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German Pages 529 [530] Year 2015
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) · Tobias Nicklas (Regensburg) J. Ross Wagner (Durham, NC)
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Jesus, Paulus und die Texte von Qumran Herausgegeben von
Jörg Frey und Enno Edzard Popkes unter Mitarbeit von
Sophie Tätweiler
Mohr Siebeck
Jörg Frey, geboren 1962; Studium der Theologie in Tübingen, Erlangen und Jerusalem; 1996 Promotion; 1998 Habilitation; seit 2010 Professor für Neutestamentliche Wissenschaft mit den Schwerpunkten Antikes Judentum und Hermeneutik an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Enno Edzard Popkes, geboren 1969; Studium der Theologie und Philosophie; 2004 Promotion; 2007 Habilitation; seit 2010 Professor für Geschichte und Archäologie des frühen Christentums und seiner Umwelt am Institut für Neues Testament und Judaistik der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel.
e-ISBN PDF 978-3-16-153213-9 ISBN 978-3-16-153212-2 ISSN 0340-9570 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
Friedrich Avemarie (1960 – 2012) zum Gedenken
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Vorwort „Jesus, Paulus und die Schriftrollen vom Toten Meer“, so lautete der Titel der VI. Schwerter Qumran-Tagung, die vom 6.–8. November 2009 in der Katholischen Akademie Schwerte stattfand und deren Vorträge, ergänzt durch einige zusätzliche Beiträge, nun im Druck vorliegen. Die Schwerter Tagung sollte im Nachgang zum 75. Geburtstag des Münchner Neutestamentlers und Qumranologen Heinz-Wolfgang Kuhn dessen zentrale Forschungsinteressen abdecken und ausgewählte Erträge der Qumranforschung in ihrer Bedeutung für die Jesus- und die Paulusforschung erörtern. Mittlerweile hat Heinz-Wolfgang Kuhn, dem ich 1999 auf dem Münchner Lehrstuhl nachfolgte, bei nach wie vor guter Gesundheit schon seinen 80. Geburtstag gefeiert. Die Verzögerung der Publikation, nicht zuletzt bedingt durch meinen Wechsel nach Zürich, bot Gelegenheit, das Spektrum dieses Bandes noch etwas zu erweitern. Heinz-Wolfgang Kuhns Beitrag am Ende bietet eine aktuelle Standortbestimmung seiner laufenden Projekte zum Historischen Jesus und zu den Paulusbriefen. Es verdient hohen Respekt, dass die Katholische Akademie Schwerte nun schon seit über fünfzehn Jahren regelmäßig qumranistische Fachtagungen beherbergt und fördert und sich so als ein verlässlicher Partner der Qumranforschung im deutschsprachigen Umfeld etabliert hat. Die von dem verstorbenen Göttinger Qumranforscher Hartmut Stegemann und dem ehemaligen Schwerter Studienleiter Dr. Johannes Horstmann begonnene Kooperation findet so unter der Ägide von Studienleiter Dr. Ulrich Dickmann eine erfreuliche und fruchtbare Fortsetzung, wofür ich ihm und der Akademie im Namen aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagungen herzlich Dank sagen möchte. Mein ehemaliger Schüler Enno Edzard Popkes hat die Aufgaben der Tagungskonzeption und der Herausgabe des Bandes mit mir geteilt. Für die Sammlung und erste Bearbeitung der Beiträge ist den Kieler Mitarbeiterinnen Sarah Bargholz, Stefanie Hertel und Cordula Wiest herzlich zu danken.
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Vorwort
In der Endphase der Redaktion und Formatierung hat dann Sophie Tätweiler in Berlin mit großem Engagement die Fäden in die Hand genommen, und dass der Band nun vorliegt, ist im Wesentlichen ihr zu verdanken. Nicole Rupschus in Zürich hat am Ende noch einmal Korrekturen mitgelesen und zusammen mit Sophie Tätweiler die Register erstellt. Dem Verlag Mohr Siebeck und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danken wir herzlich für die bewährte, kompetente und stets geduldige Begleitung der Herstellung. Gewidmet ist der Band dem Andenken des Freundes und Kollegen Friedrich Avemarie, der wie wenige andere deutschsprachige Forscher die Verbindung von Judaistik und neutestamentlicher Wissenschaft praktiziert hat und dessen Beitrag in diesem Band nun postum erscheint. Zürich, im Januar 2015
Jörg Frey
Inhaltsverzeichnis Vorwort ............................................................................................................................. VII JÖRG FREY Jesus, Paulus und die Texte vom Toten Meer Forschungsgeschichtliche und hermeneutische Perspektiven ..................................... 1
I. Jesus LUTZ DOERING Jesus und der Sabbat im Licht der Qumrantexte ...................................................... 33
ALBERT L.A. HOGETERP Jesus’ Eschatology in the Light of the Texts from Qumran ................................... 63
URSULA SCHATTNER-RIESER Das Aramäische zur Zeit Jesu, „ABBA!“ und das Vaterunser Reflexionen zur Muttersprache Jesu anhand der Texte von Qumran und der frühen Targumim .......................................................................................................... 81
HERMANN LICHTENBERGER Mt 18,10 und die Engel in Qumran .......................................................................... 145
II. Paulus CHRISTIAN METZENTHIN Jüdische Schriftgelehrsamkeit bei Paulus ................................................................ 163
FRIEDRICH AVEMARIE † Gab es eine vorrabinische Gezara schawa? Schriftauslegung durch lexematische Assoziation in Qumran, bei Paulus und in der frühen rabbinischen Literatur ......................................................................... 185
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Inhaltsverzeichnis
ENNO EDZARD POPKES Essenisch-qumranische und paulinische Psalmen-Rezeptionen Ein Beitrag zur frühjüdischen Schrifthermeneutik ...................................................... 231
GEORGE J. BROOKE Weak or Sinful? A Body of Rhetoric – on the Use of Physical Metaphors in Romans 3 and the Hodayot........................................................................................................... 251
FRANCESCO ZANELLA Das Vokabular für ‚Gerechtigkeit‘ in den Qumranschriften und bei Paulus ..... 263
JUDITH H. NEWMAN Covenant Renewal and Transformational Scripts in the Performance of the Hodayot and 2 Corinthians ..................................................................... 291
III. Qumran-Studien MICHAEL BECKER Zwischen Kult, Verein und Eschaton Zur Diskussion der Mähler in der ya!ad-Gemeinschaft ............................................. 331
JEAN-SÉBASTIEN REY 4QInstruction and its Relevance for Understanding Early Christian Writings .. 359
REINHARD ACHENBACH 11QMelki-Zedek und der Repräsentant Zions in Jesaja 61 .................................. 383
JAMES H. CHARLESWORTH !!"# $" %& !"#$%"& #'( !' *) "! – An Unknown Dead Sea Scroll and Speculations Focused on the Vorlage of Deuteronomy 27:4 .................................................. 393
IV. Jesus, Paulus und Qumran HEINZ-WOLFGANG KUHN Überlegungen zu Jesus im Licht der Qumrangemeinde und Bemerkungen zum Projekt „Qumran und Paulus“........................................................................... 417
Autorenverzeichnis ........................................................................................................... 473 Stellenregister .................................................................................................................... 475 Autorenregister .................................................................................................................. 497 Personen- und Sachregister ............................................................................................. 501
Jesus, Paulus und die Texte vom Toten Meer Forschungsgeschichtliche und hermeneutische Perspektiven JÖRG FREY Zum ersten Mal wurde in der Reihe der Schwerter Qumran-Tagungen ein rein neutestamentliches Thema aufgenommen. Nach „Qumran kontrovers“, „Qumran – Bibelwissenschaften – Antike Judaistik“, „Apokalyptik und Qumran“, „Qumran und der biblische Kanon“ und „Qumran und die Ar1 chäologie“ stand die 6. Tagung im November 2009 unter dem Titel „Jesus, Paulus und Qumran“. Die Wahl des Themas korrespondiert zum einen dem Lebenswerk des Münchner Neutestamentlers und Qumranforschers Heinz-Wolfgang Kuhn, zu dessen Ehren die Schwerter Tagung stattfand und dessen qumranistische Arbeiten von der Dissertation zur ‚doppelten‘ Eschatologie in Qum2 ran und beim historischen Jesus bis zu den zahlreichen Aufsätzen zu 3 qumranischen Parallelen bei Paulus aus dem Münchener Qumran-Projekt 1
S. die Publikationen: J. Frey/H. Stegemann (Hg., mit M. Becker und A. Maurer), Qumran kontrovers. Beiträge zu den Textfunden vom Toten Meer (Einblicke 6), Paderborn 2003; U. Dahmen/H. Stegemann/G. Stemberger (Hg.), Qumran – Bibelwissenschaften – Antike Judaistik (Einblicke 9), Paderborn 2006; J. Frey/M. Becker (Hg.), Apokalyptik und Qumran (Einblicke 10), Paderborn 2007; M. Becker/J. Frey (Hg.), Qumran und der biblische Kanon (BThSt 92), Neukirchen-Vluyn 2009; J. Frey/C. Claußen/ N. Kessler (Hg.), Qumran und die Archäologie (WUNT 278), Tübingen 2011. 2 H.-W. K UHN, Enderwartung und gegenwärtiges Heil. Untersuchungen zu den Gemeindeliedern von Qumran mit einem Anhang über Eschatologie und Gegenwart in der Verkündigung Jesu (StUNT 4), Göttingen 1966. Vgl. neuerdings DERS., Jesus im Licht der Qumrangemeinde, in: T. Holmén/S.E. Porter (Hg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus, Bd. 2: The Study of Jesus, Leiden/Boston 2011, 1245–1285. 3 H.-W. K UHN, The Impact of the Qumran Scrolls on the Understanding of Paul, in: D. Dimant/U. Rappaport (Hg.), The Dead Sea Scrolls. Forty Years of Research (STDJ 10), Leiden u.a. 1992, 327–339; DERS., Die Bedeutung der Qumrantexte für das Verständnis des Ersten Thessalonicherbriefes. Vorstellung des Münchener Projekts: Qumran und das Neue Testament – The Impact of the Qumran Scrolls on the Understanding of Paul’s First Letter to the Thessalonians. Presentation of the Munich Project on Qumran and the New Testament, in: J. Trebolle Barrera/L. Vegas Montaner (Hg.), The Madrid
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eben jene beiden Brennpunkte Jesus und Paulus aufweisen.4 Mit der Gegenüberstellung der Qumran-Texte einerseits und neutestamentlicher Gestalten und Texte andererseits greift der Titel der Tagung und der leicht modifizierte Titel des nun vorliegenden Bandes eine Themenstellung auf, welche die Qumranforschung in ihrer Frühzeit, bis in die 1970er-Jahre, 5 nahezu dominiert hat. In der späteren Phase der Forschung, ab etwa Mitte der 1980er-Jahre, die von der Herausgabe der vielen parabiblischen, kalendarischen, halachischen und weisheitlichen Texte und Fragmente v.a. aus Höhle 4 bestimmt war, wurde es dann eher ruhig um ‚neutestamentliche‘ Themen, weil sich der Forschung nun andere Fragestellungen und Bezüge Qumran Congress. Proceedings of the International Congress on the Dead Sea Scrolls, Madrid 18–21 March, 1991 (STDJ 11/1), Leiden u.a. 1992, 339–353; DERS., Die drei wichtigsten Qumranparallelen zum Galaterbrief. Unbekannte Wege der Tradition, in: R. Bartelmus u.a. (Hg.), Konsequente Traditionsgeschichte (FS K. Baltzer) (OBO 126), Fribourg (CH)/Göttingen 1993, 227–254; DERS., Die Bedeutung der Qumrantexte für das Verständnis des Galaterbriefes. Aus dem Münchener Projekt: Qumran und das Neue Testament, in: G.J. Brooke/F. García Martínez (Hg.), New Qumran Texts and Studies. Proceedings of the First Meeting of the International Organization for Qumran Studies, Paris 1992 (STDJ 15), Leiden u.a. 1994, 169–221; DERS., Röm 1,3f und der davidische Messias als Gottessohn in den Qumrantexten, in: C. Burchard/G. Theissen (Hg.), LeseZeichen für Annelies Findeiß (DBAT.B 3), Heidelberg 1984, 103–112; DERS., A Legal Issue in 1 Corinthians 5 and in Qumran, in: M. Bernstein u.a. (Hg.), Legal Texts and Legal Issues. Proceedings of the Second Meeting of the International Organization for Qumran Studies, Cambridge 1995 (FS J.M. Baumgarten) (STDJ 23), Leiden u.a. 1997, 489–499; DERS., Konkordanzen und Indizes zu den nicht-biblischen Qumrantexten auf Papier und Microfiche – aus dem Münchener Projekt: Qumran und das Neue Testament (2., völlig neu bearb. Fassung), in: B. Kollmann u.a. (Hg.), Antikes Judentum und Frühes Christentum (FS H. Stegemann) (BZNW 97), Berlin/New York 1999, 197–209; DERS., Qumran und Paulus. Unter traditionsgeschichtlichem Aspekt ausgewählte Parallelen, in: U. Mell/U.B. Müller (Hg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (FS J. Becker) (BZNW 100), Berlin/New York 1999, 227–246; DERS., The Wisdom Passage in 1 Corinthians 2:6–16 between Qumran and Proto-Gnosticism, in: D.K. Falk u.a. (Hg.), Sapiential, Liturgical and Poetical Texts from Qumran. Proceedings of the Third Meeting of the International Organization for Qumran Studies, Oslo 1998 (STDJ 35), Leiden u.a. 2000, 240–253; DERS., The Qumran Meal and the Lord’s Supper in Paul in the Context of the Graeco-Roman World, in: A. Christophersen/C. Claußen/J. Frey/B. Longenecker (Hg.), Paul, Luke and the Graeco-Roman World (FS A. Wedderburn) (JSNT.S 217), London 2002, 221–248; DERS., „Gemeinde Gottes“ in den Qumrantexten und bei Paulus unter Berücksichtigung des Toraverständnisses, in: D. Sänger/M. Konradt (Hg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament (FS C. Burchard) (NTOA/StUNT 57), Göttingen/Fribourg (CH) 2006, 153–169. 4 S. den Beitrag von Heinz-Wolfgang Kuhn, der den vorliegenden Band abschließt. 5 Zu den Phasen der Qumran-Forschung s. J. FREY, The Impact of the Dead Sea Scrolls on New Testament Interpretation: Proposals, Problems, and Further Perspectives, in: J.H. Charlesworth (Hg.), The Bible and the Dead Sea Scrolls. The Princeton Symposium on the Dead Sea Scrolls, Waco 2006, Bd. III, 407–461: 408–419.
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aufdrängten. Doch nun, nachdem das gesamte Textmaterial editorisch aufbereitet vorliegt, erscheint auch eine neue Diskussion der Bezüge zwischen den Textfunden und frühchristlichen Texten angebracht. Viele der Paradigmen der frühen Forschung sind mittlerweile in Frage gestellt oder erscheinen auf der erweiterten Materialbasis in einem völlig neuen Kontext, so dass auch die Relevanz der Qumran-Texte für das Verständnis neutestamentlicher Texte und Themen neu zu bedenken und z.T. ganz anders einzuschätzen ist. Die Diskussion um Qumran und das Neue Testament wird zwar kaum jemals mehr eine so zentrale Bedeutung für die Qumranforschung gewinnen, aber sie wird doch weiterhin eines ihrer Segmente bleiben und zugleich einen wichtigen Sektor der Arbeit an der religionsgeschichtlichen Kontextualisierung der frühchristlichen Texte 6 bilden. Eine Reihe von internationalen Tagungen und Sammelbänden waren in den vergangenen Jahren dem Verhältnis Qumran/Neues Testament 7 gewidmet, und der vorliegende Band fügt sich in diese Reihe ein. Im Folgenden möchte ich einführend einige forschungsgeschichtliche und methodologische Aspekte der Thematik in Erinnerung rufen, bevor dann die hermeneutische Frage zu reflektieren ist, was wir eigentlich tun, wenn wir Figuren, Phänomene und Texte aus dem Neuen Testament und aus der Qumran-Bibliothek miteinander in Beziehung setzen, und welche Funktion und Bedeutung dies für wissenschaftliche und öffentliche Diskurse hat. Ein knapper Ausblick auf den Band beschließt diese Einführung.
I. Qumran und das Neue Testament – die Fragestellungen der älteren und der neueren Forschung 1.1 Die ‚christliche‘ Agenda der älteren Forschung Welche Bedeutung haben die Textfunde von Qumran für das Verständnis des ‚historischen‘ Jesus und der Botschaft des Paulus und anderer frühchristlicher Autoren? Diese genuin ‚christliche‘, da aus dem Interesse am 6
S. zum Beitrag der Qumranforschung für die neutestamentliche Wissenschaft die Perspektiven, die ich in meiner Zürcher Antrittsvorlesung enfaltet habe: J. FREY, Neutestamentliche Wissenschaft und antikes Judentum. Probleme – Wahrnehmungen – Perspektiven, ZThK 109 (2012) 445–471. 7 So das Jerusalemer Orion-Symposium von 2004, publiziert in R. C LEMENTS/D.R. SCHWARTZ (Hg.), Text, Thought, and Practice in Qumran and Early Christianity (STDJ 84), Leiden/Boston 2009, weiter – basierend auf einer Leuvener Fachtagung von 2008 – F. G ARCÍA M ARTÍNEZ (Hg.), Echoes from the Caves. Qumran and the New Testament (STDJ 85), Leiden u.a. 2009; sowie – aus einer in Metz veranstalteten Tagung von 2011 – J.-S. Rey (Hg.) The Dead Sea Scrolls and Pauline Literature (STDJ 102), Leiden/Boston 2014.
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Verständnis des Urchristentums erwachsene Fragestellung hat die Erforschung der Qumran-Texte seit deren Auffindung im Jahr 1947 in hohem Maße begleitet. Aus der Sicht der heutigen Qumranforschung, die sich viel stärker mit der Einordnung der Texte in den Horizont der jüdischen Überlieferung beschäftigt, mag dies verwundern, doch war die frühe, primär ‚christlich‘ motivierte Auswertung der Textfunde dadurch bedingt, dass sich in den 1950er- und 1960er-Jahren überwiegend Bibelwissenschaftler, darunter 8 viele Neutestamentler mit den Funden beschäftigten. Im deutschsprachi9 gen Raum ist hier zunächst der Orientalist Karl Georg Kuhn zu nennen, der die Qumran-Forschungsstelle in Heidelberg gründete, durch die zahlreiche junge Wissenschaftler in die Qumranistik eingeführt wurden, weiter Claus-Hunno Hunzinger, der einzige Deutsche in dem Team, das in den 1950er-Jahren mit der Herausgabe der Texte betraut wurde, Otto Betz in Tübingen, Oscar Cullmann in Basel und Herbert Braun in Mainz. Aus der zweiten Generation der Qumran-Forscher kamen dann Hartmut Stegemann, der spätere Leiter der dann nach Marburg und Göttingen ‚gewanderten‘ Qumran-Forschungsstelle, sowie Jürgen Becker, Gert Jeremias, HeinzWolfgang Kuhn und Hermann Lichtenberger hinzu, die alle neutestament10 liche Professuren innehatten. Der ‚christliche‘ Bezugsrahmen war nicht zuletzt auch durch Fragestellungen einer breiteren Öffentlichkeit in Europa und Nordamerika gegeben, die sich spätestens ab Mitte der 1950er Jahre für die Qumrantexte interes11 sierte. Diese Popularisierung ging freilich allzu oft mit problematischen 8
S. zur Geschichte der Qumran-Forschung s. jetzt D. D IMANT (Hg.), The Dead Sea Scrolls in Scholarly Perspective. A History of Research (STDJ 99), Leiden/Boston 2012; zur deutschsprachigen Forschung dort den Beitrag von J. FREY, Qumran Research and Biblical Scholarship in Germany, ebd., 529–565. 9 Zu diesem s. FREY, Qumran Research, 541–546; G. JEREMIAS, Karl Georg Kuhn (1906–1976), in: C. Breytenbach/R. Hoppe (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft nach 1945. Hauptvertreter der deutschsprachigen Exegese in der Darstellung ihrer Schüler, Neukirchen-Vluyn 2008, 297–312, und G. T HEISSEN, Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945: Karl Georg Kuhn und Günther Bornkamm (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 47), Heidelberg 2009, 15–149. 10 S. dazu FREY, Qumran Research, 531f. Auch für den angelsächsischen Kontext ist festzustellen, dass es vorwiegend Neutestamentler waren, die sich in der frühen Phase nach den Funden mit den Qumran-Texten vertraut gemacht und um ihre Auswertung bemüht haben, so z.B. in Großbritannien William D. Davies und Matthew Black und in Nordamerika Raymond E. Brown, Joseph A. Fitzmyer und später James H. Charlesworth. 11 Einen wesentlichen Beitrag zur Stimulierung des öffentlichen Interesses in Nordamerika leistete die erst im New Yorker, dann in Buchform publizierte Darstellung des Journalisten Edmund Wilson, der die frühen Thesen des französischen Orientalisten
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Thesen einher, wenn z.B. der ‚Lehrer der Gerechtigkeit‘ zum Prototypen 12 des Messias Jesus stilisiert wurde oder die Bekehrung des Paulus spekulativ in dem aufgrund der ‚Damauskusschrift‘ (CD) voreilig mit dem 13 paulinischen ‚Damaskus‘ identifizierten Qumran angesetzt wurde. Die Auswertung der Qumrantexte erfolgte in diesem Horizont nicht selten mit der impliziten Frage, ob diese Textfunde nicht Anlass zu einer kompletten Revision unseres Bildes der Geschichte Jesu und des Urchristentums gäben, oder gar mit der Vermutung, dass diese ‚in Wahrheit‘ ganz anders verlaufen wäre, als sie uns durch die biblische und kirchliche Tradition und auch durch die kritische Bibelwissenschaft vermittelt wurde. Solche Vermutungen konnten sich dann leicht mit dem Verdacht verbinden, dass irgendwelche kirchlichen Dunkelmänner, nicht zuletzt im Vatikan oder ihm verbundenen Kreisen, bestrebt wären, die Erkenntnisse aus den Schriftrollen oder gar diese selbst der Öffentlichkeit vorzuenthalten, um so 14 ihre eigenen ‚Wahrheiten‘ zu ‚retten‘. Qumran-Bücher konnten so als ‚Enthüllungsliteratur‘ auftreten und mit ‚aufklärerischem‘ Pathos zu Bestsellern avancieren, insbesondere in der Phase um 1990, als nach der langen Verzögerung der Publikation die noch ‚verborgenen‘ Fragmente und Texte André Dupont-Sommer aufnahm, dass der qumranische Lehrer der Gerechtigkeit quasi ein Messias vor Jesus und die Qumrangemeinde ein ‚Prototyp‘ der Urgemeinde gewesen sei, womit Wilson die ‚Originalität‘ und damit den Offenbarungsanspruch des Christentums in Frage gestellt sah. Vgl. E. W ILSON, „A Reporter at Large,“ The New Yorker 31/13 (14. 5. 1955), 45–121, in Buchform dann E. W ILSON, The Scrolls from the Dead Sea, New York, 1955; in erweiterter Fassung nachgedruckt in: DERS., The Dead Sea Scrolls 1947–1969, London 1969. S. zur Sache J. FREY, Die Bedeutung der QumranFunde für das Verständnis des Neuen Testaments, in: M. Fieger/K. Schmid/P. Schwagmaier (Hg.), Qumran – die Schriftrollen vom Toten Meer (NTOA 47), Freiburg (CH)/ Göttingen 2001, 129–208 (bes. 133ff.). 12 A. D UPONT-SOMMER, Aperçus préliminaires sur les manuscrits de la Mer Morte, L’Orient ancien illustré 4, Paris 1950, s. insbesondere den Vergleich zwischen dem ‚neuen Bund‘ von Qumran und dem Urchristentum auf S. 119–122. 13 Ein Beispiel ist P. L APIDE, Paulus zwischen Damaskus und Qumran. Fehldeutungen und Übersetzungsfehler, Gütersloh 1993. 14 So (in der deutschen Ausgabe verstärkt) in dem als ‚Enthüllungsbuch‘ präsentierten Bestseller von M. B AIGENT/R. L EIGH, Verschlußsache Jesus. Die Qumranrollen und die Wahrheit über das frühe Christentum, München 1991 (= engl.: The Dead Sea Srolls Deception, New York 1991), bzw. in wissenschaftlichem Gewand in R.H. E ISENMAN/M.O. W ISE, Jesus und die Urchristen, München 1993, einem Buch, das in problematischer Weise die Qumran-Bewegung und das Urchristentum als Bestandteile einer einzigen antirömischen Bewegung deutete. Neben Robert Eisenman, dessen Thesen auch das Buch von Baigent/Leigh bestimmten, hatte zuvor bereits der britische ‚Außenseiter‘ im ursprünglichen Herausgeberteam, John Allegro, die Idee verbreitet, dass die Einsichten aus den Qumranrollen für das Christentum gefährlich sein könnten. S. zu ihm J.A. B ROWN, John Marco Allegro. The Maverick of the Scrolls, Grand Rapids 2005.
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einer breiteren Öffentlichkeit (zunächst nur in einer Faksimile-Ausgabe ) zugänglich gemacht wurden. Aber auch abgesehen von den fragwürdigen Thesen der halbseriösen und romanhaften Qumran-Literatur war die Diskussion um die Textfunde vom Toten Meer lange in auffälligem Maße von ‚christlichen‘ Fragestel16 lungen und Themen bestimmt: Der Forschungsbericht von Herbert Braun dokumentiert die Schwerpunkte dieser Diskussion bis 1960:17 Die Gestalt Johannes des Täufers, seine Taufe und die christliche Taufe wurden vor dem Hintergrund der in Qumran belegten Tauchbäder und Reinigungsriten interpretiert, ebenso das urchristliche Herrenmahl mit den qumranischen Gemeindemählern. Man verglich Jesu Gestalt und Geschichte mit der vermeintlich zu rekonstruierenden Geschichte des qumranischen Lehrers und die Ordnung der Qumran-Gemeinschaft mit Aspekten der frührchristlichen Gemeinde wie z. B. der Gütergemeinschaft der Urgemeinde nach der Apostelgeschichte oder den Ansätzen einer Gemeindeordnung bei Matthäus. Themen wie Dualismus und Prädestination, Messianismus und Eschatologie, Geistbegriff und Schriftauslegung bestimmten die Diskussion. Dabei wurden der jüdische Charakter der Texte und ihre halachischen Details in dieser Diskussion oft noch nicht hinreichend reflektiert, und der Ort der Texte innerhalb der jüdischen Tradition stand weniger im Zentrum, vielmehr wurden diese primär als Hintergrund oder ‚Folie‘ zum Verständnis der neutestamentlichen Texte und damit im Horizont der aus der christlichen Bibelwissenschaft definierten Fragestellungen herangezogen. Diese Gestalt des Interesses an den Qumran-Texten lässt sich zumindest teilweise auch aus dem Stand der exegetischen Diskussion jener Epoche erklären. Die neutestamentliche Forschung der Nachkriegszeit war in Deutschland – weniger in der angelsächsischen Welt – von der Hermeneutik Rudolf Bultmanns und ihrer zentralen religionsgeschichtlichen These eines gnostischen Erlösermythos bestimmt, der im Hintergrund des paulinischen und des johanneischen Denkens stehen und diesem die soteriologischen Begriffe ‚liefern‘ sollte. Für Forscher, die gegenüber dieser Rekonstruktion und gegenüber der Hermeneutik Bultmanns und seiner Schüler kritisch eingestellt waren, boten sich nun in den Qumran-Funden faszinierende neue Indizien für die Gegenthese, dass die urchristliche Bot15
R.H. E ISENMAN/J.M. R OBINSON, A Facsimile Edition of the Dead Sea Scrolls, 2 Bde., Washington 1991. 16 S. dazu ausführlicher J. FREY, Qumran Research, 532– 538; für den nordamerikanischen Kontext J.J. C OLLINS, The Scrolls and Christianity in American Scholarship, in: D. Dimant (Hg.), The Dead Sea Scrolls in Scholarly Perspective (s. Anm. 8), 197– 216. 17 H. B RAUN, Qumran und das Neue Testament, Tübingen 1966; s. in Bd. 2 behandelte Diskussion zu einzelnen Themen.
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schaft letztlich stärker in der jüdischen Tradition verwurzelt ist, und ihre Vorstellungen von Messianismus und Eschatologie, Offenbarung und Heil eher aus der jüdischen Frömmigkeit und Sprachtradition zu verstehen sind als aus pagan-hellenistischen oder gar gnostischen Texten. Vor allem der in den Texten aus Höhle 1, in (Teilen von) 1QM und 1QS, belegte Dualismus bot ein alternatives Erklärungsmodell zu dem von Bultmann vorausgesetzten gnostischen Dualismus im Hintergrund der neutestamentlichen 18 Texte. 1.2 Ansatzpunkte der älteren Forschung a) Besonders im Blick auf das Johannesevangelium wurde sehr schnell die Auffassung geäußert, dass der in den Qumran-Texten, v.a. in der Zweigeisterlehre 1QS III 13–IV 26, vorliegende Dualismus dem vierten Evangelium historisch wesentlich näher liege und daher als Parallele eher zu beachten sei als der von Rudolf Bultmann aus unterschiedlichen, z. T. sehr späten manichäischen und mandäischen Quellen rekonstruierte und als vor19 christlich postulierte gnostische Dualismus. Schon 1950 äußerte Karl Georg Kuhn die Vermutung, dass der Mutterboden der johanneischen Sprache in Qumran und d.h. im Judentum zu finden sei – allerdings nicht im Judentum des rabbinischen Typs, sondern in einem heterodoxen Juden20 tum. Andere Autoren wie z.B. William F. Albright wollten aus der Einsicht in den stärker jüdischen Charakter des Johannesevangeliums auch gleich eine größere historische Vertrauenswürdigkeit der johanneischen 21 Überlieferung folgern. Im Kontext der Forschungs-Dichotomie ‚jüdisch‘ 18
S. dazu ausführlicher mit Blick auf die Johannes-Diskussion J. FREY, Licht aus den Höhlen? Der johanneische ‚Dualismus‘ und das Schrifttum von Qumran, in: ders., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den johanneischen Schriften (hg. v. J. Schlegel) (WUNT 317), Tübingen 2013, 147–237; DERS., Recent Perspectives on Johannine Dualism and its Background, in: R. Clements/D.R. Schwartz (Hg.), Text, Thought, and Practice in Qumran and Early Christianity (STDJ 84), Leiden/Boston 2008, 127–157. 19 S. grundlegend R. B ULTMANN, Die Bedeutung der neuerschlossenen mandäischen und manichäischen Quellen für das Verständnis des Johannesevangelium (1925), in: ders., Exegetica (hg. v. E. Dinkler), Tübingen 1967, 55–104. 20 K.G. K UHN, Die in Palästina gefundenen hebräischen Texte und das Neue Testament, ZThK 47 (1950) 192–211: 209 „Wir bekommen in diesen neuen Texten den Mutterboden des Johannesevangeliums zu fassen, und dieser Mutterboden ist palästinisch-jüdisch, ist aber nicht das pharisäisch-rabbinische Judentum, sondern ist eine palästinisch-jüdische Sektenfrömmigkeit gnostischer Struktur.“ Vgl. weiter DERS., Johannesevangelium und Qumrantexte, in: Neotestamentica et Patristica (FS O. Cullmann), Leiden 1962, 111–122. 21 W.F. A LBRIGHT, Recent Discoveries in Palestine and the Gospel of St. John, in: The Background of the New Testament (FS C.H. Dodd), Cambridge 1956, 153–171 (170f.). Deutlich vorsichtiger urteilte R.E. B ROWN, The Qumran-Scrolls and the Johan-
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vs. ‚hellenistisch‘/‚gnostisch‘ wurden die Qumran-Funde vorwiegend zum 22 Argument ‚konservativer‘ Exegeten. Und obwohl manche voreilig gefällten Urteile über den Hintergrund des Evangelisten und seiner Gemeinde oder den Charakter der johanneischen Überlieferung inzwischen revidiert 23 werden mussten, ist der bleibende Ertrag der Qumran-Funde für die Johannesforschung sicher in der stärkeren Rückwendung zur Wahrnehmung (verschiedener, palästinischer und hellenistischer) jüdischer Kontexte zu sehen. b) Auch in Bezug auf Paulus standen in der frühesten Qumrandiskussi24 on dualistische Aussagen im Mittelpunkt des Interesses. Wie die johanneische, war ja auch die paulinische Erlösungsvorstellung seit dem 19. Jh. und in der religionsgeschichtlichen Schule aus hellenistischen oder z.T. gnostischen Kontexten erklärt worden, während das Verhältnis zum palästinischen (pharisäischen oder apokalyptischen) Judentum eher im Sinne einer großen Distanz gesehen wurde. Auch hier haben die Funde terminologischer Parallelen in hebräischer Sprache letztlich einen entscheidenden Impuls zur neuen Gewichtung der palästinisch-jüdischen Aspekte im Den25 ken des Paulus erbracht. Doch erfolgte der Impuls zur religionsgeschichtlichen Neuorientierung in Teilen der Forschung auch hier – wie in der Johannesforschung – unter dem Eindruck der dualistischen Texte aus Qum26 ran. Insbesondere die Antithese von ‚Fleisch‘ und ‚Geist‘, die in der For-
nine Gospel and Epistles, CBQ 17 (1955) 403–419.559–574 (dt.: Die Schriftrollen von Qumran und das Johannesevangelium und die Johannesbriefe, in: K.H. Rengstorf [Hg.], Johannes und sein Evangelium (WdF 82), Darmstadt 1973, 486–528). 22 S. zur Bedeutung der Qumran-Texte in der religionsgeschichtlichen Diskussion um das Johannesevangelium auch J. FREY, Auf der Suche nach dem Kontext des vierten Evangeliums. Zur religions- und traditionsgeschichtlichen Einordnung, in: ders., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten (hg. v. J. Schlegel) (WUNT 307), Tübingen 2013, 45–87: 69f. 23 S. dazu J. FREY, Licht aus den Höhlen? (Anm. 18); weiter DERS., Recent Perspectives on Johannine Dualism and its Background (Anm. 18). 24 S. dazu den Überblick über die Diskussion in H. Braun, Qumran und das Neue Testament, Bd. II, 165–180. 25 S. dazu generell die in o. Anm. 3 genannten Aufsätze von Heinz-Wolfgang Kuhn, aber auch zusammenfassend J.A. FITZMYER, Paul and the Dead Sea Scrolls, in: P.W. Flint/J.S. VanderKam (Hg.), The Dead Sea Scrolls after Fifty Years, 2 Bde., Leiden u.a. 1999, Bd. 2, 599– 621: 619. 26 So zunächst bei K.G. K UHN, !"#$%&'(! – )'%$*+% – &,$- im Neuen Testament und die damit zusammenhängenden Vorstellungen, ZThK 49 (1952) 200–222: 209ff.; W.D. D AVIES, Paul and the Dead Sea Scrolls: Flesh and Spirit, in: K. Stendahl (Hg.), The Scrolls and the New Testament, New York 1957, 157–182.276–282. Den Widerstand gewisser Teile der Paulusforschung gegen die Indizien aus Qumran spiegeln nicht zuletzt die Urteile bei B RAUN, Qumran und das Neue Testament, Bd. II, 175, wo noch versucht
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schung stets auf pagan-hellenistisches oder gnostisches Denken zurück27 geführt worden war, und die negative Rede vom ‚Fleisch‘ als einer sündigen oder widergöttlichen Größe ließen sich nun unter Verweis auf paläs28 tinisch-jüdische Parallelen erklären. Daneben beeindruckte viele Interpreten das in 1QS XI 9–14 und einigen Abschnitten der Hodayot belegte tiefe Sündenbewusstsein, bei gleichzeitigem Lob der erfolgten Rettung durch Gottes Erbarmen, so dass manche Exegeten hier nicht nur eine frappierende Analogie zur paulinischen Rechtfertigungslehre oder gar zu der auch für Paulus angenommenen Struktur des ‚simul iustus et peccator‘ 29 sehen, sondern mit konkretem qumranischem Einfluss auf das paulini30 sche Denken rechnen wollten. Auch wenn für den Diasporajuden Paulus wird, den qumranischen Dualismus als gnostisch zu werten und so zur Aufrechterhaltung der religionsgeschichtlichen Rekonstruktionen der Bultmann-Schule beizutragen. 27 S. den Überblick in J. FREY, Die paulinische Antithese von ‚Fleisch‘ und ‚Geist‘ und die palästinisch-jüdische Weisheitstradition, ZNW 90 (1999) 45–77: 46–48; ausführlicher O. K USS, Der Römerbrief, Lfg. 2, Regensburg 1959, 521–540; A. SAND, Der Begriff „Fleisch“ in den paulinischen Hauptbriefen (BU 2), Regensburg 1967, 1–121. 28 Das Problem, dass die Parallelen in den Hodayot oder auch in 1QS XI einer internen Schrift der Qumran-Gemeinschaft entstammen, die Paulus selbst kaum gelesen haben kann, wurde erst durch die Veröffentlichung der neuen Weisheitstexte lösbar, in denen die negative Konnotation von !"# nun vor-qumranisch belegt ist, s. dazu J. FREY, Die paulinische Antithese; DERS., The Notion of ‚Flesh‘ in 4QInstruction and the Background of Pauline Usage, in: D.K. Falk/F. García Martínez/E.M. Schuller (Hg.), Sapiential, Liturgical and Poetical Texts from Qumran (STDJ 35), Leiden 2000, 197–226; DERS., Flesh and Spirit in the Palestinian Jewish Sapiential Tradition and in the Qumran Texts. An Inquiry into the Background of Pauline Usage, in: Ch. Hempel/A. Lange/H. Lichtenberger (Hg.), The Wisdom Texts from Qumran and the Development of Sapiential Thought. Studies in Wisdom at Qumran and its Relationship to Sapiential Thought in the Ancient Near East, the Hebrew Bible, Ancient Judaism and the New Testament (BETL 159), Leuven 2002, 367–404. 29 Ob bei Paulus ein solches ‚simul‘ vorauszusetzen ist, entscheidet sich an der Interpretation von Röm 7 (und ist m.E. nach Röm 7,5f. eher unzutreffend, zumal wenn Röm 7,25b möglicherweise als Glosse zu werten ist). Dass die o.g. Formel letztlich auch der Theologie Martin Luthers nicht entspricht und eine Vergröberung derselben darstellt, geht über den hier zu skizzierenden Diskurs hinaus und kann nur angemerkt werden (s. dazu O.H. PESCH, Simul iustus et peccator: Sinn und Stellenwert einer Formel Martin Luthers, in: Th. Schneider/G. Wenz (Hg.), Gerecht und Sünder zugleich. Ökumenische Klärungen, Göttingen/Freiburg i.Br. 2001, 146–167. 30 So etwa S. SCHULZ, Zur Rechtfertigung aus Gnaden in Qumran und bei Paulus, ZThK 56 (1959) 155–185: 184 „kein Zweifel ..., daß Paulus die theologischen Anschauungen dieser Sekte gekannt und aufgegriffen hat.“ J. B ECKER, Das Heil Gottes. Heilsund Sündenbegriffe in den Qumrantexten und im Neuen Testamen (StUNT 3), Göttingen 1964, 249f., vermutete einen indirekten Einfluss von Qumran auf die paulinische Sündenterminologie. Mit Recht noch ist H.-W. K UHN, Qumran und Paulus. Unter traditionsgeschichtlichem Aspekt ausgewählte Parallelen, in: U. Mell/U.B. Müller (Hg.), Das Ur-
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wesentliche Einflüsse aus dem Denken der jüdischen Diaspora und – so vermittelt – der griechisch-römischen Welt nicht in Abrede zu stellen sind, führte die Wahrnehmung der qumranischen Parallelen auch in der Paulusforschung letztlich zu einer stärkeren Gewichtung der jüdischen Elemente in der paulinischen Schriftauslegung, Eschatologie, Anthropologie und Soteriologie. c) Im Blick auf Jesus und die Jesustradition stellte sich die Forschungslage etwas anders dar als im Blick auf Paulus. Dass der irdische Jesus palästinischer Jude war und seine Verkündigung weder von paganhellenistischen noch von späteren christlichen Kategorien her zu verstehen 31 ist, konnte in der kritischen Forschung nach 1945 als Konsens gelten. Gleichwohl hatte namentlich die protestantische Forschung immer wieder die Tendenz, Jesus vom klassischen Judentum abzurücken, nicht zuletzt im Interesse seiner ‚Einzigartigkeit‘. Religionsgeschichtlich wurden vor allem seine kritische Stellung zur Tora und der Universalismus seiner Botschaft der eher nomistischen und partikularistischen Haltung des pharisäischrabbinischen Judentums oder der palästinisch-jüdischen Apokalyptik entgegengesetzt, und man erklärte diese Züge dann z.T. aus nichtjüdischen, griechischen bzw. (vermittelt über die jüdische Apokalyptik auch) iranischen Einflüssen. An diese Linie konnte dann Karl Georg Kuhn anknüpfen, wenn er in seinem frühen Aufsatz zu den Schriftrollen die Vermutung äußerte, dass das dort belegte ‚heterodoxe Judentum‘ das Einfallstor gewesen sei, durch das ein nichtjüdisches, insbesondere zoroastrisches Denken auch in das Urchristentum hätte eindringen können.32 Methodologisch besonders komplex ist die Frage nach dem Verhältnis der Jesusüberlieferung und der Qumrantexte schon aufgrund der Tatsache, dass das Bild und die Verkündigung des irdischen Jesus erst durch eine kritische Analyse der synoptischen Überlieferung zu erheben ist und dass christentum in seiner literarischen Geschichte (FS Jürgen Becker) (BZNW 100); Berlin/New York 1999, 227–246, noch vorsichtiger. S. ebd., 244: „Darüber, wie Qumrantraditionen vor 70 n. Chr. Paulus erreicht haben können, läßt sich nur spekulieren.“ 31 S. den programmatischen Satz Julius Wellhausens „Jesus war Jude, nicht Christ“ (J. W ELLHAUSEN, Einleitung, in die synoptischen Evangelien, Berlin 1905, 113), und die Einordnung Jesu als einen jüdischen Propheten in R. B ULTMANN, Jesus, Tübingen 1926, 43, und DERS., Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl. (hg. v. O. Merk), Tübingen 1984, 3f. – Die in der Forschung der NS-Zeit von einzelnen Forschern gestreute Vermutung, Jesus könnte als Galiläer auch ethnisch Nichtjude gewesen sein, kann hier übergangen werden. Eine Zusammenstellung dieser ideologischen Verirrungen bietet W. FENSKE, Wie Jesus zum ‚Arier‘ wurde. Auswirkungen der Entjudaisierung Christi im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2005. 32 K.G. K UHN, Die in Palästina gefundenen hebräischen Texte und das Neue Testament, ZThK 47 (1950) 192–211: 211.
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sich die Bilder des ‚historischen Jesus‘ bei unterschiedlichen Autoren damit erheblich voneinander unterscheiden. Die literarisch-historische Rekonstruktion und die religionsgeschichtliche Kontextualisierung stehen somit in einem unausweichlichen Zirkel. In jedem Fall ist zu fragen, ob entsprechende Parallelen auf die Verkündigung des irdischen Jesus, auf die Überlieferung der frühen (aramäischen oder griechischsprachigen) Urgemeinde oder auf spätere Entwicklungsstufen bzw. die Redaktion der einzelnen Evangelisten zu beziehen sind. Die frühe Qumrandiskussion hat diese Schwierigkeiten methodisch noch nicht hinreichend reflektiert (zumal die Einordnung und Interpretation der neuen Texte noch in vielem unklar war. So kam es bald zu noch recht unkritischen und pauschalen Vergleichen zwischen Jesus und dem 33 qumranischen ‚Lehrer der Gerechtigkeit‘, bevor auch nur in Ansätzen geklärt war, ob und ggf. welche Texte überhaupt für den Lehrer in Anspruch genommen werden können und wie die dunklen Hinweise auf seine Person und sein Geschick historisch zu deuten sind. Spekulationen über den ‚Lehrer der Gerechtigkeit‘ als ‚messianische‘ Heilsgestalt, als eine ‚göttliche‘ Gestalt, über seinen gewaltsamen Tod oder eine Hoffnung der Gemeinde auf sein Wiederkommen am Ende mussten bald als Fehldeutun34 gen zurückgenommen werden. Diese Spekulationen verdeutlichen aber, wie stark die frühe Deutung der neuen Texte in Analogie zu urchristlichen Texten – und damit in einem hermeneutischen Zirkel – erfolgte, der vom Vergleich mit der Gestalt Jesu bestimmt war. Hinzu kommt der Sachverhalt, dass die in den Qumran-Texten belegte Gruppierung schon sehr früh mit der aus antiken Texten bekannten Gruppierung der Essener identifiziert worden war, die man als ‚Sekte‘ – und das hieß zugleich: als eine Bewegung am Rande des zeitgenössischen Judentums – interpretierte. Mit dieser Zuordnung, die wohl zuerst durch den 35 israelischen Archäologen Eleazar Lipa Sukenik vorgenommen wurde, knüpfte die Qumran-Forschung zunächst an eine lange Auslegungstradition an, in der diese ‚Essener‘ bzw. ‚Essäer‘ als Christen gedeutet und mit Jesus und seinen frühen Nachfolgern in Verbindung gebracht worden waren. Dieser häufig übersehene Sachverhalt ist noch etwas zu verdeutlichen. 33
S. grundlegend A. D UPONT-SOMMER, Aperçus préliminaires (s. Anm. 12) S. das Referat bei H. B RAUN, Qumran und das Neue Testament, Bd. II, 54–74; s. hingegen die sehr nüchterne und sachgerechte Darstellung bei G. JEREMIAS, Der Lehrer der Gerechtigkeit (StUNT 2), Göttingen 1963. 35 E.L. SUKENIK, Megillot genuzot mitokh genizah !ænimzah bemidbar jehudah, Jerusalem 1948, 16. Das Buch ist postum auch in englischer Sprache veröffentlicht worden: E.L. SUKENIK The Collection of the Hidden Scrolls in the Possession of the Hebrew University (hg. v. Nahman Avigad), Jerusalem 1954, dort 26. 34
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Exkurs: Die ältere Interpretation der ‚Essener‘ und ihr Einfluss auf die frühe Qumranforschung Die Mehrzahl der Kirchenväter hatte in den bei Philo von Alexandrien und Flavius Josephus beschriebenen Essenern/Essäern christliche Asketen und damit eine Frühform des Mönchtums gesehen. Zuerst hatte Euseb (h.e. II 16f.) auf Ähnlichkeiten zwischen den bei Philo (De vita contemplativa) beschriebenen ‚Therapeuten‘ und den Asketen seiner Zeit hingewiesen, Hieronymus war ihm darin gefolgt und hatte auch Philo unter die christlichen Schriftsteller gezählt (vir. ill. 11). Damit war ein Paradigma entstanden, das mit wenigen Ausnahmen (wie z. B. Photius, cod. 103f) durch das ganze Mittelalter hindurch Bestand hatte. Kritik an dieser Interpretation regte sich erst bei einigen reformatorischen Theologen, die die ‚Möncherei‘ als späten Rückfall ins jüdische Gesetz verwerfen wollten und dazu die Therapeuten und Essener Philos als jüdische Asketen deuteten, wohingegen die Apologeten der römischen Kirche unter Verweis auf das Zeugnis der Kirchenväter die Christlichkeit der Therapeuten und Essener (und damit auch des Möchtums) verteidigten und dabei z.T. auch Jesus und seine Mutter, Johannes den Täufer und die 36 Apostel zu Essenern machen. Am weitesten gingen dabei Vertreter des Karmeliterordens, denen zufolge dann nicht nur die Essener, sondern auch Maria, Jesus und die Apostel als Essener Mitglieder ihres vermeintlich von Elia und Elischa am Karmel ge37 gründeten Ordens gewesen sein sollen. In der Zeit der Aufklärung wandelte sich das Paradigma, und die Essener erschienen v.a. freimaurerischen Kreisen als ein besonders reiner ‚Orden‘, eine Art ‚Ur-Loge‘, in der man eine besonders reine, noch undogmatische Form des Christentums oder auch eine für ägyptische oder persische Weisheit, griechische Mysterien oder zoroastrisches Denken 38 besonders aufgeschlossene Gruppierung sehen wollte. Als erster ‚wissenschaftlicher‘ Autor hat dann Johann Georg Wachter in seiner Schrift De primordiis Christianae reliigionis libri duo, quorum prior agit de Essaeis Christianorum inchoatoribus, alter de Christianis, Essaeorum posteris (1713) Jesus als von den Essenern ‚therapeutisch‘ instru39 iert angesehen, und rationalistische Autoren konnten dann auf solche Einflüsse ver40 weisen, um Jesu Wunder oder auch seine ‚Auferstehung‘ natürlich zu ‚erklären‘. Trotz 36
S. den Abriss bei S. W AGNER, Die Essener in der wissenschaftlichen Diskussion vom Ausgang des 18. zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie (BZAW 79), Berlin 1960, 3f., der ebd., 8, feststellt: „Eine ausführliche Geschichte der Essenerforschung vor 1800 steht noch aus.“ Dieses Exempel polemischer Verwendung antiker Überlieferung hätte durchaus einmal eine ausführliche Behandlung verdient. Vgl. nur noch P.E. L UCIUS, Die Therapeuten und ihre Geschichte in der Stellung der Askese, Straßburg 1879, 204–210. 37 S. die Belege bei S. W AGNER, Essener, 5f. 38 S. den Überblick bei S. W AGNER, Essener, 21–38. 39 Das Werk ist nachgedruckt in: J.G. W ACHTER, De primordiis Christianae religionis. Elucidarius cabalisticus (hg. v. W. Schröder), Freidenker der europäischen Aufklärung 1,2, Stuttgart/Bad Cannstatt 1995. 40 Es wird leider oft übersehen, dass die Stoffe moderner Jesusromane (z.T. unter Einbeziehung von Qumran) weitestgehend aus den romanhaften Jesusdarstellungen der Aufklärungszeit übernommen sind, so v.a. aus C.F. B AHRDT Ausführung des Planes und Zweckes Jesu, 12 Bde., Berlin 1784–1793, und K.H. V ENTURINI, Natürliche Geschichte des großen Propheten von Nazareth, 4 Bde., Bethlehem [i. e. Kopenhagen], 1800–1802.
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zunehmend nüchterner und kritischer Quellenbetrachtung erschienen die Essener auch den Gelehrten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als eine Bewegung, die „dem Christentum sehr verwandt“ war und dann insbesondere judenchristliche ‚Sekten‘ wie die 41 Ebioniten oder christliche Täufersekten beeinflusst habe. In diesem Horizont ist dann das berühmte Zitat des französischen Gelehrten Ernest Renan zu verstehen, demzufolge das Christentum eine Spielart des Essenismus sei, die schließlich zum Erfolg gekommen 42 ist. Nicht zuletzt hat auch der jüdische Gelehrte Joseph Klausner in seinem Jesusbuch 43 alles Nicht-Pharisäische am Urchristentum auf Einflüsse des Essenismus zurückgeführt. Bei religionsgeschichtlich interessierten Gelehrten wurde der Essenismus selbst in seiner Differenz vom klassischen Judentum schließlich als Produkt unjüdischer Einflüsse, 44 aus dem Pythagoreismus, dem Parsismus oder gar dem Buddhismus, interpretiert. Zahlreiche Schriften aus dem Bereich der Pseudepigraphen wurden so mit dem Essenismus in 45 Verbindung gebracht. Interessanterweise geschah dies zunächst nicht mit der 1897 in der Kairoer Geniza gefundenen und als ‚zadoqidisches Werk‘ publizierten Damaskusschrift. Deren Verbindung mit den Essenern kam erst auf, als Eleazar Lipa Sukenik die Schriftrollenfunde vom Toten Meer (wohl aufgrund der geographischen Angaben der 46 berühmten Plinius-Notiz) mit den Essenern in Verbindung gebracht hatte.
Die Genese und das Recht der ‚Essenerhypothese‘ im Blick auf die Qumran-Funde sind hier nicht weiter zu erörtern. Deutlich ist aber, dass mit der frühen Aufnahme des Essener-Paradigmas eine lange Tradition der InterZu diesen s. das Referat bei A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 9. Aufl., Tübingen 1984 (= 21913), 79–87. 41 So das Referat zu K.A. Credner bei Wagner, Essener, 186. 42 «Le christianisme est un essénisme qui a largement réussi.» (E. R ENAN, Œuvres Complètes. Édition définitive [Hg. H. Psichari], Bd. 6, Paris 1953, 1301; auch in DERS., Histoire du Peuple d’Israel, Bd. 5, Paris 1893, 70.). Auch in seinem Leben Jesu (E. R ENAN , Vie de Jésus, Berlin: 1864, 73f.), führt Renan zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen Jesus und dem Essenismus auf (s. W AGNER, Essener, 178). 43 J. K LAUSNER, Jesus von Nazareth, Berlin 1930, 284: „Jakobus, Jesu leiblicher Bruder, lebte ganz wie ein Essäer: als Asket und Einsiedler. Das Christentum hat also in der Zeit kurz vor und gleich nach Jesus dem Essäismus vieles entnommen. Auch Jesus selbst steht den Essäern in manchem Sinne nahe. ... So können wir fast mit Sicherheit sagen, daß alles Nicht-Pharisäische im Urchristentum von den Essenern stammt.“ 44 S. den Überblick bei W AGNER, Essener, 133– 46.224–227. 45 Vorgeschlagen wurde dies u.a. für die Vitae Adae et Evae, , das 4. Buch der Sibyllinen, die Assumptio Mosis, die Esra-Apokalypse, die Apokalypse Abrahams, das Jubiläenbuch, das Henochbuch (oder Teile desselben), die Patriarchentestamente und das Testament Hiobs. Besonders zahlreiche essenische Zuschreibungen finden sich bei P. R IESSLER, Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel übersetzt und erläutert, Augsburg 1928, bei dem französischen Katholiken J.-M. L AGRANGE, Le Judaisme avant JésusChrist, Paris 1931, und in Aufsätzen des jüdischen Gelehrten Kaufmann Kohler. S. den Überblick bei W AGNER, Essener, 215–224. 46 E.L. SUKENIK, Megillot genuzot, 16. S. dazu L.H. SCHIFFMAN, From the Cairo Genizah to Qumran. The Influence of the Zadokite Fragments on the Study of the Qumran Scrolls, in: Ch. Hempel (Hg.), The Dead Sea Scrolls: Texts and Context (StTDJ 90), Leiden/Boston 2010, 451–466: 455f.
