte Christentum im Vormärz. Bruno Bauers Kampf gegen Religion und Christentum und Erstausgabe seiner Kampfschrift, Jena 1927. Bruno Bauers Kampfschrift Das entdeckte Christentum von 1843 ist dort S. 83–164 abgedruckt. 9 (S. 163) Wohl eine Anspielung auf Nikolaus Lenaus Gedicht von den drei Zigeunern, auf das auch in Stirners Buch wiederholt angespielt wird; vgl. dazu EE 123, 358 f., 388, 411. 10 (S. 165) Ich zitiere Ovids Metamorphosen meist nach der Übersetzung von Heinrich Christian Pfitz: Publius Ovidius Naso’s Werke. Erstes Bändchen. Verwandlungen, Stuttgart 1833. 11 (S. 166) Bertolt Brecht: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Frankfurt/M. 1963. 12 (S. 166) Auf diesen ominösen Tod des Jakob Schmidt werden wir später zurückkommen müssen. 13 (S. 167) Vgl. dazu die Gedichte Der brennende Baum (S. 435) und Das Lied vom Geierbaum (S. 470 ff.). 14 (S. 168) Stirner spielt hier auf den zweiten Lehrsatz aus Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 an; vgl. dazu Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftsehre als Handschrift für seine Zuhörer (1794), hg. v. Wilhelm G. Jacobs, Hamburg 1970, S. 165 ff. 15 (S. 168) EE,199. Vgl. dazu Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das antigenealogische Experiment der Moderne, Frankfurt/M. 2015, S. 452– 470, v. a. S. 459 ff., wo Sloterdijk Stirner als »herkunftsschwachen und nachkommenlosen Selbstverzehrer« (S. 467) vorstellt, allerdings ohne jeden Verweis auf Brecht oder auf Baal, obwohl es doch in Baals Choral heißt: »doch Kinder fürchtet sogar Baal.« 16 (S. 170) Vgl. dazu Alfred Jepsen: Nabi, München 1934, das Kapitel über ekstatische Rasereien als Form von Verkündigung, S. 5–11. 17 (S. 172) Im achten Bild sitzt Grabbe in einer Kneipe und liest seinem Freund Waldmüller die Golgatha-Szene aus seinem Fragment gebliebenen Stück über Jesus Christus (S. 95) vor. Vgl. dazu Grabbe / Nieten, Bd. 4, S. 125. 18 (S. 172) Vgl. dazu Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt/ M. 1973, S. 193–202. 19 (S. 172) Vgl. dazu Matthäus 17,1–8; Markus 9,2–16 und Lukas 9,28–36. 20 (S. 172) Vgl. dazu Matthäus 16,16, Markus 8,29 und Lukas 9,20. 21 (S. 173) Vgl. dazu Joseph Ratzinger Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, Freiburg 2007, S. 334–365. Ratzingers Darstellung der Verklärung Jesu ist allerdings stel-

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Anmerkungen lenweise richtig ärgerlich, weil sie immer wieder in die Untiefen allegorischer Exegese abdriftet. 22 (S. 173) Die göttliche Wolke Schechina wird in Psalm 139 sehr anschaulich als eine Aura dargestellt, die den Gläubigen in vollendeter Umhaftigkeit umhüllt, wo immer er auch sein mag. 23 (S. 176) Ovid, S. 296. Vgl. dazu Brechts frühes Gedicht Geschwisterbaum (S. 495 ff.), das sich wie ein Echo der Geschichte von Philemon und Baucis liest. 24 (S. 178) Diese Szene findet sich nur bei Matthäus 26,40. 25 (S. 178) Würde Baal hier mit sich selbst reden, so würde er sich wohl duzen à la »Baal, du musst hinaus!« Also ruft er tatsächlich seinen Gott Baal an. 26 (S. 179) Hans im Glück wurde am 16. Februar 1997 unter meiner Texteinrichtung und Einstudierung an den Städtischen Bühnen Augsburg als szenische Lesung uraufgeführt. Seltsamerweise taucht dieser Text bei Jan Knopf: Brecht-Handbuch. Theater, Stuttgart 1980, an keiner Stelle auf.

3.3

Bilanz und Ausblick

Sloterdijk: Kinder der Neuzeit, S. 455. Vgl. dazu Sloterdijk, ebenda, S. 456. 3 (S. 181) Stirner war einige Jahre lang Lehrer an einer Mädchenschule und hat in dieser Eigenschaft 1842 eine kleine Abhandlung veröffentlicht, um seine Vorstellungen einer antiautoritären Pädagogik niederzulegen, die schon deutlich auf sein Hauptwerk hinweisen und von seinen Zeitgenossen im deutschen Vormärz als reichlich radikal empfunden wurden: Das unwahre Prinzip unserer Erziehung oder Humanismus und Realismus, in: Die Hegelsche Linke. Dokumente zu Philosophie und Politik im deutschen Vormärz. Herausgegeben von Heinz und Ingrid Pepperle, Leipzig 1985, S. 412–430. 4 (S. 181) Sloterdijk: Kinder, S. 455 f.; vgl. dazu überhaupt Sloterdijks Ausführungen zu Stirner S. 453–470. 1 (S. 181) 2 (S. 181)

Kapitel IV Vereinzigungen und Aneignungen oder Der Einzige Kragler und sein Eigentum 4.1

Brechts spätes Unbehagen an seinem frühen Stück

Brecht meint das flammende Pathos des Expressionismus und hatte dabei wohl deutsch-jüdische Autoren wie Ernst Toller oder Franz Werfel im Auge. So schreibt er z. B. Juni 1918 an seinen Freund Caspar Neher aus München: »Mit Widerwillen erfüllt mich nur die zeitgenössische junge Kunst. Dieser Expressionismus ist furchtbar. Alles Gefühl für den schönen runden, oder prächtig ungeschlachten Leib welkt dahin wie die Hoffnung auf Frieden. Der Geist siegt auf der ganzen Linie über das Vitale. Das Mystische, Geistreiche, Schwindsüchtige, Geschwollene, Ekstatische bläht sich, und alles stinkt nach Knoblauch.« (I,45)

1 (S. 182)

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Anmerkungen Alfons Goldschmidt: Moskau 1920, Berlin 1920, bzw. Die Wirtschaftsorganisation Sowjet-Rußlands, Berlin 1920. Vgl. dazu auch Gerd Koenen: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945, München 2005, S. 303 ff. Das Buch Moskau 1920 ist 1987 vom Parteiverlag der SED mit einer umfangreichen Einleitung von Wolfgang Kießling nachgedruckt worden, die ausführlich über Leben und Werk von Alfons Goldschmidt unterrichtet und auch den Vortrag im Münchner Kindl-Keller (S. 56) erwähnt, aber natürlich nicht Brechts abfälligen Kommentar dazu. In der zeitgenössischen Rezension von Kurt Tucholsky heißt es über Moskau 1920 u. a.: »Es ist bitter, einem so verdienten Manne, wie Goldschmidt es ist, sagen zu müssen, wie er seine Aufgabe verfehlt hat.« (S. 424) Und sie endet mit dem sarkastischen Satz: »Das ist sicher ein deutscher Genosse, der kriegt den Idealismus nicht aus dem Hirn.« (S. 425) Kurt Tucholsky: Aus Moskau zurück, in: K. T.: Gesammelte Werke in 10 Bänden, Reinbek bei Hamburg 1975, Bd. 2, S. 422–425. 3 (S. 188) Journale I, 168. 4 (S. 188) Journale I, 168. 5 (S. 189) Alfred Döblin: Die drei Sprünge des Wang-lun, München 21980, S. 48. 6 (S. 189) Laotse: Taoteking. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Aus dem Chinesischen verdeutscht und erläutert von Richard Wilhelm, Jena 1921, S. 31. 2 (S. 187)

4.2

Kraglers Emanzipation zum Eigner seiner selbst

Ich zitiere die »Augsburger Fassung« nach der Ausgabe: Brechts »Trommeln in der Nacht«. Herausgegeben von Wolfgang M. Schwiedrzik, Frankfurt/M. 1990. 2 (S. 190) Eine Replik Mephistos in der Hexenküche, Vers 2509. 3 (S. 190) Vgl. dazu die Auflistung in Kapitel 2.4.3. 4 (S. 192) In der Hauspostille heißt das Gedicht Legende vom toten Soldaten (S. 117 ff.) und steht unmittelbar vor dem Schlusskapitel. 5 (S. 192) Das Gedicht dürfte noch 1918 entstanden sein, also noch vor Ende des Krieges. Zur genaueren Datierung und den Umständen seiner Entstehung vgl. Jürgen Hillesheim: Bertolt Brechts Augsburger Geschichten, Augsburg 2005, S. 73 ff. 6 (S. 193) Der »rote Becker« war Hermann Heinrich Becker (1820–1885). 7 (S. 193) Laut Regieanweisung steht Glubb immerhin auf einem Stuhl. Das Motiv vom Dichter auf einer mehr oder weniger hohen Zinne war ein beherrschendes Thema der politischen Lyrik des deutschen Vormärz, v. a. in der Auseinandersetzung zwischen Herwegh und Freiligrath. Vgl. dazu Peter Demetz: Marx, Engels und die Dichter. Ein Kapitel deutscher Literatur-geschichte, Frankfurt / Berlin 1969, S. 78–101. 8 (S. 194) Glubb verwendet hier dieselben biblischen Bilder wie der Geistliche in der Gefängnis-Szene im Gespräch mit Baal und meint offenbar ebenfalls das apokalyptische Tier aus der Tiefe, das laut Offenbarung 13,1 sieben Häupter und zehn Hörner hat und auf seinen Häuptern »Namen der Lästerung« trägt. Für den religiösen Anarchisten Glubb ist dieses apokalyptische Untier der Staat, wie immer er auch beschaffen sein mag. 9 (S. 194) Der Ausdruck »Lachkotze« ist mein Vorschlag, den biblischen Terminus »subsannatio« zu übersetzen, der ein hoch aggressives höhnisches Auslachen1 (S. 190)

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Anmerkungen von-oben bezeichnet und in der Luther-Bibel viel zu schwach mit »spotten« übersetzt wird. Die klassischen Bibelstellen für dieses zynische Auslachen-von-oben sind Psalm 2,1–4, wo Jahwe all seine Götter-Rivalen auslacht, und Hiob 9,15–23, wo Hiob sich darüber empört, dass sein Gott ihn sadistisch quält und außerdem auch noch auslacht. Das kynische Auslachen-von-unten ist die Domäne der philosophischen Narren in der Tradition des Diogenes. Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 302–312, bzw. S. 254 ff. und S. 930 ff., sowie das Kapitel über Diogenes und seine Nachfolger bei Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, S. 203–396.

4.3

Partei und Verein

Stirner zitiert hier den Beginn von Georg Herweghs Gedicht Die Partei von 1842, das ausdrücklich »An Ferdinand Freiligrath« gerichtet ist, weil dieser sein Gedicht Aus Spanien (1841) mit den Zeilen hatte enden lassen: »Der Dichter steht auf einer höhern Warte, / Als auf den Zinnen der Partei.« Vgl. dazu die Darstellung der literarisch-politischen Zusammenhänge in der Studie von Peter Demetz in Anmerkung 7 zu Kapitel 4.2. 2 (S. 196) Die Studie von Peter Demetz ist auch deshalb so erhellend, weil sie zeigt, wie genau im deutschen Vormärz die Probleme politisch engagierter Dichtung und damit zugleich auch die Probleme von Brechts eigenem Werk vorweg-genommen worden sind. Dies gilt v. a. für Kapitel IV, S. 78–115, in dem die Konflikte und Diskussionen zwischen Marx, Engels, Heine, Freiligrath, Herwegh und Lassalle dargestellt werden. 3 (S. 197) Vgl. dazu die sehr kompetente Darstellung in der Studie von Angelika Machinek: B. Traven und Max Stirner. Der Einfluss Stirners auf das Werk von Ret Marut/B. Traven. Eine literatursoziologische Untersuchung zur Affinität ihrer Weltanschauung, Göttingen 1986, S. 86 ff. Machineks Studie ist auch ganz allgemein eine gute Einführung in Stirners Philosophie. 4 (S. 197) Vgl. dazu die oben zitierte Tagebuch-Notiz vom 12. November 1920 (I,163), die sich auch wie ein Echo auf Stirners Bemerkung über den Kommunismus lesen lässt. 1 (S. 196)

4.4. Revolutionäre und Empörer Tollers Stück wurde am 30. November 1919 in Berlin uraufgeführt. Eine der vielen erfundenen und leider auch gern geglaubten Legenden vom Rationalisten Brecht, die Brecht über sich verbreitet hat. 3 (S. 198) Wohl eine Anspielung auf Franz Werfels berühmtes Gedicht AN den Leser, das mit dem Vers beginnt: »Mein einziger Wunsch ist, dir, o Mensch verwandt zu sein!« und mit den Versen endet: »O, könnte es einmal geschehn, / Dass wir uns, Bruder, in die Arme fallen!« Robert Neumanns Parodie auf diesen Expressionismus-Kitsch dürfte Brecht wohl besser gefallen haben, denn sie endet mit dem Vers: »Jetzt aber genug! Und fall mir schon endlich, o Mensch, um den Hals!« Zitiert nach: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. (1920) Mit Biographien und Bibliographien neu herausgegeben von Kurt Pinthus, Rein1 (S. 198) 2 (S. 198)

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Anmerkungen bek 1959, S. 279, und Robert Neumann: Meisterparodien. Herausgegeben von Jens Jessen, Zürich 1988, S. 48. 4 (S. 199) Er hatte vielleicht keine sehr genauen Kenntnisse, aber sehr wohl eine dezidierte Meinung dazu. Vgl. oben die Anmerkungen 2–6 zu Kapitel 4.1. 5 (S. 200) Die vielzitierte »friedliche« DDR-Revolution von 1989 war so gesehen zunächst eigentlich auch keine Revolution, sondern eine egoistische Empörung durch Flucht, der erst dann die Einrichtung neuer Institutionen als eigentliche Revolution folgte. 6 (S. 201) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 271 f.

4.5

Bilanz und Ausblick

Vgl. dazu auch das Gespräch über Trommeln in der Nacht zwischen Brecht, Fritz Sternberg und Erwin Piscator in Schwiedrzik, S. 189–205, in dem Brecht seinen Kragler v. a. gegen Piscator verteidigt, der durch eine tiefgreifende Bearbeitung des Stücks Kragler in einen klassenbewussten proletarischen Revolutionär verwandelt sehen wollte. 2 (S. 201) Ich zitiere nach der Ausgabe edition suhrkamp Nr. 21 Frankfurt/M. 1963. 3 (S. 202) Die ersten veröffentlichten Passagen des Fatzer-Fragments finden sich in Heft 1 der Versuche (S. 29–41); vgl. dazu auch Mittenzwei I,320 ff. Heiner Müller hat für seine Bühnenfassung des Fatzer-Materials unter dem Titel: Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer, Frankfurt/M. 1994, dieses Material sich allerdings so sehr angeeignet und es dabei in Richtung auf seine eigenen Stücke Philoktet und Mauser so sehr ›vermüllert‹, dass man diese Bühnenfassung für eine Analyse von Brechts Werksentwicklung nicht mehr gebrauchen kann. Aber auch Heiner Müller kam nicht auf die Idee, dass das überaus umfangreiche Fatzer-Material im BrechtNachlass (ca. 400 Seiten) etwas mit der sehr schwierigen Emanzipation Brechts von Stirner zu tun haben könnte, obwohl er dies wohl dunkel geahnt haben muss, denn er schreibt dazu: »Der ›Egoist‹ Fatzer, zunächst ganz offensichtlich eine Identifikationsfigur für Brecht, wurde von Fassung zu Fassung immer mehr abgebaut. Dann wurde Koch der Protagonist. In der letzten Fassung, von der es nur Bruchstücke gibt [weshalb man dort auch besonders viel aus dem eigenen Werk in das fremde hineinprojizieren kann, L. P.], wird Koch zu Keuner, Keuner als Leninfigur der Pragmatiker, der das Mögliche versucht. Der Fatzer ist ein Komplement zu Koch und umgekehrt. Koch der Terrorist, Fatzer der Anarchist, Koch/Keuner die Verbindung von Disziplin und Terror.« (S. 8) Wenn das stimmt, was Heiner Müller hier behauptet, dann wäre die von ihm behauptete dem Fatzer-Material immanente Entwicklungstendenz in etwa identisch mit der Entwicklung von Brechts Gesamtwerk, wie sie hier in dieser Studie in den Kapiteln V, VI und VIII dargestellt wird. Doch dann kommt Müller alsbald wieder auf sein eigenes zentrales Thema zurück, auf sein allgemeines Quengeln nach neuen Quellen von wirklich tragischen Konflikten, und seine Argumentation driftet ab in Richtung RAF und Mauser, also zu seinem ureigenen Thema, der angeblich zwingenden »Verbindung von Demut und Töten« (S. 9), die »ein Kernpunkt des Fatzer-Textes und ursprünglich auch der RAF-Ideologie« (S. 9) sei, sodass im Zentrum des tragischen Geschehens Leute stehen, »die sich zum Töten zwingen müssen. Darum geht es auch in Mauser und in der Maßnahme.« (S. 9) Denn, so Müller, »Töten, mit Demut, das ist der 1 (S. 201)

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Anmerkungen theologische Glutkern des Terrorismus.« (S. 12) Dass es auch einen spezifischen Demuts-Hochmut gibt, über den man bei Bernhard von Clairvaux einiges nachlesen kann, scheint Heiner Müller nie in den Sinn gekommen zu sein.

