Der Judische Messias Jesus Und Sein Judischer Apostel Paulus 9783161538728, 9783161538735, 3161538722

English summary: The occasion of Rainer Riesner's 65th birthday brought together many of his students and colleague

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Table of contents :
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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Von Israel in die Welt
Teil I: Der jüdische Messias Jesus von Nazareth
Thomas Pola: Zu „den Werken des Gesalbten“ (Mt 11,2–6 par.) vor dem Hintergrunde der alttestamentlichen und frühjüdischen Traditionsgeschichte
A. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Mt 11,2–6 par.
I. Die Intention von Jes 34f. im Kontexte des Jesajabuches
II. Zwischenergebnis
III. Zur Intention der Fragmente von 4Q521
IV. Zwischenergebnis
B. Zur Restitution Israels als obligatem messianischen Werk und dessen Rezeption in den synoptischen Evangelien – eine Skizze
C. Zum Tempelbau als obligatem messianischem Werk und zu dessen Rezeption in den kanonischen Evangelien – eine Skizze
D. Zur endzeitlichen kultischen Sühnweihe als obligatem messianischen Werk – eine Skizze
E. Wirklichkeitsauffassung und Erwartung eines idealen davidischen Herrschers
F. Synthese
Literaturverzeichnis
Roland Deines: Der Messiasanspruch Jesu im Kontext frühjüdischer Messiaserwartungen
A. Einleitung
B. Die neutestamentlichen Texte als Zeugnisse frühjüdischer Messiaserwartungen
C. Parallel-Lektüren der Heiligen Schriften
D. Die notwendige Bezogenheit des Messias auf Israels Heilige Schriften
I. Davidische Restaurationshoffnungen nach dem Exil
II. Die hasmonäische Familie als Retter
III. Messianische Intrigen am Hof des Herodes
IV. Die Lehrerdynastie des Judas Galiläus
V. Schriftbezogene Messiasverwirklichungen
VI. Familienverbände und Gruppen
E. Jesus als messianischer Schriftausleger
I. Familienspezifische Schriftauslegungstraditionen?
II. Explizite Schriftzitate bei Lukas
III. Indirekte Verweise auf die Schrift bei Lukas
IV. Jesus als Ausleger und Thema der ganzen Schrift
F. Ausblick: Jesus und die davidisch-messianischen Traditionen seiner Familie
I. Die Jesusfamilie als davidisch-messianischer Familienclan
II. Nazareth als Heimatort der davidischen Nazoräer
Literaturverzeichnis
Emmanuel L. Rehfeld: Der Christus Israels zwischen Golgatha und Galiläa. Beobachtungen zum Verhältnis von vorösterlicher Jesusbotschaft und nachösterlichem „Christus-Kerygma“ in der Darstellung der Synoptiker
A. Von Golgatha nach Galiläa und zurück: die „ausführliche Einleitung“ im Licht von Kreuz und Auferstehung
B. Das Persongeheimnis Jesuund die nach österliche Christuserkenntnis
C. Innere Spannungen im Jesusbild der synoptischen Evangelien
I. Jesus zwischen Partikularismus (Exklusivismus) und Universalismus
II. Jesus zwischen kontingenter (historisch bedingter) Mosetora und protologischem bzw. eschatologisch-universalem Gotteswillen
III. Jesus zwischen gegenwärtiger Gnade und nahendem Gericht
IV. Jesus zwischen „naher“ und zukünftiger βασιλεία τοῦ θεοῦ
V. Jesus zwischen „freiem Unwillen“ und Erwählung („Prädestination“)
VI. Jesus zwischen „sekundärer Konditionierung des Heils“ und unbedingter Gnade („Perseveranz“)
D. Die Aufrichtung der neuen διαθήκη im Christusgeschehen vor dem Hintergrund der alten διαθήκη
E. Folgerungen für eine evangelische Hermeneutik
Literaturverzeichnis
Armin D. Baum: Zwischen Abschreibeverhältnis und frühjüdischer Gedächtniskultur. McIvers experimentalpsychologische Kriterien zur Identifizierung eines Abschreibeverhältnisses zwischen den synoptischen Evangelien
A. Der Gedächtnisfaktor in den Lösungsmodellen zum synoptischen Problem
I. Die unmittelbare Wiedergabe schriftlicher Quellen (Abschrift)
1. Christian Gottlob Wilke
2. Robert Morgenthaler
II. Die auswendige Wiedergabe schriftlicher Quellen
1. Michael Goulder
2. Robert Derrenbacker
3. John Kloppenborg
III. Die auswendige Wiedergabe mündlicher Nebenquellen
1. Johann Jakob Griesbach
2. John Hawkins
3. Mark Goodacre
4. James Dunn
IV. Die auswendige Wiedergabe mündlicher Hauptquellen
1. Johann Gottfried Herder
2. Johann Carl Ludwig Gieseler
3. Albert Lord
V. Fazit
B. Die experimentalpsychologisch nachweisbare Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses
I. Die Gedächtnisexperimente von Robert McIver und Marie Carroll
1. Die Reproduktion schriftlicher Prosatexte
2. Die Reproduktion mündlicher Aphorismen
3. Die Anwendung auf die synoptische Frage
4. Die Grenzen der Experimente von McIver und Carroll
II. Die Gedächtnisexperimente von Earl Hunt und Tom Love
1. Der Mehrwert der Experimente von Hunt und Love
2. Die Reproduktion schriftlicher Prosatexte
3. Anwendung auf die synoptische Frage
4. Die Grenzen der Experimente von Hunt und Love
III. Ein synoptischer Vergleich aus der Oral Poetry von Gordon Innes
1. Lückenlose Wortlautidentität in der Oral Poetry-Forschung
2. Die Reproduktion mündlicher Texte in der Oral Poetry
3. Anwendung auf die synoptische Frage
4. Die Grenzen der Studie von Innes
IV. Fazit
C. Der Gedächtnisfaktor in synoptischen Paralleltexten mit maximaler Wortlautidentität
I. Jesu Zitat aus Ps 110,1 (Mt 22,44 par. Mk 12,36b)
1. Die unmotivierten Differenzen in der Wortlautidentität
2. Das alttestamentliche Zitat
3. Der Parallelismus membrorum
II. Jesu Dialog mit einem Aussätzigen (Mt 8,2b–3 par. Lk 5,12b–13)
1. Die unmotivierten Differenzen in der Wortlautidentität
2. Die Beibehaltung der Parataxe
3. Die Minor Agreements
4. Der Parallelismus membrorum
III. Fazit
D. Gesamtfazit
Literaturverzeichnis
Teil II: Jesu jüdischer Apostel Paulus von Tarsus
Volker Gäckle: Dimensionen des Heils. Die βασιλεία τοῦ θεοῦ in der Verkündigung Jesu und in den Briefen des Apostels Paulus
A. Die βασιλεία in der Verkündigung Jesu
I. Der Kontrast zum frühjüdischen Begriffsgebrauch
II. Das Reich Gottes als Raum des Heils
III. Das Reich Gottes als eine Zeit des Heils
IV. Das Reich Gottes als eine Gabe des Heils
V. Cruces interpretum
1. Das Exorzismuslogion (Lk 11,20/Mt 12,28)
2. Lk 17,20f.
VI. Ergebnis
B. Paulus und das Reich Gottes
I. Die Berufung zum Reich (1Thess 2,12)
II. Der Ausschluss vom Reich (1Kor 6,9f.; 15,50; Gal 5,21)
III. Das Reich Christi (1Kor 15,24)
IV. Die Wirkung des Reiches (1Kor 4,20; Röm 14,17)
V. Ergebnis
C. Jesus, Paulus und das Reich Gottes
Literaturverzeichnis
Joel R. White: Führt der Messias sein Volk aus dem Exil? Eine kritische Auseinandersetzung mit N.T. Wrights These eines impliziten Metanarrativs hinter dem paulinischen Evangelium
A. Wrights These vom anhaltenden Exil bei Paulus
I. Wrights Weiterführung der These von O.H. Steck
II. Wrights Anwendung des soziologisch-narrativen Ansatzes von N.R. Petersen
III. Methodische Vorüberlegungen im Blick auf die Untersuchung von Wrights These
B. Exegetisch-theologische Untersuchungen der These Wrights anhand des Römerbriefs
I. Römer 9–11
II. Röm 15,14–20
C. Schluss
Literaturverzeichnis
Hanna Rucks: Paulus als Jude(n) lesen. Zur Auslegung von Römer 9–11 unter jesusgläubigen Juden
A. Vorbemerkungen
B. Inhaltliche Ebene
C. Hermeneutischer Ansatz
D. Emotionale Ebene
E. Schluss
Literaturverzeichnis
Guido Baltes: „Freiheit vom Gesetz“ – eine paulinische Formel? Paulus zwischen jüdischem Gesetz und christlicher Freiheit
A. „Freiheit vom Gesetz“ im Römerbrief
B. Freiheitsterminologie im Galaterbrief
I. Galater 2,4
II. Gal 2,11–14
III. Galater 3,22–25
IV. Gal 4,21–5,1
V. Zusammenfassung: Gesetz und Freiheit bei Paulus
C. Gesetz und Freiheit in anderen frühjüdischen Texten
D. ὑπὸ νόμον und οὐκ ὑπὸ νόμον als paulinische Formeln
E. Konsequenzen für die halachische Praxis des Paulus
F. Fazit
Literaturverzeichnis
Detlef Häußer: Die Verkündigung des jüdischen Messias in der paganen Welt. Der Beitrag der Gemeinde in Philippi zur Mission des Apostels Paulus
A. Neue Wege: Mission unter Heiden
B. Philippi als Ort der paganen Welt
C. Die Partnerschaft von Paulus und der Gemeinde in Philippi
D. Der Beitrag der Gemeinde durch die Verkündigung des Evangeliums (Phil 2,15f.)
E. Der Beitrag in Form personeller Unterstützung
F. Der Beitrag in Form finanzieller Unterstützung – Geben und Nehmen (Phil 4,10–20, bes. V. 15)
G. Fazit
Literaturverzeichnis
Alexander Weiß: Paulus und die coloniae. Warum der Apostel nicht der einzige römische Bürger unter den frühen Christen war
A. Das römische Bürgerrecht des Paulus
B. Paulus war nicht der einzige römische Bürger unter den frühen Christen
C. Personen mit lateinischen Eigennamen im Umfeld des Paulus
D. Paulinische Gemeinden in römischen coloniae
E. Wenn christliche Gemeinden Querschnitt durch die lokale Gesellschaft bildeten, waren in coloniae römische Bürger unter den Christen
I. Zum proportionalen Verhältnis zwischen Personen mit und ohne römisches Bürgerrecht in den coloniae
1. Allgemeine Überlegungen
2. Das Beispiel der paulinischen colonia Alexandria Troas
II. Zur Zahl der Personen mit römischem Bürgerrecht in den coloniae
1. Allgemeine Überlegungen
2. Das Beispiel der paulinischen colonia Philippi
F. Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Michael Theobald: Alt und Neu. Innovative Begriffsbildungen in den Pastoralbriefen als Indiz ihres pseudepigraphen Charakters
A. Glaube und Erkenntnis (Tit 1,1). Zum gnoseologischen Interesse des Autors
B. Vom tugendhaften Leben angesichts der „Epiphanie“ Gottes und Jesu Christi (Tit 2,11–14)
C. Vom Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Geist (Tit 3,4–7)
D. Anknüpfung und Fortschreibung – ein Ausblick
E. Anhang
Literaturverzeichnis
Autorenverzeichnis
Stellenregister
A. Altes Testament
B. Apokryphen und Pseudepigraphen zum Alten Testament
C. Qumranische Schriften
D. Jüdisch-hellenistische Literatur
E. Neues Testament
F. Apokryphen zum Neuen Testament
G. Frühchristliche und altkirchliche Schriften
H. Rabbinica
I. Targumim
J. Pagane antike Schriften
K. Inschriften
Autorenregister
Namen- und Sachregister
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Der Judische Messias Jesus Und Sein Judischer Apostel Paulus
 9783161538728, 9783161538735, 3161538722

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) · Tobias Nicklas (Regensburg) J. Ross Wagner (Durham, NC)

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Der jüdische Messias Jesus und sein jüdischer Apostel Paulus Herausgegeben von

Armin D. Baum, Detlef Häußer und Emmanuel L. Rehfeld

Mohr Siebeck

Armin D. Baum, geboren 1965; Studium der Ev. Theologie in Gießen und Kampen (NL); 1993 Promotion an der Theologische Universiteit Kampen (Niederlande); Professor für Neues Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen, Adjunct Professor für Neues Testament an der Evangelische Theologische Faculteit Leuven (B), Visiting Professor für Neues Testament an der Theologische Universiteit Kampen (NL). Detlef Häusser, geboren 1968; Studium der Ev. Theologie in Marburg und Tübingen; 2005 Promotion an der Universität Dortmund; Professor für Neues Testament an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg. Emmanuel L. Rehfeld, geboren 1980; Studium der Ev. Theologie in Tübingen und Heidelberg; 2006 Magister der Theologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen; 2012 Promotion an der TU Dortmund; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der TU Dortmund und Pastor der Freikirche „Offene Tür“ in Lünen (Westf.).

e-ISBN PDF 978-3-16-153873-5 ISBN 978-3-16-153872-8 ISSN 0340-9570 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2016 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

Vorwort Dieser Band bietet eine Sammlung der Beiträge eines neutestamentlichen Symposiums, das am 8. und 9. Juni 2015 im Albrecht-Bengel-Haus in Tübingen stattfand. Thema und Termin waren zu Ehren von Prof. Dr. Rainer Riesner gewählt, der kurz zuvor seinen 65. Geburtstag gefeiert hatte. Das Thema greift zwei Schwerpunkte der Forschungen des Jubilars auf, deren Verbindung ihm ein zentrales Anliegen ist. In seinen Arbeiten zu den synoptischen Evangelien betont er den jüdischen Hintergrund der Jesusüberlieferung, und ebenso sieht er in der alttestamentlich-jüdischen Tradition und namentlich in der Jesusüberlieferung einen Wurzelgrund der Botschaft des Apostels Paulus. Die Beiträge zu dem genannten Symposium sowie zu diesem Band haben Schüler, Kollegen und Weggefährten von Rainer Riesner beigesteuert. Gemeinsam mit anderen wollen die Herausgeber dies auch als Dank für das geistliche Vorbild, die persönliche Förderung und die inspirierende Bereicherung des wissenschaftlichen Diskurses verstanden wissen. Einzelne Beiträge des Symposiums konnten aus unterschiedlichen Gründen nicht in den vorliegenden Band aufgenommen werden. Der Vortrag von Jostein Ådna, gewissermaßen eine Laudatio auf Rainer Riesner sowie eine Würdigung seiner archäologischen Arbeiten, ist in überarbeiteter Form bereits abgedruckt in der Zeitschrift Theologische Beiträge 47 (2016), 23–32; die Publikation anderer Vorträge ist vorgesehen. Das Symposium wurde von der Facharbeitsgruppe Neues Testament des Arbeitskreises für evangelikale Theologie (AfeT) und dem Albrecht-BengelHaus veranstaltet, für dessen Doktorandenarbeit Rainer Riesner seit 2013 die Verantwortung innehat. Es stellte seine Räume zur Verfügung und trug auch die Hauptlast der Organisation der Tagung, wobei insbesondere Dr. Clemens Hägele ein großer Dank gebührt. Großzügige Unterstützung leistete das Israel-Institut in Gießen. Namentlich Dr. Henning Ziebritzki, Klaus Hermannstädter, Philipp Henkys und Rebekka Zech vom Verlag Mohr Siebeck sei herzlich gedankt für die hilfreiche und geduldige Betreuung des Bandes und Prof. Dr. Jörg Frey für die Aufnahme des Bandes in die 2. Reihe der Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament. Wir wünschen Rainer Riesner viel Schaffenskraft im tätigen Ruhestand und hoffen, ihm mit den hier vorgelegten gesammelten Beiträgen Anregungen für das weitere exegetisch-theologische Arbeiten geben zu können. Im Juli 2016

Armin D. Baum, Detlef Häußer, Emmanuel L. Rehfeld

Inhaltsverzeichnis Vorwort ........................................................................................................ V Einleitung: Von Israel in die Welt ................................................................. 1 Teil I Der jüdische Messias Jesus von Nazareth Thomas Pola Zu „den Werken des Gesalbten“ (Mt 11,2–6 par.) vor dem Hintergrunde der alttestamentlichen und frühjüdischen Traditionsgeschichte ..................... 9 Roland Deines Der Messiasanspruch Jesu im Kontext frühjüdischer Messiaserwartungen .. 49 Emmanuel L. Rehfeld Der Christus Israels zwischen Golgatha und Galiläa Beobachtungen zum Verhältnis von vorösterlicher Jesusbotschaft und nachösterlichem „Christus-Kerygma“ in der Darstellung der Synoptiker ... 107 Armin D. Baum Zwischen Abschreibeverhältnis und frühjüdischer Gedächtniskultur McIvers experimentalpsychologische Kriterien zur Identifizierung eines Abschreibeverhältnisses zwischen den synoptischen Evangelien ............... 137 Teil II Jesu jüdischer Apostel Paulus von Tarsus Volker Gäckle Dimensionen des Heils Die βασιλεία τοῦ θεοῦ in der Verkündigung Jesu und in den Briefen des Apostels Paulus ................................................................................... 175 Joel R. White Führt der Messias sein Volk aus dem Exil? Eine kritische Auseinandersetzung mit N.T. Wrights These eines impliziten Metanarrativs hinter dem paulinischen Evangelium ......... 227

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Inhaltsverzeichnis

Hanna Rucks Paulus als Jude(n) lesen Zur Auslegung von Römer 9–11 unter jesusgläubigen Juden ..................... 243 Guido Baltes „Freiheit vom Gesetz“ – eine paulinische Formel? Paulus zwischen jüdischem Gesetz und christlicher Freiheit...................... 265 Detlef Häußer Die Verkündigung des jüdischen Messias in der paganen Welt Der Beitrag der Gemeinde in Philippi zur Mission des Apostels Paulus .... 315 Alexander Weiß Paulus und die coloniae Warum der Apostel nicht der einzige römische Bürger unter den frühen Christen war .............................................................................................. 341 Michael Theobald Alt und Neu Innovative Begriffsbildungen in den Pastoralbriefen als Indiz ihres pseudepigraphen Charakters ...................................................................... 357 Autorenverzeichnis .................................................................................... 381 Stellenregister............................................................................................. 383 Autorenregister ........................................................................................... 403 Namen- und Sachregister ............................................................................ 411

Einleitung: Von Israel in die Welt Armin D. Baum, Detlef Häußer, Emmanuel L. Rehfeld Der vorliegende Sammelband handelt von den jüdischen Wurzeln des frühen Christentums. Er geht von der einfachen Beobachtung aus, dass die beiden Hauptpersonen des Neuen Testaments, der Messias Jesus und sein Apostel Paulus, Juden waren. Die Beiträge kreisen mehrheitlich um die Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Judentum und Christentum in den neutestamentlichen Texten über Jesus von Nazareth und über bzw. von Paulus von Tarsus. Die Frage nach der jüdischen Verwurzelung des frühen Christentums umfasst mindestens drei Aspekte: das Verhältnis des Wirkens von Jesus und Paulus zu den heiligen Schriften Israels, die Beziehung von Jesus und Paulus zum zeitgenössischen Judentum und die Verknüpfung der paulinischen Theologie mit der Verkündigung Jesu bzw. der synoptischen Tradition. Alle drei Aspekte werden in den folgenden Beiträgen in den Blick genommen. Die vier Beiträge im ersten Teil sind Jesus von Nazareth bzw. den synoptischen Evangelien gewidmet. Thomas Pola („Zu ‚den Werken des Gesalbten‘ [Mt 11,2–6 par.] vor dem Hintergrunde der alttestamentlichen und frühjüdischen Traditionsgeschichte“) arbeitet heraus, dass man im Alten Testament und Frühjudentum vom Messias erwartete, er werde Israel wiederherstellen, einen eschatologischen Tempel bauen und die endzeitliche Sühne schaffen. Zu dieser Messiaserwartung stehe die Aussage über die Werke des Messias in Mt 11,2–6 par. in Kontinuität und Diskontinuität. Im Unterschied zur Erwartung der alttestamentlich-frühjüdischen Apokalyptik sei der Neue Äon laut Mt 11,2–6 bereits angebrochen, und zwar ohne dass dem ein universales Weltgericht vorausgegangen sei. Eine wesentliche Übereinstimmung zwischen Mt 11,2–6 und alttestamentlich-frühjüdischen Erwartungen sieht Pola in einem gemeinsamen Glaubensbegriff. Bereits Jesaja habe im Zusammenhang mit der Transformierung der judäischen Königsideologie in die Erwartung eines idealen Herrschers (in Jes 7,1– 17) die Messiaserwartung mit dem Glauben verbunden. An die messianische Wirklichkeit sollte gegen den Augenschein geglaubt werden. In entsprechender Weise sei der Glaube an eine unsichtbare messianische Wirklichkeit auch in Mt 11,2–6 von grundlegender Bedeutung. Roland Deines („Der Messiasanspruch Jesu im Kontext frühjüdischer Messiaserwartungen“) plädiert dafür, die neutestamentlichen Schriften als frühjüdische Dokumente zu behandeln und in die Rekonstruktion der frühjüdischen

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Armin D. Baum, Detlef Häußer, Emmanuel L. Rehfeld

Messiaserwartungen einzubeziehen. Der neutestamentliche Messiasglaube sei eine Ausformung des frühjüdischen Messianismus. Dabei seien die frühchristlichen nicht aus anderen frühjüdischen Messiasvorstellungen abzuleiten. Vielmehr habe die frühe Christenheit parallel zu anderen frühjüdischen Gruppen dieselben messianischen Texte der Bibel auf sich und ihre Zeit angewandt. Den Evangelien zufolge habe die frühchristliche Messiasvorstellung ihre Basis in der Schriftauslegung Jesu gehabt, der als messianischer Deuter und Lehrer der Schrift aufgetreten sei. Der Grund dafür, dass die neutestamentlichen Messiasaussagen sich teilweise deutlich von denen in anderen frühjüdischen Schriften unterschieden, liege darin, dass die frühen Christen Anhänger eines schon gekommenen, in der Gegenwart als Throngenosse Gottes (Ps 110,1) verehrten und in Zukunft wiederkommenden Messias waren. Nach Deines hat es in frühjüdischer Zeit Gruppen gegeben, die eine gruppenspezifische Messiaserwartung pflegten, von deren Verwirklichung nichts bekannt ist. Daneben gab es gescheiterte messianische Personen oder Bewegungen, denen eine sehr spezifische Erwartungsphase vorausgegangen sein dürfte. Auch die Jesusbewegung gründe wahrscheinlich nicht nur in einer allgemeinen alttestamentlich-frühjüdischen, sondern in einer gruppenspezifischen Messiaserwartung. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf die noch näher zu begründende These, Jesus habe zu einem davidisch-messianischen Familienclan gehört, der spätestens seit dem 1. Jh. v.Chr. in Galiläa beheimatet war. In dieser Familie sei auf der Grundlage der biblischen Davidsverheißungen die Erwartung auf den kommenden „Spross“ aus dem Haus Davids gepflegt worden. Emmanuel L. Rehfeld („Der Christus Israels zwischen Golgatha und Galiläa. Beobachtungen zum Verhältnis von vorösterlicher Jesusbotschaft und nachösterlichem ‚Christus-Kerygma‘ in der Darstellung der Synoptiker“) fragt, wie die zahlreichen theologischen Spannungen innerhalb der synoptischen Jesusdarstellungen zu erklären sind. Seine doppelte Antwort lautet: Erstens zeugten die Spannungen von dem konfliktreichen Ablösungsprozess der alten durch die neue διαθήκη (vgl. Mk 2,21f. u.ö.), der sich proleptisch schon im vorösterlichen Wirken des irdischen Jesus, realiter dann in Passion, Kreuz und Auferstehung ereignet habe. Zweitens sei das Nebeneinander von Reich-Gottes-Ankündigung und Selbst-Verkündigung Jesu dadurch bedingt, dass die Synoptiker die im Christusgeschehen begründete und vollzogene Aufrichtung der neuen διαθήκη durchweg vor dem Hintergrund der (ver)alten(den) διαθήκη zur Sprache brächten. Rehfeld zufolge sind die synoptischen Evangelien (genauso wie Paulus) zwar grundsätzlich einer nachösterlichen Perspektive verpflichtet, blicken aus dieser Perspektive jedoch (anders als Paulus) auf den vorösterlich-irdischen Jesus, den Christus Israels, zurück. Daraus zieht Rehfeld in biblisch-theologischer Hinsicht die Konsequenz, dass namentlich die Paulusbriefe, aber auch das vierte Evangelium und die Apostelgeschichte als ein hermeneutischer Kommentar zu den synoptischen Evan-

Einleitung: Von Israel in die Welt

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gelien zu lesen seien, der die u.U. dunklen Einzelbeobachtungen recht verstehen und gewichten helfe. Im Rahmen dieser Leserichtung erscheine Jesus Christus als Retter Israels und der Heidenvölker in „evangelischem“ Licht. In dem Beitrag von Armin D. Baum („Zwischen Abschreibeverhältnis und frühjüdischer Gedächtniskultur. McIvers experimentalpsychologische Kriterien zur Identifizierung eines Abschreibeverhältnisses zwischen den synoptischen Evangelien“) geht es um die Rolle, die das menschliche Gedächtnis in der Entstehungsgeschichte der synoptischen Evangelien gespielt haben dürfte. Diese Frage liege nahe, insofern die Jesustradition im Rahmen einer frühjüdischen Gedächtniskultur entstanden und überliefert worden sei. Zunächst bietet Baum einen Überblick über die Bedeutung, die einem Gedächtnisfaktor in den verschiedenen Lösungsmodellen zur synoptischen Frage zugeschrieben wird. Anschließend werden gedächtnispsychologische Erkenntnisse ausgewertet, die für die synoptische Frage von Bedeutung sind. Robert McIver und Marie Carroll haben in den synoptischen Evangelien zehn Paralleltexte identifiziert, die ihres Erachtens eine so hohe Wortlautidentität aufweisen, dass ihre Entstehung nicht durch menschliche Gedächtnistätigkeit erklärt werden könne. Zieht man jedoch im Unterschied zu McIver und Carroll auch Gedächtnisexperimente mit Personen heran, die ein geübtes Gedächtnis haben, ergebe sich ein anderes Bild. Aus gedächtnispsychologischer Sicht enthalten die synoptischen Evangelien Baum zufolge keine Parallelabschnitte, in denen die Wortlautidentität so groß ist, dass sie nur durch ein Abschreibeverhältnis erklärt werden kann. Abschließend identifiziert er in synoptischen Parallelabschnitten mit besonders großer Wortlautidentität einige Phänomene, die sich besser durch einen Gedächtnisfaktor als durch ein Abschreibeverhältnis erklären ließen. Die sieben Beiträge im zweiten Teil konzentrieren sich auf den Apostel Paulus bzw. das Corpus Paulinum. Nach Volker Gäckle („Dimensionen des Heils. Die βασιλεία τοῦ θεοῦ in der Verkündigung Jesu und in den Briefen des Apostels Paulus“) stellt sich die Frage nach der Kontinuität der paulinischen Briefe zur Jesustradition bei kaum einem Begriff schärfer als bei βασιλεία τοῦ θεοῦ. Während das Reich Gottes der zentrale Gegenstand der Jesus-Verkündigung ist, fristet es in der paulinischen Briefliteratur ein überraschend marginales Dasein. Gäckle setzt mit einer Analyse von βασιλεία τοῦ θεοῦ in der Verkündigung Jesu ein. Seit Gustaf Dalman wird der Begriff βασιλεία als nomen actionis aufgefasst und im Anschluss an den alttestamentlichen und frühjüdischen Gebrauch dynamisch mit „Königsherrschaft Gottes“ übersetzt. Demgegenüber lasse die Mehrzahl der Belege aber eher an einen Raum bzw. Ort, eine Zeit oder eine Gabe denken. Vor allem als Gabe sei βασιλεία nahezu austauschbar mit dem „ewigen Leben“ als der eschatologischen Heilshoffnung, die bereits jetzt im Glauben an Jesus Christus empfangen oder ererbt werden könne. Indem Gäckle das Reich Gottes als futurischen Heilsort und gleichzeitig als präsen-

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Armin D. Baum, Detlef Häußer, Emmanuel L. Rehfeld

tische Heilsgabe interpretiert, erschließt er zwei Brücken von der Verkündigung Jesu zur paulinischen Theologie. In einigen wenigen Belegen (z.B. 1Thess 2,12; 1Kor 6,9f.; 15,50; Gal 5,21) habe Paulus den jüdisch geprägten Begriff als Ausdruck für den futurischen, postmortalen bzw. postparusialen Ort des Heils verwendet. Im hellenistisch-römischen Raum habe Paulus den unverständlichen und politisch missverständlichen Begriff aber mit „(ewiges) Leben“ (z.B. Röm 6,23) oder schlicht mit „Heil“ übersetzt. Joel White („Führt der Messias sein Volk aus dem Exil? Eine kritische Auseinandersetzung mit N.T. Wrights These eines impliziten Metanarrativs hinter dem paulinischen Evangelium“) befasst sich mit N.T. Wrights These, die frühjüdische Überzeugung, in einem „andauernden Exil“ zu leben, liege auch der paulinischen Theologie zugrunde. Zu Wrights Suche nach Spuren einer solchen metanarrativen Erzähllinie in frühjüdischen Texten formuliert White einige methodische und inhaltliche Anfragen. Während sich R. Hays’ Aktantenanalyse nicht wirklich für die Eruierung von Metanarrativen eigne, böten N.R. Petersens „soziologisch-narratologische Analyse“ sowie neuere Ansätze zur Erschließung von Subtexten effektivere Möglichkeiten, Wrights These methodisch zu kontrollieren. White ist der Ansicht, dass Wright trotz seiner umfangreichen Ausführungen zur paulinischen Theologie eine Antwort auf die Frage schuldig bleibt, hinter welchen paulinischen Texten sich denn nun das Metanarrativ eines andauernden Exils nachweisen lässt. In seiner eigenen Untersuchung zu Röm 9–11 und 15,14–20 zeigt White, dass in beiden Texten die Aufnahme deuteronomischer und jesajanischer Vorstellungen von einer Rückkehr aus dem Exil bzw. von der Sammlung der Juden aus der Diaspora nachzuweisen ist. Die Argumentation des Paulus setze voraus, dass die Rückkehr zwar begonnen habe, aber noch nicht abgeschlossen sei. Hanna Rucks („Paulus als Jude[n] lesen. Zur Auslegung von Römer 9–11 unter jesusgläubigen Juden“) fragt anhand eines für das christlich-jüdische Gespräch zentralen Abschnitts des Römerbriefs, wie jesusgläubige Juden den jüdischen Apostel Paulus lesen und verstehen. Die von ihr vorgestellten „messianisch-jüdischen“ Exegeten Jechiel Lichtenstein, David Stern und Joseph Shulam ziehen zur Deutung der neutestamentlichen Schriften intensiv die rabbinische Literatur heran. Rucks zeigt, dass sie bei der Auslegung von Röm 9–11 andere Schwerpunkte setzen als viele deutschsprachig-protestantische Kommentatoren. Erstens dächten sie weniger in den Gegensätzen alt/ neu, jüdische Tradition/Christusereignis als viele deutsche Protestanten. Zweitens stoße die paulinische Hermeneutik und Argumentationsweise bei Lichtenstein, Stern und Shulam auf weit weniger Befremden als bei vielen deutschsprachig-protestantischen Auslegern. Drittens wendeten sich die drei jesusgläubigen Juden deutlich emotionaler gegen antijudaistische Auslegungstraditionen als hiesige Exegeten. Wie Rucks feststellt, werden die von ihr untersuchten „messianisch-jüdischen“ Exegeten in der deutschsprachigprotestantischen Auslegungstradition bisher kaum wahrgenommen. Sie ist der

Einleitung: Von Israel in die Welt

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Überzeugung, dass deren Auslegung der Paulustexte unser Verständnis des jüdischen Apostels Paulus bereichern würde. Guido Baltes („,Freiheit vom Gesetz‘ – eine paulinische Formel? Paulus zwischen jüdischem Gesetz und christlicher Freiheit“) geht davon aus, dass die Botschaft von der Freiheit vom Gesetz spätestens seit der von Martin Luther ins Zentrum seiner Theologie gerückten Antithese von Gesetz und Evangelium als Kernbestandteil der paulinischen Verkündigung gilt. Bibelausgaben unterschiedlichster Herkunft tragen diese „Formel“ in ihren Kapitelüberschriften zu Gal 3 und 4. In einer neueren Bibelübersetzung hat sie sogar in den Bibeltext von Gal 4,12 selbst Eingang gefunden. Anhand einer genaueren Analyse der wichtigsten Paulustexte, die „Freiheit“ und „Gesetz“ miteinander in Verbindung bringen (Röm 7–8; Gal 2,4; 3,22–25; 4,21–5,1), stellt Baltes allerdings fest, keiner dieser Texte spreche ausdrücklich von einer „Freiheit vom Gesetz“. Röm 7–8 behaupte lediglich eine „Freiheit vom Gesetz der Sünde und des Todes“, die aber als Antithese gerade der Gebundenheit an das „Gesetz Gottes“ gegenübergestellt werde. Gal 2,4 spreche von einer Freiheit gegenüber menschlichen Zwängen. Das Vokabular von Gal 3,22–25 bezeichne, entgegen der verbreiteten Auslegung, nicht das Bild eines Gefängnisses, sondern das einer zwar (von der Sünde) umzingelten, aber dennoch temporär Schutz gewährenden Festung. Das Bild von Hagar und Sara in Gal 4 schließlich stelle nicht „Gesetz“ und „Gnade“ einander gegenüber, auch nicht „Judentum“ und „Christentum“, sondern die Sklaverei irdischer Existenz und die Freiheit himmlischer Existenz. Baltes kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Formel „Freiheit vom Gesetz“ als solche keine treffende Beschreibung paulinischer Theologie darstelle. Formeln wie „Freiheit vom Fluch des Gesetzes“ oder „Freiheit vom Urteil des Gesetzes“ seien präziser und beschrieben das Anliegen des Paulus treffender. Detlef Häußer („Die Verkündigung des jüdischen Messias in der paganen Welt. Der Beitrag der Gemeinde in Philippi zur Mission des Apostels Paulus“) zeigt anhand des Philipperbriefs auf, wie Paulus im Unterschied zum antiken Judentum, das keine wirkliche Mission im Sinne einer zielgerichteten Aktivität zur Gewinnung von Konvertiten kannte, Heidenmission betrieben hat. Dazu habe die christliche Gemeinde in Philippi einen wichtigen Beitrag geleistet. Um die Anhänger griechischer, römischer, thrakischer und ägyptischer Götter und des Kaiserkults in Philippi mit dem christlichen Evangelium zu erreichen, habe Paulus die Gemeinde in Philippi an der Verkündigung beteiligt (Phil 1,5). Erstens trugen die Philipper zur paulinischen Mission durch ihre eigene Verkündigung des Evangeliums bei (Phil 2,15f.), dessen Inhalt in Phil 2,6–11 erkennbar sei und in Anlehnung an alttestamentliche Vorgaben und eine frühjüdisch geprägte Jesusüberlieferung formuliert wurde. Zweitens leisteten die Philipper dem Paulus durch die Sendung des Epaphroditus personelle Unterstützung (Phil 2,25–30). Drittens förderten sie den Apostel durch ihre materielle Unterstützung in Form von (sehr wahrscheinlich finan-

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Armin D. Baum, Detlef Häußer, Emmanuel L. Rehfeld

ziellen) Gaben (Phil 4,10–20), wobei das Geben und Nehmen im Rahmen der antiken Freundschaftskonzeption zu interpretieren sei. Alexander Weiß („Paulus und die coloniae. Warum der Apostel nicht der einzige römische Bürger unter den frühen Christen war“) befasst sich mit den Folgen der paulinischen Missionstätigkeit in einigen coloniae. Weiß hält es für mehr als wahrscheinlich, dass sich unter den frühen Christen eine nicht unbeträchtliche Zahl von Personen mit römischem Bürgerrecht befand – unabhängig davon, ob Paulus dazuzurechnen ist oder nicht. Denn der Apostel wirkte auf seinen Reisen durch Kleinasien und Griechenland in einer Reihe von Städten mit dem privilegierten Rechtsstatus einer colonia, in denen ein großer oder sogar überwiegender Teil der Bevölkerung das römische Bürgerrecht besaß. Wenn man annehme, dass die frühchristlichen Gemeinden hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung einen Querschnitt der jeweiligen lokalen Gesellschaft darstellten, dann müssten zu den christlichen Gemeinden auch Personen mit römischem Bürgerrecht gehört haben, und zwar beiderlei Geschlechts. Weiß hält die von A.N. Sherwin-White formulierte Einschätzung, die Untersuchung der Ausdehnung des römischen Bürgerrechts in den östlichen Provinzen sei kein übermäßig lohnenswertes Unterfangen, für unzutreffend. Vielleicht sei Edwin Judges Annahme, über die Hälfte von „Paul’s associates“ seien römische Bürger gewesen, gar nicht so kühn, wie sie auf den ersten Blick erscheine. Jedenfalls habe es in einigen coloniae in Kleinasien und Griechenland unter den frühen Christen eine Reihe von Personen mit römischem Bürgerrecht gegeben. Diesen cives Romani sowie ihren servi und den peregrini habe der Apostel Paulus nun ein höheres Bürgerrecht verkündigt. Ausgerechnet der Gemeinde der colonia Iulia Augusta Philippensis schrieb er: „Unser Bürgerrecht (πολίτευµα) ist im Himmel“ (Phil 3,20). Michael Theobald („Alt und Neu. Innovative Begriffsbildungen in den Pastoralbriefen als Indiz ihres pseudepigraphen Charakters“) stellt die von Rainer Riesner vertretene These in Frage, die Pastoralbriefe seien bald nach dem Tod des Apostels Paulus von seinem Mitarbeiter Lukas verfasst worden. Nach Theobald spricht gegen eine so große persönliche und zeitliche Nähe der Pastoralbriefe zu Paulus neben ihrer Israel-Vergessenheit und ihrer gewachsenen Offenheit für hellenistische Denk- und Sprachformen auch die Einschreibung neuer Elemente in die paulinischen Vorgaben. Speziell die innovativen Begriffsbildungen der Pastoralbriefe (etwa die Kombination zweier oder dreier Substantive), die anhand ausgewählter Beispiele aus dem Titusbrief detailliert analysiert werden, ließen einen erheblichen Abstand zu Paulus erkennen. Indem der uns unbekannte Autor der Pastoralbriefe seine Fortschreibungen in die paulinischen Sprachmuster eingeschrieben habe, habe er im Sinne verdeckter Pseudepigraphie bei seinen Lesern den (unzutreffenden) Eindruck erwecken wollen, genuine Schreiben des Apostels vorzulegen. Die ‚hellenistische Übermalung‘ ursprünglich jüdisch geprägter Tradition verdanke sich einem missionarischen Impetus, der jede Esoterik vermeiden wolle.

Teil I

Der jüdische Messias Jesus von Nazareth

Zu „den Werken des Gesalbten“ (Mt 11,2–6 par.) vor dem Hintergrunde der alttestamentlichen und frühjüdischen Traditionsgeschichte Thomas Pola Abstract: According to late Old Testament and early Jewish traditions the Messiah is expected to achieve (1) the restitution of Israel, (2) the construction of an eschatological temple, and (3) the eschatological atonement. In comparison the “works of the Messiah” listed in Mt 11:5 par. are incomplete because vv. 2–6 demonstrate the fulfilment of Is 35, 61:1–3 and a tradition close to 4Q521. According to Mt 11:2–6 par. the new era expected by the Old Testament and early Jewish apocalyptic has begun without any preceding universal judgment. However, in Is 7:1–17 the impetus of the expectation of an ideal Davidic ruler influences the specific definition of “faith” of Isaiah that dominates Messianic expectations in Is 7, 9 as well as subsequent Old Testament and Early Jewish traditions.

Das1 irdische Wirken Jesu von Nazareth und seiner Jünger traf auf die vielgestaltigen alttestamentlich-frühjüdischen Erwartungen2 einer idealen endzeitlichen Herrschergestalt.3 Rainer Riesner, dem dieser Beitrag in großer Dankbarkeit für das gemeinsame Wirken am Institut für Evangelische Theologie der TU Dortmund gewidmet ist, schreibt: „Wenn man die Evangelien liest, dann gewinnt man den Eindruck, daß in den Tagen Jesu in weiten Teilen der jüdischen Bevölkerung eine brennende Erwartung des Messias herrschte. Dies ist in der exegetischen Wissenschaft verschiedentlich bestritten worden. In den Qumran-Schriften besitzen wir jetzt Originaldokumente aus neutestamentlicher Zeit, die belegen, wie fromme Juden gespannt nach der Wende der Zeiten Ausschau hielten und dazu in tiefstem Ernst und größter Anstrengung die Schriften des Alten Testaments durchforschten. Wir sehen dabei, wie die Aufmerksamkeit vor allem auf Stellen fiel, die dann

1 Der Vf. dankt Frau Anna Reich M.A., Herrn Philipp Schreiber M.A. sowie den Herren stud. phil. Malte Bolin, Sebastian Horstmann, David Ramaker und Philipp Werner für ihre Hilfe bei der Erstellung dieses Beitrages. 2 Die Auffassung, eine messianische Erwartung sei erst in hellenistischer Zeit bezeugt oder sei erst in frühchristlicher Zeit konstituiert worden, vertreten v.a. BECKER, Messiaserwartung, 82; STRAUSS, Messianisch, passim; SEEBASS, Herrscherverheißungen, passim. 3 Diese von Protojesaja konzipierte Gestalt trägt per definitionem keine restaurativen Züge (s.u.) und wird unter dieser Voraussetzung im Folgenden „Messias“ genannt. Vgl. POLA, Priestertum, passim.

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Thomas Pola

auch im Neuen Testament eine große Rolle spielen, so etwa Jesaja 11 und 61 oder auch Daniel 7. Gleichzeitig erkennen wir, wie sehr die Deutungen auseinandergingen.“4

Es waren also die Aspekte dieser idealen Gestalt vielfältig, sogar widersprüchlich, wie bereits die voressenischen Erwartungen eines priesterlichen, prophetischen, weisheitlichen bzw. königlichen Messias zeigen.5 Dennoch sahen das Matthäus- und das Lukasevangelium (bzw. deren hypothetische Vorlage in der Logienquelle Q, s.u.) in Jesus von Nazareth die in der hebräischen und griechischen Überlieferung angekündigte endzeitliche messianische Gestalt: „Bist du, der kommen soll (ὁ ἐρχόµενος = hebr. ‫) ַהבָּא‬, oder müssen wir (!) auf einen anderen warten?“ fragt Johannes der Täufer in Mt 11,3 (par. Lk 7,19f.) als literarischer Repräsentant des v.a. weisheitlich und apokalyptisch geprägten Frühjudentums (vgl. Mt 11,11 par.),6 das einhellig die Ablösung des Alten Äons durch den Neuen erwartet hatte (vgl. Hag 2,6–8.20–23; Sach 12–14; Dan 7,9–14 u.m.). Das Ende des Alten Äons durch ein Weltgericht (vgl. Mt 3,7–12 par.) war aber bei der bisherigen Wirksamkeit Jesu, die aus διδάσκειν καὶ κηρύσσειν (Mt 11,1) sowie den ἔργα (τοῦ χριστοῦ, V. 2) bestand, nicht erkennbar. Die Frage des Täufers nach dem ἐρχόµενος setzt ein den Adressaten bekanntes traditionsgeschichtliches Motiv voraus: Der ἐρχόµενος von Mt 11,2 par. (vgl. Mt 3,11) bezieht sich sowohl auf den ἐρχόµενος von Dan 7,13 (Theodotion) als auch auf den ἐρχόµενος von Ps 117,26 LXX (= 118,26 MT).7 Hanna Stettler nennt darüber hinaus mit Recht sowohl Gen 49,10; Sach 9,9 und Mal 3,1 als auch das Motiv des Kommens Gottes zum Gericht (Jes 40,10; Sach 14,5; Mal 3,1–3; Ps 96,13; 98,9 u.ö.).8 Sie folgert: „‚Der Kommende‘ hat also in der Tradition eschatologischen Klang.“9 Es bezieht sich ὁ ἐρχόµενος auf Mt 3,11 par.: ὁ δὲ ὀπίσω µου ἐρχόµενος ἰσχυρότερός µού ἐστιν. Im matthäischen Zusammenhang von 11,2f. und 3,11 hat die Frage des Täufers nach dem ἐρχόµενος also eine messianische Gestalt vor Augen (χριστός).10 Dies nötigt dazu, traditionsgeschichtlich innerhalb der Vielfalt der Erwartungen nach dem grundlegend Gemeinsamen der dem Neu-

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RIESNER, Jesus, 118f. Vgl. ZIMMERMANN, Texte, 16.22 u.ö.; SCHWEMER, Jesus, 176–193. 6 Der gegenüber Mt 11,2–6 redaktionelle Wortlaut in Lk 7,20f. bleibt hier unberücksichtigt. Auch STETTLER, Täuferanfrage, 176, geht von der matthäischen Fassung aus. 7 Zu Dan 7,13 (Theodotion) vgl. STUHLMACHER, Evangelium, 218. 8 In ὁ ἐρχόµενος schwingt also das exilisch-nachexilische Motiv des Kommens JHWHs zum Zion mit (bei Dtjes, in Sach 9,9f.; 14 u.ö.); vgl. zum Motiv als solchem PREUSS, Art. ‫בּוֺא‬, 559–568, und aus neuerer Zeit EHRING, Rückkehr, 7–206. 9 STETTLER, Täuferanfrage, 177. 10 In der Forschung wurden als Identifikation des ἐρχόµενος vertreten: der endzeitliche Prophet, der der eschatologischen Gerichtstheophanie vorangeht (z.B. STUHLMACHER, Evangelium, 218–225), oder Elia, der das Kommen des Messias vorbereitet (z.B. SCHWEIZER, Matthäus, 166). 5

Zu „den Werken des Gesalbten“ (Mt 11,2–6 par.)

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en Testament vorgegebenen Messiaserwartung zu fragen.11 Dabei soll es spezifisch im Sinne der Antwort Jesu auf das Gesuch des Täufers in Mt 11,6f. (par. Lk 7,22f.) um die Frage der ἔργα τοῦ χριστοῦ (Mt 11,2) gehen, die diese matthäische Formulierung sachlich voraussetzt (vgl. 15,30f.): Welche Werke hat man im Alten Testament und in den vorliegenden Schriften des Frühjudentums obligatorisch vom Messias erwartet? Die Beachtung des jeweiligen biblisch-theologischen Zusammenhangs der in Frage kommenden Abschnitte eröffnet dabei jenen theologischen Rahmen, den das Neue Testament bei seinen Hörern bzw. Lesern im geprägten Wortlaut voraussetzt.

A. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Mt 11,2–6 par. Der am ehesten bei Mt erhaltene Grundtext12 wird seit den frühen Rekonstruktionsversuchen der „apostolischen Quelle“ (Bernhard Weiss),13 die im 20. Jh. besonders durch Rudolf Bultmann bestärkt wurden,14 der Logienquelle zugewiesen (Q 7,18f.22f.).15 Dem Abschnitt geht in Q 7,1–10 (par. Mt 8,5– 13) pars pro toto ein Heilungswunder voraus.16 Rainer Riesner vertritt daher: “Q by definition is a sayings source, but the story of the centurion of Capernaum (Matt 8:5–13 / Luke 7:1–10) shows it contained at least one miracle story. Of course, this was a text of special interest for Gentile Christians. Other narrative texts with strong minor agreements cannot be excluded a priori from the hypothetical source. This means that Q develops into a full gospel. Since this source follows the structure of Mark it is fair to assume that it is an edition of ‘Proto-Mark’ that has been enlarged by sayings material.”17

Zu Recht hat man in der Antwort Jesu (Mt 11,4–6) auf die Frage des inhaftierten Täufers (V. 2f.; vgl. 4,12) ein reflektiertes Geflecht alttestamentlicher Zitate und Anspielungen, insbesondere aus dem Jesajabuche, gesehen: 11 Die u.a. von ZELLER, Kommentar, 39f., genannte Alternative, der ἐρχόµενος sei eine nachösterliche Projektion, bedeutet in der neueren Forschung eine Minderheitsmeinung; vgl. LUZ, Matthäus, 166, der für die Frage des Täufers und die Antwort Jesu in der dargestellten Weise „Historizität“ annimmt; ähnlich bereits KÜMMEL, Antwort, 149–159; KREPLIN, Selbstverständnis, 227f.; STETTLER, Täuferanfrage, 183–192. – Für das Verständnis der in Mt 11,2.4.7a („geht hin und verkündet Johannes…“) vorausgesetzten Szene ist wesentlich, dass im altsyrischen Raume der Besuch von Gefangenen offenbar möglich war, wie z.B. Mt 25,36 zeigt. 12 So auch STETTLER, Täuferanfrage, 176. 13 WEISS, Matthäus, 211f. 14 Vgl. BULTMANN, Geschichte, 22.135–137 u.ö. 15 Vgl. aus neuerer Zeit ZELLER, Kommentar, 39–42; ROBINSON u.a., Edition, 124f., und die philologischen Matthäuskommentare. 16 Anders WERNLE, Frage, 224. 17 RIESNER, Teacher, 437. Vgl. bereits FLEDDERMANN, Q, 105.107.

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Thomas Pola

„Geht hin und verkündet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde werden sehend (Jes 29,18; 32,3f.; 35,5), und Lahme gehen (35,6; vgl. 33,23), Aussätzige werden gereinigt (vgl. 35,8 LXX18), und Taube hören (32,2f.; 35,5), und Tote werden auferweckt (26,19), und Armen wird gute Botschaft verkündigt (61,1). Und glückselig ist, wer nicht an mir Anstoß nimmt!“

Da sich die Heilung der genannten Gebrechen (evtl. mit Ausnahme des Aussatzes) aus Jes 35,5f. in Verbindung sowohl mit einer Erwartung der Erweckung der Toten (26,19) als auch der Thematik von 61,1 ebenfalls in einigen Fragmenten von 4Q521 findet,19 ist für Mt 11,4–6 par. und 4Q521 eine gemeinsame, Schriftgelehrsamkeit bezeugende Vorgabe zu vermuten.20 In jedem Falle bedarf es Mt 11,2–6 par. zufolge zum Verstehen der Gegenwart (Jesu und seiner Jünger) eines Rückblickes in die Vergangenheit (der alttestamentlichen Propheten einerseits und der bisherigen Taten Jesu und der Jünger andererseits), um die Gegenwart als endzeitliche Erfüllung verstehen zu können.21 So richtig es aber dabei ist, als Intention von Mt 11,2–6 das Herausstellen des faktischen Eintreffens der gesamtjesajanischen Ankündigungen in der Verkündigung und den Werken Jesu und seiner Jünger innermatthäisch als Summe von Kap. 5–7 (11,4: ἃ ἀκούετε), 8f. und 10 (11,4: καὶ βλέπετε)22 anzunehmen,23 so unbefriedigend ist dabei gegenüber Jes 35 (und auch der Vorlage von 4Q521) die Annahme, Jesus „heile“ und „helfe“ nur, und zwar durch einige „Taten der Barmherzigkeit“ (Joachim Gnilka).24 Jes 35 ist daher auf sein Selbstverständnis – auch in seinem redaktionellen Kontext – zu befragen. I. Die Intention von Jes 34f. im Kontexte des Jesajabuches Jes 3525, eine prophetische Rede in Poesie mit Anklängen an das Heilsorakel, ist innerhalb der rhetorischen Duplik 34,1–15/35,26 der möglicherweise erst 18

Mit FRANKEMÖLLE, Matthäus, 105. Anders WEISS, Matthäus, 214. Vgl. PUECH, Qumrân, 1–18. 20 Vgl. COLLINS, Scepter, 122; ZIMMERMANN, Texte, 363 u.ö.; STUHLMACHER, Theologie, 140; SCHWEMER, Jesus, 210, Anm. 209; NOVAKOVIC, Messiah, 225; STETTLER, Täuferanfrage, 180. 21 Zu diesem, dem Neuen Testament vorgegebenen Geschichtsverständnis vgl. POLA, Zukunft, 139–146. 22 Vgl. STETTLER, Täuferanfrage, 176. 23 Vgl. SCHWEIZER, Matthäus, 166; FRANKEMÖLLE, Matthäus, 103. 24 GNILKA, Matthäusevangelium, 406f. 25 Zu Philologie und Textkritik: V. 1: Das ‫ ם‬von ‫שׂשׂוּם‬ ֻ ְ ‫ י‬geht auf Dittographie zurück und ist zu streichen (GKB, § 47n). Es konnte entgegen der intransitiven Bedeutung von ‫שׂושׂ‬ stehenbleiben, weil sich das Suffix auf die in 34,11–15 genannten Tiere bezieht (über V. 16f. hinweg), um Kap. 35 als Fortsetzung von Kap. 34 zu markieren. – V. 1b.2a: Die masoretische Abtrennung der Verse ist (gegen BHS) beizubehalten; vgl. BEUKEN, Jesaja 28–39, 329. – V. 2: Zu ‫ גִּילַת‬vgl. GKB, § 130b. – V. 4: Zu ‫שׁ ֲעכֶם‬ ַ ֹ ‫ וְי‬vgl. GKB, § 65f. – V. 7b: Lege MT; vgl. BEUKEN, Jesaja 28–39, 330. – V. 8aα: BEUKEN , ebd., will >‫ ָו ֶד ֶר‬mit der LXX 19

Zu „den Werken des Gesalbten“ (Mt 11,2–6 par.)

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redaktionell entstandenen27 Zuordnung von Gericht und Heil (analog zu Ez 35/36f.28), eine literarische Einheit (vgl. die Inklusionen durch ‫[ שׂושׂ‬V. 1.10b] und ‫[ רנן‬V. 2a.6a.10a]).29 Sie besteht aus V. 1–6a (das endzeitliche Kommen des rettenden Gottes) und V. 6b–10 (die endzeitliche Heimkehr der Erlösten).30 Beide31 Unterabschnitte beginnen in V. 1.2aαβ und 6b.7 mit dem Motiv der in der Zukunft fruchtbar gewordenen Wüste (‫ ִמ ְדבָּר‬und ‫ ע ֲָרבָה‬in V. 1a und 6b). V. 2aγδ.b leitet zur Ankündigung der Theophanie V. 3f. ein, mit der ein Gericht JHWHs einhergeht (V. 4b). Der erste Unterabschnitt schließt in V. 5.6a mit der Folge der genannten Theophanie: Blinde, Gehörlose, Gelähmte und Stumme werden geheilt. Damit wird das Motiv der Neuen Schöpfung aus V. 1.2aαβ inkludierend aufgenommen, zumal auch ‫ רנן‬in V. 2a.6a eine V. 1–6a umschließende Funktion besitzt. – Der zweite Unterabschnitt (V. 6b–10), in V. 6b.7 eröffnet durch das Motiv der Neuen Schöpfung, kündigt in V. 8 eine heilige Prozessionsstraße an innerhalb einer Neuen Schöpfung ohne Raubtiere (in der fruchtbar gewordenen Wüste?)

und trotz Fehlens in 1QJesa und Syr (Haplographie?) beibehalten. – V. 9: Die Wortfolge ‫שׁם ְו ָהלְכוּ‬ ָ ist mit der LXX umzukehren, der Atnach ist unter ‫ ִתּ ָמּצֵא‬zu setzen. 26 Vgl. Jes 34,1–4/35,4; 34,8/35,4 (‫י ֹום נָקָם לַיהוָה‬/‫ ;)נָקָם י ָב ֹוא‬34,9/35,6b (‫נְ ָחלֶי ָה‬/‫;)נְ ָחלִים‬ 34,12–15/35,8–10; 34,10/35,8 (‫ ֵאין עֹבֵר בָּהּ‬/‫א־י ַ ַעב ְֶרנּוּ‬N); 34,13b/35,7b (‫ נְוֵה ַת נִּים‬und ‫;) ָח צִיר‬ 34,14/35,8f. (‫שׁם‬ ָ /dreifaches ‫שׁם‬ ָ ). Vgl. VERMEYLEN, Isaïe, 439; CHILDS, Isaiah, 255–258; MATHEWS, Zion, 12f.136f.161–163.178f. u.ö.; BLENKINSOPP, Isaiah 1–39, 450–457; BERGES, Jesaja, 250f.; BEUKEN, Jesaja 28–39, 298f. – Anders WILDBERGER, Jesaja, 1355f.; STECK, Heimkehr, 54–56; vgl. auch SWEENEY, Isaiah, 450f. Ungewöhnlich für ein alttestamentliches Diptychon ist jedenfalls der abrupte Beginn von Kap. 35, der in der Endgestalt jedoch durch 34,16f., den sekundären Abschluss von Kap. 34, gemildert wird. – HITZIG, Jesaja, 396, und DUHM, Jesaia, 254, gingen immerhin von einem einzigen Verfasser von Jes 34f. aus. GESENIUS, Jesaia, 908, hielt Jes 34f. für „Ein Stück“ (sic). 27 Vgl. WILDBERGER, Jesaja, 1355ff.; STECK, Heimkehr, 52.101–103 u.ö.; MATHEWS, Zion, 11f. u.ö.; BERGES, Jesaja, 250ff.256ff.; BEUKEN, Jesaja 28–39, 298ff. – Fraglos will Jes 35 mit 13,2–22 einen Rahmen um Kap. 13–34 bilden; vgl. STECK, Heimkehr, 56, Anm. 36; MATHEWS, Zion, 55–68; ZAPFF, Prophetie, 249–257; BERGES, Jesaja, 251–254. 28 Vgl. MATHEWS, Zion, 97–103.116–119. 29 >‫ וְהוּא־לָמ ֹו הֹלֵ> ֶדּ ֶר‬in V. 8 ist jedoch eine Glosse (vgl. WILDBERGER, Jesaja, 1354f.; BEUKEN, Jesaja 28–39, 330f.). – Anders HUBMANN, Weg, 30.36: V. 9b.10 sind sekundär (so im Ergebnis auch BERGES, Jesaja, 261–263); KIESOW, Exodustexte, 143, hält aus inhaltlichen Gründen V. 3–6a für sekundär. 30 Auch Kap. 34 besteht aus zwei, durch Motivwörter und Stil verklammerten Unterabschnitten, V. 2–4 und 5–15: Die Einleitung durch ‫( כִּי‬V. 2) findet sich auch in V. 5.6b.8; die Struktur des Ausdrucks ‫ ֶק צֶף לַיהוָה‬entspricht ‫( ח ֶֶרב לַיהוָה‬V. 6aα), ‫( זֶבַח לַיהוָה‬V. 6b) und ‫יוֹם‬ ‫( נָקָם לַיהוָה‬V. 8); schließlich wird das Gericht sowohl in V. 2 als auch in V. 5–7 mit den Wortfeldern „Schlachten“ (‫ ֶטבַח‬und ‫ )זֶבַח‬und „Bann“ (‫ חרם‬bzw. ‫ )ח ֵֶרם‬ausgedrückt. Argumente für oder gegen die Einheitlichkeit von V. 2–15 können jedoch aus diesen Analogien nicht gewonnen werden. 31 Anders SWEENEY, Isaiah, 447f., der die Zäsur vor dem zweiten Teil vor V. 3 sieht. BEUKEN, Jesaja 28–39, 334f., befürwortet dagegen einen dreiteiligen Aufbau, indem er V. 1–6a in V. 1f. und 3–6a wegen seiner Annahme eines priesterlichen Heilsorakels in V. 3–6a unterteilt.

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Thomas Pola

(V. 9a [ohne ‫)]שָׁם‬. Auf dieser Straße sollen die Erlösten zum Zion zurückkehren (V. 9b [einsetzend mit ‫ ] ְו ָהלְכוּ שָׁם‬und 10aα). Ihr (‫רנן‬: kultischer) Jubel auf dem Zion (V. 10aβγ.b) entspricht terminologisch dem der Schöpfung von V. 1.2a.

Bernhard Duhm zufolge ist Jes 34f. das Werk eines Epigonen.32 Die neuere Forschung, darunter auch Odil Hannes Steck,33 hält dagegen die zahlreichen innerjesajanischen intertextuellen Verbindungen34 für Absicht des oder der Verfasser von Kap. 34f.: Blickt 34,1–15 besonders auf Kap. 1–33* zurück (insbesondere auf Kap. 1335),36 so erscheint Kap. 35 eher37 als Vorwegnahme der nahezu erreichten Endgestalt von Deuterojesaja (besonders von Jes 4038 und 52,7–10) und von mindestens Jes 56–63.39 Für den hier zu verfolgenden Zusammenhang ist besonders relevant: Bei der Ankündigung des Endes der menschlichen Gebrechlichkeit in 35,5.6a ist die Aufnahme ähnlicher, aber nur einzelne Gebrechen betreffender Verheißungen aus Jes 29–33 relevant (29,18: Taube und Blinde; 30,20f.: Augen und Ohren; 32,2f.: Augen, Ohren, Artikulationslosigkeit; 33,23f.: Lahme). Mit Recht haben einige Ausleger in Jes 35 das Fehlen zeitgeschichtlicher Bezüge festgestellt.40 Das Motiv des „Weges“ in der Wüste (V. 8f.) beispielsweise weist nicht wie in Jes 40,1–9 auf den Hintergrund der Prozessionsstraße in Babylon und deren Bedeutung für das babylonische Neujahrsfest, sondern durch den für 35,8f. eigentümlich religiösen Charakter als „heiligem“ Weg (oder „Weg des Heiligtums/der Heiligkeit“), der für „Unreine“ ausgeschlossen ist, ohne historische Anbindung auf eine sakrale Sphäre. Jes 35 setzt also Deuterojesaja in nahezu erreichter Endgestalt voraus, aber nicht (mehr) dessen geschichtlichen Hintergrund der neubabylonischen Zeit. An die Stelle einer religiös antibabylonischen Ausrichtung scheint eine dem Geschichtlichen enthobene Sakralisierung der aufgenommenen Motive zu treten.

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Vgl. DUHM, Jesaia, 248.254. Bezüglich Jes 35 vgl. STECK, Heimkehr, 13–44.59–80. 34 Zur diachronen Beurteilung dieser Verbindungen und derjenigen mit außerjesajanischen Abschnitten wie Jer 49–51 in der Forschung s. MATHEWS, Zion, 22–27. 35 S.o. S. 13, Anm. 27. 36 Vgl. BEUKEN, Jesaja 28–39, 305.311 u.ö. 37 ELLIGER, Verhältnis, 277f., und VERMEYLEN, Isaïe, 439–446, halten Kap. 34f. für den Abschluss von Kap. 1–33. 38 Jes 35,1/40,3 (‫ ִמ ְדבָּר‬und ‫ ;)ע ֲָרבָה‬35,2/40,5 (‫ כְּב ֹוד י ְהוָה‬und ‫ ;)ראה‬35,4/40,9 (vgl. V. 1) (‫הֵיכֶם‬N‫ ;) ִה נֵּה ֱא‬35,8/40,3 (‫ ַמ ְס לוּל‬und >‫ ֶדּ ֶר‬/>‫ ֶדּ ֶר‬und ‫ ;) ְמ ִס לָּה‬35,3f./40,10 (‫ ;)חזק‬35,4/40,9 (Theophanieformel). Vgl. BERGES, Jesaja, 256–263 (allerdings wird a.a.O., 257f., übersehen, dass in 40,1–8 Menschen nicht zu Worte kommen). – DELITZSCH, Jesaia, 358, und ELLIGER, Verhältnis, 277f., sehen mit Recht in Jes 40,1–11 die Ouvertüre von 40,12–55,13. 39 Vgl. MATHEWS, Zion, 123–139.150–156; BERGES, Jesaja, 252ff.; BEUKEN, Jesaja 28–39, 311. 40 Vgl. DELITZSCH, Jesaia, 257f. 33

Zu „den Werken des Gesalbten“ (Mt 11,2–6 par.)

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Die ältere Forschung hielt Jes 34f. für eine Apokalypse.41 Aber „ein ‚apokalyptisches‘ Motiv macht noch lange keine Apokalypse“ (Hans Wildberger).42 Definiert man Apokalyptik also nicht als literarische Gattung, sondern inhaltlich als Zusammenfluss von Prophetie und Weisheit, dessen Thema die Ankündigung der weltweit sichtbaren Herrschaft JHWHs ist (s.o.),43 so sind Jes 34f. als „apokalyptisch“ zu charakterisieren. Otto Kaiser gelangt daher zu der Folgerung, Jes 35 sei einem spätnachexilischen Apokalyptiker zuzuschreiben.44 Daher erscheint die Auffassung, Jes 34 kündige (nur) ein Gericht über Edom an,45 problematisch: Weshalb steht dieses Wort gegen Edom außerhalb der Fremdvölkerworte in Jes 13–23 (einschließlich des kurzen Edom-Wortes 21,11f.)? Will Jes 34 darüber hinaus ein Gericht „nur“ an Edom und Kap. 35 Heil „nur“ für Juda ankündigen? Entweder wurde die Prophetie gegen Edom (34,5–15) in V. 2–4 um eine universale Gerichtsankündigung erweitert46 (analog zu Mi 1,2–4 und Zeph 1,2f. im Zusammenhang) oder Edom wird in Kap. 34 als Extremfall unter den Völkern herausgegriffen, weil das ehemalige Brudervolk (Gen 25,21–26; Dtn 23,8 u.m.) an der babylonischen Überwältigung im Jahre 587 v.Chr. beteiligt war (Ob 11; Ps 137,7f.) oder davon mindestens profitiert hat (durch die Inbesitznahme Südjudas). Hinzu kommt bei den Edomitern der Wechsel von der ursprünglichen JHWH-Verehrung (Dtn 23,8) zu der der Gottheit Qaus als Folge der im 8. Jh. einsetzenden Einsickerung arabischer Stämme in das Ostjordanland.47 Gegenüber Ez 35–37 fällt jedenfalls in Jes 34,1–15, einem reinen Drohwort, das Fehlen eines begründenden Scheltwortes auf!

Jes 34f. gebraucht, wie oft in der Apokalyptik,48 Chiffren: Es steht in der Endgestalt und damit auch in der antiken Rezeption49 „Edom“ (analog zu „Babylon“ in der Endgestalt von Jes 13,2–2250) für die gottwidrige Weltmacht,51 den alten Äon, dem seine bloße Existenz vorgeworfen wird52 und der daher dem Gericht JHWHs verfällt, der Zion (34,8; 35,10) dagegen, zu wel41 Jes 34f. sind „eine kleine Apokalypse“ (im Gegensatz zur sog. „großen“ Jesaja-Apokalypse 24–27) für KLATZKIN/KAUFMANN, Apokalyptik, 241; KAISER, Jesaja, 280, u.a. 42 WILDBERGER, Jesaja, 1330. 43 Vgl. EGO, Apokalyptik, 94; FÖRG, Ursprünge, 42.218f. u.ö. 44 KAISER, Jesaja, 280; vgl. auch DELITZSCH, Jesaia, 257. 45 Vgl. z.B. HITZIG, Jesaja, 304. 46 Vgl. z.B. BERGES, Jesaja, 252 („protoapokalyptische“ Bearbeitung). 47 Ähnlich ROSE, Qaus, passim. 48 Vgl. SCHREINER, Apokalyptik, 95–98. 49 Der Targum deutet die Ströme von Jes 34,9aα als „die Ströme Roms“. 50 Vgl. MATHEWS, Zion, 67f. Vgl. oben S. 13, Anm. 27. 51 Vgl. DELITZSCH, Jesaia, 358; KAISER, Jesaja, 280; BEUKEN, Jesaja 28–39, 306f.312. 325f. S. auch LUST, Isaiah, 283–285, und die bei MATHEWS, Zion, 29f., angeführten Vertreter der Forschung, sowie ihre eigene Position a.a.O., 159.171–178. – Vgl. den Textüberschuss in Jes 35,9 Targum. 52 Anspielungen auf den in der Genesis und in Mal 1,2f. dargestellten Bruderkonflikt fehlen in Jes 34f.; vgl. BEUKEN, Jesaja 28–39, 325f.

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chem „der Weg des Heiligtums“ (35,8) führt, für die Gott zugehörige Neue Schöpfung als Existenz, den neuen Äon.53 Der Tempel gilt nicht nur im Alten Orient, sondern auch im Alten Testament als Zentrum der Schöpfung.54 Mit Recht sagt Marvin A. Sweeney: “[T]he punishment of Jerusalem, Israel, and the nations, and the restoration of Zion at the center of the nations, stands in the book of Isaiah as a cosmic event that demonstrates YHWH’s sovereignty over the entire universe (cf. chs. 1; 2–4; 65–66).”55

Die in 35,1f.6b.7.9 dargestellte Verwandlung der Wüste in fruchtbares, von Bestien befreites Land ist daher kein „Bild“ für die Rückkehr der Exulanten bzw. der Diaspora56 und ein „Symbol für eine veränderte Welt“ (W.A.M. Beuken),57 sondern zeigt – analog zum Motiv des Neuen Menschen, das durch die Neuwerdung der Gebrechlichen in V. 5 signalisiert wird – wie bei Dtjes (40,4; 41,18f.; 43,20 u.ö.) bzw. in 11,6–8 und 65,25 die universale Neuwerdung der Schöpfung durch JHWH an.58 Jes 34f. sind an der Schnittstelle von Jes 1–33* und 40ff.* herausgebildet worden, um grundsätzlich das in der nahezu erreichten Endgestalt des Jesajabuches sich in aspektivischen Variationen in den Vordergrund drängende Thema der sachlich obligaten Zuordnung von Gericht und Heil (vor dem Hintergrund entweder eines dualistischen Weltausgangs oder eines Universalismus) hervorzuheben.59 Der summarische Charakter von Jes 35 wird nicht nur durch die zahlreichen intertextuellen Bezüge zu Kap. 1–33* und 40ff.* (besonders zu Kap. 4060) evident, sondern auch durch die Stellung von Kap. 34f. als Abschluss der protojesajanischen Sammlung und zugleich als Ausblick auf Jes 40ff.*. Das Kapitel ist daher als „Brücke“ zwischen der nahezu erreichten Endgestalt der protojesajanischen Komposition einerseits und der deutero- und tritojesajanischen Sammlung andererseits herausgebildet worden.61 Jes 35 ist daher innerhalb der Duplik von Kap. 34f. nicht nur ein Summarium großjesajanischer Motive, sondern der Versuch einer Systematisierung der Abfolge von endzeitlichem Völkergericht und kosmischem Heil (vgl. 34,1). Für den hier zu verfolgenden Zusammenhang ist dabei besonders hervorzuheben: 53

Damit entfallen alle Spekulationen, die in der Verwüstung Edoms in Jes 34 die geographische Voraussetzung für die Wegaufschüttung in Kap. 35 sehen wollen. 54 Vgl. JANOWSKI, Himmel, passim, und in anderen Veröffentlichungen. 55 SWEENEY, Isaiah, 436; vgl. auch a.a.O., 452. 56 So BEUKEN, Jesaja 28–39, 335–338. 57 A.a.O., 351. 58 Gen 1,1–2,4a (P) verankert dies dann protologisch; vgl. POLA, Zukunft, 144f. 59 Vgl. SWEENEY, Isaiah, 434–436 u.ö.; BEUKEN, Jesaja 28–39, 325.332 u.ö. 60 Vgl. besonders BEUKEN, Jesaja 28–39, 332f.340.344–346 u.ö. 61 So bereits DELITZSCH, Jesaia, 358; vgl. BEUKEN, Jesaja 28–39, 335f. u.ö. – Vgl. die Diskussion bei MATHEWS, Zion, 30–32.

Zu „den Werken des Gesalbten“ (Mt 11,2–6 par.)

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1. Die Aufnahme des Gerichtsmotivs in Jes 35,4 (‫ )נׇ ׇקם י ָבוֺא‬aus 34,8 ( ‫יוֺם נׇ קָם‬ ‫ )לַיהוָה‬will den Zusammenhang von – positiv verstandenem! – Gericht und Gottesherrschaft auch für die Neue Weltzeit herausstellen. 2. Dem Ausbleiben eines Herrschers in „Edom“ (34,12) entsprechen in Kap. 35 die die Gottesherrschaft bedeutende Theophanie und Präsenz JHWHs (V. 2b.4). Von einer messianischen Gestalt ist in Kap. 35 jedoch nicht die Rede. II. Zwischenergebnis Erstens: Dass sich Jes 35 zusammen mit dem „Weltgericht“ ausdrückenden Kap. 34 als Duplik und damit als Einheit versteht, spielt in Mt 11,2–6 keine Rolle. Auch übergeht „Jesus in seinen Zitaten und Anspielungen die bei Jesaja deutlich mit den Heilsaussagen verbundenen Gerichtsaussagen (Jes 29,20; 35,4; 61,2)“ (Hanna Stettler).62 Liegt dies daran, dass Jesus (oder die synoptische Tradition) die genannten, dargestellten, selektiven Wunder als Prolepse der Heilszeit versteht, die im Tod Jesu als stellvertretend erlittenem Weltgericht63 ihren eigentlichen Platz haben? Zweitens: Da sich bereits Jes 35 als ein Summarium apokalyptischer und damit universaler bzw. kosmischer Erwartungen versteht,64 ist es unwahrscheinlich, dass Mt 11,4–6 unter Heranziehung von Jes 35,5–8 nur auf „helfende“ „Taten der Barmherzigkeit“ Jesu (Gnilka, s.o.) hinweisen will. Es signalisiert v.a. die mit Hilfe von „Großjesaja“ formulierte Antwort, dass der Neue Äon bereits angebrochen ist, obwohl der Alte noch besteht, dass also der Neue Äon – in Diskontinuität zur alttestamentlich-frühjüdischen Sicht – den Alten durchdringt.65 Dies soll der Einzelne entgegen dem Augenschein für die entscheidende Wirklichkeit halten: Obwohl nicht von πιστεύειν bzw. πίστις die Rede ist, ist die Dimension des Glaubens im protojesajanischen Sinne vorausgesetzt (s.u.). Drittens: Jes 35 dokumentiert innerhalb der Entwicklung der alttestamentlichen Apokalyptik eine Phase, die das Motiv der Überwindung des Todes als letzter qualitativer Ausdehnung der ‫( ַמלְכוּת יהוה‬Dan 12,1–366; vgl. Jes 25,8; 26,19) nicht kannte (oder noch nicht auszusprechen wagte). Da καὶ νεκροὶ 62

STETTLER, Täuferanfrage, 182. Z.B. Mk 14,51f. als pars pro toto dargestellte Erfüllung von Am 2,16, um die Erfüllung des aus apokalyptischer Sicht rezipierten Weltgerichts von Am 1,3–3,2 in der Passion Jesu darzustellen. 64 Möglicherweise hat die hinter Mt 11,2–6 stehende Tradition Jes 34,16f. (trotz der enigmatischen Suffixe) als Einleitung von Kap. 35 verstanden, da es die Kapiteleinteilung noch nicht gab und Kap. 35 keine Einleitungsformeln aufweist. In 1QJesa beginnt mit 34,16f. immerhin ein neuer Absatz. 65 Vgl. WEISS, Matthäus, 214; SCHLATTER, Evangelist, 357. 66 Vgl. FÖRG, Ursprünge, 68ff. u.ö. 63

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ἐγείρονται in Mt 11,5 in Jes 35 nicht aufgewiesen ist, ist nach einer über Jes 35 hinausgehenden Synthese zu fragen, auf die sich Mt 11,2–6 als Schriftgrundlage zur Deutung des aktuellen Geschehens bei Jesus (und den Jüngern) aus der Vergangenheit bezieht. In erster Linie in Frage dafür kommt eine Zusammenschau, wie sie in den Fragmenten von 4Q521 vorliegt. III. Zur Intention der Fragmente von 4Q521 Innerhalb der als 4Q521 nummerierten apokalyptisch-prophetischen67 Fragmente einer Handschrift aus späthasmonäischer Zeit68 setzt das Fragment 4Q521 2 II69 aus dem Jesajabuche 35,5; 26,19 und 61,1f. voraus und verknüpft deren Rezeption mit Gen 1,2b (‫ רחף‬pi.); Jes 11,1f.; 42,1b; 43,1; 45,3; Ps 145,14b (= 146,8aβ) und 146,7b. Mit Gen 1,2b (Z. 6) wird das v.a. in Jes 35 vorgegebene Geflecht von Stichwörtern und Anspielungen nun deutlich in das Licht des Motivs der von JHWH erwarteten Neuen Schöpfung gerückt.70 Jes 11,1f. (Z. 6) thematisiert die Salbung des idealen Herrschers durch den Geist JHWHs. Komplementär dazu wird ebenfalls in Z. 6 die Verleihung des JHWH-Geistes an den JHWH-Knecht assoziiert (Jes 42,1), hier allerdings auf die ‫ ענוים‬bezogen. In Z. 7 wird dieses Geflecht in Verbindung mit dem „Thron der ewigen Königsherrschaft (‫ “)מלכות‬gebracht. Z. 8 ist ein Zitat aus Ps 146,7b.8a (vgl. Jes 61,2; 35,5; Ps 145,14 [= 146,8aβ]).71 Entscheidend für das Verständnis von Frg. 2 II sind die semantische Bestimmung v.a. der Wörter ‫( משׁיחו‬Z. 1)72 und ‫( קדושׁים‬Z. 2) in ihrem Kontext sowie die syntaktische Klärung bezüglich der handelnden Subjekte.

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Dagegen geht die Bezeichnung als „apocalypse messianique“ (PUECH, Une apocalypse, passim; v.a. DERS., Qumrân, 1 u.ö.) zu weit. – Auch erscheint die Deutung als Hymnus (u.a. befürwortet von NIEBUHR, 4Q521, passim) aufgrund des fragmentarischen Zustands von 4Q521 problematisch, wenngleich die erhaltenen Zeilen mit den Stichen des Wortlauts identisch sind. 68 Vgl. PUECH, Qumrân, 3f. 69 Ediert von PUECH, Qumrân, 1–38. – Zu den philologischen Problemen vgl. bes. ZIMMERMANN, Texte, 343–389. 70 Gen 1,1–2,4a (P) will ohnehin eher eschatologisch denn protologisch verstanden werden; vgl. POLA, Zukunft, 144f.: Gen 1,11f. setzen die vollständige Bedeckung der Erde mit Pflanzen voraus. Alle Menschen und Tiere sind Vegetarier (V. 29f.; anders dann in 9,3f.). Aus der eschatologischen Prophetie ist das Motiv des Tierfriedens rezipiert (Jes 11,6–8; 65,25; vgl. 35,8–10; Ez 34,25; Lev 26,6), als Zukunft in die Vergangenheit versetzt. – Zum Motiv der Auferstehung innerhalb der Ankündigung der Neuen Schöpfung in 4Q521 vgl. PUECH, Qumrân, 2. 71 COLLINS, Scepter, 117, sieht Ps 146 als den Hintergrund von Z. 1–8 insgesamt an. 72 Die Lesung als Plural scheidet aufgrund der in den vergleichbaren Fragmenten üblichen Pleneschreibung aus (gegen PUECH, Qumrân, 1 u.ö.). NOVAKOVIC, Messiah, 211f., zufolge liegt in Z. 5–8 eine Liste vor, doch fehlen die Kennzeichen einer Aufzählung.

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Da auch bezüglich der Vorgabe Jes 61,1–3 umstritten ist, ob in V. 1 der „Knecht JHWHs“,73 ein Priester (bzw. ein Hohepriester)74 oder (mit dem Targum) ein Prophet75 spricht, hilft in 4Q521 Frg. 2 II der Verweis auf den Bezug auf Jes 61,1f. bei der Deutung von ‫ משׁיחו‬nicht. Andererseits bedeutet die (provisorische) Übertragung vorexilisch-königlicher Eigenschaften und Pflichten auf den Hohepriester in Sach 3 (vor 515 v.Chr.),76 dass der Hohepriester nun auch ein Prophet mit Zugang zum himmlischen Thronrat ist (V. 7). Ritualisiert wurde dies im Brauch der Salbung des Hohepriesters bei seiner Investitur (Ex 29,7; Lev 8,12; 21,12; Num 35,25) und der Ausweitung dieses Brauches auf alle Priester (Ex 28,41; Lev 8,30; 10,7), vgl. auch die Bezeichnung ‫ הַכֹּהֵן ַה ָמּשִׁי ַח‬in Lev 4,3.5.16. Es spricht also in Jes 61,1–3 ein prophetisch begabter Hohepriester. Die Salbung durch das als Lösemittel für bestimmte Duftstoffe fungierende Olivenöl (Ex 30,22–33) drückt wie in 1Sam 16,13f. sinnlich erfahrbar die Verleihung des JHWH-Geistes aus.

In Z. 1 ist ‫ משׁיחו‬als „sein (endzeitlicher) Prophet“ zu übersetzen,77 da dieser ‫ משׁיח‬Z. 1–3 zufolge erfüllt vom Geiste von ‫ אדני‬die eschatologische Tora lehrt. „[Denn die Him]mel und die Erde werden auf seinen Gesalbten (‫ )למשׁיחו‬hören, [2] [und alles, w]as in ihnen ist, wird nicht abweichen von den Geboten der Heiligen. [3] Seid fest entschlossen, die ihr den Herrn in seinem Dienst sucht!“78

Das Suffix von ‫ למשׁיחו‬bezieht sich auf ‫אדני‬, der Adressat ist der Kosmos. Mit den ‫ קדושׁים‬sind Engel als Mittler der (Sinai-)Tora gemeint.79 Z. 3f. sind imperativisch. In Z. 5–8 ist grammatisch ‫ אדני‬das Subjekt (mit einer Ausnahme auf der Ebene des Quelltextes Jes 61,1, s.u.): (5)

Denn der Herr wird nach den Frommen sehen, und die Gerechten wird er beim Namen rufen.

73 DELITZSCH, Jesaja, 584f.; BEUKEN, Servant, 415f.; CHILDS, Isaiah, 505; KRATZ, Tritojesaja, 126f.; BLENKINSOPP, Isaiah 56–66, 220f.; ZAPFF, Jesaja 56–66, 390 (prophetischmessianisch). – Ein kollektives Verständnis des JHWH-Knechtes findet HANSON, Isaiah, 223f. 74 GRELOT, Isaïe, 417ff.; PUECH, Messianism, 243. 75 DUHM, Jesaia, 454f.; DILLMAN/KITTEL, Jesaja, 502f.; MARTI, Jesaja, 385f.; KESSLER, Gott, 61f.; WESTERMANN, Jesaja, 290f.; MCKENZIE, Isaiah, 181f. (der Prophet sieht sich selber als Knecht JHWHs). 76 Vgl. POLA, Priestertum, 173ff. 77 Vgl. GARCÍA MARTÍNEZ, Erwartungen, 182; ZIMMERMANN, Texte, 385ff. – COLLINS, Scepter, 121, sieht in diesem Propheten den Elia redivivus. Dafür spricht dem DtrG zufolge bei Elia und Elisa eine unter den Propheten sonst nicht belegte Wundertätigkeit, die in 1Reg 17,17–24 (vgl. 2Reg 4,18–37) auch eine Totenerweckung einschließt. Noch weiter geht STETTLER, Täuferanfrage, 181. 78 Übersetzung von ZIMMERMANN, Texte, 344. – Zwar heißt es in Ps 105,15 in synonymem Parallelismus: „Tastet meine Gesalbten (‫שׁיחָי‬ ִ ‫ ) ְמ‬nicht an, tut meinen Propheten (‫)נְבִיאַי‬ nichts Böses!“, aber im Kontext von V. 6–22 dieses Geschichtspsalms sind damit bestimmte Erzväter gemeint. 79 Vgl. ZIMMERMANN, Texte, 351. Er übernimmt bis Z. 8 die Ergänzungen von PUECH, Qumrân, 10f.

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Und über den Armen wird sein Geist ‚rütteln‘, und die Treuen erneuert er durch seine Kraft. [Ja,] er wird die Frommen ehren auf dem Thron der ewigen Königsherrschaft. Er befreit die Gefangenen, er öffnet (die Augen) der Blinden, er richtet die Ge[beugten] auf (Ps 146,7f.).80

(7) (8)

Die Zeilen 9 und 10 weisen einen sehr fragmentarischen Zustand auf. In Z. 9 liegt mit ‫ אדבק‬1. Pers. Sg., also das „Ich“ des Bekenners (oder Beters) vor, während mit dem Suffix in ‫ ובחסדו‬wieder auf ‫ אדני‬verwiesen wird. In Z. 11f. ist er jedenfalls wieder grammatisch das Subjekt (erneut mit einer Ausnahme auf der Ebene des Quelltextes Jes 61,1, s.u.): (11) Und wunderbare Dinge, die nicht geschehen sind, wird der Herr tun,81 wie [er geredet hat]. (12) [Dann wird] er Erschlagene heilen, und Tote wird er lebendig machen; Armen wird er frohe Botschaft verkünden (Jes 61,1).82

In Fragment 2 II ist das eigentümliche Ineinander der Aktivität des endzeitlichen prophetischen Gesalbten (Z. 1f., aus Z. 6 ‫ רוחו ענוים ועל תרחף‬und aus Z. 12 ‫ ענוים יבשׂר‬jeweils mit Jes 61,1 als Quelltext)83 und des Handelns von ‫( אדני‬Z. 11 und 12 bis ‫)יחיה‬84 literarische Absicht.85 Bereits das auf ‫ אדני‬bezo80

Übersetzung von ZIMMERMANN, Texte, 344f. Es ist ‫ יעשׂה‬gegenüber ‫ מעשׂה‬vorzuziehen; vgl. PUECH, Qumrân, 10f.; ZIMMERMANN, Texte, 347; NOVAKOVIC, Messiah, 208–231 (bes. 209, Anm. 4). 82 Übersetzung von ZIMMERMANN, Texte, 345. In Z. 11 dürfte bei Zimmermann die eckige Klammer vor „und“ ein Versehen sein, zumal ein schließendes Gegenstück fehlt. Schwer lesbare Wörter hat Zimmermann in Parenthese gesetzt (PUECH, Qumrân, 10, klammert dagegen in Z. 10 nur „[‫ “ד]בר‬ein). 83 Da diese Wendung in Jes 61,1bβ den Sprecher (von Versteil abα) als Subjekt hat, der nicht mit JHWH zu identifizieren ist, ist es darüber hinaus aus sachlichen Gründen unwahrscheinlich, dass ‫ אדני‬auch im letzten Glied von Z. 12 das Subjekt wäre ( ‫ אדני‬bzw. JHWH als Verkündender auf Erden?). Mitten in dieser Zeile wechselt also das Subjekt, was aber dem Hörer durch den Zitatcharakter der letzten beiden Wörter durch Assoziation des ursprünglichen Zusammenhangs in Jes 61,1 signalisiert wird. Anders NOVAKOVIC, 4Q521, 213f.: Sie leitet aus dem Messias als Subjekt von ‫ ענוים יבשׂר‬die Folgerung ab, der Messias sei insgesamt in Z. 12 das Subjekt. 84 Die Syntax von Z. 5–8 setzt eindeutig ‫ אדני‬als Subjekt voraus. Dies gilt darüber hinaus für die Zitate und Anspielungen in diesen Zeilen: Z. 5: ‫ וצדקים בשׁם יקרא‬nimmt aus Jes 43,1 n‫שׁ ְמ‬ ִ ‫ ָק ָראתִ י ְב‬auf (vgl. Jes 45,3: nְ‫שׁמ‬ ִ ‫ ;) ֲאנִי י ְהוָה הַקּ ֵֹורא ְב‬Z. 6: ‫ ועל ענוים רוחו תרחף‬ist eine Kombination von ‫( נָתַ ִתּי רוּחִי ָעלָיו‬Jes 42,1), ‫( ְונָחָה ָעלָיו רוּ ַח י ְהוָה‬Jes 11,2: wie in Z. 12 ist ‫רוּ ַח‬ ‫ י ְהוָה‬das Subjekt) und ‫הִים ְמ ַר ֶחפֶת עַל‬N ‫( וְרוּ ַח ֱא‬Gen 1,2: Subjekt ist ‫הִים‬N ‫ רוּ ַח ֱא‬analog zu Z. 12). Lediglich ‫שּׂר ֲענָוִים‬ ֵ ‫( ְל ַב‬Jes 61,1) besitzt im Quelltext das menschliche Subjekt von V. 1abα. Z. 8 besteht aus einem wörtlichen Zitat von Ps 146,7b.8a (schon inneralttestamentlich mit dem passivum divinum ‫ ִתּ ָפּ ַק ְחנָה עֵינֵי ִעו ְִרים‬aus Jes 35,5 [!] verknüpft), in jedem Falle mit JHWH bzw. ‫ אדני‬als Subjekt. 85 NOVAKOVIC, 4Q521, 226f., nimmt hier das Motiv der Verborgenheit des Messias (s.u.) an. 81

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gene Suffix in ‫ משׁיחו‬drückt das mit dem Gesalbten erfolgende eschatologische Handeln von ‫ אדני‬aus. Der den Sendenden vertretende Gesandte (vgl. Jes 61,1–3) ist mBer 5,5 zufolge wie der ihn Sendende zu achten.86 Inhaltlich geht Fragment 2 II über das im innerjesajanischen summarischen Zitatengeflecht von Jes 35 Angekündigte hinaus: Bereits die Formulierung von Z. 11: „und wunderbare Dinge, die (bisher) nicht geschehen sind, wird der Herr tun, wie er (z.B. in Jes 26,19) geredet hat“, bereitet die Erwartung der Auferstehung der Märtyrer und der Rückkehr von bzw. der Toten ins Leben von Z. 12 vor: „Dann wird er (= ‫ )אדני‬Durchbohrte (‫ )חללים‬heilen, und Tote wird er lebendig machen (‫ חיה‬pi.)“. Entscheidend ist aber: Es steht alles in Frg. 2 II Angekündigte im Kontext der „ewigen Königsherrschaft (‫“)מלכות‬ von ‫( אדני‬vgl. ähnlich Frg. 7, Z. 6–8). Da diese βασιλεία τοῦ θεοῦ wie in Dan 12,1–3 auch das Totenreich einschließt, umfasst die innere Logik der Fragmente 2 II und 7 auch die Auferstehung von Märtyrern und Verstorbenen87 im Rahmen der Neuen Schöpfung (s.o.), ein von Jes 35 vorgegebenes Motiv, das nur noch durch eine Erfüllungsdarstellung gesteigert werden könnte. Für das hier zugrunde liegende Wirklichkeitsverständnis ist – unter der Voraussetzung, dass 4Q521 im ‫( יַחַד‬der „Einung“) hervorgebracht worden ist, von dem alle Gebrechlichen ausgeschlossen waren88 – mit Hans Kvalbein festzustellen: Es dürfen „die Heilsverheißungen in 4Q52l […] nicht wie Matthäus 11,5p. auf körperliche Heilungswunder bezogen werden. Es geht um eine bildlich-poetische Darstellung der Erneuerung des Gottesvolkes in der Endzeit auf Grund von traditionellen, alttestamentlichen Vorstellungen und Ausdrücken“.89 IV. Zwischenergebnis 1. Rezeption von Jes 35: Nicht nur der in Jes 34 vorgegebene Aspekt des dem Heil vorgeordneten Gerichts, sondern auch der in 35,4; 34,8 und 61,2 gemeinsame Satz ‫„( נ ָ ָקם י ָב ֹוא‬Vergeltung kommt!“) bleibt im vorliegenden Text-

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„Denn der Bevollmächtigte des Menschen ist ihm selbst gleich“ (mBer 5,5) hat das diesseitige Botenrecht vor Augen, wendet aber dieses Prinzip sogleich auf die vorhandene oder fehlende Vollmacht des Fürbitters für Schwerkranke an. 87 Poesie vorausgesetzt, wäre hier die Ergänzung des Artikels denkbar. Doch bleibt in Frg. 2 II das Vorliegen von Poesie unsicher (s.o. S. 18, Anm. 67). 88 Sollte 4Q521 im ‫ י ַחַד‬hervorgebracht worden sein, wäre hier noch das Gebot des Ausschlusses der Kranken und Versehrten aus dem ‫ י ַחַד‬aufgrund der auf die Laien ausgeweiteten Priestergesetze zu nennen (1QSa 2; 4Q266 Frg. 9; 4Q349 Frg. 8 IV). Die Gemeinschaft mit den Engeln verbietet darüber hinaus die Anwesenheit von Kranken und Versehrten sowohl im Kriegslager (1QM 7,3–7) als auch im ‫( י ַחַד‬CD 15,15–17). Da Gehörlose keine Möglichkeit haben, die Tora zu hören und diese vollkommen zu befolgen, müssen auch sie aus dem ‫ י ַ ַחד‬ausgeschlossen werden (4Q349 Frg. 8 IV = 4Q396 Frg. 1–2). 89 KVALBEIN, Wunder, 123.

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bestand unberücksichtigt. Dies hat 4Q521 mit der Rezeption in Mt 11,2–6 gemeinsam. 2. Zu den handelnden Subjekten: Vor dem Hintergrunde des Zitatengeflechts in 4Q521 Frg. 2 II mit seiner Rezeption v.a. von Jes 61,1f.; 35 und Ps 146 bedeuten der Verweis Jesu auf seine (!) Werke in Mt 11,2–6 und seine Feststellung in seiner „Antrittspredigt“ in Lk 4,16–21, der gelesene Abschnitt Jes 61,1.2aα habe sich „heute erfüllt vor euren Ohren“ (V. 21), eine höchst anstößige, blasphemisch wirkende Provokation:90 „Der lukanische Jesus erhebt als Geistgesalbter den Anspruch, an Gottes Stelle, d.h. wie Gott selbst, zu handeln“ (A.M. Schwemer).91 Allerdings dürfte aus heutiger Sicht diese angesichts des hier herausgearbeiteten Ineinanders des Handelns von ‫ אדני‬und seines endzeitlichen prophetischen Gesalbten in 4Q521 für denjenigen Kreis, der die Endgestalt von 4Q521 in der zweiten Hälfte des 2. Jh. v.Chr. hervorgebracht hat,92 nicht ganz überraschend gewesen sein. 3. Die Adressaten des Heils: Während 4Q521 als Adressaten anscheinend die „Frommen“ (‫ )חסידים‬und die „Gerechten“ (‫( )צדיקים‬Z. 5–7) vor Augen hat,93 wendet sich Jesus dagegen „mit seinen Wundern gerade denen zu, die aufgrund der Reinheitstora keinen Platz im Volk Gottes haben, und gibt ihnen schon in der Gegenwart Anteil am Heil“ (Hanna Stettler).94 4. Zur Erwartung einer Auferstehung der Toten im Neuen Äon im Rahmen der „Königsherrschaft“ JHWHs: Gegenüber Jes 35 wird in der Erwartung der Neuen Schöpfung ausdrücklich die Auferstehung der Toten genannt. Ihr Fehlen in Jes 35 setzt eine Gestalt von Jes 1–33 voraus, das die sog. JesajaApokalypse Kap. 24–27 noch nicht enthielt. Darüber hinaus nennt 4Q521 ausdrücklich die „ewige“ „Königsherrschaft“ JHWHs (Z. 7). Dies war in Jes 35 nur in dem Ruf ‫הֵיכֶם‬N‫( ִהנּ ֵה ֱא‬V. 4) mit seinem deuterojesajanischen Hintergrund angeklungen. Daraus ist zu folgern: Ist also mit dem Hintergrund einer anzunehmenden gemeinsamen Vorgabe von 4Q521 und Mt 11,2–6 der Rahmen des für die Neue Schöpfung Angekündigten das Wirklich-Werden der βασιλεία τοῦ θεοῦ, dann sollte man die „Werke des Gesalbten“ nicht verniedlichend als „Taten der Barmherzigkeit“ (s.o.) bezeichnen. Vielmehr geht es Jesus in der matthäischen Darstellung (mit Hanna Stettler) um die Inauguration, um die Aufrichtung der βασιλεία τοῦ θεοῦ.95 Die Gottesreichs-Verkündigung Jesu muss das Herzstück seines Wirkens gewesen sein, wie es Mt 4,17 (par.) ausdrückt. Die Wunder dagegen bedeuten die zeichenhafte96 Bestäti90

Vgl. RIESNER, Jesus, 114; BETZ, Idea, 67f.; HENGEL/SCHWEMER, Jesus, 333. SCHWEMER, Jesus, 211. Vgl. STETTLER, Täuferanfrage, 179. 92 Vgl. ZIMMERMANN, Texte, 387f.; SCHWEMER, Jesus, 211. 93 S.o. S. 21, Anm. 88. 94 STETTLER, Täuferanfrage, 181. 95 Vgl. STETTLER, Täuferanfrage, 200. 96 Vgl. STETTLER, Täuferanfrage, 198–200. 91

Zu „den Werken des Gesalbten“ (Mt 11,2–6 par.)

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gung dieser Verkündigung durch JHWH selber. Wie in 4Q521 gehen dabei das Handeln Gottes und das des Messias ineinander. Die in Mt 11,5 genannten „Werke des Messias“ (V. 2) erscheinen im Horizont der Aufrichtung der βασιλεία τοῦ θεοῦ jedoch unvollständig. Dies könnte an der Orientierung von Mt 11,2–6 an dessen Vorgaben (besonders Jes 35 und der hinter 4Q521 stehenden Tradition) liegen. Von Sündenvergebung war in Jes 35 (im Unterschied zu 40,1f.) nicht die Rede. Jedenfalls wecken die ekklesiologisch sammelnde Tätigkeit und das Tempelwort Jesu, an dem sich den Synoptikern zufolge sogar der Prozess Jesu entzündet hat (Mk 14,58 par.; 15,29 par.; vgl. Joh 2,19–21), sowie die Leidensankündigungen samt Passionsdarstellungen den Eindruck, dass vom Messias im Rahmen der Aufrichtung der βασιλεία τοῦ θεοῦ im Alten Testament und im Frühjudentum an obligaten Werken qualitativ mehr erwartet worden ist, als Mt 11,5 darstellt: Es handelt sich um die Restitution Israels, den Tempelbau und die endzeitliche Sündenvergebung. Dies soll im Folgenden skizziert werden.

B. Zur Restitution Israels als obligatem messianischen Werk und dessen Rezeption in den synoptischen Evangelien – eine Skizze Wilhelm Gesenius deutete die in Jes 35,1 genannte Wüste auf das exilierte Volk in seiner elenden Situation.97 Bereits der Targum bezog (wohl angeregt durch Jes 33,24) das Motiv des Jubels der Wüste (V. 1f.) auf deren Bewohner, die Heilung der Gebrechlichen (V. 5) auf eine Wiederherstellung der Integrität des „Hauses Israel“, sowie die „Erlösten des Herrn“ (V. 10) ebenfalls auf das „Haus Israel“. Diese antiken und modernen Interpretationen tragen über das historische Selbstverständnis von Jes 35 (s.o.) hinweg einen sachlich aus der exilischen Prophetie vorgegebenen Zusammenhang ein, der im Folgenden skizziert werden soll. Juda bezeichnet sich nach dem Untergang des Nordreiches 722 v.Chr. zunehmend als „Israel“,98 versteht dies aber nicht als Substitution: Die auf Juda bezogenen Ergänzungen in der Endgestalt des Amos- (2,4f. u.ö.) und des Hoseabuches (1,7; 5,5 u.ö.) setzen eine Identifikation Judas mit der dem Nordreich geltenden Gerichtsbotschaft von Amos und Hosea voraus. Hatte sich vorstaatlich der alte Stämmeverband noch als „das Volk JHWHs“ bezeichnet (Jdc 5,11 = V. 13 LXX), so bedeutete später die sog. Reichsteilung (1Reg 12) aus der Sicht des DtrG im Lichte der Kultzentralisation bekanntlich eine folgenreiche Dekadenz (2Reg 17,7–18 u.ö.). Es wundert daher nicht, dass sich in der Prophetie der Exilszeit das davidische Königsideal mit einer Rückkehr 97

Vgl. GESENIUS, Jesaia, 923. Ihm folgt in dieser Hinsicht FARFAN NAVARRO, El desierto, passim. 98 Vgl. ZOBEL, ‫שׂ ָר ֵאל‬ ְ ִ ‫י‬, 1008–1010.

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der Einheit von Nord- und Südreich verbunden findet. Es heißt innerhalb des sog. Trostbuches Ephraims (Jer 30f.) in einer die Ereignisse vom Herbst 587 v.Chr. voraussetzenden Ergänzung99: 8

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Und an jenem Tage wird es geschehen, Ausspruch JHWHs, ich werde zerbrechen sein (= des Assyrers?) Joch von deinem Hals, und deine Stricke zerreiße ich, und nicht werden sie (= Israel) mehr Fremden dienstbar sein; sondern sie werden JHWH, ihrem Gott, dienen und ihrem König David, den ich ihnen erwecken werde (Jer 30,8f.).100

Diese judäische Ergänzung in einer Sammlung von Heilsworten, die dem Nordreich gelten,101 erwartet also eine Restitution der alle Stämme umfassenden Monarchie und einen Neuen Bund (V. 9: ‫הֵיהֶם‬N‫ ; ֱא‬vgl. 31,1!).102 „Die Hoffnung richtet sich auf eine Idealgestalt, die jener am Beginn der Monarchie gleichkommt“ (Georg Fischer).103 Bezeichnenderweise wird aus V. 9 der Satz ‫ ְו ֵאת ָדּוִד ַמ ְלכָּם‬in Hos 3,5, einer judäischen Ergänzung zu V. 1–4,104 zitiert. „Israel“ bezeichnet bei Ezechiel die Exulanten als das wahre Israel.105 In den Heilstexten Ez 34,20–31 und 37,15–28 aus der (mit Jes 34f. strukturell verwandten!) Gesamtkomposition Ez 34.35–37 findet sich eine mit der idealen Davidsgestalt zusammenhängende Erwartung der Restitution von Nordund Südreich: 23

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Und ich werde einen einzigen Hirten über sie (= die Schafe) einsetzen, der wird sie weiden: meinen Knecht David, er wird sie weiden, und der wird ihr Hirte sein. Und ich, JHWH, werde ihnen Gott sein, und mein Knecht David wird Fürst in ihrer Mitte sein. Ich, JHWH, habe geredet (Ez 34,23f.).106

99 Vgl. RUDOLPH, Jeremia, 190f.; SCHMIDT, Jeremia, 114f.; anders FISCHER, Jeremia, 122 u.ö. 100 V. 8: ‫ י ְהוָה ְצבָא ֹות‬fehlt in der LXX. – V. 9bβ: Der kürzere Wortlaut der LXX (ohne ‫שׁר‬ ֶ ‫ ֲא‬und ‫ ) ָלהֶם‬setzt eine andere Syntax voraus. MT ist zu belassen. 101 Auch in Jer 30,3f. findet sich Juda eingefügt als Heilsempfänger mit Israel. 102 Minimalistisch gesehen, wird das Adjektiv „neu“ in Verbindung mit dem Bund nur in Jer 31,31 gebraucht. Dort wird der Neue Bund vom alten, von Israel gebrochenen Bund abgehoben. Sachlich ist es daher unumgänglich, bei den Bundesankündigungen und dem Gebrauch der Bundesformel der exilisch-nachexilischen Heilsprophetien (und in der Priesterschrift) das Motiv des Neuen Bundes hervorzuheben. 103 FISCHER, Jeremia, 127. – Vgl. Jes 11,1; Mi 5,1. 104 Vgl. JEREMIAS, Hosea, 53. 105 Vgl. ZIMMERLI, Ezechiel, 1258ff. 106 V. 23: Der Versteil bα fehlt in der LXX. – V. 24: ‫ ַע ְב ִדּי‬fehlt in der LXX bzw. deren Vorlage. Es ist in beiden Fällen der MT beizubehalten.

Zu „den Werken des Gesalbten“ (Mt 11,2–6 par.)

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In Ez 37,21f.24f. heißt es innerhalb von V. 15–28: 21*

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Siehe, ich nehme die Söhne Israel aus den Nationen heraus, wohin sie gezogen sind, und ich sammle sie von allen Seiten und bringe sie in ihr Land. Und ich mache sie zu einer einzigen Nation im Land, auf den Bergen Israels, und ein einziger König wird für sie alle König sein; und sie sollen nicht mehr zu zwei Nationen werden und sollen sich künftig nicht mehr in zwei Königreiche teilen. … Und mein Knecht David wird König über sie sein, und sie werden alle einen einzigen Hirten haben; und sie werden in meinen Rechtsbestimmungen leben und meine Ordnungen bewahren und sie tun. Und sie werden in dem Land wohnen, das ich meinem Knecht Jakob gegeben habe, … und sie werden darin wohnen, … und mein Knecht David wird ihr Fürst sein für ewig. Und ich schließe mit ihnen einen Bund des Friedens, ein ewiger Bund wird es mit ihnen sein; … und setze mein Heiligtum in ihre Mitte für ewig.107

Entscheidend für den hier zu verfolgenden Zusammenhang ist die Beachtung der Logik des aus einer Kette von Einzelmotiven bestehenden Kontextes der zitierten Ausschnitte:108 – Sammlung und Rückführung, Leben im Land der Väter: 37,21.25; – Restitution des einen Volkes: 37,22a; – Ende der getrennten Reiche zugunsten einer Monarchie: 37,22b; – Aufrichtung eines Monarchen: 34,23 (David)/37,22a.24a.26b (David); – endgültige Reinigung: 37,23; – Heiligung des Volkes: 37,28; – vollkommener Gesetzesgehorsam: 37,24b; – Bundesformel: 34,24a (Davidsbund!)/37,23b.27aβ.b; – Neuer Bund: 34,25aα/37,26a; – Neue Schöpfung: 34,25aβ.b–27a.28aβ.29a.bα; – Erkenntnis JHWHs: 34,27bα.30/37,28 (Völker);

107 V. 22: LXX bietet καὶ ἄρχων εἷς ἔσται αὐτῶν statt >ֶ‫וּ ֶמלֶ> ֶא חָד י ִ ְהי ֶה ְל ֻכלָּם ְל ֶמ ל‬. – V. 25: ‫שׁבוּ־בָהּ ֲאב ֹו ֵתיכֶם‬ ְ ָ ‫שׁר י‬ ֶ ‫ ֲא‬ist Ergänzung; ‫ ֵה ָמּה וּ ְב נֵיהֶם וּ ְב נֵי ְבנֵיהֶם עַד־ע ֹולָם‬fehlt in der LXX und scheint nicht ursprünglich zu sein. – V. 26: Es ist in Versteil a mit der LXX ‫ ִא ָתּם‬statt ‫א ֹותָם‬ zu lesen. Versteil bα (‫ )וּנְתַ ִתּים ְוה ְִרבֵּי ִתי א ֹו ָתם‬ist ergänzt. – ZIMMERLI, Ezechiel, 913, will in V. 24b den Beginn einer Fortschreibung der vorangegangenen Fortschreibung sehen. 108 Die Überschneidungen mit Ez 36 und anderen Heilsankündigungen des Ezechielbuches (11,17–21; 20,30–44; 28,24–26 u.m.) bleiben hier unberücksichtigt.

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– Schutz vor menschlichen Feinden: 34,27bβγ.28.29bβ; – Neues Heiligtum inmitten des Volkes: 37,26b.27aα.28.

Das Geflecht von Ankündigungen umfasst also nicht nur Sammlung und Rückführung des Volkes samt dauerhafter Ansiedlung im Lande der Väter zu einem einzigen Volke mit einem einzigen (davidischen) Herrscher, sondern schließt gleichermaßen Reinigung und Heiligung des Volkes (nur in Kap. 37), Neuwerdung der Schöpfung (nur in Kap. 34), Neuen Bund, Neues Heiligtum, vollkommenen Gesetzesgehorsam (nur in Kap. 37; setzt die Neuwerdung des Menschen voraus) und die Erkenntnis JHWHs ein. Noch ist hier (und auch in der Kurzform des 18-Gebetes in bBer 29a) die Restitution Israels nicht das Werk des (davidischen) Herrschers, da die genannten Größen ausnahmslos von JHWH selber gewährt werden. Jedoch tritt der davidische Herrscher inmitten der Neuen Schöpfung auf den Plan, so dass in 37,24b.25–28 MT fünf Größen in Verbindung mit ‫ לְע ֹולָם‬genannt werden: das künftige Leben im Lande der Väter, die Herrschaft des Davididen, der Neue Bund und das Neue Heiligtum (zweifach genannt). Zwar kennt die Priesterschrift in ihrem Zukunftsgemälde (s.o.) einen Gesalbten nur in Gestalt des gesalbten Hohepriesters (und seines Kollegiums), sie übernimmt aber aus Ez 37 bekanntlich die Verse 27f. in Ex 29,45f. als einen ihrer theologischen Abschlussabschnitte.109 Die „Söhne Israels“ bestehen für P aus allen 12 Stämmen. Dass aber die Restitution des Volkes (das als Niederschlag der protojesajanischen Definitionen des wahren Volkes [s.u.]110 nur noch in Formeln ‫ עַם‬genannt wird)111 in P hervorgehoben wird, wird an einem unscheinbaren Detail deutlich: Die beiden vom Geiste JHWHs begabten Handwerker, die Ex 31,1–11 zufolge die Einzelteile des Heiligtums herstellen sollen, stammen den Versen 2 und 5 zufolge aus Juda und Dan (also aus dem Süd- und Nordreich).

Auch Hos 2,1–3, die Revokation von Kap. 1 aus exilischer Perspektive, erwartet die Mehrung des von JHWH rehabilitierten Gottesvolkes. In V. 2 heißt es: „Und die Söhne Juda und die Söhne Israel werden sich miteinander versammeln und sich ein einziges Oberhaupt (‫ )ר ֹאשׁ ֶאחָד‬geben und aus dem Land heraufziehen…“ Erneut ist die königliche Gestalt nicht Subjekt des Geschehens. Dies ist anders in 4Esr 13 (um 100 n.Chr. in Palästina entstanden):112 Hier „ruft“ und sammelt der Sohn Gottes (V. 32) nach Abwehr des Völkersturmes und Vernichtung der Gottwidrigen in einem Neuen Exodus (V. 44.47) die von den Assyrern deportierten zehn Stämme des ehemaligen Nordreiches und die im Land Gebliebenen (V. 39–48). Durch seinen Sohn will Gott „seine Schöpfung erlösen … und die Übriggebliebenen ordnen“ (V. 26) und diesen „viele große Wunder zeigen“ (V. 50).113 Das Subjekt der Restitution des Volkes ist 109

Vgl. POLA, Priesterschrift, 267–271.275–281.286–290. Innerhalb der Theologie Protojesajas 3,15; 14,32; 28,16 (lege ‫)י ֹסֵד‬. 111 Vgl. POLA, Priesterschrift, 151ff. 112 Vgl. SCHREINER, Esra, 301f. 113 Die Zitate sind der Ausgabe von SCHREINER, Esra, 369f., entnommen. 110

Zu „den Werken des Gesalbten“ (Mt 11,2–6 par.)

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hier die „mein Sohn“ genannte Gestalt, in Verbindung mit der Neuwerdung der Schöpfung. Im Unterschied aber zu Mt 11,2–6 und 4Q521 geht diesem Geschehen das – vom „Sohn“ vollzogene – Weltgericht voraus. Die synoptischen Evangelien führen die Berufung und Sammlung des Zwölferkreises (mit Trägern hebräischer und griechischer Namen) durch Jesus von Nazareth vor Augen (Mk 3,13–19 par.).114 Dass den Synoptikern zufolge das Wirken Jesu zunächst seinen Schwerpunkt in Galiläa besaß und der Auferstandene sowohl in Juda als auch in Galiläa erschienen sein soll (Mt 28,16–20;115 Lk 24,36ff.) und somit als König Israels sowohl das Nord- als auch das Südreich beansprucht, will die Erfüllung der von den exilischen und nachexilischen Propheten erwarteten Restitution ganz Israels unterstreichen,116 die 4Esr 13 zufolge der „Sohn“ Gottes selber in die Hand nehmen sollte. Es überrascht bei den Synoptikern nicht, dass dem skizzierten Geflecht von Heilsankündigungen in Ez 34 und 37 zufolge das Wirken Jesu mit der Aufrichtung der βασιλεία τοῦ θεοῦ zeichenhaft v.a. durch die Heilungs- und Speisungswunder den Anbruch der Neuen Schöpfung vor Augen führt. Vom Anbruch des Neuen Bundes ist die Rede in Lk 22,20. Anders aber als in den oben skizzierten alttestamentlichen und frühjüdischen Abschnitten geht in der synoptischen Darstellung kein Weltgericht voraus, es löst der neue Äon nicht den alten ab, sondern er durchdringt die vergehende Weltzeit.

C. Zum Tempelbau als obligatem messianischem Werk und zu dessen Rezeption in den kanonischen Evangelien – eine Skizze Der Tempelbau ist im Alten Orient das Werk von Göttern oder von Königen (A.S. Kapelrud),117 aber im letztgenannten Fall stets im Rahmen der Konzeption des sakralen Königsverständnisses (divine kingship)118 von dem betreffenden Gott an einen speziellen König delegiert. Im dynastischen Herrschaftsverständnis von Juda findet dies seinen Ausdruck in der Logik von Zions- und Davidserwählung durch JHWH (Ps 132,11–18) einerseits und Davidsschwur und Ladeüberführung (V. 1–10) andererseits,119 die der Form von 114

Vgl. PINES, Notes, passim. Vgl. POLA, Matthäus, 28. 116 Anders COLLINS, Scepter, 122f. 117 Vgl. KAPELRUD, Temple, passim. Ähnlich LUX, Tempel, 151. 118 Das von der älteren Forschung für selbstverständlich gehaltene sakrale Herrschaftsverständnis im Alten Orient (vgl. exemplarisch JOHNSON, Kingship, passim) wird neuerdings wieder befürwortet; vgl. BERLEJUNG, Macht, passim, und in anderen Veröffentlichungen. 119 Vgl. GESE, Davidsbund, passim. – Literarische Einheit und vorexilische Entstehung des Psalms hängen mit der vorexilischen Datierung von 2Sam 7 zusammen, können aber im Rahmen dieses Beitrages nicht begründet werden. 115

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Ps 132, einer rhetorischen Duplik,120 zu entnehmen ist. Diese Logik hat sich in 2Sam 7,1–17 niedergeschlagen. Der historische Hintergrund – soweit fassbar – besteht in der Überführung der Lade auf den Zion durch David (vgl. 2Sam 6,1–19) und dem Tempelbau Salomos (vgl. 1Reg 6,1–9,9*). In der judäischen Königszeit fungiert der König folglich als oberster Priester, auch wenn dessen Pflichten in der Praxis der Oberpriester übernommen haben dürfte. Für den hier zu verfolgenden Zusammenhang ist entscheidend: Alle Umbauten des Tempels und Kultreformen sind dem DtrG zufolge vom jeweiligen König ausgegangen (besonders 2Reg 16,10–18; 18,4; 22f.). Daher121 war frühnachexilisch, als von den Persern zwar der Tempelbau (Esr 6,3–5), nicht aber die Wiedereinführung des Königtums erlaubt wurde, als Protagonist der am 21. September 520 erfolgten Grundsteinlegung des Zweiten Tempels der damalige davidische Kronprinz (1Chr 3,19), Serubbabel ben Schealtiël, erforderlich (Sach 4,8–10*). Das Erstaunliche ist nun: Der Tempelbau wird Sach 6,9–15a zufolge122 zu einem obligaten Werk des erwarteten idealen Herrschers,123 in V. 12f. (vgl. 3,8) in Aufnahme der „Messias“-Ankündigung Jer 23,5f. (vgl. Ps 132,17) ‫„( ֶצ ַמח‬Spross“) genannt, obwohl seinerzeit die Errichtung des Zweiten Tempels kurz vor ihrem Abschluss gestanden haben muss. Der Tempelbau wird also, unabhängig von den Realien, zu einem Prinzip messianischen Handelns. Es heißt in der JHWH-Rede Sach 6,12f.*: „Siehe, ein Mann, ‚Spross‘ ist sein Name, denn von seiner Stelle (= Zion) aus wird er sprossen und er wird den Tempel JHWHs (‫ )הֵיכַל י ְהוָה‬bauen. Der wird den Tempel JHWHs bauen und der wird Königshoheit an sich tragen…“ Hier wird der Bau des Tempels (‫ )הֵיכַל י ְהוָה‬in Verbindung mit der Sammlung der Exulanten als Restitution des Gottesvolkes (Sach 6,9f.) zu einem obligaten messianischen Werk, wobei hinsichtlich des Tempelbaus traditionsgeschichtlich besonders 2Sam 7,13 und Am 9,11f. das Vorbild gewesen sein dürften. Adam S. van der Woude nennt generell Tob 14,5; äthHen 90,28ff.; 91,13 und Jub 1,17.27 als frühjüdische Wirkungen von Sach 6,9–15a.124 Auf traditionsgeschichtlich breiterer Basis und vom neutestamentlichen Tempel-Logion (Mk 14,58 par.; 15,29; Joh 2,19f.; Act 6,14) ausgehend macht Jostein Ådna 120

So auch ALLEN, Psalms, 204f. Vgl. zum Folgenden POLA, Priestertum, passim; ähnlich ROSE, Zemah, passim. 122 In Sach 6,9–14 liegt nicht der Auftrag zu einer (nicht öffentlichen) Inthronisation oder gar „Krönung“ Serubbabels oder des Hohepriesters (außerhalb des Tempels) zum judäischen König vor (so die Mehrheitsmeinung), sondern der Auftrag zu einer Zeichenhandlung, bei der die Krone im Tempel deponiert werden soll, so dass der „Spross“ geheimnisvoll im Tempel gegenwärtig ist (vgl. Ps 80,18; 84,9f.), Sach 3,8 (im Kontext) zufolge provisorisch im Priesterkollegium; vgl. POLA, Priestertum, 224–264. Dabei wird aus Dtjes auch das Motiv des Neuen Exodus rezipiert; vgl. POLA, a.a.O., 263f. u.ö. 123 In Am 9,11f. (exilisch) war der Tempelbau noch ein Werk JHWHs. 124 VAN DER WOUDE, Serubbabel, 153. Vgl. zu diesen Belegen zuletzt POPKES, Vorstellungen, 99–101. 121

Zu „den Werken des Gesalbten“ (Mt 11,2–6 par.)