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pretation und Diskussion der antiken Essenerberichte rezipiert wurde, die der Interpretation der Qumran-Texte in ihren Anfängen wesentliche (und z.T. auch problematische) Aspekte mitgegeben hat: • die Tendenz, die Texte vom (klassischen, pharisäischen) Judentum eher weit abzurücken, und mit einer ‚Sekte‘ bzw. einem ‚heterodoxen‘ Judentum zu verbinden, • die Idee, dass diese Gemeinschaft in besonderem Maße (und mehr als andere jüdische Gruppen) synkretistisch aus iranischen oder griechisch/pythagoreischen Quellen beeinflusst gewesen sei, • die alte Tradition einer engen Verbindung von Essenismus und Urchristentum, die nicht zuletzt die Frage nach „Qumran und Jesus“ stark beeinflusst hat. In zwei sehr frühen Stellungnahmen bedeutender Qumranforscher begegnen diese alten Forschungstraditionen in einer aufschlussreichen Weise: Einerseits in der bei André Dupont-Sommer dezidiert aufgenommenen Aussage Ernest Renans, dass das Christentum jene Form des Essenismus 47 sei, die dann zum Erfolg gelangt sei, und andererseits in der Äußerung von Karl Georg Kuhn, dass ‚heterodoxe Judentum‘ des Essenismus auch in das Urchristentum zoroastrisches Denken vermittelt hätte.48 Hier zeigt sich auch in besonderem Maß der Geist der alten Kontrasthermeneutik, insofern es betontermaßen ein ‚heterodoxes‘ Judentum ist, das das Urchristentum beeinflusst und ihm nichtjüdisches Gut vermittelt haben soll. 1.3 Der veränderte Forschungskontext Aus heutiger Sicht erscheinen diese Aussagen natürlich überholt, und die Forschungslage stellt sich in wesentlichen Zügen anders dar. Zunächst ist festzuhalten, dass die Vergleiche und Diskussionen der Frühzeit – im Grunde bis in die 1990er-Jahre hinein – auf einer recht schmalen Textbasis erfolgten. In den 1950er-Jahren waren fast ausschließlich die Funde aus Höhle 1 publiziert und zugänglich: sieben größere Schriftrollen (neben den beiden Jesajarollen die damals so genannte ‚Sektenregel‘ 1QS, die Kriegsregel 1QM, die Hymnenrolle 1QH, der Habakuk-Kommentar 1QpHab und etwas später das Genesis-Apokryphon 1QgenAp), die alle relativ gut erhalten und schnell ediert worden waren, daneben war nur eine kleinere Zahl zusätzlicher Texte oder bereits bekannt gemachter Fragmente verfügbar. Der ‚Zufall‘, dass diese Höhle zuerst entdeckt worden war, und der Umstand, dass die Rollen aus dieser Höhle relativ gut und vollständig erhalten waren, beeinflusste somit den Gang der 47 48
A. D UPONT-SOMMER, Aperçus préliminaires, 121; s. o. Anm. 12. K.G. K UHN, Die in Palästina gefundenen hebräischen Texte, 211.
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Hypothesenbildung in erheblichem Maße. Es ist schwer auszudenken, wie der Gang der Forschung verlaufen wäre, wenn zuerst die vielen kleinen 49 Fragmente aus Höhle 4 bekannt geworden wären. Immerhin befinden sich unter den Texten aus Höhle 1 einige Dokumente, die auch nach heutigem Konsens zu den wichtigsten ‚gruppenspezifischen‘ Texten der QumQumran-Gemeinschaft gehören – so insbesondere die Gemeinderegel 1QS mit ihren Anhängen 1QSa und 1QSb, die Hymnenrolle 1QHa und der Habakuk-Pesher 1QpHab, sowie evtl. die Kriegsregel 1QM, aber auch die Texte der Höhle 1 erscheinen heute in einem deutlich veränderten Gesamtrahmen, und die Befunde der frühen Forschung erfahren in vielem eine 50 Neubewertung. Doch wurde das durch diese Texte bestimmte und in der Diskussion der ersten Jahrzehnte gefestigte Bild einer eher marginalen ‚Sektenbibliothek‘ nachhaltig aufgeweicht, als – zunächst in Vorabpublikationen, dann in offiziellen Editionen – immer mehr Texte und Fragmente aus dem Bestand der über 900 Handschriften bekannt wurden. Zwei Teilaspekte sind hier zu benennen: • Die Publikation der 1967 bei dem Antiquitätenhändler Kandu in Bethlehem beschlagnahmten Tempelrolle aus Höhle 11 durch Yigael Yadin markierte einen ersten Wendepunkt in der Hinsicht, dass jüdisch-halachische Themen in den Blickpunkt der Forschung traten, zumal in der Folgezeit immer mehr jüdische Gelehrte – wie z.B. Joseph Baumgarten und Lawrence H. Schiffman – die Aufgabe sahen, die Qumran-Texte in jüdische Diskurse zurückzuholen.51 Das Interesse der Forschung wandte sich – auch unter nunmehr stärkerer Beteiligung jüdischer Gelehrter – den halachischen Details von Texten wie der Tempelrolle, 4QMMT, den 4QD-Handschriften, kalendarischen Texten wie den Mishmarot und liturgischen Texten wie den Sabbatopferliedern zu, die alle im Kontext spezifischer jüdischer Überlieferungsstränge zu verstehen sind. Die zahlreichen Verbindungen sowohl zur biblischen als auch zur späteren rabbinischen Überlieferung haben gezeigt, dass das QumranCorpus im Rahmen des zeitgenössischen Judentums keineswegs nur marginale Positionen repräsentiert, sondern dass das Judentum der 49
Vgl. auch D. D IMANT, Introduction, in: DIES., (Hg.), The Dead Sea Scrolls in Scholarly Perspective (s. Anm. 8), 1–10: “Scholarship at large was unaware that this portrait was based on a very partial view of the Qumran library.” 50 Vgl. Dazu D.K. FALK etc. (Hg.), Qumran Cave I Revisited (StTDJ 91), Leiden/Boston 2010. 51 S. die programmatische Publikation von L.H. SCHIFFMAN, Reclaiming the Dead Sea Scrolls. The History of Judaism, the Background of Christianity, the Lost Library of Qumran, Philadelphia/Jerusalem 1994.
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Zeit des zweiten Tempels in sich viel lebendiger und vielfältiger ist, als es die ältere Forschung sehen konnte. Das Textcorpus von Qumran wurde daher seit den 1980er-Jahren insgesamt wesentlich stärker als in der Frühzeit als ein jüdisches Corpus wahrgenommen, das mit einem auf die Bezüge zum Urchristentum eingeschränkten Interesse nicht angemessen zu interpretieren ist. Umgekehrt scheint ein wesentlicher Trend der neueren Forschung gerade darin zu bestehen, auch die Texte der frühen Jesusbewegung als zunächst jüdische Texte in den Rahmen des nunmehr viel pluraler erfassten Judentums des ersten ‚nachchristlichen‘ Jahrhunderts einzuordnen. Mit der Publikation der Fragmente zahlreicher neuer nichtbiblischer Texte wurde zugleich das einheitliche Bild der ‚Sektenbibliothek‘ nach und nach aufgeweicht. Eine Vielzahl der neuen nichtbiblischen Texte ließ die spezifischen Kennzeichen der Sprache und Ideologie des ya!ad vermissen und musste daher auf andere Gruppierungen des zeitgenössischen Judentums, ‚vor‘ oder ‚neben‘ dem ya!ad, zurückgeführt werden. Aus heutiger Sicht ist nur noch der kleinere Teil des Qumran-Corpus als gruppenspezifisch anzusehen, während ein großer Teil der parabiblischen, weisheitlichen und exegetischen Texte sowie vermutlich alle aramäischen Texte sehr wahrscheinlich nicht von Mitgliedern der ya!ad-Gemeinschaft bzw. 52 der Trägerkreise der ‚Bibliothek‘ von Qumran verfasst, sondern von außen in deren Besitz gekommen sein dürften und dort lediglich gelesen und kopiert und schließlich in den Höhlen deponiert wurden. Trotz aller Diskussionen im Detail besteht inzwischen ein weitgehender Konsens darüber, dass das Qumran-Corpus als solches weit mehr als eine bloße ‚Sektenbibliothek‘ darstellt: Es repräsentiert ein weites Spektrum der literarischen Produktion des Judentums der drei ‚vorchristlichen‘ Jahrhunderte, und gerade darin
Die Kriterien der Zuordnung sind natürlich nicht völlig eindeutig zu bestimmen. Es ist schon strittig, was unter ‚sectarian‘ gefasst werden kann, und auch die Gestalt des ya!ad ist in der neueren Forschung unsicher geworden, doch weist dies alles mehr auf eine größere Disparatheit hin, während die Annahme einer relativ einheitlichen ‚Sektenbibliothek‘ wohl ad acta zu legen ist. S. zur Diskussion grundlegend C.A. N EWSOM, ‚Sectually Explicit‘ Literature from Qumran“, in: W.H. Propp/B. Halpern/D.N. Freedman (Hg.), The Hebrew Bible and its Interpreters (Biblical and Judaic Studies 1), Winona Lake 1990, 167–187; weiter A. L ANGE, „Kriterien essenischer Texte“, in: J. Frey/H. Stegemann (Hg.), Qumran kontrovers (s. Anm. 1), 59–69, sowie zuletzt D. D IMANT, The Vocabulary of the Qumran Sectarian Texts, in: J. Frey/C. Claußen/N. Kessler (Hg.), Qumran und die Archäologie (s. Anm. 1), 347–395.
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lässt sich die immense Bedeutung der Textfunde erkennen. Doch stellt diese Vielfalt die religionsgeschichtliche Auswertung des Corpus im Blick auf frühchristliche Texte und Phänomene methodologisch vor neue Herausforderungen. In Zweifel gezogen wurden natürlich auch die frühen Annahmen, dass die Trägerkreise der ‚Bibliothek‘ von Qumran mit den Esse54 nern der antiken Zeugnisse zu verbinden seien und die damit zusammenhängenden Deutungen des archäologischen Befundes von 55 Khirbet Qumran. Die archäologischen Fragen sind für den vorliegenden Diskussionszusammenhang nur insoweit relevant, als damit zu rechnen ist, dass eine Vielzahl von Texten des Qumran-Corpus verfasst wurden, bevor die Anlage von Khirbet Qumran in Betrieb genommen wurde, und auch wesentliche Regeltexte des ya!ad zunächst nicht auf diese Ansiedlung und die dort gepflegte Lebensweise, sondern auf Teilgruppen dieser Bewegung an ganz unterschiedlichen Orten Palästinas zu beziehen sind. Aufgrund der stärkeren Wahrnehmung der sachlichen Vielfalt der Qumran-Texte sowie der Differenzen zwischen den Qumran-Texten und den antiken Essenerberichten wurde zumindest die simple Identifikation der ‚Qumrangemeinde‘ bzw. des ya!ad mit den Essenern fragwürdig. Auch wenn nach wie vor gute Gründe dafür sprechen, dass der 56 ya!ad – evtl. als plurale ‚Dachorganisation‘ – mit der (gleichfalls
Cum grano salis kann man sogar formulieren, dass sich inzwischen die nicht gruppenspezifischen (‚non-Sectarian‘) Texte wissenschaftlich (und auch für die Frage nach dem Ertrag für das Verständnis der Jesusbewegung) als die bedeutenderen erwiesen haben im Vergleich mit den im ya!ad verfassten gruppenspezifischen Texten. S. dazu besonders G.J. Brooke, The Pre-Sectarian Jesus, in: F. García Martínez (Hg.), Echoes from the Caves (s. Anm. 7), 33–48. 54 S. dazu u.a. N. G OLB, Who Wrote the Dead Sea Scrolls? The Search for the Secret of Qumran, New York 1995; deutsch DERS, Wer schrieb die Schriftrollen vom Toten Meer, Hamburg 1994; L.H. SCHIFFMAN, Reclaiming the Dead Sea Scrolls (s. Anm. 51); L. C ANSDALE, Qumran and the Essenes. A Re-Evaluation of the Evidence (TSAJ 60), Tübingen 1997; K. B ERGER, Qumran. Funde – Texte – Geschichte, Stuttgart 1998. Y. H IRSCHFELD, Qumran in Context. Reassessing the Archaeological Evidence, Peabody 2004; dt. DERS., Qumran. Die ganze Wahrheit, übers. v. K.H. Nicolai, deutsche Bearbeitung von Jürgen Zangenberg, Gütersloh 2006. 55 Zum Stand der Forschung und zur Diskussion mit den wichtigsten Modellen s. J. FREY, Qumran und die Archäologie. Eine thematische Einführung, in: J. Frey/C. Claußen/N. Kessler (Hg.), Qumran und die Archäologie (s. Anm. 1), 3–49. 56 Vgl. J.J. C OLLINS, The Ya!ad and ‚The Qumran Community‘, in: Ch. Hempel/J.M. Leiu (Hg.), Biblical Traditions in Transmission. Essays in Honour of Michael A. Knibb, Leiden 2006, 81–96; DERS., Beyond the Qumran Community. The Sectarian Movement of the Dead Sea Scrolls, Grand Rapids/Cambridge 2010.
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kaum einheitlichen) Bewegung der ‚Essener‘ zusammenhängt und somit die gruppenspezifischen Qumran-Texte etwas von der ‚Innenperspektive‘ dieser Gruppierung erkennen lassen, während die antiken Essenertexte eher eine ‚Außenperspektive‘ oder eine ‚interpretatio graeca‘ bieten,57 interpretiert die neuere Forschung die Texte aus dem Qumran-Corpus zu Recht nicht mehr im Licht der antiken Essenerberichte. 2. Methodologische Differenzierungen Die Diskussion zum Verhältnis von Jesus und Paulus zu ‚Qumran‘ ist angesichts dieser Entwicklungen der Forschung nunmehr auf einer anderen Basis zu führen als in den ersten Jahrzehnten der Qumranforschung. Die alten Thesen und Modelle der Bezüge zwischen der Qumrangemeinde und dem frühen Christentum bzw. zwischen den Qumran-Texten und neutestamentlichen Texten haben sich allesamt als überholt und zu un58 differenziert erwiesen: Christliche Texte konnten – entgegen aller spekulativen Identifikationsversuche, v.a. im Blick auf die Texte von Höhle 7 – im Qumran-Corpus definitiv nicht nachgewiesen werden, und die QumranTexte lassen auch keinerlei (ggf. versteckte oder chiffrierte) Hinweise auf Jesus, Paulus, Jakobus oder andere Gestalten der Jesusbewegung erkennen, wie z.B. Robert Eisenman und dann auch Romanciers behaupteten. Personelle und lokale Verbindungen zwischen einem vermuteten ‚Essenerviertel‘ in Jerusalem und der Urgemeinde lassen sich gleichfalls nicht nachweisen, und die Vermutung, dass die Qumrangemeinde bzw. die ‚Essener‘ eine Vorläuferbewegung des Urchristentums bildeten oder ihr Lehrer als Prototyp für das Auftreten Jesu oder für dessen Darstellung in den Evangelien angesehen werden könne, muss als unhaltbares Relikt der Essenerdeutung vor den Textfunden von Qumran gelten. Der befremdliche Befund, dass auch im Neuen Testament kein einziger klarer Bezug zur Religionspartei der Essener oder zu einer mit den Trägerkreisen von Qumran zu verbindenden Position zu finden ist, lässt alle Vermutungen über direkte Verbindungen zwischen dem ya!ad und Johannes 57
S. zur Diskussion J. FREY, Zur historischen Auswertung der antiken Essenerberichte, in: ders./H. Stegemann, Qumran kontrovers (s. Anm. 1), 23–56. 58 S. dazu ausführlich J. FREY, Die Bedeutung der Qumran-Funde für das Verständnis des Neuen Testaments (s. Anm. 11), 133–152; DERS., Critical Issues in the Investigation of the Scrolls and the New Testament, in: J.J. Collins/T. Lim (Hg.), Oxford Handbook of the Dead Sea Scrolls, Oxford 2010, 517–545: 519–525; DERS., Die Textfunde von Qumran und die neutestamentliche Wissenschaft. Eine Zwischenbilanz, hermeneutische Überlegungen und Konkretionen zur Jesusüberlieferung, in: S. Beyerle/J. Frey (Hg.), Qumran aktuell. Texte und Themen der Schriften vom Toten Meer (BThSt 120), NeukirchenVluyn 2011, 225–288.
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dem Täufer, Jesus oder seinen Nachfolgern als unbeweisbare Spekulation erscheinen. Auch die Annahme, dass ‚bekehrte‘ Essener mit qumranischem Gedankengut die urchristliche Praxis (z.B. der Gütergemeinschaft) oder neutestamentliche Texte (z.B. hinsichtlich dualistischer Sprachformen) beeinflusst hätten, lässt sich m.E. in keinem Fall erhärten. Methodologisch ergibt sich aus dem erreichten Forschungsstand die Notwendigkeit großer Differenzierung. Der bloße Aufweis von ‚Parallelen‘ aus dem Qumran-Corpus und ihre Verzeichnung in neutestamentlichen Kommentaren und Monographien kann nicht mehr genügen, vielmehr ist die Tragweite und Relevanz derselben sorgfältiger zu bestimmen und zu 59 reflektieren. In Anbetracht der Differenzierungen in der Qumran-Bibliothek ist es dabei nicht mehr möglich, sprachliche und sachliche Parallelen generell als Indiz qumranischer bzw. ‚essenischer‘ Einflüsse zu werden. Vielmehr sind diese zunächst als Bestandteil der im Qumran-Corpus 60 belegten palästinisch-jüdischen Sprach- und Vorstellungsmatrix zu begreifen, an der Jesus und die Urgemeinde, aber auch Paulus, die synoptische und die johanneische Tradition Anteil haben. Die Frage nach ‚Qum61 ran-Parallelen‘ ist daher differenzierter zu stellen : • Parallelen sind klar zu beschreiben und zu klassifizieren: In welcher Hinsicht besteht eine Parallele? Ist ein einzelner Terminus oder ein spezifischer semantischer Wert desselben ‚parallel‘? Ist es ein Motiv, eine literarische Form oder eine Institution der hinter den Texten stehenden Gemeinschaft? Und welcher ‚Grad‘ von Parallelität liegt vor? Existiert eine sehr enge, ggf. sogar wörtliche Entsprechung zwischen einem Text aus der Qumran-Bibliothek und einem neutestamentlichen Text, oder besteht nur eine ungefähre Analogie, eine entferntere Ähnlichkeit? • Begegnet die Parallele in gruppenspezifischen Texten des ya!ad oder auch (oder ausschließlich) in nicht-gruppenspezifischen Texten? Lässt sich ggf. eine interne Differenzierung oder gar eine Entwicklung innerhalb der Dokumente der Qumran-Bibliothek aufzeigen? Und wenn dies der Fall ist, welchem Vorstellungstyp oder
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Im Folgenden werden Überlegungen aufgenommen, die zuerst in J. FREY, Die Bedeutung der Qumran-Funde für das Verständnis des Neuen Testaments (s. Anm. 11), 133–152, formuliert wurden. 60 Dieser Terminus geht auf J.A. FITZMYER, The Qumran Scrolls and the New Testament After Forty Years, RdQ 13 (1988) 609–620: 610, zurück. 61 Vgl. auch schon H.-W. K UHN, Qumran und Paulus (s. Anm. 30), 228f.
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welcher Entwicklungsstufe kommt die neutestamentliche Parallele 62 am nächsten? • Zu reflektieren ist weiter, wie solche Parallelen zu erklären sind: Sind parallele Phänomene einfach als Analogien zwischen verschiedenen, in gewisser Hinsicht (z.B. soziologisch oder in ihrem Traditionsbezug) vergleichbaren Gruppierungen zu werten, oder lassen sich konkrete Abhängigkeiten erweisen? Auf welcher Ebene lassen sich solche Abhängigkeiten oder Einflüsse lokalisieren? Liegen sie auf der Ebene von Texten (textliche Rezeption), auf der Ebene von Personen (Kenntnis von Traditionen und Sprachformen, individuelle ‚Enzyklopädie‘) oder auf der Ebene von Gruppen oder religiösen Milieus (gemeinsame Sprachmuster und Diskurse)? Im Blick auf das Urchristentum bzw. den Hintergrund der Verkündigung Jesu und der Apostel sind daher mehrere Frage-Ebenen zu unterscheiden: Lässt sich dieser Hintergrund bestimmen • als überhaupt jüdisch (im Unterschied zu pagan-hellenistisch oder gnostisch), • als spezifisch palästinisch-jüdisch (im Unterschied zu diasporajüdisch oder hellenistisch-jüdisch), oder • als (gruppen)spezifisch qumranisch (‚ya!adisch‘) oder essenisch? Eine so differenziert vorgenommene Analyse kann daher nicht mehr zu einer pan-qumranistischen Sichtweise führen, vielmehr sind die Befunde des Qumran-Corpus als Zeugnisse für ein breiteres Spektrum der Literaturproduktion des palästinischen Judentums der Zeit des Zweiten Tempels auszuwerten, für das auch andere Texte heranzuziehen sind. Im übrigen ist – zumindest für Paulus und das spätere Urchristentum – gleichermaßen mit prägenden Einflüssen des hellenistischen Judentums – 63 auch in Palästina – sowie, durch dieses vermittelt, der hellenistischrömischen Mitwelt zu rechnen. So sollte die Beurteilung der QumranParallelen stets mit der Frage geschehen, ob nicht Texte aus anderen Traditionskreisen engere Parallelen zu den neutestamentlichen Phänomenen bieten und somit für eine Erklärung eher in Frage kommen. 62
Hier hat die Beobachtung ihren Ort, dass in manchen Aspekten gerade die nichtgruppenspezifischen parabiblischen oder weisheitlichen Texte besonders enge Bezüge zu den neutestamentlichen Texten aufweisen, s. dazu G.J. B ROOKE, The Pre-Sectarian Jesus. 63 S. dazu grundlegend M. H ENGEL, Judentum und Hellenismus (WUNT 10), Tübingen 31988; DERS., Juden, Griechen und Barbaren. Aspekte der Hellenisierung des Judentums in vorchristlicher Zeit (SBS 76), Stuttgart 1976; DERS./C H. M ARKSCHIES, Das Problem der ‚Hellenisierung‘ Judäas im 1. Jahrhundert nach Christus, in: DERS., Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I (WUNT 90), Tübingen 1996, 1–90; DERS., Jerusalem als jüdische und hellenistische Stadt, in: DERS., Judaica, Hellenistica et Christiana, Kleine Schriften II (WUNT 109), Tübingen 1999, 115–156.
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Während die ältere Forschung oft den Fokus auf einzelne Figuren legte (und z.B. fragte, ob Jesus oder Paulus ‚essenisch‘ beeinflusst gewesen seien) oder Beziehungen zwischen Gruppen (z.B. der Jesusbewegung oder der johanneischen Gemeinde und ‚den Essenern‘) erheben wollte, nimmt die neuere Forschung eher Abstand von der Fokussierung auf einzelne Personen und ist sich der Probleme des Rückschlusses auf Gruppen bewusst. Sie vergleicht lieber Texte, in der gebotenen Differenziertheit – sprachlich, motivisch, und theologisch. Sie fragt nach Parallelen und ihrer Auswertung sowie nach dem ‚Nutzen‘ oder Wert dieser Parallelen für das Verständnis der neutestamentlichen Texte und nach dem, was sich durch diese Texte in der Sichtweise der Forschung verändert hat oder vielleicht noch ändern könnte. Dabei ist die hermeneutische Frage wesentlich (wenngleich noch oft übergangen): Was tun wir also, wenn wir Qumrantexte neben neutestamentliche Texte legen, wenn wir derartige jüdische Texte mit christlichen vergleichen? Und in welchem Interesse geschieht dies?
II. Hermeneutische Horizonte: Qumrantexte zwischen Politik, Religion und Wissenschaft So zu fragen heißt, sich dessen bewusst zu sein, dass Interpretation nie in einem ‚luftleeren‘ Raum erfolgt und auch selten in völlig ‚uninteressierter‘ Objektivität und strikter Neutralität geschehen kann. Interpretation von Texten geschieht meist mit einem mehr oder weniger intensiven Blick auf die eigene Gegenwart. Bei religiösen, zumal biblischen Texten ist diese Dimension besonders deutlich – und sie zeigt sich nicht zuletzt in der Vielfalt der Deutungen, die die Texte erfahren und die nicht einfach mit exegetischer Methodik und hinreichendem Wissen auf eine einzige ‚richtige‘ Interpretation reduziert werden können. Interpretation impliziert immer auch eine Stellungnahme zur Relevanz des Interpretierten für die Interpreten, ihre Gemeinschaft (der Glaubenden oder der Forschenden) und ihre Zeit. Interpretation ist, hermeneutisch gesprochen, auch immer eine eigene ‚Positionsbestimmung‘, sie hat Teil an den umfassenderen Identitätsdiskursen – und die Bibelwissenschaft (und auch die Qumranistik) muss sich dieser Dimension bewusst sein. Möglicherweise hat die Qumranforschung hier noch von der Bibelwissenschaft zu lernen, in der die Reflexion der Forschungsgeschichte und die Einordnung bestimmter Positionen in einen umfassenderen theologischen oder ideologischen Horizont schon länger praktiziert wird.
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1. Qumran-Texte als Politikum Dass archäologische Funde – Texte oder Artefakte – ein Politikum darstellen, wird der interessierten Öffentlichkeit und nach und nach auch der 64 Wissenschaft in den letzten Jahren verstärkt bewusst – nicht nur durch die in der westlichen Welt mit Entsetzen verfolgten Zerstörung vorislamischer Bildwerke durch radikal-islamische Bilderstürmer in Afghanistan, sondern auch durch die wiederholt gegenüber westlichen Museen erhobenen Forderungen nach der Rückgabe wertvoller Artefakte an Länder wie Ägypten, Griechenland oder die Türkei. Solche Artefakte bilden nicht nur ein Kapital, das sich für Tourismus und Wirtschaft nutzen lässt. Archäologische Schätze wie der Parthenon-Fries der Akropolis oder die Büste der Nofretete sind vor allem Symbole einer kulturellen und nationalen Identität, die in der Gegenwart identitätsstiftend wirksam werden oder gar einen nationalen ‚Mythos‘ stützen sollen – zumindest sofern sich der jeweilige Staat mit der entsprechenden kulturellen Epoche identifiziert. Dass die Qumran-Texte eine entsprechende Funktion besitzen, ist hinreichend deutlich. Die Umstände des Ankaufs der ersten Rollen aus Höhle 1 durch den Staat Israel dokumentieren dies ebenso wie die Präsentation der Schriftrollen als nationales Heiligtum im ‚Shrine of the Book‘ im Jerusalemer Israel Museum. Die Bearbeitung der Qumran-Funde war auch in besonderem Maße betroffen von den politischen Veränderungen in der Region: Die ersten Funde wurden noch unter dem britischen Palästina-Mandat gemacht, in den Wirren vor der israelischen Staatsgründung, die zahlreichen Fragmente aus Höhle 4 wurden dann in der ‚scrollery‘ im ‚Palestine Archaeological Museum‘ bzw. (dann) ‚Rockefeller Museum‘ in Ost-Jerusalem aufbewahrt und wissenschaftlich bearbeitet, wobei das damit betraute Forscherteam noch keine israelischen oder jüdischen Forscher enthielt. Dies änderte sich dann, als nach 1967 die israelische Antikenbehörde die Kontrolle über die Texte überernahm und der ‚Shrine of the Book‘ gebaut wurde. Eine Reihe von Qumran-Forschern, nicht zuletzt aus dem Umfeld der französischen École Biblique, machte aus ihrer propalästinensischen Haltung keinen Hehl, und der zeitweilige Hauptherausgeber der DJD, John Strugnell, musste seine Position dann auch aufgrund antijüdischer Äußerungen aufgeben. Unter der Ägide von Emanuel Tov traten vermehrt jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in die internationale Qumranforschung ein. Die Veränderung der politischen Rahmenbedingungen spiegelt sich nicht zuletzt in der Änderung der Bezeichnung der offiziellen
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S. dazu den von der Israel Exploration Society herausgegebenen Band: N.A. Silbermann/E.S. Frerichs (Hg.), Archaeology and Society in the 21st Century. The Dead Sea Scrolls and Other Case Studies, Jerusalem 2001.
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Publikationsreihe von ‚Discoveries of the Judaean Desert of Jordan’ (DJDJ) in ‚Dis65 coveries of the Judaean Desert‘ (DJD) im ersten Band, der nach 1967 publiziert wurde.
Die Bedeutung der Qumran-Texte, nicht nur als frühes Dokument jüdischreligiösen Lebens in der Region um das Tote Meer, sondern zugleich Symbol der nationalen Identität Israels, wurde dann auch deutlich, als der internationale Kongress zum 50-jährigen Jubiläum der Qumran-Funde 1997 in Jerusalem feierlich mit einer Rede des damaligen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu eröffnet wurde. Die Tatsache, dass inzwischen auch der Staat Jordanien ein Interesse an den Qumrantexten zeigt, Aktivitäten zur Erforschung der in Amman befindlichen Dokumente entwickelt, und zuletzt anlässlich einer Ausstellung von Qumran-Texten in Kanada sogar forderte, die Texte sollten nicht an Israel zurückgegeben werden, bis 66 die Eigentumsfrage geklärt sei, deutet darauf hin, dass man auch im Lager der arabischen Nachbarn Israels diese Sachverhalte erkannt hat und Anstrengungen unternimmt, um der politischen Vereinnahmung der Funde durch Israel wissenschaftlich zu begegnen oder gar diese Funde und das 67 öffentliche Interesse an ihnen selbst politisch zu benutzen. 2. Qumran-Texte in religiösen Identitätsdiskursen Mehr noch als nur politisch sind die Qumran-Texte ein religiöses Symbol, in unterschiedlicher Funktion freilich für jüdische wie christliche Gruppen. a) Die Stellung der Textfunde im Rahmen jüdischer Identitätsdiskurse war anfangs noch unklar, nicht zuletzt angesichts der langen Tradition der Einschätzung der Essener als einer, gemessen am klassischen oder als ‚normativ‘ angesehenen (pharisäisch-)rabbinischen Judentum, heterodoxen ‚Sekte‘, auch wenn die frühen Vermutungen, die Texte seien selbst erst christlichen Ursprungs,68 bald entkräftet waren. Auch wenn der vermehrte Eintritt jüdischer Wissenschaftler in die Arbeit mit den Texten erst nach 1967, erfolgte, und die ‚Rückgewinnung‘ des 65
Es handelt sich um den Band DJD VI: R. de Vaux/J.T. Milik (Hg.), Qumrân grotte 4 II (DJD 6), Oxford 1977, in dem der damalige Reihenherausgeber Pierre Benoit im Vorwort den Wechsel erläutert. 66 S. die Pressemitteilung in Haaretz: http://www.haaretz.com/news/jordan-demandsreturn-of-dead-sea-scrolls-seized-by-israel-1.261384. 67 Dies bedeutet natürlich eine Erschwernis für alle Versuche, Originaltexte außerhalb Israels zu präsentieren, weil die israelische Antikenbehörde als Leihgeber verständlicherweise nun höchstrangige politische Garantien für die Rückgabe der Funde fordert. 68 So v.a. der Cambridger Judaist Jacob Leon Teicher, s. J.L. T EICHER, The Dead Sea Scrolls. Documents of the Jewish-Christian Sect of Ebionites, JJS 2 (1950–51) 67–99; s. dazu G.J. B ROOKE, Dead Sea Scrolls Scholarship in the United Kingdom, in: D. Dimant, The Dead Sea Scrolls in Scholarly Perspective (s. Anm. 8), 449–486: 465.
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Corpus für jüdische Diskurse auch erst auf der Grundlage der vielen, später edierten Texte geschehen konnte, wurde die immense Bedeutung der Funde für das Verständnis des Judentums der Zeit des Zweiten Tempels sehr schnell erkennbar und das Interesse vieler – religiöser wie säkularer – jüdischer Forscher wuchs sehr schnell. Freilich ist zu bedenken, dass die wissenschaftlich erkannte Pluralität des Judentums dieser Epoche, das Fehlen einer ‚normativen‘ Instanz und auch die Pluralität von Textformen der hebräischen Bibeltexte jüdisch-traditionellen Sichtweisen nicht entspricht. Es scheint jedoch, dass diese Sachverhalte auch für ein jüdisch-religiöses Traditionsverständnis weniger irritierend sind als für ein konservativprotestantisches, an der normativen Schrift orientiertes Denken. In der Wissenschaft scheinen sich die innerjüdischen Identitätsdiskurse zwischen ‚religiös‘ und ‚säkular‘ momentan eher am Paradigma der Archäologie zu spiegeln, etwa in der ‚säkularen‘ Interpretation von Khirbet Qumran durch Yizhar Hirschfeld, der beansprucht, die Stätte von der reli69 giösen Bedeutsamkeit „befreit“ zu haben, und damit der Generation der älteren Archäologen und Textforscher mit ihrem z.T. dezidiert zionistischen Interesse entgegentritt. b) Dass die Qumran-Texte von Anfang an für christliche Identitätsdiskurse von Bedeutung waren, wurde bereits erwähnt. Es waren zunächst bibelkonservative, v.a. protestantische Kreise, die den sensationellen Fund einer Jesajarolle, die mehr als 1000 Jahre hinter die bisher bekannte hebräische Textform reichte und mit nur sehr geringen Varianten den Text des ‚ganzen‘ Jesaja bot, einschließlich der Kapitel 40–66, als Indiz für die Treue der biblischen Überlieferung werteten und dann auch die Bezeugung (fast) aller Schriften des Hebräischen Kanons in Qumran als Bekräftigung der Bedeutung der Schriften für die Zeit Jesu und des Urchristentums ansehen konnten. Dass sich hierbei – v.a. in Nordamerika – ein breiteres öf70 fentliches Interesse und konservative Positionen der Forschung verbinden konnten, ist evident. Auch in der europäischen Theologie waren es zunächst eher konservative, dem Trend der Bultmann-Schule kritisch gegenüberstehende Exegeten, die die Qumran-Funde für ihre Sicht des Johannesevangeliums oder der Urgemeinde heranzogen. Das Milieu Johannes des Täufers wurde nun eher qumranisch als gnostisch bestimmt, desgleichen der Hintergrund des Jo69
Y. H IRSCHFELD, Qumran in Context (s. Anm. 54), 5: „By suggesting that Jerusalem is the source of the scrolls, we liberate Qumran from the burden of religious significance. It allows us to give the site a secular interpretation.” 70 Zu nennen sind hier für die Frühzeit der Forschung etwa William F. Albright und William Brownlee, s. dazu J.J. C OLLINS, The Scrolls and Christianity in America, in: D. Dimant (Hg.), The Dead Sea Scrolls in Scholarly Perspective (s. Anm. 8), 197–215: 197f.
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hannesevangeliums. Der Qumran-Kalender wurde herangezogen, um nach einer möglichen Harmonisierung der synoptischen und der johanneischen Chronologie zu suchen, und auch in der Paulusforschung wurde der jüdische Hintergrund gegenüber hellenistisch-gnostischen Kontexten betont. Allzu bereitwillig nahmen konservativ-fundamentalistische Kreise dann die Idee auf, in Qumran könnten sich – v.a. in Höhle 7 – neutestamentliche Texte aus dem Markusevangelium oder gar den Pastoralbriefen gefunden haben, die dann einen ‚Beweis‘ für das Alter dieser Schriften (deutlich vor 70 n. Chr.) und eine Falsifizierung der Sichtweisen der kritischen Einleitungswissenschaft böten. Die fragwürdige Agenda hinter einigen dieser 71 Arbeiten zeigt die Ideologieanfälligkeit der Bibelwissenschaft wie der Qumranforschung, v.a. wenn diese ein bestimmtes religiöses Interesse bedienen will. Ähnliches ließe sich im Blick auf die Paradigmen vom essenischen ‚Kloster‘ oder von einem für die Frömmigkeit der Urgemeinde vermeintlich einflussreichen ‚Essenerviertel‘ in Jerusalem beobachten. c) Analoges gilt freilich auch für die entgegengesetzten ‚Interessen‘, die die Forschung oder die breiteren öffentlichen Diskurse beeinflusst haben. So der von manchen Autoren gestreute Verdacht, die Qumran-Texte könnten Hinweise auf einen ‚ganz anderen‘ Jesus oder eine dem bisherigen Bild widersprechende Gestalt der frühchristlichen Bewegung zutage fördern oder eben einen vermeintlichen Anspruch der ‚Einzigartigkeit‘ oder ‚Neuheit‘ gefährden. Auch hinter dem ‚Enthüllungspathos‘ der hier involvierten Autoren – von Edmund Wilson und John Allegro bis zu Robert Eisenman – steht eine bestimmte ‚aufklärerische‘ Agenda mit dem Interesse, die christliche Religion (oder bestimmte Ausprägungen derselben) zu delegitimieren, durch die Infragestellung ihres (vielleicht recht schlicht verstandenen) Offenbarungsanspruchs im Aufweis eines ‚Christentums vor Christus‘, und immer wieder auch den Rekurs auf Verschwörungstheorien (v.a. im Blick auf den Vatikan). Qumran-Texte, mehr oder weniger sachgemäß interpretiert und popularisiert, haben in solchen Argumentationen eine wichtige Funktion.
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S. etwa die vielfältigen Arbeiten des Anglisten und Selfmade-Papyrologen CarstenPeter Thiede zu den 7Q-Texten: C.-P. T HIEDE, 7Q – Eine Rückkehr zu den neutestamentlichen Papyrusfragmenten in der siebten Höhle von Qumran, Bib. 65 (1994) 538–559; DERS ., Die älteste Evangelien-Handschrift? Das Markusfragment von Qumran und die Anfänge der schriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments, Wuppertal 1986; weiter DERS ./M. D’A NCONA , Der Jesus-Papyrus. Die Entdeckung einer Evangelien-Handschrift aus der Zeit der Augenzeugen, Reinbek 1997; s. zur Kritik W. W ISCHMEYER, Zu den neuen Frühdatierungen von Carsten Peter Thiede, ZAC 1 (1997) 280–290; S. E NSTE, Kein Markustext in Qumran. Eine Untersuchung der These, Qumran-Fragment 7Q5 = Mk 6, 52–53 (NTOA 45), Freiburg (CH)/Göttingen 2000.
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Diese knappen Bemerkungen sollen genügen, um zu zeigen, dass die Arbeit an Qumran-Texten (wie auch an anderen religionsgeschichtlichen Vergleichstexten) bei aller Detailliertheit kaum je wirklich ‚neutral‘ und ‚uninteressiert‘, ohne jeden Aktualitätsbezug, erfolgen kann sondern eingebettet ist in öffentliche, religiöse oder ‚religionspolitische‘ Identitätsdiskurse, die die Fragestellungen und gelegentlich auch die Resultate beeinflussen. Auch die wissenschaftlichen Diskurse sind, bei allem methodischen Bemühen um Sachgemäßheit und ‚Objektivität‘ in diese Kontexte eingebettet und von entsprechenden ‚Tendenzen‘ betroffen. 3. Qumran-Texte in neutestamentlich-wissenschaftlichen Diskursen: Diskontinuität oder Kontinuität zum Judentum Dies wurde v.a. in der Frühzeit der Qumran-Forschung deutlich: Die Textfunde wurden schnell – und werden z.T. bis heute – zur Stützung ‚konservativer‘ Forschungspositionen z.B. im Blick auf die Traditionstreue und historische Verortung des Johannesevangeliums und auf die stärker jüdische Prägung auch des paulinischen Denkens (im Gegensatz zu den seinerzeit herrschenden Herleitungen aus hellenistisch-gnostischen Kontexten) ausgewertet. Forschungsgeschichtlich ist durchaus festzuhalten, dass Paulus und Johannes im Licht von Qumran stärker ‚jüdisch‘ erscheinen, als dies ohne die Parallelen aus dem Qumran-Corpus (die ja weithin die einzigen zeitgenössischen hebräischen und aramäischen Quellen bieten) möglich wäre, auch wenn dies den Einfluss hellenistisch-jüdischer und hellenistischer Denkformen nicht ausschließt. Näherhin stellte sich freilich von Anfang an – und besonders im Licht der älteren Interpretationen der ‚Essener‘ – das Problem, an welche Linien der jüdischen Tradition die urchristlichen Texte gegebenenfalls anknüpfen. Solange die Forschung mit einer normativen Stellung des pharisäischrabbinischen Judentums rechnen konnte, rechnete die religionsgeschichtliche Forschung gerne mit dem Einfluss anderer Strömungen, eines alexandrinischen Denkens, wie es bei Philo belegt ist, der iranisch beeinflussten Apokalyptik oder eben des Essenismus, der immer wieder als Vorläuferbewegung des späteren Christentums angesehen worden war. An diese Linie konnten Teile der frühen Qumranforschung anknüpfen, wenn sie Jesus und das Urchristentum nun zwar in einem jüdischen Rahmen sehen mussten, aber diesen Rahmen doch als ein ‚heterodoxes‘ oder ‚sektenhaftes‘ Judentum bestimmen und die Distanz zum ‚klassischen‘ Judentum festhalten konnten. Mit der Einsicht, dass es ein solches normatives Judentum zur Zeit Jesu und der Urgemeinde nicht gab und dass die Qumran-Bibliothek gerade in den Texten, die nicht in der ‚Qumrangemeinde‘ entstanden sind und daher
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als ‚Non-Sectarian‘ oder auch ‚nichtessenisch‘ bezeichnet werden können, wesentliche Parallelen zum Verständnis einzelner Elemente der Verkündigung Jesu oder auch der Entwicklung der Christologie bietet, hat sich die Forschungssituation wesentlich verändert. Dennoch steht die theologische Bibelwissenschaft nach wie vor vor der Herausforderung zu reflektieren, was es bedeutet, dass nicht nur der irdische Jesus, sondern auch Paulus und ggf. das Johannesevangelium viel stärker innerhalb jüdischer Diskurse zu verstehen sind als in Kontrast zu denselben. Allzu häufig rekurrierte die neutestamentliche Exegese in der Vergangenheit auf Aspekte des zeitgenössischen jüdischen Denkens als eine dunkle (partikularistische und legalisti72 sche) Folie, von der sich dann die frühchristliche oder bereits die jesuanische Verkündigung in ihrem Universalismus und ihrer Gesetzeskritik ‚leuchtend‘ abheben sollte. Aber auch wenn diese groben und plakativen Entgegensetzungen vermieden werden, erscheinen im Blick auf die Auswertung der Qumran-Befunde ‚konservative‘ theologische Positionen eher von der Sorge um die ‚Eigentümlichkeit‘ Jesu und des Urchristentums geleitet sein, während liberalere Positionen sich weniger veranlasst sehen, Jesus und die Ur73 christenheit vom zeitgenössischen Judentum abzuheben. Im Gegensatz zu diesen latenten Forschungstendenzen und -interessen stellt sich die Frage, ob durch die stärkere historische Einbettung Jesu und der neutestamentlichen Zeugen in die zeitgenössischen jüdischen Diskurse die ‚Einzigartigkeit‘ Jesu oder die ‚Eigentümlichkeit‘ und Neuheit des christlichen Kerygmas tatsächlich gefährdet ist. Konstituiert sich geschichtliche Individualität nicht stets aus einer Verknüpfung von Vorgegebenem und Neuem oder aus der Neuinterpretation von Altem im Lichte bestimmter Begebenheiten? Für ein historisch aufgeklärtes theologisches Denken musste auch schon vor den Qumran-Funden klar sein, dass das Evangelium nicht ‚vom Himmel gefallen‘ ist, sondern letztlich aus Elementen der biblischen und frühjüdischen Tradition wesentlich geprägt ist, die dann, im Lichte des Weges und Geschicks Jesu, neu gedeutet und zu einer neuen Botschaft transformiert werden. Die Herausforderung besteht insofern wohl darin, das spezifische Profil der Verkündigung Jesu und auch des paulinischen und johanneischen Denkens innerhalb des sprachlichen Gefüges des zeitgenössischen Judentums zu beschreiben – ganz unabhängig davon, welche Faktoren dann (wohl erst später und nach und nach) zur Trennung der Wege zwischen der sich mehrheitlich heidenchristlich konstituierenden Kirche und der sich ebenfalls nach den Ereignissen des Jahres 70 n. Chr. konsolidierenden Synagoge führten. Die hermeneutisch-kritische Frage lässt sich aber auch umkehren: Was ist ‚gewonnen‘, wenn paulinische oder johanneische Texte nun ihrerseits als Teil eines noch innerjüdischen Diskurses erscheinen? Dient diese Argumentationsfigur einer Exegese nach der Schoah, die im Blick auf die antijüdischen Tendenzen neutestamentlicher Texte 72
S. dazu J. FREY, Neutestamentliche Exegese und antikes Judentum. Probleme – Wahrnehmungen – Perspektiven, ZThK 109 (2012) 445–447. 73 Vgl. K. STENDAHL, The Scrolls and the New Testament. An Introduction and a Perspective, in: ders (Hg.), The Scrolls and the New Testament, New York 1957, 1–17; s. auch E. U LLMANN-M ARGALIT, Out of the Cave. A Philosophical Inquiry into Dead Sea Scrolls Research, Cambridge, Mass./London 2006, 137f.
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sensibler geworden ist, womöglich nur dazu, bestimmte problematische Texte vor dem Vorwurf eines Antijudaismus ‚von außen‘ zu ‚retten‘? Damit wäre jedoch hermeneutisch nichts gewonnen und das Problem der antijüdischen Wirkung der Texte nicht ‚behoben‘.
Die religionsgeschichtliche Einordnung und Gruppierung von Texten ist insofern immer verknüpft mit der Positionierung, die Exegetinnen und Exegeten für sich und die von ihnen interpretierten Texte vornehmen, mit Fragen der ‚Bedeutung‘ und ‚Gültigkeit‘ und manchmal auch mit Aspekten einer ‚political correctness‘. Neutestamentliche Forschung, im Rahmen christlicher Theologie, sollte solche hermeneutischen Aspekte und auch die je eigene Position und Perspektive nach Möglichkeit offen legen und in dieser Offenheit die Texte mit philologischer und historischer Präzision und hermeneutisch-(selbst)kritischem Bewusstsein lesen.
III. Zum vorliegenden Band Der vorliegende Band bietet ein breites Spektrum von Beiträgen, die je auf ihre Weise dem skizzierten neuen Forschungskontext Rechnung tragen. Hingewiesen sei besonders auf die Edition des bislang nur an entlege74 nem Ort publizierten Deuteronomium-Fragments durch James H. Charlesworth, das wohl als zusätzlicher Zeuge für die Ursprünglichkeit der samaritanischen Textüberlieferung in Dtn 27,4 mit der Lesart ‚Garizim‘ gelten kann, womit die hohe Bedeutung der Qumran-Funde nicht nur für die biblische Textgeschichte, sondern auch für die Rekonstruktion der israelitischen und frühjüdischen Religionsgeschichte unter Beweis gestellt ist. Ein zweiter, besonders hervorzuhebender Beitrag sammelt Erträge der Qumran-Philologie für die Rekonstruktion des Aramäischen zur Zeit Jesu. Ursula Schattner-Rieser bietet auf dieser Basis neue Erwägungen zur ursprünglichen Gestalt des Vaterunsers, auf dem Hintergrund von etwa zeitgenössischen Quellen, während die bislang vorgelegten Rekonstruktionen i.d.R. auf dem ‚Galiläischen Aramäisch‘ der Quellen des 3./4. Jh.s n. Chr. basieren. Auch wenn alle Rekonstruktionen letztlich unsicher bleiben müssen, wird hier doch deutlich, welche immense Bedeutung die QumranFunde für die philologische Analyse der Jesusüberlieferung haben. Darüber hinaus werden Einzelthemen der Jesusforschung im Horizont der Qumran-Funde erörtert, wie die Frage nach dem Sabbat (Lutz Doering), und der Eschatologie (Albert Hogeterp) oder das Problem der Interpretation des schwierigen Verses Mt 18,10 (Hermann Lichtenberger). Im Kontext der Paulusforschung wird der Beitrag der Qumran-Funde zur 74
J.H. C HARLESWORTH, “What is a Variant? Announcing a Dead Sea Scrolls Fragment of Deuteronomy,” MAARAV 16/2 (2009): 201–212.
Jesus, Paulus und die Texte vom Toten Meer
29
präziseren Bestimmung der Schriftgelehrsamkeit des Paulus (Christian Metzenthin), seiner Psalmenrezeption (Enno Edzard Popkes) oder seiner Gerechtigkeits-Terminologie (Francesco Zanella) beleuchtet. In einem weiteren Rahmen werden die Zeugnisse über die qumranischen Mähler (Michael Becker) und die Bedeutung des großen Weisheitstextes 1Q/4QInstruction (Jean-Sébastion Rey) erörtert und der Melchisedek-Text 11QMelch auf dem Hintergrund von Jesaja 61 – einem auch für die Jesustradition zentralen Text – interpretiert (Reinhard Achenbach). Für die Rekonstruktion der Entstehung der exegetischen Methoden des späteren rabbinischen Judentums wird der Vergleich von qumranischen und paulinischen Schriftbezügen in dem umfangreichen Beitrag des zu früh verstorbenen Neutestamentlers und Rabbinisten Friedrich Avemarie fruchtbar gemacht. Neuere Forschungstrends werden in zwei englischsprachigen Beiträgen wahrgenommen. So versucht George J. Brooke, die ‚body language‘ der Hodayot u.a. im Lichte paulinischer Wendungen zu verstehen, und Judith H. Newman setzt die Hodayot in Beziehung zu 2 Korinther 3, unter besonderer Beachtung der Performativität dieser Texte, die mündlich vorgetragener oder gehört wurden und in dieser Form eine soziale Funktion ausüben und Menschen verändern konnten. Den Abschluss des Bandes bietet der – Jesus- und Paulusforschung zusammenführende – Beitrag von Heinz-Wolfgang Kuhn, der seine schon andernorts dargebotene Sicht der Erträge der Qumran-Forschung für das 75 Studium des historischen Jesus hier in aktualisierter und schließlich noch einmal durch bibliographische Ergänzungen erweiterter Form bietet und in einem zweiten Teil die Grundzüge und den Stand seines Projekts der Sammlung und Auswertung der wesentlichen Parallelen zu den authentischen Paulusbriefen darstellt. Der hier vorgeführte Diskussionsstand und die in den weiteren Beiträgen des Bandes gebotenen Erörterungen wollen dazu anregen, die nunmehr verfügbare große Vielfalt der Qumran-Texte methodologisch differenziert und hermeneutisch reflektiert mit anderen frühjüdischen und frühchristlichen Texten ins Gespräch zu bringen. Dabei wird sich – angesichts des jetzt vorliegenden Textcorpus umso mehr erweisen, dass die QumranFunde die für das Verständnis des Neuen Testaments bedeutsamsten Textfunde des 20. Jahrhunderts sind, deren Auswertung im 21. Jahrhundert in eine neue, vielversprechende Phase eingetreten ist.
75
H.-W. K UHN, „Jesus im Licht der Qumrangemeinde“, in: T. Holmén/S.E. Porter (Hg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus, Bd. 2: The Study of Jesus, Leiden/Boston 2011, 1245–1285.
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I. Jesus !