Kapitel V Enteinzigungen und Enteignungen oder Der Einzige im Sog des Man 5.1

Einleitung

Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Band 10, Stücke 10.1: Stückfragmente und Stückprojekte, Berlin und Weimar / Frankfurt/M. 1997, S. 24; immer zitiert als »Stücke 10«. 2 (S. 207) Vgl. dazu die beiden Studien von Gottfried Künzel: Der Neue Mensch. Zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1994, S. 139–260, und Andreas Steffens: Philosophie des 20. Jahrhunderts oder Die Wiederkehr des Menschen, Leipzig 1999, S. 87–203, wo die verschiedenen Versuche darstellt werden, diesen »Neuen Menschen« zu erzeugen. 3 (S. 207) Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 1970, S. 69. 1 (S. 206)

5.2

Man ist Man

Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 121972, S. 126 ff. Vgl. dazu EE,36–71. 3 (S. 208) Ich zitiere durchweg nach der Ausgabe: Brechts »Mann ist Mann«. Herausgegeben von Carl Wege, Frankfurt/M. 1982. 4 (S. 212) Vgl. dazu S. 22, 66, 101, 190, 223, 228. 5 (S. 214) Bertolt Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst, 3 Bde., Redaktion Werner Hecht, Frankfurt/M. 1967, II,108. 6 (S. 215) Vgl. dazu: Ein Gott, der keiner war, München 1962. 7 (S. 215) Gerhard Schumann: Wir aber sind das Korn. Gedichte, München 1936, S. 44. 8 (S. 216) S. 193, 201, 203 f., 211. 9 (S. 217) Vgl. EE 36–71. 10 (S. 218) Meister Eckeharts Schriften und Predigte. Aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt und herausgegeben von Herman Büttner, Jena 1923, Bd. II, S. 7. 11 (S. 218) Eugen Drewermann: Kleriker. Psychogramm eines Ideals, Olten und Freiburg 21989. 12 (S. 218) Eine Anspielung auf die frühchristliche Demuts-Leiter Kassians, die dann von Benedikt und später auch noch von Bernhard von Clairvaux übernommen wurde, um die einzelnen Grade von Demut genauer bestimmen zu können, die 1 (S. 208) 2 (S. 208)

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Anmerkungen man dem Mönch ansinnen wollte. Vgl. dazu auch Prütting: Homo ridens, S. 422– 430 und S. 462–470. 13 (S. 219) Drewermann, S. 429 f.; vgl. auch S. 593. 14 (S. 219) Drewermann, S. 430. 15 (S. 219) Vgl. dazu Wolfgang Leonhard: Die Revolution entlässt ihre Kinder, Köln 1990. 16 (S. 220) Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Frankfurt/M. 1962, S. 518. 17 (S. 220) Ebenda, S. 518. 18 (S. 220) Michael Großheim: Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement, Tübingen 2002, S. 6 f.; vgl. auch das Kapitel über die »unheimliche Welt absoluter Selbstlosigkeit«, S. 154 ff. 19 (S. 220) Ebenda, S. 7. 20 (S. 221) Vgl. dazu Fuegi, S. 811 f. Wir kommen im letzten Kapitel auf dieses Thema nochmal zurück. 21 (S. 221) Vgl. dazu Lenz Prütting: Die Fremdelphase. Zur Genealogie personaler Lachmündigkeit, Rostock 2016, sowie Prütting: Homo ridens, S. 1712 ff. 22 (S. 222) Vgl. dazu Margret S. Mahler, unter Mitarbeit von Manuel Furer: Symbiose und Individuation. Band I: Psychosen im frühen Kindesalter, Stuttgart 21979. 23 (S. 222) Klaus Theweleit: Männerphantasien, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg 1980, Bd. 2, S. 206–246, hier S. 210. 24 (S. 222) Für Margret Mahler – und Theweleit folgt ihr hier (vgl. II,211 f.) – ist die zweite, extrauterine Geburt erst dann vollendet, wenn das Kind nicht mehr von sich in der dritten Person redet, sondern explizit »Ich« sagt und sich somit auch sprachlich selbst behauptet, was i. a. im Alter von ca. zweieinhalb Jahren zu geschehen pflegt. 25 (S. 222) Helmuth Pleßner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Bonn 1924.

5.3

Man ist Niemand

Homers Odyssee, übersetzt von Johann Heinrich Voß, Leipzig 1837, V. 408 ff., S. 147. 2 (S. 224) Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 121972, S. 128. 3 (S. 224) Da scheint Galy Gay (oder auch Brecht selbst) im Biologie-Unterricht nicht recht aufgepasst zu haben, denn wo könnte eine solche Begegnung in freier Natur wohl stattfinden? 4 (S. 224) Im ersten Heft der Versuche finden sich elf Keuner-Geschichten. Vgl. dazu Brecht: Versuche 1–12, Berlin 1963, S. 25–28. 5 (S. 225) Walter Benjamin: Bert Brecht, in: W. B.: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II,2: Aufsätze. Essays. Vorträge, Frankfurt/M. 1999, S. 660–667, hier S. 662. 6 (S. 225) Benjamin beugte sich hier wohl einem Sprachgebrauch der Zeit, denn um 1930 war das Wortfeld »Führer/Führertum« und ebenso der »Ruf nach einem Führer« plötzlich in aller Munde, weil dies offenbar der »geistigen Situation der Zeit« (Jaspers) entsprach, z. B. bei Carl Schmitt, Karl Jaspers, Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil oder Max Kommerell; vgl. dazu Jochen 1 (S. 224)

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Anmerkungen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Bd. 2, S. 194 ff. 7 (S. 225) Vgl. dazu Paul Valéry: Herr Teste, Wiesbaden 1947. Ich verweise aber auch auf Klaus Heinrichs Aufsatz: Exkurs über Odysseus und Herrn K. in: K. H.: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Frankfurt/M. 1964, S. 47–56, der zu dem Schluss kommt: »Herr K. hat die Schwierigkeiten des Niemand nicht gelöst. Er hat sie erläutert und dadurch sich als Identität kenntlich gemacht. Es ist sehr fraglich, ob er schon der ›Denkende‹ war, der ›in seiner kleinsten Größe‹ den Sturm übersteht.« (S. 56) 8 (S. 226) Walter Benjamin: Paul Valéry. Zu seinem 60. Geburtstag, in: W. B.: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt/M. 1966, S. 223–228. 9 (S. 226) Wilhelm Kamlah: Der Aufbruch der neuen Wissenschaft. Descartes’ Descartes-Legende, in: W. K.: Utopie. Eschatologie. Geschichtsteleologie. Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futurischen Denken der Neuzeit, Mannheim / Wien / Zürich 1969, S. 73–88, hier S. 88. 10 (S. 227) Erdmut Wizisla: »Wie dürfte ich jedem die gleiche Geschichte erzählen?« Nachwort, in: Bertolt Brecht: Geschichten von Herrn Keuner. Zürcher Fassung. Herausgegeben von Erdmut Wizisla, Frankfurt/M. 2004, S. 111–125, hier S. 120.

5.4

»Verwisch die Spuren!«

Ich zitiere nach der Wiedergabe in der Ausgabe: Bertolt Brecht: Die Gedichte. Herausgegeben von Jan Knopf, Frankfurt/M. 2008, S. 159–181. Die Gedichte des Lesebuchs entstanden zwischen 1921 und 1926. 2 (S. 229) Odyssee, XX,13–21, S. 330. Analoge Szenen, in denen Odysseus in gleicher Weise sein Herz erfolgreich kommandiert, finden sich XVII,235–238, S. 282 und XVIII,342–351, S. 306. 3 (S. 230) Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, Frankfurt/M. 2006. Simmel nimmt hier eine Argumentation wieder auf, die er schon in seiner Studie über die Philosophie des Geldes (1900) vorgetragen hatte; vgl. dazu: Philosophie des Geldes, Berlin 71977, S. 263 ff. 4 (S. 230) Blasiertheit gilt allgemein als die innere Haltung des Dandys, also des »nach oben deklassierten bürgerlichen Intellektuellen« (Hauser) bzw. des perfekten absolutistischen Höflings in einer Zeit, in der es längst keine Höfe mehr gibt, in der man aber gleichwohl immer noch eine parasitäre Existenz führen kann, wenn man den entsprechenden finanziellen Hintergrund hat. Oder anders formuliert: Der Dandy lebt in der vertikalen Sackgasse elitärster Verstiegenheit und sucht sich deshalb von allen anderen Zeitgenossen in allen Dingen abzuheben, wohingegen die von Simmel und Brecht beschriebene Lebensform des Großstädters auf Unscheinbarkeit beruht. Vgl. dazu auch Prütting: Homo ridens, S. 1149–1157. 5 (S. 232) Eine Anspielung auf Nietzsches Gedicht Vereinsamt, in dessen vierter Strophe es heißt: »Dem Rauche gleich, / Der stets nach kältern Himmeln sucht.« Vgl. dazu auch Brechts Gedicht Das Lied vom Rauch (S. 1285), sowie Reinhold Grimm: Brecht und Nietzsche, S. 156–245, hier S. 186 ff. 6 (S. 232) Vgl. dazu Wolfgang Lethen: Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M. 1994, S. 53 ff. 7 (S. 232) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 650. 1 (S. 228)

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Anmerkungen 8 (S. 232) 9 (S. 233)

Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 630–669, hier S. 658. Brecht: Versuche, S. 25.

Kapitel VI Vereisungen und Gefeitheiten oder Der Kult des kalten Herzens 6.2

Haltungen tendenzieller Unbetroffenheit: kynisch, zynisch, stoisch, sachlich

Klaus Heinrich: Antike Kyniker und Zynismus in der Gegenwart, in: K. H.: Parmenides und Jona, Frankfurt/M. 1966, S. 129–156; Heinrich Niehues-Pröbsting: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus, Frankfurt/M. 1988, sowie Heinrich Niehues-Pröbsting: Wielands Diogenes und der Rameau Diderots. Zur Differenz von Kyniker und Zyniker in der Sicht der Aufklärung, in: Peter Sloterdijks »Kritik der zynischen Vernunft«, Frankfurt/M. 1987, S. 73–109, und Arnold Gehlen: Antisthenes, in: A. G.: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt / Bonn 1970, S. 13–21. Und natürlich verweise ich auch auf das Kapitel über die Kyniker in meinem Buch Homo ridens, S. 254–299. 2 (S. 237) Vgl. Sloterdijk: Kritik, S. 185 ff. 3 (S. 238) Niehues-Pröbsting: Wielands Diogenes, S. 75. 4 (S. 238) Sloterdijk: Kritik, S. 37. 5 (S. 238) Ich verweise noch einmal auf die Schlussstrophe von Brechts Gesang des Soldaten der Roten Armee. 6 (S. 238) Prütting: Homo ridens, S. 271 f. 7 (S. 239) Zit. nach Niehues-Pröbsting: Wielands Diogenes, S. 97. 8 (S. 239) So die Formulierung in Goethes Übersetzung: 34,1–124, hier S. 77. 9 (S. 239) Zitiert nach Prütting: Homo ridens, S. 282. 10 (S. 239) Zitiert nach Prütting: Homo ridens, S. 282. 11 (S. 240) Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, Stuttgart 1981, S. 111. 12 (S. 240) Vgl. dazu Forschner, S. 114–141. 13 (S. 240) Vgl. dazu Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M. 1994 und Sloterdijk: Kritik, S. 697–920. Vgl. dazu auch Lethens Sammelwerk: Unheimliche Nachbarschaften. Essays zum Kälte-Kult und der Schlaflosigkeit der Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, Freiburg / Berlin / Wien 2009 und dort v. a. den Aufsatz: Lob der Kälte, S. 59–98 und seine Studie: Neue Sachlichkeit 1924–1832, Stuttgart 1970. 14 (S. 240) Lethen verweist immer wieder auf die Verwandtschaft dieses gezielt ausgekühlten Rollenverhaltens mit den höfischen Verhaltenslehren des Absolutismus, die ebenfalls das Ideal der »kalten persona« kultivierten. 15 (S. 241) Vgl. dazu Lethen: Sachlichkeit, S. 8 ff. 16 (S. 241) Vgl. Lethen: Sachlichkeit S. 11, sowie Heinrich Mann: Der Untertan, München 1964, S. 176. 17 (S. 241) Vgl. Lethen: Sachlichkeit, S. 11. 1 (S. 237)

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Anmerkungen 18 (S. 241) Leo Maduschka (1908–1932) hatte in München Germanistik studiert, eine Dissertation über den »Ritter Zimmermann« geschrieben und eine ganze Reihe von Broschüren über das Bergsteigen veröffentlicht. Er erfror bei einer Klettertour in der Civetta-Wand in den Dolomiten, als er von einem Wettersturz überrascht wurde. In seinen Gedichten feierte er im Stil Rilkes die »sachlichen« Themen der modernen Welt, also z. B. Maschinen aller Art und den Sport in all seinen Formen. 19 (S. 241) Leo Maduschka: Junger Mensch im Gebirg. Leben, Schriften, Nachlass, herausgegeben von Walter Schmidkunz, München 5o. J., S. 214. 20 (S. 242) S. 219. Natürlich ist dieses Selbstporträt auch eine Kontrafaktur zu Rilkes Selbstporträt aus dem Jahre 1906, aber ins Härtere, Strengere, Kühlere verfremdet: Wo bei Rilke »im Blicke noch der Kindheit Angst und Blau« sichtbar ist, wohnt bei Maduschka dort schon »die Welt«, und sein Blick ist »gespannt von Sachlichkeit«. Vgl. Rainer Maria Rilke: Neue Gedichte, Wiesbaden 1955, S. 72. 21 (S. 243) Vgl. dazu Franz Koppe: Sprache und Bedürfnis. Zur sprachphilosophischen Grundlage der Geisteswissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 48– 79, v. a. S. 52–57 und S. 102–123, v. a. S. 106–109. 22 (S. 243) Franz Koppe: Grundbegriffe der Ästhetik, Frankfurt/M. 1983, S. 129. 23 (S. 244) Vgl. dazu Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, 2 Bde., Frankfurt/M. 1977, Bd. II, S. 336. 24 (S. 245) Zitiert nach Prütting: Homo ridens, S. 289 f.

6.3

Exerzitien tendenzieller Unbetroffenheit

6.3.1 »Ist es nicht kälter geworden?« Dante Alighieris Göttliche Komödie. Übersetzt und erläutert von Karl Streckfuß, Leipzig o. J., 34/10–15, S. 193 f. 2 (S. 245) Ebenda 34/28–36, S. 194. 3 (S. 246) In der rein philologischen Übersetzung von Kurt Flasch lautet die Passage: »Wegen des Windes drängte ich mich hinter meinen Führer, denn ein anderer Schutz war nicht da. Schon war ich dort – und mit Angst bringe ich es in Worte –, wo alle Schatten vom Eis bedeckt waren, durchscheinend wie ein Strohhalm unter Glas, die einen in liegender Haltung, andere stehen aufrecht, die einen mit dem Kopf, die andren mit den Füßen nach oben, andere wenden wie ein Bogen das Gesicht zu den Füßen. (…) Der Kaiser des Leidensreichs ragte von der Brustmitte aus dem Eis, und eher gleiche ich einem Giganten als die Giganten auch nur seinen Armen, Jetzt kannst du dir denken, wie groß sein ganzer Körper sein muss, dass er zu solchen Gliedern passt.« Kurt Flasch: Dante. Commedia in deutscher Prosa, Frankfurt/M. 32011, S. 139 f. 4 (S. 246) Thomas Mann: Doktor Faustus, Frankfurt/M. 1967, S. 335. 5 (S. 246) Vgl. dazu Michael Frank: Das kalte Herz. Texte der Romantik. Ausgewählt und interpretiert, Frankfurt/M. 1978; zit. als »Frank: Herz«. In diesem Band findet sich der umfangreiche Aufsatz: Steinherz und Geldseele. Ein Symbol im Kontext, S. 257–417; zit als »Frank: Steinherz«. 6 (S. 246) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 1115–1164 v. a. S. 1146 ff. 1 (S. 245)

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Anmerkungen Um 1825 häufen sich in der deutschen Literatur Titel zum Thema Geld à la Das grosse Los oder Der Verschwender. Man denke auch an die PapiergeldSzene in Faust II, die gleichsam Goethes Kommentar zur Inflation von 1825 ist. 8 (S. 247) Zur theologischen Kritik an der Geldwirtschaft vgl. Georg Simmel: Philosophie des Geldes, Berlin 71977, S. 239–244, v. a. S. 241. 9 (S. 248) Ferdinand Raimund: Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär. Romantisches Original-Zaubermärchen mit Gesang in drei Aufzügen, Stuttgart 1981, S. 20. 10 (S. 248) Zit. nach Frank: Herz, S. 127. 11 (S. 249) Die berühmtesten und folgenreichsten politischen Gedichte Freiligraths finden sich in den Bänden Ein Glaubensbekenntniss (1844) und ÇA ira (1846), darunter Titel wie Von unten auf! und Freie Presse und das Hamlet-Gedicht: Deutschland ist Hamlet in Bd. III der »Gesammelten Dichtungen«. 12 (S. 250) Vgl. dazu Frank: Steinherz, S. 270, sowie Helmut Lethens Aufsatz: Lob der Kälte, S. 74 ff. 7 (S. 247)

6.3.2 »Nicht mit dem Herzen, sondern kalt!« Thomas Mann: Doktor Faustus, S. 334. Vgl. dazu Grimm: Brecht und Nietzsche, S. 186 ff. 3 (S. 254) Das deutsche Gedicht vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Auswahl und Einleitung von Edgar Hederer, Frankfurt/M. 1957, S. 270. In der NietzscheAusgabe von Schlechta, nach der ich sonst zitiere, ist dieses Gedicht dummerweise nicht enthalten. 4 (S. 254) S. 569. Natürlich spielt Brecht hier auch auf Goethes Gedicht Ein Gleiches an, das er auch schon in der Hauspostille in der Liturgie vom Hauch (S. 47) parodistisch verwendet hatte. 5 (S. 254) Jürgen Bay: Brechts Utopie von der Abschaffung der Kälte, Stuttgart 1975. 6 (S. 255) Peter von Matt: Brecht und der Kälteschock. Das Trauma der Geburt als Struktur seines Dramas, in P.: Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur, München 1994, S. 297–312. 7 (S. 258) Vgl. dazu Grimm, S. 160 ff. 8 (S. 259) Bertolt Brecht: Das Badener Lehrstück vom Einverständnis. Die Rundköpfe und die Spitzköpfe. Die Ausnahme und die Regel. Drei Lehrstücke, Frankfurt/M. 1975, S. 171–202. 1 (S. 253) 2 (S. 253)

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Anmerkungen

Kapitel VII Verkennungen und Verblendungen oder Weh dem, der mitgeht! 7.1

Einleitung

Jürgen Hillesheim: »Instinktiv lasse ich hier Abstände …« Bertolt Brechts vormarxistisches Episches Theater, Würzburg 2011. 2 (S. 266) Allein schon Nietzsches Hohn auf das »Dogma der unbefleckten Erkenntnis« (II,860 f.), also sein Plädoyer für den erkenntnissichernden Perspektivismus affektiver Zuwendung zu einem Geschehnis, spricht dagegen, ihn zum Kronzeugen eines irgendwie gearteten »Epischen Theaters« zu erheben; vgl. dazu das einschlägige Nietzsche-Zitat auf S. 227 f. in Kapitel 5.3. 1 (S. 266)

7.2

Zur Ätiologie des Mitgehens

Vgl. dazu die umfangreiche und sehr brechtfromme Studie von Albrecht Dümling: Lasst euch nicht verführen. Brecht und die Musik, München 1985. 2 (S. 267) Bertolt Brecht: Schriften zum Theater, 7 Bände, Frankfurt/M. 1963, hier Bd. 3, S. 267–280. 3 (S. 268) Ebenda, Bd. 7, S. 7–57. 4 (S. 269) Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, Bd. III, München 1972, S. 331 f. 5 (S. 270) Zur Illusionsästhetik vgl. Werner Strube: Ästhetische Illusion. Ein kritischer Beitrag zur Geschichte der Wirkungsästhetik des 18. Jahrhunderts, Diss. Bochum 1971. Von Strube stammt auch der Artikel »Illusion« im »Historischen Wörterbuch der Philosophie«, hg. von. Joachim Ritter, Darmstadt 1971 ff., Bd. 4, Sp. 204 ff. Weitere Literatur findet sich bei Eckhard Lobsien: Theorie literarischer Illusionsbildung, Stuttgart 1975, und bei E. H. Gombrich: Kunst und Illusion, Köln 1967. 6 (S. 270) J. J. Engel’s Mimik. Neu herausgegeben und eingeleitet von Theodor Mundt, Berlin 1845, Bd. 1, S. 50. 7 (S. 270) Brecht: Schriften zu Theater, Bd. 1, S. 60–64, hier S. 60 8 (S. 271) Ebenda, S. 60. 9 (S. 271) Vgl. Mittenzwei I,215–220. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Schwimmen. Hängen. Aussetzen: Drei Formen personaler Regression auf der Szene. Ein Beitrag zur Anthropologie des Schauspielers, in: Forum Modernes Theater, Bd. 14 (1999), Heft 1, S. 3–30 bzw. Rostock 2019, jetzt auch wieder abgedruckt in dem Band von Lenz Prütting: Der kreative Impuls, Würzburg 2020, S. 110–138. 10 (S. 271) Zitiert nach Mittenzwei, I,234. 11 (S. 271) ((Text fehlt.)) 12 (S. 272) Der von mir vorgeschlagene theaterwissenschaftliche Terminus »trans-orchestral« bezeichnet die Beziehung zwischen Bühne und Publikum, Schauspieler und Zuschauer. 1 (S. 267)