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den Tempelbau als messianisches Werk transparent.125 Insbesondere die Targumversion von Jes 53,5 könnte von Sach 6,12f. abhängig sein: „Er126 aber wird das Heiligtum bauen, das durch unsere Schulden entweiht worden war, preisgegeben durch unsere Sünden, und durch seine Lehre wird sein Frieden reich sein über uns, und wenn wir uns um seine Worte sammeln, werden uns unsere Schulden vergeben werden.“127 Auch in 4Q522 Frg. 9 II128 erscheint der Tempelbau als messianisches Werk: „… denn siehe, ein Sohn wurde dem Isai geboren, Sohn des Peretz, Sohn des Jeh[udah –] den Felsen Zion, und er nimmt von dort aus in Besitz das {ganze} Amoriter(land). [ – ,] um zu erbauen {das} Haus für JHWH, den Gott Israels. Gold und Silber [ – ] – Zedern und Zypressen brin[gt man vom] Libanon, um es zu bauen“ (Z. 2–5).129 Vor allem das enigmatische Fragment aus der Tempelrolle, 11Q19 29,130 erwartet eine Neuschöpfung des Tempels durch JHWH selber: Und ich werde Wohlgefallen haben an ihnen,131 und sie werden mir zum Volk werden, und ich, ich werde sein für sie auf ewig, und ich werde wohnen (‫( )ושׁכנתי‬8) mit ihnen für ewig und immer. Und ich will heiligen mein [Hei]ligtum ( ‫ )]מ[קדשׁי‬mit meiner Herrlichkeit, von dem gilt: Ich werde wohnen lassen (‫( )אשׁכין‬9) auf ihm meine Herrlichkeit bis zum Tage der Schöpfung ( ‫)הבריה‬,132 wenn ich selbst mein Heiligtum (‫ )מקדשׁי‬schaffen (‫ )אברא‬werde, (10) um es zu gründen für mich für alle Tage gemäß dem Bunde, den ich geschlossen habe mit Jakob in Bethel“ (Z. 7–10). „(7)

Zweifellos folgen Z. 7–9 dem priesterschriftlichen Abschlusstext Ex 29,44– 46 bzw. dessen Vorlage in Ez 37,26bβ–28. Sie weisen mit dem Motiv der Errichtung eines qualitativ neuen Heiligtums durch Gott selber auch eine Nähe zu äthHen 90,29f. und Jub 1,17.27 auf. Für den hier zu verfolgenden Zusammenhang ist jedoch entscheidend die Verbindung der Erwartung der Neuen Schöpfung mit der Erschaffung (‫ )!ברא‬des Neuen Heiligtums durch Gott selber (Z. 9), obwohl hier vom Messias nicht die Rede ist. Erwartet wird hier der „Dritte“ Tempel. Ob dieser „mit Händen gemacht“ sein soll oder nicht (Mk 14,58), bleibt in den erhaltenen Fragmenten von 11Q19 offen. Die johanneische Inkarnationstheologie aber scheint Erwartungen wie die in 11Q19 29,7– 10 aufzunehmen (Joh 1,14: ἐσκήνωσεν ἐν ἡµῖν, vgl. „und ich werde wohnen [‫ ]ושׁכנתי‬mit ihnen“, Z. 7f.), einschließlich der Identifikation des Leibes Jesu mit dem wahren Tempel (Joh 2,19–21) und der dem vierten Evangelium eige125

Vgl. ÅDNA, Stellung, 83–86. Der Knecht JHWHs wird in Jes 52,13 Targum mit dem Messias identifiziert. 127 Übersetzung von JEREMIAS, Art. παῖς, 692 (Orthographie vom Vf. angepasst). 128 Vgl. zu 4Q522 die Edition von PUECH, Qumrân, 29–74. 129 Übersetzung von MAIER, Qumran-Essener, 688. 130 S. CHARLESWORTH, Temple Scroll, 76–79. 131 Gemeint sind die unmittelbar vor Z. 19 genannten Opfer. 132 Lege ‫הבריאה‬, vgl. 4Q226 Frg. 1, Z. 7. 126

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nen Doxatheologie133 (vgl. v.a. 1,14 [!]: „wir haben seine Herrlichkeit angeschaut“). Nur wenig bekannt ist in diesem Zusammenhang die theologische Funktion der die johanneische Tempelreinigungsdarstellung einleitenden Zeitangabe „und das Passah der Juden war nahe…“ (Joh 2,13). Die meisten Ausleger messen dieser Angabe keine tiefere Bedeutung bei.134 Dem Alten Testament zufolge jedoch finden Heiligtumseinweihungen grundsätzlich am Neujahrstag statt, je nach Neujahrstermin entweder unmittelbar vor dem Passa- oder dem Laubhüttenfest (Lev 8,3.33–35; 9,1; 1Reg 8,65; 2Reg 22,1–23,22; Esr 3,1–6). Auch in der Tempelrolle folgt auf den längeren Passus über das am Jahresbeginn zu feiernde Weihefest (11Q19 15,3; 17,5) ein Abschnitt über das Passafest (11Q19 17,6–9).135 Die Zeitangabe in Joh 2,13 signalisiert vor diesem Hintergrunde also die Bedeutung der sog. Tempelreinigung als Heiligtumseinweihung oder -restaurierung136 durch einen Jesus, der sowohl als davidisch-königliche als auch als hohepriesterliche messianische Gestalt über den (herodianischen) Tempel herrscht. Sowohl das Tempel-Logion als auch die johanneische Darstellung der sog. Tempelreinigung demonstrieren also die Erfüllung des traditionell vom Messias obligaterweise erwarteten Tempelbaus bzw. der -restauration durch Jesus von Nazareth.

D. Zur endzeitlichen kultischen Sühnweihe als obligatem messianischen Werk – eine Skizze Die vor 515 v.Chr. entstandene Vision Sach 3137 legitimiert nicht nur das nachexilische Amt des Hohepriesters, sondern zugleich dessen prophetische Begabung (so dass er mit dem Geist „gesalbt“ ist;138 er erhält nun Zutritt zum himmlischen Thronrat) und v.a. den Großen Versöhnungstag als das theologi133

Vgl. KITTEL, in: VON RAD/KITTEL, Art. δοκέω, 252. So zuletzt ZUMSTEIN, Johannesevangelium, 125: „V.13 bietet als redaktionelle Überleitung den Rahmen der Erzählung. Das nahe bevorstehende Passahfest (Zeitangabe […]) ist Grund dafür, dass Jesus nach Jerusalem (Ortsangabe) hinaufzieht.“ Am weitesten geht MOLONEY, Gospel, 80, demzufolge Passa und Tempelreinigung nichts miteinander zu tun hätten. 135 Vgl. POLA, Heiligtumseinweihung, Abschnitt 3.3.11. 136 Vgl. BECKER, Johannesevangelium, 122 (freundlicher Hinweis von Frau Anna Reich): Königlicher Einzug und Tempelreinigung spiegeln die altorientalische Abfolge von Inthronisation und Kultrestauration als Beginn einer neuen Ära wieder; so auch POLA, Heiligtumseinweihung, Abschnitt 3.3.11. 137 Vgl. POLA, Priestertum, 173ff., und in anderen Veröffentlichungen. 138 Ex 28,41; 29,21ff.; 30,30f.; Lev 8,2ff.; 16,32 u.ö.; Jes 61,1 (s.o.) und die Bezeichnung ‫שׁי ַח‬ ִ ‫ הַכֹּהֵן ַה ָמּ‬Lev 4,3.5.16. 134

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sche Ziel des Kultes des Zweiten Tempels. JHWH spricht: „Ich will die Schuld jenes Landes weichen lassen an einem einzigen Tag“ (V. 9). Die in V. 10 angedeutete Folge ist das Neuwerden der Schöpfung. Die kultische Sühnweihe hat die vor Gott verwirkte Existenz des bzw. der Menschen vor Augen und nicht einzelne Sünden. Die Grundbedeutung von ‫ כפר‬ist „wegwischen“ (und nicht: „bedecken“).139 Das Sühnmal (‫ = כַּפּ ֶֹרת‬gr. ἱλαστήριον), eine Platte aus purem Gold140 über (‫עַל‬, Ex 25,21) der Bundeslade, ist derjenige Ort, an dem JHWH Israel (= in Gestalt des Blutes des Opfertiers, mit dem sich der Hohepriester bzw. Israel durch die Handaufstützung auf den Kopf des Tieres [Lev 4,4.15.24 u.ö.] zuvor identifiziert hatte;141 vgl. Lev 17,11) heiligend begegnen will (Ex 29,44 u.ö.). Vom Sühnmal aus will sich JHWH an Israel offenbaren (Ex 25,22; 29,42 u.ö.) und inmitten des Volkes dauerhaft wohnen (Ex 29,45f.). Diese kultische Wirklichkeitsauffassung findet sich in den priesterschriftlichen Teilen des Pentateuchs verankert als Ziel der von JHWH befohlenen Kultoffenbarung am Berge Sinai, der in den Farben des Jerusalemer Zionstempels dargestellt wird. Fünf grundlegende Aspekte werden in der seit dem Erscheinen des Aufsatzes „Die Sühne“ von Hartmut Gese und der damit zusammenhängenden Monographie von Bernd Janowski142 andauernden Diskussion um die kultische Sühne im Alten Testament zu wenig berücksichtigt: Erstens: Die Zerstörung des Tempels im Herbst des Jahres 587 v.Chr. bedeutete auch für die Kultgeschichte den Beginn einer für die Exilszeit und die Epoche des Zweiten Tempels neuen Ära: Obwohl während der ungefähr einjährigen Belagerung der Opferbetrieb im Tempel so lange wie möglich fortgesetzt worden sein dürfte, als die Bevölkerung schon nichts mehr zu essen hatte, haben die (deuteronomischen) Opfer die Katastrophe, die außer zur Zerstörung des Tempels zugleich zum Abbruch des judäischen Königtums führte, nicht verhindern können. Zweitens: Die uns überlieferte exilische Literatur,143 insbesondere die Quellen A und C des Jeremiabuches,144 aber auch die Klagelieder Jeremias,145 sieht im gewaltsamen Ende des Staates Juda 587 v.Chr. die Durchsetzung des Willens JHWHs.146 Den Priester und Propheten Ezechiel samt seiner Schule nötigten daher die Katastrophen von 597 und 587 139

JANOWSKI, Sühne, 100–102.175–181. In Aufnahme von Ex 24,9–11. 141 Nur in Lev 16,21 bedeutet die Handaufstützung einen Abladeritus. 142 GESE, Sühne, passim; JANOWSKI, Sühne, passim, und in anderen Veröffentlichungen; SCHENKER, Vergebung, passim; SCHREINER, Theologie, 266–270. Vgl. auch MARX, Opfer, passim, und in anderen Publikationen. 143 TALMON, Exil, 67: „Exil und Diaspora resultieren immer aus Verfehlungen Israels“. 144 Dass große Teile der C-Quelle auf Jeremia zurückgehen, wird besonders vertreten von WEIPPERT, Prosareden, passim. 145 KOENEN, Klagelieder, 43*–45*, zufolge sind die einzelnen Lieder noch vor 520 v.Chr. entstanden (mit Ausnahme von Kap. 3). 146 Vgl. KOENEN, Klagelieder, 43* u.ö. – Hinzu kommen die exilischen Ergänzungen zum Deuteronomium (dtn2) und dem DtrG (dtr2), folgt man dem sog. Blockmodell von KUENEN, Histoire, 417 u.ö. 140

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v.Chr. zu einer spezifischen Erfahrung JHWHs, die eine erhebliche Steigerung des Empfindens der Heiligkeit JHWHs zur Folge hatte. Eingesetzt hatte dies bereits mit der in Jes 6,1–12 dargestellten unmittelbaren Erfahrung des ‫שׂ ָר ֵאל‬ ְ ִ ‫( ְקד ֹושׁ י‬des „Heiligen Israels“)147 durch Jesaja im Tempel, wobei er aus der Liturgie des himmlischen Gottesdienstes das Trishagion zitiert (V. 3). Die Wahrnehmung dieser Heiligkeit führt zur Nichtung seiner selbst (V. 5). Jedoch erfolgt der Weg zu JHWH zeichenhaft durch den Tod hindurch mittels der pars pro toto erfolgenden Berührung des Propheten mit dem himmlischen Feuer, was als Sühne (‫ כפר‬pu.) bezeichnet wird,148 so dass Jesaja nun die Stimme JHWHs wahrzunehmen vermag (V. 8–12). Es deutet sich in Jes 6* bereits ein Zusammenhang von kultischer Sühne und Neuwerdung des Menschen bzw. der Schöpfung an (vgl. Sach 3,9f.): „Sühne, Sündenvergebung und Neuschöpfung gehören im Sühneritual aufs engste zusammen“ (Peter Stuhlmacher).149 Die Sühne bedeutet Hartmut Gese zufolge „ein Zu-Gott-Kommen durch das Todesgericht hindurch“.150 Drittens: Versteht man Kult und dessen „Organisation“ als Herrschaftsinstrument151 oder überhaupt Religion als Illusion ihrer Anhänger152, wird man der kultischen Sühne kaum eine positive Bedeutung zumessen. Das Selbstverständnis der bezüglich des Kultes im Alten Testament und im Alten Orient in Frage kommenden Abschnitte dagegen fasst den Kult als Wirklichkeit auf. Die Kultteilnehmer erwarten im Tempelbezirk eine Theophanie (Hab 2,20; Sach 2,17 u.ö.).153 Das Alte Testament bezeugt darüber hinaus bei der (anscheinend sinnlich fassbaren) Erscheinung JHWHs im Tempel154 eine ritualisierte Kondeszendenz der himmlischen Wirklichkeit JHWHs, in die der Kultteilnehmer (wenn er bestimmten Reinheitskriterien genügt und sich in der sog. Torliturgie auf die Seite JHWHs gestellt hat) temporär hineingenommen wird (vgl. Jes 6,1–12). Belegen wie Lev 9,24; 2Chr 7,24 oder Sir 50,5ff.17–21 und ungezählte Male in den Psalmen (23,6; 26,8; 27,4; 42,5; 63,3; 84,4f.11 u.m.) ist zu entnehmen: Die Grundstimmung der Kultteilnehmer muss heiter gewesen sein (außer bei den Klagegottesdiensten). Hinter den sühnetheologischen Abschnitten steht also seitens der Laien und der Priester eine Wirklichkeitserfahrung, die bei den Laien auf das Leben im Alltag ausstrahlt: „Es ist anzunehmen, daß von solchem kultischen Denken her der ganze Lebensbereich geprägt wird“ (Hartmut Gese).155 Viertens: Terminologisch kann das Alte Testament mit dem Verbum ‫ סלח‬auch „unkultische“ Vergebung bezeichnen, z.B. bei Jeremia (6,7–11; 31,34; 36,3 u.ö.)156 und Deuterojesaja (55,7).157 V.a. die Belege aus den Psalmen (25,11; 86,5; 103,3; 130,4) könnten ge147

Jes 1,4; 5,19.24; 10,20 u.ö. Vgl. dazu JANOWSKI, Sühne, 123–129. 149 STUHLMACHER, Theologie, 139. 150 GESE, Sühne, 104. 151 Vgl. NIEMANN, Herrschaft, 185ff.205. 152 „Sind die gegenwärtig […] wirksamen Geschichtsdekonstruktionen der Spiegel eines Wirklichkeitsverlustes in der zeitgenössischen Religiosität? Wird den alttestamentlichen Geschichtserzählern eine Fiktionenproduktion unterstellt, weil wir selbst eine religiöse Geschichtsschau als fiktiv und damit Religion überhaupt als illusionär verdächtigen?“ (MÜLLER, Tod, 20). 153 Zum Zusammenhang von apokalyptischer und kultischer Wirklichkeitsauffassung vgl. FÖRG, Ursprünge, 74ff. u.ö. 154 Vgl. JEREMIAS, Theologie, 322. 155 GESE, Sühne, 104. 156 Vgl. STAMM, Art. ‫סלח‬, 156f. 157 Vgl. STAMM, Art. ‫סלח‬, 157f. 148

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meinsam haben, vom Hintergrund kultischer Wirklichkeitsauffassung abzusehen. Dafür könnte auch die nachexilische Datierung nahezu aller Belege von ‫סלח‬158 sprechen: Spiegelt der Gebrauch von ‫ סלח‬besonders die nachexilische private Frömmigkeit? Jedoch sind gerade die Belege aus den Psalmen „dem Kult nahe und mit ihm mehr oder weniger verbunden“ (Johann Jakob Stamm).159 Darüber hinaus wird ‫ סלח‬in der Priesterschrift wie selbstverständlich in (sühn-)kultischem Kontext gebraucht.160 J.J. Stamm will gar das Verbum ‫ סלח‬aus dem kultischen Gebrauch ableiten.161 Fünftens: Aus welchem Grunde wird nirgendwo im Alten Testament und Frühjudentum die Liturgie der Sühnweihe, besonders der des großen Versöhnungstages, vollständig aufgeführt?162 Dieser Frage liegt das Missverständnis zu Grunde, die in Ex 24,14–31,18; 35– 40; Lev 1–27 und im Buche Numeri priesterschriftlich hervorgebrachte und zusammengestellte, detailliert wirkende Kultoffenbarung habe den Zweck eines Priesterhandbuches besessen. Doch soll die ganze Liturgie des Großen Versöhnungstages aus Lev 16 bestanden haben? Nicht nur fehlen alle Gebete, die es gegeben haben muss, sondern die Mischna rechnet für die Verlesung dieser Liturgie vor dem Hohepriester am Abend vor dem Festtag mit einer bis in die Nacht hineinreichenden Dauer (mYom 1,4–7). Die Priesterschrift versteht sich vielmehr in ihrem Grundbestand als ein „Volksbuch“ (Heinrich Holzinger).163 Dies erscheint plausibel vor dem Hintergrunde der von den Priestern ausgehenden Ausweitung priesterlicher Lebensweise auf (die) Laien im exilischen Heiligkeitsgesetz (Lev 17– 26) und ab dem 2. Jh. v.Chr. im ‫י ַחַד‬.

Für den hier zu verfolgenden Zusammenhang ist zunächst auf die dem Tempelbau als obligatem messianischem Werk (s.o.) inhärente Logik hinzuweisen: In der Zeit des Zweiten Tempels war der Zweck des Jerusalemer Tempels der legitime Vollzug der Sühnweihe.164 Es lag daher nicht nur die Erwartung der Vollendung des „Dritten“ Tempels durch den Messias nahe, sondern auch die damit verbundene endzeitliche soteriologische und schöpfungstheologische Funktion dieses Tempels. Folglich kommt es schon im Alten Testament zur Erwartung eines priesterlichen Messias. Es heißt, durch 1Sam 2,35165 literargeschichtlich vorbereitet, in Jer 30,21: „Und sein Mächtiger wird aus ihm selbst sein und sein Herrscher aus seiner Mitte hervorgehen. Und ich will ihm Zutritt gewähren (‫) ְו ִה ְק ַר ְב ִתּיו‬, und er wird mir nahen (‫) ְו נִגַּשׁ ֵא לָי‬. 158

Vgl. HAUSMANN , Art. ‫ ָסלַח‬, 861. STAMM, Art. ‫סלח‬, 154. 160 Lev 4,20.26.31.35; 5,10.13.16.18.26; 19,22; vgl. auch Num 15,25–28; 30,6.9.13. – Auch den Belegen im Tempelweihgebet Salomos (1Reg 8,30.34.36.39.50) wird man wenigstens auf redaktioneller Ebene einen kultischen Zusammenhang nicht absprechen können. 161 STAMM, Art. ‫סלח‬, 152. 162 Vgl. EBERHART, Sühne, passim; DERS., Kultmetaphorik, passim, und in anderen Veröffentlichungen. 163 HOLZINGER, Einleitung, 335. Ähnlich GERSTENBERGER, Leviticus, 12. 164 Vgl. JEREMIAS, Theologie, 323. 165 Zwischen 622 und 597/587 zu datieren; vgl. POLA, Priestertum, 92–94. 159

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Denn wer ist es, der sein Herz verpfändet, um zu mir zu nahen (‫שׁת ֵא לַי‬ ֶ ֶ‫?) ָל ג‬ Ausspruch JHWHs.“

Während der Versteil aα an das Königsgesetz anknüpft (Dtn 17,15), drückt V. aβ.b mit den Verben ‫ קרב‬hi. und ‫ נגשׁ‬ni. den priesterlichen Charakter der hier erwarteten Herrschergestalt aus.166 Es schließt sich in V. 22 MT die Ankündigung des Neuen Bundes an und in V. 23 MT die der Einsicht in die eschatologischen Pläne JHWHs. Auch Sach 3,8 (s.o.) schließt nicht aus, dass der „Spross“ aus den Reihen der Priester hervorgehen wird. Schließlich ist die späte Tradition eines Levibundes167 als Übertragung des Davidsbundes auf den Hohepriester und sein Kollegium zu verstehen. TestLev 18* erwartet einen qualitativ neuen, endzeitlichen Priester: „Dann wird der Herr einen neuen Priester erwecken, dem alle Worte des Herrn offenbar werden. Und er wird ein Gericht der Wahrheit auf Erden halten in einer Fülle von Tagen“ (TestLev 18,2).168

In Rezeption von 1Sam 2,35 wird dieser Neue Priester nicht nur Gericht halten, sondern auch die Neue Schöpfung herbeiführen (TestLev 18,5), den Völkern wird die Gotteserkenntnis zuteil, die Sünde hört auf (V. 9), das Paradies wird geöffnet und vom Baum des Lebens darf gegessen werden (V. 10). Es überrascht daher nicht die Erwartung des ‫יַחַד‬, dass es außer dem davidischen169 auch einen priesterlichen Messias geben wird (4Q375; 4Q376; 4Q541 u.m.),170 die in 1QS 9,11 zusammen mit dem Elia-ähnlichen eschatologischen Propheten „kommen“ werden.171 CD 14,18f. zufolge erfolgt unter dem „Gesalbten Aarons und Israels“172 die eschatologische Sühnweihe: „Und dies ist die Darlegung der Gesetze, nach denen [sie gerichtet werden sollen] (…) (19) bis zum Auftreten des Gesalbten Aarons und Israels, und er schafft Sühne für ihre Verschuldung (oder: und ihre Verschuldung wird gesühnt), [besser als/durch Speis- und Sündopfer (?) …].“173

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In der LXX findet sich der priesterliche Charakter des bzw. der Herrscher nur in Versteil b. 167 Jer 33,17f.; Mal 2,1ff.; Neh 13,29; Sir 45,15f. Vgl. Num 25,10ff. 168 Übersetzung von BECKER, Testamente, 60. 169 Vgl. ZIMMERMANN, Texte, 46ff.: 4Q174; 4Q246; 4Q252; 4Q534 u.m. 170 Vgl. ZIMMERMANN, Texte, 230ff. 171 Vgl. ZIMMERMANN, Texte, 23ff. – In 1QSa 2,11–22 besitzt der priesterliche Messias Vorrang vor dem davidischen; vgl. ZIMMERMANN, Texte, 26ff. 172 Der „Gesalbte Aarons und Israels“ wird auch genannt in CD 12,23–13,1; 19,7–11; 19,33–20,1; 1QS 9,11; 1QSa 2,11–22. 173 Übersetzung und Markierungen von ZIMMERMANN, Texte, 37: „Der Text wurde ergänzt aufgrund von Überschneidungen mit 4Q266(Da) 10 I, Z. 11–13 (DJD 18, 72; hier einfach oder punktiert unterstrichen) und 4Q269(Dd) 11 I, Z 1–3 (DJD 18, 134; hier punktiert unterstrichen); weitere Ergänzung nach BAUMGARTEN 1996.“ Diese Angabe bezieht

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Das Wort ‫ משׁיח‬in Z. 19 ist ein Singular, so dass hier von einem einzigen, sowohl priesterlichen als auch weltlichen „Gesalbten“ die Rede ist. Umstritten sind Stammesmodifikation und Subjekt von ‫ויכפר‬: Es könnte pu. im Sinne eines passivum divinum sein, so dass „und ihre Schuld wird gesühnt“ zu übersetzen wäre. Gott wird aber im Kontext nicht genannt. Daher liegt es näher, qal zu lesen. Das Subjekt wäre dann der unmittelbar davor genannte „Gesalbte Aarons und Israels“.174 Das entscheidende Licht auf diese Aussage wirft die fragmentarische Aussage in Z. 18: Wie in 1QS 9,3–11 (Endgestalt) wird die Epoche der geltenden Ordnungen durch das „Kommen“ des „Gesalbten Aarons und Israels“ (in 1QS 9,11 Plural) beendet und eine Neue Ära beginnt. 4Q266 11 I, Z. 13,175 hebt das qualitativ Neue der messianischen Zeit hervor durch die Fortsetzung der aus CD 19,14.19 zitierten Formulierung: „[und er wird ihre Schuld sühnen besser176 als (durch) Min]ḥa und besser als (durch) Schuldopfer“ (vgl. 1QS 9,4f.). Bei der Rezeption der alttestamentlich-frühjüdischen sühnkultischen Wirklichkeitsauffassung im Neuen Testament177 sei hier lediglich auf Röm 3,25 hingewiesen: Paulus erläutert die Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi an exponierter Stelle des Römerbriefes mit Hilfe der von der Septuaginta vorgegebenen sühntheologischen Terminologie: „Ihn (= Jesus) hat Gott hingestellt als Sühnmal (ἱλαστήριον) … in seinem eigenen Blut (ἐν τῷ αὐτοῦ αἵµατι), um seine Gerechtigkeit zu erweisen…“ So, wie JHWH dem Buche Exodus zufolge (s.o.) die ‫ =( כַּפּ ֶֹרת‬ἱλαστήριον, „Sühnmal“, s.o.) gestiftet hat, um dort dem Gottesvolk Israel zu begegnen, es von dort zu heiligen und sich ihm von dort aus zu offenbaren, so hat Gott Paulus zufolge endzeitlich Jesus Christus als ἱλαστήριον mit diesen drei, nicht voneinander zu trennenden Wirkungsaspekten der ‫ כַּפּ ֶֹרת‬als Gegenstand des Glaubens öffentlich (!) hingestellt und damit den Kult des Zweiten Tempels obsolet gemacht.178

sich auf BAUMGARTEN, Cave, passim; vgl. aber inzwischen BAUMGARTEN, Forgiveness, passim, und DERS., in: CHARLESWORTH, Damascus Document, 56f., und in: DERS., Damascus Document II, 64f. 174 KNÖPPLER, Sühne, 88, entscheidet sich für den priesterlichen Messias als Subjekt von ‫ויכפר‬. 175 CHARLESWORTH, Damascus Document II, 64f. 176 Wegen der sachlichen Analogie zu 1QS 9,4f. ist ‫ מן‬privativum unwahrscheinlich. 177 Vgl. zur Sühne im Neuen Testament besonders STUHLMACHER, Theologie, 137–139; HOFIUS, Sühne, passim; KNÖPPLER, Sühne, passim. Vgl. auch den Sammelband FREY, Deutungen, passim. 178 Vgl. STUHLMACHER, Theologie, 193–196; GESE, Sühne, 105.

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E. Wirklichkeitsauffassung und Erwartung eines idealen davidischen Herrschers „Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß gerade der Untergang des judäischen Staates und die Zerstörung des Tempels im Jahr 586 v.Chr. die Messiasidee besonders stark gefördert haben“ (Shemaryahu Talmon).179 Demzufolge gab es bereits vorexilisch die Erwartung einer transformierten, idealen Herrschergestalt. Dies ist im überlieferten Bestand greifbar für das 7. Jh. in Jer 23,5f. und für das 8. Jh. v.Chr. in Jes 7,1–17* und 9,1–6.180 Es wäre aber methodisch verfehlt, nur die Herrscherankündigung als solche hervorzuheben. Vielmehr ist deren Einbettung in den jeweiligen theologischen Zusammenhang herauszustellen. Dies soll im Folgenden exemplarisch für Jes 7,1– 17* vorgenommen werden. Als These sei vorweggenommen: Die Geburtsstunde der „Messias“-Erwartung ist zugleich die einer neuen Wirklichkeitsauffassung, die Jesaja im Glaubensbegriff fasst. Sachlich hängt damit das ebenfalls in Jes 7 begegnende Motiv der Verborgenheit des „Messias“ zusammen. Die181 auf unmittelbare Schüler Jesajas (vgl. 8,16) in der Ära Manasses zurückgehende182 Fremddarstellung Jes 7,1–17183 ist bis auf einige Glossen184 literarisch einheitlich. Sie besitzt die Form einer rhetorischen Duplik, bestehend aus V. 1–4a.5–8a.9/10–14.16.17a, und erklärt die Funktion der sonst im Kontext überflüssigen Einleitung ‫( וַיּ ֹו ֶסף י ְהוָה ַדּבֵּר אֶל־אָחָז לֵאמ ֹר‬V. 10) als Entsprechung zur Einleitung ‫שׁ ְעי ָהוּ‬ ַ ְ ‫( וַיּ ֹא ֶמר י ְהוָה אֶל־י‬V. 4aα).185 Die Tatsache, dass die auf Jesaja zurückgehende (s.u.) Immanuelweissagung 179

TALMON, Exil, 81. Vgl. GESE, Messias, 133f. 181 Vielfach wird der Einsatz einer transformierten Herrschererwartung in Jes 1–11 literarisch mit 9,1–6 und 11,1–10 angenommen; vgl. SCHMIDT, Glaube, 288. Seit der Monographie von BARTHEL, Prophetenwort, passim, sind zwei Forschungstendenzen erkennbar: Es wird wieder ein nennenswerter Grundbestand auf Jesaja zurückgeführt und als der literargeschichtliche Kern der Sammlung Kap. 1–11 gilt vielfach die jesajanische „Denkschrift“ 6,1–8,18*; vgl. DIETRICH, Entstehung, 326–332. 182 Das Zitat aus 2Reg 16,5 in V. 1 (das beim Leser den Inhalt von 2Reg 16,5–18 assoziieren will) setzt eine hiskianische Fassung des Abschnitts 2Reg 16,5–18 voraus, der dann Bestandteil von dtr1 (josianisch) wurde; vgl. SWEENEY, Kings, 380f. COGAN/TADMOR, Kings, 186, halten 2Reg 16,5 für das Zitat aus einer Archivquelle. Eine Entstehung des Grundtextes von Jes 7,1–17 in der Zeit Manasses nimmt u.a. BEUKEN, Jesaja 1–12, 191, an. IRSIGLER, Zeichen, 196f., denkt frühestens an die ersten Jahre Hiskias. 183 Textkritik: V. 6: lege c. LXX, Vulg. und Esr 4,7 ‫ ָט ְב ֵא ל‬statt ‫ ָטבְאַל‬. – V. 11: lege ‫שׁאֹלָה‬ ְ statt ‫שְׁאָלָה‬. 184 Glossen sind V. 4b.8b.15.17b; vgl. BEUKEN, Jesaja 1–12, 189–191. 185 Darauf weisen hin: ‫ בֵּית ָדּוִד‬in V. 10/13.17 (n‫)בֵּית אָבִי‬, das Verbum ‫ קוץ‬in V. 6/16 und ‫ עַם‬mit Suffix in V. 2/17. Auch sind der Ruf zum Vertrauen in V. 9 und die Zeichenthematik aufeinander bezogen (BEUKEN, Jesaja 1–12, 191). 180

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„Siehe, eine (bestimmte) junge Frau wird (bald) schwanger werden und einen Sohn gebären und wird seinen Namen ‚Immanuel‘ nennen“ (V. 14)

nicht einfach in eine frühe Sammlung von Jesajaworten aufgenommen worden ist, sondern dass der Vers in seiner Einbettung in eine spezielle Verkündigungssituation dargestellt wird, verpflichtet zur Wahrnehmung der inneren Logik von Jes 7,1–17* insgesamt: Ahas (als Vertreter des regierenden Zweiges der Davididen) versucht, realpolitisch durch vorbereitende Maßnahmen für die bevorstehende Belagerung und v.a. durch die in 2Reg 16,7aβ genannte freiwillige Unterwerfung vor den Assyrern186 im Diesseits zu überleben, und zwar um jeden Preis. Dabei bedeutet 2Reg 16,5–18 zufolge die Unterwerfung unter Tiglat-Pileser III. zugleich die Lossagung von JHWH bzw. der adoptiven Einsetzung zum Gottessohn durch JHWH auf dem Zion (vgl. Ps 2,7187 und 2Reg 16,7aβ: „Dein Knecht und dein Sohn bin ich“).188 In dieser Situation sagt Jesaja Ahas gerade nicht die äußere Rettung an, sondern er verkündet (V. 7–8a.9): „So sprach der Herr JHWH: Es wird nicht zustande kommen und nicht geschehen. Ja, das Haupt von Aram ist Damaskus, und das Haupt von Damaskus ist Rezin … und das Haupt von Ephraim ist Samaria, und das Haupt von Samaria ist der Sohn von Remalja. Glaubt ihr nicht (‫ אמן‬hi.), dann bleibt ihr nicht (‫ אמן‬ni.)!“

Man sollte in V. 9b als Abschluss erwarten: „und das Haupt von Juda ist Jerusalem, und das Haupt von Jerusalem ist Ahas“ bzw. „JHWH“. Stattdessen steht aber absichtlich189 als Pointe des jesajanischen Grundtextes (V. 7.8a.9): „Glaubt ihr nicht (‫ אמן‬hi.), dann bleibt ihr nicht (‫ אמן‬ni.)!“190 Jesaja fordert hier eine diesseitige Haltung, die sich einzig von der unsichtbaren Wirklichkeit JHWHs bestimmt weiß (gegenüber der nun zweitrangig gewordenen sichtbaren Wirklichkeit): Ahas hat in seiner Existenz191 JHWH kompromisslos treu zu bleiben, auch wenn das seinen äußeren Untergang bedeuten könnte. Mit Recht hält die Forschung das in Jes 7,1–17* unter Einarbeitung von Jesajaworten192 Dargestellte für die Geburtsstunde der traditionsgeschichtlich 186

Vgl. HERMISSON, Glauben, 59. Ps 2,1–9 ist vorexilisch entstanden; vgl. HARTENSTEIN, Psalmen, 76f., unter Annahme der Aufnahme des vorexilischen Traditionsstückes V. 7–9. 188 Vgl. FREY, Handkommentar, 53. 189 Vgl. FREY, Handkommentar, 43f. 190 So bereits die Luther-Übersetzung von 1545, jüngst auch Gesenius18 (s.v. ‫ אמן‬hi.). 191 Vgl. FREY, Handkommentar, 54. 192 HERMISSON, Glauben, 59f., nimmt die spätere Aufzeichnung eines auf Jesaja zurückgehenden Berichtes an, der auch V. 10–17 umfasst. – Jes 7,9b und 28,16 sind mit MERK, Glaube, 445, als dem Kontext literarisch vorgegeben aufzufassen und beruhen inhaltlich auf 2Sam 7,12–16. 187

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fortan bis zum Neuen Testament193 vorausgesetzten biblischen Wirklichkeitsauffassung, die entsprechend den Glaubensbegriff definiert.194 Sie liegt sachlich auch dort vor, wo die entsprechende Terminologie (‫ אמן‬hi. bzw. Derivate) nicht vorkommt. Dieser Glaubens- bzw. Wirklichkeitsbegriff prägt auch anderweitig die Theologie Protojesajas: Es ist nicht mehr das Volk als ethnische Größe, sondern die Gemeinde derer, die das Gericht JHWHs demütig annehmen, relevant, es ist nicht mehr der Berg Zion geographisch, sondern die Gemeinde der Gebeugten diejenige Größe, in deren Mitte JHWH wohnt und worin man sich zu bergen vermag (Jes 3,15; 14,32; 28,16195). Es ist nicht mehr das Recht einfach als zu memorierende Größe vorhanden, sondern das Recht muss man ein Leben lang in seiner von JHWH gesetzten Intention suchen (1,17). Erst recht genügt es nicht, sich beim Gottesdienst im Kollektiv zu bergen, sondern der Einzelne hat ein Leben lang in Kult und Werktag offen zu sein für JHWH (1,10–17). Wenn Mk die Verkündigung Jesu in dem Satz zusammenfasst: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe gekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ (1,15), dann meint Jesus (!) nicht nur ein verbales Bekenntnis des Evangeliums, sondern ein Für-wirklich-Halten, aber in einer äußerlich nicht sichtbaren Weise. Der Unterschied in der Wirklichkeitsauffassung spielt auch in der Täuferfrage (s.o.) eine Rolle. Wenn Jesus auf die Erfüllung u.a. von Jes 61,1–3 verweist, müsste das nicht auch in V. 1 „Freilassung auszurufen den Gefangenen und Öffnung des Kerkers den Gebundenen“ (vgl. Jes 42,7) im Sinne der von Jesaja erwarteten Wirklichkeitsauffassung einschließen?196

Die Ankündigung des „Immanuel“ in Jes 7 geht also mit der Einführung desjenigen Wirklichkeitsbegriffes einher, der die äußerlich unsichtbare Wirklichkeit JHWHs für relevant hält und nicht mehr die äußerlich sichtbare Wirklichkeit. Diese innere Logik schließt in Jes 7 das Motiv der Verborgenheit des Messias ein: Weder wird der Name der Mutter des Immanuel genannt, noch ist von dessen Vater die Rede. Lediglich das futurum instans (‫ ִהנּ ֵה‬mit Partizip) deutet auf eine von Jesaja für seine Gegenwart erwartete Erfüllung hin. Das Motiv der Verborgenheit des Messias liegt auch in Jer 23,5f. durch die Einführung der Chiffre „Spross“ vor. Wie das Motivwort ‫ צדק‬erkennen lässt, erscheint der „Spross“ als Gegenfigur zu Zedekia: Der Verwerfung von Ahas in Jes 7,1–17* durch Jesaja entspricht gut ein Jahrhundert später die von Zedekia durch Jeremia als redaktioneller Abschluss der „Königskapitel“ 21,1– 193

Als wichtige Ausnahme ist die Restauration Nehemias im 5. Jh. v.Chr. mit ihren bis zu den Hasmonäern reichenden Folgen anzusehen. 194 So DUHM, Jesaia, 73; WEISER, Art. πιστεύω, 189; HAACKER, Glaube, 280–282, und in anderen Veröffentlichungen; STUHLMACHER, Theologie, 342f. 195 Lege ‫ י ֹסֵד‬mit der LXX, 1QJesa (liest part. pi.) und 1QJesb (part. q.); anders BEUKEN, Jesaja 28–39, 44. – Versteil bγ (‫א יָחִישׁ‬N ‫ ) ַה ַמּ ֲא ִמין‬ist ein eigener Satz; vgl. DUHM, Jesaja, 200; BARTHEL, Prophetenwort, 306–310. 196 Vgl. STETTLER, Täuferanfrage, 178.

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23,5. Auf die Rezeption der von Jeremia eingeführten Chiffre „Spross“ in Sach 3 und 6,9–15a ist oben schon hingewiesen worden. Das sacharjanische Motiv der Verborgenheit des „Messias“ im Tempel muss aber auch breiter rezipiert gewesen sein. Die Gemeinde konnte beten: „Deine Hand sei über dem Mann deiner Rechten, über dem Menschensohn, den du dir hast stark werden lassen!“ (Ps 80,18). „Blicke doch, o Gott, auf unseren Schild! Schaue an das Antlitz deines Gesalbten!“ (Ps 84,10).

Das Motiv der Verborgenheit des Messias lässt sich auch weiter bis in das Frühjudentum verfolgen, wie z.B. an 4Esr 12,32 und 13,26f.52 mit Rezeption von Hab 2,3 zu sehen ist.197 – Hinsichtlich der synoptischen Evangelien scheint das Motiv des Messiasgeheimnisses die traditionelle Verborgenheit des idealen Herrschers fortzuführen. In jedem Falle ist Matthäus mit dem Reflexionszitat in 1,21f. von JesLXX 7,14 der Meinung, mit der Geburt von Jesus von Nazareth habe sich die Ankündigung des „Immanuel“ erfüllt.

F. Synthese 1. Der Beitrag fragt aufgrund der in Mt 11,2 als Ausdruck τὰ ἔργα τοῦ χριστοῦ genannten und im Folgenden mit Hilfe von Anspielungen auf das Alte Testament aufgezählten Taten Jesu nach den im Alten Testament und Frühjudentum erwarteten obligaten Werken des „Messias“. Handelt es sich darüber hinaus in V. 5 nur um einige „helfende“ „Taten der Barmherzigkeit“ (J. Gnilka)? 2. Die Transformierung der judäischen Königsideologie in die Erwartung eines idealen Herrschers („Messias“), von der erstmals Jesaja 7,1–17* (vgl. 9,1–6; auch Jer 23,5f.) zeugt, ist eigentümlicherweise mit zwei für die messianologische Entwicklung besonders konstitutiven Größen verbunden: mit dem Begriff des Glaubens (Jes 7,9; vgl. 28,16) und – davon nicht unabhängig – mit dem Motiv der Verborgenheit des Messias (7,14). Nur die äußerlich nicht sichtbare Wirklichkeit Gottes ist im Falle einer Krisis relevant. So ist die Ankündigung des „Immanuel“ dem neuen Wirklichkeitsbegriff untergeordnet! 3. Die Duplik Jesaja 34f., Drohwort für die Völker (Kap. 34) und eine Sonderform des Heilsorakels (Kap. 35), versteht sich als eine vom konkreten geschichtlichen Zeitpunkt enthobene Summe von Kap. 1–33* und 40–63* unter dem Gesichtspunkt der Abfolge (!) von eschatologischem Völkergericht und kosmischer Neuwerdung (vgl. 34,1). Gottesherrschaft und positiv verstandenes Gericht charakterisieren die Neue Weltzeit (34,8; 35,4). Das Sub197

Vgl. NOVAKOVIC, Works, 226f.

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jekt der Neuwerdung der Schöpfung ist JHWH, das Ziel der Aussage ist die den Kosmos betreffende Gegenwart JHWHs auf dem Zion. Von einem irdischen Herrscher ist in Jes 34f. trotz seines großjesajanisch-summarischen Charakters nicht die Rede. 4. 4Q521 Frg. 2 II, adressiert an die „Frommen“ und „Gerechten“ (Z. 5–7), rezipiert besonders die Heilsankündigungen in Jes 35 und 61,1f. (mit Ps 146) und rechnet mit der „ewige(n)“ „Königsherrschaft“ JHWHs (Z. 7: ‫)מלכות‬. Dies war in Jes 35 bereits im Ruf ‫הֵיכֶם‬N‫( ִהנּ ֵה ֱא‬V. 4) mit seinem programmatischen deuterojesajanischen Hintergrund angeklungen (40,9). Aus der umfassenden Herrschaft JHWHs resultiert in 4Q521 nun auch das Motiv der Überwindung des Todes. Die sprachlich ineinander geschachtelten Subjekte der Neuschaffung der Welt sind JHWH und „sein (endzeitlicher) Prophet“ (‫)משׁיחו‬. 5. Mt 11,2–6 par. steht in Kontinuität und Diskontinuität zu den hier skizzierten Motiven (wobei hinter Q 7,18f.22f. eine mit 4Q521 gemeinsame ältere Überlieferung zu stehen scheint). Der Gedanke des Weltgerichts aus der Duplik Jes 34f. sowie 29,20 und 61,2 fehlt sowohl in 4Q521 2 II als auch in Mt 11,2–6 par. Zugleich ist der Neue Äon für Mt 11,2–6 gegenüber der alttestamentlich-frühjüdischen Apokalyptik bereits angebrochen. Dies ist zeichenhaft sichtbar in den in V. 5 genannten Taten Jesu, verweist aber im Sinne des von Protojesaja vorgegebenen Glaubensbegriffes auf die Priorität der äußerlich nicht sichtbaren Wirklichkeit (Gottes) für den Glaubenden, in der die βασιλεία τοῦ θεοῦ bereits gekommen ist. Darüber hinaus stellt sich Jesus mit den von ihm in V. 5 (und in Lk 4,16–21: Erfüllung von Jes 61,2aα) genannten eigenen Werken vor dem Hintergrund von Jes 35 (und 4Q521 2 II) an die Stelle Gottes als handelndem Subjekt! Wie in 4Q521 2 II gehen bei den Wundern Jesu dennoch ein Handeln Gottes und das des „Messias“ ineinander. Die Adressaten des Handelns Jesu sind (im Gegensatz zum essenischen ‫ )יַחַד‬gerade die durch die alttestamentlichen Priestergesetze und die zeitgenössische Halacha ausgeschlossenen Menschen. 6. Angesichts des summarischen Charakters von Jes 35 und 4Q521 2 II, der zentrale vorgegebene Traditionen, v.a. der Neuen Schöpfung und des Neuen Menschen sowie der Gottesherrschaft, bündeln will, verweist auch Mt 11,2–6 par. nicht auf einige „helfende“ Taten Jesu, sondern auf den Anbruch des durch Jesus von Nazareth durch Verkündigung und Bestätigungswunder inaugurierten Neuen Äons. 7. Ab der exilischen Prophetie ist die Restitution Israels als obligates messianisches Werk erwartet worden (Jer 30,8f.; Ez 34,20–31; 37,15–28; Hos 2,1–3; Sach 6,9f.; 4Esr 13 u.m.). Die ezechielischen Belege weisen ein Motivgeflecht auf, das v.a. die Sammlung und Rückführung des Volkes mit einem einzigen (davidischen) Herrscher, Reinigung und Heiligung des Volkes, Neuwerdung der Schöpfung einschließlich des Menschen, Neuen Bund, Neues Heiligtum, vollkommenen Gesetzesgehorsam und die Erkenntnis JHWHs um-

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fasst. Im Neuen Testament wollen v.a. die Sammlung des Zwölferkreises durch Jesus, sein Wirken in Galiläa und die Erscheinungen des Auferstandenen sowohl in Juda als auch in Galiläa die angekündigte Restitution Israels im Sinne der protojesajanischen Wirklichkeitsauffassung als erfüllt darstellen. 8. Ab Sach 6,9–15a wird der Tempelbau zu einem obligaten messianischen Werk, weiter entfaltet in Tob 14,5; äthHen 90,28ff.; 91,13; Jub 1,17.27; Jes 53,5 Targum und 4Q522 Frg. 9 II. Die Tempelrolle nennt in 11Q19 29,7–10 zwar einzig JHWH als handelndes Subjekt, verbindet aber die Ankündigung der Erschaffung (‫ )!ברא‬des „Dritten“ Tempels durch JHWH mit dem Motiv der Neuen Schöpfung. Die kanonischen Evangelien sehen den Tempelbau als obligates messianisches Werk durch das Tempel-Logion Jesu (Mk 14,58 par.; 15,29; Joh 2,19f.; Act 6,14) und die aufgrund der Zeitangabe in Joh 2,13 mit ihrem alttestamentlichen und religionsgeschichtlichen Hintergrund (z.B. Lev 8,3.33–35; 9,1; 1Reg 8,65; 2Reg 22,1–23,22; Esr 3,1–6) als Heiligtumseinweihung (bzw. -restaurierung) zu verstehende sog. Tempelreinigung Jesu in Joh 2,13–22 als erfüllt an. Darüber hinaus nimmt die johanneische Inkarnations- und Herrlichkeitstheologie spezifische Erwartungen wie die in 11Q19 29,7–10 (vgl. Ex 29,44–46; Ez 37,26–28 u.m.) ausgedrückte auf. 9. Die „Sühntheologie“ im Alten Testament ist angemessener als „sühnkultische Wirklichkeitsauffassung“ zu bezeichnen, da sie das ganze Leben von Priestern und Laien (!) durchdrungen haben muss. Trotz des gestiegenen Heiligkeitsempfindens infolge der Katastrophe von 587 v.Chr. scheinen die nachexilischen Kultteilnehmer von einer heiteren Grundstimmung getragen worden zu sein. Bei der Sühnweihe geht es nicht um einzelne Sünden, sondern (besonders beim Großen Versöhnungstag) um die heiligende Begegnung mit JHWH, die als eine Neuwerdung derer empfunden worden ist, die sich mit dem Ritus der Sühnweihe identifizieren. – Mit der Übernahme einstiger königlicher Rechte und Pflichten durch den Hohepriester (Sach 3) nimmt der erwartete „Messias“ nun priesterliche Züge an. Die Erwartung einer endzeitlichen Sühnweihe als obligatem Werk des „Messias“ resultiert soteriologisch aus dem erwarteten Werk des „messianischen“ Tempelbaus, ist aber ausdrücklich erst in CD 14,18f. nachweisbar. 10. Gegenüber der alttestamentlichen und frühjüdischen Apokalyptik lösen sich die Äonen bekanntlich bei den kanonischen Evangelien (und bei Paulus) nicht voneinander ab, sondern es durchdringt der Neue Äon den noch bestehenden Alten Äon. Die jesuanische Verkündigung der βασιλεία τοῦ θεοῦ bedarf daher der im Summarium Mt 11,2–6 par. genannten, als Bestätigungszeichen von Gott her fungierenden „Werke des Messias“. Sowohl diese als auch die obligaten messianischen Werke der traditionsgeschichtlichen Entwicklungen (Restitution Israels, Tempelbau und Sühnweihe) stehen dabei unter dem von Jesaja geprägten Glaubensbegriff: Der Glaubende sieht sich von der äußerlich nicht sichtbaren Wirklichkeit Gottes bestimmt (auch die Neue

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Schöpfung betreffend), der gegenüber die äußerlich sichtbare Wirklichkeit und das Ergehen im Diesseits als nahezu irrelevant erscheinen müssen.

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Der Messiasanspruch Jesu im Kontext frühjüdischer Messiaserwartungen Roland Deines Abstract: This essay on the relationship between Jesus and the messianic expectations of his time contends that the NT writings are properly understood only when seen as early Jewish writings. The common conviction of their authors was that Jesus of Nazareth was Israel’s promised Messiah, sent by God to save his people. As such the NT writings can be seen as parallel readings of the biblical (OT) tradition alongside other early Jewish messianic traditions. By considering various historical messianic realisations from Zerubbabel to Bar Kokhba, the essay demonstrates that messianic claimants were expected to relate scriptural promises to themselves. Self-referential scriptural exegesis is identified as a necessary messianic task, and for a good number of messianic figures of the Second Temple Period a teaching activity can be identified. Within this context Jesus’ detailed and repeated recourse to Scripture is analysed as part of his messianic self-presentation. Finally, I argue this knowledge can be traced back to his family, which should be understood – in analogy to other contemporary messianic groups – as a Davidic clan anticipating the promised Nezer (“branch,” Isa. 11:1) who educated their children in a family-specific (‘sectarian’) literacy.

A. Einleitung Dieses mir vorgegebene Thema wird traditionellerweise so angegangen, dass man mit den frühjüdischen Messiaserwartungen beginnt und von da aus sich zu den neutestamentlichen Texten vorarbeitet. Im Lehrbuchstil werden dabei die verschiedenen Texte, angefangen mit der hebräischen Bibel, ihren Übersetzungen (Septuaginta, Targumim) und Fortschreibungen in den frühjüdischen Textcorpora von Henoch über die Qumrantexte, Philo, Josephus bis zu den jüdischen Apokalypsen der Zeit nach 70 (4Esr, syrBar) und der rabbinischen Literatur, nacheinander durchgegangen und daraufhin befragt, wie Jesus sich zu diesem variantenreichen Panorama verhält.1 Welchen dieser Er1

Solche Überblicke über das Material sind in der Literatur reichlich vorhanden; meine eigene Diskussion der Literatur insbesondere im Hinblick auf den davidischen Messiaskönig findet sich in DEINES, Gerechtigkeit, 453–457 (mit ausführlicher Bibliographie). Eine Ausnahme zu dieser Darstellungsweise bildet u.a. OEGEMA, Der Gesalbte, passim, der die neutestamentlichen Texte konsequent in seine Darstellung der jüdischen Messiaserwartung einordnet.

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wartungen hat Jesus entsprochen, welche hat er erfüllt bzw. nicht erfüllt, und wo bringt er Unerwartetes? Bei einem solchen Durchgang wird man den vielfältigen jüdischen Messiaserwartungen und den historischen jüdischen Messiasprätendenten begegnen: dem eschatologischen Heilskönig aus der Nachkommenschaft Davids, dem endzeitlichen Propheten, dem messianischen Lehrer der Weisheit, dem Menschensohn aus Daniel und den Bilderreden des äthiopischen Henochbuchs, dem Gesalbten aus dem Haus Aaron, aber auch Judas Galiläus, Simon bar Giora und Bar Kochba als historischen Figuren sowie dem Messias Menachem ben Hiskija aus der rabbinischen Literatur2, um nur die bekannteren Repräsentanten des messianischen Genus zu nennen. Besonders die Funde von Qumran haben dazu beigetragen, die Vielfalt der frühjüdischen Messiaserwartungen noch einmal deutlich ins allgemeine Bewusstsein zu rücken. Dass es eine feste „Messiasdogmatik“ gab,3 anhand derer man die einzelnen Messiasprätendenten wie nach einer Checkliste überprüfen konnte, ist eine Vorstellung, die nur noch da gehegt wird, wo man meint, die Messianität Jesu mit Wahrscheinlichkeitsberechnungen glaubwürdig machen zu können, indem man auf die angeblich im Leben Jesu erfüllten alttestamentlichen Verheißungen verweist.4 Rainer Riesner hat bereits in seiner Dissertation darauf hingewiesen, dass die jüdischen Messiaserwartungen vielfältig und komplex waren und dass man darum „die Frage nach der Messianität Jesu“ nicht darauf beschränken kann, „ob er irgendeiner der uns bekannten Erwartungen gerecht geworden ist.“5 Genau dies geschieht jedoch nach wie vor in vielen Jesusbüchern, die sich um das jüdische Profil Jesu bemühen und ihn dabei auch mit der Messiasfrage in Verbindung bringen. Das Ergebnis ist in der Regel derge2

Zu ihm vgl. SCHWEMER, Elija. HENGEL, Jesus der Messias Israels, 35f.; ZIMMERMANN, Texte, 8; zum Begriff s. RIESNER, Jesus, 298, der die Vorstellung auf die religionsgeschichtliche Schule zurückführt (Adolf von Harnack, Johannes Weiss, Wilhelm Bousset). SCHÜRER, Geschichte II, 579–651 (= § 29: Die messianische Hoffnung), spricht ausdrücklich von einer „messianischen Dogmatik“ (a.a.O., 592.609 u.ö.), die er zunächst historisch (a.a.O., 590–608, von Daniel bis zu den rabbinischen Schriften) und dann systematisch (a.a.O., 609–651, in 12 Punkten) abhandelt. Zur Frage einer „Messiasdogmatik“ s. ferner die Diskussion in CHARLESWORTH (Hg.), The Messiah (1992). Dieser Band, zusammen mit dem von NEUSNER, GREEN und FRERICHS herausgegebenen „Judaisms and Their Messiahs“ (1987) markiert den Beginn einer neuen Epoche in der Erforschung der jüdischen Messiasvorstellungen (wobei es natürlich viele Vorarbeiten und Vorläufer gab), indem nicht länger nach einem durchgängigen Messiaskonzept innerhalb ‚des‘ Judentums oder nach ‚der‘ jüdischen Messiaserwartung gefragt wird, sondern die Pluralität der Messiasvorstellungen ins Zentrum rückte; vgl. THOMA, Messiasprojekt, 123f.; OEGEMA, Der Gesalbte, 27. Damit einher ging und geht vielfach allerdings eine Marginalisierung und Minimalisierung der Messiaserwartung; vgl. dazu kritisch HORBURY, Jewish Messianism, passim. 4 Als Beispiele s. STROBEL, Fall, passim; GITT, So steht’s geschrieben, 176–199. 5 RIESNER, Jesus, 299. 3

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stalt, dass die Übereinstimmungen der Jesustradition(en) mit einzelnen Elementen dieser Messiastypoi nachgewiesen und in einer Taxonomie stratifiziert werden: Dabei wird dann festgestellt, ob Jesus mehr dem weisheitlichen Messias mit eschatologischem Einschlag oder doch eher dem eschatologischen Propheten mit priesterlichen Elementen ähnelt. Implizierte – aber oft nicht reflektierte – Voraussetzung ist, dass eine dieser traditionsgeschichtlich nachweisbaren Messiaserwartungen als die das (Selbst-)Verständnis Jesu (oder des jeweils untersuchten neutestamentlichen Textes) dominierende angenommen wird, an der sich Jesus bzw. die Personen aus seinem Umfeld orientiert hätten. Dieser Leiterwartung seien dann die darüber hinaus gehenden Elemente, wie etwa Bezugnahmen auf die priesterliche Messiaserwartung, eingegliedert worden. Ziel dieser Arbeiten ist es in der Regel, den angemessenen Kontext zu finden, aus dem heraus sich Jesus als Messias verstehen lässt bzw. er von seinen Zeitgenossen verstanden wurde. So bestimmt etwa Martin Karrer die älteste fassbare urchristliche Messiasvorstellung bei Paulus als „soteriologische[n] Messianismus“, um den sich „Einflüsse der einzelnen messianischen Traditionen an[lagern].“6 Die Schwierigkeit dieses Vorgehens liegt darin, dass man jüdische Messiaserwartungen als etwas Vorgegebenes ansieht, als eine Art Hohlform, in die hinein sich die Erfüllung gießen lässt. Der einzige Unterschied zum traditionellen Modell einer Messiasdogmatik besteht darin, dass man von pluralen und insgesamt weniger scharf konturierten Erwartungen ausgeht. In der Folge entstehen auch weiterhin Jesusbilder, die sich an einer solchen Messiasform abarbeiten. Auch die Echt- und Unechtheitsurteile über Jesu Worte werden gemäß dieser Erwartung gefällt. Das wird auch noch an Riesners Arbeit deutlich, wenn er feststellt, dass „die Freiheit gegenüber zeitgenössischen Vorstellungen“, die sich bei Jesus beobachten lasse, „auch seine Stellungnahme zur Messiasfrage charakterisiert.“7 An dieser Aussage merkt man, dass seine Dissertation noch stark von den Fragestellungen und Ausgangspositionen der „Second Quest“ geprägt ist, d.h. die Originalität Jesu gegenüber dem zeitgenössischen Judentum sowie die Abgrenzung gegenüber allem, was unter „Gemeindebildung“ subsummiert werden konnte, waren die beiden Echtheitskriterien, die festlegten, was mit einiger Gewissheit über den historischen Jesus gesagt werden durfte. Der Entwurf Riesners, dem es letztlich darum ging, einem besseren Verständnis Jesu als „messianischem Lehrer“ zu dienen, ist im Unterschied zur damals üblichen Kriterienfrage methodisch von dem geprägt, was dann als „Third Quest“ populär wurde, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Für Riesner legt das zeitgenössische Judentum (bzw. das, was die Mehrzahl der Forscher als möglich innerhalb des palästinischen Judentums zur Zeit Jesu annimmt) nicht von vornherein fest, was über Jesus ge6 7

KARRER, Art. Messias/Messianismus IV, 1151f. RIESNER, Jesus, 299.

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sagt werden darf. Das ist eine wichtige Einschränkung, denn die Gefahr der „Third Quest“ ist, dass nun eben ein jüdisches Referenzsystem zugrunde gelegt wird (das zwar nicht mehr „Dogmatik“ heißt, aber im Grunde genommen in derselben Weise fungiert), das darüber bestimmt, was historisch von Jesus gesagt werden kann und was nicht. Dabei werden m.E. zwei Fehler gemacht, ein historischer und ein theologischer: 1. Historisch: Wir überschätzen unsere Möglichkeiten, die Vielfalt jüdischen Denkens aufgrund der uns erhaltenen Quellen zu rekonstruieren, und – was schwerer wiegt – einzugrenzen. Wir können aufgrund dessen, was erhalten ist, mit einiger Wahrscheinlichkeit rekonstruieren, was möglich war. Aber wir sind nur sehr begrenzt in der Lage abzuschätzen, was darüber hinaus existierte und eben auch noch möglich war. Die nicht-biblischen Texte aus den Höhlen am Toten Meer sind dafür beredtes Zeugnis: Vor ihrer Veröffentlichung war die sich darin abzeichnende messianische Vielfalt nicht wirklich vorstellbar.8 Sie zeigen zugleich, dass relativ kleine Gruppen eigene Traditionen über lange Zeit entwickeln und pflegen konnten, die für die Anhänger einer solchen speziellen Lehrtradition eine wichtige Bedeutung hatten. Wiederum: Ob und gegebenenfalls welche anderen Gruppen mit speziellen Lehrtraditionen es gab, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Ein weiterer Handschriftenfund kann hier Vieles verändern. 2. Theologisch: Der theologische Fehler liegt darin, dass nicht mit der Möglichkeit gerechnet wird, dass Gott etwas Neues schafft.9 Wenn das in der Tradition Vorhandene den Rahmen dafür abgibt, was als historisch möglich angesehen wird, dann kann es keine historischen Überraschungen geben, dann kann es letztlich auch nichts Neues geben, das über den bisherigen Rahmen hinausreicht. „Neues“ ist dabei nicht in einem absoluten Sinn zu verstehen. Gott handelt nach dem biblischen Zeugnis nicht willkürlich, sondern so, dass es verstanden werden kann, d.h. Gottes Handeln bewegt sich im Rahmen einer Traditions- und Verheißungsgeschichte, die nicht beliebig variierbar ist. Aber zugleich ist Gottes Handeln geprägt von überraschenden Entwicklungen, deren Verankerung in der Traditions- und Verheißungsgeschichte sich vollständig erst im Nachhinein erschließt.10 Eine letzte Vorbemerkung: Zu der Zeit, als Riesners „Jesus als Lehrer“ entstand, wurde in der deutschsprachigen Exegese das messianische Selbst8 Als zusammenfassende Darstellung vgl. ZIMMERMANN, Texte, passim; über die mögliche Vielfalt und die begrenzten Quellen s. auch HENGEL, Jesus der Messias Israels, 41. 9 Einen guten ersten Überblick über das Neue im Handeln Gottes, verstanden als „etwas wirklich Neue[s], vorher noch nicht Vorhandene[s] und doch irgendwie geboren aus der Mitte dessen, was bereits bestand“ (a.a.O., 775), bietet NORTH, Art. ‫ ָח ָדשׁ‬, bes. 771ff.; über das Neue als „theologischer Wert“ s. a.a.O., 771; außerdem BETZ, Neues und Altes, 288– 292, der besonders auf Jes 43,18f. als Prätext von Mt 13,51 hinweist. 10 Zu Jesus als Ausnahme s. HENGEL, Jesus der Messias Israels, 29f.; DEINES, Jewish Traditions, 100f.; MILBANK, Christ the Exception; BILDE, Originality.

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verständnis Jesu vielfach bestritten. Daran hat sich, zumindest wenn man Heinz-Wolfgang Kuhn folgt, bis heute nicht wirklich etwas geändert; es werde „fast allgemein verneint“.11 Man darf aber dieses „fast allgemein“ guten Gewissens zumindest doch in Tübingen in Frage stellen. Im Folgenden gehe ich darum davon aus, dass Jesus sich selbst als den von Gott zur Rettung seines Volkes gesandten Messias verstand, und versuche von da aus Möglichkeiten aufzuzeigen, besonders seinen Umgang mit der Schrift im Kontext seiner jüdischen Mitwelt zu verstehen.12

B. Die neutestamentlichen Texte als Zeugnisse frühjüdischer Messiaserwartungen Wenn es keine eigentliche Messiasdogmatik gibt, sondern nur durch bestimmte biblische (alttestamentliche) Texte inspirierte Erwartungen im Hinblick auf eine von Gott gesandte bzw. autorisierte Gestalt, die Gottes Willen und Herrschaft in einer neuen, heilsgeschichtlich einschneidenden Weise zur Geltung bringt, dann können und müssen frühjüdische Texte, die den Messias zum Thema haben, zunächst als selbständige und gleichwertige Fortschreibungen bzw. Interpretationen der biblischen Texte analysiert werden. Für die Frage nach Jesus im Kontext frühjüdischer Messiaserwartungen bedeutet das, dass jede einzelne Schrift des Neuen Testaments in diesem Sinn als ein frühjüdisches Dokument zu behandeln ist. Alle Einzeltexte des NT mit Ausnahme des dritten Johannesbriefs verwenden das Wort χριστός mit Bezug auf Jesus, der damit als „Messias“ identifiziert wird. Selbst wenn der titulare Gebrauch nicht mehr immer mitgehört wurde, ist er doch ursprünglich immer damit verbunden.13 Alle 530 Belege für χριστός im NT beziehen sich direkt oder indirekt auf Jesus und bezeugen ihn mit diesem Titel als den Messias, dazu kommen die beiden Stellen Mk 13,22 par. Mt 24,24, wo ψευδόχριστοι dem wah-

11 KUHN, Überlegungen, 423. Auch KARRER, Art. Messias/Messianismus IV, 1151, geht davon aus, dass „ein vorösterlicher Ursprung des christl. Messianismus umstritten bleiben“ wird und darum nicht als Ausgangspunkt innerhalb der Jesusforschung herangezogen werden sollte. Das ist ein seltsames Verständnis von Wissenschaft: Wenn etwas umstritten ist, dann gewinnt die skeptische Position, weil nur noch von ihr ausgegangen werden darf? Das bedeutet am Ende, dass eine kohärente Darstellung von Jesus als Messias Israels nicht mehr möglich ist. 12 Die beste Zusammenfassung der Tübinger Tradition, die von Jesus als dem „messianische[n] Offenbarer“ ausgeht und in der die Ansätze von Otto Betz und Hartmut Gese ebenso aufgenommen sind wie die von Martin Hengel, ist der erste Band von STUHLMACHER, Biblische Theologie. Zu Hengel s. außerdem DEINES, Pre-existence, passim. 13 HENGEL, Jesus der Messias Israels, 3 u.ö.

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ren Messias Jesus gegenüberstehen.14 Dass seit den 40er-Jahren des ersten Jahrhunderts die Anhänger Jesu als Χριστιανοί bezeichnet wurden, als „Leute des Christus“ bzw. „Leute des Gesalbten“ (Act 11,26), verweist ebenfalls auf den grundlegenden Charakter des Messiasbezugs bei der Formierung der früh- oder protochristlichen Identität.15 In der auf die Anfänge der Jerusalemer Gemeinde zurückgehenden „Lehrformel“ (Stuhlmacher) 1Kor 15,3b–5 ist Χριστός (artikellos, wie auch alle nachfolgenden Namen) die einzige Bezeichnung für Jesus, d.h. für die Jerusalemer Gemeinde war in diesem Titel alles enthalten.16 Zudem erinnert das NT als Sammlung von Schriften seine Leser von Anfang an daran, dass „Christus“ ein Titel ist, auf den es Jesus und seinen Zeitgenossen nach dem Zeugnis aller vier Evangelisten entscheidend ankam.17 Man kann hier alle vier Evangelien durchgehen, und es wäre immer dasselbe: An den entscheidenden Punkten wird auf den Messiastitel verwiesen. Auf ihn laufen die Erzählfäden und Entwicklungslinien zu, und von den damit ausgezeichneten Wendepunkten entfaltet sich das Weitere: – Die Evangelienanfänge: Mk 1,1; Mt 1,1; Joh 1,17 (mit der Erklärung des Titels in 1,41). Im Lukasevangelium taucht der Christustitel erstmals in 2,11 auf, aber die gesamte Vorgeschichte, besonders die hymnischen Teile, verweisen auf messianische Prätexte. 14

Die einzigen Stellen, an denen auf der Erzählebene eher allgemein vom Messias die Rede ist, sind Mt 2,4; 22,42 (parr. Mk 12,35; Lk 20,41); Lk 3,15; Joh 1,20.25; 3,28; 4,25; 7,27.31.41f.; 12,24; auf der literarischen Ebene besteht jedoch kein Zweifel, dass damit auf den Messias Jesus verwiesen wird. 15 Vgl. dazu STUHLMACHER, Gottesknecht, 131; HENGEL/SCHWEMER, Jesus, 27 („Messiasleute“). „Früh- bzw. protochristlich“ ist hier in demselben Sinne verstanden wie „frühpharisäisch“ oder „protorabbinisch“ als Bezeichnung für die formative Anfangsepoche einer innerjüdischen Bewegung, d.h. konkret für die Angehörigen des zeitgenössischen Judentums, die Jesus für Israels Messias hielten. Sie bilden den Anfang jener Bewegung, an deren Ende das Christentum als eine vom Judentum unterscheidbare Religion steht. 16 In 1Kor 15 erwähnt Paulus den Namen Jesus („in Christus Jesus, unserem Herrn“) erstmals in V. 31, davor verwendet er in diesem Kapitel ausschließlich Χριστός: je einmal in jedem Vers von 12–20, und danach noch je einmal in V. 22f. Ein weiterer mit alleinigem Χριστός gebildeter bekenntnisartiger Satz ist 1Kor 10,16; vgl. außerdem Röm 5,6.8; 6,8 u.ö. Die häufigste Bezeichnung für Jesus bei Paulus ist Christus ohne weitere Benennung, daneben schätzt er vor allem im Eingangs- und Schlussteil seiner Briefe den vollen Titel „(unser) Herr Jesus Christus“: Röm 1,4.7; 15,30; 16,24 (4 von 12 Belegen; ein Teil der übrigen Belege markiert Abschnitte innerhalb des Briefes, so 5,1.21; 6,23; 7,25; 8,39; 15,7); 1Kor 1,2.3.7.8.9.10; 15,31.57 (8 von 10 Belegen); 2Kor 1,2.3; 13,13 (3 von 5 Belegen); Gal 1,3; 6,14.18 (alle 3 Belege); „Kyrios Christus“ kommt dagegen nur in Röm 16,18 vor, auch Jesus allein bzw. Kyrios Jesus sind relativ selten. 17 A.Y. COLLINS, Messiah, 21: “The Synoptic Gospels present Jesus emphatically as the Messiah of Israel, although the character and work of the holder of that office are reinterpreted in relation to Jewish texts from the Second Temple period.” Der zweite Satzteil setzt allerdings ebenfalls eine gewisse Abgrenzung der ‚christlichen‘ von den jüdischen Texten voraus. Zu Johannes s. COLLINS/COLLINS, King, 175–203 („Messiah, Son of God and Son of Man in the Gospel and Revelation of John“).

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– Die Geburtsgeschichten sind Messiasgeschichten: Mt 1–2 (der Messiastitel ist ausdrücklich in 1,1.16.17.18; 2,4 genannt, dazu kommen die direkten Hinweise auf David in 1,1.6.17.20 und die messianisch gedeuteten Texte Jes 7,14; Mi 5,1–3, abgeschlossen mit dem Hinweis auf die „Spross“-Verheißung Jes 11,1, die mit dem Ortsnamen Nazareth in Verbindung gebracht wird [s. dazu unten]); Lk 1,26–2,40 (mit Verweisen auf den Messias in 2,11.26, dazu auch hier die direkten Hinweise auf David in 1,27.32.69; 2,4.11, sowie auch hier die Betonung Nazareths in 1,26; 2,4.39; die Ortsangabe bildet eine Inclusio, durch die Bethlehem [2,4.15] und Jerusalem [2,22.25.38] umschlossen werden).18 – Die Abgrenzung vom Messiasanspruch des Täufers: Lk 3,15f.; Joh 1,19–34. – Das Messiasbekenntnis des Petrus als erzählerische Wende der synoptischen Evangelien (Mt 16,13–20; Mk 8,27–30; Lk 9,18–21; vgl. Joh 6,67–69: „du bist der Heilige Gottes“). – Das Messiasbekenntnis Jesu im Verhör durch den Hohenpriester (Mt 26,63f.; Mk 14,61f.; Lk 22,67, s. auch 23,2). Auch in der Verleugnungsszene durch Petrus kann mit der Bezeichnung von Jesus als Nazoräer (Mt 26,71) bzw. Nazarener (Mk 14,67) auf seine Identität als davidischer Messiasanwärter verwiesen sein. – Die Ironisierung der königlichen Messiaswürde bei der Verspottung (Mt 27,28–31; Mk 15,16–20; Joh 19,2f., außerdem Mt 27,17; Mk 15,9; Joh 18,39) und Kreuzigung Jesu (Mt 27,37; Mk 15,26; Lk 23,38; Joh 19,19–22; bei Johannes steht auf dem Kreuzestitulus neben dem Königstitel auch der des Nazoräers). Nach Hengel durchzieht „die Messiasfrage im Grunde in allen Evangelien die ganze Passionsgeschichte wie ein roter Faden.“19 – Auch Lk 24 ist ein bemerkenswertes Kapitel im Hinblick auf das messianische Verständnis Jesu. Es ist, als hätte Lukas hier noch einmal alles zusammengefasst, was s.E. zu Jesus als Messias nötig zu wissen ist: Bevor der Auferstandene selbst auftritt (ab V. 15), wird er in V. 3 als Kyrios Jesus und in V. 7 als Menschensohn bezeichnet, womit die wichtigsten vorösterlichen Würdenamen für Jesus wiederholt werden. Lk 24,3 kann dabei als Inclusio mit Lk 2,11, der Botschaft des „Engels des Herrn“ (2,9) an die Hirten, gelesen werden: ὅτι ἐτέχθη ὑµῖν σήµερον σωτὴρ ὅς ἐστιν χριστὸς κύριος ἐν πόλει ∆αυίδ. Was mit der Geburt „des Messias, des Herrn in der Stadt Davids“ begonnen hatte, endete – allem Anschein zum Trotz – nicht mit der Grablegung des „Herrn Jesus“. Der Messias, der „in der Stadt Davids“ geboren wurde, ist der „Retter“ – wenngleich in einer anderen Weise als vielfach erwartet, wie es das Kapitel Lk 24 nachfolgend entfaltet. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Rede des Kleopas, der weithin als Onkel Jesu (als Bruder von Joseph) angesehen wird.20 Er nennt Jesus den Nazoräer, eine prophetische Gestalt, mächtig in Wort und Tat vor Gott und allem Volk, auf dem 18

Zu den davidisch-messianischen Elementen, die sich judenchristlicher Tradition verdanken, vgl. STUHLMACHER, Immanuel, 13–22 u.ö.; zur historischen Frage des Geburtsortes Jesu s. RIESNER, Bethlehem, 479–498; PUIG I TÀRRECH, Birth of Jesus, 378–397. 19 HENGEL, Jesus der Messias Israels, 48f.; zum Kreuzestitulus s. a.a.O., 52f. 20 Vgl. BAUCKHAM, Jude, 16f.51; HENGEL, Lukasprolog, 292f. Die Information geht auf Hegesipp zurück und ist bei Eusebius überliefert (HE 3.11; 3.32.6; 4.22.4); s. dazu auch PIXNER, Wege des Messias, 358–364 („Simeon Bar-Kleopha, der zweite Bischof Jerusalems“); RIESNER, Emmaus-Erzählung, 169–177.

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Roland Deines die Hoffnung ruhte, dass er Israel erlösen (λυτροῦσθαι) würde. Das ist die Familientheologie des Jesusclans in nuce: Der erwartete Davidide („Nezer“) ist eine prophetische Gestalt mit wunderhaften Kräften und Kenntnissen, die ihn zum Erlöser Israels befähigen.21 Dieser Familienhoffnung begegnet der ,fremde‘ Weggefährte mit dem Vorwurf, unverständig und verhärtet zu verkennen, was „die Propheten gesagt hätten“, dass nämlich „der Messias dieses erleiden und zu seiner Herrlichkeit eingehen musste“ (24,26; ebenso V. 46). Daraufhin erfolgt der summarische Hinweis auf die Darstellung seines Geschicks, „angefangen bei Moses und von allen Propheten aus“ (24,27), die in V. 46 (wieder mit dem Christustitel) noch einmal aufgenommen und mit Blick auf die Mission (V. 47) ausgeweitet wird. Die Ursachen des Konflikts Jesu mit seiner messianischen Herkunftsfamilie lassen sich hier in Umrissen erkennen. Während die Familie einen siegreichen Befreier erwartet, geht Jesus – auf Grund eines veränderten Deutens der Schrift – den Weg eines leidenden Erlösers.

Versteht man darum die neutestamentlichen Schriften historisch sachgemäß zuallererst als Quellen frühjüdischer Frömmigkeit (und nicht schon als christliche Texte), dann gelten sachlich dieselben Kriterien wie etwa für die Qumrantexte oder andere frühjüdische Schriften, die sich zum Messias äußern. Die Aufgabe besteht dann zunächst darin festzustellen, was dieser einzelne Text zum Thema frühjüdischer Messiashoffnung beiträgt. Das ist aber weithin nicht der Fall.22 Wenn es darum geht, die frühjüdischen Messiaserwar– tungen darzustellen, wird der Bogen von der LXX über Qumran bis zu Bar Kochba und der frührabbinischen Zeit geschlagen (d.h. vom 3. Jh. v.Chr. bis zum 2. Jh. n.Chr.), aber die neutestamentlichen Schriften kommen darin in der Regel nicht vor.23 Die frühjüdischen Belege werden zudem dargestellt, 21

RIESNER, Emmaus-Erzählung, 157, macht darauf aufmerksam, wie Lukas mit dieser Wendung auf den Anfang zurückweist: Auch der Priester Zacharias (Lk 1,68) und die Prophetin Hanna (2,38) warteten auf die λύτρωσις Israels, wobei für Lukas Zacharias zum erweiterten Verwandtenkreis Jesu gehörte; das hebräische Äquivalent zu „Erlösung“ (‫)גְּ ֻא לָּה‬ taucht auf den Münzen des ersten Jahres des Bar-Kochba-Aufstandes auf („Jahr eins der Erlösung Israels“), womit die messianische Befreiung gemeint ist; vgl. KÜCHLER, Jesus, 328, der ausdrücklich die Parallele zum lk Sprachgebrauch zieht. 22 Der Satz von RICHARD BAUCKHAM in der Einleitung seines Aufsatzbandes ist längst noch nicht so selbstverständlich, wie er annimmt: “Most New Testament scholars would now agree that the New Testament writings belong wholly within the Jewish world of their time. However much some may be in serious conflict with other Jewish groups, these disagreements take place within the Jewish world. […] Jesus for them is the Messiah of Israel and the Messiah also for the nations only because he is the Messiah of Israel” (Jewish World, 1); vgl. dazu auch HENGEL/SCHWEMER, Jesus, 21: „Daß das Urchristentum auf jüdischem Mutterboden gewachsen ist, bezweifelt heute wohl kein christlicher Theologe mehr. Fraglich wird dieser Konsens jedoch, wenn man nur ein Wörtchen hinzusetzt: daß es ganz aus dem Judentum hervorging.“ 23 Beispiele sind STEMBERGER, Art. Messias/Messianische Bewegungen II, wo das NT nur in einer Nebenbemerkung erwähnt wird (623). Auch in FABRY/SCHOLTISSEK, Messias, 42f., sind AT und Frühjudentum dem NT gegenübergestellt und entsprechend findet sich dann die Frage, ob die Vorstellung einer Präexistenz des Messias „im Kontext der frühjüdi-

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ohne dass über ihre „Jüdischkeit“ geurteilt wird, d.h. sie werden nicht an einem bestimmten Maßstab dessen, was als jüdisch gilt, gemessen, sondern repräsentieren in selbstverständlicher Weise Formen jüdischer Messiaserwartung für eine bestimmte Gruppe (allerdings in der Regel mit einem über die Gruppe hinausreichenden allgemeingültigen Anspruch) zu einer bestimmten Zeit. In der Analyse etwa der Psalmen Salomos 17 und 18 wird diskutiert, wie sich diese zu anderen messianischen Vorstellungen verhalten, aber sie müssen – anders als dies bei neutestamentlichen Aussagen der Fall ist – ihre Legitimität als genuine frühjüdische Messiashoffnung nicht ständig überprüfen lassen. Für ein wirklich historisches Arbeiten ist das eine zu überwindende Barriere, wenn es stimmt, dass „der neutestamentliche Messiasglaube […] eine bestimmte Ausformung des frühjüdischen Messianismus“ darstellt.24 Das Ziel ist darum, die neutestamentlichen Schriften ähnlich wie die Qumrantexte als die literarische Hinterlassenschaft einer jüdisch-messianischen Bewegung oder Sekte des ersten Jahrhunderts anzusehen, aus der man etwas über die messianischen Überzeugungen und Erwartungen lernen kann, die im Judentum dieser Zeit möglich waren. D.h. bevor die einzelnen neutestamentlichen Schriften Teil der christlichen Bibel wurden und kanonischen Status erlangten, waren sie – jede für sich, aber auch als vielfach miteinander verbundene Schriftengruppe – Teil der jüdischen Religions- und Literaturgeschichte des ersten Jahrhunderts.25 Das wiederum hat auch Einfluss auf die Echtheitskriterien in der Jesusforschung: Das Differenzkriterium als das Kennzeichen der Second Quest und das Kohärenzkriterium als das der Third Quest sind im Grunde nur anwendbar, wenn man die Worte Jesu (bzw. die mit ihm verbundenen neutestamentlichen Aussagen) als zumindest potentiell außerhalb dessen, was als jüdisch definiert wird, ansehen kann. Im Falle des Differenzkriteriums gilt dabei die Unabhängigkeit von jüdischer Tradition als Echtheitskriterium (allerdings nur eingeschränkt, weil zugleich die Differenz gegenüber der vorausgesetzten christologischen Entwicklung der frühen Kirche zu beachten ist), im Falle des Kohärenzkriteriums dagegen als Unechtheitskriterium. Geht man dagegen davon aus, dass die neutestamentlichen Schriften Teil der frühjüdischen Religions- und Literaturgeschichte sind, dann lassen sich weder das Differenz- noch das Kohärenzkriterium in der bisherigen Weise anwenden. 26

Es ist die besondere Wirkungsgeschichte der Schriften, die später zum Neuen Testament wurden, die dazu führte, dass sie eine doppelte historische Zugeschen und rabbinischen Messiasvorstellungen möglich“ ist. Diese Fragerichtung setzt voraus, dass die neutestamentlichen Aussagen nicht zum Frühjudentum gehören. 24 THOMA, Messiasprojekt, 134. Das bedeutet keine Zustimmung zu allen weiterführenden theologischen Überlegungen von Thoma (etwa a.a.O., 140f.). 25 HENGEL, Schrifttum, 217–232, vgl. zudem FRANKEMÖLLE, Wurzeln, 57–71. 26 Zur zunehmenden Diskussion über die Brauchbarkeit der etablierten Kriterien zur Eruierung der authentischen Jesusüberlieferung s. HÄGERLAND, The Future of Criteria, passim; DERS., Jesus and the Scriptures, 4–20; KEITH, Jesus’ Literacy, 35–47; DERS./LE DONNE (Hgg.), Jesus, Criteria, and the Demise of Authenticity.

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hörigkeit zur jüdischen und christlichen Literatur- und Religionsgeschichte besitzen: „Jesus lebte, dachte, wirkte und starb als Jude. Es ist eines der wichtigsten Ergebnisse von 200 Jahren moderner Jesusforschung, dass er zwei Religionen angehörte: dem Judentum, dem er von ganzem Herzen anhing, und dem Christentum, dessen zentrale Bezugsgestalt er nach seinem Tod wurde – und zwar aufgrund von Deutungen seiner Person, die ihm seine jüdischen Anhänger gaben.“27

Daraus resultiert auch die Sonderstellung der neutestamentlichen Schriften innerhalb der Wissenschaftsgeschichte, auch wenn sie bis in die jüngste Vergangenheit weithin ausschließlich als christliche Texte wahrgenommen wurden. Dies ist die Folge dessen, wie sie spätestens seit dem zweiten Jahrhundert eben auch verwendet wurden: nämlich als christliche Beweistexte im Gespräch insbesondere mit Juden, aber darüber hinaus auch paganen Gesprächspartnern,28 dass der von den Christianoi verehrte Messias Jesus der in Gesetz, Propheten und Schriften verheißene und vom jüdischen Volk erwartete Messias ist. D.h. Traditionen und Texte, die ursprünglich einer sich dem biblischen und jüdischen Selbst- und Weltverständnis verbundenen Gruppe zur Orientierung dienten,29 wurden wenige Jahrzehnte später von sich nun als christlich verstehenden Autoren in der Auseinandersetzung gegen und zur Abgrenzung vom zeitgenössischen Judentum gebraucht. Dadurch geriet die ursprünglich gegebene sachliche Zugehörigkeit der neutestamentlichen Schriften zur jüdischen Literatur- und Religionsgeschichte erst in den Hintergrund und dann weitgehend in Vergessenheit.

27

THEISSEN, Religion, 49; s. dazu auch MORGAN, Jesus. So schreibt Laktanz in seiner Auseinandersetzung mit Hierokles, der den Wunderbeweis für die Göttlichkeit Jesu durch den Vergleich mit Apollonius von Tyana zu relativieren suchte, dass Christen „nicht deshalb glauben, er sei Gott, ,weil er Wundertaten vollbrachte‘, sondern weil wir in ihm alles erfüllt gesehen haben, was uns durch die Vorhersage der Propheten angekündigt wurde. […] Nicht aufgrund seines eigenen Zeugnisses also […], sondern aufgrund des Zeugnisses der Propheten, die alles, was er tat und erlitt, weit im Voraus verkündeten, hat er den Glauben an seine Göttlichkeit erlangt“ (Divinae institutiones 5.3.18–21; zit. nach FIEDROWICZ, Christen und Heiden, 93). Zur Notwendigkeit der Christen, sich gegenüber der römischen Welt “as a religion worthy of acknowledgment and respect” auszuweisen und dem dafür herangezogenen Weissagungsbeweis (der zugleich als Altersbeweis dienen konnte) s. STEPPA, Reception, 114: “[…] the justification of Christianity rested on the fulfillment of the ancient Jewish prophecies in Jesus Christ.” 29 Diese umständliche Beschreibung versucht zu umschreiben, was m.E. unscharf häufig als „innerjüdisch“ benannt wird. Bei letzterem Begriff ist die Zugehörigkeit zum Judentum in der Regel genealogisch bestimmt, d.h. „jüdisch“ meint überwiegend die biologisch begründete Volkszugehörigkeit. Die ersten 30 bis 40 Jahre der Jesusbewegung sind jedoch durch das Überschreiten dieser ethnisch bestimmten Grenzen markiert, ohne dass damit der Anspruch und das Selbstverständnis aufgegeben worden sind, Teil und Fortsetzung der biblischen Verheißungs- und Erlösungsgeschichte zu sein. 28

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Schon der heidnische Philosoph Kelsos erkannte um 180 in der Messiasfrage einen zentralen Konfliktpunkt zwischen „Christen und Juden“. Genauer ging es um die Frage, „ob der Verkündigte gekommen ist oder nicht“ (Contra Celsum 3,1).30 Noch früher ist Justin der Märtyrer, in dessen „Dialog mit dem Juden Tryphon“ die Schriftauslegung in Bezug auf den Messias das unterscheidend Kennzeichnende ist.31 Wie bei Kelsos geht es auch hier darum, ob Jesus der in den biblischen Schriften verheißene Messias ist oder nicht. Unterschiedliche Auslegungen derselben Schriften markieren damit sowohl das Trennende als auch das bleibend Verbindende.

C. Parallel-Lektüren der Heiligen Schriften Zu einem angemessenen Verständnis der neutestamentlichen Texte als Zeugen frühjüdischer Fortschreibungen biblischer Tradition gehört weiter, die damit verbundenen genealogisch-traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen kritisch zu hinterfragen.32 Denn häufig werden, wenn es darum geht, Vorbzw. Traditionsgeschichte des neutestamentlichen Messiasverständnisses zu erheben, die frühjüdischen Traditionen den neutestamentlichen zeitlich und sachlich vorangestellt. Damit ist impliziert, dass Jesus bzw. die neutestamentlichen Autoren nicht nur die biblischen Texte als Anknüpfungspunkte zur Verfügung hatten, sondern auch mit bestimmten frühjüdischen Weiterentwicklungen in irgendeiner Form vertraut waren, so dass sie daraus – vor die Aufgabe gestellt, ihren Glauben an Jesus als den Messias Israels zu formulieren (bzw. im Fall Jesu sein eigenes messianisches Selbstverständnis) – gleichsam das ihnen geeignet Erscheinende auswählen konnten. Beispielhaft schreibt Fabry, dass das Neue Testament „durch das schemenhafte Messiasbild durchgefunden“ hat „zur menschlichen Personalisierung und Individualisierung des Messias. Dazu bedurfte es des Kraftaktes der Reformulierung frühjüdischer Messiasvorstellungen. […] Durch Selektion und Innovation

30 Zu diesem Text s. LONA, Die ‚Wahre Lehre‘ des Kelsos, 178. Der christliche Schriftbeweis wird von Kelsos wiederholt angegriffen und ins Lächerliche gezogen (vgl. 1,49.57; 2,28–29; 4,2; 7,12.14.15.18). Auch in dem verloren gegangenen Dialog zwischen einem Juden und einem Christen, Papiskos und Jason, von dem Kelsos angibt, ihn zu kennen (4,52), geht der Streit „über prophetische Texte, die der eine auf Jesus als den Messias beziehen will, während der andere das ablehnt“ (a.a.O., 250). Leider ohne Kommentar bleibt bei Lona die Bezeichnung für Jesus als „der ,Nazoräische‘ Mensch“ (ὁ Ναζωραῖος ἄνθρωπος 7,18) in einem Kontext, in dem Kelsos über Jesus als den von Mose und den Propheten vorhergesagten Sohn Gottes polemisiert. 31 HEID, Messianologie, 219–229; vgl. auch HENGEL, Zeloten, 299f. 32 Zu einer Kritik der genealogisch orientierten Traditionsgeschichte s. SEELIG, Religionsgeschichtliche Methode, 158–172.279f.325–327.

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entsteht ein neues Messiasbild.“33 Scholtissek übernimmt diese Perspektive, wenn er festhält, dass „eine Entwicklung systematischer Messiaskonzeptionen insgesamt nicht erkennbar“ ist und „kein unmittelbarer, geradliniger Weg von den uneinheitlichen jüdischen Messiaserwartungen zu ihrer ‚Erfüllung‘ in Jesus Christus führt.“ Einen wichtigen Anknüpfungspunkt habe die „Davidisierung“ der messianischen Erwartungen seit der römischen Eroberung geboten: Diese „zur Verfügung stehende eschatologische Erwartung“ sei in den neutestamentlichen Schriften „in Kontinuität und Diskontinuität […] neu konturiert“ und „durch die Rezeption weiterer Stränge messianischer Hoffnungen aus dem Frühjudentum […] angereichert“ worden.34 Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass die späteren jüdischen Texte die biblischen Schriften nahezu immer direkt und ohne vermittelnde Zwischenstufen voraussetzen (sieht man einmal von der Übersetzung ins Griechische bei einem Teil der neutestamentlichen Autoren ab). Biblische Texte werden zitiert, aber nur ganz selten irgendwelche anderen. Man kann davon ausgehen, dass Jesus und seine Zeitgenossen sowie die neutestamentlichen Autoren regelmäßig biblische Texte hörten, lasen und einzeln oder gemeinsam rezitierten. Dass sie daneben auch noch von den frühjüdischen Schriften Kenntnis hatten, lässt sich dagegen nur in Ausnahmefällen und immer nur für einzelne Texte wahrscheinlich machen.35 Für das Frühjudentum sind darum als Hauptquellen religiöser Erkenntnis und Erfahrung primär die biblischen Schriften zu bestimmen, an denen die einzelnen Gruppen und Traditionen gleichzeitig und unmittelbar partizipierten. Es geht darum auch in der Messiaserwartung weniger um eine Traditions- als vielmehr um eine Parallelgeschichte: Im 2. und 1. Jh. v.Chr. haben verschiedene Gruppen dieselben Texte gelesen, ausgelegt und auf ihre eigene Gegenwart angewandt, wobei gruppen- und familienspezifische Erfahrungen die Rezeption nachhaltig beeinflusst haben. Dass geschah gewiss nicht in völliger Isolation voneinander, aber eben auch nicht in einem chronologischen Nacheinander. Darum ist es problematisch, die protochristlichen Messiasvorstellungen von den frühjüdischen abzusetzen oder diesen nachzuordnen. Sie sind diesen gleichzeitig, was umso mehr gilt, wenn die Vorstellungen, die das Leben und Wirken des Messias Jesus prägen, nicht erst mit ihm oder nach ihm entstanden, sondern zumindest in Teilen auf die Traditionsentwicklung in einem messianischen Davidsclan zurückgeht, der seit dem 1. Jh. v.Chr. in Galiläa beheimatet war, aber möglicherweise noch älterer Herkunft ist.

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FABRY/SCHOLTISSEK, Messias, 104 (Hervorhebung R.D.). FABRY/SCHOLTISSEK, Messias, 105f. Zur Kritik an dieser weit verbreiteten Position s. DEINES, Jewish Traditions, 115–118. 35 STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 6; DESILVA, Jewish Teachers. 34

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D. Die notwendige Bezogenheit des Messias auf Israels Heilige Schriften Trotz des Fehlens einer einheitlichen Messiaserwartung in der Zeit ab dem 2. Jh. v.Chr. gibt es eine wichtige Konstante in den verschiedenen Zukunftsentwürfen (und Verwirklichungen in der jeweiligen Gegenwart): Alle Texte, die das Kommen eines Messias bzw. einer zukünftigen Helfer- und Rettergestalt ankündigen oder beschreiben, tun dies unter impliziter oder expliziter Verwendung einer relativ begrenzten Anzahl von biblischen (alttestamentlichen) Texten.36 Weil die biblischen Schriften vom Messias reden und dieser nur aufgrund derselben erwartet wurde, konnte keiner, der sich selbst als Messias verstand oder für den Messias gehalten werden wollte, ohne Beziehung zur Schrift sein. Das zeigt sich an den frühjüdischen Texten, die eine messianische Erwartung beinhalten, sowie an den mehr oder weniger erfolgreichen Verwirklichungen der Messiaserwartung durch einzelne Personen. I. Davidische Restaurationshoffnungen nach dem Exil Die früheste, historisch fassbare Person, die mit messianischen Erwartungen verbunden wurde, war mit einiger Wahrscheinlichkeit der Davidide Serubbabel und erste Statthalter37 der Rückkehrer von Babylon nach Jerusalem. Ihn hat schon der nachexilische Prophet Haggai „als Messias designatus verkündigt“ (Hag 2,23; vgl. 1Chr 3,19).38 Bei Haggai ist er in den anfänglichen Prophetenworten immer zusammen mit dem Priester Jeschua und dem Volk genannt (Hag 1,1.12.14; 2,2.4). Dabei steht er jeweils an erster Stelle der dreiteiligen Aufzählungen (so auch Esr 2,2, wo er die Heimkehrerliste anführt; 36 Knappe Übersichten finden sich u.a. bei WASCHKE, Art. Messias/Messianismus II, passim; ausführlicher DERS., Wurzeln, passim. Für WASCHKE sind es „Königssalbung und Dynastiezusage“, die „die Voraussetzung und die Grundlage für die Ausprägung und Entwicklung messianischer Vorstellungen im Alten Testament“ bilden (Wurzeln, 99; vgl. dazu auch DERS., Verhältnis); OEGEMA, Der Gesalbte, 32–36 (hilfreiche tabellarische Übersicht); THOMA, Messiasprojekt, 113–122; FABRY/SCHOLTISSEK, Messias, 26–35; ZIMMERMANN, Texte, 46–48; J.J. COLLINS, Pre-Christian Jewish Messianism; COLLINS/COLLINS, King. 37 Nach Esr 1,8.11; 5,14–16 ist Scheschbazzar der erste Beauftragte von Kyrus. Er wird allerdings nirgends in den Heimkehrerlisten – wo an erster Stelle Serubbabel steht (Esr 2,2; Neh 7,7; 12,1) – oder sonst irgendwo erwähnt; lediglich in 5,14 ist er in Widerspruch zu 3,2 beim Altarbau vorausgesetzt. Es ist darum möglich, dass er mit Serubbabel identisch ist (nach POLA, Priestertum, 40, Anm. 8, ist dies vom Verfasser von Esr 5,14 vorausgesetzt) oder dieser ihn sehr schnell ersetzt hat; vgl. dazu GUNNEWEG, Esra, 48–50, und ausführlich POLA, a.a.O., 129–146, der die beiden voneinander unterscheiden will, aber auch in Scheschbazzar einen Davididen sieht. Für die Fortschreibung davidischer Herrscherhoffnungen in nachexilischer Zeit ist seine Studie grundlegend. 38 OEGEMA, Der Gesalbte, 43; RIESNER, „Gedeutete, konzentrierte Geschichte“, 110.

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außerdem noch in 4,2f.; 5,1f.), ist aber ansonsten in keiner besonderer Weise ausgezeichnet: Die Zusage der Gegenwart des Geistes Gottes und die zukünftige, universale Bedeutung des Tempels wird der gesamten Heimkehrergemeinde verheißen (Hag 2,5–9). Erst in 2,11 werden allein die Priester (und damit auch Jeschua) angesprochen, und in 2,14–19 ist es das Volk. Das Schlussorakel 2,20–23 gilt dagegen allein Serubbabel: Er ist der von Gott erwählte „Knecht“39 und der festgehaltene Siegelring, wenn Himmel und Erde erschüttert, Könige stürzen und Krieger im Kampf fallen werden (vgl. Sach 9,10). Die Sonderstellung des Davididen in einem universalen Gerichtsszenario ist damit hervorgehoben, auch wenn die Einzelheiten dunkel bleiben. Auch bei Sacharja, Haggais Zeitgenossen, ist Serubbabel neben Jeschua die am stärksten herausgehobene Gestalt: Er ist auch hier der „Knecht“, der als „Spross“ eindeutig in die Davidsverheißungen eingereiht ist (Sach 4,8; 6,12, vgl. Jer 23,5; 33,15). Ihm, nicht dem Priester Jeschua, wird die Vollendung des Tempelbaus zugeschrieben (Sach 4,7–10; 6,12f.), und er wird auf dem Thron in Jerusalem sitzen (6,13), mit einem gekrönten Priester zu seiner Rechten (6,11.13). Dass also mit Serubbabel zu seiner Zeit königliche Erwartungen (zu denen auch seine Aufgabe als Tempelerneuerer gehörten) verbunden waren, die über Jerusalem hinausreichten und eine kosmische Dimension besaßen, lässt sich ohne Zweifel festhalten, ebenso, dass dabei schon ältere biblische Motive auf ihn angewandt wurden.40 In diesem Zusammenhang ist auch Esr 3 von Bedeutung, wo über den Beginn des Tempelbaus berichtet wird: Beim Altarbau (Esr 3,2–6) unmittelbar nach der Heimkehr werden Jeschua und die Priester ein einziges Mal vor Serubbabel erwähnt, aber das dürfte vor allem auf die enge Zugehörigkeit der Priester zum Altar zurückzuführen sein. Überraschend ist vielmehr, dass „Serubbabel und seine Brüder“ hier überhaupt genannt werden; auffällig ist ferner, dass hier den Priestern die Davididen als Sippe gegenüberstehen. In Esr 3,8, dem Beginn des Berichts über den eigentlichen Tempelbau, steht Serubbabel wieder an erster Stelle. Das Besondere ist nun, dass in diesem Kapitel zweimal ausdrücklich auf biblische Prätexte verwiesen wird: Der Altar wurde gebaut, „wie es geschrieben steht im Gesetz des Mose, des Mannes Gottes“ (3,2, vgl. 6,18), und auch das anschließende Laubhüttenfest wurde gefeiert „wie es geschrieben steht“ (3,4). Bei der Grundsteinlegung des Tempels sangen die Priester „nach der Ordnung Davids, des Königs von Israel“ (3,10), d.h. dieses ganze Geschehen ist in biblische Farben getaucht. Serubbabel ist derjenige, der Gesetz und Psalter auf seiner Seite hat, und ebenso die Propheten, vertreten durch Haggai und 39

Die Bezeichnung Davids als „Knecht Gottes“ ist eng mit der Dynastiezusage verbunden: 2Sam 7,5.8.19–21.25–29; 1Reg 3,6–9: 8,24–30.66; 11,13.32f.36–38; 1Chr 17,4.7.17– 19.23–27; 2Chr 6,15–21.42 (hier ist „dein Knecht“ und „dein Gesalbter“ zusammen gebraucht; vgl. auch Ps 2,2; 18,51; 89,21; 132,10); Ps 18,1 u.ö. 40 Vgl. dazu u.a. TALMON, Waiting for the Messiah, 116.124f.

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Sacharja (Esr 5,1f.; 6,14). Über das Ende Serubbabels ist nichts bekannt und für die nächsten Jahrhunderte fehlen sichere Hinweise auf messianische Gestalten,41 aber seine Erwähnung in späteren Texten (besonders Sir 49,11f., außerdem Mt 1,12f.) zeigt, dass er als Tempelerbauer, Restaurator der Heimkehrergemeinde (der eine Kooperation mit den Samaritanern verweigerte, Esr 4,1–3) und davidischer Verheißungsträger in Erinnerung blieb. II. Die hasmonäische Familie als Retter Die nächsten Gestalten, die in messianischen Farben geschildert wurden, sind Angehörige der priesterlichen Hasmonäerfamilie, die das Geschick des judäischen Judentums von 167 v.Chr. bis zur Zeit des Herodes dominierten. In einer eindrucksvollen Studie hat der israelische Historiker Eyal Regev die Gründergestalten mit biblischen Epitheta charakterisiert: „Mattathias the Zealot“, der Vater der makkabäischen Brüder, der aus religiösem Eifer für den Bund Gottes mit seinem Volk (1Makk 2,20–22) den Aufstand gegen die Seleukiden auslöste.42 Er bestimmte seinen Sohn „Judah the Savior“ als Nachfolger, das ist Judas Makkabäus, durch den Gott sein Volk vor den Fremden rettete.43 Sein Bruder und Nachfolger war „Jonathan the Judge“ (1Makk 9,73)44, dem der letzte der Brüder, „Simon the Elected High Priest“, folgte. Seine Regentschaft wird in 1Makk 14,4–15 unter Verweis auf Ex 34,24; Sach 8,4f.12 als Erfüllung prophetisch-eschatologischer Erwartungen geschildert.45 “This ideal picture of pastoral prosperity and religious restoration almost bears messianic overtones.”46 Vom ganzen Volk werden seine Verdienste und die seiner Familie anerkannt und in einer bronzenen Inschrift verewigt, die „an Säulen auf dem Berg Zion“ (1Makk 14,26), d.h. im Bereich 41 Der Hohepriester Simon II., der ca. 218–192 v.Chr. amtierte, wird von Ben Sira in Sir 50,1–24 zwar „mit ,messianischen‘ Farben“ geschildert (so SCHWEMER, Jesus, 180), aber zugleich erwartet Ben Sira erst von der Zukunft die endzeitliche Restitution des ZwölfStämme-Volkes. SAUER, Jesus Sirach, 339, weist in seiner Auslegung darauf hin, dass der Hohepriester „herrschaftliches, ja beinahe königliches Ansehen“ genieße. Das bestätigt die Darstellung von Schwemer, wonach spätestens in dieser Zeit königliche, priesterliche und prophetische Traditionen als Teil der Messiaserwartung miteinander verbunden wurden. Zur Stelle s. auch OEGEMA, Der Gesalbte, 53–55. 42 REGEV, Hasmoneans, 107f.; zur Bedeutung des „Eifers“ als biblisches Motiv s. HENGEL, Zeloten, 150–229. 43 REGEV, a.a.O., 108–110; besonders zu 1Makk 3,3–6 und den biblischen Anspielungen s. a.a.O., 108, Anm. 20. Σωτηρία ist im Zusammenhang mit Judas Makkabäus gebraucht in 1Makk 3,6; 4,25.30.56; 5,62; s. außerdem 2Makk 11,6–12. 44 REGEV, a.a.O., 111f., zu den biblischen Anspielungen s. a.a.O., 111, Anm. 34. 45 REGEV, a.a.O., 113–117; die biblischen Anspielungen sind die bei LANGE/WEIGOLD, Quotations, 241, genannten. Für weitere mögliche biblische Bezüge s. GOLDSTEIN, „Messianic“ Promises, 77. 46 REGEV, a.a.O., 117.

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des Tempels, öffentlich zur Schau gestellt war. Sein Sohn und Nachfolger, „John Hyrkan the Prophet“ wurde nach Josephus (Bell 1,68f.; Ant 13,299) von Gott mit den drei höchsten Ämtern gewürdigt, „der Herrschaft über das Volk, der hochpriesterlichen Würde und der Prophetie.“47 Etwa zur gleichen Zeit erwarteten die Frommen in Qumran nach 1QS 9,11 drei “eschatological messianic leaders – king, high priest, and prophet.”48 Die relative Zurückhaltung, ihn bzw. die hasmonäische Familie stärker in einem messianischen Licht erscheinen zu lassen, hängt möglicherweise damit zusammen, dass die Herkunft aus dem Priestergeschlecht Jojarib weder den königlichen noch priesterlichen Erwartungen entsprach.49 Stattdessen sieht sich der Autor von 1Makk gezwungen, auf die Richter als Vorbild zu verweisen (vgl. 1Makk 5,62 mit Jdc 6,2), die ebenfalls für eine Interimperiode die von Gott erwählten Retter waren. In gleicher Weise sind die Hasmonäer für die Gegenwart, „bis zum Auftreten eines wahren Propheten“ (1Makk 14,41, vgl. auch 4,46), gleichsam Platzhalter für die eigentlich messianische Herrschaft. Sie bringen eine (kurze) Zeit der Erfüllung, ein kurzes Aufscheinen eschatologischen Heils. Ihre Darstellung in 1Makk ist dabei durchweg in „biblischen“ Farben geschildert als eine von Gott erwählte und begabte Familie. Das wird nicht zurückgenommen, auch wenn die hasmonäische Heilszeit dann sehr schnell

47 REGEV, Hasmoneans, 117f.; SCHWEMER, Jesus, 187f.; s. ferner THOMA, Messiasprojekt, 125–131; HENGEL, Jesus der Messias Israels, 44; FABRY/SCHOLTISSEK, Messias, 40f. 48 REGEV, a.a.O., 118; zu diesen Stellen (und der Frage, ob es drei Personen oder eine Person mit drei Ämtern war) s. ZIMMERMANN, Texte, 23–35 u.ö. 49 Während ihre Legitimation als Könige umstritten war und zum Bürgerkrieg führte, scheint ihre Ausübung des hohepriesterlichen Amtes biblisch gedeckt gewesen zu sein; vgl. REGEV, a.a.O., 120–124. Für eine mögliche Beanspruchung davidischer Legitimation s. Josephus, Bell 1,61. Demnach ließ Johannes Hyrkanos unmittelbar nach der Ermordung seiner Mutter und seiner Brüder (Bell 1,60) in Jerusalem das Grab Davids öffnen, angeblich um es zu plündern, weil sich darin ein unvorstellbarer Reichtum befunden habe. Das ist jedoch von vornherein unglaubwürdig, da Jerusalem seit Davids Tod so oft erobert und geplündert wurde, dass es sicherlich keinerlei Schätze mehr in diesem Grab gab, das als geographischer Orientierungspunkt (Neh 3,16) offenbar gut bekannt war. Es ist darum m.E. denkbar, dass Hyrkanos dieses Grab öffnete, um darin seine verstorbene Mutter und seine Brüder zu bestatten und auf diese Weise seine eigene Dynastie mit dem davidischen Königshaus und den darauf liegenden Verheißungen in Beziehung zu setzen versuchte, was Josephus, der selbst mit den Hasmonäern verwandt war, aber verschweigt. Zur aufwändigen Grablege der Hasmonäer, die Simon für seine Eltern, seine Brüder und sich selbst in Modeïn errichten ließ, s. 1Makk 13,27–30. Sein Enkel, Aristobulos I., „setzte sich als erster die Krone auf, 471 Jahre und 3 Monate nach dem Zeitpunkt, an dem das Volk in sein Land zurückgekehrt war“ (Bell 1,70). Auch wenn die Rechnung nicht aufgeht (sie führt auf das Jahr 573 zurück, das richtige Datum ist 538), so ist die Intention doch eindeutig: Die Reihe der davidischen Könige findet mit dem neuen König endlich wieder ein Fortsetzung.

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wieder durch Gier und Sünde verdorben wird, wie es das Ende von Simon eindrucksvoll belegt, das der Autor von 1Makk nicht verschweigt.50 Ähnlich wie für Serubbabel gilt auch für die hasmonäischen „Retter“, dass Reichweite und Nachhaltigkeit ihrer Taten begrenzt blieb. Aus der anfänglichen Hoffnung, die mit ihnen verbunden war, wurde eine vorübergehende Episode in Gottes heilsgeschichtlichem Handeln. Damit war deren Bedeutung jedoch nicht aufgehoben. Sie alle verwirklichten, was man vielleicht mit 2Kor 1,22; 5,5; Eph 1,14 als „Anzahlung“ der erwarteten messianischen Zukunft bezeichnen könnte. D.h. in ihrem Wirken wurde in Ansätzen realisiert, was man sich für die „Fülle der Zeiten“ erhoffte (Gal 4,4), weshalb sie von den vollständig gescheiterten Messiasprätendenten, von denen noch die Rede sein wird, zu unterscheiden sind. Auch der qumranische „Lehrer der Gerechtigkeit“ kann zu diesen Gestalten gerechnet werden, die zu Lebzeiten mit messianischen Erwartungen umgeben wurden, die aber über ihren Tod hinaus nicht festgehalten werden konnten.51 Gleichwohl war es möglich, dass die Erben und Anhänger derselben sie nach ihrem Tod in positiver Weise in die Geschichte Gottes mit seinem Volk integrieren konnten. Dadurch wurden sie zu einer Art Typos des weiterhin erwarteten Messias und in das gruppen- bzw. familienspezifische heilsgeschichtliche Tableau eingeordnet (was durch die Ereignisse ausgelöstes exegetisches Nachdenken ganz sicher mit einschloss). Ein gutes Beispiel hierfür liefert CD 19,34–20,1. Die Passage behandelt die Frage der Mitgliederaufnahme in die Gemeinschaft „vom Tag des Hinscheidens des Lehrers der Gemeinschaft bis zum Auftreten des Gesalbten aus Aaron und Israel.“52 Solchen, die sich aus Israel bekehren, bleibt der Weg in die Gemeinde während dieser Zwischenzeit offen, dauerhaft ausgeschlossen sind dagegen alle, die zu Lebzeiten des Lehrers schon einmal zur Gemeinschaft gehörten, sich dann aber einer Konkurrenzgruppe („den Erbauern der Mauer“, worunter die Pharisäer gemeint sein könnten) angeschlossen haben. Das zeigt, dass die Gemeinde auch nach dem Tod des Lehrers weiterhin in einer Naherwartung lebte, da sie das Geschick einer bestimmten Generation in ein Verhältnis zum Kommen des Messias brachten, von dem sie glaubten, dass diese es noch erleben könnten.53 Diese historischen Verwirklichungen im Verlauf der Geschichte Israels erklären – neben den biblischen Bezügen, auf die diese Gestalten zurückgegriffen haben – die Ausbildung der „Ämter“ oder Funktionen, die in besonderer 50 Zum biblischen Charakter von 1Makk s. DEINES, Matthew II, 6–8. Zur Platzhalterfunktion der Hasmonäer s. J.J. COLLINS, Messianism in the Maccabean Period, 103f. 51 Vgl. HENGEL, Jesus der Messias Israels, 43. Zur Frage nach seiner eschatologischen Funktion s. auch OEGEMA, Der Gesalbte, 89–91. 52 Zu Text und Auslegung s. ZIMMERMANN, Texte, 39f. 53 Am nächsten stehen dieser Aussage Mk 9,1 parr. Mt 16,28; Lk 9,27; vgl. auch Mk 14,30 par. Mt 24,34; außerdem 1Thess 4,15.

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Weise mit dem Messias verbunden sind: König, Priester, Prophet und – was meist zu wenig beachtet wird – Lehrer. Diese letzte Funktion, die aufgrund der Ausbildung der Vorstellung vom munus duplex (König und Priester) bzw. munus triplex (König, Priester und Prophet) weniger stark im Blickpunkt steht (oder in die anderen ganz oder teilweise integriert gedacht wird), verdient gesonderte Aufmerksamkeit, weil darin die Schriftbezogenheit des Messias seinen deutlichsten Ausdruck erfährt. Es reicht nicht aus, darauf hinzuweisen, dass die bisher geschilderten Gestalten mit biblischen Farben legitimiert wurden, sondern es muss gefragt werden, welchen Anteil sie selbst daran hatten. Denn diese Personen wurden offenbar nur zu ihren Lebzeiten als messianische Retter verstanden, und diese Erwartungen mussten nach ihrem Tod relativiert werden. Das aber setzt voraus, dass sie sich damals schon zu den entsprechenden messianischen Texten in Beziehung setzten bzw. gesetzt sahen. Dabei ist es zweitrangig, ob der Impuls von ihnen selbst oder ihrem Umfeld ausgegangen ist. Wichtig ist, dass die Frage des Schriftbezugs, d.h. die Bewertung der eigenen Rolle im Kontext der messianischen Verheißungen, notwendig eine Rolle spielt, wo es zur Verwirklichung biblischer Zukunftserwartungen durch eine herausragende Persönlichkeit kommt.54 Das wird selbst bei den nur in ganz rudimentären Zügen erkennbaren Messiasprätendenten aus der Zeit von Herodes bis zum ersten jüdischen Krieg deutlich, von denen wir vor allem durch Josephus wissen. Auch bei ihnen sind Ansätze einer biblischen Legitimierung (verstanden in einem weiteren Sinn, wozu auch Wundertaten und besondere Krafttaten zählen) erkennbar, auch wenn davon außer geringen Spuren nichts erhalten ist.55 III. Messianische Intrigen am Hof des Herodes Eine rätselhafte messianische Episode erwähnt Josephus in Ant 17,41–45, bei der u.a. die Pharisäer am Hof des Herodes beteiligt waren. Es ist damit zugleich einer der wenigen Hinweise auf messianische Erwartungen im Pharisäismus. Im Zentrum der geschilderten Hof-Intrige steht der Eunuch Bagoas, 54

Bei den Hasmonäern, das hat REGEV, Hasmoneans, passim, eindrucksvoll gezeigt, ist es in erster Linie der Bezug zum Tempel (u.a. ausgedrückt durch die Propagierung von Hanukkah als dem Tempelweihfest, das in Analogie zum biblischen Laubhüttenfest Gottes Heilshandeln durch diese Familie in den biblischen Festkalender integriert), der der biblischen Legitimation dient. Das davidische Königshaus von David über Salomo, Hiskia, Josia und Serubbabel hat seine Erwählung und Beauftragung durch Gott immer auch im Verhältnis zum Tempel als Gottes Wohnort gesehen. Der zukünftige Davidssohn ist darum von Anfang an in ein Verhältnis zum Tempel bzw. seiner Restauration gesetzt, wie dies auch bei Jesus deutlich ist; vgl. BETZ, Frage, 155f.; ÅDNA, Stellung, 25–89. 55 Vgl. dazu HENGEL, Zeloten, 274–276.289–299; THOMA, Messiasprojekt, 141–156; RIEDO-EMMENEGGER, Provokateure, 232–275: Seine Darstellung ist umfassend, sowohl was die möglichen Personen mit messianischem Anspruch aus dieser Zeit als auch was die biblischen Bezüge anlangt.

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der offenbar zum Gefolge des Herodesbruders Pheroras und seiner Frau gehörte. Ihm prophezeiten die Pharisäer, dass er „Vater und Wohltäter des von ihnen vorhergesagten Königs“ werden würde. Dieser zukünftige Herrscher werde die Macht haben, Bagoas seine Zeugungskraft zurückzugeben, so dass er heiraten und „echte Kinder“ haben könne. Darin wird üblicherweise ein Verweis auf Jes 56,3–5 gesehen, einer Heilszusage Gottes an die Heimkehrer nach Jerusalem, dass auch Fremde zum Tempel nach Jerusalem kommen werden, so dass er ein „Bethaus für alle Völker“ werde (Jes 56,7). Der biblische Text schildert Aspekte einer zukünftigen Heilszeit, eine Messiasgestalt ist im unmittelbaren Kontext nicht erwähnt. Die pharisäische Auslegung dieser Stelle, wie sie Josephus erkennen lässt, verknüpfte die Stelle aber offenbar dennoch mit einem zukünftigen König, der möglicherweise mit einer Vorläufergestalt verbunden ist (eben dem „Vater und Wohltäter“, als den sie Bagoas sehen). Da als künftiger König nach pharisäischer Auffassung ziemlich sicher ein Nachkomme Davids erwartet wurde, könnte dieser Text als weiterer Beleg dafür gelten, dass Herodes versuchte, für seine Familie eine davidische Herkunft zu behaupten. Weiter ist denkbar, dass sein Bruder Pheroras sich Hoffnungen machte, dieser zukünftige Heilskönig zu sein. In diesem Fall könnte Bagoas sein Erzieher bzw. Lehrer („Vater und Wohltäter“) gewesen sein.56 Auch Jesus nimmt nach Mk 11,17 (parr. Mt 21,13; Lk 19,46) bei der Tempelreinigung auf diesen Jesajatext Bezug, worauf Matthäus die Menge mit Hochrufen auf den „Sohn Davids“ reagieren lässt (Mt 19,15), womit der messianische Bezug ebenfalls hervorgehoben wird.57 IV. Die Lehrerdynastie des Judas Galiläus Am aussagekräftigsten sind jedoch die Angaben über Judas Galiläus, dessen messianischer Anspruch auch die längste Nachgeschichte hat. Von Josephus wird er als Begründer der „vierten Philosophie“, d.h. der vierten jüdischen Gruppierung neben Pharisäern, Sadduzäern und Essenern und außerdem als 56

Zum Bemühen des Herodes um einen davidischen Stammbaum, s. SCHALIT, König Herodes, 475–482. Die in den Evangelien erwähnten Herodianer, die im Zusammenhang mit den Pharisäern begegnen (Mk 3,6; 12,13; Mt 22,16), verknüpften nach Epiphanius messianische Erwartungen mit Herodes (bzw. seinem Haus), was ebenfalls zur gesuchten davidischen Genealogie passen würde (Pan. 1,20). Dass diese Identifizierung auf einer Schriftgrundlage basierte, wird ebenfalls von Epiphanius erwähnt (wobei allerdings in Betracht zu ziehen ist, dass dabei neutestamentlicher Sprachgebrauch seine Darstellung beeinflusste): “They believed […] that Herod was Christ, thought that the Christ awaited in all scriptures of the Law and prophets was Herod himself” (Übers. WILLIAMS, Panarion, 53). Im Folgenden weist er dann besonders auf deren Interpretation von Gen 49,10f. hin, da dies offensichtlich der Hauptbeleg war. Daraus geht hervor, dass Herodes sich als der verheißene Herrscher aus dem Stamm Juda verehren ließ. 57 Auch das rätselhafte Jesuswort Mt 19,12 könnte in Zusammenhang mit Jes 56,3–5 formuliert worden sein, so THOMA, Messiasprojekt, 142.

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„überragender Gelehrter“ oder „Lehrer“ (σοφιστὴς δεινότατος Bell 2,433) bzw. „Lehrer einer eigenen Sekte“ (σοφιστὴς ἰδίας αἱρέσεως Bell 2,118) bezeichnet. Denselben Titel erkennt Josephus – der für Judas und seine Sippe keinerlei Sympathien hatte, da er sie für den Untergang des Tempels verantwortlich machte – außerdem dessen Enkel Menahem zu (Bell 2,445), der im ersten jüdischen Aufstand zu Beginn durch seine Eroberung Masadas eine herausragende Rolle spielte. Von dort kehrte er „wie ein König nach Jerusalem zurück“ und machte sich zum Führer des Aufstands (Bell 2,433f.). Im Zuge dieser Kämpfe ließ er den Hohenpriester Ananias und dessen Bruder hinrichten und entwickelte sich nach den Worten des Josephus zum Tyrannen (τύραννος Bell 2,443). Doch als er „im Schmuck königlicher Kleider“ den Tempel besuchte, versuchte das aufgebrachte Volk ihn zu steinigen, was möglicherweise mit dem Gebot aus Dtn 13,1–11 über die Steinigung falscher Propheten in Verbindung steht. Er entkam, versteckte sich, wurde dann aber doch gefunden und unter Folter hingerichtet. Zusammen mit ihm starb „der herausragendste Diener der Tyrannenherrschaft“ namens Absalom (Bell 2,448). Über diesen ist weiter nichts bekannt, aber der Name erinnert an den gleichnamigen dritten Sohn Davids (1Chr 3,2), dessen Mutter Maacha ebenfalls aus einem königlichen Geschlecht stammte. Es stellt sich die Frage, ob auch hier davidische Einflüsse eine Rolle spielten.58 „Die messianischen Züge“ bei Menahem sind in jedem Fall unverkennbar, ebenso, dass er seine Rolle in Jerusalem mit religiöser Symbolik inszenierte.59 Das allerdings ist jüdischerseits ohne einen erkennbaren Bezug zur Schrift nicht möglich, weshalb der Lehrertitel in der Judas-Dynastie auch nicht nur im Sinne von Volksverführer verstanden werden darf.60 Hengel sieht in den Titeln darum zu Recht 58

Der Name Absalom taucht u.a. auf einem Ossuar in Jerusalem auf, das in derselben Grablege gefunden wurde wie das berühmte „Haus David“-Ossuar; s. RAHMANI, Catalogue, 173f. (Nr. 430); als Ausgrabungsbericht s. KLONER, Burial Cave. Auch andere hier gefundene Namen (insgesamt sind es 16 Ossuare mit maximal sieben Namen) lassen sich mit davidischer Tradition in Verbindung bringen; die Inschriften sind griechisch und hebräisch und verweisen auf die Bilingualität der hier beerdigten Familie, “which used this tomb for five generations, from the mid-first century BCE to the late sixties CE.” Die Grablege belegt ferner “that certain families in the city claimed Davidic decent” (RAHMANI, a.a.O., 174); vgl. außerdem FLUSSER, Familien; RIESNER, „Gedeutete, konzentrierte Geschichte“, 110–114. Zu einem möglichen Anspruch der von Judas Galiläus ausgehenden Dynastie auf davidische Herkunft s. HENGEL, Zeloten 299. 59 RIEDO-EMMENEGGER, Provokateure, 234. 60 Vgl. dazu auch die Verwendung von σοφισταί (Bell 1,648–656; 2,10; Ant 17,152. 155) für die beiden angesehenen Lehrer, „die als sehr genaue Kenner der väterlichen Gesetze galten“, die ihre Studenten auf das Gerücht von Herodes’ Tod hin beauftragten, den Adler, den er über dem Tempeltor hatte anbringen lassen, zu zerstören. Sie meinten „gerade jetzt sei die geeignetste Zeit, Gott sein Recht zu schaffen und alle die Bildwerke herunterzureißen, die gegen die väterlichen Gesetze verstießen“ (Bell 1,649). Dieselben Lehrer werden in Ant 17,149.214.216 als ἐξηγηταί, als „Exegeten“ oder Schrifterklärer, bezeich-

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einen Hinweis darauf, dass die schriftgelehrte Arbeit in der von Judas Galiläus initiierten zelotischen Bewegung eine große Rolle spielte. Diese war „untrennbar mit der Tat, dem Aufstand gegen die Fremdherrschaft […] [und der] Bildung einer organisierten Gemeinschaft“, verbunden.61 Ein weiterer Verwandter, Eleazar ben Jair, floh mit dem Rest der Anhänger Menahems nach Masada, wo sie bis zum Ende des Kriegs ausharrten. Die archäologischen Hinterlassenschaften der Verteidiger Masadas lassen ebenfalls erkennen, dass ein Leben nach der Tora und Schriftgelehrsamkeit (biblische und außerbiblische Schriften wurden gefunden) fester Bestandteil dieses revolutionären Clans waren, dessen Wirken sich über mindestens drei Generationen nachvollziehen lässt.62 Als zweite Gründergestalt der „vierten Philosophie“ nennt Josephus zudem den Pharisäer Zadduk (nur in Ant 18,9f.; in Bell 2,118 wird er nicht erwähnt), dessen Name auf priesterliche Herkunft verweist. Dass diese neue Gruppe mit Ausnahme ihrer Freiheitsliebe und ihrem theokratischen Verständnis von Gottes Herrschaft den Pharisäern folgte (Ant 18,23), verweist ebenfalls auf schriftgelehrten Einfluss. Auch die Erwähnung des Judas Galiläus bei Lukas, in der Rede des Gamaliel, bietet Hinweise, dass wir es hier mit messianischen Lehrergestalten zu tun haben. Der pharisäische Schriftgelehrte stellt Judas mit Theudas und Jesus in eine Reihe (Act 5,37). Zwar ist damit direkt nichts über einen Schriftbezug der Genannten gesagt, aber ein solcher ist im Hintergrund deutlich mitzuhören: Der Redende, Gamaliel, wird selbst als „Schriftgelehrter“ eingeführt (5,34) und der in dieser Ratssitzung verhandelte Anklagepunkt betraf die Predigt des Petrus und der Apostel (Act 5,25–33). Das Ende ist, dass die Apostel auch weiterhin im Tempel und in den Häusern lehrten. Dabei lässt die Apostelgeschichte keinen Zweifel daran, dass die Verkündigung der Apostel Anwendung und Auslegung biblischer Texte ist. Das ist programmatisch in der ersten eigentlichen Rede des Petrus dargestellt, die mit dem Verweis auf Joel 3,1–5 die Gegenwart als Erfüllungszeit prophetischer Verheißungen deutet und das Volk zu einer entsprechenden Reaktion auffordert (Act 2,16–36; außerdem 3,12–26). Auch die kurze Verteidigungsrede des Petrus in 5,29–32 ist ein Mosaik biblischer Anspielungen (s. auch 4,24–28). Wenn also Gamaliel das Auftreten von Petrus und den Aposteln, die nicht als militante Aufrührer net und ihre Tätigkeit als ἐξηγουµένοις τοὺς νόµους (Bell 1,649, dasselbe Verb auch für die pharisäische Schriftauslegung in Bell 2,162). Die Theologie dieser beiden Lehrer steht der des Judas Galiläus sehr nahe, so dass auch für denselben ein ähnliches Lehrerprofil anzunehmen ist. 61 HENGEL, Zeloten, 87.91.329–336. Zum religiösen Profil s. die Kapitel III–V. Zur Notwendigkeit der messianischen Lehre s. auch BETZ, Frage, 159: „Grundsätzlich kommt man auch in der Endzeit ohne den Lehrer nicht aus. Wo man von einem Priestermessias nichts weiss, muss der Davidide der Lehrer sein.“ 62 Zum religiösen Profil der Masada-Gruppe s. HENGEL, Zeloten, 91f.; DEINES, Freiheitsbewegung, 433–435.