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Jesus und der Sabbat im Licht der Qumrantexte* LUTZ DOERING 1. Einführung und methodische Probleme In dem 2009 erschienenen vierten Band seines monumentalen Werkes A Marginal Jew: Rethinking the Historical Jesus, der sich unter dem Titel Law and Love der Stellung Jesu zum Gesetz widmet, schreibt John Paul Meier zur Bedeutung der umfassenden Sabbatvorschriften des Jubiläenbuchs: „For our purposes, the most remarkable thing about these detailed lists is their total irrelevance to the sabbath disputes in which Jesus is directly accused of breaking the sabbath.“1 Die Formulierung ist bewusst so eng gewählt, denn zu den Sabbataktivitäten anderer in den Evangelien, etwa dem Ährenraufen der Jünger oder dem Tragen einer Matte durch den Geheilten am Teich Betesda, hätte das Jubiläenbuch der Sache nach durchaus etwas zu sagen.2 Schließlich findet sich in den Evangelien nur eine Tätigkeit Jesu am Sabbat, derentwegen er selbst angegriffen wird: das Heilen nicht lebensgefährlich Erkrankter. Und dazu haben in der Tat weder das Jubiläenbuch noch die Texte aus Qumran direkte Vorschriften, wie in diesem Beitrag darzulegen sein wird. Allerdings geben die Qumrantexte durchaus indirekte Hinweise, wie Heilen am Sabbat in ihrer Perspektive einzuordnen wäre, und sie werfen auf eine ganze Reihe von Einzelzügen der Sabbatperikopen der Evangelien ein erhellendes Licht. Entsprechend *
Der vorliegende Aufsatz greift Ergebnisse auf, die in größerem Zusammenhang in L. D OERING, Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum und Urchristentum (TSAJ 78), Tübingen 1999, erarbeitet worden sind. Er gibt mir zugleich die willkommene Gelegenheit zur gelegentlichen Präzisierung und Korrektur sowie zur Stellungnahme zu Literatur, die seit Abschluss dieser Arbeit erschienen ist. 1 J.P. M EIER, A Marginal Jew, Vol. IV: Law and Love (The Anchor Yale Bible Reference Library), New Haven 2009, 243. 2 So untersagt Jub 50,12 das Bebauen eines Feldes. Nach Jub 2,29f. ist das Heraustragen durch Türen sowie das Tragen von Haus zu Haus verboten – damit darf man annehmen, das auch das in Joh 5,10 wohl gemeinte (s.u., bei Anm. 70–73) Tragen im Freien als verboten gilt. Vgl. D OERING, Schabbat, 75–78.94f.468f.
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Lutz Doering
fällt Meiers Urteil zur Bedeutung der „sabbath prohibitions“ der Damaskusschrift und verwandter Texte besser aus: Sie seien „strikingly relevant to a study of Jesus’ attitude toward the sabbath“.3 Indem sie einen zeitgenössischen Zugang zur Sabbathalacha markieren, der, kompositionsund redaktionsgeschichtlich betrachtet, seine Wurzeln im 2. Jahrhundert v. Chr. hat und vom Handschriftenbefund her bis ins frühe 1. Jahrhundert n. Chr. belegt ist,4 stellen die Damaskusschrift und verwandte Qumrantexte ein Vergleichsmaterial erster Güte für die Sabbattexte in den Evangelien dar. Dabei sind jedoch einige methodische Probleme zu berücksichtigen. Zum einen müssen die Genre-Differenzen ausreichend gewürdigt werden. Die von Meier angesprochenen Texte aus Qumran sind allesamt halachische Texte oder Rule Texts.5 Einige von ihnen präsentieren kohärente Abschnitte zur Sabbathalacha (so die Damaskusschrift und 4Q265); Vered Noam und Elisha Qimron haben vor einigen Jahren vorgeschlagen, einen dieser Texte (4Q264a Frg. 1 par 4Q421 13+2+8) als eigenständigen Text „4QSabbath Laws“ anzusprechen.6 Solche Rule Texts können freilich nicht einfach als Evidenz dafür genommen werden, dass den dort festgehaltenen Vorschriften auch eine entsprechende Praxis unmittelbar korrespondiert. Besonders Steven Fraade hat auf die Bedeutung von Rhetorik und Fiktionalität in Rechtstexten in mehreren Beiträgen hingewiesen.7 Dass ihre Autoren das Einhalten der Vorschriften erwarteten, darf vermutet werden; dass sie auch tatsächlich so eingehalten wurden, kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden. Umgekehrt scheinen solche Texte auch nicht eine lückenlose Übersicht über alle Details von Sabbathalacha zu bieten. Wir werden sehen, dass manche Einzelheiten wahrscheinlich stillschweigend vorausgesetzt sind, so dass es schwer ist, aus dem Fehlen einer expliziten Vorschrift auf die sachliche Abwesenheit einer bestimmten Norm oder Praxis zu schließen. Allerdings ist es möglich, an einigen 3
M EIER, a.a.O., 245. Der Sabbatkodex der Damaskusschrift ist sicher älter als die vielleicht um 100 v. Chr. redigierte Damaskusschrift selbst; vgl. D OERING, Schabbat, 124–132; ferner C. H EMPEL, The Laws of the Damascus Document (STDJ 29), Leiden 1998, 24.37f.187. Zum Alter der Handschriften der Damaskusschrift und verwandter Texte vgl. die Angaben in D OERING, a.a.O., 124.216–223. 5 Vgl. A. L ANGE/U. M ITTMANN-R ICHERT, „Annotated List of the Texts from the Judaean Desert“, in: E. Tov (Hg.), The Texts from the Judaean Desert: Indices and Introduction to the Discoveries in the Judaean Desert Series (DJD 39), Oxford 2002, 132f. 6 V. N OAM/E. Q IMRON, A Qumran Composition of Sabbath Laws and Its Contribution to the Study of Early Halakah, DSD 16 (2009) 55–96. 7 Vgl. S. FRAADE, Legal Fictions: Law and Narrative in the Discursive Worlds of Ancient Jewish Sectarians and Sages (JSJ.S 147), Leiden 2011. 4
Jesus und der Sabbat im Licht der Qumrantexte
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Stellen Entwicklungen zwischen Texten anzunehmen; und auch für das redaktionelle Wachstum des Sabbatkodex der Damaskusschrift können in einem Vergleich von Handschriften aus Höhle 4 mit Handschrift A aus der Kairoer Geniza Argumente angeführt werden. Entsprechende Überlegungen sind auch für das Jubiläenbuch anzustellen, das ich als einen in Qumran handschriftlich breit belegten Text im Folgenden mit behandeln werde. Zwar unterscheidet es sich in der Rahmengattung von den Rule Texts aus Qumran: Es handelt sich um einen narrativen Text, der den Stoff von Gen 1 bis Ex 24 in neugeschriebener Weise präsentiert („rewritten Scripture“). Doch geschieht das so, dass in das Narrativ halachischer Stoff eingearbeitet wird; für den Sabbat wird dabei in Jub 2,29f.; 50,8.12 auf zwei oder drei ältere halachische Listen zurückgegriffen.8 Bezüglich der Unklarheit, in welcher Weise diesem halachischen Stoff auch eine entsprechende Praxis korrespondiert, ist die durchgehende Ansetzung der Todesstrafe bei Sabbatbruch im Jubiläenbuch9 ein gutes Beispiel: Ob und, wenn ja, in welchen Fällen Menschen im Produktions- und frühen Rezeptionsmilieu des Jubiläenbuchs für Sabbatbruch hingerichtet wurden, ist unklar. Ferner ist anzunehmen, dass die in den Qumrantexten und im Jubiläenbuch vertretenen Regelungen einen bestimmten Geltungsbereich hatten. Dabei können sie einerseits weder für die Gesamtheit des antiken Judentums als verbindlich herangezogen werden, noch können sie andererseits als die Halacha einer kleinen Gruppe von „Sektierern“ marginalisiert werden. Der Vergleich mit anderen Texten und Traditionen aus der Zeit des Zweiten Tempels zeigt, dass wir es mit Ausprägungen einer priesterlich bestimmten und tendenziell konservativen Halacha zu tun haben.10 Dabei wird heute klarer gesehen, dass im Ansatz Verbindungen zu anderen Formen priesterlicher Halacha bestehen,11 auch wenn man darüber bestehende Unterschiede nicht verwischen darf.12 Des Weiteren wird heute
8
24.
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S. zur Diskussion um die Datierung des Jub und der genannten Listen unten, Anm.
Jub 2,25.27; 50,8.13. Das gilt unbeschadet der Qualifizierung, auf die insbesondere A. SHEMESH, Halakhah in the Making: From Qumran to the Rabbis, Berkeley 2009, 72–106, hingewiesen hat. Shemesh zufolge haben die Vertreter der priesterlichen Halacha (das Milieu der Qumrantexte und die Sadduzäer) als erste biblische Texte zur Unterstützung überkommener Bräuche herangezogen und auf diese Weise die Entwicklung des halachischen Midraschs bei ihren Gegnern (Pharisäern und in ihrer Nachfolge Rabbinen) herausgefordert. 11 So etwa SHEMESH, Halakhah in the Making, passim. 12 Vor einer Verwischung der Unterschiede warnt v.a. E. R EGEV, Were the Priests All the Same? Qumranic Halakhah in Comparison with Sadducean Halakhah, DSD 12 (2005) 10
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deutlicher als in früherer Forschung wahrgenommen, dass die Halacha, die etwa im Gesetzeskorpus der Damaskusschrift aufgenommen ist, in ihrem Grundbestand älter ist als die Entstehung der in dieser reflektierten Gemeinde.13 Kurzum, man wird sich in der Heranziehung dieser Halacha sowohl vor Verallgemeinerung als auch vor Marginalisierung hüten müssen. Anders als die genannten Texte sind die Evangelien keine halachischen Texte. Halacha kann in ihnen reflektiert sein, aber sie tritt in narrativer Form auf (etwa wenn von einer Person der Erzählung gefragt wird, ob eine Handlung am Sabbat „erlaubt“ sei).14 Mindestens ebenso sehr ist damit zu rechnen, dass in den Evangelien Spielarten jüdischer Praxis reflektiert sind. Des Weiteren haben die Sabbatperikopen ein überlieferungs- und redaktionsgeschichtliches Wachstum durchlaufen, so dass die unterschiedlichen Umstände der Zeit Jesu, der mündlichen und möglicherweise schriftlichen Tradition sowie der Evangelisten und ihrer impliziten Leseroder Hörer/innen/schaft berücksichtigt werden müssen. Diese Hinweise müssen hier genügen, sollen aber davor bewahren, allzu unmittelbar Schlüsse von einem Textkorpus auf das andere zu ziehen.
2. Aspekte von Sabbathalacha und -praxis Ein Charakteristikum der Sabbattexte in den Evangelien ist die Herausstellung eines Konflikts zwischen Jesus und seinen Gesprächspartnern. Zwar finden wir im Markusevangelium und seinen Parallelen auch konfliktfreie Bemerkungen über Jesu Besuch einer Synagoge am Sabbat und sogar gelegentlich einer Heilung bzw. eines Exorzismus am Sabbat.15 In diesen – überwiegend ursprünglich markinisch-redaktionellen – Notizen wird Jesus als ein galiläischer Jude präsentiert, der am Sabbat zur Synagoge geht, ohne dass sein auch an diesem Tag praktiziertes therapeutisches oder exorzistisches Handeln Widerspruch hervorriefe. Doch die meisten – und wirkungsgeschichtlich folgenreichsten – Sabbattexte gehören formgeschichtlich entweder zu den Streitgesprächen (bzw. in Robert
158–188. Allerdings sollten rechtshermeneutische Gemeinsamkeiten im Ansatz der Halacha nicht übersehen werden. 13 Dazu s.o., Anm. 4. 14 So Mk 2,24.26; 3,4; Mt 12,2.10.12. 15 Siehe den Exorzismus in der Synagoge von Kafarnaum (Mk 1,21–28 par.), die Heilung der Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29ff. parr.) oder Jesu Besuch in seiner Heimatstadt (Mk 6,1–6a parr.).
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Tannehills Terminologie: objection stories)16 oder stellen eine Verbindung von Streitgespräch und Wundergeschichte dar, deren Entstehung im Einzelnen unterschiedlich zu bewerten ist.17 In diesen Perikopen wird um die Bewertung von Handlungen gerungen, die unter dem Aspekt zeitgenössischer Sabbathalacha, also der normativen Sabbatgesetzgebung jüdischer Gruppen im ersten Jahrhundert, relevant sind. Die Texte aus Qumran werfen auf diese Fragen ihr eigenes Licht und tragen bei zu einem differenzierten Bild jüdischer Sabbathalacha während der zwei Jahrhunderte vor der Zerstörung des Zweiten Tempels. 2.1 Ährenraufen Nach Mk 2,23–24 nehmen „die Pharisäer“ Anstoß an einem bestimmten Verhalten der Jünger Jesu am Sabbat: (Mk 2,23) !"# $%&'()* "+),' $' )*-. /011"/2' 3"4"3*4(5(/6"2 728 )9' /3*4:;3+;F1 J.;M91#> O1'%A"+- 81 *.MM93N Q1. ;F J:'R S 1T;+- @AB*DA-, 8;+/ H+JU3# I3> IJ+1 O1'%A"+1 E7>C 8"+&(*. 81 *.MM93N; (24) ;F $%&1#3# $.3K VW>1, !JJ? 3F1 =>$.&.1 $%&*>1 $%&1#3#. (21) Jesus antwortete und sprach zu ihnen: „Ein Werk habe ich getan, und ihr wundert euch alle. (22) Daher hat Mose euch die Beschneidung gegeben – nicht, dass sie von Mose ist, sondern von den Vätern – und am Sabbat beschneidet ihr einen Menschen. (23) Wenn der Mensch die Beschneidung am Sabbat empfängt, so dass nicht das Gesetz des Mose aufgelöst werde, (was) zürnt ihr mir, dass ich den ganzen Menschen am Sabbat gesund gemacht habe? (24) Richtet nicht nach dem Anschein, sondern richtet mit rechter Entscheidung.“
Zu diesem Argument gibt es enge Sachparallelen in der tannaitischen Literatur. In tShab 15 [16],16 finden wir: R. Eliezer sagt: „Weshalb verdrängt die Beschneidung den Sabbat? Weil man der KaretStrafe schuldig wird, (wenn man sie) nach der (vorgeschriebenen) Zeit (vollzieht). Und verhalten sich die Dinge nicht wie Leichteres und Schwereres: Wenn eines seiner Glieder den Sabbat verdrängt, sollte er als ganzer ( !!"# !) nicht den Sabbat verdrängen?“
Und MekhY Shabbeta 1 (zu Ex 31,13) [340 Horovitz / Rabin] hat Folgendes: R. Eleazar ben Azarja antwortete und sprach: „Wenn die Beschneidung, die doch nur eines der Glieder des Menschen (betrifft), den Sabbat verdrängt, (gilt der Schluss) vom Leichteren auf das Schwerere für den Rest seines ganzen Körpers (!"!# $% &'($).“
Der R. Eliezer zugeschriebene Ausspruch macht deutlich, worin die Vergleichbarkeit der beiden Handlungen besteht: Die Beschneidung kann wegen der drohenden Karet-Strafe (früher, kinderloser Tod) nicht aufgeschoben werden, und für die Lebensrettung (so ist impliziert) gilt dasselbe aufgrund der unmittelbaren Gefahr. Beide Handlungen sind daher in diesem Sinne „Rettung“ eines Menschen.48 Der johanneische Text formuliert das etwas anders, aber mit dem Hinweis auf die Nichtauflösung des Gesetzes des Mose ist auch die Unaufschiebbarkeit der Beschneidung ausgedrückt. Alle drei Texte schließen von der Handlung an einem Körperteil auf eine (schwerer wiegende) Handlung am ganzen Menschen – doch während die tannaitischen Texte diese Handlung als Rettung aus 48
SHEMESH, History, 486, hat jetzt darauf hingewiesen, dass die genannten Argumente keine echten Qal wa-Chomer-Argumente sind, da in dem von R. Eliezer vertretenen apotropäischen Verständnis der Beschneidung diese den ganzen Neugeborenen rettet, nicht nur das eine Glied. Shemesh zufolge handelt es sich um ein Binyan Av-Argument in der Form eines Qal wa-Chomer.
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Lebensgefahr (so der Kontext in der Mekhilta) bzw. bei Verdacht auf Lebensgefahr (so die Passage in der Tosefta) verstehen, bezieht sie der johanneische Jesus auf Heilung am Sabbat. Die sachliche Nähe des johanneischen Logions zu Mk 3,4 ist besonders eindrücklich. Wie bei Mk 3,4 so ist auch bei Joh 7,21–23 die mit den tannaitischen Texten gemeinsame propositio beachtenswert: Beschneidung verdrängt den Sabbat. Vergleichbares findet sich nicht in den Texten aus Qumran und dem Jubiläenbuch. Letzteres schärft ein, dass ein Knabe am achten Tag zu beschneiden ist und fügt, wie die Septuaginta und der Samaritanische Pentateuch, die Worte „am achten Tag“ in die Paraphrase des Beschneidungsgebots Gen 17,14 ein: „Das Männliche, das nicht beschnitten worden ist – das Fleisch, dessen Vorhaut nicht am achten Tag beschnitten worden ist – dieser Mensch soll ausgerissen werden aus seinem Volk, weil er meinen Bund gebrochen hat“ (Jub 15,14). Jub 15,26 bestätigt, dass der, „dessen Fleisch nicht bis zum achten Tag beschnitten ist“, nicht zum Bundesvolk gehört. Dies markiert den Unterschied zwischen Ismael und Isaak: Nur den Letzteren beschneidet Abraham, „als er acht Tage alt war“, und macht ihn so zum „Ersten, der beschnitten wurde gemäß des Bundes, der für immer angeordnet wurde“ (Jub 16,14). Wir finden jedoch keine ausdrückliche Abgleichung dieser Erfordernis mit dem Sabbatgebot: Was passiert, wenn der achte Tag nach der Geburt auf einen Sabbat fällt?49 Vorausgesetzt, die äthiopische Wendung gibt den zugrundeliegenden hebräischen Ausdruck zutreffend wieder, könnte jedoch in der oben genannten Spezifizierung der Zeit der Beschneidung „bis zum achten Tag“ (’eska samun ‘elat; 15,26) ein gewisser Spielraum liegen: dass die Beschneidung auch früher vorgenommen werden kann, wenn sie mit einem Sabbat koinzidieren würde.50 Aharon Shemesh hat vorgeschlagen, eine derartige Regelung in einem der Rule Texts von Qumran zu lesen. In 4Q251 (4QHalakhah A) 1–2 7 heißt es: 49
Dies stellt ein Problem dar für die nachdrückliche, im Ansatz zweifellos richtige Betonung des achten Tags als Zeichen einer bundesrelevanten Beschneidung im Jubiläenbuch, womit de facto „Konversion“ ausgeschlossen ist, bei M. T HIESSEN, Contesting Conversion: Genealogy, Circumcision, and Identity in Ancient Judaism and Christianity, Oxford 2011, 67–86. Der folgende Hinweis ist ein erster Ansatz zu einer weiterführenden Antwort. 50 Vgl. auch M. SEGAL, The Book of Jubilees: Rewritten Bible, Redaction, Ideology and Theology (JSJ.S 117), Leiden 2007, 232–236: Jub 2,25 („keine ‚Beschneidung‘ der Tage und kein Überschreiten [ta‘adewo] eines der Tage aus den acht Tagen“) hat v.a. die Beschneidung nach, nicht vor dem achten Tag im Blick. Segal schlägt vor, dass das hier im Äthiopischen mit „Beschneidung“ wiedergegebene Wort im Hebräischen !"#$ „Vollendung“ war, so dass die fortdauernde Gültigkeit des Gebots angesprochen wäre und nicht etwa ein Auslassen eines Tages, wie andere Autoren behauptet haben (s. die Diskussion bei Segal).
50
Lutz Doering [ ]!" !#$ %##& '[!]!" [
…
(7)
Shemesh möchte das letzte Wort [!"#]!" „seine Vorhaut“ ergänzen und rekonstruiert die gesamte Zeile: #$$% &[']#( [)'*# +($% &'#( ,)'# !$- !./ ).'] [!"#]!" !$( „[Und alles Männliche, das am Sabbattag geboren ist – man beschneide] am sechsten T[a]g das Fleisch [seiner] Vor[haut]“. Der sechste Tag wäre hier der sechste Tag der Woche, also Freitag. Wenn diese Rekonstruktion zuträfe, hätte man einen expliziten Beleg dafür, dass einem Text aus Qumran zufolge Beschneidung nicht den Sabbat verdrängt.51 Eine gewisse Unsicherheit bleibt hier jedoch: Die Herausgeber des Texts, Lawrence Schiffman und Erik Larson, sowie der Verfasser in einem früheren Beitrag, geben einer Rekonstruktion des letzten Worts als [!"]!" (oder mit Suffix: [!"!]!") den Vorzug und beziehen – unter Aufnahme von mündlichen Hinweisen von Joseph Baumgarten – diese Wendung auf eine rituelle Reinigung am Freitag, wie sie auch in 4Q512 IV (Frg. 33+35) 1–5 bezeugt ist.52 Ähnliche Schlüsse von der Rettung auf die Heilung wie in Mk 3,4 und Joh 7,21ff. finden sich bei Matthäus und Lukas. Hier handelt es sich um die Rettung von Tieren aus bedrohlichen Situationen. Mt 12,11f. fügt als Antwort auf die Pharisäerfrage, „Ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen?“ (!" #$!%&'( &)*+ %,--.%'( /!0.1!2%.';), die folgende Antwort Jesu ein: (11) 3 45 !61!( .7&)*+· &8+ #%&.' 9$ :;1)+ ?+ @$!' 10A-.&)( B( C.D 9E( 9;1F%G &)2&) &)*+ %,--.%'( !"+ -A/H()(, )7ID C0.&J%!' .7&K C.D 9L!0!*; (12) 1A%M )N( 4'.OF0!' =(/0>1)+ 10)-,&)H. P%&! #$!%&'( &)*+ %,--.%'( C.Q+ U(.%1,%!' .7&K( 9( V;F0W &)2 %.--,&)H; (5) Und er sprach zu ihnen: Wer von euch wird nicht seinen Sohn oder Ochsen, der in einen Brunnen fällt, sogleich heraufziehen am Tag des Sabbats?
51
A. SHEMESH, 4Q251: Midrash Mishpatim, DSD 12 (2005) 280–302: 298.301f. L.H. SCHIFFMAN/E. L ARSON, 4Q251. Halakha A, in: J. M. Baumgarten u.a., Qumran Cave 4. XXV: Halakhic Texts (DJD 35), Oxford 1999, 25–51: 28–31 (erwägen und diskutieren allerdings auch die Lesung [!"#]!"); D OERING, Schabbat, 238ff. 52
51
Jesus und der Sabbat im Licht der Qumrantexte
Es ist umstritten, ob dieses Logion aus Q stammt; meines Erachtens ist gemeinsame mündliche Überlieferung wahrscheinlicher, vor allem, da es sehr gut möglich ist, dass hinter beiden Varianten eine aramäische Tradition steht (dazu mehr im Anschluss). Dabei halte ich das argumentum a pari bei Lukas für sekundär, da es Rettung von Mensch und Tier vermengt und erkennbar einen gewichtigeren Aspekt (Menschenleben) in die Diskussion einführt.53 Wiederum belegen die Rule Texts von Qumran eine abweichende Position. Sowohl die Damaskusschrift als auch Miscellaneous Rules untersagen Hilfe für ein Stück Vieh, das am Sabbat in ein Wasserloch oder dergleichen fällt. CD-A 11,13b–14a: !"# $% $?2$(· @2)/4'#.5, A/."#)+ @B1( #; ".--,#C ): 0=$' #D( -)E( .:#)E F #D( G()( 32D #H+ I,#(7+ /.> 32.J.JK( 2)#5L$'; (16) #.=#7( 89 6MJ.#N4. O-4.PB )Q".(, R( %87"$( < ".#.(S+ T8)U 8N/. /.> V/#K%#7, ):/ %8$' 0M6H(.' 32D #)E 8$"B)E #)=#)M #W XBN4Y #)E ".--,#)M; (15) Der Herr aber antwortete ihm (sc. dem Archisynagogos) und sprach: „Heuchler! Löst nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe und führt (sie) zur Tränke? (16) Musste nicht diese, die doch eine Tochter Abrahams ist und die der Satan bereits 18 Jahre gebunden hatte, von dieser Fessel am Tag des Sabbats befreit werden?“
Die Texte von Qumran sind einerseits aufschlussreich für den Umgang mit der Notwendigkeit, Vieh am Sabbat weiden zu lassen. Während das Jubiläenbuch offenbar jedes Gehen eines Wegs außerhalb der Siedlung untersagt (Jub 50,12), kennen die Rule Texts von Qumran einen normalen Sabbatweg von 1000 Ellen und einen solchen von 2000 Ellen für das Weiden von Vieh (CD-A 10,21; 11,5b–6a; 4Q265 7 5). CD-A 11,5b–7a gibt noch weitere Vorschriften zum Umgang mit Vieh: !" #$!%& '#( )*#%$+ )&),) $(- .!- !!" !#
…
(5)
!" #$%&"' ()$*(+ $,- )" !%- +" !"#$ %&'(# %# (6) !"#$% &'#(!# )' '! ! "##$% (7) (5)
… Niemand gehe hinter dem Vieh her, es zu weiden außerhalb seiner Stadt, (6) außer zweitausend Ellen. Man erhebe nicht seine Hand, es zu schlagen mit der Faust; und wenn (7) es störrisch ist, hole man es nicht aus seinem Haus.
54
Lutz Doering
In der Erweiterung des Sabbatwegs zum Zweck des Weidens ist den Bedürfnissen der Tiere Rechnung getragen. Die angeschlossenen Vorschriften konzentrieren sich jedoch darauf, keinen Zwang auf das Tier auszuüben. Hier kommt vermutlich ein Versuch zum Vorschein, der in Ex 20,10 und Dtn 5,14 vorgeschriebenen Sabbatruhe des Viehs nachzukommen (vgl. Jub 50,12: kein Schlagen eines Tiers). Das schließt auch ein, dass man beim Weiden hinter dem Tier hergeht. Dies nun steht in Kontrast zur Formulierung in Lk 13,15, wo vom Führen (!"#$%&') die Rede ist. Auf der anderen Seite lassen die Qumrantexte die Frage nach dem Losbinden von Vieh, die entscheidend für die Argumentation bei Lukas ist, offen. Wir wissen nicht, ob die Damaskusschrift voraussetzt, dass Tiere im Stall grundsätzlich nicht angebunden waren. Wenn nicht, wäre das Lösen von Knoten im Trägermilieu der Damaskusschrift nicht eigens problematisiert worden, doch das muss unsicher bleiben. Nach der Mischna hingegen gehört das Lösen von Knoten zu den 39 verbotenen Hauptarbeiten (mShab 7,2: !"#$%). Das Argument bei Lukas weiß von solch einem Verbot nichts. Erneut wird von der Hilfe für Tiere auf die Erlaubtheit des Heilens geschlossen, hier vermittelst eines doppelten Verständnisses von „Lösen“. Zum dritten stellt sich die Frage, ob die Qumrantexte etwas zum Kontext der hier bezeichneten Hilfe für die Tiere, nämlich dem zugestandenen Tränken, beitragen. Das ist unklar. Der spätere Bavli untersagt freilich, dem Vieh Wasser direkt hinzuhalten, lässt jedoch das Trinken von ausgeschüttetem Wasser zu (bEr 20b–21a). In den Rule Texts von Qumran und bereits im Jubiläenbuch ist deutlich das Schöpfen von Wasser am Sabbat verboten (Jub 2,29; 50,8; CD-A 11,1f.; 4Q421 11 3). Die Tannaiten differenzieren hier: Im privaten Bereich ist Schöpfen erlaubt, im öffentlichen verboten; ein öffentlicher Brunnen kann durch Umzäunung zu einem privaten Bereich werden, so dass aus ihm geschöpft werden darf (mEr 2,1). Unter den Qumrantexten scheint ein weiterer – 4Q251 1–2 3–4 – zu verbieten, Wasser aus einer Zisterne „zu ziehen“. Damit kann das Weiterleiten von Wasser gemeint sein, etwa auch solchen Wassers, mit dem man Vieh tränkt („Vieh“ findet sich unmittelbar vor dieser Bestimmung).60 Keinerlei Angaben finden wir aber über eine Tränke, die bereits vor Sabbat gefüllt worden wäre.
60
Vgl. D OERING, Schabbat, 235–236; und SHEMESH, 4Q251, 298.300f., der den Text wie folgt rekonstruiert !"# #$"]%#&"' !!'[ ($'# )*"$"&] (4) +*$% )"% ,*'%-* „und Wasser zu leiten aus einer Zisterne (4) [am Sabbattag, denn] das Leiten ist Schö[pfen“.
Jesus und der Sabbat im Licht der Qumrantexte
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2.3 Weitere halachische Probleme: Priesterdienste, Tragen Zu zwei weiteren halachischen Fragen werfen die Texte aus Qumran ein Licht auf Sabbattexte in den Evangelien: zur Erlaubnis von Priesterdiensten am Sabbat in Mt 12 und hinsichtlich des Trageverbots, wie es in Joh 5 zur Sprache kommt. In Mt 12,5f. wird die sabbatverdrängende Wirkung des Priesterdienstes folgendermaßen reflektiert: (5) ! "#$ %&'(&)*+ ,& *- &./0 1*2 *"34 5677852& "9 9+:+34 ,& *- 9+:- *; 56778*"& 7+7" (Jer 17,21 LXX). Das hier gebrauchte Verb (J4->" steht häufig für !"#,72 was in Jer 17,21.27 das Tragen im Freien bezeichnet. Genau dasselbe Verb wird nun auch in einem Text aus Qumran gebraucht – 4Q265 6 7 im Zusammenhang mit dem Verbot, ein Gerät zur Lebensrettung zu tragen: !"#$ !"# !" (s.o.). Zwar wird !"# in CD–A 11,11b auch im Zusammenhang des Herein- und Heraustragens eines Säuglings verwendet, doch ist es dort zum einen Bestandteil eines wörtlichen Zitats von Num 11,12b, zum andern ist es durch die Wendung !"#$" !"#$ „herauszugehen oder hineinzukommen“ deutlich im Sinne des Tragens zwischen Bereichen qualifiziert. Dies scheint in Joh 5 nicht der Fall zu sein, und so dürfte der zum Ausdruck gebrachte Anstoß sich in erster Linie auf das Tragen der Liege im „öffentlichen Bereich“ selbst beziehen.73 69 Vgl. tShab 15 [16],16; auch MekhY Shabbeta 1 [zu Ex 31,13; 340f. Horovitz/Rabin] (im Namen von R. Aqiba:); MekhSh Mishpatim [zu Ex 21,14; 171 Epstein/Melamed] (im Namen von R. Jose); vgl. bShab 132b. 70 Vgl. CD-A 11,7ff.; 4Q251 1–2 4; 4Q265 6 4; ferner Ge‘ez bo’a kausativ (Jub 2,20f.) und wa ’a kausativ (Jub 2,29f.; 50,8). Vgl. CD-A 11,9 !"#$" !"#$, s.u. 71 Vgl. mShab 1,1; tShab 1,3. 72 So z.B. Gen 43,34; 45,23; Ex 25,14. 73 Damit soll nicht in Abrede gestellt sein, dass Tragen im Freien und Tragen von einem Bereich zum anderen verwandte Tätigkeiten sind. Insoweit ist der Kritik an der hier vorgetragenen Differenzierung bei D. FELSCH, Die Feste im Johannesevangelium
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3. Sabbatfeier und Sabbatdeutung Nach den synoptischen Evangelien besuchte Jesus am Sabbat die Synagoge;74 nach Lk 4,16–20 nimmt er an einem Sabbatgottesdienst in Nazaret teil, in dem aus dem Propheten Jesaja vorgelesen wird. Dabei gilt allerdings nach Michael Wolter: „Die Einbeziehung auch von Prophetentexten in diese Praxis ist vor Lk 4,16–20 nirgends belegt.“75 Die Qumrantexte werfen ein buntes und zugleich undeutliches Licht auf diese Zusammenhänge. Zum einen bezeugen sie die Praxis von Gebetsgottesdiensten in dem in CD-A 11,22 genannten !"#!$% !&' „Bethaus“. Wie Annette Steudel vorgeschlagen hat, handelt es sich bei diesen um liturgisch gestaltete Gottesdienste und nicht um die etwa bei Philon und Josephus für den Sabbat bezeugten Studienversammlungen:76 !"#!$% meint die Prostration, und sowohl die auf das Eintreten in das „Bethaus“ bezogene Reinheits-Erfordernis als auch die Erwähnung von „Trompeten“ (!"#$"$%) in CD-A 11,22 legt eine Analogie mit dem Tempel-Gottesdienst nahe, so dass man beim !"#!$% !"# geradezu von einem „Duplikat des Tempels“ sprechen kann.77 Nach 4Q174 1 I 7 werden in dem für Gott zu bauenden „Tempel von Menschen“ bzw. „Adams“ (!"# !"#$) „Taten des Danks“ ( !"#$ !"#$) als Rauchopfer dargebracht. Auch dabei ist mindestens unter anderem an Gebetshandlungen zu denken.78 Dass solche Gottesdienste und (WUNT II/209), Tübingen 2011, 72f. Anm. 77, Recht zu geben. Das lässt sich auch an der Verbindung beider Aspekte in Jer 17,21–27, einem der exegetischen Gewährstexte für die Trageverbote zeigen: Während Jer 17,21.24.27 sich auf das Tragen von „Lasten“ durch die Tore Jerusalems und damit auf das Tragen im Freien bezieht (wobei spätere Halacha keinen Unterschied macht zwischen dem Bereich außerhalb der Stadt und dem „öffentliche“ Bereich innerhalb der Stadt), untersagt 17,22 spezifisch das Heraustragen aus „euren Häusern“. Dazu vgl. jetzt detailliert A. JASSEN, Law and Exegesis in the Dead Sea Scrolls: The Sabbath Carrying Prohibition in Comparative Perspective, L.H. Schiffman/S. Tzoref (Hg.), The Dead Sea Scrolls at 60: Scholarly Contributions of New York University Faculty and Alumni (STDJ 89), Leiden 2010, 115–156 (zu Joh 5,9f. vgl. knapp 153 Anm. 93). Gleichwohl macht es Sinn, die Handlungen des Heraustragens aus dem Privatbereich und des Tragens im Freien zu unterscheiden, wie das entsprechend auch die rabbinische Halacha tut, und die in Joh 5,9f. vorausgesetzte Situation halachisch einzuordnen. 74 S.o., Anm. 15. 75 M. W OLTER, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 191. 76 Zu diesen vgl. Philon, Prob 81f. (Essäer), Hypoth 7,12f. (ägyptische Juden), Contempl 30 (Therapeuten); Josephus, Bell 2,289 (Caesarea); Vita 275.277 (Tiberias); Ap 2,175. 77 A. STEUDEL, The Houses of Prostration CD XI, 21-XII, 1 – Duplicates of the Temple, RdQ 16/61 (1993) 49–68. Allerdings erwägen andere Forscher/innen auch eine Identifikation des „Bethauses“ als Tempel oder Synagoge, vgl. H EMPEL, Laws, 153ff. 78 Zu meinem Verständnis dieses Textes s. L. D OERING, Urzeit-Endzeit Correlation in the Dead Sea Scrolls and Pseudepigrapha, in: H.-J. Eckstein/C. Landmesser/H.
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Gebete auch am Sabbat stattfanden, ist anzunehmen,79 wird aber in beiden Texten nicht direkt erwähnt. Gleichwohl liegt es sachlich nahe, die sogleich noch zu besprechende Gebetsliteratur für den Sabbat mindestens zum Teil mit solchen Aktivitäten in Verbindung zu bringen. Zum andern spricht ein weiterer Text (kombiniert aus 4Q264a 1 4–5 und 4Q421 13+2+8 2–3) eine Bestimmung zum Umgang mit Büchern am Sabbat aus, die sehr bruchstückhaft ist und unterschiedlich interpretiert worden ist.80 In ihrem zweiten Teil scheint sie das Lesen und Studieren von Schriften zuzugestehen, offenbar in der Versammlung der Gemeinde. Ob diese Aktivitäten jedoch in den sabbatlichen Gebetsgottesdiensten stattfinden, muss offen bleiben. Es gibt keinen anderen Hinweis in Qumrantexten, dass in diesen Gottesdiensten die Schrift verlesen worden wäre. Für den ersten Teil der genannten Vorschrift schlagen jetzt Vered Noam und Elisha Qimron vor, ein Verbot privaten Lesens einer Schriftrolle am Sabbat anzunehmen, dem im zweiten Teil die Erlaubnis öffentlichen Lesens und Studierens gegenübergestellt wird. Der Befund ist äußerst fragmentarisch, und Noam und Qimron müssen Wesentliches für dieses Verständnis in ihre Rekonstruktion eintragen.81 Was wissen wir über sabbatbezogene Gebetsliteratur aus den Qumranfunden? Wie Daniel Falk gezeigt hat,82 ist ein vierfacher Befund hier relevant: zunächst (1) der Hinweis auf 52 Kompositionen Davids für Sabbate in der bereits erwähnten Passage 11QPsa 27,5ff. (11QCompositions of David); dann (2) die Sammlung der Sabbatbrandopfer-Lieder (ShirShab) mit acht Handschriften aus Höhle 4 und je einer weiteren aus Höhle 11 und von Masada; ferner zwei Sammlungen von Gebeten für jeden Tag, die auch Sabbat-Gebete enthalten, nämlich (3) Daily Prayers (4Q503) und schließlich (4) Word of the Luminaries (4Q504–506). Zu den Letzteren hatte bereits Esther Chazon angemerkt, dass das in ihnen
Lichtenberger (Hg.), Eschatologie – Eschatology: The Sixth Durham-Tübingen Research Symposium: Eschatology in Old Testament, Ancient Judasim and Early Christianity (Tübingen, September, 2009) (WUNT I/272), Tübingen 2011, 19–58: 44ff. 79 So STEUDEL, Houses, 58f.: „Therefore we should suggest that the using of the … !"#!$% !"# included the Sabbath as a recurrent day of prayer services.“ 80 Frühe Versuche bei D OERING, Schabbat, 246ff., und E.J.C. T IGCHELAAR, Sabbath Halakha and Worship in 4QWays of Righteousness: 4Q421 11 and 13 + 2 + 8 par 4Q264a 1–2, RdQ 18/71 (1998) 359–372: 368–369. 81 N OAM/Q IMRON, A Qumran Composition of Sabbath Laws, 80–88. Die Diskussion dort gründet in großem Maß auf der Interpretation schwieriger rabbinischer Passagen zum Thema, v.a. mShab 16,1. 82 D.K. FALK, Daily, Sabbath, and Festival Prayers in the Dead Sea Scrolls (STDJ 27), Leiden 1998, 125–154.
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enthaltene Sabbatgebet auf Lobpreis, nicht Bitte, gestimmt ist.83 Nach Ansicht Falks wurden die Shirot Olat ha-Shabbat als irdische Begleitung zur himmlischen Liturgie der Engel verwendet, in die die irdische Gemeinschaft einstimmt.84 Hier lassen sich Elemente der Qedusha wahrnehmen, die darauf hindeuten, dass, selbst wenn die Shirot vom Jachad verfasst wurden (das Pendel schlägt gegenwärtig wieder in diese Richtung),85 sie dennoch an weiterer Tradition teilhaben, als deren ursprünglicher Erfahrungsbereich der Tempel-Gottesdienst gelten kann. Auch im Jubiläenbuch erfährt Israel Gemeinschaft mit Gott und den beiden höheren Klassen von Engeln am Sabbat. In Jub 50,9 wird der Sabbat als ‘elata mange!t qeddest für ganz Israel bezeichnet, was entweder mit „Tag des heiligen Königreichs“ oder mit „heiliger Tag des Königreichs“ übersetzt werden kann. Dieser Aspekt leitet sich wahrscheinlich von der Gemeinschaft mit Gott und höheren Engeln am Sabbat ab und ist hier nicht eschatologisch konnotiert. Auch für Jesus, wie ihn die Evangelien darstellen, darf man annehmen, dass die Tradition der Gemeinschaft mit Gott gerade am Sabbat eine wichtige Rolle spielt, wenn auch nicht im Rahmen der vom Jubiläenbuch vertretenen Exklusivität der Sabbatbeobachtung und Gottesbeziehung Israels. Dabei ist zu überlegen, ob der Sabbat nicht für Jesus ein Tag ist, der dem Wesen der Königsherrschaft Gottes in besonderer Weise entspricht, nun allerdings in eschatologisch gefüllter Interpretation: ein Tag, an dem Gott dem Menschen besonders nahe ist und die Wohltat des Ruhetages in Wiederaufnahme der urzeitlichen Zuordnung des Sabbats zum Menschen wieder erfahrbar werden lässt. In einer solchen Deutung des Sabbats wäre dann ein – wenn nicht gar der entscheidende – Grund für Jesu Vollzug von Heilungen an nicht lebensgefährlich Erkrankten zu sehen.
83 E.G. C HAZON, On the Special Character of Sabbath Prayer: New Data from Qumran, Journal of Jewish Music and Liturgy 15 (1992/3), 1–21. 84 Vgl. FALK, Prayers, 134–138. 85 Vgl. z.B. H. R IETZ, Identifying Compositions and Traditions of the Qumran Community: The Songs of the Sabbath Sacrifice as a Test Case, in: M.T. Davis/B.A. Strawn (Hg.), Qumran Studies: New Approaches, New Questions, Grand Rapids, Mich., 2007, 29–52; B.A. STRAWN mit H. R IETZ, (More) Sectarian Terminology in the Songs of the Sabbath Sacrifice: The Case of !"# !"!"#, a.a.O., 53–64.
!
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Jesus’ Eschatology in the Light of the Texts from Qumran ALBERT L.A. HOGETERP 1. Introduction My essay highlights themes in Jesus’ message according to the canonical Gospels which may be characterized as eschatological or comprise an important component of eschatological orientation. The canonical Gospels, in particular the Synoptic Gospels, are the focus of my study of Jesus’ eschatology, since they are generally dated relatively early as compared to extra-canonical Gospels and the Synoptic Gospels are usually dated earlier than the Gospel of John. What is more, the canonical Gospels comprise narrative frameworks, which situate the early Jesus-movement in various ways in first-century C.E. Israel and depict Jesus as conversant with other Jews in various ways. Comparison with the Jewish evidence of the Dead Sea Scrolls may thereby constitute not just a background issue, but contribute to an historical and exegetical understanding of Jewish eschatological beliefs with which Jesus and the historical milieu of his earliest followers were conversant. It is beyond the scope of this essay to provide a comprehensive survey of all facets of eschatology in the Gospels in comparison with texts from Qumran. However, a number of themes, which may be considered illustrative of Jesus’ eschatology as depicted in the Synoptic Gospels will be discussed here. These concern (a) the question which part eschatology has in sayings of Jesus about the kingdom of God and how Qumran texts illuminate eschatological ideas about the Kingdom; (b) the issue of a perceived tension between realized or inaugurated eschatology and future eschatology in the Gospels and Qumran; and (c) the notion of eschatological reversal with particular attention for eschatologized perspectives of divine concern for the poor. Texts that are illustrative of these themes make the object of further discussion. Before I turn to discussion of eschatology in sayings of Jesus in the light of the Dead Sea Scrolls, some preliminary observations are in place.
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Eschatology has not occupied an undisputed place in historical Jesus scholarship of the last three decades. Several scholars postulated the hypothesis that a non-eschatological, aphoristic Jesus-tradition may arguably be discerned in the earliest layers of the Synoptic sayings source Q.1 This hypothesis is partly related to the composition-historical separation between collections of apocalyptic/eschatological and sapiential sayings in Q as well as to the supposition that wisdom and apocalypticism were entirely distinct trajectories of literary tradition in early Judaism and Christianity. Perceived analogies between sayings gospels as represented in Q and the Gospel of Thomas constitute another explanatory factor which partly accounts for the hypothesis of a non-eschatological Jesus.2 All these explanatory factors are problematic. First, divergent reconstructions of the composition history of Q indicate that, in the words of Christopher Tuckett, composition historical study of Q and the study of the historical Jesus are and should be recognised as ‘two separate enterprises’.3 Even if it could be demonstrated beyond doubt that eschatological sayings were incorporated in a later stage than sapiential sayings, it does not follow that eschatology constitutes early Christian elaboration apart from the milieu of the historical Jesus. Second, the assumption that wisdom and apocalypticism were distinct trajectories of literary tradition is proven wrong by new Qumran evidence, such as that of 4QInstruction, as discussed by Matthew Goff.4 Third, the analogy between Q and Thomas in terms of an aphoristic, non-eschatological Jesus-tradition is unwarranted in view of residual references to eschatological expectations in the Gospel of Thomas (G.Th.
1 E.g. J.D. Crossan, B. Mack, J.M. Robinson, S.J. Patterson; for full discussion see the author’s recent monograph: A.L.A. Hogeterp, Expectations of the End: A Comparative Traditio-Historical Study of Eschatological, Apocalyptic and Messianic Ideas in the Dead Sea Scrolls and the New Testament (STDJ 83; Leiden: Brill 2009), 7–10. 2 Cf. the argument of a timeless dimension in Gos.Thomas by T. Zöckler, “Jesu Lehren im Thomasevangelium”, NHMS 47 (1999): 178–80 as countered by A.L.A. Hogeterp, “The Gospel of Thomas and the Historical Jesus. The Case of Eschatology”, in The Wisdom of Egypt: Jewish, Early Christian, and Gnostic Essays in Honour of Gerard P. Luttikhuizen (ed. A. Hilhorst/G.H. van Kooten; AGJU/AJEC 59; Leiden: Brill, 2005), 381–396. 3 C.M. Tuckett, “Q and the Historical Jesus”, in Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung (ed. J. Schröter/R. Brucker; BZNW 114; Berlin: De Gruyter, 2002), 213–41. 4 M.J. Goff, “Discerning Trajectories: 4QInstruction and the Sapiential Background of the Sayings Source of Q”, JBL 124 (2005): 657–673.
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3, 18, 37, 51, 113), including resurrection and eternal life in sayings of Jesus.5 The discussion about the Synoptic Sayings source Q thereby does not provide a conclusive or legitimate excision tool for eschatological sayings. The eschatology of Jesus may effectively be considered an integral part of historical Jesus studies that focus on the Synoptic Gospels. A second area of preliminary consideration concerns the changed circumstances of Qumran scholarship since the mid-1990s which impact the study of ‘Jesus’ eschatology in the light of the texts from Qumran’. An article on ‘The Qumran Sectarian Writings’ by Jonathan Campbell in the third volume of the Cambridge History of Judaism, published in 1999, is illustrative of the perception that the influential Essene hypothesis should accomodate a new situation constituted by a great wealth of newly published texts whose affiliation is not necessarily sectarian or Essene.6 Various texts, preliminarily categorized in a survey article by Devorah Dimant of 1995, lack distinctive Qumran community terminology or themes of theology, such as determinism and dualism which are attested in longer known Qumran sectarian writings.7 Recent platforms of discussion on distinctions between sectarian and non-sectarian Qumran texts have been provided in articles by Armin Lange and Charlotte Hempel in Qumran kontrovers and in articles by Dimant and Zanella in a recent issue of the Revue de Qumran.8 The discussion about sectarian and non-sectarian texts effects comparative study of Jesus’ eschatology in the light of the texts from Qumran, in that Qumran literature can no longer be studied in isolation as a library authored by the Qumran community. From a traditio-historical 5
A distinction should further be kept in mind between an early edition of the Gospel of Thomas as possibly witnessed by Greek fragments (P.Oxy. 1, 654, 655) and the complete text of the Coptic codex in a later, more Gnosticised context. 6 J.G. Campbell, “The Qumran Sectarian Writings”, in The Cambridge History of Judaism. Vol. III: The Early Roman Period (ed. W. Horbury/W.D. Davies/J. Sturdy; Cambridge: Cambridge University Press, 1999), 798–821. 7 D. Dimant, “The Qumran Manuscripts: Contents and Significance” in Time to Prepare the Way in the Wilderness (ed. D. Dimant/L.H. Schiffman; STDJ 16; Leiden: Brill, 1995), 23–58. 8 A. Lange, “Kriterien essenischer Texte”, in Qumran kontrovers. Beiträge zu den Textfunden vom Toten Meer (ed. J. Frey/H. Stegemann; Einblicke 6; Paderborn: Bonifatius, 2003), 59–69; C. Hempel, “Kriterien zur Bestimmung ‘essenischer Verfasserschaft’ von Qumrantexten”, in Qumran kontrovers. Beiträge zu den Textfunden vom Toten Meer (ed. J. Frey/H. Stegemann; Einblicke 6; Paderborn: Bonifatius, 2003), 71–85; D. Dimant, “Sectarian and Non-Sectarian Texts from Qumran: The Pertinence and Usage of a Taxonomy“, RdQ 24 (2009): 7–18 and F. Zanella, “‘Sectarian’ and ‘NonSectarian’ Texts: A Possible Semantic Approach”, RdQ 24 (2009): 19–34.
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point of view, the differentiation of sectarian and non-sectarian Qumran texts provides the challenge and opportunity to hypothesise not only about gaps between the thought world of the Qumran community and surrounding Jewish society but also about possible points of intersection with broader strands of Early Judaism. Comparative study of eschatology may provide a more substantial case for putting Jesus’ eschatology in relief.
2. The Kingdom of God and Eschatology in the Light of the Texts of Qumran The kingdom of God is the subject of many parables and sayings of Jesus (e.g. Mark 4:11.26–32, 9:1.47f, 10:14.24f, 12:34, 14:25, 15:43; Q 6:20, 11:20; Matt 13:24–30.36–43; Luke 13:28–30, 17:20f).9 The Kingdom is a polyvalent symbol which may be interpreted in divergent ways depending on the context, but the Synoptic Gospels yield the impression that the kingdom of God, or in Matthew ‘kingdom of heaven’, is not detached from temporal dimensions. In various cases, starting with for instance Mark 1:14f an explicit sense of time is included in Jesus’ saying about the Kingdom accompanying his proclamation of the gospel: “‘The time is fulfilled, and the kingdom of God is at hand !"# $%&'( )*+ ,-,$./'*"+ 0 !"+/12 !"# 3&&+!-( 4 5"6+$-7" *89 :-89; repent, and believe in the gospel” (Mark 1:15 RSV). According to a passage in the final chapters of Mark, Mark 15:43 the kingdom of God was something to expect and look forward to for ‘Joseph of Arimatea, a member of the council’. It has been argued in previous scholarship that God’s kingdom constituted a ‘familiar theme of Jewish worship’ in biblical tradition, which became incorporated in an early Jewish horizon of eschatological and messianic expectations.10 Contexts of messianism with comparative reference to longer known sectarian Qumran texts have been extensively studied in previous scholarship. However, as a polyvalent symbol, the concept of God’s kingdom has been situated in a broader Jewish ‘context of expectation’.11 It is from the point of view of a broader ‘context of expectation’ that the additional evidence of newly published Qumran texts
9
Cf. J.D.G. Dunn, Jesus Remembered, Christianity in Rapids: Eerdmans, 2003), 383–487 (The Kingdom of remembered as preaching about the kingdom of God and message and mission”. 10 E.g. Dunn, Jesus Remembered, 391–401. 11 Ibid., 396, after having surveyed fourteen factors in God’s kingdom.
the Making, Vol. 1, Grand God) at 387: “Jesus was (...) this was central to his
early Jewish expectation of
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merits further comparative consideration as to interpretation of an eschatological dimension to the Kingdom. For instance, the Qumran text known as 4QTime of Righteousness (4Q215a) fragment 1 column II provides comparative evidence, which is cited below.12 1 II 1-2 [...] ... [...] !"# ![!"] !"#$ !"# !"!#$% !" !"!#$%! !"# !"#$" !"#$ !"#$ 3 [!"#] ![!"#]! !"#$ !"#" !"#$ !" !"# !"# !"[!]!" !"#$# 4 [... !]!"# !" !"#!$ !"# !"#$ !"#$% !"#$ !" !"# 5 [!"# ]!"#$%! !"#[!] !"#$!# !"#$ !"#$# !"#$% !" !" 6 [!"#]! !"# !" !"!!" ![! ...]!"#$% !"#"$%$[!] !" !"#$% 7 [!"#] !"#! !"# [!]!" !"[!" !"!# ]!" !"#$%& !"# !"#" !"#$%& 8 [vacat?] !"#$#%& !"# !"#$ !"#$%# !"#$% !"#$ !"#$%& 9 [...]! !"# !"#$ !!"# {!"#$} !"## !" !"# !"#$#%& 10 [... [!]!"[!]! [!"] !"#$ !"#$" !"#$%$ !"#$ !"#$ !"# !"#$# 11 [...]...[...] 12 1 II 1–2 [...]...[...] 3 and the dread of hardship, and the trial of the pit. And they will refine by them the chosen of justice and he wil wipe out [al]l iniquity 4 on account of his pio[us] ones; for the age of wickedness is fulfilled and all injustice will [pass a]way. [For] 5 the time of justice has arrived, and the earth is filled with knowledge and the praise of God. In the da[ys of ...] 6 the age of peace has arrived, and the laws of truth, and the testimony of justice, to instruct [all] 7 in God’s paths [and] in the mighty acts of his deeds [...f]or eternal centuries. Every t[ongue] 8 will bless him, and every man will bown down before him, [and they will be] of on[e mi]nd. For he [knows] 9 their actions before they were created, and (for) the service of justice he has divided their territories [Blank?] 10 in their generations. For the dominion {of justice} of goodness has arrived, and he will raise the throne of[...] 11 and very high. Intelligence, prudence and sound wisdom are tested by [his] h[o]ly desi[gn ...] 12 [...]...[...]