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Anmerkungen 13 (S. 272) Vgl. dazu Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 1990, S. 137–151. 14 (S. 272) Zur begrifflich genaueren Unterscheidung von Handlung und Widerfahrnis vgl. Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim / Wien / Zürich 1972, S. 34 ff. 15 (S. 273) Vgl. dazu Kamlah, S. 49. 16 (S. 273) Vgl. dazu Gernot Böhme: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 12 ff. und 285 ff., sowie Gernot Böhme: Philosophieren mit Kant. Zur Rekonstruktion der Kantischen Erkenntnisund Wissenschaftstheorie, Frankfurt/M. 1986, S. 235 ff. Möglicherweise hat sich Gernot Böhme hier von Wolfgang von Schöfer anregen lassen, der in seinem Buch »Was geht uns Noah an? Aus dem Unbewussten der Sprache« (München / Basel 1968) energisch dafür plädiert, neben dem Aktiv und Passiv das Medium als dritte Diathese des Verbs einzuführen, weil unser Verhältnis zur Welt »insofern einen polaren Charakter hat, als es immer aus einer aktiven und einer passiven Komponente besteht« (S. 56). »Damit steht der Mensch, selbst Teil der Welt, der Welt zugleich handelnd und vernehmend gegenüber.« (S. 57) 17 (S. 274) Vgl. dazu Kamlah: Anthropologie, S. 158 und Böhme: Anthropologie, S. 126 und S. 138. 18 (S. 274) Das Bild der Seele als Festung, ein stehender Topos der stoischen Philosophie, stammt von Seneca, der in seinem 82. Brief an Lucilius schreibt: »Mit der Philosophie müssen wir uns umgeben, einer uneinnehmbaren Mauer, die das Schicksal, auch wenn es sie mit vielen Belagerungsmaschinen angreift, nicht überschreitet. An unüberwindlicher Stelle befindet sich eine Seele, die (…) in ihrer Burg ihre Freiheit behauptet.« Seneca: Philosophische Schriften, Darmstadt 1984, Bd. 4, S. 187. Zum Thema »Festungsmentalität« vgl. auch die Studie von Hermann Schmitz: Was wollte Kant? Bonn 1989, S. 140–149 und S. 361–369, durch die ganz auffallende Analogien zwischen Kant und Brecht sichtbar werden, denn auch Kant orientierte sich laut Schmitz an einem »der Hingabebereitschaft konträren Pathos des Beisichseins, des Sichbesitzens, Sich-nicht-aus-der-Hand-geben-wollens« (S. 144), verweigerte sich also jeder Form von Mitgehen, das ja auf der Einstellung hinhaltender Hingabe beruht. Zu den Analogien zwischen Brecht und Kant vgl. auch oben S.24 in Kapitel 1 der Einleitung. 19 (S. 275) Schmitz: Gegenstand, S. 149. 20 (S. 276) Hermann Schmitz: Der Leib im Spiegel der Kunst, Bonn 1966, S. 93. 21 (S. 276) Hermann Schmitz: Der Leib, Bonn 1965, S. 169 ff. 22 (S. 277) Johann Gottfried Herder: Kalligone, hg. v. Heinz Begenau, Weimar 1955, S. 139 f., vgl. auch ebenda S. 141 f. Vgl. dazu auch Hartmut Böhme / Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitäts-strukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/M. 1985, S. 312 ff. Die dort geübte Kritik an der Entwertung der Einbildungskraft und Sinnlichkeit durch Kant deckt sich weitgehend mit Herders Kritik an Kants Ästhetik. Möglicherweise ist Herders Beschreibung des ästhetischen Umgangs mit Plastiken auch von Winckelmanns berühmter Beschreibung des Apolls von Belvedere angeregt. Vgl. dazu Johann Joachim Winckelmann: Kleine Schriften und Briefe, Weimar 1960, S. 149. 23 (S. 278) Vgl. dazu Schmitz: Gegenstand, S. 153 ff.

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Anmerkungen 7.3

Die Einfühlungstheorie

Bertolt Brecht: Schriften zum Theater, Bd. 3, S. 70–106, hier S. 96 f. Vgl. dazu Theodor Lipps: Ästhetik, Bd. I, Hamburg / Leipzig 1903, S. 105 f., und als Kritik dazu Schmitz: Der Leib im Spiegel der Kunst, S. 91 ff. 3 (S. 280) Moritz Geiger: Über das Wesen und die Bedeutung der Einfühlung. Kongress-Vortrag auf dem 4. Kongress für experimentelle Psychologie in Innsbruck 1910, Bericht Leipzig 1911, S. 36. 4 (S. 280) Ebenda, S. 36 f. 5 (S. 280) Ebenda, S. 39. 6 (S. 281) Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 21965, S. 39 f. Vgl. dazu auch Kamlahs Descartes-Kritik in: Wilhelm Kamlah/Paul Lorenzen: Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, Mannheim / Wien / Zürich 1967, S. 18 f., sowie die von Schmitz vorgetragene Kritik an der Einfühlungstheorie, die er sarkastisch als »angewandte Physik« in cartesischer Tradition bezeichnet: Hermann Schmitz: Der Leib im Spiegel der Kunst, Bonn 1966, S. 93. 7 (S. 281) Helmuth Plessner: Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewusstsein des anderen Ich, in: H. P.: Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge, Bern 1953, S. 132–179, hier S. 172. 8 (S. 282) Lipps, S. 122. 9 (S. 282) Schopenhauer, I,150. 10 (S. 282) Wilhelm Kamlah: Descartes’ Descartes-Legende, in: W. K.: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie. Kritische Untersuchungen zum futurischen Denken, Mannheim/Wien/Zürich 1969, S. 73–88, hier S. 88. 11 (S. 282) René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1959, S. 129–161: Über das Dasein der materiellen Dinge und den substantiellen Unterschied zwischen Seele und Körper, S. 135 ff. 12 (S. 282) Vgl. dazu Helmuth Plessner: Die Deutung des mimischen Ausdrucks, S. 172, S. 142, S. 166 und S. 170, sowie Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 1972, S. 98 ff. 1 (S. 279) 2 (S. 279)

7.4

Brechts Rezeption und Kritik der Einfühlungstheorie

Brecht: Schriften zum Theater, Bd. 3, S. 79–106; vgl. auch Bd. 3, S. 22–24. Es ist schlichtweg nicht nachvollziehbar, dass ein Theatermann wie Brecht das Wortfeld »Mimesis« allein durch das Verb »nachahmen« wiedergibt, anstatt von »Darstellung« zu reden, weil man strenggenommen nur Vorgegebenes nachahmen kann. Eine dramatische Gestalt ist aber nicht vorgegeben, sondern muss anhand des Textes erst durch poietische Hermeneutik erarbeitet werden. Mit diesem verzopften Erbe Schleiermachers hat erst Hermann Koller richtig aufgeräumt, als er in seinem wegweisenden Buch: Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, Bern 1954, deutlich machte, wie viele Aspekte der Begriff »Mimesis« abdeckt. Koller hätte allerdings auch das Resonanz-Verhalten und damit auch das Mitgehen als einen vierten Aspekt der Mimesis anführen können. Wie zögerlich allerdings Kollers neue Sicht auf die Mimesis sogar in seiner eigenen

1 (S. 283) 2 (S. 283)

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Anmerkungen Zunft rezipiert wird, zeigt sich z. B. daran, dass in Otfried Höffes Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, im Mimesis-Artikel (S. 362 f.) Kollers Buch nicht einmal erwähnt wird. 3 (S. 283) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 186–221. 4 (S. 283) Brecht: Kritik der Einfühlung, in: Schriften zum Theater, Bd. 3, S. 22–24, hier S. 22. 5 (S. 284) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 200–221. 6 (S. 284) Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, Berlin 1953, S. 595. 7 (S. 284) René Descartes: Discours de la méthode. Französisch-Deutsch, Hamburg 1997, S. 101. 8 (S. 285) Schriften zum Theater, Bd. 3, S. 97f. 9 (S. 286) Brecht: Experimentelles Theater, III,97 f.; ähnlich III, 102. Der Begriff »ästhetische Illusion« aus der ›bürgerlichen‹ ästhetischen Theorie hat Brecht immer wieder dazu verführt, ihn ins Wortfeld »Wahn/Selbst-täuschung/ Einbildung/Trugbild« einzugliedern, wo er gar nicht hingehört. Allerdings lädt dieser unglücklich gewählte und etwas schillernde Begriff auch dazu ein, dieser Versuchung nachzugeben. Auch hier zeigt sich wieder, dass der Theaterjargon viel genauer argumentiert, wenn er von ›Mitgehen‹ spricht. Zur Apologie des Theaterjargons als einer eigenen erkenntnis-trächtigen Denkform vgl. die Studie von Lenz Prütting: Der kreative Impuls, Würzburg 2020, S. 76–138. 10 (S. 287) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 45–61. 11 (S. 287) Benjamin: Brecht, S. 662. 12 (S. 287) Benjamin: Valéry, S. 225. 13 (S. 288) Ebenda, S. 225. 14 (S. 288) Benjamin: Brecht, S. 663. 15 (S. 288) Benjamin: Valéry, S. 225. 16 (S. 288) Erwin Straus: Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Berlin / Göttingen / Heidelberg 21956, S. 12. 17 (S. 288) Ebenda, S. 12 f. 18 (S. 288) Vgl. Stirner, EE,407 ff. 19 (S. 288) Descartes: Discours, S. 55. 20 (S. 288) Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972. 21 (S. 289) Vgl. dazu den Sammelband: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hg. v. Hans-Jürgen Schings, Stuttgart 1994

7.5

Platons theatralische Sendung

Ich zitiere Platon hier ausnahmsweise in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher: Platon: Sämtliche Werke, Bd. 3: Phaidon. Politeia, Reinbek bei Hamburg 1962, S. 296 f./605 c-d. 2 (S. 291) Ebenda, S. 125–130, v. a. S. 126/393 c-d. 3 (S. 291) Ebenda, S. 120 f./387 b. 4 (S. 292) Ebenda, S. 129/396 e. 5 (S. 292) Ebenda, S. 122/388e-389a. Platon spielt hier auf die Szene im ersten Gesang der Ilias, V. 599 f. an, in der sich die Götter krumm und bucklig lachen über 1 (S. 291)

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Anmerkungen Ares und Aphrodite, die Hephaistos in flagranti in einer Falle gefangen hatte und die sich nun in dieser peinlichen Situation bestaunen lassen müssen.

Kapitel VIII Neue Umbrüche, neue Aufbrüche, neue Gläubigkeiten, neue Sünden oder Weh dem, der seinem Herzen folgt! 8.1

Einleitung

Ich zitiere immer nach der Ausgabe: Bertolt Brecht: Das Badener Lehrstück vom Einverständnis. Die Rundköpfe und die Spitzköpfe. Die Ausnahme und die Regel. Drei Lehrstücke, Frankfurt/M. 1975. Wie man das Stück über die Rundköpfe und die Spitzköpfe als »Lehrstück« bezeichnen kann, will sich mir nicht so recht erschließen, da es doch eher ein Agitprop-Stück in der Art des Arturo UI ist und genauso mager wie dieses. 2 (S. 295) Ich zitiere immer nach der Ausgabe: Bertolt Brecht: Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg, Frankfurt/M. 1972, zit. als »Maßnahme«. Steinweg verstand seine Edition der Massnahme auch als Wegweisung für die sich im »roten Jahrzehnt« (Koenen) bildenden K-Gruppen, in denen er »ernsthafte Neu-Ansätze revolutionärer Organisationen« (S. 479) sah und denen er mit dieser Edition von Brechts Massnahme und den dazugehörigen zeitgenössischen Kritiken Handlungsmodelle anbieten wollte, »an denen wir uns die Probleme revolutionärer Organisation vergegen-ständlichen können.« (S. 479) Er glaubte also in seiner ideologischen Verstiegenheit ernsthaft, man könne 1972 problemlos an die Zeit um 1930 anschließen, weil angeblich eine vergleichbar revolutionäre politisch-gesellschaftliche Situation vorliege. 3 (S. 295) Hans Egon Holthusen: Versuch über Brecht, in: H. E. H.: Kritisches Verstehen. Neue Aufsätze zur Literatur, München 1961, S. 7–137, hier S. 29. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Hildegard Brenner: Die Fehldeutung der Lehrstücke. Zum methodischen Vorgehen der Germanistik, in: Alternative, Heft 78/79, 1971, S. 146–154, in dem Brenner einige einschlägige Arbeiten westdeutscher Germanisten vorstellt und diese aus neomarxistischer Sicht streng rügt. 4 (S. 295) Vgl. dazu Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001. Koenen beschreibt hier die Phase des Neomarxismus, wie er sich v. a. in den Aktivitäten der verschiedenen K-Gruppen niedergeschlagen hat. Da er selbst auch einmal zu einer dieser K-Gruppen gehörte, erinnert seine rabiate Selbstkritik als Kritik der eigenen Anfälligkeit für totalitäre Lösungen aller Art sehr an die Art und Weise, wie Karl Philipp Moritz in seinem psychologischen Roman Anton Reiser (1785) mit seiner eigenen »Theaterwut« abrechnet. Ähnlich selbstkritische Rückblicke auf das »rote Jahrzehnt« sind die Bücher von Peter Schneider: Rebellion und Wahn. Mein ’68, Köln 2008, von Götz Aly: Unser Kampf 1968, Frankfurt/M. 2008 und von Helmut Lethen: Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht, Göttingen 2012. 1 (S. 295)

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Anmerkungen Reiner Steinweg: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung, Stuttgart 1972, S. 210. Eine ausführliche Kritik dieser Studie liefert der Aufsatz von Heinrich Berenberg-Gossler / Hans-Harald Müller / Joachim Stosch: Das Lehrstück – Rekonstruktion einer Theorie oder Fortsetzung eines Lernprozesses? Eine Auseinandersetzung mit Reiner Steinweg, Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung, Stuttgart 1972 in: Brechtdiskussion, hg. v. Joachim Dyck / Heinrich Gossler / Hans-Peter Herrmann /Jan Knopf / Hans-Harald Müller / Carl Pietzcker/ Rüdiger Steinlein / Joachim Stosch, Kronberg/Ts. 1974, S. 121–171. 6 (S. 295) Reiner Steinweg: Das Lehrstück – ein Modell des sozialistischen Theaters, in: Alternative, Heft 78/79, 1971, S. 102–116, hier S. 103. 7 (S. 296) Ebenda, S. 116. 8 (S. 296) Vgl. dazu: Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen. Herausgegeben von Reiner Steinweg, Frankfurt/M. 1976, S. 201, zit. als »Steinweg: Modell«. 9 (S. 296) Ebenda, S. 51. 10 (S. 296) Ebenda, S. 164. Vgl. dazu Steinwegs brechtfromm beflissene Überlegungen und Vorschläge in: Maßnahme, S. 475–483, v. a. S. 477. 11 (S. 297) Vgl. dazu Ignatius von Loyola: Die Exerzitien, Freiburg 132005, S. 34, wo es u. a. heißt: »Nicht an Dinge denken wollen, die Freude und Fröhlichkeit erregen«, oder S. 35, wo die »Züchtigung des Fleisches« empfohlen wird, »indem man ihm spürbare Schmerzen zufügt, durch Tragen von Bußhemden oder Stricken oder eisernen Gürteln über dem Fleisch, durch Geißeln, Sich-verwunden oder andere Arten von Strengheiten.« 12 (S. 298) Werner Mittenzwei: Die Spur der Brechtschen Lehrstück-Theorie. Gedanken zur neueren Lehrstück-Interpretation, in: Brechts Theorie des Theaters. Herausgegeben von Werner Hecht, Frankfurt/M. 1986, S. 183–213, hier S. 183. 13 (S. 299) Steinweg: Modell, S. 97. 14 (S. 299) Ebenda, S. 126. 5 (S. 295)

8.2

Neue Gläubigkeiten

Vgl. Fritz Sternberg: der dichter und die ratio. Erinnerungen an bertolt brecht, Göttingen 1963, S. 24 f. 2 (S. 302) Ebenda, S. 25 f. 3 (S. 302) Vgl. dazu Augustinus: Bekenntnisse, München 1982, Buch 6 bis 8, S. 135 ff., Jakob Böhme: Aurora oder Morgenröte im Aufgang, Frankfurt/M. und Leipzig 1992, Kapitel 19, S. 360 ff., wo es heißt: »… so brach der Geist durch.« (S. 362), und Johann Henrich Reitz: Historie der Wiedergebohrnen, 4 Bde., Berlenburg 51724. 4 (S. 302) Michel Onfray: Philosophie der Ekstase, Frankfurt/M. 1993. 5 (S. 302) Michael Großheim: Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement, Tübingen 2002. 6 (S. 302) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, Kapitel 2.12.6.5 über die »Pointenstruktur krisenhafter Prozesse«, S. 992–1021. 7 (S. 302) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, Kapitel 3.5.5 über das Resonanz-Lachen, S. 1887–1905. 1 (S. 302)

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Anmerkungen Vgl. dazu Arnolt Bronnen: Arnolt Bronnen gibt zu Protokoll. Beiträge zur Geschichte des modernen Schriftstellers. Mit einem Nachwort von Hans Mayer, Kronberg/Ts. 1978, S. 199 ff. Bronnen schrieb dieses Buch, als er schon wieder Marxist war, weshalb die Dramaturgie dieses Werks sich strikt am Ritual einer kommunistischen Selbstkritik orientiert. Vgl. dazu Klaus-Georg Riegel: Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus, Graz / Wien / Köln 1985. 9 (S. 304) Vgl. dazu Manfred Franze: Die Erlanger Studentenschaft 1918–1945, Neustadt/Aisch 1993, S. 399 ff. 10 (S. 305) Vgl. dazu Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, Tübingen 31971. 11 (S. 306) Jan Assmann: Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, Wien 2016. 12 (S. 306) Ebenda, S. 72. 13 (S. 306) Ebenda, S. 70. 14 (S. 308) Eric Voegelin: Die Politischen Religionen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter J. Opitz, München 32007, S. 64. 15 (S. 309) Die Analogien zwischen totalen Religionen und totalitären Ideologien erstrecken sich auch auf die Behandlung von Abtrünnigen, Ketzern, Renegaten und Verrätern; vgl. dazu Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten, Stuttgart 1991, v. a. Kapitel II mit einem »Wörterbuch der Verdammungen«, S. 26–57. 16 (S. 309) Hans Günter Hockerts: War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Über Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells, in: Klaus Hildebrand (Hg.): Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus, München 2003, S. 45–72, hier S. 67. 8 (S. 303)

8.3

»Mosaische Unterscheidungen« aller Art

Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998 2 (S. 309) Ebenda, S. 47 ff. 3 (S. 310) Jan Assmann: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003, S. 14. 4 (S. 310) Vgl. dazu Bernhard Lang (Hg.): Der einzige Gott. Die Geburt des biblischen Monotheismus, München 1981. 5 (S. 310) Die wichtigste einschlägige Literatur findet sich in den Beiträgen zu Assmann: Die Mosaische Unterscheidung, sowie bei Johannes Thonhauser: Das Unbehagen am Monotheismus, Marburg 2008, bei Rolf Schieder: Die Gewalt des Einen Gottes, Berlin 2014, und bei Peter Walter: Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieinige Gott, Freiburg 2005. 6 (S. 311) Jean-Jacques Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des politischen Rechts, Köln 2012, S. 44 ff. 7 (S. 311) Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Neuwied 1960, S. 112 f. 8 (S. 311) Ebenda, S. 112 und S. 125. 9 (S. 312) Ebenda, S. 113; vgl. dazu auch die klassische Arbeit von Sara Stebbins: Maxima in minimis, Frankfurt / Bern / Cirencester 1980. 1 (S. 309)

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Anmerkungen 10 (S. 312) Jean-Jacques Rousseau: Ich sah eine andere Welt. Philosophische Briefe. Ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter, München 2012, S. 7–29, v. a. S. 20 ff., sowie Alexander Pope: Vom Menschen. Englisch-Deutsch. Übersetzt von Eberhard Breidert. Mit einer Einleitung von Wolfgang Breidert, Hamburg 1993, sowie Prütting: Homo ridens, S. 848–864. 11 (S. 313) Vgl. dazu das Nachwort von Lenz Prütting zu: Johann K. Wezel: Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne, Frankfurt/M. 1978, S. 453–494, v. a. S. 484 ff. 12 (S. 313) Kant VI,119. 13 (S. 314) Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki): Kurzer Lehrgang (1938), Berlin 1951. Die Frage, wer als der Autor dieses Werks zu gelten hat, wurde von Chruschtschow in seiner historischen Rede von 1956 beantwortet; vgl. dazu: Die Moskauer Schauprozesse 1936–1938, hg. v. Theo Pirker, München 1963, S. 11. 14 (S. 314) Vgl. dazu Stéphane Courtois / Nicolas Werth / Jean-Louis Panné / Andrzej Paczkowski / Karel Bartosek / Jean-Louis Margolin (Hg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München 41998. 15 (S. 314) Vgl. dazu die hellsichtige Analyse des KP-Renegaten Hermann Weber: Stalinismus. Zum Problem der Gewalt in der Stalin-Ära, in: Entstalinisierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen. Herausgegeben von Reinhard Crusius und Manfred Wilke, Frankfurt/M. 1977, S. 263–284. 16 (S. 314) Vgl. dazu Klaus-Georg Riegel: Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus, Graz / Wien / Köln 1985, S. 71 ff. 17 (S. 314) Ebenda, S. 78. 18 (S. 315) Fuegi, S. 811. 19 (S. 315) Riegel, S. 46 ff. und S. 69. 20 (S. 316) Arthur Koestler: Sonnenfinsternis, Wien / Zürich 1991, S. 44.