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sondern als – aus der Perspektive des professionellen Schriftgelehrten – „ungelehrte“ Prediger und Schriftausleger (vgl. Act 4,13) auftraten, in eine Reihe stellt mit Judas Galiläus, Theudas und Jesus, dann wirft das auch ein zu wenig beachtetes Licht auf die Genannten. Denn das bedeutet doch, dass auch diese als Lehrer und Schriftausleger auftraten in einer Weise, die mit derjenigen von Jesus bzw. Petrus und der Apostel vergleichbar ist. Dabei ist in erster Linie an eine Schriftauslegung zu denken, die die eigene Gegenwart als Erfüllungszeit der prophetischen Verheißungen sieht und daraus Konsequenzen für das gegenwärtige Handeln fordert. Das ist deutlich bei den beiden erwähnten Lehrern der Fall, die ihre Studenten zum Ikonoklasmus aufriefen, weil „gerade jetzt“ – mit dem nahenden Tod des Herodes – „die geeignetste Zeit“ sei, „Gott sein Recht zu schaffen“ (Bell 1,649). Theudas hat sich selbst als Prophet ausgegeben und die Bevölkerung aufgefordert, „ihm unter Mitnahme ihrer Habe zum Jordan zu folgen“, den er teilen wollte, so dass sie ihn durchziehen könnten, d.h. auch seine Aktion rekurriert auf biblische Prätexte (entweder Ex 12,29–14,30 oder Jos 3–4), wobei er sich selbst dann offenbar in der Rolle des Mose oder Josua sah.63 Dass auch Jesus in dieser Weise als Lehrer und Schriftausleger auftrat, hat Lukas programmatisch mit seiner Eingangsszene in Lk 4,16–28 dargestellt: „Heute ist diese Schrift erfüllt worden für eure Ohren“ (σήµερον πεπλήρωται ἡ γραφὴ αὕτη ἐν τοῖς ὠσὶν ὑµῶν, V. 21). Ähnliches kann im Übrigen auch von Bar Kochba angenommen werden, dessen messianische Restauration Israels biblischen Motiven folgt, auch wenn sich nur indirekte Hinweise auf seine messianische Exegese aufweisen lassen.64 V. Schriftbezogene Messiasverwirklichungen Betrachtet man die Vielzahl der messianischen Verwirklichungen, von denen hier nur einige aussagekräftige Beispiele angeführt wurden, auf Gemeinsamkeiten hin, dann lässt sich unschwer erkennen, dass alle Genannten sich zu den eschatologischen Verheißungen der Schrift in eine Beziehung setzten. Die vielfach bezeugte Königswürde, die diese Messiasprätendenten zur Schau stellten, verweist auf den vor allem mit David verbundenen Messiaskönig, die Krafttaten65 und Wunder, die sie versprachen, lassen sich ohne biblische Be63 Josephus, Ant 20,97f.; s. RIEDO-EMMENEGGER, Provokateure, 247–249, der ausführlich auf die vielfältigen biblischen Traditionen der Jordanteilung bzw. ähnlicher Austrocknungswunder eingeht. BETZ, Wie verstehen wir das Neue Testament, 28, sieht in Act 5,36 (Theudas behauptete, „irgendeiner zu sein“) einen möglichen Hinweis auf den bzw. einen Menschensohn, als den sich Theudas ausgab. 64 Vgl. dazu DEINES, How Long?, 204f.; HORBURY, Jewish War, 162f.339–388; KÜCHLER, Jesus, 322–328.334–336; THOMA, Messiasprojekt, 153–155. 65 Die Bezeichnung als „Kriegsheld“ wird von Gott (Ps 24,8) wie von Menschen ausgesagt: vgl. z.B. Gideon (Jdc 6,12), David (1Sam 16,18; Ps 89,20f.), Saul und Jonatan (2Sam

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züge ebenso wenig erklären wie der Glaube, den sie damit im Volk gefunden haben. Das aber heißt, dass eine historische Verwirklichung der biblisch inspirierten messianischen Hoffnungen ohne eine entsprechende Schriftauslegung des Messiasprätendenten nur schwer vorstellbar ist. Von besonderer Bedeutung sind dabei die gescheiterten Messiasanwärter, weil sie ohne Nachgeschichte und damit auch ohne retrospektive Legitimierung blieben, wie sie regelmäßig für die Jesusüberlieferung angenommen wird. Akzeptiert man diese Beobachtungen, dann erlauben sie im Grunde nur zwei Möglichkeiten: Entweder diese messianischen Rettergestalten haben die durch die Schrift geweckten messianischen Erwartungen für ihre eigenen politischen oder persönlichen Zwecke nur instrumentalisiert, oder sie haben sich selbst aus religiöser Überzeugung mit diesen Erwartungen in Beziehung gesetzt. Das heißt, wir haben es entweder mit wirklichen Betrügern und Manipulatoren zu tun oder eben mit Personen, für die ein messianisches Selbstverständnis angenommen werden muss. Die mögliche Bandbreite für ein solches Sich-in-Beziehung-Setzen zu einer messianischen Verheißung ist dabei sehr groß: vom tastenden Fragen aufgrund bestimmter Erfahrungen bis hin zur Proklamation durch Gefolgsleute, die in einer Gestalt eine über sie selbst und ihre Zeit hinausragende Bedeutung sehen. Was m.E. jedoch unmöglich ist, ist die Vorstellung, dass in einer Gesellschaft wie der jüdischen zur Zeit Jesu, in der Rettung, Erlösung, Befreiung, die Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit, gegenwärtiges und zukünftiges Heil nicht vorstellbar sind ohne Gottes Eingreifen in den Lauf der Welt, sich jemand selbst als eine von Gott legitimierte Retterfigur darstellen kann, ohne sich dabei zu den biblischen Zukunftsverheißungen in Beziehung zu setzen. Damit ist nicht behauptet, dass alle eschatologischen Hoffnungen notwendigerweise eine Messiasfigur benötigen.66 Aber überall da, wo ein zukünftiger, Heil bringender Herrscher, König oder Fürst Israels erwartet oder als gegenwärtig bezeugt wurde, stehen die Aussagen von ihm oder über ihn notwendig in einem mehr oder weniger engen Bezug zu dem relativ schmalen Bestand von diesbezüglichen Texten aus der hebräischen Bibel.67 Unterscheiden lassen sich die konkret fassbaren Messiaserwartungen bzw. messianischen Verwirklichungen hinsichtlich ihrer Auswahl, Gewichtung und Interpretation dieser Stellen, wobei damit gerechnet werden muss (das zeigt die messianische Exegese der frühen Kirche), dass im Prozess der Verwirklichung bisher nicht als solche verstandene Texte exegetisch in den bestehenden Traditionspool integriert werden konnten, mit 1,19–27). Das messianische Kind aus dem Hause David ist ebenfalls so bezeichnet (Jes 9,5; vgl. Ps 45,5); s. dazu HENGEL, Zeloten, 291f., Anm. 342. 66 Zum umstrittenen Stichwort des „Messianismus ohne Messias“ s. HORBURY, Jewish Messianism, 1; POLA, Priestertum, 31–33, die beide den damit verbundenen messianischen Minimalismus zu Recht ablehnen. 67 S.o. S. 61, Anm. 36.

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anderen Worten, ein ‚neuer‘ Messias konnte auch etwas ‚Neues‘ zu sagen haben, solange es sich in die bestehende biblische Tradition integrieren ließ.68 In Tübingen ist insbesondere an Otto Betz zu erinnern, der es in einer Reihe von wichtigen Arbeiten unternahm, den persönlichen Umgang Jesu mit der Schrift zu untersuchen. Für Betz haben die Jünger Jesus nach Ostern für den Messias gehalten, weil er „diesen Glauben geweckt“ hat, indem „er sich, im Lichte der Schrift, als den Messias verstand.“69 VI. Familienverbände und Gruppen Ein weiterer Punkt, der sich aus den historischen Verwirklichungen ergibt und noch nicht ausreichend berücksichtigt wurde, ist die Tatsache, dass die frühjüdischen messianischen Traditionen fast ausschließlich „über nicht-kanonische Kanäle tradiert und zumeist in apokalyptisch orientierten Gruppierungen“ gepflegt wurden.70 Sowohl das reichhaltigste diesbezügliche literarische Quellenmaterial als auch die historischen Verwirklichungen (wobei hier zwischen frühnachexilischer und der nachhasmonäischen Zeit unterschieden werden muss) zeigen wenig Beziehung zum „institutionellen“ Judentum, wie es durch die Hohepriesterschaft und den Tempel repräsentiert ist.71 Stattdessen fand die Pflege, Entwicklung und Verwirklichung der Messiastraditionen durch Einzelpersonen mit persönlichem Anhang, durch feste Gruppen wie die Qumrangemeinschaft (auch für die Urheber der Psalmen Salomos ist eine solche feste Gruppe wahrscheinlich) sowie in Familienverbänden statt (Hasmonäer, Judas Galiläus und seine Nachkommen, Athrongas und seine Brüder,72 68

Zu diesem Phänomen von Neuentdeckungen in bekannten Texten aufgrund religiöser Erfahrungen (die ihre Ursache in historischen Entwicklungen haben konnten) s. HURTADO, Two Case Studies, 4.20–23; MALCOLM/MALCOLM, Things About Himself, 33f. 69 BETZ, Frage, 143; s. außerdem a.a.O., 154–163 („Das messianische Selbstbewusstsein Jesu und das Alte Testament“); vgl. DERS., Wie verstehen wir das Neue Testament, 25–46; DERS., Jesu Lieblingspsalm (über Ps 103); DERS., Jesu Tischsegen (über Ps 104). 70 FABRY/SCHOLTISSEK, Messias, 44; s. außerdem a.a.O., 36f., und a.a.O., 53, wo Fabry speziell die königliche Messiaserwartung auf „aramäisch sprechende Kreise“ zurückführt, die er von dem „der hebräischen Sakralsprache verpflichtete[n] Priestertum“ abhebt. 71 Das schließt eine Messiasvorstellung von „offizieller“ Seite nicht aus. Mt 2,4f. und Joh 7,26–52 lassen Spuren davon (einschließlich populärer Vorstellungen) erkennen; auch Josephus und Philo, die insgesamt sehr wenig über den Messias zu sagen wissen, können möglicherweise hier genannt werden. Für deren Anschauungen s. sehr knapp FABRY/ SCHOLTISSEK, Messias, 40f. Eine weitere Quelle der allgemein verbreiteten Erwartung könnten die entsprechenden Bitten des 18-Bitten-Gebetes (Shemoneh ‘Esreh) sein, dessen Datierung allerdings umstritten ist. 72 Josephus, Bell 2,60–65. Athrongas, der nach dem Tod des Herodes auftritt, wird von Josephus als Hirte (vgl. David) geschildert, der es wagte, im Vertrauen auf seine körperliche Stärke und die Todesverachtung seiner Seele nach der Königsherrschaft (βασιλεία) zu streben (Bell 2,60). Dabei unterstützten ihn seine vier Brüder, die mit denselben Begabungen ausgestattet waren und die er als seine „Feldherrn und Satrapen“ einsetzte (61). Das

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evtl. auch die Herodianer). Während Einzelpersonen wie etwa Theudas keine erkennbar nachhaltige Wirkung hatten, lassen sich für die Hasmonäer, Qumran sowie die von Judas Galiläus inspirierte Freiheitsbewegung längere Zeiträume über mehrere Generationen hinweg überblicken, in denen das messianische Erbe lebendig blieb. In diesen Gruppen wurden bestimmte biblische Texte ausgelegt und mit einem eschatologischen Gesamtbild korreliert, indem eine befreite, erlöste Zukunft des Gottesvolkes mit biblischen Farben gemalt wurde. Für die nichtchristlichen frühjüdischen Gruppen verweisen diese Bilder zumeist auf die Zukunft. Von der Jesusbewegung haben wir dagegen Texte, die das messianische Geschehen nicht im Futur, sondern im Perfekt darstellen: Die entscheidenden Ereignisse liegen bereits in der Vergangenheit, aber sie determinieren Gegenwart und Zukunft. Der entscheidende Unterschied der protochristlichen zu den anderen frühjüdischen messianischen Zeugnissen besteht demnach darin, dass hier eine Gruppe den Messias nicht nur erwartet, sondern eine konkrete Person als Messias bekennt und selbst über seinen gewaltsamen und schmachvollen Tod hinaus an ihm festhält, was aber, wie oben gezeigt, nicht ohne Parallele ist.73 Der Unterschied zwischen den neutestamentlichen und den übrigen frühjüdischen Texten basiert also nicht in erster Linie darauf, dass es sich dabei um keine frühjüdischen Texte handelt, sondern findet seine Erklärung darin, dass die Texte auf Anhänger eines jüdischen Messias zurückgehen, der bereits gekommen ist, der in der Gegenwart als Throngenosse Gottes (Ps 110,1) verehrt und in der Zukunft als wiederkehrend erwartet wird. Diese Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassende Messiashoffnung, die erfüllte und noch ausstehende Erwartungen mit derselben historischen Person verbindet, ist innerjüdisch als historisches Phänomen zwar einzigartig, aber dennoch kompatibel mit den bekannten Messiastraditionen und ihren historischen Verwirklichungen.74 Das verbindet die neutestamentlichen Texte auch mit der Gruppe der Messiasprätendenten: Wie bei Jesus haben wir es mit Verwirklichungen messianischer Ideen und Erwartungen zu tun, die jeverweist auf territoriale Ambitionen und er scheint zumindest eine Zeitlang militärisch eine Bedrohung für die römischen Truppen gewesen sein, die es damals mit mehreren Aufständen gleichzeitig zu tun hatten. Der ungewöhnliche Name Athrongas ist möglicherweise von Ethrog abgeleitet, dem hebräischen Wort für die Zitrusfrucht, die am Laubhüttenfest gebraucht wird; vgl. HENGEL, Zeloten, 292 m. Anm. 343. Jüdische Münzen des ersten und zweiten Aufstandes verwenden Ethrog und Lulav (den Strauß für das Laubhüttenfest; vgl. Lev 23,40) als Münzbild; s. LYKKE, Reign, 140. Das Laubhüttenfest (Sukkot) erinnert an die Befreiung aus Ägypten (Lev 23,43) und spielt in den eschatologischen Erwartungen eine große Rolle (vgl. Sach 14,16). 73 FABRY/SCHOLTISSEK, Messias, 106. 74 Als modernes Phänomen am nächsten kommt ihm die Verehrung des Lubawitscher Rabbis Menachem Mendel Schneerson (1902–1994); zu seinem Leben s. HEILMAN/FRIEDMAN, The Rebbe, passim.

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doch – das ist hier der Unterschied – ohne anhaltende historische Nachwirkung blieben. Die ihren Handlungen und ihrem Selbstverständnis zugrunde liegenden biblischen Begründungen lassen sich lediglich in groben Umrissen erkennen, sind aber dennoch nicht zu leugnen. Gestützt wird die Bezugnahme auf die biblische Tradition zudem durch die Hinweise auf ihre Funktion als „Lehrer“. Zusammengesehen ergibt sich daraus das erstaunliche Phänomen, dass wir zum einen Gruppen haben, die messianische Traditionen pflegten, exegetisch begründeten und das Kommen eines Messias erwarteten, ohne dass erkennbar ist, ob dies mit konkreten Bestrebungen zur Verwirklichung verbunden war. Diese Gruppen sind in der Vorbereitungs- oder Erwartungsphase. Daneben sehen wir die gescheiterten Verwirklichungen, deren Erwartungen aufgrund der Taten zumindest ansatzweise rekonstruiert werden können. Man könnte das als (gescheiterte) Verwirklichungsphase bezeichnen, der – so wird man auch hier annehmen können – eine Erwartungs- und Vorbereitungsphase vorausging. Die Jesusbewegung dagegen erscheint als eine frühjüdische Gruppe, die mit oder nach der Verwirklichungsphase eine reichhaltige messianische Begründungsexegese besitzt, die entweder auf den Messias Jesus selbst (so die Evangelien, zusammenfassend formuliert in Lk 24,25–27.44–46) oder auf seine Anhängergemeinde nach seinem Tod (so die traditionelle historischkritische Position) zurückgeführt wird. Im Falle der nicht-christlichen frühjüdischen Messiaserwartungen und ihren Verwirklichungen ist also eine gruppen- bzw. personenspezifische Erwartungs- und teilweise auch eine Verwirklichungsphase fassbar, die aber ohne anhaltende Nachgeschichte geblieben ist, während bei der Jesusbewegung eine Verwirklichungs- und Nachgeschichte gegeben ist, die aber in der Regel ohne gruppen- oder personenspezifische Vorgeschichte vorgestellt wird. Stattdessen werden Jesus und die von ihm ausgehende Bewegung lediglich ganz allgemein mit den biblischen und frühjüdischen Messiaserwartungen in Beziehung gesetzt, ohne dass dabei die ansonsten zu beobachtende gruppen- bzw. familienspezifische Traditionsbildung in Betracht gezogen wird. Darum stellt sich die Frage, ob nicht auch im Falle Jesu eine solche familienbezogene Vorgeschichte der von ihm repräsentierten Messiastradition angenommen werden muss.

E. Jesus als messianischer Schriftausleger Zuvor lohnt es sich jedoch, die Schriftbezogenheit Jesu selbst zu untersuchen. Dass in der von ihm ausgegangenen messianischen Bewegung Israels heilige Schriften eine zentrale Rolle spielen, bedarf keiner weiteren Begründung, sondern ist offensichtlich. Die Frage ist jedoch: ab wann? War es Jesus selbst, der in seiner öffentlichen Verkündigung oder möglicherweise auch nur in der exklusiven Jüngerunterweisung sein Wirken und seine Sendung mit Verweis

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auf Israels Schriften legitimierte? Oder ist dies erst in der nachösterlichen Reflexion im Kreis seiner Anhänger geschehen? Oder, und das soll im Folgenden als Möglichkeit diskutiert werden, verdankt sich die bei Jesus erkennbare schriftbezogene und schriftauslegende Messianität seiner eigenen, davidischen Familientradition? I. Familienspezifische Schriftauslegungstraditionen? Die Voraussetzung für eine solche Fragestellung ist neben den aufgezeigten frühjüdischen Analogien vor allem die Tatsache, dass die Evangelien Jesus nicht nur als Lehrer, sondern in auffälliger und m.E. einzigartiger Weise als Schriftausleger – besser müsste man vielleicht sagen als „Schriftanwender“ – präsentieren. Da die Evangelisten Jesus aber zugleich als Messias bezeugen, wird damit dieser bestimmte Messias aus dem Haus Davids selbst der entscheidende und allein maßgebliche Schriftanwender.75 Die Anzahl der Schriftzitate, oft mit genauen Zitateinleitungen, die Jesus von den Evangelisten zugeschrieben werden, ist ohne Parallele in der erhaltenen Literatur. Aber auch darüber hinaus nehmen die Evangelien mit ihrer Zitatkultur innerhalb der frühjüdischen Literatur eine Sonderstellung ein, die nur wenig beachtet wird. Selbst zu den wenigen nicht-christlichen frühjüdischen Texten, in denen eigentliche Zitate mit Zitatmarkierungen vorkommen, gibt es einen wichtigen Unterschied: In vielen neutestamentlichen Schriften wird der Zitierende namentlich erwähnt, und dabei handelt es sich jeweils um eine Person der unmittelbaren Gegenwart. Das ist besonders deutlich in den eigentlichen Autorenschriften des Neuen Testaments, allen voran den Paulusbriefen. Da ist es eindeutig, dass Paulus der Verantwortliche für die Schriftzitate in seinen Briefen ist. Diskutiert werden kann, ob er sie aus dem Gedächtnis zitierte oder aus Schriftrollen, die ihm zur Verfügung standen, weiter, ob es sich dabei um Auswahlsammlungen oder um komplette biblische Bücher handelte und in welcher Sprache sie ihm vorlagen. Aber niemand zweifelt daran, dass Paulus in der Lage war, etwa mit einer Jesajarolle so umzugehen, dass er eine bestimmte Stelle nachschlagen (oder sollte man besser sagen „aufrollen“?) konnte, wenn er ein entsprechendes Zitat suchte. In dieser Hinsicht stehen sich Paulus und Philo nahe, weil auch dieser regelmäßig und eindeutig zitiert. Auch Josephus ist hier zu nennen, aber doch mit dem wichtigen Unterschied, dass er seinen Zeitgenosssen in der Regel keine direkten Zitate, womöglich noch mit der Nennung des Buches, in den Mund legt. Selbst da, wo sie über biblische Sachverhalte reden, wie er selbst in seiner Rede vor den Mauern Je75

Vgl. dazu schon RIESNER, Jesus, 304–329 („Der Messias als Lehrer“). Hier sind die entsprechenden Stellen gesammelt und interpretiert, die den Messias als Lehrer erwarten. Weniger ausführlich geht RIESNER auf Jesus selbst als Schriftausleger ein (vgl. a.a.O., 357–359); die „Schriftkenntnis“ Jesu wird in dem wichtigen § 9: „Die Bildung Jesu“, behandelt (a.a.O., 224–227).

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rusalems (Bell 5,362–419), die einen historischen Abriss biblischer Geschichte enthält, fehlt das eingeführte Zitat. Die zugrunde liegenden biblischen Prätexte sind zwar meistens erkennbar, aber es werden, anders als in den Evangelien, selten Verweise auf einzelne biblische Bücher oder Autoren gegeben (in der genannten Rede wird nur Jeremia zweimal in 5,391f. erwähnt). In den berühmten Reden Eleazars in der letzten Nacht von Masada (Bell 7,323–336. 341–388) sind direkte biblische Bezüge sogar fast gar nicht vorhanden, obwohl es darum geht, Gottes gegenwärtigen Willen auf die eigene Situation anzuwenden. Es ist durchaus möglich, dass der Grund für diese Zurückhaltung dem direkten, eingeführten Zitat gegenüber auf ästhetischen Gründen beruht, weil das Zitat als zu „banal“ galt.76 Auch sind literarische Gattungen und Sprechsituationen zu unterscheiden. Aber all das darf nicht dazu führen, dass die Vorliebe für das wörtliche, eingeführte Zitat in einigen neutestamentlichen Schriften und insbesondere in der Zuschreibung an Jesus übersehen wird. Vielmehr ist zu fragen, ob nicht gerade darin eine familien- bzw. gruppenspezifische Schriftauslegung erkennbar wird. Die vieldiskutierte Wendung Jesu gegenüber seinen innerjüdischen Kontrahenten, dass sie etwas nicht gelesen bzw. die Schrift nicht verstanden hätten,77 wäre dann auch Ausdruck seiner eigenen familienspezifischen Schriftauslegungstradition, die Wert auf den geschriebenen Text legte, etwa im Unterschied zur stärker mündlichen Tradition der Pharisäer oder der Zurückhaltung der Sadduzäer gegenüber der prophetischen Überlieferung, aber möglicherweise auch gegenüber den freien Nacherzählungen und Neuformulierungen biblischer Inhalte, wie sie unter dem Stichwort der „Rewritten Bible“ vielfach bezeugt sind. Darum ist es m.E. hilfreich, stärker als dies vielfach der Fall ist, zwischen Texten, die ohne ausdrückliche Zitate argumentieren bzw. messianische Erwartungen bzw. Verwirklichungen formulieren, und solchen, die dies als ausdrückliche Anwendung, Auslegung bzw. Erfüllung eines biblischen Textes tun, zu unterschieden. Im ersten Fall stellt sich die Aufgabe, die textinternen Anspielungen und Verweise auf die konzeptionell und sprachbildend zugrunde liegenden biblischen Texte (= Prätexte) herauszuarbeiten. Dabei kann es sich um ganze Sätze oder nur um bestimmte Wortsequenzen handeln.78 Hauptaufgabe ist die Klärung, ob es um bewusst eingesetzte Zitate (die als solche einen Verweischarakter auf den Ursprungskontext besitzen) oder nur um mehr oder weniger 76

So z.B. HENGEL, Schriftauslegung, 630, in der Beschreibung des Unterschieds zwischen dem Matthäus- und dem Johannesevangelium. 77 S.u. S. 82, Anm. 94. 78 Größere zusammenhängende biblische Einheiten können nicht ausgeschlossen werden, sind aber schwieriger nachzuweisen. Am eindeutigsten sind die Pesharim aus Qumran, bei denen ganze biblische Bücher oder zumindest fortlaufende Abschnitte interpretiert werden. Dabei handelt es sich jedoch – mit wichtigen Ausnahmen – nicht um eine thematisch fokussierte Auslegung.

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bewusste Anleihen von bekannten Texten im Sinne von sprachlichen Vorlagen geht. Was in diesen Fällen bestenfalls erreicht werden kann, sind begründete Vermutungen, welche biblischen Texte die Ausgangsbasis bildeten und wie die Urheber der Sekundärtexte sie verstanden. Letztlich unentscheidbar ist in den meisten Fällen die damit verbundene Frage, inwieweit die Autoren beabsichtigten, durch ein Zitat (oder eine Anspielung) zugleich auch auf den weiteren Kontext des Ursprungstextes hinzuweisen. Am wenigsten eindeutig sind die Gruppe der sogenannten Anspielungen („allusions“) bzw. Anklänge („echoes“) auf biblische Prätexte.79 Die Ergebnisse sind hier weit weniger belastbar als manche intertextuelle Studien glauben machen, die Anklänge selbst auf eher abgelegene Bezugstexte auf der Basis von selten nachgewiesenen Wortverbindungen oder sogar nur einem einzelnen Wort meinen ausmachen zu können. Besonders schwierig ist es, solche Anspielungen oder Verwendungen biblischer Begriffe als intendiert nachzuweisen und damit von bloß idiomatischer Sprechweise zu unterscheiden. Das lässt sich an dem bis heute vertrauten Phänomen zeigen, dass für manche Menschen das biblische Vokabular im besten Sinn des Wortes zum täglichen Brot gehört, weil sie von Kindheit an mit biblischen Texten, Geschichten und Metaphern vertraut sind. Daraus ergibt sich ein „unbewusster“ bzw. „unreflektierter“ Einfluss biblischer Sprache auf das eigene Sprechen und Schreiben. Das zeigt besonders die sprachbildende Kraft der Lutherbibel für das moderne Deutsch, und Vergleichbares gilt für die King James Bibel für das Englische (und wahrscheinlich für weitere Bibelübersetzungen in anderen Sprachen). Wenn jemand Zustände wie in Sodom und Gomorra beklagt, dann ist damit nicht gegeben, dass er weiß, woher diese Wendung stammt oder welche konkreten Umstände die biblische Überlieferung mit diesen beiden Städten verbindet. Biblische Wendungen (Biblizismen bzw. „Idioms“) fließen also in die Alltagssprache ein, ohne dass damit notwendig auch eine bewusste Anspielung auf einen biblischen Sachverhalt verbunden ist. Bei denen, die täglich oder doch regelmäßig intensiv mit einer bestimmten Bibel umgehen, lässt sich deren Idiom noch viel stärker als bei bloßen Redensarten auch im eigenen Reden und Schreiben (und Denken!) erkennen. Dabei ist für unsere Frage entscheidend, dass man für dieses „natürliche“ und selbstverständliche Reden in biblischer Sprache die genaue Herkunft der gebrauchten Wendungen und Metaphern nicht zu kennen braucht und diese meist auch gar nicht wichtig ist. Erst aus einer umfassenderen Kenntnis der betreffenden Person, ihrer Bildung, ihrem geistlichen oder theologischen Profil sowie dem Kontext, in dem ein biblischer Ausdruck verwendet wird, lässt sich entscheiden, ob damit ein Verweis auf einen konkreten bibli79 Zur Diskussion dieser drei unterschiedlichen Kategorien (Zitat, Verweis, Anspielung) s. u.a. DIMANT, Use, 382: Hier unterscheidet sie zwischen “compositional and […] expositional use of biblical elements”; die ersteren gebrauchen die biblischen Bausteine, um das eigene Anliegen auszudrücken “without external formal markers”; der auslegende Gebrauch dagegen will den biblischen Prätext explizit erklären und deswegen auch erkennbar machen, darum finden sich hier normalerweise “clear external marker”; zu dieser Textsorte rechnet sie “the rabbinic midrash, the Qumranic pesher, the commentaries on the Tora by Philo and certain types of quotations in the NT” (a.a.O., 383); unter “explicit use of Miqra” differenziert sie zwischen “explicit quotations” (a.a.O., 384f.) und “explicit mention of persons and circumstances” (a.a.O., 391).

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schen Zusammenhang intendiert ist. In Predigten, Gebeten und vergleichbaren Sprechhandlungen wurde diese biblische Sprache („Sprache Kanaans“) lange Zeit sehr geschätzt, aber selbst da waren die Zitate und biblischen Wendungen nicht dem ursprünglichen Kontext verpflichtet.

Es ist darum wichtig, die Grenzen dieser Suche nach vermeintlichen Anspielungen zu erkennen. Elektronische Konkordanzen und Wortfeldsuchen standen zur Zeit der Entstehung dieser Texte nicht zur Verfügung, und die vielbeschworene „oral culture“ bedeutet nicht, dass alle alles auswendig wussten und bei jeder biblischen Phrase immer sofort den gesamten Kontext mithören (oder wenigstens nachfragen oder nachlesen) konnten.80 Das sollte nicht einmal für professionelle Schriftgelehrte angenommen werden. Die Figur des rabbinischen Tanna, eine Art menschliche Datenbank, der große Mengen an Traditionsstoff auswendig wusste und bei Bedarf abgefragt werden konnte und der darüber hinaus als „Pauker […] diesen Stoff durch ständig wiederholtes Vorsagen den Schülern weitergab“,81 ist nur nachneutestamentlich bezeugt; zudem zeigen die rabbinischen Berichte über diese besonderen Lehrer (die in keinem hohen Ansehen standen), dass ein solches Wissen die Ausnahme und gerade nicht die Regel war.82 Akzeptiert man zudem, dass die Standardisierung des Bibeltextes in den letzten beiden vorchristlichen Jahrhunderten noch nicht zum Abschluss gekommen war, dann lassen sich einzelne Redewendungen oder kürzere Wortfolgen noch viel weniger eindeutig einem bestimmten biblischen Buch zuweisen.83 Bedacht werden muss ferner die Verbreitung von Schriftrollen, da wohl nur an ganz wenigen Orten alle biblischen Schriften zum Nachlesen (oder Auswendiglernen) zur Verfügung standen. Die Zitatverteilungen in Qumran

80 Ein gutes Beispiel für diese Position ist HENGEL, wenn er zur Zahl der Anspielungen im Johannesevangelium bemerkt: „Johannes (und seine Schule) kannte das Alte Testament besser als wir Neutestamentler heute und wußte es daher auch für seine mündliche und schriftliche Lehre besser fruchtbar zu machen, als wir es heute erkennen. Mit anderen Worten: Er hat bei seinen damaligen Hörern und Lesern mehr alttestamentliche Assoziationen erweckt, als wir dem Text zutrauen“ (Schriftauslegung, 638). Dieser Einschätzung steht entgegen, dass HENGEL selbst darauf hinweist, dass im NT „[c]a. 60% aller eindeutigen alttestamentlichen Zitate […] aus […] Psalmen, Jesaja und Deuteronomium“ stammen (a.a.O., 606), und auch in diesen Büchern die Zahl der eigentlich zitierten Verse sehr klein ist, weil einzelne Verse (etwa aus dem Dekalog oder das Liebesgebot Lev 19,18) mehrfach vorkommen. 81 STEMBERGER, Einleitung, 22. 82 Dazu s. STEMBERGER, a.a.O., 22.47–50. In der Frage des Auswendiglernens wie überhaupt in der Frage des biblischen Wissens muss deutlicher zwischen den kurzen, einprägsamen Texten, die eindeutig Merkcharakter haben und den umfangreichen Gesetzessammlungen bzw. den Großerzählungen unterschieden werden, deren genauer Wortlaut nur wenigen zur Verfügung stand. 83 Vgl. ALLEN, Scriptural Allusions.

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und im Neuen Testament weisen darauf hin, dass die einzelnen biblischen Bücher sehr unterschiedlich verbreitet und damit auch bekannt waren.84 Darum ist die zweite Gruppe, in der biblische Texte ausdrücklich zitiert und nicht selten auch in irgendeiner Weise kommentiert werden, sehr viel eindeutiger, wenn es darum geht, die theologischen Vorstellungen einer Person oder einer Gemeinschaft zu bestimmen. In solchen eingeführten bzw. markierten Zitaten – wenn etwa in Mk 1,2f. das Jesajazitat durch „wie geschrieben ist bei Jesaja, dem Propheten“ eingeleitet und damit eindeutig als Zitat markiert ist – werden Zuhörer oder Leser des jüngeren Textes darüber informiert, dass nachfolgend ein Prätext zitiert wird. Diese Weise der Zitation ist besonders häufig in einigen Schriften aus Qumran und im Neuen Testament und danach besonders in der rabbinischen Literatur.85 Dazu kommen die Fälle, in denen ein Schriftzitat in demselben Text sowohl als eingeführtes wie auch als nichtmarkiertes Zitat vorkommt; in diesem Fall kann davon ausgegangen werden, dass Autor und Leser wussten, dass auch da „zitiert“ wird, wo eine eigentliche Einleitungsformel fehlt.86 Wenn man in einem Einzeltext oder einem zusammengehörenden Textcorpus beide Varianten besitzt (d.h. markierte und unmarkierte Zitate und Anspielungen), dann erhöht das die Wahrscheinlichkeit, biblische Bezüge auch da als intendierte bewerten zu können, wo keine Zitatmarkierung vorliegt. Die neutestamentlichen Bücher repräsentieren verschiedene Bezugnahmen auf die jüdischen heiligen Schriften, vom Matthäusevangelium mit einer Vielzahl von ausdrücklich benannten Zitaten bis zur Offenbarung des Johannes, die zwar ohne eigentliche Zitate auskommt, aber ohne die biblischen Prätexte nicht angemessen verstanden werden kann. Auffällig ist immerhin, dass in der Mehrzahl der frühjüdischen Texte explizite Schriftzitate mit Einleitungsformulierung eher die Ausnahme darstellen, so dass die neutestamentlichen Schriften, insbesondere die Evangelien, hier – zusammen mit einer begrenzten Anzahl von Qumrantexten – eine Sonderstellung einnehmen.87 Auch die 84

HENGEL, Schriftauslegung, 606; DERS./SCHWEMER, Jesus, 25, mit einer erweiterten Liste (außer den drei genannten Büchern noch Gen, Ex, Jer, Dan und das Dodekapropheton); BROOKE, Shared Exegetical Traditions, 568f. 85 Eine gute erste Zusammenstellung bietet nach wie vor FITZMYER, Use; weitere Literatur bei TZOREF, Use, 205f. Zu den besonderen Schwierigkeiten von Zitatmontagen aus mehreren Prätexten s. ADAMS/EHORN (Hgg.), Citations I. 86 Als Beispiele s. Jes 40,3 in 1QS 8,14 (mit Zitateinleitung) und 1QS 9,19 (ohne Zitateinleitung) und dazu LANGE/WEIGOLD, Quotations, 20f.; außerdem Jes 61,1 in Lk 4,18 (als Jesajazitat markiert) und Lk 7,22 (ohne Zitatkennzeichnung); Ps 118,26 in Lk 19,38 (ohne Zitatkennzeichnung) und 20,17 („was geschrieben ist“). 87 Vgl. die Zusammenstellungen bei BECKWITH, Canon, 69–76; DIMANT, Use, 384f.; kein Text in Dimants Liste gehört zu den messianischen Stellen. Zu Qumran s. FISHBANE, Use, 347–356 (zu „Use of Citations and Citation-Formulae“); TZOREF, Use, 206, Anm. 13: “Now with the availability of the extant corpus in its entirety, we can confirm that explicit

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bekanntesten messianischen Texte des Frühjudentums benutzen zwar durchgängig biblische Motive und bedienen sich sprachlicher Anleihen, so dass die biblischen Schriften als Referenztexte eindeutig im Hintergrund erkennbar sind und sich der Ausgangstext vielfach auch benennen lässt, aber sie werden dennoch nur selten explizit benannt oder gar ausdrücklich zitiert. Das lässt sich anhand von Lange/Weigold, Biblical Quotations and Allusions in Second Temple Jewish Literature belegen, die in zwei langen Listen zunächst in der Reihenfolge des Alten Testaments alle Zitate und Anspielungen daraus in der alttestamentlichen (d.h. auch die innerbiblische Schriftverwendung ist dokumentiert) und frühjüdischen Literatur präsentieren und anschließend die gesamte frühjüdische Literatur der Reihe nach durchgehen und die darin vorkommenden alttestamentlichen Bezüge auflisten.88 Dabei neigen Lange/ Weigold zu einer überaus vorsichtigen Position und vermerken nur, was mit einiger Gewissheit als Zitat oder Anspielung angesehen werden kann, aber gerade so bieten sie einen guten Überblick, der auf der Durchsicht einschlägiger Literatur und eigener Lektüre basiert. Was allerdings fehlt, ist eine Unterscheidung der identifizierten Zitate und Anspielungen im Hinblick auf die Art des Verweises, d.h. ob es sich bei der angeführten Stelle um ein eingeführtes Zitat, um ein Zitat ohne entsprechende Einleitung oder um eine Anspielung handelt, ist nicht kenntlich gemacht.89 Geht man in diesen Tabellen die bekanntesten frühjüdischen Texte, die üblicherweise als Belege für Messiaserwartungen genannt werden (PsSal 17f.; TestLev 18; TestJud 24; die entsprechenden Henoch- und Qumranstellen90), im einzelnen durch, dann sieht citation is rare in the scrolls, appearing mostly in the pesharim and CD, with some occurrences in 1QM and 4QMMT and here in 1QS.” 88 Der zweite Teil („Biblical Quotations and Allusions in the Sequence of the Quoting or Alluding Texts“) ist dreigeteilt, beginnend mit der Hebräischen Bibel, dann jüdische Texte, die weder in der Hebräischen Bibel noch in Qumran bezeugt sind, und drittens schließlich die Texte aus Qumran. Es fehlt eine ganze Reihe von wichtigen Texten im zweiten Teil, wie etwa syrBar oder 4Esr, weil das Jahr 70 als zeitliche Grenze festgelegt wurde (a.a.O., 36); außerdem sind die neutestamentlichen Schriften ausgeschlossen, was aus arbeitstechnischen Gründen nachvollziehbar ist und auch erklärt wird, aber historisch dennoch irreführend sein kann. Auch Philo wird nicht noch einmal behandelt, da zu ihm ein vergleichbares Werkzeug vorliegt. Josephus liegt jenseits der gewählten Zeitgrenze und stellt ohnehin ein gesondertes Phänomen dar, weil er die gesamte biblische Geschichte nacherzählt. Ebenso sind eigentliche Kommentare ausgeschlossen (d.h. die Pesharim von Qumran) sowie Übersetzungen und angenommene Quellentexte (a.a.O., 23). 89 In ihrer „Typology of Intertextual References“ nehmen sie dazu ausführlich Stellung (23–29), wobei ihre Argumente für eine Nichtunterscheidung nicht wirklich überzeugend sind. Direkte Zitate sind in jedem Fall eindeutig (selbst wenn derselbe Text dann im selben Dokument auch noch ohne Zitateinleitung vorkommt) und hätten darum entsprechend identifiziert werden können. 90 Zu den Qumrantexten s. zusätzlich ZIMMERMANN, Texte, passim, der penibel das biblische Idiom für die meisten Syntagmata in den von ihm behandelten Texte nachweist.

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man sehr schnell, dass eigentliche Zitate mit einer Ausnahme überhaupt nicht vorkommen; die Texte weisen zwar ein engmaschiges biblisches Idiom auf, so dass sich nahezu zu jeder Wendung eine biblische Parallele nachweisen lässt, aber diese Anklänge sind selten konzeptionell. Für TestJud 24 etwa geben Lange/Weigold nur Num 24,17 („ein Stern wird aus Jakob aufgehen“) als Prätext an (253); für TestLev 18 nennen sie darüber hinaus noch Jes 11,2.9 (253); für PsSal 17f. sind als messianische Prätexte lediglich 2Sam 7,8ff. und Jes 11,4f. (247) aufgelistet. Der Text, welcher der messianischen Exegese innerhalb der Evangelien am nächsten steht, ist 4QMidrEsch (4Q174+177, Lange/Weigold, 297f.), der jedoch auch innerhalb des Qumrancorpus eher die Ausnahme als die Regel darstellt:91 Hier sind biblische Texte als Zitate eingeführt mit Wendungen ähnlich denen im NT. Aus einer Vielzahl von Einzelversen wird mit relativ wenig erklärenden Aussagen und Zwischentexten ein umfassendes eschatologisches Narrativ geformt. Der davidische Messias ist darin eine wichtige Figur, aber er bildet nicht den Dreh- und Angelpunkt der Texte, wie dies im NT der Fall ist. Der Text kommt jedoch dem am nächsten, was ich mir als ‚messianisches Textbuch des jesuanischen Davidclans‘ vorstelle. Man kann natürlich einwenden, dass die Sonderstellung der Evangelien darin begründet liegt, dass es sich eben nicht um frühjüdische Texte handelt, sondern um christliche, was aber sachlich, wie oben gezeigt, unangemessen ist. Für die Zeit der Traditionsbildung der Evangelienstoffe und ihrer finalen Formgebung war eine weitgehende Trennung der jüdischen Jesus-Verehrer (in deren Umfeld die Schriftbezüge entweder entstanden oder gesammelt wurden) vom Judentum und die Entstehung eines davon völlig getrennten ‚Christentums‘ noch nicht wirklich absehbar: „Kein neutestamentlicher Autor konnte wissen, daß mit der messianischen Bewegung der Nazoräer oder Christianoi eine neue Religion mit einer langen Geschichte neben den Juden und gegen sie entstand und daß sie gar nach Jahrhunderten die Macht im Reiche gewinnen würde.“92

Dabei handelt es sich – abgesehen von den bereits erwähnten Ausnahmen – in erster Linie um Anspielungen und nicht um markierte Zitate. Keiner der von ihm behandelten Texte ist ohne ein „Mosaik biblischer Anspielungen“ (a.a.O, 58; zu 1QSb 5,20–29), aber eigentliche messianische Schriftauslegung findet nur in den Pesharim und eventuell der Damaskusschrift (s. besonders 6,11; 7,9–21) statt. 91 Wichtig ist ferner der leider nur sehr fragmentarisch erhaltene Text 4QpJesa (4Q161), der Pesher zu Jes 10,22–11,5. In dem oben genannten Aufsatz von FITZMYER, Use, sind diese Texte, die eigentliche Kommentare zu einem biblischen Text darstellen, nicht behandelt; vgl. aber DERS., 4Q Testimonia. 92 HENGEL/SCHWEMER, Jesus, 29; so auch FRANKEMÖLLE, Wurzeln, 27: „Eine eigene christliche Bibel gab es im 1. Jh. noch nicht. Die Verfasser verstanden demnach ihre Erzählungen, Hymnen, Glaubensbekenntnisse vom eschatologisch qualifizierten neuen Han-

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Es gab zwar ohne Zweifel schon sehr früh innerjüdisch eine protochristliche Identitäts- und Traditionsbildung, aber diese hatte nicht das Ziel, damit eine vom Judentum abgelöste eigenständige Religion zu begründen. Zudem diente gerade die Schriftbezogenheit der Evangelien zunächst der innerjüdischen Argumentation, indem anhand der Schrift die Legitimität der jesuanischen Lehre und seines Messiasanspruches demonstriert werden sollte.93 Das zeigt sich u.a. an der Weise, wie sie Jesus sich und seine Lehre gegenüber den führenden Gruppen in Israel anhand der Schriften Israels verteidigen lassen.94 Im Folgenden beschränke ich mich exemplarisch darauf, wie Lukas das Verhältnis Jesu zur jüdischen Schrift darstellt.95 Die Beschränkung auf Lukas hat vor allem mit dem Anlass zu tun: Rainer Riesner hat gerade diesem Evangelium und den darin verarbeiteten Familientraditionen seine besondere Aufmerksamkeit geschenkt und in seiner Dissertation und vielen nachfolgenden Aufsätzen vieles angedeutet, was hier aufgenommen wird. Zudem habe ich eine vergleichbare Darstellung für das Matthäusevangelium bereits an anderer Stelle publiziert, so dass sich die Befunde ergänzen.96 Fragen nach der Authentizität werden dabei vorläufig außer Acht gelassen, weil diese davon abhängig sind, wie man die Möglichkeiten beurteilt, inwieweit Jesus vertiefte Schriftkenntnisse hatte bzw. Auslegungstraditionen kannte und anwenden deln Gottes in und durch Jesus Christus als mögliche Zeugnisse jüdischen Glaubens, jüdischer Frömmigkeit und jüdischer Hoffnung.“ 93 Vgl. HENGEL, Schriftauslegung, 607. 94 Schriftzitate oder Verweise auf biblische Präzedenzfälle finden sich hauptsächlich gegenüber den Pharisäern (Mt 9,13; 12,3–5.7.39–41; 15,3f.7–9; 16,4; 19,4–8; 21,42–45; 22,34–46; 23,34–39; Mk 2,25f.; 7,6–11; Lk 6,3f.; 11,49–51; 16,16). Seltener ist die Auseinandersetzung mit den Priestern und ihren Schriftgelehrten (Mt 21,16.21f.33–45; 26,64; Mk 12,1–12.35f.; 14,62). Die Sadduzäer werden mit nur einer Szene zum Schweigen gebracht und galten offenbar in dieser Hinsicht als wenig einflussreich, weil sie „weder die Schriften noch die Kraft Gottes kennen“ (Mk 12,24 par. Mt 22,29; außerdem Mt 16,4). Auffällig ist immerhin, dass alle drei Evangelisten die Sadduzäer Dtn 25,5f. formal als „Mose schrieb“ (so Mk 12,19 par. Lk 20,28) bzw. „Mose sagte“ (Mt 22,24) zitieren lassen; die Pharisäer dagegen weisen nur indirekt durch ihre Frage etwa nach dem Sabbatgebot oder dem Scheidebrief auf die Tora hin, aber es ist auffallend, dass sie nie explizit als zitierend dargestellt sind, sondern sich im Gegenteil wiederholt die Frage gefallen lassen müssen, ob sie dies oder jenes nicht gelesen (Mt 12,3–5; 19,4; 21,42; 22,43.45; 23,32; Mk 2,25; vgl. auch Mt 3,7–9) bzw. gelernt hätten (Mt 9,13); an die Hohenpriester und Schriftgelehrten ist dieselbe Frage in Mt 21,16; Mk 12,10 und an die Sadduzäer in Mt 22,31 par. Mk 12,26 gerichtet. 95 Als kurzen Überblick s. MOYISE, Jesus and Scripture, 52–66 („Jesus and Scripture according to Luke’s Gospel“). Zum AT bei Lukas im Sinne einer Maximalposition (d.h. jede mögliche biblische Redewendung wird nachgewiesen) s. PAO/SCHNABEL, Luke (mit ausführlicher Bibliographie). 96 S. DEINES, Jesus and Scripture; mit Matthäus und Lukas ist auch der ganze markinische Befund dargestellt. Die lukanischen Stellen umfassen Mk- und Q-Traditionen sowie Sondergut, und alle drei Textgruppen ähneln sich im Hinblick auf den Schriftbezug Jesu.

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konnte, d.h. das umstrittene Thema von Jesu Bildung und Literalität spielt hier eine vorentscheidende Rolle. Es empfiehlt sich daher, zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen, wie die Evangelisten Jesus in Bezug auf die Schrift darstellen, was in den meisten großen Jesusdarstellungen auffälligerweise nicht geschieht, offenbar weil die Entscheidung gegen die Echtheit bereits vorausgesetzt ist.97 Dabei zeigt schon ein erster Blick auf Schriftzitate und ausdrückliche Schriftbezüge (d.h. biblische Namen bzw. biblische Geschichten) bei Lukas ein ähnliches Bild wie für Matthäus: Die Schrift begegnet auch im dritten Evangelium vor allem in den Worten Jesu selbst. Der entscheidende Unterschied zu Matthäus ist das nahezu völlige Fehlen von Schriftzitaten in den Teilen, die eindeutig auf die Arbeit des Evangelisten zurückgehen. Bei Matthäus gehören dazu besonders die Erfüllungs- oder Reflexionszitate, denen sich bei Lukas nichts an die Seite stellen lässt.98 Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass der dritte Evangelist nicht bestens mit Israels Schriften vertraut war. Das zeigen besonders die ersten beiden Kapitel, in denen er im eigentlichen Sinn biblische Geschichte schreibt. Lk 1–2 lassen ein so hohes Maß an Verständnis biblischer Traditionen und Sachverhalte erkennen, dass Martin Hengel nicht zuletzt aufgrund dieser Kapitel zu dem Urteil kam, dass „kein Grieche […] in der Antike kenntnisreicher und positiver über die Juden geschrieben“ habe als Lukas.99 Hier findet sich nicht nur eine detaillierte Darstellung von Elementen des Tempel- und Opferkultes (1,8–10. 21f.; 2,22–24.41f.)100 und jüdischer Praxis (2,21f.; vgl. auch 1,61f.), sondern auch eine Vielzahl von Verweisen auf biblische Gestalten (1,5 Abija und Aaron; 1,17 Elia; 1,19 Gabriel; 1,27; 2,4 Haus David; 1,32 Thron Davids; 1,33 Haus Jakob; 1,39 die/eine Stadt Judas101; 1,54 Israel als Knecht Gottes;

97 DEINES, Jesus and Scripture, 55–60. Vgl. außerdem ROBINSON, Distinctive Use of Scripture, 36, der unter Aufnahme der Arbeiten von C.H. Dodd gerade im Schriftgebrauch Jesu “bedrock tradition about the historical Jesus” vermutet. 98 Der einzige Beleg für ein solches Zitat, das nicht von einer der handelnden Personen gesprochen wird, ist Ps 22,19 zur Beschreibung der Teilung der Kleider Jesu unter dem Kreuz (Lk 23,34 parr. Mk 15,24; Mt 27,35; Joh 19,24). Im Text selbst weist nichts darauf hin, dass es sich um ein Zitat handelt, und nur mit dem Psalm Vertraute waren in der Lage, diesen Bezug zu erkennen; einzig bei Joh ist der Vers als ausdrückliches Zitat eingeführt; bei Mt und Mk ist der Verweis auf Ps 22 dadurch verstärkt, dass der Ruf Jesu am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Ps 22,2 in Mk 15,34 par. Mt 27,46), ebenfalls im Kontext auftaucht. Zu weiteren Bezügen s. GESE, Psalm 22, 193–196. 99 HENGEL, Lukasprolog, 254. Die Vorgeschichte geht s.E. auf „eine judenchristlich-palästinische Quelle“ zurück. 100 Zu Lk 2,22–24 als zuverlässiger Darstellung jüdischer Praxis (was immer wieder bestritten wird) s. BAUCKHAM, Luke’s Infancy Narrative, 410–416; RIESNER, Bethlehem, 503f. 101 Der Besuch bei Elisabeth ist in einer oder der Stadt des Juda lokalisiert, d.h. hier wird an den Stammvater des Hauses Davids erinnert (vgl. zur Namensschreibung Lk 3,33).

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1,55.73 Abraham; 1,69 David als Knecht Gottes; 1,70 „die heiligen Propheten“; 2,4.11 Bethlehem als Stadt Davids; 2,36 der Stamm Asser; weitere eindeutige Verweise sind diejenigen auf die Mutter von Simson [1,15 / Jdc 13,4f.], Sarah [1,37 / Gen 18,14], Hanna [1,46–55 / 1Sam 2,1–10]; auffällig ist auch die betonte Verwendung von Judäa 1,5.65; 2,4; 3,1). Zudem sind hier eigentliche Zitate eingeführt, die auf Lukas selbst oder seine Quelle zurückgehen (2,23 / Lev 13,2.12.15; 2,24 / Lev 5,7; 12,8). Die Hymnen (1,46–55 Magnificat; 1,68–79 Benedictus; 2,29–32 Nunc dimittis; außerdem der Lobgesang der Engel 2,14) in diesen Kapiteln bestehen aus einem Mosaik biblischer Textbausteine, die kunstvoll die Geburt des Messias mit den „jesajanischen Geburtsverheißungen“ verbinden.102 II. Explizite Schriftzitate bei Lukas Sieht man zunächst einmal von Kapitel 1–2 mit den zahlreichen Anspielungen auf biblische Prätexte ab, dann sind die folgenden Texte eindeutig als Schriftzitate eingeleitet und darum die deutlichsten Hinweise darauf, wie einzelne Personen zur Schrift in Beziehung gesetzt werden: – 3,4–6 Lukas bei der Einführung des Täufers: ὡς γέγραπται ἐν βίβλῳ λόγων Ἠσαΐου τοῦ προφήτου· φωνὴ βοῶντος ἐν τῇ ἐρήµῳ … (Jes 40,3–5). – 4,4 Jesu Antwort an den Teufel nach der ersten Versuchung: γέγραπται ὅτι οὐκ ἐπ᾿ ἄρτῳ µόνῳ ζήσεται ὁ ἄνθρωπος (Dtn 8,3). – 4,8 Jesu Antwort an den Teufel nach der zweiten Versuchung: γέγραπται· κύριον τὸν θεόν σου προσκυνήσεις καὶ αὐτῷ µόνῳ λατρεύσεις (Dtn 6,13). – 4,9b–11 Der Teufel zu Jesus als dritte Versuchung: εἰ υἱὸς εἶ τοῦ θεοῦ, βάλε σεαυτὸν ἐντεῦθεν κάτω· γέγραπται γὰρ ὅτι τοῖς ἀγγέλοις αὐτοῦ ἐντελεῖται περὶ σοῦ τοῦ διαφυλάξαι σε (Ps 91,11) καὶ ὅτι ἐπὶ χειρῶν ἀροῦσίν σε … (Ps 91,12). – 4,12 Jesu letzte Antwort an den Teufel: εἴρηται· οὐκ ἐκπειράσεις κύριον τὸν θεόν σου (Dtn 6,16). – 4,17–21 Jesus in der Synagoge von Nazareth: καὶ ἐπεδόθη αὐτῷ βιβλίον τοῦ προφήτου Ἠσαΐου καὶ ἀναπτύξας τὸ βιβλίον εὗρεν τὸν τόπον οὗ ἦν γεγραµµένον· πνεῦµα κυρίου ἐπ᾿ ἐµέ … (Jes 61,1f.; 58,6) καὶ πτύξας τὸ βιβλίον ἀποδοὺς τῷ ὑπηρέτῃ ἐκάθισεν· καὶ πάντων οἱ ὀφθαλµοὶ ἐν τῇ συναγωγῇ ἦσαν ἀτενίζοντες αὐτῷ. ἤρξατο δὲ λέγειν πρὸς αὐτοὺς ὅτι σήµερον πεπλήρωται103 ἡ γραφὴ αὕτη ἐν τοῖς ὠσὶν ὑµῶν. Dies ist nach dem

Eine andere Möglichkeit ist, darin einen konkreten Ortsnamen zu sehen; ausführliche Diskussion dazu bei ZAHN, Lucas, 91–95; dagegen kritisch BOVON, Lukas I, 84 m. Anm. 29. 102 MITTMANN-RICHERT, Magnifikat, 144–153. 103 Lukas verwendet die Verben πληρόω, συµπληρόω und πληροφορέω sowie das Adjektiv πλήρης relativ häufig und semantisch vielfältig. Im Hinblick auf heilsgeschichtliche Erfüllung s. Lk 1,1; 9,31.51; 21,24; 22,16 (vgl. auch 1,20 von der Erfüllung der Prophetie des Engels, der Zacharias nicht geglaubt hatte). Mit Ausnahme von 9,31 sind alle Aussagen passivisch, in 9,31 ist Jesus aktives Subjekt des Erfüllens (so auch in 7,1, der einzigen

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Summarium über den Beginn von Jesu Verkündigung (4,15) der erste detaillierte Bericht über Jesu Verkündigung in den Synagogen Galiläas. Entscheidend ist, dass hier beginnt, was in 24,44 endet: Die Propheten sprechen über Jesus, mit seinem Auftreten beginnt ihre Erfüllung. Damit ist die persönliche In-Beziehung-Setzung zur Schrift bei Lukas programmatisch am Anfang und am Ende des Lehrens Jesu hervorgehoben. – 7,26f. Jesus zum Volk über Johannes den Täufer: τί ἐξήλθατε ἰδεῖν; προφήτην; ναὶ λέγω ὑµῖν, καὶ περισσότερον προφήτου. οὗτός ἐστιν περὶ οὗ γέγραπται· ἰδοὺ ἀποστέλλω τὸν ἄγγελόν µου πρὸ προσώπου σου, ὃς κατασκευάσει τὴν ὁδόν σου ἔµπροσθέν σου (Mal 3,1; Ex 23,20). – 10,26f. Jesus fordert den Schriftgelehrten, der ihn nach den Bedingungen des ewigen Lebens fragt, zu einer Antwort auf: ἐν τῷ νόµῳ τί γέγραπται; πῶς ἀναγινώσκεις; darauf antwortet der Schriftgelehrte: ἀγαπήσεις κύριον τὸν θεόν σου … (Dtn 6,5; Lev 19,18). – 18,20 Jesus zu dem reichen Mann, der ihn nach dem ewigen Leben fragt: τὰς ἐντολὰς οἶδας· µὴ µοιχεύσῃς, … (Ex 20,12–16). – 19,38 Die „Menge der Jünger“ (τὸ πλῆθος τῶν µαθητῶν104) skandiert bei Jesu Einzug in Jerusalem Ps 118,26. Hier fehlt eine Zitatformel, aber der Kontext und die Bekanntheit des Inhalts lassen kaum einen Zweifel, dass es sich hier um ein intendiertes Zitat handelt.105 – 19,46 Jesus im Tempel zu den Händlern: λέγων αὐτοῖς· γέγραπται· καὶ ἔσται ὁ οἶκός µου οἶκος προσευχῆς (Jes 56,7), ὑµεῖς δὲ αὐτὸν ἐποιήσατε σπήλαιον λῃστῶν (Jer 9,11). – 20,17f. Jesus zum Volk, dem er das Weinberggleichnis erzählt und das daraufhin (nur bei Lukas) erschrocken reagiert: … εἶπεν· τί οὖν ἐστιν τὸ γεγραµµένον τοῦτο· λίθον ὃν ἀπεδοκίµασαν οἱ οἰκοδοµοῦντες, οὗτος ἐγενήθη εἰς κεφαλὴν γωνίας (Ps 118,22); πᾶς ὁ πεσὼν ἐπ᾿ ἐκεῖνον τὸν λίθον συνθλασθήσεται· ἐφ᾿ ὃν δ᾿ ἂν πέσῃ, λικµήσει αὐτόν (Verweis auf Jes 8,14f., vgl. außerdem Dan 2,34f.44f.).106 – 20,37 Jesus in seiner Anfrage an die Sadduzäer: Μωϋσῆς ἐµήνυσεν ἐπὶ τῆς βάτου, ὡς λέγει κύριον τὸν θεὸν Ἀβραὰµ καὶ θεὸν Ἰσαὰκ καὶ θεὸν Ἰακώβ (Ex 3,6).

weiteren aktiven Verwendung). Zum Erfülltsein Jesu mit Weisheit bzw. dem Heiligen Geist s. 2,40 und 4,1, im Hinblick auf Schrifterfüllung nur 4,21 und 24,44, d.h. am Anfang und am Ende von Jesu Wirken. Dieser Gebrauch setzt sich in der Apostelgeschichte fort: Act 1,16 (Schrift); 3,18 (Gott hat das, was er durch den Mund aller Propheten angekündigt hatte, dass sein Messias leiden müsse, so erfüllt); 13,27.33 (die Erfüllung der prophetischen Ankündigungen, in V. 27 durch die Einwohner Jerusalems und ihre Oberen in Unwissenheit, in V. 33 ist Gott selbst der Erfüller seines Versprechens). 104 Dieses Syntagma ist typisch für Lukas (obwohl „der Jünger“ hier textkritisch unsicher ist); vgl. außer hier auch Act 6,2 (und ähnlich 4,32); τὸ πλῆθος als Größenangabe für die an Jesus Gläubigen auch in Act 6,5; 15,12.30; 17,4. 105 Ps 118 gehört zu den Hallel-Psalmen (Ps 113–118), einer Psalmengruppe, die u.a. am Passafest rezitiert wurde; s. Bill. I, 845–849. Zur tannaitischen Auslegung von Ps 118,21–28 auf die Erwählung Davids s. bPes 119a (= Bill. I, 849f.). 106 Zur Deutung des „verworfenen Steins“ in Ps 118,22 auf David s. BROOKE, Use, passim.

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– 20,41–43 Jesus zu den Schriftgelehrten: πῶς λέγουσιν τὸν χριστὸν εἶναι ∆αυὶδ υἱόν; αὐτὸς γὰρ ∆αυὶδ λέγει ἐν βίβλῳ ψαλµῶν· εἶπεν κύριος τῷ κυρίῳ µου· κάθου ἐκ δεξιῶν µου, ἕως ἂν θῶ τοὺς ἐχθρούς σου ὑποπόδιον τῶν ποδῶν σου (Ps 110,1). – 21,22f. Jesu zu seinen Jüngern in der Rede über das Ende Jerusalems: ὅτι ἡµέραι ἐκδικήσεως (Dtn 32,35; Hos 9,7; Jer 46/LXX 26,10) αὗταί εἰσιν τοῦ πλησθῆναι πάντα τὰ γεγραµµένα. οὐαὶ ταῖς ἐν γαστρὶ ἐχούσαις καὶ ταῖς θηλαζούσαις ἐν ἐκείναις ταῖς ἡµέραις … Das Folgende, wie weite Teile dieser Rede, ist ein dichtes Netz von Anspielungen auf biblische Gerichtsausagen.107 – 22,37 Jesus zu seinen Jüngern: λέγω γὰρ ὑµῖν ὅτι τοῦτο τὸ γεγραµµένον δεῖ τελεσθῆναι108 ἐν ἐµοί, τό· καὶ µετὰ ἀνόµων ἐλογίσθη (Jes 53,12)· καὶ γὰρ τὸ περὶ ἐµοῦ τέλος ἔχει, d.h. das auf ihn hin Geschriebene kommt an sein Ziel (τέλος).

Außer diesen durch eine Einleitung eindeutig markierten Zitaten gibt es zwei weitere ohne eine solche, die für Leser und Hörer ohne entsprechende Vorkenntnisse nicht leicht als solche erkennbar waren. Dass es sich dennoch um intendierte und bewusst gebrauchte Schriftworte handelt, legt sich aus der langen Liste der markierten Zitate nahe: – 23,29f. Jesus zu den Frauen Jerusalems auf dem Weg zur Kreuzigung: … ἰδοὺ ἔρχονται ἡµέραι ἐν αἷς ἐροῦσιν· µακάριαι αἱ στεῖραι καὶ αἱ κοιλίαι αἳ οὐκ ἐγέννησαν (Jes 54,1) καὶ µαστοὶ οἳ οὐκ ἔθρεψαν. τότε ἄρξονται λέγειν τοῖς ὄρεσιν· πέσετε ἐφ᾿ ἡµᾶς, καὶ τοῖς βουνοῖς· καλύψατε ἡµᾶς (Hos 10,8).

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Vgl. dazu PAO/SCHNABEL, Luke, 376f. Es handelt sich hier aber weniger um Zitate einzelner Verse als um eine summarische Aussage: Alles (πάντα), was über den „Tag der Vergeltung“ geschrieben steht (d.h. hier das Gericht über das Gottes Boten verachtende Jerusalem; s. 13,34f.). Ungewöhnlich ist die Verwendung von πίµπληµι (πλησθῆναι) im Zusammenhang mit Schrifterfüllung. Das Verb gehört zwar zum Vorzugsvokabular des Lukas (von den 24 Belegen im NT sind 22 bei ihm zu finden), aber dabei geht es zumeist um das Erfülltwerden mit dem Heiligen Geist (Lk 1,15.23.67 u.ö.; Act 2,4 u.ö.) oder Emotionen (Lk 4,28; 5,26 u.ö.); außerdem können bestimmte Zeiträume, wie eine Schwangerschaft oder Reinigungsperiode, „erfüllt“ sein (Lk 1,23.57; 2,6.21f.). 108 τελέω im Sinne von „erfüllen (d. Schrift)“ auch sonst bei Lukas: Lk 2,39 (die Eltern Jesu „erfüllten“ alles nach dem Gesetz des Mose; für die Erfüllung von Einzelgeboten auch in Röm 2,27; Jak 2,8); 18,31; 22,37 (beide Male im Munde Jesu über sein Leiden in Jerusalem); die einzige abweichende Stelle ist Lk 12,50, wo Jesus allgemein von der Taufe spricht, die er erleiden muss, und „wie bin ich bedrückt, bis es vollendet ist“. Auch die einzige Act-Stelle (Act 13,29) verweist auf den Tod Jesu und die damit erfolgte Erfüllung der Schrift: ὡς δὲ ἐτέλεσαν πάντα τὰ περὶ αὐτοῦ γεγραµµένα, καθελόντες ἀπὸ τοῦ ξύλου ἔθηκαν εἰς µνηµεῖον. Matthäus gebraucht das Verb ebenfalls, aber nie im Zusammenhang mit Schrift- oder heilsgeschichtlicher Erfüllung. Es fehlt in Markus; bei Johannes nur 19,28.30 in derselben Weise wie bei Lukas: Μετὰ τοῦτο εἰδὼς ὁ Ἰησοῦς ὅτι ἤδη πάντα τετέλεσται, ἵνα τελειωθῇ ἡ γραφή, λέγει· διψῶ. … τετέλεσται, καὶ κλίνας τὴν κεφαλὴν παρέδωκεν τὸ πνεῦµα. Der Gebrauch im Corpus Paulinum (5-mal) ist unspezifisch; in der Offenbarung (8-mal) geht es immer um die Vollendung von heils- oder unheilsgeschichtlichen Etappen; wobei die erste Stelle (Apk 10,7) auf die biblischen Propheten Bezug nimmt. Ihre Botschaft vollendet sich mit der siebten Posaune.

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– 23,34a Jesu Vergebungsbitte am Kreuz: πάτερ, ἄφες αὐτοῖς, οὐ γὰρ οἴδασιν τί ποιοῦσιν, die verwirklicht, was Jes 53,12 vom leidenden Gottesknecht aussagt.109

Zu den eigentlichen Zitaten gehören ferner die beiden ausdrücklichen Verweise auf biblische Zusammenhänge, bei denen die Texte, auf die angespielt wird, nicht eigens zitiert werden, aber dennoch eindeutig identifizierbar sind: In Lk 5,14 befiehlt Jesus dem geheilten Aussätzigen, sich dem Priester zu zeigen, „wie es Mose geboten hat“ (καθὼς προσέταξεν Μωϋσῆς, s. Lev 14,2), und in 6,3f. fragt Jesus die Pharisäer, ob sie nicht gelesen hätten, was David tat (οὐδὲ τοῦτο ἀνέγνωτε ὃ ἐποίησεν ∆αυίδ, s. 1Sam 21,4–7). Überblickt man diese erste Liste, dann ist die Prominenz Jesu unübersehbar. Außer ihm sind es nur der Täufer, der Teufel und die Sadduzäer (und indirekt der Schriftgelehrte in 10,26 sowie die Jünger beim Einzug), die je einmal ein Schriftwort zitieren. Jesus zitiert aus der Tora, den vorderen und hinteren Propheten sowie den Psalmen. Manche Zitate sind äußerst präzise (20,37.42; vgl. 4,17), andere haben summarischen Charakter (18,31; 21,22; 22,37). III. Indirekte Verweise auf die Schrift bei Lukas Ist diese erste Zusammenstellung (der entsprechende Listen bei den anderen Evangelisten zur Seite gestellt werden können) an sich schon beeindruckend, so wird dieser Befund noch einmal verstärkt durch die zahlreichen Belege, in denen ohne ausdrückliche Zitateinleitung bzw. Nennung des jeweiligen biblischen Buches auf biblische Erzählungen zur Begründung oder als Illustration verwiesen wird. Dabei ist es auch hier mit wenigen Ausnahmen Jesus selbst, der solche biblische Kontexte evoziert: In seiner Predigt in der Synagoge von Nazareth erinnert er an Elia und die Witwe von Sarepta (4,25f. / 1Reg 17,9– 24) sowie an Elisas Heilung des Naaman (4,27 / 2Reg 5,1–14); bei seiner Erwähnung der Falschpropheten, die schon früher von der Mehrheit zu Unrecht Applaus bekamen, dachten die Zuschauer wohl zuallererst an Micha ben Jimla (2Reg 22,1–28; vgl. Mi 2,11) und Jeremia (Jer 5,31; als eindrucksvolle Geschichte aber wohl vor allem seine Auseinandersetzung mit Hananja in Jer 28); weitere konkrete Bezugnahmen auf biblische Erzählungen sind die Nennung von Sodom (10,12 / Gen 19,1–29), Jona und Ninive (11,29f.32 / Jonabuch), Salomo und der Königin vom Süden (11,31 / 1Reg 10,1–13), den Prophetenmorden von Abel bis Secharja (11,49–51 / Gen 4,1–8 bzw. 2Chr 24,19–22110), Salomos Kleiderpracht (12,27 / 1Reg 10,5.25) sowie den Zeiten 109 Textkritisch ist diese Stelle umstritten, aber möglicherweise doch als ursprünglich zu beurteilen; vgl. MITTMANN-RICHERT, Sühnetod, 98f. Schon in Lk 22,37 hat Jesus ausdrücklich auf diesen Vers Bezug genommen (inklusive Zitateinleitungsformel), wobei der erste Versteil im Blick war. Hier ist nun der zweite Teil aufgenommen, wenngleich nicht ausdrücklich zitiert. 110 Zum Problem der Identifizierung von Secharja/Zacharias s. BOVON, Lukas II, 236. Dass Lukas an 2Chr 24,20–22 dachte, ist kaum zu bezweifeln, da bei ihm der dreiteilige

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Noahs und Lots (17,26–32 / Gen 6,9ff.; 19). Auffällig sind ferner die wiederholten Bezugnahmen auf Abraham als Stammvater Israels, so wenn Jesus eine teilgelähmte Frau als „Abrahams Tochter“ (13,16) bezeichnet oder den Zöllner Zachäus als „Abrahams Sohn“ (19,9). Auch im Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus ist Abraham prominent: der eschatologische Aufenthaltsort ist „Abrahams Schoß“ (V. 22f.), der Reiche redet ihn als „Vater Abraham“ an (V. 24.30) und dieser ihn als „Kind“ (V. 25). Hierher gehört auch 13,28, wo Jesus „Abraham, Isaak, Jakob und alle Propheten“ als Teilnehmer am eschatologischen Mahl erwähnt. In 22,30 verweist er schließlich auf die zwölf Stämme Israels, über die seine Jünger richten werden. Daneben stehen Passagen, in denen Jesus auf die Erfüllung prophetischer Worte mehr oder weniger deutlich anspielt, wie in der Antwort auf die Anfrage des Täufers (7,22 / Jes 26,19; 29,18f.; 35,5f.; 42,7.18; 61,1) oder seiner Erklärung, warum er in Gleichnissen zum Volk redet (8,10 / Jes 6,9f.; nur bei Mk und Mt ist das Zitat eindeutig gekennzeichnet); zu nennen sind ferner die Worte von der Spaltung innerhalb von Familien im Vorfeld der eschatologischen Erlösung (12,51–53 / Mi 7,6), die Klage über Jerusalem (13,34f. / Jer 22,5; Ps 69,26; 118,26) und die Endzeitrede 21,8–36, in der zahlreiche biblische Anspielungen und Wendungen vorkommen.111 Wie bei den eigentlichen Zitaten gilt auch hier: Die weit überwiegende Mehrheit der Belege haben Jesus als Sprecher, nur vereinzelt finden sich vergleichbare Passagen auch bei anderen Personen: Die Einwohner von Nain, die Zeugen der Totenauferweckung des Sohnes einer Witwe werden, sehen in Jesus den „großen Propheten“ (7,16; das Wunder erinnert an Elisa: s. 2Reg 4,32–37), durch den Gott sein Volk „besucht“ (ἐπεσκέψατο)112; am Hof des Herodes Antipas wird über Jesus als Elia redivivus oder einen der alten Propheten spekuliert (9,8 / Mal 3,23; vgl. Sir 48,10), was von den Jüngern dann noch einmal wiederholt wird (9,19); außerdem wollen Jakobus und Johannes Feuer vom Himmel regnen lassen wie einst Elia (9,54 / 2Reg 1,10–12). Das sind aber auch schon die einzigen diesbezüglichen Belege. IV. Jesus als Ausleger und Thema der ganzen Schrift Die für die Bedeutung Jesu wichtigste Gruppe sind die Aussagen, bei denen er – und er allein – summarische Zusammenfassungen dessen gibt, worum es in der Schrift geht:

hebräische Kanon mit den Schriften als drittem und letztem Kanonteil (und der Chronik damit als letztem Buch desselben) deutlich erkennbar ist. 111 Für einen ersten Überblick s. die Parallelstellen am Rand von NA28, außerdem PAO/ SCHNABEL, Luke, 374–379. 112 Zu ἐπισκέπτοµαι bzw. ἐπισκοπή als Ausdruck für Gottes rettendes Heimsuchen s. Ex 3,16; 4,31 u.ö.

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– 16,16f. In einem enigmatischen und mit dem Kontext nicht erkennbar verbundenen Wort sagt Jesus: Ὁ νόµος καὶ οἱ προφῆται µέχρι Ἰωάννου· ἀπὸ τότε ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ εὐαγγελίζεται καὶ πᾶς εἰς αὐτὴν βιάζεται. εὐκοπώτερον δέ ἐστιν τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν παρελθεῖν ἢ τοῦ νόµου µίαν κεραίαν πεσεῖν.113 – 18,31–33 Nur bei Lukas verbindet Jesus in der dritten Leidensankündigung das bevorstehende Leiden des Menschensohnes (Dan 7,13) in Jerusalem mit dem Erfüllen „alles dessen, was geschrieben ist“, wobei das in V. 32f. beschriebene Geschehen als Verweis auf Jes 53,4f. gelesen werden kann114: καὶ τελεσθήσεται πάντα τὰ γεγραµµένα διὰ τῶν προφητῶν τῷ υἱῷ τοῦ ἀνθρώπου. Was vor Tod und Auferstehung noch zurückhaltend in Bezug auf den Menschensohn ausgesagt wird, wird in 24,27.44 dann vom Auferstandenen direkt mit sich selbst in Beziehung gesetzt. – 24,(25–)27 Der unerkannte Wanderer (Jesus) im Gespräch mit den zwei Jüngern nach Emmaus: καὶ ἀρξάµενος ἀπὸ Μωϋσέως καὶ ἀπὸ πάντων τῶν προφητῶν διερµήνευσεν115 αὐτοῖς ἐν πάσαις ταῖς γραφαῖς τὰ περὶ ἑαυτοῦ. Mit 24,25 fängt die Rede des Unbekannten an, der sich bis dahin von den beiden Jüngern erzählen ließ, was sich in Jerusalem zugetragen hatte. Bereits in V. 25 wird auf die Propheten verwiesen, die angekündigt hätten, dass der Messias zu leiden habe (V. 26). Nach dieser Einleitung folgt ein gesamtbiblischer Überblick „anhand von Mose und allen Propheten“. Was die beiden Jünger auf dem Weg noch nicht verstanden, löst Lukas für die Leser bereits hier auf: Das, was Mose und die Propheten über das Leiden des Messias schrieben (V. 26), hat Jesus auf sich angewandt: „Und ausgehend von Mose und von allen Propheten übersetzte er durch alle Schriften das ihn selbst Betreffende.“ Jesus ist damit nicht nur Thema der ganzen Schrift, sondern der Auferstandene ist zugleich derjenige, der – legt man den paulinischen Sprachgebrauch von διερµηνεύω zugrunde – die „geistliche Sprache“ der Schrift so übersetzt, dass es die beiden Weggefährten nach der weiteren epiphanen Handlung des Brotbrechens endlich auch verstehen können: „Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns auf dem Weg redete, als er uns die Schriften öffnete (διήνοιγεν116

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Zu den Schwierigkeiten s. MOYISE, Jesus and Scripture, 55–57. Zu meinem eigenen Verständnis, auch im Verhältnis zu Mt 5,17f. und zur nachfolgenden Lazarus-Perikope, die mit der zweimaligen Nennung von „Mose und den Propheten“ (Lk 16,29.31) einen klaren Bezug zu 16,16f. herstellt, s. DEINES, Gerechtigkeit, 340–345. 114 Vgl. MITTMANN-RICHERT, Sühnetod, 237–239.241. Zu τελέω s.o. S. 86, Anm. 108. Die engsten Parallelen sind Mt 26,54.56 (s. DEINES, Gerechtigkeit, 339f.) und 1Kor 15,3. 115 διερµηνεύω für Schriftauslegung nur hier im NT; es ist zumeist für das Übersetzen von Zungenrede in verständliche Sprache gebraucht (1Kor 12,30; 14,5.13.27; als Substantiv 14,28; das Simplex 1Kor 12,10; 14,26), dazu einmal für die Übersetzung vom Aramäischen ins Griechische (Act 9,36; so auch das Simplex ἑρµηνεύω in seinen drei Vorkommen in Joh 1,42; 9,7; Heb 7,2; auch alle LXX-Belege beziehen sich auf das Übersetzen von einer Sprache in die andere). 116 Obwohl Lukas ἀνοίγω bzw. διανοίγω sehr häufig gebraucht (10-mal im Evangelium und 19-mal in Acta, zumeist im Sinne von Augen oder Mund öffnen), wird es nur hier und 24,44–46 sowie in der dazu fast gleichlautenden Stelle Act 17,2f. (wo es Paulus statt Jesus ist, der den Juden in Thessalonich die Schrift aufschließt) zur Bezeichnung einer die Schrift auslegenden Handlung gebraucht. Dies verweist, wie eine lange Reihe von anderen Beobachtungen, auf eine aramäische oder hebräische Vorlage, die Lukas aber schon in einer griechischen Fassung kannte und dann behutsam bearbeitet hat; zu dieser Debatte und

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Roland Deines ἡµῖν τὰς γραφάς V. 32)?“ Das Erkennen vollendet sich also erst im Brotbrechen, d.h. im Verweis auf das Mahl, in dem Jesus sein Leben „für euch“ (Lk 22,19f.) gegeben hat: Sein Sühnetod ist die erhoffte Erlösung und das vierte Gottesknechtlied der Schlüssel, wie Mittmann-Richert gezeigt hat.117

– 24,44 Der Auferstandene zu den in Jerusalem versammelten Jüngern: οὗτοι οἱ λόγοι µου οὓς ἐλάλησα πρὸς ὑµᾶς ἔτι ὢν σὺν ὑµῖν, ὅτι δεῖ πληρωθῆναι πάντα τὰ γεγραµµένα ἐν τῷ νόµῳ Μωϋσέως καὶ τοῖς προφήταις καὶ ψαλµοῖς περὶ ἐµοῦ. τότε διήνοιξεν αὐτῶν τὸν νοῦν τοῦ συνιέναι τὰς γραφάς· καὶ εἶπεν αὐτοῖς ὅτι οὕτως γέγραπται παθεῖν τὸν χριστὸν καὶ ἀναστῆναι ἐκ νεκρῶν τῇ τρίτῃ ἡµέρᾳ … In dieser abschließenden Aussage verbindet Lukas die Zeit vor der Auferstehung („dieses sind meine Worte, welche ich zu euch sagte, während ich noch mit euch war“), die vom Nichtverstehen der Jünger geprägt war (s. 9,45), mit der Zeit danach, in der die Jünger ‚endlich‘ „die Schriften verstanden“ (24,45). Den Umschlag zwischen Verstehen und Nichtverstehen bewirkt das von Jesus verwirklichte Erfüllen (πληρωθῆναι) „alles dessen, was im Gesetz des Mose, den Propheten und Psalmen“ über ihn selbst „geschrieben ist“. Zentral ist hier erneut, dass die Jünger erkennen, dass der Messias aufgrund dessen, was geschrieben steht, leiden, sterben und auferstehen musste (V. 46). Dieser Schriftbeweis wird zum Bestandteil einer der ältesten Bekenntnisaussagen im Neuen Testament (1Kor 15,3f.; vgl. Act 3,18; 17,2f.; 26,22f.; Röm 8,17; 2Kor 1,5; Phil 3,10; Kol 1,24; 1Petr 1,11; 5,1; Hebr 2,10; 4,15; 9,26). Entscheidend ist, und das hebt Lukas eindrücklich hervor (Lk 24,6–8), dass diese Schriftauslegung nicht erst eine Folge der Passion ist. Damit verweist er zurück auf die Leidensweissagungen, die nur bei ihm direkt mit „allem, was geschrieben steht“ in Beziehung gesetzt werden (18,31). Außerdem hatte Jesus in 22,37 ausdrücklich auf Jes 53,12 als „über mich geschrieben“ Bezug genommen.

Zusammenfassend belegt dieser Überblick, der sich auf die eindeutig identifizierbaren und darum sicher intendierten Schriftbezüge beschränkte, dass für Lukas in ganz eminenter Weise Jesus derjenige ist, der Schrift zitiert, auslegt der entsprechenden Literatur s. RIESNER, Emmaus-Erzählung, 161–175 (zum „Öffnen“ der Schrift a.a.O., 163f.166). Ihm zufolge spricht viel dafür, dass es sich bei der Emmaus-Perikope um einen Bestandteil jener „hebraisierende[n] Sonderquelle handelt, die aus judäischen Kreisen um den Herrenbruder Jakobus und andere[n] Angehörige[n] der Jesus-Familie stammt“ (a.a.O., 174). Zu einer Interpretation der Emmausperikope durchweg vom vierten Gottesknechtlied her (Jes 52,13–53,12) s. MITTMANN-RICHERT, Sühnetod, 210–249. 117 MITTMANN-RICHERT, Sühnetod, 121: Die Formel „für euch“ fasst „das heilsgeschichtliche Ziel des Todes Jesu ins Bild der Israel und die Völker entsühnenden Lebenshingabe des Gottesknechts nach Jes 53,10–12“; vgl. außerdem a.a.O., 235, zum Brotbrechen Jesu in der Emmaus-Perikope: „Wer in dem, der das Brot bricht, den Gottesknecht erkennt, der erkennt nach Überzeugung des Lukas von selbst den, der sein Leben ,um der Sünde der Vielen‘ willen gab (Jes 53,12) und zu Israels Heil, seiner Erlösung von den Folgen der Sünde (Jes 53,5), gesandt war. Er erkennt, daß sich in Jesus die Hoffnung auf die Erlösung Israels, die in V. 21 zusammengebrochen schien, erfüllt hat, wenn auch anders, als der allein das Äußerliche sehende Mensch (vgl. Jes 53,2) es sich zurechtgelegt hatte. So stellt in Emmaus das Mahl den Jüngern wie denen, die ihre Geschichte zu hören bekommen, die Erfüllung ihrer Erlösungshoffnung als die ihnen zukommende Frucht des Todes Jesu vor Augen (Jes 53,12) und läßt sie die Auferstehung in Herrlichkeit als den verheißenen Abschluß des Weges des Knechts und als das ihnen bereitete Heil erkennen.“

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und anwendet, z.T. mit sehr genauen Einleitungsformulierungen. Nicht nur die überwiegende Mehrheit, sondern auch alle entscheidenden Zitate und Anspielungen sind – sieht man von der Vorgeschichte bis zum Auftreten des Täufers ab, wo sie aber im Grunde ausschließlich Familienangehörigen zugeschrieben sind – im Munde Jesu zu finden. Jesus selbst steht als messianischer Lehrer und Erklärer der Schrift im Zentrum. Das gilt für alle thematischen Bereiche, wobei die Auseinandersetzung mit den Pharisäern für Lukas weniger wichtig ist als für Matthäus. Aber wie bei Matthäus (mit Ausnahme der sog. Antithesen) ist auch bei Lukas auffällig, dass Jesus von sich aus nur selten über das Gesetz als Handlungsanweisung spricht.118 Das eigentliche Thema der Schrift ist prophetisch und auf den Messias zu beziehen, wobei für Lukas dessen Leiden und Sterben eine herausragende Stellung innehat. Der Durchgang durch die von Jesus zitierten Schriftstellen lässt erkennen, dass sowohl bestimmte Einzeltexte als auch gesamtbiblische Zusammenhänge zum Tragen kommen, wenn Jesus seine eigene Stellung als Teil der biblischen Geschichte beschreibt. Bovon schreibt zutreffend zu Lk 24,44: „Lukas sagt gewiss nicht, alle Geschichten und alle Gebote des Alten Testaments sprächen von Christus. Aber er wagt doch, eine christologische Lektüre der Schriften Israels vorzuschlagen.“119 Hier muss nun aber ergänzt werden, dass es nicht in erster Linie Lukas ist, der dies „wagt“, sondern Jesus, und dies nicht nur nach seiner Auferstehung sondern von Anfang an (4,21). Ist es an sich schon bemerkenswert, dass Jesus von Lukas in einer Weise dargestellt wird, dass dieser ganz selbstverständlich Teil der biblischen Geschichte ist, so ist die Art und Weise, wie er Jesus sich selbst dazu äußern lässt, noch viel beachtlicher: Denn die von Jesus praktizierte Schriftanwendung erschöpft sich nicht im detaillierten Einzelwissen und einer biblisch inspirierten Redeweise, sondern ist gekennzeichnet durch einen souveränen Umgang mit dem Ganzen der Schrift, der ohne wirkliche Parallele ist: Jesus weiß, welchen Platz Johannes in der Geschichte der Propheten einnimmt (7,26–28) und worauf die biblischen Könige und Propheten hofften (10,24). Wenn er seine Jünger fragt, was die Menschen von ihm halten, gibt er sich nicht damit zufrieden, selbst als einer der biblischen Propheten zu gelten, weil er als der Messias (9,18–20) mehr ist als Salomo oder Jona (11,29–32). Mit ihm reden Mose und Elia, aber das Thema ist sein eigener Exodus, den er in Jerusalem zu erfüllen im Begriff ist (9,30f.). Am Ende dieser Epiphanieerfahrung hören die 118

Im Vordergrund steht die Tora als Teil der prophetischen Tradition; vgl. Lk 16,16; 24,27.44. Als Handlungsanweisung genügt dagegen das Doppelgebot der Liebe (10,26– 28), das hier Jesus den Fragesteller selbst zitieren lässt. Die einzige Ausnahme ist 5,14, die Aufforderung an den geheilten Aussätzigen, sich den Priestern zu zeigen, aber dabei handelt es sich nicht um ein eigentliches Zitat, und es geschieht für diese εἰς µαρτύριον. In 16,18 nimmt Jesus mit dem Verbot der Ehescheidung indirekt auf ein Gebot Bezug (vgl. dazu oben S. 89, Anm. 113). 119 BOVON, Lukas IV, 590f.

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drei Jünger von der Stimme Gottes aus den Wolken, dass sie auf seinen Sohn hören sollen (9,35), d.h. er ist für sie das, was Mose und Elia für die Generationen vor ihnen waren (vgl. 16,29.31). Jesus teilt dem Gesetz und den Propheten ihre heilsgeschichtliche Zeit zu (16,16), und was sie in Bezug auf den Messias sagen, das ist über ihn gesagt (24,26f.44). Jesus weiß ferner, was die präexistente Weisheit „seit der Erschaffung der Welt“ durch die Propheten tat (11,49–51), und wirft den Schriftgelehrten vor, dass sie den Schlüssel zur Erkenntnis – doch offenbar der Schrift – weggenommen haben (11,52). Er dagegen hat nicht nur den hermeneutischen Schlüssel, der die Bedeutung der ganzen Schrift erschließt, sondern er selbst ist es, wie 24,27.44–46 deutlich macht – und zwar für alle Menschen (24,47). Der Stammbaum bezeugt dies zu Beginn seines öffentlichen Wirkens: In Jesus kommt der Sohn Gottes (3,22), in dem nicht nur die Geschichte Israels, sondern die aller Menschen ihre Vollendung findet. Die Verwunderung, die der zwölfjährige Jesus im Tempel ob seines Verstehens und Fragens auslöste (2,46–48), steht am Anfang, während die endgültige In-Beziehung-Setzung der Schrift mit seinem Leiden, Sterben und Auferstehen als ihrer eigentlichen Mitte am Ende steht. Ulrike Mittmann-Richert hat in ihren beiden Arbeiten zum Lukasevangelium gezeigt, dass vor allem das vierte Gottesknechtslied den entscheidenden Rahmen bot, in dem nach Lukas nicht nur das Passionsgeschehen, sondern von Kap. 4 an Jesu Selbstanspruch verstanden werden will.120 Für MittmannRichert fand diese Traditionsbildung in der Jerusalemer Gemeinde in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Tod und der Auferstehung Jesu statt; auch die messianischen Lieder im Stil der Psalmen im Eingangsteil des Lukasevangeliums gehen ihres Erachtens auf diese Zeit und dieselbe Gruppe zurück. Was bei ihr nur gestreift wird, ist die Frage, inwieweit diese Verschränkungen des eigenen Geschicks mit den genannten biblischen Texten schon von Jesus selbst vorgenommen wurden,121 oder ob es sich dabei primär um eine interpretatorische Leistung der nachösterlichen Jerusalemer Gemeinde handelt, die Jesus die Schriftbezüge in den Mund legte. Wer diesem skeptischen 120

Dagegen ist für die Passionsgeschichte von Markus und Matthäus Psalm 22 der „theologisch sinngebende Text“, wie Gese (s.o. S. 83, Anm. 98) gezeigt und MITTMANNRICHERT, Sühnetod, 196, noch einmal bestätigt hat, d.h. für die Frage nach dem historischen Jesus müssten die Ergebnisse der einzelnen Evangelien miteinander in Beziehung gesetzt werden. Für einen vergleichbaren Einfluss von Jes 52,13–53,12 auf den Ersten Petrusbrief (s. besonders 2,21–25) s. jetzt REHFELD, „Gottesknechtsgrammatik“, passim; umfassender auf alle Bezüge eingehend ist CHAPPLE, Appropriation, passim (mit einer beeindruckenden Bibliographie und Literaturauswertung); nach ihm gilt: “Scripture is, above all, prophetic testimony to Christ in his sufferings and glory” (a.a.O., 168). Dasselbe ließe sich über das Lukasevangelium sagen, wo es Jesus selbst ist, der in dieser Weise die Schrift auf sich bezieht. 121 Sie selbst äußert sich zu diesen Fragen nicht. Nur gelegentlich lässt sie erkennen, dass sie eine jesuanische Herkunft für möglich hält: s. etwa DIES., Sühnetod, 198.

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Ansatz folgt, der muss zumindest erklären, wieso eine Bewegung, die ohne Schriftauslegung entstand,122 nach dem Tod ihres Meisters urplötzlich die Notwendigkeit verspürte, dessen Leben und Sterben als Erfüllung von Gesetz und Propheten darzustellen. Außerdem müsste erklärt werden, woher diese literarisch und rhetorisch versierten Schriftkundigen kamen, wenn die Jesusbewegung in erster Linie aus galiläischen Bauern und Fischern bestand, für die nur rudimentäre Lese- und nahezu keine echten literarischen Kenntnisse vorausgesetzt werden können. Der Satz von Catherine Hezser ist typisch für die Mehrheitsmeinung, was die Schriftzitate im Munde Jesu anlangt: “The structure of the gospels with biblical quotations, paraphrases, allusions, and interpretations would have been the outcome of this later stage [sc. am Ende des 1. Jh., als die Evangelien entstanden; R.D.] in which Jesus’ teaching and activity was linked to the Jewish Bible and presented as the fulfillment of its prophesies. […] The ascetic miracle worker Jesus, who had believed in the closeness of the end of times and attracted a popular audience with his folkloristic teachings, was turned into a Torah teacher who competed with Pharisees and Scribes.”123

Was hier fehlt, ist die Angabe von Personen, die diese In-Beziehung-Setzung von Jesus und Schrift Israels vornahmen. Was waren ihre Motive, die aus Jesus angeblich einen Toralehrer machten – was er im Übrigen in keinem Evangelium ist! Das Problem bei Hezser ist, dass sie die pharisäisch-rabbinische Schriftgelehrsamkeit zum Maßstab nimmt, an dem Jesu Schriftbezug gemessen wird. Das gilt auch für Theißen/Merz, die über den „Schriftgebrauch Jesu“ (der immerhin ein Thema ist) festhalten, dass es nur eine „geringe Zahl von überlieferten Texten“ gebe, „in deren Zentrum ein in seiner Auslegung umstrittenes Schriftwort steht.“ Man kann sich darüber streiten, ob es die Aufgabe eines Lehrers ist, in erster Linie zu „umstrittene[n] Schriftwort[en]“ Stellung zu nehmen, und ich meine auch, dass die Charakterisierung der Schriftauslegung der „Essener und Rabbiner“ als „um ihrer [sc. der Schrift; R.D.] selbst willen“ kaum angemessen ist. Jesu Schriftgebrauch charakterisieren Theißen/Merz im Gegensatz dazu als instrumental, weil die Schrift u.a. dazu diene, „ein Erfüllungsbewußtsein“ zum Ausdruck zu bringen. Dabei erwägen sie positiv die Möglichkeit, dass der in Lk 4,18–21 erkennbare An122

Zu den extremen Formen dieses Ansatzes innerhalb der Q-Forschung s. DEINES, Galiläa, 285–291. 123 HEZSER, Jesus Movement, 98f.; vgl. a.a.O., 86f. Sie geht davon aus, dass eventuelle Schriftkenntnisse Jesu lediglich aus mündlichen Vorträgen kamen, an denen er teilnahm; s. a.a.O., 89: “What he knew of the Hebrew Bible would have been heard, memorized, and readapted to his audience’s circumstances.” Ähnlich auch THEISSEN/MERZ, Jesus, 319, die aber im Vergleich zu Hezser Jesus eine etwas höhere Bildung zubilligen: „Vielleicht hat Jesus als umherziehender Handwerker in den Synagogen und auf den Plätzen der größeren Städte Formen und Inhalte jüdischer und griechischer Bildung kennengelernt.“ Auch sie gehen davon aus, dass es sehr fraglich sei, dass die „klar identifizierbare[n] Schriftzitate oder Anspielungen auf biblische Traditionen […] auf Jesus zurückgehen“ (ebd.).

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spruch Jesu, „die Verheißung von Jes 61,1f zu erfüllen“, sein „Selbstverständnis“ angemessen wiedergibt.124 Daran lässt sich anknüpfen. Auch Hengel geht davon aus, dass das „Wirken und Sterben Jesu von Nazareth als ein endzeitliches, messianisches Geschehen […] von Anfang an […] von der deutenden Bezugnahme beziehungsweise Auslegung der Schriften“ begleitet war, „die in ihren Ansätzen bereits auf Jesus zurückgeht.“125 Aber auch Hengel bleibt dieser Möglichkeit gegenüber eher zurückhaltend, was in erster Linie damit zusammenhängt, dass er die messianische Schriftauslegung als „die endzeitliche Erfahrung des profetischen Geistes“126 versteht: „Es ist seine messianische ‚Begabung‘ mit der Fülle des Gottesgeistes seit der Taufe des Johannes […], die ihn für die Evangelisten ex officio zum Lehrer macht.“127 In diesem Zusammenhang verneint Hengel ausdrücklich die Möglichkeit, dass Jesus eine formale „pharisäische, schriftgelehrte Ausbildung“128 besaß. Die Bildungsmöglichkeiten in der Familie werden bei Hengel ebenfalls nur sehr zurückhaltend dargestellt, obwohl er davon ausgeht, „daß in der Familie Jesu die Tradition lebendig war, von David abzustammen.“129 Damit hängt der Verweis auf die charismatische Begabung zur Schriftauslegung allerdings ein wenig in der Luft. Denn Geistbegabung zur Auslegung ist kein Ersatz für Schriftkenntnis, die aller Auslegung vorausgeht. Wenn aber, wie oben gezeigt, Jesus in seinem Reden beständig auf biblische Traditionen verweist und sich Biblizismen in nahezu jedem seiner Worte nachweisen lassen, wenn man darüber hinaus gelten lässt, dass er in der Lage ist, genau zu zitieren, dann ist die Frage nach einer Unterweisung in den Schriften Israels und besonders ihren messianischen Traditionen unausweichlich. Dazu kommt der oben dargestellte Sachverhalt, dass ein Auftreten und Wirken als Messias notwendigerweise eine In-Beziehung-Setzung mit Israels heiligen Schriften zur Voraussetzung hat. Was in den obigen Zitaten auffällt, ist die Fokussierung auf die „pharisäische schriftgelehrte Ausbildung“ – so als ob es keine andere Möglichkeit gäbe. Die Frage nach Jesus im Kontext der frühjüdischen Messiaserwartungen ermöglicht darum auch in dieser Frage noch einmal eine ganz neue Perspektive, die m.E. bisher zu wenig in Betracht gezogen worden ist. Die erkennbaren messianischen Verwirklichungen von Serubbabel bis Bar Kochba lassen erkennen, dass deren historisches Wirken nicht vorstellbar ist ohne Schriftbezug schon zu Lebzeiten dieser Männer, von denen einige wohl nicht umsonst 124

THEISSEN/MERZ, Jesus, 320 (alle Zitate). HENGEL, Schriftauslegung, 603; vgl. DERS., Jesus und die Tora, 358. 126 HENGEL, Schriftauslegung, 607. 127 HENGEL/SCHWEMER, Jesus, 358. 128 HENGEL/SCHWEMER, Jesus, 453. Daraus sollte aber nicht geschlossen werden, dass Jesus überhaupt keine formale Ausbildung besaß: s. RIESNER, Jesus, 224–245; DEINES, Jesus and Scripture, 64–66 (mit weiterer Literatur). 129 A.a.O., 293. Zum sozialen Milieu der Herkunftsfamilie Jesu s. a.a.O., 283–296. 125

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als „Lehrer“ (σοφιστής) bezeichnet wurden. Statt also einen bildungsmäßigen Minimalismus für Jesus zum Ausgangspunkt zu nehmen, von dem aus dann Echtheits- bzw. sehr viel häufiger Unechtheitsurteile gefällt werden, lohnt es sich, in ein Gespräch mit den Ansätzen einzusteigen, die u.a. Riesner seit seiner Dissertation und danach in zahlreichen Aufsätzen weiterverfolgt hat, in denen er die Familie Jesu zum Ausgangspunkt von Jesus als Lehrer macht, wobei er besonders die Sondertraditionen im Lukasevangelium als Familienüberlieferungen nachzuweisen unternimmt.130 Unterstützend kann dafür auf die Arbeiten von Ulrike Mittmann-Richert hingewiesen werden, darüber hinaus auf die des englischen Neutestamentlers Richard Bauckham, der sich in der Gegenwart wohl am umfassendsten mit der Familie Jesu und ihrer exegetischen Tradition beschäftigt hat, wie sie sich u.a. in den Briefen seiner beiden Brüder, Jakobus und Judas, niedergeschlagen hat.131 Ausgehend von den Arbeiten der Genannten lässt sich jedoch noch mehr sagen, und das soll hier abschließend zumindest in Umrissen skizziert werden.

F. Ausblick: Jesus und die davidisch-messianischen Traditionen seiner Familie Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass sich für messianische Bewegungen eine in der Regel gruppenspezifische Vorgeschichte nachweisen bzw. plausibel rekonstruieren lässt. Wendet man dies auf die Jesusfamilie an, wofür es gute Gründe gibt, dann ist dieser eine wichtigere Rolle in der Traditionsbildung und auch in der formativen Prägung Jesu zuzuweisen, als dies weithin geschieht. Das wiederum wirkt auf die viel umstrittene Frage nach der Bildung Jesu ein. Die weithin verbreitete Alternative von schriftgelehrt-pharisäischer Bildung einerseits und charismatischer Begabung ohne formale Bildung andererseits greift dabei zu kurz. Es kann also nicht allgemein darum gehen, welches Maß an Literalität man bei einer galiläischen Handwerkerfamilie aus einem unbedeutenden Dorf erwarten kann. Stattdessen ist zu fragen, inwieweit es im Blick auf die Angehörigen der Jesusfamilie Hinweise auf gruppenund familienspezifische Bildungstraditionen gibt, wie sie nicht nur im Judentum (z.B. in bestimmten rabbinischen oder chasidischen Familien), sondern auch in der Kirchengeschichte vielfach bezeugt sind. Die auffällige Anzahl der Schriftzitate im Mund Jesu und ihre oft sehr präzise Anwendung weisen jedenfalls in diese Richtung, und dies wird noch verstärkt, wenn man die anderen diesbezüglichen Hinweise im Umfeld der Jesusfamilie berücksichtigt. 130 Vgl. die bei RIESNER, Bethlehem, 478, Anm. 16, genannte Literatur sowie das Literaturverzeichnis. 131 S. u.a. BAUCKHAM, Jude, 179–234 („Jude’s Exegesis“); DERS., Jerusalem Church, 452–462 („The Speech of James“, über die exegetische Methode in Act 15,13–21).

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I. Die Jesusfamilie als davidisch-messianischer Familienclan Die älteste und wichtigste Familie, für die eine messianische Erwartung aufgrund der biblischen Texte nahezu zwingend anzunehmen ist, sind die Nachkommen Davids. Nach Hartmut Gese lassen sich erste Spuren bis ins 8. Jh. und die Zeit der assyrischen Eroberung Judäas zurückverfolgen: „Während überall sonst in Syrien die Königsideologien der staatlichen Gebilde mit der assyrischen Oberherrschaft verschwinden, kommt es in Israel sogar noch zu einer Vertiefung des Königsbildes: das Königsbild wandelt sich zu dem des Messias. […] In Jes 7,10ff wird der wichtige Schritt vom König zum Messias vollzogen: Gott verwirft das regierende Davidhaus; der wahre Sohn, mit dem Gott ist, Immanuel, wird erst geboren werden. Der Sohn-Gottes-Gedanke verschwindet nicht, sondern wird transformiert: eine bestimmte Einzelfamilie kann nicht als Träger der davidischen Dynastieverheißung auftreten, irgendwo aus der im einzelnen unüberschaubaren Verwandtschaft des großen davidischen Sippenverbandes wird Gott den Träger seiner Dynastieverheißung der ewigen Zionsherrschaft erwählen.“132

Die von Gese dargestellte davidisch-messianische Traditionsgeschichte von Ahas und Jesaja bis zu Jesus samt ihrer erfolgreichen Integration von Menschensohn- und Weisheitstradition ist ein äußerst eindrucksvolles Gesamtbild. Es leidet jedoch daran, dass die Urheber, Träger und Fortschreiber dieser Traditionsentwicklung kaum je bedacht werden. Diese Hüter der Messiastradition sind aber am ehesten innerhalb des „davidischen Sippenverbandes“ zu suchen, den Gese erwähnt und dessen Konturen nach der Rückkehr aus dem Exil erneut erkennbar werden. Dass die Erwartungen eines davidischen Herrschers spätestens im 2. Jh. v.Chr. an Dynamik zunahmen, ist weithin akzeptiert. Dahinter düften, wenn nicht vorrangig, so doch zumindest auch Angehörige des Davididenclans selbst gestanden haben. Dass es zu dieser Zeit solche Familien gab, die sich auf David beriefen, ist außer durch literarische Belege auch durch inschriftliche Befunde gesichert (s.o. S. 68, Anm. 58). In Zeiten umstrittener messianischer Verwirklichungen (Hasmonäer, Qumran) waren sie gezwungen, ihre eigenen Konzeptionen zu verteidigen und möglicherweise auch neu zu formulieren. Das wiederum setzt exegetisches Arbeiten voraus, weil alle messianischen Verwirklichungen sich, wie oben gezeigt, notwendigerweise zur Schrift in ein Verhältnis zu setzen hatten. Daraus ergibt sich die m.E. plausible Annahme, dass die Herkunftsfamilie Jesu Teil einer solchen davidischen Sippe war, in der die biblischen Erwartungen des kommenden „Sprosses“ bzw. „Sohnes“ aus dem Haus Davids aktiv gepflegt und an die nachfolgenden Generationen durch eine entsprechende Unterweisung in den diesbezüglichen prophetischen Traditionen auch vermittelt wurde. In dieser Familie lebte die Hoffnung, dass der verheißene Messias als eines ihrer eigenen Kinder geboren würde. 132 GESE, Messias, 133; mit ausführlicher Begründung DERS., Natus ex Virgine, 85–87. Zur Ausbildung einer Familientradition s. auch KIPPENBERG, Gentilcharisma, passim.

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Im Hinblick auf die intensive Schriftauslegung und Schriftanwendung, die bei Jesus und seinen „Verwandten“ (Zacharias und Elisabeth, Johannes dem Täufer, Maria, den Brüdern Jakobus und Judas, sowie Kleopas, um nur die neutestamentlichen Zeugen zu nennen) erkennbar ist, kann damit die These aufgestellt werden, dass Jesus im Rahmen seiner Familie eine gruppenspezifische, davidisch geprägte Schriftauslegungstradition erfahren hatte.133 Von den Hinweisen in den Evangelien (und evtl. den Briefen des Jakobus und Judas) her lässt sich erkennen, dass dabei Jesaja und die Davidspsalmen sowie weitere davidisch-messianische Stellen insbesondere der Propheten eine herausragende Rolle spielten. Dazu kommen weitere gruppenspezifische Besonderheiten, nämlich der starke Einfluss von Henochtraditionen und weisheitlichem Denken sowie ein nicht-halachisches, ethisches Verständnis der Tora. II. Nazareth als Heimatort der davidischen Nazoräer In der Forschungsgeschichte wird vereinzelt vertreten, dass der Ortsname Nazareth einen Hinweis auf diese Familienideologie enthält, dergestalt dass es sich um eine Siedlung von Nazoräern handelte, d.h. eine bestimmte Gruppe, die diesen Ort besiedelte, gab ihm diesen Namen.134 Nazoräer sind nach diese Verständnis Anhänger oder Angehörige der Davididen, die auf das Kommen des in Jes 11,1–5 angekündigten „Sprosses“ (hebräisch Nezer) aus der Wurzel Isais warteten. Die Siedlungsgeschichte Galiläas legt nahe, dass erst ab dem Ende des 2. Jh. v.Chr., nachdem der Hasmonäer Johannes Hyrkanos und sein Sohn Aristobulos I. Galiläa erobert hatten, dort eine jüdische Wiederbesiedlung stattfand. Zu diesen Siedlern gehörten mit einiger Sicherheit Judäer, die 133 Die davidische Herkunft Jesu wird vielfach bezweifelt, allerdings zumeist ohne Angabe von Gründen; vgl. u.a. KUHN, Überlegungen, 441. Röm 1,3 macht dagegen deutlich, dass schon in vorpaulinischen Bekenntnisformulierungen die Davidssohnschaft fester Bestandteil ist; vgl. dazu STUHLMACHER, Theologie, 186f. Für eine positive Begründung s. schon SCHWEITZER, Geschichte, 393–395 (Schweitzer sieht in der Anrede Jesu als „Sohn Davids“ kein Bekenntnis zu dessen Messianität, sondern „nur den ehrenvollen allgemeineren Familiennamen des Propheten von Nazareth ausgesprochen“ [a.a.O., 394]), und dazu BETZ, Schweitzers Jesusdeutung, 134–137; s. außerdem HENGEL/SCHWEMER, Jesus, 291– 294; KIPPENBERG, Gentilcharisma, 136–139; RIESNER, Lehrer, 212–214; DERS., „Gedeutete, konzentrierte Geschichte“, 112f. 134 TAYLOR, Christentum, 148–151; PIXNER, Wege des Messias, 23f.47–50. Jesus wird in den Evangelien durchgängig als „Nazarener“ (Ναζαρηνός, so in Mk 1,24 par. Lk 4,34; 10,47; 14,67; 16,6; Lk 24,19) oder als „Nazoräer“ (Ναζωραῖος, so in Mt 2,23; 26,71; Lk 18,37; Joh 18,5.7; 19,19; Act 2,22; 3,6; 4,10; 6,14; 22,8; 24,5; 26,9) bezeichnet, was üblicherweise von Nazareth abgeleitet wird. Die eigentliche Ortsangabe ist demgegenüber eher selten (Mt 2,23; 4,13; 21,11; Mk 1,9; Lk 1,26; 2,4.39.51; 4,16; Joh 1,45f.; Act 10,38), und bei „Nazarener“ oder „Nazoräer“ klingt sie bestenfalls im Hintergrund an, sie ist aber für das Verständnis nicht wirklich nötig. Auch die Verwendung von „Nazoräer“ in Act 24,5 verweist vorrangig auf eine Gruppenbezeichnung, ohne dass damit die Ortsbeziehung ausgeschlossen ist.

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entweder aus religiösen oder politischen Gründen hier einen Neuanfang suchten bzw. wegen der zunehmenden Intrigen und bürgerkriegsähnlichen Zustände am hasmonäischen Hof Jerusalem verlassen mussten.135 Aristobulos I. war der erste Hasmonäer, der neben der hohepriesterlichen auch die Königswürde beanspruchte, was zu Konflikten mit davidischen Familien geführt haben dürfte. Es passt also in diese Zeit und das politische Klima, dass judäische Davididen in den neu eroberten Gebieten ihre Hoffnung auf die Restauration der davidischen Herrschaft durch die Gründung von Siedlungen unterstrichen, deren Namen zugleich ihre messianischen Erwartungen bezeugten: Nazareth im alten Stammesgebiet von Sebulon, in dem das messianische Licht in Gestalt eines Kindes aufscheinen sollte (Jes 8,23; 9,5f.; 11,1), und – unter Aufnahme der Bileamsverheißung über den aufgehenden Stern aus Jakob (Num 24,17) – Kochaba in der Batanäa, dem alttestamentlichen Baschan, das dem auf der Ostseite des Jordans verbliebenen Halbstamm Manasse zugeschlagen worden war (Num 32,33).136 Akzeptiert man diese Annahmen, dann ergeben sich daraus wichtige Folgerungen: Zum einen bestand dann die Gruppe der Nazarener oder Nazoräer als eine davidisch-messianische Sekte schon lange vor Jesu Geburt, denn Nazareth wurde am ehesten im Nachgang der Eroberung Galiläas im 1. Jh. v.Chr. gegründet. Falls es sich dabei wirklich um judäische Siedler mit davidischen Wurzeln handelte, dann ist es zudem wahrscheinlich, dass sie auch mit Bethlehem als dem Ursprungsort der Davididen in Verbindung standen (und möglicherweise ursprünglich sogar von dort stammten). Das historisch schwierige Hin und Her zwischen Nazareth und Bethlehem würde sich dadurch einigermaßen schlüssig erklären, auch die rätselhafte Aussage des Nathanael, was denn aus Nazareth Gutes kommen könne (Joh 1,45f.), bekommt dann plötzlich ein anderes Gewicht.137 Der Spott richtet sich dann weniger gegen die Bedeutungslosigkeit des Ortes als vielmehr gegen die dort wohnenden Mitglieder einer dubiosen messianischen Sekte. In diesem Zusammenhang müsste im Detail auch noch einmal der Frage nachgegangen werden, ob die von Epiphanius geschilderte vorchristliche jüdische Sekte der Nasaräer (Pan. 18) nicht doch mit den Nazoräern (Pan. 29) zu verbinden ist, wie es immer wieder versucht worden ist, was aber hier nicht geleistet werden kann.138 Es kann durchaus im Interesse des Epiphanius gelegen haben, die Zusammengehörigkeit zu verschleiern (in Pan. 29,5,7 bestreitet er ausdrücklich eine 135

S. dazu DEINES, Religious Practices, 83f. PIXNER, Wege des Messias, 49, geht dagegen von einer „starken Rückwanderungsbewegung von Juden aus Babylonien und Persien“ aus. 136 Zu Kochaba und der Batanäa s. PIXNER, Wege des Messias, 159–165; RIESNER, Bethanien, 83–97, der ausführlich die messianischen Erwartungen, die mit diesem Gebiet verbunden sind, darstellt; s. außerdem PIXNER/RIESNER, Kochaba, 801f. 137 Vgl. dazu auch BETZ, Nazareth, 393–396. 138 Ablehnend diskutiert bei PRITZ, Nazarene Jewish Christianity, 45–47.

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Gleichsetzung der beiden Gruppen, aber das einzige Argument ist, dass die eine vor Christus und die andere nach ihm existierte), da er selbst äußerst negativ gegenüber Judenchristen eingestellt war und kein Interesse daran hatte, dass Jesus aus einer dieser „vorchristlichen“ Sekten stammte. Einiges, was er inhaltlich über diese Gruppe schreibt, lässt sich m.E. durchaus mit Nachrichten aus der Jesusfamilie verbinden. In dem Zwischenteil De Incarnatione, der die vor- und nachchristlichen Sekten verbindet, beginnt die Menschwerdung mit „Maria in Nazareth“ (1,1). Geboren wurde Jesus in Bethlehem, wohin er nach einem Jahr von seiner Mutter auch wieder zurückgetragen wurde „wegen der Verwandtschaft“ (1,5). Nach einem weiteren Jahr in Nazareth wurde er erneut von seiner Mutter nach Bethlehem gebracht, wo sie zusammen mit ihrem Mann lebte und wohin die Weisen aus dem Osten zu Besuch kamen (1,5). Das Kapitel über die eigentlichen Nazoräer enthält eine lange Diskussion über den Thron Davids und darüber, dass die Christen ursprünglich Nazoräer bzw. Jessaiäer (Ἰεσσαῖοι, nach dem Vater Davids, Isai = Ιεσσαι in der LXX) hießen (29,1,3f.), d.h. Epiphanius lässt deutlich erkennen, dass es sich dabei um eine Gruppierung mit engem Bezug zur davidischen Familientradition handelt. Die Verheißung über einen Davididen auf dem Thron (Ps 132,11, zit. in Pan. 29,1,2) ist erfüllt, weil Jakobus, der Sohn Josephs, der mit Jesus erzogen worden war und darum als sein Bruder gilt, der erste Bischof in Jerusalem wurde (Pan. 29,3,9, vgl. 29,3,1). Das Kapitel geht auf eine Reihe weiterer Schriftaussagen ein, die davidisch-messianisch interpretiert werden, und es wäre eine lohnende Aufgabe, diese zusammen mit den bei den Kirchenvätern überlieferten Nachrichten über die judenchristliche Prophetenexegese139 daraufhin zu befragen, ob hier nicht die Reste jener familienspezifischen exegetischen Tradition zu finden sind, in der Jesus und seine Brüder erzogen wurden und die auch ihren Umgang mit der Schrift bestimmten. Der Konflikt zwischen Jesus und seiner Familie erklärt sich dann damit, dass er zu einem von der Familientradition in Teilen abweichenden Verständnis der Schrift kam, wie in Lk 24,18–21 angedeutet ist (s.o. S. 55f.). Zieht man abschließend in Betracht, dass die Immanuel-Verheißung in besonderer Weise mit einer jungen Frau als „Messiasmutter“140 verbunden ist, dann muss man sich die Frage stellen, inwieweit in diesen Familien nicht nur die männlichen, sondern auch die weiblichen Nachkommen im Hinblick auf diese Erwartungen erzogen wurden. Es war also kein ,Zufall‘, dass der Engel Gabriel gerade dieser Maria und gerade in Nazareth erschien: Schon in der Ankündigung des Engels an Maria ist die Davidssohnschaft betont (1,27. 32f.). Gerade darum ist auch ihre Kennzeichnung als παρθένος als möglicher 139

Eine erste gute Zusammenfassung ist BROADHEAD, 161–187. Zu diesem Ausdruck s. MITTMANN-RICHERT, Magnificat und Benedictus, 141 u.ö.; außerdem FABRY/SCHOLTISSEK, Messias, 42, mit Verweis auf Ps 87,5 (= Y 86,5). 140

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Verweis auf den davidischen Immanuel aus Jes 7,14 durchaus mögich (explizit nur in Mt 1,23).141 Auch ihre Antwort auf die Botschaft des Engels (die ebenfalls ganz in davidische Farben getaucht ist) lässt sich unter dieser Voraussetzung sinnvoll erklären: Sie nimmt ihre Aufgabe als jungfräuliche „Messiasmutter“ an, die als die δούλη κυρίου den „Gottesknecht“ (παῖς) empfangen und gebären – aber auch erziehen – soll.

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Vgl. MITTMANN-RICHERT, Magnifikat und Benediktus, 144. Nach ihr gehören Jes 7,14; 9,1–6 und 11,1–10 zu einem „Zyklus von Geburtsweissagungen“ für den messianischen Friedefürsten aus dem Haus David, der mit Jes 12 abgeschlossen wird. Dieses Kapitel bildet „den für die Endzeit prophezeiten eschatologischen Jubel der Heilsgemeinde“ und ist damit Anreger und Motivspender für das Magnificat. Zur Bezugnahme von Lk 1,27.31 auf Jes 7,14 s. a.a.O., 147–150.

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Der Christus Israels zwischen Golgatha und Galiläa Beobachtungen zum Verhältnis von vorösterlicher Jesusbotschaft und nachösterlichem „Christus-Kerygma“ in der Darstellung der Synoptiker1 Emmanuel L. Rehfeld Abstract: The Synoptic Gospels present the account of the earthly Jesus’ life and ministry before Easter in the light of their post-Easter view of Christ. From that perspective certain internal tensions that are apparent in the Gospels’ portrayals of Jesus are easy to explain: They reflect the conflict-laden process of substitution of the old with the new διαθήκη. This process encompasses the Christ-event as a whole – both the pre-Easter work of the earthly Jesus (though in a proleptic and symbolic way) and his passion and resurrection (ultimately and therefore realiter). Hence, the Synoptic Gospels show us the earthly Jesus on the way to the fulfilment of his own mission which is clarified (and therefore intelligible) only in light of Jesus’ cross and resurrection. This insight has two important ramifications for the exegesis of the Gospels: (1) The so-called kerygma cannot be removed from the basic story of its fulfilment. There is no “thing in itself” or “substance” behind the story. (2) With their deliberate interlacing of pre- and post-Easter-perspective the Synoptic Gospels make a substantial contribution to theology and preaching since they tell the story of “God in Christ” in such a way, “that it is told as the people’s own story and that they are even told into this story” (Schneider-Flume).