4QTime of Righteousness includes imagery of God’s royal rule, namely reference to a dominion of goodness and God’s raising of a throne in line 10. The fragment at large implies that, from an eschatological point of view, God’s kingdom or royal rule could be associated with ‘the time of justice’ (l. 5), ‘the age of peace’ with ‘laws of truth and testimony of justice’ (l. 6), and ‘the dominion of goodness’ (p. 10).13 In another Qumran text officially published by É. Puech in 1998, namely 4Q521, imagery of God’s kingdom occurs together with a
12 Text and translation from F. García Martínez/E.J.C. Tigchelaar, The Dead Sea Scrolls Study Edition. Vol. 1 (1Q1–4Q273). Vol. 2 (4Q274–11Q31) (Leiden/Grand Rapids: Brill/Eerdmans, 2000), 456f. 13 Translation from García Martínez/Tigchelaar, DSSSE, 457.
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messianic reference. I have quoted the relevant fragment, 4Q521 2 ii + 4 1–15 below.14 !"#$%& !"#$% !"#$% !"#[!" !" 1 !"#$%& !"#$$ !"#$ !"# !" ![!" !"#] 2 vacat !"#$%$ !"#$ !"#$% !"#$%& 3 !"#" !"#$"%& !" !"#$ !" !"#$% !"#$ !"#$ 4 !"#$ !"# !"#"$%& !"#$ !"#"$% !"#$ !" 5 !"#$ !"#$" !"#$%&$ !"#$ !"!# !"#$% !"# 6 !" !"#$% !"# !" !"#"$% !" !"#$ !" 7 !"#$ !"#$% !"#$ !"#$%& !"#$ 8 ]! !"#$%! !"#$" [!"] !"#$ ![!]!" 9 !"#$% !"# !"#$ !"# ![!"# !]!"# 10 [!"]! !"#$ !"#$ !"#$ !"# !!"# !"#$%" 11 !"#$ !"#$% !"#" !"#$% !"##$ !"#$ !" 12 !"#$ !"#$%& !"#$ !"#$%&[ !"]!"# ![!"#]! 13 [? !"#$]!"# !"#$ [ (?) !"#$]!"# 14 !" 15 1 [for the heav]ens and the earth will listen to his anointed one, 2 [and all th]at is in them will not turn away from the precepts of the holy ones. 3 Strengthen yourselves, you who are seeking the Lord, in his service! Blank 4 Will you not in this encounter the Lord, all those who hope in their heart? 5 For the Lord will consider the pious, and call the righteous by name, 6 and his spirit will hover upon the poor, and he will renew the faithful with his strength. 7 For he will honour the pious upon the throne of an eternal kingdom, 8 freeing prisoners, giving sight to the blind, straightening out the twis[ted.] 9 And for[e]ver shall I cling [to those who h]ope, and in his mercy he will[ ] 10 and the fru[it of] a good [dee]d for humankind will not be delayed. 11 And the Lord will perform marvellous acts such as have not existed, just as he sa[id,] 12 [for] he will heal the badly wounded and will make the dead live, he will proclaim good news to the poor 13 and he will make the [poo]r who[le], lead those who are uprooted and enrich the hungry. 14 And those who have under[standing (?) ] ! and all of them like the ho[ly ones?] 15 And I will[
4Q521 comprises the phrase that God “will honour the pious upon the throne of an eternal kingdom” in line 7.15 The broader context of this fragment indicates that divine consideration for the pious, the righteous, the poor, and the faithful (ll. 5f) is central to the notion of an ‘eternal kingdom’, i.e. God’s kingdom. A sectarian origin of these two Qumran texts, ‘Time of Righteousness’ and the so-called ‘Messianic Apocalypse’, is not beyond dispute in both cases. In view of a lack of sectarian community terminology in both texts, a broader background of composition may be supposed of an Essene parent 14
Text from É. Puech, Qumrân Grotte 4. XVIII: Textes hébreux (4Q521-4Q528, 4Q576-4Q579) (DJD 25; Oxford: Oxford University Press, 1998), 10; translation after García Martínez/Tigchelaar, DSSSE, 1045 plus the author’s cursive English renderings of Puech’s reconstructions of Hebrew text. 15 García Martínez/Tigchelaar, DSSSE, 1045.
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movement with possible intersections with other strands of Judaism. 16 The above-noted associations with God’s kingdom in 4Q215a and 4Q521 may put into relief ideas about the Kingdom in Matthew 7:33 as associated with divine righteousness and in Romans 14:17 as associated with righteousness, peace, and joy in the Holy Spirit.17 Apart from the question which eschatological associations play a part in expectations of the Kingdom in the context of contemporary Judaism, the much-debated question of a perceived eschatological tension merits reconsideration in light of the texts from Qumran.
3. Perceived Eschatological Tension in Jesus’ Sayings about the Kingdom in the Light of the Texts of Qumran The perceived ‘eschatological tension’ in the Synoptic sayings of Jesus about the Kingdom is that between realized or inaugurated eschatology on the one hand and future eschatology on the other. A survey chapter on the theme of the ‘Kingdom of God’ in Dunn’s recent book Jesus Remembered is illustrative of this perceived ‘eschatological tension’. Dunn surveys sayings expressive of ‘the Kingdom to Come’ on the one hand and sayings expressive of ‘the present Kingdom’ on the other.18 Two sayings of Jesus about the Kingdom in the Synoptic Gospels may provide concrete examples, that is Mark 1:14f and Luke 17:20f. The notion that ‘the kingdom of God is at hand’ (RSV), or literally, rendering the present perfect tense !""#$%&, ‘the kingdom of God has drawn near’, in Mark 1:15 implies a notion of imminent expectation which is yet situated in the future. Paradoxically, Dunn’s survey categorises the phrase ‘the time is fulfilled’ in 1:15a among possible evidence for the Kingdom as a present reality. Yet he refers to the phrase ‘the kingdom of God has drawn near’ in
16 Note with regard to 4Q521, recent studies by S. Hultgren, “4Q521, the Second Benediction of the Tefilla, the hasidim and the Development of Royal Messianism”, RdQ 23 (2008): 313–340 with further comparative attention for early rabbinic liturgy, and Hultgren, “4Q521 and Luke’s Magnificat and Benedictus”, in Echoes from the Caves: Qumran and the New Testament (ed. F. García Martínez; STDJ 85; Leiden: Brill, 2009), 119–132. With regard to 4Q215a and its possible Essene origin, cf. Hogeterp, Expectations of the End, 38f. 17 On Rom 14:17, cf. J.A. Fitzmyer, Romans: A New Translation with Introduction and Commentary (AB 33; New York: Doubleday, 1993), 697 who notes that Pauline references to the kingdom of God, such as in Gal 5:21, 1 Cor 6:9f, 15:50, constitute “catechetical summaries that Paul probably inherited from traditional teaching before him”, hence not unrelated to early Jesus-tradition. 18 Dunn, Jesus Remembered, 406–437 and 437–65.
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1:15b among examples of a future dimension to the Kingdom.19 Luke 17:20f includes reference to the kingdom of God as being ‘in the midst of you’, !"#$ %&' ( )*+,-./* 0#1 2.#1 34056 7894 3+0,4 (v. 21). This saying is categorized by Dunn as affirmation that the Kingdom figures as a present reality without denial of ‘future coming’ except for ‘its calculability’.20 The fact that Luke 17:20f further includes the phrase “nor will they say, ‘Lo, here it is!’ or ‘There!’” (RSV) could be reminiscent of Marcan phraseology in the Marcan eschatological discourse, which comprises the phrase “And then if any one says to you ‘Look, here is the Christ!’ or ‘Look, there he is!’ do not believe it” in Mark 13:21. Luke 17:23 further reiterates this issue. Comparable language further occurs in Luke 21:8: “And he said: ‘Take heed that you are not led astray; for many will come in my name, saying, ‘I am he!’ and, ‘The time is at hand!’ Do not go after them” (RSV). The Lucan passage in 17:20f may thereby echo and anticipate on a concern against misguided future expectations surrounding the Kingdom. The exegetical discussion surrounding an ‘eschatological tension’ in sayings about the Kingdom leaves the question how a tension between different temporal dimensions could have been perceived in the milieu of the historical Jesus, that is by the first Jewish hearers of Jesus’ message about the Kingdom. In this regard, a comparison with texts from Qumran may also be instructive, in that Qumran literature constitutes internal Palestinian Jewish evidence which uniquely informs our picture of late Second Temple Judaism contemporary to emerging Christianity. The Qumran text 4QTime of Righteousness, whose date of composition could tentatively be assigned to the second century B.C.E.,21 may provide a particularly illustrative case in point for comparison. In comparison with Mark 1:15, which reads ‘The time is fulfilled and the kingdom of God is at 19
Dunn, Jesus Remembered, 407–409 and 437–439. Dunn, Jesus Remembered, 444. Cf. e.g. J. Nolland, Luke 9:21–18:34 (WBC 35B; Dallas: Word Books, 1993), 854 who argues that “17:20–18:8 concerns itself with the anticipation of the future coming of the kingdom of God”. 21 Cf. E.G. Chazon, “A Case of Mistaken Identity: Testament of Naphtali (4Q215) and Time of Righteousness (4Q215a)”, in The Provo International Conference on the Dead Sea Scrolls. Technological Innovations, New Texts, and Reformulated Issues (ed. D.W. Parry/E. Ulrich; STDJ 30; Leiden: Brill, 1999), 110–123; E.G. Chazon/M.E. Stone, “4QTime of Righteousness (4Q215a, olim 4QTNaphtali): A Preliminary Publication of Fragment 1 II”, in The Provo International Conference on the Dead Sea Scrolls. Technological Innovations, New Texts, and Reformulated Issues (ed. D.W. Parry/E. Ulrich; STDJ 30; Leiden: Brill, 1999), 124f; T. Elgvin, “The Eschatological Hope of 4QTime of Righteousness”, in Wisdom and Apocalypticism in the Dead Sea Scrolls and in the Biblical Tradition (ed. F. García Martínez; BEThL 168; Leuven: Leuven University Press/Peeters, 2003), 89–102 at 100f. 20
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hand; repent and believe in the gospel’, 4QTime of Righteousness also comprises a sense of temporal fulfilment coupled with expectation that all injustice will pass away. This is what the Hebrew in line 4 says: !" !"# !"# ![!"#]! !"#$ !"#" !"#$, ‘for the time of wickedness is fulfilled and all injustice will [pass a]way’.22 A perfect tense, !"#, which expresses fulfilment, is followed by the imperfect tense !"#$%, which indicates an anticipation on future expectation. Again in line 10, another combination of perfect tense with imperfect tense appears to be identifiable, as translated in the Study Edition by García Martínez and Tigchelaar: “For the dominion {of justice} of goodness has arrived, and he will raise the throne of”.23 Line 8 further comprises two imperfect tenses which imply a future universal sense of worship of God, namely !"#$%&, ‘will bless him’, and !"#$%&, ‘will bow down’. At the same time, the fragment repeatedly refers to the arrival of the time in which such conditions are fulfilled with perfect tenses, as we consecutively read: !"#$ !" !"#, ‘the time of righteousness has come’ in line 5; !"#$% !" !", ‘the age of peace has come’ in line 6; and in line 10 finally !"#$ !"## !", ‘the dominion of goodness has come’. In view of imperfect tenses which otherwise interchange with these perfect tenses, it could be that this fragment of 4QTime of Righteousness expresses an eschatological expectation as a present reality through proleptic formulation.24 What would otherwise appear an ‘eschatological tension’ in sayings of Jesus about the Kingdom in the Synoptic Gospels may be illuminated by comparison with the Qumran text 4QTime of Righteousness. The interchange between tenses may be explained as a matter which includes proleptic formulation of expectations about God’s Kingdom. This thereby finds its expression in both perfect and imperfect tenses in a Semitic context and in present and future tenses in New Testament Greek.
4. Eschatological Reversal in Sayings of Jesus and Qumran A third issue, which I would like to discuss, concerns ‘eschatological reversal’ in sayings of Jesus and Qumran. This issue is sufficiently broadly reflected in the Synoptic Gospels in order to examine it not as an exclusive theological concern of one evangelist, but as part of Synoptic tradition at large. For instance, Dunn’s survey of ‘The Kingdom of God’, refers to the beatitudes in Matthew (Matt 5:3–12) and Luke (Luke 6:20–23) and to the 22
García Martínez/Tigchelaar, DSSSE, 457. García Martínez/Tigchelaar, DSSSE, 457. 24 Hogeterp, Expectations of the End, 395. 23
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motif of greatest vs. least in Mark 9:33–37 and other passages.25 Eschatological reversal may be a function of admonition against notions of human hierarchy which keep social injustice in place, such as could be illustrated by beatitudes and woes in Luke 6:20–26. The theme of eschatological reversal may further express encouragement of a mentality and works in search of God’s kingdom, as the Matthean setting of beatitudes could illustrate (Matt 5:3–12.13–16). In what follows, I will highlight a number of Synoptic Gospel passages which are concerned with the relation between this-worldly conduct and eschatological perspectives of rewards and punishments. These are two Marcan passages, namely Mark 10:29–31 and 12:38–44. Luke 16:19–31, the narrative about the rich man and Lazarus, might be of further significance in this respect. This Lucan passage brings out a tension between this-worldly hierarchy and otherworldly fate very clearly, but the passage presents a perspective of afterlife which is parallel and antagonistic to this-worldly dimensions (Luke 16:27–31) rather than explicitly relating to eschatological notions of the final age in terms of final judgement and resurrection. A notion of otherworldly judgement is of course implied in Luke 16:19–31, so that eschatological reversal could be echoed indirectly as a theme in the background. So let me now turn first to the Marcan passages, Mark 10:29–31 and Mark 12:38–44. Mark 12:38–40 and 12:41–44 are sometimes treated as two distinct pericopes,26 but I think they are interrelated and their immediate succession is deliberate. I will turn to Mark 12:38–44 in a moment. First, Mark 10:29–31 is the object of my attention. 10:29 Jesus said, ‘Truly, I say to you, there is no one who has left house or rothers or sisters or mother or father or children or lands, for my sake and for the gospel, 30 who will not receive a hundredfold now in this time, houses and brothers and sisters and mothers and children and lands, with persecutions, and in the age to come eternal life. 31 But many that are first will be last, and the last first (Mark 10:29–31, RSV).
This section makes part of a larger pericope which includes discussion between Jesus and his disciples ‘how hard it will be for those who have riches to enter the kingdom of God’ (Mark 10:23, RSV), following the message of Jesus for a rich man to sell what he has and to give to the poor (!"#$%&', Mark 10:21) in reaction to his question what he should do to inherit eternal life (Mark 10:17). Jesus’ words in Mark 10:29–31 imply a 25
Dunn, Jesus Remembered, 412–417. See e.g. M.E. Boring, Mark. A Commentary (The New Testament Library; Louisville: Westminster John Knox, 2006), 349–353. Cf. however, R.T. France, The Gospel of Mark. A Commentary on the Greek Text (NIGTC; Grand Rapids: Eerdmans, 2002), 488–493 (‘Of Scribes and Widows’). 26
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notion of eschatological reversal, in that persecutions are mentioned in relation to ‘this time’, !"! #! $% &'()% $*+$,, and eternal life ‘in the age to come’, #! $% '-.!( $% #)/*01!, (vv. 29–30). Furthermore, Mark 10:31 concludes with the phrase that “many that are first will be last, and the last first” (RSV). These winged words of Mark 10:31 (par. in Matt 19:28–30 at v. 30), which also occur in different contexts in Matthew (Matt 20:1–16 at v. 16) and Luke (Luke 13:22–30 at v. 30), may echo an earlier passage, Mark 9:33–37. In Mark 9:33–37, Jesus reacts to the discussion among the disciples who would be the greatest with the injunction that ‘If any one would be first, he must be last of all and servant of all’ (Mark 9:35, RSV). After Mark 10:31, another passage in chapter 10 repeats the emphasis that “whoever would be first among you must be slave of all” (Mark 10:44, RSV), as part of a pericope about James and John who seek honour. Mark 10:29–31 stands at the conclusion of a pericope concerning the rich man’s search for eternal life and his difficulty with the injunction to renounce his possessions and give to the poor. The sayings of Jesus in Mark 10:29–31 imply a sense of eschatological reversal. However, it is not a one-sided juxtaposition between this-worldly and otherworldly dimensions, as recent commentary by M.E. Boring also observed.27 From a perspective of social, inter-human workings of Jesus’ gospel of God, Mark 10:30 announces a hundredfold harvest “now in this time”, perhaps analogously with the parable of the sower in Mark 4:13–20 which concludes that “those that were sown upon the good soil are the ones who hear the word and accept it and bear fruit, thirtyfold and sixtyfold and a hundredfold” (Mark 4:20, RSV). Mark 10:30–31 comprises a subvertive eschatological message. This consists in an envisioned eternal life over against this-worldly circumstances of injustice implied by reference to persecutions (Mark 10:30). Mark 10:31 concludes by stating a reversal of fixed notions of those who would be first and those who would be last. This subvertive message also includes a perspective of admonition against social inequality and injustice in positions of poor and rich. References to the rich man and the poor throughout the pericope of Mark 10:17–31 underpin this point. An eschatologically loaded perspective on social inequality and injustice also permeates the next Marcan passage to be discussed, Mark 12:38–44. 27
M.E. Boring, Mark, 297: “Even though persecution is involved (v. 30; cf. 13:9f), eschatological reward is not a matter of suffer-now-reap-later deferred gratification. Modern readers get a sense of Markan ecclesiology, in which Christians are all members of the same extended family (cf. also 3:30–35) where brothers and sisters share with each other”.
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12:38 And in his teaching he said, ‘Beware of the scribes, who like to go about in long robes, and to have salutations in the market places 39 and the best seats in the synagogues and the place of honor at feasts, 40 who devour widows’ houses and for a pretense make long prayers. They will receive the greater condemnation. 12:41 And he sat down opposite the treasury, and watched the multitude putting money into the treasury. Many rich people put in large sums. 42 And a poor widow came, and put in two copper coins, which make a penny. 43 And he called his disciples to him and said to them, ‘Truly I say to you, this poor widow has put in more than all those who are contributing to the treasury. 44 For they all contributed out of their abundance; but she out of her poverty has put in everything she had, her whole living’ (Mark 12:38–44, RSV).
On one side of the scale of hierarchy, that of those whose sense of honour and abundance undermines the well-being of less well to do in society, Jesus announces a judgemental perspective that they will receive ‘the greater condemnation’, !"#$%%&'"#() *#+,-, in Mark 12:40. From an eschatogical perspective of rewards and punishments,28 Mark 12:38–44 announces eschatological reversal with regard to social injustice on the part of those who arrogate to themselves honour and abundance. Yet this passage does not focus on eschatological rewards, but rather focuses on the this-worldly greater value of the contribution of a poor widow as compared to contributions by many rich people in Mark 12:41–44. Mark 12:38–40 and 41–44 are not unrelated, since the reproach against scribes who arrogate honour and abundance to themselves already includes antagonism with the poor fate of widows through the reproach that those scribes ‘devour widows’ houses’ (Mark 12:40, RSV). Mark 12:41–44 then continues to observe a contrast between many rich people and an individual poor widow. The question is how an early audience of Jesus’ Jewish hearers, including his disciples, would have heard the eschatologically loaded perspective of rewards and punishments in Jesus’ teaching. It should be noted that the Marcan charge of ‘devouring widows’ houses’ (Mark 12:40; par. Luke 20:47, not in Matt 23) is paralleled by a prophetic woe in Isaiah 10. Isaiah 10:1f (RSV) reads: Woe to those who decree iniquitous decrees, and the writers who keep writing oppression, to turn aside the needy from justice and to rob the poor of my people of their right, that widows may be their spoil, and that they may make the fatherless their prey!
Isaiah 10:1–4 also includes a judgemental perspective, but it may be questioned whether this prophetic sense of judgement was originally eschatologically loaded, since the passage makes part of a larger section, 28
Cf. Hogeterp, Expectations of the End, 140–142 on ‘Rewards and Punishments’ as eschatological theme in Mark.
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Isaiah 9:8–10:4 on Ephraim’s judgement. An eschatologized perspective of judgement which includes a reproach against ‘making widows their spoils’ makes part of Qumran literature, in particular the sectarian Damascus Document. In the Damascus Document, a passage about regulations for a way of life “throughout the whole age of wickedness (...) until there arises he who teaches justice at the end of days” includes the following injunction: to abstain from wicked wealth which defiles, either by promise or vow, and from the wealth of the temple and from stealing from the poor of his people, making widows their spoils and murdering orphans (CD-A VI 15–17) 29
What this passage in the Damascus Document shares with the Marcan reproach of ‘devouring widows’ houses’ is the general prophetic exhortation of Isaiah 10:1–4. But beyond that, CD-A VI 15–17 and Mark 12:38–44 share an eschatologized perspective on wickedness in the contemporary age vs. a perspective of justice in the final age. The theme of eschatological reversal could play a role in the background to afterlife imagery in Luke 16:19–31. At any rate, the Lucan narrative about the rich man and poor Lazarus clearly juxtaposes the earthly fate of the rich man and Lazarus to the description of otherworldly fate of both. Luke 16:19.22b–23.25 describes how the rich man had his fill of good things during life while leaving Lazarus in miserable conditions. Luke’s narrative subsequently observes the rich man’s otherworldly fate as being ‘in Hades, being in torment’ (Luke 16:23, RSV). Contrary to the rich man, Luke 16:20–23 describes a contrast between the inhuman misery of Lazarus’ earthly life as a poor man and his being carried ‘by the angels to Abraham’s bosom’ for comfort in the otherworld. This narrative embodies a clearcut perspective of reversal, if not explicitly eschatological, at least in terms of contrast between this-worldly and otherworldly fates. The reversal does not concern reversal of fortunes, but focuses on respective shares in comfort and anguish (Luke 16:25) as counterpart to a thisworldly fill of good and bad things. Having surveyed three Synoptic passages, Mark 10:29–31, Mark 12:38–44 and Luke 16:19–31, it appears that an eschatologically loaded perspective of consideration with social injustice of poor and rich and indications of eschatological reversal occur throughout the Synoptic tradition.30 Comparison with Qumran literature may illuminate how Jews
29
Translations from García Martínez/Tigchelaar, DSSSE, 559. Cf. Matthew 13:22 which further parallels Mark 4:19 and Matthew 19:23f which parallels Mark 10:23f. 30
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at the time of Jesus could have perceived this message of eschatological reversal. Numerous biblical passages illustrate that a perspective of divine reversal of fates of downcast poor and oppressive rich makes part and parcel of biblical tradition. Let me quote a number of examples: 2 Sam 22:28 reads ‘Thou dost deliver a humble people, but thy eyes are upon the haughty to bring them down’. (RSV) Psalm 14:5f observes about evildoers against God’s people: ‘There they shall be in great terror, for God is with the generation of the righteous. You would confound the plans of the poor, but the Lord is his refuge’. (RSV) Psalm 72:4 reads ‘May he defend the cause of the poor of the people, give deliverance to the needy, and crush the oppressor!’. (RSV) Psalm 140:12f concludes a prayer for deliverance from personal enemies as follows: ‘I know that the Lord maintains the cause of the afflicted, and executes justice for the needy. Surely the righteous shall give thanks to thy name; the upright shall dwell in thy presence’. (RSV) Proverbs 22:22f comprises the following injunction: ‘Do not rob the poor, because he is poor, or crush the afflicted at the gate; for the Lord will plead their cause and despoil of life those who despoil them’. (RSV)
This is but a selection of biblical passages which express divine consideration for social justice, for the well-being of the poor of God’s people, to which undoubtedly many other passages could be added.31 However, an explicit perspective of eschatological reversal on social injustice appears difficult to trace back to biblical tradition.32 On the other hand, eschatologized perspectives on social injustice do make part of several Qumran texts. Several Qumran texts include an eschalogized perspective of divine consideration for the poor. Starting with 4Q569, a very recently edited composition edited by Émile Puech in DJD volume 37 may arguably include an eschatologized perspective on consideration for the poor. This depends on the reading of 4Q569 1–2 line 8 which has partly been reconstructed by Puech.33 [(!"#) !"#$ (!"#)! !" ]!"#$ !"#[!" !" !"]!" !"# !"#! 1–2 8
31
Cf. Isa 51:21–23, Ps 9:17f, Job 36:6f. Note that the one biblical book with an explicitly eschatological outlook including reference to resurrection, the book of Daniel, goes into divine consideration against oppression of God’s people, but does not explicitly treat issues of social injustice between poor and rich. 33 Text and translation from É. Puech, Qumrân grotte 4. XXVII: Textes araméens, deuxième partie. 4Q550–4Q575a, 4Q580–4Q587 et appendices (DJD 37; Oxford: Oxford University Press, 2009), 358. 32
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1–2 8 Souviens-toi du pauvre par[ce que] le [dr]oit sera[ en sa faveur au (jour du)/ (grand) jugement.]
The text which Puech has given the French title 4QProverbes ar (4Q569) has been palaeographically dated by him to the Hasmonean period, more in particular to the last third of the second century B.C.E.34 The reconstructed text comprises various ethical injunctions, which include the instruction to ‘remember the poor because the right will be due to [him on the day of (great) judgment)’.35 Another example may be provided by the sapiential text with apocalyptic features, 4QInstruction.36 It is a matter of debate among several scholars whether or not Instruction would be of a sectarian origin, depending on the evaluation of similarities with longer known sectarian texts in terms of terms and ideas, and the date of composition has recurrently been assigned to the early second century B.C.E.37 One section in 4Q418 (4QInstructiond) fragments 122 II + 126 II further includes a judgmental perspective with reference to consideration for the poor. I have quoted the relevant section, 4Q418 122 II + 126 II 5–13 below.38 [...]! !"#$% !"# !"# !"#$ !"[!" !"]!" 5 [...]! !"# !" !"# !"# !"#$% !"# ![!]!"# !" 6 [... !]!"#$ !"#$%&'( !"# !"# !"#$ !"#$ 7 [... !"#]!"#$" !"!#$ !"#$ !"#$ !"# !"# !"# !"#$ 8 [... !"#]! !"#$%# !"# !"#$" !"# !"#$% !"#$ 9 [...] !"#$ !"#$ !"#$%& !"#$% !"# !"#$%" 10 [...] !!"#$% !""# !"#" !" !"#$" !"#$ !"#$# 11 [...] !"!# !" !"!#$ !"#" !" !"#$" !"# !"# !"# 12 [...].! !"# !""#$ !"#$ !"#$ !"# !"#$# !"#!$%&! 13 5 And y[ou, who under]stand truth: by means of all the ’wt of men ... [...] 6 for with the e[ph]a of truth and the weight of righteousness God has meted out all ... [...] 7 he has spread them out, and with truth he has placed them, and by those that have pleasure in them [t]he[y] are being sought [...] 8 everything will be hidden, and also they have not come into being without his will, and apart from [his] wis[dom ... of] 9 judgment to accomplish vengeance to the workers of deceit, and visitation of re[tribution ...] 10 and to lock up wicked ones and to lift the head of poor ones [...] 11 with eternal glory and everlasting peace, and a living spirit to separate [...] 12 all the sons of Eve, and through 34
Puech, DJD 37, 353–361 at 354. English rendering after the reconstruction of Aramaic text by Puech, DJD 37, 358. 36 Cf. e.g. M.J. Goff, Discerning Wisdom: The Sapiential Literature of the Dead Sea Scrolls (VTSup 116; Leiden: Brill, 2007), 9–68 (‘A Wisdom Text with an Apocalyptic Worldview: 4QInstruction [1Q26; 4Q415–18, 423]’). 37 See e.g. Goff, Discerning Wisdom, 65–67, with reference to studies by A. Lange and T. Elgvin; for recent argument in favour of a sectarian character and origin of 4QInstruction, see e.g. Dimant, Sectarian and Non-Sectarian Texts from Qumran, 11. 38 Text and translation from García Martínez/Tigchelaar, DSSSE, 874f. 35
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the strength of God and his abundant glory with his goodness [...] and on his loyalty they will ponder all the day, continuously they will praise his name and [...]
The section begins with an address to ‘y[ou who under]stand truth’ and is succeeded by a subsequent section after a blank in line 14 which again addresses a second person singular reader. Within this section of lines 5– 13, lines 9–10 refer to “judgment to accomplish vengeance to the workers of deceit, and visitation of re[tribution ...] 10 and to lock up wicked ones and to lift the head of poor ones”.39 The Hebrew term for poor ones, !"#$, includes connotations of low, poor, helpless, and downcast (KBL, 209– 10). In view of the directly preceding line 9, reference to lifting the head of poor ones appears eschatologically loaded. Finally, a Qumran text which hitherto received much attention with regard to the study of messianism and resurrrection, the so-called ‘Messianic Apocalypse’, 4Q521, may also be drawn into the discussion of eschatological reversal including divine consideration for the poor. I already quoted the relevant fragment, 4Q521 2 ii + 4 1–15 (section 2 above at n. 14). These fragments are full of imperfect tenses, such as !"#$%, !"#$, !"#$%, !"!", !"#$, !"#$, !"#$", !"#$, !"#$, !"#$%, !"#$, !"#$, !"#", !"#$, [!" ]!"#, !"#$ and !"#$ in successive lines 1–2, 4–7, 9–13. These imperfect tenses express a horizon of eschatologically loaded expectation with reference to God’s anointed one (l. 1), the throne of an eternal kingdom (l. 7), and the act of making the dead live (l. 12). Divine consideration for the poor runs as an important thread through the fragment. Line 6 states that God’s ‘spirit will hover upon the poor’, lines 12–13 observe that ‘he will proclaim good news to the poor and he will make the [poo]r who[le], lead those who are uprooted and enrich the hungry’. The question which introduces divine consideration for the pious, the righteous, the poor, and the faithful in line 4, “Will you not in this encounter the Lord, all those who hope in their heart”,40 could echo biblical tradition. Jeremiah 22:16 identifies judgement of the cause of the poor and needy as follows: “Is not this know me? says the Lord” (RSV). Eschatological reversal appears to be conveyed by pairs of opposites between described divine acts and actual situation of those who are the object of these acts in lines 8 and 13 and by reference to ‘marvellous acts such as have not existed’ in line 11. In this regard, Q passages in Luke 7:18–23 and Matthew 11:2–6, constitute an important locus of comparison with 4Q521.
39
Translation from García Martínez/Tigchelaar, DSSSE, 875. Translations after García Martínez/Tigchelaar, DSSSE, 1045 plus the author’s renderings of Puech’s reconstructions of Hebrew text in DJD 25, 10. 40
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Luke 7:18–23 (RSV) 7:18 The disciples of John told him of all these things. 19 And John, calling to him two of his disciples, sent them to the Lord, saying, ‘Are you he who is to come, or shall we look for another?’ 20 And when the men had come to him, they said, ‘John the Baptist has sent us to you, saying, ‘ Are you he who is to come, or shall we look for another?’ 21 In that hour he cured many of diseases and plagues and evil spirits, and on many that were blind he bestowed sight. 22 And he answered them, ‘Go and tell John what you have seen and heard: the blind receive their sight, the lame walk, lepers are cleansed, and the deaf hear, the dead are raised up, the poor have good news preached to them. 23 And blessed is he who takes no offense at me’. Matthew 11:2–6 (RSV) 11:2 Now when John heard in prison about the deeds of the Christ, he sent word by his disciples 3 and said to him, ‘Are you he who is to come, or shall we look for another?’ 4 And Jesus answered them, ‘Go and tell John what you hear and see: 5 the blind receive their sight and the lame walk, lepers are cleansed and the deaf hear, and the dead are raised up, and the poor have good news preached to them. 6 And blessed is he who takes no offense at me.’
Luke 7:18–23 and Matthew 11:2–6 likewise comprise pairs of opposite, parallel to the Qumran 4QMessianic Apocalypse (4Q521), which may express a notion of eschatological reversal with consideration for the poor and the afflicted. An important difference concerns the present tense in the Q passages which conveys a present working rather than an envisaged future. In addition to evidence not clearly sectarian, such as that of Aramaic Proverbs in 4Q569, 4QMessianic Apocalypse, and 4QInstruction, whose sectarian origin appears debatable, longer known sectarian Qumran literature is also concerned with consideration for the poor in an eschatologized setting. For instance, the Damascus Document comprises a set of eschatologically loaded injunctions, of which we already briefly noted the injunction to refrain from ‘stealing from the poor of his people, making widows their spoils’. Among these injunctions, CD-A VI 21 further includes one ‘to strengthen the hand of the poor, the needy and the foreigner’.41
41 Translation from García Martínez/Tigchelaar, DSSSE, 559. Cf. Deut 15:7–11 at 11b, ‘You shall open wide your hand to your brother, to the needy and to the poor, in the land’ (RSV).
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5. Conclusion In conclusion, the texts from Qumran illuminate various aspects of a horizon of eschatological expectations which would have been part of Judaism at the time of Jesus and thereby inform our picture of the other side of Jesus’ ministry, that of the audience of his first Jewish hearers. These aspects include associations with God’s royal rule or kingdom in terms of the arrival of a time of righteousness, peace, and goodness (4Q215a) and of divine consideration for the pious, the the righteous, the poor and the faithful (4Q521). The Qumran text 4QTime of Righteousness provides evidence which may bring in a new element into the discussion of a perceived ‘eschatologial tension’ between the present Kingdom and the Kingdom to come in Synoptic sayings of Jesus. This element consists in the interchange between perfect and imperfect tenses as proleptic formulation of expectations about God’s rule. The interchange between temporal dimensions could imply that from a Jewish perspective expectations about God’s kingdom could be anticipated on in terms of conceived present workings. Finally, the motif of eschatological reversal discerned in several Synoptic sayings of Jesus that include an emphasis on divine consideration for the poor finds parallels across sectarian and non-sectarian boundary lines of Judaism as illustrated by the Dead Sea Scrolls. Apart from this, Enochic literature, in particular the Epistle of Enoch (1 Enoch 92–105) comprises passages of exhortation concerning the righteous and the wicked, including a perceived soliloquy of sinners who deem it good to ‘eat and drink, to plunder and sin and steal and get wealth and see good days’ (1 Enoch 102:9).42 The Enochic judgemental perspective also comprises an element of eschatological reversal. The notion of eschatological reversal in the ethical interest of exhortation against social injustice which we encounter in Synoptic sayings of Jesus may thereby have been recognisable for those who stood at the receiving end of Second Temple Jewish tradition. Even though Qumran literature is not unparalleled with regard to this eschatological theme, it is Qumran literature with its Aramaic fragments of 1 Enoch which has authenticated the Jewish provenance of Enochic literature. In this respect, Qumran texts are essential for our picture of a contemporary Jewish audience to Jesus’ eschatology.
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Translation from G.W.E. Nickelsburg/J.C. VanderKam, 1 Enoch. A New Translation Based on the Hermeneia Commentary, Minneapolis: Fortress Press 2004, 158.
Das Aramäische zur Zeit Jesu, „ABBA!“ und das Vaterunser Reflexionen zur Muttersprache Jesu anhand der Texte von Qumran und der frühen Targumim1 URSULA SCHATTNER-RIESER Der vorliegende Beitrag gilt der Sprache des Vaterunsers und damit der Gebetssprache Jesu von Nazareth und bietet eine neue Rekonstruktion der aramäischen Sprachgestalt des Vaterunsers. Diese ist erforderlich, da sich unser Verständnis des Aramäischen zur Zeit Jesu aufgrund der Textfunde vom Toten Meer wesentlich weiterentwickelt hat. Während ältere Standardwerke zum Aramäischen in der Sprache Jesu ihren Rekonstruktionen lediglich das spätgaliläische Idiom aus den Midraschim und anderen rabbinischen Texten ab dem 3. oder gar 4. Jh. n. Chr. zugrunde legen konnten, liegen mittlerweile aus den Textfunden vom Toten Meer aramäische Texte aus der Zeit um die Zeitenwende vor, die es erlauben, die Besonderheiten des Aramäischen zur Zeit Jesu, von Judäa bis Galiläa, präziser zu erfassen. Im Folgenden werde ich nach einigen Vorerwägungen zur Sprachsituation in Erets Israel um die Zeitenwende die aramäischen Gebetstexte aus Qumran sowie vergleichbares Targummaterial heranziehen, um von hier aus die Sprachgestalt des Vaterunsers und einige interpretatorische Probleme zu beleuchten.
I. Die sprachliche Situation um die Zeitenwende Kaum jemand zweifelt heute mehr daran, dass die Volkssprache der 2 jüdischen Bevölkerung zur Zeit Jesu weitgehend das Aramäische war. In
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Mein aufrichtiger Dank gilt Prof. Dr. Jörg Frey für die mehrfache Durchsicht des Textes und zahlreiche Hinweise.
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Galiläa, unweit der syrischen Grenze, war das Aramäische schon früh 3 verbreitet, zum einen bedingt durch die Nähe zu den aramäischen Stadtstaaten im nördlichen Syrien und zum anderen durch die Ansiedlung aramäischsprachiger Kolonisten aus Mesopotamien, welche seit dem 8. Jh. v. Chr. im ehemaligen Nordreich Israel angesiedelt wurden. Zudem diente seit dieser Zeit das Aramäische als Diplomatensprache des assyrischen Großreichs und löste das Akkadische mit seinem komplizierten Schrift4 system in seiner Funktion als Verkehrssprache des Orients ab. Während das Aramäische im nördlichen Galiläa und Samaria schon längst verbreitet war, verdrängte es die hebräische Landessprache ab dem 5. Jh. v. Chr. auch im südlichen Teil der Levante, in Judäa, nachdem es unter den persischen Herrschern ab 525 v. Chr., zur internationalen Amts- und Kommunikationssprache avanciert war. Bekannt als „Reichsaramäisch“, verbreitete sich diese standardisierte Form des Aramäischen im gesamten 5 Orient von Indien über Kleinasien und die Levante bis nach Ägypten und Südarabien. Nach und nach verdrängte die aramäische Sprache schließlich lokale Idiome und entwickelte sich von einer zunächst offiziellen Sprache zur Volkssprache. Auch wenn Neh 13,246 zeitlich schwer einzuordnen ist, bestätigt dieser Vers doch die Verdrängung der hebräischen Sprache in Judäa während der persischen Epoche. Das Hebräische wäre hier wohl weitgehend verschwunden, wenn die exilierte Gemeinde in Mesopotamien es nicht zur Kult- und Liturgiesprache erhoben hätte. Die Inschriften vom Garizim, dem heiligen Berg Samarias, aus der hellenistischen und vielleicht sogar noch der späten persischen Zeit (4./3. Jh. v. Chr.), sind mehrheitlich Aramäisch, und die Papyri aus Wadi Daliyeh (ca. 450–330 v. Chr.) sind ebenfalls nur auf Aramäisch geschrieben. Auch die Eroberung Palästinas durch Alexander den Großen und das Vordringen der griechischen Kultur 2
Einen Forschungsbericht, der allerdings die Bedeutung des Aramäischen zu gering ansetzt, bietet neuerdings G. B ALTES, Hebräisches Evangelium und die Evangelien (WUNT II/312), Tübingen 2011, 14–150. 3 Dies zeigt die Dan-Stele, die an der nördlichen Grenze Israels gefunden wurde und in das 9. oder 8. Jh. v. Chr. datiert wird; s. W.M. SCHNIEDEWIND, Tel Dan Stela. New Light on Aramaic and Jehu’s Revolt, BASOR 302 (1996) 75–90; A. L EMAIRE, The Tel Dan Stele as a Piece of Royal Historiography, JSOT 81 (1998) 3–14. 4 Zwischen dem 14.–8. Jh. v. Chr. diente Akkadisch zwischen Mesopotamien und Ägypten als Handels- und Diplomatensprache, s. dazu den diplomatischen Dialog zwischen Israeliten und Assyrern in 2Kön 18,26 = Jes 36,11; epigraphische Zeugnisse für die Anwendung des Aramäischen als offizielle Amtssprache im 8. und 7. Jh. sind – um nur zwei Beispiele zu nennen – die Bilinguen von Bukhan und Tel Fekherye. 5 Die judäische Gemeinde von Elephantine in Ägypten hinterließ uns zwischen 500– 397 v. Chr. eine bedeutende Anzahl von aramäisch geschriebenen Papyri. 6 „Und die Hälfte ihrer Kinder redete aschdodisch – und sie konnten nicht judäisch (d.h. hebräisch) reden, sondern nur die Sprache dieses oder jenes Volks.“
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in der Folgezeit bedeutete keineswegs das Ende des Aramäischen – im Gegenteil, von dieser Zeit an bildeten sich aus dem standardisierten Aramäisch unterschiedliche Dialekte heraus. Das Sprachmilieu in Erets Israel zwischen dem 2. Jh. v. Chr. und dem 2. Jh. n. Chr. ist daher ausgesprochen komplex und geprägt von aramäischhebräischer Diglossie oder gar aramäisch-hebräisch-griechischer Drei7 sprachigkeit. Denn neben dem Aramäischen und dem dialektal erhaltenen Hebräischen verbreitete sich im Zuge der Hellenisierung nach Alexanders Tod das Griechische als dritte Sprache im Vorderen Orient. Zuerst Amtsund Handelssprache von Zuwanderern und Militärkolonisten, fand das Griechische auch in die sich zunehmend hellenisierende jüdische Gesellschaft als Zweit- oder Drittsprache Einzug. Das Vordringen der griechischen Sprache ist durch epigraphische Zeugnisse ab dem 3. Jh. v. 8 Chr. bezeugt und im 2. Makkabäerbuch mehrfach thematisiert. An fünf Stellen sprechen die Juden dort „in der Sprache der Väter“, wobei allerdings nicht klar ist, ob damit ein hebräischer Dialekt gemeint ist oder das Aramäische: Im Bericht über das Martyrium der sieben Söhne, welche sich weigerten die hellenistisch-paganen Traditionen anzunehmen, wendet sich die Mutter dreimal an ihre Söhne, um ihnen in ihrer Muttersprache Mut zuzureden, wogegen sie mit den seleukidischen Folterern Griechisch spricht (2Makk 7,8.21.23). Die griechisch-hebräische Zweisprachigkeit ist auch in 2Makk 12,37 erkennbar, wo es heißt, dass Judas Makkabäus das Kriegsgeschrei „in der Sprache seiner Väter“ erhob. In 2Makk 15,29 wird sogar ein Gebet erwähnt: „Sie (die Juden) priesen den Herrn in der Sprache ihrer Väter.“ Auch wenn mit dem Makkabäeraufstand eine patriotisch bedingte Renaissance des Hebräischen verbunden war, wurde dadurch das Vordringen des Griechischen und die Hellenisierung der palästinischen Gesell7 J.A. FITZMYER, The Languages of Palestine in the First Century AD, CBQ 32 (1970) 501–531; J.N. SEVENSTER, Do You Know Greek? How Much Greek Could the First Jewish Christians Have Known? (NT.S 19), Leiden 1968; M. H ENGEL, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2 Jh.s v. Chr. (WUNT I/10; Tübingen1969; 3. Aufl. 1988); DERS. (unter Mitarbeit von C H. M ARKSCHIES), Zum Problem der “Hellenisierung” Judäas im 1. Jahrhundert nach Christus, in DERS., Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I, (unter Mitarbeit von R. Deines, J. Frey, Ch. Markschies, A.M. Schwemer mit einem Anhang von H. Bloedhorn) [WUNT I/90], Tübingen 1996, 1–90. 8 Das Griechische verbreitete sich von den Küstengegenden bald in das Innere des Landes. S. die Ostraka aus Khirbet el Qom, bei in D.E. A UNE, The Westminster Dictionary of New Testament and Early Christian Literature and Rhetoric, Louisville 2003, 209–10. Zum Vordringen der griechischen Sprache im palästinischen Judentum s. M. H ENGEL, Judentum und Hellenismus, 108–120, und auch R. R IESNER, Jesus als Lehrer (WUNT II/7), Tübingen 1981, 385–386.
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schaft nicht entscheidend in Frage gestellt. Das Erlernen der griechischen Sprache und die Partizipation an griechischer Erziehung und Kultur 9 gehörten in der hellenisierten jüdischen Oberschicht zum guten Ton, aber auch Händler und Handwerker mussten genug Griechisch beherrschen, um mit ihren nichtjüdischen Geschäftspartnern oder Diasporajuden kommunizieren zu können.10 Obwohl das Aramäische als Umgangssprache vorherrschend war, hat sich offensichtlich auch eine lokale judäische Form des Hebräischen gebietsweise bis zum 2. Jh. n. Chr. erhalten, wie es die in einem besonderen hebräischen Dialekt geschriebenen gruppenspezifischen Texte aus 11 Qumran, einige der Bar-Kochba-Briefe aus dem zweiten jüdischen Krieg, 12 einige Belegstellen aus dem Talmud sowie die ältere Schicht des mischnisch-rabbinischen Hebräisch bezeugen. Das klassische Hebräisch blieb daneben weiterhin als Liturgiesprache und in den Lehrhäusern der Schriftgelehrten im Gebrauch. Griechisch und Hebräisch avancierten um die Zeitenwende und in den ersten Jahrhunderten danach zu Prestigesprachen, was auch manche abschätzige Bewertung der aramäischen Umgangsspra13 che zu erklären vermag. Im Blick auf das tägliche Gebet statuiert die 9
Dies zeigen Inschriften auf Ossuarien, Grabstelen und Synagogen der Zeit Jesu, die mehrheitlich Griechisch oder zweisprachig beschrieben sind. Auftraggeber von Grabstelen oder Ossuarinschriften dürften i.d.R. den höheren Schichten angehört haben. 10 Nicht zuletzt gab es in Jerusalem eine große Zahl von Diasporajuden, deren Umgangssprache Griechisch war (s. M. H ENGEL, Jerusalem als jüdische und hellenistische Stadt, in: ders., Judaica, Hellenistica et Christiana. Kleine Schriften II (WUNT I/109), Tübingen 1999, 115–156; bes. 147. Mehr zur Zweisprachigkeit in Bezug auf das Griechische und das NT bei M. SILVA, Bilingualism and the Character of Palestinian Greek, Bib 61 (1980) 198–219; G.H.R. H ORSLEY, New Documents Illustrating Early Christianity, Bd. 5: Linguistic Essays, New South Wales, Australia 1989, 23–26, sowie S.E. PORTER, Verbal Aspect in the Greek of the New Testament, with Reference to Tense and Mood (Studies in Biblical Greek 1), New York 1989, 154–156. 11 Vgl. M. B AILLET et al. (Hg.), Les petites grottes de Qumran (DJD 3), Oxford 1960, 222. 12 In bMeg 18a und bRhSh 26b lernen Rabbi und seine Talmudschüler von einer Magd die Bedeutung einiger hebräischer Dialektwörter. 13 S. die Diskussion der Rabbinen in bBabQam 82b–83a wo Rabbi (2. Jh.) sagt: „ Was wollt ihr mit Aramäisch? Sprecht entweder Griechisch oder Hebräisch!“ Gemäß bTaan 49b soll Rabban Gamaliel II. in seinem Lehrhaus 500 Schüler die Torah und 500 Schüler die griechische Weisheit gelehrt haben. Gamaliels Sohn, Rabban Simon ordnete an, dass die Heiligen Schriften außer der Lektüre im Hebräischen nur ins Griechische übersetzt werden dürften (mMeg I,8). Aramäisch wurde von vielen Rabbinen als gemeine Volkssprache als zu minderwertig angesehen, um als Liturgie- und Gebetssprache gültig zu sein. Gegen diese negative abwertende Einstellung ist eine Passage aus dem Midrasch Genesis Rabba (BerR 74,14 [684]; ebenso jSot 30,1), gerichtet: „R. Samuel b. Nahman sagte: Urteilt nicht abfällig über die aramäische Sprache (l!wn prsy), denn in der Torah, den Propheten und den Schriften, erweist der einzig Heilige ihr die Ehre: Yegar-Sahaduta
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Mischna mSot VII,1 jedoch trotz mancher Einwände, dass dieses und die Tischbenediktion „in jeder Sprache“ (bkl l!wn) gesprochen werden dürfen. Die plurale Sprachsituation Palästinas zeigt sich auch in Verträgen und Urkunden jener Zeit: Verträge der ersten zwei nachchristlichen Jahrhunderten sind auf Griechisch, Hebräisch oder Aramäisch geschrieben wie es die Doppelurkunden aus der Wüste Juda (Ende 1. und Beginn des 2. Jh. n. Chr.) zeigen.14 Die Wahl der Sprache richtet sich dabei einerseits nach der Natur des Dokuments: offizielle Verträge nach römischen Recht sind Griechisch geschrieben, während innerjüdische Dokumente, also Urkunden nach jüdischem Recht, Hebräisch oder Aramäisch geschrieben sind. Nach der Mischna (mKet IV,12; vgl. bKet 52b) richtet sich die Sprache einer Urkunde andererseits auch nach der Sprachsituation der Betroffenen. Diese Mischnastelle legt die Formulierungen und Bestimmung der Heiratsakte (Ketubba) fest und bestätigt somit indirekt die gemischte Sprachsituation in Judäa, indem sie bezeugt, dass anstelle einer aramäischen Formulierung, die in Galiläa und Jerusalem gebraucht wird, im restlichen Judäa eine Formulierung im mischnischen Hebräisch verwendet wird.15 Die aus dem zweiten jüdischen Krieg (132–135 n. Chr.) stammenden Briefe Bar Kochbas sind mehrheitlich Aramäisch geschrieben, einige jedoch Hebräisch und Griechisch.16 Nach dem Talmud (bMeg 18a) scheint bis zum zweiten jüdischen Krieg das Erlernen des Griechischen empfehlenswert gewesen zu sein; erst nach dem Misserfolg Bar Kochbas verbieten die Rabbinen, die (Gen 31,47); in den Propheten: So sollt ihr zu ihnen sprechen … (Jer 10,11); in den Schriften: Dann sprachen die Chaldäer zum König auf Aramäisch (Dan 2,4).“ 14 Zu Sprache und Schrift der Urkunden s. E. K OFFMANN, Die Doppelurkunden aus der Wüste Juda, Leiden 1968, 56–61. Die in H. C OTTON und A. Y ARDENI (Hg.) Aramaic, Hebrew, and Greek Documentary Texts from Nahal Hever (DJD 27), Oxford 1999, publizierten Dokumente aus dem Babatha-Archiv umfassen 26 griechische und 9 aramäische (davon 6 nabatäisch-aramäische) Texte. Urkunden, die sich explizit auf das römische Recht berufen, sind griechisch geschrieben, die Beglaubigungsformeln sind jedoch in Aramäisch, der Muttersprache der Verfasser. Babatha selbst konnte kein Griechisch und ließ diverse Kaufverträge von einem professionellen Schreiber in Griechisch aufsetzen. Ihre eigene Heiratsurkunde ist dagegen auf Aramäisch. S. weiter J.G. O UDSHOORN , The Relationship between Roman and Local Law in the Babatha and Salome Komaise Archives: General Analysis and Three Case Studies on Law of Succession, Guardianship and Marriage, Leiden 2007. 15 Siehe mKet IV, 12 (und bKet 52b): „Die Leute von Galiläa schreiben wie die von Jerusalem, wogegen die Leute des (restlichen) Judäa so schreiben … “ (! !"#$% &!&' !!"# .!"#$%& %"' '(%'" ")*+ .,"-)%." ")*+&) Vgl. G. D ALMAN, Die Worte Jesu: Einleitung und wichtige Begriffe, Leipzig 1898, 4. 16 Von den 15 erhaltenen Briefen, sind acht auf Aramäisch, fünf auf Hebräisch und drei auf Griechisch geschrieben. Auch die Dokumente von Wadi Murabbat sind mehrheitlich auf Aramäisch und teils auf Hebräisch. M. H ADAS-L EBEL, L’hébreu – 3000 ans d’histoire, Paris 1992, 62–63.