8.4

Das Prinzip Einverständnis

Jan Knopf: Brecht-Handbuch. Theater. Eine Ästhetik der Widersprüche, Stuttgart 1980, S. 76. 2 (S. 317) Ebenda, S. 76–77. 3 (S. 317) Francis Bacon: Neues Organon. Lateinisch-Deutsch. Herausgegeben und mit einer Einleitung von Wolfgang Krohn, Zwei Bände, Hamburg 1990, Bd. I, S. 81. Zur Kritik von Bacons Programm vgl. Gernot Böhme: Am Ende des Baconschen Zeitalters, Frankfurt/M. 1993, S. 7–31, wo Böhme die Bilanz zieht: »Am Ende des Baconschen Zeitalters ist das Baconsche Programm erfüllt, seine Hoffnungen aber haben sich nicht erfüllt. Wir werden mit der Wissenschaft leben müssen, denn sie gehört zu unseren realen Existenzbedingungen. Aber Heilserwartungen werden nicht mehr an sie geknüpft werden.« (S. 31) 4 (S. 318) Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, Berlin 1953, S. 595. 5 (S. 318) Brecht paraphrasiert hier die Sprüche Nr. 9 und Nr. 29 des Taoteking von Lao-tse, die in der Übersetzung von Richard Wilhelm mit den Sätzen beginnen: »Etwas festhalten wollen und dabei es überfüllen: das lohnt der Mühe nicht. Etwas handhaben wollen und dabei es immer scharf halten: das lässt sich nicht lange bewahren.« (Spruch 9) Und: »Die Welt erobern wollen durch Handeln: Ich habe 1 (S. 317)

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Anmerkungen erlebt, dass das misslingt. Die Welt ist ein geistiges Ding, das man nicht behandeln darf.« (Spruch 29) Zitiert nach: Laotse: Taoteking. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Aus dem Chinesischen verdeutscht und erläutert von Richard Wilhelm, Jena 1921, S. 11 bzw. S. 31.

8.5

Selbstbelehrungen aller Art

8.5.1 Ein Lehrstück über Egoismen aller Art Eine Anspielung auf EE 106: »Wenn Du das Heilige verzehrst, hast Du’s zum Eigenen gemacht! Verdaue die Hostie und Du bist sie los!« 2 (S. 320) Moses Heß: Philosophische und sozialistische Schriften 1837–1850, Berlin 1961, S. 387 f. 3 (S. 321) Bertolt Brecht: Baal. Der böse Baal der asoziale. Texte, Varianten, Materialien. Kritisch ediert und kommentiert von Dieter Schmidt, Frankfurt/M. 1968, zitiert als »Baal IV«. 4 (S. 321) Vgl. Baal IV, S. 148. 5 (S. 321) Der Text findet sich in dem Band: Bertolt Brecht: Das Badener Lehrstück vom Einverständnis. Die Rundköpfe und die Spitzköpfe. Die Ausnahme und die Regel. Drei Lehrstücke, Frankfurt/M. 1975, S. 171–202. 6 (S. 321) Steinweg: Modell, S. 34. 7 (S. 322) Vgl. dazu z. B. das Dreigroschenfinale (Gedichte, S. 149) oder den Refrain im Lied der Jenny (S. 761 ff.), der auch in dem Gedicht Als die ganze Stadt starb (S. 785 f.) wiederkehrt, sowie die Hinweise bei Grimm: Brecht und Nietzsche, S. 160 ff. 8 (S. 322) Das thematisch einschlägige der sieben Gleichnisse ist das über die Talente: »Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen werden, was er hat.« (Matth.13,12) 9 (S. 322) Die bekannte und vielzitierte Wendung »Auge um Auge« wird hier, wie so oft, als Freibrief für Selbstjustiz und private Rache verstanden, ist im originalen Kontext des Exodus aber ganz anders gemeint, denn dort wird gefordert, dass ein Schiedsrichter darüber zu wachen hat, dass ein entstandener Schaden angemessen wieder gutgemacht wird, und nur für diesen Fall gilt dann das Prinzip »Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule.« (2. Mose 21,21 f.) 10 (S. 323) Baal IV, S. 84–86. 11 (S. 324) Jacobus de Voragine: Legenda aurea. Deutsch von Richard Benz, 2 Bde., Jena 1918/1921, Bd. II, Sp. 366. 12 (S. 324) Baal IV, S. 85. Möglicherweise hatte Brecht hier auch die Szene 1. Mose 37,25 ff. aus den Vätergeschichten der Genesis im Auge, in der der junge Joseph von seinen älteren Brüdern aus lauter Neid, Missgunst und Eifersucht an durchziehende Ismaeliten als Sklave verkauft wird. 13 (S. 325) Vgl. Baal IV, S. 148. 1 (S. 320)

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Anmerkungen 8.5.2 Ein Lehrstück über das Einverständnis mit Enteinzigungen und Enteignungen aller Art Vgl. dazu Wege: Brechts Mann ist Mann, S. 66. Vgl. dazu das Lehrstück Der Jasager, in dem dargestellt wird, wie sich jemand für andere aufopfert. 3 (S. 327) Das Thema »ontologische Unsicherheit«, also der Umstand, dass jemand nicht recht weiß, wer er eigentlich ist und deshalb eine Institution sucht, die ihm eine Identität zuweist, zieht sich wie ein roter Faden durch Drewermanns Werk über die Kleriker, hilft aber auch, die Leute etwas besser zu verstehen, die Mitglied in allen möglichen anderen militanten totalitären Kollektiven werden. 4 (S. 328) Ernst Schumacher: Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918–1933, Berlin 1955, S. 322. 5 (S. 329) Gesangbuch für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, München 9 1954, S. 615. 6 (S. 329) Vgl. dazu S. 15, S. 17 und S. 18. 7 (S. 330) Steinweg: Modell, S. 34. 8 (S. 331) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 304 ff. 9 (S. 331) Das Verb »spotten« hatte früher noch die Nebenbedeutung »anspeien/ ankotzen«, die in bestimmten Dialekten noch erhalten ist, z. B. im Fränkischen, wo das Verb »spotzen« »spucken/speien« bedeutet. 10 (S. 336) Vgl. dazu oben Kapitel 1.4. 11 (S. 337) Vgl. Steinweg: Modell, S. 97. 12 (S. 337) Bertolt Brecht: Der Jasager und Der Neinsager. Vorlagen, Fassungen und Materialien. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Szondi, Frankfurt/M. 1966, S. 19 ff. 1 (S. 326) 2 (S. 327)

8.5.3 Ein Lehrstück über das Einverständnis mit Säuberungen aller Art 8.5.3.1 Der Handlungsverlauf 1 (S. 337) Ich zitiere die Massnahme hier immer nach der Fassung der Uraufführung vom 13. 12. 1930 (Maßnahme, S. 37–64), weil die Kritiken sich auf diese Fassung beziehen. 2 (S. 338) Im Kontrollchor der Uraufführung waren drei Berliner Arbeiterchöre zusammengefasst: der »Schubertchor«, der »Gemischte Chor Groß-Berlin« und der »Gemischte Chor Fichte«, sodass der Kontrollchor aus einigen hundert Sängern bestand. Vgl. dazu Maßnahme, S. 213 ff. 3 (S. 339) Vgl. dazu die Anmerkung 1 zu Kapitel IV. 4 (S. 340) Hier taucht, soweit ich sehe, Stirner ein letztes Mal unter dem Namen Schmitt in Brechts Werk auf. 5 (S. 340) In Brechts Werk scheint ein Matriarchat zu herrschen, weil Gestalten durchwegs über ihre Mütter definiert werden, und weil alle wirklichen Autoritäten immer weiblich sind, genau wie die kommunistische Partei, die deshalb von Brecht, wie wir gesehen haben, gottähnliche bzw. göttinähnliche Züge verliehen bekommt. Vgl. dazu Peter von Matt: Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München 1995, S. 91–95, hier S. 92 f. 6 (S. 340) Vgl. dazu Kapitel 2.5. 7 (S. 341) Vgl. dazu Kapitel 1.6.

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Anmerkungen Aus diesem Satz hat Heiner Müller mit seinem Stück Mauser eine klassische stalinistische Tragödie bzw. die Tragödie des Stalinismus abgeleitet. 9 (S. 343) Zit. nach Peter Demetz: Marx, Engels und die Dichter, S. 88. 8 (S. 343)

8.5.3.2 Lehrstück-Theorie und Lehrstück-Praxis Vgl. Steinweg: Modell, S. 164. 2 (S. 344) So der Musikkritiker Stuckenschmidt; Maßnahme, S. 326. 3 (S. 344) So der Musikkritiker Nürnberg; Maßnahme, S. 330. 1 (S. 343)

8.5.3.3 Die ›bürgerliche‹ Rezeption der Massnahme Vgl. dazu die Kritik von Heinrich Strobel, Maßnahme, S. 326 ff. 2 (S. 346) Vgl. dazu die Kritik von Alfred Einstein, Maßnahme, S. 335. 3 (S. 346) Vgl. dazu den Artikel von Julius Bab, Maßnahme, S. 403. 4 (S. 346) Vgl. dazu die Kritik von Franz Carl Weiskopf, Maßnahme, S. 339. 5 (S. 346) Vgl. dazu die Kritik von Karl Thieme in der katholischen Zeitschrift Hochland unter dem Titel: Des Teufels Gebetbuch? in: Maßnahme, S. 393 ff., v. a. S. 400. 6 (S. 346) Vgl. dazu die Kritik von Paul Fechter, Maßnahme, S. 330 ff. und Alfred Einstein, Maßnahme, S. 334 ff. 7 (S. 346) Vgl. dazu Heinrich August Winkler: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik. Der Schein der Normalität 1924–1930, Berlin / Bonn 1985. 8 (S. 347) Vgl. dazu den Aufsatz von Otto Friedrich Bollnow, der diese Behauptung nicht ganz so anmaßend aussehen lässt, wie sie auf den ersten Blick wirken mag: »Was heißt, einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat?« in: O. F. B.: Das Verstehen. Drei Aufsätze zur Theorie der Geisteswissenschaften, Mainz 1949, S. 7–33. 9 (S. 347) Alfred Einstein: Brecht und Eisler: »Die Maßnahme«, Maßnahme, S. 334– 336, hier S. 335. Die Kritik ist zwar nur mit »A. E.« abgezeichnet, aber es war ganz leicht, diese Abkürzung zu entschlüsseln, was Reiner Steinweg seltsamerweise nicht getan hat. 10 (S. 349) Gesangbuch für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, München 91954, S. 615. 11 (S. 349) Vgl. dazu oben Kapitel 1.4. 12 (S. 349) Vgl. dazu das Kapitel »Das Homburg-Stück des Homburg-Kritikers« in: Peter von Matt: Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München 1995, S. 91–95, in dem Peter von Matt die Analogien zwischen beiden Stücken aufzeigt und kurz und bündig erklärt: »Die ›Maßnahme‹ ist Brechts ›Homburg‹.« (S. 95) Und dann sieht er in der Massnahme, diesem »Weihespiel von der begeisterten Selbstauslöschung des Einzelnen« (S. 95), außerdem noch die Vorwegnahme der Moskauer Schauprozesse, »grässliche, ins Immense gesteigerte Parodien auf das Gericht über den Jungen Genossen.« (S. 94) Die These, man könne Brechts Massnahme als dichterische Vorwegnahme der Moskauer Schauprozesse deuten, stammt ursprünglich von der kommunistischen Renegatin Ruth Fischer und ist z. T. abgedruckt in Maßnahme, S. 416 f. Dass Ruth Fischer die Schwester von Hanns Eisler war und außerdem auch mal die Frau von Paul Friedländer, hätte Reiner Steinweg in seinem Kommentar ruhig erwähnen dürfen. Ruth Fischers These wurde dann auch von Herbert Lüthy übernommen (vgl. Maßnahme, 1 (S. 346)

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Anmerkungen S. 418–425) und bildet den Ansatzpunkt für seinen großen Brecht-Essay aus den 50er-Jahren Fahndung nach dem Dichter Bertolt Brecht, abgedruckt in: Herbert Lüthy: Nach dem Untergang des Abendlandes. Zeitkritische Essays, Köln / Berlin 1964, S. 131–185. Lüthys Urteil über Die Massnahme lautet dort, es sei »das einzige Werk Brechts, an dem es nichts zu deuteln gibt, ein fugenloser Block, vor dessen kalter Unmenschlichkeit sich die braven Genossen stets ›verfremdet‹ das Haupt verhüllten.« (S. 190) 13 (S. 351) Wohl eine Anspielung auf die vielen Imperative und Anweisungen in der Gedichtsammlung Aus dem Lesebuch für Städtebewohner, die sich aber auch schon in dem Schwimm-Gedicht der Hauspostille finden. 8.5.3.4 Die kommunistische Kritik an der Massnahme Mit diesem Pseudonym »Durus« d. h. »der Harte« wollte sich Alfred Kemény wohl ein bisschen an den »stählernen« Stalin angleichen und signalisieren, dass er mit aller Härte die jeweils aktuelle Parteilinie vertrete. Kemény hat sich gleich dreimal zur Massnahme geäußert: vgl. Maßnahme, S. 341–343, S. 365–366, S. 371–375. 2 (S. 355) Ludwig Hoffmann hat 1968 mit seinem Aufsatz: Gegenentwurf zur Maßnahme, in: Maßnahme, S. 439–458 diese Fragestellung noch einmal aufgegriffen und im Hinblick auf die damals aktuelle kulturpolitische Parteilinie der SED durchdiskutiert. 3 (S. 356) Es gibt unter kommunistischen Intellektuellen seit jeher das bösartige Ritual, einander die bürgerliche Herkunft vorzurechnen, um dem andern damit ein ererbtes falsches Bewusstsein anzukreiden, wohingegen die eigene bürgerliche Herkunft jedoch nie als Makel empfunden wird. Natürlich stammte auch Kurella, dessen Vater Arzt war, aus einem ausgeprägt bürgerlichen Milieu. Vgl. dazu Martin Schaad: Die fabelhaften Bekenntnisse des Genossen Alfred Kurella. Eine biografische Spurensuche, Hamburg 2014. 4 (S. 357) Vgl. dazu Lenin: Rede auf dem 3. allrussischen Kongreß des kommunistischen Jugendverbandes Russlands am 2. Oktober 1920, in: Maßnahme, S. 293– 311, v. a. S. 301–302. 5 (S. 358) Mittenzwei I,362; vgl. auch Fuegi, S. 355. Wenn Brecht sehr erregt war, fiel er immer in den Dialekt seiner Kindheit zurück, was man auch an den Tonbandaufnahmen von Proben am Berliner Ensemble nachprüfen kann. 6 (S. 358) Alfred Kurella (1895–1975) war 1918 in die KPD eingetreten. 7 (S. 359) Vgl. dazu die sehr informativen Ausführungen bei Mittenzwei I,604–641, sowie die Dokumentationen von Paul Raabe: Expressionismus. Der Kampf um eine literarische Bewegung, München 1965, und von Hans Jürgen Schmitt (Hg.): Die Expressionismusdebatte. Materialien zu materialistischen Realismuskonzeption, Frankfurt/M. 1973. 8 (S. 359) Vgl. dazu Theo Pirker (Hg.): Die Moskauer Schauprozesse 1936–1938, München 1963. Im Sommer 1938 lief gerade der Prozess gegen Bucharin und zwei Dutzend andere Altkommunisten. 9 (S. 359) Kurella schrieb seinen Beitrag zum Expressionismus-Streit unter dem Pseudonym Bernhard Ziegler: »Nun ist dies Erbe zu Ende … 1937«, in: Raabe: Expressionismus, S. 273–282. Kurella beschreibt dort den Weg von Gottfried Benn zum Nationalsozialismus, erklärt ihn dann zum Prototyp des Expressionisten schlechthin, dessen Entwicklung als »Salto ins Lager Hitlers« (S. 282) deshalb 1 (S. 352)

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Anmerkungen exemplarisch für alle Expressionisten sei, und behauptet dann auch noch: »Dieses Ende ist gesetzmäßig. Dass nicht alle Expressionisten diesen Weg gegangen sind, ist kein Gegenbeweis.« (S. 282) Vgl. dazu das Porträt, das Hans Mayer von Kurella als Renegaten des Expressionismus entwirft: Ein Tauwetter, das keines war. Rückblick auf die DDR im Jahre 1956, in: Entstalinisierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen. Herausgegeben von Reinhard Crusius und Manfred Wilke, Frankfurt/M. 1977, S. 444 ff. 10 (S. 359) Walter Benjamin: Versuche über Brecht, Frankfurt/M. 1966, S. 132.