A. Von Golgatha nach Galiläa und zurück: die „ausführliche Einleitung“ im Licht von Kreuz und Auferstehung Aller Wahrscheinlichkeit nach endete das Markusevangelium ursprünglich2 mit der Auferstehungsbotschaft des Gottesboten im leeren Grab3 und der An1 Wesentlich erweiterte und überarbeitete Fassung eines Kurzreferats im Rahmen des neutestamentlichen Symposions „Der jüdische Messias Jesus und sein jüdischer Apostel Paulus“ (Tübingen, 8./9. Juni 2015) aus Anlass des 65. Geburtstags von Prof. Dr. Rainer Riesner. – Von dem Erfordernis einer umfassenden Überarbeitung haben mich insbesondere Gespräche mit Prof. Dr. Ernstpeter Maurer überzeugt, dem ich hiermit herzlich für den fruchtbaren Austausch danke. Meinen Freunden Referendar David Coers, Dipl. Theol. Martin Schönewerk und – nicht zuletzt – Prof. Dr. Otfried Hofius danke ich sehr herzlich für ihre kritische Durchsicht und Kommentierung des Manuskripts. 2 Vgl. ALAND, Markusschluß, bes. 8f.; DERS., Schluß, passim.

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weisung an Maria Magdalena, die Jakobus-Mutter Maria und Salome, Jesu Jüngern auszurichten, der Auferstandene werde ihnen „vorausgehen nach Galiläa“ (προάγει ὑµᾶς εἰς τὴν Γαλιλαίαν). Dort würden sie ihn sehen, „wie er euch gesagt hat“ (16,7; vgl. 14,27f.). Dass diese Botschaft samt den Begleitumständen bei den drei Frauen Fluchtreflexe sowie τρόµος καὶ ἔκστασις im Sinne eines tremendum et fascinosum auslöste, ist verständlich. Die Furcht lähmte ihre Zunge, „so dass (καί) sie niemandem etwas sagten“ (16,8).4 Dieses eigentümlich wirkende Ende des ältesten Evangeliums ist mit Recht als „Leseanweisung“ verstanden worden.5 So wie der Gottesbote die Jünger an den (galiläischen) Ursprung zurückkehren heißt, so werden auch die Leser und Leserinnen des Evangeliums zu einer relecture von Anfang an aufgefordert.6 Erst jetzt, im Licht des Geschehens von Kreuz und Auferstehung, werden sie begreifen, was es mit „Jesus, dem Nazarener“, wirklich auf sich hat und wer er ist.7 Erst jetzt werden sie – wie zuvor der Hinrichtungskommandant (15,39) – begreifen, dass sie es in dem Protagonisten des Markusevangeliums tatsächlich mit dem präexistenten „Sohn Gottes“ zu tun haben, wie schon die Überschrift kundtut (1,1).8 Erst jetzt werden sie merken, dass das vorösterliche Jüngerunverständnis nicht auf stupider Böswilligkeit beruhte, sondern dem fehlenden Osterlicht geschuldet war. Erst jetzt werden sie den wahren Sinn der „ausführliche[n] Einleitung“ dieser Passionsgeschichte erfassen.9 Erst jetzt werden sie überhaupt erkennen, dass die ersten dreizehn Kapitel des Markusevangeliums in der Tat nichts anderes sind als die „ausführliche Einleitung“ zur ältesten Passionsgeschichte und dass daher das ganze Evangelium von Ostern her gelesen werden muss, um sachgemäß verstanden zu werden. Man kann eben, wie schon M. Kähler treffend bemerkt hat, „den Christus, welcher den Sitz zur Rechten Gottes für sich in Anspruch nimmt (Mark. 14, 62), nur verstehen […], wenn man die Betrachtungsweise unsrer Evangelien billigt und sein irdisches Leben von seiner Vollendung aus auffaßt.“10

3 Die Mitteilung des Gottesboten (16,6) ist dem Wortlaut nach klar und eindeutig: „Jesus … ist auferstanden“ (ἠγέρθη), ist gleichbedeutend mit: „Er ist nicht hier“ (οὐκ ἔστιν ὧδε), d.h. nicht mehr im (nunmehr also leeren) Grab (ἴδε ὁ τόπος ὅπου ἔθηκαν αὐτόν). 4 Zum in der Exegese oft nicht beachteten Zusammenhang zwischen numinoser Erfahrung und Arkandisziplin (im Sinne religiöser Scheu) vgl. POLA, Name, passim. 5 Vgl. bes. HORSTMANN, Studien, 128–134; ferner GNILKA, Markus II, 345. 6 Mit HORSTMANN, a.a.O., 132; vgl. SCHENKE, Markusevangelium, 352f. 7 Das Markusevangelium ist „kein Requiem auf einen Toten“ (IWAND, Thesenreihen, 279), sondern es hält den real Auferstandenen vor Augen (vgl. neben KÄHLER, Jesus, 44f. 60f.64–66.79–81 u.ö., noch HOFIUS, Leben, 6f.; ferner SCHELLONG, Rückfragen, passim). 8 Zu den vielfältigen literarischen Bezügen zwischen Anfang (1,2f.) und Schluss des Markusevangeliums (16,5–8) vgl. BECKER, Markus-Evangelium, 246–252. 9 Formulierung in bewusster Anlehnung an die berühmt gewordene These M. Kählers, die er fast beiläufig niederschrieb (s. KÄHLER, a.a.O., 80, Anm. 1). 10 KÄHLER, a.a.O., 45, Anm. 2 (Hervorhebung E.R.).

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Der irdische Weg Jesu führte von Galiläa nach Golgatha, doch der Erkenntnisweg des Glaubens führt von Golgatha nach Galiläa – und dann als Weg der Kreuzesnachfolge wieder zurück nach Golgatha (Mk 8,34; 10,32–45). Das Markusevangelium als Ganzes will also weder als ein „historischer Bericht“ noch als eine „fiktionale Erzählung“ gehört werden.11 Vielmehr erzählt es die Jesus-Geschichte als Geschichte des vorösterlich-irdischen Jesus im Licht der nachösterlichen Christuserkenntnis.12 Das führt nun einerseits tatsächlich dazu, dass die Darstellung des irdischen Wirkens Jesu „schon immer für die Zeit der Kirche transparent ist“13, bedeutet andererseits aber noch lange nicht, dass Ostern „die unmittelbare Erinnerung an Jesus“ (d.h. an sein irdisches Dasein) quasi radikal „ausgelöscht“ hat.14 Dabei handelt es sich um falsche Alternativen, die der prinzipiell unauflösbaren narrativen Verschränkung und wechselseitigen sachlichen Durchdringung von „Vorösterlichem“ und „Nachösterlichem“ in der Evangeliendarstellung mit unsachgemäßen Mitteln – nämlich „analytisch“ – Herr zu werden versuchen.15 H.-J. Eckstein vermutet m.E. mit Recht, dass derartige Fehlinterpretationen und entsprechende Missverständnisse einer grundsätzlichen „Verkennung der Erzählstruktur der Evangelien“ geschuldet sind, „die […] aus der Perspektive der abschließenden Erkenntnis die Anfänge noch einmal neu aufschließen und die sich aus der österlichen Bestätigung durch die himmlische Welt des vorösterlichen Zweifels und Nichtverstehens der irdischen Welt erinnern.“16

Für eine sachgemäße Auslegung der Synoptiker insgesamt wie auch einzelner synoptischer Perikopen ist mithin die Einsicht in die unentflechtbare Verschränkung von vorösterlicher und nachösterlicher Perspektive schlechterdings entscheidend. Es ist schlicht unmöglich, die beiden Perspektiven dergestalt zu unterscheiden, dass man mittels eines wie auch immer gearteten Sub11 Das gilt nach meinem Urteil in vergleichbarer Weise auch für das Matthäus- und das Lukasevangelium. 12 Vgl. zu diesem Aspekt auch SCHRÖTER, Erinnerung, passim. Aus Platzgründen kann ich hier leider nicht in eine ausführliche Diskussion dieses anregenden Beitrags eintreten. 13 Formulierung bei SCHNELLE, Theologie, 482 (zum Lukasevangelium). Es kommt bei dieser an sich zutreffenden Beschreibung nur darauf an, worin man den Grund und die Intention dieser faktisch kaum zu bestreitenden „Transparenz“ erblickt (s.u. Anm. 14)! 14 Mit HENGEL, Messias, 279. Es ist kaum möglich, den Großteil der Erzählungen und Logien nachösterlicher Gemeindebildung zuzuweisen und die faktische „Transparenz“ auf diese Weise zu erklären (u.a. gegen BULTMANN, Verhältnis, passim; KONRADT, Vollmachtsanspruch, 139). Insofern ist „die Alternative Kerygma oder Geschichte […] als irreführend abzulehnen“ (mit HENGEL, Kerygma, 305; vgl. ROLOFF, Kerygma, passim). 15 Das Ergebnis solcher Versuche sind „historische Jesusse“ aller Art, die nichts anderes sind als das Spiegelbild ihrer Produzenten, wie schon KÄHLER, Jesus, 44.47–71, hellsichtig bemerkt und SCHWEITZER, Geschichte, passim, dann ausführlicher (aber leider seinerseits betriebsblind) dargelegt hat. Vgl. HOFIUS, Frage, passim; ferner WENGST, Jesus, passim. 16 ECKSTEIN, Gott, 19f.

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traktionsverfahrens den vermeintlichen „historischen Jesus“ vom nachösterlichen „Christus-Kerygma“ abheben könnte (oder umgekehrt17).18 Das ist schon deswegen ausgeschlossen, weil die Ostererkenntnis kein bloßes Additivum ist, das zu der „an sich“ verständlichen vorösterlichen Jesus-Geschichte hinzuträte. Vielmehr wird nach Meinung der Evangelisten den wahren, biblischen Christus allein derjenige erkennen, der sich in die vielschichtige Erzählung hineinnehmen lässt, die sie so darstellen, dass die Ostererkenntnis die Art der Darstellung von vornherein durchdringt. Das ist der „synoptische Weg“, das Persongeheimnis Jesu Christi zur Sprache zu bringen.

B. Das Persongeheimnis Jesu und die nachösterliche Christuserkenntnis Auch die Synoptiker wissen sehr genau, dass wahre Christuserkenntnis nicht auf „historischem“ Weg (d.h. immanent) zustande kommen kann – ja auch bei ihnen selbst doch wohl kaum auf diesem Weg zustande gekommen ist! Vielmehr bedarf es der „Offenbarung“, die die rein menschlichen Möglichkeiten transzendiert – das zeigt Matthäus mit seiner Fassung des „Petrusbekenntnisses“ (Mt 16,17b). Es bedarf des durch Augen öffnende Verkündigung hervorgerufenen Glaubens, um die Jesus-Geschichte recht zu verstehen – das setzt Lukas in seinem „Vorwort“ voraus (Lk 1,1–4; vgl. 24,13–32.44–49).19 Es bedarf des Bedenkens der Jesus-Geschichte im aufklärenden Osterlicht – das macht Markus mit seiner „Leseanweisung“ deutlich (Mk 16,1–8). Der Grund dafür, dass die Christuswahrheit nicht so offensichtlich ist „wie ein kram auff dem marckt“20, liegt in der „Analogielosigkeit Jesu Christi“21 17 So laufen etwa H. Merkleins recht gewundene Ausführungen zu Mk 16,1–8 auf eine Überordnung des Kerygmas über das Geschehnis hinaus (s. MERKLEIN, Epilog, 226–228). 18 Vgl. KÄHLER, Jesus, 19: „Und darum vermag ich nach allen Überlegungen den ‚geschichtlichen‘ Christus und den ‚biblischen‘ nicht zu scheiden oder auch nur zu unterscheiden“ (Hervorhebung E.R.). So lautet im Grunde das Ergebnis seiner zwar berühmten, aber zum Schaden von Exegese und Dogmatik leider viel zu selten wirklich ernsthaft und konsequent rezipierten Schrift „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus“ (11892, 21896 [= 1928]). 19 Im Blick auf das Lukasevangelium insgesamt (und die Apostelgeschichte) ist mithin zu beachten, was das programmatische Proömium deutlich genug betont: Das lukanische Doppelwerk ist namentlich an Menschen wie Theophilus gerichtet, die schon in der apostolischen Christus-Lehre „unterrichtet“ sind (κατηχεῖσθαι), und will ihnen die „innere Stimmigkeit/Plausibilität“ (ἀσφάλεια) der bereits bekannten und geglaubten Jesus-Geschichte vor Augen führen (Lk 1,4). Es ist also in erster Linie keine Missionsschrift, sondern – wenn man so will – eine „Vergewisserungsschrift“. Vgl. zum Ganzen BAUSPIESS, Geschichte, bes. 188–248; s. schon KÄHLER, a.a.O., 22 m. Anm. 2 und v.a. 81, Anm. 1. 20 Formulierung bei LUTHER, WA.DB 7, 420,11.

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und in der damit verbundenen qualitativen „Neuheit“ (καινότης) des Christusgeschehens, das den Rahmen des Althergebrachten in vielerlei Hinsicht sprengt (vgl. nur Mk 1,27; 2,18–22; Lk 22,20b).22 Gerade in dieser Neuheit sehen die Synoptiker offenbar den Kern des Wirkens Jesu,23 und um dieser „Neuheit“ willen erzählen sie ihre Jesus-Geschichte. Auf ihre Weise bestätigen die Synoptiker damit, was schon der Heidenapostel Paulus stets betont hat: Wahre Christuserkenntnis ereignet sich allererst in der offenbaren Gegenwart des Auferstandenen, d.h. nur im geisterfüllten Licht von Ostern (s. 1Kor 1,18–2,16; vgl. Gal 1,12.15f.; 2Kor 4,1–6). Aufgrund seiner Rezeption geradezu berühmt-berüchtigt geworden ist darüber hinaus der Satz aus 2Kor 5,16, wonach „uns“ die geistgewirkte Einsicht in das pro-nobis-Geschehen 21

Diese wird jedoch, wie HOFIUS, Bedeutung, 290, kritisch anmerkt, gegenwärtig „in der Fachexegese kaum hinreichend bedacht.“ Offensichtlich wurde weitestgehend vergessen (oder verdrängt), was bereits KÄHLER, Jesus, 52–54, deutlich gemacht hatte: Der Unterschied zwischen Jesus und allen anderen Menschen liegt den Evangelien zufolge „nicht auf der Linie des Grades, sondern auf der Linie der Art“ (a.a.O., 53). Doch leider hat man „die historische und theologische Kritik von Martin Kähler meistens nur eben berührt oder schlicht übergangen“, wie WENGST, Jesus, 303, mit Recht moniert. 22 Das gilt auch dort, wo man – wie bei Matthäus – auf den ersten Blick meinen könnte, die Geltung etwa der Mosetora werde ganz diskussionslos und uneingeschränkt vorausgesetzt (so eine verbreitete Matthäus-Interpretation; s. dagegen bereits GOPPELT, Theologie, 556–561). Das zeigen namentlich die sog. „Antithesen“ in der Bergpredigt (richtig KÜMMEL, Theologie, bes. 46f.). Außerdem sollte nicht übersehen werden, dass Matthäus den νόµος i.d.R. nicht ohne die προφῆται erwähnt (s. 5,17f.; 7,12; 11,13; 22,40 [!]). Die beiden scheinbaren Ausnahmen (12,5; 23,23) zielen gerade auf ein „nicht-gesetzliches“ νόµοςVerständnis (vgl. dazu 22,35f. [Tora-Frage des νοµικός] mit 22,40) und sind gegen das pharisäische Verständnis gerichtet (s. von daher 23,3!). Daraus darf man wohl schließen, dass man Matthäus zufolge die „Tora“ als Teil der ganzen Schrift (die eben auch die „Propheten“ umfasst!) nie unabhängig vom sog. zweiten Kanonteil lesen darf bzw. dass man die ganze Heilige Schrift prophetisch lesen muss (s. die Reflexionszitate!). Das ist nicht so weit weg von der paulinischen Unterscheidung von γράµµα und πνεῦµα (2Kor 3,1–18; vgl. ferner 2Tim 3,16). In diesem Zusammenhang ist interessant, dass bei Matthäus zwar der Vorwurf des Prophetenmordes häufig begegnet, dagegen nur selten der Vorwurf des Ungehorsams gegen Mose. Der Evangelist sieht das Problem der Pharisäer offenbar darin, dass sie Mose ohne die Propheten lieben (sich aber als ὑποκριταί nicht einmal daran halten). 23 In diesen Zusammenhang gehört auch die sachliche Differenz zum Wirken Johannes’ des Täufers, wie sie exemplarisch in Lk 16,16 zur Sprache gebracht wird (aus Act 1,5; 10,37; 13,24f.; 19,4 folgt übrigens, dass Lukas die Wendung µέχρι Ἰωάννου inkludierend verstanden hat [mit JEREMIAS, Theologie I, 54]). Nicht von ungefähr also reservieren Mk und Mt die Begriffe εὐαγγέλιον und εὐαγγελίζειν exklusiv für die Verkündigung Jesu, und insofern ist auch bei Mk und Mt nur sehr bedingt vom Täufer als einem „Vorläufer“ Jesu zu sprechen (anders CONZELMANN, Mitte, 12–21). Lk wiederum durchbräche diese terminologische Unterscheidung übrigens nur dann, wenn er 3,18 die Gerichtsbotschaft des Täufers als εὐαγγελίζεσθαι im technischen Sinne bezeichnete (s. dagegen aber CONZELMANN, a.a.O., 17, Anm. 1). WOLTER, „Gericht“, 386, sieht die „Grunddifferenz zwischen Johannes und Jesus“ daher mit Recht im „Auftreten Jesu selbst“.

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von Tod und Auferstehung Christi (V. 15!) dazu führt (ὥστε), weder irgendeinen Menschen noch auch Christus selbst aus weltlich-immanenter Perspektive (d.h. κατὰ σάρκα) zu betrachten, sondern „nunmehr“ (ἀπὸ τοῦ νῦν) ausschließlich im Licht der neuartigen Auferstehungswirklichkeit einer καινὴ κτίσις (V. 17!). Damit dokumentiert Paulus freilich nicht sein (vermeintliches) Desinteresse am irdischen Jesus „in seiner weltlichen Vorfindlichkeit, vor Tod und Auferstehung“, wie R. Bultmann einst meinte,24 sondern er führt lediglich seinen Offenbarungsansatz konsequent aus.

Der Unterschied zwischen den synoptischen Evangelien und Paulus besteht nun darin, dass erstere zwei Perspektiven miteinander verschränken, die letzterer auseinanderhält. Das wiederum hängt damit zusammen, dass die Synoptiker das auch dem Heidenapostel unstrittige Faktum der Ersetzung der alten durch die neue διαθήκη (vgl. 2Kor 3,6ff.) als einen Prozess darstellen, d.h. in seinem (durchaus spannungsreichen) Verlauf – und darum eben narrativ. Das macht die Synoptiker-Exegese zu einem höchst anspruchsvollen Unterfangen.

C. Innere Spannungen im Jesusbild der synoptischen Evangelien Es liegt m.E. genau an dieser programmatischen Verschränkung25 zweier Perspektiven (der vor- und der nachösterlichen), dass die Synoptiker ein recht spannungsvolles, oft sogar widersprüchliches Bild des irdischen Jesus zeichnen, ja zeichnen müssen. Im Folgenden sollen die wichtigsten und bekanntesten dieser Spannungen wenigstens skizzenhaft in Erinnerung gerufen werden. I. Jesus zwischen Partikularismus (Exklusivismus) und Universalismus Die vielleicht frappierendste Feststellung trifft Jesus nach Mt 15,24, wenn er sagt: „Ich bin ausschließlich (οὐκ … εἰ µή) zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.“ Gemäß matthäischer Darstellungsweise gehört diese Aussage Jesu immerhin zum Kern seiner Botschaft, erscheint sie hier doch (in leicht abgewandelter Form) bereits zum zweiten Mal.26 Schon bei der Aus24

Gegen BULTMANN, Korinther, 155–158 (156). Zu beachten ist Bultmanns eigenes Schwanken in der Beurteilung der Grammatik des Satzes (vgl. noch DERS., Theologie, 239; anders DERS., Probleme, 309), die er aber immer als in der Sache belanglos beurteilt hat. – Zum Problem s.u. S. 125 m. Anm. 99. 25 Hierin liegt zugleich der Hauptunterschied zwischen den Synoptikern und dem vierten Evangelisten, der zwar ebenfalls die Geschichte des irdischen Jesus in Erinnerung ruft (vgl. RIESNER, Disciple, passim), dies allerdings unter einer explizit nachösterlich-geistlichen Perspektive, die den Verfasser immer wieder als Kommentator auftreten lässt, der das geschilderte Geschehen im wahrsten Sinn des Wortes „ins rechte Licht rückt“ (vgl. Joh 2,22; 12,16; ferner 13,19; 14,28f.; 16,1.4a und die Parakletsprüche 14,25f.; 16,12f. u.ö.). Darin ist das Johannesevangelium gewissermaßen konsequenter und insofern eindeutiger als die Synoptiker (vgl. ROLOFF, Kerygma, 273; ferner SCHRÖTER, Erinnerung, 133–135). 26 Zu dieser bewussten mt Erzähltechnik vgl. z.B. LUZ, Matthäus I, 21–24, bes. 21f.

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sendung der Zwölf hieß es: „Auf den Weg [zu] den Heiden (εἰς ὁδὸν ἐθνῶν) geht nicht, und in keine Stadt der Samaritaner geht! Geht vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 10,5f.). Auf der anderen Seite ist es gerade die erstgenannte Stelle (Mt 15,21–28), die den strikten Partikularismus bzw. Exklusivismus der Sendung Jesu durchbrochen sein lässt (V. 27f.!) und damit das bemerkenswerte Schlusswort27 (!) des Matthäusevangeliums sachlich vorbereitet: µαθητεύσατε πάντα τὰ ἔθνη (Mt 28,19, als nachösterlicher Auftrag an die Elf). Ähnliche Beobachtungen ließen sich für Markus und Lukas vermehren28, wobei besonders zu beachten ist, dass alle Synoptiker erzählen, wie angesichts des Todes Jesu (!) ausgerechnet der heidnische Zenturio (ὁ κεντυρίων bzw. ὁ ἑκατόνταρχος) das jeweils entscheidende christologische Bekenntnis spricht (Mk 15,39; Mt 27,5429; Lk 23,47). Das für Markus entscheidende christologische Bekenntnis lautet: „Sohn Gottes“ (1,1.11; 9,7; 14,61f.; 15,39; vgl. 12,6; 13,32; ferner 3,11; 5,7). Matthäus folgt ihm darin (vgl. z.B. 2,15; 3,17; 16,16 [!]; 17,5; 27,54). Lukas hingegen zeichnet Jesus wesentlich als den „Gottesknecht“ (παῖς θεοῦ, s. Act 3,13.26; 4,27.30), der laut Jes 53,11 ein „Gerechter“ (‫ צַדִּ יק‬/ δίκαιος) ist.30 Zusammen mit vielen weiteren Anspielungen taucht auch diese Qualifizierung bei Lukas auf, wenn der Zenturio sagt: „Wahrhaftig, dieser Mensch war δίκαιος“ (Lk 23,47; vgl. Act 3,14; 7,52; 22,14). Gemäß der doppelten Codierung, die das ganze Lukasevangelium durchzieht, kann dieses Bekenntnis zum einen apologetisch (Jesus ist „unschuldig“ im Sinne des römischen Rechts, s. dazu auch die auffallend ausführlichen Pilatus-Szenen!31), zum anderen christlich-bekenntnishaft gelesen werden (Jesus ist der „Gottesknecht“, der für die Seinen gestorben ist [s. 22,19f.; vgl. auch 23,35.37.39ff.32]).

Solche Erzählungen dürften – zusammen mit Visionsberichten nach dem Muster von Act 10,1–11,18 – die frühe Kirche darin bestärkt haben, nicht län27

Dieses Schlusswort unterscheidet sich insofern von der zu Beginn geschilderten Huldigung der (heidnischen) µάγοι (Mt 2,1–12), als jene zu Jesus kommen (ähnlich der Völkerwallfahrt zum Zion), während die Jünger aufgefordert werden, zu den Heidenvölkern zu gehen, d.h. aufzubrechen und das „Gelobte Land“ zu verlassen (πορεύεσθαι [28,19])! 28 S. z.B. Mk 13,10; 14,9; [16,15.20]; Lk 24,47; Act 1,8; 9,15f.; vgl. Lk 2,29–32 (JesLXX 49,6); Act 13,46f. (JesLXX 49,6) u.ö.; s. dazu grundlegend JEREMIAS, Verheißung, passim. 29 Bei Matthäus wird das Bekenntnis vom Zenturio und allen, die zu ihm gehören (οἱ µετ᾽ αὐτοῦ), d.h. als urchristliches Gemeinschaftsbekenntnis gesprochen. 30 Vgl. dazu MITTMANN-RICHERT, Sühnetod, passim (zu Lk 23,47 s. a.a.O., 93–98). 31 Man kann fragen, ob im Hintergrund die Ausweisung der Juden(christen) aus Rom im Jahr 49 n.Chr. steht (vgl. Act 18,2), die von den römischen Behörden impulsore Chresto begründet wurde (SUETON, VitCaes V, 25,4). Lukas dürfte bestrebt sein, dem Christentum den Schutz einer religio licita angedeihen zu lassen, wie ihn das Judentum mehrheitlich genoss (s. jedoch SUETON, VitCaes III, 36), und will daher zeigen, dass nicht die Christen für die religiösen Unruhen im Umkreis der Synagogen verantwortlich sind, zumal Jesus selbst kein Aufrührer, sondern nachweislich „unschuldig“ war (Lk 23,4.14f.20.22ff.47). 32 Dass Jesus auf seine Selbstrettung dreimal stillschweigend verzichtet, bringt narrativ zum Ausdruck, dass er stirbt (bzw. sterben muss [δεῖ, s. Lk 9,22; 17,25; 22,37; 24,7.26.44; vgl. µέλλειν 9,31.44]), um „uns“ zu retten (vgl. 23,39 mit 23,43!).

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ger eine Trennung zwischen christusgläubigen Juden und christusgläubigen Heiden aufrechtzuerhalten (vgl. dazu Gal 2,1–16; Eph 2,11–3,13), wobei sich hier die Verhältnisse aus historischen Gründen offenbar schon sehr schnell radikal umgekehrt haben (vgl. dazu Röm 11,17–36). II. Jesus zwischen kontingenter (historisch bedingter) Mosetora und protologischem bzw. eschatologisch-universalem Gotteswillen Mit dem Unterschied zwischen Partikularismus und Universalismus hängt eine weitere Beobachtung zusammen, für die wir von der vorläufig einmal so zu formulierenden Frage ausgehen: Ist Jesus gesandt, die Tora Israels zu „erfüllen“ oder zu überwinden (oder sie durch Erfüllung zu „überwinden“)? Zu fragen ist also nach dem Verhältnis Jesu zur Mosetora. Dabei ist eingangs der M. Hengel zufolge „höchst eigenartig[e]“ Befund zur Kenntnis zu nehmen, „daß die Frage nach der Tora in der Verkündigung Jesu durchaus nicht in der Weise im Mittelpunkt steht wie in Qumran oder dann im späteren rabbinischen Judentum nach 70 […]. Von der Welt der Mischna ist der Jesus von Markus, Q oder des Lukassonderguts offenbar durch einen breiten Graben getrennt. […] Sein Grundthema ist gerade nicht die Tora, sondern das Kommen der Gottesherrschaft. Auch der spätere urchristliche Streit um die Geltung der Tora hat […] bestenfalls nur am Rande seinen Niederschlag in der Evangelienüberlieferung gefunden. Erst bei Matthäus tritt dann eine profilierte ‚Lehre vom Gesetz‘ zutage.“33

Allerdings liegen bei Matthäus die Dinge komplizierter, als oft suggeriert wird. So verweist R. Deines in seiner umfangreichen Untersuchung zum Verhältnis von „Gerechtigkeit“ und „Tora“ bei Matthäus zunächst auf „die durch das ganze Evangelium begegnende Spannung zwischen Jesus und der Tora bzw. ihren Vertretern in Gestalt der Pharisäer und Schriftgelehrten“34 und stellt fest: „Wenn die Tora-Auslegung Jesu nach Matthäus tatsächlich nichts anderes gewesen ist als eine neue Inkraftsetzung der Tora Moses, dann lässt sich“ weder „die Auseinandersetzung, die um diese Frage in der Folgezeit geführt wurde“, noch insbesondere Mt 5,10 verstehen.35 Beim πληροῦν36 des νόµος und der προφῆται (!) in Mt 5,17 geht es folglich „weder um die fortdauernde Gültigkeit der Tora, noch in erster Linie um ihre ‚Erfüllung‘ durch ein ihr entsprechendes ‚gesetzestreues‘ Verhalten oder Lehren, noch um ihre abschließende Auslegung, sondern um das rechte Verständnis dessen, wer Jesus ist und was 33

HENGEL, Tora, 352f. (Hervorhebungen E.R.). DEINES, Gerechtigkeit, 269 (Hervorhebung E.R.). Eine solche Spannung wurde zwar schon öfter beobachtet, jedoch hinsichtlich ihrer Tragweite selten genügend bedacht. 35 DEINES, a.a.O., 269f. m. Anm. 493. 36 Es ist zu beachten, dass πληροῦν gerade „kein typischer Begriff für die Befolgung von Geboten“ ist (DEINES, a.a.O., 270 m. Anm. 496) und dass (κατα)λύειν auch bedeuten kann, „ein von Gott ins Werk gesetztes Geschehen aufzuhalten bzw. aufzulösen“ (a.a.O., 271, unter Hinweis auf Act 5,38f.; Joh 10,35). 34

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er durch sein Kommen bewirkt. […] Matthäus stellt die Sendung Jesu dar als in vollkommener Übereinstimmung mit der Glaubensgeschichte Israels. […] Es geht also in 5,17 nicht um ein Bekenntnis Jesu zur Tora, sondern zusammenfassend um sein Verhältnis zu den geheiligten Traditionen seines Volkes. Zu diesen besteht nach Auffassung des Matthäus kein Widerspruch, aber es ist auch nicht einfach ihre Wiederholung oder Bestätigung. Das Kommen Jesu bedeutet vielmehr den Beginn des Sattwerdens (Mt 5,6), es bedeutet den Anbruch der Königsherrschaft Gottes.“37

Dem entspricht, dass Jesus die (elf) Jünger zuletzt nicht etwa auf die Tora verpflichtet, sondern auf das „Lehren“ (διδάσκειν) all dessen, was er ihnen „geboten“ hat (Mt 28,20; vgl. schon 17,5–9, bes. V. 5fin.!). Es handelt sich dabei um die ἐντολαί38 dessen, dem „alle Macht im Himmel und auf der Erde“ gegeben ist (28,18), der das Mit-Sein Gottes in Person ist (1,23; 28,20) und in dessen Geschick sich erfüllt hat, was geschrieben steht (vgl. 1,22; 2,5. 15.17.23; 4,14; 5,17 [!]; 8,17; 12,17; 13,35; 21,4.42; 26,24.31.54.56; 27,9) bzw. was er – völlig schriftgemäß – vorausgesagt hat (vgl. 28,6).39 Gelten die Verheißungen und Satzungen der Mosetora, „bis dass (ἕως ἄν) der Himmel und die Erde vergehen“ und „bis dass (ἕως ἄν) alles geschehen ist“ (5,18), so werden die Worte Jesu ganz gewiss nicht einmal dann vergehen (οὐ µὴ παρέλθωσιν), wenn der Himmel und die Erde längst vergangen sind (24,35). Das Wort Jesu steht qualitativ auf einer Stufe mit dem Wort Gottes (JesLXX 40,8). Ganz zwanglos erklärt sich so auch das auffallend ambivalente Verhältnis der Lehre Jesu zu den Bestimmungen der Mosetora, das von der Struktur her und bis in Einzelheiten hinein der paulinischen Sicht nicht unähnlich ist.40 Jesus bringt angesichts eschatologischer Stunde den protologischen Gotteswillen ἀπ᾿ ἀρχῆς neu zur Geltung (Mt 19,4–6.8fin.; vgl. 5,21–48), der sich der Tendenz und der Substanz nach zwar auch schon in der historischen Mosetora findet, jedoch nicht in vollkommener Weise darin zutage tritt. Das zeigt sich zum einen an historischen Zugeständnissen an die menschliche σκληροκαρδία (Mt 19,8), zum anderen an der bereits von alttestamentlichen Propheten wie Jeremia vorausgesetzten Wirkungslosigkeit der Sinaitora angesichts der menschlichen Bosheit (JerLXX 38,31–34, bes. V. 32). Könnte man daher mit 37

DEINES, a.a.O., 272–275. Zum Problem des Begriffs „Königsherrschaft“ s.u. IV. Zwar spricht Matthäus nie expressis verbis von ἐντολαί Jesu, die Formulierung Mt 28,20 ist aber eindeutig: … πάντα ὅσα ἐνετειλάµην ὑµῖν. Vgl. Joh 13,34; 1Joh 2,7f.; 2Joh 5. 39 Auch das soll zeigen: Jesu Wort und die Heilige Schrift widersprechen sich nicht! 40 So versteht Paulus das Liebesgebot in ganz ähnlicher Weise wie Jesus nach Matthäus als „Kulminationspunkt“ der Tora (Röm 13,8–10). Es ist m.E. ein Verdienst der o.g. Arbeit von R. Deines, überhaupt nach solchen Konvergenzen gesucht zu haben (exemplarisch DEINES, Gerechtigkeit, 651ff.). Mir scheinen diese Konvergenzen letztlich aber sogar noch größer zu sein, als dort ausgeführt (s. nur Röm 1,2f.; 3,31 [Bejahung des νόµος als Heilige Schrift, die bereits die „Glaubensgerechtigkeit“ lehrt, wie Paulus in Röm 4,1–25 zeigt; vgl. in diesem Zusammenhang auch das Zitat von Hab 2,4 in Röm 1,17]), zumal wenn man bedenkt, dass die paulinische Sicht weitaus komplexer ist, als oft zugestanden wird (s. nur Röm 7,7–13!). Weiteres dazu bei REHFELD, Ontologie, bes. 143–153.186–209. 38

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O. Betz in der Bergpredigt geradezu das „Gesetz des neuen Bundes“ erblicken?41 Jedenfalls gilt: Jesus lenkt den Blick neu auf das Wesentliche, auf den heilsamen Willen des „vollkommenen Vaters in den Himmeln“ (Mt 5,48). Darin unterscheidet sich Matthäus übrigens nicht grundlegend von Markus oder Lukas, wobei insbesondere Markus angesichts seines nicht-jüdischen Zielpublikums durchaus „ungeschützter“ von der „Überwindung“ der Mosetora durch Jesus spricht.42 Auch hier geht es aber in erster Linie stets „um das rechte Verständnis dessen, wer Jesus ist und was er durch sein Kommen bewirkt“43 (vgl. exemplarisch Mk 2,28; 7,19fin.). Es ist also nicht nur eine treffende Zusammenfassung der matthäischen, sondern ebenso auch der markinischen und der lukanischen Sicht, wenn Deines abschließend formuliert: „In ihrer bisherigen Funktion kann die Tora zu [der] eschatologischen Gerechtigkeit nichts beitragen, sie bleibt aber als Ausdruck von Gottes Willen gegenwärtig in dem, was zu den ἐντολαί Jesu führt.“44 Heilsweg kann die Mosetora damit natürlich nicht sein. Das gilt nicht zuletzt deshalb, weil sie dem gesamten Neuen Testament zufolge keine präexistente, ewige Größe ist, wie demgegenüber das zeitgenössische Judentum mehrheitlich behauptete.45 III. Jesus zwischen gegenwärtiger Gnade und nahendem Gericht Ist es wahr, was der vierte Evangelist einmal programmatisch feststellt, dass nämlich „die Tora (νόµος) durch Mose gegeben worden, die Gnade und die 41 BETZ, Bergpredigt, 333; vgl. bes. a.a.O., 334.343f.362f.374f. (vgl. dazu DEINES, a.a.O., 144, Anm. 144; ferner a.a.O., 287, Anm. 547). 42 S. z.B. Mk 2,23–28 parr. (unter Berufung auf die Heilige Schrift!); 7,1–23 (V. 19fin.; s. dazu GNILKA, Markus I, 285); 9,7f. parr.; 10,2–9 (Gegensatz zwischen Mose und Gott); 12,18–27 (Frage nach der wahren Schriftauslegung; s. dazu auch V. 28ff.); 13,31 parr. Für Lukas vgl. neben den soeben genannten Mk-Parallelen immerhin noch Lk 16,16. 43 So in Aufnahme der o.g. Formulierung von DEINES, Gerechtigkeit, 274. 44 DEINES, a.a.O., 649. – Zu fragen wäre jedoch, ob der Unterschied zwischen Matthäus und Paulus wirklich in der „geschichtlichen Interpretation des Gesetzes“ besteht (so jedenfalls DEINES, a.a.O., 651) und ob ein solcher Unterschied dann in der Tat derart belanglos wäre, dass man gleichwohl allen Ernstes raten könnte, „beiden Zeugen des Evangeliums mit ganzer Leidenschaft zuzuhören und zu tun, was sie sagen“ – weil nämlich beide „durch ihre Wirkungsgeschichte [!] Heil gestiftet [!]“ hätten und „also [!] zum Evangelium [!] geworden [!]“ seien (a.a.O., 654). Man müsste an dieser Stelle doch noch einmal sehr viel präziser über die durchaus vorhandene matthäische (!) „Torakritik“ nachdenken – wie man freilich umgekehrt auch ernstnehmen sollte, dass Paulus in fast „matthäischer“ Weise von der Davidssohnschaft Jesu (Röm 1,3; vgl. Gal 4,4) oder der wesenhaften Güte der Sinaitora reden kann (Röm 7,12). Es ist eben nicht die Tora „an sich“ (die gibt es so gar nicht!), sondern die Sinaitora angesichts der ἁµαρτία (!), die Paulus zufolge eine durch und durch verheerende Wirkung hat (Röm 7,13; s. dazu REHFELD, Ontologie, 186–199.368f.). 45 Vgl. dazu HENGEL, Judentum, bes. 307–318.455f. Gegen diese „Tora-Ontologie“ setzt Paulus seine „Christus-Ontologie“ (s. REHFELD, a.a.O., 203–207), während Matthäus ihr die exklusive „Jesusgerechtigkeit“ entgegensetzt (DEINES, a.a.O., 647).

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Wahrheit [jedoch] in Jesus Christus auf den Plan getreten ist“ (Joh 1,17),46 dann versteht es sich von selbst, dass den Auftrag des irdischen Jesus47 keiner der Evangelisten darin sieht, aktiv zu „richten“ (κρίνειν), auch wenn sich an dessen Person faktisch die Geister scheiden mögen (vgl. Joh 3,17f.; 12,47f.). Ganz auf dieser Linie liegt die vom Synoptiker Lukas in ebenfalls programmatischer Absicht mitgeteilte Erzählung von Jesu „Antrittspredigt“ in Nazareth (Lk 4,16–30), die eine Art Passions-Prolepse schildert (V. 28f.; vgl. 2,34f.).48 Auslöser dieses ersten Lynchversuchs ist die Tatsache, dass Jesus sich selbst als den Geistträger von JesLXX 61,1f. identifiziert (V. 21) und dabei ausschließlich von der Gnade spricht (V. 22!), indem er kurzerhand „die Rache an den Heiden aus dem Zukunftsbilde streicht“ und damit sogar die Heilige Schrift korrigiert (da er JesLXX 61,2b bewusst weglässt49), wie J. Jeremias in seiner vorzüglichen Auslegung der Stelle gezeigt hat.50 Freilich ist zu beachten, dass Jesus diese Gerichtsankündigung bei anderer Gelegenheit „nachholt“, sie dabei jedoch gegen Judäa wendet (Lk 21,22)!51 An der letztgenannten Stelle (vgl. auch 12,49.51–53) scheinen gewissermaßen die Warnungen und Drohungen des passionierten Gerichtspredigers und Bußtäufers Johannes Regie zu führen, wie sie der nicht-markinischen synoptischen Überlieferung zu entnehmen sind (vgl. Mt 3,7–12; Lk 3,7–18 diff. Mk 1,7f.52). 46

Zur Übersetzung und zur Antithetik dieses Satzes vgl. HOFIUS, Schoß, bes. 29–32. Nicht hierher gehören die Stellen, die Jesus als zukünftigen „Menschensohn-Richter“ zeichnen bzw. von seinem nachösterlich-eschatologischen Auftrag sprechen (vgl. neben der „Endzeitrede“ Jesu [Mk 13 parr.] noch Mk 8,38; 9,42–49; 14,62; Mt 7,19.21–23 par.; 19,28; 25,1–46; Lk 12,45f.; 17,20–37; bei Paulus z.B. 1Kor 15,24–28). S. dazu unten S. 118 m. Anm. 54. – Auch die „Tempelreinigung“ (Mk 11,15–17 parr.) will nicht als Gerichtsansage, sondern als prophetisch-lehrhafte Zeichenhandlung verstanden sein (V. 17!). 48 Knappe exegetische Hinweise bei REHFELD, Anfang, passim. – Zur in diesem Zusammenhang unbedingt zu beachtenden Verstockungsthematik und der Verbindung zwischen der programmatischen Antrittspredigt Jesu (Lk 4) und der programmatischen letzten Predigt des Paulus (Act 28) vgl. MITTMANN-RICHERT, Sühnetod, 256–285, bes. 267–271. 49 Darauf steht gemäß alttestamentlicher Weisung die Todesstrafe (vgl. Dtn 13,1–6)! 50 Vgl. JEREMIAS, Verheißung, 37–39 (Zitat: 39). Dass BOVON, Lukas I, 213, Anm. 28, lapidar konstatiert, Jeremias’ Auslegung habe sich „nicht durchgesetzt“, ist natürlich kein tragfähiges Gegenargument, zumal er sich nicht einmal die Mühe macht, auf Jeremias’ gewichtige Beobachtungen detailliert einzugehen. Abgesehen davon sind respektable Exegeten der Auslegung Jeremias’ gefolgt, so etwa MARSHALL, Luke, 185f. 51 Dass Lk 21,22 (ἡµέραι ἐκδικήσεως) ein Reflex auf JesLXX 61,2b (ἡµέραι ἀνταποδόσεως) ist, zeigen m.E. die sprachliche Parallelität und die sachliche Nähe zu Lk 4,23–27. 52 Abgesehen davon, dass Mk die Täuferdarstellung im Vergleich zu Mt und Lk äußerst knapp hält und ganz auf das Verhältnis des Täufers zu Jesus fokussiert, fällt auf, was Mk 1,7f. gegenüber Mt 3,11f.; Lk 3,16f. fehlt: der Hinweis auf Jesu richterliches Wirken, namentlich auf das βαπτίζειν ἐν πυρί (Mt 3,11; Lk, 3,16). Mk spricht nur von dem im Vergleich zur johanneischen Wassertaufe stärkeren (Mk 1,7!) βαπτίζειν Jesu ἐν πνεύµατι ἁγίῳ (V. 8), was Mt und Lk bloß als eine mögliche Variante des Handelns Jesu darstellen (καί adversativum; zur Auslegung s. LUZ, Matthäus I, 149). 47

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Stehen damit also auch bei Jesus Evangeliumsverkündigung und Gerichtsbotschaft quasi gleichberechtigt („komplementär“) nebeneinander, wie dies C. Stettler für das antike Judentum geltend macht?53 Hier darf jedoch ein gewichtiger Unterschied nicht übersehen werden: Alle neutestamentlichen Texte, die vom „Richten“ Jesu bzw. des „Menschensohns“ sprechen, tun dies in einem futurisch-eschatologischen (oder mindestens zukünftigen) Rahmen.54 Genau in diesem Horizont ereignet sich die präsentische Evangeliumsverkündigung.55 Der Ton liegt damit zweifellos auf dem „Jetzt“ (νῦν) des präsenten Heils (vgl. 2Kor 6,2); dieses ist allerdings im Angesicht des unausweichlich nahenden Gerichts von unaufschiebbarer Dringlichkeit (vgl. Hebr 4,6f.: σήµερον).56 Das Neue Testament insgesamt und die Synoptiker im Besonderen widerstreben jedem Versuch eines enthusiastischen Vorgriffs auf das Eschaton57 – und zwar sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. Denn wie es keinen „Himmel auf Erden“ geben wird (das synoptisch-jesuanische Kontrastprogramm zu Prosperity Gospel, Empowerment u.dgl. lautet „Kreuzesnachfolge“!), so sind auch die Zeichen des göttlichen Gerichts nicht schon an dieser Welt abzulesen (auch nicht gemäß 1Thess 2,1658 oder Röm 1,18ff.59!). IV. Jesus zwischen „naher“ und zukünftiger βασιλεία τοῦ θεοῦ Eng verwandt mit der voranstehenden Thematik ist die Frage nach dem synoptischen Verständnis der βασιλεία τοῦ θεοῦ. Dass mit diesem Begriff ein 53 S. dazu STETTLER, Gericht, 164–171 (zur „Spannung zwischen Tatgerechtigkeit und Erwählung bzw. zwischen Gottes unparteiischem Gericht und seiner Barmherzigkeit“). Gericht und Heil gehören dabei insofern zusammen, als „die durch das Gericht erfolgende Zuweisung von Unheil an die Sünder und Feinde Gottes und an die Unterdrücker des Gottesvolkes“ das Heil sachlich durchsetzt (so WOLTER, „Gericht“, 386). 54 S.o. S. 117, Anm. 47! Vgl. noch Mk 12,9 parr., wo Gott der Richter, das Gericht aber ebenfalls ein zukünftiges ist – wie auch Mk 12,40b; Mt 7,1f.; 12,27 par.; Lk 13,1–5; vgl. außerdem Mt 10,15 u.ö. (ἡµέρα κρίσεως bzw. ἡ ἡµέρα ἐκείνη); ferner Lk 6,35; 14,14. 55 Vgl. zum Ganzen STETTLER, Gericht, 200–219.226–233. Seiner hier entfalteten These einer „Zwei-Stufen-Eschatologie“ Jesu kann ich vom Grundsatz her zustimmen. 56 Vgl. dazu ausführlich JEREMIAS, Gleichnisse, 160–197. Mit Recht betont REISER, Jesus, 140, dass „die Alternative ‚Frohbotschaft‘ oder ‚Drohbotschaft‘“ im Blick auf Jesu Gerichtspredigt „von vornherein verfehlt“ ist, da die ernsten Gerichtsworte nicht als Drohung, sondern „als Warnung vor einer Gefahr verstanden werden“ müssen. 57 Zu diesem Grundproblem jeder schwärmerischen theologia gloriae s. SCHWAMBACH, Rechtfertigungsgeschehen, bes. 48–50.292–297; vgl. REHFELD, Ontologie, 278–280. 58 Zu übersetzen ist dieser schwierige Satz etwa wie folgt: „Heraufgezogen aber ist über sie das Zorngericht auf das Ende hin.“ Gemeint ist jedenfalls, dass die ὀργή bereits unwiderruflich und endgültig (εἰς τέλος) über den Evangeliumsfeinden dräut (ἔφθασεν) – wie ein Gewitter, das sich zwar noch nicht entladen hat, aber im Begriff ist, jeden Moment loszubrechen. S. dazu v.a. LÜNEMANN, Thessalonicher, 68–70, bes. 69; vgl. ferner DIBELIUS, Thessalonicher I, 12; REINMUTH, Thessalonicher, 130f. Vgl. dazu bes. 2Makk 6,12–16. 59 Zum futurischen Verständnis von Röm 1,18 s. ECKSTEIN, Zorn, passim.

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Zentralinhalt der Botschaft des irdischen Jesus bezeichnet ist, ist weitgehend Konsens. Umso heftiger wird darüber gestritten, was dieser Begriff präzise meint und wie er inhaltlich gefüllt ist. Die wesentlichen Fragen und Forschungspositionen hat jüngst noch einmal V. Gäckle zusammengetragen.60 Ihm zufolge ist das Syntagma βασιλεία τοῦ θεοῦ nicht mit „Königsherrschaft Gottes“, sondern mit „Reich Gottes“ zu übersetzen, d.h. primär räumlich und nicht so sehr dynamisch zu verstehen.61 Zugleich eigne der βασιλεία τοῦ θεοῦ eine zeitliche Dimension, insofern sie eine zwar „nahe“, nichtsdestoweniger aber zukünftige Größe sei, deren „Kommen“ mit menschlichen Mitteln weder herbeigezwungen noch irgendwie beschleunigt werden kann.62 An diesem eschatologischen „Reich Gottes“ könne daher weder „gebaut“ noch „mitgearbeitet“ werden,63 aber auch die weit verbreitete These, das Reich Gottes sei in Jesu Person „bereits gegenwärtig“ (so etwa B. Klappert u.v.a.), lasse sich synoptischerseits durch „kein einziges Jesuslogion“ belegen.64 Dagegen begreift Gäckle die βασιλεία τοῦ θεοῦ in der synoptischen Tradition durchgehend als „ein[en] Raum bzw. ein[en] Bereich, der bereits jetzt im himmlischen Heiligtum und Kult eine gegenwärtige Wirklichkeit ist, aber auf Erden erst noch als ein Ort und als eine Zeit des Heils eschatologisch erwartet wird. Er ist identisch mit der ‚kommenden Welt‘ und bezeichnet ‚den großen Heilszustand am Ende der Tage.‘ Als Besitz und Gabe des ewigen Lebens ist die βασιλεία ebenfalls eine zukünftige himmlische Wirklichkeit, die pneumatisch jedoch bereits gegenwärtig gesucht, empfangen und besessen werden kann, die aber erst eschatologisch sichtbar werden wird.“65

Trifft diese Interpretation zu, läge (auch) hier also kein unauflösbarer Widerspruch vor – ja in diesem Fall nicht einmal eine echte Spannung. Es käme nur darauf an, die synoptische „Konzeption“ in ihrer präzisen Differenziertheit wahrzunehmen und sie entsprechend zu würdigen. 60

S. GÄCKLE, Dimensionen, passim (in diesem Band s.u. S. 175–225). S. dazu GÄCKLE, a.a.O., 184–187. Vgl. auch a.a.O., 206: „Der dynamische Aspekt der Herrschaft Gottes steht […] höchstens im Exorzismuslogion (Lk 11,20/Mt 12,28) im Vordergrund. Er muss überall insofern indirekt mitgedacht werden, als Gott an jenem künftigen Ort des Heils und in der kommenden Zeit des Heils uneingeschränkt Herr sein wird und die Heilsgabe des ewigen Lebens auf Gottes Schöpfermacht beruht. Als Übersetzung von βασιλεία τοῦ θεοῦ ist ‚Gottes- bzw. Königsherrschaft‘ allerdings fast durchweg unbrauchbar.“ – Zum paulinischen Verständnis der βασιλεία τοῦ θεοῦ als eines zukünftigen „Heilsraums“ s. REHFELD, Ontologie, 337f.; jetzt auch GÄCKLE, a.a.O., bes. 207.217. 62 S. dazu GÄCKLE, a.a.O., 187–192. 63 Richtig GÄCKLE, a.a.O., 210, Anm. 163: „Die beliebte Metapher vom ‚Bauen des Reiches Gottes‘ hat im Neuen Testament keinen Anhaltspunkt.“ 64 A.a.O., 190 m. Anm. 73. Zum sog. Exorzismuslogion und der Stelle Lk 17,20f. (ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ ἐντὸς ὑµῶν ἐστιν), die das Gegenteil beweisen sollen, s. a.a.O., 196–205. – Allerdings bleibt Gäckle – soweit ich sehe – eine Antwort auf die wichtige Frage schuldig, wie denn Jesus und die βασιλεία τοῦ θεοῦ einander präzise zuzuordnen sind. 65 GÄCKLE, a.a.O., 195f. (Hervorhebung i.O.). 61

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V. Jesus zwischen „freiem Unwillen“ und Erwählung („Prädestination“) Als besonders schwierig erschien demgegenüber schon immer ein Ausgleich zwischen Aussagen, die eine „freie“, dabei übrigens stets negative (!) „Willensentscheidung“ der Menschen in Heilsfragen nahezulegen scheinen (Mt 23,37f.; Lk 13,34f.)66, und klar prädestinatianischen Stellen, wie sie überwiegend bei Johannes und Paulus bzw. in seiner Schule, aber eben auch in der Apostelgeschichte67 (!) und beim Synoptiker Markus (s.u.) zu finden sind. Erhellend ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die lehrmäßige Position der verschiedenen jüdischen Religionsparteien zur Zeit Jesu. G. Maier, der eine größere Untersuchung zu diesem Thema vorgelegt hat, resümiert: „Ben Sira hat […] zum ersten Male für das Judentum das Dogma vom freien Willen formuliert und betont. […] Die Sadduzäer, die wie er der Priesterpartei, den ‫ בני צדוק‬angehörten, hielten seine Auffassung am treusten fest. […] Da auch die Essener, die wir von Qumran kennen, auf die Zugehörigkeit zu den ‚Söhnen Sadoks‘ Wert legen und dadurch sich legitimierten, können wir voraussetzen, daß die Sadduzäer im Verhältnis zu ihnen einen neuen Grund erblickten, an der Willensfreiheit festzuhalten. Qumran unterlag in der geographischen und theologischen Randzone des Judentums zentrifugalen und heterodoxen Tendenzen, die sich in einseitigen Entwicklungen bemerkbar machten. Eine solche Entwicklung läßt sich darin beobachten, daß die qumranischen Essener prädestinatianisch angelegte weisheitliche Traditionen, wie wir sie etwa in Sir 33,7ff antreffen, aufnahmen und entgegen Ben Sira […] zu einer entschiedenen Prädestinationslehre fortbildeten. Auch bei ihnen wird das Bewußtsein der Andersartigkeit im Verhältnis zum übrigen Judentum eine diesen Prozeß begünstigende Rolle gespielt haben; möglicherweise ging damit der Wille, treu an der jüdisch-weisheitlichen Überlieferung festzuhalten, Hand in Hand. Jedenfalls haben sie im Verfolg der weisheitlichen Diastase des Himmlisch-Ewigen vom Irdisch-Vergänglichen das Motiv der Ehre Gottes in das Zentrum ihres theologischen Denkens gestellt, wobei sie sich der Apokalyptik öffneten, und so in besonderer Weise die menschliche Niedrigkeit betont. […] Die Pharisäer […] haben aus der priesterlichen Weisheit Ben Siras beides, die Willensfreiheit und die Prädestination, übernommen und soweit wie möglich nebeneinander in Geltung zu halten versucht. Die Ps Sal zeigen, daß sie in der Betonung der Willensfreiheit im Bereich der Soteriologie ein Spezifikum der pharisäischen Lehre erblickten, was bei dem hier gegebenen Gleichklang mit den Sadduzäern nur bedeuten kann, daß gleich diesen die Pharisäer sich im Gegensatze zu Qumran wußten. Abgesehen von jenen Entscheidungen, die im Kernbereich der Soteriologie fallen und grundsätzlich über das Gerechtsein des Menschen bestimmen, schreiben aber die Pharisäer alles der göttlichen Vorbestimmung zu und können teilweise qumranisch-essenisch formulierte Aussagen machen. Sie erweisen sich also als Sammler, die sowohl den prädestinatianisch aus66

Dieses Logion, das bei Mk fehlt, spielte im Streit zwischen Luther und Erasmus über das liberum arbitrium eine nicht geringe Rolle. Allerdings ist sehr zu beachten, dass es sowohl bei Mt als auch bei Lk in einem dezidiert israeltheologischen Zusammenhang steht. Es ist vor diesem Hintergrund auszulegen, d.h. als Wort der Anklage angesichts des bevorstehenden Gerichts, wobei der jeweilige Schlusssatz (Mt 23,39; Lk 13,35b) nicht überhört werden darf. Vgl. dazu SCHNIEWIND, Mt, 236, der hierin eine Parallele zu Röm 11,26 sieht. 67 S. nur Act 2,41.47b; 5,14; 11,24b; 13,48; 16,14; 19,20. Gegen TAEGER, Mensch, bes. 152f.155f.184–187.213f.220ff., der eine freie „Entscheidung“ des Menschen voraussetzt.

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gerichteten weisheitlichen Traditionsstrom wie den älteren biblischen, freiheitlichen Traditionsstrom aufnehmen konnten.“68

Zieht man vor diesem Hintergrund in Betracht, dass – bei allen Unterschieden – die relativ größte räumliche und sachliche Nähe der Jerusalemer Urgemeinde ausgerechnet zur Gemeinschaft der Essener bestanden haben dürfte,69 wäre es selbst unter dem Blickwinkel historischer Plausibilität nicht von vornherein abwegig anzunehmen, dass sich prädestinatianisches Gedankengut in der Evangelientradition finden lässt, soweit sie in einer Beziehung zu entsprechenden urchristlichen Kreisen steht.70 Von daher ließe sich möglicherweise das klar prädestinatianische Denken des vierten Evangeliums71 erhellen. Solches Denken findet sich aber auch bei den Synoptikern, namentlich bei den Jüngerberufungen72 und im Rahmen der sog. „Gleichnistheorie“ (Mk 4,9.10– 13 parr.), die jedenfalls bei Markus und Matthäus ausdrücklich aus JesLXX 6,9f. hergeleitet wird (Mk 4,12; Mt 13,14f.) und mindestens bei Markus durchaus grundsätzlichen Charakter hat (Mk 4,33f.!73), zumal sie bei ihm in einem engen Verhältnis zum „Messiasgeheimnis“ steht (anders Mt 13,34f.).74 Eigene Wege geht – auch hier wieder – Lukas. Zwar findet sich bei ihm an vergleichbarer Stelle ebenfalls ein eindeutiger Hinweis auf JesLXX 6,9, es fehlt aber bezeichnenderweise ein Zitat von V. 10 (s. Lk 8,10). Dies holt der dritte Evangelist allerdings ganz am Ende seines Doppelwerks nach (Act 28,25– 28)75, und dieses geradezu programmatische Schlusswort des lukanischen Paulus in Rom liest sich wie ein Nachklang zu Röm (!) 11,11b – und ebenso zum „Messiasgeheimnis“ der markinisch-matthäischen Tradition, das dort ja ganz auf Israel beschränkt ist (s. Mk 5,19f.). Mit anderen Worten: Einen Konvergenzpunkt der verschiedenen Stränge finden wir in der These, dass das historische Judentum den ihm gesandten „Messias“76, den irdischen Jesus, 68 MAIER, Mensch, 345f. Das gilt unbeschadet der tendenziösen Darstellung Maiers, der die Prädestinationsaussagen aus Qumran als einseitig-heterodoxe, unbiblisch-zwanghafte und wenig lebenstaugliche Randerscheinung abtut (vgl. auch unten S. 122, Anm. 78). 69 Vgl. dazu RIESNER, Essener, passim. 70 Vgl. z.B. RIESNER, Prägung, passim (zur Herkunft der lk Sonderüberlieferung). 71 S. dazu KAMMLER, Christologie, 128–150. 72 S. Mk 1,17f.19f.; 2,14; 3,13; 13,20.22.27; ferner 10,26f.; vgl. aber 6,52; 7,18a; 8,17– 21; 9,10.32. 73 Die Frage lautet: (In welcher Form) haben Teile dieser umfangreichen (πάντα) esoterischen Jüngerbelehrung (V. 34b) Eingang in die kanonischen Evangelien gefunden? 74 Mit Recht schreibt GNILKA, Markus II, 345: „Markus hat wie kaum ein neutestamentlicher Theologe um die Begriffsstutzigkeit des Menschen gewußt.“ Nur dass diese „Begriffsstutzigkeit“ keine psychologische, sondern eine zutiefst geistliche ist, die darum nur von Gott her geheilt werden kann (s. die beiden Blindenheilungen Mk 8,22–26; 10,46–52)! 75 Von daher lässt sich nur schwerlich behaupten, Lukas begreife „bis zum Schluß der Apostelgeschichte letztlich nicht“, warum „Israel die Frohe Botschaft nicht angenommen hat“ (gegen BOVON, Lukas I, 215). 76 Zur Problematik des Begriffs s. HOFIUS, Messias, passim.

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mehrheitlich abgelehnt hat, dass dadurch aber zugleich den Heiden das Heil eröffnet wurde.77 Freilich weiß einzig der ehemalige78 Pharisäer Paulus um das µυστήριον der eschatologischen Rettung „ganz Israels“ (Röm 11,25ff.). Diese Gewissheit der unumstößlichen Treue Gottes (V. 29!) erscheint so weder im Horizont der Synoptiker (Mk 15,29–32.39; Mt 28,16–20 [vgl. aber 23,39 par.]; Act 28,23–28) noch des vierten Evangeliums, und man darf wohl sagen, dass sie alle diesbezüglich des paulinischen „Kommentars“ bedürfen.79 VI. Jesus zwischen „sekundärer Konditionierung des Heils“ und unbedingter Gnade („Perseveranz“) Ein letzter Punkt, an dem die Diversität der synoptischen Tradition aufgewiesen werden soll, betrifft die Frage nach dem Wesen und der Wirksamkeit der Gnade: Verkündet der „synoptische“ Jesus die unbedingte Gnade samt geistgewirkter perseverantia sanctorum (wie Johannes80 und Paulus81) – oder wird hier der Heilsempfang letztlich „sekundär konditioniert“, wie C. Landmesser dies namentlich für das Matthäusevangelium geltend machte?82 Kann und muss man mit M. Hengel folglich sogar so weit gehen zu sagen: „wenn Mt das erste (bzw. letzte) Wort in der christlichen Theologie hätte, dann wäre Paulus ein Häretiker“?83 Ist mithin Matthäus dafür verantwortlich, dass anscheinend der „Synergismus“ in der „frühe[n] Kirche vorherrschend wurde“, und lässt sich „gar in der Differenz der beiden ‚Schriftgelehrten‘ [sc. Matthäus und Paulus; E.R.] schon der spätere Streit zwischen Erasmus und Luther 77

Vgl. PESCH, Apostelgeschichte II, 309f.; anders JERVELL, Apostelgeschichte, 628f. Geschichtliche Erfahrung und prophetisches Schriftwort sollte man aber nicht gegeneinander ausspielen, da die Realisierung prophetischer Ansage sich in der Geschichte ereignet. 78 Gerade an diesem Punkt ist eine klare Distanzierung des Apostels Paulus von seinen früheren Überzeugungen zu verzeichnen, zumal wenn es zutrifft, wie MAIER, Mensch, 346, die pharisäische Lesart des „freien Willens“ (überaus wohlwollend) interpretiert: Insoweit die Pharisäer „als Sammler aller Traditionen und biblisch orientierte Männer, die auch den praktischen Erfordernissen der Zeitgeschichte nicht aus dem Wege gehen, uns vor Augen treten, erscheinen sie als diejenigen, die den noch bei Ben Sira wirksamen Pessimismus der Weisheit dämpfen und den Menschen in eine freundlichere, die Sündenverhaftung mildernde Beleuchtung stellen.“ S. dazu nur Röm 1,18–3,20! Der Kampf des Paulus mit dem Judentum seiner Zeit bestand gerade in der Auseinandersetzung um den Ernst der Sinaitora und ihres Todesurteils gegen den Sünder (vgl. REHFELD, Ontologie, 149f.195–198). 79 S. dazu unten S. 131f. Zur Sache vgl. KAMMLER, Christologie, 150, unter Hinweis auf HOFIUS, Israel, bes. 188–198.200–202. Vgl. aber auch oben S. 120, Anm. 66. 80 Vgl. z.B. Joh 6,37–40; s. dazu HOFIUS, Erwählung, passim. 81 Selbst schwerste Verfehlungen von Christen haben zwar ernste „leibhafte“ Auswirkungen, gefährden aber (gerade deshalb!) nicht die eschatologische σωτηρία (vgl. bes. 1Kor 5,5; 11,30.32; ferner Gal 6,1f.). Der Heilige Geist ist ein offenbar unerschütterlicher ἀρραβών (2Kor 1,21f.; 5,5; vgl. zur Sache Röm 8,10f.29f.38f. u.ö.). 82 Vgl. LANDMESSER, Jüngerberufung, 141–149; zu Paulus s. a.a.O., bes. 154–157. 83 HENGEL, Bergpredigt, 254.

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[…] um das liberum arbitrium und um die radikale Gnade“ erahnen?84 Oder muss man – ganz im Gegenteil – sagen, dass der „erzählende Rahmen des ganzen Evangeliums […] für Matthäus ein Ausdruck des Vorsprungs der Gnade“ ist, wie U. Luz meint?85 Wie R. Deines mit Recht festhält, wird jede Exegese zunächst einmal „gut daran tun“, der „Gleichzeitigkeit des Ganzen zu entsprechen, wenn sie die Botschaft des Matthäus nachvollziehen will.“86 Es ist mithin hermeneutisch unangemessen und insofern „unmöglich, einen Einzeltext des Evangeliums isoliert vom Gesamttext zu untersuchen.“87 Damit sind wir tatsächlich an den Rahmen gewiesen, und wir haben bereits gesehen, dass er bei Matthäus dezidiert christozentrisch ist (s. nur 1,1.18–25 [bes. V. 21b.23]; 28,16–20). Mit Deines gesprochen: „Es ist die Christologie, die das erste Evangelium von Anfang bis zum Ende bestimmt, und nur von ihr her lassen sich die anderen Themen einordnen.“88 Dass das erste Evangelium tatsächlich diese Leserichtung intendiert, lässt sich m.E. etwa anhand der Art und Weise plausibilisieren, wie es Petrus darstellt: Trotz wiederholten Versagens und „Verleugnens“ (ἀρνεῖσθαι, 26,70. 72; vgl. V. 34f.75) bleibt der sog. „Felsenmann“89 (16,18) auf der Erzählebene bis zum Schluss wie selbstverständlich Teil des Jüngerkreises (s. 28,16) – und zwar trotz (scheinbar) anderslautender Gleichnisse und vor allem trotz einer Grundsatzaussage wie 10,33, die kaum Deutungsspielraum lässt und umso schwerer wiegt, als sie Matthäus als ein Wort des irdischen Jesus gilt: „Wer auch immer mich vor den Menschen verleugnen mag (ἀρνεῖσθαι), den werde auch ich verleugnen (ἀρνεῖσθαι) vor meinem Vater in den Himmeln.“ Eigens thematisiert wird das angesichts eines solchen Wortes durchaus unerwartete „Comeback“ des Petrus im Matthäusevangelium freilich nirgends – im Gegensatz etwa zum Johannesevangelium, in dessen Kontext die „Rehabilitierung“ des Petrus (Joh 21,15–23) sich ganz konsequent als Verwirklichung der Perseveranz-Zusagen Jesu in Joh 6,37–40; 10,27–29; 17,11f. (vgl. 18,9) verstehen lässt (vgl. auch Lk 22,32!). Demgegenüber kann man die offen84

HENGEL, ebd. (beide Zitate). Er gibt Vermittlungsversuchen, wie sie „– trotz des marcionitischen Protestes – die Kirche des 2. Jh.s“ unternahm (ebd.), keine Chance, denn „‚Rechtfertigung des Gottlosen‘ gibt es nur ‚rein‘ oder gar nicht“ (a.a.O., 288). So bleibe die Frage im Raum: „müssen wir uns letztlich nicht doch entscheiden, wer von beiden [sc. Paulus oder Matthäus; E.R.] der ‚christologischen Mitte‘ des NTs näher steht?“ (a.a.O., 254). Vgl. zum Ganzen auch die „kirchengeschichtliche[n] Überlegungen“ bei LUZ, Matthäus I, bes. 68f., sowie – bei aller gebotenen Vorsicht – LÜDEMANN, Paulus II, 59–263. 85 LUZ, Matthäus I, 217. Dagegen fragt HENGEL, Bergpredigt, 253, Anm. 60: „Aber ist der ‚Rahmen‘ stark genug, das Gewicht der Gebote zu tragen?“ 86 DEINES, Gerechtigkeit, 93. 87 DEINES, a.a.O., 95. 88 DEINES, a.a.O., 654. 89 Vgl. BETZ, Felsenmann, passim.

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sichtliche Spannung zwischen dem (expliziten) Wort Jesu und seinem (impliziten) Handeln innerhalb der matthäischen Darstellung natürlich mit der Verarbeitung disparater Quellen zu erklären versuchen oder in der Diskrepanz zwischen der „christologischen“ und der „soteriologischen“ Gedankenreihe einen Beweis für die theologische Inkonsistenz des ersten Evangeliums sehen.90 Derartige „Lösungen“ vermögen m.E. jedoch nicht zuletzt deshalb nur sehr bedingt zu überzeugen, weil sie sich zu oft schon als Folge einer vorschnellen interpretatorischen „Kapitulation“ vor dem auszulegenden Werk erwiesen haben, wie die Geschichte der Bibelexegese zeigt. Daher sollte alles daran gesetzt werden, möglichst dem auszulegenden Werk selbst den Schlüssel für das Verständnis solcher Spannungen zu entnehmen. Dabei bleibt eine in sich konsistente und kohärente theologische Aussage selbstverständlich das Ziel, so wahr der Exegese die „Erörterung der Wahrheitsfrage“ aufgegeben ist.91 Mir scheint nun, dass das Matthäusevangelium selbst mit seiner christologischen Rahmung und dem werkinternen Gefälle der o.g. Spannungen (10,5f./ 15,24 vs. 28,19 – 10,33/26,70.72 vs. 28,16) den Weg zu einer solchen einheitlichen Deutung weist, die in einer bewussten hermeneutischen Vorordnung der Christologie gründet. Verhält es sich so, dann relativiert die Christologie die dazu in Spannung stehenden Aussagen92, und der erzählende „Rahmen“ vermag tatsächlich „das Gewicht der Gebote zu tragen“.93 Damit wären die notierten Spannungen dann als vom Gesamtwerk intendierte Divergenzen zu interpretieren, die ihrerseits gerade den Primat der Christologie unterstreichen sollen. (Aber in dieser Sache ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.)

D. Die Aufrichtung der neuen διαθήκη im Christusgeschehen vor dem Hintergrund der alten διαθήκη Ich möchte abschließend zwei Thesen zur Diskussion stellen, die selbstredend weitergehender Erörterungen bedürften. 90 So LANDMESSER, Jüngerberufung, 155: Die „sekundäre Konditionierung des Heils“ (s.o. S. 122 m. Anm. 82) sei „im Kontext der vom Verfasser des Matthäusevangeliums […] vertretenen Christologie nicht konsistent“. Die Differenz zwischen Matthäus und Paulus liegt demzufolge also nicht in der Christologie, sondern in der Soteriologie (vgl. ebd.). 91 Vgl. dazu HOFIUS, Exegese, 274. 92 Ob man ein solches Verfahren als „innerkanonische Sachkritik“ (HOFIUS, ebd.) bezeichnen muss bzw. darf, hängt entscheidend davon ab, ob die entsprechenden Aussagen selbst sich tatsächlich „jedem Versuch der Harmonisierung entziehen“, was HOFIUS, a.a.O., 275, für die von ihm genannten Beispiele annimmt. Demgegenüber ist das „Auflösen“ einer vom Vf. selbst intendierten Spannung weder Sachkritik noch Harmonisierung. 93 Die entsprechende rhetorische Frage von HENGEL, Bergpredigt, 253, Anm. 60, ist gegen Hengel also zu bejahen (vgl. LUZ, Matthäus I, 217). S. dazu oben S. 123 m. Anm. 85.

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1. Eine erste These, die sich angesichts des soeben dargelegten Befundes m.E. aufdrängt, lautet: Die bei allen drei Synoptikern – besonders ausgeprägt im Lukasevangelium94 – zu beobachtenden inneren Spannungen der jeweiligen Jesus-Darstellung zeugen von der Konfliktträchtigkeit des Prozesses der Ersetzung der alten durch die neue διαθήκη (vgl. Mk 2,21f. parr.),95 wie er sich im Christusgeschehen insgesamt ereignet hat96 – proleptisch-zeichenhaft schon im vorösterlichen Wirken des irdischen Jesus, realiter dann exklusiv (ἐφάπαξ) in Passion, Kreuz und Auferstehung. Die Synoptiker zeigen Jesus, indem sie ihn als den irdischen Jesus zeichnen, auf dem Weg zur Verwirklichung seines eigentlichen Auftrags, der allerdings erst von Kreuz und Auferstehung her klar ersichtlich wird und – in diesem Sinne – „einleuchtet“. So sehr nun die Synoptiker den irdischen Jesus von Anfang an im Licht von Kreuz und Auferstehung darstellen und entsprechend verstanden wissen wollen, so sehr halten sie zugleich daran fest, dass Kreuz und Auferstehung einmalige Ereignisse sind, die darum – unbeschadet ihres „eschatologischen“ Charakters – nicht einfach in das Wirken des irdischen Jesus vor Kreuz und Auferstehung „hineinexistentialisiert“ werden können.97 Die Art und Weise der synoptischen Jesus-Darstellung(en) weist vielmehr nachdrücklich darauf hin, dass offenbar nicht nur das „Daß seines Gekommenseins“98 ins Kerygma hineingehört und für dieses wesentlich ist, sondern gleichermaßen der irdische Jesus selbst, wie gegen Bultmanns weitreichende und bis heute verbreitete These zu betonen ist.99 Der irdische Jesus (d.h. der Inkarnierte als solcher) gehört eben nicht nur zu den „geschichtlichen Voraussetzungen“ des „Kerygma[s] der Urgemeinde“, sondern ist integraler Bestandteil desselben,100 so wahr die frühe Kirche synoptische Evangelien hervorgebracht und schon Paulus Formulierungen wie Gal 4,4 oder Röm 1,3; 8,3b festgehalten 94 Das ist kein Zufall, da Lukas sein Werk ja als Doppelwerk konzipiert hat, dessen zweiter Teil den hermeneutischen Rahmen des ersten Teils bildet (s.u. S. 131, Anm. 129). 95 Diese Konfliktträchtigkeit äußert sich freilich nicht nur in den inneren Spannungen der Jesus-Darstellung, sondern auch in den äußeren Konflikten, in denen der irdische Jesus geschildert wird, allen voran denen mit den Hütern und Repräsentanten der alten διαθήκη. 96 Vgl. dazu etwa Mk 14,24; Mt 26,28; Lk 22,20; 1Kor 11,25; ferner Röm 3,25; Joh 6,41–59; Hebr 7,22; 8,6ff. u.ö. 97 Zum „erdenden“ Anstoß des sub Pontio Pilato vgl. BAYER, Autorität, 119–121. 98 BULTMANN, Johannes, 189. Er meinte, nur dieses könne Verkündigungsinhalt sein. 99 Berühmt ist der erste Satz von Bultmanns „Theologie des Neuen Testaments“: „Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht ein Teil dieser selbst“ (BULTMANN, Theologie, 1). Ihm zufolge „verkündigt“ das christliche Kerygma „Jesus Christus als Gottes eschatologische Heilstat […], und zwar Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen“, d.h. nicht den irdischen bzw. „geschichtlichen Jesus“ (a.a.O., 2 [Hervorhebung E.R.])! Eine weitgehend berechtigte Kritik bei HENGEL/ SCHWEMER, Jesus, 247f. m. Anm. 14. Zur Kritik an dieser Kritik wiederum s.u. S. 126, Anm. 104. 100 Gegen BULTMANN, Theologie, 1f. (dort auch die angeführten Zitate).

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hat.101 Wenn nun aber die synoptischen Evangelien (besonders Markus) nichts anderes sind als „Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung“102, dann ist es keineswegs illegitim, nicht nur nach der Passionsgeschichte im engeren Sinne (ab Mk 14,41f.; Mt 26,45f.; Lk 22,[45f.]53b; vgl. Joh 17,1)103 zu fragen, sondern auch nach der „ausführliche[n] Einleitung“, d.h. nach dem irdischen Jesus – freilich so, dass daraus nicht unter der Hand doch wieder die tatsächlich problematische Frage nach dem sog. „historischen Jesus“ wird!104 Der Grat mag hier in der Tat äußerst schmal sein.105 Befasst man sich aber mit dem innersynoptischen Verhältnis von Einleitung und Passionsgeschichte im engeren Sinne, dann ist jedenfalls unübersehbar, dass der Gekreuzigte erst seit Karfreitag realiter (!) „der Gekreuzigte“ ist, so sehr von Anfang an das göttliche δεῖ und damit der Schatten des Kreuzes und das Licht von Ostern über dem Wirken Jesu stehen und das Christusgeschehen daher einen geradezu zwangsläufigen Charakter gewinnt (s. nur Mk 8,31 parr.; 9,9.12b u.ö.).106 101

Es geht bei dieser ganzen Diskussion letztlich auch um die so wichtige „Frage nach dem Wirklichkeitsbezug des christlichen Glaubens“, wie BAUSPIESS, „Doketismus“, 219, mit Recht betont. 102 Mit KÄHLER, Jesus, 80, Anm. 1 (s.o. S. 108 m. Anm. 9). 103 Entscheidend ist hier jeweils der Hinweis auf die „Stunde“ (ὥρα). 104 Zum Problem s. HOFIUS, Frage, passim. Dieses Abdriften in die Frage nach dem „historischen Jesus“ geschieht dann, wenn etwa HENGEL/SCHWEMER, Jesus, 248, zwar mit vollem Recht bemerken, „[i]n allen vier Evangelien“ werde „notwendigerweise ‚erzählt‘“, dem aber den bezeichnenden Nebensatz folgen lassen: „wobei Markus und Lukas der historischen Wirklichkeit am nächsten stehen.“ Hier ist „die historische Wirklichkeit“ (was auch immer das sein mag) offenbar „etwas“, was irgendwie doch hinter den Texten liegt! Damit aber stünde der Glaube „einer von ihm unterschiedenen wahren Inhaltlichkeit gegenüber“ und wäre folglich nicht mehr unmittelbar „hineingezogen in die Evidenz des Glaubens“ (Formulierungen bei WITTEKIND, Offenbarung, 9 [Hervorhebung E.R.]). 105 Dieser Grat verläuft präzise „[z]wischen Mythos und Geschichte“, wie IWAND, Christologie, 303, formuliert. Zur Sache vgl. a.a.O., 303–311. 106 Es kommt hier darauf an, dass der Akt des Sich-Erinnerns (ἀνάµνησις, s. dazu oben S. 109f.) das In-Erinnerung-Gerufene selbst nicht überdeckt. Problematisch, weil ungeschützt, sind daher Äußerungen, wie sie etwa bei SCHNACKENBURG, Person, 86, zu finden sind: „Der irdische Jesus steht schon immer im Blick auf den Verherrlichten und in seiner Macht Kommenden“ (Hervorhebung E.R). Dieses „Schon immer“ trifft zwar auf der literarischen Ebene und – theologisch gesprochen – von Gott her zu (δεῖ!); und doch wird die Gestaltungskraft des „Kerygmas“ m.E. immer noch etwas zu hoch bewertet, wenn SCHNACKENBURG, a.a.O., 354, resümiert: Die „Jesusbilder in den Evangelien […] setzen die geschichtliche Überlieferung voraus und benutzen sie, um ihren Gemälden Farbe und Ausdruckskraft zu verleihen. Sie wollen den geheimnisvollen, auf Erden erschienenen Gottessohn gleichsam [!] mit Fleisch umkleiden, doch aufgrund verbürgter Überlieferung, in Erinnerung an sein geschichtliches Auftreten und Wirken“ (Hervorhebungen E.R.). Ist es nicht vielmehr so, dass sie – freilich nur durch Offenbarung! – gerade in (!) dem von ihnen bezeugten Geschehen Jesus als den Christus erkannt haben, und nicht etwa getrennt davon? Hier hat wiederum IWAND, Christologie, 305, Entscheidendes richtig gesehen: „Wir werden nicht Blinde bleiben, wenn uns der Strahl des Evangeliums trifft. […] Man kann dann

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Auch Letzteres ist zu betonen! Denn bei aller scheinbar kontingenten „Entwicklung“ Jesu und bei aller scheinbaren „Gefährdung“ seines Auftrags107 machen die Synoptiker doch wiederum deutlich genug (gerade in den hermeneutisch relevanten „Rahmentexten“, die keinesfalls ignoriert werden dürfen), dass der gesamte Prozess auf einer Setzung Gottes beruht und daher und insofern eine Geschichte von fortgesetzter innerer Folgerichtigkeit und Notwendigkeit darstellt. Die Evangelien erzählen keine zufällige Entwicklungsgeschichte, sondern die definitive Verwirklichungsgeschichte.108 Das wird jedenfalls dann deutlich, wenn man die Evangelien als Gesamtwerk betrachtet und darauf verzichtet, einzelne, möglicherweise gar erst hypothetisch rekonstruierte Perikopen in atomistischer Manier für sich zu betrachten. Wer den Rahmen aushebelt, dem wird früher oder später das gesamte Bild entgleiten. 2. Das führt uns zu einer zweiten These: In den synoptischen Jesus-Darstellungen sind Inhalt und Form zu einer unauflöslichen Symbiose verwoben und bedingen und durchdringen sich gegenseitig. Das sog. „Kerygmatische“ lässt sich nicht von der zugrunde liegenden Verwirklichungsgeschichte und ihrer Erzählung ablösen; es gibt hier keine „Sache an sich“. Das Spezifikum der Synoptiker besteht eben darin, dass sie gerade mit dem Spannungsreichtum ihrer Jesus-Darstellungen dem zuvor genannten Realgrund der oben skizzierten Spannungen (nämlich der Konfliktträchtigkeit des Prozesses der Ersetzung der alten durch die neue διαθήκη) uneingeschränkt Rechnung tragen. Das auffällige Nebeneinander bzw. Nacheinander von Reich-Gottes-Ankündigung und Selbst-Verkündigung109 in der synoptischen Darstellung der Botschaft Jesu hat seinen Grund mithin darin, dass die Synoptiker die im Christusgeschehen begründete und vollzogene Aufrichtung der neuen διαθήκη konsequent vor dem Hintergrund der (ver)alten(den) διαθήκη – d.h. in processu – zur Sprache bringen. Trifft es – wie oben bemerkt – zu, dass die Synoptiker Passion, Kreuz und Auferstehung Jesu als einmalige Ereignisse innerhalb des geschichtlichen (!) Christusgeschehens begreifen, dann ist es geradezu folgerichtig, dass sie den vorösterlichen irdischen Jesus vor dem Hintergrund der vor Kreuz und Auferstehung noch nicht abrogierten alten διαθήκη (samt historisch bedingtem νόselbst in der vorher uns verschlossenen Geschichte Gottes mit uns lesen, man kann sie entziffern. […] Und eigentlich ist die Bibel das Dokument dieses Verstehens. Da reden Leute und müssen reden, weil ihnen die Augen aufgetan sind (Lk 24)“ (Hervorhebung E.R.). 107 Namentlich die „Versuchungsgeschichte“ wird nicht selten so gedeutet. S. dagegen KAMMLER, Sohn Gottes, bes. 177 m. Anm. 45–47 (mit Verweis auf T. Söding) sowie 181f. 108 Die Evangelisten empfanden offenbar keinen Gegensatz zwischen sog. „zufälligen Geschichtswahrheiten“ und sog. „ewigen Vernunftwahrheiten“, und die Exegese (welcher Provenienz auch immer) sollte sich hüten, im Gefolge Lessings, Troeltschs u.a. derartige vermeintliche Gegensätze in die Evangelien hineinzulesen. Biblische Geschichte lebt nicht von „Zufall“ und „Gefährdung“, wie es Prozessphilosophie und Offener Theismus wollen. 109 Vgl. JEREMIAS, Gleichnisse, 226f. (im ausdrücklichen Anschluss an E. Fuchs).

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µος und konditionierter „Gnade“) darstellen. Der vorösterliche irdische Jesus bewegt sich in der Darstellung der Synoptiker – wenn man so will – zwischen „Gesetz“ und „Evangelium“ (s.u. E.), insofern er sich mehr oder weniger weitgehend im Rahmen der alten διαθήκη bewegt (s. etwa Lk 10,25–28), deren endgültige Aufhebung er selbst durch die „neue διαθήκη in seinem Blut“ (d.h. durch seinen Sühnetod am Kreuz) allererst herbeigeführt hat. Fassen wir nun abschließend zusammen: Die synoptischen Evangelien sind (genau wie Paulus) grundsätzlich einer nachösterlichen Sicht verpflichtet; sie blicken aus dieser Perspektive aber (anders als Paulus110) ausdrücklich auch auf den irdischen, vorösterlichen Jesus,111 den Christus für und aus112 Israel, den sein israelitischer113 Heidenapostel in einer neuen „heilsgeschichtlichen“ Situation (aber in grundlegender Kontinuität zum irdischen Jesus) ganz konsequent als lebendigen, erhöhten „Herrn“ und „Retter der ganzen Welt“ (einschließlich Israels!114) verkündigte.

E. Folgerungen für eine evangelische Hermeneutik Die programmatische Verschränkung von vor- und nachösterlicher Perspektive in den synoptischen Darstellungen der Jesus-Geschichte (s.o. A.–C.) und die aus dieser Einsicht abgeleiteten Erkenntnisse (s.o. D.) haben m.E. nicht geringe Konsequenzen für den exegetisch-theologischen Umgang mit den be110

Wohlgemerkt: „anders als Paulus“ – nicht: „gegen Paulus“! Denn freilich übergeht auch Paulus den irdischen Jesus nicht einfach (s. nur Phil 2,6ff.; Gal 4,4; vgl. Röm 1,3); er ist aber weitaus stärker an dem gegenwärtigen Wirken des gekreuzigten, auferstandenen und wiederkommenden „Herrn“ (κύριος) interessiert als an der irdischen Wirksamkeit des fleischgewordenen Gottessohns abgesehen von Kreuz und Auferstehung. 111 Vgl. zum Ganzen ROLOFF, Kerygma, 273. In der Tat hängt alles „davon ab, daß der Jesus der Erdentage nicht nur ein anonymer Ansatzpunkt zeitgenössischer Vorstellungen war“; insofern sind die Evangelientraditionen zweifellos „Niederschlag eines glaubenden Verstehens, das, von Ostern herkommend, den sucht, den es als den Erhöhten bekennt“ (ebd.). Es „sucht ihn“ jedoch nicht nur „als den Irdischen an seinem Ort und in seiner Situation“, sondern primär als den Auferstandenen und Erhöhten (gegen ebd.)! 112 Vgl. neben Joh 4,22b (m.E. keine Glosse); Hebr 7,14 auch Röm 1,3; Gal 3,16; 4,4. 113 Paulus verstand sich nach „Damaskus“ nicht mehr einfach als „Jude“ im Sinne eines historisch vorgegebenen antiken Ἰουδαϊσµός, wie deutlich genug aus seinen schroffen Entgegensetzungen im Galater- und Philipperbrief erhellt (s. nur Gal 1,13f.23 [ποτέ!]; 2,16; 4,9–11; 5,2–4; 6,14f.17; Phil 3,7–9). Wohl aber sah er sich bleibend in Kontinuität zum biblischen „Israel“ der von JHWH Erwählten (vgl. dazu Röm 9,1ff.6ff.; 10,1; 11,1; 2Kor 11,22). Mit WILK, Bedeutung, 408, lässt sich noch mehr sagen: Gerade darin, dass Paulus „den Auftrag Israels gegenüber den Heiden“ erfüllt, „erweist er sich als ‚Israelit‘“; „dabei ist seine Existenz aufs engste mit dem Geschick des Gottesvolkes verflochten“ (ebd.). 114 Es genügt, dafür auf Röm 11,26 zu verweisen. Der ῥυόµενος, der ἐκ Σιών „kommen wird“, ist dem Kontext entsprechend Jesus.

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treffenden neutestamentlichen Texten. Entsprechende Folgerungen aus dem bisher Vorgetragenen für die Hermeneutik sind freilich nicht mehr streng exegetischer Natur und können hier nur noch angedeutet werden. Wir haben gesehen, dass es an der besonderen Darstellungsweise der synoptischen Evangelien liegt, dass man in ihnen etliches zu Gesicht bekommt, was einen zunächst verwirren kann. Wie ist damit nicht zuletzt auch praktisch-theologisch umzugehen?115 Will man nun weder kontrafaktisch (!) den internen und externen Spannungsreichtum der synoptischen Jesus-Darstellungen leugnen und zu nicht sachgemäßen Harmonisierungen greifen noch sich mit der bloßen Konstatierung und Festschreibung vermeintlicher oder tatsächlicher „Widersprüche“ begnügen,116 wird man zum einen stets nach echten sachlichen Konvergenzen (auch gesamtneutestamentlicher und gesamtbiblischer Art) Ausschau halten und zum anderen nach einem hermeneutisch verantworteten Umgang mit den skizzierten Herausforderungen suchen. Ein solches tragfähiges Modell des theologisch reflektierten Umgangs mit innerbiblischen Spannungen liefert m.E. grundsätzlich die hermeneutische Unterscheidung von „Gesetz“ und „Evangelium“ oder – um eine Formulierung H.J. Iwands aufzunehmen – von „Postulat“ und wirksamer Mitteilung (promissio117). In seiner Kommentierung eines Luther-Wortes schreibt Iwand: „Beide, das Gesetz und das Evangelium, haben denselben Inhalt; dort ist er gefordert, hier ist er geschenkt. Dort heißt es: Du mußt Christus haben und seinen Geist – und überall, wo das der Inhalt des Wortes Gottes ist, ist Gesetz, mögen wir im Alten oder im Neuen Testament, bei den Worten der Propheten oder bei Jesus selbst [!] vor dieses Postulat gestellt werden –, hier aber heißt es: Siehe, hier ist Christus und sein Geist. Wo immer so die Gnade und Vergebung gegenwärtig verkündet wird, auch im alten Bund, da ist Evangelium. Denn dieses bringt nicht eine neue Gottesvorstellung, eine neue Sittlichkeit, eine neue Religion, sondern das Neue, das es uns bringt, ist dieses, daß Gegenwart wird, was bisher Postulat und Verheißung war.“118

Man kann trefflich darüber streiten, ob Iwand damit die Intention Luthers adäquat wiedergibt – einen heuristischen Nutzen hat das Zitat allemal. Es verweist darauf, dass „[s]elbst innerhalb der Rede von Jesus Christus, wie sie kraft biblischer Bezeugung geschieht, […] die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium wahrzunehmen“ ist, wie O. Bayer ebenfalls im Anschluss an Luther betont: 115 Das Folgende ist von der grundsätzlichen Überzeugung getragen, dass „Anfang und Ziel aller theologischen Arbeit in der Predigt“ liegen (mit KÄSEMANN , Versuche I, 8). 116 Diese Doppelfront hat KÄHLER, Jesus, 35–37, präzise und scharfsinnig beschrieben. 117 Zu Begriff und Sache vgl. BAYER, Promissio, passim. 118 IWAND, Glaubensgerechtigkeit, 56 (innerhalb des Abschnitts „Christus legislator“, a.a.O., 51–56). Das entsprechende Luther-Wort stammt aus der dritten Disputation gegen die „Antinomer“ (1538): „So müssen wir bei Christus gut unterscheiden, inwiefern er das Gesetz auslegt und predigt, was nicht zu seinem eigentlichen Amt gehört, und inwiefern er uns als Erretter und Erfüller des Gesetzes vor Augen gestellt wird“ (WA 39/1, 538,13–15).

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„Es gilt, zwischen Christus als donum und Christus als exemplum zu unterscheiden und dementsprechend zu lernen, ‚wie sich die Christen in Mose sollen schicken‘. Dies ist nötig, damit in der Schriftauslegung die gegenwärtig weit verbreitete Moralisierung, die sich durchaus mit einem ‚solo Christo‘ verbinden kann, aufgedeckt und abgewehrt wird.“119

So nötig diese Unterscheidung theologisch auch ist – sie scheint im Blick auf die Synoptiker-Exegese schlechterdings undurchführbar zu sein, steht man dabei doch stets in der Gefahr, die von den Synoptikern mit Bedacht gerade so und nicht anders, sondern eben als Prozess der Aufrichtung der im Christusgeschehen begründeten und vollzogenen neuen διαθήκη vor dem Hintergrund der (ver)alten(den) διαθήκη erzählte Jesus-Darstellung zu zerreißen. Damit aber würde man zugleich die bewusste Verschränkung von vor- und nachösterlicher Perspektive aufsprengen und doch wieder zwischen dem „Kerygma“ und dessen „geschichtlicher Voraussetzung“ unterscheiden.120 Nun erinnert dieses Dilemma seinerseits natürlich nicht zu Unrecht daran, dass „Gesetz und Evangelium […] keine rhetorischen Mittel in der Hand des Predigers“ oder Exegeten sind, „sondern die Wirkweisen Gottes selber.“121 Gleichwohl scheint eine solche Komplexität für eine an der Wahrheitsfrage orientierte Exegese (s.o. S. 124) höchst unbefriedigend zu sein, gilt ihr doch naturgemäß die claritas (scripturae) als ein hohes Gut.122 Wie aber soll man zu heilsam eindeutigen assertiones gelangen, wenn ausgerechnet die theologisch wie wirkungsgeschichtlich so bedeutenden synoptischen Evangelien sich einer operationalisierten, gleichsam objektivierbaren Scheidung in „Gesetz“ und „Evangelium“ offenbar entziehen? Zunächst einmal muss man den Befund schlicht als solchen wahrnehmen und entsprechend würdigen: Die Erzählungen der Evangelien sind (gerade als Erzählungen) in der Tat bedeutungsoffen formuliert – dies freilich mit Absicht und im Sinne einer präzise zu erhebenden, begrenzten Bedeutungsvielfalt, die weit entfernt ist von einer konturlosen Beliebigkeit, wie eine sorgfältige Synoptiker-Exegese immer wieder aufs Neue bestätigen wird.123 Eine solche wird 119

BAYER, Autorität, 50 (beide Zitate; Luther-Belege ebd.). Namentlich gegen entsprechende Formulierungen von E. Herms betont SCHNEIDERFLUME, Dogmatik erzählen?, 11: Die dogmatische Reflexion „denkt […] den Geschichten nach, sie greift nicht durch die Texte hindurch.“ Denn „die materiale Einheit des Kanons“ sei keine Wirklichkeit, die „hinter den Texten“ erst sichtbar gemacht werden müsse (durch den Interpreten?); ein solches Verfahren berge ganz im Gegenteil „die Gefahr, dass […] die Wahrheit in den Geschichten überhört wird und verloren geht“ (ebd., Anm. 20). 121 BAYER, a.a.O., 49. 122 Vgl. die Problemanzeige bei KRÖTKE, Rede, 131: „Eine Macht, die den Tod besiegt, muss eindeutig und klar sein, wenn wir ihr vertrauen sollen“ (Hervorhebung E.R.). 123 Richtig SCHNEIDER-FLUME, a.a.O., 7: „Die Vielgestaltigkeit des Symbolsystems des christlichen Glaubens ist freilich weder beliebig noch abstrakt, sondern begründet in dem Reichtum der Erfahrungen der Geschichte Gottes in der biblischen Tradition.“ Als solche verdankt sich diese Tradition einem Prozess der Redaktion, der „offene Erzähltexte zu ge120

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ihrerseits die genuinen Vorzüge einer dezidiert narrativen Theologie herauszuarbeiten wissen,124 die wiederum dazu anleitet, die „Geschichte Gottes“ so zu erzählen, „dass sie Menschen als ihre je eigene Geschichte erzählt wird und dass Menschen in sie geradezu hineinerzählt werden.“125 Dazu sind die synoptischen Erzählungen aufgrund ihrer „sympathetisch-emotionalen“ Ausrichtung126 nicht nur bestens geeignet, sondern – wie etwa die Leseanweisung des Markusschlusses zeigt (s.o. A.) – auch daraufhin „programmiert“. Eine (gesamt)biblisch orientierte Theologie wird schließlich aber doch auch nach dem Verhältnis der synoptischen Evangelien namentlich zur neutestamentlichen Briefliteratur fragen (müssen).127 Hier lässt sich m.E. mit einem gewissen Recht sagen, dass die Briefe, eben weil sie konsequent der pneumatischen Wirklichkeit der nachösterlichen Gemeinde verpflichtet sind, in besonderem Maße die hermeneutisch verbindlichen Grenzlinien christlicher (!) Auslegung definieren helfen (regula fidei).128 Die Briefe, aber auch das vierte Evangelium und die Apostelgeschichte129 lassen sich als hermeneutischer Kommentar zu den synoptischen Evangelien lesen, der die u.U. dunklen Einzelbeobachtungen recht verstehen und einordnen hilft. Zugespitzt und bewusst thetisch formuliert: Wie dem Neuen Testament zufolge die Tora prophetisch bzw. von den Propheten her und das Alte Testament insgesamt im Licht des Christusgeschehens zu lesen ist (vgl. exemplarisch Lk 24,44f.),130 so schlossenen literarischen Texten und Textfolgen“ verband, so dass „die Einzeltexte und kleinen oder größeren Textgruppen“ durch diesen neuen „Metatext“ einen endgültig verbindlichen „Deutungsrahmen“ erhielten, wie WISCHMEYER, Überlegungen, 108f. (Zitate: 109), anhand der Entstehung des Markusevangeliums erläutert. 124 Weiterführende Überlegungen bei SCHNEIDER-FLUME, Dogmatik erzählen?, passim. 125 SCHNEIDER-FLUME, a.a.O., 4. Insofern müssen die Erzählungen geradezu „bedeutungsoffen“ konstruiert sein! Zu den notwendigen Einschränkungen s.o. m. Anm. 123. 126 Zu Begriff und Sache s. WISCHMEYER, a.a.O., bes. 104 m. Anm. 10. 127 Vgl. dazu auch WISCHMEYER, a.a.O., passim. 128 Weiterführendes dazu bei REHFELD, Leitlinien, bes. 29–31.36–38.41f.54f. – Außerdem darf an das „‚Vetorecht‘ der Quellen“ (R. Koselleck) erinnert werden, die ja an sich schon „die möglichen Interpretationen“ begrenzen (SCHRÖTER, Erinnerung, 136). Insofern liefert die Bibel selbst die Instrumente „wider abstracten Dogmatismus“ (KÄHLER, Jesus, 47), wobei hier nicht zuletzt an die Jesus-Darstellungen der Synoptiker zu denken ist. 129 Es spricht einiges dafür anzunehmen, dass Lukas den zweiten Teil seines Doppelwerks genau so verstanden hat: als (hermeneutischen) Kommentar zum Evangelium. So tritt etwa Jesus selbst als Verkündigungsinhalt an die Stelle der von ihm verkündigten βασιλεία τοῦ θεοῦ (vermeintliche Ausnahmen wie Act 19,8; 20,25 bestätigen in diesem Falle tatsächlich die Regel, denn zwischen der apostolischen βασιλεία- und Christusverkündigung besteht nicht der geringste Gegensatz, wie Act 8,12; 28,23.31 beweisen). Mehrfach ist auch schon aufgefallen, dass das lukanische Jesus-Bild, wenn der Apostelgeschichte kein genügendes Gewicht beigemessen wird, tatsächlich einseitig im Sinne der gängigen Lukas-Kritik wird (s. dazu MITTMANN-RICHERT, Sühnetod, 1–85.204f.313f. u.ö.). 130 Zur „Prävalenz“ der (als prophetisch geltenden) Psalmen im Hebr vgl. KARRER, Hebr I, 62f. Diese „Prävalenz der Psalmen“ ist Ausdruck der „Hermeneutik des Neuen“,

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sind die synoptischen Evangelien vor dem Hintergrund der übrigen (literarisch z.T. älteren) neutestamentlichen Schriften zu interpretieren. Im Rahmen der damit angezeigten Leserichtung erscheint Jesus Christus tatsächlich sachgemäß als Retter Israels und der Heidenvölker im hellen „evangelischen“ Licht – und nicht etwa als kryptomosaischer Gesetzgeber oder religiös-moralisches Vorbild.131 Gerade Letzteres in unwiderstehlich-kompromissloser Klarheit kundgetan zu haben, ist das bleibende Vermächtnis des israelitischen Christus-Apostels Paulus, dem darum im vielstimmigen Kanon des Neuen Testaments durchaus besonderes Gehör gebührt. Bei aller Hochschätzung des Heidenapostels darf man aber nicht außer Acht lassen, dass die synoptische Erzähl- und die neutestamentliche Briefliteratur irreduzibel verschiedene Aufgaben (Funktionen) erfüllen und insofern wechselseitig aufeinander angewiesen sind und bleiben. Gerade in ihrer Komplementarität bringen sie das unhintergehbar fundamentale apostolische Christuszeugnis schlechthin verbindlich zur Sprache.

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Zwischen Abschreibeverhältnis und frühjüdischer Gedächtniskultur McIvers experimentalpsychologische Kriterien zur Identifizierung eines Abschreibeverhältnisses zwischen den synoptischen Evangelien1 Armin D. Baum Abstract: In a number of experiments with prose texts that were designed to be analogous to the synoptic problem, Robert McIver and Marie Carroll have demonstrated that students are not able to remember unbroken sequences of more than 15 words in exactly the same order as in the source texts. In the synoptic Gospels McIver and Carroll found 9 parallel prose passages with a sequence of exactly the same 16 or more words (up to a maximum of 31 words). They concluded that copying almost certainly occurred in these synoptic parallels. However, McIver und Carroll did not take into account the empirically demonstrable retention rates of people with a trained memory. As research results from experimental psychology and oral cultures reveal, such people can generate text reproductions of up to 36 words that are exactly the same as in the original. From the perspective of experimental psychology even the longest exact word-for-word parallels in the synoptic Gospels can be accounted for on the basis of memorization. There are no examples of synoptic parallels that cannot have been produced by human memory and must therefore be the result of copying. What is more, some of the synoptic parallels with long sequences of exactly the same words contain evidence that can best be explained as the result of memorization.

Der Jude Jesus von Nazareth hat keine Texte hinterlassen, sondern seine Lehre ausschließlich mündlich an seine Schüler weitergegeben, die sie zunächst nur im Gedächtnis aufbewahrten. Die Autoren der synoptischen Evangelien verfassten ihre jüdisch geprägten Jesusbücher2 in einem kulturellen Umfeld, in dem neben schriftlichen Texten auch die auswendige Weitergabe mündlicher Überlieferung eine wichtige Rolle spielte.3 1 Zu meiner Beschäftigung mit der Überlieferung der Jesustradition und der synoptischen Frage wurde ich ganz wesentlich durch ein Buch von Rainer Riesner angeregt, das ich schon als Student gelesen habe: „Jesus als Lehrer“ (3. Aufl. 1988). 2 Vgl. BAUM, Biographien, passim. 3 S. u.a. GERHARDSSON, Memory, passim; NEUSNER, Oral Tradition, passim; HARRIS, Literacy, passim; SMALL, Tablets, passim; MILLARD, Pergament, passim; HAINES-EITZEN, Guardians, passim; HEZSER, Literacy, passim; JAFFEE, Torah, passim.

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Im vorliegenden Aufsatz möchte ich mich mit einigen Aspekten der Entstehungsgeschichte der synoptischen Evangelien beschäftigen, die ich in meinem Buch „Der mündliche Faktor“ noch nicht oder nur unzureichend behandelt habe.4 Zu diesem Zweck werfe ich zunächst einen kurzen Blick auf die Rolle, die ein Gedächtnisfaktor in den verschiedenen Lösungsmodellen zur synoptischen Frage spielt (A). Anschließend möchte ich in Ergänzung zu einigen von Robert McIver und Marie Carroll präsentierten gedächtnispsychologischen Erkenntnissen weitere Gedächtnisexperimente vorstellen, die den Entstehungsbedingungen der synoptischen Evangelien etwas näher kommen (B). Ich schließe mit einem kurzen Ausblick auf die Frage, ob die synoptischen Paralleltexte, die eine besonders auffällige Wortlautidentität aufweisen, Merkmale enthalten, die sie als Ergebnis eines Abschreibeprozesses oder menschlicher Gedächtnistätigkeit erscheinen lassen (C).

A. Der Gedächtnisfaktor in den Lösungsmodellen zum synoptischen Problem Bei der Beantwortung der synoptischen Frage muss sorgfältig zwischen der Art der Quellen und der Art der Reproduktion dieser Quellen unterschieden werden. Bei der Entstehung der synoptischen Evangelien können einerseits mündliche oder schriftliche Quellen im Spiel gewesen sein. Andererseits können diese Quellen ohne Beteiligung des menschlichen Langzeitgedächtnisses (nämlich unmittelbar) oder mit menschlicher Gedächtnistätigkeit (d.h. auswendig) reproduziert worden sein. Aus der Kombination dieser Möglichkeiten ergeben sich vier Varianten der Quellenverarbeitung: Tabelle 1: Varianten der antiken Quellenverarbeitung Unmittelbare Wiedergabe Auswendige Wiedergabe

Schriftliche Quelle (Text) Unmittelbare Wiedergabe schriftlicher Quellen (Abschrift) [I] Auswendige Wiedergabe schriftlicher Quellen [II]

Mündliche Quelle (Vortrag) Unmittelbare Wiedergabe mündlicher Quellen (Diktat) Auswendige Wiedergabe mündlicher Quellen [III–IV]

Alan Kirk hat mit Recht darauf hingewiesen, dass ich diese Unterscheidung in meinem Buch zum synoptischen Problem noch nicht differenziert genug durchgeführt habe.5

4 5

Vgl. BAUM, Faktor, passim. Vgl. KIRK, Orality, 3–11; vgl. auch GREGORY, Literary Dependence, 87–114.

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I. Die unmittelbare Wiedergabe schriftlicher Quellen (Abschrift) Eine erste Form der Quellenverarbeitung besteht in der unmittelbaren Reproduktion schriftlicher Texte. Sie ist gegeben, wenn einem Autor eine schriftliche Quelle vorliegt, während er sie reproduziert. In diesem Fall kann man von einem Abschreibevorgang sprechen. In der Fachliteratur zur synoptischen Frage ist die Überzeugung, dass die Synoptiker einander oder eine gemeinsame Quelle abgeschrieben haben, von Anfang an häufig vertreten worden. Als repräsentative Vertreter dieser Hypothese können Wilke und Morgenthaler gelten. 1. Christian Gottlob Wilke Christian Gottlob Wilke begründete 1838 in seiner einflussreichen Untersuchung zur synoptischen Frage die Markuspriorität, und zwar in Gestalt einer Ur-Markus-Hypothese: Matthäus und Lukas benutzten eine schriftliche Vorfassung des kanonischen Markusevangeliums als gemeinsame Quelle. Zusätzlich schöpfte Matthäus aus dem Lukasevangelium. Zur Art und Weise, in der die beiden späteren Evangelisten ihre gemeinsame Quelle verarbeitet haben, hielt Wilke auf den letzten Seiten seines rund 700 Seiten langen Buches fest: Matthäus und Lukas „haben das Markusevangelium, das sie vor sich hatten, abgeschrieben, um es mit andern Materialien zu versetzen.“6 Eine Beteiligung des menschlichen Gedächtnisses schloss Wilke ausdrücklich aus: „Der Matthäische [sic] Einschalter und Lukas haben die Originalschrift, in welche sie einschalteten, während sie dies thaten, nicht nach dem Gedächtniß kopirt, sondern vor Augen gehabt.“7 Matthäus „muß […] die Sätze der Urschrift mit seinen Blicken haben verfolgen können.“8 2. Robert Morgenthaler Robert Morgenthaler vertrat 1971 in seiner Statistischen Synopse, einem der bis heute wichtigsten Hilfsmittel zur Bearbeitung der synoptischen Frage, eine Drei-Quellen-Hypothese. Er erweiterte die Zwei-Quellen-Hypothese um die Annahme, Lukas habe außer dem Markusevangelium und der Logienquelle auch das Matthäusevangelium als schriftliche Quelle benutzt.9 Die Markuspriorität hat Morgenthaler sehr entschieden im Sinne eines Abschreibeverhältnisses gedeutet, das allenfalls unterschiedlich stark ausgeprägt sein könne: „Ist die Zahl der nach Form und Folge identischen Wörter klein, so ist das Abschreibverhältnis schwach, ist sie groß, so ist es stark.“10 Auch 6

WILKE, Urevangelist, 393. A.a.O., 692; vgl. a.a.O., 656. 8 A.a.O., 393. 9 Vgl. MORGENTHALER, Synopse, 278–306. 10 A.a.O., 120. 7

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für die mt-lk Doppeltradition kann es nach Morgenthaler aufgrund der Wortlautidentität „überhaupt keine Diskussion darüber geben, ob zwischen Mt und Lk in diesen Textphasen ein Abschreibverhältnis besteht: entweder hat Mt Lk, oder Lk hat Mt, oder beide haben einen Dritten – eben ‚Q‘ – vor Augen.“11 Mündliche Quellen oder menschliche Gedächtnistätigkeit zog Morgenthaler nicht in Betracht. II. Die auswendige Wiedergabe schriftlicher Quellen Es gibt jedoch auch – vor allem jüngere – Untersuchungen zur synoptischen Frage, in denen die Benutzung schriftlicher Quellen nicht nur als ein Abschreibevorgang gedeutet wird. Mit einer – wenigstens teilweise – auswendigen Wiedergabe schriftlicher Quellen rechnen beispielsweise Goulder und Derrenbacker sowie in gewissem Sinne auch Kloppenborg. 1. Michael Goulder Michael Goulder (1927–2010) vertrat eine Markuspriorität, lehnte jedoch im Anschluss an seinen Lehrer Austin Farrer eine Quelle Q und die Zwei-Quellen-Hypothese ab.12 Goulder nahm an, dass Matthäus als Hauptquelle das Markusevangelium benutzte, sein Sondergut und sein Q-Material aber nicht aus einer (mündlichen) Überlieferung schöpfte, sondern mehr oder weniger frei entwickelte.13 Der Autor des Lukasevangeliums habe seinen Stoff in den 90er Jahren aus dem Markus- und aus dem Matthäusevangelium geschöpft und das lukanische Sondergut frei geschaffen.14 Die Minor Agreements zwischen Matthäus und Lukas gegenüber dem Markusevangelium, das ihnen beiden als schriftliche Quelle diente, führte Goulder darauf zurück, dass Lukas, während er die vor sich ausgebreitete Schriftrolle mit dem Markusevangelium abschrieb, aus dem Gedächtnis Details aus den jeweiligen Parallelperikopen im Matthäusevangelium einbezog.15 Lukas benutzte das Matthäusevangelium demnach nicht nur unmittelbar visuell, sondern auch aus der Erinnerung. 2. Robert Derrenbacker Robert Derrenbacker vertritt in seiner Arbeit über die Relevanz antiker Kompositionstechniken für die synoptische Frage eine leicht modifizierte ZweiQuellen-Hypothese. Er geht davon aus, dass antike Autoren ihre schriftlichen Hauptquellen nicht immer Wort für Wort abschrieben, sondern sie auch unter 11

A.a.O., 290. Vgl. GOULDER, Luke, 27. 13 Vgl. GOULDER, Midrash, 475. 14 Vgl. GOULDER, Luke, 22f. 15 Vgl. GOULDER, a.a.O., 428. 12

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Beteiligung ihres Gedächtnisses verarbeiten konnten. In diesem Fall las ein Autor in seiner schriftlichen Quelle jeweils einen längeren Abschnitt, um diesen anschließend insgesamt aus dem Kurzzeitgedächtnis niederzuschreiben. Außerdem nimmt Derrenbacker an, dass antike Autoren nicht in der Lage waren, mehrere schriftliche Quellen gleichzeitig zu verarbeiten, sondern jeweils nur eine Hauptquelle vor Augen hatten. Angaben aus Nebenquellen, die ein Autor früher gelesen hatte, ergänzte er aus dem Gedächtnis.16 Auf diesem Hintergrund besteht Derrenbackers Modifizierung der ZweiQuellen-Hypothese in der Annahme, dass Matthäus nur die Perikopen der mtlk Doppeltradition mit einer hohen Wortlautidentität visuell aus der Quelle Q übernahm, während er die mt-lk Parallelperikopen mit geringer Wortlautidentität aus der Erinnerung an den Wortlaut der schriftlichen Quelle Q niederschrieb.17 Einen ähnlichen Einfluss menschlicher Gedächtnistätigkeit zieht Derrenbacker in der Tripeltradition für die Erklärung der Minor Agreements in Betracht.18 3. John Kloppenborg John Kloppenborg schließt aus der teilweise 80-prozentigen Wortlautidentität in parallelen Versen oder ganzen Parallelperikopen der mt-lk Doppeltradition, dass Q keine mündliche Quelle gewesen sein kann, sondern eine schriftliche Quelle gewesen sein muss.19 Dass Matthäus und Lukas (in ihren Parallelperikopen mit geringer Wortlautidentität) von einer ursprünglich mündlichen Tradition von Jesusworten beeinflusst wurden, schließt Kloppenborg (gegen Dunn und Mournet) ausdrücklich aus.20 Er hält es aber für möglich und wahrscheinlich, dass die schriftliche Quelle Q bzw. Teile derselben in freien mündlichen Darbietungen re-oralisiert wurde.21 Matthäus und Lukas seien bei der Verarbeitung der schriftlichen Quelle Q zusätzlich von solchen Re-Oralisierungen von Q beeinflusst worden.22 Kloppenborg scheint anzunehmen, dass die Evangelisten sich beim Verfassen ihrer Bücher an diese freien ReOralisierungen erinnerten. Insofern schrieben sie die schriftliche Quelle Q ab und gaben gleichzeitig Elemente aus mündlichen Darbietungen der schriftlichen Quelle Q aus dem Gedächtnis wieder. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass die Synoptiker ihren Stoff aus einer ursprünglich mündlichen Tradition übernommen haben. Damit, dass die Evangelisten ihre mündlichen Quellen unmittelbar (durch Diktat) wiederga16

Vgl. DERRENBACKER, Practices, 46f. Vgl. DERRENBACKER, a.a.O., 234–239. 18 Vgl. DERRENBACKER, a.a.O., 251–258. 19 Vgl. KLOPPENBORG, Variation, 53. 20 Vgl. KLOPPENBORG, a.a.O., 74.79f. 21 Vgl. KLOPPENBORG, a.a.O., 61–63. 22 Vgl. KLOPPENBORG, a.a.O., 54f. 17

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ben, indem sie sie während eines mündlichen Vortrags wie ein Diktat niederschrieben, rechnen (soweit ich sehe) nur wenige Exegeten. Eine größere Zahl von Exegeten geht aber davon aus, dass die Synoptiker eine mündliche Tradition (IV) bzw. mehr oder weniger große Teile einer solchen (III) auswendig kannten und aus dem Gedächtnis niederschreiben konnten. III. Die auswendige Wiedergabe mündlicher Nebenquellen Eine Reihe von Interpreten nimmt an, dass eine auswendige Wiedergabe ursprünglich mündlicher Quellen durch die Synoptiker im relativ kleinen Maßstab stattgefunden hat. In diesem Fall sind die synoptischen Evangelien primär durch ein Abschreibeverhältnis miteinander verbunden, das sekundär in begrenztem Umfang durch die auswendige Wiedergabe mündlicher Quellen ergänzt wurde. Dies vermuten Griesbach, Hawkins, Goodacre und Dunn. 1. Johann Jakob Griesbach Johann Jakob Griesbach nahm Ende des 18. Jahrhunderts an, Markus habe die Tripeltradition im Wesentlichen unmittelbar aus den Evangelien des Matthäus und des Lukas übernommen.23 Nur das in den markinischen Überhängen enthaltene Material habe Markus aus mündlicher Tradition ergänzt.24 2. John Hawkins Für John Hawkins sprachen die Wortlautübereinstimmungen zwischen den Evangelien eindeutig für eine Benutzungshypothese.25 Zugleich stieß er aber auf Indizien, die ihn dazu veranlassten, die Lösung des synoptischen Problems in einer Kombination aus literarischer Abhängigkeit und mündlicher Überlieferung zu suchen. Einige Unterschiede zwischen den synoptischen Parallelperikopen sind nach Hawkins nicht als Ergebnis eines reinen Abschreibevorgangs, sondern nur als Resultat menschlicher Gedächtnistätigkeit zu erklären. Für besonders relevant hielt Hawkins Transpositionen wie die der zweiten und der dritten Versuchung Jesu in Mt 4,5–10 par. Lk 4,5–12 oder der Männer von Ninive und der Königin des Südens in Mt 12,41–42 par. Lk 11,31–32. Zu solchen Phänomenen komme es nicht beim Abschreiben einer gemeinsamen Quelle, sondern “in the course of memoriter narration and instruction.”26 Denn “the sound of the words adhered to the speaker’s mind more distinctly than the recollection of their original position and significance”.27 Den Evangelisten hätten zwar schriftliche Dokumente vorgelegen, 23

Vgl. GRIESBACH, Commentatio, 74. Vgl. GRIESBACH, a.a.O., 80. 25 Vgl. HAWKINS, Horae Synopticae, 54f. 26 A.a.O., 78. 27 A.a.O., 77. 24

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sie hätten aber oft darauf verzichtet, diese exakt zu reproduzieren, und zwar “because of the oral knowledge of the life and sayings of Jesus Christ which they had previously acquired as learners and used as teachers, and upon which therefore it would be natural for them to fall back very frequently.”28 3. Mark Goodacre Mark Goodacre, ein Vertreter der Farrer-Goulder-Hypothese, geht einerseits davon aus, dass Lukas das Markusevangelium, mit dem er sich schon lange intensiv beschäftigt hatte, bereits auswendig kannte, als er sein Evangelium schrieb, in dem er es als schriftliche Quelle verwendete.29 Er konnte es somit sowohl unmittelbar abschreiben als auch auswendig aus dem Gedächtnis zitieren. Andererseits rechnet Goodacre auch damit, dass Lukas bei der Abfassung seines Evangeliums nicht nur seine schriftlichen Quellen benutzte, sondern stellenweise zusätzlich von einer parallelen mündlichen Tradition beeinflusst wurde. Dadurch setzt Goodacre sich von seinem Lehrer Goulder ab, der den Einfluss mündlicher Tradition ablehnte.30 Lukas könne eine mt-lk Parallelperikope wie das Vater Unser (Mt 6,9–13 par. Lk 11,2–4) zunächst im Matthäusevangelium gelesen und anschließend in Anlehnung an eine ihm bekannte ältere mündliche Version derselben niedergeschrieben haben. Ebenso könne Lukas einige Perikopen der Tripeltradition (wie Mt 26,26–29 par. Mk 14,22–25 par. Lk 22,15–20) zunächst im Markusevangelium gelesen und seine eigene Fassung unter Einbeziehung einer ihm geläufigen ursprünglicheren mündlichen Tradition verfasst haben. Goodacre hält es aber für wahrscheinlich, dass dies nur in wenigen Perikopen der Fall war.31 4. James Dunn Im Rahmen der Zwei-Quellen-Hypothese vertritt James Dunn die These, Matthäus und Lukas hätten ihren Markusstoff nur teilweise (nämlich bei hoher Wortlautidentität) aus dem Markusevangelium abgeschrieben und ihn in anderen Abschnitten (nämlich bei geringer Wortlautidentität) aus einer mündlichen Markustradition geschöpft.32 Dunn geht davon aus, dass Matthäus und Lukas auch ihren Parallelstoff mit hoher Wortlautidentität unmittelbar aus einer schriftlichen Logienquelle und ihren mt-lk Parallelstoff mit geringer Wortlautidentität aus einer gemeinsamen mündlichen Tradition übernommen haben.33 28

A.a.O., 217; vgl. DERS., Limitations, 78.84.90. Vgl. GOODACRE, Case, 89f. 30 S.o. A.II.1. 31 Vgl. GOODACRE, Case, 64–66. 32 Vgl. DUNN, Altering a Default Setting, 63–66. 33 Vgl. DUNN, a.a.O., 66–68. 29

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Den Einfluss menschlicher Gedächtnistätigkeit stellt er sich so vor: In mündlichen Kulturen gebe es einzelne Tradenten, Sänger, Lehrer oder Rabbinen, die die Tradition auswendig kennen und als lebendige Bücher oder Bibliotheken fungieren. Im frühen Christentum sei diese Funktion von den Aposteln und Lehrern wahrgenommen worden.34 Auf der Gedächtnistätigkeit dieser für die Traditionsbewahrung und -vermittlung zuständigen Personen liegt bei Dunn der Nachdruck. Von ihnen konnten die Evangelisten die mündliche Tradition unmittelbar übernehmen, indem sie ihre Vorträge niederschrieben. Am Rande scheint Dunn aber zusätzlich mit der Möglichkeit zu rechnen, dass die Evangelisten auch Teile der mündlichen Tradition auswendig kannten. So nimmt Dunn an, dass Matthäus bereits Teile des Markusstoffs aus der mündlichen Tradition kannte, als er das Markusevangelium kennenlernte. Bei der Niederschrift seines Evangeliums habe er mehrfach die ihm bereits bekannten mündlichen Fassungen den im schriftlichen Markusevangelium enthaltenen Fassungen vorgezogen. Lukas habe es ähnlich gehalten.35 Diese Annahme setzt voraus, dass Matthäus und Lukas aus der mündlichen Jesustradition nicht nur dadurch schöpften, dass sie die mündlichen Vorträge der berufsmäßigen Tradenten unmittelbar niederschrieben, sondern auch dadurch, dass sie Teile der mündlichen Tradition auswendig kannten und bei der Niederschrift ihrer Evangelien aus dem Gedächtnis reproduzierten. IV. Die auswendige Wiedergabe mündlicher Hauptquellen Andere Lösungen des synoptischen Problems gehen davon aus, dass die synoptischen Evangelien vornehmlich durch die auswendige Wiedergabe mündlicher Quellen miteinander verbunden sind, während die Verarbeitung schriftlicher Quellen allenfalls ergänzende Funktion hatte. Dies ist in den Lösungsvorschlägen von Herder, Gieseler und Lord der Fall. 1. Johann Gottfried Herder Johann Gottfried Herder forderte Ende des 18. Jahrhunderts in seiner Abhandlung „Vom Erlöser der Menschen“, man solle „den fremden Gedanken, Ein [sic] Evangelist habe den andern ergänzen, verkürzen, verbessern wollen, rein aufgeben“.36 Vielmehr seien „unsre Evangelien offenbar nach den Grundzügen verfasset […], die das ihnen vorausgehende mündliche Evangelium vorzeichnet“.37 Die Evangelisten seien zunächst Helfer und Stellvertreter der Apostel gewesen. So wie diese erzählten sie die Geschichte Jesu als „mündliches Evan34

Vgl. DUNN, a.a.O., 55.279f. u.ö. S. a.a.O., 76; vgl. a.a.O., 69f.85–96.115–119 u.ö. 36 HERDER, Erlöser, 195. 37 A.a.O., 161. 35

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gelium“.38 Darum nennt Herder sie auch evangelische „Rhapsoden“.39 In einem zweiten Schritt hätten einige Evangelisten bzw. Rhapsoden ihr mündliches Evangelium niedergeschrieben. So auch Markus: „Was er als Evangelist oft erzählt hatte, warum sollte er es nicht aufschreiben […]?“ Dass es ihm von Petrus diktiert wurde, schließt Herder ausdrücklich aus.40 Markus schrieb sein zunächst mündlich verkündigtes Evangelium aus dem Gedächtnis nieder. 2. Johann Carl Ludwig Gieseler Johann Carl Ludwig Gieseler ging davon aus, „daß die Apostel Anfangs nur das Evangelium mündlich gepredigt“ haben, „wenig bekümmert um die Niederschreibung desselben, weil sie jenes Geschäft für größer und erhabener hielten.“41 Es sei wahrscheinlich, dass „sich in diesem Apostelkreise zu Jerusalem ein in einzelnen Theilen mehr[,] in andern weniger gleichförmiges mündliches Evangelium bildete.“42 Die Schüler der Apostel hätten dieses mündliche Evangelium, „das sie im Umrisse schon kannten, blos durch das oft wiederholte Anhören desselben ihrem Gedächtnisse“ eingeprägt, ohne es dabei mechanisch auswendig zu lernen.43 Das scheint Gieseler auch für die Evangelisten anzunehmen, die s.E. die „gleiche mündliche Quelle benutzten“.44 Sie werden die mündliche Überlieferung also zunächst ihrem Gedächtnis eingeprägt und später aus dem Gedächtnis niedergeschrieben haben. 3. Albert Lord Albert Lord deutete die Entstehung der Evangelien auf dem Hintergrund seiner gründlichen Kenntnis mündlicher Dichtung aus dem ehemaligen Jugoslawien. Ihn erinnerte das komplexe Verhältnis zwischen den drei synoptischen Evangelien an drei mündliche Erzähler, die dieselbe traditionelle Erzählung reproduzierten.45 Lord hielt es für unwahrscheinlich, dass beispielsweise Lukas beim Schreiben seines Evangeliums ein Manuskript mit dem Text des Markusevangeliums vor sich hatte.46 Für einen Abschreibevorgang seien die Unterschiede zwischen den synoptischen Evangelien zu groß.47 Die Evangelisten seien entweder selbst als Tradenten an der mündlichen Weitergabe der Tradition beteiligt gewesen oder hätten diese, auch wenn sie 38

Vgl. a.a.O., 195–199. A.a.O., 202 (Hervorhebung i.O.). 40 A.a.O., 206. 41 GIESELER, Versuch, 63. 42 A.a.O., 103. 43 A.a.O., 106. 44 A.a.O., 83. 45 Vgl. LORD, Gospels, 64. 46 S. a.a.O., 82; vgl. a.a.O., 86. 47 Vgl. LORD, a.a.O., 90. 39

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selbst keine mündlichen Erzähler waren, die mündlichen Erzählungen ein Leben lang gehört. Die zweite Möglichkeit hielt Lord für wahrscheinlicher.48 In beiden Fällen kannten die Evangelisten die Jesustradition, als sie sie niederschrieben, auswendig. V. Fazit Die Frage, ob bzw. in welchem Umfang die Wortlautübereinstimmungen in den synoptischen Paralleltraditionen auf einem Abschreibeverhältnis beruhen oder durch den Einfluss eines Gedächtnisfaktors bedingt sind, wird von den Vertretern der verschiedenen Lösungsmodelle zum synoptischen Problem ganz unterschiedlich beantwortet. Am einen Ende des Spektrums stehen Exegeten wie Wilke und Morgenthaler, die den synoptischen Befund ausschließlich durch ein Abschreibeverhältnis erklären. Am anderen Ende stehen Forscher wie Herder, Gieseler und Lord mit ihrer Überzeugung, dass der gesamte synoptische Befund als das Resultat menschlicher Gedächtnistätigkeit erklärt werden kann. Zwischen diesen beiden Extremen erstreckt sich ein Spektrum von Positionen, die ein Abschreibeverhältnis mit einem Gedächtnisfaktor kombinieren, deren Anteile aber ganz unterschiedlich groß bemessen werden.