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Söhne Griechisch zu lehren (bSota 49/49b). Und erst ab dem 3. Jh. wurde die aramäische Sprache dann zur literarischen Sprache,17 derer sich auch die Rabbinen bedienen, um die Targumim und die Gemara zu verfassen. Im Unterschied zur Praxis Jesu, der von Anfang an die aramäische Volkssprache als Gebetssprache verwendete und auch als quasi ‚öffentliche‘ Gebetssprache im Kreis seiner Jünger förderte, scheint das rabbinische Judentum die Aufnahme aramäischer Gebete, (darunter das Qaddish, welches nicht vor dem 4. Jh. belegt ist), erst später toleriert zu haben, als dem Aramäischen ein Statuswechsel von der populären zur literarisch geachteten Sprache zu Teil kam. Hier zeigt sich wohl auch die Konsequenz der rabbinischen Regel mSot VII,1, die jede (Volks-)Sprache als Gebetssprache zuließ. Die Dreisprachigkeit Palästinas zur Zeit Jesu spiegelt sich auch im Neuen Testament, so besonders plastisch im lukanischen Bericht des Auftretens des Paulus in Jerusalem: Paulus spricht Griechisch mit dem römischen Kommandanten, der ihn im Tempel festnimmt (Apg 21,37), wendet sich aber auf Aramäisch an das Volk (Apg 21,40; 22,2), und dass er als praktizierender Jude des Hebräischen mächtig war, ist für Lukas selbstverständlich (Apg 26,14) und wohl auch historisch vorauszusetzen. Auch für den irdischen Jesus sind zumindest gewisse Kenntnisse des Griechischen vorauszusetzen, so dass selbst ein Gespräch mit Pontius Pilatus auf Griechisch historisch nicht undenkbar ist. In der Synagoge las und betete er wohl hebräisch, im täglichen Leben und in seiner Verkündigung sprach er hingegen Aramäisch. Insofern fügen sich seine Lehrtätigkeit in Galiläa und die in den synoptischen Evangelien erhaltenen Aramaismen in seinen Worten in das Bild des Aramäisch sprechenden Galiläa.18 Diesem aramäischen Hintergrund der griechisch verfassten Schriften des Neuen Testaments wurden mehrere Studien gewidmet,19 in 17
M. M CN AMARA, Greek in First-Century Judaism, in: ders., Targum and New Testament (WUNT I/279), Tübingen 2011, 200. 18 Die Termini !"#$%&'( und )*"#$+,- werden im NT undifferenziert für Hebräisch oder Aramäisch angewendet und sind am besten mit „in der Sprache der Hebräer/Juden“ zu übersetzten. In Joh 5,9; 19,13.17.20; 20,16 bezeichnet es ohne Ausnahme aramäische Namen, in Apg 21,40; 22,2; 26,4 steht !"#$%&'( wohl eher für die aramäische Sprache als für Hebräisch; in Apk 9,11 (."$,,/0 < !"#$% „Abgrund“) und 16,16 (1#2$34,/0 „Berg Magedon/Megiddo“) bezeichnet der Terminus jedoch hebräische Ausdrücke. Die meisten Ausdrücke sind jedoch Aramäisch, s. dazu U. SCHATTNER-R IESER, Les aramaïsmes du Nouveau Testament, in: dies., L’araméen des manuscrits de la mer Morte, Lausanne 2004, 48–49. 19 G. D ALMAN, Die Worte Jesu: Einleitung und wichtige Begriffe, Leipzig 1898; DERS ., Jesus-Jeschua. Die drei Sprachen Jesu. Jesus in der Synagoge, auf dem Berge beim Passahmahl, am Kreuze. Im Anhang: Ergänzungen und Verbesserungen zu JesusJeschua, Darmstadt 1967 (= Leipzig 1922); F. R OSENTHAL, Die aramaistische Forschung seit Th. Nöldekes’ Veröffentlichungen, Leiden 1939; J.A. FITZMYER, Essays on the
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denen sprachliche Phänomene von den lexikalischen Aramaismen über die Griechisch wiedergegebenen Aramaismen bis hin zur semitischen Syntax und zu Spuren von aramäischem (oder überhaupt semitischem) Denken im Hintergrund der griechischen Wendungen des Neuen Testaments aufgearbeitet sind.20 Auch wenn keine neutestamentlichen Texte auf Aramäisch erhalten sind und vielleicht auch zunächst keine solchen Aufzeichnungen existierten,21 ist es m.E. eindeutig, dass dem griechischen Vaterunser ein aramäischer Text – schriftlich oder mündlich – zugrunde lag. Dies soll genügen, um einige der sprachlichen Besonderheiten zu erklären.
II. Die Handschriften von Qumran und die darin belegten aramäischen Gebete Nach diesen einleitenden Bemerkungen zur Sprachsituation um die Zeitenwende ist nun die Problematik der Gebetssprache zu reflektieren: In welcher Sprache betete man zur Zeit Jesu – oder besser: durfte man zur Zeit Jesu beten? Darüber geben uns die Textfunde vom Toten Meer indirekt Auskunft.
Semitic Background of the New Testament, London 1971; DERS. A Wandering Aramaean: Collected Aramaic Essays, Missoula 1979; H.F.D. SPARKS, Some Observations on the Semitic Background of the New Testament, SNTS Bulletin 2 (1951) 33–42; S. SEGERT, Aramäische Studien, II: Zur Verbreitung des Aramäischen in Palästina zur Zeit Jesu, ArOr 25 (1957) 21–57; P. G RELOT, Sémitismes dans le Nouveau Testament (SDB 12), Paris 1992, col. 333–424. 20 M. B LACK, An Aramaic Approch to the Gospels and Acts, Oxford 1967; M. SILVA, Bilingualism and the Character of Palestinian Greek, Bib 61 (1980) 198–219: 205–227; M. C ASEY, In Which Language Did Jesus Teach?, ExpTim 108/11 (1997) 326–228; D ERS., Aramaic Sources of Mark’s Gospel (SNTSMS 102), Cambridge 1998, ebd. 65–68. Die umfangreichste und zugleich eine der weniger bekannten Studien ist jene von P. G RELOT, Sémitismes, Paris 1992. 21 Einige Kirchenväter bezeugen seit dem Beginn des 2. Jh. v. Chr. einen aramäischen Text des Matthäusevangeliums, so zuerst Papias (um 120–130 n. Chr.) in seiner rätselhaften Notiz bei Euseb h.e. III 39,16, die dann von Irenäus (adv. haer. III 1,1–2), Euseb (auch h.e. VI 25,4) und v.a. Hieronymus aufgenommen wird. Unklar ist allerdings, ob der Kleinasiate Papias wirklich einen aramäischen Text des Matthäusevangeliums kennen konnte oder worauf seine Notiz sonst zu beziehen ist – das kanonisch vorliegende Matthäusevangelium scheint in Griechisch komponiert zu sein. Dennoch ist die Existenz von aramäischen Überlieferungen im palästinisch-syrischen Raum nicht generell zu bestreiten, und zumindest ab dem späteren zweiten Jahrhundert scheint es eine aramäische Evangelienschrift gegeben zu haben, die heute in der Forschung ‚Nazoräerevangelium‘ genannt wird. S. dazu J. FREY, Fragmente judenchristlicher Evangelien, in: Ch. Markschies/J. Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen I/1, Tübingen 2012, 561–660.
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1. Die Sprache der Handschriften von Qumran Die Entdeckung der Handschriften vom Toten Meer zwischen 1947 und 1956 lieferte uns nicht nur die spektakulärsten Textzeugen für die alttestamentliche Bibelwissenschaft und die Erforschung des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels, sondern sie sind auch die wichtigsten authentischen Zeugen für die Sprachpluralität in und um Judäa in der hellenistischen und frührömischen Zeit. Von den ca. 930 fragmentarisch erhaltenen Handschriften sind ca. 750 hebräisch, 150 aramäisch (einige davon nabatäischaramäisch) und 27 griechisch geschrieben. Die Mitglieder der Qumrangemeinde (hebr. ya!ad), waren also mindestens zweisprachig (hebräisch und aramäisch), einige auch dreisprachig. Auch wenn das Hebräische keine tote Sprache war22, bezeugen die Transliterationen von Eigennamen und Zitierungen in zeitgenössischen nichtsemitischen Texten, dass die Umgangssprache mehrheitlich Aramäisch war.23 Für die Qumrangemeinde ist dies auch schon vorauszusetzen. Aus der Damaskusschrift geht im Übrigen hervor, dass in der Gemeinschaft, dem ya!ad, mehrere Sprachen vertreten waren, die der Aufseher der ‚Lager‘ beherrschen musste (CD A 14,9–10 = 4Q266 10 i; 4Q267 9 v). Die große Zahl der hebräischen Handschriften vom Toten Meer erklärt sich aus verschiedenen Faktoren. Zu einem nicht unbeträchtlichen Teil handelt es sich um Bibeltexte, also sakrale Texte die in der l!"ôn haqqode" geschrieben werden mussten. Die gruppenspezifischen Texte der Qumrangemeinde sind hingegen in einem eigenen Dialekt, dem sog. Qumranhebräisch geschrieben, das vielleicht einen lokalen judäischen oder jerusalemischen Dialekt widerspiegelt und dessen Weiterverwendung sich aus der Renaissance des Hebräischen nach der makkabäischen Krise erklären lässt. Ein weiterer Dialekt ist das stark vom Aramäischen be-
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Nach späteren rabbinischen Zeugnissen pflegten nicht nur Schriftgelehrte und Priester das Studium und die Vermittlung der „Heiligen Sprache“ (l!"ôn haq-qode"), sondern jeder körperlich intakte Jude musste des Hebräischen mächtig sein für die Lesung der Schrift im Gottesdienst und bei Fachdiskussionen auf Hebräisch (bMeg 24b). Auch war die korrekte Aussprache eine unumgängliche Bedingung zur Lesung im Tempel so heißt es z. B. in bEruv 53 a/b, dass Judäer tauglich zur Lesung seien, die Galiläer jedoch nicht, denn sie hätten eine „unkorrekte“ Aussprache und außerdem hätten sie keine Lehrmeister, die sie valide unterrichteten. 23 Die meisten Toponyme im NT oder bei Josephus sind Aramäisch. Die transkribierten Wörter Abba, talita kum(i), effata, und lema sabachtani im NT sind ebenfalls Aramäisch. S. dazu U. SCHATTNER-R IESER, L’Araméen des manuscrits de la mer Morte, 48– 49.
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einflusste rabbinische Hebräisch, das in Qumran durch eine proto-misch24 nische Variante in der Kupferrolle (3Q15) und in 4QMMT vertreten ist. Die aramäischen Texte vom Toten Meer sind, mit Ausnahme des Buches Daniel, keine biblischen Texte, sondern parabiblische Texte, die z.T. bereits aus den Sammlungen der Apokryphen/deuterokanonischen Texte (z. B. Tobit) und der Pseudepigraphen (z. B. Henoch-Texte) in anderen Sprachen bekannt waren. Wir finden hier auch die erste MidraschGattung im Genesis-Apokryphon und die ersten Targumim (Targum Hiob [11Q10]; Targum Levitikus [4Q156]; sowie eine Paraphrase zu Jesaja 25 14,31–32, die im Fragment 4Q550e bei genauerem Hinsehen enthalten ist . Diese Texte sind Zeugen der reichs- und zugleich der mittelaramäischen Phase. Die literarischen Texte mit ihren vergessenen Archaismen und 26 Hyperkorrektionen bezeugen die Redaktionsarbeit der qumranischen Schreiber, die ältere reichsaramäische Texte nicht nur kopierten, sondern der neuen Sprachsituation ihrer eigenen Zeit anpassten und „modernisierten“. Letztere sind somit zeitspezifisch und damit signifikant für die Sprachgestalt des Aramäischen um die Zeitenwende. Die Zahl der griechischen Qumrantexte ist recht gering.27 Auch finden sich im Gegensatz zu den rabbinischen Texten keine griechischen Lehn24
M. B AILLET et al. (Hg.), Les petites grottes de Qumran, DJD 3, Oxford 1960, 222; G.A. R ENDSBURG, The Galilean Background of Mishnaic Hebrew, in: L.I. Levine (Hg.), The Galilee in Late Antiquity, New York 1992, 225–240, bes. 237. 25 Das Fragment 4Q550 e wird i.d.R. als Teil des Zyklus ‘Geschichten am persischen Hof’, früher „Proto-Esther“ genannt, überliefert, doch bietet das Fragment eigentlich eine Paraphrase zu Jes 14,31f; s. meine noch unveröffentlichte Zusammenstellung der qumranischen Targumim, die im Band Écrits intertestamentaires II in der Bibliothèque de la Pléiade bei Gallimard (Paris) erscheinen soll. 26 So wurde, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen, in einem Fragment zu Henoch (4Q212) das archaische Relativpronomen zy nach reichsaramäischer Schreibung (bis zum 4. Jh. v. Chr.) zu dy verbessert, der späteren Orthographie, was bezeugt, dass dem Kopisten eine ältere Vorlage zugrunde lag, S. U. SCHATTNER-R IESER, L’apport de la philologie araméenne pour la datation des manuscrits de la mer Morte, in: K. Berthelot/D. Stoekl Ben Ezra (Hg.), Aramaica Qumranica: The Aix en Provence Colloquium on the Aramaic Dead Sea Scrolls (STDJ 94), Leiden 2010, 101–123, bes. 102 u. 113. In dem genannten Aufsatz habe ich alle Texte mit mehreren archaischen grammatikalischen Besonderheiten zusammengefasst, die ohne Zweifel auf ältere Textquellen aus dem 4. oder 5. Jh. v. Chr. zurückgreifen. 27 Die Höhle 7 von Qumran enthielt bis auf eine hebräische Ausnahme nur griechische Texte (7QLXXExod; 7QEpistJer u.a.). Unter der großen Menge von hebräischen und aramäischen Handschriften aus Höhle 4 fanden sich auch einige griechische Fragmente (4QLXXLeva, 4QLXXLevb, 4QLXXNum 4QLXXDeut), darunter ein Fragment zu Leviticus, welches den ältesten Beleg zur Aussprache des Gottesnamens IAW enthält (4QLXX Levb 20 4, 1. Jh. v. Chr.). Außerdem ist das Tetragramm im griechischen Zwölfprophetenbuch von Na!al "ever (1/8H!evXIIgr) in althebräischer Schrift geschrieben. S. dazu kürzlich: M. R ICHEY, The Use of Greek at Qumran: Manuscript and Epigraphic Evidence for a Marginalized Language, DSD19 (2012) 177–197; E. T OV, The Greek
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wörter in den hebräischen oder aramäischen Texten. Da das 3. Kapitel des Buches Daniel, das viele griechische Lehnwörter zur Bezeichnung der Musikinstrumente enthält, in Qumran ebenfalls fehlt, kann man mit Martin Hengel annehmen, dass es sich hier „um einen bewussten religiös und 28 national bedingten Purismus“ der Qumrangemeinde handelt. Die auf Hebräisch, Aramäisch und Griechisch geschriebenen Handschriften vom Toten Meer haben insofern auch die Diskussion über die Sprachsituation Palästinas um die Zeitenwende belebt. Die aramäischen Texte im Besonderen werfen auch ein neues Licht auf Jesu Mutter- und Gebetssprache. Zugleich bestätigen und berichtigen sie bisherige Vorschläge zur Rückübersetzung des Vaterunsers, die noch nicht von den Qumrantexten profitieren konnten. Eine solche soll im Folgenden versucht werden. Jede Rückübersetzung bleibt freilich nur eine hypothetische Annäherung, die aus verschiedenen Bausteinen der Qumran-Texte und der Targumim schöpfen kann, doch bleibt manches von dem ursprünglichen aramäischen Text hinter dem Mantel des Griechischen verhüllt. 2. Zur Sprache der Gebete in Qumran Was zu Beginn über die Handschriften vom Toten Meer gesagt wurde, gilt auch für die Gebete: Der Großteil ist auf Hebräisch geschrieben und 29 umfasst Versammlungs- und Festtagsliturgien, die noch aus der Tempelliturgie stammen oder ggf. an deren Stelle treten. Die hebräischen Gebete sind insofern bereits Zeugen der Substituierung der blutigen Tieropfer im Jerusalemer Heiligtum durch öffentliche Gebete. Die Grundsteine für die allein auf dem Wort basierende „Substitutionsliturgie“, wurzeln in der ersten Tempelzerstörung, die mit einem Umdenken und einer Neuorganisation des Kults der Exilgemeinde in Versammlungs- und Lehrhäusern (Bet Midrasch, s. Sir 51,23) verbunden ist. Man schätzt die Zahl der in Qumran insgesamt belegten Gebete auf ca. 30 300, sie sind größtenteils in den Bänden DJD 11 und DJD 29 gesammelt. Sie bilden einen unschätzbaren Fundus für die Erforschung der jüdischen Biblical Texts from the Judean Desert, in: ders., Hebrew Bible, Greek Bible and Qumran, Tübingen 2008, 339; E. T OV, The Greek Minor Prophets Scroll from Nah!al H!ever (8H!evXIIgr) (DJD 8), Oxford 1990; L EWIS, JDS 2; H.M. C OTTON/A. Y ARDENI, Aramaic, Hebrew and Greek Documentary Texts from Na!al "ever and Other Sites (DJD 27), Oxford 1997. 28 M. H ENGEL, Judentum und Hellenismus, 113. 29 Siehe dazu D.K. FALK, Daily, Sabbath, and Festival Prayers in the Dead Sea Scrolls (STDJ 27), Leiden u.a. 1998. 30 Mehr dazu bei Esther Chazon in ihrem Vorwort zu dem Band: E. C HAZON et al. (Hg.), Liturgical Perspectives: Prayer and Poetry in Light of the Dead Sea Scrolls. Proceedings of the Fifth International Symposium of the Orion Center, 19–23 January 2000 (STDJ 68), Leiden/Boston 2003, vii-ix.
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Liturgie. Die Qumrantexte liefern uns somit nicht nur die ältesten Handschriften zu biblischen Texten und vielen Pseudepigraphen, sie bieten auch die ältesten Quellen für die jüdische Liturgie. Diverse Vergleiche und Analysen wurden anhand der Hodayot, Berakhot und der Sabbatlieder vor31 genommen. Neben diesen kollektiven liturgischen Gebetstexten fand man in Qumran jedoch auch individuelle Gebete auf Hebräisch und Aramä32 isch. 3. Die aramäischen Gebete in den Handschriften von Qumran Trotz zahlreicher Studien zu den hebräischen Gebeten aus Qumran ist es erstaunlich, dass man den aramäischen Gebeten insgesamt wenig 33 Beachtung widmete. Folgende elf oder zwölf Texte kommen hier in Betracht: 1. Gebet Abrahams um Erlösung Sarais aus Pharaos Hand (1QapGen XX,12–16); 2. Segnung Abrahams durch Melkizedeq (1QapGen XXII,16–17); 3. Exorzistisches Gebet Abra(ha)ms durch Handauflegung (1QapGen XX,27–34 [XX,21b–31a]); 4. Saras Bittgebet um Erlösung durch den Tod (4QTobita f6,6–6,13 = Tob 3,10–15); 5. Tobits Dankgebet zu Ehren Gottes (4QTobita f18,1–15: = Tob 13,1–13,18); 31 E. C HAZON, Human and Angelic Prayer, in: dies. et al. (Hg.), Liturgical Perspectives: Prayer and Poetry in Light of the Dead Sea Scrolls. Proceedings of the Fifth International Symposium of the Orion Center, 19–23 January 2000 (STDJ 68), Leiden/Boston 2003, 35–48. 32 E. E SHEL, Apotropaic prayers in Qumran, Apotropaic prayers in the second temple period, in: E. Chazon et al. (Hg.), Liturgical Perspectives: Prayer and Poetry in Light of the Dead Sea Scrolls. Proceedings of the Fifth International Symposium of the Orion Center, 19–23 January 2000 (STDJ 68), Leiden/Boston 2003, 69–88. 33 G. SCHELBERT, ABBA, Vater! Stand der Frage, FZPhT 40 (1993) 359–381: 363, schrieb noch, dass es kaum aramäische Gebete zur Zeit Jesus gebe. Er kenne nur zwei aus Qumran: Abrahams Gebet aus dem Genesisapokryphon und ein zweites, das dem Patriarchen Levi zugeschrieben wird. In seiner Monographie erwähnt Schelbert (G. SCHELBERT, Abba Vater. Der literarische Befund vom Altaramäischen bis zu den späten Haggada-Werken (NTOA/SNTU 81), Göttingen 2011, 49), dann noch 4Q242. Viele dieser Gebete sind punktiert nach tiberischer Tradition erschienen in: Ursula SchattnerRieser, Textes araméens de la mer Morte. Édition bilingue, vocalisée et commentée (Langues et cultures anciennes 5), Bruxelles 2005. Insgesamt zähle ich sogar 19 Gebetsformulierungen und Segenssprüche, die ich auf dem ISDCL Congress Haifa 2014 unter dem Titel „Emotions and Expressions of Emotions in the Aramaic Prayers of Qumran or How to Learn to Pray“ präsentierte und zur Veröffentlichung vorbereite.
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6. Lobpreis Henochs zu Ehren des Herrn der Herrlichkeit (!"#$% &%') auf der 2. kosmischen Reise (4QEnochd f1 11,2 = 1Enoch 22,14); 7. Gebet Levis (4Q213a f1,1–18+ f2,1–10) mit einer Parallelstelle im griechischen Athosmanuskript des Aramäischen Levidokuments, aber nicht im griechischen Testament Levis (ALD); 8. Dankgebet des Nabonid nach Heilung (4QPrayerNabonidus = 4Q242 f1–3,1); 9. Hymnenartige Lobpreisung des Patriarchen Qahats in einer testamentarischen Verordnung (4Q542 f1 i, 1–3); 10. Gebet (einer unbekannten Protagonistin !"#$) um Hilfe und Vergebung trotz der Sünden der ‚Väter‘ (4QProto-Estherd = 4QGeschichten am persischen Hof = 4Q550c f1 1–1); 11. Exorzistischer Beschwörungstext gegen Übel und Krankheit (4Q560), der dem Patriarchen Levi zugeschrieben wird. 12. Aufgrund des fragmentarischen Zustands nicht mit Sicherheit zu belegen ist noch ein weiterer Text, nämlich der Abschiedssegen Tobits mit testamentarischen Verordnungen an die israelitische Gemeinde (4QTobita f43,1 = Tob 14,8?). Eine formale Auswertung der genannten elf oder zwölf Texte ergibt: drei Bittgebete um Beistand und Erlösung34 (1, 3 und 10); zwei Dankgebete35 (4 und 8); zwei Segensprüche und Lobpreisungen36 (2 und 9); zwei Abschiedssegen mit testamentarischen Verordnungen37 (7 und 12); ein exorzistisches Beschwörungsgebet38 (11) und ein Bußgebet innerhalb des Abschiedssegens in 4Q213a (7). Diese Gebete werden als private und spontane Gebete in Erzähltexten eingebaut und sind daher ursprünglich nicht der öffentlichen Liturgie zuzuordnen. Doch auch wenn Gebete ursprünglich dem Privatgebrauch zugeordnet sind, können sie doch mit der Zeit auch zu „offiziellen“ Gebeten werden, wie das Beispiel des Qaddishgebets zeigt. Auch das Vaterunser hatte wie das Qaddish zunächst keinen liturgischen Status, sondern war als persönliches Gebet Jesu zunächst ein persönliches und dann vielleicht gemeinsames Gebet seines Jüngerkreises, aber noch nicht Teil einer offiziellen ‚Liturgie‘.39 Obwohl diese Gebete unterschiedlichen Gattungen angehören, weisen sie einige sprachliche Gemeinsamkeiten auf. Dazu zählt die ausnahmslose 34 1QapGen = 1Q20 XX,12–16; 4QTobita = 4Q196 f6,6–6,13 = Tob 3,10-15; 4QProto-Estherd = 4QGeschichten am persischen Hof = 4Q550c f1,1–1. 35 4QTobita = 4Q196 f18,1–15 = Tob 13,1–13,18; 4QPrNabonidus = 4Q242 f1–3,1. 36 1QapGen XXII,16–17; 4QvisAmram = 4Q545 f1 i, 3–4. 37 4QTobita f43,1 = Tob 14,8?; 4QLev = 4Q213a. 38 4QExcorcism = 4Q560. 39 Lk 11,1 benennt eine Analogie im Schülerkreis Johannes des Täufers. Auch dieser soll seine Anhänger ein Gebet gelehrt haben.
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Verwendung des internen Passivs Pe!îl (berî! „gesegnet“). Die mediopassiven H/’it-Formen (Passivum Divinum), die charakteristisch für das Vaterunser und das Qaddishgebet sind, kommen in diesen Gebeten nie 40 vor. Das bedeutet nicht, dass der höfische Stil mit Vermeidung der direkten Nennung des Subjekts, ausgedrückt durch die passiv-reflexive Konstruktion, unbekannt wäre. Diese kommt im Alten Testament durchaus vor, doch fehlt sie in den aramäischen Gebeten von Qumran. Der Gottesname !el!h(â) ist zwar gut belegt, wird aber dennoch mit Vorliebe 41 42 epithetisch umschrieben, und auch das Tetragramm fehlt völlig. Diese aramäischen Gebete bieten Einblicke in die Gebetspraxis des Judentums aus vorrabbinischer Zeit und den Beweis, dass Gebete auf Hebräisch wie auf Aramäisch möglich waren. Sie bieten auch einen interessanten Vergleichspunkt für die Frage nach dem Hintergrund der ersten christlichen Gebete. Angefangen von der Gebetshaltung mit ausge43 streckten Händen und zum Himmel erhobenen Augen bis zum Wortschatz und Gedankengut, welche sich teils mit dem Vaterunser decken, teilweise aber auch deutlich unterscheiden. 4. Das Aramäische der Gebete Jesu Dass Jesus persönliches Beten auf Aramäisch geschah, zeigt sich eindeutig an zwei charakteristischen Beispielen aus dem Markusevangelium. Zum einen rezitiert Jesus am Kreuz in seiner Verzweiflung Psalm 22,2 auf Aramäisch (Mk 15,34), was dann im Matthäusevangelium ins Hebräische ‚korrigiert‘ wird (Mt 27,46), und zum anderen betet Jesus in der Gethsemani-Episode in Mk 14,36 zum Vater um Verschonung vor dem Todeskelch, wobei schon allein die vokative Gottesanrede !""# $ %#&'( 40
Dieses sogenannte Passivum Divinum welches Gott zum Subjekt hat, ihn aber aus Respekt nicht aktiv handeln lässt, ist schon im AT, wenn auch seltener als im NT, belegt. In der deuterokanonischen Literatur kommt es vermehrt vor. Siehe dazu C H. M ACHOLZ, Das Passivum divinum, seine Anfänge im Alten Testament und der ‚Hofstil‘, ZNW 81 (1990) 247–253. 41 Folgende Epitheta finden sich hier: „großer Name“ ("#m rabbâ); „Allerhöchster Gott“ (!"l "elyôn); „Herr des Himmels“ (m#r"! $emayyâ), „Herr des Himmels und der Erde“; „ewiger König“ (mele! "emayyâ); „der große Heilige“ (qaddî"â rabbâ); „unser großer Herr“ (m!ranâ rabbâ); „ewiger Herr“ (m#r"! "#lmâ und m#r"! "#lmayyâ in 4QEnb 1 iii 14); „Wahrheit/Gerechtigkeit“ (qud"â). In Gebeten wird Gott auch in Kompositionen mit seinem „Namen“ angerufen ("em#h qaddî"â; "em#h rabbâ; "em#h %abâ), wie dies in der rabbinischen und samaritanischen Tradition gerne zur Substituierung des Tetragramms diente, so z. B. be$"m m#r"! "#lmayyâ „im Namen des ewigen Herren“, le$"m !el#hâ „dem Namen des Gottes“. 42 J. G REENFIELD/M. SOKOLOFF, Qumran Aramaic, in: T. Muraoka (Hg.), Studies in Qumran Aramaic (AbrNSup 3), Louvain 1992, 92–94. 43 Die Gebetshaltung ist aus der Bibel bekannt und findet sich im Gebet Saras aus dem Tobitbuch und dem Testament Levis aus Qumran.
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einen spontanen Ausruf in der Muttersprache markiert. Auch das lukanische !"#$% in Lk 10,21 ist aus einem aramäischen Abba zu erklären, und selbst im Johannesevangelium spiegelt sich noch diese einfache Gebetsanrede Jesu (Joh 11,41; 12,27f.; 17,1.5.11.21.24f.). Diese Anrufung des Vaters war offenbar der frühen Gemeinde so eindrücklich, dass sie selbst Paulus gegenüber seinen griechischsprachigen Adressaten in Galatien und Rom als Fremdwort gebrauchte und als vertraut voraussetzen konnte (Gal 4,6; Röm 8,15). Der Befund ist m.E. eindeutig: Der irdische Jesus sprach 44 sein persönliches Gebet in seiner Muttersprache – d.h. dem Aramäischen. Das uns in drei Rezensionen45 überlieferte Vaterunser hat die Forschung dabei in besonderem Maße beschäftigt. Diskutiert wurde neben der Frage, welche der überlieferten Versionen die ursprünglichste ist, insbesondere auch die Frage nach der Ursprache dieses Gebetes. Bei nur wenigen 46 anderslautenden Stimmen (wie z. B. von Jean Carmignac ) ist heute allgemein akzeptiert, dass auch das Vaterunser ursprünglich aramäisch war. Freilich beginnen hier erst die Probleme, denn es stellt sich die Frage, welches aramäische Idiom hier vorauszusetzen ist. Neben der literarischen Standardsprache, in der z. B. das Targum Onkelos verfasst ist und auch gewisse Qumrantexte, gab es lokale Dialekte, wie dies z. B. auch in der Petrus-Episode Mt 26,73 angedeutet wird. Ein Galiläer verriet sich durch seine Sprache, durch verschiedene Lexeme, die im Judäischen nicht gebräuchlich waren, und daneben durch seine 47 Aussprache. Wie die späteren Diskussionen im Talmud belegen, unterschied sich das Galiläische so erheblich vom judäischen Dialekt, dass man
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J. C ARMIGNAC, Le Notre Père, Paris 1969, 52. Die Varianten sind: die aus fünf Bitten bestehende lukanische Kurzfassung in Lk 11,2–4 und den verwandten Langfassungen von Mt 6,9b–13 und Did 8,2, siehe zu dieser: Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe. Neu übersetzt und herausgegeben von A. L INDEMANN/H. PAULSEN, Mohr Siebeck, Tübingen 1992, 12–15. 46 Dazu s. auch G. B ALTES, Hebräisches Evangelium und synoptische Überlieferung: Untersuchungen zum hebräischen Hintergrund der Evangelien, Tübingen 2011, 61–64. 47 Galiläer wie Samaritaner unterschieden sich durch die Aussprache der Sibilanten, Laryngale und Labiale, auch folgt die Spirantisierung der !( !)!"#$ – Konsonanten anderen Regeln. In der samaritanischen Aussprache des Aramäischen (und Hebräischen) wird /p/ immer als Spirant /f/ gesprochen wie in !"#"$ (iffata) „öffne dich“ oder „sei geöffnet“, das dem &''()" des NT bei Mk 7,34 entspricht), hingegen werden die anderen !( !)!"#$-Laute immer explosiv gesprochen werden. Das /b/ wird nie spirantisiert als /bh/, sondern okklusiv als /b/ gesprochen – ‚mein Vater‘ wird somit als !abî ausgesprochen. Außerdem wurden die Gutturale im Aramäisch sprechenden Norden so schwach artikuliert, dass sie verwechselt wurden. 45
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den Galiläern untersagte im Tempel zu lesen, weil man ihnen vorwarf, keine korrekte Aussprache zu haben.48 Freilich kann das aramäische Idiom, das in der Forschung gemeinhin als ‚Galiläisches Aramäisch‘ bezeichnet wird, nach heutigem Stand der Forschung und nach den aramäischen Textzeugen aus der Wüste Juda nicht mehr als Jesu Muttersprache angesehen werden. Das als „Galiläisch“ bezeichnete Aramäisch ist ein terminus technicus für einen späten aramäischen Dialekt des 4.-6. Jh. n. Chr., in dem der palästinische Talmud und einige Midraschim geschrieben sind. Zweifellos unterschied sich das frühere galiläische Aramäisch ebenfalls schon vom südlicheren judäischen Dialekt, so dass Petrus an seiner Mundart bzw. Aussprache als Galiläer erkennbar ist, und auch Jesu Aussprache effata (Mk 7,34: !""#$% „öffne dich“ oder „sei geöffnet“) ist charakteristisch für die nördliche Aussprache der Samaritaner und Galiläer.49 Leider genügen die Transliterationen bei Josephus und im Neuen Testament nicht, um daraus eine Sprache zu rekonstruieren. Und zwischen dem späteren rabbinischen Galiläisch und dem zur Zeit Jesu gesprochenen Aramäisch liegen einige Jahrhunderte. Da die Pioniere der neutestamentlichen Aramaistik, Gustaf Dalman ebenso wie Joachim Jeremias,50 ihre Rekonstruktionen des Vaterunsers aufgrund des späteren galiläischen Aramäisch vornahmen51 und auch Karl48
Siehe dazu bErub 53a–b; bMeg. 24b; bBer 32a z. B. In der Tat sprachen die Galiläer die Gutturallaute nicht aus was zu Verwechslungen und Missverständnissen führen konnte. 49 Siehe dazu die Aramaismen im Neuen Testament in U. SCHATTNER-R IESER, L’araméen des manuscrits de la mer Morte, Bruxelles 2004, 48–49. 50 Vgl. G. D ALMAN, Die Worte Jesu mit Berücksichtigung des nachkanonischen jüdischen Schrifttums und der aramäischen Sprache erörtert, Bd. 1, Leipzig 1930, 283– 365; J. JEREMIAS, Das Vater-Unser im Lichte der Neueren Forschung (Calwer Hefte 50), Stuttgart 1962; DERS. Abba. Studien zur Neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 155–171, bes. 160; weiter K.G. K UHN, Achtzehngebet und Vaterunser und der Reim (WUNT 1), Tübingen 1950, 32–33; C.F. B URNEY, The Aramaic Origin of the Fourth Gospel, Oxford 1925, 12–13; C H. T ORREY, The Translations made from the Original Aramaic Gospels, in: D.G. Lyon/G. F. Moore (Hg.), Studies in the History of Religions presented to Crawford Howell Toy by Pupils, Colleagues and Friends (FS C. H. Toy), New York 1912, 309–317; E. L ITTMANN, Torreys Buch über die vier Evangelien, ZNW34 (1935) 20–34; J.A. FITZMYER, The Gospel According to Luke X–XXIV (AB 28A), Garden City 1983, bes. 901; B. C HILTON, Jesus Prayer and Jesus’ Eucharist. His Personal Practice of Spirituality, Valley Forge, Pa. 1997, 24–51; J. C ARMIGNAC, Recherches sur le Notre Père, Paris 1969; P. G RELOT, L’arrière-plan araméen du Pater, RB 91 (1984) 531–556; DERS., La quatrième demande du Pater et son arrière-plan sémitique, NTS 25 (1978–79) 299–314. 51 G. D ALMAN, Die Worte Jesu, 371, selbst schreibt, dass „sein“ Galiläisch auf sehr späten Textdenkmälern beruht; vgl. DERS., Grammatik des Jüdisch-Palästinischen Aramäisch, 41 (§7.3): „der galiläische Dialekt, von dem wir im palästinischen Talmud und Midrasch Denkmäler aus dem vierten bis sechsten Jahrhundert besitzen (s. §2, 3); D ERS.,
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Georg Kuhn in seiner 1950 veröffentlichten, nach wie vor benutzten 52 Rekonstruktion des Vaterunsers , noch keine aramäischen Texte aus Qumran zur Verfügung standen – das Genesis-Apokryphon aus Höhle 1 wurde erst später veröffentlicht –, ist eine neue Rückübersetzung und Rekonstruktion gerechtfertigt. Ich werde im Folgenden das Sprachgut der aramäischen Texte aus Qumran der mittelaramäisch-palästinischen Phase und vergleichbare, ähnliche Redewendungen (nicht aber die Morphologie, die entwickelter ist) aus den Targumim miteinbeziehen, welche im Hinblick auf das Vaterunser relevant sind. Hingegen werde ich nicht konstant auf das Qaddish und das Achtzehnbittengebet eingehen, auf die sonst i.d.R. 53 verwiesen wird, da diese Gebete eben nicht zeitgleich mit dem Vaterunser sind. Gewiss schöpften auch diese Gebete aus demselben Fundus wie das Vaterunser, doch ist ihre Fixierung und die Aufnahme in die tägliche Gebetsliturgie deutlich später anzusetzen. Gemäß der rabbinischen Tradition (bBer 28b) wurde das Achtzehnbittengebet zwar zu Ende des 1. Jh. unter Gamaliel ‚geordnet‘ (wenn auch nicht, wie die ältere Forschung meinte, auf einer ‚Synode von Jabne‘, die es so nie gegeben hat54), aber es hat sich, wie es die vielen in der rabbinischen Literatur erhaltenen Diskussionen und die zahlreichen Varianten bezeugen, erst in den ersten Jahrhunderten nach der Tempelzerstörung zu einem Gebet zusammengefügt.55 Auch das Qaddish ist nach neueren Forschungen erst
The Words of Jesus, Edinburgh 1909, 79: „The Judaean dialect is known to us from literary remains of Judaean origin in the period from the first to the third (Christian) century; the Galilean dialect from writings of Galilean origin in the period from the fourth to the seventh century. That the ‘Galilean’ at the time of its dominance among the Jews of Galilee was accompanied in other parts of Palestine by sister-dialects closely akin, is proved by the Samaritan Aramaic, and the still more closely related Christian Palestinian Aramaic.“ Auch Joachim Jeremias (in: J. JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie. Die Verkündigung Jesu, Berlin 1973, 15–16) ist sich der späten schriftlichen Quellen bewusst, auf die er sich in seiner Rückübersetzung des Vaterunsers beruft. 52 K UHN, Achtzehngebet, 32–33. 53 Zum Vergleich mit dem Achtzehngebet S. K. G. K UHN, Achtzehngebet. 54 G. STEMBERGER, Die sogenannte Synode von Jabne und das frühe Christentum, Kairos 19 (1977) 14–21; G. STEMBERGER, Jabne und der Kanon, JBTh 3 (1988) 163–174; P. SCHÄFER, Die sogenannte Synode von Jabne (1. Zur Trennung zwischen Juden und Christen im 1.–2. Jh. n. Chr.; 2: Der Abschluss des Kanons), Judaica 31/2 (1975) 54–64; P. SCHÄFER, Die Flucht Johanan b. Zakkais aus Jerusalem und die Gründung des Lehrhauses in Jabne, in: H. Temporini/W. Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt (ANRW), Teil 2, Bd. 19/2, Berlin/New York 1979, 43–101. 55 U. K ELLERMANN, Das Achtzehngebet-Bitten-Gebet. Jüdischer Glaube in neutestamentlicher Zeit, Neukirchen 2007, 23 und Anm. 52.
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viel später als das Vaterunser entstanden.56 Hingegen werden von christlichen Theologen häufig Vergleiche mit dem Qaddish angestellt, als ob das Vaterunser von diesem inspiriert worden wäre – dabei wäre m.E. sogar eine umgekehrte Beeinflussung in Erwägung zu ziehen.
IV. Grundfragen zur Form und zur Gebetsanrede „Abba“ 1. Einleitende Bemerkungen zur Form Das VU ist literarisch der Gattung der Bittgebete zuzuordnen, da es abgesehen von der Gebetsanrede ausschließlich aus Bitten besteht. Durch die abschließende Doxologie wird es in der matthäischen Fassung durch 57 Elemente des Lobgebets bereichert. Auf die Einleitungsformel folgen in der lukanischen Kurzfassung zwei theozentrische Du-Bitten und drei anthropozentrische Wir-Bitten. Die Bittstellungen bei Lukas umfassen fünf, in der längeren Fassung bei Matthäus sieben Befehlsformen. Ursprünglich handelte es sich dabei um drei Jussivformen (geheiligt, komme, geschehe), drei Imperative (gib, vergib, erlöse) und eine Prohibitivform (führe nicht ein). Die ersten drei Jussive sind in einem volitiven oder optativen Sinn, als Wunschform, zu verstehen, so wie es auch die frühen Übersetzungen des Christo-Palästinischen und die Kirchenväter verstanden haben. Von der Forschung wird allgemein angenommen, dass die kürzere Form nach Lukas die ursprünglichere Form des Vaterunsers repräsentiert. Dies entspricht der üblichen Sicht der Entwicklung der synoptischen Stoffe nach der Zweiquellentheorie, nach der Lukas die Logienquelle genauer 58 erhalten habe. Im konkreten Fall des Vaterunsers muss dies allerdings nicht zwingend der Fall sein, denn die bei Matthäus zusätzlichen Elemente nehmen Formulierungen auf, die in Qumran und in der frührabbinischen Literatur gut belegt sind. Die Anrede mit Gott als Vater im Himmel entspricht ebenfalls einer zeitgerechten epithetischen Bezeichnung, und was die Bitte um das Kommen des Reiches anbelangt, so entspricht auch diese Erwartung – ob nun innerweltlich oder eschatologisch verstanden – den Erwartungen von Teilen der palästinisch-jüdischen Bevölkerung der ersten zwei Jahrhunderte. Dass wir es mit einem Originaltext auf Aramäisch zu tun haben, ist klar. Die sprachliche Zuordnung ist schwieriger. Der Konsonantentext kann 56 S. dazu A. L EHNARDT, Qaddish – Untersuchungen zur Entstehung und Rezeption eines rabbinischen Gebetes, Tübingen 2002, 297–298. 57 Vgl. O. C ULLMANN, Das Gebet im Neuen Testament, Tübingen 21997, 91. 58 Vgl. U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 1994, 214.
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dank unserer Kenntnisse des Qumran-Aramäischen rekonstruiert werden. Die Aussprache ist allerdings nicht sicher, was die Vokale der Vortonsilben anbelangt – wir wissen ja nicht einmal, wo die Betonung lag! Freilich bestätigen gerade die Aramaismen des Neuen Testaments, dass jene Vokale zur Zeit Jesu noch ausgesprochen wurden und nicht zu shewa verkürzt wurden, doch haben wir hierfür kein grammatikalisches Vergleichsmaterial und nicht genügend griechische Transkriptionen. 2. Zum Gottesnamen Die Texte aus Qumran und Masada bezeugen allgemein großen Respekt vor dem Schreiben des Tetragramms. In den hebräischen Texten aus Qumran wird das Tetragramm in quadratschriftlichen Texten durch paläohebräische Lettern vom restlichen Text abgesetzt, und häufig auch vermieden.59 Auch die griechische Zwölfprophetenrolle aus Na!al "ever schreibt das Tetragramm in althebräischen Lettern.60 In den aramäischen 61 Texten aus Qumran begegnet das Tetragramm kein einziges Mal, d. h. es wird gänzlich vermieden. Im aramäischen Tobittext wird es durch vier Punkte ersetzt, im aramäischen Danieltext aus Qumran wird sogar die Gottesbezeichnung !el!h!"â (!"#$!) „dein Gott“ vom Heiligkeitstabu umgeben und nicht in Quadratschrift, sondern mit paläohebräischen Lettern geschrieben. Darüber hinaus dienen eine Vielzahl von Substituten der 62 Ersetzung des Tetragramms. 59
So z. B. in 1QS und CD, 1QIsa (!"#! $%"), s. C.H. W ILLIAMS, I am He: the Interpretation of Anî Hû in Jewish and Early Christian Literature (WUNT II/113), Tübigen 2000, 66–68; P.W. SKEHAN, The Divine Name at Qumran, the Masada Scroll and in the Septuagint, BIOSCS 13 (1980) 14–44: 16–18; D.W. PARRY, Notes on Divine Name Avoidance in Scriptural Units of the Legal Texts of Qumran, in: M. Bernstein u.a. (Hg.), Legal Texts and Legal Issues: Proceedings of the Second Meeting of the International Organization for Qumran Studies, Cambride 1995, Published in Honour of Joseph M. Baumgarten (StTDJ 23), Leiden 1997, 437–449: 440ff.); H. STEGEMANN, Religionsgeschichtliche Erwägungen zu den Gottesbezeichnungen in den Qumrantexten, in: M. Delcor (Hg.), Qumrân. Sa piété, sa théologie et son milieu (BEThl 46), Leuven 1978, 195–217: 200–202. 60 K. DE T ROYER, The Names of God, Their Pronounciation and Their Translation: A Digital Tour of Some of the Main Witnesses, lectio difficilior 2 (2005), online unter http://www.lectio.unibe.ch/05_2/troyer_names_of_god.htm; mehr zur Schreibweise des Tetragramms JHWH in: M. Rösel, The Reading and Translation of the Divine Name in the Masoretic Tradition and the Greek Pentateuch, JSOT 31 (2007) 411–428. 61 J. G REENFIELD/M. SOKOLOFF, The Contribution of Qumran Aramaic to the Aramaic Vocabulary, in: T. Muraoka (Hg.), Studies in Qumran Aramaic, Supplement 3, Louvain 1992, 78–98: 92–94; U. Schattner-Rieser, L’apport de la philologie, 119. 62 malkâ rabbâ „der große König“ (4Q196 [4QToba] f18,5), !#l "elyôn „höchster Gott“ (1Q20 [1QapGen] XX,16); m!rî malkâ „mein Herr (und) König“ (1Q20 [1QapGen] XX,25), mele" rabbâ „großer König“ (4Q530 [4QEnGiantsb] fii,6_12,19), qaddi$â rabbâ
Das Aramäische zur Zeit Jesu, „ABBA!“ und das Vaterunser
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Trotz dem offensichtlichen Respekt um das Tetragramm bleibt eine Reihe von Fragen ungelöst. Nach der biblischen Tradition darf der Name Gottes nicht achtlos ausgesprochen werden, und seine Aussprache war spätestens ab der hellenistischen Zeit ein Privileg des Hohenpriesters (Sir 50,20)63 und auch dieser durfte den Gottesnamen nur im Tempel aussprechen.64 Die rabbinische Tradition besagt außerdem, dass er überhaupt nur einmal pro Jahr im Tempel vom Hohepriester zu Jom Kippur ausgesprochen wurde.65 Dennoch scheint der Gottesname auch in Qumran nicht ganz oder nicht für jeden geheim gewesen sein, da er immerhin im griechischen Fragment 4QpapLXXLevb zu !"#, transkribiert ist. Dies ist der älteste authentische Zeitzeuge der Aussprache !"# (< hebr. ya[h]o),66 freilich befindet sich dieser Beleg in einem Pentateuchtext, was vielleicht bedeutet, dass der Name Gottes beim Lesen des biblischen Textes vielleicht nicht dem Aussprachetabu unterlag, im Gegensatz zu nichtbiblischen Gebeten. Doch sind die hiermit verbundenen Probleme hier nicht weiter zu erörtern.67
„der große Heilige“ (4Q201 [4QEna] f1 i,5; 4Q204 f1 v,20; 1Q20 [1QapGen] VI,15; VII, 7; XII,17); m!ranâ rabbâ „unser großer Herr“ (4Q202 [4QEnb] iii,14), dayy!n qu"#â „gerechter Richter“ (4Q205 [4QEnoch d] 1 xi 2), qud"â „Wahrheit/Gerechtigkeit“ und ebenso m!r$! "emayyâ „Herr des Himmels“; m!r$! !!lmâ und m!r$ !!lmayyâ „ewiger Herr“; !el!h !!lmâ und !el!h !!lmayyâ „ewiger Gott“; mele% "emayyâ „ewiger König“. 63 Sir 50,20: „Dann stieg er (der Hohepriester Simon, Sohn des Onias) herab und erhob seine Hände über die ganze Gemeinde Israels. Der Segen des Herrn war auf seinen Lippen, den Namen des Herrn nennen zu dürfen war sein Ruhm. Sie aber fielen zum zweiten Mal nieder, um den Segen von ihm zu empfangen.“ Die hebräischen Sirachfragmente aus Masada, welche das Tetragramm umschreiben, bezeugen die progressive Entfernung der Anwendung des Heiligen Namens. 64 Einen interessanten Hinweis hierfür bietet die Midraschstelle zu Ex 20,24 in der Mekhilta di Rabbi Ismaël, wo es heißt: „Da wo ich mich euch offenbare: das ist im Tempel. Von dort leitet sich ab, dass das Tetragramm (der Hl. Name) außerhalb des Tempels nicht ausgesprochen werden darf ...“, zitiert in F. M ANNS, La Prière d’Israël à l’heure de Jésus, Jerusalem 1986, 32. 65 yYoma 3,7 (40d–41a); bQid 71a, KohR 3, 11.3 und bPes 71a. S. mehr dazu in H.-J. B ECKER, The Magic of the Name and Palestinian Rabbinic Literature, in: P. Schäfer (Hg.), The Talmud Yerushalmi and Graeco- Roman Culture, Tübingen 2002, 391–410: 404–405. 66 In den Papyri der jüdischen Gemeinde von Elephantine wird der konsonantische Gottesname YHH oder YHW geschrieben, dazu U. SCHATTNER-R IESER, La Bibliothèque de la communauté juive d’Eléphantine, Tsafon 56 (2008–2009) 14, Anm. 4. 67 Emanuel Tov sieht in der Schreibung !"# einen Beweis für ein sehr alte griechische Version, die älter als die LXX-Version sein soll, so in: E. T OV, The Greek Biblical Texts from the Judean Desert, in: S. McKendrick/O.A. O’Sullivan (Hg.), The Bible as Book: the Transmission of the Greek Text, London-New Castle 2003, 97–122: 102.
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In der Gebetsanrede wird Gott des Öfteren mit dem Substitut „Name“ 68 angerufen, ein Nomen welches gemäß der rabbinischen und samaritanischen Tradition gewöhnlich als Substitut des Tetragramms diente und ganz entsprechend auch im Vaterunser für Gott steht. 3. Die Anrede an Gott als ‚Vater‘ und das ‚Abba-Problem‘ Einige besondere Vorüberlegungen sind zur Gebetsanrede Gottes als ‚Vater‘ nötig und zu der Frage, wie die jesuanische Gebetsanrede ‚Abba‘ zu verstehen ist. Hier ist die Forschung insbesondere durch Joachim Jeremias beeinflusst, dessen Interpretation aus heutiger Sicht jedoch nicht mehr aufrecht zu erhalten ist und dringend der Korrektur bedarf. 3.1 Gott als Vater In der alttestamentlichen Tradition kommt Gott als Vater Israels oder des davidischen Königs in 17 Belegen vor69, und schon Origenes erwähnt die alttestamentlichen Belege in seiner Analyse des Vaterunsers als altisraelitisches Gut. Auch der „königliche“ Messias ist metaphorisch Sohn Gottes (Ps 2,7). Die Paternität Gottes im AT lässt sich in drei Punkten zusammenfassen:70 1. der König als „Adoptiv“-Sohn Gottes (2Sam 7,11– 14;71 Ps 2,7; 89,21–30), 2. Gott als Vater seines Volkes Israel (Ex 4,22s; Dtn 32,5s; Jes 1,2; Mi 1,6) und 3. in der Gebetsanrede als Gott-Vater (Jes 63,16; 64,7; Ps 89,27; Mal 2,10; Sir 23,1; Weish 2,16; Tob 13,4). Wie es
68 e b !"m m#r"! "#lmayyâ „im Namen des ewigen Herren“ (1Q20 [1QapGen] XX,2), le!"m !el#hâ „dem Namen des Gottes“ 1Q20 [1QapGen] XXI,2, !emâ rabbâ „großer Name“ (4Q542 [4QTQahat] f1,1), !emâ qaddi!â „heiliger Name“ (4Q196 [4QToba] f6,7; f18,11), !"m !#b „guter Name“ (4Q550a [4QPersische Hofgeschichten/Proto-Esther] f1,2). 69 S. dazu A. B ÖCKLER, Gott als Vater im Alten Testament. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung eines Gottesbildes, Gütersloh 2000; DIES ., Unser Vater, in: P. van Hecke (Hg.) Metaphor in the Bible (BEThL 187), Leuven 2005, 249–261: 252-253); weiteres zur familiären Beziehungsmetaphorik: C H. G ERBER, Paulus und seine Kirche. Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe (BZNW 136), Berlin 2005, 159; DIES., „Gott Vater“ und die abwesenden Väter. Zur Übersetzung von Metaphern am Beispiel der Familienmetaphorik, in: Ch. Gerber et al. (Hg.), Gott heißt nicht nur Vater. Zur Rede über Gott in den Übersetzungen der „Bibel in gerechter Sprache“, Biblisch-theologische Schwerpunkte 32, Göttingen 2008, 145–161. 70 C H. Z IMMERMANN, Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten Neutestamentlichen Gottesbezeichnungen (AJEC 69), Berlin/New York 2007, 48 Anm. 48, führt folgende Liste an: Vater des davidischen Königs: 2Sam 7,14, Ps 89,27f.; 1Chr 17,13; 22,10; 28,6; Vater Israels: Dtn 1,31; 8,5 und 32,6; Jer 31,9; Jes 63,16 (2x); 64,7; Jer 2,27; 3,4; 3,19; Mal 1,6; 2,10 (indirekt auch in Mal 3,17); Ps 68,6 und Ps 103,13. 71 Dieser Vers wird in 2Kor 6,18a leicht modifiziert zitiert: „Ich werde euch Vater sein, und ihr werdet mir Söhne und Töchter sein …“
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die ausführlichen Studien von Christiane Zimmermann72 und Angelika Strotmann73 zeigen, gewinnt die Vaterbezeichnung für Gott in den jüdischen Texten der hellenistischen Zeit (Tob, Sir, 3Makk) zunehmend an Popularität. Hingegen ist die Vater-Titulatur in den gruppenspezifischen Texten aus Qumran eher selten74 (z.B. 1QHa XVII 35), doch kommt sie in anderen Qumrantexten auch als Gebetsanrede vor. 3.2 Die Gebetsanrede ‚Vater‘ Im hebräischen AT finden sich sieben Anreden Gottes mit „(mein/unser) Vater“.75 Dazu zählen Ps 89,27 mit „Mein Vater bist du, mein Gott, der Fels meines Heiles!“ und 1Chr 29,10 im Lobpreis Davids „Gelobt seist du, HERR, Gott Israels, unseres Vaters, von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ Jer 3,19 bietet Gott selbst an, dass er ‚mein Vater‘ genannt werden kann, während die Anrede in Jer 2,27 polemisch umgekehrt wird als Anrede an einen toten Götzen. Ein außergewöhnliches und sehr langes Gebet findet sich in Jesaia 63,15–64,11 (mit den einleitenden Worten ab Jes 63,7), dort wird Gott dreimal als „unser Vater“ angerufen, davon zweimal in der Wendung „Herr, unser Vater! ‚Unser Erlöser seit ewigen Zeiten‘ ist dein Name“ (Jes 63,16; 64,7) sowie ein weiteres Mal in Jes 63,16: „Du bist doch unser Vater!“ Wie Georg Fischer bemerkt, stellt dieses Gebet eine Brücke zum Vaterunser dar.76 Es enthält den Bezug zu Gott im Himmel, dem Barmherzigen und Retter und die Erinnerung an den Exodus (63,1–14). Als letztes bibilisches Beispiel sei die Gott-Vater-Bezeichnung in Mal 2,10 bezeichnet: „Haben wir nicht alle einen Vater?“ In der hellenistischen Zeit steigt die Verwendung der Gott-VaterAnrede deutlich an und umfasst ca. 50 Beispiele.77 Angelika Strotmann78 zählt 21 Gebetsanrufe in 16 Schriften mit Gott als Vater, davon begegnen sieben in den deuterokanonischen Schriften,79 von denen die Bücher Tobit (aram. und hebr.) und Sirach (hebr.) in Qumran belegt sind. In zwei 72
C H. Z IMMERMANN, Die Namen des Vaters, 52–64. A. STROTMANN, Mein Vater bist du! (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften, Frankfurt a.M. 1991. 74 Mehr zur Vater-Titulatur in den Qumrantexten in der detaillierten Studie von Lutz D OERING, God as Father in the Dead Sea Scrolls, in: F. Albrecht/R. Feldmeier (Hg.), The Divine Father: Religious and Philosophical Concepts of Divine Parenthood in Antiquity Themes in Biblical Narrative 18, Leiden 2014, 107–135. 75 C H. Z IMMERMANN, Die Namen des Vaters, 50. 76 In: G. FISCHER/K. B ACKHAUS, Beten (NEB.Themen 14), Würzburg 2009, 38. 77 C H. Z IMMERMANN, Die Namen des Vaters, 52. 78 A. STROTMANN, Mein Vater bist du!, 24–329. 79 Tob 13,14; Sir 23,1.14; 51,10 und Weish 2,16; 11,10, angeführt bei C H. Z IMMERMANN , Die Namen des Vaters, 52, Anm. 74. 73
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Gebeten des Sirachbuches wird Gott dreimal als Vater angerufen: zweimal im privaten Gebet des Jesus Ben Sira, das die persönliche Frömmigkeit des Autors zum Ausdruck bringt, wo er um Bewahrung vor falschem Reden 80 und Denken bittet, und im ‚Danklied eines Einzelnen‘81 in Sir 51,1b (Ms 82 B) !"#$ !"!#!"# $%[!" ]! „Ich preise dich mein Gott, mein Vater“ sowie Sir 51,10 (Ms B) „JHWH, mein Vater bist du, denn du bist mein rettender Held“. Auch im Danklied Tobits wird Gottvater gepriesen: „Denn er ist unser Herr und Gott, er ist unser Vater in alle Ewigkeit“ (Tob 13,3/4). Im hebräisch geschriebenen antisamaritanischen Text 4QapocJoseph (4Q372) frag. 1,16 fleht Josef als Vertreter der verstreuten Nordstämme zu Gott und betet: „Mein Vater und mein Gott überlasse mich nicht der Hand der Heidenvölker!“. Hinzu kommt ein Beispiel aus dem individuellen Gebet von 4Q460 9 i 6 wo die Gebetsanrede „mein Vater, mein Herr!“ lautet. Wie aus den Qumrantexten und dem Buch Sirach ersichtlich ist, findet sich die Gottesanrede „mein/unser Vater!“ im Munde einiger weniger Beter und drückt eine besondere, aber keineswegs exklusive Gottesbeziehung zwischen dem Betenden und Gott aus. 3.3 ‚Vater‘ als Titel und Anrede für einen Lehrer Nicht unerwähnt lassen sollte man, dass die Vater-Sohn-Metaphorik häufig auch das Verhältnis Meister-Schüler betrifft. Die Gleichsetzung Vater = 83 Lehrmeister ist im ganzen Orient verbreitet und in der israelitischen 84 Literatur gut belegt. Schon in der hebräischen Bibel werden Elija (2Kön 2,12) und Elischa in ihrer Funktion als Lehrmeister und spirituelle Führer von ihren Prophetenschülern mit !!"î (!"#$) „(mein) Vater“ betitelt und angerufen. Elija wird sogar von König Joasch, dessen ‚Berater‘ er war, mit dem Titel ‚Vater‘ angesprochen (2Kön 5,13; 6,21; 13,14). Interessanterweise unterscheidet hier das Prophetentargum, wer die Anrede ausspricht, und übersetzt das masoretische !!"î mit rabbî (!"# %$ ), wenn Israeliten reden, aber mit m!rî (!"# %$ ), wenn die Diener des Heiden Naaman reden.