8.6

Bilanz der Lehrstück-Phase

Baal IV, S. 109. Ebenda, S. 110. 3 (S. 361) Vgl. dazu Heinrich August Winkler: Der Weg in die Katastrophe, Bonn 2 1990, S. 765 ff. 4 (S. 361) Vgl. oben Anmerkung 11 zum Kapitel 8.4.3.3. 5 (S. 361) Im Einheitsfrontlied von 1934 (S. 288 f.), das Hanns Eisler vertonte, wiederholte Brecht diesen Appell zur Einheitsfront aller Arbeiterparteien eigens noch einmal, konnte sich aber bald danach durch den Umstand bestätigt sehen, dass die Komintern 1935 die Sozialfaschismus-These aufgab und eine Volksfront-Strategie proklamierte, die weit über die proletarische Einheitsfront hinausging, weil sie alle antifaschistischen Kräfte umfassen sollte, also auch die Sozialdemokraten und bestimmte bürgerliche Parteien. 6 (S. 361) Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold war ein Wehrverband, der von den Verfassungsparteien SPD, DDP und Zentrum zum Schutz der Weimarer Republik gegründet worden war und als ein Gegengewicht gegen den Rotfrontkämpferbund der KPD und die SA der NSDAP fungieren sollte, diese Funktion aber nie so recht erfüllen konnte und sich nach der Machtübernahme durch die Nazis sang- und klanglos auflöste. 7 (S. 362) Vgl. dazu Fuegi, S. 392 ff. 1 (S. 360) 2 (S. 360)

8.7

Weitere Aufkündigungen

Ich zitiere nach der Ausgabe: Bertolt Brecht: Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Frankfurt/M. 1960. 2 (S. 363) Ernst Schumacher: Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918–1933, Berlin 1955, S. 442; vgl. auch S. 463 und S. 479 f. 3 (S. 366) Wohl eine ironische Anspielung auf die Konstantin-Legende und die Formel »In hoc signo vinces«. 4 (S. 366) Man könnte hier eine literarische Schnitzeljagd veranstalten und v. a. all die Anleihen vom Ende von Faust II dingfest machen, doch das hat uns hier nicht zu interessieren. 1 (S. 362)

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Anmerkungen 8.8

Mutter Partei

1 (S. 368)

Ich zitiere nach der Ausgabe: Bertolt Brecht: Die Mutter, Frankfurt/M.

1980. Vgl. dazu Frank Westerman: Ingenieure der Seele, Berlin 2003, S. 15–40. Es gibt unter marxistischen Schriftstellern bürgerlicher Herkunft zuweilen die Tendenz, sich eine ideologisch korrekte Wunschbiographie zurecht zu fantasieren; ich erinnere z. B. an die einschlägigen Werke von Stephan Hermlin: Abendlicht, Berlin 1979, und Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands, 3 Bde., Frankfurt/M. 1975–1981. 4 (S. 369) Zum Kontext vgl. Kapitel 4.1, sowie Kapitel 8.5. 5 (S. 370) Für Werner Mittenzwei ist Brechts Stück Die Mutter sein Beitrag zum sozialistischen Realismus; vgl. dazu W. M.: Bertolt Brecht. Von der »Maßnahme« zu »Leben des Galilei«, Berlin und Weimar 1965, S. 72–113. 2 (S. 368) 3 (S. 368)

Kapitel IX Erwärmungen und Aufschmelzungen oder Die Entdeckung des ›sanften Prinzips‹ 9.2

Leben »in finsteren Zeiten«

9.2.1 Gewalt-Phantasien im Geiste Lenins Maßnahme, S. 390. Ausstellungs-Katalog Benjamin und Brecht. Denken in Extremen. Im Auftrag der Akademie der Künste herausgegeben von Erdmut Wizisla, Berlin 2017, S. 105. 3 (S. 378) Eine ganz ähnliche unheimliche Erscheinung beschreibt Nietzsche in einer Notiz aus den Jahren 1868/69: »Was ich fürchte, ist nicht die schreckliche Gestalt hinter meinem Stuhle, sondern ihre Stimme: auch nicht die Worte, sondern der schauderhaft unartikulierte und unmenschliche Ton jener Gestalt. Ja, wenn sie noch redete, wie Menschen reden!« (Nietzsche III,148) 4 (S. 380) Heine 1,443. 5 (S. 380) Heine 1,444. 6 (S. 380) Heine 1,443. 7 (S. 381) Vgl. dazu 2. Mose 12,7 ff. 8 (S. 382) Jan Knopf: Bertolt Brecht, München 2012, S. 218. 1 (S. 374) 2 (S. 375)

9.2.2 Gewalt-Maßnahmen im Geiste Stalins Vgl. dazu Mittenzwei I, 54 ff. Vgl. dazu: Die Moskauer Schauprozesse 1936–1938. Herausgegeben von Theo Pirker, München 1963, S. 151–201. 3 (S. 386) Offenbar eine Anspielung auf DE Germania von Tacitus. 4 (S. 386) Brecht: Briefe II,334. 1 (S. 383) 2 (S. 386)

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Anmerkungen Gemeint ist das Werk von Georges Sorel: Réflexions sur la violance, Paris 1908, das seit 1928 auch in deutscher Übersetzung vorlag. 6 (S. 387) Lion Feuchtwanger: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde, Amsterdam 1937, S. 148. Letztlich war Feuchtwangers Buch den Leuten um Stalin doch nicht ergeben genug, sodass es in der Sowjetunion bald aus den Buchhandlungen verschwand und eingestampft wurde; vgl. Fuegi, S. 511 f. 7 (S. 387) Eine gelehrte, aber nicht ganz korrekte Anspielung auf Spinozas Ethik, deren Titel lautet: Ethica Ordine Geometrico demonstrata et in quinque Partes distincta. Neu übersetzt, herausgegeben, mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. Lateinisch – Deutsch, Hamburg 1999. 8 (S. 388) Bertolt Brecht: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Bd. I, 1919–1941, hg. v. Werner Hecht, Berlin und Weimar 1968, S. 168–175, hier S. 171. 9 (S. 388) Vgl. dazu die Studien von Günter Boldt: Autoren über Hitler. Deutschsprachige Schriftsteller 1919–1945 und ihr Bild vom »Führer«, Bonn 1993, S. 796–838 über Heinrich Mann und S. 777–795 über Feuchtwanger, sowie die von Michael Rohrmoser: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten, Stuttgart 1991, S. 151–176, über Feuchtwanger, Brecht und Bloch. Die politischen Aufsätze von Ernst Bloch aus dieser Zeit sind zusammengefasst in dem Band: Ernst Bloch: Vom Hasard zur Katastrophe. Politische Aufsätze 1934–1939. Mit einem Nachwort von Oskar Negt, Frankfurt/M. 1972. Dort findet sich auch seine Rezension von Feuchtwangers Moskau-Buch; eine wahre Hymne (S. 230–235). 10 (S. 389) Vgl. dazu Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S. 149 ff. 5 (S. 387)

9.2.3 Gewalt-Rechtfertigung im Geiste der Soziodizee G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Band I. Die Vernunft in der Geschichte. Herausgegeben von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 48. Vgl. dazu die höhnische Kritik von Schopenhauer in § 38 seines Hauptwerks: Über Geschichte, II,515 ff. 2 (S. 390) Vgl. dazu die vernichtende Kritik von Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, Tübingen 31971, S. 29 ff. und vom gleichen Autor: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Zweiter Band: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, Bern und München 1958, S. 333–347. 3 (S. 390) Vgl. dazu oben Kapitel 8.3. 4 (S. 391) Maurice Merleau-Ponty: Humanismus und Terror, 2 Bde., Frankfurt/M. 1966, Bd. I, S. 12 f. 5 (S. 391) Vgl. dazu Iring Fetscher: Brecht und der Kommunismus, in: Merkur, 27, 1973, S. 872–886, v. a. S. 880 ff. 6 (S. 392) Vgl. dazu Mittenzwei I,652 f. 7 (S. 392) Pirker, S. 241. 8 (S. 392) Pirker, S. 240. 9 (S. 392) Zur Frage, weshalb die Angeklagten sich so hemmungslos selbst anklagten, sodass man den Eindruck gewinnt, sie hätten den vom Gericht bestallten Ankläger noch übertrumpfen wollen, äußert sich Arthur Koestler 1940 ausführlich in Kapitel 3 seines Romans über die Moskauer Schauprozesse und führt diese Haltung darauf zurück, dass die Angeklagten durch eine entsprechende Behandlung erst restlos entpersönlicht und dadurch ihrer selbst entfremdet wurden, sodass sie bei 1 (S. 389)

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Anmerkungen diesen exzessiven Schuldbekenntnissen über sich selbst so sprachen wie über eine ganz andere Person. Vgl. dazu Arthur Koestler: Sonnenfinsternis. Mit einem Nachwort des Autors, Wien / Zürich 1991, v. a. S. 172–199. Im Nachwort schreibt Koestler, sein Held Rubaschow sei zwar eine erfundene Gestalt, habe aber Züge von Trotzki, Bucharin und Radek. Ganz anders sieht dies Ernst Bloch, der in seinem Aufsatz über Bucharins Schlusswort in dem oben unter Anmerkung 9 zu Kapitel 9.2.2 zitierten Sammelband (S. 351–359) Bucharin für schuldig hält und sein Schlusswort als reuige »Rückkehr in die Sowjetunion« (S. 355) deutet, mit dem er sich endlich von seinem falschen Bewusstsein losgesagt habe. Es gibt aber eine viel einfachere Erklärung für dieses seltsame Verhalten, denn man hatte den Angeklagten angedroht, auch ihre Angehörigen ins Lager zu stecken oder gar zu töten, wenn sie nicht diese absurden Schuldgeständnisse abgeben würden, und so logen sie also das Blaue vom sowjetischen Himmel herunter, um zumindest das Leben ihrer Angehörigen zu retten. 10 (S. 392) Vgl. Mittenzwei I,617–659. 11 (S. 393) Brecht spricht hier wahrscheinlich von Trotzkis Werk Verratene Revolution von 1936, in dem Trotzki ausführlich die Entartung der bolschewistischen Partei zu einer Staatsbürokratie beschreibt, die sich in kürzester Zeit zu einer neuen Herrscherklasse entwickelt und sich durch eine Geheimpolizei und durch Roten Terror unangreifbar gemacht habe. Und deshalb fordert er eine neue Revolution, die diese neue Kaste hinwegfegt und zu den Idealen Lenins zurückkehrt. Vgl. dazu Leo Trotzki: Verratene Revolution, Frankfurt/M. 1968, S. 95–113. 12 (S. 393) Walter Benjamin: Versuche über Brecht, Frankfurt/M. 1966, S. 131 f. 13 (S. 394) Brecht: Journale I,326 f. Michail Kolzow war ein Funktionär des russischen Schriftstellerverbandes, den Brecht in Moskau 1935 kennengelernt hatte; Sergej Tretjakow ein Schriftsteller und Brechts Übersetzer ins Russische; Carola Neher war die Darstellerin der Polly in der Verfilmung von Brechts Dreigroschenoper. Das Ehepaar Bernhard Reich und Asja Lacis, zwei Theaterleute, war in Russland im Exil; Béla Kun war ein ungarischer Kommunist und Funktionär in der Komintern und Wsewolod Meyerhold war ein russischer Regisseur und Theaterleiter. 14 (S. 394) Zitiert nach Rohrmoser, S. 162. 15 (S. 394) Vgl. dazu Rohrmoser, S. 162 f. und Brecht: Journale I,624 f. 16 (S. 394) Zitiert nach Rohrmoser, S. 163. 17 (S. 394) Über die Schwierigkeiten, die Brecht hatte, auf diese Vorwürfe öffentlich zu regieren, vgl. Jan Knopfs Aufsatz: Schwierigkeiten, wechselnd. Zu den Svendborger Gedichten. Der verhinderte Beitrag zur »Expressionismus-Debatte«, in: J. K.: Gelegentlich: Poesie. Ein Essay über die Lyrik Bertolt Brechts, Frankfurt/M. 1996, S. 141–149. 18 (S. 397) Georg Lukács / Johannes R. Becher / Friedrich Wolf u. a.: Die Säuberung. Moskau 1936: Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung. Heraus-gegeben von Reinhard Müller, Reinbek bei Hamburg 1991, v. a. S. 290 ff. und S. 416 ff. 19 (S. 397) Jan Knopf: Bertolt Brecht, S. 327.

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Anmerkungen 9.3

Gewalt-Abwehr im Geiste des Herrn Keuner

Vgl. dazu Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren, in: S. F.: Schriften zur Kunst und Literatur, Frankfurt/M. 1987, S. 169–180. 2 (S. 398) Paul Ricœur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M. 1969, S. 184. 3 (S. 398) Ebenda, S. 184. 4 (S. 399) Ich zitiere i. a. nach der Ausgabe: Bertolt Brecht: Leben des Galilei, Frankfurt/M. 1963, die die endgültige »Berliner Fassung« von 1955/56 enthält; die erste »dänische Fassung« von 1938/39 zitiere ich nach dem Band »Stücke 5« der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Brecht-Ausgabe Berlin / Weimar / Frankfurt/M. 1988, S. 7–115. 5 (S. 400) Bertolt Brecht: Geschichten vom Herrn Keuner. Zürcher Fassung. Herausgegeben von Erdmut Wizisla, Frankfurt/M. 2004, S. 58. 6 (S. 401) Vgl. Stücke 5, S. 94–96. 7 (S. 401) Geschichten vom Herrn Keuner, S. 60. 8 (S. 401) EE,353. 9 (S. 401) EE, 353. 10 (S. 403) Klaus-Georg Riegel: Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus, Graz / Wien / Köln 1985, S. 46 ff. 11 (S. 405) Journale II,183. 12 (S. 406) Vgl. dazu Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 118 ff., wo Kamlah mit Nachdruck darauf hinweist, dass Handlungsnormen an Situationen gebunden werden müssen, damit sie nicht zu dogmatischen werden. Der von Galilei II geforderte hippokratische Eid der Physiker wäre so eine dogmatische Handlungsnorm, die ohne Rücksicht auf die vorliegende Situation ein bestimmtes Verhalten fordert, also ohne zu fragen, ob dieses geforderte Verhalten in der vorliegenden Situation überhaupt möglich ist. Aus diesem Grund ist es laut Kamlah nur sinnvoll, »bedingte Handlungsnormen« zu fordern, die ein Situationsschema mit einem Handlungsschema verbinden, und deshalb in wenn-dann-Sätzen zu formulieren wären. 13 (S. 406) Journale II,350; vgl. auch den Kommentar dazu S. 582. 14 (S. 407) Vgl. dazu Theo Pirker: Die Moskauer Schauprozesse 1936–1938, S. 226– 241, v. a. aber S. 236–241. 15 (S. 408) Zit. nach Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000, Berlin 2003, S. 102. 1 (S. 398)

9.4

Gewalt-Kritik aus dem Geiste des Lao-tse

9.4.1 Brechts Entdeckung des Taoteking Ich orientiere mich hier v. a. an der wegweisenden Studie von Heinrich Detering: Bertolt Brecht und Laotse, Göttingen 2008, sowie an den Dissertationen von Yun-Yeop Song: Bertolt Brecht und die chinesische Philosophie, Bonn 1978; Yuan Tan: Der Chinese in der deutschen Literatur. Unter besonderer Berücksichtigung chinesischer Figuren in den Werken von Schiller, Döblin und Brecht, Göttingen 2007 und Han-Soon Yim: Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur chinesischen

1 (S. 409)

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Anmerkungen Philosophie, Bonn 1984. Das Taoteking zitiere ich meist nach der Ausgabe, die auch Brecht selbst verwendet hat: Laotse: Taoteking. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Aus dem Chinesischen verdeutscht und erläutert von Richard Wilhelm, Jena 1921. 2 (S. 409) Journale I, 168. 3 (S. 409) Alfred Döblin: Die drei Sprünge des Wang-lun. Chinesischer Roman. Mit einem Nachwort von Walter Muschg, München 1970, S. 48. 4 (S. 410) Taoteking/Wilhelm, S. 31. 5 (S. 410) An weiteren Übersetzungen habe ich zu Rate gezogen: Laotse: Das Buch von der großen Weisheit. Deutsch von André Eckardt, Frankfurt/M. 1950; Lao-tse: Tao te king. Aus dem Chinesischen übersetzt und kommentiert von Victor von Strauss. Bearbeitung und Einleitung von W. Y. Tonn, Zürich 1959; Lao-tse: Taote-king. Das heilige Buch vom Weg und der Tugend. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Günther Debon, Stuttgart 1961; Laotse: Tao te king. Das Buch vom Weltgesetz und seinem Wirken. Wiedergabe des chinesischen Textes durch Walter Jerven, Bern / München / Wien 1976; Laudse: Daudedsching. Aus dem Chinesischen übersetzt sowie mit einer Einleitung, Anmerkungen und einem Literaturverzeichnis von Ernst Schwarz, München 1980; Lao Tse: Tao-Te-King. Neu ins Deutsche übertragen von Hans Knospe und Odette Brändli. Mit einem Nachwort von Knut Walf, Zürich 1985; Lao-tse: Tao-te-king. Aus dem chinesischen Urtext übertragen von Erwin Rousselle, Frankfurt / Leipzig 1995; Lao-tse: Tao te king. Das Buch vom Tao und der Wirkkraft. Neu übertragen und mit einer Einführung von Zensho W. Kopp, Bielefeld 2014. 6 (S. 412) Taoteking/Kopp, S. 54. 7 (S. 414) Vgl. dazu Gellért Béky: Die Welt des Tao, Freiburg / München 1972, S. 15 ff. 8 (S. 414) Der Ausdruck »Achsenzeit« stammt von Karl Jaspers, der Lao-tse ausdrücklich als Gestalt der Achsenzeit bezeichnet. Vgl. dazu Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt/M. 1955, S. 14–31, hier S. 14. 9 (S. 415) Gemeint sind wohl die Bürgerkriege in der »Epoche der kämpfenden Reiche« von 457–221. 10 (S. 415) Bertolt Brecht: Werke. Prosa I. Zusammengestellt von Wolfgang Jeske, Frankfurt/M. 1991, S. 44. 11 (S. 416) Die Zeichnung ist auch wiedergegeben in der Studie von Heinrich Detering: Bertolt Brecht und Laotse, S. 8/9, und beschrieben in der Dissertation von Yuan Tan: Der Chinese in der deutschen Literatur. Unter besonderer Berücksichtigung chinesischer Figuren in den Werken von Schiller, Döblin und Brecht, Göttingen 2007, S. 160. 12 (S. 416) In einer ersten Fassung des Gedichts war der Zollverwalter der Abbildung entsprechend gesellschaftlich höher angesiedelt, dementsprechend auch besser gekleidet und flucht in der elften Strophe nicht über die Schmuggler, sondern »mit dem Personal«, das ihm unterstellt ist. Vgl. dazu Tan, S. 171 f. 9.4.2 Brechts Aneignung des Taoteking Thematisch einschlägig sind auch die Sprüche 2, 3, 10, 12, 22, 23, 24, 29, 30, 31, 38, 46, 57, 58, 60, 68 und 76. 2 (S. 420) Lao-tse, S. 83. 1 (S. 420)