B. Die experimentalpsychologisch nachweisbare Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses Rainer Riesner hat in einer Besprechung meines Buches zur synoptischen Frage angedeutet, dass er einerseits nicht von einer gegenseitigen Benutzung der Synoptiker ausgeht, andererseits aber auch keine reine Traditionshypothese vertritt, sondern auch mit dem Einfluss schriftlicher vorsynoptischer Quellen rechnet.49 Die Synoptiker hätten demnach sowohl aus gemeinsamen mündlichen als auch aus gemeinsamen schriftlichen Quellen geschöpft. Das halte ich ebenfalls für möglich. In meiner Arbeit habe ich auf eine Feststellung von Günter Stemberger verwiesen, der zufolge die rabbinische Literatur auf einem „Nebeneinander von mündlicher und schriftlicher Überlieferung“ beruht, „mit dem Vorrang des mündlichen Textes“.50 Es stellt sich aber die Frage, ob bzw. gegebenenfalls wie sich diejenigen Parallelperikopen identifizieren lassen, die nur durch ein Abschreibeverhältnis miteinander verbunden sein bzw. nicht als Ergebnis menschlicher Gedächtnistätigkeit gedeutet werden können. Ein Kriterium, das eine solche Identifizierung ermöglichen soll, haben McIver und Carroll entwickelt. 48

Vgl. a.a.O., 80. Vgl. RIESNER, Überlieferung, 308f. 50 STEMBERGER, Einleitung, 55. 49

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I. Die Gedächtnisexperimente von Robert McIver und Marie Carroll 1. Die Reproduktion schriftlicher Prosatexte Der Neutestamentler Robert McIver und die Experimentalpsychologin Marie Carroll gaben in einem Experiment Studenten Prosatexte über bekannte Ereignisse wie den Untergang der Titanic oder den Tod von Lady Diana. Die Texte waren zwischen 217 und 336 Wörter lang. Die studentischen Versuchspersonen durften diese Texte so oft lesen, wie sie wollten. Anschließend sollten sie das im jeweiligen Text beschriebene Ereignis auf maximal einer Seite in eigenen Worten reproduzieren. In einer ersten Experimentenreihe („Sources used but returned“) mussten die Versuchspersonen den Text vor dem Schreiben zurückgeben.51 Wie der Freiwillige D10 seinen 240 Wörter langen Quellentext über den Untergang der Titanic reproduziert hat, lässt sich in etwa anhand eines kurzen Auszugs zeigen.52 Zwischen dem zurückgegebenen Quellentext und der auswendigen Reproduktion ergab sich an einer Stelle eine Übereinstimmung von 6 lückenlos form- und folgeidentischen Wörtern. In der folgenden Abbildung habe ich formidentische Wörter fett gedruckt und die längste Reihe mit lückenlos form- und folgeidentischen Wörtern unterstrichen: Tabelle 2: Auswendige Reproduktion eines schriftlichen Prosatexts (D10) Quellentext

Reproduktion

In September 1985 a joint US-French scientific expedition located the remains of the Titanic at a depth of 3.962 m, about 595 Kms off the coast of Newfoundland.

In 1985 a french scientist discovered the titanic at at [sic] depth of 3.965 m below sea level 595 km off the coast of …

In Experimenten, in denen die Quellentexte vor der Reproduktion zurückgegeben werden mussten, belief sich die Zahl der formidentischen Wörter in ununterbrochener Folge im Durchschnitt auf 5,4353 und war in keinem Fall größer als 15.54 In einer anderen Experimentenreihe („Sources used and retained“) durften die Studenten den Text über das zu beschreibende Ereignis behalten.55 In einem von McIver und Carroll abgedruckten Beispieltext (den Versuchsteilnehmer D13 produziert hat) waren 18 Wörter mit dem Quellentext lückenlos form- und folgeidentisch:56 51

Vgl. MCIVER/CARROLL, Experiments, 669. Vgl. a.a.O., 671. 53 Vgl. a.a.O., 673. 54 Vgl. a.a.O., 679f. 55 Vgl. a.a.O., 669. 56 Vgl. a.a.O., 672. 52

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Tabelle 3: Freie Abschrift eines schriftlichen Prosatexts (D13) Quellentext

Reproduktion

In September 1985 a joint US-French scientific expedition located the remains of the Titanic at a depth of 3.962 m, about 595 Kms off the coast of Newfoundland.

In 1985 a joint US-French scientific expedition located the remains of the Titanic at a depth of 3.962 m …

Wenn die Studenten die Quellentexte behalten durften, belief sich die Zahl der formidentischen Wörter in ununterbrochener Folge im Durchschnitt auf 12,657 und war in mehreren Fällen größer als 40.58 Demnach gilt für gewöhnliche Prosatexte: In Experimenten, in denen die Versuchspersonen die Quellentexte vor dem Schreiben zurückgeben mussten, wurden maximal 16 lückenlos form- und folgeidentische Wörter erzeugt. Reproduktionen mit mehr als 16 formidentischen Wörtern in lückenloser Folge entstanden nur in Experimenten, in denen die Versuchspersonen ihre Quellentexte beim Schreiben behalten durften. Dieses Kriterium, die Zahl der lückenlos form- und folgeidentischen Wörter, kann nach McIver und Carroll dazu dienen, parallele Textfassungen zu identifizieren, die nur durch einen Abschreibevorgang entstanden sein können. April DeConick hat dieses Ergebnis, in Kooperation mit der Expertin für kognitive Psychologie Jean Pretz, durch ähnliche Experimente bestätigt.59 2. Die Reproduktion mündlicher Aphorismen In einer anderen Gruppe von Experimenten haben McIver und Carroll die Versuchsanordnung verändert. Die Freiwilligen durften sich einen Text, so oft sie wollten, vorlesen lassen. Anschließend hatten sie ihn in einem anderen Raum so wörtlich wie möglich vor einem laufenden Kassettenrekorder zu wiederholen.60 In einer ersten Experimentenreihe handelte es sich bei den zu wiederholenden Texten um Witze – nach McIver und Carroll eine den neutestamentlichen Gleichnissen vergleichbare Textsorte. Während der Inhalt dieser Erzählungen von den meisten Versuchspersonen reproduziert werden konnte, konnte niemand ihren Wortlaut auch nur annähernd wörtlich wiederholen. In einer zweiten Experimentenreihe ging es um die Reproduktion von Aphorismen. Ein Aphorismus ist „ein kurzer, schlagkräftiger und äußerst prägnant formulierter einzelner Prosasatz zur Einkleidung e[ines] eigenartigen […] Gedankens“. Er wird „stilistisch oft in rhetor[ische] Formen gefasst 57

Vgl. a.a.O., 673. Vgl. a.a.O., 679f.; vgl. DIES., Distinguishing Characteristics, 1258f. 59 Vgl. DECONICK, Memory, 145. 60 Vgl. MCIVER/CARROLL, Experiments, 674–677.

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wie Antithese, Paradoxon, Emphase, Hyperbel“.61 Die Freiwilligen sollten sich vier Aphorismen beliebig oft vorlesen lassen und diese anschließend so genau wie möglich auswendig reproduzieren. Mehrere Versuchsteilnehmer waren in der Lage, drei der vier Aphorismen nahezu wörtlich zu wiederholen. Versuchsperson B7 erzielte in diesem Experiment das folgende Ergebnis:62 Tabelle 4: Auswendige Reproduktion mündlicher Aphorismen (B7) Quellentext

Reproduktion

You are more likely to be struck by lightning than to be eaten by a shark.

You are more likely to be struck by lightning than to be eaten by a shark.

You are more likely to be infected by flesh-eating bacteria than you are to be struck by lightning.

You are more likely to be infected by a flesh-eating bacteria than you are to be struck by lightning.

More people working in advertising died on the job in 1996 than died while working in petroleum refining.

More people are killed annually by donkeys Than die in air crashes.

More people are killed annually by donkeys Than die in air crashes.

Um … There were more people working in advertising died in 1996 than worked in petroleum refining.

Zwei Aphorismen wurden vollständig bzw. nahezu wortlautidentisch reproduziert. Die Reihenfolge des dritten und vierten Aphorismus wurde in der Wiedergabe vertauscht. Die längste Reihe der von der Versuchsperson B7 lückenlos form- und folgeidentisch reproduzierten Wörter umfasst 24 Elemente (“You … by”). Aus diesem Experiment folgern McIver und Carroll, dass der Wortlaut von Aphorismen wesentlich besser auswendig wiedergegeben werden kann als der Wortlaut gewöhnlicher Prosatexte. Aphorismen können auch dann auswendig reproduziert worden sein, wenn es zwischen den Reproduktionen und ihren Quellen Reihen mit lückenlos form- und folgeidentischen Wörtern gibt, die mehr als 16 Elemente umfassen. 3. Die Anwendung auf die synoptische Frage Berücksichtigt man in den synoptischen Evangelien sämtliche Parallelabschnitte mit einer lückenlosen Wortlautidentität von 16 oder mehr Wörtern, ergibt sich eine Liste von 27 Texten. Zwei Paralleltexte, die McIver und

61 62

VON WILPERT, Sachwörterbuch der Literatur, 41. Vgl. MCIVER/CARROLL, Experiments, 675.

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Carroll nicht berücksichtigt haben, sind durch einen hochgestellten Asterisk gekennzeichnet:63 Tabelle 5: Synoptische Parallelen mit 16 oder mehr lückenlos form- und folgeidentischen (lffi) Wörtern (den Stoffgruppen nach geordnet) Mt 7,28b–29* 10,21–23a 15,8–9 15,32 20,28 21,42b* 22,44 24,16–17 24,18b–20 24,33b–34a 26,24

Mk 1,22* 13,12–14a 7,6–7 8,2–3a 10,45 12,10b–11* 12,36b 13,14–15 13,16b–18 13,29b–30a 14,21 1,24–25 10,14–15 12,38–40

8,2b–3 16,24b–25 8,34b–35 3,9–10a 3,10b 6,24 7,7–8 8,9 8,19b–20 11,7b–8a 11,25b–27a 12,41 12,42b 24,50–51a

Lk

lffi 16 33 20 16 16 20 19 18 23 16 23 4,34–35 26 18,16–17 29 20,45–47 19 5,12b–13 18 9,23b–24 16 3,8–9a 24 3,9b 20 16,13 26 11,9–10 24 7,8 25 9,57b–58 24 7,24b–25a 19 10,21b–22a 27 11,32 24 11,31b 16 12,46 26

Reaktion auf die Bergpredigt Jesu Ankündigung von Verfolgung Jesu Zitat aus Jes 58,2; 29,13 Jesu Wort über das hungernde Volk Jesu Lösegeldwort Jesu Zitat aus Ps 118,22f. Jesu Zitat aus Ps 110,1 Jesu Aufforderung zur Flucht Jesu Weheruf über Schwangere Jesu Deutewort zum Feigenbaum Jesu Weheruf über den Verräter Jesu Dialog mit einem Besessenen Jesu Verteidigung der Kinder Jesu Gerichtswort über Schriftgelehrte Jesu Dialog mit einem Aussätzigen Jesu Nachfolgeworte Abrahamswort des Täufers Fruchtwort des Täufers Jesu Wort über zwei Herren Jesu Verheißung für das Gebet Selbstaussage des Hauptmanns Jesu Wort über Füchse und Vögel Jesu Urteil über den Täufer Jesu Lobpreis des Vaters Jesu Wort über Männer von Ninive Jesu Wort über die Königin des Südens Jesu Wort über den untreuen Knecht

In einem zweiten Schritt sortierten McIver und Carroll alle Texte aus, bei denen es sich um kurze oder längere „distinctive sayings“ handelt. In den synoptischen Evangelien haben McIver und Carroll dadurch zehn Parallelabschnitte identifiziert, die mit den in ihren Experimenten verwendeten gewöhnlichen Prosatexten vergleichbar sind (also keine Aphorismen o.ä. enthalten) und mehr als 16 formidentische Wörter in ununterbrochener Folge aufweisen. Zu ergänzen ist meines Erachtens der Parallelabschnitt Mt 7,28– 29* par. Mk 1,22* über die Reaktionen auf die Bergpredigt:

63 MCIVER/CARROLL, Experiments, 681, und POIRIER, Memory, 320, bieten leicht divergierende Listen.

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Tabelle 6: Durch Abschreibeverhältnis verbundene synoptische Parallelen Mt 7,28b–29* 10,21–23a 22,44 24,18b–20 24,33b–34a 8,2b–3 3,9–10a 3,10b 11,7b–8 11,25b–27a 24,50–51a

Mk Lk 1,22* 13,12–14a 12,36b 13,16b–18 13,29b–30 5,12b–13 3,8–9a 3,9b 7,24b–25a 10,21b–22a 12,46

lffi 16 33 19 23 16 18 24 20 19 27 26

Reaktionen auf die Bergpredigt Jesu Ankündigung von Verfolgung Jesu Zitat aus Ps 110,1 Jesu Weheruf über Schwangere Jesu Deutewort zum Feigenbaum Jesu Dialog mit einem Aussätzigen Abrahamswort des Täufers Fruchtwort des Täufers Jesu Urteil über den Täufer Jesu Lobpreis des Vaters Jesu Wort über den untreuen Knecht

Aus ihren oben erwähnten Experimenten64 schließen McIver und Carroll im Blick auf die synoptischen Parallelen, dass eine Wortlautidentität von bis zu 15 lückenlos form- und folgeidentischen Wörtern in kurzen Herrenworten („short distinctive sayings“) bzw. Aphorismen und in längeren Herrenworten („longer distinctive sayings“) auch durch menschliche Gedächtnistätigkeit erzeugt werden kann.65 Finden sich jedoch in zwei Varianten desselben Prosatexts Übereinstimmungen von mehr als 16 direkt aufeinander folgenden Wörtern, so kann dieses Maß an Wortlautidentität McIver und Carroll zufolge nur aufgrund schriftlicher Vorlagen erzeugt worden sein. An diesen Stellen müsse zwischen den synoptischen Evangelien ein Abschreibeverhältnis bestehen.66 Daher enthielten mindestens zehn bzw. elf synoptische Parallelabschnitte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus einer schriftlichen Vorlage kopiertes Material.67 4. Die Grenzen der Experimente von McIver und Carroll Die von McIver und Carroll durchgeführten Experimente lassen sich allerdings nur bedingt auf das synoptische Problem anwenden. Denn die Situation ihrer Versuchspersonen unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von der der Evangelisten: Erstens war die Aufgabenstellung in den Experimenten mit den gewöhnlichen Prosatexten für die Versuchspersonen eine andere als für die Synoptiker. Denn die Versuchspersonen wurden in den Experimenten mit den Prosatexten aufgefordert, ihre Reproduktionen in eigenen Worten zu verfassen.68 Diese Anweisung galt sowohl für die Experimente, in denen sie ihre Quellentexte 64

S.o. B.I.1–2. Vgl. MCIVER/CARROLL, Experiments, 681f. 66 Vgl. a.a.O., 678–680. 67 Vgl. a.a.O., 682. 68 Vgl. a.a.O., 669. 65

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behalten durften, als auch für die Experimente, in denen sie sie zurückgeben mussten. Es ist aber äußerst fraglich, ob die Verfasser der synoptischen Evangelien das Ziel verfolgten, den Inhalt ihrer schriftlichen Quellen „in eigenen Worten“ wiederzugeben. Die Experimente mit den gewöhnlichen Prosatexten geben keine Auskunft darüber, wie viele formidentische Wörter in ununterbrochener Folge die Versuchspersonen erzeugt hätten, wenn sie ihre Quellentexte möglichst wortgetreu hätten wiedergeben sollen. Mindestens in den Experimenten, in denen sie ihre Quellentexte behalten durften, hätten sie wahrscheinlich wesentlich wortgetreuere Reproduktionen angefertigt. Ob dies auch in den Experimenten der Fall gewesen wäre, in denen die Versuchspersonen ihre Quellentexte vor der Reproduktion zurückgeben mussten, lässt sich schwer einschätzen. Zweitens durften die Versuchspersonen ihre Quellentexte zwar beliebig oft lesen, aber nur zu einem Zeitpunkt in einem eng begrenzten Zeitfenster. Demgegenüber dürften die Evangelisten bzw. die Träger der synoptischen Tradition die Möglichkeit gehabt haben, ihre mutmaßlichen schriftlichen Quellen über längere Zeit zu mehreren Zeitpunkten zu konsultieren. Insofern arbeiteten die Versuchspersonen gegenüber den Trägern der synoptischen Tradition unter erschwerten Bedingungen. Drittens hatten die Versuchspersonen ihre Quellentexte nur wiederzugeben, unmittelbar nachdem sie sie gelesen oder gehört hatten. Dagegen wird man bei den Trägern der synoptischen Tradition davon ausgehen müssen, dass sie ihren Stoff auch nach längeren Zeitabschnitten zu reproduzieren hatten und reproduzieren konnten. Die Lücke, die die Experimente von McIver und Carroll gegenüber den von Hunt und Love durchgeführten Experimenten an dieser Stelle aufweisen, kann aber durch die von Frederic Bartlett erzielten Erkenntnisse geschlossen werden, die er mit dem Volksmärchen vom Krieg der Geister erzielte. Bartlett ließ verschiedene Versuchspersonen das Märchen auch nach vier Monaten69, sechs Monaten70, zweieinhalb Jahren71 und sechseinhalb Jahren72 wiederholen und kam zu dem Ergebnis: “if long intervals are allowed to elapse between successive reproductions the process of gradual transformation may go on almost indefinitely.”73

Viertens dürften die von McIver und Carroll rekrutierten Versuchspersonen sehr viel geringere Gedächtnisfähigkeiten besessen haben als die Evangelisten bzw. die Träger der synoptischen Tradition. Bei den von McIver und Carroll rekrutierten Versuchspersonen handelte es sich um Studenten, die

69

Vgl. BARTLETT, Remembering, 70. Vgl. a.a.O., 71. 71 Vgl. a.a.O., 75. 72 Vgl. a.a.O., 77. 73 A.a.O., 63. 70

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kein trainiertes Gedächtnis hatten.74 Das fällt besonders bei der Experimentenreihe ins Gewicht, bei der die Studenten ihre schriftlichen Quellen vor der Reproduktion zurückgeben mussten („Sources used and returned“). Dagegen dürfte es sich bei den Trägern der synoptischen Tradition um Personen gehandelt haben, die in einer mündlichen Kultur bzw. in einer Gedächtniskultur aufgewachsen und von Kindheit an im Auswendiglernen geübt waren.75 McIver und Carroll räumen dies ein,76 sind aber der Meinung, dass ihre Experimente trotzdem aussagekräftig sind: “The basic limitations placed on memory by the abilities of the human brain are constant between these cultures, and this may explain why lengthy verbatim recall is so rare”.77 Fünftens haben McIver und Carroll die Gedächtnisreproduktionen der Versuchspersonen nur mit den Ausgangstexten verglichen, nicht jedoch die Gedächtnisreproduktionen untereinander. Insofern liefern ihre Experimente (unter der Voraussetzung der Zwei-Quellen-Hypothese) Analogien zu den Übereinstimmungen des Markusevangeliums mit Matthäus und Lukas in der Tripeltradition, aber keine Analogien zu den Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas im sogenannten Q-Material. II. Die Gedächtnisexperimente von Earl Hunt und Tom Love 1. Der Mehrwert der Experimente von Hunt und Love Im Blick auf drei der Begrenzungen, die den von McIver und Carroll durchgeführten Experimenten innewohnen, kann ein von den Psychologen Earl Hunt und Tom Love durchgeführtes Experiment weiterhelfen:78 Erstens stellten sie ihrer Versuchsperson (VP) die Aufgabe, möglichst wortgetreue Reproduktionen zu erzeugen. Zweitens wurde mit längeren Zeiträumen gearbeitet. Während die Studenten in den Experimenten von McIver und Carroll ihre Textreproduktionen nur unmittelbar nach der Lektüre anfertigten, entstanden die Reproduktionen VPs erst nach einer Stunde bzw. sechs Wochen bzw. einem Jahr. (Die von VP unmittelbar nach der Lektüre angefertigte Reproduktion haben Hunt und Love nicht publiziert.) Drittens und vor allem hatte die von Hunt und Love getestete Versuchsperson ein trainiertes Gedächtnis. VP wurde 1935 in Lettland als einziges Kind intellektueller Eltern geboren. Mit fünf Jahren lernte er die Straßenkarte von Riga sowie Zug- und Busfahrpläne auswendig. Als Zehnjähriger prägte er sich für einen Wettstreit 150 Gedichte ein. Zwischen 1945 und 1950 besuchte 74

Vgl. MCIVER/CARROLL, Experiments, 668. Vgl. DUNN, The Oral Gospel Tradition, 232. 76 Vgl. MCIVER/CARROLL, Experiments, 677. 77 A.a.O., 678. 78 Vgl. HUNT/LOVE, Memory, 237–260. 75

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er eine Schule, an der aus Mangel an Büchern und anderen Lehrmitteln großes Gewicht auf reines Auswendiglernen gelegt wurde.79 Rückblickend führte VP sein gutes Gedächtnis vor allem auf die Art seiner in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts (auch an jüdischen Schulen) empfangenen Ausbildung zurück, die im Wesentlichen im Auswendiglernen von Texten bestand.80 Seiner eigenen Einschätzung nach stellte er unter seinen Altersgenossen, die ein ähnliches Schulsystem durchlaufen hatten wie er, keine Ausnahme dar: “Where I went to school there were other kids like me who memorized not only 150 poems – some of them memorized novels […] fiction, chapter by chapter, word for word. It was not a great feat of memory […] I never thought of it that way. They liked it and it came easily. Now if you had a piece of fiction or escapist literature today they would not bother.”81

Hunt und Love schlossen sich dieser Erklärung an und vermuteten, dass das Fehlen vergleichbarer Leistungen in der Gegenwart in den Veränderungen der europäischen Schulausbildung begründet ist, die dem Auswendiglernen keinen hohen Stellenwert mehr zuerkennt.82 2. Die Reproduktion schriftlicher Prosatexte Die Psychologen Hunt und Love ließen ihre Versuchsperson VP das über 300 Wörter lange Märchen vom „Krieg der Geister“ zweimal durchlesen, bevor VP es nach wachsenden Zeitabständen aus dem Gedächtnis zu reproduzieren hatte.83 Die von VP angefertigten Reproduktionen stimmten mit dem Wortlaut ihrer schriftlichen Vorlage und untereinander zu über 50% überein. Darüber hinaus lassen sich zwischen den von VP erzeugten Reproduktionen lange Reihen mit lückenlos form- und folgeidentischen Wörtern nachweisen. Die von VP nach einer Stunde und nach sechs Wochen auswendig angefertigten Reproduktionen enthielten im ersten Satz – sieht man von einem Vokalfehler im Ortsnamen ab – 24 formidentische Wörter in ununterbrochener Folge. Wertet man den Vokalfehler im Ortsnamen als Unterbrechung der lückenlos form- und folgeidentischen Wortlautübereinstimmung, bleiben 17 formidentische Wörter in ununterbrochener Folge:

79

Vgl. a.a.O., 238f. Vgl. a.a.O., 255. 81 A.a.O., 256. 82 Vgl. a.a.O., 258; für weitere Evidenz vgl. BAUM, Faktor, 182f. 83 Vgl. HUNT/LOVE, Memory, 258–260. 80

Zwischen Abschreibeverhältnis und Gedächtniskultur

155

Tabelle 7: Auswendige Reproduktionen eines schriftlichen Prosatexts (VP) Reproduktion nach einer Stunde

Reproduktion nach sechs Wochen

One night two young men from Egulac went down to the river to hunt seals. While they were there, it became foggy and calm.

One night, two young men from Egliac went down to the river to hunt seals. While they were there, it became foggy and calm.

Zwischen der nach sechs Wochen und der nach einem Jahr auswendig angefertigten Reproduktion VPs ergab sich an einer Stelle eine Übereinstimmung von 22 lückenlos form- und folgeidentischen Wörtern: Tabelle 8: Auswendige Reproduktionen eines schriftlichen Prosatexts (VP) Reproduktion nach sechs Wochen

Reproduktion nach einem Jahr

“But he”, said he, turning to the other young man, “will go with you”. So one of the young men returned to the village and the other accompanied the party.

“But he”, said he, turning to the other young man, “will go with you”. So one of the young men returned to his village, and the other went up-river with the war-party.

Dieser Untersuchung zufolge erbringen gedächtnispsychologische Experimente mit Versuchspersonen, die seit ihrer Kindheit viel auswendig gelernt haben, wesentlich bessere Gedächtnisleistungen als die von McIver und Carroll untersuchten Studenten. Ein menschliches Gedächtnis kann, sofern es ausreichend geübt ist, (sogar unter erschwerten Bedingungen) mehr als 20 form- und folgeidentische Wörter in lückenloser Abfolge reproduzieren. 3. Anwendung auf die synoptische Frage Da VP wie die Träger der synoptischen Tradition durch eine Gedächtniskultur geprägt wurde, dürften die mit ihm durchgeführten Experimente für die Deutung des synoptischen Befundes unmittelbarer relevant sein als die Experimente mit Studenten aus einer Schriftkultur. Die Reproduktionen von VP lassen sich nicht nur mit ihrem Quellentext, sondern auch untereinander vergleichen. Insofern können sie (unter Voraussetzung der Zwei-Quellen-Hypothese) nicht nur als Analogie zu den mt-mk bzw. mk-lk Parallelen innerhalb der Tripeltradition dienen, sondern auch als Analogien zu den mt-lk Parallelen im sogenannten Q-Material. Unter den von McIver und Carroll identifizierten synoptischen Paralleltexten, die keine Aphorismen enthalten und trotzdem eine auffallende Wortlautidentität aufweisen, übersteigen nur drei die für VPs Gedächtnis nachgewiesene Leistungsfähigkeit: Mt 24,50–51a par. Lk 12,46 mit 26 lückenlos formund folgeidentischen Wörtern, Mt 11,25b–27a par. Lk 10,21b–22a mit 27 lückenlos form- und folgeidentischen Wörtern und Mt 10,21–23a par. Mk

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13,12–14a mit 33 lückenlos form- und folgeidentischen Wörtern. Berücksichtigt man außer den von McIver und Carroll auch die von Hunt und Love durchgeführten Experimente, kann demnach maximal für drei Parallelstellen in den synoptischen Evangelien behauptet werden, dass die dortige Wortlautübereinstimmung nur durch einen Abschreibevorgang erklärt werden kann. 4. Die Grenzen der Experimente von Hunt und Love Auch die von Hunt und Love durchgeführten Experimente mit VP unterscheiden sich jedoch in mehrfacher Hinsicht von den Entstehungsbedingungen, die für die synoptischen Evangelien angenommen werden können: Erstens besteht die Jesusüberlieferung zu einem erheblichen Teil aus aphoristischen Texten. Das mit VP durchgeführte Experiment gibt aber keine Auskunft darüber, mit welcher Genauigkeit VP aphoristische Texte reproduzieren konnte. Da solche Texte im Allgemeinen besser behalten werden als gewöhnliche Prosatexte, hätte VP Aphorismen wahrscheinlich ebenfalls erheblich wortgetreuer reproduzieren können, als Studenten mit ungeübtem Gedächtnis es konnten. Zweitens ist zu beachten, dass die Lernbedingungen, unter denen VP das Volksmärchen vom Krieg der Geister seinem Gedächtnis einzuprägen hatte, sich erheblich von den Bedingungen unterschieden, unter denen die Träger der mündlichen synoptischen Tradition ihren Stoff auswendig gelernt haben dürften. VP durfte sich das Volksmärchen nur zu einem Zeitpunkt und nur zweimal durchlesen. Es ist unwahrscheinlich, dass der Zugang der Synoptiker zu ihren mutmaßlichen Quellen ähnlich limitiert war. Die Träger der synoptischen Tradition dürften die Möglichkeit gehabt haben, sich über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder mit ihrem Quellenmaterial zu befassen. Hätte VP ein mehrere Wochen oder Monate umfassendes Zeitfenster zur Verfügung gehabt, in dem er sich das Märchen vom Krieg der Geister immer wieder hätte durchlesen dürfen, wäre er mit Sicherheit in der Lage gewesen, dessen Wortlaut noch wesentlich genauer auswendig wiederzugeben als in der von Hunt und Love gewählten Versuchsanordnung. Ein weiterer Unterschied betrifft die Lernbedingungen. Im Unterschied zu der von McIver und Carroll entwickelten Versuchsanordnung, in der die Versuchspersonen die Quellentexte so oft lesen durften, wie sie wollten,84 durfte VP seine Textvorlage nur zweimal lesen. Hätte VP seine Textvorlage beliebig oft lesen dürfen, hätte er ihren Wortlaut wahrscheinlich noch genauer reproduzieren können als nach zweimaligem Lesen.

84

Vgl. MCIVER/CARROLL, Experiments, 669.

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III. Ein synoptischer Vergleich aus der Oral Poetry von Gordon Innes McIver und Carroll haben selbst keine Texte aus der Oral Poetry-Forschung herangezogen. Sie berufen sich aber auf Forschungsergebnisse, die besagen, “that long term verbatim recall exists in purely oral cultures only in the case of shorter poems and the words of some songs, not in the recounting of stories or jokes. What is remembered are the underlying meaning and facts, and even these have a degree of fluidity that can be disconcerting to an observer from a text-based culture.”85

Auf die Frage, in welchem Maße der Wortlaut einer mündlichen Quelle durch das Gedächtnis eines Oral Poets reproduziert werden kann, gehen McIver und Carroll jedoch nicht näher ein. Auch an dieser Stelle lässt ihre Untersuchung daher Raum für Ergänzungen. 1. Lückenlose Wortlautidentität in der Oral Poetry-Forschung Ian Hunter hat untersucht, unter welchen Voraussetzungen Abschnitte von mehr als 50 Wörtern Länge lückenlos wörtlich aus dem Gedächtnis reproduziert werden können. Sein Ergebnis lautet, dass in dieser Hinsicht ein deutlicher Unterschied besteht zwischen rein mündlichen Kulturen, in denen schriftliche Texte unbekannt sind, und nur teilweise mündlichen Kulturen, in denen Lesen und Schreiben praktiziert wird: In vollständig mündlichen Kulturen ist ausgeschlossen, dass Abschnitte von mehr als 50 Wörtern Länge lückenlos und form- und folgeidentisch reproduziert werden.86 Nach Hunter trifft dies auch auf die von Albert Lord analysierte mündliche Dichtung aus Südjugoslawien zu.87 Menschen, die umfangreiche Texte wie den Koran oder den Babylonischen Talmud wörtlich auswendig lernen, gehören teilweise mündlichen Kulturen an, in denen schriftliche Texte bekannt sind.88 Hunter zufolge schärft erst die Kenntnis schriftlicher Texte das Bewusstsein für exakte Wörtlichkeit und verstärkt die Unterscheidung zwischen wörtlicher Wiederholung und Paraphrase.89 In Kulturen, die teilweise schriftlich funktionieren, können allerdings nicht nur des Lesens und Schreibens kundige Menschen umfangreiche Abschnitte auswendig lernen und reproduzieren, sondern auch Menschen, die weder lesen noch schreiben können.90 Das Wirken Jesu und die Überlieferung der Jesustradition fanden nicht in einer rein mündlichen Kultur statt. Insofern zeigen die von Hunter erzielten Resultate, dass es im frühen Christentum im Prinzip möglich gewesen sein 85

MCIVER/CARROLL, Experiments, 677. Vgl. HUNTER, Lengthy Verbatim Recall (LVR), 426. 87 Vgl. DERS., Lengthy Verbatim Recall: The Role of Text, 213–220. 88 Vgl. a.a.O., 225f. 89 Vgl. DERS., Lengthy Verbatim Recall (LVR), 427. 90 Vgl. DERS., Lengthy Verbatim Recall: The Role of Text, 210.

86

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dürfte, große Teile der Jesustradition wortwörtlich auswendig zu reproduzieren. Allerdings enthalten die synoptischen Evangelien keine Parallelabschnitte mit mehr als 50 exakt form- und folgeidentischen Wörtern. Und auch Paralleltexte mit weniger als 50 exakt form- und folgeidentischen Wörtern kommen nur in kleiner Zahl vor.91 2. Die Reproduktion mündlicher Texte in der Oral Poetry Genauere Auskunft darüber, welches Maß an lückenloser Form- und Folgeidentität in mündlichen Kulturen möglich ist, gibt eine Spezialstudie aus der Oral Poetry-Forschung. In den 60er Jahren wurde ein mündlicher Vortrag der westafrikanischen Sunjata-Legende durch den berühmten Erzähler Bamba Suso für eine Radiosendung mitgeschnitten (Version A). Eine zweite Aufnahme derselben mündlichen Erzählung entstand mehr als ein Jahr später, als Bamba Suso sie in einer Schule vortrug (Version B). Bei dieser Gelegenheit wurde er ausdrücklich aufgefordert, die Geschichte so vollständig wie möglich zu erzählen. Diese Version umfasst 1.305 Zeilen. Bei einer geschätzten Zeilenlänge von durchschnittlich etwa sechs Wörtern entspräche dies einer Gesamtzahl von knapp 8.000 Wörtern. Beide Fassungen der Sunjata-Geschichte stimmen in Stoffauswahl und Reihenfolge weitgehend überein, weisen aber auch kleine und größere Sondergutstücke auf. Gordon Innes hat aus den zwei mitgeschnittenen Versionen der SunjataLegende vier repräsentative Ausschnitte veröffentlicht.92 Besonders aufschlussreich sind die Wortlautübereinstimmungen zwischen den Fassungen A und B. Am Schluss des zweiten Ausschnitts stimmen die Fassungen A und B in 15 lückenlos form- und folgeidentischen Wörtern überein.93 Im dritten Ausschnitt wird berichtet, wie Sunjata sich, nachdem er seine Heimat verlassen hat, einem Test unterzieht, durch den der zukünftige König ermittelt werden soll. Anschließend befragt Sunjata seine Mutter über seine Herkunft:94 Tabelle 9: Auswendige Reproduktionen eines mündlichen Epos (Bamba Suso) Version A (Radio Gambia)

Version B (Schule in Birkama)

A ye a la kalo wutu, A ko, “Ni a ye a tara sanji woorowulo n kono be m baama la, A kijo nene mang a fara, Ning nga nying bantango bung a ye boi”. A ye bantango bung…

A taata a ye a la kalo wutu, A ko, “Ni a ye a tara sanji woorowulo n kono be m baama la, A kijo nene mang a fara, Ning nga nying bantango bung a ye boi”. A taata a ye bantango bung…

91

S.o. B.I.3. Vgl. INNES, Stability, 111–116. 93 Vgl. a.a.O., 113. 94 A.a.O., 114. 92

Zwischen Abschreibeverhältnis und Gedächtniskultur (He pulled out his arrow, He said, “If it be the case that for seven years my mother was pregnant with me, And she never had a fright, Then when I shoot this silk-cotton tree, may it fall down”. He shot the silk-cotton tree…)

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(He went and pulled out his arrow, He said, “If it be the case that for seven years my mother was pregnant with me, And she never had fright, Then when I shoot this silk-cotton tree, may it fall down”. He went and shot the silk-cotton tree…)

An dieser Stelle enthält der dritte Ausschnitt eine lückenlose Wortlautparallele zwischen den Fassungen A und B, die 36 Wörter umfasst. Wie die von Innes präsentierten Paralleltexte zeigen, können in einer mündlichen Kultur professionelle Tradenten Abschnitte von bis zu 36 Wörtern Länge lückenlos form- und folgeidentisch aus dem Gedächtnis reproduzieren. 3. Anwendung auf die synoptische Frage Da Bamba Suso (wie VP) in einer Gedächtniskultur geprägt wurde, sind die von ihm produzierten Varianten desselben mündlichen Epos für die Deutung des synoptischen Befunds ebenfalls relevanter als die Gedächtnisreproduktionen, die von den aus einer Schriftkultur stammenden Studenten McIvers und Carrolls angefertigt wurden. Unter Voraussetzung der Zwei-Quellen-Hypothese stellen die von Innes publizierten Fassungen der Sunjata-Legende eine strukturelle Analogie zu den Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas im sogenannten QMaterial dar. In beiden Fällen hätten wir es mit zwei Reproduktionen eines älteren Stoffes zu tun. Mit einer Ausnahme enthalten die von McIver und Carroll identifizierten synoptischen Parallelabschnitte mit auffälliger Wortlautübereinstimmung zwischen 16 und 30 lückenlos form- und folgeidentische Wörter. Der längste der synoptischen Parallelabschnitte mit lückenloser Form- und Folgeidentität ist 33 Wörter lang.95 Auch in diesem synoptischen Parallelabschnitt ist die Reihe mit lückenlos form- und folgeidentischen Wörtern aber kürzer als an der oben zitierten Stelle in den von Bamba Suso erzeugten Parallelfassungen des mündlichen Epos aus Westafrika. Das heißt: Im Rahmen einer mündlichen Kultur können auch die synoptischen Parallelstellen mit maximaler Wortlautübereinstimmung durch menschliche Gedächtnistätigkeit entstanden sein. Selbst die größten Wortlautübereinstimmungen in den synoptischen Paralleltraditionen können nicht nur das Resultat eines Abschreibevorgangs, sondern ebenso gut das Produkt menschlicher Gedächtnisleistung sein.

95

S.o. B.I.3.

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4. Die Grenzen der Studie von Innes Auch die von Innes präsentierte Evidenz aus einer mündlichen Kultur entspricht jedoch nicht vollständig den Bedingungen, unter denen die synoptischen Evangelien entstanden sein dürften: Erstens ist die synoptische Überlieferung von Zeitgenossen der Tradenten verschriftlicht worden, die aus demselben Kulturkreis stammten. Dagegen ist das mündliche Epos weder durch Bamba Suso noch durch einen Angehörigen seines Kulturkreises verschriftlicht worden. Wie eine solche Verschriftlichung ausgesehen hätte und ob bzw. wie sie sich von seinen mündlichen Vorträgen unterschieden hätte, lassen die von Innes angefertigten Aufzeichnungen nicht erkennen. Zweitens nimmt eine Reihe von Exegeten an, dass die Synoptiker (auch) schriftliche Quellen aus dem Gedächtnis verarbeitet haben. Für dieses Szenario bieten die von Innes publizierten Parallelfassungen eines mündlichen Epos naturgemäß kein Vergleichsmaterial. Drittens stammen die drei synoptischen Evangelien nicht von einem, sondern von drei unterschiedlichen Verfassern. Die von Innes präsentierten Varianten des mündlichen Epos stammen dagegen nur von einem einzigen Tradenten (Bamba Suso). Einen Vergleich zwischen Reproduktionen derselben Vorlage durch zwei Tradenten lassen sie nicht zu. IV. Fazit Die herangezogenen Experimente und Beobachtungen zur Leistungsfähigkeit des menschlichen Gedächtnisses haben folgende Ergebnisse erbracht: McIver und Carroll haben experimentell nachgewiesen, dass studentische Versuchspersonen mit einem ungeübten Gedächtnis den Wortlaut eines etwa 300 Wörter langen (schriftlichen) Prosatexts auch nach mehrmaligem Lesen nur in sehr begrenztem Umfang reproduzieren können. In keinem Fall waren die Studenten in der Lage, sich eine Abfolge von mehr als 16 Wörtern lückenlos form- und folgeidentisch zu merken (I.1). Bessere Ergebnisse wurden mit Aphorismen erzielt. Nachdem die Versuchspersonen sich vier Aphorismen mehrfach hatten vorlesen lassen, konnten sie deren Wortlaut sehr weitgehend reproduzieren (I.2). Wesentlich bessere Gedächtnisleistungen als Versuchspersonen mit einem ungeübten Gedächtnis können Personen mit einem langfristig trainierten Gedächtnis erbringen. Dieser Sachverhalt wurde von McIver und Carroll nicht berücksichtigt. In einem von Hunt und Love durchgeführten Experiment konnte die Versuchsperson VP den Wortlaut eines Prosatexts von etwa 300 Wörtern Länge nach zweimaligem Durchlesen auch nach einem Jahr zu etwa 50% reproduzieren. In den von VP im Abstand von bis zu einem Jahr erstellten auswendigen Reproduktionen des Ausgangstextes stimmten Wortreihen von bis zu 22 (bzw. 24) Wörtern Länge lückenlos in Wortlaut und Reihenfol-

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ge überein (II.1–2). Aufgrund der u.a. von McIver und Carroll durchgeführten Experimente, die belegen, dass ein ungeübtes Gedächtnis Aphorismen wortgetreuer reproduzieren kann als reine Prosatexte, kann man davon ausgehen, dass auch das geübte Gedächtnis von VP in der Lage gewesen wäre, Aphorismen noch wesentlich wortgetreuer zu reproduzieren als reine Prosatexte. Noch besser als einen Text, den eine Person mit geübtem Gedächtnis nur zweimal durchlesen darf, vermag sie einen Text zu reproduzieren, den sie immer wieder rekapitulieren kann. Aus den von Innes gesammelten Paralleltexten aus der mündlichen Dichtung (Oral Poetry) geht hervor, wie wortgetreu afrikanische Erzähler mündliche Epen im Gedächtnis zu speichern vermögen. In zwei von einem mündlichen Erzähler auswendig dargebotenen Fassungen eines mündlichen Epos stimmten Parallelabschnitte von bis zu 36 Wörtern Umfang lückenlos form- und folgeidentisch überein (III.1–2). Diese Gedächtnisleistung übertrifft nicht nur die der von McIver und Carroll getesteten Studenten mit ungeübtem Gedächtnis um ein Vielfaches, sondern auch die von VP nach zweimaligem Lesen erbrachten Gedächtnisleistungen. Zur Beantwortung der Frage, an welchen Stellen die synoptischen Paralleltraditionen auf ein Abschreibeverhältnis zurückgehen müssen, weil sich der Umfang ihrer Wortlautidentität nachweislich nicht auf menschliche Gedächtnistätigkeit zurückführen lässt, müssen die maximalen synoptischen Wortlautübereinstimmungen verglichen werden:96 Tabelle 10: Maximale lückenlose Form- und Folgeidentität in den neutestamentlichen Paralleltraditionen (der Länge nach geordnet) Mt 7,28b–29* 24,33b–34a 8,2b–3 11,7b–8 22,44 3,10b 24,18b–20 3,9–10a 24,50–51a 11,25b–27a 10,21–23a

Mk 1,22* 13,29b–30

Lk

5,12b–13 7,24b–25a 12,36b 3,9b 13,16b–18 3,8–9a 12,46 10,21b–22a 13,12–14a

lffi 16 16 18 19 19 20 23 24 26 27 33

Reaktionen auf die Bergpredigt Jesu Deutewort zum Feigenbaum Jesu Dialog mit einem Aussätzigen Jesu Wort über den Täufer Jesu Zitat aus Ps 110,1 Fruchtwort des Täufers Jesu Weheruf über Schwangere Abrahamswort des Täufers Jesu Wort über den untreuen Knecht Jesu Lobpreis des Vaters Jesu Ankündigung von Verfolgung

In den synoptischen Paralleltraditionen mit reinen Prosatexten sind die längsten lückenlos form- und folgeidentischen Wortreihen in sechs Fällen 15–20 Wörter lang, in zwei Fällen 21–25 Wörter lang, in zwei Fällen 26–30 Wörter lang und in einem Fall 31–35 Wörter lang. An keiner einzigen Stelle übertreffen sie den von Innes dokumentierten Fall aus der Oral Poetry, in dem zwei 96

Vgl. B.I.3.

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auswendig erzeugte Paralleltexte eine Reihe von 36 lückenlos form- und folgeidentischen Wörtern aufweisen. Tabelle 11: Maximale lückenlose Form- und Folgeidentität in auswendig erzeugten Textwiedergaben (der Länge nach geordnet) Fassung A Quelle VP Bamba Suso

Fassung B Studenten VP Bamba Suso

lffi 15 24 36

Forscher Robert McIver / Marie Carroll Earl Hunt / Tom Love Gordon Innes

Daraus folgt, dass im Rahmen einer mündlichen Kultur auch die synoptischen Parallelstellen mit der maximalen Wortlautübereinstimmung von 33 lückenlos form- und folgeidentischen Wörtern als Ergebnis menschlicher Gedächtnistätigkeit gedeutet werden können. Auch die synoptischen Parallelabschnitte mit maximaler Wortlautübereinstimmung können aus gedächtnispsychologischer Sicht das Produkt menschlicher Gedächtnisleistung sein. Als wichtigstes Gesamtergebnis halte ich fest: Es ist bisher nicht gelungen, synoptische Parallelabschnitte zu identifizieren, die nicht durch menschliche Gedächtnistätigkeit entstanden sein können und daher durch ein Abschreibeverhältnis miteinander verbunden sein müssen. Positiv ausgedrückt: Aus gedächtnispsychologischer Sicht lassen sich auch die synoptischen Parallelperikopen mit besonders großer Wortlautidentität als Ergebnis menschlicher Gedächtnistätigkeit deuten. Damit ist nicht gesagt, dass es in den synoptischen Paralleltraditionen keine Abschnitte gibt, die auf einem Abschreibeverhältnis beruhen. Es muss aber konstatiert werden, dass bisher keine belastbaren Kriterien vorliegen, um solche synoptischen Parallelperikopen zu identifizieren.

C. Der Gedächtnisfaktor in synoptischen Paralleltexten mit maximaler Wortlautidentität In einem dritten und letzten Schritt möchte ich anhand zweier Beispiele untersuchen, ob sich in den von McIver und Carroll identifizierten Paralleltexten mit besonders hoher Wortlautübereinstimmung Indizien dafür finden, dass sie nicht nur durch menschliche Gedächtnistätigkeit miteinander verbunden sein können, sondern dass dies sogar wahrscheinlich ist. Als Beispieltexte wähle ich die matthäische und die markinische Fassung der Perikope mit der Frage Jesu über den Sohn Davids (Mt 22,41–45 par. Mk 12,35–37a) sowie die matthäische und die lukanische Fassung der Perikope von der Heilung eines Aussätzigen (Mt 8,1–4 par. Lk 5,12–14). Beide Perikopen gehören zur Tripeltradition.

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I. Jesu Zitat aus Ps 110,1 (Mt 22,44 par. Mk 12,36b) In der Perikope über den Sohn Davids sind an einer Stelle 19 Wörter der matthäischen und der markinischen Fassung lückenlos form- und folgeidentisch (Mt 22,44 par. Mk 12,36b): Tabelle 12: Lückenlose Form- und Folgeidentität in Mt 22,44 par. Mk 12,36b Mt 22,41–45 (22,44) Συνηγµένων δὲ τῶν Φαρισαίων ἐπηρώτησεν αὐτοὺς ὁ Ἰησοῦς 42 λέγων· τί ὑµῖν δοκεῖ περὶ τοῦ χριστοῦ; τίνος υἱός ἐστιν; λέγουσιν αὐτῷ· τοῦ ∆αυίδ. 43 λέγει αὐτοῖς· πῶς οὖν ∆αυὶδ ἐν πνεύµατι καλεῖ αὐτὸν κύριον λέγων· A 44 εἶπεν κύριος τῷ κυρίῳ µου· A' κάθου ἐκ δεξιῶν µου, B ἕως ἂν θῶ τοὺς ἐχθρούς σου B' ὑποκάτω τῶν ποδῶν σου; 45 εἰ οὖν ∆αυὶδ καλεῖ αὐτὸν κύριον, πῶς υἱὸς αὐτοῦ ἐστιν;

Mk 12,35–37a (12,36b) Καὶ ἀποκριθεὶς ὁ Ἰησοῦς ἔλεγεν διδάσκων ἐν τῷ ἱερῷ· πῶς λέγουσιν οἱ γραµµατεῖς ὅτι ὁ χριστὸς υἱὸς ∆αυίδ ἐστιν; 36

αὐτὸς ∆αυὶδ εἶπεν ἐν τῷ πνεύµατι τῷ ἁγίῳ· εἶπεν κύριος τῷ κυρίῳ µου· κάθου ἐκ δεξιῶν µου, ἕως ἂν θῶ τοὺς ἐχθρούς σου ὑποκάτω τῶν ποδῶν σου. 37 αὐτὸς ∆αυὶδ λέγει αὐτὸν κύριον, καὶ πόθεν αὐτοῦ ἐστιν υἱός;

Mehrere Indizien deuten darauf hin, dass diese beiden Parallelperikopen eher durch menschliche Gedächtnistätigkeit als durch ein Abschreibeverhältnis miteinander verbunden sind. 1. Die unmotivierten Differenzen in der Wortlautidentität Erstens liegt die durchschnittliche Wortlautidentität in der Gesamtperikope bei 55% (Mt) bzw. 50% (Mk).97 Innerhalb der Perikope ist die Wortlautidentität jedoch sehr ungleich verteilt. Während sie im gemeinsamen Zitat aus Ps 110,1 (in Mt 22,44 par. Lk 12,36b) bei 100% liegt, ist sie außerhalb des gemeinsamen Zitats gering. Am Perikopenanfang (in Mt 22,41–42 par. Mk 12,35) liegt sie bei lediglich 21% (Mt) bzw. 26% (Mk). Viele Exegeten nehmen im Rahmen einer Zwei-Quellen-Hypothese an, dass der Evangelist Matthäus Mk 12,35–37a aus dem ihm schriftlich vorliegenden Markusevangelium übernommen und durch viele kleine redaktionelle Maßnahmen umgestaltet hat.98 Es lassen sich aber keine ausreichenden redaktionellen Motive ausmachen, die Matthäus dazu bewogen haben könnten, den Wortlaut des ihm vorliegenden Markustexts so stark zu verändern, während er andere Markusperikopen fast unverändert übernommen hat. Viele der von

97 98

Vgl. MORGENTHALER, Synopse, 56. So beispielsweise DAVIES/ALLISON, Matthew III, 249–257.

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Matthäus an seiner mutmaßlichen Markusvorlage vorgenommenen Änderungen erscheinen unmotiviert. Besser erklärt werden können die erheblichen Schwankungen in der Wortlautidentität, für die sich in vielen Fällen keine redaktionellen Motive ausmachen lassen, als Resultat menschlicher Gedächtnistätigkeit. Denn das menschliche Gedächtnis vermag einschlägigen Experimenten zufolge den Wortlaut einer Vorlage häufig nur unvollständig festzuhalten.99 Wenn Matthäus das Markusevangelium (oder dieselbe schriftliche oder mündliche Quelle wie Markus) aus dem Gedächtnis zitiert hat, sind die stilistisch und inhaltlich unbegründeten Differenzen zwischen der matthäischen und der markinischen Fassung der Perikope ein natürliches Ergebnis menschlicher Gedächtnistätigkeit. 2. Das alttestamentliche Zitat Zweitens handelt es sich bei dem von McIver und Carroll identifizierten Parallelabschnitt mit langer lückenloser Form- und Folgeidentität im Wortlaut (in Mt 22,44 par. Mk 12,36b) um ein alttestamentliches Zitat. Dass innerhalb der Perikope vom Sohn Davids gerade das Zitat aus Ps 110,1 eine stark erhöhte Wortlautidentität aufweist, erklärt sich gut, wenn die Träger der synoptischen Tradition zentrale Aussagen des Alten Testaments bereits lange sehr wortgetreu auswendig kannten, als sie die synoptische Tradition kennenlernten und ihrem Gedächtnis nur relativ wortgetreu einprägten. Wenn sie unter solchen Umständen eine synoptische Perikope aus dem Gedächtnis reproduzierten, die eine alttestamentliche Kernstelle enthielt, konnten sie das alttestamentliche Zitat wesentlich wortgetreuer wiedergeben als den übrigen Stoff. Denn gedächtnispsychologischen Erkenntnissen zufolge haften Stoffe umso genauer im menschlichen Gedächtnis, je früher im Leben sie erlernt werden.100 3. Der Parallelismus membrorum Zudem handelt es sich bei Ps 110,1 um einen poetisch geformten Text, der den Gesetzen des Parallelismus membrorum folgt.101 In diesem Fall liegt nicht nur ein „Gedankenreim“ vor, sondern sowohl die Zeilen A und A' als auch die Zeilen B und B' sind im griechischen Wortlaut zusätzlich durch eine Wortwiederholung (Epiphora bzw. Epipher) miteinander verbunden.102 Insofern alle vier Zeilen auf -ου enden, sind sie zusätzlich alle durch ein Homoio-

99

Vgl. BAUM, Faktor, 244–254, mit ausführlicher Dokumentation. S. RUBIN/SCHULKIND, Distribution, 859–866; RUBIN/RAHHAL/POON, Things, 3–19. 101 Vgl. BDR, §§ 489–492; HvS, § 294z. 102 Vgl. BDR, § 491,1; HvS, § 294q. 100

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teleuton verknüpft.103 Gedächtnispsychologischen Erkenntnissen zufolge entlastet jede Wiederholung das Gedächtnis und erleichtert dadurch das Auswendiglernen. Daher können regulierte Texte leichter behalten werden als unregulierte Texte.104 Ps 110,1 war demnach ein Satz, der aufgrund seiner regulierten poetischen Form besonders leicht aus dem Gedächtnis reproduziert werden konnte und auch darum eine erhöhte Wortlautidentität aufweist. Daraus folgt: Der synoptische Detailbefund in Mt 22,41–45 par. Mk 12,35–37a lässt sich nur mühsam auf einen redaktionell motivierten Abschreibevorgang zurückführen und kann besser als Resultat menschlicher Gedächtnistätigkeit erklärt werden. II. Jesu Dialog mit einem Aussätzigen (Mt 8,2b–3 par. Lk 5,12b–13) Im Mittelteil der Perikope von der Heilung eines Aussätzigen (Mt 8,2b–3 par. Lk 5,12b–13) sind 18 Wörter lückenlos form- und folgeidentisch: Tabelle 13: Lückenlose Form- und Folgeidentität in Mt 8,2b–3 par. Lk 5,12b–13 Mt 8,1–4 (8,2b–3) Καταβάντος δὲ αὐτοῦ ἀπὸ τοῦ ὄρους ἠκολούθησαν αὐτῷ ὄχλοι πολλοί. A 2 καὶ ἰδοὺ λεπρὸς προσελθὼν B προσεκύνει αὐτῷ λέγων· C κύριε, ἐὰν θέλῃς δύνασαί µε καθαρίσαι. B' 3 καὶ ἐκτείνας τὴν χεῖρα ἥψατο αὐτοῦ λέγων· C' θέλω, καθαρίσθητι· A' καὶ εὐθέως ἐκαθαρίσθη αὐτοῦ ἡ λέπρα. 4 καὶ λέγει αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς· ὅρα µηδενὶ εἴπῃς, ἀλλὰ ὕπαγε σεαυτὸν δεῖξον τῷ ἱερεῖ καὶ προσένεγκον τὸ δῶρον ὃ προσέταξεν Μωϋσῆς, εἰς µαρτύριον αὐτοῖς.

Lk 5,12–14 (5,12b–13) Καὶ ἐγένετο ἐν τῷ εἶναι αὐτὸν ἐν µιᾷ τῶν πόλεων καὶ ἰδοὺ ἀνὴρ πλήρης λέπρας· ἰδὼν δὲ τὸν Ἰησοῦν, πεσὼν ἐπὶ πρόσωπον ἐδεήθη αὐτοῦ λέγων· κύριε, ἐὰν θέλῃς δύνασαί µε καθαρίσαι. 13 καὶ ἐκτείνας τὴν χεῖρα ἥψατο αὐτοῦ λέγων· θέλω, καθαρίσθητι· καὶ εὐθέως ἡ λέπρα ἀπῆλθεν ἀπ᾽ αὐτοῦ. 14 καὶ αὐτὸς παρήγγειλεν αὐτῷ µηδενὶ εἰπεῖν, ἀλλὰ ἀπελθὼν δεῖξον σεαυτὸν τῷ ἱερεῖ καὶ προσένεγκε περὶ τοῦ καθαρισµοῦ σου καθὼς προσέταξεν Μωϋσῆς, εἰς µαρτύριον αὐτοῖς.

Auch in dieser Parallelperikope lassen sich mehrere synoptische Details besser durch menschliche Gedächtnistätigkeit als durch ein Abschreibeverhältnis erklären. 103 104

Vgl. BDR, § 488,3; HvS, § 294c. S. BAUM, Faktor, 197–218, mit ausführlicher Dokumentation.

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1. Die unmotivierten Differenzen in der Wortlautidentität Erstens liegt die durchschnittliche Wortlautidentität für die gesamte Perikope (Mt 8,1–4 par. Lk 5,12–14) bei 58% (Mt) bzw. 51% (Lk),105 variiert aber in den einzelnen Abschnitten erheblich. Am Perikopenanfang (in Mt 8,1–2a par. Lk 5,12a) ist sie minimal und liegt bei 18% (Mt) bzw. 12% (Lk). In der Perikopenmitte (in Mt 8,2b–3 par. Lk 5,12b–13) steigt sie auf 95% (Mt) bzw. 91% (Lk). Am Perikopenende (Mt 8,4 par. Lk 5,14) fällt sie wieder ab auf 54% (Mt) bzw. 54% (Lk). Als mögliche Erklärung für diesen Sachverhalt kommen, will man ihn im Rahmen der Zwei-Quellen-Hypothese als Ergebnis eines Abschreibeverhältnisses deuten,106 redaktionelle Motive in Frage, die die Evangelisten Matthäus und Lukas bei der Überarbeitung ihrer schriftlichen Markusvorlage geleitet haben. Für die starken Abweichungen des Matthäus und Lukas vom Wortlaut des Markus lassen sich jedoch keine nennenswerten redaktionellen Motive ausmachen. So ist beispielsweise die Formulierung in Lk 5,12a „ganz sicher nicht spezifisch luk[anische] Mk-Redaktion.“107 Besser lassen sich die erheblichen Schwankungen in der Wortlautidentität, für die sich keine redaktionellen Motive finden, auch in diesem Fall als typische Produkte menschlicher Gedächtnistätigkeit interpretieren. Denn das menschliche Gedächtnis kann den Wortlaut einer Vorlage häufig nicht vollständig festhalten.108 Zudem neigt es dazu, die sinntragenden Elemente einer Erzählung genauer zu speichern als die Nebenumstände.109 In der Perikope von der Heilung eines Aussätzigen ist der Heilungsdialog zwischen dem Aussätzigen und Jesus (Mt 8,2–3 par. Lk 5,12b–13) das sinntragende Element, während der Anfangsteil (Mt 8,1 par. Lk 5,12a) und der Schlussteil (Mt 8,4 par. Lk 5,14) inhaltlich von untergeordneter Bedeutung sind. Darum wurden sie weniger genau memoriert und reproduziert. 2. Die Beibehaltung der Parataxe Zweitens weisen Matthäus, Markus und Lukas in dieser Perikope einen relativ parataktischen Stil auf, indem sie die Sätze mit „und“ aneinanderreihen. Für Markus ist das nicht überraschend, für Lukas aber ungewöhnlich, da er im Allgemeinen darum bemüht ist, parataktischen Stil zu vermeiden und periodisch zu formulieren.110 Warum hat Lukas in Lk 5,12–16 den parataktischen Stil seiner Quellen beibehalten („Und es geschah … Und er streckte die 105

Vgl. MORGENTHALER, Statistische Synopse, 35. So z.B. FITZMYER, Luke I, 571. 107 SCHRAMM, Markus-Stoff, 94. 108 S.o. C.I.1. 109 S. BAUM, Faktor, 247–252. 110 Vgl. CADBURY, Style, 134f.; zum Ganzen jetzt auch BAUM, Paratactic καί, passim. 106

Zwischen Abschreibeverhältnis und Gedächtniskultur

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Hand aus … Und sogleich wich der Aussatz … Und er gebot ihm …“)? Wenn ihm das Markusevangelium schriftlich vorlag, so dass er dessen Wortlaut systematisch umarbeiten konnte, findet sich dafür keine plausible Erklärung. Aber falls Lukas sein Quellenmaterial seinem Gedächtnis eingeprägt und aus dem Gedächtnis reproduziert hat, könnten seine eigenen stilistischen Vorlieben seinen Stoff ohne weiteres unbewusst nur selektiv und langsam fortschreitend beeinflusst haben. 3. Die Minor Agreements Drittens sprechen gegen die These, dass Matthäus und Lukas die Erzählung von der Heilung eines Aussätzigen unabhängig voneinander aus dem schriftlichen Markusevangelium übernommen haben, auch die Minor Agreements zwischen Matthäus und Lukas gegen Markus. Neben einigen negativen Agreements weist die Perikope vier positive Agreements auf.111 Am Perikopenanfang fehlt bei Markus das καὶ ἰδού (Mt 8,2 par. Lk 5,12). Drei weitere Minor Agreements finden sich gerade im Heilungsdialog, der im Mittelteil der Perikope eine sehr hohe Wortlautidentität aufweist. Sie sind in der folgenden Abbildung durch Fettdruck markiert: Tabelle 14: Positive Minor Agreements in Mk 1,40b–42a parr. Mt 8,2b–3

Mk 1,40b–42a

Lk 5,12b–13

προσεκύνει αὐτῷ λέγων·

[καὶ γονυπετῶν] καὶ λέγων αὐτῷ ὅτι ἐὰν θέλῃς δύνασαί µε καθαρίσαι. 41 καὶ σπλαγχνισθεὶς ἐκτείνας τὴν χεῖρα αὐτοῦ ἥψατο καὶ λέγει αὐτῷ· θέλω, καθαρίσθητι· 42 καὶ εὐθὺς ἀπῆλθεν ἀπ᾽ αὐτοῦ ἡ λέπρα

πεσὼν ἐπὶ πρόσωπον ἐδεήθη αὐτοῦ λέγων· κύριε, ἐὰν θέλῃς δύνασαί µε καθαρίσαι. 13 καὶ ἐκτείνας τὴν χεῖρα

κύριε, ἐὰν θέλῃς δύνασαί µε καθαρίσαι. 3 καὶ ἐκτείνας τὴν χεῖρα ἥψατο αὐτοῦ λέγων· θέλω, καθαρίσθητι· καὶ εὐθέως ἐκαθαρίσθη αὐτοῦ ἡ λέπρα.

ἥψατο αὐτοῦ λέγων· θέλω, καθαρίσθητι· καὶ εὐθέως ἡ λέπρα ἀπῆλθεν ἀπ᾽ αὐτοῦ.

Joseph Fitzmyer erklärt diese Minor Agreements im Rahmen der Zwei-Quellen-Hypothese als zufällige Erscheinungen.112 Auch Davies und Allison sind der Meinung, dass sie sich im Rahmen der herkömmlichen Zwei-QuellenHypothese erklären lassen.113 Eine alternative Erklärungsmöglichkeit ergibt sich aus der Beobachtung, dass Minor Agreements zwischen zwei Varianten derselben Erzählung gegenüber einer dritten Variante in gedächtnispsycholo111

Vgl. ENNULAT, „Minor Agreements“, 483. Vgl. FITZMYER, Luke I, 574. 113 Vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew II, 7. 112

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gischen Experimenten (und in der mündlichen Dichtung) ein ganz natürliches Phänomen darstellen.114 4. Der Parallelismus membrorum Viertens folgt die Perikope von der Heilung eines Aussätzigen in ihrem Kern in allen drei Evangelien den Gesetzen des Parallelismus membrorum (Mt 8,2–3 par. Mk 1,40–42 par. Lk 5,12–13): Tabelle 15: Parallelismus membrorum in Mk 1,40–42 parr. Mt 8,2–3 A Und siehe, ein Aussätziger kam heran B und warf sich vor ihm nieder und sprach: C „Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen.“ B' Und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach: C' „Ich will. Sei gereinigt.“ A' Und sogleich wurde sein Aussatz gereinigt.

Mk 1,40–42

Lk 5,12–13

Und es kommt ein Aussätziger zu ihm, bittet ihn und kniet nieder und spricht zu ihm: „Wenn du willst, kannst du mich reinigen.“ Und er … streckte seine Hand aus, rührte ihn an und spricht zu ihm: „Ich will. Sei gereinigt.“ Und sogleich wich der Aussatz von ihm, und er war gereinigt.

… siehe, da war ein Mann voller Aussatz; und … er fiel auf sein Angesicht und bat ihn und sprach: „Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen.“ Und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach: „Ich will. Sei gereinigt.“ Und sogleich wich der Aussatz von ihm.

Die Erzählung wird zusammengehalten durch eine inclusio, die unter Verwendung des Stichworts „Aussatz“ bzw. „Aussätziger“ die Krankheit nennt und die Reinigung konstatiert (A/A'). Innerhalb dieser inclusio steht ein gekreuzter Parallelismus. Der Geste des Aussätzigen, seinem Niederknien, entspricht eine Geste Jesu, sein Berühren (B/B'). Und den Worten des Aussätzigen, seiner Bitte, entspricht die fast wortgleiche Antwort Jesu (C/C'). Daraus ergibt sich in allen drei Synoptikern das Muster A B C B' C' A'. Da jede Form der Wiederholung das Gedächtnis entlastet,115 dürfte auch dieser mehrfache Parallelismus das auswendige Reproduzieren dieses Textes erleichtert haben. Daraus folgt: Auch der synoptische Detailbefund in Mt 8,2b–3 par. Lk 5,12b–13 lässt sich gut als Resultat menschlicher Gedächtnistätigkeit deuten und weniger gut als das Ergebnis eines Abschreibevorgangs. III. Fazit Für die zehn bzw. elf synoptischen Parallelabschnitte, die nach McIver und Carroll aufgrund ihrer langen Reihen mit lückenlos form- und folgeidenti114 115

S. BAUM, Faktor, 363–382, mit ausführlicher Dokumentation. S.o. C.I.3.

Zwischen Abschreibeverhältnis und Gedächtniskultur

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schen Wörtern durch einen Abschreibevorgang miteinander verbunden sein müssen, hat sich gezeigt: Sie können nicht nur ebenso gut durch menschliche Gedächtnistätigkeit miteinander verbunden sein, sondern ein Gedächtnisfaktor ist sogar die wahrscheinlichere Ursache für die Art der vorhandenen Wortlautübereinstimmungen. Eine exemplarische Analyse von zwei der elf Parallelabschnitte mit besonders langer lückenloser Form- und Folgeidentität im Wortlaut (Mt 22,41–45 par. Mk 12,35–37a und Mt 8,1–4 par. Lk 5,12– 14) hat ergeben, dass diese mehrere Indizien enthalten, die sich besser durch einen Gedächtnisfaktor als durch ein Abschreibeverhältnis erklären lassen. Das gilt für die redaktionell unmotivierten Wortlautdifferenzen, die erhöhte Wortlautidentität in den alttestamentlichen Zitaten, die erhöhte Wortlautidentität im durch Parallelismus membrorum regulierten Stoff, die unregelmäßige Auflösung einer semitisierenden Syntax und die positiven Minor Agreements. Diese Indizien machen es nicht unmöglich, die betroffenen Parallelabschnitte auf einen Abschreibevorgang zurückzuführen, lassen menschliche Gedächtnistätigkeit aber als die plausiblere Ursache erscheinen.

D. Gesamtfazit Abschließend beziehe ich die in den Abschnitten B und C anhand der experimentellen Gedächtnispsychologie gewonnenen Ergebnisse auf die in Abschnitt A referierten Lösungsmodelle zum synoptischen Problem und formuliere einige Gesamtergebnisse: Erstens grenzen Vertreter einer reinen Abschreibehypothese (wie Wilke und Morgenthaler), die den Einfluss menschlicher Gedächtnistätigkeit auf die Entstehung der synoptischen Parallelabschnitte außer Betracht lassen oder ohne nähere Begründung ausschließen (A.I), das Spektrum möglicher Lösungen in unzulässiger Weise ein. Ihnen gegenüber sind alle jene Forscher im Recht, die in ihre Überlegungen auch den möglichen Einfluss eines Gedächtnisfaktors einbeziehen (A.II–IV). Zweitens kann aus gedächtnispsychologischer Sicht der Beitrag menschlicher Gedächtnistätigkeit bei der Entstehung der synoptischen Parallelen erheblich größer gewesen sein, als es viele Exegeten für möglich halten, die (wie Goulder und Kloppenborg oder Griesbach, Hawkins und Goodacre) mit einem moderaten Einfluss menschlicher Gedächtnistätigkeit rechnen (A.II– III). Auch die Annahme, die Evangelisten hätten ihren Stoff nur in Parallelabschnitten mit geringer Wortlautidentität mit dem Langzeitgedächtnis aus schriftlichen Quellen (Derrenbacker) bzw. mündlicher Tradition (Dunn) reproduziert, ihn aber in Parallelabschnitten mit hoher Wortlautidentität direkt aus ihnen vorliegenden schriftlichen Quellen übernommen (A.II.2 und A.III.4), ist nicht ausreichend begründet. Denn die synoptischen Evangelien enthalten keine Parallelabschnitte, in denen die lückenlose Form- und Folge-

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identität ihres Wortlauts so groß ist, dass aufgrund gedächtnispsychologischer Erkenntnisse ein Abschreibeverhältnis angenommen werden muss bzw. menschliche Gedächtnistätigkeit als Ursache ausgeschlossen werden kann (B.I–IV). Drittens ist die (von Forschern wie Herder, Gieseler und Lord vertretene) These, menschlicher Gedächtnistätigkeit komme als Erklärung des synoptischen Befundes gegenüber einem Abschreibeverhältnis der Vorrang zu (A.IV), nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich. Denn auch in synoptischen Parallelabschnitten mit großer Wortlautidentität finden sich Indizien, die sich besser durch einen Gedächtnisfaktor als durch ein Abschreibeverhältnis erklären lassen (C.I–III). Darüber, ob es schriftliche oder mündliche Quellen waren, die die Evangelisten aus dem Gedächtnis reproduzierten, vermögen die in diesem Aufsatz herangezogenen experimentalpsychologischen Untersuchungen jedoch keinen Aufschluss zu bieten.

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Teil II

Jesu jüdischer Apostel Paulus von Tarsus

Dimensionen des Heils Die βασιλεία τοῦ θεοῦ in der Verkündigung Jesu und in den Briefen des Apostels Paulus Volker Gäckle Abstract: The question of continuity or discontinuity between the preaching of Jesus and the Gospel of Paul is a long discussed topic in New Testament research. A special problem in this respect is the term βασιλεία τοῦ θεοῦ, which, according to the Synoptic Gospels, is very often used by Jesus but seldom in the rest of the New Testament, including the letters of Paul. Even more than the puzzling frequency of usage the meaning of the term and its relation to the early Jewish usage is debated – in the mouth of Jesus as well as in the letters of Paul. Contrary to the dynamic mainline interpretation in terms of “rule” or “reign of God,” a different meaning in the preaching of Jesus in relation to the early Jewish usage is to be preferred, as well as an understanding of the term as a future realm and time of salvation and a present gift of salvation. Outside the Jewish world the term was substituted by John and Paul with the term “(eternal) life”, which was much more accessible for RomanHellenistic addressees and less ambiguous than “kingdom of God”.

Die Frage nach der Kontinuität der Jesusüberlieferung in den Schriften des Apostels Paulus gehört zu den Forschungsgebieten, die Rainer Riesners Arbeiten seit vielen Jahren begleiten.1 Nach wie vor sind hier viele Rätsel ungelöst. Eines der größten betrifft den Begriff βασιλεία τοῦ θεοῦ, der in der Verkündigung Jesu so dominant im Mittelpunkt steht, während er bei Paulus und im restlichen ntl. Schrifttum nur eine marginale Bedeutung hat. Vergleicht man die frühjüdische Literatur mit der Verkündigung Jesu in den synoptischen Evangelien und diese wiederum mit der frühchristlichen Literatur im übrigen Neuen Testament, so sticht die Vielzahl der Belege für βασιλεία τοῦ θεοῦ in den synoptischen Evangelien und hier wiederum v.a. im Munde Jesu ins Auge. Es gehört zu den rätselhaften Phänomenen der frühjüdischen und frühchristlichen Literatur, dass dieser im Alten Testament fast abwesende und im Frühjudentum zwar durchaus bedeutende, aber dennoch äußerst spärlich belegte Begriff zu einem zentralen theologischen Inhalt der Verkündigung Jesu wurde, um anschließend in den Briefen des Apostels Pau1

In einem Artikel in der Festschrift zum 65. Geburtstag Peter Stuhlmachers hat sich Rainer Riesner auch ausführlich mit der Forschungsgeschichte des Problems befasst (s. RIESNER, Paulus, 347–365).

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Volker Gäckle

lus und der übrigen Literatur der frühen Christenheit wieder weitgehend in der Versenkung zu verschwinden.2 Doch nicht nur das merkwürdige Phänomen des unregelmäßigen Begriffsvorkommens, sondern auch die schillernde Polyvalenz des Begriffs gehört zu den vieldiskutierten Fragen der ntl. Forschung. Wie bei einem Kaleidoskop scheint sich das „Bild“, sprich die Bedeutung, zu verändern, sobald man von einem Beleg zum nächsten „weiterdreht“.3 Entsprechend viele Fragen werden nach wie vor kontrovers diskutiert.4 Steht der Begriff in einer Kontinuität oder Diskontinuität zum zeitgenössischen frühjüdischen Verständnis? Und wenn es um eine Diskontinuität geht, besteht diese nur im Blick auf den Zeitpunkt des Kommens dieser βασιλεία oder im Verständnis des Begriffs oder gar in beidem? Weiter ist unklar, ob der Begriff dynamisch als nomen actionis im Sinne einer aktiven (Königs)Herrschaft Gottes verstanden werden muss, bei der das herrschende und regierende Handeln Gottes im Vordergrund steht, oder als eine Bezeichnung für einen Raum und/oder eine Zeit des Heils, die deshalb heilvoll ist, weil Gottes Herrschaft vorausgesetzt werden kann. Vor allem aber stellt sich die Frage, ob wir es mit einem eher präsentisch oder eher futurisch konnotierten Begriff zu tun haben, und damit war forschungsgeschichtlich auch die Frage verbunden, ob dieses Reich allein von Gott oder auch von Menschen verwirklicht werden könne. Es ist hier nicht der Ort, um die äußerst interessante und wechselvolle Forschungsgeschichte nachzuzeichnen.5 Im Rückblick wird aber deutlich, wie zentral die Frage nach Gegenwärtigkeit oder Zukünftigkeit des Reiches Gottes die exegetische und theologische Diskussion des 20. Jahrhunderts dominiert hat. Während in der angelsächsischen Forschung das Reich Gottes nach wie vor in der Tradition von Charles Harold Dodds Konzeption einer realized 2 Die weit überwiegende Mehrzahl der 162 Belege von βασιλεία τοῦ θεοῦ bzw. τῶν οὐρανῶν findet sich in den synoptischen Evangelien (131mal) und hier vor allem im Munde Jesu, nur selten in den redaktionellen Kommentaren des jeweiligen Evangelisten und nur selten im Munde anderer Akteure. Dagegen finden sich im Johannesevangelium nur zwei Belege (Joh 3,3.5; vgl. auch 18,36), in den unumstrittenen Paulusbriefen sieben (1Thess 2,12; Gal 5,21; 1Kor 4,20; 1Kor 6,9f.[2x]; 1Kor 15,24.50; Röm 14,17), in den umstrittenen Briefen sind es weitere fünf (2Thess 1,5; Kol 1,13; 4,11; Eph 5,5; 2Tim 4,1.18), in der Apostelgeschichte acht (Act 1,3.6; 8,12; 14,22; 19,8; 20,25; 28,23.31) und in der Johannesapokalypse je nach Zählung drei bis fünf (Apk 1,9; 11,15; 12,10; vgl. 1,6; 5,10). Dazu kommen noch zwei Belege in Hebr 1,8 und 2Petr 1,11. 3 Vgl. auch das knappe, aber treffende Urteil von VERMES, Gospel, 23: “The Gospel evidence appears inconclusive.” 4 THEISSEN/MERZ, Jesus, 222, zählen nicht weniger als zehn Problemkreise auf, die sich in der exegetischen Diskussion um den Begriff ranken. 5 Dies hat in prägnanter Weise MERKEL, Gottesherrschaft, 120–135, getan; vgl. auch die umfassende, aber ältere Studie von LUNDSTRÖM, Kingdom, passim, aus dem Jahr 1963. Eine knappe und kompakte Einführung in die Forschungsgeschichte findet sich auch bei THEISSEN/MERZ, a.a.O., 223–226.

Dimensionen des Heils

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eschatology als präsentisch und schon realisiert verstanden wird,6 ist es seit den Forschungen Werner G. Kümmels7 in der deutschsprachigen Forschung ein breiter Konsens, dass Jesus sowohl futurische als auch präsentische Reich-Gottes-Aussagen gemacht hat und man ihm nicht eine der beiden Aussagenreihen absprechen kann. Während die Zukünftigkeit der βασιλεία unumstritten ist,8 ringt die Diskussion v.a. um angemessene Begriffe und Konzepte für die Zuordnung beider Perspektiven und die Deutung von Mt 12,28/Lk 11,20: Geht es um ein „Hineinragen“ oder um eine „Antizipation“ der Zukunft in die Gegenwart? Geht es um eine „punktuelle“ bzw. „zeichenhafte Verwirklichung“ oder um eine „gegenwärtige Erfahrung“ und „Aktualisierung“? Oder um es mit Ludger Schenke zu formulieren: „Bestimmt Jesus das, was sich in der Gegenwart tut, von der als sicher und nah erwarteten Zukunft (‚Reich Gottes‘) her, oder will er die schon gegenwärtige ‚Herrschaft Gottes‘ auf eine zukünftige Vollendung hin offenhalten?“9

Insgesamt leidet die Debatte unter beträchtlichen begrifflichen und inhaltlichen Unschärfen, die nicht zuletzt auf die Überlagerung einer exegetischen Fragestellung durch dogmatische Begriffe und Konzepte, die den neutestamentlichen Texten fremd sind, zurückzuführen sind. Weiter verkompliziert wird jede Untersuchung durch die unvermeidlichen Authentizitätsfragen, die ein steter Begleiter bei allen genannten Fragestellungen sind. So sehr ein weitverbreiteter Konsens darüber besteht, dass der Begriff ein zentraler Bestandteil der Verkündigung Jesu ist, so intensiv wird nach wie vor die Frage nach der Ursprünglichkeit verschiedener Logien im Einzelnen diskutiert. Vor allem das spannungsvolle Verhältnis zwischen futurischen und präsentischen Aussagenreihen verleitete Exegeten immer wieder dazu, entweder die eine oder die andere für unauthentisch zu erklären. Allerdings drängt sich bei derartigen „Lösungen“ nicht selten der Eindruck auf, dass ein bereits vorgefertigtes Konzept mit positiven oder negativen Authentizitätsurteilen begründet werden soll und nicht umgekehrt.10

6

Vgl. neben DODD, Parables, passim; DERS., Reich, passim, z.B. auch MOLTMANN, Kirche, 214–218; DERS., Theologie, 162–164.215f.; WRIGHT, Hoffnung, 216.219; DERS., Jesus, 273f.289; DERS., Glaube, 112f. 7 Vgl. KÜMMEL, Verheißung, passim. 8 Vgl. z.B. CONZELMANN, Theologie, 69–72; LINDEMANN, Art. Herrschaft, passim, 214; GNILKA, Theologie, 159; ZAGER, Jesus, 28f. 9 SCHENKE, Botschaft, 130. 10 So auch KLEIN, Zentralbegriff, 658.

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A. Die βασιλεία in der Verkündigung Jesu Im frühjüdischen Schrifttum finden sich nur relativ wenige Belege für den Begriff „Reich Gottes“. Dabei fällt die Seltenheit des Begriffs v.a. in der Apokalyptik ins Auge, wo man ihn eigentlich häufiger erwarten würde. Entsprechend kommt Odo Camponovo in seiner Studie zu „Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften“ zu dem Ergebnis, dass im Frühjudentum „das Thema keine hervorragende Rolle spielt“.11 Der relativ seltene frühjüdische Begriffsgebrauch schließt wiederum an einige wenige atl. Belege an, in denen mit dem hebräischen malkût das königliche Herrschen bzw. Regieren Gottes, seine Königsherrschaft beschrieben wird (Ps 103,19; 145,11–13; 2Chr 13,8; vgl. Mi 4,7; Ps 22,29). Der Begriff steht häufig in einer Parallelität zur Gottesprädikation melek.12 Inhaltlich dominiert in den seltenen Belegen der eschatologische Aspekt. In apokalyptischen Texten wie dem Danielbuch (Dan 2,44; 7,14.27), den Qumranschriften13 und hier v.a. in den Sabbatliedern14, sowie in PsSal 5,18f.; 17,3.21–46; Sib 3,46ff.767; syrBar 73,1; AssMos 10,1–10; TestJud 21f.24; TestDan 5,10–13 und einigen jüdischen Gebeten wie dem 18-Bitten-Gebet15 und dem Qaddisch16 wird die zukünftige Realisierung der Gottesherrschaft erwartet, die im Himmel bereits Wirklichkeit ist, jedoch noch nicht auf Erden.17 11

CAMPONOVO, Königtum, 437; ähnlich LINDEMANN, Art. Herrschaft, 200. Im Unterschied zu den seltenen Belegen von malkût wird Gott weit häufiger als ein König charakterisiert, der regiert, wie z.B. in den sog. Thronbesteigungspsalmen (vgl. Ps 47,2.8f.; 93,1; 95,3; 96,10; 97,1; 98,6; 99,1.4), aber auch in Ex 15,18; Num 23,21; Dtn 33,5; 1Sam 12,12; Jes 24,21–23; 33,22; 41,21; 44,6; 52,7; Jer 10,6f.10; Sach 14,9.16f.; Zeph 3,15.17; Mi 4,7; Ps 10,16; 24,8–10; 44,4; 48,2; 68,24; 74,12; 84,3; 145,1; 1Chr 29,12. S. dazu neuerdings die Arbeit von JUNGBLUTH, Himmel, passim. Neben dem Bekenntnis zu Jahwe als „König“ steht seine Charakterisierung als „Krieger“ (vgl. Ex 15,3; Dtn 33,27; Zeph 3,16–19) und „Herrscher“ (vgl. Jdc 8,23). 13 1QM 6,6; 12,8.15f.; 1QSb 3,5; 4,24–26; 5,21; vgl. dazu THIESSEN, Königsherrschaft, 149–153. 14 4Q400–407; MasShirShabb und 11QShirShabb. SCHWEMER, König, 47.115, identifizierte die Sabbatlieder von Qumran als den mit Abstand „wichtigste[n] vorchristliche[n] jüdische[n] Text zum Thema ‚Gottes Königsherrschaft‘“. 15 Bill. IV, 212. 16 Vgl. Mi 6,4–8 und LEHNHARDT, Qaddish, passim. 17 Ähnlich THEISSEN/MERZ, Jesus, 231; SCHRÖTER, Art. Reich Gottes, 206: „Den verschiedenen jüd. Vorstellungen vom R.G. liegt die Überzeugung zugrunde, daß es gegenwärtig irdisch nicht – oder nur partiell – erfahrbar ist, jedoch als himmlische Größe schon immer existiert […]. Die Frage nach Gegenwart und Zukunft des R.G. stellt sich dann als diejenige nach dem Zeitpunkt und der konkreten Gestalt seiner irdischen Durchsetzung.“ Dieselbe Ambivalenz hat jüngst JUNGBLUTH, a.a.O., 177, auch für die atl. Traditionen z.B. in Ps 47 und 93 aufgezeigt: „Während also das irdische Königtum […] fest in der Zeit verortet werden kann, seine lineare Dimension geradezu konstitutiv ist, stellt sich die Frage für JHWHs himmliches Königtum nicht. Im Unterschied zum irdischen König […] ist 12

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Die Königsherrschaft Gottes ist hier eine „endzeitliche Realität“18, die sich nach einem endzeitlichen Kampf zwischen Gott auf der einen und Satan und/ oder den feindlichen Heidenvölkern auf der anderen Seite durchsetzt (TestDan 5,10–13; 1QM 6,6; AssMos 10,1ff.; Jub 23,29 und Sib 3,767) und in Form einer Epiphanie Gottes endzeitlich erscheint (AssMos 10,1ff.; Jub 1,28; Lk 19,11; vgl. Jes 31,4; 40,9f.; 52,7). Entsprechend dominieren Formulierungen und Wendungen, die vom „Aufrichten“19, „Erstehen“20 oder „Erscheinen/Offenbaren“21 der Gottesherrschaft (am Ende der Zeiten) sprechen. Auch im rabbinischen Schrifttum verhält es sich mit der Häufigkeit der Belege ähnlich dürftig. Im Mittelpunkt steht hier die stereotype Wendung „das Joch des Königtums auf sich nehmen“.22 Der Beter des Shema nimmt analog zu einem Joch bewusst das Herrentum Gottes in Form der Gebote und des Shema auf sich, das mit dem Akt des Gebets in die Welt tritt, das Leben und den Alltag des Betenden bestimmt und auf diese Weise die Gegenwart von Gottes Herrschaft in der Welt garantiert. Vergleicht man diese überschaubare Evidenz im frühjüdischen Schrifttum und die nicht minder spärlichen Belege im Neuen Testament außerhalb der synoptischen Evangelien auf der einen Seite mit dem gehäuften Begriffsvorkommen im Munde des „synoptischen Jesus“ auf der anderen Seite, dann lässt dies keinen anderen Schluss zu, als dass Jesus selbst diesen Begriff zu einem zentralen Inhalt seiner Verkündigung gemacht hat.23 Umso brisanter ist die Frage, welchen semantischen Inhalt Jesus mit diesem Begriff verband, den er allem Anschein nach weitaus häufiger benutzte als die frühjüdische Welt vor und die frühchristliche Gemeinde nach ihm.24 Es galt lange Zeit als eine opinio communis, dass der Begriff βασιλεία τοῦ θεοῦ in der Verkündigung Jesu als ein nomen actionis im Sinne einer aktiven Herrschaft Gottes, eben der „Königsherrschaft Gottes“, verstanden werden muss. Der Begriff meint nach diesem Verständnis keinen bestimmten Bereich oder eine spezielle Zeitperiode, sondern die Handlung des Regierens.25 JHWH immer schon König. Sein himmlisches Königtum wird von den Texten als zeitlos dargestellt.“ 18 KLEIN, Zentralbegriff, 651. 19 Elfte Bitte des 18-Bitten-Gebetes, Bill. IV, 212; Sib 3,767. 20 Kaddischgebet, in: BARRETT/THORNTON, Texte, 239 (Nr. 212). 21 AssMos 10,1; TestBen 10,7; Sib 3,47f.; Lk 19,11; vgl. CD 4,4; 6,10f.; 12,23; 14,19; 20,1.26; Philo, Virt 85, sowie TgJes 24,23; 31,4; 40,9; 52,7; TgOb 21; TgMi 4,7; TgSach 14,9. 22 Vgl. mBer 2,2.5; bBer 2,4f.; SifBam 15,39 (§ 115); SifDev 17,20 (§ 162); 32,29 (§ 323); vgl. auch Bill. I, 172ff.176f. (k–m). 23 Mit MEIER, Marginal Jew II, 289. 24 Vgl. MEIER, a.a.O., 238f. 25 So neben vielen anderen BEASLEY-MURRAY, Jesus, 74; CHILTON , Kingdom, 265; MEIER, a.a.O., 240; im deutschen Sprachraum JEREMIAS, Theologie I, 101f.; PERRIN, Je-

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Grundlegend für diese weit verbreitete dynamische Deutung war die epochale Arbeit von Gustaf Dalman über „Die Worte Jesu“. Er wies nach, dass der hebräische Ausdruck malkût und der aramäische Ausdruck malkûtha mit „Gott“ bzw. „Himmel“ als nomen regens niemals die Bedeutung „Königreich“ im Sinne eines beherrschten Territoriums habe, sondern immer auf Gottes Rolle als König und sein herrschendes Handeln zu beziehen und dies das grundlegende Verständnis auch bei Jesu Gebrauch des Begriffes sei.26 In den letzten Jahren hat sich jedoch mehr und mehr die Einsicht durchgesetzt, dass dieses einseitige Begriffsverständnis zu „begrifflicher Unschärfe“ sowie „inhaltlicher Verschwommenheit“ führt27 und so nicht zu halten ist. Dalman setzte voraus, dass ein bestimmter Begriff seine Bedeutung beim Übergang von einer Sprache in eine andere bzw. von einem Kontext in einen anderen beibehält. Entsprechend war für Dalman die abstrakte Bedeutung von malkût/malkûtha im Alten Testament und in der frühjüdischen Literatur auch maßgebend für das Verständnis von βασιλεία τοῦ θεοῦ in der Verkündigung Jesu. Für Dalman war dabei die damals allgemein verbreitete Überzeugung grundlegend, dass „Begriffe“ mit einem stabilen und kohärenten Konzept verbunden sind, das sie auch in verschiedenen Kontexten und selbst in verschiedenen Sprachen behalten. In der neueren Sprachwissenschaft wird dagegen nicht nur nach der Bedeutung eines Begriffs in seiner Herkunftssprache gefragt, sondern auch nach seiner Bedeutung in den syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen im jeweiligen Text.28 Beachtet man diese Beziesus, 53; MERKLEIN, Botschaft, 37–39; vgl. STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 67f.: „Die Abstraktbildung (‫( ַמ לְכוּ)ת‬malkut) ist ein nomen actionis und meint – wie das griechische Wort βασιλεία auch – die Herrschaftsfunktion, das Herrsein (des Königs). […] βασιλεία τοῦ θεοῦ bedeutet also in erster Linie die aktive Regentschaft Gottes, Gottes Herrschen als König.“ Ähnlich SCHRÖTER, Art. Reich Gottes, 205. Die TRE hat den Begriff „Reich Gottes“ dem Lemma „Herrschaft Gottes“ untergeordnet (s. Bd. 15, 172–244). 26 DALMAN, Worte Jesu, 77: „Es kann kein Zweifel darüber obwalten, daß sowohl im Alten Testament als in der jüdischen Literatur das auf Gott bezogene ‫ מלכות‬stets ‚Königsregiment‘, niemals ‚Königreich‘ bedeutet.“ Nach SCHENKE, Botschaft, 108, war dafür der zeitgenössische Hintergrund der aufkeimenden nationalen Hochstimmung in Deutschland mitverantwortlich: Um Missverständnisse zu vermeiden, habe Dalman dafür plädiert, „die Übersetzung ‚Reich‘ fallen zu lassen und stattdessen lieber von ‚Königsregiment‘ oder ‚Herrschaft‘ zu sprechen.“ Allerdings bestritt DALMAN selbst keineswegs generell eine räumliche Dimension des Begriffs: Er kann zugeben, dass Jesus mit dem Begriff „unter Umständen vom Herrschaftsbereiche Gottes“ spricht (a.a.O., 78.112). Zu demselben Ergebnis wie Dalman kam K.G. KUHN, Art. βασιλεύς κτλ. C., passim. Er konstatierte, malkuta schamajim könne in der rabbinischen Literatur „niemals das ‚Königreich Gottes‘ als das von ihm beherrschte Gebiet bezeichnen“; der Ausdruck beschreibe lediglich die Tatsache, „dass Gott König ist, bezeichnet also stets das Königsein, Königtum Gottes“ (a.a.O., 570). 27 SCHENKE, Botschaft, 108f. 28 KVALBEIN, Preacher, 89, mit Hinweis auf BARR, Semantics, passim. Vgl. EGGER/ WICK, Methodenlehre, 165. Demnach bestimmt der Kontext die Semantik eines Lexems.

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hungen, so zeigt sich, dass zahlreiche mit dem Begriff verbundene Verben ein räumliches Verständnis nahelegen, ja dass der räumliche Aspekt sogar der eigentlich dominierende ist und sich die in der Forschung verbreitete dynamische Interpretation im Sinne von „Königsherrschaft“ einzig und allein in Lk 11,20/Mt 12,28 wirklich nahelegt. Aus der Tatsache, dass Jesus den Begriff nirgends erläutert, definiert oder präzisiert, kann daher nicht ohne Weiteres geschlossen werden, dass er das semantische Verständnis seiner Umwelt einfach übernimmt. Es war vor allem der Protest von Seiten norwegischer Exegeten, der für eine wachsende Wahrnehmung des räumlichen Aspekts sorgte. In Anlehnung an Sverre Aalen, der bereits in den frühen 1960er Jahren seinen Widerspruch gegen das Verständnis des Begriffs als nomen actionis äußerte,29 waren es Aalens Schüler Ernst Baasland, Hans Kvalbein und Oskar Skarsaune,30 die dieses Verständnis in Frage stellten. In Deutschland war es Hans Conzelmann, der Ende der 1960er Jahre in seinem „Grundriß zur Theologie des Neuen Testaments“ Zweifel am aktiven Verständnis des Begriffs äußerte.31 In jüngerer Zeit insistierte Ludger Schenke auf den konsequent „eschatologischzukünftigen Sinn“ und die „räumlich-zeitliche Konnotation“ von βασιλεία τοῦ θεοῦ.32 In den Chor der Kritiker stimmen mittlerweile auch zahlreiche Stimmen aus Nordamerika und Europa mit ein.33 Dabei gründet die Kritik am vorherrschenden dynamischen Verständnis von βασιλεία τοῦ θεοῦ nicht in Zweifeln an der theologischen Aussage an sich. Dass Gott der König Israels, ja der ewige König und Herrscher der ganzen Welt ist und schon jetzt königlich herrscht, gehört ebenso zum Grundwissen und „Katechismus“ Israels und seiner atl. und frühjüdischen Schriften wie die Überzeugung, dass er am Ende der Tage ein sichtbares und ewiges Reich aufrichten wird. Die Kritik basiert vielmehr zum Einen auf der Beobachtung einer grundsätzlichen Differenz zwischen dem frühjüdischen und jesuanischen Begriffsgebrauch und zum Anderen auf der wachsenden Wahrnehmung, dass das dynamische Verständnis bis auf eine Ausnahme nicht zur Verwendung des Begriffs im Munde Jesu passt.

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AALEN, Reign, 215–240. BAASLAND, Guds rike, passim; DERS., Verkündigung, passim; KVALBEIN, Kirken, passim; DERS., Kingdom, passim; DERS., Reich Gottes, passim; DERS., Preacher, passim; SKARSAUNE, Patriskiske merknader, passim. 31 S. CONZELMANN, Grundriß, 126. 32 SCHENKE, Botschaft, 106f. u.ö.; ähnlich BOHLEN, Einlasssprüche, 183f. 33 O’NEILL, Kingdom, passim; CARMIGNAC, Mirage, passim; BUCHANAN, Consequences, passim; DERS., Jesus, passim; DERS., Eschatology, 90–120; WITHERINGTON, Christology, 192–198; DERS. Jesus, 49–74; STANTON, Gospels, 196; ALLISON, Jesus, 164–204; VOS, Heiliges Land, 131–137, bes. Anm. 156. 30

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I. Der Kontrast zum frühjüdischen Begriffsgebrauch Entgegen der häufig postulierten Übernahme des frühjüdischen Begriffsgebrauchs durch Jesus ist der Gebrauch von βασιλεία τοῦ θεοῦ im Munde Jesu durch eine Vielzahl wesentlicher Unterschiede zur frühjüdischen Begriffsverwendung charakterisiert: Zum Ersten finden wir bei Jesus nirgendwo die für das Frühjudentum typischen Formulierungen vom „Aufrichten“, „Erstehen“, „Erscheinen/Offenbaren“ oder „Auf-sich-Nehmen (des Jochs)“ der Königsherrschaft Gottes.34 Während sie in der Verkündigung Jesu völlig fehlen, sind sie dagegen für die Erwartung des Volkes belegt, als Jesus sich Jerusalem nähert (Lk 19,11). Lukas nimmt hier offensichtlich auf eine frühjüdische Erwartungshaltung Bezug,35 die von einem unmittelbar bevorstehenden und sichtbar irdischen Reich ausgeht (παραχρῆµα µέλλει ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ ἀναφαίνεσθαι), identifiziert diese Erwartung aber gerade nicht mit der Verkündigung und dem Verständnis Jesu im Blick auf diesen Begriff. Jesus selbst spricht dagegen vom „Kommen“ des Reiches Gottes, dem „Eingehen“ in das Reich Gottes und dem „Ererben“ bzw. „Empfangen“ des Reiches Gottes. Es handelt sich hier samt und sonders um Begriffe, die dem frühjüdischen Sprachgebrauch im Blick auf βασιλεία τοῦ θεοῦ fremd waren. Zum Zweiten fällt auf, dass die Evangelien, anders als die Jahwe-KönigsPsalmen und die gesamte frühjüdische Literatur, auffallend selten Gott als König titulieren.36 Lediglich in Mt 5,35 wird Jerusalem die „Stadt des großen Königs“ genannt. Ansonsten erscheint Gott nur in den beiden Gleichnissen vom Schalksknecht (Mt 18,21–35) und vom großen Hochzeitsmahl (Mt 22,1– 14) als König. Allerdings ist die Identität Gottes in allen Gleichnissen nicht an die Königsrolle gebunden, was in der lukanischen Parallele des Hochzeitsfestes deutlich wird (Lk 14,15–24), wo Gott lediglich die Rolle eines reichen Menschen innehat. Ganz grundsätzlich wird Gott in der Verkündigung Jesu – abgesehen von den genannten Beispielen – im scharfen Kontrast zu den atl. und frühjüdischen Texten nicht als „König“ vorgestellt, sondern als „Vater“. Abgesehen von Mt 18,23; 22,2 und wiederum im Kontrast zur atl. und frühjüdischen Li34

Vgl. die Belege in Anm. 19–22. Auch SCHWEMER, Kommen, 118, bemerkt, dass die Formulierung vom baldigen Offenbarwerden der βασιλεία dem targumischen Sprachgebrauch näher steht als dem lukanischen bzw. synoptischen. 36 Vgl. AALEN, Reign, 217; HENGEL/SCHWEMER, Vorwort, 13; KVALBEIN, Kingdom, 69; THEISSEN/MERZ, Jesus, 250. Vgl. auch BURCHARD, Jesus, 21: „Nun hat Jesus, wenn die Überlieferung repräsentativ ist, viel seltener Königsherrschaft Gottes gesagt, als man erwarten sollte. Die Stammverwandten fehlen: Gott heißt nicht König, sein Stand und Wesen nicht königlich, sein Herrschen nicht königen … Jesus hat Gott auch nur selten als König abgebildet und seine ethischen Weisungen nicht im Namen des Königs gegeben.“ 35

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teratur verwenden sämtliche Evangelien den Begriff βασιλεία τοῦ θεοῦ nie im Zusammenhang mit den Begriffen „König“ (βασιλεύς) und „herrschen“ (βασιλεύειν). Das fast durchgängige Fehlen der Königsprädikation irritiert, wenn „Reich Gottes“ im Sinne einer Königsherrschaft verstanden werden soll. Weitere Indizien sind, dass im Kontext der βασιλεία τοῦ θεοῦ-Belege nirgendwo die Begriffe „Thron Gottes“, „Szepter“ oder „Krone“ auftauchen, die im Alten Testament und Frühjudentum häufig als Metaphern für die aktive Herrschaft Gottes gebraucht wurden.37 Ebenso wenig finden wir die Formulierung, wonach die βασιλεία τοῦ θεοῦ „ewig währen“ würde.38 Schließlich fehlt zum Dritten in der βασιλεία-Verkündigung Jesu völlig die politische Dimension, die in vielen atl. und frühjüdischen Belegen so dominant im Vordergrund steht,39 und dies, obwohl der Gedanke an die Befreiung Israels von der heidnisch-römischen Herrschaft sich vor dem Horizont des frühjüdischen Verständnisses der Gottesherrschaft geradezu aufdrängt: „Was bei Jesus im Vergleich mit den angeführten Texten [sc. TestDan 5,10–13; AssMos 10,1.7–10; V.G.] auffällt, ist der Umstand, daß die irdisch-politische Komponente der Herrschaft Satans (die Unterdrückung durch die Heiden) nicht reflektiert wird.“40

Zusammengefasst zeigt sich, dass wir die charakteristische atl. und frühjüdische Terminologie im Zusammenhang mit der Königsherrschaft Gottes in den Evangelien und im gesamten Neuen Testament kaum finden.41 Das mit dem Begriff βασιλεία τοῦ θεοῦ verbundene Konzept ist hier ein völlig anderes als das atl.-frühjüdische: “For neither Jesus nor Paul does the coming of the basileia in the present amount to the visible theophanic manifestation of God himself that displaces all human governments, reestablishes Israel in its Davidic glory […], establishes the sort of Edenic state on earth de37 Vgl. z.B. die Thron-Gottes-Belege in Jes 6,1.5; Ps 47,9; 93,1f.; 97,1f.; 1Chr 28,5; 29,23; vgl. auch SapSal 28,15; AssMos 10,1.3. Dagegen finden sich mehrere Belege, wo es um den Thron Christi in dessen Reich geht: Mt 10,37; vgl. Mt 19,28; Lk 22,30; vgl. Lk 1,32. Zu den Herrschaftsinsignien in atl. Perspektive vgl. JUNGBLUTH, Himmel, 33–52. 179–204. 38 Vgl. Dan 2,44; 7,14.27; PsSal 17,4; Jub 1,28; Sib 3,767; vgl. 1Chr 17,12.14. 39 Vgl. MERKLEIN, Botschaft, 43, Anm. 26: „Von Dt-Jes bis zur Apokalyptik gibt es keine Äußerung zur Gottesherrschaft, in der diese nicht zu (dem von den Völkern unterdrückten) Israel in Beziehung gesetzt wird.“ 40 MERKLEIN, a.a.O., 43. Ebenso MEIER, Marginal Jew II, 331: “Jesus was not interested in and did not issue pronouncements about concrete social and political reforms, either for the world in general or for Israel in particular. He was not proclaiming the reform of the world; he was proclaiming the end of the world.” 41 So auch SCHENKE, Botschaft, 107: „Diese Zuordnung passt nicht zum Verständnis von ‚Basileia Gottes‘ als ‚Gottesherrschaft‘, es sei denn, sie wird als ein in Zukunft eintretender raum-zeitlicher Zustand aufgefasst. Doch liegt es dann näher, wie die ältere Forschung vom ‚Reich Gottes‘ zu sprechen, um begriffliche Unklarheiten und sachliche Vermischungen zu vermeiden“.

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picted in texts like Isaiah 60 and has other dramatic supernatural effects on the cosmos and material world as well as on human beings”.42

Es wäre folglich ein Missverständnis, wollte man Jesu βασιλεία-Begriff und -Verkündigung etwa vom Begriff der malkût in apokalyptischen Texten her interpretieren. Es geht hier ganz offensichtlich um zwei verschiedene Größen. An dieser Stelle drängt sich natürlich die Frage auf, warum Jesus den Begriff so anders benutzt als seine Umwelt, ohne dies zu erläutern. Das Fehlen jeglicher Erklärung war bereits für William Wrede ein wesentliches Argument für die Kontinuität des βασιλεία-Verständnisses Jesu zum frühjüdischen Schrifttum.43 Wir können an dieser Stelle nur spekulieren und auf die Kargheit der Quellen verweisen.44 Allerdings fällt auf, dass in den Evangelien auch Zeitgenossen Jesu denselben Sprachgebrauch im Munde führen, so z.B. der Täufer (Mt 3,2), die Jünger (Mt 18,1), die Mutter der Zebedaiden (Mt 20,21), ein Tischgast bei einem der Mähler Jesu (Lk 14,15) und nicht zuletzt der Schächer am Kreuz (Lk 23,42f.). Wir sollten von daher nicht ausschließen, dass das Gesamtbild des zeitgenössischen Sprachgebrauchs breiter war, als unsere Quellen es widerspiegeln. II. Das Reich Gottes als Raum des Heils Die zweite Wahrnehmung, die Zweifel an der Konzeption einer aktiven Königsherrschaft Gottes auslöste, betrifft die Vielzahl räumlicher Redewendungen, die vom „Eingehen“ oder „Hineinkommen“ in die bzw. vom „Hinausgeworfen-Werden“ aus der βασιλεία sprechen (Mt 8,12; 22,13; vgl. auch 13,41f.).45 Die βασιλεία wird in zahlreichen Logien mit den Präpositionen εἰς, ἐν oder ἐκ in Verbindung gebracht. Hier steht offensichtlich die Vorstellung 42 WITHERINGTON, Jesus, 62; ähnlich KLEIN, Zentralbegriff, 654: „Jesus spricht von der Gottesherrschaft in einer anderen Sprache als seine rabbinische Umwelt.“ Ebenso in jüngerer Zeit WOLTER, Teller, 136f.: “[T]here is a marked difference between the semantic profile of this concept, as it was present in the cultural encyclopedia of Jesus’ listeners, and the way in which Jesus himself speaks about the Rule of God”. CONZELMANN, Grundriß, 126, fasst zusammen: „Man kann die Faustregel aufstellen: Im Judentum bedeutet der Ausdruck: den Akt des Herrschens Gottes; bei Jesus: Gottes Reich.“ 43 WREDE, Predigt, 88: „Jesus hat nie eine Belehrung darüber gegeben, was er unter dem Reich Gottes verstehe. Er hat nie seinen Jüngern gesagt, daß seine Anschauung vom Gottesreiche eine andere sei als die landläufige. Überall ist der Eindruck, daß er ein bekanntes Wort in demselben Sinne gebraucht, in dem man es allgemein verstand.“ 44 Vgl. dazu die Erwägungen von ALLISON, Jesus, 203f. Auch er verweist letztlich auf die Unmöglichkeit, angesichts der Quellenlage in dieser Frage weiterzukommen. 45 Hier handelt es sich um die sog. „Einlasssprüche“ Mt 5,20; 7,21; 18,3; 19,23f.; 21,31; Mk 9,47; 10,15.23–25; Lk 18,17.24f.; vgl. Joh 3,3.5; Act 14,22, und 2Tim 4,18; 2Petr 1,11. In gewisser Weise haben auch Lk 16,16/Mt 11,12; Lk 23,42 und Kol 1,13 eine Nähe zu dieser Kategorie. Vgl. hierzu WINDISCH, Sprüche, 663–675; HORN, Einlaßsprüche, 187– 203; BOHLEN, Einlasssprüche, 167–184.

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eines Raumes bzw. Bereiches im Hintergrund, in den man eintreten oder hineinkommen bzw. eingelassen werden kann, aus dem man aber auch hinausgeworfen werden kann. Dieses lokale und räumliche Verständnis des Begriffs steht auch im Hintergrund, wenn von den „Schlüsseln des Himmelreichs“ (Mt 16,19) und einer engen Pforte (Lk 13,23–30) bzw. einem schmalen Weg (Mt 7,13f.) die Rede ist. Das Bildmotiv ist deutlich: Die Pforte und der Weg führen zu einem Ort des Heils, dessen Zugang durch die Schlüssel geöffnet werden kann. Das Bildmotiv der verschlossenen Tür prägt auch das Gleichnis von den zehn Jungfrauen (Mt 25,1–13; vgl. v.a. V. 1.10) und den Weheruf über die Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt 23,13). Es geht hier eindeutig um ein räumlich-lokales Verständnis, nicht um ein dynamisches, denn es würde keinen Sinn ergeben, im Blick auf eine Herrschaft von „drinnen“, „in hinein“, „draußen“ oder „aus heraus“ zu reden.46 Innerhalb dieses „Raumes“ findet dann auch das endzeitliche Festmahl des Heils statt (vgl. Mk 14,25/Mt 26,29; vgl. Lk 14,15),47 zu dem viele kommen werden von Osten und von Westen, um zu Tisch zu sitzen mit Abraham, Isaak und Jakob (Mt 8,11f./Lk 13,28f.).48 In diesen Kontext gehört wohl auch die Frage, wer bei diesem Festbankett der Größte und wer der Kleinste sein wird (Mt 5,19; Mt 11,11/Lk 7,28; Mt 18,1.4). Hier werden die Gerechten leuchten wie die Sonne (Mt 13,43). Bemerkenswert ist, dass Jesus sich in Mk 14,25 selbst als zentralen Akteur dieser künftigen βασιλεία betrachtet und sich damit eo ipso in einer Verbindung mit all jenen sieht, die dort als Gäste eintreten werden.49 Die Verheißung vom großen Festmahl ist eines der bekanntesten räumlichen Bilder für das Reich Gottes50 – in Lk 22,29f. ist das Bild mit dem Sitzen auf Thronen verbunden – und spielt auch in zahlreichen Gleichnissen eine wesentliche Rolle, so im Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl (Mt 22,1–14; vgl. Lk 14,15–24) und von den klugen und törichten Jungfrauen (Mt 46

Diese räumliche Bedeutung haben im Übrigen auch fast alle Vorkommen von βασιλεία ohne den determinierenden Genitivzusatz τοῦ θεοῦ, vgl. Mk 3,24; 6,23; 13,8/Mt 24,7/ Lk 21,10; Mt 4,8/Lk 4,5; Mt 12,25f./Lk 11,17f. Nicht eindeutig sind lediglich Lk 19,12.15. 47 AALEN, Reign, 228: “Also the picture of the great feast or supper repeatedly used by Jesus decidedly points to the kingdom as the highest good of salvation […]. This symbol is closely connected with the idea of the room and with that of the door. […] In these texts we can perceive nothing of the idea of God’s reign, or of the idea that he is asserting his position as a king, or the like.” 48 Zur Frage der Authentizität des Logions vgl. MEIER, Marginal Jew II, 316f.; THEISSEN/MERZ, Jesus, 233. 49 WITHERINGTON, Christology, 206. Zur Echtheit des Logions vgl. MEIER, a.a.O., 305f., THEISSEN/MERZ, ebd. 50 Das Motiv vom Festbankett als Bild für das endzeitliche Heil wird häufig im Alten Testament gebraucht (Jes 55,1–2; 65,13; vgl. äthHen 62,14; grBar 29), jedoch nie in Verbindung mit dem Reich oder der Herrschaft Gottes. Die Verbindung beider Motive scheint somit auf Jesus zurückzugehen.

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25,1–13). Selbst im Gleichnis von den anvertrauten Pfunden (Mt 25,14–30) werden die tüchtigen Knechte am Ende zum „Eintritt in die Freude ihres Meisters“ (Mt 25,21.23) eingeladen,51 was offensichtlich dem Eintreten in das Reich Gottes entspricht, während der unnütze Knecht hinaus in die Dunkelheit geworfen wird, wo Heulen und Zähneklappern sein wird (V. 30; vgl. Mt 8,12/Lk 13,28; Mt 13,41f.50; 22,13). Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch, warum der verständige Schriftgelehrte in Mk 12,32–34 „nicht fern“ von der βασιλεία ist. Auch die drei lukanischen Gleichnisse vom Suchen und Finden in Lk 15 (vom verlorenen Schaf, V. 3–7; vom verlorenen Groschen, V. 8–10; vom verlorenen Sohn, V. 11–32) enden jeweils mit einem Festbankett. Dieses Motiv wirkt bei den beiden erstgenannten Gleichnissen auf der Bildebene übertrieben, weil der Sachwert des wiedergefundenen Schafes bzw. Silbergroschens weit geringer ist als die Kosten eines Festes. Aber offensichtlich ist das Bildmotiv des Festes bei Jesus eine feste Metapher für das Reich Gottes.52 Deshalb kommt es am Ende selbst in Gleichnissen zum Fest, in denen es vom Bildmotiv her eher merkwürdig ist. Ein Bezug auf die dynamische „Königsherrschaft“ wäre in allen genannten Gleichnissen sinnlos. Das Motiv hat zweifellos eine räumliche Bedeutung, es geht um einen Festsaal, in dem eine Festversammlung zu einem großen Freudenfest zusammenkommt. Aus diesen Gründen spricht Sverre Aalen von einem „Haus“ (vgl. Mt 12,25.29),53 Hans Kvalbein von einem „place of salvation“54 und Christoph Burchard formuliert prägnant: „Das Reich Gottes ist kein Imperium, sondern ein Dorf.“55 Nimmt man alle Belege zusammen, so ist evident, dass es hier um einen futurischen Ort endzeitlicher Heilsvollendung geht,56 der nach Mt 25,34 von Ewigkeit her den Gerechten für die eschatologische Vollendung bereitet ist, denn alle räumlichen Konnotationen des Begriffs müssen futurisch verstanden werden.57 Ein dynamisches Verständnis von βασιλεία im Sinne einer 51

Nach JEREMIAS, Gleichnisse, 57, Anm. 3, muss χαρά hier mit dem Konkretum „Freudenfest“ übersetzt werden; vgl. auch DALMAN, Worte, 96. 52 KVALBEIN, Preacher, 98, macht darauf aufmerksam, dass vor diesem Hintergrund das Herrenmahl „in der Nacht, da Jesus verraten ward“ als eine “extended acted parable” gesehen werden kann, “integrating the death of Jesus as a sacrifice into the proleptic celebration of the kingdom of God”. 53 AALEN, Reign, 229: “The kingdom of God is a house.” Vgl. auch O’NEILL, Kingdom, 134: “The kingdom is like a house or city or land.” 54 KVALBEIN, Kingdom, 70. 55 BURCHARD, Jesus, 34. 56 Vgl. BOHLEN, Einlasssprüche, 184: „die Teilhabe am endzeitlichen Heil [wird] mit Hilfe der Einlasssprüche in metaphorischer Weise als Aufenthalt in einem Heilsraum umschrieben“. 57 Vgl. HORN, Einlaßsprüche, 188 (s. auch ebd., Anm. 5); WITHERINGTON, Jesus, 61f. Für JEREMIAS, Theologie I, 105, bedeutete diese Evidenz, dass „die Basileia immer und überall eschatologisch“ verstanden werden müsse.