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Sir 23,1–6 LXX: „Herr, Vater (!"#$% im Vokativ) und Gebieter meines Lebens, bring mich durch sie nicht zu Fall!“ (Sir 23,1); „Herr, Vater und Gott meines Lebens, überlass mich nicht ihrem Plan!“ (Sir 23,4). 81 Das Danklied für Gottes Retten im Sirachbuch (Sir 51,1–12) beinhaltet ein kurzes Klagelied welches mit Ps 89,27 beginnt (Sir 51,10b–11a). Anschließend folgt ein Loblied (Sir 51,12–30); s. G. FISCHER, Beten, 60. 82 Der hebräische Text folgt der mittelalterlichen Kopie des MS B nach P.C. B EENTJES, The Book of Ben Sira in Hebrew (SVT 68), Atlanta 2006, 91. 83 P. N IEL, The Concept ‚Father‘ in the Wisdom Literature of the Ancient Near East, Journal of Northwest Semitic Languages 5 (1977) 53–66. 84 A. L EMAIRE, Les écoles et la formation de la Bible dans l’Ancien Testament, Göttingen 1981, 54–55.
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Auch Gott ist im Alten Testament Lehrer und Meister und diszipliniert sein Volk Israel wie ein Vater sein Kind (Dtn 8,5). Diese Gleichsetzung wird u.a. durch das Beispiel im Targum zu Jer 3,4 verdeutlicht, wo das masoretisch-hebräische ‚Vater‘ als Gottesanrede, durch ‚mein Meister‘ 85 ersetzt wird. Im deuterokanonischen Sirachtext ist Gott zugleich Herr, Vater und Meister: „Herr, Vater und Meister/Gebieter meines Lebens, bring mich durch sie nicht zu Fall!“ (Sir 23,1 LXX !"#$% &'(%# !)* +,-&.() /012 3.4), ebenso in 23,4 „Herr, Vater und Gott meines 86 Lebens“ (!"#$% &'(%# !)* 5%6 /012 3.4). Die Vater-Sohn Metaphorik findet man auch in Qumran, wo der Lehrer der Gerechtigkeit sich als Vater seiner Gemeinschaft bezeichnet (1QHa XV,23 [= Sukenik col. VII ] = 1Q35 1; 4Q428 6–7). In der rabbinischen Zeit ist Abba, neben Rabbi, zugleich als gängiger Gelehrten- und Ehrentitel belegt, mit dem Schüler eines Bet- und Lehrhauses ihren Meister respektvoll ansprachen. Dies ist m.E. eine Komponente, die man im Hinblick auf die neutestamentliche Anwendung von Abba als Gottesbezeichnung, nicht ignorieren sollte. Gemäß bKet 103b (zu 2Chr 19,3) erhob sich Josafat, König von Juda, jedesmal von seinem Thron, wenn er einen Meisterschüler sah, umarmte und küsste ihn, und rief ihn an: „Abi, Abi; Rabbi, Rabbi; Mari, Mari!“ Wir haben es hier klar mit drei Titeln für „Meister/Lehrer“ zu tun (ebenso bMak 24a), welche sich 87 88 auch in Mt 23,8–10 spiegeln. 3.4 Das ‚Abba‘ Problem und die Hypothese von Joachim Jeremias Von diesen Befunden ausgehend ist noch einmal die Frage zu reflektieren, wie die Gebetsanrede Jesu ‚Abba‘ sachgemäß zu interpretieren ist. Das sogenannte ‚Abba-Problem‘89 geht vor allem auf die Arbeiten von Joachim 85
Die Vater-Sohn-Metaphorik (für den Meister) kommt auch im aramäischen Text des Weisen Achiqar aus dem 5. Jh. v. Chr. vor. (C1.1 Z.198 und Col IV, 55). Seltener wird auch die Mutter in diese Familienmetaphorik als Lehrperson miteinbezogen wie in Spr 1,8; 31,1: „Die Torah deiner Mutter und die Lehre deines Vaters“. 86 Die Variante ist bedauerlicherweise in keiner der alten heb. Handschriften erhalten. Schechter bietet eine Rückübersetzung in M.Z. SCHECHTER, ! !" ! !"#$ !" !"# (= Sefer Ben Sira Ha-Shalem), Jerusalem 1958, !"# (= S. 136) 87 „Ihr aber sollt euch nicht Rabbi (+$+'-!)7.2, magister) nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder. Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater (Abba, &)(8#, pater) nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel. Auch sollt ihr euch nicht Lehrer (Mar/Mari, !)59:9(;2) nennen lassen; denn nur einer ist euer Lehrer, Christus.“ 88 Siehe weiter K. K OHLER, Abba, Father. Title of spiritual Leaders and Saints, JQR 13 (1901) 567–580. 89 Siehe weiter J.A. FITZMYER, Abba and Jesus’ Relation to God, in: A cause de l’ évangile (Festschrift J. Dupont), LeDiv 123, Paris 1985, 15–38: 47.
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Jeremias zurück, der die Forschung mit seinen Thesen stark beeinflusst 91 hat. Das ‚Problem‘ beinhaltet philologische, sprachgeschichtliche und christologisch-theologische Aspekte, die letztlich nicht voneinander zu trennen sind. Grundanliegen der Arbeit von Joachim Jeremias war bekanntlich, die ipsissima vox Jesu herauszuarbeiten, seine ursprüngliche Verkündigung anhand der aramäischen Gestalt seiner Worte zu rekonstruieren. In diesem 92 Rahmen kommt der ‚Abba‘-Anrede zentrale Bedeutung zu. Nach der These von Jeremias begegnet das Wort Abba „Vater“ als Gottesanrede bei Jesus und im Anschluss an ihn im Neuen Testament in einer besonderen, singulären Bedeutung. Jeremias versteht das aramäische 93 Abba nämlich als Diminutivform aus der Familien- gar Kindersprache, ein Lallwort, mit dem ein kleines Kind seinen Vater anredet, als „Papa“ oder „Väterchen“. Dafür bietet er in seinem frühen Aufsatz ein einziges, vermeintlich vorchristliches Beispiel, eine Episode über Chanin haNechba, einen Enkel von Choni dem Kreiszieher (1. Jh. v. Chr.), die aber 94 erst dem Talmud Babli (bTaan 23b) entstammt. Diese Form der vertrauensvollen Anrede Gottes ist für Jeremias „in der jüdischen Gebetsliteratur 95 ohne jede Analogie“ , eine solche Anrede wäre nach seiner Auffassung 96 „für jüdisches Empfinden unehrerbietig und darum undenkbar gewesen“ – umgekehrt zeige sich darin gerade „etwas Neues und Unerhörtes, daß 97 Jesus es gewagt hat, diesen Schritt zu vollziehen.“ So konnte die Gebetsanrede Jesu (und der von dort ausgehende Gebrauch der Gebetsanrede im Urchristentum) in der Deutung von Jeremias als Indiz für das besondere Sohnesbewusstsein Jesu von Nazareth, d.h. für sein einzigartiges Gottesverhältnis werden. In dieser Gottesanrede äußere sich das letzte Geheimnis der Sendung Jesu. „Er wusste sich bevollmächtigt, Gottes Offenbarung zu 90 J. JEREMIAS, Kennzeichen der ipsissima vox Jesu, in: Synoptische Studien. Alfred Wikenhauser zum 70. Geburtstag, München 1953, 86–93 (auch in: ders., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 145-151); DERS., Das Vater-unser im Lichte der neuere Forschung (Calwer Hefte 5), Stuttgart 1962 (auch in: ders., Abba, 152-170); DERS., Abba, in: ders., Abba, 15–66; DERS., Die Botschaft Jesu vom Vater (Calwer Hefte 92), Stuttgart 1968; DERS., Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1970. S. weiter dazu G. SCHELBERT, Abba, 17–23. 91 Zur Rezeption von Jeremias s. SCHELBERT, Abba Vater, 23–34. 92 So zusammenfassend in JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I, 14–45, zu ʾAbba 45 und 67–72. 93 Diese These hat Jeremias von Dalman übernommen, s. G. D ALMAN, Grammatik des Jüdisch Palästinischen Aramäisch und aramäische Dialektproben, Darmstadt 1989 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1905), §14.7d. 90. 94 JEREMIAS, Kennzeichen, 88f. (in: ders, Abba, 147ff.). 95 JEREMIAS, Abba, 59. 96 JEREMIAS, Abba, 63. 97 JEREMIAS, Abba, 63.
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vermitteln, weil Gott sich ihm als Vater zu erkennen gegeben hatte (Mt 11,27)“.98 Zwar hat Jeremias später nicht mehr an der Position festgehalten, dass Jesus ein Lallwort übernommen habe, und zugestanden, dass die Anrede auch schon vorchristlich als respektvolle Anrede an alte Männer oder als 99 Anrede erwachsener Söhne an ihre Väter begegne (vgl. auch Mt 23,9), doch sei „das Wissen um die Herkunft von Abba aus der Sprache des 100 Kleinkindes nie verloren“ gegangen. Zugleich hält Jeremias daran fest, dass in der Anwendung des Abba als Anrede an Gott eine kühne Neubildung Jesu vorliege. Die Liste der Theologen, die Jeremias’ These von der Kindersprache unkritisch übernommen haben, ist lang und reicht von Paul Hoffmann, Martin Hengel und Ferdinand Hahn bis zu James Charlesworth und Papst 101 Benedikt XVI. Zu den seltenen Ausnahmen, welche Abba als respektvolle Anrede im Vokativ erkennen, dessen Singularität nicht im Wort selbst wurzle, zählen u.a. James Barr,102 Oscar Cullmann (nuanciert),103 Pierre Grelot,104 Marc Philonenko105 und Knut Backhaus.106 In Jeremias’ Interpretation des Abba wird der grammatikalische Befund forciert, und eindeutige Vokativstellen werden übergangen. Jeremias stützte sich in seinen Behauptungen auf den Aramaisten Gustaf Dalman,107 der das neutestamentliche Abba nicht als einen gewöhnlichen status emphaticus ansah, sondern als eine (nicht existierende!) Diminutivform rekonstruierte, welche sich von -ai zu -â verkürzt haben soll. Neuerdings hat Georg Schelbert mit seiner detaillierten Studie dem Abba-Problem ein ersehntes und willkommenes Ende gesetzt, indem er zeigte, dass !"!/ !""# $ %#&'( definitiv kein Kosewort für „Väterchen“ ist, sondern 108 nichts anderes bedeutet als „Vater!“ Dessen ungeachtet ist die neutestamentliche Verwendung der VaterAnrede für Gott mit 261 Belegen gegenüber den 20 Beispielen im AT und den ca. 50 Belegen der intertestamentarischen Literatur einzigartig und 98
JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I, 73. So JEREMIAS, Abba, 61. 100 JEREMIAS, Abba, 61. 101 S. die Belege bei SCHELBERT, Abba Vater, 23–34. 102 J. B ARR, Abba isn’t ‘Daddy’, JThS 39 (1988) 28–47. 103 O. C ULLMANN, Das Gebet im Neuen Testament, Tübingen 21997, 56. 104 P. G RELOT, L’arrière-plan araméen du „Pater“, RB 4 (1984) 538. 105 M. PHILONENKO, Le Notre Père. De la Prière de Jésus à la prière des disciples, Paris 2001, bes. 56–59. 106 G. FISCHER/K. B ACKHAUS, Beten, 97. 107 G. D ALMAN, Grammatik, §14.7d. 90; G. D ALMAN, Die Worte Jesu, Leipzig 1930, 157; siehe dazu G. SCHELBERT, Abba Vater, 180. 108 S. dazu meine Rezension in: Early Christianity 4 (2013) 141–147. 99
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durchaus auf den Einfluss des Sprachgebrauchs Jesu zurückzuführen. In der späteren jüdischen Literatur findet sich zwar auch vermehrt der Ausdruck „(mein/unser) Vater im Himmel“ (z.B. im Targum PseudoJonathan zu Lev 22,28), doch nicht in der Intensität der neutestamentlichen Verwendung. Die besondere Beziehung Jesu zu Gott als Vater wurzelt freilich nicht in einer Sonderbedeutung des Wortes Abba, sondern ist aus dem Ganzen der Botschaft und Gottesverkündigung Jesu zu erheben.
V. Rückübersetzung und philologische Kommentierung 1. Rückübersetzung Meine Rückübersetzung basiert im Gegensatz zu den bisherigen ausschließlich auf der Grammatik und dem mittelaramäischen Wortschatz der 109 Qumrantexte sowie den idiomatischen Redewendungen und der Syntax 110 aus den frühen Targumim (2.–4. Jh. n. Chr.). Zur Datierung der Texte: Das Hiob-Targum (TgJob) aus dem 2. oder 1. Jh. v. Chr. und das Genesisapokryphon (1QapGen) aus dem 1. Jh. v. oder n. Chr. sind zugleich auch die längsten und reichhaltigsten Texte; die restlichen QA-Texte sind ebenfalls Kopien aus dieser Zeitspanne (die Vorlagen sind teils älter). Trotz der Debatten bezüglich Herkunft und Alter des Tg Onkelos ist zu betonen, dass die konsonantische Textbasis von Onkelos (2. Jh. n. Chr.) dem Aramäischen des Genesisapokryphon in vielem nahesteht. Lk 11,2–4 !"#
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Nach den Grammatiken des Qumran-Aramäischen von U. SCHATTNER-R IESER, L’araméen des manuscrits de la mer Morte. I. Grammaire, Lausanne 2004, und T. M URAOKA, A Grammar of Qumran Aramaic, ANES Supplement 38, Leuven 2011. 110 Eine etwas veraltete, aber wertvolle Studie zum Vaterunser im Vergleich mit den Targumformulierungen, allerdings ohne Neofiti und Qumran, leistete M. JOUSSE, Les formules targoumiques du Pater dans le milieu éthnique palestinien, L’Ethnographie 42 (1944) 4–51.
Das Aramäische zur Zeit Jesu, „ABBA!“ und das Vaterunser
78- 9/7(- :%;78- ,4 morgen“ vorkommt. 162
122
Ursula Schattner-Rieser
Diese Interpretation ist beeinflusst durch die Notiz des Hieronymus über eine Variante ma(h)ar ( kommend, aram. ywm bywm!) verschmolzen ist, und tatsächlich an die Episode der rationierten Gabe des himmlischen Brotes in der Exodusepisode 16,4 anspielt, was sich in der targumischen Redewendung 168 169 pitg!m yôm beyôm"h oder sekôm yôm beyôm"h reflektiert, die im AT 170 mehrmals belegt ist und wörtlich „die Sache [das Nötige] eines jeden Tages an ihrem Tag“ designiert: „Da sprach der HERR zu Mose: Sieh, ich lasse euch Brot vom Himmel (TO: l!m! mn #my!) regnen, und das Volk soll hinausgehen und den Tagesbedarf täglich (LXX: 12 1;0 171 172 5#6%)0 $&"*+,$7"*+$ 0):,&)#*+,&$ ?&"8)0)@7$ %**(!
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140
Ursula Schattner-Rieser
c. Vater Unser – Synopse234 Während das VU in Matthäus den Kern der Bergpredigt bildet (Mt 5–7), kommt es in Lukas außerhalb der Feldrede (Lk 6,20–49) vor. a b c d e
J. Jeremias !"! !"# #$%&' !"#$%& '"("
P. Grelot !"! !"# #$%&' !"#$%& '"("
K.G. Kuhn !"#$ "! "! $# $%& '% (# )* "! $# %&!' )( * $+ , -+
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u"e!uq lánâ &ô!ênâ ke'i"e!aqnâ le&ajj#!ánâ w elâ( taʽelnâ lenisjônâ !ellâ "$z$!nâ min bi"â [od: *#+#nâ]
Rekonstruktionen nach: J. JEREMIAS, Abba, 60–61; P. G RELOT, L’arrière-plan araméen du ‘Pater’, RB 4 (1987) 55; K.G. K UHN, Achtzehngebet und Vaterunser und der Reim, Tübingen, 1950, 32–33. Die Ergänzungen in eckigen Klammern [ ] stammen aus der jeweiligen Mt-Variante. 235 Grelot optiert in der Lukasvariante für lenisyôn, in Mt 6,13 dagegen für benisyôn, was den Targumstellen entspricht, allerdings nicht im status absolutus, sondern im status determinatus.
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142
Ursula Schattner-Rieser
d. „Vaterunser“ anhand paralleler Targumstellen und QA-Beispielen (keine Rückübersetzung aus den Evangelien) a.
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b.
Vater! (Tg Ps 89,27); Unser Vater! 238 (TJ Jer 2,27); Gott des Himmels. (T2 Est 1,2); Herr des Himmels (1QapGen XI,12-13; XII,17) !"&$
Heilig erweise sich mein Name/Geheiligt werde mein Name 239 !"'$
Gepriesen sei Dein heiliger Name! (Tob 3,11)
c. 240 $ !"(
d.
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Bis komme der König Messias und sein Reich! (TO Gen 49,10) Gib uns Brot! (TO Gen 47,15)
Tg Ps 89,27: „Er rief Mein Vater bist du ( abbâ at), mein Gott und der Fels meiner Rettung!“; TJ Jer 2,27: Unser Vater! ( a ûnâ!); T2Est 3,8 „wir preisen den Gott des Himmels ( â ! emayyâ), 236 der uns Brot und Wasser gibt“ 237; T2 Est 1,2: „wir haben den Willen unseres Vater im Himmel nicht erfüllt [wörtl. gemacht]“; 1QapGen XI,12-13: „Und ich pries den Herrn des Himmels.“ TN Num 20,13 „und er heiligte seinen Namen (wqd! !mh); Lev 22,32: „Entheiliget nicht meinen heiligen Namen (!emî qaddî!â), damit ich mich als heilig erweise [od. damit ich geheiligt werde] ( =weyitqadda! !emî) unter den Israeliten; ich der HERR bin es, der euch heiligt!“ 4Q196 Tobita f6,7=Tob 3,11 „gepriesen sei qaddî!â), dein heiliger Name“ (berî !e ebenso „man preise seinen heiligen Namen“ in 4Q196 Tobita f18,11=Tob 13,3 TO und TN Gen 49,10: „Nicht weiche das Zepter von Juda, noch der Herrscherstab zwischen seinen Füßen, bis komme der König Messias dem das Reich ist und dem die Völker gehorchen werden.“ TO u. TN Gen 47,15: (ha lanâ la mâ); T2Est 3,8 „wir beten zum Gott des Himmels der uns Brot und Wasser gibt“ 241 !"#$
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236
Hier nicht als Anrede, aber in einem Lobpreis. Die Stelle spielt an den Auszug aus Ägypten an, wo Gott sein Volk bei der Wüstendurchquerung mit Speis und Trank versorgte und somit vor Hunger und Durst bewahrte. 238 Die dreimalige Anrede „unser Vater“ aus MT Jes 63,16; 64,7. 239 In TN findet sich auch: yhwwy qdy! „(er) sei heilig“. 240 TN hat die späte Form der Possessivpartikel dyd-: . 241 Siehe Fußnote 237 und die Erinnerung an den Ägyptenaufenthalt und Exodus. 237
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! ! - -."83)< – ebd.), die seit der Erschaffung der Welt (01? #3@&.6< #8&=%A – ebd.) existieren. Laut Röm 10,10 spielt in einem solchen Erkenntnisprozess das Herz bzw. der Verstand des an die Gerechtigkeit Glaubenden eine wichtige, beinahe heuristische Rolle (#$,!@B *+, 1"&3.C.3$" .D< !"#$"%&C()(; siehe dazu auch das Hebr. !" in 4Q444 1–4i+5,3 – !"# $%& !""]!" !# $% &'() *+# ,-.")). In diesem Rahmen mag man einerseits auf die qumranischen Belege von !"#$ verweisen, wo Gott selbst als die „Quelle der Gerechtigkeit“ angesehen wird (!"#$ %&"' – 1QS 11:6), die der ganzen Schöpfung die göttliche Gerechtigkeit erkennbar macht (!"!#$ %&'() *&$+", !"#$% &'( –1QHa 6:17), andererseits auf die Belege von !"#, in denen das Substantiv zusammen mit dem Verb !"# („offenbaren“) vorkommt. Bemerkenswert ist das Faktum, dass bei Paulus schon allein die Anerkennung der Natur Gottes (mit dem darauffolgenden Verstehen seiner Gerechtigkeit) für die Aufnahme des Glaubenden in den göttlichen Bereich entscheidet: Laut Röm 1,28 werden diejenigen, die Gott nicht anerkennen wollen (#$> #$-E< %9# F!%#@=$&$( 3?( -.?( GH."( F( F1"*(I&."), von Gott verlassen (1$,5!6#.( $93%J< K -.?=*7; B 1*: )>&+0+*' C01A /-D: ")91>:; 1*: (E "F=C.+G"&: H-&"1>I /-D: J%4&K-; „Denn welche Verbindung haben Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit? Oder welche Gemeinschaft Licht mit Finsternis? Was für ein Einklang herrscht zwischen Christus und Beliar?“
Der Passus ist bemerkenswert, da er wichtige Gemeinsamkeiten zwischen „sectarian“ Qumranschriften und paulinischen Texten aufzeigt, die bereits von Kuhn ausführlich dargestellt wurden. 33 Einerseits spricht der Text eindeutig für eine Verwendung des Substantivs (&)'&>"L+G innerhalb einer dualistischen Weltvorstellung, die die symbolische Opposition zwischen Licht und Finsternis miteinbezieht (siehe dazu 1Q27 1 i 5f.: „der Frevel wird vor der Gerechtigkeit hinweg ziehen wie die Dunkelheit vor dem Licht“). Andererseits wird hier – genauso wie in den Qumrantexten (CD IV,14-18) – die widergöttliche Natur der Ungerechtigkeit durch die Erwähnung Belials (oder Beliars) verdeutlicht. 3.4 Ausgleichender Charakter der !"#$"%&'()-Gerechtigkeit Der in den Qumranschriften beobachtete ausgleichende Charakter der göttlichen Gerechtigkeit trifft auch auf einige bedeutsame paulinische Belege zu, in denen die (&)'&>"L+G-Gerechtigkeit die ambivalente Form eines göttlichen Gegengeschenkes annimmt, das einerseits zu befürchten ist und das andererseits mit großer Sehnsucht erwartet wird. Gegen die Gottlosen, die die Gerechtigkeit Gottes nicht anerkennen und die „tun, was !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
33 K UHN, Impact, 328f.335f; siehe auch P. B ENOIT, Qumran and the New Testament, in: Ders./J.M O’Connor (Hg.), Paul and Qumran. Studies in New Testament Exegesis, London 1968, 1–30: 5.
Das Vokabular für ‚Gerechtigkeit‘ in den Qumranschriften und bei Paulus
287!
sich nicht ziemt“ (Röm 1,28), gegen diejenigen, die in den „sectarian“ Qumrantexten als „Hasser Gottes“ (!" #"$%& – 1QM III,3) bezeichnet werden, richtet sich – bei Paulus wie in den Qumranschriften – die zu fürchtende und bestrafende Seite der göttlichen Gerechtigkeit, d.h. der göttliche Zorn. Der Zorn Gottes wird vom Himmel offenbart (!"#$%&'"()(%* +,- .-+/ 0)#1 2"' #3-%4#1 – Röm 1,18), und zwar „gegen jede Art von Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit“ (5"6 "78%4 289:)*%4 $%6 2;*$1 %)$G>1H.47 According to this verse, Jesus is claiming that the smallest letter or portions of a letter in Torah cannot disappear or be altered (Second Aorist Subjunctive). Thus, we can better comprehend how a deliberate alteration of a text, various text types, along with halakot and different interpretations of Torah, especially concerning Shabbat, would fuel the polemics between scribes and Jesus. Most likely, the Galilean would also find supporters for his teaching in places outside of Galilee, including Samaria (certainly) and the Temple (conceivably). The passage above clearly refers to traditions Jesus claimed were not based on the commandments but on Pharisaic interpretations of Torah. Did that not also include alterations of Torah? If some scribes were changing Scriptures Jesus knew, cherished, and used as the basis for his teachings, he would not be pleased. If Jesus knew that some readings in the Samaritan Pentateuch were superior to those revered in Jerusalem, we may better comprehend why scribes opposed him, and why he seems, at times, fond of Samaritans. Thanks to research on the biblical texts found in the eleven caves near Qumran,48 we know that the words of Scripture were fluid, appearing sometimes differently in divergent manuscripts. Some scribes thus felt 47
We should not assume that Mark and Matthew knew the precise reasons for the conflicts between scribes and Jesus. 48 See esp. F.M. Cross and S. Talmon, eds., Qumran and the History of the Biblical Text (Cambridge, Mass./London: Harvard University Press, 1975) and Charlesworth, ed., The Bible and the Dead Sea Scrolls, vol. 1: Scripture and the Scrolls.
An Unknown Dead Sea Scroll and Speculations
411
empowered to change or “re-write” a text.49 This scribal work antedated and was contemporaneous with Jesus. The newly discovered text of Deuteronomy may help us understand some scribal practices in Jerusalem, since it most likely was not copied at Qumran but was most likely taken there from Jerusalem.50 Does this new insight not also help us understand some of the traditions associated with Jesus? In contemplating such a question, we may learn from the 18th-century William Whiston who continues to be famous for his translation of Josephus’ masterpieces. In his An Essay Towards Restoring the True Text of the Old Testament and for Vindicating the Citations made Thence in the New Testament, he offered some sage advice.51 He claimed that the Samaritan Pentateuch “is generally a faithful and uncorrupt Copy of the Five Books of Moses, as that Pentateuch was extant, both in Hebrew and Greek ...” (his italics).52 Whiston further argued that the Septuagint is frequently in a “corrupted State, wherein it has been frequently corrected to the present Hebrew.”53 He concluded that “a fair Examination” of Deut 27:4 proves emendation not by Samaritans but by Jews.54 He opined that the Samaritan woman knew her Samaritan Pentateuch and was citing it.55 She believed that her forefathers worshipped on Mount Gerizim.56 Jesus’ answer “seems to allow, from his Jewish Pentateuch, that what she said was true.”57 We are left with many questions; here are some for future study: What text of Deuteronomy did Jesus know? Why did Judean scribes query the Galilean Jesus? What other original portions of Scripture were preserved best by Samaritans? How do we discern if a reading is a variant, sectarian, “original,” or ancient? Each concept needs careful definition and application. 49
B. Strawn emphasizes that “sectarian variants” do not appear in the “excerpted manuscripts.” See Strawn in The Bible and the Dead Sea Scrolls, vol. 2, 142. 50 The blessings and curses written in the famous climax in Deut 27–30 influenced a Dead Sea Scroll (MMT) and also Paul’s Galatians. Each Jew recalls that the curses have already fallen on Israel and await an eschatological completion. 51 London: J. Senex, 1722. 52 An Essay Towards Restoring the True Text of the Old Testament, 164. Many today will feel a tinge of anti-Judaism in some of Whiston’s comments; e.g., his reference to “such Jewish Corruptions” (165). The use of italics follows Whiston. 53 An Essay Towards Restoring the True Text of the Old Testament, 166. 54 Ibid., 169. 55 Ibid., 169–170. 56 Whiston contended that Josephus knew the reading “Gerizim” in Deut 27:4 (ibid., p. 170). I cannot find that in Josephus, Ant 4.305. Josephus states that “the altar” was “between two mountains.” 57 Ibid., p. 170.
412
James H. Charlesworth
X. Summary The reading “on Ebal” which is found in the Masoretic Text, the Septuagint, and Peshi!ta is clearly in tension with the Tendenzen of Deuteronomy. We now have manuscript evidence in Greek, Latin, Samaritan, and Hebrew that attest to a different reading in Deut 27:4. It is not wise to dismiss “on Mount Gerizim” as a variant. Perhaps it is the less corrupt or even original reading. Along with other specialists, D. Barthélemy and the committee members of the Hebrew Old Testament Text Project wisely saw that the reading “Gerizim” is preferable; that is, that the present reading “Ebal,” is “highly doubtful.”58 Thus, I am presently convinced that the Masoretic readings in Deut 27:4 and Joshua 8:30 are caused by scribal emendations. That would have occurred prior to 70 CE since after the destruction of the Temple, the Masoretic Text became dominant as we know from manuscripts found in the Judean caves other than the Qumran caves that antedate 70 (except for the Copper Scroll). All hypotheses have weaknesses; that is why they are not theories (let alone laws). The weakness in my hypothesis – that Mount Ebal was an alteration of Hebrew texts after John Hyrcanus’ destruction of the altar on Mount Gerizim in 128 BCE – may be the reading in the Septuagint (“Mount Ebal”). Since all our manuscripts of the Septuagint for Deut 27:4 postdate the third century CE, we cannot be certain that the Septuagint reading in Deut 27:4 has not been altered. It is conceivable that “Mount Gerizim” was in the putative Urseptuaginta (as Braulik contends);59 and scholarly discussions prove that the original reading in the Septuagint at Deut 27:4 is far from clear. Emending a text subsequent to Hyrcanus’ campaign against the Samaritans becomes probable if the Septuagint was associated with the Judaism dominant in Jerusalem (see Aristeas). If the Septuagint of Deut 27:4 has been “corrected” by the powerful group in Jerusalem, it is conceivable that they worked from a Hebrew manuscript that was very ancient (perhaps originating before 200 BCE). If so, that would witness to tensions in Jerusalem with very old traditions related to Mount Gerizim; and these would be exasperated by the conquests of the Hasmoneans. Thus, we may have one force shaping the 58 D. Barthélemy, et al., Preliminary and Interim Report on the Hebrew Old Testament Text Project (New York: United Bible Societies, 1979) vol. 1, 294. See p. viii for the criteria used by the specialists of the HOTTP for determining “the earliest form or forms of text” employing the “techniques of textual analysis to existing textual evidence” (p. vi). The committee, as is obvious, did not know about the Qumran fragment discussed in this publication. 59 G. Braulik judged that the Masoretic and present LXX results from anti-Samaritan polemic. See his Deuteronomium II (NEchtB 28; Würzburg: Echter, 1992), 200.
An Unknown Dead Sea Scroll and Speculations
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Septuagint and another one shaping the Qumran fragment. I am presently convinced that the reading “Mount Gerizim” in Deut 27:4 is not only ancient, antedating the sectarian nature of the Samaritan Pentateuch, but also clarified in the Qumran fragment. H. Eshel rightly argued that “a sacred status” was early accorded Mount Gerizim, “that these traditions derived from well before the Hellenistic period, and that they should be dated to the Babylonian period at the latest.”60 Any attempt to solve the riddles presented by the divergent readings in Deut 27:4 should allow for the many text types of Scripture used by Jews before 70 CE, and the obvious editing of ancient witnesses, demonstrated by Tov and others.61 We have amassed a lot of data to strengthen Paul Kahle’s suggestion that the Samaritan Pentateuch sometimes witnesses to a pre-Masoretic tradition.62 Specialists on Deuteronomy, and other books in the Pentateuch, can no longer be as cavalier about textual criticism as was the distinguished G. von Rad. The above hypothesis seeks to explain all readings, caution about what is meant by “variant,”63 includes numerous disciplines, and hopes to contribute to an ongoing intensive discussion. F.M. Cross’ position that the Samaritan Pentateuch evolves from “an old Palestinian tradition” is strengthened,64 even if the “variants” between the Samaritan Pentateuch and the Masoretic Text may be due, sometimes, by late scribal emendations to the text known in the Samaritan Pentateuch. A hypothesis should include both reflections focused on textual criticism and also the inclusion of archaeology and historiography.
60 H. Eshel in A Teacher for All Generations: Essays in Honor of James C. VanderKam (ed. E.F. Mason et al.; SJSJ 153/II. Leiden/Boston: Brill, 2012), vol. 2, 529– 30. 61 See, e.g., P.D. Miller, Deuteronomy (Interpretation; Louisville: John Knox, 1990), 190–191. 62 P. Kahle, “Untersuchungen zur Geschichte des Pentateuchtextes,” TSK 88 (1915): 339–439; see esp 402–410. 63 In The Theology of the Samaritans (Philadelphia: The Westminster Press, 1964), J. Macdonald lamented that there is “no evidence” for the “Samaritan variant.” Now, we know that the Samaritan reading is probably not a “variant” and have pre-70 evidence for their tradition in a non-sectarian text from Qumran. 64 See F.M. Cross, “Aspects of Samaritan and Jewish History in Late Persian and Hellenistic Times,” in Die Samaritaner (ed. F. Dexinger and R. Pummer; WdF 604, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992), 312–323; esp. 320–323. Cross is famous for his claim that text types can be localized, having developed in Palestine, Egypt and (perhaps) Babylon. This argument has not found favor. Cross’ student, Eugene Ulrich, for example, concludes: “[T]o my knowledge there is no specific evidence that causally links any particular form of growth with any particular locality.” Ulrich in The Bible as Book, 190.
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James H. Charlesworth
XI. Conclusion: Questions Raised The biblical manuscripts found in the Qumran caves antedate by over 1,000 years the manuscripts used to establish the Hebrew Bible and all translations based on it. Almost always they prove the antiquity and reliability of our Scriptures. Occasionally, as with the newly discovered portion of Deuteronomy, we will need to change our texts and translations. We perceive that the Samaritan Pentateuch, mutatis mutandis, can preserve some ancient traditions and be superior to the Masoretic Text, thus correcting the denigration of the Samaritan Pentateuch in the early seventeenth century by the Protestants Simeon de Muis (1587–1644) and Johann H. Hottinger (1620–1667).65 We have glimpsed the excitement created by divergent readings of texts widely considered set and determinative for theological reflection. We have also observed the importance of studying texts within contexts and the sometimes surprisingly scribal alterations of what is signaled in our culture as “sacra scriptura.” We have also noted the extreme importance of words, especially when they are deemed Scripture. It has become more certain that the reading of Deut 27:4 in the Bibles shared by Jews and Christians, “on Mount Ebal,” is suspect; distinguished scholars consider it interpolated, emended, or corrupt. The best reading, “on Mount Gerizim,” is extant now in Hebrew. Most likely, many scholars will urge that the text and translation of Deut 27:4 be changed in all Bibles. These reflections disclose the exciting world in which Hillel and Jesus lived. Their time in the early first century CE was the zenith of Early Judaism and “ground-zero” of Christian Origins. Now, thanks to the discovery of a Dead Sea Scroll, the two siblings – Jews and Christians66 – may ponder, and study, the original text of Deut 27:4.
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S. de Muis, Assertatio veritatis Hebraicae adversus J. Morini Exercitationes (Paris, 1631) and J.H. Hottinger, Exercitationes Antimorinianae de Pentateucho Samaritano (Zürich, 1644). See the insightful discussion by J.D. Purvis, The Samaritan Pentateuch and the Origin of the Samaritan Sect (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1968), 74. 66 See the penetrating reflections of A.F. Segal in Rebecca’s Children: Judaism and Christianity in the Roman World (Cambridge, Mass: Harvard University Press, 1986).
IV. Jesus, Paulus und Qumran
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Überlegungen zu Jesus im Licht der Qumrangemeinde und Bemerkungen zum Projekt „Qumran und Paulus“ HEINZ-WOLFGANG KUHN 1. Überlegungen zu Jesus im Licht der Qumrangemeinde1 Unter „Qumrangemeinde“, auf deren Texte ich den Schwerpunkt lege, verstehe ich gemäß der Gemeinderegel 1QS VI mit der Parallele in 4QSd „alle ihre Niederlassungen“.2 Die Existenz der Gemeinde in diesem weiteren Sinn beginnt mit ihrem eigentlichen Gründer, dem sog. Lehrer der Gerechtigkeit, um die Mitte des 2. Jh. v.Chr. Die Besiedlung in Qumran 1
Es handelt sich bei Teil 1 um eine Kurzfassung des auf der 6. Schwerter Qumrantagung im Nov. 2009 vorgetragenen Referats, aber zugleich auch um eine Erweiterung meines Aufsatzes „Jesus im Licht der Qumrangemeinde“, in: T. Holmén/S.E. Porter (Hg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus, Bd. 2: The Study of Jesus, Leiden/Boston 2011, 1245–1285 (mit einer Bibliografie zu Jesus und Qumran: 1281– 1285). Beide Aufsätze ergänzen sich gegenseitig. Für die Erlaubnis, die Fassung im „Handbook“ zu benutzen, danke ich dem Verlag Brill. Ich freue mich über die weitgehende Übereinstimmung mit meinem früheren Münchner Kollegen Jörg FREY, der in seinem Aufsatz „Die Textfunde von Qumran und die neutestamentliche Wissenschaft. Eine Zwischenbilanz, hermeneutische Überlegungen und Konkretionen zur Jesusüberlieferung“ (in: S. Beyerle/ders. [Hg.], Qumran aktuell. Texte und Themen der Schriften vom Toten Meer [BThSt 120], Neukirchen-Vluyn 2011, 225–293) insbesondere in Abschn. IV („Der ‚historische‘ Jesus und die Jesustradition“, 258–281) vielfach v.a. auf meinen Aufsatz im „Handbook“ (s. v.a. 271.274–276.277) und mein Buch „Enderwartung und gegenwärtiges Heil. Untersuchungen zu den Gemeindeliedern von Qumran mit einem Anhang über Eschatologie und Gegenwart in der Verkündigung Jesu“ (StUNT 4), Göttingen 1966 (s. v.a. 269f.271) verweist; im Übrigen s. dazu unten. Vgl. auch bei L.T. STUCKENBRUCK, The Dead Sea Scrolls and the New Testament, in: N. Dávid/A. Lange (Hg.), Qumran and the Bible. Studying the Jewish and Christian Scriptures in Light of the Dead Sea Scrolls (CBET 57), Leuven u.a. 2010, 131–170: 150–159, die Behandlung u.a. der gleichen Gesichtspunkte zu Jesus und Qumran wie unten. – Hinsichtlich beider Teile des Manuskripts danke ich für Recherchen, Schreiben des Manuskripts am Computer und Korrekturlesen Astrid Stacklies, M.A. und für Mithilfe beim Korrekturlesen Dr. Stephanie Keim, stud. theol. Birge-Dorothea Pelz und cand. theol. Ilie Ursa. 2 1QS VI,2 par. 4QSd (4Q258) II,6: !"#$%&' (%)*.
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selbst durch die Qumranfrommen wird wegen der spärlichen bzw. unsicheren archäologischen Hinweise (sog. Periode Ia von Roland de Vaux) heute meistens erst nach 100 v.Chr. angenommen.3 Die Meinung, dass die Textfunde und die Niederlassung sachlich nicht zusammengehören, halte ich zwar mit der überwiegenden Mehrzahl der Qumranforscher für irrig,4 dies betrifft aber kaum die folgende, von den Texten ausgehende Darstellung. Die Datierung der Zerstörung der Niederlassung in Qumran durch die Römer ungefähr auf das Jahr 68 n.Chr. (und das offenbar baldige Ende auch ihrer sonstigen Niederlassungen) wird vor allem aus Josephus, Bell 4,449 erschlossen.5 Auf die auch von mir geteilte Annahme einer weitgehenden Gleichsetzung der Qumrangemeinde mit den bei Josephus und anderen antiken Autoren dargestellten Essenern6 gehe ich hier im Allgemeinen nicht ein, weil auf den Qumrantexten selbst der Schwerpunkt liegen soll. Die Qumranforschung unterscheidet nicht nur zwischen Schriften, die direkt auf die Qumrangemeinde zurückgehen,7 und solchen, die nur zu ihrer 3 Vgl. die Neubestimmung des Gemeindeanfangs in Qumran selbst im Standardwerk von J. M AGNESS, The Archaeology of Qumran and the Dead Sea Scrolls, Grand Rapids/Cambridge 2002: „it is reasonable to date the initial establishment of the sectarian settlement to the first half of the 1st century B.C.E. (that is, some time between 100–50 B.C.E.)“ (65). Hinsichtlich der in Qumran gefundenen Münzen von Johannes Hyrkan I (135/134–104 v.Chr.) differieren die Angaben von einer einzigen Münze (so M AGNESS, 50) bis zu „at least 10 coins“ (so der Spezialist für antike jüdische Münzen Yaakov M ESHORER, Art. Numismatics, Encyclopedia of the Dead Sea Scrolls, Bd. 2 [2000] 619f: 619a), während weit über 100 Münzen von Alexander Jannaios (103–76 v.Chr.) gefunden wurden (M AGNESS, Archaeology of Qumran, 65, gibt aber zu bedenken, dass die Münzen von Alexander Jannaios noch lange nach ihm in Umlauf waren). Im Blick auf die Datierung einer umstrittenen Periode Ia und eventueller baulicher Überreste ist vieles noch unklar. 4 Vgl. jüngst die umfassende Darlegung der Diskussion in J. Frey u.a. (Hg.), Qumran und die Archäologie. Texte und Kontexte (WUNT 278), Tübingen 2011, bes. FREY, Qumran und die Archäologie. Eine thematische Einführung, 1–49: 13–44. 5 Vgl. dazu aber P.R. D AVIES, Between Text and Archaeology, DSD 18 (2011) 316– 338: 322 mit Anm. 12, wo (aufgrund von Münzuntersuchungen von K. und M. Lönnqvist) auch auf 74 n.Chr. (Masada!) als mögliches Datum hingewiesen wird. 6 Vgl. FREY u.a., Qumran und die Archäologie (s. Anm. 4), Sachregister, s.v. EssenerThese. 7 Das gilt zumindest fast immer nicht für die aramäischen Qumrantexte; hinsichtlich der hebräischen Texte ist man, was ihren Gemeindeursprung betrifft, heute zurückhaltender geworden (vgl. die Liste der hebräischen Texte, „whose specific ‘Qumranic’ origins cannot be demonstrated“, bei STUCKENBRUCK, Dead Sea Scrolls [s. Anm. 1], 136; diese Liste hebräischer Schriften lässt sich noch erweitern, z.B. durch 4QPrFêtesa–b [4Q507–508], 4QpapPrFêtesc [4Q509] oder 4QpapAdmonitory Parable [4Q302]). Zur Kriterienfrage bei der Differenzierung der Qumrantexte s. auch unten Teil 2, Abschn. 1 am Anfang. Es gibt nur wenige griechische Fragmente in den Höhlen 4 und 7 (zu Höhle 7 s. unten am Schluss von Teil 1, Abschn. 1).
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Bibliothek gehörten8 (in den letzteren Fällen ist aber auch die Zahl der Exemplare wegen des Interesses der Qumrangemeinde zu berücksichtigen9), sondern auch solchen, die von außen kamen, aber in der Gemeinde überarbeitet worden sind10, oder Texten, die in ihre Schriften in mehr oder weniger redaktionell überarbeiteter Fassung integriert wurden11; ferner ist an Schriften zu denken, die nur der Gemeinde nahestehen.12 Auch wenn sich zeigt, dass ein Vergleich der anfänglichen Jesusbewegung mit der Qumrangemeinde theologisch mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten ergibt, sind doch der verwandte jüdische Hintergrund und
8
Beides ist aber insbesondere wegen des fragmentarischen Charakters der Mehrzahl der Schriften oft nicht mit Sicherheit feststellbar. 9 Z.B. existiert 1Q/4QInstruction (1Q26/4Q415ff) in mindestens sieben Exemplaren. 10 So wohl die Kriegsrolle, erhalten in 1QM (dazu 1Q33 Frgm. 1–2), mit z.T. nur verwandten und kürzeren Texten in 4QM a–f (4Q491–496); s. schon C.-H. H UNZINGER, Fragmente einer älteren Fassung des Buches Mil!am" aus Höhle 4 von Qumr!n, ZAW 69 (1957) 131–151: „4QM a eine Kopie des alten, nicht-qumr!nischen Textes des Buches Mil!am"“ (150). 11 Als Beispiel gilt vor allem die sog. Zwei-Geister-Lehre in 1QS III,13–IV,26; s. schon S. M ETSO, The Textual Development of the Qumran Community Rule (STDJ 21), Leiden u.a. 1997, 137f: „The text may very well have its beginnings outside Qumran“; ferner J. FREY, Different Patterns of Dualistic Thought in the Qumran Library. Reflections on their Background and History, in: M. Bernstein u.a. (Hg.), Legal Texts and Legal Issues. Proceedings of the Second Meeting of the International Organization for Qumran Studies, Cambridge 1995 (FS J.M. Baumgarten) (STDJ 23), Leiden u.a. 1997, 275–335: 277f; L.T. STUCKENBRUCK, The Interiorization of Dualism within the Human Being in Second Temple Judaism. The Treatise of the Two Spirits (1QS III:13–IV:26) in its TraditionHistorical Context, in: A. Lange u.a. (Hg.), Light Against Darkness. Dualism in Ancient Mediterranean Religion and the Contemporary World (JAJSup 2), Göttingen 2011, 145– 168: bes. 161–168. Die paläografisch wahrscheinlich älteste Hs. 4QpapS a (4Q255), offenbar vor 100 v.Chr., enthält in Frgm. A aber schon einen mit der ‚Zwei-Geister-Lehre‘ verwandten Text (in 4Q258/Sd beginnt die Gemeinderegel überhaupt erst mit Kol. V, enthielt aber auch nicht I,1–III,12; für 4Q259/Se ist solch ein Sachverhalt fraglich; nur in 4Q257/papSc ist die ‚Zwei-Geister-Lehre‘ gemäß 1QS unter den Fragmenten von 4Q erhalten); s. P.S. A LEXANDER/G. V ERMES, Qumran Cave 4.XIX: Serekh Ha-Ya!ad and Two Related Texts (DJD 26), Oxford 1998; M ETSO, Textual Development. – Die paläografischen Angaben über das Alter einer Hs. richten sich, wenn nichts anderes gesagt ist, nach der offiziellen Editionsreihe DJD, die dafür in der Regel nicht genannt wird. Die Kennzeichnung schwer lesbarer Buchstaben ist an den Fotografien überprüft worden und erfolgt nur mit einem sog. Kringel über einem Buchstaben (ein entsprechender Punkt bei noch recht gut lesbaren Buchstaben wird, außer in Anm. 175, nicht gesetzt); diese Kennzeichnung geht an allen Stellen auf meine Überprüfung zurück. 12 S. D. D IMANT, The Vocabulary of the Qumran Sectarian Texts, in: J. Frey u.a. (Hg.), Qumran und die Archäologie. Texte und Kontexte (WUNT 278), Tübingen 2011, 347–395: 391; Dimant nennt z.B. 391f die Tempelrolle aus 11Q (und 4Q) oder das Jubiläenbuch (mit Fragmenten in der Qumranbibliothek).
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gerade auch die theologischen und soziologischen Unterschiede von höchstem Interesse. 1. Zur Jesusforschung und zur Differenz zwischen Jesus und der Qumrangemeinde Jesus ist als Jude in Nazaret in Galiläa in der Tetrarchie des Herodes Antipas (4 v.Chr.–39 n.Chr.) aufgewachsen. Dass er von Johannes dem Täufer getauft wurde, ist historisch sicher, dass aber der Täufer ursprünglich einmal zur Qumrangemeinde gehörte, ist sicherlich nicht der Fall gewesen.13 Als Wirkungsstätten Jesu sind – bei kritischer Lektüre der Evangelien – in Galiläa und der östlich vom Jordan gelegenen Gaulanitis neben Kafarnaum noch Betsaida und Chorazin wie überhaupt das Gebiet um das Nordende des Sees Gennesaret deutlich erkennbar; Jerusalem mit Judäa waren wohl nur kurze Zeit bzw. wiederholt für kurze Zeiten Wirkungsstätte Jesu. Die Qumrangemeinde und ihre Niederlassungen sind offenbar nur in Judäa zu suchen.14 Jesus trat in einer Weise als Wanderprediger15 und Wundertäter auf, die so gut wie keine Entsprechungen in den Qumrantexten hat. Für den Wanderprediger Jesus sind die Redeformen der Gleichnisse 16 und die Wendung „Königsherrschaft Gottes“ (!"#$%&'" ()* +&)*) charakteristisch. 13 So dagegen z.B. wieder J.H. C HARLESWORTH, John the Baptizer and the Dead Sea Scrolls, in: ders. (Hg.), The Bible and the Dead Sea Scrolls, Bd. 3: The Scrolls and Christian Origins, Waco, Tex. 2006, 1–35: „was expelled from – or better, left – the Qumran Community“ (35). Sehr vorsichtig nennt jüngst J.A. FITZMYER, The Impact of the Dead Sea Scrolls, New York/Mahwah, NJ 2009, 91–93, einen kurzen Aufenthalt des Täufers in Qumran „a plausible hypothesis – nothing more“ (93). S. die abwägende, schließlich negative Auffassung bei J. FREY, Die Bedeutung der Qumranfunde für das Verständnis des Neuen Testaments, in: M. Fieger u.a. (Hg.), Qumran – Die Schriftrollen vom Toten Meer. Vorträge des St. Galler Qumran-Symposiums vom 2./3. Juli 1999, Fribourg, CH/Göttingen 2001, 129–208: 164–177 (171: „Eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob der Täufer einmal zur Gemeinschaft der Essener gehörte ..., lässt sich daher nicht geben“; auf S. 177 wird jedoch schärfer festgestellt, dass „sich eine Ableitung des Täufers aus Qumran bzw. von den Essenern gerade verbietet“). 14 Wie das mehrmals genannte „Damaskus“ in der Damaskusschrift (auch in 4Q266 3 III,20 par. CD VII,19), die zu den Texten der Qumrangemeinde im oben genannten weiteren Sinn gehört, zu verstehen ist, bleibt umstritten (übertragen oder lokal). 15 Vgl. G. T HEISSEN, Jesus as an Itinerant Teacher: Reflections from Social History on Jesus’ Roles, in: J.H. Charlesworth/P. Pokorn! (Hg.), Jesus Research. An International Perspective. The First Princeton-Prague Symposium on Jesus Research, Prague 2005, Grand Rapids/Cambridge 2009, 98–122. 16 Vgl. jüngst dazu M. W OLTER, Jesus as a Teller of Parables: On Jesus’ SelfInterpretation in His Parables, in: J.H. Charlesworth/P. Pokorn! (Hg.), Jesus Research. An International Perspective. The First Princeton-Prague Symposium on Jesus Research, Prague 2005, Grand Rapids/Cambridge 2009, 123–139.