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Anmerkungen Vgl. dazu die Zusammenstellung bei Detering, S. 64 ff. Vgl. dazu Gellért Béky, S. 53 ff. 5 (S. 422) Vgl. dazu Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 145 ff. 6 (S. 422) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 1549 ff. 7 (S. 423) Richard Wilhelm hat jeden der 81 Sprüche mit einer eigenen Überschrift versehen. 8 (S. 424) Wilhelm dachte hier wohl an die Grade der Demut, die in der monastischen Tradition von Benedikt von Nursia bis hin zu Bernhard von Clairvaux als Leiter dargestellt wird; vgl. dazu Prütting: Homo ridens, S. 422–430 und S. 462–470. 9 (S. 424) Bertolt Brecht: Der kaukasische Kreidekreis, Frankfurt/M. 1963, S. 140. 10 (S. 425) Kamlah hat dieses Werk als sein philosophisches Vermächtnis verstanden und es deshalb kurz vor seinem Freitod seinen Schülern mit einer Widmung zugeschickt, und somit auch mir. 11 (S. 426) Kamlah hat seine Apologie des Freitods im letzten Kapitel seiner Anthropologie noch durch die kleine Broschüre: Meditatio mortis, Stuttgart 1976 ergänzt. 12 (S. 426) Manfred Riedel: Bertolt Brecht und die Philosophie, in: Neue Rundschau 82, 1971, S. 65–85. 13 (S. 428) Vgl. dazu Prütting: Homo ridens, Kapitel 1.3: Im Anfang war die Tat?, S. 61 ff. 14 (S. 428) Im »Hoffmeister« und im »Schmidt« taucht der Begriff überhaupt nicht auf, aber auch nicht im »Krings« und im »Mittelstraß«; im »Ritter« wird auf zwei Spalten im wesentlichen Kamlah referiert, weil es offenbar keine anderen Publikationen zum Thema gibt. Ähnlich ist die Situation im Synonymen-Lexikon des aktuellen Duden, das den Begriff auch nicht kennt. 15 (S. 431) Vgl. Kamlah: Anthropologie, S. 52–60. 16 (S. 431) Rainer Maria Rilke: Die Gedichte, Frankfurt/M. 1990, S. 267. 3 (S. 421) 4 (S. 421)

9.4.3 Das ›sanfte Prinzip‹ und die Frage »Wer wen?« Vgl. dazu die Studie von Wolfgang Matz: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung aller Dinge. Biographie, München 2005, S. 289–309. 2 (S. 433) Adalbert Stifter: Bunte Steine und Erzählungen, München 1961, S. 8. 3 (S. 433) Vgl. dazu Matz, S. 302 ff. 4 (S. 434) Vgl. dazu Matz, S. 264–309. 5 (S. 434) Vgl. dazu André Eckardt: Laotses Gedankenwelt nach dem Taoteking. Baden-Baden / Frankfurt/M. 1957, S. 135–147. 6 (S. 435) Schwarz übersetzt: »der kaum zu umspannende Baum«, Kopp: »ein Baum von gewaltigem Umfang«, Debon: »auch der gewaltigste Baum«. Ein Klafter ist wörtlich die Spannweite der Arme, also etwa 2 Meter. 7 (S. 435) Gemeint ist natürlich nicht ein kleiner Knirps als Stammhalter, sondern ein Sproß. 8 (S. 435) Schwarz übersetzt: »aus einem Häufchen Lehm«, denkt also an irgendwelche Lehmbauten. 9 (S. 435) Debon übersetzt: »Wer etwas tut, zerstört es.« Schwarz: »Wer handelt, verdirbt es.« Strauss: »Wer handelt, verdirbt.« Also nur Strauss hat begriffen, dass man transitive und intransitive Verben nicht mischen darf. 10 (S. 436) Heinrich Hackmann: Chinesische Philosophie, München 1927, S. 64. 1 (S. 432)

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Anmerkungen 11 (S. 437) Vgl. dazu Gellért, S. 94; dort analogisiert Gellért das chinesische »Te« mit dem griechischen Begriff »areté«, was man wiederum mit dem deutschen Wortfeld »Tugend/Tüchtigkeit/Leistungsbereitschaft« wiedergeben könnte. 12 (S. 437) Ein Beispiel dafür ist das Buch von Edward Slingerland: Wie wir mehr erreichen, wenn wir weniger wollen. Das Wu-Wei-Prinzip, Berlin 2014, das man nach dem Anlesen bald wieder aus der Hand legt. 13 (S. 438) Béky, S. 166. Béky verweist hier auf das Werk von Chin-Shun Yang: Der chinesische Philosoph Laudse und seine Lehre, Berlin 1955. 14 (S. 439) Vgl. dazu Alan Watts: Der Lauf des Wassers. Eine Einführung in den Taoismus, Frankfurt/M. 1983, S. 116. 15 (S. 440) Hier gehen die Übersetzungen ganz weit auseinander, und ich stehe einigermaßen ratlos da, denn Eckardt übersetzt: »Priester bei den Opfern«, Kopp: »der sei als Priester anerkannt«; Rousselle: »der ist Herr des Erdaltars«; Debon: »sei Herr des Flur- und Kornaltars«; Knospe/Brändli: »hat es verdient, König der Welt genannt zu werden«.

9.5

Die Wiederkehr des ›Guten Menschen‹

9.5.1 Einleitung Vgl. dazu Fuegi, v.a S. 551 ff. Ebenda, S. 584. 3 (S. 445) Kleist, II,324. 4 (S. 445) Kleist, II,323. 5 (S. 445) Es gibt, soweit ich sehe, leider immer noch keine Studie, die die Konstituentien dieser von Brecht so intensiv kultivierten »gemeinsamen kreativen Situation« genau untersucht hätte, obwohl eine Studie dieser Art dringend nötig wäre, um einen wirklich tiefen Blick in Brechts poetische Werkstatt zu ermöglichen. Als methodologischer Ansatzpunkt hierfür böten sich die nachfolgend genannten Studien von Günter Blamberger an. Fuegis Auslassungen zu dem Thema sind hier leider völlig unzureichend und deshalb ganz und gar irreführend. Vgl. dazu auch meine Studie: Der kreative Impuls, Würzburg 2020, in der S. 29–75 das Zusammenspiel von kreativen Einstellungen, Situationen, Widerfahrnissen und Handlungen analysiert wird. 6 (S. 446) Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie, Frankfurt/M. 2011, S. 169; vgl. dazu auch Blambergers Studie: Das Geheimnis des Schöpferi-schen oder: Ingenium est ineffabile? Studien zur Literaturgeschichte der Kreativität zwischen Goethezeit und Moderne, Stuttgart 1991, wo Blamberger seine These ausführlich und überzeugend erläutert. 1 (S. 444) 2 (S. 445)

9.5.2 Der ›Gute Mensch‹ in Brechts Frühwerk Das Gedicht findet sich in Journale I,83, nicht aber in der Ausgabe der Gedichte von Jan Knopf, nach der ich hier sonst zitiere. 2 (S. 447) Brecht knüpft mit diesem Höllengelächter des Selbstmörders Judas an eine literarische Tradition an, die in der deutschen Literatur mit Klopstocks Messias beginnt und bis herauf zu Thomas Manns Faustus-Roman reicht; vgl. dazu die 1 (S. 446)

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Anmerkungen einschlägige Studie von Stefan Busch: Verlorenes Lachen. Blasphemisches Gelächter in der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Tübingen 2004, sowie Prütting: Homo ridens, S. 1115–1159. 3 (S. 447) Vgl. dazu Journale I,32 bzw. Gedichte, S. 421 ff. 4 (S. 447) Vgl. dazu Journale I,89 bzw. Gedichte, S. 439 ff. 5 (S. 447) Vgl. dazu Kapitel 1.4: »Wir opfern uns gern.« 6 (S. 447) Vgl. dazu die Gedichte Der heilige Gewinn (S. 443), Dankgottesdienst (S. 443), Die Toten vom 3. Regiment (S. 444), Hans Lody (S. 447), Der Fähnrich (S. 454), Karsamstagslegende (S. 456), Der Tsingtausoldat (S. 461) und Mütter Vermisster (S. 468. 7 (S. 447) Vgl. dazu Kapitel 2.4.1: »Das Geheimnis der hohen Stirn«. 8 (S. 447) Vgl. dazu Kapitel 1.7: »Der fremde Mann«. 9 (S. 448) Vgl. dazu Kapitel 1.5: »Erste Zweifel«. 10 (S. 448) Journale I,124. 11 (S. 448) Journale I,153 f. 12 (S. 449) Journale I,165. Von dem Plan zu einem Stück mit dem Titel Sommersinfonie existieren nur einige Notizen, aber keine Szenen; vgl. dazu »Stücke 10«, Bd. 1, S. 11 ff. bzw. Bd. 10.2, S. 992 ff. 13 (S. 449) Das-Material zu Hans im Glück findet sich in: »Stücke 10«, Teilband I, S. 77 ff. 14 (S. 450) Manfred Engelhardt: Über die Wonnen der sozialen Hingabe. Noch nie gespielt, beim Augsburger Brecht-Forum 1997 erstmals szenisch gelesen: das frühe Stück »Hans im Glück««, in: Augsburger Allgemeine vom 17. 2. 1997. 15 (S. 450) Lenz Prütting: Der gute Mensch vom Lech. Einige Anmerkungen zu Brechts frühem fragmentarischen Stück »Hans im Glück«. Programmheft-Essay zur Premiere von Hans im Glück vom 16. 2. 1997 an den Städtischen Bühnen Augsburg. 9.5.3 Der ›Gute Mensch‹ und die Forderungen des Kollektivs Brechts »Mann ist Mann«. Hg. v. Carl Wege, S. 228. Vgl. dazu Kapitel 5.3: »Man ist Niemand« und Kapitel 8.5.2: »Ein Lehrstück über das Einverständnis mit Enteinzigungen und Enteignungen aller Art«. 3 (S. 453) Vgl. dazu Kapitel 8.5.3: »Ein Lehrstück über das Einverständnis mit Säuberungen aller Art« und Kapitel 9.2.2: »Gewalt-Maßnahmen im Geiste Stalins«. 4 (S. 453) Vgl. dazu Kapitel 9.2.3: »Gewalt-Rechtfertigung im Geiste der Soziodizee«. 1 (S. 452) 2 (S. 453)

9.5.4 Die ›Guten Menschen‹ und das ›sanfte Prinzip‹ Vgl. dazu Kapitel 9.2.3; das Gedicht findet sich auf S. 1223 ff. Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg, Frankfurt/M. 1963. 3 (S. 457) Zitiert nach Mittenzwei I,679. 4 (S. 458) Bertolt Brecht: Der kaukasische Kreidekreis, Frankfurt/M. 1963. 5 (S. 460) Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan, Frankfurt/M. 1964. 6 (S. 462) Kamlah: Anthropologie, S. 40. 7 (S. 463) Wagner 5,267. 8 (S. 463) Zitiert nach Prütting: Homo ridens, S. 568. 1 (S. 454) 2 (S. 454)

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Anmerkungen Eine Anspielung auf die Legenda aurea von Jacobo de Voragine, die um 1280 entstand und das Leben und Wirken exemplarisch guter Menschen darstellt, die in der katholischen Kirche als Heilige verehrt werden, und als Prachtausgabe mit handgemalten Initialen in der Übersetzung von Richard Benz vorliegt: Jacobus de Voragine: Legenda aurea, 2 Bde., Jena 1917. Diese Legenda aurea ist nicht zu verwechseln mit dem Werk für das niedere Kirchenvolk: Kleine illustrierte Heiligen-Legende auf jeden Tag des Jahres, ein Paradiesgärtlein mit Blumen aller Art. Beschrieben von P. Philibert Seeböck, O.S. Fr., Einsiedeln 1886, das in vielen Auflagen verbreitet ist. 10 (S. 467) Vgl. dazu die Gewaltphantasien in Kapitel 9.2.1. 11 (S. 467) Fuegi: Brecht & Co., S. 555. 12 (S. 468) Bertolt Brecht: Herr Puntila und sein Knecht Matti, Frankfurt/M. 1965. 13 (S. 469) Georgina Baum: Humor und Satire in der bürgerlichen Ästhetik. Zur Kritik ihres apologetischen Charakters, Berlin 1959. 14 (S. 469) Baum, S. 19, zit. nach Prütting: Homo ridens, S. 536. 15 (S. 469) Zitiert nach Prütting: Homo ridens, S. 534. 16 (S. 470) Baum, S. 20, zit. nach Prütting: Homo ridens, S. 534. 17 (S. 471) Vgl. dazu Homo ridens, S. 120 ff. 18 (S. 471) Vgl. dazu Homo ridens, S. 1847 ff. 19 (S. 473) Journale I,343 f. 20 (S. 474) Journale I,344. 21 (S. 475) Journale I,345. 9 (S. 467)

9.6

»Und er gürtete den Schuh.«

Vgl. dazu Knopf, S. 327; Fuegi S. 570 ff. Mittenzwei hält sich bei diesem Thema deutlich zurück. 2 (S. 475) Vgl. Knopf, S. 386. 3 (S. 476) Vgl. Knopf, S. 385 ff., Fuegi, S. 570–588, Mittenzwei I,737 f. 4 (S. 477) Journale II,50 f.; vgl. dazu auch die Studie von Helfried W. Seliger: Das Amerikabild Bertolt Brechts, Bonn 1974. 5 (S. 478) Brecht hatte 1932 in der Nähe von Utting am Ammersee ein feudales Landhaus gekauft; vgl. dazu Fuegi, S. 392 ff. und Parker, S. 460 ff. 6 (S. 478) Ein Selbstzitat aus dem Eingangs-Gedicht der Svendborger Gedichte, das mit den Versen beginnt: »Geflüchtet unter das dänische Strohdach, Freunde / Verfolg ich euren Kampf. Hier schick ich euch / Wie hin und wieder schon, ein paar Worte, aufgescheucht / Durch blutige Gesichte über Sund und Laubwerk.« (S. 269) Brecht spielt hier deutlich auf die ersten Verse von Ovids Elegien an, die er aus der Verbannung ans Schwarze Meer nach Rom sandte; vgl. dazu Anmerkung 2 zu Kap. 10.5. 7 (S. 478) Journale II,70 f. 8 (S. 478) Journale II,76. 9 (S. 478) Journale II,346. 10 (S. 479) Vgl. Fuegi, S. 623–699. 11 (S. 480) Journale II,88 f. 12 (S. 480) Journale II,185 f. 13 (S. 480) Stirner: EE,121. 1 (S. 475)

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Anmerkungen 14 (S. 481) Vgl. dazu Bertolt Brecht: Die Gesichte der Simone Machard, Frankfurt/M. 1970. Die Gesichte der Simone Machard bestehen darin, dass sie sich in die Rolle der Jeanne d’Arc hineinträumt, um das von deutschen Truppen eroberte und besetzte Frankreich wieder zu befreien. 15 (S. 481) Journale II,191 f. 16 (S. 481) Vgl. dazu Mittenzwei II, 200–208. 17 (S. 482) Journale II, 247 f. 18 (S. 482) Journale II, 250.

Kapitel X Zumutungen und Entmutigungen oder Die Frage »Wer wen?« 10.1 Einleitung 1 (S. 483) 2 (S. 485)

Bertolt Brecht: Frühe Stücke, München 1962, S. 8. Wolfgang Leonhard: Die Revolution entlässt ihre Kinder, Köln 1990,

S. 440. Es war v. a. Anton Ackermann, der diesen Weg vertrat, der sich dann aber doch dem Willen Ulbrichts beugen musste und 1948 Selbstkritik übte. Vgl. dazu Leonhard, S. 630 ff. 4 (S. 486) Thomas Neumann: Die Maßnahme. Eine Herrschaftsgeschichte der SED, Reinbek 1991, S. 33 f. 5 (S. 487) Vgl. dazu Mittenzwei: Brecht II,245–264. 6 (S. 487) Vgl. dazu Mittenzwei: Die Intellektuellen, S. 81–97, sowie S. 529, wo Mittenzwei unter Anmerkung 24 die Identität von Semjonow und »N. Orlow« enthüllt und hinzufügt: »Als ich meine Brecht-Biographie schrieb (…), war mir der Umstand durch einen Mitarbeiter Semjonows bekannt, unter den damaligen Bedingungen [vor dem Fall der Mauer, L. P.] aber nicht zu veröffentlichen.« 7 (S. 488) Vgl. dazu Frank Westerman: Ingenieure der Seele. Schriftsteller unter Stalin. Eine Erkundungsreise, Berlin 2003, v. a. S. 15–40. 8 (S. 488) Vgl. dazu Mittenzwei: Brecht II, 265–276 und Werner Hecht: Die Mühen der Ebene. Brecht und die DDR, Berlin 2013, S. 35–45. 3 (S. 485)

10.2 Zumutung I: Der Streit um die Lukullus-Oper 10.2.1 Die kulturpolitischen Rahmenbedingungen Bertolt Brecht: Das Verhör des Lukullus, Frankfurt/M. 1974. In dieser Ausgabe sind auch die Text-Änderungen enthalten, die zur zweiten Fassung mit dem Titel Die Verurteilung des Lukullus geführt haben. Diese zweite Fassung zitiere ich aber nach der Ausgabe: Die Verurteilung des Lukullus, Berlin-DDR 1951.

1 (S. 489)

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Anmerkungen Das Verhör in der Oper. Die Debatte um die Aufführung »Das Verhör des Lukullus« von Bertolt Brecht und Paul Dessau. Herausgegeben und kommentiert von Joachim Lucchesi, Berlin 1993, S. 19 f. 3 (S. 490) Vgl. dazu die Dokumentation von Matthias Braun: Drama um eine Komödie. Das Ensemble von SED und Staatssicherheit, FDJ und Ministerium für Kultur gegen Heiner Müllers »Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande« im Oktober 1961, Berlin 1995. 4 (S. 490) Vgl. dazu das Kapitel über den anarchischen Helden in: Theater in der Zeitenwende. Zur Geschichte des Dramas und des Schauspieltheaters in der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1968, hg. v. d. Forschungsgruppe Kunstund Kulturwissenschaften am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED Berlin unter der Leitung von Werner Mittenzwei, Berlin 1972, Bd. II, S. 259–272. 5 (S. 490) Vgl. dazu die Dokumentation von Günter Agde: Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, Berlin 22000. 6 (S. 490) Vgl. dazu die Dokumentation: Protokoll eines Tribunals. Die Ausschlüsse aus dem DDR-Schriftstellerverband 1979, hg. v. Joachim Walther, Wolf Biermann, Günter de Bruyn, Jürgen Fuchs, Christoph Hein, Günter Kunert, Erich Loest, Hans-Joachim Schädlich, Christa Wolf, Reinbek 1991. 7 (S. 491) A. Shdanow: Über Kunst und Wissenschaft, Berlin-DDR 1951. 8 (S. 493) Lucchesi, S. 47. 9 (S. 493) Gemeint sind damit v. a. Leserbriefe, die von Parteimitgliedern geschrieben und dann als »die Stimme des Volkes« bzw. als »die Stimme des Proletariats« ausgegeben werden. In der Dokumentation von Lucchesi fehlen solche Briefe, mit denen gezielt Kulturpolitik gemacht wurde, um auf bestimmte Künstler Druck zu erzeugen und ihnen dadurch zu »helfen«. 10 (S. 493) Eine Anspielung auf die russische Lyrikerin Anna Achmatowa, die Shdanow genau mit diesem Vorwurf beschimpft hatte; vgl. dazu Shdanow, S. 19 ff. 11 (S. 493) Bei Lucchesi nicht wiedergegeben; vgl. dazu Mittenzwei: Die Intellektuellen, S. 86 ff. 12 (S. 494) Vgl. Shdanow, S. 3–12. 13 (S. 494) Zit. nach Bunge: Faustus-Debatte, S. 91. 14 (S. 495) Ein vergleichbares Quengeln um »Werktreue« gab es in Westdeutschland zur gleichen Zeit bei den Wagnerianern, die sich gegen Wieland Wagners RegieStil auflehnten und sofort einen »Verein zur Durchsetzung der werkgetreuen Wiedergabe der Musikdramen Richard Wagners« gründeten, weil sie in dessen Arbeit einen schändlichen Traditionsbruch sahen und dagegen den kulturkonservativen Kampfbegriff der »Werktreue« in Stellung brachten. Zur »Werktreue«-Debatte vgl. den Aufsatz von Lenz Prütting: »Werktreue«: Historische und systematische Aspekte einer theater-politischen Debatte über die Grenzen der Theaterarbeit, in: Forum Modernes Theater, Band 21, Heft 2/2006, S. 107–190, v. a. S. 120 ff., jetzt auch wieder zugänglich in dem Werk von Lenz Prütting: Der kreative Impuls. Studien zur Phänomenologie der Kreativität, Würzburg 2020, S. 223–312 unter dem Titel: »Das Phantom ›Werktreue‹«. 15 (S. 495) Zit. nach Mahl: Urfaust, S. 190. 16 (S. 495) Brecht: Journale II,317. 17 (S. 495) Vgl. dazu Kapitel 7.5 Anmerkung 1. 18 (S. 496) Vgl. dazu Lucchesi, S. 61. 2 (S. 490)

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Anmerkungen 19 (S. 496) 20 (S. 496) 21 (S. 497)

Vgl. Lucchesi, S. 127–177. Brecht: Die Mutter, S. 68. Mittenzwei: Die Intellektuellen, S. 95.