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Herrschaft ist bei den behandelten Belegen fast durchgängig ungeeignet und sinnlos, nicht selten sogar unmöglich.58 Zu dem eschatologischen Charakter des erwarteten Raumes, Hauses oder Dorfes tritt automatisch eine temporale Bedeutung hinzu, die uns im nächsten Punkt beschäftigen wird. III. Das Reich Gottes als eine Zeit des Heils Der temporale Aspekt tritt überall dort in den Vordergrund, wo vom „Kommen“ oder „Nahe-herbei-gekommen-Sein“ der βασιλεία τοῦ θεοῦ die Rede ist,59 wie z.B. in der zweiten Vaterunserbitte (Mt 6,10/Lk 11,2), wo das Kommen einer zukünftigen βασιλεία des als Vater, nicht als König (!) angesprochenen Gottes erbeten wird. Dass es bei diesem Kommen nicht um einen langsamen, kontinuierlichen Prozess, sondern um ein bestimmtes Ereignis geht, konkret um das zukünftige Kommen der neuen Heilszeit, legen zahlreiche jüdische Parallelen der Vaterunserbitte nahe.60 Allerdings findet sich weder in einer atl. oder frühjüdischen noch in einer anderen ntl. Gebetsbitte die Verbindung von βασιλεία τοῦ θεοῦ mit einem Verb, das der Bedeutung von „kommen“ entspricht.61 Die Rede vom Kommen des Reiches ist wahrscheinlich eine Innovation Jesu, was ein gewichtiges Argument für die Authentizität ist.62 Dabei ist die Bitte um das Kommen der βασιλεία analog zur Bitte um 58

Auch die matthäische Variante βασιλεία τῶν οὐρανῶν will wohl weniger den Gottesnamen paraphrasieren, als vielmehr den Kontrast zwischen „Himmel“ und „Erde“ hervorheben. Darauf hat PENNINGTON, Heaven, 321, hingewiesen; vgl. a.a.O., 296: “The addition of τῶν οὐρανῶν to βασιλεία in Matthew makes it inevitable that some sense of a spatial understanding of the kingdom is communicated: understanding ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν as meaning only to rule or reign of God in a non-spatial sense fails to account for the importance of Matthew’s ascription of the kingdom as τῶν οὐρανῶν.” 59 Mt 6,10; 12,28; 16,28; Mk 1,15; 9,1; Lk 17,20f.; 21,31; 22,18; vgl. 1Kor 15,24; 2Tim 4,1; Apk 12,10. Wenn in Mk 15,43 Josef von Arimathäa als ein auf die βασιλεία Wartender charakterisiert wird, steht ebenfalls die zeitliche Dimension im Vordergrund. 60 MEIER, Marginal Jew II, 294f.: “The eschatological thrust of the petition is clear from its roots and parallels in Ezekiel, Ben Sira, Qumran, and Jewish liturgical prayers like the Qaddish. […] if Jesus […] desired to avoid or negate future eschatology, he would have to make the differences in his use of the symbol crystal-clear” (vgl. auch a.a.O., 299f.). 61 Vgl. MEIER, a.a.O., 294; vgl. auch die zahlreichen Belege bei Bill. I, 418f., bei denen aber nirgendwo vom „Kommen“ der malkût die Rede ist, sowie LUZ, Mt I/1, 447: „es ist geradezu auffällig, wie oft die zukünftige Gottesherrschaft Gegenstand von Bitten der Rabbinen ist, bei denen sonst eher der Gegenwartsaspekt von Gottes Herrschaft im Vordergrund steht. Gegenüber den jüdischen Parallelen auffällig ist Jesu Redeweise vom Kommen des Gottesreichs: Jesus versteht es als etwas Dynamisches, Machtvolles. […] Das Eschatologische dieser Bitte ist völlig zweifelsfrei, obwohl die Auslegungstradition der Kirche meistens andere Wege gegangen ist.“ 62 Vgl. MEIER, a.a.O., 294.298. THEISSEN/MERZ, Jesus, 232, vermuten, dass in dieser Vaterunserbitte das Kommen des Reiches an die Stelle des Kommens Gottes tritt (vgl. Jes

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die Heiligung des göttlichen Namens, die auch im jüdisch Kaddisch-Gebet zusammengehören,63 ein Appell an Gott: Er selbst und er allein möge das erbetene Geschehen in Gang setzen. Es handelt sich nicht um eine fromme Selbstadhortation der Betenden: “The passive voice is a true ‘theological passive’, reverently referring indirectly to the divine agent, who is asked to manifest himself in all his world-creating and royal power in the near future.”64 Diese Vaterunser-Bitte erbittet somit das baldige Kommen der βασιλεία als einer künftigen Heilszeit, die dadurch charakterisiert ist, dass Gott alleine als König herrscht, und von der alle gottwidrigen Mächte und Kräfte ausgeschlossen sind. Diese Bitte war Jesus offensichtlich so wichtig, dass er sie in das einzige Gebet aufgenommen hat, das er seine Jünger gelehrt hat. Auch die in ihrer Bedeutung umstrittenen Logien vom „Nahen“ bzw. „Nahe-Sein“ der βασιλεία (Mk 1,14f.; Mt 10,7/Lk 10,9.11; Lk 21,31) gehören in diesen Zusammenhang. In der programmatischen, dem Markusevangelium vorangestellten Zusammenfassung der Botschaft Jesu in Mk 1,15 finden wir eine Doppelaussage,65 deren innere Relation ein Problem darstellt: Zum einen spricht das Logion davon, dass ein Kairos erfüllt ist (πεπλήρωται ὁ καιρός), und zum anderen davon, dass die βασιλεία nahe herbei gekommen ist (ἤγγικεν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ; vgl. Lk 21,31). Als Konsequenz aus dieser Mitteilung fordert Jesus seine Hörer zu Umkehr und Glauben an das Evangelium auf. Das Logion kann sowohl als synonymer wie auch als synthetischer Paral35,4; 40,9f.; Sach 9,9; 14,3f.16; äthHen 1,4–9 u.ö.). Diese Hoffnung wird im Urchristentum in der Erwartung des Kommens Christi (vgl. 1Kor 11,26; 16,22) wieder aufgenommen. Dieser Umstand spricht auch für die Authentizität der Vaterunserbitte, die sich nicht als Gemeindebildung verstehen lässt. Ein weiteres Argument ist der Umstand, dass die ntl. Literatur zwar eine Fülle von Liedern, Hymnen und Bekenntnissen kennt, aber nur ein Gebet Jesu. Es war offensichtlich nicht üblich, Jesus Gebete in den Mund zu legen, sonst wäre eine größere Fülle an Jesusgebeten zu erwarten. 63 Vgl. BARRETT/THORNTON, Texte, 239 (Nr. 212). 64 MEIER, Marginal Jew II, 297. 65 Vgl. ALLISON, Jesus, 180, Anm. 636. Im Blick auf die Authentizität ist zunächst die Wahrnehmung wichtig, dass der Evangelist dieses Jesuslogion als eine, wenn nicht sogar die charakteristische Aussage der Verkündigung Jesu in allen seinen Predigten begriffen hat. Die Diskussion dreht sich v.a. um die Frage, welche Elemente des Logions direkt auf Jesus zurückgehen und ob wir es in Teilen (und wenn ja, wo wir es) mit markinischer Redaktion zu tun haben. Während die nahe gekommene βασιλεία auch in der Aussendungsrede an die Jünger (Mt 10,7/Lk 10,9) belegt ist – MERKLEIN, Botschaft, 35, hält sie für die entscheidende, zentrale Aussage der Botschaft Jesu insgesamt –, werden v.a. die Aussagen „die Zeit ist erfüllt“ und „glaubt an das Evangelium“ vor dem Hintergrund der frühchristlichen Missionspredigt häufig als Gemeindebildung bewertet. Umgekehrt kann aber ein Ursprung im Munde Jesu auch nicht ausgeschlossen werden, zumal wir eine Vielzahl von „Erfüllungs-Logien“ kennen (vgl. Lk 4,18–21; Lk 10,23f./Mt 13,16f.; Lk 7,18–23/Mt 11,2–6); vgl. auch MEIER, a.a.O., 431f., und WITHERINGTON, Christology, 198f., der auf die Nähe des Logions zur Botschaft Johannes’ des Täufers (vgl. Mk 1,4) und auf die Bezüge zu Jes 56,1 und Ez 7,3.12 verweist.

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lelismus verstanden werden. Im ersten Fall wäre das Nahen der βασιλεία identisch mit dem gekommenen καιρός, im zweiten Fall würde es sich um zwei unterschiedliche und zeitlich aufeinander folgende Zeitpunkte handeln. Für die zweite Lösung sprechen neben Lk 21,31 die verwendeten Verben. Beide stehen zwar im Perfekt, aber während das Verb πεπλήρωται die Gegenwart, Erfüllung und Vollendung eines bestimmten Zeitpunkts anzeigt, wird diese Bedeutung von den vieldiskutierten Begriffen ἤγγικεν bzw. ἐγγύς nicht gedeckt. Zwar wird häufig diese Nähe aufgrund der Perfektform von ἤγγικεν („hat sich genähert“) schon als Präsenz verstanden,66 aber Conzelmann besteht zu Recht auf dem exakten Wortsinn von ἐγγύς bzw. ἐγγίζω, der eine räumliche oder zeitliche Nähe impliziert.67 Die Perfektform des Verbs signalisiert auch nicht die Ankunft und damit Präsenz dessen, der sich genähert hat, sondern lediglich den erreichten Zustand als Ergebnis eines vorherigen Geschehens oder Prozesses. Der Prozess des Sich-Näherns ist vollendet, was freilich nicht impliziert, dass jemand „da“ bzw. „gegenwärtig“ ist; er ist einfach „nahe“, weil er sich genähert hat.68 Zur Klärung, was jeweils gemeint sein könnte, ist es nötig den Fokus zu weiten. Für eine futurische Deutung spricht auch das ntl. Zeit- bzw. Epochenverständnis. In der synoptischen Tradition und im gesamten Neuen Testament gibt es zwei eschatologisch gefüllte Zeitpunkte. Dies ist zum einen das Kommen und Wirken Jesu, das von den Evangelisten als „Erfüllung“ (vgl. die Erfüllungszitate mit dem wiederkehrenden πεπλήρωται im Perfekt69) verstanden wurde. Dieses Erfüllungsbewusstsein geht mit Sicherheit auf Jesus selbst zurück: „Selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht. Denn ich sage euch: Viele Propheten und Könige [Mt: und Gerechte] wollten sehen, was ihr seht, und haben’s nicht gesehen, und hören, was ihr hört, und haben’s nicht gehört“ (Lk 10,23f./Mt 13,16f.).70 Mit seinem Auftreten ist der καιρός erfüllt (Mk 1,14f.) und die Verheißung eines kommenden Messias in Erfüllung gegangen (Mk 2,18–22; 8,27f. par.; 14,61f. par.; Lk 4,16–21 [πεπλήρωται in V. 21]; Lk 7,18–23/Mt 11,2–6). Mit diesem messianischen Erfüllungsgeschehen ist auch eine Unterwerfung satanischer Mächte verbunden.71 Allerdings fällt auf, dass dieses sich in der Gegenwart vollziehende messianische Erfüllungsgeschehen abgesehen vom Exorzismuslogion in keinem der erwähnten Jesuslogien mit 66

Vgl. z.B. THEISSEN/MERZ, Jesus, 235. CONZELMANN, Theologie, 69; ebenso BAUER/ALAND, WbNT, 430–432; vgl. auch Mt 26,18 und BETZ, Evangelium, 66, der die Stelle von Jes 56,1 her interpretiert. 68 So auch SCHNACKENBURG, Herrschaft, 96f., und WITHERINGTON, Christology, 199f. 69 Mt 1,22f.; 2,15.17f.23b; (3,3); 4,14–16; 8,17; 12,17–21; 13,14f.35; 21,4f.; 27,9f.; vgl. auch Mk 1,11; 4,12; 7,6f.; 9,7; 11,9f.; 13,24f.; 14,27, wo Markus auf ein Erfüllungsgeschehen Bezug nimmt, freilich ohne das matthäische πεπλήρωται. 70 Vgl. PsSal 17,44. Zur Authentizität des Logions vgl. LUZ, Mt I/1, 302. 71 Lk 10,18; Lk 11,20/Mt 12,28; Mt 28,18; vgl. Joh 12,31; Röm 8,38f.; Kol 2,15; Eph 1,20–23 u.ö. 67

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dem Kommen des Reiches Gottes identifiziert wird, wie dies in der neueren exegetischen Literatur häufig der Fall ist.72 Weder im Kontext der Taufe Jesu (Mk 1,9–11 parr.) noch in der Proklamation der messianischen Heilszeit im Kontext der Fastenfrage (Mk 2,18–20) noch in der Seligpreisung der Augenzeugen Jesu (Lk 10,23f./Mk 13,16f.) noch in Jesu Antwort an den aus dem Gefängnis fragenden Täufer (Lk 7,18–23/Mt 11,2–6) noch im Zusammenhang des Petrusbekenntnisses (Mk 8,27–30 parr.), des Lösegeldwortes (Mt 20,28/Mk 10,45) oder der Antwort an den Hohepriester im Rahmen des Prozesses (Mk 14,61f. parr.) ist von der βασιλεία die Rede. Es gibt kein einziges Jesuslogion, das belegen könnte, dass „das Reich Gottes […] unlösbar mit seiner Person verbunden ist“ oder dass die „zukünftige Gottesherrschaft […] in Wort und Tat, in der Person Jesu bereits Wirklichkeit“ und „in seiner Person bereits gegenwärtig“ ist.73 Über das Exorzismuslogion (Lk 11,20/Mt 12,28) als den (einzigen) locus classicus für diese These wird noch zu reden sein. Jesu messianischer Anspruch lässt sich nicht anders interpretieren, als dass Gott in ihm jetzt in der Gegenwart zum Heil nicht nur Israels, sondern „der Vielen“ handelt. Aber dieses Handeln wird nirgends als die Realisierung oder das Kommen der βασιλεία bewertet. Es führt vielmehr auf dieses Ziel hin und ist dessen Voraussetzung. Eine pauschale Deutung des Wirkens Jesu als Verwirklichung, Herbeiführung, Aktualisierung, Vorabschattung, Anbruch oder Einstand der βασιλεία oder gar als realized eschatology und Vergegenwärtigung der Zukunft lässt sich von den Evangelien her nicht belegen.74 Der zweite eschatologische Fixpunkt sowohl in der Verkündigung Jesu wie im gesamten Neuen Testament ist die Parusie Christi,75 deren Zeitpunkt unbekannt ist (Mk 13,33; Act 1,7; 1Thess 5,1ff.), von dem Jesus (Mk 13,28f.; Lk 21,30f.), Paulus (Röm 13,11; Phil 4,5; vgl. 1Kor 7,29) und schließlich auch der Seher der Johannesapokalypse als (einem καιρός) ἐγγύς sprechen (Apk 1,3; 22,10). Insgesamt spricht in Mk 1,15 mehr dafür, πεπλήρωται ὁ καιρός und ἤγγικεν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ als unterschiedliche Ereignisse und Zeitpunkte aufzufassen: Während sich der erfüllte Zeitpunkt auf das aktuelle Wirken Jesu

72

Das geschieht sehr ausführlich bei MEIER, Marginal Jew II, 398–454. Auf der Basis, dass Jesus im Exorzismuslogion eine präsentische βασιλεία als gekommen proklamiert habe, deutet er auch andere Logien ohne expliziten βασιλεία-Bezug vor diesem Hintergrund. 73 So aber KLAPPERT, Art. Reich, 1490, stellvertretend für viele andere. 74 So auch SCHENKE, Botschaft, 130: „Zwar war Jesus zweifellos der Meinung, dass Gott sich zum Heil für Israel entschlossen hat, diesen Entschluss in der Gegenwart in die Tat umsetzt und Jesus dabei mitwirkt, aber er hat das jetzige Heilshandeln Gottes und sein eigenes Mitwirken dabei nicht schon als basileia bezeichnet, sondern erst dessen noch ausstehendes Ergebnis. Das gegenwärtige Handeln Gottes steuert auf das Reich zu; gerade deswegen ist es bedeutungsvoll, nicht aber, weil es schon selbst die basileia wäre.“ 75 Mk 13/Mt 24/Lk 21; vgl. 1Kor 4,5; 15,20–28; Gal 6,9; 1Thess 4,13–5,11; Act 19 u.ö.

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bezieht, blickt ἤγγικεν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ auf die Parusie voraus.76 Durch das Eintreten der erfüllten Zeit im „eschatologischen Jetzt“ ist eine Art „eschatologischer Mechanismus“ in Gang gesetzt worden, der die Vollendung der Zeit im Reich Gottes unaufhaltsam nach sich zieht, was durch das Begriffsfeld ἐγγύς/ἐγγίζω angezeigt wird, unabhängig davon, wie lange es in absoluten Zeitmaßen noch dauern sollte. Die Übersetzung von βασιλεία τοῦ θεοῦ mit „Königsherrschaft Gottes“ ist in Mk 1,15 in Verbindung mit der erfüllten Zeit nicht unmöglich, allerdings bleibt die unmittelbar an diese Aussage sich anschließende Aufforderung „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ dann merkwürdig und obskur. Bei der herannahenden Herrschaft eines neuen Herrschers geht es um Akzeptanz, Gehorsam, Loyalität oder Unterwerfung, weniger um Umkehr oder Glaube. Wenn dagegen eine Heilszeit für Gerechte bzw. Glaubende angekündigt wird, die zwar noch nicht die umfassende Transformation aller irdischen Verhältnisse, sehr wohl aber die Vergebung von Schuld und die Erlösung und Befreiung von satanischen Mächten bedeutet, dann erschließt sich auch der Appell in dieser Aussage: Das Evangelium ist die nahende Heilszeit und in Entsprechung zu dieser Botschaft gilt es, Gott zu vertrauen und sein Leben an seinem Willen zu orientieren. Als Zwischenfazit können folgende Beobachtungen festgehalten werden: 1. Wenn βασιλεία die temporale Konnotation einer Zeit des Heils hat, dann ist der Begriff wie bei der räumlichen Konnotation durchweg futurisch zu verstehen. 2. Er bezeichnet einen Heilszustand, der im Himmel bereits vollendete Gegenwart ist, dessen Realisierung auf Erden aber noch aussteht. 3. Dass der temporale Aspekt keineswegs im Widerspruch zum räumlichen Aspekt steht, wird in Lk 22,16.18 deutlich: Jesus wird das Passalamm nicht mehr essen, bis es erfüllt wird ἐν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ (V. 16), und er wird vom Gewächs des Weinstock nicht mehr trinken, ἕως οὗ ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ ἔλθῃ (V. 18). Die räumliche und zeitliche Dimension ergänzen sich hier.77 4. Der dynamische Aspekt einer Herrschaft Gottes an diesem eschatologischen Ort des Heils wird zwar in dem Sinne vorausgesetzt, dass die Herrschaft Gottes die Grundlage für den Zustand des Heils in jenem eschatologischen Reich ist und das Reich Gottes das Ergebnis der vollendeten Herrschaft.78 Dieser Aspekt wird jedoch nirgendwo betont. Neben den räumlichen und temporalen bzw. eschatologischen Aspekten findet sich in der Jesusüberlieferung aber noch eine weitere Begriffskonnota76

Mit MARXSEN, Evangelist, 89. Eine ähnliche Entsprechung und Ergänzung liegt auch in Joh 3,3.5 vor, wo in zwei weitgehend parallel aufgebauten Logien einmal vom „Sehen“ der βασιλεία und einmal vom „Hineingehen“ in die βασιλεία die Rede ist. 78 Vgl. ALLISON, Jesus, 169: “An effective rule entails an established realm, and an established realm entails an effective rule.” 77

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tion, die sich weder in den räumlichen noch in den temporalen Bedeutungsrahmen einfügen lässt und eine weitere Profilierung des Konzeptes verlangt. Denn immer dort, wo es um das „Empfangen“, „Erlangen“ bzw. „Ererben“ der βασιλεία geht (vgl. Lk 20,35; 1Kor 6,9f.; 15,50), ist nicht nur die dynamische Deutung im Sinne von „Herrschaft“ sinnlos, sondern auch die räumliche wie die temporale Deutung kommen an ihre Grenzen. IV. Das Reich Gottes als eine Gabe des Heils Die Bedeutung einer Gabe bzw. eines Geschenks und Schatzes des Heils hat βασιλεία τοῦ θεοῦ überall dort, wo Menschen das Reich Gottes suchen, nach ihm Ausschau halten, es empfangen, es ererben oder Gott es ihnen gibt.79 Exemplarisch lässt sich dies unschwer am Logion aus Mk 10,14f. zeigen: Als es aber Jesus sah, wurde er unwillig und sprach zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes (τῶν γὰρ τοιούτων ἐστὶν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ). Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt (µὴ δέξηται τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ) wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen (οὐ µὴ εἰσέλθῃ εἰς αὐτήν). (Mk 10,14f.)

Bei diesem Logion ist für unsere Fragestellung zunächst die doppelte bzw. dreifache Konnotation des βασιλεία-Begriffs relevant. Am Ende in V. 15 steht die bereits bekannte räumlich-futurische Konnotation der Einlassworte: „… der wird nicht hineinkommen“. Gleichzeitig kann der Begriff durch zwei andere Verben offensichtlich problemlos mit einer weiteren Konnotation verbunden werden: Die βασιλεία „ist“ bzw. „gehört“ (ἐστίν) den Kindern (vgl. Mt 5,3.10) und alle sollen sie wie Kinder „empfangen“ (δέξηται). Im Zusammenhang dieser Verben bekommt die βασιλεία den Charakter eines Besitzes, eines Gutes oder einer Gabe. Die Bedeutungen sind kongruent, denn einen Besitz oder ein Gut kann man verschenken bzw. geschenkt bekommen. Die Übersetzung mit „Königsherrschaft“ wäre hier an allen drei Stellen sinnlos, denn wenn sie an Menschen übereignet würde, wäre sie nicht mehr die Königsherrschaft Gottes. Auffallend ist nun aber, dass diese Konnotation hier mit einem präsentischen Verständnis verbunden ist. Die βασιλεία gehört den Kindern schon jetzt und es geht darum, die Gabe der βασιλεία jetzt in der Gegenwart zu empfangen. Während also der Eintritt in die βασιλεία erst in der Zukunft möglich ist, hat sie als Gabe bereits eine präsentische Relevanz.80 Darin liegt auch die Analogie zu den Kindern. Der Vergleichspunkt liegt auf 79 Mt 5,3–12; 6,33/Lk 12,31f.; 9,35; 13,44–46; 21,43; 25,34; Mk 4,26; Mk 10,14f./Lk 18,16f.; vgl. Röm 14,17; 1Kor 6,9; 15,50; Eph 5,5; Kol 1,12f. 80 Diese doppelte Bedeutung der βασιλεία wird v.a. in den Seligpreisungen deutlich. Die βασιλεία ist schon jetzt im Besitz der Seliggepriesenen, was sie in der Gegenwart trösten und ermutigen soll, sie wird aber erst im Eschaton erfahren. Auch in Mt 21,43 geht es offensichtlich um einen präsentischen Besitz, dessen Wegnahme bzw. Neuverteilung für die Zukunft angekündigt wird.

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deren Verdienst- und Rechtlosigkeit einerseits und der daraus resultierenden Versorgungsbedürftigkeit andererseits. Sie leben buchstäblich nicht vom Verdienten, sondern vom Geschenkten.81 Wie aber soll man diesen Besitz, dieses Gut oder dieses Geschenk verstehen, wenn es weder um eine aktive Herrschaft noch um einen Herrschaftsraum und auch nicht um ein künftiges Reich geht? Die Antwort geben m.E. drei weitere Texte, in denen die βασιλεία mit verschiedenen Synonymen zum Ausdruck gebracht wird. Dies ist zum einen in der Perikope von Jesu Begegnung mit dem reichen Jüngling der Fall (Mk 10,17–27). Zunächst setzt der reiche Jüngling das Thema, sowohl des Gesprächs zwischen ihm und Jesus als auch des folgenden Gesprächs zwischen Jesus und seinen Jüngern, mit der Frage: „Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ (V. 17). Zunächst fällt das Verb ins Auge: Das eschatologische Ziel des ewigen Lebens kann hier analog zur βασιλεία „ererbt“ (κληρονοµήσω) werden (vgl. Mt 19,29; Lk 10,25 mit Gal 5,21; 1Kor 6,9f.; 15,50). Der Gabecharakter des Heils wird unterstrichen durch Jesu Zusage, dass der junge Mann einen „Schatz im Himmel“ haben werde, wenn er seinen Anweisungen Folge leistet (V. 21). Nach dem Weggang des reichen Jünglings stellt Jesus im Nachgespräch der Szene seinen Jüngern zweimal die Frage: „Wie schwer ist es (für einen Reichen) in die βασιλεία τοῦ θεοῦ zu kommen?“ (V. 23f.). Auf Jesu ebenfalls räumlich konnotiertes Nadelöhr-Logion respondieren die Jünger wiederum mit der entsetzten Frage: „Wer kann dann selig werden (σωθῆναι)?“ Offensichtlich werden das ewige Leben, die räumlich vorgestellte βασιλεία τοῦ θεοῦ (vgl. das Verb εἰσελθεῖν/hineinkommen) und die eschatologische Rettung vor dem Gericht als Synonyme verwendet.82 Das Eingehen in die βασιλεία ist identisch mit der Rettung aus dem Endgericht und der Gabe bzw. dem „Schatz“ des ewigen Lebens.83 Umgekehrt ist der Ausschluss aus der βασιλεία identisch mit dem Verlust des ewigen Lebens. Dieselbe Parallelität von „zum Leben kommen“ und „ins Reich Gottes kommen“ findet sich in Mk 9,43–48: Wenn dich aber deine Hand zum Abfall verführt, so haue sie ab! Es ist besser für dich, dass du verkrüppelt zum Leben eingehst, als dass du zwei Hände hast und fährst in die Hölle, in das Feuer, das nie verlöscht. Wenn dich dein Fuß zum Abfall verführt, so haue ihn ab! Es ist besser für dich, dass du lahm zum Leben eingehst, als dass du zwei Füße hast und wirst in die Hölle geworfen. Wenn dich dein Auge zum Abfall verführt, so wirf’s von dir! 81 Vgl. SCHENKE, Botschaft, 119: „Kleinkinder haben kein Verdienst und können keine Ansprüche geltend machen. Sie leben aus dem ihnen selbst Unverfügbaren und sind ganz auf andere angewiesen.“ 82 Vgl. KVALBEIN, Preacher, 91; ebenfalls richtig gesehen von VOS, Heiliges Land, 135. Auch in Lk 13,23.28f. werden die Formulierungen „gerettet werden“ und „zu Tisch sitzen im Reich Gottes“ synonym verwendet. 83 Vgl. KVALBEIN, Kingdom, 72; BOHLEN, Einlasssprüche, 172.

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Es ist besser für dich, dass du einäugig in das Reich Gottes gehst, als dass du zwei Augen hast und wirst in die Hölle geworfen, wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht verlöscht.

Sowohl das (ewige) Leben als auch die βασιλεία haben hier eine räumliche Konnotation, die auch durch das jeweils direkte Antonym der „Hölle“ bestätigt wird. Das Gegenteil von „zum Leben eingehen“ (εἰσελθεῖν εἰς τὴν ζωήν) ist hier „in die Hölle fahren“ (ἀπελθεῖν εἰς τὴν γέενναν) bzw. „in die Hölle geworfen werden“ (βληθῆναι εἰς τὴν γέενναν). Wie austauschbar die Begriffe sind, zeigt sich auch beim synoptischen Vergleich, wo Mt 18,9 im Blick auf die Verführung durch das Auge die Formulierung vom „Eingehen ins Leben“ wählt, während Mk 9,47 vom „Eingehen ins Reich Gottes“ spricht.84 Schließlich findet sich auch im sog. „Gleichnis vom großen Weltgericht“ (Mt 25,31–46) der äquivalente Gebrauch vom „Ererben des Reiches Gottes“ (V. 34) und dem „Eingehen in das ewige Leben“ (V. 46), wobei auffällt, dass die jeweiligen Verben offensichtlich austauschbar sind zwischen den Substantiven und das Antonym wiederum die Hölle bzw. das „ewige Feuer“ (V. 41) oder die „ewige Strafe“ (V. 46) ist.85 Sowohl das Reich Gottes als auch das ewige Leben können „ererbt werden“ (Mt 25,34; Mk 10,17) und man kann in sie hineingehen, hineingelangen oder hineinkommen (Mt 19,23f./Mk 10,23.25; Mt 25,46; Mk 9,43.45.47). Raum- und Geschenk- bzw. Besitzcharakter der βασιλεία überlagern sich hier.86 Entscheidend für unsere Fragestellung ist hier die Beobachtung, dass in diesen Logien die βασιλεία τοῦ θεοῦ durch das Äquivalent „ewiges Leben“ wiedergegeben werden kann87 und damit mit einer Formulierung, die einer hellenistischen Leserschaft als Heilsbegriff deutlich geläufiger war als der jüdische Begriff βασιλεία τοῦ θεοῦ. Dieser war für die griechischsprachigen Hörer entweder unverständlich oder – noch problematischer – verdächtig, trug er doch stets eine politische Konnotation in sich, die das frühe Christentum gerade vermeiden wollte (vgl. Joh 18,36; Röm 13,1–7; 1Petr 2,13 u.ö.) und die auch Jesus im Unterschied zum frühjüdischen Begriffsgebrauch nicht mit seiner βασιλεία-Verkündigung verband. Dieser Umstand erklärt, warum wir im Johannesevangelium nur in zwei Belegen und in den unumstrittenen Paulusbriefen nur in sieben Belegen den

84 Vgl. LEHTIPUU, Afterlife, 291: “it is clear that the term ‘kingdom of God’ means the final destiny of the faithful.” 85 Vgl. auch Mt 13,42f., wo κάµινος τοῦ πυρός als Antonym zu βασιλεία τοῦ πατρὸς αὐτῶν steht. 86 Vgl. BOHLEN, Einlasssprüche, 173: „Die unterschiedlichen Vorstellungen konkurrieren dabei nicht miteinander, sondern interpretieren sich gegenseitig.“ 87 Vgl. auch Mt 18,8f. und im Blick auf die eschatologische Destination umkehrender Zöllner Lk 19,9 (σωτηρία) mit Mt 21,31 (βασιλεία); ferner HAACKER, Implicit Christology, 143.

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Begriff βασιλεία τοῦ θεοῦ finden.88 Sowohl Johannes wie Paulus beschreiben das von Christus verkündete Reich Gottes sachgemäß im Sinne einer Gabe des Heils als das (ewige) „Leben“89 oder allgemein als „Heil“ (σωτηρία)90 und erwähnen das Reich Gottes nur an einigen wenigen Stellen. Dabei überführt der vierte Evangelist in Joh 3 sehr bewusst den ihm aus der Jesustradition bekannten Heilsbegriff βασιλεία τοῦ θεοῦ in den von ihm (und seinen Lesern!) bevorzugten Heilsbegriff des „(ewigen) Lebens“.91 Das Ziel des Johannesevangeliums ist es, dass seine Leser durch die Lektüre „das Leben haben“ (Joh 20,31), und für Paulus besteht die eschatologische Gabe Gottes ebenfalls im „ewigen Leben“ (Röm 6,23). Umgekehrt fällt auf, dass die Begriffe des „ewigen Lebens“ und des „Heils“ in den synoptischen Evangelien nur selten belegt sind. Abgesehen von der Perikope vom reichen Jüngling und dem Logion über den Abfall findet sich das Syntagma ζωὴ αἰώνιος bei den Synoptikern nur noch in Mt 25,4692 und Mt 19,29/Lk 18,30.93 Betrachtet man die βασιλεία aus dieser Perspektive bzw. von der Konnotation als Heilsgabe her, dann erschließt sich eine weitere Seite des Gesamtkonzepts: Die βασιλεία ist ein Raum bzw. ein Bereich, der bereits jetzt im himmlischen Heiligtum und Kult eine gegenwärtige Wirklichkeit ist, aber auf Erden erst noch als ein Ort und als eine Zeit des Heils eschatologisch erwartet wird. Er ist identisch mit der „kommenden Welt“94 und bezeichnet „den großen Heilszustand am Ende der Tage.“95 Als Besitz und Gabe des ewigen Lebens ist die βασιλεία ebenfalls eine zukünftige himmlische Wirklichkeit, die pneu88

Vgl. Joh 3,3.5 (vgl. Mt 18,3); 18,36; 1Thess 2,11f.; Gal 5,21; 1Kor 4,20f.; 6,9f.; 15,[24].50; Röm 14,17; vgl. darüber hinaus auch Eph 5,5; Kol [1,13]; 4,11; 2Thess 1,5; 2Tim 4,1.18. 89 Zu Johannes: Joh 3,15.16.36; 4,14.36; 5,24.39; 6,27.40.47.54; 10,28; 11,25f.; 12,25. 50; 16,36; 17,2f.; 1Joh 1,2; 2,25; 3,15; 5,11; 5,20. Insgesamt taucht der Begriff ζωή im JohEv 36mal auf, in den JohBr 13mal, wobei „Leben“ und „ewiges Leben“ (17mal im JohEv und 6mal in den Briefen) in der Regel synonym verwendet werden; vgl. dazu VAN DER WATT, Use, 217–228, sowie die Literatur bei FREY, Eschatologie III, 261, Anm. 95. Bei Paulus findet sich der Begriff in den unumstrittenen Briefen 26mal (vgl. z.B. Röm 2,7; 5,21; 6,22f.; Gal 6,8 u.ö.); vgl. auch 1Tim 1,16; 6,12; Tit 1,2; 3,7. 90 Röm 1,16; 10,1.10; 11,11; 13,11; 2Kor 1,6; 6,2; 7,10; Phil 1,19.28; 2,12; 1Thess 5,8f. 91 Vgl. FREY, a.a.O., 248; ebenso HENGEL/SCHWEMER, Jesus, 425. 92 Vgl. zur Stelle DEINES, Gerechtigkeit, 120. 93 Der Begriff „Leben“ im soteriologischen bzw. eschatologischen Sinn findet sich in Mt 7,14; 10,39; 16,25/Mk 8,35/Lk 9,24; vgl. auch Lk 17,33. 94 Mt 12,32; Mk 10,30; Lk 16,8; 20,34f.; Joh 12,25; Eph 1,21; 2,7. 95 WINDISCH, Sprüche, 164. Ähnlich SCHENKE, Botschaft, 107 (ferner a.a.O., 109f. 115), der von einem „künftigen, wenngleich nahen, weltzeitlichen Zustand“ spricht, „der anders als die gegenwärtige Weltzeit davon geprägt sein wird, dass Gott dann unbestritten und umfassend königlich herrscht, und zwar jenseits des Gerichts über die in der Gegenwart noch wirksamen Widersacher.“

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matisch jedoch bereits gegenwärtig gesucht, empfangen und besessen werden kann, die aber erst eschatologisch sichtbar werden wird. V. Cruces interpretum Die bisherige Interpretation der βασιλεία τοῦ θεοῦ in der Verkündigung Jesu muss sich nun noch an den klassischen cruces interpretum bewähren. Dabei handelt es sich um die Logien von der Dämonenaustreibung durch den Finger Gottes, das sog. Exorzismuslogion (Lk 11,20/Mt 12,28), das Logion von der βασιλεία, die ἐντὸς ὑµῶν ist (Lk 17,20f.), und den sog. Stürmerspruch (Lk 16,16/Mt 11,12). Die Komplexität und Rätselhaftigkeit dieser drei Logien hat sich bis in die Gegenwart hinein nicht gelöst. Aus diesem Grund erscheint es methodisch nicht sinnvoll, dem Weg von C.H. Dodd zu folgen, dem das Exorzismuslogion als dictum probantium für sein Konzept einer realized eschatology diente, die wiederum zum Grundparadigma seiner Ethik wurde. Entsprechend deutete er alle βασιλεία-Belege vom Exorzismuslogion her und die große Mehrheit der Exegeten folgte ihm im 20. Jahrhundert dabei. M.E. muss der Weg dagegen in umgekehrter Richtung beschritten werden: Der Ausgangspunkt kann nicht bei einer crux interpretum liegen, deren Aussage singulär ist (und zwar nicht nur in den Evangelien, sondern im gesamten Neuen Testament!), sondern vielmehr muss umgekehrt ein auf der Grundlage aller anderen Belege erarbeitetes Konzept seine Deutungskraft auch an einer crux interpretum erweisen und sich ggf. von dieser her modifizieren lassen. Da der rätselhafte Stürmerspruch aufgrund seiner “obscurity and ambiguity”96 für unsere Frage wenig austrägt, kann er hier beiseite gelassen werden. 1. Das Exorzismuslogion (Lk 11,20/Mt 12,28) Das Exorzismuslogion ist in seiner Wirkungsgeschichte kaum zu überschätzen. Nahezu alle großen Entwürfe des 20. Jahrhunderts nahmen bei diesem Logion entweder ihren Ausgangspunkt oder fanden in ihm ihren Schwer- und Mittelpunkt.97 Von diesem Logion aus wurde das gesamte Wirken Jesu als Verwirklichung, Herbeiführung, Aktualisierung, Vorabschattung, Anbruch oder Einstand der βασιλεία oder gar als realized eschatology und Vergegenwärtigung der Zukunft verstanden, obwohl diese Deutung nirgendwo sonst in den Evangelien, geschweige denn im übrigen Neuen Testament einen Widerhall findet.98 Von daher ist es zwingend, diesem Logion eine größere Aufmerksamkeit zu widmen: 96

MEIER, Marginal Jew II, 403. MEIER, a.a.O., 399, spricht von einem „star witness“. 98 Es gibt wenige Jesus-Logion, die in der Forschung, v.a. aufgrund des Differenzkriteriums, so einmütig – und überraschend unkritisch – als authentisch bewertet werden wie das Exorzismus-Logion; vgl. nur die Belegauswahl bei EVANS, Exorcisms, 171, Anm. 46, 97

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Wenn ich aber durch Gottes Finger (Mt: Geist) die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen (ἄρα ἔφθασεν ἐφ᾽ ὑµᾶς ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ). (Lk 11,20)

Eine wichtige Frage betrifft die Alternative zwischen „Geist“ (Mt) und „Finger“ (Lk). Die lukanische Variante „Finger Gottes“ ist wahrscheinlich ursprünglicher als die matthäische Variante mit „Geist Gottes“.99 Es handelt sich dabei um eine Anspielung auf Ex 8,15, wo Mose von den ägyptischen Zauberern aufgrund seiner Wundermacht als der „Finger Gottes“ tituliert wird.100 Im Kontext von Lk 11,20 bedeutet dies: Wie damals die ägyptischen Zauberer mit ihren Künsten Mose gegenüberstanden, so stehen in der Gegenwart die Gegner Jesu mitsamt den Exorzismen ihrer „Söhne“ nun Jesus gegenüber.101 Unabhängig von dieser Frage hat das Exorzismuslogion unter allen ReichGottes-Logien aus einer Reihe von Gründen eine singuläre Stellung: 1. Es ist das einzige βασιλεία-Logion, für das die Übersetzung „Königsherrschaft Gottes“ bzw. „Gottesherrschaft“ sinnvoll ist, denn es geht zwar im Kontext des Logions um die Eroberung von Territorien (vgl. Lk 11,17f.21f./ Mt 12,25f.29), aber es ist evident, dass es sich hier um einen Kampf um Macht und die Vorherrschaft über Territorien handelt. 2. Das Exorzismuslogion ist neben Lk 10,9/Mt 10,7f. das einzige Logion, das eine Beziehung zwischen der βασιλεία und Jesu Heilungen, Exorzismen und Wundern herstellt.102 Während ein Großteil der Ausleger diesen Konnex als fundamental und zentral für die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu betrachtet, gibt es dafür nur diese beiden Belege. Bei der Dominanz, die sowohl die Reich-Gottes-Verkündigung auf der einen als auch die Heilungen und Exorzismen Jesu auf der anderen Seite in den Evangelien generell, v.a. aber im Markusevangelium haben, ist es bemerkenswert, dass diese Verbindung weder in Mk 3,22–27 noch irgendwo sonst im Markusevangelium erwähnt wird. sowie MERKEL, Gottesherrschaft, 142f.; MEIER, Marginal Jew II, 404.413–422. Lediglich die ältere Forschung (vgl. z.B. MERKLEIN, Botschaft, 53, Anm. 45) und Exegeten, die bei Jesus nur eine rein zukünftige βασιλεία-Erwartung erkennen wollen (z.B. SANDERS, Jesus, 133–141), lehnen die Authentizität des Logions ab. 99 Es wäre angesichts des generellen Interesses am Wirken des Heiligen Geistes, der die gesamte heilsgeschichtliche Konzeption nicht nur begleitet, sondern „Motor“ und Initiator des Geschehens von den Geburtsgeschichten an bis hin zur Mission der Apostel ist, überraschend, wenn Lukas „Geist“ hier durch „Finger“ ersetzt hätte (so auch MEIER, Marginal Jew II, 410; HENGEL, Finger, 89; EVANS, Exorcisms, 170f.; THEISSEN/MERZ, Jesus, 237). Zwar hat Lukas auch eine Vorliebe für die Beschreibung göttlichen Handelns durch die „Hand Gottes“ (vgl. Lk 1,66; Act 4,28); das ist aber etwas anderes als der „Finger Gottes“. 100 Die Formulierung ist singulär im Neuen Testament, ebenso wie die Anspielung auf Ex 8,15. Auch in der rabbinischen Literatur gibt es nur eine sehr späte Referenz in der Exodus Rabba (ExR 10,7). 101 THEISSEN/MERZ, a.a.O., 237; vgl. zum Ganzen auch HENGEL, a.a.O., 87–106. 102 Vgl. EVANS, a.a.O., 170.

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3. Es ist das einzige βασιλεία-Logion, das in einer Satzkonstruktion mit dem Verb φθάνειν steht und nicht mit einer Form von ἐγγύς bzw. ἐγγίζειν wie in Mk 1,15; Mt 10,7f./Lk 10,9; Lk 21,31 oder mit einer Form von ἐλθεῖν wie in Mt 6,9/Lk 11,2 und Mk 9,1. Im Profangriechischen hatte φθάνειν ursprünglich die Bedeutung von „zuvorkommen, zuvortun, voraussein, überholen“, oft in Verbindung mit einem komparativen Element.103 In späterer Zeit tritt dieses Element zurück und die Semantik erweitert sich zur Bedeutung „erreichen“, „ankommen, herankommen, gelangen“, was schon in der Septuaginta sichtbar wird und allgemein auch für das Exorzismuslogion angenommen wird.104 Unstrittig ist die präsentische Bedeutung des im Aorist stehenden Verbs; es geht hier zweifellos um eine gegenwärtige Realität. Die Frage ist nur, um welche. Von großer Bedeutung ist die Tatsache, dass auch die ursprüngliche Bedeutung „zuvorkommen“ in hellenistischer und frühjüdischer Zeit noch belegt ist (Philo, All 3,215; Josephus, Ant 7,247; 8,210; Vita 15), sogar im Neuen Testament (1Thess 4,15). Es ist somit ohne Weiteres möglich, die fragliche Passage auch mit „… so ist die βασιλεία τοῦ θεοῦ (schon) zuvor auf euch gekommen“ zu übersetzen oder paraphrasiert im Sinne von: „… so kommt die gegenwärtig schon im Himmel verwirklichte βασιλεία τοῦ θεοῦ schon vor ihrem eigentlichen Anbruch auf Erden am Ende der Zeit in meinem exorzistischen Wirken punktuell auf euch.“105 4. Es ist das einzige Jesuslogion, in dem die βασιλεία in eine Beziehung bzw. einen kosmischen Konflikt mit Satan gestellt wird.106 Wir haben eine Reihe von Logien, in denen die βασιλεία als Antonym für die Hölle dient (Mk 9,42–48; Mt 25,34.41), aber kein weiteres synoptisches Logion, wo das Reich Gottes mit dem Sieg über den Satan in Verbindung gebracht wird.107 5. In der Konsequenz ist es schließlich auch das einzige Logion, in dem die βασιλεία eine negative Konnotation einschließt, nämlich die des Gerichts über den besiegten Satan. Während in allen anderen βασιλεία-Belegen die 103

FITZER, Art. φθάνω, 90. FITZER, a.a.O., 90f.93f. So auch THEISSEN/MERZ, Jesus, 236: „Das Verb ‚ankommen‘ (φθάνειν) […] meint mehr als ein ‚Nahe-herbeigekommen-Sein‘. Es kann ‚einholen‘ und ‚überholen‘ bedeuten.“ 105 Ähnlich HASLER, Art. φθάνω, 1008: „Dadurch war nicht das von Jesus als nahe verkündigte, himmlische Gottesreich bereits eingetroffen […]. Nur seine dämonenbezwingende Macht gelangte vor die Augen der Gegner (ἔφθασεν Aor. und ἐπί mit Akk.).“ SANDERS, Jesus, 134, verweist auf TestAbr 1,3 (Rez. A), wo der Verfasser einleitend schildert, dass auch zu Abraham der „Kelch des Todes kam“ (ἔφθασεν), was jedoch nicht bedeutete, dass er sofort starb, sondern lediglich, dass damit sein künftiger Tod an sich bestimmt wurde. 106 Entsprechend deutet EVANS, Exorcisms, 165, das Exorzismuslogion maßgeblich vor dem Hintergrund der frühjüdischen Tradition des kosmischen Kampfes zwischen Gott und Satan, vgl. Dan 2,44; 7,18.22Θ.27; 10,13f.; TestDan 5,10–13; 1QM 6,6; AssMos 10,1ff. und Sib 3,767. 107 Vgl. aber Lk 10,18 sowie Joh 12,31; 16,11; 1Kor 15,24–28 (dort aber „Reich Christi“) und Apk 12,5ff. 104

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βασιλεία eine ausschließlich positive Konnotation als (heller) „Raum des Heils“ (im Gegensatz zur Dunkelheit „draußen“, wo Heulen und Zähneklappern herrscht), „Zeit des Heils“ oder „Gabe des Heils“ besitzt, ist es beim Herrschaftsaspekt unumgänglich, auch die negative Herrschaft über Feinde und Gegner mitzubedenken, die eo ipso Voraussetzung für die positive Herrschaft über das Volk Gottes ist.108 Im Blick auf die Interpretation des Logions ergeben sich daraus verschiedene Überlegungen: Möglicherweise muss das bisher erarbeitete Konzept von βασιλεία τοῦ θεοῦ als „Raum des Heils“, „Zeit des Heils“ und „Gabe des Heils“ erweitert werden um den Aspekt einer präsentischen „Herrschaft des Heils“, die in Jesu Exorzismen und Heilungen zum Ausdruck kommt.109 Hans Kvalbein hält neben dieser Option auch noch die Deutung auf “the new eschatological order, parallel to the rabbinic expression for the place of salvation: ‫עולם הבא‬, the coming world (e.g. Sanh. 10)” für möglich und gibt dieser auch den Vorzug.110 Mit Recht betrachtet Martin Hengel den im „Finger Gottes“ gegebenen Hinweis auf Ex 8,15 als den Schlüssel zum Verständnis des Logions.111 Der „Finger Gottes“ ruft die Mose-Wunder gegenüber Pharao und seinen Magiern in Erinnerung. Bei der dritten Plage versagen ihre magischen Fähigkeiten und sie müssen zugeben, dass in den Werken Moses und Aarons „Gottes Finger“ wirkt, d.h. dass Gott selbst und nicht eine magische Zauberkunst der Ursprung der Stechmückenplage ist. Dennoch bleibt der Pharao verstockt. In der Anspielung auf die Exodusstelle dürfte somit zum einen eine subtile Kritik am Unglauben der Gesprächspartner und Gegner Jesu liegen: So wie sich damals der Pharao trotz der offensichtlichen Wundermacht Gottes im Wirken Moses verstockte, so tun es nun auch jene, die hinter Jesu Exorzismen das Wirken des Beelzebul sehen wollen.112 Zum anderen aber ist die Erwähnung von „Gottes Finger“ und die damit vollbrachten Mosewunder ein Hinweis auf die konsekutive Abfolge von zeichenhaftem Sichtbarwerden und später folgender umfassender Realisierung der Befreiung des Volkes. In den mosaischen Zeichen gegenüber Pharao und seinen Magiern wurde die Macht Gottes angedeutet, die sich nachfolgend und umfassend in der Befreiung Israels aus ägyptischer Herrschaft offenbarte.113 Wenn Jesus mit der Erwähnung des „Fingers Gottes“ genau diesen Zusammenhang in Erinnerung rufen möchte, dann ist der Vers wie folgt zu paraphrasieren: „Wenn ich aber so wie Mose vor Pharao und seinen Magiern mit 108

Vgl. KVALBEIN, Jesus, 91f. So ALLISON, Jesus, 201f. 110 KVALBEIN, Preacher, 90. 111 Vgl. HENGEL, Finger, 91. 112 Vgl. HENGEL, a.a.O., 99.102. 113 Vgl. HENGEL, a.a.O., 100. 109

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dem Finger Gottes machtvolle Zeichen und Wunder vollbringe, indem ich die Dämonen austreibe, dann ist darin zeichenhaft und punktuell die Wirklichkeit der künftigen βασιλεία schon vor ihrem Anbruch am Ende der Zeit auf euch gekommen. So wie damals der Exodus und die Befreiung aus der Knechtschaft die Folge dieser Zeichen war, so wird die künftige Heilszeit auch die Folge meines Wirkens sein.“ Diese Deutung würde sowohl der zweifellos präsentischen Bedeutung von ἔφθασεν als auch dem bisher erarbeiteten βασιλεία-Konzept Rechnung tragen. Die βασιλεία als die künftige Zeit vollkommenen und umfassenden Heils bleibt ein ausschließlich positiver Begriff. Es ginge somit nicht darum, „die Herrschaft Gottes zu akzeptieren“114, sondern die von Jesus gewirkten Exorzismen als punktuelle Zeichen der nahegekommenen, aber noch zukünftigen βασιλεία wahrzunehmen, ohne dass damit schon in der Gegenwart eine umfassende innergeschichtliche Umwälzung aller Verhältnisse impliziert wäre. Auch Hengel weist an dieser Stelle die Deutung im Sinne einer „realized eschatology“ als eine „zu moderne, idealistische bzw. platonisierende Interpretation der Verkündigung Jesu“ zurück und spricht von einer „punktuell im konkreten Wirken Jesu“ präsenten „Gottesherrschaft“.115 Diese Deutung entspräche schließlich sowohl der frühjüdischen wie ntl. Erwartung, welche die Wirklichkeit der βασιλεία mit dem Sieg über Satan und dessen Vernichtung verbindet.116 Von einem endgültigen Sieg über Satan durch das gegenwärtige Wirken Jesu kann trotz Lk 10,18117 weder in der Verkündigung Jesu noch sonstwo im Neuen Testament die Rede sein.118 Das wird gerade in Lk 11,17–23/Mt 12,25–30 deutlich, wo es um ein kontinuierliches Ringen um Raumgewinn geht, nicht um einen schlagartigen und endgültigen 114

So EVANS, Exorcisms, 173. HENGEL, Finger, 103. 116 AssMos 10,1.7–10; TestDan 5,10–13; Jub 23,29; 1QM passim; Apk 12,7–10; 20,1– 3.10. 117 Die Hintergründe des Logions, dessen Authentizität allgemein anerkannt wird, bleiben sehr undeutlich. Es lässt sich nicht klären, ob es auf eine Vision Jesu zurückgeht oder sich lediglich einer bildhaften Ausdrucksweise bedient. Auch die Implikationen dieses Satanssturzes, die über einen gewissen Machtverlust hinausgehen, bleiben ungenannt. Dass Satan seinen himmlischen Aufenthaltsort verloren hat, könnte bedeuten, dass er die ihm bislang zugestandene Rolle als Ankläger im himmlischen Thronrat verloren hat (vgl. Hi 1,6–12; 2,1–6; Sach 3,1; Ps 109,6; äthHen 40,7; Jub 1,20; 48,15.18; Röm 8,34; Apk 12,5ff.; ferner MERKLEIN, Botschaft, 61). 118 Genau dies aber scheint MERKLEIN, a.a.O., 61, anzunehmen: „Das Charakteristische an Lk 10,18 besteht nun darin, daß das, was das apokalyptische Denken für die Zukunft der Endzeit erwartet, für Jesus bereits geschehen ist. Der himmlische Entscheidungskampf ist entschieden, Satan ist entmachtet.“ Vgl. dagegen Mt 8,31; 15,22; Mk 4,15; Lk 8,12; 9,42; 13,16; 22,3.31; Joh 13,27; Act 5,3; 26,18; Röm 16,20; 1Kor 5,5; 7,5; 10,19–22; 2Kor 2,11; 11,14; 12,7; 1Thess 2,18; 2Thess 2,9; 1Tim 1,20; 5,15; 1Petr 5,8; Jak 2,19; 4,7; Apk 2,9. 13.24 u.ö. 115

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Sieg. Ein solcher wird allgemein erst im Eschaton und damit in der zukünftigen βασιλεία erwartet. So undeutlich vieles in diesem Logion bleibt und möglicherweise bleiben muss, so können wir doch folgende Punkte festhalten: 1. Es geht um ein Kampfesgeschehen, in dem sich das zerstörerische und unheilvolle Reich Satans und das heilvolle und befreiende Reich Gottes feindlich gegenüberstehen. 2. Es geht jeweils um das Ziel, einen „Raumgewinn“ (vgl. die Begriffe „Stadt“, „Haus“) im Bereich des Feindes zu erzielen. Jesu Macht über die bösen Geister markiert einen solchen Raumgewinn, der mit dem Kommen der βασιλεία in Verbindung gebracht wird.119 3. Diese βασιλεία kommt zuvor „über“ bzw. „auf“ die Hörer (ἐφ᾽ ὑµᾶς), ist für diese jedoch weder sichtbar noch direkt identifizierbar. Sie kommt vielmehr überraschend vorgezogen. Ferner bleibt sie missverständlich und interpretationsbedürftig, sonst wäre sie ja auch Jesu Gegnern unmittelbar evident. Stattdessen wird sie erst durch die Deutung der Exorzismen durch Jesus selbst verständlich. Es geht somit um eine neue Wirklichkeit des Heils, die den natürlichen Sinnen noch verborgen ist,120 aber indirekt in der Heilung und Befreiung von Dämonen zum Ausdruck kommt. 4. Deutlich ist, dass das Verb φθάνειν schon die Präsenz der βασιλεία meint, nicht nur ihr Nahekommen.121 Allerdings hebt das zeichenhafte Aufleuchten der βασιλεία in den Exorzismen die Zukünftigkeit des Reiches nicht auf, sondern setzt diese vielmehr voraus,122 denn die βασιλεία ist ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass es keinen Satan und keine Exorzismen mehr geben wird.123 5. In den Exorzismen Jesu vollzieht sich offensichtlich ein Vorgang, der in einer Verbindung mit dem endzeitlichen Reich Gottes steht. Der endzeitlich verheißene und erhoffte Triumph über Satan, der im Himmel schon vollzogen ist (Lk 10,18), und über die Macht des Bösen bildet sich in diesen Vorgängen ab, die deshalb umgekehrt das Potential von Zeichen bzw. Hinweisen auf die βασιλεία besitzen und ihr in ihrer Wirkung entsprechen. Dies alles zusammengenommen legt nahe, dass mit dem Wirken Jesu noch nicht das endzeitlich erwartete Gottesreich in Erfüllung geht, geschweige denn, dass es „offenbar“ und für jedermann sichtbar und eindeutig wäre. Von 119

Ebenso SCHENKE, Botschaft, 134; WOLTER, Gottes reich, 14. Richtig gesehen von SCHENKE, a.a.O., 135. 121 Vgl. hierzu DEINES, Gerechtigkeit, 115. 122 So überraschenderweise auch MERKLEIN, Botschaft, 65, der jedoch um vermittelnde Formulierungen ringt: „Sie [sc. die Exorzismen; V.G.] sind zwar nicht identisch mit der Gottesherrschaft, oder besser gesagt, mit dem Geschehensziel der Gottesherrschaft. Doch ereignet sich in ihnen bereits das Geschehen der Gottesherrschaft, so daß ich sie als ‚Geschehensereignis‘ der Gottesherrschaft bezeichnen möchte.“ 123 SCHENKE, a.a.O., 134. 120

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einer unabweisbaren Eindeutigkeit kann hier keine Rede sein. Aber Jesu Wirken dokumentiert einen territorialen Raumgewinn im Reich Satans, dessen Einfluss zurückgedrängt wurde. 2. Lk 17,20f. Sowohl von der Bekanntheit als auch von der Bedeutung für die Frage nach dem (präsentischen) Verständnis der βασιλεία her steht Lk 17,20f. dem Exorzismuslogion kaum nach: Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man’s beobachten kann (οὐκ … µετὰ παρατηρήσεως); man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es!, oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist ἐντὸς ὑµῶν. (Lk 17,20f.)124

In diesem Logion wird die βασιλεία als eine Wirklichkeit beschrieben, die wesentlich dadurch charakterisiert ist, dass sie unsichtbar und auch nicht verifizierbar ist. Jesus antwortet auf die Frage der Pharisäer nicht mit einer temporalen, sondern einerseits mit einer modalen Aussage („nicht mit Beobachtung“; οὐκ … µετὰ παρατηρήσεως) und andererseits mit einer lokalen Aussage (nicht hier oder dort, sondern ἐντὸς ὑµῶν). In der modalen Aussage, dass das Reich Gottes nicht µετὰ παρατηρήσεως kommt, wird ein Begriff verwendet, der als Substantiv ein Hapaxlegomenon ist und auch in der Septuaginta und in den frühjüdischen Apokryphen und Pseudepigraphen nicht vorkommt.125 Die Formulierung bezieht sich wahrscheinlich auf die Abwesenheit sichtbarer Phänomene, von denen her auf das Kommen der Gottesherrschaft geschlossen werden könnte. Im Hintergrund steht möglicherweise die apokalyptische Erwartung, dass sich das Kommen des Reiches durch Prodigien in der Natur, am Himmel oder in historischen Geschehnissen ankündigt, die dann vom Kundigen entsprechend gedeutet werden können.126 124

Das Logion gehört zum lukanischen Sondergut, findet sich aber noch zweimal in EvThom 3 und 113 in so verschiedenen (gnostischen) Versionen, dass sie nicht beide als redaktionelle Bearbeitungen von Lk 17,21 betrachtet werden können; vgl. THEISSEN/ MERZ, Jesus, 238. Für die Echtheit des Logions sprechen sich auch MEIER, Marginal Jew II, 429f., und SCHENKE, Botschaft, 122, aus. MEIER, a.a.O., 424, weist auf die vielfältigen Probleme des Logions hin: “The apparently simple statement of Luke 17:20–21 actually bristles with complicated problems of translation and interpretation. The meaning of individual words is unclear, the source of the logion is debated, and the saying lacks multiple attestion.” 125 Das Verb παρατηρέω findet sich in Lk 6,7; 14,1; 20,20; Act 9,24 und Gal 4,10. 126 SCHWEMER, Kommen, 119: „Gemeint sei das apokalyptische Beobachten von Vorzeichen in der Natur, im Himmel und bei historischen Ereignissen, um das Ende der Zeit zu berechnen und vorherzusagen“; ebenso MEIER, a.a.O., 424f.; vgl. äthHen 91.93; syrBar 53–74; Josephus, Bell 6,288–315, aber auch Mk 8,12; Lk 11,16.29; 12,56.

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In der lokalen Aussage ist es vor allem die Bedeutung des abschließenden ἐντὸς ὑµῶν, die in der Forschung höchst umstritten ist.127 Im Wesentlichen wurden bislang drei Alternativen diskutiert: 1. Dem gewöhnlichen griechischen Wortgebrauch am nächsten käme die sog. „idealistische“ oder „spirituelle“128 Übersetzung: „die βασιλεία τοῦ θεοῦ ist in eurem Inneren/innerhalb von euch“ (so auch EvThom 3.113 und fast durchweg bei den Kirchenvätern). 2. Tertullian (Marc 4,35) wählte die in der Folge immer wieder begegnende Übersetzung: „sie ist in eurem Bereich bzw. Besitz / sie steht euch zur Verfügung“.129 Diese Deutung wirft allerdings mehr Fragen auf, als sie beantwortet. 3. Im 20. Jahrhundert hat sich – auch in nahezu allen deutschen Bibelübersetzungen – die Übersetzung „die βασιλεία τοῦ θεοῦ ist mitten unter euch“ durchgesetzt.130 Nach dieser Übersetzung wäre die βασιλεία in den Exorzismen und Heilungen Jesu schon unerkannt inmitten der Zeitgenossen gegenwärtig.131 Als eine Variante dieser Alternative wurde von Joachim Jeremias und Rudolf Bultmann die futurische Bedeutung „die Gottesherrschaft wird (unverhofft plötzlich) in eurer Mitte sein“ vorgeschlagen,132 was aber keine Resonanz in der Forschung fand, weil die Interpretation auf einer Konjektur beruht und vom Text nicht gedeckt wird. Die heute allgemein übliche Übersetzung „ist in eurer Mitte/mitten unter euch“ entspricht zwar Lk 11,20/Mt 12,28 und Lk 7,22/Mt 11,5, aber sie ist sprachlich ungewöhnlich133 und lässt sich nirgendwo überzeugend belegen.134 127

Vgl. hierzu SCHWEMER, Kommen, 121–135; MEIER, Marginal Jew II, 426–428. Vgl. THEISSEN/MERZ, Jesus, 238. 129 So auch LINDEMANN, Art. Herrschaft Gottes, 205. Vgl. dagegen die Kritik von WEDER, Gegenwart, 39, Anm. 55, der diese Übersetzung ablehnt, weil es „mit der Verkündigung Jesu absolut unvereinbar“ sei, „daß die Gottesherrschaft in der Verfügbarkeit des Menschen wäre.“ 130 SCHWEMER, a.a.O., 130–135; MEIER, a.a.O., 426f. Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.) tritt im ersten Teil seiner Jesus-Trilogie für die auf Origenes, MtComm 14,7 (PG 14,1197, zu Mt 18,23), zurückgehende Autobasileia-These ein, wonach das Reich in der Person Jesu erschienen ist und Jesus somit selbst im Sinne einer verhüllten Christologie das „Reich“ ist (vgl. RATZINGER, Jesus, 79.89f.). Allerdings wäre das Verständnis von Jesus selbst als „inkarnierter βασιλεία“ singulär im Neuen Testament. 131 Vgl. MEIER, a.a.O., 427. 132 JEREMIAS, Theologie I, 104; BULTMANN, Theologie, 5; neuerdings SCHENKE, Botschaft, 122f. Früher haben bereits A. Loisy und W. Wrede diese Deutung präferiert. 133 In der Regel bedeutet ἐντός „innen“, „inwendig von“ oder „innerhalb eines bestimmten Bereichs“; vgl. Mt 23,26 (τὸ ἐντός: „das Innere des Bechers“). Die Präposition hat meistens eine limitierende Funktion und wird in Relation zu bestimmten Grenzen, Limits oder Fristen verwendet. Oft wird die Präposition auch antithetisch und kontrastierend verwendet, vgl. wiederum Mt 23,26 und Ignatius, Tr 7,2, um anzuzeigen, dass sich etwas nicht außen bzw. außerhalb eines Bereichs, sondern innen bzw. innerhalb einer bestimmten Größe befindet. 134 Auch SCHWEMER, a.a.O., 133, gibt zu, dass es vor allem „sachliche Gründe“ sind, die diese Übersetzung nahelegen. 128

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Zwar wird für die vorgeschlagene Bedeutung von ἐντὸς ὑµῶν immer wieder eine Reihe von Belegen angeführt,135 jedoch hat Tom Holmén die Unhaltbarkeit dieser Übersetzung an den genannten Stellen nachgewiesen.136 In Lk 17,20f. wäre sie nur möglich, wenn die Pharisäer als jene Gruppe verstanden werden würde, innerhalb derer die βασιλεία vorhanden ist bzw. von der sie besessen wird im Gegensatz zu allen anderen Menschen und Gruppen außerhalb der Pharisäer.137 Eine räumliche Lokalisierung der βασιλεία unter den Angesprochenen – etwa in der Person Jesu – wird im Übrigen in V. 21 explizit abgelehnt: „Man wird nicht sagen: Siehe, hier ist es oder dort.“ Schließlich benutzt das Lukasevangelium für die Bedeutung „in eurer Mitte/mitten unter euch“ normalerweise die Wendungen ἐν ὑµῖν oder ἐν µέσῳ ὑµῶν (vgl. Lk 2,46; 8,7; 21,21 u.ö.).138 Somit bleibt rein sprachlich die erste Alternative nicht nur die wahrscheinlichste, sondern die einzig mögliche.139 Sie entspricht dem Begriffsgebrauch in Mt 23,26, der einzigen ntl. Parallele von ἐντός in substantivierter Form, und wurde auch von den Kirchenvätern bevorzugt140 und dies, obwohl sie in den antignostischen Auseinandersetzungen die problematischste Lösung war.141 “The only solution to why the Fathers did not utilize this type of argumentation [sc. die Übersetzung mit ‘in eurer Mitte/mitten unter euch’; V.G.] seems to be that ‘within’ was the only rendering of ἐντός they could recall here.”142 Bemerkenswerterweise deuten Tertullian, Cyprian, Origenes, Peter von Alexandrien und Athanasius das Logion im Horizont von Dtn 30,11–14, 135

Herodot, Hist 7,100; Xenophon, Hist 2,3,19; An 1,10,3; Platon, Leg 7,789; Phaid 247a; Josephus, Ant 6,315; Arrian, An 5,22,4 und v.a. aus den griechischen Übersetzungen des Alten Testaments bei Symmachus Ps 87(88),6; 140(141),5; Lam 1,3 und bei Aquila Ex 17,7; 34,9 und Hi 2,8. 136 HOLMEN, Alternatives, passim. In Schwemers Plädoyer für die „Mitten-unter-euchLösung“ wird Holméns wesentlicher Beitrag leider ignoriert (vgl. SCHWEMER, Kommen, passim). 137 Vgl. HOLMÉN, a.a.O., 209f. 138 THEISSEN/MERZ, Jesus, 238. Vgl. dazu ausführlich MEIER, Marginal Jew II, 423– 430.477–483, bes. 483, Anm. 144. 139 Ähnlich THEISSEN/MERZ, a.a.O., 238. 140 Vgl. die Belege bei HOLMÉN, a.a.O., 223, Anm. 91. 141 Das Logion wird in gnostischen Texten wie EvThom 3 und 113 aufgenommen, um das gnostische Verständnis der Erlösung als einer inneren Erkenntnis unsichtbarer und zugleich universaler Weisheit zu untermauern. Im ebenfalls gnostischen „Evangelium nach Maria“ (p. 8,11–9,5) ist es der Menschensohn, der im Inneren des Gnostikers existiert und dort auch gesucht werden soll. Es war dann Origenes, der diese „idealistische Deutung“ des Gottesreiches auf die Innerlichkeit des Menschen zur Grundlage des enthusiastischmystischen Schrifttums der monastischen Tradition einerseits und der großen Theologen des 3. Jahrhunderts andererseits machte (vgl. zum Ganzen SCHWEMER, a.a.O., 121–131). 142 HOLMÉN, a.a.O., 225. Vgl. zu den gnostischen Verwendungen des Wortes auch SCHWEMER, a.a.O., 122–131.

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wo das Toragebot in antithetischer Diktion nicht als ferne, sondern als nahe „in deinem Mund und in deinem Herzen“ charakterisiert wird. Vor dem Hintergrund der bislang entfalteten Bedeutungsaspekte könnte das Logion durchaus bedeuten, dass die βασιλεία im Sinne der Heilsgabe des ewigen Lebens schon jetzt in einem Menschen sein kann, der glaubt. Diese Deutung legt auch der Kontext im Lukasevangelium nahe. Die vorausgehende Perikope von den zehn Aussätzigen schließt mit Jesu Wort an den umgekehrten Samariter: „Dein Glaube hat dich gerettet“ (Lk 17,19). Das Logion wäre damit in seiner antithetischen Diktion gar nicht als Antwort auf die pharisäische Frage nach dem künftigen Kommen des Reiches zu verstehen. Es würde vielmehr auf die auch für Pharisäer bestehende Möglichkeit hinweisen, die noch unsichtbare Heilsgabe der βασιλεία im Sinne des ewigen Lebens schon jetzt durch den Glauben zu besitzen.143 Die Konfliktlinie zwischen Jesus und den Phärisäern wäre somit nicht die Eschatologie,144 sondern die Anthropologie und Soteriologie ganz analog zu Mk 7,15. Nicht die Frage nach dem Kommen des Reiches, sondern jene nach dem rechten Sein des Menschen im Horizont des kommenden Reiches ist für Jesus die entscheidende. Das Logion wäre vor diesem Hintergrund eine Entsprechung zur johanneischen Theologie mit ihrer präsentischen Eschatologie. VI. Ergebnis Der Ausgangspunkt war die Frage nach der Bedeutung des Begriffs βασιλεία τοῦ θεοῦ in der Verkündigung Jesu. Entgegen der forschungsgeschichtlich dominierenden dynamischen Deutung im Sinne eines aktiven Herrschens und Regierens zeigte sich, dass die Texte selbst im Unterschied zur frühjüdischen Begriffsverwendung in ihrer Mehrzahl eine räumliche Konnotation haben. Das räumliche Verständnis wird in verschiedenen Belegen durch eine temporale Konnotation ergänzt, die in der Regel durch die Verben „kommen“ (ἐλθεῖν) oder „nahe herankommen“ (ἐγγίζειν) zum Ausdruck gebracht wird. Dies entspricht durchaus dem frühjüdischen Konzept, wonach der bereits jetzt im himmlischen Kult gegenwärtige Herrschaftsraum Gottes endzeitlich auch auf Erden Wirklichkeit werden wird. Schließlich hat sich gezeigt, dass die βασιλεία in Texten, in denen sie gesucht, besessen, empfangen oder ererbt wird, als ein Besitz, eine Gabe, ein Gut oder ein Geschenk des Heils verstanden werden kann, was bereits als eine präsentische Wirklichkeit beschrieben wird. Konkret ist bei dieser Heils143

THEISSEN/MERZ, Jesus, 238: „Das Gottesreich könnte im Innern des Menschen als Glaube an Jesus beginnen. Lukas kann sich Pharisäer als glaubende Christen vorstellen. Das zeigt Apg 15,5.“ 144 Richtig gesehen von AALEN, Reign, 223: “The saying in Luke xvii, 20f. has consequently nothing to do with polemic against an apocalyptic understanding of the kingdom, or against the interest for signs indicating the coming of the kingdom, as is often assumed.”

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gabe an das „ewige Leben“ zu denken, das an einigen Stellen als Synonym für die βασιλεία verwendet wird (Mk 9,43–48/Mt 18,8f.; Mk 10,17.23f./Mt 19,16–26/Lk 18,18–27; Mt 25,34.46). Diese Heilsgabe kann bereits gegenwärtig empfangen werden (z.B. Mk 10,14f.; Mt 5,3.10; 6,33), wenn auch noch nicht als sichtbare Wirklichkeit. Diese Vielzahl unterschiedlicher Bilder und Perspektiven darf nicht als konkurrierend verstanden werden und sollte auch nicht auf verschiedene Überlieferungen zurückgeführt werden. Vielmehr konnte Jesus selbst in ein und demselben Logion bzw. Kontext unterschiedliche Perspektiven miteinander verbinden (z.B. Mk 10,14f.; 10,17–27; Lk 22,16.18). Die Polyvalenz liegt somit bereits im jesuanischen Begriffsgebrauch begründet.145 Der dynamische Aspekt der Herrschaft Gottes steht dagegen höchstens im Exorzismuslogion (Lk 11,20/Mt 12,28) im Vordergrund. Er muss überall insofern indirekt mitgedacht werden, als Gott an jenem künftigen Ort des Heils und in der kommenden Zeit des Heils uneingeschränkt Herr sein wird und die Heilsgabe des ewigen Lebens auf Gottes Schöpfermacht beruht. Als Übersetzung von βασιλεία τοῦ θεοῦ ist „Gottes- bzw. Königsherrschaft“ allerdings fast durchweg unbrauchbar. Der Heilsbegriff βασιλεία τοῦ θεοῦ war im jüdischen Kontext sehr geeignet, um die Vielfalt der eschatologischen Heilsaspekte zu beschreiben, wurde aber beim Übergang des Evangeliums in den hellenistisch-römischen Kulturraum schon früh durch den Begriff des „ewigen Lebens“ ersetzt.146

B. Paulus und das Reich Gottes Die einleitend skizzierten Fragestellungen zum Verständnis von βασιλεία τοῦ θεοῦ in der Verkündigung Jesus stellen sich natürlich auch hinsichtlich des Begriffsgebrauchs in der paulinischen Literatur, der nicht minder polyvalent erscheint als bei Jesus. Im Fokus dieses Beitrags steht darüber hinaus die Frage, inwiefern die paulinische Verwendung des Begriffs in Kontinuität oder Diskontinuität zu Jesu Verständnis und Gebrauch des Syntagmas steht. Wie bei der synoptischen Tradition stellen sich auch beim Corpus Paulinum die unausweichlichen Authentizitätsfragen. In jüngerer Zeit sind die fast schon dogmatisch erstarrten (Un)Echtheitsurteile wieder ins Wanken geraten,

145

So richtig gesehen von BOHLEN, Einlasssprüche, 182, die auch von einem „semantischen Geflecht“ der unterschiedlichen Kategorien und Bilder spricht (a.a.O., 184). 146 Vgl. HAACKER, Implicit Christology, 146: “Therefore the message of God’s kingdom to be revealed or realized soon is nearer to Israel’s hope as a nation, while the expectation of eternal life is more open to a version of the gospel addressing individuals irrespective of their nationality.”

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was einen Forschungskonsens in unerreichbare Ferne gerückt hat.147 Deshalb konzentriert sich die folgende Untersuchung auf die βασιλεία-Belege in den unumstrittenen Paulusbriefen. I. Die Berufung zum Reich (1Thess 2,12) Der chronologisch mit großer Wahrscheinlichkeit erste Beleg ist 1Thess 2,11f.: … wie ihr ja wisst, dass wir euch, und zwar einen jeden von euch, wie ein Vater seine Kinder ermahnt und getröstet und beschworen haben, des Gottes würdig zu wandeln (εἰς τὸ περιπατεῖν ὑµᾶς ἀξίως τοῦ θεοῦ), der euch zu seinem Reich und seiner Herrlichkeit (εἰς τὴν ἑαυτοῦ βασιλείαν καὶ δόξαν) beruft. (1Thess 2,11f.)

Durch die parallele Stellung von βασιλεία und δόξα wird deutlich, dass es bei der βασιλεία zum einen um eine futurische und zum anderen um eine soteriologische Größe geht, zu (εἰς) der Gott beruft. Die Verklärung des Glaubenden in den himmlischen δόξα-Glanz ist für Paulus eine Entsprechung zur eschatologischen Heilsgabe des ewigen Lebens und ein Ausdruck für die eschatologische Seinsform der Erlösten.148 Schon in den synoptischen Evangelien sind βασιλεία und δόξα synonyme Begriffe (vgl. Mk 10,37 mit Mt 20,21; vgl. Mk 8,38 mit 9,1). Ferner erinnert der Vers an Lk 24,26, wo der Auferstandene den Emmausjüngern durch eine rhetorische Frage erklärt, dass der Messias leiden und in seine Herrlichkeit eingehen musste (εἰσελθεῖν εἰς τὴν δόξαν αὐτοῦ). Nimmt man wahr, dass das Verb εἰσέρχεσθαι terminus technicus in den Einlasssprüchen ist und traditionsgeschichtlich auf die Exodustradition zurückgeht,149 dann berühren sich hier traditionsgeschichtlich vorgegebene Begriffsfelder. Vom Kontext her ist zudem eher an einen Raum des Heils als an eine Herrschaftsfunktion zu denken,150 da die funktionale Übersetzung in der Parallelstellung zu δόξα keinen Sinn ergäbe. Gleichzeitig appelliert Paulus an seine Leser in Thessalonich, sich dieser Berufung in die βασιλεία und zur δόξα entsprechend würdig (ἀξίως) zu verhalten.151 Das Reich hat somit den 147 Während für den Kolosserbrief stets eine große Nähe zu Paulus angenommen wird, gibt es mittlerweile Stimmen, die eine paulinische Verfasserschaft auch für den 2. Thessalonicherbrief annehmen, vgl. RÖCKER, Belial, 223–233, und FOSTER, Fresh Look, passim. Selbst im Blick auf die Pastoralbriefe ist die Diskussion durch die Arbeiten von Jens Herzer wieder eröffnet, vgl. DERS., Fiktion, passim; DERS., Gegnerproblematik, passim, und DERS., Rearranging, passim. 148 Röm 8,18.21; 1Kor 15,43; 2Kor 3,18; 4,17; Phil 3,21; vgl. auch Kol 3,4; 2Thess 2,14; 2Tim 2,10. 149 Vgl. BOHLEN, Einlasssprüche, 176.179; HAACKER, Implicit Christology, 148. 150 Ebenso WITHERINGTON, Jesus, 52. 151 Die Verbindung von βασιλεία τοῦ θεοῦ mit dem Begriffsfeld ἀξίως findet sich auch in 2Thess 1,5, wo die Gemeinde für ihre Geduld und ihren Glauben trotz aller Verfolgun-

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Charakter eines eschatologischen Heilsraumes, in den die Glaubenden bereits in der Gegenwart berufen werden und dessen Charakter sie mit ihrem alltäglichen Lebenswandel entsprechen sollen. Die Satzkonstruktion weist damit die für Paulus typische Zuordnung einer indikativischen Heilsverheißung als Begründung für eine ethische Ermahnung auf. II. Der Ausschluss vom Reich (1Kor 6,9f.; 15,50; Gal 5,21) Eine deutliche Verwandtschaft besteht zwischen den drei βασιλεία-Belegen in 1Kor 6,9f.; 15,50 und Gal 5,21, wobei sich v.a. 1Kor 6,9f. und Gal 5,21 sehr nahe stehen. Es handelt sich bei allen dreien in formgeschichtlicher Perspektive um Drohworte, die durch eine Verbindung des artikellosen Syntagmas βασιλεία τοῦ θεοῦ mit einer Negation (οὐ) und dem Verbum κληρονοµεῖν im Futur bzw. Präsens mit Futurbezug charakterisiert sind: Oder wisst ihr nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden (θεοῦ βασιλείαν οὐ κληρονοµήσουσιν)? Irrt euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Lustknaben noch Knabenschänder noch Diebe noch Habsüchtige noch Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes erben (οὐχ … βασιλείαν θεοῦ κληρονοµήσουσιν). (1Kor 6,9f.) Dies aber sage ich, Brüder, dass Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht erben können (σὰρξ καὶ αἷµα βασιλείαν θεοῦ κληρονοµῆσαι οὐ δύναται), auch die Vergänglichkeit nicht die Unvergänglichkeit erbt. (1Kor 15,50) Offenbar aber sind die Werke des Fleisches; es sind: Unzucht, Unreinheit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Hader, Eifersucht, Zornausbrüche, Selbstsüchteleien, Zwistigkeiten, Parteiungen, Neidereien, Trinkgelage, Völlereien und dergleichen. Von diesen sage ich euch im Voraus, so wie ich vorher sagte, daß die, die so etwas tun, das Reich Gottes nicht erben werden (βασιλείαν θεοῦ οὐ κληρονοµήσουσιν). (Gal 5,21)

Sowohl die durch die stilistischen Merkmale offensichtliche Formelhaftigkeit als auch das Textsignal in 1Kor 6,9 „Wisst ihr nicht“ zeigen, dass Paulus hier geprägte Tradition aufnimmt.152 Nun lässt sich die vorliegende Kombination von βασιλεία τοῦ θεοῦ mit dem Verb κληρονοµεῖν zwar nur in Mt 25,34 nachweisen, aber zahlreiche weitere Berührungspunkte weisen klar in Richtung Jesustradition.153 So fragt der reiche Jüngling in Mk 10,17 parr., was er tun müsse, um das „ewige Leben“ zu „ererben“ (vgl. zur Kombination von ζωὴ αἰώνιος und κληρονοµεῖν auch Mt 19,29). Im weiteren Gespräch wird deutlich, dass „ewiges Leben ererben“, „gerettet werden“ und „in die βασιλεία τοῦ θεοῦ kommen“ synonym verwendet werden können (Mk 10,17.23– gen und Bedrängnisse gelobt wird (vgl. Lk 20,35). Hier erscheint das Reich Gottes genau wie in den Seligpreisungen (Mt 5,10–12) als eschatologische Hoffnungs- und Heilsperspektive vor dem Hintergrund von gegenwärtigem Leid und Bedrängnis (vgl. Act 14,22). 152 Vgl. WENHAM, Paul, 74. 153 Vgl. HAUFE, Reich Gottes, 470.

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26; vgl. Mk 9,43–48). Dieselbe Synonymität besitzen „das Reich ererben“ und „in das ewige Leben kommen“ auch in Mt 25,34.46. In formaler Hinsicht stehen den drei paulinischen Ausschlussformeln die synoptischen Einlasssprüche nahe, v.a. in ihrer negativen Form.154 Gleichzeitig unterscheidet sich die Formel vom frühjüdischen Begriffsgebrauch von βασιλεία τοῦ θεοῦ, der dort nie in Verbindung mit dem Verb κληρονοµεῖν belegt ist.155 Im Ergebnis kommt damit nur ein Anschluss an die Jesustradition in Frage, auch wenn es keinen eindeutigen Beweis gibt, weil die drei formalen Elemente dort nie gemeinsam belegt sind.156 In temporaler Hinsicht müssen die drei Formeln eindeutig futurisch verstanden werden. Paulus formuliert in 1Kor 6,9f. und Gal 5,21 bestimmte ethische Eintrittsvoraussetzungen für das Reich Gottes, an die er die Gemeinde in der Gegenwart erinnert, damit sie ihre zukünftige Heilsteilhabe nicht aufs Spiel setzt. Diese Formulierungen knüpfen an die Einlasssprüche Jesu an. Die damit verbundene Konditionierung der Heilsteilhabe steht bei Paulus nicht im Widerspruch zu seiner Rechtfertigungsbotschaft. Gerade im 1. Korintherbrief macht Paulus immer wieder deutlich, dass der Lebenswandel der Gemeindeglieder nicht irrelevant ist für die eschatologische Heilsteilhabe (vgl. z.B. 1Kor 5,1–13; 6,12–21; 8,11–13; 10,1–13). In 1Kor 6,9f. und Gal 5,21 will Paulus die Gemeindeglieder vor einem Rückfall in ihr vorchristliches Verhalten warnen. Es geht also nicht um eine Aufforderung zum Erwerb des Heils durch einen entsprechenden Lebenswandel, sondern um eine Warnung vor dem Verlust des bereits in der Taufe (vgl. 1Kor 6,11) zugesprochenen Heils durch die kontinuierliche Praxis der genannten Laster.157 Der Beleg in 1Kor 15,50 hat einen anderen Charakter als die Belege in 1Kor 6,9f. und Gal 5,21. Hier geht es nicht um eine ethische, sondern um eine physische Qualifikation für das Ererben bzw. Eintreten in das Reich Gottes und damit für die eschatologische Heilsteilhabe. „Fleisch und Blut“ (σὰρξ καὶ αἷµα) sind formelhafter Ausdruck für die physische Verfassheit des Menschen, speziell für seine Vergänglichkeit und Sterblichkeit (vgl. Gal 1,16). “Paul […] does associate material transformation of both persons and world with what will happen in the future – the return of Christ, the resurrection of 154

Vgl. HAUFE, Reich Gottes, 470; SCHNACKENBURG, Herrschaft, 199; zur negativen Form vgl. Mt 5,20; 7,21; 18,3; 19,23f.; Mk 10,15 par.; Lk 18,17.24f.; ferner Joh 3,3.5; zur positiven Form vgl. Mt 21,31; Mk 9,47; 10,23–25 parr.; ferner 2Tim 4,18; 2Petr 1,11. 155 Vgl. WITHERINGTON, Jesus, 55. 156 Wie HAACKER, Implicit Christology, 148 u.ö., gezeigt hat, geht auch die Formulierung vom „Ererben des Reiches“ ebenso wie die Rede vom „Eingehen in das Reich“ traditionsgeschichtlich auf die Landzusagen an Israel zurück; ebenso SCHNACKENBURG, a.a.O., 199f.; HAUFE, a.a.O., 470f. 157 Vgl. WOLFF, Verkündigung, 21. Auch in 1Thess 2,12 bildet die indikativische Heilszusage die Grundlage für eine Ermahnung zum würdigen (ἀξίως) Wandel, der eine unabdingbare Folgewirkung der empfangenen Rechtfertigung ist.

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believers, the renewal of the world”.158 Die βασιλεία kann der Mensch daher faktisch nur postmortal und nur mit einem Auferstehungsleib „ererben“. Die βασιλεία stellt offensichtlich eine transformierte Heilswirklichkeit dar, die von Menschen auch nur in einem transformierten Status, konkret in einer veränderten Leiblichkeit, betreten werden kann.159 Dies unterstreicht den futurischen Charakter der βασιλεία. Sie kann aufgrund dieser Bestimmung erst kommen bzw. ererbt werden, wenn Christus wiederkommt und den Auferstandenen bzw. den noch Lebenden einen Auferstehungsleib verleiht. Die βασιλεία wird im Kontext von 1Kor 15,50–53 (vgl. 1Thess 4,13–18) somit nicht nur als eine postmortale, sondern auch als eine postparusiale Größe definiert. Hinsichtlich des Charakters der βασιλεία scheint aufgrund der Verbindung mit dem Verb κληρονοµεῖν zunächst eine Gabe, d.h. ein zu empfangendes Erbe im Blick zu sein. Allerdings ist aufgrund der traditionsgeschichtlichen Bezüge zur Landverheißung und im Licht des eschatologischen Kontextes von 1Kor 15,50 auch hier eher an eine räumliche Größe zu denken.160 Es geht um einen Heilsort, der eine transformierte Wirklichkeit impliziert und in dem die leiblich verwandelten Glaubenden die endzeitliche Heilserfüllung erleben.161 Gegen diese Bestimmung der βασιλεία als eines endzeitlichen Heilsortes, der der menschlichen Verfügbarkeit grundsätzlich entzogen ist, scheint Kol 4,11 zu sprechen. In der Grußliste des Kolosserbriefes werden Aristarch, Markus und Jesus Justus als „meine Mitarbeiter am Reich Gottes (συνεργοὶ εἰς τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ)“ bezeichnet. Vom Gesamtzusammenhang des paulinischen Begriffsgebrauchs her muss dieser Vers aber so verstanden werden, dass die drei genannten Mitarbeiter durch die Verkündigung des Evangeliums zu Gehilfen geworden sind, damit Menschen „hin zum“ (εἰς) Heil gelangen und ewiges Leben, eben das Reich Gottes, empfangen, ererben oder besitzen können.162 Von einem „Bauen“ bzw. „Mitarbeiten am Reich Gottes“ kann auch hier keine Rede sein.163 158

WITHERINGTON, Jesus, 58. WOLFF, Verkündigung, 23: „Das Reich Gottes ist für Paulus hier eindeutig die Umschreibung für das Endheil. Dessen Anbruch stellt er sich nach apokalyptischem Vorbild als mit der Auferstehung der Toten beginnend vor.“ 160 Gegen WOLFF, a.a.O., 16. 161 WITHERINGTON, a.a.O., 56: “Paul seems to see the future basileia as a realm that one enters or inherits only upon the return of Christ and after the resurrection of the dead in Christ and the transformation of the living believers.” 162 So auch SCHNACKENBURG, Herrschaft, 202: „Schwerlich will Paulus sagen, daß seine Missionsgehilfen am Reiche Gottes mitarbeiten (dann stände eher der Genitiv), vielmehr daß sie sich im Dienste des kommenden Gottesreiches abmühen, indem sie es verkündigen […], den Menschen die Teilnahme daran ermöglichen und um seinetwillen alle Mühsal auf sich nehmen.“ 163 Die beliebte Metapher vom „Bauen des Reiches Gottes“ hat im Neuen Testament keinen Anhaltspunkt. 159

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III. Das Reich Christi (1Kor 15,24) Einen Sonderfall der βασιλεία-Belege bei Paulus stellt 1Kor 15,24 dar. Zunächst einmal ist hier nicht von der βασιλεία τοῦ θεοῦ die Rede, sondern von einer βασιλεία im Sinne einer Zeit, in der Christus herrscht (δεῖ γὰρ αὐτὸν βασιλεύειν) und an deren Ende (τὸ τέλος) er diese Herrschaft an Gott den Vater übergibt. Es stellt sich an dieser Stelle zunächst die grundlegende Frage, ob Paulus hier überhaupt von der βασιλεία τοῦ θεοῦ spricht oder ob es hier um eine andere Größe geht. Erst im Anschluss daran kann die Frage geklärt werden, welche Hinweise der Beleg zum Verständnis des Syntagmas bei Paulus bietet. Ein Grundproblem der Interpretation von 1Kor 15,24 ist die Einordnung dieser Stelle in die paulinische Endzeitchronologie. Geht es bei dieser βασιλεία mit Christus an der Spitze um die gegenwärtige und deshalb noch unsichtbare Herrschaft des Auferstandenen und Erhöhten,164 der diese Herrschaft unmittelbar nach seiner Parusie und dem damit verbundenen Gericht über alle seine Feinde Gott dem Vater übergeben wird, oder geht es um ein messianisch-irdisches Zwischenreich,165 das sich chronologisch zwischen Parusie und Vollendung erstreckt? Die erste Deutung ist in der Forschung seit Anfang des 20. Jahrhunderts zur eindeutigen Mehrheitsposition avanciert.166 Sie kann sich auf 1Kor 15,50– 52 berufen, wo Paulus an eine konsekutive Abfolge von erstens Parusie, zweitens Auferstehung der im Glauben Verstorbenen bzw. Verwandlung der noch lebenden Christen und drittens dem Ende zu denken scheint. Mit der Parusie wird hier der Beginn des Reiches Gottes (βασιλεία τοῦ θεοῦ), nicht des Reiches Christi verbunden. Auch scheint 1Kor 15,25 eine Herrschaft Christi vorauszusetzen, die nicht erst mit der Parusie beginnt, sondern bereits mit der Auferstehung begonnen hat und somit bereits gegenwärtig stattfindet (vgl. Kol 1,13f.; 2,9f.15; Eph 1,20–23). Schließlich deutet die Anspielung auf Ps 110,1 („alle Feinde unter seine Füße getan“, V. 25) gewöhnlich auf die gegenwärtige Herrschaft Christi hin.167 164

15.

165

Röm 1,3f.; 14,9; Phil 2,9–11; vgl. Mt 28,18; Kol 1,13f. sowie Eph 1,20–23; Kol 2,9f.

Ein messianisches Zwischenreich ist bereits in der apokalyptischen Literatur des Frühjudentums belegt, vgl. 4Esr 7,26–28; 12,31–34 und syrBar 29,3–30,1; 40,1–4; 72,2– 74,3; mit Abstrichen auch äthHen 93,1–10; 91,12–17. Wirkungsgeschichtlich relevant wurde aber v.a. Apk 20,4–6. 166 Sie wird u.a. vertreten von WILKE, Problem, passim; SCHNACKENBURG, Herrschaft, 205–212; SCHRAGE, Zwischenreich, 343–354; FEE, 1Cor, 745–760; HILL, Understanding, passim; WOLFF, 1Kor, 386; THISELTON, 1Cor, 1230–1234; LINDEMANN, 1Kor, 346; SCHRAGE, 1Kor, 166–175. 167 Mt 26,64/Lk 22,69; Mk 16,19; Act 2,33–35; 5,31; 7,55f.; Röm 8,34; Eph 1,20; Kol 3,1; Hebr 1,3.13; 8,1; 10,12f.; 12,2; 1Petr 3,22. Allerdings ist zu beachten, dass gewöhnlich immer Ps 110,1b die gegenwärtige Herrschaft Christi, der zur Rechten Gottes sitzt, an-

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Auf der anderen Seite scheint V. 23f. verschiedene „Auferstehungsabschnitte“ mit zeitlicher Ausdehnung nahezulegen: Nach der Auferstehung Christi als der ἀπαρχή folgt bei seiner Parusie (ἔπειτα) die Auferstehung der Glaubenden. Durch das nicht logisch („dann“), sondern zeitlich („danach“) bestimmte εἶτα vor dem τέλος scheint in V. 24 eine analoge Zäsur impliziert zu sein, wobei wir nicht wissen können, ob und in welchen Zeitdimensionen Paulus hier dachte. Ein irdisch-messianisches Zwischenreich könnte auch in 1Thess 4,13–18 impliziert sein, wo Paulus klärend auf eine bestimmte Befürchtung der Thessalonicher eingeht. Möglicherweise steckt dahinter die Angst, dass die verstorbenen Gemeindeglieder die Segnungen eines solchen messianischen Zwischenreiches verpassen könnten. Das stärkste Argument für die Annahme eines messianischen Zwischenreiches sind sicherlich die zahlreichen Parallelen zu Apk 20,4–6.168 Wie in 1Kor 15,25 ist auch hier die einzige Tätigkeit, die von Christus und den Märtyrern berichtet wird, das Herrschen (βασιλεύσουσιν µετ᾽ αὐτοῦ). Am Anfang des Millenniums der Apokalypse steht die Auferstehung der Märtyrer, wobei offen bleibt, ob nicht die Anteilhabe aller Glaubenden an dieser Auferstehung mit impliziert ist.169 Wenn man ein messianisches Zwischenreich auch bei Paulus annimmt, wäre der Beginn auch hier mit der Auferstehung der Glaubenden im Zuge der Parusie gegeben. Schließlich ist in Apk 20,7–10 das Ende des messianischen Zwischenreichs von einer bellizistischen Auseinandersetzung Christi mit Satan und den vom ihm verführten Völkern geprägt, an deren Ende die Vernichtung des Teufels und seiner Anhänger (20,10; vgl. 1Kor 15,25) und letztlich auch des Todes steht (20,14; vgl. 1Kor 15,26). Allerdings gibt es auch eine Reihe von Unterschieden zwischen beiden Texten, wie z.B. die Zeitangabe von 1000 Jahren und die Auferstehung der Nicht-Glaubenden (Apk 20,11– 15), von denen Paulus nichts berichtet. Die Frage nach der chronologischen Einordnung der von Paulus in 1Kor 15,24f. erwähnten βασιλεία lässt sich nicht mit letzter Gewissheit klären. Ein messianisches Zwischenreich wird weder explizit erwähnt, noch kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass Paulus tatsächlich an ein solches dachte. Dagegen lässt sich durchaus mit einiger Sicherheit sagen, dass diese βασιλεία, wo auch immer sie chronologisch einzuordnen ist, nicht identisch ist mit der βασιλεία τοῦ θεοῦ, von der Paulus in den anderen hier untersuchten Versen spricht. Denn während das Reich in 1Kor 15,24 eindeutig befristet

zeigt, während in 1Kor 15,25 auf V. 1c angespielt wird. Man könnte einwenden, dass es Paulus hier nicht um Christi gegenwärtige Hoheitsposition geht, sondern um seine zukünftige Herrschaft auf Erden (so TURNER, Interim, 334). 168 Vgl. hierzu nun GÄCKLE, Priestertum, 514–571. 169 So neben zahlreichen Exegeten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts TURNER, Interim, 325, Anm. 7; WILKE, Problem, 52f.; KREITZER, Jesus, passim; STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 309; GÄCKLE, a.a.O., 546f.

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ist und nur so lange dauert, bis Christus dieses Reich an Gott, den Vater, übergibt, deutet weder bei Paulus noch in irgendeinem anderen ntl. ReichGottes-Beleg etwas auf eine Befristung hin. Auch der bellizistische Charakter dieses Reiches, in dem es maßgeblich um die Überwindung, Unterwerfung und Vernichtung der Feinde geht, entspricht nicht dem Wesen des Reiches Gottes, wie es in den übrigen Belegen präsentiert wird. Denn die βασιλεία τοῦ θεοῦ ist geprägt von „Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ (Röm 14,17) und zu ihr hat ja gerade alles Widergöttliche keinen Zugang (1Kor 6,9f.; Gal 5,21). Das Reich Gottes muss daher in jedem Fall als τέλος im Sinne der ewigen Heilsvollendung gedacht werden, dem die in 1Kor 15,24f. erwähnte Herrschaft Christi, welchen Zeitraum man auch immer darunter verstehen mag, vorangeht. IV. Die Wirkung des Reiches (1Kor 4,20; Röm 14,17) In einem völlig anderen Zusammenhang als in den drei Ausschlussformeln steht das Syntagma in 1Kor 4,20 und Röm 14,17. Es handelt sich hier um „antithetische Definitionssätze“170, deren Satzstruktur dem Muster „das Reich Gottes ist nicht x, sondern y“ (οὐ – ἀλλά) folgt.171 Inhaltliche Berührungen gibt es zu Mt 5,20 und 6,33 (Stichwort „Gerechtigkeit“) sowie zu Mt 10,7.13 und Lk 10,5f.11 (Stichwort „Friede“) und zu Mt 6,25–33/Lk 12,22–31 (Relativierung von „Essen und Trinken“ im Horizont des Reiches Gottes).172 Zwar lässt sich zu keinem dieser Belege eine direkte Abhängigkeit nachweisen, aber die thematischen Bezüge sind nicht zu übersehen. Insofern sind sowohl 1Kor 4,20 als auch Röm 14,17 als kontextbezogene Ad-hoc-Bildungen von Paulus zu betrachten,173 die jedoch die Erinnerung an einschlägige Jesuslogien durchscheinen lassen.174 In Röm 14,1–15,13 geht es um den Konflikt zwischen den „Starken“ und „Schwachen“ in Rom im Blick auf Termin-, v.a. aber Speisefragen. Im Hintergrund steht mit großer Wahrscheinlichkeit der Streit um die jüdische kash-

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HAUFE, Reich Gottes, 469; WOLFF, Verkündigung, 9. Vgl. WENHAM, Paul, 74; WITHERINGTON, Jesus, 56. Formparallelen finden sich in 1Makk 3,19 und bei Epiktet, Dissertationes 2,1,4; 2,10,8 u.ö. 172 Sowohl in Röm 14,17 als auch in Mt 6,25 scheint die Wendung „Essen und Trinken“ einen formelhaften Charakter zu haben. 173 Vgl. HAUFE, a.a.O., 469; WOLFF, a.a.O., 23.26. 174 Auch THEOBALD, Erkenntnis, 488ff., nimmt an, dass dem Beleg traditionelles Material zugrunde liegt, z.B. in Form eines Kataloges, da die Trias doch einen gewissen Aussageüberschuss im Blick auf den unmittelbaren Kontext enthält. Dafür spricht neben der seltenen paulinischen Verwendung von βασιλεία τοῦ θεοῦ auch die formelhafte Zusammenstellung von „Essen und Trinken“. Von einem Streit um Getränke war bisher noch nicht die Rede, und auch die Erwähnung von Wein in V. 21 scheint keinen konkreten Anhaltspunkt im römischen Konflikt zu haben. 171

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rut zwischen römischen Juden- und Heidenchristen.175 Im Licht der Christusoffenbarung und mit der eschatologischen Gabe des Heiligen Geistes geht für Paulus eine Neugewichtung des göttlichen Willens einher: „Sünde, die vom Reich Gottes ausschließen könnte (vgl. 1.Kor. 6,9f.; Gal. 5,21), droht nicht von der physischen Kontamination mit tabuisierten Materialien (Fleisch, Wein und dergleichen), sondern vom zwischenmenschlichen Versagen.“176

Vor dem Horizont des Evangeliums werden die jüdischen Trennlinien im Kontext des Essens und der Speise irrelevant und mit der Gabe des Geistes ist eine neue Wertehierarchie an deren Stelle getreten. Von daher wäre es auch völlig irrig, Röm 14,17 in einer Spannung zu Mt 8,11f. oder 14,25 zu interpretieren.177 Es geht hier nicht um die Abwesenheit von „Essen und Trinken“ beim endzeitlichen Festmahl im futurischen Gottesreich, sondern um die Relativierung irdischer Dinge, Werte und Ordnungen vor dem Horizont eben dieses futurischen Reiches. „Essen und Trinken“ verlieren somit ihre soteriologische Relevanz und werden zu Adiaphora. Deutlich ist aber auch, dass die βασιλεία τοῦ θεοῦ hier zumindest eine präsentische Relevanz besitzt, denn Paulus benutzt den Hinweis auf das Reich Gottes als Argument zur Klärung eines aktuellen Konflikts. Wie sich diese präsentische Relevanz zur eindeutig futurischen Dimension des Syntagmas in 1Kor 6,9f.; 15,50; Gal 5,21 verhält, wird am Ende dieses Abschnitts zu klären sein. Der andere antithetische Definitionssatz in 1Kor 4,20 steht ebenfalls in einem kontroverstheologischen Kontext. Der gesamte erste Hauptteil des 1. Korintherbriefes (1Kor 1,10–4,21) ist vermutlich vorrangig an die Apollosgruppe adressiert – so sehr die ganze korinthische Gemeinde natürlich als „Mithörer“ im Blick ist.178 Dafür spricht vor allem, dass von den in 1,12 genannten Verkündigern in erster Linie die Person des Apollos als „Vorbild“ rhetorischer und möglicherweise auch philosophischer Bildung in Frage kommt (vgl. Act 18,24f.). Umgekehrt ist die Petrusgruppe im 1. Korinterbrief auch via negationis kaum greifbar und die Paulusgruppe kommt als primäre Adressatin der Kritik in 1Kor 1,10–4,21 kaum in Frage.179 Somit bleibt nur die Apollosgruppe als wahrscheinlichste Alternative übrig. In 1Kor 4,21 steht die Antithese λόγος – δύναµις im Mittelpunkt der Aussage. Dies ist zunächst insofern überraschend, als beide Begriffe bei Paulus häufig als kongruent gelten, man denke nur an die beiden Programmsätze in Röm 1,16 und 1Kor 1,18. Das antithetische Verhältnis beider Begriffe kann deshalb nur im Kontext der korinthischen Spannungen angemessen verstan175

Vgl. dazu GÄCKLE, Die Starken, 293–385. HAACKER, Röm, 288. 177 Richtig gesehen auch von WITHERINGTON, Jesus, 69. 178 Zur Apollosgruppe als Adressatin der weisheitskritischen Ausführungen in 1Kor 1,10–4,21 vgl. GÄCKLE, a.a.O., 451f., bes. Anm. 2. 179 Vgl. MERKLEIN, 1Kor I, 139–145. 176

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den werden. Diese lassen sich vor dem Hintergrund der Konventionen der antiken Rhetorik, dem Milieu und der wichtigen Rolle der antiken Rhetoren und Oratoren erklären. Dazu gehörte neben dem elitären Bildungsanspruch auch die Bildung konkurrierender Schulen, wobei die Schüler zur Loyalität gegenüber dem eigenen rhetorischen Schulhaupt und zur Kritik gegenüber dessen Konkurrenten verpflichtet waren. Es sind exakt solche Reflexe der antiken Kultur rhetorischer Schulen, auf die die paulinische Kritik abzielt. Vermutlich wollten die Vertreter der Apollosgruppe das Evangelium auf dem Hintergrund eines solchen elitären Bildungsanspruchs in die Formen der griechisch-römischen Rhetorik einkleiden.180 Dagegen betont Paulus zum einen, dass er in Korinth nicht in „überredenden“ „Worten menschlicher Weisheit“181 gelehrt hat (vgl. 1,17; 2,1.4.13), und zum anderen beschreibt er seine eigene Verkündigung ausschließlich mit Begriffen wie εὐαγγελίζειν, κηρύσσειν/κήρυγµα, καταγγέλλειν und µαρτυρεῖν, die signifikanter Weise keinerlei Bezug zu dieser rhetorischen Tradition haben.182 Damit gewinnt der ambivalente Charakter des Begriffs λόγος in 1Kor 1,10–4,21 ein klares antithetisches Profil: Auf der einen Seite steht die von Paulus abgelehnte „Weisheit des Wortes“ (vgl. 2,4), die mit der „Weisheit der Welt“ identisch und den Verlorenen eigen ist, und auf der anderen Seite das „Wort vom Kreuz“, das rettende Wirkung hat und mit dem Attribut δύναµις charakterisiert wird (vgl. 2,4). In 1Kor 4,20 steht der Begriff λόγος somit für die negativ konnotierte „Weisheit des Wortes“ (σοφία λόγου in 1,17), die „Disputierer dieser Welt“ (συζητητὴς τοῦ αἰῶνος τούτου in 1,20), die „Vortrefflichkeit der Rede und Weisheit“ (ὑπεροχὴν λόγου ἢ σοφίας in 2,1), die „überredenden Worte der Weisheit“ (ἐν πειθοῖ[ς] σοφίας [λόγοις] in 2,4), die „Weisheit der Menschen“ (ἐν σοφίᾳ ἀνθρώπων in 2,5) und nicht zuletzt für „das Wort der Aufgeblasenen (τὸν λόγον τῶν πεφυσιωµένων in 4,19). Die δύναµις steht dagegen für die Wirkung des Evangeliums (1,17), des „Wortes vom Kreuz“ (ὁ λόγος ὁ τοῦ σταυροῦ in 1,18) bzw. der paulinischen Predigt (ὁ λόγος µου καὶ τὸ κήρυγµά µου in 2,4). Das Reich Gottes ordnet Paulus nun dieser durch das Evangelium bzw. durch seine Predigt vom Kreuz ausgelösten Kraftwirkung zu. Der Begriff wird somit zu einer Chiffre für die Wirklichkeit des Heils, die in der Gegenwart zwar schon Realität ist, wenn auch noch unsichtbar, sich aber im Eschaton offenbaren wird. 180

Vgl. LITFIN, Proclamation, 245–247; ähnlich WINTER, Philo, 235; vgl. dagegen THEIS, Weisheitslehrer, 148. 181 Die Wendung σοφία λόγου in 1,17 (vgl. 2,1.4.13) nimmt ein aus der rhetorisch-sophistischen Literatur bekanntes Wortfeld auf und ist am ehesten mit „Redegewandtheit“ zu übersetzen. Der Ausdruck ist daher auf die äußere Form bzw. die rhetorische Gestalt der Verkündigung zu beziehen (so LITFIN, a.a.O., 187–192; THISELTON, 1Kor, 143–147 u.v.a.; vgl. dagegen KAMMLER, Kreuz und Weisheit, 28–36). 182 Vgl. LITFIN, a.a.O., 195f.244f.

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Dass das Reich Gottes im Kontext von 1Kor 4,20 eine präsentische Dimension hat, legt schon die grammatische Struktur nahe, welche die Ergänzung eines „ist“ bzw. „besteht“ verlangt. Auch der dargestellte Zusammenhang mit den korinthischen Spannungen, die Thema des ersten Hauptteils 1Kor 1,10–4,21 sind, deutet auf eine präsentische Konnotation des Begriffs hin, denn sowohl die korinthische Wertschätzung rhetorischer Eloquenz und intellektueller Bildung als auch die Kraftwirkungen des Evangeliums bzw. der Predigt vom Kreuz sind gegenwärtige Phänomene.183 Wie in Röm 14,17 macht Paulus auch hier eine Aussage über das gegenwärtige Sein des Glaubenden bzw. der Gemeinde. Wie aber ist der eindeutig futurische Gebrauch des Begriffs im selben Brief (1Kor 6,9f.; 15,50) mit diesem Befund zu vereinbaren? Welche Bedeutung kann der Begriff hier und in Röm 14,17 haben, wenn das Reich Gottes nach 1Kor 15,50 erst im postmortalen Zustand eines Auferstehungsleibes „ererbt“ werden kann und dieser Zustand erst mit bzw. nach der Parusie Jesu Christi Wirklichkeit wird? Die sinnvollste Erklärung für dieses Problem ist m.E., dass Paulus auch in Röm 14,17 und 1Kor 4,20 den futurisch-eschatologischen Charakter des Reiches Gottes voraussetzt.184 Das Reich Gottes ist für ihn eine Chiffre für den Raum des Heils und die Zeit des Heils. Es ist der dauerhafte Zustand endzeitlicher Erlösung, der nach der Parusie Christi offenbar und sichtbar werden wird, der aber bereits in der Gegenwart sowohl zur bestimmenden Motivation als auch zum Maß und Kriterium christlicher Existenz werden kann und soll. Anders formuliert: Das christliche Hoffnungsgut des im Eschaton sich offenbarenden Reiches Gottes im Sinne endzeitlichen Heils enthält ein heuristisches und diakritisches Potential für das Wesen und Charakteristikum christlicher Existenz heute.185 Wird dieser Zusammenhang wahrgenommen, dann entschlüsselt sich auch die pneumatische Dimension, die in Röm 14,17 mit der Wendung ἐν πνεύµατι ἁγίῳ explizit am Ende der Trias „Gerechtigkeit, Friede und Freude“ angedeutet wird und die in 1Kor 4,20 implizit im Begriff δύναµις enthalten ist. Weil der Heilige Geist nach Paulus das (einzige) Unterpfand bzw. Angeld (ἀρραβών) der endzeitlichen Erlösung ist, das dem Christen schon in der Gegenwart geschenkt ist (2Kor 1,22; 5,5), erfüllt er letztlich eine analoge Funktion wie die Hoffnung auf das Reich Gottes: Er erinnert den Glaubenden an das eschatologische und dann vollendete Heil und damit an das, was wesentlich und charakteristisch ist an seinem „Sein in Christo“, wie z.B. Gerechtig183

Dies betont v.a. JOHNSTON, Sayings, 144, der von diesem Befund aus allerdings sämtliche Reich-Gottes-Belege bei Paulus präsentisch als Chiffren für ein Konzept geistlichen Lebens bzw. des Lebens im Geist verstehen möchte (a.a.O., 151). 184 So richtig gesehen von HAUFE, Reich Gottes, 469. 185 Vgl. DUNN, Röm II, 822: “Used thus ‘the kingdom of God’ becomes a way of describing ‘what Christianity is all about’ – ‘the essence of Christianity’.”

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keit, Friede und Freude (Röm 14,17) oder die Dynamis, die das Evangelium bzw. die Predigt vom Kreuz im Leben des Einzelnen wie der ganzen Gemeinde entfaltet (1Kor 4,20). Kraft dieser Erinnerung ermahnt der Heilige Geist den Glaubenden aber auch dazu, diesem Wesen und Charakter seines „Seins in Christo“ entsprechend zu leben186 und sich eben nicht an vergängliche Werte wie „Essen und Trinken“ oder rhetorische Bildung und aufgeblasene, menschliche Weisheit zu binden.187 V. Ergebnis Als Ausgangspunkt für das Verständnis von βασιλεία τοῦ θεοῦ in den paulinischen Briefen eignen sich die drei bzw. vier sog. Ausschlussformeln in 1Kor 6,9f.; 15,50 und Gal 5,21. Vor allem in 1Kor 15,50 bekommt das Reich Gottes ein verhältnismäßig klares Profil. Es wird hier als eine Wirklichkeit präsentiert, die erst nach der Parusie Christi offenbar werden wird und die Menschen nicht in der physischen Gestalt von „Fleisch und Blut“ ererben können, sondern nur mit der Seinsform eines postmortalen Auferstehungsleibes. Das Reich Gottes ist damit unmissverständlich als eine futurische Größe charakterisiert, die menschlicher Mitwirkung oder gar menschlichem Zugriff grundsätzlich entzogen ist. Obwohl die Konnotation durch das Verb „ererben“ dem Syntagma den Charakter einer Gabe zu verleihen scheint, lässt der traditionsgeschichtliche Hintergrund der Landverheißung eher an einen Raum bzw. ein Land denken. Der futurische Charakter ist auch in den beiden anderen Ausschlussformeln in 1Kor 6,9f. und Gal 5,21 evident. Hier dient das Reich Gottes jedoch in erster Linie als Referenzgröße für das ethische Verhalten der Gemeindeglieder. Weil die genannten Laster in einem Gegensatz zur Heilswirklichkeit des zukünftigen Reiches Gottes stehen, mahnt Paulus seine Adressaten in Korinth und Galatien, ihr Leben an dem von ihnen erstrebten Heilsgut des Reiches Gottes auszurichten. Das Reich Gottes wird auf diese Weise Maß und Kriterium für das ethische Verhalten der Gemeinde in der Gegenwart. Genau diese Funktion besitzt das Syntagma auch in 1Kor 4,20 und Röm 14,17. Grundsätzlich muss auch hier das Reich Gottes als eine futurische Größe im Sinne der eschatologischen Heilszeit und -wirklichkeit verstanden werden, deren Hoffnungspotential die Gemeinde jedoch bereits in der Gegenwart zu einem entsprechenden Verhalten motivieren soll. Darüber hinaus entfaltet der Begriff ein heuristisches und diakritisches Potential im Blick auf das Wesen und den Charakter christlicher Existenz: Die endzeitliche Offen186

Vgl. WOLFF, Verkündigung, 34. Vgl. wiederum DUNN, Röm II, 822f.: “For both Jesus and Paul the Spirit is the presence of the kingdom, still future in its complete fulfillment […]. For both Jesus and Paul the character and power of the still future rule of God can provide inspiration and enabling for the present.” 187

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barung des Reiches Gottes im Sinne eines Heilsraums und einer Heilszeit wird zum Maß und Kriterium für den gegenwärtigen Heilsstatus der Gemeinde, für den eben weder rhetorische Brillanz und weisheitlicher Bildungsdünkel (wie in Korinth) noch „Essen und Trinken“ im Sinne des Streits um die jüdische kashrut (wie in Rom) relevant sind, sondern die göttliche Dynamis und Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist. Das Reich Gottes ist bei Paulus letztlich eine Chiffre für das endzeitliche Heil,188 die er sowohl in ethischen wie in epistemologischen und diakritischen Kontexten verwendet. Vor diesem Hintergrund wird auch die auffallende Zurückhaltung des Apostels bei der Verwendung dieses Begriffs verständlich, der im Vergleich zur Verkündigung Jesu, wie sie in der synoptischen Tradition reflektiert wird, bei Paulus völlig in den Hintergrund tritt.189 Für die Beschreibung der christlichen Heilshoffnung war der Begriff im hellenistisch-römischen Kontext relativ untauglich. Begriffe wie „ewiges Lebens“ (vgl. z.B. Röm 2,7; 5,21; 6,22f.; Gal 6,8 u.ö.) oder das Begriffsfeld σῴζειν/σωτηρία (z.B. Röm 1,16; 5,9; 8,24; 10,10; 1Kor 1,18; Phil 2,12 u.ö.) waren hier viel geeigneter für die Beschreibung des eschatologischen Heilsgutes als dieser durch und durch jüdische Begriff, der im hellenistisch-römischen Kulturraum noch dazu eine höchst missverständliche politische Konnotation assoziierte (vgl. Act 17,7).190 Wollte Paulus das den Glaubenden verheißene Heilsgut plausibilisieren, dann musste er hier auf andere Begriffe zurückgreifen. Lediglich in traditionellen, jüdischen Formeln wie der Ausschlussformel oder in Definitionssätzen, die ein wesentliches Profil des christlichen Glaubens zum Ausdruck bringen und die ethische Argumentation fundieren, bediente sich Paulus des überkommenen Begriffes.

C. Jesus, Paulus und das Reich Gottes Welche Konsequenzen hat dieser Befund nun für die Frage des Verhältnisses von Jesus und Paulus im Blick auf den Begriffsgebrauch von βασιλεία τοῦ θεοῦ?

188 Ebenso WOLFF, Verkündigung, 23: „Das Reich Gottes ist für Paulus hier [sc. bezogen auf 1Kor 15,50; V.G.] eindeutig die Umschreibung für das Endheil. Dessen Anbruch stellt er sich nach apokalyptischem Vorbild als mit der Auferstehung der Toten beginnend vor.“ 189 HAUFE, Reich Gottes, 472, meint, dass diese Zurückhaltung in den „Lebensproblemen“ der paulinischen Gemeinden begründet liege, die Paulus nicht einfach mit Hilfe der Missions- und Taufpredigt habe lösen können. Allerdings tauchen die βασιλεία-Belege in den paulinischen Briefen exakt in der Behandlung dieser „Lebensprobleme“ der Gemeinden auf. Der Grund für die Zurückhaltung muss daher ein anderer sein. 190 Vgl. JOHNSTON, Sayings, 152.

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Wie bereits erwähnt, gibt es keinen eindeutigen Beweis für eine Abhängigkeit des paulinischen Begriffsgebrauchs von der Jesustradition. Allerdings sind die formalen und inhaltlichen Ähnlichkeiten zwischen den paulinischen Ausschlussformeln (1Kor 6,9f.; 15,50; Gal 5,21) und den jesuanischen Einlasssprüchen nicht zu übersehen. Während in den erstgenannten das Reich „ererbt“ wird, wird man in den letztgenannten in es eingelassen. In beiden Aussagereihen spielt das ethische Verhalten für den Einlass in bzw. Ausschluss aus dem Reich Gottes eine wesentliche Rolle. Deutlich ist auch der dominante futurische und gleichzeitig nicht-theophanische bzw. nicht-apokalyptische Charakter der βασιλεία sowohl bei Paulus als auch in der Jesustradition,191 was z.B. in den sog. Einlasssprüchen, im Vaterunser (Mt 6,10/Lk 11,2) und in zahlreichen Reich-Gottes-Gleichnissen (vgl. z.B. Mt 22,1–14/Lk 14,16–24; Mt 25,21.23) evident ist. Letztlich hat der Begriff in der Jesustradition überall dort eine futurische Bedeutung, wo er in einer räumlichen oder temporalen Konnotation gebraucht wird. Gleichzeitig hat der Begriff sowohl bei Paulus als auch in der Jesustradition auch eine präsentische Dimension. Überall, wo Jesus von der βασιλεία als einem Besitz oder einer Gabe des ewigen Lebens spricht, ist sie als eine himmlische Wirklichkeit charakterisiert, die pneumatisch jedoch bereits gegenwärtig gesucht, empfangen und besessen werden kann, die aber erst eschatologisch sichtbar werden wird. Auch bei Paulus besitzt die grundsätzlich futurisch verstandene βασιλεία diesen präsentischen Charakter, insofern sie als eschatologisches Heilsgut in Verbindung mit der Gabe des Heiligen Geistes schon in der Gegenwart zum Maß und Kriterium christlicher Existenz werden kann (1Kor 4,20; Röm 14,17). Die präsentische Relevanz der futurischen βασιλεία ist bei Paulus stärker von der eschatologischen Gabe des Geistes her motiviert. Wo der Geist ist, ist die Gegenwart des Heils und damit in gewisser Weise auch die Gegenwart des Reiches.192 Zwar sind das Austreiben der Dämonen mit dem „Geist“ (Mt 12,28) und die geistgewirkte, „dynamische“ Verkündigung des Evangeliums bzw. des Wortes vom Kreuz (1Kor 1,17f.) nicht dasselbe, aber es handelt sich jeweils um Ausdrucksweisen desselben Geistes, der jeweils endzeitliches Heil in aller Vorläufigkeit punktuell aufleuchten lässt und den Paulus als das eschatologische Unterpfand der neuen Schöpfung versteht (2Kor 1,22; 5,5).193 Auch die Akzentsetzungen sind verschieden: Während bei Jesus die präsentische Bedeutung auf dem in der 191 WITHERINGTON, Jesus, 74: “Both Jesus and Paul also seem to be working with a nontheophanic or nonapocalyptic view of the coming of the basileia in the present, insofar as neither of them seems to have associated God’s present dynamic saving activity with cosmic catastrophe or cosmic transformation. In both cases the focus is solely on human transformation and the transformation of interpersonal human relationships.” 192 SCHNACKENBURG, Herrschaft, 204. 193 WITHERINGTON, a.a.O., 69.73f.; HAUFE, Reich Gottes, 470.

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Heilsgabe der βασιλεία bereits gegenwärtigen „ewigen Leben“ liegt, liegt bei Paulus der Akzent in 1Kor 4,20 und Röm 14,17 v.a. auf der heuristischen und diakritischen Gegenwartsdimension dieses Begriffs, die aber auch bei ihm auf das Engste mit der Gabe des Heiligen Geistes verbunden ist. In den vergangenen 50 Jahren hat eine ganze Reihe von Exegeten zu zeigen versucht, dass das in der Forschung dominierende dynamische Verständnis von βασιλεία τοῦ θεοῦ im Sinne einer Königsherrschaft Gottes dem Begriffsgebrauch bei Jesus kaum gerecht wird,194 sondern eher die Verbindung einer räumlichen (Reich bzw. Raum des Heils), temporalen (Zeit des Heils) und dinglichen (Gabe und Geschenk des Heils) Bedeutung der Polyvalenz des Begriffs in der Jesustradition entspricht. Dieser Beitrag unterstreicht und ergänzt diese Beobachtungen und zeigt, dass der paulinische Begriffsgebrauch dem entspricht. Auch bei Paulus treten der räumliche und temporale Charakter des Begriffs, v.a. in Verbindung mit seinem futurischen Charakter, deutlich in den Vordergrund (1Thess 2,12; 1Kor 6,9f.; 15,50; Gal 5,21). Der entscheidende Unterschied zwischen Jesus und Paulus liegt letztlich in der stark differierenden Häufigkeit des Gebrauchs dieses Syntagmas. Während die βασιλεία der zentrale soteriologische Begriff der Verkündigung Jesu ist, wird er bei Paulus nur gelegentlich und auch nicht in zentralen soteriologischen Kontexten verwendet. Paulus gebraucht den Begriff nur gelegentlich, meistens formelhaft und fast durchweg in ethischen und diakritischen Zusammenhängen. Der Grund dafür ist in den unterschiedlichen Adressaten zu suchen. Während Jesus bei seiner jüdischen Hörerschaft trotz aller Diskontinuität zum frühjüdischen Begriffsgebrauch mit einem breiten Vorverständnis dieses Begriffes rechnen konnte, bringt Paulus die soteriologische Dimension seines Evangeliums durchweg mit einer Terminologie zum Ausdruck, die er für die hellenistisch-römische Welt als „anschlussfähig“ betrachtete. Dazu rechnete er βασιλεία τοῦ θεοῦ offensichtlich nur bedingt, auch aufgrund seiner Missverständlichkeit im griechischen Sprach- und Kulturkreis.195

Literaturverzeichnis AALEN, SVERRE, ‘Reign’ and ‘House’ in the Kingdom of God in the Gospels, in: NTS 8 (1962), 215–240. ALLISON JR., DALE C., Constructing Jesus. Memory, Imagination, and History, Grand Rapids 2010. 194

S.o. Anm. 29–33. In diesem Zusammenhang sind die Beobachtungen von WEDDERBURN, Paul and Jesus, 108–110, interessant, der auf die strukturellen Parallelen zwischen „Reich Gottes“ und „Gerechtigkeit Gottes“ hinweist (108f.): “So ‘God’s kingdom’ and ‘God’s righteousness’ can both be ways of referring to God which concentrate on two different aspects of the divine nature and activity.” 195

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Führt der Messias sein Volk aus dem Exil? Eine kritische Auseinandersetzung mit N.T. Wrights These eines impliziten Metanarrativs hinter dem paulinischen Evangelium Joel R. White Abstract: In his recent monograph “Paul and the Faithfulness of God,” N.T. Wright puts forward the thesis that Paul, like many Jews of his day and especially the Pharisees, operated within a particular narrative framework. According to this framework, Israel was still in a state of exile, and Paul conceived of the work of the Messiah Jesus as (among other things) the gathering of the elect from among the nations and as the true end of exile. Wright lays out this thesis in some detail, but does not provide adequate evidence based on exegesis of Pauline passages to substantiate it. A careful reading of two passages in Romans may, however, offer proof that Wright’s thesis is, in fact, substantially correct.