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Die Redeform der Gleichnisse und die Wendung „Königsherrschaft Gottes“ haben nur sehr bedingt Parallelen in den Qumrantexten. Soweit ich bisher sehe, enthalten die Qumranschriften nur ein Gleichnis, nämlich die wohl nicht in der Gemeinde17 hebräisch formulierte sog. Baumparabel in 4QpapAdmonitory Parable (4Q302) 2 II–III; über den „WeinstockAllegorie“ genannten und nur in sechs fragmentarischen Zeilen erhaltenen ebenfalls hebräischen Text (6Q11) lässt sich kaum etwas sagen. Was die Königsherrschaft Gottes betrifft, so kennen die Qumrantexte zwar öfter die Wendung, vor allem in den wohl doch aus der Qumrangemeinde stammenden und in offenbar neun Exemplaren vorhandenen Sabbatopfergesängen (sog. Sabbatliedern).18 Gerade diese Schrift spricht sehr oft von Gott als „König“ und sogar über 20-mal von Gottes „Königtum“ (!"#$%).19 Die Königsherrschaft Gottes bezieht sich aber in den Qumrantexten, zumindest in der Regel, nicht, wie bei Jesus, auf das eschatologische Kommen (z.B. Q 11,2) oder Gekommensein (z.B. Q 11,20)20 der Gottesherrschaft, sondern allgemein darauf, dass Gott herrscht. Das gilt insbesondere für die Sabbatlieder: Die „himmlische“ Gottesherrschaft ( !!"#$% !"# 4Q400 2,4; ähnlich 4Q401 14 I,6) wäre nur dort als eine eschatologische Größe verstanden, wo auch ausdrücklich gesagt würde, dass sie zukünftig (so AssMos 10,1) oder schon jetzt als an sich zukünftige Größe (so bei Jesus – aber völlig verschieden von Qumran21 – neben der futurischen Aussage) wirksam ist. Die Unterschiede zwischen dem zumindest regelmäßigen Gebrauch der Wendung bei Jesus und dem „kultisch-präsentische[n] Verständnis“ gerade in den Sabbatliedern in 17
B. N ITZAN, 302. 4QpapAdmonitory Parable, in: T. Elgvin u.a., Qumran Cave 4.XV: Sapiential Texts, Part 1 (DJD 20), Oxford 1997, 125–149, Taf. X–XII: 127; anders J. C AMPBELL, The Qumran Sectarian Writings, in: W. Horbury u.a. (Hg.), The Cambridge History of Judaism, Bd. 3: The Early Roman Period, Cambridge 1999, 798–821: 803, im Anschluss an D. D IMANT, The Qumran Manuscripts: Contents and Significance, in: dies./L.H. Schiffman (Hg.), Time to Prepare the Way in the Wilderness. Papers on the Qumran Scrolls by Fellows of the Institute for Advanced Studies of the Hebrew University, Jerusalem, 1989–1990 (STDJ 16), Leiden u.a. 1995, 23–58: s. hier die Tabelle S. 43 bei 4Q302a. 18 ShirShabb: 4Q400–407; 11Q17; Mas1k; vgl. H.-J. FABRY, The THWQ – Perspectives of the First International Symposium of the Advisory Board 2008, RdQ 24, Nr. 93 (2009) 165–172: 166. 19 Zur Königsherrschaft Gottes (gelegentlich auch !"#$%) s. außer 1QM VI,6; XII,7; 4QM a (4Q491) 11 II,17; 15,7 noch die Gemeindetexte 1QSb (1Q28b) IV,26; 1QHa III,27 (= 1QH a Frgm. 11,5 Sukenik); 4QBera (4Q286) 7 I,5; 4QBerb (4Q287) 2,11; vgl. noch die Schriften, die offenbar nicht als Gemeindetexte nachgewiesen werden können (alle hebräisch): 4QMysta (4Q299) 9,3; 4QMystc? (4Q301) 5,2; 4QpapPrFêtesc (4Q509) 51,1; 4QShira (4Q510) 1,4. 20 S. unten Abschn. 2d. 21 S. K UHN, Enderwartung und gegenwärtiges Heil (s. Anm. 1), 189–204.
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Qumran22 sollten nicht eingeebnet werden.23 Die im Lukasevangelium in 11,2 fehlende dritte Bitte des Vaterunser erklärt sich jetzt noch genauer von der himmlischen Königsherrschaft Gottes her, die sich im Matthäusevangelium in 6,10 zusätzlich findet und einen eschatologischen Bezug enthält: !"#$%& ' ()*+",-) *./· 0,12#3%& %4 #$"256 *./, 78 !" #$%&"' 9): !;: 0(2 #;&(9 !2#&A@@'> +$4 $(2B.()* 3#4 !"#-()* 3#4 C.A,'> +$4 D>3#E(7* 3#4 !DE3(7*. Liebt eure Feinde, und ihr werdet Kinder eures Vaters im Himmel sein, denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Das Gebot der Nächstenliebe aus Lev 19,18 lässt sich – in der Damaskusschrift immerhin anklingend (s. oben) – für den historischen Jesus in herausgehobener Weise feststellen, und zwar im Apophthegma der Frage nach dem obersten Gebot in Mk 12.90 Die Parallelen bei Matthäus und Lukas basieren wegen der Fülle von „minor agreements“ auf einer zusätzlichen Version, die 86
Aus Lev 19,17. 1QS II,24; V,4.25; VIII,2; X,26. 88 1QS IV,3ab–6a. 89 S. auch 1QS IX,21f; diese Stelle ist teilweise auch in den Parallelhandschriften 4QSb.d.e (4Q256.258.259) erhalten. 90 Mk 12,28–34 par. Mt 22,34–40 und Lk 10,25–28. 87
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die beiden Evangelisten zur Verfügung gehabt haben müssen; diese Version macht einen jüngeren Eindruck.91 Es handelt sich vor allem in der MarkusVersion nicht, wie man früher meinte, um ein „Erbstück aus dem hellenistischen Judentum“92, genauer aus dem griechisch sprechenden Judentum. Jesus geht hier offenbar nicht von der hellenistischen Verbindung von Frömmigkeit und Menschenliebe „als Inbegriff des göttlichen Willens“93 aus, sondern ordnet vielmehr betont die Nächstenliebe (Lev 19,18) der Basis des Judentums, dem schon damals herausgehobenen Schema Jisrael („Höre, Israel!“), das mit Dtn 6,4–9 beginnt, zu: Die Verbindung der beiden Zitate Dtn 6,5 und Lev 19,18 ist in zeitgenössischen jüdischen Texten, soweit ich sehe, nicht belegt. Dann spricht vieles dafür, dass wir es hier mit einem authentischen Jesuswort zu tun haben, das die Rolle der Nächstenliebe in besonderer Weise zu dem herausragenden Grundsatz erhebt.94 d) Als letzter theologischer Hauptvergleichspunkt sei noch die Eschatologie genannt. Besonders überraschend erwies sich die Hilfestellung der Qumrantexte für ein besseres Verständnis der Eschatologie Jesu.95 Wie wir jetzt wesentlich sicherer erkennen können, enthält diese sowohl futurische Aussagen als auch solche, die dieses von der Zukunft erwartete Heil schon für die Gegenwart behaupten. Bis zur Entdeckung der Qumrantexte meinte man, dass Jesus gegenüber seiner jüdischen Umwelt entweder ein völlig neues Verständnis von Eschatologie gehabt habe (Werner Georg Kümmel96) oder dass diese Interpretation der Eschatologie Jesu falsch sei, da sie sich im
91 Sie ist also kaum ein Beleg für einen ursprünglich älteren Markustext, der dem Matthäus- und Lukasevangelium zugrunde gelegen habe. 92 C. B URCHARD, Das doppelte Liebesgebot in der frühen christlichen Überlieferung, in: E. Lohse (Hg.), Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde, Göttingen 1970, 39–62: 57. Der Vergleich des Zitats von Dtn 6,5 mit der Hebräischen Bibel und der LXX kann dafür sprechen, dass nur das Zitat von Dtn 6,5 im Munde Jesu (ohne !"#$%"& „Denken“ und die sonstige Angleichung an die LXX), aber nicht die Wiederholung durch den Schriftgelehrten authentisch ist. 93 B URCHARD, Liebesgebot (s. Anm. 92), 57. 94 Mit Recht jüngst J.D.G. D UNN, Jesus, Paul, and the Gospels, Grand Rapids/ Cambridge 2011, 112, zur Nächstenliebe im Doppelgebot der Liebe: „But the second was a complete surprise ... Jesus evidently extracted this particular commandment from these rulings [in Lev 19] and gave it a key role in interpreting the law. We should not miss the fact that Jesus seems to have had no precedent for doing so.“ Ein Beispiel für das Kriterium der Differenz (in der Frage der Authentizität)! 95 S. dazu jetzt auch FREY, Textfunde von Qumran (s. Anm. 1), 269–272, unter Aufnahme der Ergebnisse in „Enderwartung und gegenwärtiges Heil“ des Vf (s. Anm. 1). 96 W.G. K ÜMMEL, Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu (AThANT 6), Zürich 31956.
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zeitgenössischen Judentum nicht belegen lasse (Rudolf Bultmann97). Zu den wichtigsten authentischen Jesusworten, die von der Gegenwart des erst in der Zukunft erwarteten Heils sprechen, gehören Q 11,20 (hier wird gesagt, dass mit Jesu Dämonenbannungen schon die Gottesherrschaft angebrochen sei), ferner Q 10,23f (die Seligpreisungen der Augen- und Ohrenzeugen), Q 7,22 (Schilderung der Gegenwart als eschatologische Heilszeit mit Motiven des Jesajabuches) und Mk 2,19!" (Aufhebung des Fastens).98 Wegen des Vergleichs mit den Qumrantexten gleich unten seien hier die sechs Aussagen über die Heilszeit im Mund Jesu zitiert (Q 7,22), die alle bis auf die Reinigung der Aussätzigen ihre Parallele vor allem im Jesajabuch haben. Der Text in der Logienquelle dürfte etwa so gelautet haben:99 #$%&'( )*!"&+,'$-.*100 /!( 01&'( ,23.,!#'4-.*,101 &2,3'( /!5!367'*#!. /!( /1%'( )/'8'$-.*,102 /!( *2/3'( 9:263'*#!.103 /!( ,#10'( 2;!::2&67'*#!.104 Blinde sehen wieder, und Lahme gehen umher, Aussätzige werden rein, und Taube hören, und Tote stehen auf, ja Armen wird eine frohe Botschaft verkündet.
Das hier zitierte Jesuswort über die Gegenwart des Eschaton hat eine erstaunliche Parallele in 4Q521, wobei aber dieser Qumrantext in traditioneller Weise nur von der Zukunft spricht. In dem Text der Spruchquelle Q malt Jesus ein Bild des künftigen eschatologischen Heils, das er im Gegensatz zu 4Q521 als bereits gegenwärtig versteht. Der Qumrantext trägt auch noch in der offiziellen Editionsliste von 2010 den wohl irreführenden Namen „Messianic Apocalypse“.105 Der erste Höhe97
R. B ULTMANN, Zur eschatologischen Verkündigung Jesu, ThLZ 72 (1947) 271–274. S. zu den vier Logien K UHN, Enderwartung und gegenwärtiges Heil (s. Anm. 1), 190–199. 99 Auch für R OBINSON u.a., Critical Edition of Q (s. Anm. 30), lautet der Text so. 100 Vgl. Jes 29,18b; 35,5a; 42,7a; Ps 146,8a. 101 Vgl. Jes 35,6a. 102 Vgl. Jes 29,18a; 35,5b. 103 Vgl. Jes 26,19a. 104 Vgl. Jes 61,1b; 29,19b. 105 E. T OV, Revised Lists of the Texts from the Judaean Desert, Leiden/Boston 2010, 58. Mit !"#$% (zu lesen wohl als ! "! ! #" %$ „seine Gesalbten“ und nicht als !"# %$ '& „sein Gesalbter“ [= der Messias]) in 4Q521 2 II,1 sind hier sicherlich die biblischen Propheten 98
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punkt der Aufzählung der eschatologischen Heilsereignisse im Jesuswort ist die Auferstehung der Toten, der eigentliche Höhepunkt aber Jesu Botschaft an die Armen (es geht nicht einfach um eine Aufzählung der Taten Jesu, sondern um eschatologische Bilder). Der Qumrantext enthält in 2 II+4 zwei Listen, die ebenfalls mit biblischen Aussagen das eschatologische Heil beschreiben, dessen Subjekt hier aber Gott ist (s. Z. 5; auch in der zweiten Liste gemäß Z. 11). Die Übereinstimmung betrifft in der ersten Liste (Z. 4– 8) die Heilung von Blindheit (Z. 8); von Gott heißt es im Qumrantext „er öffnet blinde (Augen)“: . . ., !"#$% &'$( . . .,
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!"#$%& '()*$+,%"-.( . . .,
In der zweiten Liste (Z. 12ff) liegen folgende Übereinstimmungen vor. Hier findet sich das gleiche Nacheinander von Totenauferstehung gemäß Jes 26,19 und Predigt an die Armen gemäß Jes 61,1;107 im Qumrantext heißt es wiederum von Gott „und Tote wird er lebendig machen, Armen wird er eine frohe Botschaft verkünden“: . . ., !"#" !"#$% !"#$ !"#$% . . .,
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Hinter dem präsentischen Jesuswort und hinter dem futurischen Text 4Q521, der wegen fehlender Qumranterminologie wohl von außen in die Qumrangemeinde kam, dürfte eine gemeinsame jüdische Tradition der Beschreibung der Heilszeit stehen. Wir wenden uns jetzt noch den eschatologischen Gegenwartsaussagen in der Qumrangemeinde zu. Während die in den Qumrantexten öfter begegnende Gemeinschaft der Gemeinde mit den Engeln an sich noch keine Vorwegnahme einer futurischen Heilserwartung bedeutet (das sollte nicht gemeint; vgl. den Plural „Heilige“ in der zweiten Zeile des Parallelismus membrorum (Z. 2) und den Plural !"#"$% !"# „und alle (!) ihre (was ist das feminine Bezugswort im Sing.?) Gesalbten“ in Z. 9 von Fragment 8. Vgl. u.a. M. B ECKER, Die ‚messianische Apokalypse‘ 4Q521 und der Interpretationsrahmen der Taten Jesu, in: J. Frey/ders. (Hg.), Apokalyptik und Qumran (Einblicke 10), Paderborn 2007, 237–303. 106 S. Ps 146,8. 107 Der Qumrantext fährt nach der Botschaft an die Armen mit weiteren Aussagen fort, sodass die Predigt an die Armen hier nicht der Höhepunkt ist.
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übersehen werden!),108 ist jedoch von einem Selbstverständnis der Gemeinde als Tempel Gottes her109 deutlich, dass für sie die Gegenwart nicht mehr, wie in der Apokalyptik, nur heilsleer sein kann. Das ist offenbar der Hintergrund dafür, dass die Qumrangemeinde futurisch-eschatologische Vorstellungen in die Gegenwart transponiert, wie ich vor einigen Jahrzehnten zu zeigen versuchte.110 Das geschieht besonders deutlich in Gemeindeliedern in 1Q/4QH und im Schlusslied von 1QS. Ich nenne nur aus den Gemeindeliedern in 1Q/4QH zwei Texte, die offenbar in Abhängigkeit voneinander entstanden sind, d.h., 1QHa XIX,13–17 (XI,10– 14 Sukenik) scheint 1QHa XI,21–24 (III,20–23 Sukenik)111 vorauszusetzen. Bei den beiden Abschnitten geht es hinsichtlich der eschatologischen Gegenwartsaussagen um Totenauferstehung112 (in 1QHa XIX) und um Neuschöpfung (in 1QHa XI und XIX). Die entscheidenden parallelen Formulierungen lauten in Kol. XI und Kol. XIX (die wörtlichen Übereinstimmungen sind hervorgehoben): „für den, den du aus dem Staub heraus geschaffen hast für eine ewige Gemeinschaft (!"#$ !"#$ !"#$)“ (so Kol. XI, Z. 22); „damit du aus dem Staub heraus (wieder !"#$) das Totengewürm zu der Gemeinschaft (!"#$) [deiner] W[ahrheit] erhebst [...] und um erneuert zu werden (%&!'(!|") mit allem, [was i]st [und] sein wird (oder: was geworden ist; ()(|*[" ""(]|h l"k)“113 (so Kol. XIX, Z. 15–17). In der Diskussion um den Text in 1QHa XI ging es vor allem darum, ob bei !"#$ !"#$% („du hast aus dem Staub heraus geschaffen“) an die erste Schöpfung des Menschen bzw. seine Geburt oder an die eschatologische Neuschöpfung zu denken ist, die dann schon mit dem Eintritt in die Gemeinde stattfindet. Diese letztere Deutung hatte bereits Karl Georg Kuhn vor über einem halben Jahrhundert vorgeschlagen.114 Ein weiterer, erst nach meiner Arbeit über „Enderwartung und gegenwärtiges Heil“ bekannt gewordener Text der Hodajot unterstützt nun diese These. Es handelt sich
108
Wenngleich der eschatologische Aspekt (als zukünftig) im Zusammenhang der Gemeinschaft mit den Engeln in dem Gemeindetext 4QAgesCreat B (4Q181) 1 II,4 (sic!) begegnet: !"#$ !!"# !"#"$ „an dem Platz (, der) zum ewigen Leben (führt)“ (vgl. K UHN, Enderwartung und gegenwärtiges Heil [s. Anm. 1], 67, noch unter „4QPseudLit 2, 1, 4“). 109 S. bes. 1QS VIII,5.8f und 4QMidrEschata III,6 (4Q174 1–2 I,6 [urspr. 4QFlor]). 110 K UHN, Enderwartung und gegenwärtiges Heil (s. Anm. 1). 111 Zum ersteren Text s. auch unten Teil 2, Abschn. 2h; zum letzteren ebd. und Teil 2, Abschn. 2g. 112 Vgl. hierzu G.W.E. N ICKELSBURG, Art. Resurrection, Encyclopedia of the Dead Sea Scrolls, Bd. 2 (2000) 764–767: bes. 766. 113 Die Wendung begegnet auch in 1QS III,15 und 1QM XVII,5; vgl. ferner CD II,10 par. 4QD a (4Q266 2 II,10); 1QS XI,11. 114 K.G. K UHN, Die in Palästina gefundenen hebräischen Texte und das Neue Testament, ZThK 47 (1950) 192–211: 201 Anm. 7.
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um ein Lied, das am vollständigsten in 4Q erhalten ist.115 Der Text in 4QHa (4Q427) II116, der 1QHa XXVI117 entspricht und zusammen mit 4QHe (4Q431) zur Ergänzung herangezogen wird, lautet: Groß ist Gott, der [Wunderbares] wirkt, (8) denn er erniedrigt den hochmütigen Geist ganz und gar und erhebt (umgekehrt) aus dem Staub heraus den Armen zur [ewigen Höhe] ([!"#$ !"#]$ !"#$% !"#$ !"#$)118 (9) und bis zu den Wolken macht er ihn an Hochsein überlegen, sodass er sich zusammen mit den göttlichen Wesen in einer gemeinsamen Gemeinde befindet.
Die Versetzung des „Armen“ in den Himmel begegnet hier wie auch in 1QHa XI119; an dem neuen Beleg ist vor allem wichtig, dass die in 1QHa XI120 im Zusammenhang der Neuschöpfung gebrauchte Wendung „aus dem Staub heraus“ (!"#$) auch in diesem Qumranlied begegnet, wo (wie schon im Lied der Hanna in 1Sam 2,8 par. Ps 113,7 mit !"#$) natürlich nicht die erste Schöpfung bzw. die Geburt des Menschen gemeint ist; von einer (eschatologischen) „Neuschöpfung“ ist in 4Q427 par. aber, anders als in 1QHa XI und XIX, nicht direkt die Rede. In der besonderen Ausprägung des eschatologischen Verständnisses der Gegenwart, wie es in Gemeindetexten aus Qumran und bei Jesus vorliegt, besteht kein Zusammenhang. Die eschatologisch-gegenwärtigen Aussagen der Qumrantexte gründen in der Heilsgegenwart Gottes aufgrund des Selbstverständnisses der Gemeinde, und sie ist der Ort, an dem schon das künftige Heil als präsent verstanden werden kann. Ganz anders bei Jesus: Die Verkündigung der Gegenwart der Königsherrschaft Gottes gründet in dem Anspruch Jesu, dass in seinem Wirken Gottes Herrsein aufgerichtet wird. Ein direkter Zusammenhang zwischen Jesus und der Qumrangemeinde ist also nicht gegeben. 115 Hinsichtlich des Liedes in 1QH a stellen H. STEGEMANN/E. SCHULLER, Qumran Cave 1.III: 1QHodayota with Incorporation of 1QHodayot b and 4QHodayota–f (DJD 40), Oxford 2009, 310, fest: „Col. XXV 34 to approximately col. XXVII 3 is one long psalm“. Die gesonderte Publikation der betreffenden 4Q-Texte findet sich bei E. SCHULLER, E. Hodayot, in: E. Chazon u.a., Qumran Cave 4.XX: Poetical and Liturgical Texts, Part 2 (DJD 29), Oxford 1999, 69–254: 69–232, Taf. IV–XIV. Vgl. jetzt auch É. PUECH, L’hymne de la glorification du Maïtre de 4Q431, in: J. Penner u.a. (Hg.), Prayer and Poetry in the Dead Sea Scrolls and Related Literature (FS E. Schuller) (STDJ 98), Leiden/Boston 2012, 377–407. 116 4QH a (4Q427) IV,7–9 (= 7 II,7–9) par. 4QH e (4Q431) II,16–18 (= 2,6–8). 117 1QH a XXVI,26–28 (= 1QH a Frgm. 7 II,2f Sukenik). 118 In 4QH e (4Q431) II,17f (= 2,7f) stand hier nach !"#$% offenbar ein abweichender, etwas längerer Text. 119 1QH a XI,20f (III,19f Sukenik). 120 1QH a XI,22 (III,21 Sukenik).
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3. Jesus und der Lehrer der Gerechtigkeit Für den Vergleich ist immer noch die Studie von Gert Jeremias der grundlegende Ausgangspunkt.121 Die äußeren Umstände beider Leben sind sehr verschieden: Der Lehrer der Gerechtigkeit war Priester122 und vielleicht sogar Hohepriester, wie Hartmut Stegemann annahm,123 während Jesus wohl aus einer einfachen Familie in Nazaret stammt, deren Herkunft aus dem Haus David historisch nicht zu verifizieren ist. Der Lehrer der Gerechtigkeit ist um 110 v.Chr. eines natürlichen Todes gestorben (man vgl. CD XIX,35–XX,1 und XX,13f), während Jesus, offenbar von den jüdischen Autoritäten den Römern übergeben, in den Jahren ± 30 gekreuzigt wurde.124 Es bestehen aber erstaunliche Übereinstimmungen zwischen dem Sendungsbewusstsein Jesu und dem des Lehrers der Gerechtigkeit. Gemäß den eigenen Liedern des Lehrers in den Lobliedern in 1Q/4QH hat Gott dem Lehrer der Gerechtigkeit nicht nur „alle Geheimnisse“ der Propheten „kundgetan“ (1QpHab VII,4f), sondern Gott hat ihn zum „Vater für die Kinder der Gnade“ bestimmt (1QHa XV,23)125 und „zum Zeichen für die gerechten Erwählten gesetzt“ (1QHa X,15)126. !" ist eine Signalstange auf den Bergen, eine Flagge o.ä., griech. !"#$%&', was auch Jesus gemäß dem Lukasevangelium (Lk 2,34; 11,30) ist. Der Lehrer der Gerechtigkeit wird „zur Falle für Übeltäter, aber zur Heilung für alle, die von der Sünde umkehren“ (1QHa X,10f).127 Dem Selbstbewusstsein des Lehrers der Gerechtigkeit entspricht es, wenn Jesus in einem sicherlich in der Grundstruktur authentischen Logion sagt, dass sich an der Stellung ihm gegenüber das Heil entscheidet, weil dies für den künftigen Menschensohn der Maßstab beim Gericht sein wird.128 Die Städte, die Jesus verwerfen, fallen nach seinen Worten dem Gericht Gottes anheim (Q 10,13f). Sein 121 G. JEREMIAS, Der Lehrer der Gerechtigkeit (StUNT 2), Göttingen 1963. Vgl. z.B. jüngst FREY, Textfunde von Qumran (s. Anm. 1), 263–266. S. auch H.-W. K UHN, Art. Jesus, Encyclopedia of the Dead Sea Scrolls, Bd. 1 (2000) 404–408. 122 4QpPsa (4Q171) III,15; vgl. 1QpHab II,8. 123 H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Nachwort von Gert Jeremias, Freiburg 102007, 205f; zurückhaltender z.B. J.C. V ANDERK AM/P. FLINT, The Meaning of the Dead Sea Scrolls. Their Significance for Understanding the Bible, Judaism, Jesus and Christianity, San Francisco 2002, 284f. 124 Vgl. H.-W. K UHN, Die Kreuzesstrafe während der frühen Kaiserzeit. Ihre Wirklichkeit und Wertung in der Umwelt des Urchristentums, ANRW II 25/1 (1982) 648– 793: bes. 678 (zur Kreuzesstrafe in den Qumrantexten S. 708f); DERS., Art. Kreuz II. Neues Testament und frühe Kirche (bis vor Justin), TRE 19 (1990) 713–725: 716. 125 1QH a VII,20 Sukenik. 126 1QH a II,13 Sukenik. 127 1QH a II,8f Sukenik. 128 S. in der Spruchquelle die ältere Fassung in Lk 12,8f und im Markusevangelium 8,38.
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Wirken ist bereits der Einbruch der Gottesherrschaft. Das Letztere geht über den Anspruch des Lehrers deutlich hinaus. Der Lehrer der Gerechtigkeit wird zum Gründer einer der bedeutendsten frommen Vereinigungen des damaligen Judentums; Jesus hingegen schart nur am äußersten Rande des damaligen jüdischen Kernlands eine kleine Gruppe von wenigen Leuten um sich und wird dabei zu einem Grenzgänger in die Gaulanitis: Wie schon oben gesagt,129 lag historisch jedenfalls ein wichtiger Ort seines Wirkens in einem stärker heidnisch bestimmten Gebiet jenseits des Jordans, nämlich Betsaida in der Tetrarchie des Herodessohnes Philippus (s. v.a. Q 10,13f). Mit Jesu Wirken zweifellos nicht vereinbar ist eine Forderung in CD XI,14f130, man solle „am Sabbat den Ruhetag nicht an einem Ort in der Nähe der Heiden begehen“.131 Dem Lehrer der Gerechtigkeit wird zwar von dem „Frevelpriester“ nach dem Leben getrachtet,132 er stirbt aber, wie schon gesagt, offenbar eines natürlichen Todes. Jesus dagegen, wohl ausgeliefert von Autoritäten seines eigenen Volkes, kommt durch den römischen Präfekten über Judäa, Pontius Pilatus, fälschlicherweise als politischer Revolutionär mit der schändlichen Strafe der Kreuzigung zu Tode. Gemäß allen vier kanonischen Evangelien geschah die Übergabe an die Römer unter führender Beteiligung des Hohepriesters Kaiphas. In beiden Fällen gibt es eine Verfolgung durch den Hohepriester: durch den Hohepriester zur Zeit des Lehrers der Gerechtigkeit, wohl Jonathan, bzw. durch den Hohepriester Kaiphas. Das gilt übrigens auch für die Steinigung des Jakobus, des Leiters der Urgemeinde in Jerusalem und Bruders Jesu; hier ist der Verursacher der Hohepriester Ananus der Jüngere (so Josephus, Ant 20,200). Erstaunlich ist, wie schließlich die Wirkungsgeschichte alles umkehrt: Der Lehrer der Gerechtigkeit hat zunächst für gut eineinhalb Jahrhunderte ein bedeutendes Nachwirken in seiner immer besser organisierten Gemeinde (von ihrer Gründung um die Mitte des 2. Jh. v.Chr. bis ca. 68 n.Chr.) und ihren Niederlassungen. Aus CD VI,10f kann man aber nicht auf einen Glauben an seine Wiederkehr schließen. Während das Judentum insgesamt die Katastrophen der beiden jüdischen Kriege im 1. und 2. Jh. n.Chr. überwindet, spielen jedoch der Lehrer der Gerechtigkeit und seine Anhänger nach der Zerstörung der Qumransiedlung ca. 68 n.Chr. durch die Römer und dem offenbar baldigen Untergang der Gesamtgemeinde keine Rolle mehr.
129
S. oben Abschn. 2b. Par. 4QD b (4Q267) 9 II,8 und 4QD f (4Q271) 5 I,9. 131 In 4QD e (4Q270) 6 V,18 fehlt aber dieser ganze Satz (4QD e stammt paläografisch etwa aus der Zeit Jesu; 4QD b und D f gehören etwa in die zweite Hälfte des 1. Jh. v.Chr.). 132 4QpPsa (4Q171) IV,8; vgl. 1QpHab XI,4–8. 130
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Jesu Anhänger dagegen beginnen nach seinem Tod sich auf Augenzeugen dafür zu berufen, dass Gott ihn von den Toten auferweckt habe (vgl. nur die alte, schon von Paulus mindestens weithin übernommene Glaubensformel in 1Kor 15,3b–5a und 1Thess 1,10; 4,14). Christen verstehen ihn von gut jüdischen Kategorien her unter anderem als Messias (so schon das ebenfalls alte Traditionsstück, das Paulus in Röm 1,3b–4a zitiert) und von solchen, den Heiden leichter zugänglichen Kategorien her133 als präexistentes göttliches Wesen (so in dem von Paulus bereits übernommenen Christuslied in Phil 2,6–11). Die als jüdische Splittergruppe angetretene Jesusbewegung erfasst bald weithin die ganze damalige Welt, was für Paulus faktisch schon selbstverständlich ist und im ältesten Evangelium als Programm formuliert wird (Mk 13,10; vgl. 14,9). Postskript zu Teil 1 Teil 1 dieses Aufsatzes wurde im März 2012 abgeschlossen. Ich nenne deshalb hier noch ausgewählte Arbeiten zum Thema Jesus und Qumrangemeinde bzw. – gelegentlich auch allgemeiner – Qumranbibliothek, auf die in Teil 1 in der Regel nicht Bezug genommen ist und die zwischen 2010 und Anfang 2014 erschienen sind; s. schon oben in Teil 1 insbesondere für 2010: F. A VEMARIE (s. Anm. 58), G.J. B ROOKE (s. Anm. 22; dieser Aufsatz auch gleich unten als Postskriptum), D. M ARGUERAT (s. Anm. 33), L.T. STUCKENBRUCK (s. Anm. 1); für 2011: J. FREY (s. Anm. 1). Zunächst wird ausnahmsweise auch auf eine erweiterte Wiederveröffentlichung verwiesen, u.z. zu Anm. 31 Mitte: H. M ERKELs Beitrag „Das ,geheime Evangelium‘ nach Markus“ jetzt in: C. Markschies/J. Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 1: Evangelien und Verwandtes (2 Teile), Teilbd. 1, Tübingen 7 2012, 390–399 (unter dem Titel: „Das geheime Markusevangelium“). Interessant ist, dass die unten genannten Arbeiten der letzten Jahre, die für Teil 1 von besonderem Interesse sind, zwei Schwerpunkte haben: Die sog. 4QMessianic Apocalypse (4Q521), die sich eng mit dem Jesuswort in Mt 11,4–6 par. Lk 7,22f berührt, aber sicherlich nicht in der Qumrangemeinde entstanden ist (s. dazu unten Paul [2010], Brooke [2011], Joseph [2012], VanderKam [2012], Wold [2012], Brooke [2013], Onuki [2013], Flint [2014]). Ferner ist das Thema frühjüdischer Dämonismus und Jesus zu nennen, wo aber im Detail nur sehr begrenzt Parallelen vorliegen (s. dazu unten Paul [2010], Brooke [2011], Evans [2011], Witmer [2012], Brooke [2013]). An keiner Stelle musste ich aufgrund der hier zusätzlich genannten Arbeiten meine in Teil 1 dargelegten Ansichten korrigieren. Die folgenden Publikationen sind zeitlich (und innerhalb eines Jahres alphabetisch) geordnet: G.J. B ROOKE, Eschatological Wisdom and the Kingship of God: Light from Some of the Dead Sea Scrolls on the Teaching of Jesus?, in: J.G. Crossley (Hg.), Judaism, Jewish Identities and the Gospel Tradition (FS M. Casey), London/Oakville, CT 2010, 45–61: 133
Vgl. H. C ONZELMANN/A. L INDEMANN, Arbeitsbuch zum Neuen Testament (UTB.W 52), Tübingen 142004, 540, zum Titel !"#$%&, „der in der heidnischen Religiosität ganz geläufig ist“. S. auch U. SCHNELLE, Paulus. Leben und Denken, Berlin 2003, 537–543.
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Brooke zieht aus den Qumrantexten vor allem Mûs!r l"M#vîn = 1Q/4QInstruction (1Q26/4Q415ff) und die sog. Sabbatlieder = 4Q/11QShirShabb (4Q400–407; 11Q17) heran. In beiden Fällen wird aber die Jesusüberlieferung so pauschal behandelt (was Brooke S. 57 selbst einräumt), dass kaum mit konkreten Stellen die Verkündigung des Jesus der Historie zur Sprache kommt. Der weisheitlich-eschatologische Charakter von 1Q/4QInstruction wird mit Recht hervorgehoben. Immerhin erscheinen im Text S. 49f (neben reichlicher Literatur im Text und in den Anmerkungen) die Gleichnisse Jesu (s. aber oben bei mir S. 421), die Logienquelle, die Seligpreisungen (vgl. bei mir oben S. 423 Anm. 29) und Mk 4,11 par. (eine Stelle, die aber mit Sicherheit nicht authentisch ist); S. 57 wird ausdrücklich auch das Vaterunser genannt (s. aber im nachfolgenden Postskriptum zu Lohse [2010]). Brooke kommt zum Ergebnis: „It seems to me ... that several features of the eschatological wisdom teaching of Mûs!r l"M#vîn are echoed in the New Testament’s representations of the teaching of Jesus“ (S. 51). Der Verweis auf das „Königreich Gottes“ bei Jesus, wie er hier begegnet (S. 51ff), bedarf einer Korrektur (für den Unterschied zwischen Jesus und den Qumrantexten s. oben bei mir S. 420f). Beide ausführlich behandelte Schriften werden nicht der Qumrangemeinde zugeschrieben; es wird aber jedenfalls mit Recht ihre Bedeutung in der Gemeinde aufgrund der Vielzahl der Exemplare hervorgehoben (S. 55). E. L OHSE, Vater unser. Das Gebet der Christen, Darmstadt 2011 (= Darmstadt 22010): Lohse zeigt, dass auch die Qumrantexte für das Vaterunser als generellen jüdischen Hintergrund aufschlussreich sind. Eine speziellere Übereinstimmung zur Qumrangemeinde kann man in der Darstellung des Qumrankenners Lohse nur für die sechste Bitte (Mt 6,13a) bzw. die fünfte Bitte (Lk 11,4c) finden: „führe uns nicht in Versuchung“ (... !"# $!%&'()*+), wobei Lohse auf 1QS III,20–23 hinweist (S. 79f). Lohse nennt dafür S. 82 Anm. 11 bereits K.G. K UHN, sowohl die dt. Fassung des Aufsatzes von 1952 als auch die engl. Fassung von 1957; genannt sei hier nur die engl. Fassung: New Light on Temptation, Sin, and Flesh in the New Testament, in: K. Stendahl (Hg.), The Scrolls and the New Testament, New York 1957, 94–113.265–270 („with some revisions“ S. 94 Anm. *); s. speziell 109.111.269. – Zur überschießenden dritten Bitte in Mt 6,10b (sie könnte durchaus auch auf Jesus selbst zurückgehen, wie Lohse, S. 55, mit Recht feststellt) vgl. oben in meiner Darstellung S. 422f. A. PAUL, L’apport des textes de Qumrân à la connaissance du Jésus historique, in: Faculté de théologie catholique Université de Strasbourg, De Jésus à Jésus-Christ, I. Le Jésus de l’Histoire. Actes du colloque de Strasbourg, 18–19 novembre 2010 (Jésus et Jésus-Christ), Paris 2010, 79–98: Paul beschränkt sich in Bezug auf die Qumrantexte auf zwei Themen: Jesus als Exorzist und Jesus als Messias (zum Letzteren s. bei mir oben S. 423); hinsichtlich der sog. 4QMessianic Apocalypse (4Q521) (bei mir S. 437–439) weist Paul nicht darauf hin, dass hier ausdrücklich Gott und nicht ein Messias der Verursacher der Heilstaten ist. Im Blick auf Jesus als Exorzisten nennt Paul, außer den von mir besprochenen Texten (4QMagical Booklet ar [4Q560] und 1QapGen ar [1Q20]; s. oben S. 422f), auch noch einen weiteren aramäischen Text, nämlich das Gebet des babylonischen Königs Nabonid 4QPrNab ar (4Q242), wo von einem jüdischen „exorciste“ ($%&) in 4Q242 1–3,4 die Rede sei (S. 82f); s. aber bei B ECKER, Wunder (s. Anm. 24), 147 (keine „exorzistische Topik“). Als speziell magische Texte werden folgende Schriften zusätzlich angeführt: 4QShira–b (4Q510 und 4Q511), ein Text in zwei Exemplaren, in Hebräisch, mit apotropäischen Liedern des '()*+ („le ,sage‘ ou ,maître instructeur‘“; auf die fragliche Herkunft, aus der Gemeinde oder ob der Text nur aus der Bibliothek stammt, wird nicht eingegangen). Ferner wird in diesem
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Zusammenhang auf 11QapocrPs (11Q11) verwiesen: Paul zitiert 11Q11 V,4–11; hier findet sich in einem „Psalm Davids“ eine „Beschwörung im Namen Jahwes“ (V,4). Bei einem Vergleich zwischen Jesus und den Qumrantexten kann man natürlich nicht genügend betonen, dass es sich bei der Dämonologie um ein im Frühjudentum verbreitetes Phänomen handelt (s. Becker, a.a.O., 144 mit Anm. 12). Zum Unterschied zwischen den Darstellungen über Jesus und den Qumrantexten s. oben bei mir S. 422f. G.J. B ROOKE, From Jesus to the Early Christian Communities: Modes of Sectarianism in the Light of the Dead Sea Scrolls, in: A.D. Roitman u.a. (Hg.), The Dead Sea Scrolls and Contemporary Culture. Proceedings of the International Conference held at the Israel Museum, Jerusalem (July 6–8, 2008) (STDJ 93), Leiden/Boston 2011, 413–434: Brookes soziologischen Ansatz eines Vierstufenmodells von jüdischem und christlichem Sektentum halte ich jedenfalls für den Jesus der Historie nicht für brauchbar. Der historische Jesus kann nicht unter „Pre-sectarian incipient sectarianism“ (S. 425–428) verortet werden. Im Vergleich mit den Qumrantexten behandelt Brooke unter dieser Überschrift Jesus als Exorzisten auf S. 426 (unter Verweis auf 4QPrNab ar [4Q242; hier 1– 3,4 ein jüdischer !"#, „exorcistic practices of that Jew“] und 1QapGen ar [1Q20 XX,21–30: „Abraham as healer and exorcist“]), ferner unter dem Gesichtspunkt der Armut (unter Verweis auf eine „quasi-sectarian composition like Instruction“ [S. 426]) und außerdem S. 426f hinsichtlich Eigentumsfragen (im Vergleich mit Mt 25,14–30 par. Lk 19,11–27 unter Verweis auf 4QInstruction b [4Q416] 2 III,3–5 und 4QInstructiond [4Q418] Frgm. 9). Der Hinweis auf die sog. 4QMessianic Apocalypse (4Q521) erscheint dann erst unter der Überschrift „Nascent sectarianism“ auf S. 428f, wobei er feststellt, dass der Text nichts enthält, was „explicitly sectarian“ sei und die „identity of the messiah“ und „whether it is he or God himself“ (S. 429), der die Heilstaten vollbringt, offenlässt (für die Totenauferweckung bleibt Jes 26,19 unberücksichtigt). C.A. E VANS, Jesus and Psalm 91 in Light of the Exorcism Scrolls, in: P.W. Flint u.a. (Hg.), Celebrating the Dead Sea Scrolls. A Canadian Collection (SBL.Early Judaism and Its Literature 30), Atlanta 2011, 541–555: Evans bespricht 11QapocrPs (11Q11) als Sammlung von vermutlich vier „exorcism psalms“ (S. 543), einschließlich Ps 91 in Kol. VI, Z. 4–14 (richtig: 3–13); möglicherweise seien mit den in 11QPsa (11Q5) XXVI,9f genannten „vier“ Psalmen „über die Geschlagenen“ diese Lieder in 11Q11 gemeint. Im Neuen Testament bezieht sich Evans auf Jesu Versuchungsgeschichte in Mt 4,1–11 par. Lk 4,1–13 (Satan zitiert in Mt 4,6 par. Lk 4,10 Ps 91,11f) und die Komposition der Rückkehr der Zweiundsiebzig in Lk 10,17–20, wo gleich in der Anrede an Jesus ausdrücklich von „den Dämonen“ gesprochen wird und Jesus in V. 18f darauf reagiert: „Every significant element in this dominical utterance reflects Jewish demonology“ (S. 552). Von den Jesusworten in Lk 10 halte ich V. 18 für wohl authentisch; aber nur in V. 19 klingt Ps 91,13 offenbar an (vgl. auch Dtn 8,15). Der Schlusssatz des Aufsatzes lautet sehr pauschal „The exorcistic psalms of 11Q11 provide important early attestation of a tradition that comes to expression in interesting ways in the life and teaching of Jesus“ (S. 554). J. K AMPEN, Beatitudes (4Q525), in: ders., Wisdom Literature (Eerdmans Commentaries on the Dead Sea Scrolls), Grand Rapids/Cambridge 2011, 307–340: Der umfassende Aufsatz über den Qumrantext 4QBeatitudes (4Q525) (die Seligpreisungen in 4Q525 2 II+3,1–10; viermal $!%& in Z. 1–3, davon einmal z.T. ergänzt und zusätzlich unmittelbar davor einmal zu ergänzen) enthält auch eine neue Übersetzung aller einigermaßen lesbaren Fragmente, einschließlich des Zweitexemplars 5QUn-
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classified frags. (5Q16) zu 4Q525 Frgm. 15, und einen zusätzlichen Kommentar zur Übersetzung. Kampen zieht selbstverständlich die Seligpreisungen in Mt 5,3–12 par. Lk 6,20–23 heran, geht aber ebenso wenig wie ich selbst (vgl. oben Anm. 29) der Frage nach, wo man hier eventuell dem Jesus der Historie begegnet. Zur Literatur über den Qumrantext im Zusammenhang der neutestamentlichen Seligpreisungen vgl. im Aufsatz die Bibliografie S. 315f. D. D IMANT (Hg.), The Dead Sea Scrolls in Scholarly Perspective. A History of Research (STDJ 99), Leiden/Boston 2012: Dieses Buch ist sehr verdienstvoll, weil es einen Überblick über die internationale Qumranforschung seit Entdeckung der Texte gibt, gegliedert nach geografischen Bereichen (Amerika, Israel und Europa). Natürlich wird öfter auf Jesus Bezug genommen (vgl. dazu als ersten Anhaltspunkt vor allem das Stichwort „Jesus“, im allerdings unvollständigen Register „Names and Subjects“, s.v. Jesus). Solche Bezüge auf Jesus begegnen vor allem bei J.J. Collins („American Scholarship“, S. 197–215), G.J. Brooke („Scholarship in the United Kingdom“, S. 449–486) und J. Frey („Scholarship in Germany“, S. 529–564). S.J. JOSEPH, Jesus, Q, and the Dead Sea Scrolls. A Judaic Approach to Q (WUNT II/333), Tübingen 2012: Das Buch behandelt im Blick auf Teil 1 nur Johannes den Täufer (S. 130–148; s. oben S. 420), die Seligpreisungen (S. 149–162; s. oben Anm. 29) und in einem weiteren Teil im Wesentlichen die sog. 4QMessianic Apocalypse (4Q521) (S. 163–186; s. oben S. 434– 439). Die ausführliche Besprechung des umstrittenen !"#$%& in Z. 1 des betreffenden Qumrantextes 4Q521 2 II+4 ist informativ. Obgleich Joseph die Wendung auf „a royal ‘messianic’ figure“ bezieht, betont er doch mit Recht: „In 4Q521, it is the Lord ... who is responsible for the eschatological signs“ (S. 175); die Aufzählungen der eschatologischen Zeichen seien, so m.E. richtig, „borrowed from the earlier tradition represented by 4Q521“ (S. 186); auch der Hinweis auf Jes 26,19 fehlt nicht. Joseph geht aber viel zu weit, wenn er generell feststellt: „The Jesus movement had contact with the lay Essene movement“ (S. 188). J.C. V ANDERK AM, The Dead Sea Scrolls and the Bible, Grand Rapids/ Cambridge 2012: In Kap. 6 seines Buches behandelt VanderKam „The Dead Sea Scrolls and the New Testament Gospels“ (S. 118–141). Von den Abschnitten dieses Kapitels ist vor allem der Teil über „Legal Matters“ für meinen Teil 1 bzw. für die Frage nach dem Jesus der Historie von Interesse. Die überspitzte Antwort Jesu, wie ich formulieren möchte, in Mk 3,4 par. spricht freilich eher dafür, dass hier nicht spätere Regelungen zugrunde liegen (s. bei mir oben S. 433), wie es VanderKam für möglich hält (s. bes. S. 135; vgl. S. 134). Hinsichtlich der Rettung eines Tieres (s. die Belege in meinem Aufsatz S. 434f) oder gar eines Menschen, was VanderKam auch anführt (s. die Fortsetzung der betreffenden Qumrantexte), ist die Detailregelung in den Qumrantexten aus Sicht der Evangelien bzw. Jesu recht erstaunlich, was bei VanderKam (S. 135–137) zu kurz kommt (selbst bei einem Menschen gibt es Einschränkungen für die Rettung). – VanderKam geht auch auf die sog. 4QMessianic Apocalypse (4Q521) ein (s. S. 127–130; in meinem Aufsatz oben S. 437– 439); er betont mit Recht, dass eine „messianic reference“ in 4Q521 2 II+4,1 zweifelhaft ist und spricht sich für Gott als Akteur aus (S. 130; er übersieht aber S. 129, dass Jes 26,19 sagt – was auch immer der ursprüngliche Sinn oder das Alter des Textes ist –, dass die „Toten“ wieder „leben werden“).
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A. W ITMER, Jesus, the Galilean Exorcist. His Exorcisms in Social and Political Context (Library of New Testament Studies 459/Library of the Historical Jesus Studies 10), London/New York 2012: Für das Verhältnis von Jesu Exorzismus zu den Qumrantexten s. vor allem die zurückhaltende Darstellung auf S. 41–45: Witmer stellt fest, dass „no certain first-hand accounts of exorcism appear in the writings found at Qumran“ (S. 45). Genannt wird zunächst das ins zweite Jahrhundert v.Chr. datierte 1QapGen ar (1Q20) mit einem Zitat von XX,28f (S. 41f); s. in meinem Aufsatz S. 422f. Ferner wird S. 43f das Gebet des Königs Nabonid in 4QPrNab ar (4Q242) angeführt. Witmer betont, dass in Bezug auf die beiden genannten Texte „neither actually describes a direct verbal encounter between a possessing spirit and an exorcist“ (S. 41f) und spricht von einem „lack of evidence for exorcism“ (S. 43). Außerdem verweist Witmer S. 45 auf 11QPsa (11Q5) XXVII und 11QapocrPs (11Q11); in beiden Texten gehe es um König David, der Dämonen mit seiner Musik verbannt; der letztere Text „appears to contain instructions for repelling a demonic attack“ (11Q11 V,4–14), und 11Q11 VI,3ff (Ps 91) wird außerdem als „words of protection against evil spirits“ gelesen. Schließlich führt Witmer noch den oben bei mir S. 422 zitierten Text 4QMagical Booklet ar (4Q560) an (S. 45); 4Q560 „may contain fragmentary evidence of spirit possession and exorcism“; es wird auch gesagt, dass dieser Text „appears to contain a direct encounter between exorcist and demon“ (Hinweis auf 4QMagical Booklet ar, und zwar „4Q560 1.1–4“; zutreffend wäre 4Q560 1 II, speziell Z. 6). – Ich stelle fest, dass alle angeführten Stellen und weitere (vgl. B ECKER, Wunder [s. Anm. 24], 145–148) nur bedingt für einen Vergleich zwischen der Jesusüberlieferung und den Qumrantexten, insbesondere eventuellen Texten aus der Gemeinde, geeignet sind; s. auch oben in meiner Darstellung S. 422f.
B. W OLD, Agency and Raising the Dead in 4QPseudo-Ezekiel and 4Q521 2 ii, ZNW 103 (2012) 1–19: Auf die differenzierte Argumentation von Wold kann hier nicht eingegangen werden. Es bleibt aber festzuhalten, dass Wold in der sog. 4QMessianic Apocalypse (4Q521) 2 II,1 eine pluralische Interpretation des Ausdrucks !"#$% gar nicht bedenkt (trotz des Plurals „Heilige“ in der Parallelformulierung in Z. 2 und dem Plural von "#$% in Frgm. 8,9). Es heißt z.B. in seiner Übersetzung nur „his anointed one“, der auch als „‘anointed figure’“ oder „the messiah in line 1“ bezeichnet wird (S. 3f). Die Gleichsetzung mit Elija oder einer Elija ähnlichen Gestalt könne man aber nicht nachweisen (S. 13f). Der Bezug auf einen Agenten Gottes in den Heilsaussagen ab 4Q521 2 II,4 unter Bezug auf 4QpsEzeka (4Q385) 2,1–10 (par. 4QpsEzekb [4Q386] 1 I,1–10 und 4QpsEzekd [4Q388] 7,2–7) ist kaum überzeugend. Die Aufforderung an Ezechiel lautet: „Menschensohn, prophezeie (&'(&) über die Gebeine“ (Z. 5; ähnlich auch Z. 6 und Z. 7); kann diese Aufforderung Gottes, von dem selbst offenbar gesagt wird, dass er die Toten lebendig macht (Z. 8f), als Parallele für eine spekulative Agentenschaft in 4Q521 herangezogen werden? (Wold formuliert aber am Schluss sehr vorsichtig: „if agency is in view in 4Q521“ [S. 19]). Was die Auferstehung der Toten betrifft, so nimmt Wold nicht nur auf Jes 26,19 Bezug, sondern auch für Z. 6 und 8 auf Ps 146,8. Für 4QpsEzek nimmt Wold mit Recht keine Entstehung in der Gemeinde an (S. 7); auch hinsichtlich 4Q521 sieht er, ebenfalls mit Recht, keinen „uncontestable“ Grund dafür (S. 1 Anm. 1). Wold ist auch zuzustimmen, wenn er von einer „common tradition that is apparently known to the author of the Messianic Apocalypse and the evangelists“ spricht (S. 19).