10.2.2 Der Kampf um Werk und Aufführung Ich zitiere nach zwei Ausgaben: Das Verhör des Lukullus. Hörspiel, Frankfurt/M. 1974 und: Die Verurteilung des Lukullus von Bertolt Brecht. Musik von Paul Dessau, Berlin-DDR 1951; hier: Verhör. S. 52, Verurteilung, S. 60. 2 (S. 498) Zur Datierung vgl. Lucchesi, S. 81. 3 (S. 498) Wahrscheinlich eine Anspielung auf die Proklamation des Nationalen Notstandes in den USA wegen des für die Amerikaner sehr ungünstigen Verlaufs des Krieges in Korea, weshalb man in den USA sogar erwog, die Atombombe gegen Nordkorea einzusetzen. 4 (S. 498) Journale II,317 f. 5 (S. 499) Lucchesi, S. 80. 6 (S. 499) Lucchesi, S. 81, bzw. Briefe I,650. 7 (S. 500) Lucchesi S, 82. 8 (S. 503) Vgl. Lucchesi, S. 242. 9 (S. 503) Vgl. dazu die Kritiken bei Lucchesi, S. 321 ff. Die Kritiken aus der westdeutschen Presse sind durchweg positiv. 10 (S. 504) Vgl. Lucchesi, S. 180. 11 (S. 506) Vgl. Lucchesi, S. 229. 12 (S. 506) Vgl. dazu den bei Lucchesi S. 206 zitierten Brief an Pieck und den S. 211 zitierten an Grotewohl. 13 (S. 506) Gemeint ist die Französische Revolution, deren Akteure sich gern als Römer gaben und entsprechend kostümierten. 14 (S. 506) Lucchesi S. 352. 1 (S. 497)

10.3 Zumutung II: Der Streit um Eislers Faustus-Libretto 10.3.1 Eislers Faustus-Libretto im Kontext der Faust-Literatur Journale II, 333; vgl. dazu die Dissertation von Deborah Vietor-Engländer: Faust in der DDR, Frankfurt/M. 1987, S. 174–201. 2 (S. 507) Zur Funktion dieser Organisation im Rahmen der Neuordnung des kulturellen Lebens in der DDR vgl. Mittenzwei: Die Intellektuellen, S. 73 ff. 3 (S. 508) Klaus Völker: Faust. Ein deutscher Mann. Die Geburt einer Legende und ihr Fortleben in den Köpfen, Berlin 1981, S. 15. Vgl. auch Günther Mahal: Faust. Die Spuren eines geheimnisvollen Lebens, Bern und München 1980. 4 (S. 509) Doctor Fausti Weheklag. Die Volksbücher von D. Johann Faust und Christoph Wagner. Nach den Erstdrucken neu bearbeitet und eingeleitet von Helmut Wiemken, Bremen 1961. 5 (S. 509) Wahrscheinlich benützte Eisler die Ausgabe: Faust. Das Volksbuch und das Puppenspiel nebst einem Anhang über den Ursprung der Faustsage. Von Karl Simrock, Frankfurt/M. 1972. 1 (S. 507)

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Anmerkungen Hans Schwerte: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie, Stuttgart 1962. Eine Ergänzung zu Schwertes Studie ist die monumentale Dokumentation von Karl Robert Mandelkow: Goethe im Urteil seiner Kritiker, 4 Bde., München 1975–1984. 7 (S. 509) Vischer hatte 1844 auch einen detaillierten Plan zu einer Nibelungen-Oper entwickelt, von dem Wagner dann einige Anregungen übernommen hat; vgl. dazu Friedrich Theodor Vischer: Kritische Gänge. Zweiter Band. Heraus-gegeben von Robert Vischer, Leipzig 21914, S. 451–478. 8 (S. 510) Vgl. dazu Georg Lukács: Faust und Faustus. Vom Drama der Menschengattung zur Tragödie der modernen Kunst. Ausgewählte Schriften II, Reinbek 1967, S. 157 ff.; auch zitiert bei Völker, S. 161 ff. 9 (S. 510) Vischer: Kritische Gänge Bd. II, S. XVIII; viele Jahre später widmete Vischer der sehr kritischen Interpretation von Goethes Faust sogar eigens ein ganzes Buch: Göthe’s Faust. Neue Beiträge zur Kritik des Gedichts, Stuttgart 1875, in dem er zu dem Ergebnis kommt: »Faust hat nicht wahrhaft gestrebt, menschlich gefehlt, aus Schuld sich erhoben, ist nicht bereichert aus Verirrungen hervorgegangen.« (S. 179) Außerdem hat Vischer in den 1860er-Jahren eine possenhafte Fortsetzung von Goethes Faust als »Faust. Der Tragödie dritter Teil« geschrieben und unter dem Pseudonym »Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky« veröffentlicht, die ganz lustig beginnt, sich dann aber immer zäher liest, sodass man irgendwann völlig genervt die Lektüre abbrechen möchte. Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Ausgewählte Werke in acht Teilen. Herausgegeben und eingeleitet von Theodor Kappstein, Leipzig o. J., Vierter Teil, S. 7 ff. 10 (S. 510) Das berühmteste literarische Dokument dazu dürfte Freiligraths HamletGedicht Deutschland ist Hamlet von 1844 sein, das Hamlet als »problematische Natur« im Sinne von Friedrich Spielhagen darstellt, der angeblich unfähig zum Handeln ist, weil er zuviel denkt; vgl. Freiligrath 3,93 ff. Allerdings endet das Gedicht mit dem Bekenntnis des Dichters: »Doch – darf ich schelten, alter Träumer? / Bin ich ja selbst ein Stück von dir, / Du ew’ger Zauderer und Säumer!« (S. 95) 11 (S. 511) Vischer: Kritische Gänge, Bd. I, S. 320–348. 12 (S. 513) Hanns Eisler: Johann Faustus. Oper, Berlin 1952, S. 73 ff. Es gibt auch eine »Fassung letzter Hand« von Eislers Libretto, hg. v. Hans Bunge, Berlin 1983, mit einem sehr umfangreichen Nachwort von Werner Mittenzwei, S. 115–152. 13 (S. 513) Simrock: Faust, S. 203 f. 14 (S. 513) Christopher Marlowe: Die tragische Geschichte vom Leben und Tod des Doktor Faustus, in: Dramen der Shakespearezeit. Herausgegeben und eingeleitet von Robert Weimann, Bremen 1964, S. 95–158, hier S. 158. Die Übersetzung stammt von Alfred van der Velde. 15 (S. 514) Ernst Fischer: Doktor Faustus und der deutsche Bauernkrieg. Auszüge aus dem Essay zu Hanns Eislers Faust-Dichtung, in: Sinn und Form, 4. Jahr, 1952, 6. Heft, S. 59–73. Fischers Aufsatz findet sich auch in der Dokumentation des Streits um Eislers Libretto von Hans Bunge: Die Debatte um Hanns Eislers »Johann Faustus«. Eine Dokumentation, Berlin 1991, S. 21–36. 16 (S. 514) Ernst Fischer: Doktor Faustus und die deutsche Katastrophe, in: E. F.: Kunst und Menschheit. Essays, Wien 1949, S. 35–98. 17 (S. 515) Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, Frankfurt/M. 1967, S. 631, auch bei Fischer S. 51. 6 (S. 509)

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Anmerkungen 18 (S. 515) Dieses Zurückzucken vor der Anwendung revolutionärer Gewalt findet sich in den literarischen Dokumenten des Vormärz nicht nur, wie gesehen, bei Vischer oder bei Freiligraths Hamlet, sondern sogar bei Freiligraths ProletarierMaschinisten in dem Gedicht Von unten auf! in der Sammlung ÇA ira, in dem ein Schaufelraddampfer als Staatsschiff dargestellt wird, dessen Maschinist aus seiner Luke heraus den preußischen König anknurrt: »Es liegt an mir: – Ein Ruck von mir, Ein Schlag von mir zu dieser Frist, / Und siehe, das Gebäude stürzt, von welchem Du die Spitze bist!« Doch dann ringt sich der »Proletariermaschinist« schließlich doch zu der Erkenntnis durch, dass die Zeit noch nicht reif sei und knurrt lieber den Dampf an: »Heut, zornig Element noch nicht!« (Freiligrath, Bd. 3, S. 126 f.) 19 (S. 516) Die »Sickingen-Debatte« zwischen Karl Marx und Ferdinand Lassalle war für die marxistisch orientierte Literatur-Kritik immer richtungweisend für den Umgang mit historischen Stoffen in der Literatur; vgl. dazu Demetz: Marx, Engels und die Dichter, S. 107 ff. 20 (S. 517) Alexander Abusch: Der Irrweg einer Nation, Berlin 1946, S. 25. Abuschs Werk war eine der ersten Publikationen des neu gegründeten Aufbau-Verlags und so gesehen auch eine programmatische. 21 (S. 518) Zum erkenntnistheoretischen Echo-Effekt vgl. Kapitel 8.3. 22 (S. 519) Theatergeschichtlich gesehen taucht die Werktreue-Debatte immer bei massiven Traditionsbrüchen als kulturkonservativer Kampfbegriff auf. So liefen z. B. während der Weimarer Zeit alle Propagandisten der »Werktreue«-Ideologie geschlossen zu den Nazis über, was kein Zufall sein kann; vgl. dazu den Aufsatz über »Werktreue« in der Studie von Prütting: Der kreative Impuls S. 223–312, hier S. 239–244. 23 (S. 519) Vgl. dazu Schwerte, S. 42 ff. 24 (S. 519) Vgl. dazu Schwerte, S. 95 ff. 25 (S. 519) Vgl. dazu Schwerte, S. 148 ff. 26 (S. 520) Schwerte, S. 154. 27 (S. 520) Schwerte, S. 155. Wahrscheinlich spricht Schwerte/Schneider hier etwas verdeckt auch von sich selbst, doch in der Diskussion über den Fall Schwerte/ Schneider hat dieser Umstand seltsamerweise nicht die zentrale Rolle gespielt, obwohl Ludwig Jäger die Faust-Studie als »Konversions-schrift« (S. 17) bezeichnet hat, in der sich der SS-Mann Hans Ernst Schneider zum liberalen Germanisten Hans Schwerte transformierte, was ihm laut Jäger aber »nur teilweise« (S. 24) gelungen sei, weil »bei der kommentarlosen Substitution das Getilgte nicht nur der Erinnerung, sondern auch der Reflexion entzogen wird«. Vgl. dazu Ludwig Jäger: Seitenwechsel, München 1998, S. 32. Vgl. dazu auch die Studie von Willi Jasper: Faust und die Deutschen, Berlin 1998, die sich als Ergänzung und Korrektur zu Schwertes Studie lesen lässt, und die auch so (vgl. S. 17 ff.) gemeint ist. Im Gegensatz zu Jäger spricht Claus Leggewie im Fall Schwerte/Schneider von einer echten »Konversion«: Claus Leggewie: Von Schneider zu Schwerte. Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte, München 1998, S. 18. Und für Theo Buck ist die Faust-Studie wieder nichts als ein »wohlkalkulierter, karrierebedingter Vorausvollzug der Forderungen des Zeitgeistes«, also pure Mimikry; zit. nach: Walter Müller-Seidel: Probleme der literarischen Moderne. Am Beispiel des Germanisten Hans Schwerte, in: Helmut König (Hg.): Der Fall Schwerte im Kontext, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 66–97, hier S. 67. Müller-Seidel wie-

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Anmerkungen derum hat den Eindruck, dass Schwertes »sachlich gehaltene Rezeptionsgeschichte der »Faust«-Dichtung von einer Selbstbefragung und Selbsterforschung begleitet wird« (S. 68), und in diese Richtung geht ja auch meine oben geäußerte Vermutung. 28 (S. 521) Vgl. »Faust II«, V. 11404. 29 (S. 521) Vgl. dazu in Kapitel 9.2.1 die Begegnung Heines mit seinem Schatten als dem Täter seiner Gedanken. 30 (S. 521) In diesem Zusammenhang wären v. a. die beiden Stücke Mauser und Germania Tod in Berlin zu nennen, in denen das faustisch-tragische Wabern bis in den sauren Kitsch der »Demut des Tötens« hinaufgetrieben wird. Vgl. dazu auch Anmerkung 3 zu Kapitel 4.5. 31 (S. 521) Möglicherweise eine Anspielung auf Heines Begegnung mit dem Schattenmann als dem Ausführer seiner Gewaltfantasien. 32 (S. 522) Zit. nach Willi Jasper: Faust und die Deutschen, S. 202. 33 (S. 522) Vgl. dazu das einschlägige Kapitel bei Jasper, S. 163 ff. 34 (S. 522) Rundfunkkritik vom 29. März 1953, zit. nach: Bernd Mahl: Brechts und Monks Urfaust-Inszenierung mit dem Berliner Ensemble 1952/53. Materialien, Spielfassung, Szenenfotos, Wirkungsgeschichte, Stuttgart 1986, S. 192; vgl. dazu auch Deborah Vietor-Engländer: Faust in der DDR, S. 139–155. 35 (S. 523) Johanna Rudolph: Weitere Bemerkungen zum »Faust«-Problem. Zur Aufführung von Goethes »Urfaust« durch das Berliner Ensemble, N.D. v. 27. 5. 1953, zit. nach: Hans Bunge: Die Debatte um Hanns Eislers »Johann Faustus«. Eine Dokumentation, Berlin 1991, S. 119, bzw. Mahl, S. 192. 36 (S. 523) Mahl, S. 192. 37 (S. 523) Ebenda. 38 (S. 523) Ebenda. 39 (S. 523) Mahl, S. 197. 40 (S. 523) Mahl, S. 199. 10.3.2 Der Prozess gegen Eislers Faustus-Libretto Vgl. dazu den Sammelband, in dem sich einige kommunistische Renegaten vorstellen: Arthur Koestler, Ignazio Silone, Richard Wright, André Gide, Louis Fischer, Stephen Spender: Ein Gott, der keiner war, München 1962. Auf »erbärmliche und verächtliche Charaktere à la Silone und Koestler« weist Girnus eigens hin (Bunge, S. 99). Nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 gehörte auch Ernst Fischer zu den kommunistischen Renegaten; vgl. dazu seine Erinnerungen: Das Ende einer Illusion, Wien, München, Zürich 1973. 2 (S. 524) Vgl. dazu die Edition: Prozess gegen die Leitung des staatsfeindlichen Verschwörerzentrums mit Rudolf Slansky an der Spitze, hg. v. Justizministerium der DDR, Berlin 1953. Laut Werner Hecht argumentierten Abusch, Girnus und Rodenberg gegen Eisler nach dem Prinzip »Haltet den Dieb!«, weil sie selbst im Verdacht standen, mit Renegaten zu sympathisieren, d. h.: »Sie redeten gegen Eisler und zugleich um ihre eigene Existenz.« Vgl. Werner Hecht: Die Mühen der Ebenen. Brecht und die DDR, Berlin 2013, S. 138. 1 (S. 524)

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Anmerkungen Vgl. dazu die Edition: Laszlo Rajk und Komplizen vor dem Volksgericht. Vorwort von Kurt Hager, Berlin 1949. Kurt Hager galt damals schon als der Chefideologe der SED. 4 (S. 526) Alexander Abusch (1902–1982), Emigrant in Mexiko und enger Freund von Johannes R. Becher, war seit Gründung der DDR ein hoher Kulturfunktionär und ab 1954 Stellvertreter des Kulturministers Becher und später selbst Kulturminister, worüber er in seinen autobiographischen Schriften ausführlich berichtet: Der Deckname, Berlin 1981 und: Mit offenem Visier, Berlin 1986. 5 (S. 526) Wilhelm Girnus (1906–1985) verbrachte fast die ganze Nazizeit als politischer Häftling in Zuchthäusern und KZs und war zur Zeit der Kampagne gegen das Faustus-Libretto Mitglied der »Kunstkommission«, also der Zensur-Behörde, und Redakteur der Parteizeitung Neues Deutschland. 6 (S. 526) Lucchesi, S. 243. 7 (S. 526) Vgl. dazu Klaus-Georg Riegel: Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus, Graz, Wien, Köln 1985, v. a. 47 ff. und 71 ff. 8 (S. 526) Das Wort stammt von Brecht und findet sich in dem Gedicht Die neue Mundart, S. 395. 9 (S. 528) Bunge, S. 101. Hans Mayer hat immer wieder auf die antisemitische Unterströmung in der frühen DDR verwiesen, die wohl v. a. ein Echo von Stalins Judenhass war, in den er in seinen letzten Jahren verfallen war. Vgl. dazu z. B. Hans Mayer: Ein Tauwetter, das keines war. Rückblick auf die DDR im Jahre 1956, in: Entstalinisierung, hg. v. Reinhard Crusius und Manfred Wilke, S. 431–455, hier S. 433, sowie Arno Lustiger: Rotbuch. Stalin und die Juden, Berlin 1998 und Mario Keßler: Die SED und die Juden. Zwischen Repression und Toleranz, Berlin 1995. 10 (S. 528) Abusch zitiert hier die bekannte Faust-Deutung Goethes aus seinen Gesprächen mit Eckermann vom 6. Juni 1931; vgl. dazu: Goethe über den Faust. Herausgegeben von Alfred Dieck, Göttingen 1958, S. 54. Gemäß der Einteilung von Wilhelm Böhm (Faust der Nichtfaustische, Halle 1933) zählt Abusch damit zur »Faustorthodoxie« (S. 3 f.), d. h. zu den Faust-Interpreten, die nur diese »immer höhere und reinere Tätigkeit« Fausts sehen, weil sie nur noch im marxistisch eingefärbten ontologischen Komparativ denken können und deshalb auch blind sind für Fausts Verstrickung in tragische Schuld. 11 (S. 529) Alexander Abusch: Mit offenem Visier. Memoiren, Berlin 1986, S. 288. 12 (S. 531) Bertolt Brecht: Bei Durchsicht meiner frühen Stücke, in: B. B.: Frühe Stücke, München 1963, S. 7. 3 (S. 524)

10.4 Zumutung III: Der Aufstand vom 17. Juni 1953 und der böse Morgen danach Vgl. dazu die sehr detaillierte Darstellung in: Wolfgang Leonhard: Kreml ohne Stalin, Köln 1959. 2 (S. 535) Vgl. dazu das Sammelwerk: 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR. Herausgegeben von Ilse Spittmann und Karl Wilhelm Fricke, Köln 1982, S. 175– 203, sowie die Studien von Hubertus Knabe: 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand, München 2003, und Volker Koop: Der 17. Juni 1953. Legende und Wirklichkeit, Berlin 2003, und Dietrich Staritz: Geschichte der DDR 1949–1990, Frankfurt/M. 1 (S. 535)

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Anmerkungen 1996 die beiden Kapitel: »Der Weg in die Juni-Krise« und »Der 17. Juni – Ein Lernerlebnis)«. S. 100–136. 3 (S. 536) Brecht: Briefe I,692 f. 4 (S. 536) Vgl. dazu Mittenzwei II, 482–510; Knopf, S. 503–507; Fuegi, S. 783–792 und Stephan Bock: Chronik zu Brechts Garbe/Büsching-Projekt und Käthe Rülickes Bio-Interview Hands Garbe erzählt sowie zu anderen Bearbeitungen des Garbe-Stoffes von 1949 bis 1954, in: Brecht-Jahrbuch 1977. Herausgegeben von John Fuegi, Reinhold Grimm und Jost Hermand, Frankfurt/M. 1977, S. 81–99. 5 (S. 536) Brecht: Briefe I,693 f. 6 (S. 537) Vgl. dazu den Beitrag von Heinrich Mohr: Der 17. Juni als Thema der Literatur in der DDR, in: Spittmann/Fricke, S. 87–113. 7 (S. 537) Zit. nach Parker, S. 882. 8 (S. 538) Brecht: Briefe I,697. 9 (S. 538) Vgl. dazu die Auflistung bei Knabe, S. 259 ff. 10 (S. 539) Kurt Barthels Manifest ist auszugsweise nachzulesen auch bei Mittenzwei II,533, Spittmann/Fricke, S. 89 ff. und Knabe, S. 258 f.