Die Veröffentlichung des mehr als 1500-seitigen Paulusbuches aus der Feder des renommierten englischen Neutestamentlers N.T. Wright – „Paul and the Faithfulness of God“ („Christian Origins and the Question of God“, Bd. 4, London 2013; im Folgenden PFG) – war ein außergewöhnliches Ereignis mit allen Begleiterscheinungen, die man im Medienzeitalter kennt: Pressekonferenzen mit Signierstunde, Fernseh- und Radioauftritte usw. Selten wurde ein Buch eines Theologen mit solcher Spannung erwartet.1 Zu Wrights Leserkreis gehören neben Bibelwissenschaftlern auch viele Pfarrer, Pastoren und nicht wenige interessierte Laien.2 Deshalb rechnen die Verlage, die Wrights akade1

PFG, das eine systematische Darstellung von Wrights Paulus-Theologie bieten sollte, ließ lange auf sich warten. Bereits in dem 1996 veröffentlichten Buch „Jesus and the Victory of God“, dem zweiten Band seines umfangreichen neutestamentlich-theologischen Werks „Christian Origins and the Question of God“, angekündigt, schob Wright 2003 PFG einen unerwarteten dritten Band, „The Resurrection of the Son of Man“, vor und widmete sich vielen kleineren Projekten, darunter auch einigen Paulusbüchern auf wissenschaftlicher und populärer Ebene. All das geschah neben einer regen (wiederum sowohl wissenschaftlichen als auch populären) Vortragstätigkeit, die ihn regelmäßig in alle großen englischsprachigen Länder der Erde (und nicht selten darüber hinaus) führt. 2 Vor einigen Jahren war ich zu Gast bei einem wöchentlich stattfindenden Männerfrühstück einer Gemeinde in einer Kleinstadt im Hinterland des US-Bundesstaats Ohio. Neben dem Pastor saßen sieben oder acht Gemeindeglieder am Frühstückstisch mit abgenutzten und mit Buntstiften markierten Kopien von „Jesus and the Victory of God“, von dem sie in dem halben Jahr davor bereits die Hälfte gelesen und miteinander besprochen hatten.

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mische Bücher herausgeben (SPCK im Vereinigten Königreich und Fortress in den Vereinigten Staaten) offensichtlich mit hohen Umsätzen, und das bei einem komplizierten und selbst für Akademiker schwer zu verstehenden Werk, für dessen gründliche Lektüre man zwei volle Arbeitswochen (im landläufigen Sinne) braucht.3 Alle kritischen Äußerungen über dieses Werk (auch meine natürlich) sind unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten: Ihnen haftet von vornherein der Verdacht des blanken Neids an! Für unsere Zwecke wichtiger als der publizistische Erfolg von PFG ist jedoch die Tatsache, dass deutsche Neutestamentler Wrights Werk dieses Mal von Anfang an die Aufmerksamkeit widmeten, die es in der angelsächsischen Forschung seit Jahrzehnten erhält.4 Obwohl Wright zu den frühesten und wichtigsten Vertretern der so genannten „New Perspective on Paul“ (im Folgenden NPP) gehört (dieser Begriff stammt sogar von ihm5), nahmen ihn deutsche Forscher nur zögerlich wahr bzw. waren in der Auseinandersetzung mit seinen Ansichten über Paulus bisher zurückhaltend.6 Das hat vermutlich verschiedene Ursachen: Wrights stark evangelikales Profil spielt vielleicht eine Rolle; dazu kommt sein manchmal salopper Schreibstil, der nicht gerade ein Musterbeispiel deutscher wissenschaftlicher Sachlichkeit und Präzision ist und auf viele hierzulande befremdlich wirkt.7 Wie dem auch sei, es ist auf je3

BARCLAY, Review, 237, Anm. 5, schätzt 60+ Stunden. Ich benötigte 70–80 Stunden. Die Thesen, die Wright in PFG vertritt, sind nicht neu. Neben dem Aufsatz im Tyndale Bulletin (s.u. Anm. 5) machte schon seine bis heute unveröffentlichte Oxforder Dissertation auf den damals noch unbekannten Neutestamentler aufmerksam und ließ vermuten, dass Diskussionswürdiges über Paulus von ihm zu erwarten war. Dazu gehörte schon damals sein exiltheologischer Entwurf (s. WRIGHT, Messiah, 218). Kleinere Beiträge hielten das Interesse an seinen Ausführungen unter angelsächsischen Paulus-Forschern stets wach. Darunter sind viele Aufsätze, die 2013 gleichzeitig mit PFG in einem Sammelband unter dem Titel „Pauline Perspectives. Essays on Paul 1978–2013“ herausgegeben wurden. 5 So YINGER, Perspective, 27. Wright gebrauchte den Begriff erstmals 1978 während der jährlich vom Tyndale House in Cambridge gestifteten „Tyndale Lecture“. Dieser Vortrag wurde noch in demselben Jahr unter dem Titel „The Paul of History and the Apostle of Faith“ im Tyndale Bulletin veröffentlicht (s. WRIGHT, Paul of History, bes. 64). Wright benannte damit die der NPP manches vorwegnehmende These K. Stendahls (vgl. STENDAHL, Conscience, passim). WRIGHT selbst (Interpreters, 65, Anm. 4) weist darauf hin, dass Stendahl den Begriff in jenem Aufsatz verwendete, aber alle sind sich mehr oder weniger einig, dass man erst seit E.P. Sanders’ 1977 veröffentlichter Monographie „Paul and Palestinian Judaism“ von der NPP im Sinne einer theologischen Schule reden kann. 6 Noch 2005 erwähnte F. Avemarie in einer kritischen Stellungnahme zur NPP Wrights Beitrag mit keinem Wort (vgl. AVEMARIE, Wiederkehr, passim). J.-Chr. Maschmeier widmet Wright zwar eine knappe Seite in seinem Forschungsüberblick über die NPP (vgl. MASCHMEIER, Rechtfertigung, bes. 43), setzt sich aber nicht wirklich mit ihm auseinander. 7 Wrights englischer Humor, der typischerweise vor keinen Eminenzen haltmacht, veranlasst ihn zur Spekulation darüber, ob Aspekte von Luthers Theologie auf den Bierkonsum des Reformators zurückzuführen seien (vgl. PFG, 1169). Man muss nur parlamentarische Debatten in der BBC ansehen um zu verstehen, dass solche Sticheleien im britischen 4

Führt der Messias sein Volk aus dem Exil?

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den Fall zu begrüßen, dass nun auch die deutsche Forschung mit Wright in einen intensiveren Dialog tritt. Dass dies tatsächlich der Fall ist, stellt der kürzlich erschienene, umfangreiche Sammelband mit dem Titel „God and the Faithfulness of Paul. A Critical Examination of the Pauline Theology of N.T. Wright“ unter Beweis, der unter starker Beteiligung deutscher Forscher von C. Heilig, J.T. Hewitt und M.F. Bird in der 2. Reihe der „Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament“ herausgegeben wurde (Tübingen 2016).8

A. Wrights These vom anhaltenden Exil bei Paulus Welchen längerfristigen Einfluss Wright auf die neutestamentliche Wissenschaft haben wird, ist natürlich nicht vorauszusehen. Meiner Meinung nach kann man aber jetzt schon einer seiner Thesen eine nachhaltige Wirkung bescheinigen: derjenigen vom „anhaltenden Exil“ Israels. Diese These setzt zum einen voraus, dass es im Frühjudentum ein übergreifendes Metanarrativ (eine „controlling narrative“ oder „grand story“) gab, dem fast alle Juden, darunter ganz gewiss die Pharisäer, zustimmten und das ihre Einschätzung der eigenen Bestimmung, Lage und Zukunft maßgeblich prägte. Frühjüdische Schriften greifen diese Geschichte an unterschiedlichen Punkten auf – manche beginnen mit David, andere mit Mose oder Abraham oder sogar Adam –, aber es ist überall die gleiche Geschichte, die erzählt wird.9 Juden im 1. Jh. haben Wright zufolge dieses Metanarrativ „bewohnt“, d.h. sie haben sich als Akteure im noch andauernden Drama der Geschichte Israels betrachtet.10 Zum anderen seien sie sich mehr oder weniger darin einig gewesen, dass sie sich an einem bestimmten Punkt in dieser Geschichte befänden: nämlich kurz vor der endgültigen, von Mose und den Propheten versprochenen, aber noch nicht in ihrem vollen Ausmaß eingetretenen Rückkehr aus dem Exil. JuKontext harmlos sind, aber STUHLMACHER, Justification, 365, Anm. 15, erachtet dies als eines Bischofs und Theologen unwürdig und verlangt mit klischeehaft wirkender „deutscher“ Aufdringlichkeit, dass diese Bemerkung aus späteren Ausgaben gestrichen wird. 8 Neben Peter Stuhlmacher (s.o. Anm. 7) beteiligten sich folgende Deutsche mit diversen Beiträgen an diesem Projekt: Eve-Marie Becker, Jörg Frey, Christoph Heilig, Teresa Heilig, Torsten Jantsch, Andreas Losch, Volker Rabens, Eckhard Schnabel und Oda Wischmeyer. 9 Vgl. PFG, 135–138. 10 Vgl. PFG, 114 (= Zitat aus WRIGHT, Paul in Fresh Perspective, 11): “The main point about narratives in the second-Temple Jewish world, and in that of Paul, is not simply that people liked telling stories as illustrations of, or scriptural proofs for, this or that experience or doctrine, but rather that second-Temple Jews believed themselves to be actors within a real-life narrative.”

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den im 1. Jh. hätten geglaubt, dass die Verheißung des Mose in Dtn 30,1–5 (als solche haben sie diese selbstverständlich aufgefasst), die von den exilischen und nachexilischen Propheten (besonders von Jeremia und Daniel) rezipiert und tradiert wurde, noch nicht in Erfüllung gegangen sei. Sie hätten sich folgerichtig als im Zustand des anhaltenden Exils Lebende verstanden.11 I. Wrights Weiterführung der These von O.H. Steck Wright baut damit auf das Fundament auf, das O.H. Steck bereits 1965 in seiner Heidelberger Dissertation legte.12 Steck gelingt es in seiner Analyse der Bußgebete aus nachexilischer Zeit überzeugend darzustellen, dass diese „einem bestimmten Bild der Geschichte“ folgen bzw. dieses voraussetzen, das er das „deuteronomistische Geschichtsbild“ (dtrGB) nennt. Demnach ist das „stets ungehorsame Volk (A) […] trotz der der Langmut Gottes entsprungenen Vermahnung durch die Propheten (B) halsstarrig geblieben (C) und hat so das Strafgericht Jahwes (D) in den Katastrophen von 722 und 587 v. Chr. auf sich gezogen“.13 Weiter behauptet Steck, dass sich in diesen Gebeten „eine wesentliche Weiterbildung des dtrGB darin [zeigt], daß es über den Zeitpunkt 587 hinaus in die Folgezeit erweitert wird […]. Nirgends ist in diesen Gebeten das Gericht Gottes punktuell auf 722 und 587 beschränkt; das Gericht von 587 dauert vielmehr bis in die Gegenwart der Beter hinein an; der gegenwärtige Status Israels ist für diese Gebete das Sein unter dem seit (722 und) 587 währenden Gericht, dessen Andauer in seinen Auswirkungen, besonders der Zerstreuung Israels und der Fremdherrschaft im Verheißungslande, erfahren wird […].“14

Unter Einbeziehung einer beeindruckenden Vielfalt frühjüdischer Zeugen kommt Steck zu folgendem Schluss: „Die […] analysierten Belege weisen für die Zeit von 587 v. Chr. bis in die Jahrzehnte nach der Katastrophe Jerusalems unter Titus auf eine lebendige Überlieferung des dtrGB […].“15 Wright fügt Stecks Liste weitere Belegstellen hinzu,16 aber sein Verdienst besteht hauptsächlich darin, dass er Stecks Forschungsergebnisse für ein breites Publikum im angelsächsischen Raum zugänglich gemacht hat, wo sie auf viel Zustimmung stießen.17 An zwei Punkten geht Wright jedoch über Steck hinaus. 11

Vgl. PFG, 140. Vgl. STECK, Israel, 110–195. 13 STECK, Israel, 63f. (alle Zitate). Ob Stecks kritischer Rekonstruktion der Ausbildung dieser Tradition (vgl. DERS., Israel, 60–80) in allen Punkten zuzustimmen ist, ist für unsere Zwecke unerheblich. 14 STECK, a.a.O., 122f. (Hervorhebung i.O.). 15 STECK, a.a.O., 184. 16 Vgl. PFG, 139–163. 17 Vgl. z.B. SCOTT, Tradition, 648f.662f.; EVANS, Jesus, 77–100. Kritisch dazu äußern sich u.a. DUNN, Jesus, 472–477; CASEY, Review, 99f. 12

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Erstens konnte Wright vor allem unter Aufnahme eines wichtigen Aufsatzes von R. Beckwith18 glaubhaft machen, dass im Zuge der Wirkungsgeschichte des Danielbuchs, insbesondere der durch den Engel Gabriel angekündigten Verlängerung des Exils in Dan 9,22–27, die eschatologischen Erwartungen um die Zeitenwende ausgesprochen stark waren bzw. dass damals die Überzeugung herrschte, das Ende des Exils stehe unmittelbar bevor.19 Zweitens unterzog Wright die These eines andauernden Exils einer narrativ-kritischen Analyse, einer Methode, von der Steck noch nichts wusste.20 Vor allem durch die Anwendung der sogenannten „Aktantenanalyse“ des französischen Strukturalisten A.J. Greimas21 erhofft sich Wright im Anschluss an R.B. Hays,22 die narrative Substruktur23 paulinischer Texte erschließen zu können. Dies gelingt ihm jedoch m.E. nicht, denn die Greimas’sche Aktantenanalyse lässt sich nicht so leicht von ihren strukturalistischen Prämissen lösen; sie steht vielmehr dem Konzept eines Metanarrativs antithetisch gegenüber.24 Außerdem gebraucht Wright sie nicht wirklich, um Texte zu analysieren, sondern vielmehr um seinen theologischen Entwurf anschaulicher darzustellen. II. Wrights Anwendung des soziologisch-narrativen Ansatzes von N.R. Petersen Ertragreicher ist Wrights Anwendung des soziologisch-narrativen Ansatzes, den N.R. Petersen in seinem 1985 erschienenen Buch „Rediscovering Paul. Philemon and the Sociology of Paul’s Narrative World“ darlegte.25 Petersen unterscheidet zwischen der „referential sequence“ eines Textes (der rekonstruierten chronologischen Reihenfolge der im Text implizit oder explizit referierten Ereignisse in der realen Welt) und dessen „poetic sequence“ (der 18

Vgl. BECKWITH, Year, 217–275. Vgl. PFG, 142–146. 20 Für eine ausführliche kritische Auseinandersetzung vgl. WHITE, Narrative, 179–202. 21 Vgl. vor allem GREIMAS, Sémantique, passim. 22 Mit großer Wirkung machte der amerikanische Neutestamentler Richard B. Hays seine angelsächsischen Kollegen mit Greimas’ Ansatz in seinem renommierten Buch, der 1983 veröffentlichten Version seiner 1981 Yale University Dissertation, The Faith of Jesus Christ. An Investigation of the Narrative Substructure of Galatians 3:1–4:11, bes. 98–125, vertraut. Seit Hays findet man Greimas’sche Diagramme häufig in narrativanalytischen Aufsätzen und Lehrbüchern, sogar in manchen deutschen Werken (vgl. z.B. EBNER/HEININGER, Exegese, 78). 23 Unter „narrative Substruktur“ verstehe ich in Anlehnung an HAYS, Faith, 22, eine Geschichte im Hintergrund eines Diskurses, die den Diskurs dermaßen beeinflusst, dass dieser sich nur mit Kenntnissen jener Geschichte zufriedenstellend erschließen lässt. 24 Vgl. MATLOCK, Arrow, 49. 25 Vgl. PFG, 463f. Petersen greift damit Thesen von P. Ricœur auf (bes. RICŒUR, Narrative Function, passim) und macht sie der neutestamentlichen Wissenschaft zugänglich. 19

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Reihenfolge, in der diese Ereignisse im Text Erwähnung finden). Die chronologische Reihenfolge wird meist im Dienst der dichterischen Kunst bzw. aus ästhetischen oder pragmatischen Gründen – oft sogar in erheblichem Ausmaß – umgestaltet und durch eine poetische Reihenfolge ersetzt. Durch die Wiederherstellung der chronologischen Reihenfolge bekommt man Petersen zufolge Einblick in die „narrative world“ des Schreibers, d.h. in die metanarrative Ebene seines Diskurses.26 Wie oben bereits ausgeführt, weisen die traditionsgeschichtliche Analyse Stecks und deren Fortführung durch Wright auf eine grundsätzliche Übereinstimmung in der chronologischen Reihenfolge hinter vielen Texten der frühjüdischen Literatur hin. Genauso wichtig ist aber m.E. die bemerkenswerte Übereinstimmung auf der Ebene der poetischen Reihenfolge. Die poetische Umgestaltung der chronologischen Reihenfolge hält sich nämlich in Grenzen.27 Offensichtlich wird die kunstvolle Gestaltung des Narrativs durch relativ unbewegliche Vorstellungen von der „korrekten“ Erzähllogik gebremst. Dies scheint tatsächlich auf so etwas wie ein vielerorts anerkanntes Metanarrativ hinzudeuten, das ein starres Erklärungsmuster vorgibt.28 So wird die These eines andauernden Exils nicht nur durch lexikalische Querverbindungen zwischen frühjüdischen Texten bzw. Texten in der deuteronomistischen Tradition untermauert, sondern auch dadurch, dass erstaunlich viele frühjüdische Texte der Erzähllinie von Dtn 27–30 (bes. Dtn 30,1–5) sowie Texten, die in dieser Tradition stehen, folgen und diese bis in die Zeit nach der Zerstörung des Tempels verlängern. III. Methodische Vorüberlegungen im Blick auf die Untersuchung von Wrights These Ich halte Wrights These vom anhaltenden Exil aus den oben angeführten Gründen für wahrscheinlich. Diese These hat er m.E. bereits gewinnbringend in seiner Darstellung der Absichten Jesu angewandt.29 Manche Elemente des Wirkens Jesu lassen sich nämlich erst unter der Annahme sinnvoll erschließen, er greife bewusst das Motiv der Rückkehr seines Volkes aus dem Exil 26 Vgl. PETERSEN, Paul, 48: “Because the actions enjoy one set of relations to one another in their chronological [sc. referential; J.W.] sequence, the process of rearrangement [in their poetic sequence] may represent other than chronological relations between them, and thereby provide further material insights into both the story and the epistolary texts.” 27 WRIGHT, PFG, 136, bemerkt diese Übereinstimmung, ohne ihre ganze Tragweite für seine These zu erahnen. Vgl. WHITE, Narrative, 188f. 28 WRIGHT muss nicht beweisen – und versucht es auch nicht –, dass alle Juden im 1. Jh. meinten, sie lebten noch „im Exil“; vgl. PFG, 158: “[M]y case is not that all Jews throughout the period understood themselves to be living in a state of ‘continuing exile’, only that such an understanding was widespread, and was particularly likely to be true of zealous Pharisees.” 29 Vgl. WRIGHT, Jesus, bes. 538.

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auf. Ein Paradebeispiel dafür ist die Berufung der Zwölf, die typologisch die Rolle der Stammväter verkörpern (vgl. Mt 10,1–4 mit Mt 19,28). Jesus bestätigt damit eindeutig die im AT verwurzelte und im Frühjudentum weit verbreitete Hoffnung, dass alle Stämme aus dem Exil zurückkehren werden.30 Prägt aber dieses Metanarrativ wirklich im gleichen Maß das Denken des Paulus? Diese Frage bleibt leider auch nach der Veröffentlichung von PFG offen, trotz seines großen Umfangs. Im dritten Teil, der die eigentliche Theologie des Apostels darstellt,31 wird sie bei der Exegese einzelner Stellen jedenfalls kaum berücksichtigt. Dass Paulus die Rückkehr aus dem Exil in Jesus verwirklicht sah, wird vielmehr als bewiesen vorausgesetzt. Das genügt aber nicht, denn das Thema wird vom Apostel nirgends explizit ausgeführt. Wenn es dennoch vorhanden ist, dann auf der Ebene eines Subtextes, den zu untersuchen trotz mancher kritischer Anfragen durchaus legitim ist, auch wenn sich nicht alle, die sich dieser Aufgabe stellen, der besonderen methodischen Anforderungen bewusst sind.32 C. Heilig widmete sich kürzlich den methodologischen Fragen, die sich bei der Eruierung von Subtexten stellen, und konnte in Anlehnung an wissenschaftsphilosophische Weiterführungen des Satzes von T. Bayes zur Plausibilität von Hypothesen in den Geschichtswissenschaften33 das Dickicht der von R.B. Hays aufgestellten, einflussreichen Kriterien zur Identifizierung von Anspielungen auf zwei wesentliche (wenn auch nicht einfache) Aspekte reduzieren: „background plausibility“ (Hintergrundplausibilität) und „explanatory potential“ (Erklärungspotential).34 Bei Paulus ist die Hintergrundplausibilität (d.h. die inhärente Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit einer These abgesehen von jeglichen neu hinzukommenden Indizien dafür) auf jeden Fall gegeben: Die metanarrative Erzähllinie des andauernden Exils lässt sich, wie oben erwähnt, tatsächlich in vielen frühjüdischen Texten entdecken, so dass man berechtigterweise von der Prämisse ausgehen darf, dass diese auch bei Paulus vorhanden ist. Was bei Wright noch fehlt, sind klare Beweise für das Erklärungspotential der These, d.h. für ihre Fähigkeit, neu hinzukommende Indizien befriedigender zu erläutern als andere mit ihr konkurrierende Thesen. Bei Anwendung dieser Analyse würde man im konkreten Fall erwarten, dass 30

Vgl. dazu ausführlich WHITE, 144,000, 185f. Vgl. PFG, 609–1265. 32 Vgl. dazu WHITE, Subtexts, 305–333. Obwohl das Anspielen auf zeitgenössische Strömungen offensichtlich nicht dasselbe Phänomen ist wie das Anspielen auf das AT, ähneln sich die methodischen Anforderungen in vielerlei Hinsicht. 33 Vgl. z.B. DAY/RADICK, Evidence, 87–97. 34 Vgl. HEILIG, Criticism, 21–49. Heilig kritisiert Hays’ weitverbreitete sieben „Kriterien“ zur Erhebung von Anspielungen (vgl. HAYS, Echoes, 29–32), weil sie erstens keine Kriterien im strengen Sinne sind und sich zweitens bei näherer Betrachtung besser als untergeordnete Aspekte der Bayes’schen Kategorien der „background plausibility“ bzw. des „explanatory potential“ erfassen lassen. 31

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manche paulinischen Stellen einen besseren oder wenigstens tieferen Sinn ergeben, wenn sie unter Annahme eines allgemeinen frühjüdischen Metanarrativs vom andauernden bzw. (bei ihrer Inanspruchnahme durch frühe Christen) vom erst mit Jesus zu Ende gehenden Exil ausgelegt werden. Dies ist m.E. tatsächlich der Fall, wie ich an zwei Stellen im Römerbrief exemplarisch zeigen möchte.

B. Exegetisch-theologische Untersuchungen der These Wrights anhand des Römerbriefs I. Römer 9–11 Wie von allein drängt sich zuallererst die Frage nach dem Deutungspotential der These Wrights in Bezug auf Römer 9–11 auf. Denn sollte sich diese These als unfähig erweisen, just die Ausführungen des Apostels über das Verhältnis Israels zur christlichen Gemeinde gewinnbringend zu erläutern, müsste man grundsätzliche Zweifel an ihrer Richtigkeit anmelden. Dabei darf man den situationsbedingten Charakter des Abschnitts nicht übersehen. Dieser lässt sich daran festmachen, dass die Gemeinde in Rom mit der Reintegration jüdischer Jesus-Nachfolger befasst war, die Rom aufgrund des ClaudiusEdikts 49 n.Chr. verlassen mussten und dann unter Nero zurückgekommen sind.35 In diesem Zusammenhang funktionierte die Olivenbaummetapher (Röm 11,17–24) als Bild, das die Neugestaltung juden- und heidenchristlicher Identitäten in einer gemischten Gemeinde erleichtern sollte: Auch die römischen Judenchristen waren „abgebrochen“ und sind nun „wiedereingepfropft“ worden. Damit müssen sich die „widernatürlich eingepfropften“ Heidenchristen vor Ort abfinden. Das Bild des Olivenbaums malt beiden Gruppen – Juden- wie Heidenchristen – vor Augen, wie sie sich gemeinsam eine übergeordnete Identität aneignen können, ohne auf ihre jeweiligen und weiterhin wichtigen „subgroup identities“ verzichten zu müssen.36 Das besonders Geniale an der Olivenbaummetapher besteht m.E. aber darin, dass sie sich gleichzeitig epochaler heilsgeschichtlicher Kategorien bedient. Hier werden nicht nur örtliche Zusammenhänge plastisch dargestellt, sondern durch das Bild des Olivenbaums wird die Geschichte Israels aus der Perspektive des dtrGB (um bei Stecks Terminologie zu bleiben) bzw. der „controlling narrative“ (um Wrights Paradigma aufzugreifen) des andauern-

35

Vgl. meine ausführliche Darstellung der historischen und literarischen Zusammenhänge in WHITE, Erstlingsgabe, 71–80. 36 Vgl. ESLER, Oleiculture, 123.

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den Exils metaleptisch vergegenwärtigt.37 Damit kann die Metapher als geistige Ressource zur Erschaffung einer neuen weltanschaulichen Perspektive (Petersens „narrative world“) für die Gemeinde in Rom herangezogen werden. Paulus setzt diese wirkungsvolle rhetorische Strategie jedoch nicht erst mit dem Bild des Olivenbaums ein. Die deuteronomische Erzähllinie prägt sein Denken spätestens ab Röm 9,30 – dort widmet er sich der für ihn und seine Leser brennenden Frage, warum Israel im Großen und Ganzen nicht den Weg der Gerechtigkeit aus dem Glauben wählte bzw. Jesus nicht als seinen Messias anerkannte –, wahrscheinlich aber bereits ab Röm 9,23, wo die Heiden erstmals in den Blick geraten. Auf jeden Fall wird diese Erzähllinie unübersehbar, sobald Paulus in Röm 10,19 einen Vers aus dem Lied des Mose (Dtn 32,1–43), einer poetischen Darstellung des Weges Gottes mit Israel, die in ihrer kanonischen Gestalt auf die Bundeserneuerung (Dtn 27–31) folgt und sie theologisch-heilsgeschichtlich deutet, zitiert: „Ich werde euch eifersüchtig machen durch ein Nicht-Volk, durch ein uneinsichtiges Volk werde ich euch zum Zorn reizen“ (Dtn 32,21).38 Diesem Zitat fügt Paulus unmittelbar ein weiteres aus Jes 65,1a hinzu: „Ich wurde von denen gefunden, die mich nicht suchten; ich bin denen offenbar geworden, die nicht nach mir fragten.“ Darauf folgt Jes 65,2a, was Paulus kontrastiv zu Jes 65,1a deutet: „Den ganzen Tag strecke ich nach diesem ungehorsamen und widerspenstigen Volk meine Hände aus.“ Damit legt Paulus das Fundament für sein Argument in Röm 11,11–16, wonach die Verstockung Israels eine überaus wichtige Rolle im Heilsplan Gottes spielt und von keinen Geringeren als Mose und Jesaja vorausgesagt worden ist. Durch die Aufnahme von Dtn 32,21 untermauert Paulus sein Argument in zweifacher Hinsicht und nimmt gleichzeitig zwei wichtige Aspekte des Bilds vom Olivenbaum (Röm 11,17–24) vorweg. Zum einen dient die Verstockung Israels offenbar der Eröffnung einer von Juden im 1. Jh. nicht erwarteten heilsgeschichtlichen Epoche, in der die Heiden als Heiden (statt als Proselyten) in das Volk Gottes aufgenommen werden sollten.39 Dass Paulus auch dies im Lied des Mose vorausgesagt sieht, wird klar, wenn er später in Röm 37

HAYS, Echoes, 20, beschreibt Metalepse als “a diachronic trope […] [in which] a literary echo links the text in which it occurs to an earlier text, [and] the figurative effect of the echo can lie in the unstated or suppressed (transumed) points of resonance between the two texts.” 38 Paulus zitiert, mit Ausnahme der für unsere Zwecke unwichtigen Änderung von indirekter (αὐτoύς) zu direkter (ὑµᾶς) Rede, wörtlich aus der LXX, die sich wiederum sehr genau an den MT hält. 39 STUHLMACHER, Römer, 154, formuliert treffend: „Wenn Paulus vom ,Eingang‘ der von Gott bestimmten ,Vollzahl der Heiden‘ […] spricht, hat er die alttestamentlich-frühjüdische Erwartung im Blick, daß in der Endzeit die Heidenvölker […] auf ihre Weise an dem Israel von Gott eröffneten Heil teilhaben dürfen“ (Hervorhebung J.W.).

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15,10 DtnLXX 32,43 zitiert (vgl. die Diskussion unten). Nicht, dass (zumindest manche) Heiden einen Platz im Volk Gottes bekommen, ist für jüdische Leser überraschend – viele Texte der sogenannten „Völkerwallfahrtstradition“ (vgl. Jes 2,2–5 [par. Mi 4,1–3]; 11,10; 14,1; 19,19–25; 56,6f.; 60,1–3; 66,18–21; Sach 2,11; 8,20–23; 14,16; Zeph 3,9–10; Ps 86,9; 87,4–6 usw.) deuten darauf hin40 –, sondern dass ihre Aufnahme erfolgt, bevor die Errettung des Volkes Israel abgeschlossen ist. Darin besteht m.E. das bisher verborgene „Geheimnis“, das Paulus in Röm 11,25 lüftet. Zum anderen entdeckt Paulus in Dtn 32,21 eine göttliche Absicht im Hinblick auf Israel selbst. Das Volk soll durch die Aufnahme der Heiden „eifersüchtig“ gemacht werden. Damit liefert das Zitat letztlich die Antwort des Paulus auf die Theodizee-Frage, die sich angesichts der Ablehnung des Messias Jesus durch den größeren Teil Israels mit aller Dringlichkeit stellte. Israels Verstockung ist nur einem Teil Israels (ἀπὸ µέρους τῷ Ἰσραήλ) widerfahren.41 Der erwählte Rest, der in Zukunft dem Olivenbaum Israel wiedereingepfropft werden wird, sollte sich gerade angesichts der wilden Zweige, die am Baum inzwischen prächtig gedeihen, seines Erbes besinnen und es für sich in Anspruch nehmen. Mit seinem Zitat aus Dtn 32,21 knüpft Paulus explizit an das Lied des Mose (Dtn 32,1–43) an, das ihm durch den ganzen Abschnitt von Röm 9–11 hindurch als Vorlage dient, wie eine genauere Betrachtung von Dtn 32,1–43 zeigt. Das Lied lässt sich thematisch in groben Zügen wie folgt gliedern:42 Prolog (Dtn 32,1–3) A. Die Erwählung Israels (Dtn 32,4–9) B. Die Errettung Israels (Dtn 32,10–14) C. Die Auflehnung Israels gegen Gott (Dtn 32,15–18) D. Die Verstoßung Israels durch Gott (Dtn 32,19–25), einschließlich des Eifersüchtig-Werdens Israels durch ein Nicht-Volk (V. 21) E. Der Beschluss Gottes, sich Israels zu erbarmen (Dtn 32,26–43), einschließlich der eschatologischen Einbeziehung der Völker in das Volk Gottes (V. 43)

Diese Elemente lassen sich mühelos hinter der Argumentationsstruktur von Röm 9–11 erkennen, solange man nicht außer Acht lässt, dass Paulus bemüht ist (analog zur Hermeneutik der Qumran-Gemeinschaft),43 die Erfüllung des

40

Vgl. DONALDSON, Paul, 69–74. Eine quantitative Deutung („teilweise“) ist der temporalen („einstweilig“) vorzuziehen (vgl. HOFIUS, Evangelium, 190). 42 Ich folge der Perikopenaufteilung von MCCONVILLE, Deuteronomy, 451, mit dem für unsere Zwecke unwesentlichen Unterschied, dass er Dtn 32,26–43 in zwei Teile aufteilt. 43 Vgl. PATE, Communities, 87–91. 41

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verheißenen Heilshandelns Gottes mit der Gemeinde der Jesus-Nachfolger zu verknüpfen, die er mit dem Rest Israels in Verbindung setzt: A. Die Erwählung Israels, die sich stets in der Herausbildung eines Rests ausdrückte (Röm 9,1–29) B. Die Errettung Israels, die bisher ausbleibt (Röm 9,30–10,4) C. Die Auflehnung Israels gegen Gott, obwohl es die Botschaft gehört hat (Röm 10,5–21) D. Die Verstoßung Israels durch Gott, der aber stets einen Rest bewahrte (Röm 11,1–10) E. Der Beschluss Gottes, sich Israels zu erbarmen (Röm 11,11–32)

Paulus reflektiert also nicht nur vereinzelte Stellen des Liedes des Mose an verschiedenen Stellen seiner Ausführungen in Röm 9–11; vielmehr hält er sich dabei auch dezidiert an die „referential sequence“ des Lieds.44 Diese liefert die narrative Substruktur, auf der er sein Argument aufbaut. Das Zitat aus Dtn 32,21 in Röm 10,19 scheint zunächst aus der Reihe zu fallen (es kommt genau genommen im letzten statt im vorletzten Abschnitt von Röm 9–11 vor). Das wird aber relativiert, sobald man merkt, dass die in Röm 10,19–21 zitierten alttestamentlichen Stellen (Dtn 32,21; Jes 65,1f.) eine Übergangsfunktion haben. Sie bestätigen einerseits Israels Schuld und begründen andererseits das darauffolgende Argument hinsichtlich der Verstoßung Israels (unter Aufbewahrung eines Rests) durch Gott. Wichtig für unsere Zwecke ist nicht nur die Hervorhebung einer narrativen Substruktur, die sich an dem dtrGB orientiert, sondern auch die implizite Zeitbestimmung, die Paulus durch sein Argument vornimmt: Israel befindet sich in der Phase des Von-Gott-verstoßen-Seins, die der andauernden exilischen Erfahrung des dtrGB entspricht, und steht an der Schwelle zur nächsten Epoche, in der sich Gott seines Volks erbarmen wird. Wrights These scheint somit in Bezug auf Röm 9–11 bestätigt zu sein. II. Röm 15,14–20 Wir haben oben bereits gesehen, dass der umfassende heilsgeschichtliche Entwurf in Röm 9–11 auch situationsbedingten Charakter hat. Das wird noch klarer, sobald man die Ausführungen des Paulus zu einem in der römischen Gemeinde für Spannungen sorgenden Thema in Röm 14,1–15,7 untersucht. Wir müssen uns hier nicht um die Details der umstrittenen Praktiken kümmern, um die es in Rom ging; kultisch-kulturelle Differenzen zwischen Juden- und Heidenchristen spielten auf jeden Fall eine wichtige Rolle (vgl. Röm 14,5).45 Uns interessiert vor allem, wie diese Differenzen Paulus veran44 45

Ähnlich argumentieren BELL, Provoked, 200; WHITTLE, Covenant, 3–5. Vgl. dazu STUHLMACHER, Römer, 197f.

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lassten, beide Gruppierungen zur gegenseitigen Annahme aufzufordern. Dafür dient Christus der Gemeinde als Vorbild, da er sich als Diener sowohl der Juden als auch der Heiden erweist (vgl. Röm 15,7f.). Dies geschieht gemäß der Absicht Gottes, die Völker zu retten, was nach Meinung des Apostels in der Schrift eindeutig vorausgesagt wurde. Als Belege zitiert er vier Schriftstellen – darunter auch DtnLXX 32,43 (neben Ψ 17,50; Ps 117,1; Jes 11,10) –, die die Völker erwähnen bzw. implizit mit ihrer Huldigung Jahwes rechnen. Weil Paulus nun langsam seinen Brief zum Abschluss führen will und das Thema der Mission unter den Heiden unmittelbar mit dem Briefanlass zu tun hat (vgl. Röm 1,8–15; 15,22–29), scheint es ihm angebracht, an dieser Stelle Näheres über seine Berufung als Heidenapostel zu sagen. Ihm sei – wie er in Röm 15,16 behauptet, einem von alttestamentlich-kultischem Vokabular geradezu überladenen Vers – von Gott die Gnade erwiesen worden, „ein Diener im Auftrag Christi Jesu zu den Völkern zu sein“ (εἰς τὸ εἶναί µε λειτουργὸν Χριστοῦ Ἰησοῦ εἰς τὰ ἔθνη). In der LXX werden λειτουργεῖν und verwandte Lexeme fast ausschließlich gebraucht, um den Dienst von Priestern und Leviten zu bezeichnen; es handelt sich um termini technici für den alttestamentlichen Priesterdienst.46 Paulus versteht seinen Auftrag analog dazu als „priesterlichen Dienst am Evangelium Gottes“ (ἱερουργοῦντα τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ). Dieser besteht darin, „die Heidenvölker als gottgefälliges und durch den Heiligen Geist abgesondertes Opfer darzubringen“ (ἵνα γένηται ἡ προσφορὰ τῶν ἐθνῶν εὐπρόσδεκτος ἡγιασµένη ἐν πνεύµατι ἁγίῳ). Weil Paulus seinen Auftrag nun zu seiner eigenen Genugtuung ausgeführt hat, rühmt er sich seines Dienstes (Röm 15,17f.). Paulus weiß wohl, dass dieses Rühmen erklärungsbedürftig ist. Deswegen fährt er in Röm 15,19 mit einer bekannten crux interpretum fort, indem er beteuert, er habe „von Jerusalem in kreisförmiger Bewegung bis nach Illyrien das Evangelium Christi erfüllt“ (ἀπὸ Ἰερουσαλὴµ καὶ κύκλῳ µέχρι τοῦ Ἰλλυρικοῦ πεπληρωκέναι τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ).47 Diese Konzentration auf den nordöstlichen Mittelmeerraum entsprach seinem Vorsatz, nur dort zu predigen, wo Christus noch nicht bekannt war (Röm 15,20), was er in Röm 15,21 wiederum mit einem Jesaja-Zitat (52,15) unterstreicht. Paulus ist also offensichtlich bemüht, seine Mission unter den Heiden als kultisch-priesterlichen Dienst darzustellen, der sich auf alttestamentlich-prophetische Aussagen stützt. Wenn man nach Belegen dafür sucht, stellt man schnell fest: Eine ausdrückliche Begründung für eine Mission unter den Heiden kann man im ganzen AT nur einer Stelle entnehmen: Jes 66,18–21.48 Es überrascht daher nicht, dass sich in Röm 15,14–21 einige Anspielungen auf

46

Vgl. WICK, Gottesdienste, 23. Für diese Deutung vgl. WHITE, Erstlingsgabe, 207, Anm. 662. 48 Vgl. PREUSS, Theologie, 323. 47

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ebendiese Jesaja-Stelle erkennen lassen49 – die überragende Bedeutung von Jesaja für das Verständnis des Apostels von seiner Berufung bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung.50 Am deutlichsten ist der Ausdruck „Opfer der Heidenvölker“ (ἡ προσφορὰ τῶν ἐθνῶν) in Röm 15,16. Der Bezug zu Jes 66,20 ist offensichtlich: „Sie werden alle eure Brüder aus allen Völkern als Speiseopfer für Jahwe bringen“ (MT: ‫ ;והביאו את כל אחיכם מכל הגוים מנחה ליהוה‬LXX: καὶ ἄξουσιν τοὺς ἀδελφoὺς ὑµῶν ἐκ πάντων τῶν ἐθνῶν δῶρον κυρίῳ). Paulus spricht zwar von προσφορά statt δῶρον, aber προσφορά kann ‫ מנחה‬übersetzen (vgl. Ψ 39,7), und der lexikalische Unterschied scheint unwesentlich zu sein.51 Im jesajanischen Kontext bezieht sich der Ausdruck „eure Brüder“ eindeutig auf die Heiden; ein Bezug auf Diasporajuden ergäbe hier keinen Sinn.52 Des Weiteren vermuten mehrere Exegeten, dass hinter den geographischen Angaben in Röm 15,19 eine Anspielung auf Jes 66,19 liegt.53 Ihre jeweiligen Deutungen dieser Angaben gehen auseinander, und wir müssen uns hier nicht im Einzelnen mit ihren Thesen beschäftigen. Allen gemeinsam ist aber die Überzeugung, dass Jes 66,19 Paulus bei seinen Missionseinsätzen in Kleinasien und Europa als Vorgabe diente. Dazu kommt, dass Paulus stark betont, dass die Verkündigung des Evangeliums von Zeichen und Wundern begleitet wurde (vgl. Röm 15,19 mit Jes 66,19: „Ich werde meine Zeichen unter ihnen setzen“) und dass er nur dort evangelisieren wollte, wo „Christus nicht genannt wird“ (Röm 15,20). Der primäre Bezug für Letzteres ist Jes 52,15 (vgl. das Zitat in Röm 15,21), aber auch Jes 66,19 klingt an (die aufgezählten Länder haben „keine Kunde von mir gehört“). Die Auffassung des Apostels von seiner Berufung ist also offensichtlich stark von seinem Verständnis von Jes 66,18–20 geprägt. Dieser Text diente ihm in vielerlei Hinsicht als Vorgabe für seine Mission. Für unsere Zwecke ist aber besonders wichtig, dass er einen bestimmten heilsgeschichtlichen Ablauf für die Heidenmission voraussetzt, in den sich auch sein Dienst temporal einordnen lässt. Paulus versteht sich nämlich als einen jener „Entkommenen“ (Jes 66,19) – also als Teil des Rests Israels (vgl. Röm 11,1) –, den Gott nun zu den Völkern schickt, um auch ihnen seine Herrlichkeit zu verkündigen. Sie, die Juden aus der Diaspora, bringen daraufhin die Völker nach Jerusalem als Speiseopfer für Jahwe. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Überbringung der Kollekte unter starker Beteiligung heidenchristlicher Vertreter aus den von Paulus gegründeten Gemeinden (vgl. Act 20,4f.) nicht bloß 49

Vgl. meine ausführliche Behandlung in WHITE, Erstlingsgabe, 204–212. Vgl. WILK, Bedeutung, 401–408. 51 Vgl. AVERBECK, ‫מנחה‬, 989. 52 Vgl. KRAUS, Volk, 24. 53 Vgl. RIESNER, Frühzeit, 213–225; AUS, Travel, 241; SCOTT, Paul, 145f.; BAUCKHAM, Paul, 175. 50

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als PR-Strategie für seine Mission verstehen, sondern als Erfüllung eines biblischen Auftrags. Somit ergibt sich ein Gesamtbild, das mit den Ausführungen des Paulus in Röm 11 übereinstimmt. Die Heidenmission, der die Bemühungen des Paulus besonders gelten, ist nicht der abschließende Akt des heilsgeschichtlichen Dramas, der nach der Rückkehr der Juden aus dem Exil erfolgt, sondern sie geschieht parallel dazu. Heiden und Juden treten nun durch den Dienst Christi (Röm 15,8f.) gemeinsam vor Gott. Indem wir den jesajanischen Hintergrund erläutern, wird klar, dass Paulus davon ausgeht, dass die Rückkehr Israels aus dem Exil zwar begonnen hat, aber noch nicht abgeschlossen ist.

C. Schluss Zwei Stellen im Römerbrief weisen eine narrative Substruktur auf, die N.T. Wrights These eines Metanarrativs vom andauernden Exil untermauern. Dennoch müsste betont werden (jedenfalls stärker, als Wright es tut), dass man genauso von einer bereits begonnenen Rückkehr aus dem Exil sprechen könnte und sollte. Wieder einmal erweist sich die Formel vom „Schon jetzt/Noch nicht“ als hilfreiches Modell, um die Theologie des Paulus zu erschließen. Ohne Zweifel glaubte der Apostel, dass die Rückkehr eines Rests Israels aus der Diaspora schon begonnen hat; er gehörte ja auch dazu. Aber abgeschlossen war sie aus seiner Sicht noch nicht. Wie konnte das denn auch sein, wenn ein beträchtlicher Teil dieses Rests gerade durch die Heidenmission, für die Paulus die Hauptverantwortung trug, eifersüchtig werden und dadurch zum Gott ihrer Väter zurückkehren sollte?

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Paulus als Jude(n) lesen Zur Auslegung von Römer 9–11 unter jesusgläubigen Juden1 Hanna Rucks Abstract: Messianic Jewish readings of Romans 9–11 diverge from German Christian protestant exegesis of these chapters. Messianic Jewish commentators differ in their reading of the text from the Gentile commentators at three levels. Firstly, they try to avoid contrasting Judaism and Jesus Christ; they see more continuity between the Jewish tradition before Jesus and the “new way” after his coming than the average gentile reader. Secondly, they have their own hermeneutical approach. They interpret Paul’s words more against the background of (later) rabbinic discussions and literature than their Gentile counterparts. And they construe Paul’s usage of the Old Testament against the background of rabbinical hermeneutics. An interesting consequence of this is that they show much less irritation towards Paul’s ways of citing Old Testament passages than the Gentile exegetes. Thirdly, on an “emotional level”, their pressing concern is to battle “Replacement theology” – much more than for most of the Gentile commentators.

A. Vorbemerkungen Paulus war Jude. Er war im jüdischen Denken seiner Zeit beheimatet, er schrieb aus diesem Denken heraus. Wenn wir das ernst nehmen, dann ist es für uns von besonderem Interesse zu hören, wie Menschen, die in der Tradition jüdischen Denkens stehen, seine Texte lesen und verstehen. Denn die jüdische Tradition hat sich auf andere Weise als die christliche aus dem damaligen Judentum entwickelt. Ein Hören auf Menschen, die in der jüdischen Gedankenwelt beheimatet sind, mag uns, die wir mindestens teilweise außerhalb dieser Gedankenwelt aufgewachsen sind, neue Erkenntnisse bringen. Genau das soll in diesem Aufsatz geschehen: Juden sollen auf ihr Verständnis von Römer 9–11 hin befragt werden. Dabei ist das Besondere: Die drei jüdischen Kommentatoren, deren Ansichten und exegetische Ansätze hier dargestellt werden, waren oder sind jesusgläubige Juden. Es handelt sich um David Stern, Joseph Shulam und Jechiel Zvi Lichtenstein. Während die ersten beiden israelische messianische 1

Erweiterte Fassung eines Vortrags im Rahmen des neutestamentlichen Symposions „Der jüdische Messias Jesus und sein jüdischer Apostel Paulus“ (8./9. Juni 2015 in Tübingen, anlässlich des 65. Geburtstags von Prof. Dr. Rainer Riesner, Gomaringen).

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Hanna Rucks

Juden der Gegenwart sind, lebte Jechiel Zvi Lichtenstein von 1831–1912 im europäischen Kontext.2 Ihnen allen aber gemeinsam ist, dass sie innerhalb der messianisch-jüdischen Bewegung3 dem „jüdischen Flügel“ zugerechnet werden können. Das heißt, dass sie nicht nur die Unabhängigkeit jesusgläubiger Juden von den völkerchristlichen Kirchen unterstützten und unterstützen – wie aus ihren Lebensläufen hervorgeht –, sondern dass sie auch der rabbinischen Tradition Wichtigkeit und eine gewisse Autorität zumessen. Wie lesen Menschen, die aus einem solchen Hintergrund kommen, die für das christlich-jüdische Verhältnis so wegweisenden Kapitel 9–11 des Römerbriefes? Eine Analyse zeigt, dass die hier untersuchten Exegeten auf drei Ebenen besondere Akzente setzen oder in ihrer Lesart von völkerchristlicher Auslegung abweichen: auf inhaltlicher, auf hermeneutischer und auf emotionaler Ebene. Diesen drei Punkten entlang gliedert sich der folgende Aufsatz. Anhand von drei Textstellen aus Römer 9–11 (Röm 9,4f.; 10,4–9; 11,17–24) soll aufgezeigt werden, wo messianisch-jüdische Lesart dieser Kapitel unsere deutschsprachige Auslegungstradition bereichern kann. Verglichen wurden Sterns, Shulams und Lichtensteins Auslegungen mit den Kommentaren von sieben deutschen protestantischen Exegeten: Paul Althaus, Otto Michel, Ul-

2

David H. Stern wurde 1935 in Los Angeles geboren und kam 1972 zum Glauben an Jesus. Er studierte u.a. am Fuller Theological Seminary, wo er mit einem „Master of Divinity“ abschloss. Er unterrichtete später zeitweise auch an dieser Hochschule. 1979 emigrierte er nach Israel. 1988 publizierte er seine – in der messianisch-jüdischen Bewegung breit gelesene – Schrift „Messianic Jewish Manifesto“. Er lebt in Jerusalem. Joseph Baruch Shulam kam 1946 in Bulgarien zur Welt, doch seine Familie wanderte bereits 1948 nach Israel aus. 1962 kam er zum Glauben an Jesus. Er hat in den USA und an der Hebräischen Universität in Jerusalem studiert, u.a. biblische Archäologie und Geschichte des jüdischen Denkens zur Zeit des zweiten Tempels. Außerdem lernte er 1972– 1975 rabbinisches und jüdisches Denken an der „Diaspora Yeshiva“ in Jerusalem. Er ist Leiter des messianisch-jüdischen „Netivyah Bible Instruction Ministry“ und leitet die Gemeinde „Roeh Israel“ in Jerusalem. Jechiel Zvi Lichtenstein – er führte als Autor auch den Namen Herschenson – stammte aus Rumänien. Im Jahr 1855 taufte er sich und einige Freunde in der Nähe seiner Geburtsstadt; etwas später heiratete er die Schwester von Joseph Rabinowitz, der als Erster im ausgehenden 19. Jh. eine von den Kirchen unabhängige messianisch-jüdische Gemeinde gründete. Lichtenstein lehrte u.a. 1891–1904 in Leipzig am dortigen „Institutum Judaicum“ und publizierte viel. Er verstarb im Februar 1912. Vgl. zum Ganzen STERN, New Testament, 938; SHULAM, Commentary, 529; LICHTENSTEIN, ‫סוגיות‬, 7–11; RUCKS, Messianische Juden, 9f. 3 Für das 19. Jh. ist dieser Begriff anachronistisch. So etwas wie eine messianisch-jüdische Bewegung existierte zu Lichtensteins Zeiten nicht. Dennoch wird er im Folgenden als messianischer Jude bezeichnet, weil er – wie die messianisch-jüdische Bewegung heute – dafür plädierte, dass jesusgläubige Juden ihre jüdische Identität nicht aufgeben sollten.

Paulus als Jude(n) lesen

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rich Wilckens, Peter Stuhlmacher, Klaus Haacker, Eduard Lohse und Klaus Wengst.4

B. Inhaltliche Ebene Bei dem Thema, bei dem man möglicherweise die größten Differenzen zwischen messianisch-jüdischer und völkerchristlicher Lesart vermutet – beim Thema „Messias“ – bewegen sich die messianischen Juden im Rahmen dessen, was auch deutsche Protestanten schreiben. Besonders deutlich wird das am Verständnis von Röm 9,5. Dort heißt es: … ὧν οἱ πατέρες καὶ ἐξ ὧν ὁ Χριστὸς τὸ κατὰ σάρκα, ὁ ὢν ἐπὶ πάντων θεὸς εὐλογητὸς εἰς τοὺς αἰῶνας, ἀµήν.5

Wie Stern darlegt, hängt das Verständnis dieses Verses von der Interpunktion ab.6 Es sind drei verschiedene Übersetzungen möglich, je nachdem, wo man ein Komma oder einen Punkt denkt. Setzt man einen Punkt vor ὁ ὢν ἐπὶ πάντων, beziehen sich diese und die darauf folgenden Worte auf Gott. Der Satz heißt dann: „… denen [gemeint sind die Israeliten; H.R.] die Väter gehören und aus denen Christus nach dem Fleisch kommt. Gott, der über allem ist, sei gepriesen in Ewigkeit, amen.“ Setzt man einen Punkt nach ὁ ὢν ἐπὶ πάντων, wird Jesus zugeschrieben „über allem“ zu sein. Der Satz wäre dann so wiederzugeben: „… denen die Väter gehören und aus denen Christus nach dem Fleisch kommt, der über allem ist. Gott sei gepriesen in Ewigkeit, amen.“ Setzt man allerdings nur ein Komma vor ὁ ὢν ἐπὶ πάντων, wird Christus an dieser Stelle explizit „Gott“ genannt – und der Lobpreis bezieht sich auf ihn. Auf Deutsch hieße der Satz dann: „… denen die Väter gehören und aus denen Christus nach dem Fleisch kommt, der über allem ist, Gott; gepriesen sei er in Ewigkeit, amen.“ Man könnte vermuten, die messianischjüdischen Exegeten würden für die erste Lesart, die völkerchristlichen für die dritte plädieren. Zwar liest Lichtenstein den Vers tatsächlich nach der ersten Variante7, doch tun dies heute auch die meisten völkerchristlichen Theologen: Stuhlmacher, Haacker, Wilckens und Wengst legen den Text so aus.8 Stern 4 ALTHAUS, Römer, passim; MICHEL, Römer, passim; WILCKENS, Römer, passim; STUHLMACHER, Römer, passim; HAACKER, Römer, passim; LOHSE, Römer, passim; WENGST, Freut euch, passim. 5 Alle griechischen Schriftzitate nach NA27. 6 Vgl. STERN, New Testament, 388. So auch im Folgenden. 7 Vgl. LICHTENSTEIN, ‫סוגיות‬, 212. 8 Vgl. WILCKENS, Römer, 189; STUHLMACHER, Römer, 132f.; HAACKER, Römer, 186f.; WENGST, Freut euch, 293. Es ist allerdings zu beachten, dass LICHTENSTEIN eine sonst nicht zu findende Begründung für diese Lesart bringt: Er weist darauf hin, dass hier von „Christus nach dem Fleisch“ gesprochen wird. Mit Verweis auf Röm 1,4 schreibt er,

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und Shulam präferieren die zweite Lesart.9 Das heißt: Von den hier untersuchten deutschsprachigen Exegeten sind es nur die „alten“ – Althaus und Michel –, die in der Tradition der Kirchenväter für die „hochchristologische“ dritte Variante plädieren.10 Gleichzeitig lässt sich unter den messianischen Juden an anderer Stelle in Röm 9–11 durchaus „hochchristologische Theologie“ finden. Im Blick ist Röm 10,9, wo es heißt: ὅτι ἐὰν ὁµολογήσῃς ἐν τῷ στόµατί σου κύριον Ἰησοῦν καὶ πιστεύσῃς ἐν τῇ καρδίᾳ σου ὅτι ὁ θεὸς αὐτὸν ἤγειρεν ἐκ νεκρῶν, σωθήσῃ.

Denn wenn du mit deinem Mund bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet.

Zu diesem Vers schreibt Stern, dass der Begriff „Herr“, hebräisch gedacht, entweder als „Herrscher“ oder als Übersetzung des Gottesnamens JHWH (in der jüdischen Liturgie als „Adonai“ ausgesprochen) verstanden werden kann. “A case can be made for either meaning here. It must be pointed out that to acknowledge Yeshua the Messiah as Adonai is not to deny that the Father and the Holy Spirit ‘are’ Adonai too, or to believe in anything but one God (Deuteronomy 6:4), or to believe anything that conflicts with the Tanakh.”11

Kurz: Im Blick auf die Christologie zeigen sich keine deutlichen Unterschiede zwischen messianisch-jüdischer und völkerchristlicher Lesart von Röm 9– 11. Sterns letzte Bemerkung weist allerdings auf eine Tendenz hin, bei der sich messianisch-jüdische Exegeten in ihrem inhaltlichen Verständnis tatsächlich von deutschsprachig-völkerchristlichen unterscheiden. Stern, Shulam und Lichtenstein sind darum bemüht, Judentum und Christusereignis nicht gegeneinander auszuspielen, Kontinuität statt Abbruch, Übereinstimmung statt „Gegensätze“ zu lesen, wo völkerchristliche Exegeten in der Regel einen Paradigmenwechsel sehen. Ein Beispiel soll genannt werden – und zwar Röm 10,4–8.12 dass Jesus nach dem Fleisch nicht „Gott“ genannt werden könne, nur Jesus nach dem Geist. Daher fällt für ihn die dritte Lesart weg. 9 Vgl. STERN, New Testament, 388; SHULAM, Commentary, 327f. 10 Vgl. ALTHAUS, Römer, 100; MICHEL, Römer, 296–298. 11 STERN, New Testament, 401. 12 Ein zweites, hier nicht weiter ausgeführtes Beispiel wäre die von Paulus verwendete Metapher des Ölbaums in Röm 11,17–24. Alle drei messianisch-jüdischen Exegeten betonen – selbst Lichtenstein bereits im 19. Jh. –, dass die Kirche (die Völker) nicht an die Stelle Israels getreten ist – das Bild vom Ölbaum könne so nicht interpretiert werden (LICHTENSTEIN, ‫סוגיות‬, 223; STERN, New Testament, 415; SHULAM, Commentary, 374). Das Christusereignis hat also nicht zu einer Diskontinuität im Sinne eines „Wechsels der Erwählung“ geführt. In dogmatischem Vokabular ausgedrückt: Alle drei distanzieren sich von der „Substitutionslehre“ bzw. der „Ersatztheologie“. Bei den völkerchristlich-deutschsprachigen Exegeten gehen hier die Ansichten auseinander (vgl. Abschnitt D).

Paulus als Jude(n) lesen 4

τέλος γὰρ νόµου Χριστὸς εἰς δικαιοσύνην παντὶ τῷ πιστεύοντι. 5 Μωϋσῆς γὰρ γράφει τὴν δικαιοσύνην τὴν ἐκ [τοῦ] νόµου ὅτι ὁ ποιήσας αὐτὰ ἄνθρωπος ζήσεται ἐν αὐτοῖς. 6 ἡ δὲ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη οὕτως λέγει· µὴ εἴπῃς ἐν τῇ καρδίᾳ σου· τίς ἀναβήσεται εἰς τὸν οὐρανόν; τοῦτ᾽ ἔστιν Χριστὸν καταγαγεῖν· 7 ἤ· τίς καταβήσεται εἰς τὴν ἄβυσσον; τοῦτ᾽ ἔστιν Χριστὸν ἐκ νεκρῶν ἀναγαγεῖν. 8 ἀλλὰ τί λέγει; ἐγγύς σου τὸ ῥῆµά ἐστιν ἐν τῷ στόµατί σου καὶ ἐν τῇ καρδίᾳ σου, τοῦτ᾽ ἔστιν τὸ ῥῆµα τῆς πίστεως ὃ κηρύσσοµεν.

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Denn Christus ist des Gesetzes Ende zur Gerechtigkeit für jeden, der an ihn glaubt. 5 Denn Mose schreibt von der Gerechtigkeit aus dem Gesetz: „Der Mensch, der sie getan hat, wird in ihnen leben.“ 6 Die Gerechtigkeit aus Glauben aber spricht so: „Sage nicht in deinem Herzen: Wer wird hinaufsteigen in den Himmel“ – das heißt Christus herabholen. 7 Oder: „Wer will in die Unterwelt hinabsteigen?“ – das heißt Christus von den Toten heraufführen. 8 Sondern was sagt sie? „Nahe ist dir das Wort, in deinem Mund und in deinem Herzen“ – das heißt das Wort des Glaubens, das wir verkündigen.

Diskutiert wird in V. 4 primär die Bedeutung von τέλος: Der Begriff kann „Vollendung“ bedeuten, aber auch „Ziel“ oder „Ende“. Sowohl Althaus als auch Michel, Lohse, Wilckens und Stuhlmacher plädieren dafür, das griechische Wort mit „Ende“ wiederzugeben.13 Alle verstehen Paulus an dieser Stelle so: Das Gesetz ist als Heilsweg zu seinem Ende gekommen – Rechtfertigung im Gericht erhält man über den Glauben an Christus bzw. durch Christus. Daran anschließend werden die V. 5ff. als eine Gegenüberstellung von zwei verschiedenen „Gerechtigkeiten“ verstanden: Paulus setze hier Gesetzesgerechtigkeit und Glaubensgerechtigkeit bzw. Christus und Gesetz einander entgegen. Die Gesetzesgerechtigkeit kommt mit Christus zu ihrem Ende, nun gilt die Glaubensgerechtigkeit für Juden wie Heiden.14 Teilweise wird ausdrücklich erwähnt, auch den Juden stehe der Weg über das Gesetz zur Gerechtigkeit nicht mehr offen.15 Allerdings lesen nicht alle deutschsprachigen Exegeten τέλος als „Ende“. Haacker – und ihm folgend Wengst – verstehen die Aussage in Röm 10,4 als eine „hermeneutische Feststellung“: τέλος wird mit „Ziel“ übersetzt, d.h. die Tora zielt auf Jesus.16 Jesus ist die Sache, um die es in der Tora geht. Dieses Verständnis untermauert Haacker mit einer sorgfältigen philologischen Analyse. Interessanterweise bleibt er aber dennoch bei einer Lesart von Röm 13

ALTHAUS, Römer, 108; MICHEL, Römer, 326–328; LOHSE, Römer, 291–293; WILRömer, 222–224; STUHLMACHER, Römer, 140f. 14 So schreibt ALTHAUS, Römer, 108: „Die Schrift handelt nicht nur von der Gesetzesgerechtigkeit, sondern auch von der Glaubensgerechtigkeit, und zwar stellt sie beide Arten von Gerechtigkeit, die aus dem Gesetze kommt und die dem Glauben zuteil wird, klar einander gegenüber“ (vgl. auch a.a.O., 98; ferner LOHSE, Römer, 293f.; MICHEL, Römer, 326–329; STUHLMACHER, 140–142; WILCKENS, Römer, 224–226). 15 LOHSE, Römer, 292f. 16 HAACKER, Römer, 206–209; WENGST, Freut euch, 331f. Anzumerken ist, dass WILCKENS, Römer, 222f., eine solche Lesart ebenfalls zustimmend erwähnt; sie ist für ihn aber nur ein Aspekt von Röm 10,4ff. – er sieht in τέλος zweifelsfrei auch „Ende“ ausgedrückt. CKENS,

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10,5f., die einen Gegensatz zwischen Gesetzesgerechtigkeit und Glaubensgerechtigkeit aufmacht – auch wenn er die beiden nicht als zeitlich einander nachgeordnete Größen verstehen will.17 Die Lesart der messianisch-jüdischen Exegeten weicht deutlich von diesem Duktus ab. Stern schreibt: “Had they [the non-Messianic Jews; H.R.] seen that trust in God – as opposed to self-effort, legalism, and mechanical obedience to rules – is the route to the righteousness which the Torah itself not only requires but offers (9:30–32a&N), then they would see that the goal at which the Torah aims is acknowledging and trusting in the Messiah, who offers on the ground of this trusting the very righteousness they are seeking. They would see that the righteousness which the Torah offers is offered through him and only through him.”18

Stern liest Röm 10,4 also ebenfalls als „hermeneutische Aussage“, stellt darüber hinaus aber auch die These auf, dieser Vers besage, die Gerechtigkeit, die durch die Tora kommt, sei identisch mit der Gerechtigkeit, die durch Jesus kommt. Auch die Toragerechtigkeit („Gesetzesgerechtigkeit“) basiere auf Gottvertrauen. Hätten das die nicht-jesusgläubigen Juden erkannt, hätten sie verstanden, dass es das Vertrauen in den Messias ist, das gerecht macht19 – und dass auch den Nichtjuden diese Gerechtigkeit offen steht. Ein Verständnis von τέλος als „Ende“ empfindet Stern als antisemitisch. Denn: “[…] the Messiah has not brought the Law to an end, nor is he the termination of the Law as a way to righteousness. The Torah continues. It is eternal. God’s Torah, properly understood as the very teaching which Yeshua upholds […], remains the one and only way to righteousness – although it is Yeshua the Messiah through whom the Torah’s righteousness comes. For the Good News that righteousness is grounded in trust is proclaimed already in the Torah itself […]. To such a Torah there is no cessation, neither in this world nor in the next.”20

Daraus folgt für Stern: Wer sein Vertrauen nicht in den Messias Jesus setzt, der befolgt die Tora nicht. Da Stern in Röm 10,4 eine Identifizierung der Gesetzes-, d.h. Tora-Gerechtigkeit mit der Glaubensgerechtigkeit sieht, kann er auch Röm 10,5f. nicht als „Entgegensetzung“ dieser beiden Größen verstehen.21 Für ihn will Paulus in V. 5 die Identifizierung belegen. Schon die Tora lehrt – mit Lev 18,5 –, dass die Befolgung von Gottes Geboten ewiges Leben 17

Vgl. HAACKER, Römer, 209f. STERN, New Testament, 395 (so auch im Folgenden). Die Abkürzung &N verweist auf die entsprechenden Anmerkungen („Notes“). 19 Eine solche Lesart wirft ein Problem auf, das auch WENGST, Freut euch, 332, benennt: Sie suggeriert, dass das nicht-jesusgläubige Judentum „gesetzlich“ denke, d.h. sich durch das Halten der Gebote „den Himmel erarbeiten“ wolle. STERN, New Testament, 395, sieht das Problem. Er schreibt, dass Paulus mit seinen Zeilen nicht alle Juden legalistischen Denkens beschuldige – das wäre antisemitisch. Aber er nehme „Gesetzlichkeit“ als eine vorherrschende Tendenz innerhalb der religiösen Führung wahr. 20 STERN, New Testament, 395. 21 Vgl. STERN, New Testament, 396–400 (so auch im Folgenden). 18

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bewirkt.22 Die wichtigsten beiden Gebote, auf die sich Lev 18,5 beziehe, seien die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten wie sich selbst. Beide Gebote brauchen Glauben: Ohne Glauben an Gott kann man ihn nicht lieben. Und ohne den Glauben, dass der Nächste und man selbst Geschöpf Gottes ist, lässt sich auch die Liebe zum Nächsten nicht so praktizieren, wie es die Schrift fordert. Kurz: Der einzige, schon in der Tora aufgezeigte Weg zur Gerechtigkeit ist jener der im (Gottes- bzw. Messias-)Glauben wurzelnden Befolgung von Gottes Geboten. Noch einen zweiten „Beleg“ für die Identifizierung von Glaubens- und Gesetzesgerechtigkeit gibt Paulus nach Stern mit Röm 10,5: Die griechische Verbform ζήσεται („er wird leben“), die im Leviticus-Zitat auftaucht, verwendet Paulus auch in Röm 8,13: „Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Leibes tötet, so werdet ihr leben.“

Das letzte Wort in diesem Vers („leben“) heißt auf Griechisch ζήσεσθε. Mit seinem Leviticus-Zitat wolle Paulus deutlich machen, dass das ewige Leben, welches durch die Tora und den Heiligen Geist kommt, dasselbe ist. Dies stehe auch in schöner Übereinstimmung mit dem Umstand, dass der Heilige Geist an Pfingsten, dem jüdischen Wochenfest, gegeben wurde. An diesem Fest wird in der jüdischen Tradition die Gabe der Tora am Sinai gefeiert. Beide, die Tora und der Heilige Geist, gewährten das gleiche ewige Leben. Folglich kann Stern das einleitende δέ in Röm 10,6 nicht als entgegensetzendes „aber“ verstehen („die Glaubensgerechtigkeit aber“), sondern er übersetzt das Wort mit „darüber hinaus“, was von der griechischen Bedeutungsspanne her möglich ist. Stern weist auf den Umstand hin, dass Paulus hier ein Torazitat folgen lässt: Die in der Tora beschriebene Gerechtigkeit (die Tora-, d.h. Gesetzesgerechtigkeit) ist die Glaubensgerechtigkeit. Mit anderen Worten: Paulus führt in Röm 10,6ff. einen weiteren Beweis dafür an, dass die Gerechtigkeit, von der die Tora schreibt, die Glaubensgerechtigkeit ist. Auch Shulam versteht Röm 10,4 als hermeneutische Aussage und folgt nicht der bekannten Gegenüberstellung von Gesetzesgerechtigkeit versus Glaubensgerechtigkeit.23 Die Tora bezeuge Gottes Gerechtigkeit im Messias – das wolle Röm 10,4 aussagen. Shulam sieht Paulus in Röm 10,5ff. dann eine gebräuchliche rabbinische Exegese-Technik anwenden: Paulus leite aus zwei in der Tora belegten – scheinbar gegensätzlichen – Prinzipien zur Frage, wie man ewiges Leben findet, ein neues Prinzip ab. Die beiden Prinzipien tauchten in Lev 18,5 und Dtn 30,11–15 auf. Lev 18,5 besage, dass ewiges Le22

Mit dem jüdischen Ausleger Raschi (Rabbi Schlomo Jizchaqi aus Troyes [gest. 1105]) liest Stern die hier zitierten Worte aus Lev 18,5 („der Mensch, der das tut, wird dadurch leben“) als Hinweis auf ewiges Leben, nicht auf ein gutes hiesiges Leben (vgl. STERN, New Testament, 397; ferner STEMBERGER, Einleitung, 218). 23 Vgl. SHULAM, Commentary, 347–350 (so auch im Folgenden).

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ben durch das Tun der Gebote (Toraobservanz) erreicht wird. Die Sätze aus Dtn 30 nähmen dagegen stärker die Herzenshaltung, das Vertrauen, welches die Taten motiviert, in den Blick: Gottes Wort soll „im Herzen“ sein, dadurch erlange man ewiges Leben. Auch in der rabbinischen Tradition (im babylonischen Talmud) werde die Frage diskutiert, wodurch man ewiges Leben erreiche, d.h. was denn der eine große Leitgedanke hinter der Tora sei.24 Diese Diskussion gipfelt in der Ansicht von Nachman ben Isaak, der meint, der große Leitsatz laute: „Der Gerechte wird durch seinen Glauben leben“ (Hab 2,4). Paulus sehe wie Rabbi Nachman ben Isaak darin den großen Leitsatz der Tora und lasse ihn in seinen Worten „die Gerechtigkeit aus Glauben aber spricht so“ anklingen. Mit anderen Worten: Der in Dtn 30 zu findende Grundsatz, Glauben („das Wort im Herzen“) führe zum ewigen Leben, stehe dem Leitgedanken der Tora näher als Lev 18,5. Allerdings seien Dtn 30 und Lev 18,5 bei Lichte betrachtet keineswegs Gegensätze. Denn Mose betone grundsätzlich die Liebe zu Gott als die Basis für Gehorsam, d.h. Toraobservanz (Dtn 6,4ff.). Der Glaube, die Liebe zu Gott, sei somit das unabdingbare Fundament für jene „lebenbringende Toraobservanz“, die Lev 18,5 benennt. Paulus verbinde den Begriff „Wort“ in Dtn 30 nun mit Jesus, den er als göttlichen „Logos“ verstehe. Das hat insofern eine exegetische Grundlage, als Dtn 30,11ff. plötzlich von „dem Gebot“ und „dem Wort“ (Singular) spricht, während vorher von Geboten und Gesetzen (Plural) die Rede war. Es stellt sich die Frage: Welches Wort ist hier gemeint? Es wird im Dtn selbst nicht weiter spezifiziert. Paulus identifiziere dieses Wort mit Jesus, der für ihn – vor dem Hintergrund der oben dargelegten Diskussion zum „Leitsatz“ hinter der Tora – als „Ziel“ der Tora (Röm 10,4) bezeichnet werden könne. Einen nochmals anderen Weg schlägt Jechiel Lichtenstein im 19. Jh. ein. Er versteht – darin ist er sicherlich auch Kind seiner Zeit – das τέλος in Röm 10,4 wie die meisten deutschsprachig-protestantischen Ausleger als „Ende“.25 Gerecht vor Gott, das wolle Paulus hier sagen, werde man nicht durch die Taten, sondern durch den Glauben an Jesus. Interessant ist allerdings, wie Lichtenstein die paulinischen Belegverse für diese Aussage – nämlich Röm 10,5ff. – interpretiert. Er liest sie trotzdem nicht als Gegenüberstellung von Tora- und Glaubensgerechtigkeit. So schreibt er: „Die Ausleger haben (die Aussage) hier verzerrt, denn in der Schrift, die im Folgenden angeführt wird, wird nicht erklärt, dass die Glaubensgerechtigkeit die Tora-Gerechtigkeit annulliert.“26

24

Shulam führt hier Mak 24a an. LICHTENSTEIN, ‫סוגיות‬, 215–217 (so auch im Folgenden). 26 Im Original: ‫ כי בכתוב שהובא להלן אינו מבואר כי צדקת האמונה בטלה‬,‫והמפרשים נדחקו פה מאד‬ ‫( צדקת התורה‬LICHTENSTEIN, ‫סוגיות‬, 215f.). 25

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Um Lichtensteins Auslegung der paulinischen Argumentation in Röm 10,5–8 zu verstehen, muss man Dtn 30,11–14 genauer betrachten – den Text, den Paulus hier zur Argumentation verwendet. Er lautet: ‫ כי המצוה הזאת אשר אנוכי מצוך היום לא־נפלאת‬11‫י‬ ‫ לא בשמים הוא לאמור‬12 ‫הוא ממך ולא רחקה הוא׃‬ ‫מי יעלה־לנו השמימה ויקחה לנו וישמענו אתה‬ ‫ ולא־מעבר לים הוא לאמר מי יעבר־לנו‬13 ‫ונעשנה׃‬ ‫אל־עבר הים ויקחה לנו וישמענו אתה ונעשנה׃‬ ‫ כי־קרוב אליך הדבר מאד בפיך ובלבבך לעשתו׃‬14

11

Denn dieses Gebot, das ich dir heute gebiete, ist nicht zu wunderbar für dich und nicht fern ist es. 12 Es ist nicht im Himmel, dass du sagen könntest: Wer wird für uns zum Himmel steigen und es für uns holen, dass wir es hören und tun? 13 Und es ist nicht jenseits des Meeres, dass du sagen könntest: Wer wird für uns das Meer überqueren und es für uns holen, dass wir es hören und tun? 14 Sondern sehr nah bei dir ist das Wort, in deinem Mund und in deinem Herzen, um es zu tun.

Der Text hat mehrere Schwierigkeiten. Zuerst beginnt er – wie schon Shulam erwähnt – mit einem unspezifischen Singular „denn dieses Gebot, das ich dir heute gebiete“, während in den vorhergehenden Versen von „den Geboten“ die Rede ist. Welches einzelne Gebot ist hier gemeint? Zudem heißt es: „Sondern sehr nah bei dir ist das Wort, in deinem Mund und in deinem Herzen, um es zu tun.“ Jüdische Ausleger hätten sich gefragt, so Lichtenstein, warum hier nicht stehe: „… in deinem Mund und deinem Herzen und deiner Hand, um es zu tun.“ Weil die „Hand“ nicht erwähnt werde, seien Ausleger – u.a. Ramban27 – zu dem Schluss gekommen: Das Gebot, das Wort, von dem hier die Rede ist, muss das Gebot der Reue bzw. der Umkehr sein. Denn dieses Gebot wird nur mit Mund und Herz vollzogen: indem man bereut und seine Sünden mit dem Munde bekennt. Auch Paulus habe Dtn 30,11–14 so verstanden: Das Gebot, das Wort, das nahe an Mund und Herz ist, ist das Gebot der Umkehr. Paulus sehe in diesem „Umkehrgebot“ auch die Umkehr Israels am Ende der Diaspora-Zeit, die Umkehr zu seinem Messias, mitschwingen. Diese Umkehr sei in Dtn 30,14 gemeint. Daraus folgert Lichtenstein: „… die Umkehr des Mose enthält die Glaubensgerechtigkeit“.28 Kurz: „Das Wort“ in Dtn 30,14 meint die Umkehr zum Messias und die Umkehr zum Messias beinhaltet den Glauben. Darum kann Paulus „das Wort“ aus Dtn 30,14 mit „Glauben“ identifizieren. Und für den Glauben stimmt ebenfalls, was Dtn 30,14 sagt: Er ist ganz nahe, „in deinem Munde und deinem Herzen.“ Mit anderen Worten: So wie Lichtenstein Paulus liest, führt die Befolgung eines besonderen Toragebots – nämlich das der Umkehr, Glaubensumkehr, zum Messias – zur Gerechtigkeit. Es ist anzunehmen, dass 27

Es handelt sich dabei um Rabbi Mose ben Nachman (gest. 1270). Vgl. STEMBERGER, Einleitung, 219. 28 Im Original: … ‫( …התשובה של משה כוללת צדקת האמומה‬LICHTENSTEIN, ‫סוגיות‬, 216).

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Lichtenstein darin die Antwort sieht, weshalb der paulinische Schriftbeweis nicht explizit sagt, die Glaubensgerechtigkeit schaffe die Toragerechtigkeit ab. Es ist ja gerade die Befolgung eines besonderen Toragebotes, das zur Gerechtigkeit führt und das die Summe der von der Tora angeordneten „Taten“ als Weg zur Gerechtigkeit ablöst. Man kann darum festhalten, dass bei Lichtenstein gleichzeitig eine Identifizierung von Tora- und Glaubensgerechtigkeit und eine Entgegensetzung der beiden zu finden ist. Bemerkenswert ist in diesem Kontext auch, dass Lichtenstein trotz seines Verständnisses von τέλος in Röm 10,4 als „Ende“ weiterhin eine Befolgung der Toragebote für Juden befürwortet. Er schreibt: „Wenn auch der Messias die Tora nicht aufgehoben hat, sondern sagte: Alle Tage von Himmel und Erde wird nicht einmal ein Tüpfelchen eines Juds aufgehoben von der Tora, bis alles geschieht (Mt 5,16, siehe dort); aber was die Gerechtigkeit angeht, durch die der Mensch gerecht gemacht wird, ist er das Ende der Tora.“29

Eine solche Aussage findet sich zwar auch bei Stuhlmacher und Lohse. Stuhlmacher schreibt zu Röm 10,4: „Paulus spricht in unserem Zusammenhang nicht davon, dass die Gebote Gottes in Christus annulliert wären oder würden. Der Apostel hat ja in 8,2ff. mit wünschenswerter Deutlichkeit gezeigt, daß Christus den unter die Herrschaft der Sünde geratenen heiligen Willen Gottes durch seinen Opfergang nicht beseitigt, sondern bestätigt und neu in Kraft setzt!“30

Und Lohse formuliert: „Mit diesem Satz redet der Apostel keineswegs einer Geringschätzung der Thora das Wort. Denn ihre Gebote sind als heiliger Wille Gottes auch für den Christen verbindlich“.31

Doch ist anzunehmen, dass die drei Exegeten bei dieser scheinbar gleichen Aussage an Unterschiedliches denken. Für Lichtenstein ist klar, dass die Toragebote in ihrer Gesamtheit, so sie befolgt werden können, von jesusgläubigen Juden weiter befolgt werden müssen, nicht hingegen von Völkerchristen.32 In seinen Worten schwingt z.B. also mit, dass jesusgläubige Juden die alttestamentlichen Speisegebote zu befolgen haben. Es ist anzunehmen, dass Stuhlmacher und Lohse mit ihren Worten anderes ausdrücken wollen, z.B. dass gewisse Teile der Toragebote – das „Moralgesetz“ o.ä. – noch in Geltung seien. Zusammenfassend heißt das: Zwar liest Lichtenstein wie viele deutschsprachig-völkerchristliche Exegeten das τέλος als „Ende“, doch sieht er mehr 29 Im Original: ‫ כל ימי שמים וארץ לא יבטל אף קוצו של יוד מן‬:‫ואף כי המשיח לא ביטל התורה ואמר‬ ...‫ הוא סוף התורה‬,‫ עיין שם( ואולם בנוגע לצדקה שיצדק האדם על ידו‬16 ‫התורה עד אשר יעשו כולם )מתי ה‬ (LICHTENSTEIN, ‫סוגיות‬, 215). Lichtenstein zitiert an dieser Stelle Mt 5,18 – er scheint also eine andere Verseinteilung bei seinem Neuen Testament vorliegen gehabt zu haben. 30 STUHLMACHER, Römer, 141. 31 LOHSE, Römer, 293. 32 Vgl. RUCKS, Messianische Juden, 361.

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„Kontinuität“ zur Tora als die meisten von ihnen. Er versteht Paulus so, dass die Befolgung eines besonderen Toragebotes – nämlich das der Umkehr zum Messias – die Gerechtigkeit bringt und dass die Toragebote insgesamt für Juden weiterhin gelten. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass auch einer der deutschsprachigen Exegeten, nämlich Wengst, in seinem Verständnis von Röm 10,4ff. „Glaubensgerechtigkeit“ und „Gesetzesgerechtigkeit“ nicht gegeneinander ausspielen möchte. Wengst versteht das τέλος in 10,4 ebenfalls – wie Haacker, Stern und Shulam – als hermeneutische Aussage und das δέ in V. 6 nicht als „aber“, sondern als eine Anknüpfung.33 Die Glaubensgerechtigkeit werde komplementär zur Gesetzesgerechtigkeit eingeführt. Wengst liest Paulus von diesem Ausgangspunkt her wie folgt: Paulus wolle mit V. 4 die These aufstellen, dass neben der Gerechtigkeit, welche Israel durch die Tora erlangt, nun auch für die Menschen aus den Völkern Gottes Gerechtigkeit zugänglich geworden ist: nämlich durch den Glauben an Christus. Paulus sei nicht der Ansicht, dass das Befolgen der Tora für Israel nicht mehr gelte. „Er denkt auch nicht entfernt daran, dass Juden, die an Jesus als Messias glauben, nicht mehr beschnitten sein oder ihre Söhne nicht mehr beschneiden sollten; und jeder Beschnittene ist verpflichtet, die ganze Tora verbindlich zu halten. Paulus hält also fest, was für Israel gilt. Aber auch hier kommt es ihm darauf an, im Folgenden deutlich zu machen, dass für die Völker etwas anderes gilt, dass sie auf andere Weise die Zuwendung von Israels Gott erfahren.“34

Man könnte also sagen: Wengst sieht bei Paulus ein „additives“ Verständnis von Gerechtigkeit. Neben der Toragerechtigkeit für Juden – die Paulus mit seinem kurzen Vermerk zur „Toragerechtigkeit“ in 10,5 erwähnt – gibt es auch eine Glaubensgerechtigkeit, die jedem offen steht und auf welche die Tora selbst schon hinweist. Interessant ist die Differenz, die sich zwischen Wengsts Lesart und jener der jesusgläubigen Juden auftut. Alle drei messianischen Juden identifizieren – auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmaß – „Toragerechtigkeit“ und „Glaubensgerechtigkeit“ miteinander: Die in der Tora beschriebene Gerechtigkeit („Toragerechtigkeit“) ist die Glaubensgerechtigkeit. Sie kommen nicht wie Wengst an den Punkt, von „zwei komplementären Gerechtigkeiten“ zu sprechen, von denen eine für die Juden, die andere für die Völker gilt. Warum? In Wengsts Lesart entsteht eine neue Art von „Diskontinuität“. Die Tora ist für die Juden der Weg zur Gerechtigkeit, das Christusereignis ist der Weg für die Völker. Die Diskontinuität besteht hier nicht mehr in einer gewissen Geschichtsschreibung – Jesus hat für alle, auch für die Juden, einen totalen Paradigmenwechsel herbeigeführt –, sondern in einer unterschiedlichen Zuordnung von Christusereignis und Toragabe auf verschie33 34

Vgl. WENGST, Freut euch, 331–335 (so auch im Folgenden). WENGST, Freut euch, 333.

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dene Gruppen: die Tora für die Juden, Christus für die Völker. Auch gegenüber einer solchen Diskontinuität zeigen messianische Juden eine Distanz: Judentum und Christusereignis versuchen sie „in eins“ zu denken.

C. Hermeneutischer Ansatz Eine zweite Differenz zwischen der Art, wie messianische Juden Paulus auslegen und wie das die hier untersuchten deutschsprachig-völkerchristlichen Kommentatoren tun, ist im Bereich der Hermeneutik zu verorten. Die messianischen Juden lesen Paulus viel stärker als einen „jüdisch-rabbinischen Hermeneuten“. Zum einen, indem sie paulinische Texte weitergehend als die deutschsprachigen Ausleger mit Texten aus der rabbinischen Tradition in Verbindung bringen, zum andern, indem sie Paulus selbst als nach Regeln der jüdisch-rabbinischen Exegese arbeiten sehen. Drei Beispiele seien genannt. In Röm 9,4f. heißt es: 4

οἵτινές εἰσιν Ἰσραηλῖται, ὧν ἡ υἱοθεσία καὶ ἡ δόξα καὶ αἱ διαθῆκαι καὶ ἡ νοµοθεσία καὶ ἡ λατρεία καὶ αἱ ἐπαγγελίαι, 5 ὧν οἱ πατέρες καὶ ἐξ ὧν ὁ Χριστὸς τὸ κατὰ σάρκα, ὁ ὢν ἐπὶ πάντων θεὸς εὐλογητὸς εἰς τοὺς αἰῶνας, ἀµήν.

4

… die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, 5 denen die Väter gehören und aus denen Christus nach dem Fleisch kommt. Gott, der über allem ist, sei gepriesen in Ewigkeit, amen.“

Shulam bringt diesen Text in Verbindung mit einem Abschnitt aus der Midrasch-Schrift Genesis Rabba; sie stammt in ihrer Endredaktion wohl aus dem fünften Jahrhundert.35 Dort wird ausgeführt, dass einige Dinge vor der Schöpfung der Welt geschaffen wurden, Gott über andere vor der Schöpfung bereits nachdachte. Teilweise zeigen sich Parallelen zur paulinischen Liste – so z.B. im Blick auf die „Väter“ und den „Messias“. Shulam sieht deshalb einen Zusammenhang: Paulus habe eine solche Tradition vor Augen, wenn er die „Erbgüter“ Israels aufzähle. Durch seine Formulierung stelle er den Messias als Haupt all dieser bereits vor der Schöpfung existierenden oder geplanten Dinge dar. In der Midraschtradition wird Ps 72 als ein Belegtext für die Präexistenz des Messias gesehen. Dieser Psalm schließt mit einer Doxologie, welche jener in Röm 9,5 ähnlich ist. Falls Paulus mit seinem doxologischen Abschluss in Röm 9,5 auf Ps 72 Bezug nimmt und die hier erwähnte Midrasch-Tradition kennt, könnte der doxologische Abschluss ein Hinweis auf die Präexistenz Jesu sein. Stern denkt zwar deutlich weniger stark als Shulam in „jüdisch-rabbinischen Paralleltexten“, doch auch er nennt zwei Verweise auf rabbinische Tex35 Vgl. STEMBERGER, Einleitung, 275; vgl. SHULAM, Commentary, 326–328 (so auch im Folgenden).

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te, die das Verständnis erhellen sollen.36 Die Übersetzung von δόξα als „Herrlichkeit“ gebe nicht genau wieder, was Paulus beim Schreiben von Röm 9,5 im Kopf hatte. In der Mischna, die ungefähr um 200 redigiert wurde,37 wird das Wort „Schechina“ benutzt, um Gottes herrliche Gegenwart zu beschreiben. Paulus denke „Schechina“ – mit all ihren alttestamentlichen Konnotationen –, wenn er hier das Wort δόξα verwendet. Zudem sieht Stern in der Doxologie am Ende von 9,5 eine jüdische „Bracha“, einen gebräuchlichen jüdischen Segensspruch. Wenn in Texten jüdischer Liturgie Gottes Qualitäten oder Taten erwähnt würden, rufe das häufig einen solchen Segensspruch hervor. Das Amen am Ende des Segensspruches in 9,5 sei das Signal an die Gemeinde, den Segensspruch mit ihrem eigenen Amen zu bestätigen. Eine solche Bestätigung ist in jüdischer Liturgie gebräuchlich, z.B. im Kaddisch. Bei Lichtenstein ruft Röm 9,5 nochmals leicht andere Assoziationen hervor. Paulus denke an dieser Stelle an die Gnadengaben Israels – etwas Positives – und gleichzeitig tue es ihm weh, dass Israel sie nicht genutzt habe.38 Dennoch schließe er seine Worte mit einer „Bracha“. Denn nach der Mischna soll man Gott für das Gute wie für das Schlechte preisen (Ber 9,5). Betrachten wir nun die deutschsprachig-völkerchristlichen Kommentare. Althaus und Stuhlmacher verwenden keinen einzigen außerbiblischen „Verweistext“ zu einem tieferen Verständnis dieser Verse.39 Teilweise wird die Überlegung angestellt, welche hebräischen Begriffe hinter der paulinischen Liste der „Gnadengaben Israels“ stehen könnten (Althaus40, Lohse41, Michel42, Wilckens43, Wengst44), und in diesem Zusammenhang kann am Rande auch einmal auf eine rabbinische Schrift Bezug genommen werden (Lohse, Michel, Wilckens, Wengst). Aber eine weitergehende Bezugnahme auf rabbinische Literatur oder gegenwärtige jüdische Liturgie, wie wir sie bei den drei messianischen Juden finden, fehlt. Häufiger schon wird auf jüdisch-hellenistische Schriften verwiesen.45 – Eine Ausnahme ist allerdings zu erwähnen: Lohse nennt die abschließende Doxologie in 9,5 – wie Stern und Lichtenstein es ebenfalls deuten – einen „jüdischen Brauch“.46 36

Vgl. STERN, New Testament, 387f. (so auch im Folgenden). Diese Redaktion wird Rabbi Jehuda Ha-Nasi zugeschrieben, wobei er teilweise altes Material verwendet haben soll. Vgl. STEMBERGER, Einleitung, 130. 38 LICHTENSTEIN, ‫סוגיות‬, 212. 39 Vgl. STUHLMACHER, Römer, 132f.; vgl. ALTHAUS, Römer, 99f. 40 Vgl. ALTHAUS, Römer, 99. 41 Vgl. LOHSE, Römer, 268. 42 Vgl. MICHEL, Römer, 294–296. 43 Vgl. WILCKENS, Römer, 187–189. 44 Vgl. WENGST, Freut euch, 290–293. 45 Vgl. HAACKER, Römer, 183–187; WILCKENS, Römer, 187–189; MICHEL, Römer, 294–296; LOHSE, Römer, 267–270. 46 LOHSE, Römer, 269. 37

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Als zweites Beispiel sei wiederum Röm 10,5–8 genannt. Shulam bringt auch diesen Text – wie oben teilweise gezeigt – mit Texten aus der Midraschliteratur und dem Talmud ins Gespräch.47 Stern zitiert Raschi (welcher sich seinerseits auf einen Midrasch aus dem 4. Jh. beruft) und übernimmt dessen Verständnis von Lev 18,548. Lichtenstein bringt Paulus mit Ramban ins Gespräch bzw. sieht Paulus Dtn 30,14 in gleicher Weise wie Ramban interpretieren.49 Die völkerchristliche Auslegung unterscheidet sich deutlich davon. Althaus und Stuhlmacher verweisen kein einziges Mal auf rabbinisches Schrifttum50; rabbinische Texte werden auch sonst nur in dem Sinne verwendet, dass auf die Differenz zwischen rabbinischer und paulinischer Lesart von Dtn 30,11–14 hingewiesen wird.51 Eine Ausnahme bilden Randbemerkungen von Michel.52 Sonst werden an „jüdischen Schriften“ allerdings gehäuft jüdisch-hellenistische Texte oder die Qumranliteratur wahrgenommen.53 Neben der betonten Verwendung rabbinischer Literatur unter messianischen Juden lässt sich an Röm 10,5–9 auch eine zweite Differenz zwischen völkerchristlich-deutschsprachigen und messianisch-jüdischen Exegeten ausmachen. Fast alle deutschen Exegeten zeigen ein „Befremden“ im Blick darauf, wie Paulus in diesen Versen mit alttestamentlichen Texten, insbesondere Dtn 30,11–14, umgeht. Haacker spricht davon, dass Paulus an dieser Stelle eine christologische Deutung in den alttestamentlichen Text hineinlese.54 Lohse schreibt, Paulus gehe „mit der Textvorlage frei um“.55 Althaus drückt sein „Befremden“ ähnlich aus: „Dem Wortlaut und ursprünglichem [sic!] Sinne nach ist freilich auch an dieser Stelle [sc. Dtn 30,11–14; H.R.], genau wie 3. Mose 18, vom ‚Gebot‘ die Rede. Aber Paulus sieht davon ab.“56

Die „paulinische Auslegung ist ganz offenbar eine polemische Umdeutung des exegetischen Tatbestandes“, schreibt Michel.57 Noch kritischer wird Wilckens:

47

Vgl. SHULAM, Commentary, 347–350. Vgl. auch oben Abschnitt B. Vgl. STERN, New Testament, 397. Vgl. auch Anm. 22. 49 Vgl. LICHTENSTEIN, ‫סוגיות‬, 216. Vgl. auch oben Abschnitt B. 50 Vgl. STUHLMACHER, Römer, 141f.; ALTHAUS, Römer, 108f. 51 Vgl. LOHSE, Römer, 294; WENGST, Freut euch, 335f.; WILCKENS, Römer, 225; HAACKER, Römer, 209. 52 Vgl. MICHEL, Römer, 328. 53 Vgl. STUHLMACHER, Römer, 141; LOHSE, Römer, 294; WENGST, Freut euch, 336; WILCKENS, Römer, 224–226; HAACKER, Römer, 210f. 54 Vgl. HAACKER, Römer, 211. 55 LOHSE, Römer, 294f. 56 ALTHAUS, Römer, 108. 57 MICHEL, Römer, 328. 48

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„So richtig es ist darauf hinzuweisen, daß in der jüdischen Schriftexegese der Zeit – besonders in der der Qumransekte – methodisch ähnlich verfahren wird, […] so wenig darf man die Augen davor verschließen, daß diese Exegese von Dtn 30 auch im Rahmen jener damals geläufigen pescher-Methode höchst gewaltsam ist.“58

Und Wengst formuliert sogar: „Die von Paulus hier durchgeführte Auslegung ist zwar außerordentlich kühn, aber auch gewaltsam und deshalb genau so wenig überzeugend wie vorher an den entsprechenden Stellen in Kap. 9. Man kann nicht behaupten, dass dieses Verfahren in antiker jüdischer Exegese üblich gewesen sei. Wie kommt Paulus dazu? Er entdeckt das, was ihm feststeht, in der Schrift wieder; dafür fallen ihm Schriftstellen ein.“59

Sehr anders klingen die messianisch-jüdischen Exegeten. Stern schreibt: “… some think Sha’ul misuses the Torah by quoting selectively in order to apply the passage to the Messiah, whereas the original refers clearly and only to the Torah: […] However, Sha’ul is not picking and choosing. He plays by the rules.”60

Nach Stern interpretiert Paulus die Deuteronomium-Verse hier in ihrer „Drasch“-Bedeutung. „Drasch“ ist in der rabbinischen Exegese die homiletische Bedeutung eines Textes. In eine ähnliche Richtung geht Lichtenstein. Er sieht Paulus an dieser Stelle ebenfalls nach rabbinischer Auslegungsmethodik arbeiten. Paulus zitiere Dtn 30 in Röm 10,6–8 nicht im Sinne des wörtlichen Schriftverständnisses, sondern des allegorischen Textsinns (in der rabbinischen Exegese „Remes“, Andeutung, genannt).61 Deshalb formuliere Paulus nicht: „Mose schreibt“, sondern: „die Glaubensgerechtigkeit spricht so“ – obwohl das nun kommende Zitat auch „Moseschrift“ ist. Paulus wolle damit andeuten, dass er nicht den einfachen Wortsinn im Blick habe, sondern den allegorischen. Eine nochmals andere rabbinische Exegesetechnik benutzt Paulus nach Shulam. “To prove his point that faithfulness to God in Yeshua is the goal of the Torah Paul uses a familiar rabbinic exegetical technique. He cites two biblical verses (Lev. 18.5 and Dt. 30.11–14) which attribute different grounds to the finding of ‘life’ to establish a new principle – that eternal life is found through faithfulness to Yeshua’s death and resurrection and is therefore open to all who call on the name of the Lord […].”62

Wie die „rabbinische Exegese“ des Paulus genau funktioniert und welcher Gedankengang zu Dtn 30,11–14 im Hintergrund von Röm 10,5–9 steht, ist im Blick auf Shulams und Lichtensteins Auslegung oben bereits dargestellt worden.63 Stern versteht Paulus an dieser Stelle so64: Paulus habe bei seiner Lek58

WILCKENS, Römer, 225. WENGST, Freut euch, 336f. 60 STERN, New Testament, 399 (so auch im Folgenden). 61 Vgl. LICHTENSTEIN, ‫סוגיות‬, 216. Vgl. STERN, New Testament, 12. 62 SHULAM, Commentary, 347. Vgl. auch oben Abschnitt B. 63 Vgl. oben Abschnitt B. 59

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türe von Dtn 30 nicht den einfachen, wörtlichen Sinn des Textes im Blick, sondern den homiletischen Sinn. Er frage sich, worauf sich „das Gebot“ oder „das Wort“ (Singular) in Dtn 30,11–14 im homiletischen Sinne bezieht. Dabei komme Paulus zu dem Schluss, das Gebot von Dtn 18,15 sei im Blick: Israel solle „einem Propheten wie mir“ (hier spricht Mose) gehorchen, den Gott einmal erwecken wird. Für Paulus sei natürlich Jesus dieser Prophet. Mit anderen Worten: In Dtn 30,11–14 schwinge über den wörtlichen Schriftsinn hinaus, der sich auf die Tora bezieht, die Aufforderung mit, Jesus zu gehorchen, ihm zu vertrauen. Wenn Paulus Dtn 30,14 („sondern sehr nah bei dir ist das Wort, in deinem Mund und in deinem Herzen, um es zu tun“) nur teilweise zitiert und die Worte „um es zu tun“ weglässt, sei das keine Täuschung des Lesers. Der jüdische Leser denke diesen Schluss sowieso mit, das ist in rabbinischer Auslegung geläufig. Paulus führe in Röm 10,9f. vielmehr diesen nicht zitierten Schluss dann aus, nämlich wie man diesem Wort, Jesus, gehorcht, es „tut“: indem man ihm vertraut und es bekennt. Das sei üblicher, midraschartiger Umgang mit dem alttestamentlichen Text. Die paulinische Zitierweise von Dtn 30 in den Versen Röm 10,6f. sei ebenfalls keine Vergewaltigung des Deuteronomium-Textes, sondern entspreche auch der Grundtendenz des wörtlichen Textsinnes. Was von der Tora gilt, gilt auch von Jesus. Wie es keiner menschlichen Anstrengung bedarf, die Tora vom Himmel zu holen (wo sie nach jüdischem Verständnis präexistent, von Ewigkeit her, bereits war), so muss auch der Messias nicht vom Himmel geholt werden (wo er nach jüdischem Verständnis ebenfalls präexistent, von Ewigkeit her, war). Noch muss man in die Unterwelt, die Totenwelt, gehen – wo der Messias nach Paulus’ Verständnis einmal war –, um ihn hochzuholen. Der Deuteronomium-Text spricht zwar nicht von der Totenwelt, sondern vom Meer: „Und es ist nicht jenseits des Meeres…“ Für Stern impliziert Paulus, wenn er statt „Meer“ die „Totenwelt“ einsetzt, ein „qal wa-chomer“-Argument. „Qal wachomer“ ist ein Schluss vom Leichteren auf das Schwierigere, ein übliches logisches Verfahren in der rabbinischen Exegese.65 Die Formulierung in Deuteronomium gilt selbstverständlich. Wie die Tora muss auch der Messias nicht von jenseits des Meeres geholt werden. Denn: Wenn der Messias schon nicht von den Toten herauf geholt werden muss, wo er einmal war, dann muss er sicher auch nicht von jenseits des Meeres geholt werden, wo er noch nie war. Das ist nach Stern das „Qal wa-chomer“-Argument, das Paulus mitdenkt. Kurz: Dessen Auslegung widerspricht dem Wortlaut des Alten Testaments nicht, sondern bestätigt ihn. Nach paulinischem Verständnis gilt der Deuteronomium-Text also nicht nur im wörtlichen Sinn der Tora, sondern was im wörtlichen Sinn von ihr gilt, gilt im interpretativen, homiletischen Sinn auch für den Messias: Beide wurden ohne menschliche Anstrengung und 64 65

Vgl. STERN, New Testament, 397–400. Vgl. STEMBERGER, Einleitung, 28.

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Hilfe gegeben, damit Israel sie „hören“ und „tun“ (d.h. im Blick auf den Messias „vertrauen“ und „bekennen“) möge. Abschließend soll noch kurz ein drittes Beispiel angeführt werden, aus dem deutlich wird, dass die messianisch-jüdischen Exegeten in Paulus stärker einen „rabbinischen Hermeneuten“ sehen als die völkerchristlichen Ausleger: Röm 11,17–24, das sogenannte „Ölbaumgleichnis“. Keiner der völkerchristlichen Ausleger nimmt sichtbar die Perspektive ein, Paulus arbeite in diesem Abschnitt irgendwo „nach jüdischer Hermeneutik“.66 Anders die messianischjüdischen Ausleger: Für Shulam und Stern ist die paulinische Argumentation in 11,24 ein „Qal wa-chomer“-Argument.67 Dieser Befund macht deutlich: Die messianisch-jüdischen Ausleger lesen Paulus viel stärker als die deutschsprachig-völkerchristlichen Exegeten im Kontext rabbinischer Literatur und Liturgie. Für sie ist Paulus ein Spieler auf dem großen Spielfeld rabbinisch-jüdischer Texte. Er benutzt diese Texte, deutet sie um und denkt von ihnen her. Und: Er ist selbst mit den Spielregeln vertraut, argumentiert ebenfalls immer wieder nach rabbinischer Methodik. Ein solcher exegetischer Zugang arbeitet mit einem „historischen Problem“: Die rabbinischen Texte und die Festlegung der rabbinisch-hermeneutischen Regeln, auf welche die messianischen Juden Bezug nehmen, sind in ihrer schriftlichen Form jünger als das Neue Testament.68 Man muss von „Traditionen“ ausgehen, die schon vor der Niederschrift der Texte und offiziellen Festlegung der Auslegungsregeln bestanden, damit Paulus sinnvollerweise als ein „Spieler“ im Feld der rabbinischen Literatur und Hermeneutik der ersten Jahrhunderte n.Chr. und bis ins hohe Mittelalter gewertet werden kann. Die Stärke dieses Ansatzes ist allerdings, dass Paulus deutlicher als „Jude“ und „jüdischer Exeget“ zu Tage tritt. So zeichnet z.B. die Deutung der „Doxologie“ am Ende von Röm 9,5 als jüdische „Bracha“ – was unter den völkerchristlichen Theologen nur Lohse erwähnt – ein klar „jüdischeres“ Bild von Paulus, als wenn man diesen Abschluss allgemein als einen „Lobpreis“ bezeichnet. Im Blick auf das Bild von Paulus als „rabbinischem Hermeneuten“ ist äußerst interessant, dass für messianische Juden mit Kenntnis rabbinischer Literatur – anders als für die Völkerchristen – Paulus in seiner Verwendung alttestamentlicher Texte nicht „abwegig“ handelt. Der Befund wirft – gerade vor dem Hintergrund des „historischen Problems“ – Fragen auf: Lesen die messianischen Juden hier in Paulus fälschlicherweise rabbinische Gedankengänge hinein? Falls nicht: Welche Linien von Beeinflussung liegen vor? Ha66

Vgl. STUHLMACHER, Römer, 152–154; LOHSE, Römer, 314–316; WENGST, Freut euch, 363–368; ALTHAUS, Römer, 115–117; MICHEL, Römer, 347–352; WILCKENS, Römer, 246–248; HAACKER, Römer, 232–234. 67 Vgl. SHULAM, Commentary, 376f.; STERN, New Testament, 414f. 68 Vgl. STEMBERGER, Einleitung, 28; vgl. auch die oben erwähnten Datierungen verschiedener rabbinischer Schriften.

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ben rabbinische Exegese und Paulus ähnliche Wurzeln oder wäre es denkbar, dass Paulus mit seiner Argumentation und Auslegung jüdische Exegese mit beeinflusst hat?

D. Emotionale Ebene Auf einer letzten Ebene sollen nun die messianisch-jüdischen Exegeten mit den völkerchristlich-deutschsprachigen verglichen werden: auf der emotionalen Ebene. Damit ist gemeint: Wo spürt man im Ausdruck und in der Darstellung der Auslegung bei den verschiedenen Exegeten ein besonderes Anliegen? Wo ist ihnen eine gewisse Lesart der Texte besonders wichtig, erscheint ihnen eine andere sehr problematisch? Deutlich werden theologische „Herzensanliegen“ der messianischen Juden am eben erwähnten Abschnitt Röm 11,17–24 – dem „Ölbaumgleichnis“. 17

Εἰ δέ τινες τῶν κλάδων ἐξεκλάσθησαν, σὺ δὲ ἀγριέλαιος ὢν ἐνεκεντρίσθης ἐν αὐτοῖς καὶ συγκοινωνὸς τῆς ῥίζης τῆς πιότητος τῆς ἐλαίας ἐγένου, 18 µὴ κατακαυχῶ τῶν κλάδων· εἰ δὲ κατακαυχᾶσαι οὐ σὺ τὴν ῥίζαν βαστάζεις ἀλλὰ ἡ ῥίζα σέ. 19 ἐρεῖς οὖν· ἐξεκλάσθησαν κλάδοι ἵνα ἐγὼ ἐγκεντρισθῶ. 20 καλῶς· τῇ ἀπιστίᾳ ἐξεκλάσθησαν, σὺ δὲ τῇ πίστει ἕστηκας. µὴ ὑψηλὰ φρόνει ἀλλὰ φοβοῦ· 21 εἰ γὰρ ὁ θεὸς τῶν κατὰ φύσιν κλάδων οὐκ ἐφείσατο, [µή πως] οὐδὲ σοῦ φείσεται. 22 ἴδε οὖν χρηστότητα καὶ ἀποτοµίαν θεοῦ· ἐπὶ µὲν τοὺς πεσόντας ἀποτοµία, ἐπὶ δὲ σὲ χρηστότης θεοῦ, ἐὰν ἐπιµένῃς τῇ χρηστότητι, ἐπεὶ καὶ σὺ ἐκκοπήσῃ. 23 κἀκεῖνοι δέ, ἐὰν µὴ ἐπιµένωσιν τῇ ἀπιστίᾳ, ἐγκεντρισθήσονται· δυνατὸς γάρ ἐστιν ὁ θεὸς πάλιν ἐγκεντρίσαι αὐτούς. 24 εἰ γὰρ σὺ ἐκ τῆς κατὰ φύσιν ἐξεκόπης ἀγριελαίου καὶ παρὰ φύσιν ἐνεκεντρίσθης εἰς καλλιέλαιον, πόσῳ µᾶλλον οὗτοι οἱ κατὰ φύσιν ἐγκεντρισθήσονται τῇ ἰδίᾳ ἐλαίᾳ.

17

Wenn aber einige der Zweige herausgebrochen worden sind, du aber, der du ein wilder Ölbaum warst, unter ihnen eingepfropft worden und Teilhaber der Wurzel und der Fettigkeit des Ölbaumes geworden bist, 18 so rühme dich nicht gegen die Zweige! Wenn du dich aber rühmst – nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel dich. 19 Du wirst nun sagen: Die Zweige sind herausgebrochen worden, damit ich eingepfropft würde. 20 Richtig; durch den Unglauben sind sie herausgebrochen worden; du aber stehst durch den Glauben. Sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich! 21 Denn wenn Gott die natürlichen Zweige nicht geschont hat, wird er auch dich nicht schonen. 22 Sieh also die Güte und die Strenge Gottes: gegen die, welche gefallen sind, Strenge; gegen dich aber Güte Gottes, wenn du in der Güte bleibst; sonst wirst auch du herausgeschnitten werden. 23 Aber jene, wenn sie nicht im Unglauben bleiben, werden eingepfropft werden; denn Gott kann sie wieder einpfropfen. 24 Denn wenn du aus dem von Natur wilden Ölbaum herausgeschnitten und gegen die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft worden bist, wieviel mehr werden diese, die natürlichen Zweige, in ihren eigenen Ölbaum eingepfropft werden!

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Lichtenstein schreibt in seiner Erklärung zu V. 17: „Im Besonderen gilt – gemäß dem, was oben schon erklärt wurde – im Vers 11 am Ende: Die Heiden sind nicht an die Stelle Israels getreten. Wie ich auch weiter unten zu V. 19, 20 sagen werde, siehe dort.“69

Mit anderen Worten: Lichtenstein widerholt in seiner Auslegung zu diesem Abschnitt drei Mal, dass Israel nicht durch die Völkerchristen ersetzt wurde. Es ist seine exegetische Hauptaussage zu den vorliegenden Versen. Ein ähnliches Bild gibt Sterns Kommentar ab: Er widmet zweieinhalb Seiten der Auslegung von Röm 11,23f. – und ein Großteil der Diskussion dreht sich um das Thema „Ersatztheologie“. Er schreibt: “The most widespread oversimplification is found in some forms of Covenant theology and is most correctly called Replacement theology. This erroneous theology says that the Jews used to be God’s chosen people; but when they spurned Jesus, God spurned them and chose a new people, the Church, to replace them – so that now, the Church receives all of God’s promises and blessings, while the Jews get only the curses.”70

Stern nennt diesen Ansatz „antisemitisch“. Ebenso betont Shulam, dass die Nichtjuden Israel nicht ersetzt hätten.71 Das Bild unter völkerchristlich-deutschsprachigen Exegeten ist deutlich vielseitiger. Manche von ihnen machen Aussagen, die in Richtung Ersatztheologie weisen – so Althaus, Michel oder Lohse, auch wenn für sie Gottes Weg mit Israel noch nicht abgeschlossen ist.72 Lohse z.B. schreibt, dass „die Israeliten durch ihren Unglauben sich selbst aus der Zugehörigkeit zum Gottesvolk gelöst haben“.73 Andere wenden sich bei der Auslegung von Röm 11,17–24 gegen die Ersatztheologie, meist allerdings mit weit weniger Klarheit, Vehemenz und emotionaler Anteilnahme, als wir sie bei den messianisch-jüdischen Exegeten vorfanden. Stuhlmacher erwähnt z.B. in wenigen Zeilen abschließend zu seiner Auslegung, dass die Heiden nicht an Stelle der Israeliten errettet worden seien und dass Gottes Verheißungen an Israel weiter bestehen.74 Haacker formuliert in einem Nebensatz: „Offenbar bringt die Partizipation an Israels Erwählung auch die Versuchung mit sich, in der alle Erwählten sind: sich die Erwählung selbst zuzuschreiben […].“75

69 LICHTENSTEIN, ‫סוגיות‬, 223, im Original: ‫ לא באו‬,‫ בסופו‬11 ‫ובפרט לפי המתבאר למעלה בפסוק‬ .‫ עיין שם‬,20 ,19 ‫ וכמו שאומר גם להלן בפסוק‬.‫הגויים במקום ישראל‬. 70 STERN, New Testament, 415. 71 Vgl. SHULAM, Commentary, 374. 72 Vgl. LOHSE, Römer, 314–316; ALTHAUS, Römer, 115–117; MICHEL, Römer, 349– 352. 73 LOHSE, Römer, 314. 74 Vgl. STUHLMACHER, Römer, 153f. 75 HAACKER, Römer, 233.

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Daraus wird deutlich, dass für ihn Israels Erwählung weiterhin gilt. Wilckens’ Aussagen wirken widersprüchlich. Er schreibt einerseits: „Und darum ist der Unglaube der Juden […] eschatologisch relevante Ungerechtigkeit, durch die sie aus dem Geltungsbereich der Erwählung herausgefallen sind.“76

Doch Gott werde seinem Erwählungswort treu bleiben, dieser Zustand sei nicht das letzte Wort. Deshalb kann Wilckens gleichzeitig formulieren: „Wehe einer antijudaistischen Kirche, die sich selbst anstelle Israels und Israel gegenüber exklusiv als das neue Gottesvolk verstünde und verhielte!“77

Eine Ausnahme in diesem Bild ist Wengst. Mit großem innerem Engagement stellt er sich gegen den Gedanken, die nicht-jesusgläubigen Juden seien aus Israel, aus dem Gottesvolk, „entfernt“ worden. Er deutet den Ölbaum entsprechend auch nicht als „Israel“, sondern als „Jesus, den Gesalbten“. Die Wurzel ist für ihn Abraham.78 Interessanterweise macht Wengst aber als einziger auch Aussagen, die eine Art „Ersatztheologie“ im Blick auf das Judenchristentum bzw. messianische Juden ausdrücken. Wengst schreibt, für Paulus sei die Existenz ausschließlich nichtjüdischer Zweige undenkbar: „Er setzt eine Gemeinde aus Jüdinnen und Juden sowie Menschen aus den Völkern voraus; nur in Gemeinschaft mit den jüdischen Messiasgläubigen haben Menschen aus den Völkern demnach Anteil an der Wurzel. Schon seit dem 2. Jahrhundert aber ist die Kirche nicht mehr als Kirche aus Jüdinnen und Juden und Menschen aus den Völkern zu beschreiben. Wie aber soll diese für Paulus unvorstellbare bloße Völkerkirche ohne Verbindung mit Jüdinnen und Juden ‚Saft‘ aus der Wurzel bekommen?“79

Dies führt Wengst zum Schluss, die Kirche müsse mit den nicht-jesusgläubigen Juden eine Form der Beziehung aufbauen, durch die sie wieder ihre Wurzeln finden kann. – In einer solchen Geschichtsschreibung wird einerseits die Existenz moderner Judenchristen, d.h. messianischer Juden – die es nun schon seit Jahrzehnten in wachsender Zahl wieder gibt80 – geleugnet bzw. sie werden nicht als Judenchristen anerkannt. Andererseits ersetzt das nicht-jesusgläubige Israel die Judenchristen in ihrer von Wengst beschriebenen Aufgabe gegenüber den Völkerchristen. Es erstaunt kaum, dass Stern als messianischer Jude einen solchen Ansatz kritisiert, der die Existenz messianischer Juden leugnet – und die guten Beziehungen zwischen Völkerchristen und nicht-jesusgläubigen Juden auf die Inexistenz von Judenchristen gründet.81 Einem solchen Zugang setzt Stern entgegen, dass Gott nach Röm 11,17–24

76

WILCKENS, Römer, 248. WILCKENS, Römer, 249. 78 Vgl. WENGST, Freut euch, 363–368 (so auch im Folgenden). 79 WENGST, Freut euch, 365. 80 Vgl. RUCKS, Messianische Juden, 7–10. 81 Vgl. STERN, New Testament, 416. 77

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mit allen drei Gruppen – Völkerchristen, messianischen Juden und nicht-messianischen Juden – seinen Weg hat. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eines der exegetischen Hauptanliegen der messianischen Juden bei ihrer Auslegung von Röm 9–11 die Bekämpfung der Ersatztheologie ist. Die völkerchristlich-deutschsprachigen Exegeten sind hier deutlich weniger einheitlich und klar. Interessanterweise findet sich bei Wengst, der von seinem inneren Engagement für die Bekämpfung der Ersatztheologie am nächsten bei den messianischen Juden ist, eine neue Sorte des „Ersatzes“. Das nicht-jesusgläubige Israel ersetzt die Judenchristen, d.h. die messianischen Juden. Hier trennen sich seine Wege deutlich von den Anliegen der messianisch-jüdischen Exegeten.

E. Schluss Wie sich gezeigt hat, kann messianisch-jüdische Exegese die völkerchristlichdeutschsprachige durchaus bereichern. Einerseits dadurch, dass die messianisch-jüdischen Exegeten stärker als die deutschsprachigen versuchen, Judentum und Christusereignis in eins zu denken. Sie bringen damit neue Gedanken in die exegetische Diskussion ein, die völkerchristliche Antijudaismen aufdecken und eingefahrene Denkmuster aufbrechen können. Andererseits geben sie auf hermeneutischer Ebene neue Impulse, da sie Paulus als rabbinischen Hermeneuten wahrnehmen und seine Texte stärker als die völkerchristlichen Ausleger mit rabbinischer Literatur ins Gespräch bringen. Dass dieser Ansatz ein „historisches Problem“ hat (allerdings zu interessanten Ergebnissen führt und daher bedenkenswert ist), wurde thematisiert. Zuletzt leisten die drei hier untersuchten messianisch-jüdischen Exegeten durch die Signale, die sie auf „emotionaler Ebene“ aussenden, auch einen Beitrag zur Aufdeckung antijudaistischer oder anti-messianisch-jüdischer Denkmuster. In verschiedener Hinsicht wäre die Rezeption ihrer Kommentare daher ein Gewinn für die exegetische Diskussion in unserer deutschsprachig-protestantischen Theologie. Bisher ist eine solche leider ausgeblieben.

Literaturverzeichnis ALTHAUS, PAUL, Der Brief an die Römer, NTD 6, Göttingen 131978. HAACKER, KLAUS, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Leipzig 1999. LICHTENSTEIN, JECHIEL Z., ‫סוגיות נבחרות בספר הברית החדשה‬, hg. v. ‫קרן אחוה משיחית‬, Jerusalem 2002. LOHSE, EDUARD, Der Brief an die Römer, KEK 4, Göttingen 1(15)2003. MICHEL, OTTO, Der Brief an die Römer, KEK 4, Göttingen 5(14)1978.

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RUCKS, HANNA, Messianische Juden. Geschichte und Theologie der Bewegung in Israel, Neukirchen-Vluyn 2014. SHULAM, JOSEPH, A Commentary on the Jewish Roots of Romans, Baltimore 1997. STEMBERGER, GÜNTER, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 81992. STERN, DAVID H., Jewish New Testament Commentary, Clarksville/Jerusalem 1992. STUHLMACHER, PETER, Der Brief an die Römer, NTD 6, Göttingen 2(15)1998. WENGST, KLAUS, „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!“. Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart 2008. WILCKENS, ULRICH, Der Brief an die Römer, Teilbd. 2: Röm 6–11, EKK 6/2, Zürich – Neukirchen-Vluyn 31993.

„Freiheit vom Gesetz“ – eine paulinische Formel? Paulus zwischen jüdischem Gesetz und christlicher Freiheit1 Guido Baltes Abstract: “Freedom from the law” is widely held to be a core concept of Pauline theology. However, a closer look at the imagery and terminology of freedom in the letters to the Romans and Galatians casts doubt on this assessment: The formula itself is used only twice in Romans, and there in a context where two opposing laws are contrasted, the “law of sin and death”, from which mankind is freed, and “the law of God / the Spirit”, which serves as the enabler of freedom. Freedom from the law, therefore, cannot be understood in this context as a general concept that describes Paul’s attitude towards Torah. In Galatians, where the formula itself is totally absent, the Pauline images of being “enclosed by the law”, “supervised by a guardian” and the allegory of Hagar and Sara are commonly held to convey the idea of “freedom from the law”. However, on a closer look, each of these images might have a different focus. For Paul, therefore, “freedom from the Law” is not a formula that describes his attitude to Tora.

Die Formel „Freiheit vom Gesetz“ gilt weithin als prägnante Zusammenfassung eines paulinischen Kernanliegens, wenn nicht gar der paulinischen Theologie als solcher.2 Zugleich bildet diese Formel eine der wichtigsten Bruchlinien sowohl im Prozess einer Trennung der Wege zwischen Judentum und

1

Erweiterte Fassung eines Vortrages im Rahmen des neutestamentlichen Symposions „Der jüdische Messias Jesus und sein jüdischer Apostel Paulus“ (8./9. Juni 2015 in Tübingen anlässlich des 65. Geburtstages von Prof. Dr. Rainer Riesner, Gomaringen). Ich danke Prof. Dr. Michael Bachmann, Prof. Dr. Lukas Bormann und Prof. Dr. Jörg Frey für hilfreiche Ergänzungen und Kommentare. 2 So urteilt z.B. VOLLENWEIDER, Freiheit, 21.402. Ganz anders JONES, Freiheit, 140f.: „Jedenfalls dürfte klar geworden sein, daß ‚Freiheit vom Gesetz‘ den Ursprung des paulinischen Freiheitsgedankens nicht darstellt. Die späte Entstehung dieser Wendung macht sie als Kategorie (etwa: ‚gesetzesfreies Christentum‘) für die Beschreibung des paulinischen Christentums wie auch übriger verwandter Strömungen des Urchristentums zweifelhaft“. Ähnlich auch SCHNELLE, Paulus, 593: „Paulus kennt keine ‚Freiheit vom Gesetz‘ im generellen Sinn, wohl aber eine Befreiung von den durch die Sünde verursachten unheilvollen Folgen des Gesetzes/der Tora durch den Geist“; BACHMANN, Paul, 94f.: “In my opinion none of these contexts [sc. die Formel ὑπὸ νόµον in Röm 6,14f.; 1Kor 9,20; Gal 3,23; 4,4f. 21a; außerdem Gal 3,19f. und Röm 10,4; G.B.] is a matter of radical criticism of Law, and insofar it is here not really a question of ‘freedom from the law’.”