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G.J. B ROOKE, The Influence of the Dead Sea Scrolls on the Understanding of Jewish Traditions in the New Testament, in: D.J.A. Clines/J.C. Exum (Hg.), The Reception of the Hebrew Bible in the Septuagint and the New Testament. Essays in Memory of Aileen Guilding, Sheffield 2013, 32–48: Brooke geht zwar wieder (s. oben seinen Aufsatz von 2011) von vier Stufen des Vergleichs aus, bezeichnet das Wirken Jesu deutlich nur als „non-sectarian“ oder „presectarian“ (S. 34). Hinsichtlich der Lehren Jesu nennt er zunächst auf S. 34–36 wieder „wealth and poverty“ und Eigentumsfragen; das Letztere S. 35 wieder im Vergleich mit Mt 25 par. Lk 19 unter Bezug auf 4QInstructionb (4Q416) und 4QInstructiond (4Q418). Erst in einem späteren Abschnitt kommt Brooke wieder auf die sog. 4QMessianic Apocalypse (4Q521) zu sprechen (S. 45f). Wie schon in dem früheren Aufsatz von 2011 lässt Brooke offen, ob Gott oder sein Agent in den beiden Listen die Heilstaten vollbringt; die Totenauferweckung in Jes 26,19 bleibt wieder unberücksichtigt (S. 45). Hinsichtlich Jesu Verhältnis zur Tora nennt er konkret „Jesus’ attitude to marriage and divorce“ und verweist speziell auf „the similar use of Gen. 1.27“ in Mk 10,6 und CD IV,21 (s. dazu oben bei mir S. 433); Brooke kommt zum Ergebnis, dass „the Damascus Document passage cannot be that source“ (S. 42). Brooke nennt auch die Nähe zu Dämonen und Engeln „in the teaching and activity of Jesus“ (S. 46; vgl. bei mir oben S. 422f) und bezieht sich hier im Besonderen auf 11QapocrPs (11Q11; s. dazu oben im Postskriptum zu E VANS [2011]). Im Ganzen geht es Brooke im Verhältnis zum Neuen Testament um „Method: A Phenomenological Perspective“ (S. 33–37) und „Four Major Areas of Influence“ (S. 37– 48), und zwar textlich (S. 37ff), gesetzlich (S. 41ff), hermeneutisch (genauer hinsichtlich der Interpretation der Schrift S. 43ff) und eschatologisch im Zusammenhang mit „Other World View Issues“ (S. 46ff). A. M ERMELSTEIN, Love and Hate at Qumran: The Social Construction of Sectarian Emotion, DSD 20 (2013) 237–263: Der Aufsatz ist sehr aufschlussreich für das Verständnis von Liebe und Hass in der Qumrangemeinde und vermittelt eine Fülle von soziologischen Einsichten, auf die ich aber im Einzelnen nicht eingehen kann (auf die Evangelien wird kein Bezug genommen; s. bei mir Abschnitt 2c). Mermelstein stellt deutlich heraus, dass dieser Gegensatz in der Gemeinde „behind 1QS“ „a ‘socially dictated performance’“ ist (S. 237). Es wir unter anderem außer 1QS IX,16 auch verwiesen auf 1QH a VI,19–32; s. insbesondere „lieben“ (weithin ergänzt) und „verabscheuen“ in Z. 32 (XIV,21 Sukenik). Es wird festgestellt: „The sectarian effort to use hate as a vehicle for boundary drawing between them and the outside world ...“ (S. 263). Solche Liebe und Hass geschieht in Analogie zu Gottes „lieben“ und „hassen“ („loving those whom God loves and hating those whom he hates“ [S. 237]; s. bes. 1QH a VI,21f = VI,10 [+ Frgm. 44,3] Sukenik; „hassen“ ist mit Recht ergänzt). T. O NUKI, Auch „die Toten“ haben Zukunft. Eine neue Lektüre von Mt 8,21f/Lk 9,59f, in: P. von Gemünden u.a. (Hg.), Jesus – Gestalt und Gestaltungen. Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft (FS G. Theißen) (NTOA/StUNT 100), Göttingen/Bristol, CT 2013, 105–123: Sehr klar arbeitet Onuki den Gegensatz zwischen der sog. 4QMessianic Apocalypse (4Q521) 2 II+4 und dem Jesuswort in Mt 11,4–6 par. Lk 7,22f heraus: „Bei 4Q521 ist der Herr, Gott, das handelnde Subjekt. Die gebrauchten Verben sind dementsprechend meistens aktiv, während in der Antwort Jesu alle Verben entweder intransitiv oder passiv vorkommen und es keine einzige aktive Form gibt. [Absatz] Das bedeutet, dass es Jesus
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primär nicht am Subjekt des Handelns, sondern daran gelegen ist, was sich gerade jetzt vor Augen ereignet“ (S. 118). Vgl. bei mir S. 437–439. P.W. FLINT, The Qumran Scrolls and the Historical Jesus, in: J.H. Charlesworth/B. Rhea (Hg.), Jesus Research. New Methodologies and Perceptions. The Second Princeton-Prague Symposium on Jesus Research, Princeton 2007, Grand Rapids/Cambridge 2014, 261–282: Die Darstellung von Flint ist für Teil 1 dieses Aufsatzes kaum ergiebig (auch nicht die Tabelle auf S. 273f mit dreizehn Parallelen), zumal weder in den Qumranschriften die Texte, die wahrscheinlich der Gemeinde zuzurechnen sind, noch in den Evangelien die Texte, die vermutlich in Verbindung mit dem Jesus der Historie zu bringen sind (trotz des Titels des Aufsatzes), kenntlich gemacht werden. Hinsichtlich der sog. 4QMessianic Apocalypse (4Q521) (s. oben S. 437–439) halte ich zumindest die umfassende messianische Deutung, d.h., nicht nur Z. 1 („a prophetic messiah“) wird so interpretiert (S. 277– 282), für nicht richtig („list of activities connected with the messiah“ [S. 281] gegen Z. 5 und 11 des Qumrantextes, wo ausdrücklich Gott als Verursacher des Heils genannt ist); für die Totenauferstehung wird Jes 26,19 (es geht nicht, wie schon gesagt, um den ursprünglichen Sinn oder das Alter dieses atl. Textes) nicht bedacht (s. S. 129). Die neuere Literatur, bis auf eine Veröffentlichung von 2010 (S. 261 Anm. 1), fehlt. Den ersten Teil seines Aufsatzes bezeichnet Flint mit Recht als abzulehnende „‘Speculations on Jesus, the Essenes and the Qumran Community’“ (S. 262); ausführlich besprochen werden Arbeiten von John Allegro und Barbara Thiering.
2. Bemerkungen zum Projekt „Qumran und Paulus“ 1. Zur Vorgehensweise Das „Münchner Projekt: Qumran und Paulus“ ist aus dem „Münchner Projekt: Qumran und das Neue Testament“ hervorgegangen, das ich 1986 mit dem Ruf nach München begann.134 Nach den ersten zehn für ein Symposium in Israel im Jahr 1988 aus dem gesammelten Material ausgewählten Vergleichsstellen zwischen den Qumrantexten und den authentischen Paulusbriefen135 sind im Zusammenhang eines Symposiums am Princeton Theological Seminary im Jahr 1997 insgesamt neunzehn Stellen besprochen worden.136 Die Einschränkung auf die sieben
134 Schon Jahre vorher wurden in Heidelberg für ein solches Projekt Vorbereitungen getroffen. Die ursprüngliche Begrenzung des Projekts auf das „Neue Testament“ vor der Begrenzung auf die authentischen Paulusbriefe hatte praktische Gründe vorläufiger Art; eine Ausweitung auf das frühchristliche Schrifttum wäre unbedingt notwendig gewesen, um eine kanonische Engführung zu vermeiden. 135 H.-W. K UHN, The Impact of the Qumran Scrolls on the Understanding of Paul, in: D. Dimant/U. Rappaport (Hg.), The Dead Sea Scrolls. Forty Years of Research (STDJ 10), Leiden u.a. 1992, 327–339. 136 H.-W. K UHN, The Impact of Selected Qumran Texts on the Understanding of Pauline Theology, in: J.H. Charlesworth (Hg.), The Bible and the Dead Sea Scrolls, Bd. 3:
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authentischen Paulusbriefe wurde notwendig, weil ein zweites Projekt zur Ausgrabung von Betsaida am See Gennesaret, ein Ort, der siebenmal in den synoptischen Evangelien erwähnt wird, viel Zeit in Anspruch nahm.137 Dieses zweite Projekt lasse ich jetzt ausklingen, sodass ich vorhabe, mich bald dem Qumranprojekt intensiver zu widmen. Die notwendige Eingrenzung geht noch weiter, weil ich mich nur dem Aufsuchen und Besprechen von verwandten Formulierungen oder entsprechenden Sachverhalten im Zusammenhang einzelner Stellen bei Paulus widmen möchte, also generelle Themen, wie z.B. die Heranziehung der Psalmen in Qumran und bei Paulus nicht in getrennten Exkursen behandeln werde. Die Bearbeitung der Paulusbriefe folgt dem vermuteten Alter der Texte, wobei ich das Problem der Teilungshypothesen außen vor lasse. Die Studien zum 1. Thessalonicherbrief und zum Galaterbrief sind bereits erschienen,138 aber inzwischen natürlich schon wieder bearbeitungsbedürftig. Veröffentlicht sind bisher zwölf Aufsätze, die das Projekt betreffen.139 Der Vorteil, The Scrolls and Christian Origins, Waco, Tex. 2006, 153–185. In beiden Fällen der 10 und 19 Vergleiche wurde von dem wohl nicht paulinischen Text 2Kor 6,14–7,1 abgesehen. 137 S. zuletzt K UHN, Betsaida und et-Tell (s. Anm. 31); DERS., Did Jesus Stay at Bethsaida (s. Anm. 57). Seit 1991 bin ich Kodirektor der Ausgrabung von Betsaida (etTell). 138 H.-W. K UHN, Die Bedeutung der Qumrantexte für das Verständnis des Ersten Thessalonicherbriefes. Vorstellung des Münchener Projekts: Qumran und das Neue Testament – The Impact of the Qumran Scrolls on the Understanding of Paul’s First Letter to the Thessalonians. Presentation of the Munich Project on Qumran and the New Testament, in: J. Trebolle Barrera/L. Vegas Montaner (Hg.), The Madrid Qumran Congress. Proceedings of the International Congress on the Dead Sea Scrolls, Madrid 18– 21 March, 1991 (STDJ 11/1), Leiden u.a. 1992, 339–353; DERS., Die drei wichtigsten Qumranparallelen zum Galaterbrief. Unbekannte Wege der Tradition, in: R. Bartelmus u.a. (Hg.), Konsequente Traditionsgeschichte (FS K. Baltzer) (OBO 126), Fribourg, CH/Göttingen 1993, 227–254; DERS., Die Bedeutung der Qumrantexte für das Verständnis des Galaterbriefes. Aus dem Münchener Projekt: Qumran und das Neue Testament, in: G.J. Brooke/F. García Martínez (Hg.), New Qumran Texts and Studies. Proceedings of the First Meeting of the International Organization for Qumran Studies, Paris 1992 (STDJ 15), Leiden u.a. 1994, 169–221. 139 Außer den zwei genannten Überblicken zu den authentischen Paulusbriefen und den drei generellen Studien zum 1. Thessalonicherbrief und zum Galaterbrief noch H.-W. K UHN, Röm 1,3f und der davidische Messias als Gottessohn in den Qumrantexten, in: C. Burchard/G. Theissen (Hg.), Lese-Zeichen für Annelies Findeiß (DBAT.B 3), Heidelberg 1984, 103–112; DERS., A Legal Issue in 1 Corinthians 5 and in Qumran, in: M. Bernstein u.a. (Hg.), Legal Texts and Legal Issues. Proceedings of the Second Meeting of the International Organization for Qumran Studies, Cambridge 1995 (FS J.M. Baumgarten) (STDJ 23), Leiden u.a. 1997, 489–499; DERS., Konkordanzen und Indizes zu den nichtbiblischen Qumrantexten auf Papier und Microfiche – aus dem Münchener Projekt: Qumran und das Neue Testament (2., völlig neu bearb. Fassung), in: B. Kollmann u.a. (Hg.), Antikes Judentum und Frühes Christentum (FS H. Stegemann) (BZNW 97), Berlin/New York 1999, 197–209; DERS., Qumran und Paulus. Unter traditions-
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dass das Projekt noch nicht abgeschlossen ist, liegt natürlich darin, dass jetzt praktisch alle Qumrantexte zugänglich sind. Mit der Edition der großen Hodajotrolle a als Band 40 in der Reihe „Discoveries in the Judaean Desert“ (2009, von Hartmut Stegemann und Eileen Schuller bearbeitet) liegt nun auch die endgültige, vor allem von Stegemann und auch von Émile Puech erschlossene Zählung der Kolumnen und Zeilen leicht zugänglich vor.140 Unabdingbar ist E. Tov, Revised Lists of the Texts from the Judaean Desert (2010), z.T. eine Überarbeitung von DJD 39 (2002). Ferner hat Martin Abegg, Jr. (mit Unterstützung von James E. Brownley und Edward M. Cook) den ersten und dritten Band (2003 bzw. 2010) einer Konkordanz der Rollen vom Toten Meer vorgelegt141 (auf die Konkordanz der nicht biblischen Texte der „Judaean Desert“ außerhalb der Qumranschriften müssen wir wohl noch länger warten). Eine noch vollständigere Konkordanz der nicht biblischen Qumrantexte bietet die amerikanische Software von Accordance, die ebenfalls Abegg verantwortet.142 Es freut mich aber zu hören, dass meine oben unter den Projektveröffentlichungen genannte Liste von Konkordanzen in der Festschrift für Hartmut Stegemann von 1999 immer
geschichtlichem Aspekt ausgewählte Parallelen, in: U. Mell/U.B. Müller (Hg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (FS J. Becker) (BZNW 100), Berlin/New York 1999, 227–246; DERS., The Wisdom Passage in 1 Corinthians 2:6–16 between Qumran and Proto-Gnosticism, in: D.K. Falk u.a. (Hg.), Sapiential, Liturgical and Poetical Texts from Qumran. Proceedings of the Third Meeting of the International Organization for Qumran Studies, Oslo 1998 (STDJ 35), Leiden u.a. 2000, 240–253; DERS., Qumran Meal (s. Anm. 53); DERS., „Gemeinde Gottes“ in den Qumrantexten und bei Paulus unter Berücksichtigung des Toraverständnisses, in: D. Sänger/M. Konradt (Hg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament (FS C. Burchard) (NTOA/StUNT 57), Göttingen/Fribourg, CH 2006, 153–169. S. auch die betreffende Webseite der Universität München:http://www.nt2.evtheol.uni-muenchen.de/personenliste/kuhn/publikationen/qumran/index.html. Zz. wird an den beiden Korintherbriefen gearbeitet. 140 Die nicht sinnvolle Zählung von 1QH a in den letzten Jahren nach der neuen Kolumnenzählung, aber den alten Zeilenbezeichnungen dürfte nun ein Ende haben. Die Hodajottexte aus 4Q wurden bereits 1999 in DJD 29 von Eileen Schuller publiziert (S. 69– 254, Taf. IV–XVI). 141 M.G. A BEGG, Jr., u.a., The Dead Sea Scrolls Concordance, Bd. 1: The Non-Biblical Texts from Qumran (2 Teile), Leiden/Boston 2003; DERS. u.a., The Dead Sea Scrolls Concordance, Bd. 3: The Biblical Texts from the Judaean Desert (2 Teile), Leiden/Boston 2010. 142 „Qumran text and grammatical tags ©1999–2009 Martin G. Abegg, Jr.“, Version 3.2 innerhalb von Accordance 9: Bible Software, OakTree Software, Inc., Version 9.5.3 (Januar 2012). So hat Accordance z.B. für 1QH a III,24 in den neueren Versionen der Software schon die Lesart hdm|o vom Verb dmo („stehen“) wie mit Recht in DJD 40, Oxford 2009, während die gedruckte Konkordanz noch hdm|b vom Nomen hdm („Maß“) unter 1QH a Frgm. 11,2 liest (zur Kennzeichnung schwer lesbarer Buchstaben mit einem sog. Kringel s. oben Anm. 11 am Schluss).
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noch für diejenigen brauchbar ist, die sich nicht nur auf eine Konkordanz verlassen wollen. Als Textbasis ziehe ich die gesamte Qumranbibliothek heran, nicht nur die Texte, die man der Qumrangemeinde selbst (im weiteren Sinn von 1QS VI,2 par. 4QSd [4Q258] II,6) zuschreiben kann;143 soweit nötig und möglich, versuche ich, die Beziehung eines Qumrantextes zur Qumrangemeinde anzugeben. Abgesehen davon, dass die Trennung in „sectarian and nonsectarian literature“ in vielen Fällen nicht gelingt und diese einfache Unterscheidung auch völlig unzureichend ist,144 geht es in dem Projekt eben nicht speziell um einen Vergleich zwischen Paulus und der Qumrangemeinde, sondern um neue Formulierungen und Sachverhalte, die durch diese Bibliothek für die Interpretation der Paulusbriefe bereitgestellt werden. Die Textbasis im Neuen Testament sind nur die sieben allgemein für authentisch gehaltenen Paulusbriefe. Die heute beliebte und z.T. auch gerechtfertigte Kritik am Billerbeck145 und die oft oberflächliche Rede von „Parallelomania“ machen mir wenig Sorgen. Sog. Parallelen aufzusuchen, ist natürlich unerlässlich. Ohne Parallelen sind oft weder Datierungen noch Deutungen möglich, wobei es mit der Datierung einer bestimmten Handschrift noch nicht getan ist. Man denke nur an die im Jahre 1910 von Solomon Schechter veröffentlichten mittelalterlichen Handschriften der Damaskusschrift (A1 und 2, B) und den Streit über das Alter der Texte (und die in etwa gelungene, von vielen Forschern vorgenommene Datierung)146 vor der Auffindung von Fragmenten dieser Schrift in den Höhlen 4 bis 6 (4QDa–h [4Q266–273]; 5QD [5Q12]; 6QD [6Q15]). Auch die Differenzierungen innerhalb der Qumrantexte im Blick auf die Frage der Entstehung einer Schrift in der Gemeinde selbst sind ohne die Suche nach Parallelen zu den Basistexten der Gemeinde, wie etwa den Hodajot oder dem Pescher Habakuk, nicht
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Zum Verhältnis der Qumrantexte zur Niederlassung in Qumran, zum Gemeindeanfang in Qumran selbst und zur Frage der Gleichsetzung der Qumrangemeinde mit den bei antiken Autoren genannten Essenern s. Teil 1 am Anfang. 144 S. dazu im Detail am Anfang von Teil 1. Zur Kriterienfrage in diesem Fall vgl. auch FREY, Textfunde von Qumran (s. Anm. 1), 249–253 (mit Literatur); FREY, 252, schlägt für den deutschen Sprachgebrauch die Unterscheidung „von ,gruppenspezifischen‘ und ,nicht gruppenspezifischen‘ (also außerhalb der Gruppe entstandenen) Texten“ vor; ich würde z.B. die Damaskusschrift einer anderen „Gruppe“, aber nicht einer anderen „Gemeinde“ bzw. „Qumrangemeinde“ (im weiteren Sinn) zurechnen. 145 (H.L. STRACK)/P. B ILLERBECK, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 1–4, München 1922–1928 (Nachdrucke); Bd. 5: hg. v. J. Jeremias, bearbeitet von K. Adolph, München 1956 (Nachdrucke); Bd. 6: hg. v. J. Jeremias in Verbindung mit K. Adolph, München 1961 (Nachdrucke). 146 S. dazu L. R OST, Die Damaskusschrift (KlT 167), Berlin 1933, 4.
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möglich.147 Gerade für eine nicht zu kurz greifende Textwissenschaft ist es allerdings wichtig, dass man die Parallelität nicht zu eng versteht. Es geht um verwandte Formulierungen, und die können auch in einem anderen Kontext und sogar gegensätzlich gebraucht werden. Auch für Paulus und die Qumrantexte ist solch ein gegensätzliches Vorkommen von besonderem Interesse und hilft der Exegese der Paulusbriefe, aber auch der Qumrantexte. Ich erinnere nur an die unterschiedliche Heranziehung von Hab 2,4 in 1QpHab VIII,1–3 und Gal 3,11 wie Röm 1,17148 oder die Wendung !"#$! %&'( in 4QMMT C 27 und achtmal bei Paulus.149 Natürlich gibt es auch sog. Parallelen, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Solche sog. Parallelen werde ich nur dann heranziehen, wenn sie von besonderem Interesse sind (wie !"#$% &'() bei einem Sophisten namens Philostratos150) oder die Sekundärliteratur sie öfter nennt. Wo eine unkritische Heranziehung von sog. Parallelen vorliegt, kann man natürlich von „Parallelomania“ sprechen, und dann gilt der schöne Slogan von Lutz Doering im Titel seines Aufsatzes „Parallels without ‘Parallelomania’“151. Zur Kritik an Paul Billerbeck, dessen Zusammenstellung des rabbinischen Materials für die neutestamentliche Exegese „besser ist als ihr heutiger Ruf“152, will ich nur so viel sagen, dass ein Großteil der Kritik auf die Benutzer fallen muss, die die Originaltexte nicht heranziehen wollen oder können und Kontext und Datierung nicht berücksichtigen. Wenn auch in viel kleinerem Umfang als es bei Texten in der rabbinischen Literatur der Fall ist, stammen auch die Qumrantexte, die allerdings alle praktisch vorpaulinisch sind, ja aus mehreren Jahrhunderten, aus verschiedenen Herkunftsbereichen, und schließlich sind sie oft auch nicht genau datierbar (das alles gilt selbst für die Gemeindetexte). Das Projekt „Qumran und Paulus“ kann ebenfalls nur eingeschränkt auf den jeweiligen Kontext eingehen. Eine vollständige Sammlung paralleler Wendungen ist für die Qumrantexte kaum erreichbar. Das sind alles Kritikpunkte an Billerbeck. Die von Berndt Schaller in einem Aufsatz von 2008153 über das Werk 147
S. v.a. D IMANT, Vocabulary (s. Anm. 12). S. dazu unten in Abschn. 2c. 149 S. zu beiden unten in Abschn. 2a. 150 S. dazu ebenfalls in Abschn. 2a. 151 L. D OERING, Parallels without “Parallelomania”: Methodological Reflections on Comparative Analysis of Halakhah in the Dead Sea Scrolls, in: S.D. Fraade u.a. (Hg.), Rabbinic Perspectives. Rabbinic Literature and the Dead Sea Scrolls. Proceedings of the Eighth International Symposium of the Orion Center for the Study of the Dead Sea Scrolls and Associated Literature, 7–9 January, 2003 (STDJ 62), Leiden/Boston 2006, 13–42. 152 H.-J. K LAUCK, Wettstein, alt und neu. Zur Neuausgabe eines Standardwerks, BZ NF 41 (1997) 89–95: 89. 153 B. SCHALLER, Paul Billerbecks „Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch“. Wege und Abwege, Leistung und Fehlleistung christlicher Judaistik, in: L. 148
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Billerbecks u.a. kritisierte kontrastive Darstellungsweise, die bei Billerbeck durchaus nicht antijüdisch sei, ist auch für das Projekt „Qumran und Paulus“ exegetisch für eine schärfere Erfassung der Sachverhalte unbedingt notwendig. Ein Eintopf aus Qumran und Paulus nützt niemandem und ist übrigens von jüdischen Gelehrten in der Regel auch gar nicht gewollt, aber manchmal von christlichen Exegeten. Ziel eines religionsgeschichtlichen Vergleichs zwischen zwei verwandten, aber unterschiedlichen religiösen Welten muss immer sein, dass sich beide Seiten wissenschaftlich auf gleicher Ebene austauschen können. Auch der „Neue Wettstein“ muss kritisch gesehen werden:154 Trotz seiner zusätzlichen Parallelen zum alten Wettstein aus der Mitte des 18. Jh. stellt er viel weniger umfassend als Billerbeck einfach Parallelen zum Neuen Testament aus griechischen und lateinischen Autoren, mit Recht gerade auch aus hellenistisch-jüdischen Schriften, in Übersetzung zusammen. Bisher liegen zwei Teilbände zu den Briefen und zur Apokalypse vor155 (die offenbar einzige wörtliche, allerdings nur sprachliche ,Parallele‘ zur paulinischen Wendung der „Werke des Gesetzes“ aus der paganen Welt, nämlich !"#$% &'() bei dem Sophisten Philostratos156, fehlt). Die Sammlung und Kommentierung von Herbert Braun, der schon in den Sechzigerjahren Sekundärliteratur zu Qumran und zu neutestamentlichen Stellen in einer Katene und zu einer Vielzahl von Themen zusammengetragen hat,157 ist heute natürlich nur noch bedingt brauchbar, aber nicht zuletzt wegen seiner Urteile immer noch von Interesse (von den 19 von mir aus meinem Material ausgewählten und 2006 veröffentlichten Vergleichen158 finden sich bei Braun in seiner Katene sieben159). Verwiesen sei auch auf die engl. Neubearbeitung eines deutschen Werkes von Klaus Berger und Carsten Colpe (1987) durch M. Eugene Boring, K. Berger und
Doering u.a. (Hg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft. Standorte – Grenzen – Beziehungen (FRLANT 226), Göttingen 2008, 61–84. 154 S. dazu K LAUCK, Wettstein (s. Anm. 152). 155 G. STRECKER u.a. (Hg.), Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus, Bd. 2 (2 Teile): Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse, Berlin/New York 1996. 156 S. unten in Abschn. 2a. 157 H. B RAUN, Qumran und das Neue Testament, Bd. 1–2, Tübingen 1966; Bd. 1 ist eine „Katene von Matthäus bis Apokalypse“; Bd. 2 stellt insbesondere eine „Thematische Erörterung der die Qumrantexte und das Neue Testament betreffenden Fragen“ dar. Bd. 1 wurde zuerst veröffentlicht in: DERS., Qumran und das Neue Testament. Ein Bericht über 10 Jahre Forschung (1950–1959), ThR NF 28 (1962) 97–234; 29 (1963) 142–176.189–260; 30 (1964) 1–38.89–137. Auch für Bd. 2 gilt in der Regel die Zeitgrenze 1.7.1959 (a.a.O., Bd. 2, 48). 158 K UHN, Impact of Selected Qumran Texts (s. Anm. 136). 159 Gemäß meiner Gliederung der Vergleiche: B 1–3; C 1, 5, 8; D 1 (a.a.O.).
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C. Colpe.160 Trotz des Titels eines „Hellenistic Commentary“ wird für die authentischen Paulusbriefe ca. 30-mal auf die Qumrantexte (mit kurzem Kommentar) verwiesen (davon sind immerhin neun der oben genannten 19 Vergleiche betroffen).161 Zur Schwierigkeit des „Münchner Projekts: Qumran und Paulus“ möchte ich Folgendes sagen: Die verwandten Formulierungen in beiden Textkorpora lassen sich für alle authentischen Paulusbriefe nicht von heute auf morgen sammeln, will man nicht nur die üblichen Vergleiche präsentieren und Zufallsfunde bieten. Neben eigenen Recherchen wird schon seit über 30 Jahren, genauer seit dem 30. Jahr nach der Entdeckung der ersten Fundhöhle, vor allem von wissenschaftlichen Hilfskräften die Sekundärliteratur auf Behauptungen einer Parallelität zwischen Paulus und Qumran hin durchgesehen. Dafür ist ein Formblatt entwickelt worden, auf das für jeden Aufsatz oder jedes Buch neben dem eigentlichen Exzerpt die betreffenden Paulusstellen am Kopf des Formblattes festgehalten werden.162 Schon die große Fülle des aus der Sekundärliteratur gesammelten Materials (zz. über 35 Ordner zu einzelnen Textstellen der authentischen Paulusbriefe) verringert die Gefahr einer Zufallssammlung und erlaubt eine kritische Auswahl der in das Projekt aufzunehmenden Vergleiche. Anhand der Zahl von Exzerpten für die jeweilige Paulusstelle sieht man schnell,
160
M.E. B ORING u.a. (Hg.), Hellenistic Commentary to the New Testament, Nashville
1995.
161
Ich nenne nur noch eine gerade vollmundig veröffentlichte Sammlung von Vergleichsstellen: T.E. C LONTZ/J. C LONTZ (Hg.), The Comprehensive Bible. Complete Cross Reference Index for the Dead Sea Scrolls, Philo, Josephus, Nag Hammadi Library, Pseudepigrapha, Apocrypha, Plato, Egyptian Book of the Dead, Talmud, Old and New Testaments, Patristic Writings, Dhammapada, Tacitus, Epic of Gilgamesh, Hollywood, FL 2011 (von Interesse in unserem Zusammenhang ist das Modul „The Comprehensive Bible Cross References“: Accordance edition hypertexted and formatted by OakTree, Version 1.0). Hier sind, soweit ich sehe, von den 19 oben genannten Stellen gerade einmal vier (und das im Jahr 2011!) aufgeführt, wie natürlich z.B. „Sons of Light“ in 1Thess 5,5 (unter dieser Wendung im „Topical Notes Index“). Freilich wurden noch viele weitere Stellen der authentischen Paulusbriefe mit Qumrantexten in Verbindung gebracht; so wird für die Vorstellung der Auferstehung im „Topical Notes Index“ unter „Resurrection“, zusammen mit mehreren Paulusstellen, zu Recht auf die sog. 4QMessianic Apocalypse (4Q521) verwiesen (s. aber nicht nur Frgm. 7,6 [sic!], sondern auch 2 II,12). 162 Es erfolgt dann eine Vervielfältigung der Exzerpte entsprechend der Zahl der Paulusstellen, um in Ordnern gesammelt zu werden (auch im Computerzeitalter sind wir bei dieser älteren Arbeitsweise geblieben). Die durchzusehene Literatur wird den wissenschaftlichen Hilfskräften in der Regel von einer Wissenschaftlichen Mitarbeiterin oder einem Wissenschaftlichen Mitarbeiter auf Formblättern zur Verfügung gestellt. Dafür gibt es über das Internet eine von uns genutzte technische Möglichkeit, dass die Hilfskräfte, wo immer sie arbeiten, diese für das Projekt herausgesuchten Literaturtitel abrufen können.
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welche Paulusstellen von den Exegeten für eine Qumranparallele bevorzugt wurden. Ein zweiter, zeitlich ebenfalls aufwendiger Schritt, ist die Überprüfung der Qumranstellen bei einem Vergleich mit Paulus daraufhin, ob die betreffende Wendung oder der betreffende Sachverhalt schon in anderen zeitgenössischen, vor allem jüdischen Texten zumindest mehrmals vorkommt163 und somit eventuell ein Erkenntnisfortschritt für Paulus von einem Qumrantext her wahrscheinlich eher nicht gegeben ist (außerdem werden die Hebräische Bibel und die LXX zur Überprüfung immer mit herangezogen). Jedenfalls ist die bloße Sammlung von Stellen schon von diesem Gesichtspunkt her nicht ausreichend, ganz abgesehen davon, dass im Blick auf Qumran die Gemeindetexte von sonstigen Texten der Bibliothek, soweit es freilich möglich ist, unterschieden werden sollten und dass im Hinblick auf Paulus und Qumran die theologische Nähe und Verschiedenheit herausgearbeitet werden müssen. Es folgt dann eine vorläufige kritische Überprüfung der gesammelten sog. Parallelen durch eine Wissenschaftliche Mitarbeiterin bzw. einen Mitarbeiter, oder durch mich oder durch beide.164 Auch für die Auswertung der vorläufig aufzunehmenden „Parallelen“ ist ein mehrseitiges Formblatt entwickelt worden. Die Berücksichtigung der Umwelttexte wird dadurch unterstützt, dass wir nicht mehr nur auf Papierkonkordanzen angewiesen sind, sondern eine Software besitzen, durch die man in Texten auch Wortverbindungen und Kontexte finden kann (gearbeitet wird mit der v.a. jüdische und christliche Texte der Antike sehr weitgehend umfassenden Software Accordance, zz. Version 9165). Gesucht wird in Texten von der Biblia Hebraica bis zur älteren rabbinischen Literatur und gelegentlich auch im paganen Bereich (Beispiel: !" #$%&'& in der griechischen Vereinsterminologie im Verhältnis zu !"#166 oder &'($) *+,- bei einem Sophisten im Verhältnis zu !"!" !"#$!167). Für Letzteres steht der „Thesaurus Linguae Graecae“ zur Verfügung.168 Ich nenne jetzt nur die Texte, die vor allem für das Projekt 163
Als ungefähren Zeitraum für die zu überprüfenden Texte hat sich das Projekt in der Regel die Zeit von 300 v.Chr. bis 250 n.Chr. (also einschließlich Mischna und Tosefta) gesetzt. 164 Seit meinem Ruf nach München im Jahr 1986 leisteten wissenschaftliche Mitarbeit v.a. Dr. habil. Michael Becker, Dr. habil. Wolfgang Fenske, Dr. Martina Ludwig und Dr. Jakob Nordhofen; seit 2006 Astrid Stacklies, M.A. 165 Accordance. Bible Software, OakTree Software, Inc., Altamonte Springs, FL. Vgl. zu Accordance auch oben Anm. 142. 166 S. dazu unten in Abschn. 2d. 167 S. dazu unten in Abschn. 2a. 168 Thesaurus Linguae Graecae. A Digital Library of Greek Literature, University of California, Irvine (updated 7. Juli 2011).
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mit der Software Accordance erschlossen werden können: Außer dem Neuen Testament und den Qumrantexten die Biblia Hebraica (einschließlich der „biblischen“ Qumranhandschriften), der ganze hebr. Jesus Sirach und die Septuaginta (einschließlich der griechischen Fragmente der LXXBücher in Qumran), ferner die griechischen Pseudepigraphen, Josephus und Philo, außerdem (neben dem babylonischen Talmud) Mischna, Tosefta, Sifra und Sifre, Mekhilta deRabbi Yishma’el und Targum Neofiti. Freilich ist bei der Software Accordance immer darauf zu achten, welche Edition zugrunde liegt, und gegebenenfalls sind für die genannten Texte Editionen und Konkordanzen in Buchform heranzuziehen; das gilt z.B. bei Joseph und Aseneth für die Edition von Christoph Burchard.169 Für den hebr. Jesus Sirach stellt dagegen die Fassung in Accordance von 2009 (Version 2.2), verantwortet von Martin G. Abegg, Jr., in Zusammenarbeit mit Casey A. Toews, den neuesten kritischen Stand dar. Es folgt schließlich durch mich eine endgültige Auswahl der vergleichbaren Formulierungen und die Erstellung des Manuskripts nach dem einfachen Schema, wie ich es in Band 3 von „The Bible and the Dead Sea Scrolls“, 2006 herausgegeben von Charlesworth, angewandt habe:170 1. Paulustext oder -texte; 2. Qumrantext oder -texte; 3. Erläuterungen unter besonderer Berücksichtigung der Frage, in welchem Verhältnis der Qumrantext speziell zur Qumrangemeinde auch in einem weiteren Sinn gehört (einschließlich der Damaskusschrift), ferner der Kontexte bei Paulus und in Qumran, der Vorkommen vergleichbarer Wendungen und Sachverhalte in Umwelttexten und der evtl. philologischen und theologischen Probleme und Differenzen, aber das alles sehr knapp. 2. Zur Bedeutung des Vergleichs Ich wähle hier nur drei Themen aus, um die überragende Bedeutung der Qumrantexte für ein besseres Verständnis der Paulusbriefe in Erinnerung zu rufen. Welchen Stellenwert die Qumrantexte für die Erforschung des Neuen Testaments bzw. Paulus heute haben, wird deutlich, wenn man sich vor 169 C. B URCHARD, Joseph und Aseneth. Kritisch hg. mit Unterstützung von C. Burfeind und U.B. Fink (PVTG 5), Leiden/Boston 2003. Accordance legt noch den Text von Pierre B ATIFFOL zugrunde: Le Livre de la Prière d’Aseneth, in: DERS., Studia Patristica. Études d’ancienne littérature chrétienne 1–2, Paris 1889–1890, 1–115. Als Konkordanz ist A.-M. D ENIS, Concordance grecque des pseudépigraphes d’Ancien Testament, Leiden/Leuven 1987, (innerhalb S. 87–811) wegen Zugrundelegung des Textes von Burchard aktueller als Accordance; es fehlt hier freilich die öfter hilfreiche oder notwendige Suchfunktion. Von Denis konnten natürlich noch nicht die späteren Korrekturen Burchards an seinem Text berücksichtigt werden (s. B URCHARD, Joseph und Aseneth, 368–384 [dazu 372]). 170 K UHN, Impact of Selected Qumran Texts (s. Anm. 136).
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Augen hält, dass es zunehmend so gut wie keinen Aufsatz und keine Monografie mehr gibt, die nicht auf die Qumrantexte zurückgreifen. Aber die Basis der Vergleichstexte ist immer noch zu schmal. Wichtig ist nämlich, nicht einfach pauschale Behauptungen zum Vergleich von Paulus und Qumran aufzustellen, sondern Urteile anhand konkreter Stellen zu fällen, die in ihrem engeren und weiteren Kontext zu sehen sind. Die hier ausgewählten Vergleiche sind von besonderem theologischen Interesse, nicht zuletzt für den Neutestamentler; bei einer Parallele kommt die Diskussion darüber nicht zur Ruhe (s. unten Abschn. a). Es handelt sich im Folgenden um drei Bereiche, nämlich um die Tora, das Gemeindeverständnis und die Eschatologie. Ich klammere u.a. folgende Themen aus, die ebenfalls eine wichtige Rolle im Projekt spielen werden: den ethischen Dualismus, die Prädestination, den „neuen Bund“ und das „sündige Fleisch“; hinsichtlich der „Gerechtigkeit Gottes“ behandle ich hier nur einen Aspekt. Leider kann ich keine Paulusstelle nennen, die in den zwei der wichtigsten deutschen Übersetzungen eine Änderung erfuhr, die von den Qumrantexten veranlasst oder bestätigt wurde. Eine solche Änderung gibt es für den Lobgesang der Engel in Lk 2,14 (!" #"$%&'()* +,-(./0* mit den besten Handschriften). Aus der katholischen, noch heute gerne gebrauchten Wendung „Menschen guten Willens“ der Vulgata („hominibus bonae voluntatis“) ist 1979 in der Einheitsübersetzung, für die ich in den synoptischen Evangelien mit zuständig war, aufgrund der !"!#$ !"# in den Hodajot171 „bei den Menschen seiner Gnade“ geworden. Die Lutherübersetzung verließ dann in der Revision von 1984 ebenfalls den noch auf Luther selbst zurückgehenden Wortlaut172 „und den Menschen ein Wohlgefallen“173 und änderte die Übersetzung in „bei den Menschen seines
171 1QH a XII,33f (IV,32f Sukenik) in einem Anhang aus der Gemeinde zu einem Lehrerlied (s. K UHN, Enderwartung und gegenwärtiges Heil [s. Anm. 1], 23); ferner „Kinder deines Wohlgefallens“ (hknwxr ynb) in einem Gemeindelied in 1QHa XIX,12 (XI,9 Sukenik). Auf eine noch wörtlichere, aramäische Parallele, die damals noch nicht veröffentlicht war, hatte schon (mit Erlaubnis von Jean Starcky) J.A. FITZMYER, ‘Peace upon Earth among Men of His Good Will’ (Lk 2:14) (zuerst 1958), in: DERS., The Semitic Background of the New Testament. Combined Edition of Essays on the Semitic Background of the New Testament and A Wandering Aramean. Collected Aramaic Essays (The Biblical Resource Series), Grand Rapids u.a. 1997, 101–104: 102f, hingewiesen: […h]|twor Cwnab „unter den Menschen [seines] Wohlgefallens ...“ in 4QVisions of Amram c ar (4Q545) 4,6 (= VI,18; damals als 4Q1azût ‘Amram c 9,18). 172 M. L UTHER, Biblia. Das ist: Die gantze Heilige Schrifft / Deudsch / Auffs new zugericht, Wittenberg 1545; benutzt in der faksimilierten Ausgabe der Lutherbibel von 1545, Stuttgart 1983. 173 Luthers Übersetzung entspricht der Lesart .02 #"$%&'()* +,-(./0.
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Wohlgefallens“.174 Nach Abschluss der Arbeit an der Einheitsübersetzung in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts wurden weitere Qumranparallelen bekannt, sogar eine ganz wörtliche Übereinstimmung: !"#$ !"#$% „(weg von) Menschen [göttlichen] Wohlgefallens“ in 4QInstructiond (4Q418) 81+81a,10.175 Eine weitere so deutlich von den Qumrantexten bestätigte Änderung in Einheitsübersetzung und Lutherbibel ist mir im Neuen Testament sonst nicht bekannt. Wenden wir uns jetzt Paulus zu, und als erstem der drei genannten Bereiche der Tora. a) Man kann heute theologisch kaum noch überschätzen, dass die achtmal von Paulus nur im Galater- und Römerbrief benutzte Formulierung !"#$ %&'() (Gal 2,16 [3-mal]; 3,2.5.10; Röm 3,20.28) nun auch in der antiken jüdischen Literatur vorkommt, und zwar ausschließlich in einem der frühesten der Qumrangemeinde zuzuordnenden Texte. 176 Wörtlich begegnet die Wendung nur an einer Stelle in 4QMMT C 27 ( !"#$! %&'( !"#! „einige
174
So schon der revidierte Text der Lutherbibel von 1956 in einer Anmerkung zu Lk
2,14.
175
Vgl. noch den weitgehend ergänzten hebräischen Text (in der Wiedergabe der Edition von S.J. PFANN/M. K ISTER, in: DJD 20, Oxford 1997, 20) w«n[wxr] [yCn]«a „M[enschen] seines [Wohlgefal]lens“ in 4QcryptA Words of the Maskil to All Sons of Dawn (4Q298) 1–2 I,3f. Es kann kein Zweifel bestehen, dass auch im oben genannten Text 4Q418 81+81a,10 mit !"#$ das „Wohlgefallen“ Gottes gemeint ist und nicht menschliches „Wohlwollen“: An allen zusätzlichen fünf Stellen in 4QInstruction (4Q415–418a = 4QInstructiona–e; 4Q418c = 4QInstructionf?), die Parallelstellen nicht mitgezählt, nämlich 4Q416 2 II,7 par. 4Q417 2 II+23,10 und 4Q418 8,7; 4Q416 2 II,12 par. 4Q417 2 II+23,16; 4Q416 2 III,12 par. 4Q418 9+9a–c,12; 4Q417 1 II,10; 4Q418 126 II,5, an denen Text und Kontext ausreichend erhalten sind (und es nicht, wie dreimal in 4QInstruction, um den Willen des Mannes über die Frau geht) liegt die Bedeutung ,Gottes Wohlgefallen‘ vor. Zweimal ist Gottes Wohlgefallen auch eindeutig ohne Suffix gemeint (4Q416 2 II,7 par. 4Q417 2 II+23,10), zumal die Parallelstelle 4Q418 8,7 das Suffix hat. Vgl. noch, ohne direkten Hinweis auf Gott, 1QS VIII,6 !"#$ !"!#$% „und Auserwählte (göttlichen) Wohlgefallens“. Die fragliche Stelle in 4Q418 81+81a,10 ist also eindeutig kein Beleg dafür, Lk 2,14 im Sinne der Vulgata zu deuten (wörtlich in diesem Fall: „Friede/Heil den Menschen, die Wohlwollen zeigen“). Auch J. STRUGNELL/D.J. H ARRINGTON, 418. 4QInstructiond, in: J. Strugnell u.a., Qumran Cave 4.XXIV: Sapiential Texts, Part 2 (DJD 34), Oxford 1999, 211–474: 303.307, deuten 4Q418 81+81a,10 auf Gott: „men of (His/thy) good pleasure“; ebenso das auf die Qumrantexte spezialisierte Wörterbuch D.J.A. Clines (Hg.), The Dictionary of Classical Hebrew 7, Sheffield 2010, 545, s.v. !"#$%, „4. delight of Y(hwh)“; anders E.J.C. T IGCHELAAR, To Increase Learning for the Understanding Ones. Reading and Reconstructing the Fragmentary Early Jewish Sapiential Text 4QInstruction (STDJ 44), Leiden u.a. 2001, 231 (mit 234): „men of good pleasure“. 176 4QMMT C 27 = 4QpapMMT e (4Q398) 14–17 II,3.
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Vorschriften/Werke der Tora“),177 aber nicht – wovon ich mich selbst am Original in Jerusalem überzeugte178 und auch mit Abbildungen und einer Beobachtung zur Unterscheidung zweier Buchstaben 1994 belegte179 – in 4QFlorilegium bzw. im Midrasch zur Eschatologie180. Der wohl nächste heidnische Beleg stammt aus dem 2. oder 3. Jh. n.Chr. und bezieht sich auf Handarbeit181: Die Wendung bei einem Sophisten Philostratos aus dem 2.–3. Jh. n.Chr. hat einen völlig anderen Sinn. Hier stehen die !"#$% &'(), die von Hand gemacht seien, die der Brauch schaffe (wie Schiffe und Mauern), im Gegensatz zu *+,-./ &'() (wie Sterne und Flüsse).182 177 In 4QMMT bezieht sich die Formulierung auf mehr als 20 spezielle Gesetze. Verwandte, wenn auch in der konkreten Bedeutung von 4QMMT zu unterscheidende Formulierungen unter den Qumrantexten (s. dazu gleich unten): 1QS V,21 und VI,18 „und seine Werke in der Tora“ ( !"#$%!"#$%!) die Parallele zu 1QS V,21 in 4QSd (4Q258) II,1 liest „und ihre Werke in der Tora“ (!"#$% ! !"#$% !"#); zusätzlich zweimal (in 1QS V,23f fehlt !"#$%): 4QSd II,3f par. 4QSg (4Q261) 1a–b,3.5 „und seine Werke in der Tora“ (!"#$! !"#$%) und „und ihre Werke in der Tora“ (!"#$% &!'()*#); ferner 4QMiscellaneous Rules (4Q265) 4 II,6 „in den [Werken] der Tora“ ( !"#$ ! [!"#$]!); vgl. v.a. noch CD XX,6 „seine (sc. eines Mitglieds) Werke gemäß dem Studium der Tora“ (!"#$! %"&' ()* #(%+'). S. ferner syrBar 57,2 „die Werke (im Sinne von: die Vorschriften) der Gebote“. 178 Im Juli 1992 im Rockefeller Museum; auch Hartmut Stegemann, Annette Steudel und Émile Puech sahen das Original und kamen zu demselben Ergebnis (s. A. STEUDEL, Basic Research, Methods and Approaches to the Qumran Scrolls in German-Speaking Countries, in: D. Dimant [Hg.], The Dead Sea Scrolls in Scholarly Perspective. A History of Research [STDJ 99], Leiden/Boston 2012, 565–599: 577 Anm. 51). 179 K UHN, Bedeutung der Qumrantexte für das Verständnis des Galaterbriefes (s. Anm. 138), 173–175.202–209 mit Taf. 8 und 9. Das Foto wurde mir von der Israel Antiquities Authority zur Verfügung gestellt. Hinsichtlich der Unterscheidung von Buchstaben ging es um ! und ! in !"#$ '()* („Werke/Vorschriften des Gesetzes“) bzw. !"#$ !"#$ („Werke [im Sinne von: Darbringungen] von Lobpreis“). 180 4QMidrEschata III,7 (4Q174 1–2 I,7; ursprünglich 4QFlor). U.a. gegen J.C.R. DE R OO, ‘Works of the Law’ at Qumran and in Paul (New Testament Monographs 13), Sheffield 2007, 11f (de Roo hat den fotografischen Nachweis und die Unterscheidung der Buchstaben offenbar nicht zur Kenntnis genommen). Auch Abeggs gedruckte Konkordanz von 2003 (s. Anm. 141) verzeichnet die Stelle noch unter !"#$; auch nicht korrigiert in der Software Accordance (Qumrantext, Version 3.2, 2009) (s. Anm. 142). 181 PHILOSTRATOS, Epistulae et dialexeis 2 (C.L. Kayser [Hg.], Flavii Philostrati Opera, Bd. 2 [BSGRT], Hildesheim 1964 [= Leipzig 1871], 225–260: 259, Z. 5). Vgl. M. W OLTER, Theologie und Ethos im frühen Christentum. Studien zu Jesus, Paulus und Lukas (WUNT 236), Tübingen 2009, 131 Anm. 37. 182 Der Heranziehung dieses griech. Textes und anderer weniger wörtlicher paganer griech. Stellen für das paulinische &'() !"#$% kann ich keine Parallelität abgewinnen, wie das bei W OLTER, Theologie und Ethos (s. Anm. 181), 131 Anm. 37, der Fall ist, obgleich die Heranziehung paganer Texte an sich nicht vernachlässigt werden sollte. Nicht berücksichtigt ist ferner „das Werk (= die Forderung) des Gesetzes (01 &'($! 0$2 !"#$%) in ihre Herzen geschrieben“ in Röm 2,15 (und die parallele Formulierung 01 &'($! 01 0$2 !"#$% über das ungeschriebene Gesetz bei Aristot. rhet. I, 15, 1375b).
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Paulus benutzt die Wendung immer negativ, der Qumrantext in 4QMMT natürlich positiv (das gilt auch für alle vorher genannten verwandten Formulierungen). Dies ist die wichtigste Feststellung beim Vergleich! Der kontrastive Gebrauch der Wendung ist für Paulus besonders deutlich in Röm 3,28, wo der Glaube an Christus nicht zu „Werken der Tora“ hinzukommen soll (additives Verständnis der Wendung), sondern „Werke der Tora“ für das „Gerechtwerden“ ausgeschlossen werden: !"#$% '"( ()*+,.183 Paulus bezieht sich im Unterschied zu 4QMMT ohne jeden Zweifel auch nicht nur auf bestimmte halachische Vorschriften (wie die Streitpunkte in Antiochien und in den galatischen Gemeinden). In 4QMMT und bei Paulus handelt es sich um eine interne Auseinandersetzung; als gewisse Verschiedenheit ist noch zu nennen: bei Paulus geht es um das Tun der Tora, im betreffenden Qumrantext um Vorschriften der Tora. Auf Kontext und Funktion der Wendung in Ähnlichkeit und Verschiedenheit kann ich hier nicht im Detail eingehen. Die Diskussion über die Übersetzung „Werke des Gesetzes“ oder „Vorschriften des Gesetzes“ ist eigentlich überflüssig. Der Qumrantext sagt: „Wir haben dir einige Werke der Tora geschrieben“. Damit sind natürlich „Werke der Tora, die getan werden sollen“, also Vorschriften der Tora gemeint, so wie es auch Ex 18,20 heißt: „... und das Werk, das sie tun sollen“, und wie es auch der israelische Spezialist für das Qumran-Hebräisch, Elisha Qimron, in DJD 10 (1994) übersetzt: „Precepts of the Torah“184. In den verwandten Formulierungen in 1QS V,21 (mit den 4Q-Parallelen), 1QS VI,18 und CD XX,6 geht es entsprechend dem anderen Wortlaut um die konkrete Torapraxis. Bei Paulus ist natürlich auch nicht gemeint, dass man nicht durch „Vorschriften der Tora“ gerecht wird, sondern dass man nicht gerecht wird durch das Tun der Tora; insofern ist bei Paulus (und entsprechend in den anderen genannten Qumrantexten, abgesehen von 4QMMT) die Übersetzung mit „Werken der Tora“ angebrachter. Paulus mag die Wendung auf Umwegen aus der Qumrangemeinde haben (auffallend ist jedenfalls, dass auch der nähere und weitere Kontext bei Paulus und in 4QMMT Parallelen aufweist185). Mit -./)0-% in Gal 2,16, wo '1 0+2 183
So mit Recht auch J.D.G. D UNN, The New Perspective on Paul, Grand Rapids/ Cambridge 22008, 25: „Putting the point from Paul’s perspective, Paul was clear that justification is by faith alone: to regard any ‘works of the law’ as essential (in addition to faith) undermines ‘faith alone’“. Es ist dankenswert, dass Dunn im Zusammenhang seiner „New Perspective“ und Termini wie „boundary markers“ seine Position jetzt schärfer dargestellt hat (s. bes. den Abschnitt über „Works of the Law“, 23–28; 28 Anm. 107 zu seinen Klarstellungen: „did not bring out clearly enough ...“). 184 S. 63 zu Z. 27. 185 Ich nenne hier nur aus dem jeweils näheren Kontext die Wendung „zur Gerechtigkeit angerechnet werden“ (im Galaterbrief 3,6; in 4QMMT C 31 = 4QpapMMTe [4Q398] 14– 17 II,7). S. K UHN, Impact of Selected Qumran Texts (s. Anm. 136), 176f.
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!"#$% gleich dreimal begegnet, erinnert Paulus die Galater in V. 16a zweifellos an eigene Formulierungen, wie die Rechtfertigungsterminologie (&'()'$*+,)') in Verbindung mit dem Stichwort „Glaube“ (-.+/'0) zeigt.186 Die Diskussion über die 123) !"#$% bzw. !"#$! !"#$ ist bereits fast unübersehbar, aber ein Konsens ist vielleicht im Werden. Kein PaulusExeget kommt an dieser Qumranwendung mehr vorbei. b) Das schon von Luther selbst in Röm 3,28 in der Übersetzung hinzugefügte „allein“ („alleine durch den Glauben“)187 hat natürlich nicht im Blick auf das Stichwort „Glaube“, aber im Blick auf Gottes Gnade nun in den Gemeindeliedern der Hodajot eine Parallele durch das Wörtchen !": „allein durch deine Güte kann ein Mensch gerecht sein“.188 In gewisser Weise bestätigt der Qumrantext im Nachhinein Luthers Einfügung. Während Paulus (s. z.B. Röm 3,24) und die Qumrangemeinde (vgl. auch den Schlussteil von 1QS: X,9–XI,22189) das „sola gratia“ kennen, ist das „sola fide“, das in Jak 2,24 mit „nicht durch Glauben allein“ ($4( 5( -.+/670 #"!$!) sogar ausdrücklich abgelehnt wird, charakteristisch paulinisch. Das „sola gratia“ der Qumrangemeinde schließt aber die Notwendigkeit der „Werke der Tora“ zur Erlangung des Heils nicht aus, was die qumranische Deutung etwa von Hab 2,4 zeigt (s. gleich unter c); wie beides zusammengehört, wird sehr schön in dem eben genannten Abschnitt von 1QS/4QS deutlich.190 c) Hab 2,4 (!"#" !"#!$%& !"#$%; LXX: 8 &9 &.()'$0 5( -.+/6:0 !"# ;