10.5 Entmutigung I: Verfremdete Existenz Brecht: Journale II,346. Publius Ovidius Naso: Briefe aus der Verbannung. Tristia. Epistulae ex Ponto. Übertragen aus dem Lateinischen von Wilhelm Willige. Eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg, Frankfurt/M. 1993, S. 7 f. Der »Frevel«, der zur Verbannung Ovids durch den Kaiser Augustus geführt hatte, bestand wahrscheinlich in den Frivolitäten, die er sich in seinen Anleitungen zur Liebeskunst erlaubt hatte; vgl. dazu die Einführung von Holzberg, S. 326 ff. 3 (S. 541) Brecht: Journale II,347. 4 (S. 542) Brecht: Journale II,158. Das Buch von Boris Souvarine: Stalin. Anmerkungen zu Geschichte des Bolschewismus, war 1935 zuerst in französischer Sprache erschienen und wurde alsbald in viele Sprachen übersetzt. Brecht las es 1943 und kam zu dem Ergebnis: »Im Faschismus erblickt der Sozialismus sein verzerrtes Spiegelbild. Mit keiner seiner Tugenden, aber mit allen seinen Lastern.« (Journale II,158) Souvarines und Trotzkis Analysen waren maßgebend für die Entstehung der Totalitarismus-These, wie sie v. a. von Hannah Arendt vertreten wurde. 5 (S. 543) Brecht: Journale II,346 f. 6 (S. 544) Dass der 17. Juni im wesentlichen ein Aufstand der Arbeiter war, geht auch aus der strafrechtlichen Aufarbeitung hervor, denn von den 1240 Angeklagten, die bis Oktober 1953 rechtskräftig verurteilt worden sind, waren allein 1090 Arbeiter; vgl. dazu die Aufstellung in: Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 22000, S. 81. 7 (S. 545) Vgl. dazu auch Brechts Überlegungen zum 17. Juni 1953 aus seinem Nachlass, die im Zusammenhang mit dem Turandot-Projekt entstanden sind; nachzulesen bei Mittenzwei II,541 f. Dort führt Brecht die Gewalt-Explosion des 17. Juni darauf zurück, dass zwischen der »veränderung der lebensweise« durch die sozialistischen Maßnahmen und der nicht erfolgten »veränderung der denkweise« eine zu große Kluft bestanden habe: »überall wurden fehler gemacht, menschen geschä1 (S. 540) 2 (S. 541)

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Anmerkungen digt oder gekränkt, kostspielige umwege oder kostspielige kürzeste wege begangen, immer wieder verordnet anstatt überzeugt.« 8 (S. 545) Vgl. dazu Sinn und Form 5, 1953, 6. Heft, S. 119 ff. Abgedruckt sind die Gedichte Der Blumengarten, Gewohnheiten, noch immer, Rudern, Gespräche, Der rauch, Heisser Tag, Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches, also durchweg Gedichte, die eher idyllisch als elegisch gestimmt sind und nur sanfte Kritik an alten preußisch-deutschen Gewohnheiten anmelden und somit eher untypisch sind für die Gedicht-Sammlung als ganzer. 9 (S. 546) Vgl. dazu Jean-Paul Sartre: Der Blick. Ein Kapitel aus Das Sein und das Nichts. Herausgegeben, mit einer Einleitung und einem Nachwort von Walter van Rossum, Mainz 1994. 10 (S. 546) Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz G. Sieveke, München 51995, S. 105, sowie Christoph Demmerling / Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart / Weimar 2007, S. 219–244. 11 (S. 546) Vgl. dazu Lenz Prütting: »Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.« Über Gelächter und Scham, in: Berliner Debatte Initial 1/2, 17. Jg. 2006, S. 123–136, sowie Prütting: Homo ridens, S. 1568 ff. 12 (S. 548) Vgl. dazu Mittenzwei II,497 über die sowjetischen Panzer: »Als sie die Friedrichstraße überquerten und näher kamen, begab sich ein großer Teil der Demonstranten fluchtartig auf die andere Seite des Brandenburger Tors. Sie schienen von dort gekommen zu sein. Die sowjetischen Panzersoldaten standen in ruhiger, besonnener, eher freundlicher Haltung in ihren Luken. Brecht winkte ihnen zu.« Vgl. dazu auch die ganz ähnliche Schilderung von Erwin Strittmatter: »Als die russischen Panzer die Straße Unter den Linden runterfuhren und von den Leuten mit Steinen beworfen wurden, da zog Brecht seine Mütze und schrie: »Hurra« Hurra« Hurra!« Zit. nach Thomas Grimm: Was von den Träumen blieb. Eine Bilanz der sozialistischen Utopie. Vorwort von Heiner Müller, Berlin 1993, S. 55. 13 (S. 548) Vgl. dazu den Roman von Stefan Heym: 5 Tage im Juni, Frankfurt/M. 1977. Dieser Kolportageroman hatte in einer ersten Fassung den Titel Der Tag X, durfte in der DDR aber nicht in dieser Form erscheinen, obwohl er den 17. Juni ja als faschistischen Putschversuch beschrieb und somit die offizielle Lesart des Aufstandes wiedergab. Robert Havemann, der den 17. Juni in Berlin hautnah erlebt und dem Heym diese erste Fassung zugeschickt hatte, schreibt dazu 1970: »Ich war damals sehr für die Veröffentlichung. Inzwischen habe ich meine Meinung geändert. Stefan Heym sollte der Partei dankbar dafür sein, dass ›Der Tag X‹ nie erschienen ist. Heym übernimmt nämlich die grundfalsche offizielle Lesart, wonach der ›17. Juni‹ ein von westlichen Geheimdiensten organisiertes konterrevolutionäres Unternehmen war.« Robert Havemann: Fragen Antworten Fragen. Aus der Biographie eines deutschen Marxisten, München 1970, S. 136 f. 14 (S. 548) Bertolt Brechts Buckower Elegien. Mit Kommentaren von Jan Knopf, Frankfurt/M. 1986, S. 53 f. In der Studie: Gelegentlich: Poesie. Ein Essay über die Lyrik Bertolt Brechts, Frankfurt/M. 1996, geht Jan Knopf auch in einem eigenen Kapitel (S. 247–268) auf die Buckower Elegien ein, kommt aber über die Ergebnisse seiner Edition von 1986 nicht hinaus. 15 (S. 549) Knopf zitiert hier aus einem Brief Brechts von Mitte August (Briefe I,701) an Paul Wandel, dem Brecht das Gedicht Die Wahrheit einigt (S. 399) aus den Buckower Elegien zugeschickt hatte, das er aber nicht veröffentlichen wollte und

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Anmerkungen nur »zum inneren Gebrauch« (I,701) für Freunde vorgesehen hatte. Dieser »Arbeiter« Paul Wandel war aber gar kein Arbeiter, sondern spielte seit der Gründung der DDR immer eine Rolle als ein hoher Funktionär im DDR-Bildungswesen, von 1949 bis 1952 z. B. als Minister für Volksbildung. Wenn Knopf ihn trotzdem als einen »Arbeiter« bezeichnet, suggeriert er, dass Brecht hier einen Briefwechsel mit einem der aufständischen Arbeiter geführt habe. Und dass Knopf den Minister Wandel überhaupt zu einem »Arbeiter« stilisiert, liegt wohl an dem Kitschbild vom Arbeiter als dem Edlen Wilden des Industriezeitalters, das viele marxistische Intellektuelle mit Hingabe pflegen, und offenbar auch Jan Knopf. 16 (S. 550) Emil Platen: Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach, München 1991, S. 137 f. 17 (S. 551) Vgl. dazu Stephen Parkers ausführliche Darstellung von Brechts permanenten Erschöpfungszuständen, ausgelöst durch sein »fehlerhaft funktionierendes, erkranktes Herz« (S. 854) und seine »urologischen Beschwerden« (S. 821) in seiner Brecht-Biographie, S. 852 ff. und S. 820 ff. 18 (S. 552) Ich zitiere nach der Ausgabe: Bertolt Brecht: Stücke Band XIV: Turandot. Das Tui-Roman-Fragment, Berlin und Weimar 1967, S. 18. Durch Brechts Aufzeichnungen zieht sich ein breiter Strom von Hass und Verachtung im Hinblick auf die Gruppe von Intellektuellen um Max Horkheimer, die für ihn der Inbegriff von »Tuis« waren, weil sie sich laut Brecht zwar als Marxisten verstanden, die elfte Feuerbach-These aber nicht ernst nehmen wollten und außerdem im Proletariat auch nicht den einzigen historisch legitimen Akteur einer künftigen Revolution sehen konnten. Brechts Vorwurf an die »Tuis« bestand also darin, dass diese den Marxismus nur verwenden wollten, um die Welt zu interpretieren, nicht aber dazu, sie zu verändern. 19 (S. 552) Im Fragment des Tui-Romans wird der Ausdruck »Tui« folgendermaßen erklärt: »Nach allgemeiner Ansicht begann in diesen Tagen jenes Zeitalter in Chima [d. h. in der Weimarer Republik, L. P.], das die Zeit der Herrschaft des Geistes genannt wurde, nämlich die große Zeit der Tuis. Tuis wurden in Chima, mit einer Zusammenziehung der Anfangsbuchstaben, die Angehörigen der Kaste der Tellekt-uell-ins, der Kopfarbeiter, genannt. Sie waren in großer Anzahl über das Land verbreitet, und zwar als Beamte, Schriftsteller, Ärzte, Techniker und Gelehrte vieler Fächer, auch als Priester und Schauspieler. In den großen Tuischulen erzogen, verfügten sie über das gesamte Wissen ihrer Epoche. Sie hatten als Weißwäscher, Ausredner und Kopflanger des Kaisers an der seelischen Haltung des Volkes während des Krieges gearbeitet, und so war es natürlich, dass sie auch die Berufenen waren, den Frieden zu schließen.« (S. 196) 20 (S. 553) Paul Ricœur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M. 1969, S. 184. 21 (S. 553) Ebenda, S. 184. 22 (S. 553) Vgl. dazu das Kapitel über die Rollenfächer, in: Urs H. Mehlin: Die Fachsprache des Theaters. Eine Untersuchung der Terminologie von Bühnentechnik, Schauspielkunst und Theaterorganisation, Düsseldorf 1969, S. 320 ff.

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Anmerkungen 10.6 Entmutigung II: »Ich bin’s, ich sollte büßen!« Brecht hatte dies gleich zweimal explizit gefordert: Einmal in einem Brief an den Minister für Volksbildung Paul Wandel, bei dem er angemahnt hatte, die Kunstkommission müsse »energisch und großzügig aufgelöst« (Briefe I,699) werden, was dann alsbald auch geschah und von Brecht wiederum mit dem bissigen Gedicht Nicht feststellbare Fehler der Kunst-kommission (S. 1534) kommentiert wurde; und außerdem in etwa zeitgleich in einem längeren Artikel mit dem Titel: »Kulturpolitik und Akademie der Künste« im SED-Organ Neues Deutschland vom 13. August 1953, in dem er sich über die »unglückliche Praxis der Kommissionen«, »ihre Diktate«, ihre »vulgärmarxistische Sprache« und »ihre unmusischen administrativen Maßnahmen« beschwerte, die so »arm an Argumenten« seien, dass die Künstler sie nur noch »als Zumutungen« empfinden können. Zit. nach: B. B.: Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 3, Frankfurt/M. 1967, S. 207– 212, hier S. 208 f. 2 (S. 557) Rainer Maria Rilke: Die Gedichte, Frankfurt/M. 41990, S. 880 f. 3 (S. 559) Vgl. dazu Riegel: Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus, S. 110 ff. 4 (S. 559) Teo Otto: Meine Szene, Köln 1965, S. 42. 5 (S. 559) Die Rede ist abgedruckt in dem Band: Entstalinisierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen. Herausgegeben von Reinhard Crusius und Manfred Wilke, Frankfurt/M. 1977, S. 487 ff. 6 (S. 560) Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 2, S. 11–34, hier S. 12. 7 (S. 561) Der »Blutige Sonntag« spielt auch in Brechts Stück Die Mutter eine Rolle; vgl. dazu das 5. Bild, S. 29 ff. 8 (S. 562) Gerd Koenen: Die großen Gesänge, Frankfurt/M. 1987. 9 (S. 562) Wolf Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie, Berlin 2016, S. 75. 10 (S. 563) Hans Mayer: Ein Tauwetter, das keines war. Rückblick auf die DDR im Jahre 1956, in: Crusius/Wilke: Entstalinisierung, S. 431–455 hier S. 443. Zum Prozess gegen die Gruppe um Harich und Janka, die einen umfassenden Plan zur Umgestaltung der DDR ausgearbeitet hatte, der dann als Hochverrat gewertet und entsprechend bestraft wurde, vgl. den Aufsatz von Manfred Herwig: Die Rebellion der Intellektuellen in der DDR, ebenda S. 477–486, sowie Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen, S. 127 ff. und die Autobiographien der beiden Hauptangeklagten: Walter Janka: Schwierig-keiten mit der Wahrheit, Berlin / Weimar 1990, und Wolfgang Harich: Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Berlin 1993. 1 (S. 555)

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Abbildungen

Abb. 1, S. 94: Der Gott Baal stößt eine Lanze mit »vergetabilem« Schaftende nach unten, die Wellenlinien deuten das Meer an, das er in Person des Jammu besiegt hat (Stele aus Ugarit), aus: W. Orthmann, Der Alte Orient (Propyläen Kunstgeschichte 14), Berlin 1975, Abb. 415). Abb. 2, S. 120: Brecht mit normalem Haaransatz Ende 1914, aus: Brecht in Augsburg. Erinnerungen, Texte, Fotos. Eine Dokumentation von W. Frisch und K. W. Obermeier, Frankfurt/M. 1976, Foto Nr. 34. Abb. 3, S. 121: Brecht mit Stirnglatze Ende 1917. Abb. 4, S. 122: Brecht mit Stirnglatze und Gitarre 1917/18, aus: Albrecht Dümling: Lasst euch nicht verführen. Brecht und die Musik, München 1985, Titelbild. Abb. 5, S. 123: Brecht mit Stirnglatze in der Dichternische des Stadttheaters Augsburg Winter 1917/18, aus: Hanns Otto Münsterer: Bert Brecht. Erinnerungen aus den Jahren 1917–1922, Berlin und Weimar 1966, Foto Nr. 2. Abb. 6, S. 127: Max Stirner. Aus der Erinnerung gezeichnet von Friedrich Engels, London 1892. Abb. 7, S. 130: Programmheft des Stadttheaters Ingolstadt zu Trommeln in der Nacht, Spielzeit 1985/86. Das Foto zeigt Brecht mit Stirnglatze Ende 1917. Abb. 8, S. 411: Lao-tse auf dem Büffel reitend. Taoistisches Bild, aus: LAOTSE Taoteking. Das Buch vom Sinn des Lebens. Aus dem Chinesischen übersetzt und mit einem Kommentar versehen von Richard Wilhelm, Düsseldorf/Köln 1978, S. 1. Abb. 9, S. 414: Lao-tse trifft auf den Zöllner Yin Hi an der Grenze des Reiches. Holzschnitt, aus: Laotse: Tao te king. Text und Kommentar. Herausgegeben von Richard Wilhelm, München 1978, S. 197.

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Abbildungen

Abb. 10, S. 473: Englische Karikatur zum Hitler-Stalin-Pakt. Hitler und Stalin begrüßen einander mit unflätigen Komplimenten. Aus: osteuropa, 59. Jahrgang, Juli/August 2009, S. 46. Abb. 11, S. 474: Englische Karikatur zum Hitler-Stalin-Pakt. Hitler und Stalin teilen Europa unter sich auf. Aus: osteuropa, ebenda, S. 135.

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Nachwort

Bei der Arbeit an diesem Buch, das zwischen 2017 und 2019 entstand, habe ich allerlei Hilfe erfahren, für die ich mich hier in aller Form bedanken will. Die Hilfe meines Freundes Walter Burger bestand in der sehr genauen und wohlwollend-kritischen Lektüre meines Manuskriptes während dessen Entstehung, durch die er mich immer wieder zu einer noch genaueren Argumentation gezwungen hat. Eine Hilfe ganz anderer Art war die meiner Frau Doris, die mich bei der Arbeit an diesem Buch in aller Liebe umsorgt und mir die besten Arbeitsbedingungen verschafft hat, die man sich als Autor nur wünschen kann. Den Lektoren Steffen Bonhoff und Martin Hähnel danke ich für Ihre Hebammenarbeit an meinem Manuskript und dem Verlagsleiter Lukas Trabert für die Aufnahme meines Werkes in die neue Reihe »Literatur und Philosophie«.

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