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Christentum als auch in der Frage nach der Kontinuität zwischen Jesus und Paulus.3 Insbesondere der Galaterbrief wird dabei oft als Zeugnis einer paulinischen Freiheit gegenüber dem jüdischen Gesetz gewertet.4 In ihm taucht allerdings die Formulierung selbst nicht auf. Hingegen findet sie sich in zahlreichen Bibelausgaben und bibelkundlichen Übersichten zum Galaterbrief, vor allem in den Perikopenüberschriften der Herausgeber: „Befreiung vom Gesetz durch Christus“ (Luther 1984, Gal 4,1–7) „Glaube als Freiheit vom Gesetz“ (Gute Nachricht, Gal 3–4) „Befreiung aus der Knechtschaft des Gesetzes“ (Elberfelder, Gal 4,1–31) „Aus der Sklaverei des Gesetzes befreit“ (Neue evangelistische Übersetzung, Gal 4,1–11) „Nicht mehr Gefangene des Gesetzes“ (Hoffnung für alle, Gal 4,1–7) „Nicht mehr Sklaven des Gesetzes“ (Neue Genfer Übersetzung, Gal 3,26–29) „Befreit vom Gesetz“ (Das Buch, Gal 4,1–7)

Eine neuere Bibelübersetzung5 hat die Formel sogar in den Wortlaut des Bibeltextes selbst aufgenommen, obwohl im griechischen Text an entsprechender Stelle ein Äquivalent fehlt: Γίνεσθε ὡς ἐγώ, ὅτι κἀγὼ ὡς ὑµεῖς, ἀδελφοί, δέοµαι ὑµῶν. (Gal 4,12)

…, meinem Beispiel zu folgen und euch davon frei zu machen, denn als ich bei euch war, bin ich so geworden, wie ihr es einst wart – frei vom Gesetz.

An zwei anderen Stellen wird in der gleichen Übersetzung der Begriff der Versklavung erläuternd mit dem des Gesetzes verbunden, obwohl auch hier an beiden Stellen ein Äquivalent im Text fehlt: Τῇ ἐλευθερίᾳ ἡµᾶς Χριστὸς ἠλευθέρωσεν· στήκετε οὖν καὶ µὴ πάλιν ζυγῷ δουλείας ἐνέχεσθε. (Gal 5,1)

So hat uns Christus also wirklich befreit. Sorgt nun dafür, dass ihr frei bleibt und lasst euch nicht wieder unter das Gesetz versklaven.

3 Es gehört zu den bleibenden Verdiensten R. Riesners, die inneren Verbindungslinien, die sowohl von der biblisch-jüdischen Tradition zum neutestamentlichen Glauben als auch von Jesus zu Paulus führen, immer wieder nachgezeichnet und aufgewiesen zu haben (vgl. RIESNER, Jesus, 7). Der vorliegende Beitrag ist diesem Anliegen in Dankbarkeit gewidmet. 4 VOLLENWEIDER, Freiheit, 283; auch für WOLTER, Paulus, 372, thematisiert Paulus „in Röm 7,2–3; 8,2; Gal 2,4; 4,21–31; 5,1.13 sowie 2Kor 3,17 die christliche Freiheit ausdrücklich als Freiheit vom Gesetz, d.h. von der Tora“. 5 Neues Leben Bibel, SCM Hänssler Verlag 2006. Zugrunde liegt die englische „New Living Translation“, die von deutschen Autoren aus dem Englischen übersetzt und unter Berücksichtigung des griechischen und hebräischen Urtextes bearbeitet wurde.

„Freiheit vom Gesetz“ – eine paulinische Formel? ἵνα ἡµᾶς καταδουλώσουσιν (Gal 2,4)

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Sie wollten uns zwingen, ihre jüdischen Vorschriften sklavisch zu befolgen.

Vorbilder für eine solche Akzentsetzung finden sich bereits bei Luther,6 für den die Antithese von Gesetz und Evangelium eine zentrale hermeneutische Kategorie darstellte, wobei für ihn der Begriff des Gesetzes mit dem der Knechtschaft, der Begriff des Evangeliums dagegen mit dem der Freiheit verknüpft war.7 Dies wird bereits in seiner ersten Vorlesung zum Galaterbrief (1516/17)8 erkennbar, wo er wiederholt den Begriff des Gesetzes bzw. der Freiheit in den Glossen einführt, selbst da, wo er im Text nicht erwähnt wird: „… um unsere Freiheit auszukundschaften, die wir in Christus Jesus haben, durch die wir die Werke des Gesetzes tun, wann wir wollen, und sie lassen, wann wir wollen“ (zu Gal 2,4)9 „… und uns in Knechtschaft zu führen … nämlich des Gesetzes“ (zu Gal 2,4)10 „… einige von Jakobus, … jüdische Gläubige, Eiferer für das Gesetz“ (zu Gal 2,12)11 „… aß er zusammen mit den Heiden, … d.h. Speisen und Getränke, die den Juden durch das Gesetz verboten waren. Er wußte nämlich, dass alles erlaubt war.“ (zu Gal 2,12)12

6

Das Verhältnis von Luthers Paulus-Rezeption zur ursprünglichen Intention des Paulus soll hier nicht zur Debatte stehen. Es wird durch verschiedene Faktoren gebrochen: zum einen durch die Unterschiedlichkeit des mittelalterlichen bzw. lutherischen lex-Begriffes gegenüber dem antiken bzw. paulinischen νόµος-Begriff (vgl. dazu STOLLE, Nomos, 42), zum anderen durch die Unterschiedlichkeit des spätmittelalterlichen „Werke“-Begriffs gegenüber dem paulinischen Begriff der „Werke“, insbesondere der „Werke des Gesetzes“, der vor allem auch in der Diskussion um die „neue Paulusperspektive“ eine entscheidende Rolle spielt. Zudem ist sicher auch die Luther-Kritik der „neuen Paulusperspektive“ wiederum kritisch daraufhin zu befragen, ob sie Luther wirklich gerecht wird (vgl. z.B. HAACKER, Verdienste, 9–11; STOLLE, Nomos, 41, Anm. 3). Hier soll es jedoch nicht um eine Bewertung von Luthers Theologie gehen, sondern lediglich um die faktische Verwendung einer bestimmten Terminologie, die im Protestantismus eine verbreitete Auslegungstradition begründet hat. 7 Vgl. dazu grundlegend JOEST, Gesetz, 18–45; STOLLE, Nomos, 46–50. 8 Luthers Auslegungen zum Galaterbrief sind in mehrfacher Gestalt überliefert: in Form einer frühen Mitschrift seiner Vorlesung von 1516/17 (WA 57) und in den beiden von ihm selbst herausgegebenen Kommentaren aus den Jahren 1519 (WA 2) und 1531 (WA 40). 9 WA 57, 13: qua facimus, quando volumus, et omittimus, quando volumus, opera legis. Die „Glossen“ haben in der mittelalterlichen Auslegungstradition zunächst die schlichte Funktion von Sach- und Worterklärungen, die dem Bibeltext selbst beigefügt werden, während ausführliche Kommentare in den anschließend angefügten „Scholien“ folgen. Die Glossen sind hier, in Abgrenzung zum lateinischen Bibeltext, durch Kursivdruck gekennzeichnet. 10 WA 57, 13f.: ut nos in servitutem, sc. legis, redigerent. 11 WA 57, 16: quidam Iudei fideles, zelatores legis a Iacobo. 12 WA 57, 16: cum gentibus edebat, i.e. carnes et cibos in lege prohibitos Iudeis, sciebat enim omnia licere.

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„Ehe aber der Glaube kam, waren wir unter dem Gesetz verwahrt und verschlossen, … darin nämlich lag der Wert des Gesetzes, dass es uns gewaltsam in einen Kerker sperrte. Denn wir waren nicht frei, sondern in der Knechtschaft des Gesetzes gefangen, aus Angst vor Strafe.“ (zu Gal 3,23)13

Nun gilt die Frage nach dem Verhältnis des Paulus zum Gesetz „nicht ohne Grund als der schwierigste Teil der Theologie des Apostels“.14 Das ambivalente Nebeneinander von gesetzeskritischen und wertschätzenden Aussagen zum Gesetz im Corpus Paulinum15 wurde in der Auslegungsgeschichte unterschiedlich gedeutet, entweder in den reformatorischen Bahnen einer Unterscheidung der verschiedenen usus legis,16 oder als Ausdruck einer biographischen Entwicklung17 bzw. mangelnden Systematik18 des Paulus. Wurden die gesetzeskritischen Aussagen des Paulus früher weithin im Sinne einer grundsätzlichen Abkehr von der jüdischen Tradition gewertet,19 so mehren sich in neuerer Zeit die Stimmen, die die Gesetzeskritik des Paulus eher in den Bahnen einer allgemeinen, in der griechisch-römischen Antike und auch im hellenistisch geprägten Judentum selbst vorhandenen Tendenz zur Gesetzeskritik und zur Ethisierung des Kultgesetzes deuten.20 Vertreter einer sogenannten „neuen Perspektive“ haben zudem zur Klärung des Gegensatzes eine genauere begriffliche Unterscheidung von „Gesetz“ und „Werken des Gesetzes“ vorgeschlagen, wobei auch diese wiederum unterschiedlich gefüllt wird.21 Umstritten bleibt etwa, ob mit dem letztgenannten Syntagma ausschließlich spezifische Toravorschriften bezeichnet werden22 oder auch deren Vollzug23, ob 13

WA 57, 27: Prius autem quam veniret fides […] sub lege custodiebamur: ad hoc enim valuit lex, ut nos violenter velut incarceraret conclusi – non enim eramus liberi, sed in servitute legis timore poenarum constricti. 14 STUHLMACHER, Theologie, 253; vgl. auch MATERA, Romans, 179f. 15 Vgl. die Übersichten bei SCHNELLE, Paulus, 561f.; BACHMANN, Paul, 93f. 16 So z.B. CALVIN, Galater, 41.55.58 u.ö.; LUTHER, WA 40/1, 266ff.487–489 u.ö.; JOEST, Gesetz, 192f.198–200; ZAHN, Galater, 134. Dagegen jedoch z.B. ECKSTEIN, Verheißung, 254f. 17 So z.B. HÜBNER, Gesetz, 13–15. 18 So RÄISÄNEN, Paul, 199ff.264.268. 19 Vgl. neben den reformatorischen Stimmen (s.o. Anm. 16) z.B. SCHNELLE, Paulus, 160.170.238. 20 Vgl. dazu HAACKER, Antinomismus, passim; TIWALD, Hebräer, passim; POLLMANN, Motive, passim. 21 DUNN, New Perspective, 101: „identity markers“; BACHMANN, Bemerkungen, 101: „die zu beobachtenden ms̩ wt, die hlkwt“, allerdings „gerade auch und primär solche Halakhot, die Juden von Nichtjuden unterscheiden“ (a.a.O., 108); HAACKER, Vedienste, 13f.: „Eingrenzung des Begriffes […] auf kultische Handlungen“. Ähnlich DERS., Römer, 83f.; TIWALD, Glaube, 174: „Kult- und Reinheitstora“. 22 So z.B. BACHMANN, Bemerkungen, 100–108 u.ö.; DERS., Paul, 102f.; DERS., Perspektive, passim. 23 So z.B. DUNN, Dialogue, 397–401; WOLTER, Paulus, 353; FREY, Judentum, 41.

„Freiheit vom Gesetz“ – eine paulinische Formel?

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also das menschliche Tun (und damit die reformatorische Frage nach der „Werkgerechtigkeit“) oder die göttliche Vorschrift (und damit die Frage nach der soteriologischen Intention des Gesetzes) im Zentrum des Begriffs steht. Ebenfalls umstritten bleibt, ob es sich bei der paulinischen Kritik an den „Werken des Gesetzes“ um ein soteriologisches Kernanliegen des Paulus handelt24 oder lediglich um einen ekklesiologischen oder soziologischen „Nebenkrater“25 seiner Theologie, der sich in seiner theologischen Entwicklung erst spät aus situativ bedingter Polemik entwickelte.26 Diese Fragen können an dieser Stelle nicht eingehend behandelt werden. Wohl aber können bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen doch zumindest die folgenden Eckpunkte aus der Diskussion festgehalten werden: (a) Unstrittig ist, dass nach Ansicht des Paulus eine Rechtfertigung durch das Einhalten von Gesetzesvorschriften unmöglich ist, sei es prinzipiell oder faktisch.27 (b) Unstrittig ist auch, dass diese Unmöglichkeit nach Ansicht des Paulus für Juden wie für Nichtjuden gleicherweise gilt.28 (c) Unstrittig ist ebenfalls, dass nach Ansicht des Paulus eine umfassende Verpflichtung auf die Sinai-Tora, wie sie gewöhnlich durch Konversion bzw. Beschneidung geschah, für Nichtjuden angesichts des Christusereignisses keine zulässige Option mehr darstellt.29

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So STUHLMACHER, Revisiting, 29f.; DERS., Theologie, 264; HENGEL, Der vorchristliche Paulus, 284. Vgl. aber auch BACHMANN, Bemerkungen, 108: „das solus Christus der Reformation wird hier gerade nicht beeinträchtigt, sondern akzentuiert“, sowie die Klarstellungen von DUNN, Whence, 17–22. 25 SCHWEITZER, Mystik, 220. 26 So WOLTER, Paulus, 408; vgl. dagegen jedoch etwa RIESNER, Frühzeit, 352f. 27 Das gilt zunächst unabhängig davon, ob man eine solche „Rechtfertigung aus Werken“ als ein bestehendes Denkmuster innerhalb des antiken Judentums als bekannt oder unbekannt, „typisch“ oder „untypisch“ voraussetzt. 28 Nur wenige Ausleger wie z.B. GASTON, Paul, passim, schreiben Paulus eine Theologie der „Zwei Wege“ oder „Zwei Bünde“ zu, in der die Botschaft von der Rechtfertigung durch Glauben an Christus ausschließlich für Heiden bestimmt sei, während Juden weiterhin, auch ohne Christus, durch Gesetzesgehorsam Rechtfertigung finden. 29 Ob und inwieweit das von Paulus auch für Nichtjuden verbindliche „Gesetz Christi“ (Gal 6,2) sich dennoch inhaltlich mit den ethischen Forderungen der Sinai-Tora deckt, bleibt (schon bei Paulus) Gegenstand der Diskussion. Für STUHLMACHER, Theologie, 268, ist der „in der ,Tora des Christus‘ zusammengefaßte Wille Gottes […] kein anderer als der im Gesetz vom Sinai offenbarte, aber er ist neu gewichtet“, obwohl auch für ihn „die kultischen Opferbestimmungen durch Jesu Sühnetod an ihr Ziel und Ende gekommen sind“ (a.a.O., 267). Ähnlich DERS., Römer, 114. Ganz anders dagegen SCHNELLE, Paulus, 361, für den z.B. mit dem „Gesetz des Geistes“ in Röm 8,2 „weder die Erfüllung eines legitimen Anspruchs der alttestamentlichen Tora noch deren Restitution gemeint sein“ kann, sondern allein eine Bindung „in der Freiheit der Liebe an die Norm des Geistes“; auch HÜBNER, Gesetz, 78, sieht als Endpunkt der paulinischen Entwicklung (im Blick auf das

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(d) Unstrittig ist heute zudem, dass die Sinai-Tora für Paulus nicht einfach „abrogiert“ oder „aufgehoben“, wohl aber durch das Christusereignis grundlegend transformiert und in ihrer Funktion diesem nach- und untergeordnet wird, was bei Paulus durch den Begriff „Gesetz Christi“ (Gal 6,2), zusammengefasst im Liebesgebot (Gal 5,14; Röm 13,9), ausgedrückt wird.30 (e) Strittig hingegen bleibt die Frage, ob für Paulus diese Transformation der Tora auch jüdische Nachfolger Jesu von der Verpflichtung zur Observanz entbindet, etwa im Blick auf Reinheits- oder Speisegebote oder die Beschneidung ihrer Kinder. Manche Ausleger folgern aus der Absage an die soteriologische Funktion der Tora zwingend auch eine grundsätzliche Absage an ihre halachische Verbindlichkeit.31 Andere begrenzen diese Absage entweder nur auf den Bereich der „kultischen Opfervorschriften“32 oder ausschließlich auf solche Toravorschriften, die als soziologische „boundary markers“ fungieren, ohne dass damit die grundsätzliche Gültigkeit der Tora in Frage gestellt werde: Im letzteren Fall bleibt strittig, ob die Aufgabe solcher „boundary markers“ eher programmatischer oder pragmatischer Natur ist, ob diese also aus ekklesiologischen Gründen grundsätzlich von allen Christus-Gläubigen aufgegeben werden müssen33 oder nur situativ dort, wo sie im Einzelfall zu Konflikten oder sozialer Ausgrenzung führen würden.34 Wieder andere AusLiebesgebot Röm 13,8–10) „nicht […] Konzentration der gesamten Tora, sondern in der Tat […] Reduktion“. 30 HOFIUS, Gesetz, 282–286; TIWALD, Hebräer, 213; SCHNELLE, Paulus, 564–567; ECKSTEIN, Verheißung, 249; DERS., Gesetz, 39; FREY, Judentum, 34. Von einer faktischen „Abrogation“ spricht allerdings RÄISÄNEN, Paul, 200. 31 SCHNELLE, Paulus, 160.170.311: „er behandelte das Gesetz/die Tora als Adiaphoron“; ähnlich HOFIUS, Gesetz, 278; ECKSTEIN, Gesetz, 38f.; RÄISÄNEN, Freiheit, 46–48. 58; HÜBNER, Gesetz, 78. Deutlich polarisierend urteilt auch noch die ältere jüdische Paulusforschung, etwa bereits GRAETZ, Geschichte, 293.419f.: „An dem bestehenden Gesetz rüttelte Jesus keineswegs. […] Paulus ging aber geradezu darauf aus, die Fäden zu zerreißen, welche die Christuslehre mit dem Judenthum verknüpfte. [Er] fasste daher das Christenthum als völligen Gegensatz zum Judenthum auf. Dieses sei auf Gesetz und Zwang begründet, jenes hingegen beruhe auf Freiheit und Gnade.“ GRAETZ spricht von einer „ausgesprochenen Verachtung des Gesetzes“ (a.a.O., 421) und „Gesetzesstürmerei“ (a.a.O., 423). Weniger scharf, aber in gleicher Abgrenzung zwischen Jesus und Paulus KLAUSNER, Jesus, 468.542; BUBER, Glaubensweisen, 718–723. 32 So STUHLMACHER, Theologie, 267f. (vgl. oben Anm. 29); TIWALD, Glaube, 175. 33 So DUNN, Partings, 182, für den die „boundary markers“ grundsätzlich in Frage gestellt werden, weil sie Sinnbild für einen ausgrenzenden Missbrauch des Gesetzes sind, wie er sich im jüdischen Bundesnomismus zeigt: “Paul was attacking neither the law, nor the covenant […], but a covenantal nomism which insisted on treating the law as a boundary”. Für WRIGHT, Paul, 1036, symbolisiert die Abschaffung der „boundary markers“ grundsätzlich die Aufhebung jeder Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden im neuen Gottesvolk. 34 So BACHMANN, Temporale Elemente, 113: Die „Differenz zwischen Juden und Nicht-Juden wird zwar durch den futurischen Abrahams-Segen abgemildert […]. Aber da-

„Freiheit vom Gesetz“ – eine paulinische Formel?

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leger sehen dagegen in den Briefen des Paulus keinen Widerspruch zwischen Christusglauben und (jüdischem) Gesetzesgehorsam, einschließlich der dazugehörigen „boundary markers“, und zeichnen das Bild eines bleibend toraobservanten Paulus, der eine Observanz ausschließlich für nichtjüdische Mitglieder der Gemeinde, im Sinne von (c), ablehnt.35 Die Formel „Freiheit vom Gesetz“ wird dabei auf sehr unterschiedliche Weise gefüllt: Sie kann ganz grundsätzlich die „Freiheit von einer Rechtfertigung aus dem Gesetz“ im Sinne von (a) beschreiben oder aber die „gesetzesfreie Verkündigung“ des Paulus im Sinne von (c). Häufig wird „Freiheit vom Gesetz“ auch als eine Freiheit von bestimmten Funktionen oder Aspekten des Gesetzes verstanden, die sich aus der theologischen Transformation im Sinne von (d) ergeben, also eine Freiheit vom Gesetz in bestimmter Hinsicht oder in einer bestimmten Funktion.36 Und dann wieder bezeichnet die Formel auch einen freiheitlichen Umgang des Paulus mit Fragen der Toraobservanz im Sinne von (e).37 Nicht immer wird dabei sorgsam zwischen dem unterschiedlichen Gebrauch der Formel getrennt, was zuweilen zu Unschärfen in der Diskussion führt. Die vorliegende Untersuchung soll daher zu einer Klärung der Terminologie beitragen: Ist „Freiheit vom Gesetz“ eine paulinische Formel, und wenn ja, in welchem Sinne wird sie von Paulus gebraucht? mit ist die Unterscheidung schwerlich aufgehoben.“ Nach BACHMANN behalten „Grenzmarkierungen“ auch innerhalb der christlichen Gemeinde eine unterscheidende Rolle, müssen aber „zumindest in einem möglichen Konfliktfall“, z.B. für die Mahlgemeinschaft Gal 2,11–14, zurückgestellt werden (ebd.). Ähnlich SCHÄFER, Paulus, 184.479; FREY, Judentum, 34: „Paulus [akzeptiert] die Toraobservanz bei Judenchristen ohne weiteres […] (auch wenn er in seiner eigenen Missionspraxis nach 1 Kor 9,21 für sich selbst von ihr absehen kann)“. 35 In der älteren Forschung bereits BEN-CHORIN, Paulus, passim; GASTON, Paul, passim; TOMSON, Paul, passim, sowie neuerdings der Sammelband von NANOS/ZETTERHOLM, Paul within Judaism (2015), mit Beiträgen u.a. von A. Runeson und P. Fredriksen; vgl. außerdem die Übersichten bei MEISSNER, Heimholung, 249–252, und ZETTERHOLM, Approaches, 127–163. Dagegen ausdrücklich FREY, Judentum, 34. 36 Vgl. z.B. WILCKENS, Römer, 222: „die Mosetora als diejenige, die den Sünder verflucht“; JOEST, Gesetz, 197: „das Gebot, das dem heil-losen Menschen die Frage des Heiles zur Last legt. […] Dieses Gesetz darf nicht mit dem Evangelium vermischt werden“; CALVIN, Galater, 61: „insofern [als Unterweisung zu guten Werken] gilt das Gesetz heute nicht weniger denn je, und es bleibt unangetastet. Inwiefern aber ist es denn abgeschafft? [Insofern] es seinen Tätern das Leben verheißt und die Übertreter verflucht“; ähnlich WILCKENS, a.a.O., 72.90; TIWALD, Hebräer, 211; HOFIUS, Gesetz, 276. 37 Vgl. LUTHER z.B. in seinem Galaterkommentar von 1519: „Denn nachdem Christus gekommen ist, hat er die Werke in solcher Weise abgetan, daß sie als Mitteldinge [indifferenter] gehalten werden können, aber nicht mehr zwingen […]. Paulus und Barnabas aber thaten es bisweilen, bisweilen aber auch nicht, um zu zeigen, dass dieselben ganz und gar Mitteldinge [adiaphora] wären […] Wie hätte er die evangelische Freiheit klarer auslegen können?“ (WA 2, 478, dt. W 9, 75); ähnlich auch WRIGHT, Paul, 358f.; FREY, Judentum, 34 (jeweils mit Verweis auf 1Kor 9,20); vgl. außerdem oben S. 270, Anm. 31.

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A. „Freiheit vom Gesetz“ im Römerbrief Es mag zunächst erstaunen, dass die Formel „frei vom Gesetz“ (ἐλεύθερος/α ἀπὸ τοῦ νόµου) sich im gesamten Corpus Paulinum so nur ein einziges Mal findet, nämlich in Röm 7,3. Allerdings ist hier, im Rahmen eines Bildwortes, nicht das Gesetz „an sich“ im Blick, sondern ein spezielles Gesetzeskorpus, nämlich das Eherecht, das in 7,2 als νόµος τοῦ ἀνδρός bezeichnet wird:38 ἐλευθέρα ἐστὶν ἀπὸ τοῦ νόµου τοῦ µὴ εἶναι [Die Frau] ist frei von dem Gesetz, so dass sie keine Ehebrecherin ist. αὐτὴν µοιχαλίδα (Röm 7,3)

Ob und inwieweit Paulus dieses Bild dann in der Sachhälfte auch auf das Gesetz als solches, d.h. die Tora, überträgt,39 wird noch näher zu betrachten sein. Verwandte Formeln finden sich außerdem an drei weiteren Stellen, sämtlich im Kontext von Röm 7–8. So formuliert Paulus in Röm 8,2 verbal, wobei auch hier nicht das Gesetz „an sich“ im Blick ist, sondern, analog zu 7,3, ein spezifisches Gesetz, das durch eine Genitivkonstruktion benannt wird:

38 In der LXX bezeichnet die Konstruktion νόµος + Genitiv bzw. entsprechende hebräische constructus-Formen entweder den Geber des Gesetzes (z.B. ‫שׁה‬ ֶ ֹ ‫וֹר ת מ‬ ַ ‫ תּ‬/ ἐν τῷ νόµῳ Μωυσῆ) oder aber ein spezifisches Gesetzeskorpus bzw. ein spezifisches Gesetz (z.B. ‫וֹרת‬ ַ ‫תּ‬ ‫ הָע ֹלָה‬/ ὁ νόµος τῆς ὁλοκαυτώσεως u.ö.). Als Übersetzung von ‫ ֻח ָקּה‬/‫ ח ֹק‬mit constr. bezeichnet es durchweg den Inhalt, nicht den Geber (z.B. ‫ ְכּ כָל־ ֻח ַקּת ַה ֶפּ סַח‬/ κατὰ τὸν νόµον τοῦ πασχα, Num 9,12 u.ö.). Als Übersetzung für ‫ ִמ ְצוָה‬+ constr. steht es nur einmal, dort auctoritativ (n‫ ִמ ְצוַת אָבִי‬/ νόµους πατρός σου, Prov 6,20) Alle anderen hebräischen Belege für ‫ ִמ ְצ וָה‬+ constr. benutzen andere griechische Entsprechungen und bezeichnen, bis auf eine Ausnahme (Neh 13,5), immer den Gesetzgeber. Im mischnischen Sprachgebrauch kann dann ‫ִמ ְצ וָה‬ + constr. auch den Inhalt bezeichnen (‫ ִמ ְצ וַת ַהלּוּלָב‬mSuk 4,4). Dabei ist aber nicht ein spezielles Korpus im Blick („die Gesetze über den Lulav“), sondern die spezielle Vorschrift („das Gebot, den Lulav zu schwenken“). Mit νόµος τοῦ ἀνδρός ist in Röm 7 daher, analog zum LXX-Gebrauch, am ehesten an ein Gesetzeskorpus zu denken, nicht aber an den Geber des Gesetzes. Es ist also entweder das „Eherecht“ als Ganzes im Blick oder aber noch spezifischer „die gesetzlichen Bestimmungen im Blick auf ihren Ehemann“. 39 Dies wird bei den meisten Auslegern vorausgesetzt. Vgl. MATERA, Romans, 169: Das Beispiel vom Eherecht „prepares the audience for the point Paul will make about the entire law“. WILCKENS, Römer, 63: „Was Paulus in Kapitel 6 über die Freiheit von der Sünde gesagt hat, präzisiert er nun als Freiheit vom Gesetz“. HAACKER, Römer, 138, spricht von einer „Absage“ und einer „Ablösung vom Gesetz“. Auch WOLTER, Paulus, 372, sieht in 7,2f.; 8,2 grundsätzlich die „Freiheit vom Gesetz, d.h. von der Tora“ thematisiert; ebenso DERS., Römer, 409; ähnlich STUHLMACHER, Römer, 96; MICHEL, Römer, 219f. („gewaltsame Loslösung vom Gesetz“); SCHNELLE, Paulus, 354; RÄISÄNEN, Paul, 46f. Für ihn spricht Röm 7,1–6 in analoger Weise von einer „Befreiung von der Herrschaft des Gesetzes“, wie Röm 6,12–23 von der „Befreiung von der Herrschaft der Sünde“ gesprochen hatte.

„Freiheit vom Gesetz“ – eine paulinische Formel? ὁ γὰρ νόµος τοῦ πνεύµατος τῆς ζωῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ ἠλευθέρωσέν σε ἀπὸ τοῦ νόµου τῆς ἁµαρτίας καὶ τοῦ θανάτου. (Röm 8,2)

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Denn das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus, hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.

Die übrigen zwei Belegstellen, beide in unmittelbarer Nähe, gebrauchen zwar nicht den Begriff der ἐλευθερία, sondern stattdessen das Verb καταργέοµαι. Luther übersetzt hier in beiden Fällen ebenfalls mit „frei vom Gesetz“: κατήργηται ἀπὸ τοῦ νόµου τοῦ ἀνδρός. (Röm 7,2)

… so ist sie frei von dem Gesetz, das sie an den Mann bindet.

νυνὶ δὲ κατηργήθηµεν ἀπὸ τοῦ νόµου ἀποθανόντες ἐν ᾧ κατειχόµεθα (Röm 7,6)

Nun aber sind wir vom Gesetz frei geworden und ihm abgestorben, das uns gefangen hielt.

Mit diesen vier Zitaten ist die Liste der Belegstellen für die Formel „Freiheit vom Gesetz“ bereits erschöpft. In einem zweiten Schritt wird noch zu klären sein, ob das inhaltliche Konzept einer „Freiheit vom Gesetz“ sich möglicherweise auch in Aussagen findet, die eine andere Begrifflichkeit wählen. Zunächst jedoch sollen die erwähnten Stellen genauer betrachtet werden: Welche Freiheit ist hier im Blick, und vor allem: Wovon wird der Mensch befreit? In der Exegese bleibt die Frage umstritten, ob Paulus mit seinen Aussagen in Röm 6–8 eine grundsätzliche Aufhebung der Tora begründen möchte oder nicht.40 Speziell im Blick auf das in 7,2f. gebrauchte Bild aus dem Eherecht sollte aber deutlich sein, dass dieses für die Sachhälfte nur sehr schwer als Bild für eine grundsätzliche „Befreiung vom Gesetz“ gedeutet werden kann. Dafür sprechen vor allem vier Beobachtungen: a) die Verwendung des Begriffs der Freiheit im unmittelbaren Kontext: Paulus verwendet die Terminologie der Freiheit im direkten Kontext gleich mehrfach. In allen Belegen außerhalb der vier bereits erwähnten wird dabei explizit benannt, wovon der Betreffende befreit wird. Und in allen Fällen ist es nicht das Gesetz: ἐλευθερωθέντες δὲ ἀπὸ τῆς ἁµαρτίας ἐδουλώθητε τῇ δικαιοσύνῃ. (Röm 6,18)

Freiheit von der Sünde, Knechte der Gerechtigkeit

ὅτε γὰρ δοῦλοι ἦτε τῆς ἁµαρτίας, ἐλεύθεροι Knechte der Sünde, frei von der Gerechtigἦτε τῇ δικαιοσύνῃ. (Röm 6,20) keit νυνὶ δὲ ἐλευθερωθέντες ἀπὸ τῆς ἁµαρτίας Freiheit von der Sünde, Knechte Gottes δουλωθέντες δὲ τῷ θεῷ (Röm 6,22)

40

Vgl. jedoch die vorangehende Anmerkung (s.o. S. 272, Anm. 39).

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ἡ κτίσις ἐλευθερωθήσεται ἀπὸ τῆς δουλείας τῆς φθορᾶς εἰς τὴν ἐλευθερίαν τῆς δόξης τῶν τέκνων τοῦ θεοῦ. (Röm 8,21)

Freiheit von der Vergänglichkeit, Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes

Ordnet man nun die Passage 7,1–8,2 in diesen Kontext ein, ergibt sich eine inclusio: Röm 6,18–22: Freiheit von der Sünde Röm 7,2: Freiheit vom Gesetz des Mannes / Bildhälfte Röm 7,3: Freiheit vom Gesetz (unspezifiziert) / Bildhälfte Röm 7,6: Freiheit vom Gesetz (unspezifiziert) / Sachhälfte Röm 8,2: Freiheit vom Gesetz der Sünde und des Todes / Sachhälfte Röm 8,21: Freiheit von der Vergänglichkeit

In der Bildhälfte (7,2f.) ist dabei klar, dass die absolut stehende Formel 7,3 sich nicht auf „das Gesetz“ als Ganzes bezieht, sondern durch den näheren (7,2) und den weiteren Kontext (6,18–22) inhaltlich gefüllt wird. Analog gilt dies dann aber auch für die Sachhälfte: So steht 7,6 ebenfalls nicht als absolute Aussage über das Gesetz (oder die Tora) als Ganzes, sondern wird durch den nachfolgenden Kontext, zusammenfassend durch 8,2 und 8,21, spezifiziert. Die Ausführungen über das Gesetz in 7,7–8,1 dienen dann dazu, diesen spezifischen Zusammenhang zu erläutern. b) die grammatische Konstruktion in 7,6: Während die Formel „frei vom Gesetz“ in 7,3 tatsächlich absolut steht, ist dies schon in der Übertragung auf die Sachhälfte in 7,6 nicht mehr der Fall: Hier wird sie durch die nachgeordnete Partizipialkonstruktion (ἀποθανόντες ἐν ᾧ κατειχόµεθα) näher bestimmt: Entgegen der gebräuchlichen Übersetzung von Luther („und ihm abgestorben, das uns gefangen hielt“) ist es jedoch problematisch, ἐν ᾧ hier relativisch auf νόµος zu beziehen. Eher ist anzunehmen, dass ein durch Attraktion ausgefallenes Neutrum vorausgesetzt werden muss, das sich vom νόµος unterscheidet („frei vom Gesetz und dem abgestorben, was uns gefangen hielt“).41 Das wird nicht nur durch die sperrige Wortstellung nahegelgt, sondern vor allem auch durch die Vorgabe der Bildhälfte, wo ja ebenfalls der νόµος sachlich von dem unterschieden wird, woran er bindet, nämlich den Mann. Was dieses ἐν ᾧ bezeichnet, wird dann jedoch wiederum durch den vorangehenden und nachfolgenden Kontext deutlich: es sind die (nun von Paulus noch näher zu beschreibenden) Größen der Sünde und des Todes. c) die innere Logik der bildspendenden Welt: In dem Bildwort von Röm 7,2f. bedeutet die Freiheit der Frau „vom Gesetz des Mannes“ ja gerade nicht eine Freiheit vom Eherecht als solchem: Im Gegenteil, die Freiheit der Frau 41 So bereits ZAHN, Römer, 335. Anders jedoch WILCKENS, Römer, 69, und WOLTER, Römer, 420, die das ausgefallene τούτῳ jeweils mit dem νόµος identifizieren.

„Freiheit vom Gesetz“ – eine paulinische Formel?

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wird durch dieses Eherecht, das nach dem Tod des Mannes weiter besteht, erst garantiert. Sie ist nun vor dem Gesetz frei, einen anderen Mann zu heiraten. Das Gesetz als solches wird aber durch den Tod des Mannes nicht aufgelöst oder irrelevant; es verändert sich nicht einmal.42 Es legt sich daher hier eine Übersetzung wie „frei von der gesetzlichen Bindung (an den Mann)“ oder „frei von allen Rechtsansprüchen, die sich aus dem Gesetz ergeben“, nahe. d) die begrenzte Entsprechung von Bildebene und Sachebene: Einzelzüge des von Paulus verwendeten Bildes lassen sich kaum schlüssig auf seine theologische Argumentation übertragen, ohne dass es zu Widersprüchen kommt:43 Das tertium comparationis liegt zweifellos in der Aussage, dass der Tod eines Menschen rechtliche Bindungen aufhebt, die zu diesem Menschen bestanden, und dafür rechtliche Bindungen an einen anderen Menschen ermöglicht: alt: neu:

wer?

wodurch?

woran?

γυνή

νόµος (τοῦ ἀνδρός) [νόµος (τοῦ ἀνδρὸς ἑτέρου)]

ἀνήρ ἀνὴρ ἕτερος

Wichtig ist dabei, dass bei diesem Bild zu unterscheiden ist zwischen den Personen (γυνή, ἀνήρ, ἀνὴρ ἕτερος), die durch Gesetz(e) miteinander verbunden sind, und dem Gesetz selbst (νόµος), das in diesem Bild lediglich das Medium der Verbindung darstellt bzw. die Instanz, die diese Verbindung herstellt. Bei der Zuordnung der Einzelzüge des Bildes zur Sachhälfte ergeben sich nun jedoch Komplikationen: Der vorangehende Kontext könnte nahe legen, dass das Bild vom Tod des Ehemanns an den vorher erwähnten Tod Christi anknüpft. Dann jedoch erwiese sich eine Übertragung in die Sachhälfte als schwierig, denn diese würde implizieren, dass Christus dem verstorbenen Ehemann gleichzusetzen wäre und „wir“ dadurch Freiheit gewonnen hätten, uns an einen anderen Herrn zu binden, der aber nicht benannt würde:

42

WILCKENS, Römer, 64: „κατήργηται gilt nicht vom Gesetz als solchem, sondern vom Verhältnis der Frau zum Gesetz.“ Im Blick auf V. 6 macht Wilckens diese Einschränkung jedoch nicht (a.a.O., 69). Auch WOLTER, Römer, 413, weist zwar im Blick auf V. 2c darauf hin, dass hier „ganz konkret jene gesetzliche Vorschrift“ im Blick sei, die vorher benannt wurde (ähnlich auch a.a.O., 414). Dennoch formuliert er im gleichen Absatz generalisierend, V. 2c bezeichne „die Aufhebung der Bindung an die Tora“. 43 MATERA, Romans, 170: “The analogy […] is not as precise as we would like it to be”; HAACKER, Römer, 137: „überraschend und in gewisser Weise gezwungen“; VOLLENWEIDER, Freiheit, 343: „das Ehebild V.2f“ stehe „zur These V.1 und 4 in einem nicht aufzulösenden Missverhältnis“; vgl. auch WILCKENS, Römer, 66; WOLTER, Römer, 411; RÄISÄNEN, Paul, 62 („false picture“).

276

alt: neu:

Guido Baltes wer?

wodurch?

woran?

ὑµεῖς

νόµος [= Tora?] [νόµος (τοῦ ἀνδρὸς ἑτέρου?)]

Χριστός ???

Der Ehemann kann also in dieser Passage kein Bild für Christus sein. Ebenso wenig aber kann er ein Bild für den νόµος sein, an den die Frau gebunden ist:44 alt: neu:

wer?

wodurch?

woran?

ὑµεῖς

??? (ἀνήρ?) ???

νόµος Χριστός

Denn νόµος und ἀνήρ werden bereits in der Bildhälfte klar voneinander unterschieden. Der νόµος ist nicht der Partner, sondern das Medium der Partnerschaft. Von einem „Sterben“ des Gesetzes selbst redet Paulus weder hier noch anderswo in seinen Briefen. In der von Paulus selbst angebotenen Deutung des Bildwortes sind es vielmehr die Leser, die gestorben sind, und zwar τῷ νόµῳ (V. 4). Die gängige Übersetzung „dem Gesetz gestorben“ oder gar „dem Gesetz weggestorben“45 würde es dabei nahelegen, die Leser mit dem Ehemann und den νόµος mit der Ehefrau zu identifizieren: alt: neu:

wer?

wodurch?

woran?

νόµος

??? ???

ὑµεῖς Χριστός

Diese Übertragung stößt jedoch gleich mehrfach an Grenzen. Zum ersten würden auch hier wieder Partner und Medium miteinander verwechselt und es bliebe unklar, wodurch denn (wenn nicht durch den νόµος) der νόµος an den Leser gebunden wäre. Zum zweiten aber wäre, würde man dieser Deutung des Bildes folgen, nicht der Leser frei für eine neue Bindung, sondern 44

Dies behaupten VOLLENWEIDER, Freiheit, 343; RÄISÄNEN, Paul, 47.58. Dagegen jedoch HAACKER, Römer, 137f.; WRIGHT, Paul, 1009: “‘the law’ is not the ‘first husband’”. WOLTER, Römer, 413, möchte δέδεται in 7,2 intransitiv verstehen und die ganze Phrase τῷ ζῶντι ἀνδρί dann instrumental. Damit wäre dann, in der Bildhälfte, nicht die Frau durch das Gesetz an ihren Mann gebunden, sondern die Frau vor dem Gesetz durch ihren Mann gebunden. 45 HAACKER, Römer, 137, spricht von einer „Absage“ dem Gesetz gegenüber und davon, dass „die Glaubenden […] dem Gesetz gegenüber gestorben“ sind. Ähnlich STUHLMACHER, Römer, 97: „dem Gesetz abgestorben“; WILCKENS, Römer, 64: „dem Gesetz gegenüber zu Tode gekommen“; MICHEL, Römer, 220: „dem Gesetz gestorben“; WOLTER, Römer, 415: „dass eine bestehende Beziehung definitiv und endgültig beendet wurde“, „vom Gesetz losgekommen“. Wolter setzt die Formel ἐθανατώθητε τῷ νόµῳ (V. 4a) inhaltlich mit den beiden Phrasen κατήργηται ἀπὸ τοῦ νόµου (V. 2c) und ἐλευθέρα ἐστὶν ἀπὸ τοῦ νόµου (V. 3d) gleich, ohne aber auf den offenkundigen Sachverhalt einzugehen, dass Paulus ja eben in V. 4a eine inhaltlich („sterben“) und grammatikalisch (Dativ) deutlich abweichende Formulierung gebraucht.

„Freiheit vom Gesetz“ – eine paulinische Formel?

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das Gesetz würde befreit zu einer Bindung an Christus, während der Leser im Tod verbliebe. Dies dürfte kaum die von Paulus intendierte Aussage sein. Die Unmöglichkeit dieser Auslegung wird zudem schon durch die Formel γενέσθαι ὑµᾶς ἑτέρῳ deutlich, mit der die Leser dann doch wieder mit der Ehefrau gleichgesetzt werden, die nun frei ist, einem anderen zu gehören. Bleibt man also der Bildwelt des Paulus treu, dann ist das Gesetz eben nicht der Ehepartner, dem sein Partner „wegstirbt“, sondern die Instanz, die über das erfolgte Sterben und damit über die Gültigkeit der Ehebeziehung urteilt. Die sperrige Dativkonstruktion ὑµεῖς ἐθανατώθητε τῷ νόµῳ (V. 4) darf dann allerdings nicht, wie es meist geschieht, als dativus (in)commodi („für wen?“, im Sinne von „wem zugute oder wem zu Lasten?“) übersetzt werden, sondern als dativus iudicantis („für wen?“, im Sinne von „in wessen Augen bzw. Urteil?“). Dieser judikative Gebrauch der Dativform νόµῳ bzw. τῷ νόµῳ ist zudem auch in zeitgenössischer jüdischer Literatur mehrfach belegt, insbesondere im Zusammenhang mit Fragen des Eherechts.46 Der Ge46

In der LXX ist ein absolut stehendes τῷ νόµῳ oder nur νόµῳ selten. Abgesehen von wenigen Stellen, an denen νόµῳ oder τῷ νόµῳ als indirektes Objekt steht, wird es 9x instrumental oder modal verwendet (εἰ πορεύσονται τῷ νόµῳ „wandeln nach dem Gesetz“, Ex 16,4; τῷ νόµῳ σου ἐλέησόν µε „erbarme dich meiner nach deinem Gesetz“, Ψ 118,29; ἐπισκέψασθαι ἐπὶ τὴν Ιουδαίαν καὶ εἰς Ιερουσαληµ νόµῳ θεοῦ „beaufsichtigen dem Gesetz entsprechend“, Esr 7,14; τῷ τούτου νόµῳ πολιτευόµενοι „bürgerlich leben dem Gesetz entsprechend“, 3Makk 3,4; vgl. 4Makk 2,8; 4,23; 5,16; νόµῳ γὰρ τῷ αὐτῷ παιδευθέντες „erzogen werden nach dem Gesetz“, 4Makk 13,24), 3x als dativus commodi (ἐζήλωσεν τῷ νόµῳ „eifern für das Gesetz“, 1Makk 2,26; ἑκουσιαζόµενος τῷ νόµῳ „sich dem Gesetz zur Verfügung stellen“, 1Makk 2,42; ζηλώσατε τῷ νόµῳ „für das Gesetz eifern“, 1Makk 2,50). Bei Josephus überwiegt ebenfalls der modale Gebrauch (Ant 1,230.315; 4,322; 5,152; 6,69; 9,58; 10,11; 11,109.231; 12,187.273; 14,304; 15,157; 16,158; 17,95; 19,349; Bell 2,90; 3,363; 4,117.260.388; 5.332; 6.353; Ap 2,267), jedoch finden sich bei ihm auch Beispiele eines dativus iudicantis: µὴ γὰρ ἀδελφὴν οὖσαν ἐπάγεσθαι νόµῳ δ᾿ αὐτῷ συνοικοῦσαν (Ant 1,208: „er führte sie [Sara] nicht als seine Schwester mit sich, sondern als jemand, der mit ihm in den Augen des Gesetzes ehelich zusammenlebte“); νόµῳ σε συνοικήσουσαν ἄξοµαι (Ant 5,331: „ich werde dich vor dem Gesetz als meine Lebensgefährtin heiraten“, nicht: „ich werde dich mit dem Gesetz verheiraten“); εἶχε δὲ τὰς µὲν νόµῳ συνοικούσας αὐτῷ γυναῖκας ὀκτωκαίδεκα παλλακὰς δὲ τριάκοντα (Ant 8,250: „er hatte 18 Frauen, die mit ihm vor dem Gesetz als Lebensgefährtinnen verbunden waren“, nicht: „er hatte 18 Frauen, die mit dem Gesetz als Lebensgefährtinnen verbunden waren“). Für die vorliegende Untersuchung ist auch die Formulierung τό γε µὴν Ἰουδαίων ἔθνος ἠλλοτρίωται νόµῳ πρὸς πάντα τὰ τοιαῦτα (Ant 16,158) von Interesse, die zwar grammatikalisch korrekt auch durch die Phrase „das jüdische Volk ist dem Gesetz entfremdet im Blick auf solche Dinge“ wiedergegeben werden könnte, aber wohl doch zutreffender durch „das jüdische Volk ist durch sein Gesetz solchen Dingen gegenüber entfremdet“ wiederzugeben ist. Auch Philo verwendet den Dativ häufig im judikativen Sinn: καὶ νόµῳ δὲ ἀπείρηται πᾶσαν ζύµην καὶ πᾶν µέλι προσφέρειν (Congr 169) bedeutet nicht: „dem Gesetz ist es verboten, Honig und Sauerteig zum Altar zu tragen“, sondern: „laut Gesetz ist es verboten…“ (vgl. auch Som 1,214; 2,67; Sobr 25; Agr 31; Abr 198; VitMos 1,36.87.142; SpecLeg

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brauch eines dativus (in)commodi mit ἀποθνῄσκω (im Sinne von „jemandem wegsterben“) ist dagegen sonst kaum belegt.47 Eine unmittelbare inhaltliche Gleichsetzung der Formel ὑµεῖς ἐθανατώθητε τῷ νόµῳ (V. 4) mit den Formeln ἐλευθέρα ἐστὶν ἀπὸ τοῦ νόµου (V. 3) und κατηργήθηµεν ἀπὸ τοῦ νόµου (V. 6)48 verbietet sich daher trotz der scheinbaren Parallelität. Treffendere Übersetzungen von Röm 7,4 könnten daher lauten: „Also seid auch ihr vor dem Gesetz gestorben“ (iudicantis) „Also seid auch ihr aufgrund des Gesetzes gestorben“ (instrumentalis bzw. causalis) „Also seid auch ihr dem Gesetz entsprechend gestorben“ (modalis)

2,124; 3,61.80.89.137.189; Prob 30). Auch hier gibt es eine Formulierung, die Röm 7,6 nahesteht: κόρας οἱ ἀγόµενοι νόµῳ (SpecLeg 3,89) sind nicht „die, die Frauen mit dem Gesetz vermählen“, sondern „die, die sich vor dem Gesetz mit Frauen vermählen“. Paulus selbst gebraucht in Röm 14,8 eine vergleichbare Formel, dort allerdings bezeichnet sie gerade nicht die Auflösung der Gottesbeziehung („dem Herrn weggestorben“), sondern im Gegenteil deren positive Qualifikation („im Blick auf den Herrn“, „auf den Herrn hin“, „in Verbindung mit dem Herrn“). In Röm 6,2.10; Gal 2,19 ist die Formel dagegen, wie in 7,6, ambivalent: Zwar wird sie gewöhnlich als dativus incommodi übersetzt („der Sünde weggestorben“, „dem Gesetz weggestorben“), doch ist an allen drei Stellen auch ein dativus iudicantis („für die Sünde gestorben“, „für das Gesetz gestorben“), in Röm 6,2.10 zudem auch ein dativus instrumentalis („durch die Sünde gestorben“) möglich. 47 Die von WOLTER, Römer, 369f., zusammengetragenen Belege sind bei näherer Betrachtung wenig tragfähig: Dass ζάω + Dativ im Sinne eines dativus commodi gebraucht werden kann, ist unstrittig. Der angeführte Beleg aus 4Makk 7,19 dagegen spricht eher gegen Wolter (s.u.). Es bleiben also lediglich zwei antike Belege: Alkiphron, Ep 4,10,5, und LibAnt 28,10. Der Sprachgebrauch der LXX weist dagegen in eine andere Richtung: Dort gibt ἀποθνῄσκω + Dativ entweder eine figura etymologica wieder (θανάτῳ ἀποθανεῖσθε, Gen 2,17; 3,4 u.ö.) oder eine instrumentale Wendung (ἀποθανέτω µαχαίρᾳ, 2Chr 23,14; Jer 11,21). Eng verwandt mit Röm 6,2.10 sind dabei die Formeln ἕκαστος τῇ ἑαυτοῦ ἁµαρτίᾳ ἀποθανεῖται (Dtn 24,16 par. 2Chr 25,4; Ez 3,18f.; 33,8f.) und µὴ µόνος οὗτος ἀπέθανεν τῇ ἑαυτοῦ ἁµαρτίᾳ (Jos 22,20), die an allen Stellen eindeutig instrumental zu verstehen sind. Eng verwandt mit Gal 2,19 ist der Satz βασάνοις καυστικαῖς ἀποθνῄσκω διὰ τὸν νόµον (4Makk 6,27). Auch hier ist der Dativ instrumental gebraucht, das Gesetz tritt als kausale Ursache hinzu. Verwandt mit paulinischer Terminologie sind zudem die Formulierungen πιστεύοντες ὅτι θεῷ οὐκ ἀποθνῄσκουσιν (4Makk 7,19) und οἱ διὰ τὸν θεὸν ἀποθνῄσκοντες ζῶσιν τῷ θεῷ (4Makk 16,25). In beiden Fällen legt der Kontext einen dativus iudicantis näher als einen dativus commodi, denn für die makkabäischen Märtyrer lautet die Alternative ja nicht, „Gott abzusterben“ oder „für Gott zu leben“: Sterben werden sie ohnehin. Gemeint ist also: „Sie glauben, dass sie für Gott/vor Gott (d.h. in seinen Augen) nicht sterben, so wie auch unsere Väter Abraham, Isaak und Jakob nicht gestorben sind, sondern für ihn/ vor ihm lebendig sind“ (4Makk 7,19). Gleiches gilt für 4Makk 16,25: Ein „Leben für Gott“ ist hier nicht im Blick, da es um diejenigen geht, die „für Gott (διὰ τὸν θεόν) sterben“. Diese sind aber in Gottes Augen nach ihrem Tod eben nicht gestorben, sondern „für ihn (in seinen Augen) leben sie, wie auch Abraham, Isaak und Jakob“. 48 Vgl. WOLTER, Römer, 415; HAACKER, Römer, 138.

„Freiheit vom Gesetz“ – eine paulinische Formel?

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Insgesamt jedoch lassen sich die drei Begriffe ἀνήρ, γυνή und νόµος aus V. 1–3 auch so nicht schlüssig den Vergleichsgrößen Χριστός, ὑµεῖς und νόµος in V. 4 zuordnen. Denn keine dieser drei Größen lässt sich im Bild des Paulus konsistent dem verstorbenen Ehemann zuordnen. Alle drei bleiben in der neuen, durch den Tod des Ehemannes ermöglichten Verbindung lebendig: Die Leser und Christus als Ehefrau und (neuer) Ehemann, das Gesetz als die Instanz, die diese neue Verbindung bekräftigt, und zwar in gleicher Weise, wie sie die alte für aufgehoben erklärte. Folgt man aber der weiteren Argumentation des Paulus, so legt sich nahe, dass Paulus in diesem Abschnitt eben nicht eine Alternative zwischen νόµος und Χριστός im Blick hat, sondern die Alternative zwischen zwei sehr gegensätzlichen νόµοι: dem νόµος τοῦ θεοῦ und einem ἕτερος νόµος, oder präziser ausgedrückt: dem νόµος τοῦ θεοῦ und dem νόµος τῆς ἁµαρτίας (V. 22f.).49 Dieser Gegensatz wird in 8,2 dann noch weiter expliziert als Gegensatz von νόµος τοῦ πνεύµατος und νόµος τῆς ἁµαρτίας καὶ τοῦ θανάτου. Der Wechsel vom einen zum anderen νόµος wird dabei in 8,2 in ausdrücklicher Anknüpfung an 7,3 (ἐλευθέρα ἐστὶν ἀπὸ τοῦ νόµου) mit der Formel ἠλευθέρωσέν σε ἀπὸ τοῦ νόµου beschrieben. alt:

neu:

wer?

wodurch?

woran?

ὑµεῖς

ἕτερος νόµος (7,23) νόµος τῆς ἁµαρτίας (7,23) νόµος τῆς ἁµαρτίας καὶ τοῦ θανάτου (8,2)

ἁµαρτία, θάνατος

νόµος τοῦ θεοῦ (7,22) νόµος τοῦ νοός µου (7,23) νόµος τοῦ πνεύµατος (8,2)

θεός, πνεῦµα, ζωή

„Freiheit vom Gesetz“ ist im Zusammenhang von Röm 6–8 daher nicht als ein absoluter, sondern als ein relativer Begriff zu sehen: Die Befreiung von einem bestimmten Gesetz führt in die Bindung an ein anderes Gesetz. Umstritten bleibt jedoch in der Literatur die Frage, welches dieser widerstreitenden Gesetze Paulus nun mit der Tora identifiziert. Weitgehende Einigkeit besteht in der Ansicht, dass er in 7,21 von einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit spricht, die keiner der beiden Seiten zuzuordnen ist.50 Für die übrigen Belege bieten sich dagegen drei Optionen an: a) Die Sinai-Tora könnte ausschließlich mit dem „Gesetz der Sünde und des Todes“ gleichgesetzt und dem „Gesetz Gottes“ bzw. dem „Gesetz des 49

Der polarisierende Gebrauch des Begriffs νόµος in Röm 7,21–8,2 wird in der Literatur unterschiedlich gedeutet. Vgl. dazu die folgenden Ausführungen und Anm. 50–53. 50 Dagegen sieht WRIGHT, Paul, 1018, auch hier die Tora im Blick und übersetzt: “This, then, is what I find about the Torah: when I want to do what is right, evil lies close at hand.”

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Geistes“ diametral gegenübergestellt werden. Dieser Weg wurde bereits von Markion beschritten, aber auch manche neuere Auslegung steht einer solchen Identifikation nahe.51 b) Die Sinai-Tora könnte ambivalent mit beiden Gesetzen identifiziert werden, indem die todbringenden und die Leben spendenden Funktionen des Gesetzes entweder unterschiedlichen Aspekten der Tora oder aber deren Wirkung vor und nach der Transformation durch das Christus-Ereignis zugeordnet werden.52 c) Die Sinai-Tora könnte ausschließlich mit dem „Gesetz Gottes“ und dem „Gesetz des Geistes“ gleichgesetzt werden, während das „andere Gesetz“ bzw. das „Gesetz der Sünde und des Todes“ allgemein als widergöttliche „Gesetzmäßigkeiten“ verstanden werden.53 Die Argumentation des Paulus in 7,7–11 könnte zunächst nahelegen, die Tora im Sinne von Option (a) oder (b) selbst als widergöttliche Größe zu sehen und sie daher mit dem „Gesetz der Sünde und des Todes“ in 8,2 gleichzusetzen. Es fällt jedoch auf, dass Paulus in 7,12–20 genau vor dieser Gleichsetzung ausdrücklich warnt: Hier wird allein die ἁµαρτία unzweideutig als eine widergöttliche Macht dargestellt, von der der Mensch befreit werden muss. Das Gesetz jedoch wird ambivalent als eine eigentlich gottgegebene Größe dargestellt, die allerdings von der Sünde in betrügerischer Weise missbraucht wird, um dem Menschen den Tod zu bringen.54 In der Tat bringt das Gesetz also den Tod. Dennoch steht der Mensch anschließend in 7,21–25 nicht etwa in der Spannung zwischen „Gesetz der Sünde“ auf der einen Seite und „Freiheit vom Gesetz“ auf der anderen, sondern zwischen „Gesetz der Sünde“ auf der einen und „Gesetz Gottes“ auf der anderen. Die Tatsache, dass Paulus wiederholt das Gesetz als heilig und gut bezeichnet, macht eine Zuordnung der Tora als solcher zur Macht der Sünde unmöglich. Befreit werden muss der Mensch nach Röm 7,21–25 nicht vom Gesetz, sondern von der Sünde.55 51

RÄISÄNEN, Paul, 52, erkennt in 7,21–8,2 „three or four different senses“ des Begriffs νόµος, wobei er nur das „Gesetz der Sünde und des Todes“ (8,2) mit der Tora identifiziert. 52 Vgl. WILCKENS, Römer, 90.122; DUNN, Romans, 394f. Auch die traditionelle reformatorische Unterscheidung zwischen den verschiedenen usus legis gehört hierher. 53 Vgl. HOFIUS, Mensch, 142; VON DER OSTEN-SACKEN, Befreiung, 204; DUNN, a.a.O., 417f.; MATERA, Romans, 179. Auch WOLTER, Römer, 461, identifiziert sowohl das „Gesetz Gottes“ als auch das „Gesetz meiner Vernunft“ mit der Tora, insofern die Vernunft des Menschen sich ihr Gesetz nicht selbst ausdenke, sondern sich an der Tora orientiert. Demgegenüber könnten allerdings die beiden entgegengesetzten „Gesetze“ nicht mit der Tora identifiziert werden: „Es ist darum wahrscheinlich, dass Paulus in V. 22–23 von zwei verschiedenen ‚Gesetzen‘ spricht: von der Tora (V. 22.23b) und – metaphorisch – vom ‚Gesetz der Sünde‘ (V. 23a.c)“. 54 Vgl. HAACKER, Römer, 145. STUHLMACHER, Römer, 103, nennt das „Gesetz der Sünde“ das „parasitäre Widerspiel“ des guten Gebotes (Gesetzes) Gottes. HÜBNER, Gesetz, 115, spricht vom „pervertierten Gesetz“. 55 Vgl. STUHLMACHER, Römer, 102.

„Freiheit vom Gesetz“ – eine paulinische Formel?

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Will man der Bildwelt des Paulus jedoch treu bleiben, könnte man davon sprechen, dass die Tora zusammen mit dem Menschen aus dem Machtbereich der Sünde befreit werden und zu seiner rechtmäßigen Bestimmung zurückgeführt werden muss:56 In dieser Bildwelt hat sich die Sünde der (guten) Tora Gottes in betrügerischer Weise bedient und sie missbräuchlich dazu genutzt, den Menschen an sich zu binden. Der Tod Christi löst nun aber nicht nur den Menschen, sondern mit ihm zusammen auch die Tora aus dem Machtbereich der Sünde und versetzt sie in den Machtbereich des Geistes. Dasselbe Gesetz, das den Menschen vorher an die Sünde band, bindet ihn nun an den Geist Gottes. Dies entspräche auch der Analogie des Witwenrechtes, die Paulus eingangs benutzte: Denn es ist ja dasselbe, unveränderte Eherecht, das die Frau zunächst an den ersten Ehemann bindet und später an den zweiten. Weder ändert sich das Gesetz als solches, noch wird es aufgelöst, noch wird die Frau durch den Tod des Mannes vom Gesetz als solchem entbunden. Vielmehr ist es das (weiterhin unverändert gültige) Gesetz, das sie von der Bindung an den ersten Ehemann befreit und in gleicher Weise zu einer Bindung an einen neuen Ehemann befreit. Die Formel „Freiheit vom Gesetz“ aus Röm 7,2–6 wird also in den Folgeversen von Paulus gerade nicht auf das ganze Gesetz als solches übertragen.57 Damit wird jedoch auch Deutung (b) unwahrscheinlich, dass nämlich Paulus in 7,21–25 nicht zwei gegensätzliche Gesetze, sondern lediglich zwei Aspekte oder Funktionen des einen Gesetzes einander gegenüberstelle. Vielmehr handelt es sich in 7,7–20 um einen Exkurs, mit dem Paulus zunächst das Bild aus dem Eherecht verlässt, um sich einem anderen Bild zuzuwenden: In Röm 7,7–20 werden nicht zwei unterschiedliche Ehepartner verhandelt, an die der Mensch durch das Gesetz gebunden ist, sondern zwei unterschiedliche Wirkungen, die das Gesetz im Menschen entfalten kann: Es kann sowohl Tod als auch Leben bringen, je nachdem an welchen „Ehepartner“ es den Menschen bindet. In Röm 7,21–25 kehrt Paulus dann wieder zum Bild von den zwei Ehepartnern und den entsprechenden zwei Gesetzen zurück, um schließlich in 8,1f. die in 7,2–6 eingeführte Formel von der „Freiheit vom Gesetz“ inhaltlich zu füllen: „Freiheit vom Gesetz“ bedeutet demnach ausschließlich die „Freiheit vom Gesetz der Sünde und des Todes“, die ermöglicht wird durch den Tod Christi und verwirklicht wird durch die Bindung an das „Gesetz Gottes“ und das „Gesetz des Geistes“. Sachlich und auch sprachlich ist Röm 7,1–8,2 daher in drei sorgsam voneinander zu unterscheidende Abschnitte zu teilen, deren Bild- und Sachhälften nicht ohne Weiteres miteinander vermischt werden dürfen:

56

Vgl. den programmatischen Titel von HEINZ GIESEN: „Befreiung des Gesetzes aus der Sklaverei der Sünde als Ermöglichung der Gesetzeserfüllung“. 57 Vgl. dazu jedoch oben S. 272, Anm. 39.

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Text

Bildwelt

Sachaussage

1

Röm 7,1–6

Ein Mensch – Zwei Gesetze

2

Röm 7,7–20

Ein Gesetz – Zwei Wirkungen

3

Röm 7,21–8,2

Ein Mensch – Zwei Gesetze

Freiheit von einem vs. Bindung an den anderen Ursprünglicher Sinn vs. Perversion, Leben vs. Tod Freiheit von einem vs. Bindung an das andere

Abschnitt 1 und 3 des Kapitels entsprechen sich dabei formal und inhaltlich, während Abschnitt 2 einer anderen Bildlichkeit und auch Argumentation folgt. Es liegt nahe, dass Abschnitt 3 die Anwendung des Bildwortes aus Abschnitt 1 bietet, während es sich bei Abschnitt 2 um einen eingeschobenen Exkurs handelt (die „Apologie des Gesetzes“58), der nur bedingt zur Erläuterung des Bildes aus Abschnitt 1 herangezogen werden kann. Für den Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung ist nun die Beobachtung entscheidend, dass Paulus die Terminologie von Freiheit und Bindung ausschließlich in Abschnitt 1 und 3 gebraucht, während sie in Abschnitt 2 keine Rolle spielt. Von „Freiheit“ spricht Paulus also nur in solchen Zusammenhängen, in denen zwei gegensätzliche Gesetze bzw. Machtansprüche polarisierend gegenübergestellt werden, nicht aber dort, wo er von der Ambivalenz des Gesetzes in seiner Gesamtheit spricht. Anders als in Abschnitt 2, wo das eine Gesetz in seiner unterschiedlichen Funktion und Wirkung betrachtet wird, geht es aber in Abschnitt 1 und 3 nicht um das eine Gesetz in seiner Totalität, sondern um zwei voneinander unterschiedene, näher spezifizierte Gesetze. Die Formel „Freiheit vom Gesetz“, die ja schon sprachlich von Paulus (außer in der Bildhälfte 7,3) nie absolut verwendet wird, darf also auch inhaltlich nicht auf das Gesetz in seiner Gesamtheit, auch nicht auf das Gesetz in seiner pervertierten Form oder Funktion, bezogen werden.59 Sie findet bei Paulus ausschließlich in einem enger spezifizierten Sinn Verwendung, nämlich in der Gegenüberstellung von zwei gegensätzlichen Gesetzen, von denen nur eines, nämlich das Gesetz Gottes, Freiheit bringt. 58

Zu Recht spricht HOFIUS, Mensch, 110, sich gegen die Charakterisierung des gesamten Abschnittes 7,7–25 als „Apologie des Gesetzes“ aus, zumal wenn dieser Titel die argumentative Rolle des Abschnitts im Gesamtkontext des Römerbriefs bezeichnen soll. In der Tat handelt es sich hier um eine grundlegendere anthropologische und hamartiologische Bestandsaufnahme der Menschheit. Innerhalb dieser aber dienen die Verse 7–20 dazu, das Gesetz gegen den Vorwurf zu verteidigen, selbst „[die Ursache der] Sünde“ (HOFIUS, a.a.O., 125) zu sein. Insofern könnte zumindest dieser Teilabschnitt also doch als „Apologie des Gesetzes“ beschrieben werden. 59 Umgangssprachliche Formeln wie „Freiheit vom Urteil des Gesetzes“, „Freiheit vom Zwang des Gesetzes“, „Freiheit vom Gesetz in seiner anklagenden Funktion“ versuchen dies zum Ausdruck zu bringen. Sie mögen zwar sachlich richtig sein. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass Paulus selbst solche Formulierungen, so zutreffend sie auch sein mögen, gerade nicht gebraucht.

„Freiheit vom Gesetz“ – eine paulinische Formel?

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„Freiheit vom Gesetz“ bedeutet also im Kontext von Röm 7–8 für Paulus ausschließlich die „Freiheit vom Gesetz der Sünde und des Todes“. Ermöglicht wird diese Freiheit durch den Tod Christi. Gewährleistet wird sie gerade dadurch, dass der Mensch sich dem „Gesetz Gottes“ bzw. dem „Gesetz des Geistes“ unterstellt. Ob und inwiefern dieses „Gesetz Gottes“ sich für Paulus in seinen Einzelweisungen von der mosaischen Tora unterscheidet, inwieweit es also durch das Christusereignis transformiert oder verändert wird, wird von Paulus an dieser Stelle nicht thematisiert. Fragen halachischer Toraobservanz (im Sinne von Luthers facimus, quando volumus, et omittimus, quando volumus) sind im gesamten Kontext von Röm 6–8 nicht im Blick und werden daher durch die Formel „frei vom Gesetz“ auch nicht berührt.

B. Freiheitsterminologie im Galaterbrief Die Formel „frei vom Gesetz“ wird also von Paulus nur im Römerbrief verwendet, und auch dort nur in einem sehr spezifischen Sinn. Dass die Formel dennoch so prominenten Eingang in die Bibelausgaben des Galaterbriefs gefunden hat, mag daran liegen, dass die hier verwendeten Bilder von Freiheit und Gefangenschaft, aber auch von der Funktion des Gesetzes, häufig durch die Brille von Röm 7–8 gelesen werden. Im Folgenden sollen daher die entsprechenden Passagen des Galaterbriefs näher betrachtet werden. I. Galater 2,4 In Gal 2,4 werden die Begriffe der Freiheit und der Knechtschaft einander gegenübergestellt, und zwar anlässlich der Frage nach der Beschneidung des Titus. Anders als in Röm 7–8 geht es hier also in der Tat um konkrete Fragen der Toraobservanz: ἀλλ᾿ οὐδὲ Τίτος ὁ σὺν ἐµοί, Ἕλλην ὤν, ἠναγκάσθη περιτµηθῆναι διὰ δὲ τοὺς παρεισάκτους ψευδαδέλφους, οἵτινες παρεισῆλθον κατασκοπῆσαι τὴν ἐλευθερίαν ἡµῶν ἣν ἔχοµεν ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ, ἵνα ἡµᾶς καταδουλώσουσιν (Gal 2,3f.)

Aber selbst Titus, der bei mir war, ein Grieche, wurde nicht gezwungen, sich beschneiden zu lassen. Denn es hatten sich einige falsche Brüder mit eingedrängt und neben eingeschlichen, um unsere Freiheit auszukundschaften, die wir in Christus Jesus haben, und uns zu knechten. (Luther 1984)

Die ἐλευθερία, von der Paulus hier redet, wird von Luther gedeutet als eine Freiheit, durch die wir „die Werke des Gesetzes tun, wenn wir es wollen, und sie lassen, wenn wir es wollen“60, also als eine grundsätzliche Freiheit von 60 Glosse zur Galaterbriefvorlesung 1516 (WA 57, 13). Ähnlich auch im Galaterkommentar 1519: „Er sagt ‚gezwungen‘, ‚gefangen nähmen‘, ‚untherthan sein‘, wodurch er

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der Verpflichtung zur Toraobservanz. Demzufolge bedeutet Toraobservanz für Paulus Knechtschaft, während Nichtobservanz Freiheit bedeutet, eben eine „Freiheit vom Gesetz“. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass diese Deutung nicht schlüssig ist: (a) Die Frage, an der sich „Freiheit“ (ἐλευθερία) und „Versklavung“ (καταδουλόω) hier entscheiden, ist die Frage, ob der Nichtjude Titus beschnitten werden soll. Zur Debatte steht also nicht die Pflicht (jüdischer) Toraobservanz, sondern die Frage, ob ein Nichtjude überhaupt auf die Tora verpflichtet werden sollte. In den eingangs benannten Kategorien gesprochen, geht es also nicht um eine jüdische „Freiheit von Toraobservanz“ (e), sondern um die Verkündigung des „gesetzesfreien Evangeliums“ unter Nichtjuden (c). Im Blick auf die Person des Titus trifft daher Luthers Definition der Freiheit nicht zu. Denn für ihn gab es, anders als für Paulus, (noch) kein Gesetz, an das er sich, je nach Situation, hätte halten oder nicht halten können. (b) Die Frage, ob und zu welchem Zeitpunkt seiner Annäherung an das Judentum ein „gottesfürchtiger“ Nichtjude sich der Beschneidung unterziehen sollte, war ein komplexes halachisches und soziologisches Problem, zu dem innerhalb des Judentums ein breites Meinungsspektrum existierte, wie etwa die Episode von der Beschneidung des Izates (Josephus, Ant 20,43) zeigt. Eine halachische Verpflichtung, Nichtjuden zum Judentum zu bekehren, gleich ob durch Beschneidung oder nicht, existierte für Juden aber keinesfalls.61 Auch Paulus und Barnabas standen hier also nicht vor der Entscheidung, das Gesetz „zu halten oder nicht zu halten“. (c) Paulus bezieht den Begriff καταδουλόω zudem nicht nur auf Titus, sondern auch auf sich selbst und auf Barnabas. Damit kann die Beschneidung als solche nicht Zeichen einer „Versklavung“ (unter das Gesetz) sein. Denn weder Paulus noch Barnabas sollen ja beschnitten werden. Sie sollen aber, nach Aussage des Paulus, ebenfalls „versklavt“ werden. Der Aspekt der Versklavung liegt also nicht im Gesetzesgehorsam an sich, sondern nur in dem Zwang, den die „falschen Brüder“ auf beide ausüben.62 Es legt sich daher der Schluss nahe, dass die Begriffe der Freiheit und der Knechtschaft hier von Paulus in einem anderen Sinne gebraucht werden: Sie dies genugsam auslegt, nämlich, dass solche Leute unter ihnen gewesen seien, die auf ihn hielten, weil er bisweilen, wie er es durfte, und es ihm freistand, das Gesetz hielt, bisweilen das Gegentheil that, je nachdem er sah, dass es dazu diente, Seelen zu gewinnen […] das nennt er hier ‚gefangen nehmen‘ und ‚unterthan sein‘. Denn das ist die Freiheit, von der er rühmt, dass wir sie in Christo haben“ (WA 2, 478, dt. W 9, 78). Ähnlich WRIGHT, Paul, 359f.: “[to deny] the ‘freedom we have in the messiah’, [is] to declare that the old symbols are still valid.” 61 NANOS, Irony, 82; BACHMANN, Elemente, 122. Anders DUNN, Theology, 130f. 62 Vgl. SCHÄFER, Paulus, 185–190. Auf diesen Unterschied hat bereits Luther hingewiesen: „Nicht die Beschneidung ist schlecht, sondern der Zwang zur Beschneidung“ (BORNKAMM, Auslegungen, 267; vgl. auch LUTHER, WA 2, 478).

„Freiheit vom Gesetz“ – eine paulinische Formel?

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beziehen sich nicht auf die Frage des Gesetzesgehorsams, sondern auf die Frage der Unterordnung unter menschliche Autorität, in diesem Falle unter die Forderungen der ψευδάδελφοι. Dafür spricht auch der gesamte vorangehende literarische Kontext: Denn während die Frage des Gesetzesgehorsams bis hierher im Galaterbrief noch nicht thematisiert wurde, durchzieht der Gegensatz zwischen Gottesgehorsam und Menschengehorsam den gesamten Brief bis hierher wie ein Leitmotiv. „Freiheit“ bedeutet in diesem Fall also für Paulus nicht die „Freiheit vom Gesetz“,63 sondern die durch Christus gewonnene „apostolische Freiheit“, die es den Gemeinden erlaubte, eine andere halachische Praxis zu üben als die Mehrheit ihrer jüdischen Zeitgenossen. Für die ersten Christen war diese Freiheit im Christusereignis begründet: Während im „gegenwärtigen Äon“ (1,4) bestimmte halachische Restriktionen für die Teilnahme von Nichtjuden am jüdischen Gemeindeleben galten, solange diese nicht beschnitten waren, gelten diese Restriktionen nun in den Augen der ersten Gemeinden nicht mehr. Dies bedeutet aber nicht eine „Freiheit vom Gesetz“ für die jüdischen Gläubigen, sondern lediglich eine „Freiheit vom Zwang zur Konversion“ für die nichtjüdischen. Eine unvoreingenommene Lektüre von Gal 2,3f. sollte daher davon ausgehen, dass die Begriffe von „Freiheit“ und „Knechtschaft“ hier nicht auf das Verhältnis des Paulus zum Gesetz gedeutet werden dürfen (der Begriff νόµος fehlt im gesamten Kontext von Gal 2,1–10), sondern auf das Verhältnis von menschlicher und göttlicher Autorität, insbesondere im Blick auf die ψευδάδελφοι. Dabei stehen die ψευδάδελφοι hier als Repräsentanten einer Gruppe, die die Beschneidung von Nichtjuden als Bedingung für die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde fordert.64 II. Gal 2,11–14 Ähnlich wie in Gal 2,1–10 steht auch im Zusammenhang mit dem „antiochenischen Zwischenfall“ nicht die Frage der Toraobservanz jüdischer Gemeindeglieder, sondern der Zwang zur Toraobservanz für nichtjüdische Gemein63

So auch SCHÄFER, Paulus, 186; JONES, Freiheit, 76–78. Anders z.B. HÜBNER, Gesetz, 21.116; BECKER, Galater, 20; VOLLENWEIDER, Freiheit, 299. 64 Die Identität der ψευδάδελφοι ist unklar: Traditionell werden sie mit judaisierenden Parteien innerhalb der Gemeinde identifiziert. NANOS, Irony, 149–152, geht hingegen davon aus, dass die ψευδάδελφοι nicht Mitglieder der Gemeinde waren, sondern Abgesandte der jüdischen Autoritäten in Jerusalem („supervisory investigators“), die in die Gemeinde entsandt wurden, weil man besorgt war angesichts der „liberalen“ Konversionspraxis dieser Gemeinde, die sich ja nach wie vor als Subgruppe der jüdischen Gemeinde verstand. „Freiheit“ und „Knechtschaft“ bezögen sich dann auf die Frage der Unterordnung unter die örtlichen jüdischen Obrigkeiten, die eine strengere Konversionspraxis von der neu entstehenden Gemeinde der Jesus-Nachfolger in Jerusalem forderten.

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deglieder zur Debatte. Für Luthers selbstverständliche Annahme, man habe bei den Tischgemeinschaften in Antiochien verbotene Speisen gegessen, bietet der Text keine Grundlage. Nach allem, was wir über die soziale Interaktion zwischen Juden und Nichtjuden in der Antike wissen, ist das sogar höchst unwahrscheinlich. Vielmehr ist davon auszugehen, dass bei Mahlzeiten, bei denen Juden und Nichtjuden anwesend waren, auch von seiten nichtjüdischer Gastgeber auf jüdische Sensibilitäten geachtet wurde.65 Das Thema von Gal 2,11–14 sind aber nicht die jüdischen Speisegebote, sondern die Möglichkeit der Tischgemeinschaft zwischen Juden und Nichtjuden. Die Schilderung des Paulus gibt keinen Anlass zu der Annahme, dass bei den Tischgemeinschaften in Antiochien tatsächlich halachische Vorschriften missachtet wurden. Allenfalls lässt der Text den Schluss zu, dass entweder Petrus oder die Leute des Jakobus oder aber „die aus der Beschneidung“ dieser Ansicht waren. Paulus selbst argumentiert in seiner Antwort an Petrus aber nicht aufgrund einer „Freiheit vom Gesetz“, die es ihm erlaube, jüdische Gesetze zu missachten, sondern er thematisiert die Frage einer „Rechtfertigung durch das Gesetz“, ohne dabei den Begriff der Freiheit zu gebrauchen. Die gesamte Passage trägt also, auch wenn sie oft in diesem Zusammenhang angeführt wird, zur Frage einer „Freiheit vom Gesetz“ weder inhaltlich noch sprachlich etwas bei. III. Galater 3,22–25 Obwohl auch hier weder der Begriff der Freiheit noch der Begriff der Knechtschaft auftauchen, sind diese Verse ein wichtiger Schlüsseltext für das Verständnis des Gesetzes als „Gefängnis“, aus dem der Mensch befreit werden muss. Entscheidend ist dabei die Formulierung in V. 22f.: ἀλλὰ συνέκλεισεν ἡ γραφὴ τὰ πάντα ὑπὸ ἁµαρτίαν, ἵνα ἡ ἐπαγγελία ἐκ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ δοθῇ τοῖς πιστεύουσιν. Πρὸ τοῦ δὲ ἐλθεῖν τὴν πίστιν ὑπὸ νόµον ἐφρουρούµεθα συγκλειόµενοι εἰς τὴν µέλλουσαν πίστιν ἀποκαλυφθῆναι (Gal 3,22f.)

Aber die Schrift hat alles eingeschlossen unter die Sünde, damit die Verheißung durch den Glauben an Jesus Christus gegeben würde denen, die glauben. Ehe aber der Glaube kam, waren wir unter dem Gesetz verwahrt und verschlossen auf den Glauben hin, der dann offenbart werden sollte (Luther 1984).

Luther deutete nicht nur in seiner Übersetzung, sondern auch in seinen Kommentaren die hier verwendete bildhafte Sprache auf die Situation eines Gefangenen im Kerker und leitete daraus den Schluss ab, dass der Mensch durch Christus aus der Gefangenschaft des Gesetzes befreit werde: „Für alle, sagt er, die unter dem Gesetze sind, ehe sie durch den Glauben gerechtfertigt werden, ist das Gesetz gleichsam wie ein Kerker, in welchem sie verschlossen und verwahrt werden, weil sie durch die Kraft und den Schrecken des Gesetzes davon abgehalten 65 Vgl. dazu ausführlich DUNN, Incident, passim; ESLER, Agreement, passim; NANOS, Stake, passim; ZETTERHOLM, Formation, 131ff.

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werden, daß sie nicht frei sündigen, da die böse Lust ihren Willen nicht dazu gibt und widerstrebt. Denn die böse Lust wüthet und haßt das Gesetz, ihr Gefängnis, wird aber dennoch gezwungen, sich der Werke der Sünde zu enthalten.“66 „D.h. bevor die Zeit des Evangeliums und der Gnade kam, war es das Amt des Gesetzes, daß wir unter seinem Verschluß gehalten würden, wie in einem Kerker. – Nun liebt kein Dieb, Mörder oder Räuber seine Fesseln und den finsteren Kerker, in dem er gefangen gehalten wird. Im Gegenteil, wenn er könnte, würde er den Kerker mit den eisernen Fesseln zerbrechen und in Staub verwandeln. Im Kerker muß er sich ja wohl von Übeltaten enthalten, aber er tut es nicht aus gutem Willen oder aus Liebe zur Gerechtigkeit, sondern weil der Kerker ihn zurückhält. Der Eingekerkerte verabscheut und haßt keineswegs die Sünde und seinen Diebstahl, im Gegenteil aus ganzem Herzen ist es ihm leid, daß er nicht frei ist und stehlen kann; nein, der Dieb haßt den Kerker, und wenn er nur ausbrechen könnte, würde er handeln wie früher.“67

Dieser Linie folgend, deuten auch viele neuzeitliche Kommentatoren die vorliegende Stelle als ein Bild der Gefangenschaft: „Bis dahin stand die Menschheit nach Gottes Willen unter dem Gesetz, und das bedeutet Gefangenschaft, nämlich Verhaftetsein an die Sünde.“68 „Die ganze Welt lag in Gefangenschaft und war in die Sünde eingeschlossen. Dabei hatte das Gesetz die Aufgabe, Gefangenenaufseher zu sein.“69 „[…] gefangengehalten ‚unter der Tora‘ (ὑπὸ νόµον). Dies ist eine sehr negative Interpretation des ‚Zauns‘ um Israel, der die Tora nach jüdischem Verständnis sein soll. Die Zeit des Gesetzes hielt die Juden in der Sünde (3,22) und unter dem Fluch des Gesetzes (3,10) gefangen, eine Situation, die sich von der Versklavung durch die ‚Naturmächte der Welt‘ (4,1–10) nicht unterschied.“70 „Der erste Zeitraum trägt also als Wesensbestimmung das Gesetz. Es übte uneingeschränkte, wenig freundliche Bewacheraufgaben aus, die einer Kerkerhaft der Menschheit entsprachen. [Das Gesetz] verhaftete alle Sünder in ihrem Zustand und schuf so negativ die Voraussetzung – wie nach dem Kommen Christi klar wird –, daß Christus für alle der Verheißungsträger sein und die Befreiung vornehmen konnte.“71

Verstärkt wird die Bildwelt der Gefangenschaft zudem dadurch, dass der von Paulus in den Folgeversen eingeführte Begriff des παιδαγωγός vor allem als ein Aufseher oder Bewacher charakterisiert wird. Luther wählte bekanntlich den Begriff des „Zuchtmeisters“, den neuere Kommentatoren durch den des „Aufsehersklaven“72 erläutern, der „uns drohend bewacht“73, ein „hartes, aber 66

Galaterbrief-Kommentar 1519, WA 2, 527; dt. W2, 1501 (W 9, 185f.). Galaterbrief-Kommentar 1535, WA 40/1, 518f.; dt. KLEINKNECHT, 198; vgl. CALVIN, Galater, 59: „Dieses Gesetz aber ist für Paulus zuerst ein Kerker, dann ein Zuchtmeister.“ 68 BEYER/ALTHAUS, Galater, 30. 69 ROHDE, Galater, 161. 70 BETZ, Galaterbrief, 313. 71 BECKER, Galater, 59; ähnlich auch HOFIUS, Gesetz, 274; TIWALD, Hebräer, 321; RÄISÄNEN, Paul, 20; OAKES, Law, 147; ECKSTEIN, Verheißung, 213. 72 BECKER, ebd. 67

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notwendiges Werkzeug“, dem „das Image roher, ungehobelter Männer“ anhängt.74 Christus wird entsprechend als ein „Befreier aus dem Zwang des Gesetzes“75 verstanden. „Das Konzept des Paulus setzt nicht nur die radikale Abwertung des Gesetzes voraus, sondern auch eine recht grausame Vorstellung von παιδεία (‚Erziehung‘) zusätzlich zu der ziemlich häßlichen Figur des Pädagogen. […] Für den Apostel ist ‚unter dem Pädagogen (Zuchtmeister)‘ zu sein, gleichbedeutend mit ‚Sklaverei unter den Naturmächten der Welt‘ und läuft auf ‚Gefangenschaft‘ und die Abwesenheit von ‚Freiheit‘ und ‚Reife‘ hinaus.“76

Verschiedene Untersuchungen aus neuerer Zeit zeichnen jedoch ein deutlich positiveres Bild des antiken παιδαγωγός und weisen darauf hin, dass dessen Aufgabe in erster Linie darin bestand, das Kind auf dem Schulweg vor Angriffen und Gefahren zu bewahren, und nicht darin, das Kind gefangen zu halten oder zu bestrafen.77 Zwar ist kaum zu leugnen, dass auch negative Assoziationen mit dem Begriff verbunden waren. Denn selbst ein Beschützer hat ja die Aufgabe, Freiheit einzuschränken und Strafe anzudrohen. Es fällt aber auf, dass Paulus gerade auf diese Rolle des παιδαγωγός, wie überhaupt auf negative Konnotationen des Begriffs, nicht rekurriert, obwohl sich dies angesichts der antiken Literatur offenbar angeboten hätte. Die Verwendung des Begriffs παιδαγωγός wird von ihm weder mit dem Bild der Freiheit noch mit dem der Strafe oder überhaupt dem der Strenge verbunden. Er kann also hier nicht als Beleg für das Bild einer „Freiheit“ vom Gesetz gerechnet werden. Die Ambivalenz des Begriffs bei Paulus kann vielleicht mit dem deutschen Begriff des „Bewachers“ wiedergegeben werden: Er lässt zunächst offen, ob dabei die Bewachung eines Gefangenen gemeint ist, der auszubrechen droht, oder die Bewachung eines Kindes vor Räubern oder Entführern. Im ersteren Fall liegt die Bedrohung im Inneren, im zweiten Fall im Äußeren. Die Freiheit hingegen liegt im ersten Fall außerhalb des bewachten Bereichs und soll verhindert werden. Im zweiten Fall dagegen liegt sie im Inneren des bewachten Bereichs und soll bewahrt werden. Da Paulus selbst hier den Begriff der 73

ROHDE, Galater, 162; ähnlich auch seine Formulierungen: „derbe Burschen, die zu nichts anderem zu gebrauchen waren“, „finsteres Aussehen“, „der mit geübter Hand seinen ihm anvertrauten Schützling am Ohr zieht und in der anderen Hand einen Riemen bereithält“ (ebd.). 74 BETZ, Galaterbrief, 314. 75 ROHDE, ebd. 76 BETZ, a.a.O., 316; ähnliche Formulierungen finden sich auch bei ROHDE, ebd.; VOUGA, Galater, 23; WITHERINGTON, Grace, 268; SÄNGER, Gesetz, 254–260; ECKSTEIN, Verheißung, 215f.; RÄISÄNEN, Paul, 44. 77 YOUNG, Paidagogos, passim; DUNN, Galatians, 90; ESLER, Galatians, 201f.; MATERA, Galatians, 136. Diese Rolle des beschützenden Bewachers unterscheidet sich jedoch noch einmal vom Bild des propädeutischen Erziehers, wie es in der Alten Kirche, aber z.B. auch bei CALVIN, Galater, 60, gezeichnet wird, das in der Tat nicht dem lexikalischen Gehalt entspricht. Gegen jede positive Deutung des Bildes aber z.B. ECKSTEIN, a.a.O., 196f.

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Freiheit aber gar nicht verwendet, muss zunächst offen bleiben, welche der beiden Facetten des Bildes er mit dem Begriff des παιδαγωγός im Blick hat.78 Anders verhält es sich mit den Begriffen συγκλείω und φρουρέω, die in der Diskussion weit weniger Beachtung finden als der Begriff des παιδαγωγός. Die häufig im Deutschen verwendeten Begriffe „verschlossen“ und „verwahrt“ erlauben ebenso wie der Begriff des „Bewachers“ eine Deutung in beiderlei Richtung. Wie zu sehen war, sah Luther in diesen Begriffen die Bildwelt des Kerkers, also eine Situation, in der die Gefährdung im Inneren des Menschen liegt und dessen Freiheit daher verhindert werden soll. Ihm folgt die Mehrheit der neueren Kommentare, auch wenn zuweilen darauf verwiesen wird, dass φρουρέω bei Paulus sonst durchaus auch eine andere Bedeutung haben kann: So bezeichnet es zwar in 2Kor 11,32 die Bewachung der Stadt Damaskus durch den Statthalter des Aretas, aber in Phil 4,7 die Bewahrung der Herzen und Sinne in Christus. Diese Konnotation der Bewahrung findet sich zudem auch in 1Petr 1,5. Der Begriff συγκλείω findet sich bei Paulus nur noch in Röm 11,32, in einem Gal 3,22f. eng verwandten Bild: συνέκλεισεν γὰρ ὁ θεὸς τοὺς πάντας εἰς Denn Gott hat alle eingeschlossen in den ἀπείθειαν, ἵνα τοὺς πάντας ἐλεήσῃ. (Röm Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. (Luther 1984) 11,32)

Im übrigen Neuen Testament findet sich der Begriff συγκλείω nur noch in Lk 5,6, wo er das Einfangen der Fische im Netz des Fischers bezeichnet. Häufiger erscheint der Begriff allerdings in der LXX: Weitaus überwiegend ist dabei die Verwendung im Zusammenhang militärischer Kontexte, wo der Begriff das hebräische ‫ סגר‬übersetzt und z.B. Stadtmauern beschreibt, die Städte umschließen, um sie vor Angreifern zu bewahren.79 Ebenfalls in militärischen Kontexten bezeichnet er Sperranlagen, die dem heranrückenden Gegner den Weg versperren,80 oder das Belagern einer Stadt oder eines Heeres durch ein anderes.81 Diese militärische Bildwelt prägt dann wohl auch solche Formeln (z.T. mit συγκλείω + εἰς), die die Auslieferung an den Tod82 oder die Preisgabe an Feinde83 bezeichnen, wohl als Ergebnis einer vorangehenden erfolgreichen Belagerung. Verwendungen außerhalb des militärischen Bereichs sind selten, sie bezeichnen z.B. das Schließen eines Zelteingangs oder des Braut78 Für eine grundsätzliche Offenheit des Begriffs in beide Richtungen plädiert auch POLLMANN, Motive, 188 („Bewahrung durch Bewachung“), unterstreicht dann aber doch den „repressiven Charakter“ dieser Bewachung, der durch den Kontext, insbesondere die Begriffe συγκλείω und φρουρέω, nahegelegt werde. 79 Jos 6,1; 1Reg 11,27; 12,24 (LXX); 2Makk 12,7; Jes 45,1; Jer 13,19. 80 Jud 5,1; Hi 3,23; Ψ 34,3; Prov 4,12. 81 Jer 21,4.9; Ez 4,3; 1Makk 3,18; 4,31; 5,5; 6,18.49; 11,65; 15,25; ähnlich wohl auch Ψ 30,9. 82 Ψ 77,50. 83 Ψ 77,62; Am 1,6.9; Ob 14.

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gemachs, um störende Gäste fernzuhalten,84 sowie metaphorisch das Verschließen des Mutterleibs durch Gott als ein Bild für Unfruchtbarkeit.85 Es wird also deutlich, dass der von Paulus verwendete Begriff συγκλείω durch seine alttestamentliche Verwendung sehr eindeutige Bilder der Belagerung oder Befestigung von Städten im Krieg hervorruft. Dabei soll, im realen wie im metaphorischen Gebrauch, stets ein Eindringen von außen verhindert werden. Nie steht der Begriff für Bilder von Gefängnissen oder Wächtern, die Menschen am Verlassen einer Stadt oder eines Hauses hindern. In solchen Kontexten verwendet die LXX andere semantische Felder, etwa αἰχµαλωτεύω (‫ )שׁבה‬für Kriegsgefangene86, ἀπάγω (‫ )אסר‬für Strafgefangene,87 φυλακή (‫שׁמָר‬ ְ ‫ ) ִמ‬für Gefängnisse88 oder σκοπός (‫ )צ ֹפֶה‬für Wächter.89 Die militärische Bildwelt dagegen legt sich auch deshalb für Gal 3,22f. nahe, weil συγκλείω dort mit dem Begriff φρουρέω verbunden ist, einem Begriff, den Paulus in 2Kor 11,32 ausdrücklich für die Bewachung von Damaskus durch den Statthalter des Aretas verwendet.90 Gleichzeitig passt das Bild aber ebenso gut zu der positiven Verwendung von φρουρέω in Phil 4,7 und 1Petr 1,5, denn in beiden Fällen geht es darum, die Gläubigen vor Angriffen des Bösen zu bewahren bzw. zu beschützen. Das Bild, das den Ausführungen des Paulus in Gal 3,22f. zugrunde liegt, ist also mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht das des Kerkers, sondern das einer Festung, die Schutz gegen anstürmende Feinde gibt.91 Dieser Schutz ist jedoch, auch in diesem Bild, nur temporär und vorübergehend, bis eine größere, befreiende Macht von außen die Gefangenschaft endgültig beendet.92 84

Jud 13,1; Tob 8,4; vgl. auch 2Makk 1,15 und Mal 1,10 für das Schließen der Türen nach dem Eintritt ins Heiligtum und Sir 29,12 für das Verschließen des Vorratsraums. 85 Gen 16,2; 20,18; Hi 3,10. Auch diesem Bild liegt, zumindest für das antike orientalische Denken, die Vorstellung einer Abwehr von „Eindringlingen“ zugrunde, da die Zeugung eines Kindes allein vom Mann ausging und die Frau lediglich „Empfangende“ blieb. 86 Gen 14,14; 31,26; 34,29; Num 21,1.29; 24,22 u.ö. 87 Gen 40,3; 42,16 u.ö. 88 Gen 40,3; Lev 24,12; Num 15,34 u.ö. 89 1Sam 14,16; 2Sam 13,34; 18,24; Ez 3,17; 33,2.6 u.ö. 90 Allerdings darf die Belagerung durch ein Heer (συγκλείω) nicht mit der Bewachung durch Wächter (φρουρέω) gleichgesetzt werden: Die Belagerung beschreibt den Angriff durch die feindlichen Mächte, die Bewachung dagegen die abwehrende bzw. beschützende Rolle der Wächter, die ein Eindringen oder Entweichen von Personen verhindern. An eine militärische Belagerung ist wohl auch in 2Kor 11,32 kaum zu denken. 91 Diese Nuance gibt auch schon CALVIN, Galater, 59, dem paulinischen Bild, obwohl er es zunächst auch als „Kerker“ deutet: „Waren also die Menschen auch von allen Seiten von Sünde umgeben, so war doch der Gehorsam des Gesetzes demgegenüber von ganz anderer Art: er sollte sie vor dem Fluch schützen; er hatte geistlich in der Tat etwas Befreiendes.“ Dagegen jedoch ECKSTEIN, Verheißung, 208f.213f. 92 Eine neuzeitliche literarische Analogie mag hier zur Verdeutlichung dienen: J.R.R. Tolkien beschreibt im zweiten Band seiner „Herr-der-Ringe“-Trilogie die „Schlacht um

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Neuere Untersuchungen zum Galaterbrief haben verstärkt darauf hingewiesen, dass der Brief vor dem Hintergrund der frühjüdischen Apokalyptik gelesen werden muss.93 Gemäß der eigenen Briefeinleitung des Paulus ist der zentrale Inhalt seines Evangeliums nicht der Gegensatz von Werken und Glaube oder Gesetz und Gnade, sondern die „Errettung aus diesem bösen Zeitalter“ durch den stellvertretenden Sühnetod Jesu Christi (Gal 1,4). Die von Paulus in Gal 3,22f. verwendeten Bilder aus der Militärwelt sind also wohl vor dem Hintergrund dieses apokalyptischen Weltverständnisses und der Zeitenwende zu sehen, die durch Christus herbeigeführt wurde. Dies wird auch durch die Fülle an temporalen Begriffen unterstrichen, die den näheren Kontext dieser Verse prägt. Das Bild, das durch die Begriffe φρουρέω und συγκλείω evoziert wird, ist exakt das Bild einer von feindlichen Heeren eingeschlossenen Stadt, die durch Befestigungen gegen die Angriffe von außen geschützt wird. Dabei ist der Feind jedoch nicht das Gesetz, sondern die Sünde. Das Gesetz hat eine temporäre, zeitlich begrenzte Aufgabe: Es dient dazu, die feindliche Macht der Sünde bis zum Eintreffen der Verheißung aufzuhalten und einzugrenzen: Τί οὖν ὁ νόµος; τῶν παραβάσεων χάριν Was soll dann das Gesetz? Es ist hinzugeπροσετέθη, ἄχρις οὗ ἔλθῃ τὸ σπέρµα ᾧ ἐπ- kommen um der Sünden willen, bis der ήγγελται. (Gal 3,19) Nachkomme da sei, dem die Verheißung gilt. (Luther 1984)

Dies entspricht im Übrigen auch der traditionellen Auslegung des Textes in der patristischen Exegese: Hier wird Gal 3,22f. durchweg positiv als ein Bild der moralischen Hinführung zum Glauben und eine Bewahrung vor Sünde gedeutet. Das Gesetz dient als eine figuratio zukünftiger Dinge (Athanasius) und verbürgt die Einheit des Gottes der beiden Testamente gegen Häresien, die diese leugnen (Kyrill von Jerusalem).94 Auch Augustinus stellt das Gesetz, in Abgrenzung gegen manichäische Häretiker, als eine gute Gabe Gottes dar, die den Menschen bis zum Kommen Christi auf dem rechten Weg hält.95 Die Deutung als „Kerker“ scheint also vor allem durch die reformatorische Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium gefördert worden zu sein. Helms Klamm“: Die Protagonisten müssen sich hier in einer fest verschlossenen Bergfestung eine Zeit lang gegen den Ansturm feindlicher Armeen verteidigen, während sie auf die Ankunft des messianisch als „Reiter auf dem weißen Pferd“ stilisierten Retters Gandalf warten, der die feindlichen Armeen endgültig in die Flucht schlägt. Es wird von Anfang an deutlich, dass die Festung nur bedingt als Schutz dient und dem Ansturm der Feinde nicht lange standhalten kann: Die Mauern erweisen sich als brüchig, und die Feinde dringen bereits in die Festung ein, aber der Retter erscheint noch rechtzeitig unter dem Klang eines Signalhornes. Tolkien hat hier vermutlich absichtlich an die Bildwelt antiker Apokalyptik angeknüpft, wie sie auch Gal 3,22f. zugrunde liegt (TOLKIEN, Die zwei Türme, 150–166). 93 Z.B. MARTYN, Galatians, 97–105. 94 Vgl. MEISER, Galater, 159–161. 95 Augustinus, Ad Galatas (I),26f. (PL 35, 2124f.).

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Paulus beschreibt die Belagerung des Menschen in Gal 3,22 als ein Eingeschlossensein ὑπὸ ἁµαρτίαν, wobei hier offen bleiben kann, ob die Schrift (nicht das Gesetz!) im Sinne von Röm 7,7–11 (und, nach gängiger Auslegung, Röm 5,20) als aktiver Katalysator dieses Prozesses fungiert oder ob sie hier lediglich als eine diesen Prozess beschreibende oder bezeugende Instanz benannt wird. In der Bildwelt von 3,22 ist jedoch die Sünde, nicht das Gesetz oder die Schrift, die belagernde Feindmacht. In 3,23 allerdings wechseln dann sowohl Subjekt als auch Prädikat: Gal 3,22 Gal 3,23

Subjekt

Prädikat

Ortsangabe

ἡ γραφή (ἡµεῖς)

συγκλείω ἐφρουρούµεθα

ὑπὸ ἁµαρτίαν ὑπὸ νόµον

Die nachfolgende Partizipialkonstruktion συγκλειόµενοι εἰς τὴν µέλλουσαν πίστιν ἀποκαλυφθῆναι hat also nicht νόµος als handelndes Subjekt, sondern greift auf V. 22 zurück, wo γραφή das handelnde Subjekt ist, ἁµαρτία dagegen die feindliche, umzingelnde Macht. Diese Unterscheidung wird durch Luthers Übersetzung verwischt, da hier sowohl φρουρέω als auch συγκλείω parataktisch dem Subjekt νόµος beigeordnet werden („unter dem Gesetz verwahrt und verschlossen“). Der νόµος wird dabei, entsprechend Luthers Bildlichkeit vom Kerker, zusammen mit der Sünde zum Belagerer bzw. Gefängnis, obwohl diese im griechischen Text unterschiedliche Rollen haben: Während die Sünde belagert, soll das Gesetz bewachen bzw. bewahren. Im Bild gesprochen: Die Sünde entspricht den angreifenden Armeen, das Gesetz aber den bewahrenden Mauern. Eine alternative Übersetzung verdeutlicht das: Luther 1984 ἀλλὰ συνέκλεισεν ἡ γραφὴ τὰ πάντα ὑπὸ ἁµαρτίαν…

Aber die Schrift hat alles ein- Aber die Schrift hat dafür gegeschlossen unter die Sün- sorgt (oder: hat gezeigt/bede… zeugt), dass alles von der Sünde umzingelt ist…

Πρὸ τοῦ δὲ ἐλθεῖν τὴν Ehe aber der Glaube kam, πίστιν ὑπὸ νόµον ἐφρου- waren wir unter dem Gesetz ρούµεθα verwahrt συγκλειόµενοι

Alternative Übersetzung

und verschlossen

Ehe aber der Glaube kam, wurden wir unter dem Gesetz verwahrt, solange wir (von der Sünde [s.o.]) umzingelt waren

εἰς τὴν µέλλουσαν πίστιν auf den Glauben hin, der und auf den Glauben hofften, ἀποκαλυφθῆναι dann offenbart werden sollte. der noch offenbart werden sollte.

Diese Bildlichkeit der Belagerung und des Schutzes gegen Angreifer von außen ermöglicht nun auch in V. 24f. einen schlüssigen Übergang in die Bildwelt des παιδαγωγός: Es wurde bereits deutlich, dass die in der von Luther

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herkommenden Tradition betonte Rolle des παιδαγωγός als „Gefangenenwärter“ nicht der primären Grundbedeutung des Begriffes entspricht. Auch wenn dieser in der griechischen Profanliteratur häufig als grobe und strenge Person dargestellt wird, war doch seine Hauptaufgabe nicht, das Kind gefangen zu halten, sondern es auf dem Weg in die Schule zu begleiten und vor fremden Übergriffen zu schützen. Dies entspricht nun aber auch inhaltlich dem vorangehenden Bild von der Belagerung: In beiden Bildern hat das Gesetz eine bewahrende und abwehrende Funktion: Es gewährleistet die Freiheit, die durch Angriffe feindlicher Mächte oder Personen bedroht ist. Für Paulus ist diese feindliche Macht die in V. 19.22 benannte ἁµαρτία, der νόµος jedoch ist keine feindliche Macht, sondern gerade diejenige Größe, die vor den Feinden schützt und damit die Freiheit garantiert. Es muss allerdings noch einmal darauf verwiesen werden, dass im gesamten Kontext von Gal 3 der Begriff der „Freiheit“ oder „Befreiung“ eben nicht verwendet wird. Weder das Kommen des Glaubens in V. 23 noch das Kommen Christi in V. 25 wird von Paulus als ein Akt der Befreiung aus Gefangenschaft oder Belagerung beschrieben. Will man das Kommen des messianischen Retters dennoch als eine Befreiung verstehen, so würde diese Befreiung durch die belagerten Einwohner einer Stadt in erster Linie als eine Befreiung von den Angreifern (ἁµαρτία) verstanden, aber nicht als eine Befreiung von den Mauern, von denen sie eingeschlossen waren (νόµος). Die Mauern würden, im Bild gesprochen, sogar nach dem Ende der Schlacht bestehen bleiben und vermutlich weiter genutzt, auch wenn sie nicht mehr zur Abwehr eines Feindes benötigt werden. Gal 3,22–25 kann daher nicht als Beleg eines paulinischen Konzepts der „Freiheit vom Gesetz“ gewertet werden. Das durch Luther geprägte Bild des Kerkers, in dem der Mensch eingeschlossen ist und aus dem er befreit werden muss, ist in der hier verwendeten Begrifflichkeit nicht enthalten. Die Bildwelt ist vielmehr die Szene einer Belagerung, die durch die Ankunft eines Retters beendet wird und in der umschließende Mauern temporär Schutz bieten. Will man daher von Freiheit oder Befreiung sprechen, dann ist es hier das Gesetz, das die Freiheit angesichts der Belagerung durch die Sünde vorübergehend ermöglicht. Es kann dies aber nur in einer zeitlich begrenzten Rolle, die auf der Verheißung einer endgültigen Befreiung durch Christus gründet. Im Mittelpunkt der Passage steht also nicht die „Freiheit vom Gesetz“, sondern, wie auch schon in Röm 6–8, die „Freiheit von der Macht der Sünde“, die durch das Gesetz ermöglicht wird.96 Diese Freiheits-Terminologie ist aber hier, anders als in Röm 7–8, nicht die des Paulus selbst. 96 Das Bild von der Belagerung beschreibt zudem, in enger Analogie zu Röm 7,7–25, eine „Befreiung des Gesetzes aus der Sklaverei [hier: Umzingelung; G.B.] der Sünde als Ermöglichung der Gesetzeserfüllung“ (GIESEN, Befreiung, 179 [Titel]). S.o. S. 281, Anm. 56.

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IV. Gal 4,21–5,1 Anders als in Gal 3 findet sich in diesem Abschnitt zwar eine Häufung der Begrifflichkeit von Freiheit und Sklaverei, allerdings fehlt hier dafür der Begriff des νόµος fast völlig.97 Umso erstaunlicher ist die Selbstverständlichkeit, mit der das „Joch der Knechtschaft“ aus Gal 5,1 in der Literatur fast durchgängig mit dem „Joch des Gesetzes“ identifiziert wird, von dem der Mensch befreit werden muss.98 Die Gründe für diese unhinterfragte Assoziation sind, neben der durch Luther vorgeprägten Auslegungstradition, sicher vielfältig: Der Begriff des „Jochs“ wird in Act 15,10 als Bild für Toraobservanz verwendet. Jedoch ist trotz der engen Verbundenheit des Galaterbriefs mit der Thematik von Act 15 Vorsicht geboten, die Begrifflichkeit ungeprüft zu übertragen. Auch in der rabbinischen Literatur wird die Verpflichtung zur Toraobservanz mit der Formel ‫ לקבל עול המצוות‬bzw. ‫„( לקבל עול התורה‬das Joch der Gebote bzw. der Tora auf sich nehmen“) beschrieben, was sicher auch die verbreitete Identifikation des paulinischen „Jochs der Knechtschaft“ mit dem jüdischen „Joch der Gebote“ und damit die Identifikation von Gesetz und Knechtschaft gefördert hat. Jedoch ist auch hier Vorsicht geboten: Denn in der rabbinischen Literatur ist das „Joch der Gebote“ gerade das Gegenbild zum „Joch der Knechtschaft“.99 Ein Bezug zum νόµος wird aber auch durch den unmittelbaren Kontext nahegelegt: Die Formel ὑπὸ νόµον, eingeführt in Gal 3,23 als Bild für die Zeit vor der messianischen Zeitenwende, wird zunächst in 4,4 und dann in 4,21 noch einmal aufgegriffen, indem zunächst das Ereignis der Geburt Christi als ὑπὸ νόµον charakterisiert und dann der Wunsch der Galater benannt wird, ὑπὸ νόµον zu sein. Auch in Kap. 5 wird der νόµος mehrfach erwähnt. Allerdings bildet 4,21–5,1 deutlich einen selbstständigen Redegang, der die Begriffe der Freiheit und der Sklaverei allegorisch am Beispiel von Sara und Hagar erläutert. Ob und inwiefern durch diese Allegorie auch das Wesen des νόµος charakterisiert wird, wäre am Text selbst zu prüfen und kann nicht einfach vorausgesetzt werden. 97 Er wird lediglich in der Einleitung 4,21 verwendet, um den Galatern, die auf Einhaltung des Gesetzes drängen, auf ironische Weise deutlich zu machen, dass gerade dieses Gesetz ihnen diese Option verwehrt. Das Gesetz ist hier also nicht Inhalt der Erörterung, sondern ihre argumentative Grundlage. 98 BETZ, Galaterbrief, 435 („Joch der Tora“); BECKER, Galater, 75; VOLLENWEIDER, Freiheit, 307; POLLMANN, Motive, 188; STUHLMACHER, Theologie, 267 („Sklavendienst unter dem Gesetz“). Anders WOLTER, Paulus, 374: „Der Sklavendienst, aus dem die Galater […] befreit wurden […], war nun aber weder die Herrschaft der Sünde wie in Röm 6,1–11 noch das Regime des Gesetzes wie in Röm 7,4–6, sondern ihre Unterwerfung unter die ‚Elemente der Welt‘ (Gal 4,3.9c)“; ebenso auch JONES, Freiheit, 87 (s.u. S. 295, Anm. 103). 99 Ausführlicher dazu s.u. S. 301f.

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Ausleger haben schon lange die Befremdlichkeit einer Schriftauslegung benannt, die Hagar mit dem jüdischen Volk und dem Gesetzesgehorsam gleichsetzt, Sara dagegen mit dem Heidentum (oder Christentum) und der Gesetzesfreiheit.100 Eine solche Deutung stellt nicht nur den Literalsinn der alttestamentlichen Erzählung, sondern auch das jüdische Selbstverständnis, das doch auch für Paulus noch zumindest ansatzweise vorauszusetzen wäre, völlig auf den Kopf. Manche Ausleger, und insbesondere Auslegerinnen, werfen Paulus daher einen unredlichen, misogynen oder antijudaistischen Umgang mit der biblischen Tradition vor.101 Andere sehen gerade in der „subversiven Umkehr ethnischer Identitäten“, die Paulus hier vornehme, einen Ansatz zu gesellschaftlicher Befreiung und zur Aufhebung ethnischer Vorurteile.102 Nur wenige Stimmen jedoch stellen die traditionelle Zuordnung der Gegensätze als solche – Hagar als Bild für jüdische Gesetzesobservanz, Sara als Bild heidnischer/christlicher Freiheit vom Gesetz – in Frage.103 Michael Bachmann hat allerdings in einer eingehenden Untersuchung der Perikope einige Aporien einer solchen Gleichsetzung aufgezeigt: Dazu gehört nicht nur das auffällige Fehlen des Begriffs νόµος im ganzen Abschnitt,104 sondern auch die Tatsache, dass Paulus in 5,1 von einer „erneuten“ Unterordnung unter das Joch der Knechtschaft spricht, was für die Mehrzahl der Galater ja kaum als Rückkehr zum jüdischen Gesetz zu verstehen ist, dem sie nie unterstanden.105 Eine einseitige Zuordnung von Hagar zum Judentum und von Sara zum Heidentum verbiete sich außerdem schon deshalb, weil Paulus sich selbst (und vermutlich auch andere jesusgläubige Juden) der Person der Sara zuordnet.106 Bachmann schlägt daher vor, den Gegensatz von Hagar und Sara nicht im Sinne einer Antithese von Judentum und Heidentum/Christentum zu verstehen, sondern als eine Antithese zwischen „oberem Jerusalem“ (V. 25) und „jetzigem Jerusalem“ (V. 24). Dabei stehe das jetzige Jerusalem, 100 Zur Identifikation des Gegensatzpaares Hagar/Sara mit dem Gegensatzpaar Judentum/Christentum oder Gesetzesgehorsam/Gesetzesfreiheit vgl. etwa BETZ, Galater, 422; WOLTER, Paulus, 423; RÄISÄNEN, Paul, 44; BECKER, Galater, 72. TIWALD, Hebräer, 394, versucht zwar (gegen Becker), eine Dichotomie zwischen Altem und Neuem Bund zu vermeiden, sieht aber dennoch in der Allegorie einen Gegensatz zwischen zwei unterschiedlichen Möglichkeiten der Gesetzesinterpretation, „sklavischer Hörigkeit“ (Hagar) und „gottgeschenkter Freiheit“ (Sara). 101 Vgl. VOLLENWEIDER, Freiheit, 288: „Ohne Zweifel ist in V. 29f der Gegensatz von Judentum im Sinne nomistischer Religion und von Christentum als Gemeinschaft des Evangeliums in aller Schärfe fixiert.“ 102 MILLER, Surrogate, 154. Ähnlich auch STANDHARTINGER, Freiheit, 302. 103 Zu ihnen gehört z.B. JONES, Freiheit, 87, der von einer „Unmöglichkeit“ spricht, „δουλεία hier als Sklaverei unter dem Gesetz zu sehen“. Die Freiheit, von der Paulus hier spreche, sei vielmehr die „Freiheit von Vergänglichkeit“ (a.a.O., 139). 104 Vgl. BACHMANN, Frau, 145. 105 Vgl. BACHMANN, a.a.O., 144. 106 Vgl. BACHMANN, a.a.O., 147.

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zusammen mit Hagar, für die irdische Realität, die durch „Knechtschaft unter die Mächte dieser Welt“ (V. 3) gekennzeichnet ist.107 Das obere Jerusalem dagegen steht, zusammen mit Sara, für die himmlische bzw. kommende Welt, in der Freiheit von diesen Mächten herrscht. In beiden Sphären, der oberen wie der jetzigen, finden sich jedoch sowohl Juden als auch Nichtjuden. Bachmann fasst diese Zusammenhänge in der folgenden Grafik zusammen.108

Die Zeitenwende zwischen jetziger und kommender (oberer) Welt ist für Paulus mit dem Kommen Christi erfolgt (Gal 1,3f.; 3,13.25f.; 4,4f.). Die Galater haben zum Zeitpunkt ihrer Taufe den Schritt vom „jetzigen Jerusalem“ zum „oberen Jerusalem“ getan. Der Entschluss der Galater zur Beschneidung wäre deshalb für Paulus ein Rückschritt in die Realität des „jetzigen Jerusalem“, also in die Knechtschaft. Denn bis zur Zeitenwende war die Zugehörigkeit zum irdischen Gottesvolk tatsächlich nur auf dem Weg der Toraobservanz möglich, die durch die Beschneidung des Proselyten symbolisiert wurde. Dass Hagar in jüdischen Kontexten als Modellfall für die Proselytenkonversion von Sklaven galt, zeigen entsprechende Notizen bei Philo und Josephus.109 Die Galater würden also durch eine Beschneidung dem Modell der 107 Paulus beschreibt in Gal 3,3–5 zunächst die Heilsgeschichte des jüdischen Volkes („wir“, „die unter dem Gesetz“), um dann zunächst in V. 6f. die durch Christus ermöglichte gemeinsame Gotteskindschaft zugrunde zu legen und daraus dann in V. 8f. in analoger Weise zur jüdischen Heilsgeschichte auch die Heilsgeschichte der galatischen Heidenchristen zu entwickeln („ihr“, „Götter“). 108 Grafik nach BACHMANN, Frau, 147. 109 Philo bringt den Namen „Hagar“ in Congr 22f. etymologisch mit dem hebräischen ‫גר‬ in Verbindung, das zwar im biblischen Hebräisch den nichtjüdischen „Beisassen“ bezeichnet, in hellenistisch-römischer Zeit jedoch den Proselyten. In Abr 251 bezeichnet Philo Ha-

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Hagar und damit dem von Sklaven folgen und ihre „natürliche“ Kindschaft, die sie durch Christus bereits erhalten haben, leugnen. Sie würden wieder zu den „Spielregeln“ der alten Zeit zurückkehren, in denen sie nach dem Paradigma der Hagar als konvertierte Sklaven zum Gottesvolk zugelassen wurden. Sie würden damit aber lediglich eine Form der irdischen Knechtschaft (die heidnische) durch eine andere (die jüdische) ersetzen, denn die Beschneidung symbolisiert ja lediglich die Zugehörigkeit zum irdischen Gottesvolk. Durch Christus jedoch wird den Heiden die Kindschaft als Heiden ermöglicht: Sie gehören nicht nach dem Paradigma der Hagar zum Gottesvolk, sondern nach dem Paradigma der Sara, als frei geborene Kinder. Die galatischen Christen haben also bereits jetzt den Status der Freiheit, auch ohne eine Beschneidung. Sie haben ihn aber weder dadurch, dass sie das Gesetz halten, noch dadurch, dass sie es ablegen: Sie haben ihn, wie auch die jüdischen Jesusnachfolger, allein durch ihre Zugehörigkeit zu Christus. Nun wäre den Beobachtungen Bachmanns noch die Frage hinzuzufügen, ob denn anstelle der Zuordnung „Hagar = Judentum“ / „Sara = Heidentum“ nicht wenigstens die Zuordnung „Hagar = Toraobservanz“ / „Sara = Freiheit vom Gesetz“ zulässig wäre. Dies würde bedeuten, dass der rechte obere Quadrant nicht nur für eine Freiheit von den Mächten dieser Welt, sondern zugleich auch für die Freiheit von Toraobservanz steht, und das nicht nur für die heidnischen Galater, sondern auch für Juden wie Paulus. Hierzu ist zunächst zu sagen, dass der vorliegende Text zu dieser Frage keine Aussage macht, weil er weder den Begriff der Freiheit noch die Person der Sara oder das „obere Jerusalem“ zum Begriff des νόµος in irgendeine Beziehung setzt. Die Warnung vor dem Bemühen, durch den νόµος gerecht werden zu wollen (5,2), schneidet eindeutig ein neues Themenfeld an und sagt nichts darüber, ob der νόµος als solcher Freiheit oder Knechtschaft bringt. Schon gar nichts sagt der Text über die Bedeutung des νόµος für Juden wie z.B. Paulus. Der einzige Hinweis auf eine Verbindung von νόµος und δουλεία wäre die Identifikation von Hagar mit dem Berg Sinai. Für Paulus steht hier aber nicht der Aspekt der Gesetzgebung, sondern vielmehr der des Bundesschlusses im Vordergrund. Die einzige verwandte Belegstelle aber, in der Paulus ansonsten den Unterschied zwischen altem und neuem Bund charakterisiert, stellt gerade nicht Gesetz und Gnade oder Gesetz und Geist einander gar als „Ägypterin der Geburt nach, aber Hebräerin aus Entschluss“. Auch für Josephus (Ant 1,191–193) steht bei der Gegenüberstellung Isaak/Ismael nicht der ethnische Aspekt, sondern der Zeitpunkt der Beschneidung (bei der Geburt/in reiferem Alter) im Vordergrund (vgl. dazu NANOS, Jerusalem, 3). Andere Allegoresen bei Philo (z.B. All 3,244) setzen Sara mit der göttlichen Weisheit, Hagar mit der irdischen Bildung gleich. Auch hier steht also nicht der Gegensatz Judentum/Heidentum im Vordergrund, sondern der Gegensatz zwischen irdischer und himmlischer Realität. Es stimmt daher nicht, dass von Philo aus „tatsächlich kaum ein Weg zur (vor)paulinischen Allegorese“ führe (so VOLLENWEIDER, Freiheit, 294).

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gegenüber, sondern Buchstaben und Geist, also zwei unterschiedliche Wirkweisen des Gesetzes (2Kor 3,6). Dies entspricht auch dem Gegensatz, der in Röm 7,6 den Unterschied zwischen einem falschen und einem richtigen Gesetzesgehorsam beschreibt, nicht aber eine Freiheit vom Gesetz als solchem. Dieser Gegensatz entspricht damit auch der Textintention von Jer 31,31–33, wo der „neue Bund“ nicht durch Gesetzesfreiheit, sondern durch eine bessere, weil geistliche Gesetzesobservanz charakterisiert ist. Im Kontext von Gal 4,21–5,1 bleibt die Rolle des νόµος also bestenfalls neutral und wird von Paulus weder der Freiheit noch der Knechtschaft zugeordnet. Wollte man „oberes“ oder „jetziges Jerusalem“ dem Gesetz zuordnen, würde Paulus vermutlich das „jetzige Jerusalem“ mit einer Toraobservanz „nach dem Buchstaben“ gleichsetzen, das „obere Jerusalem“ mit einer Toraobservanz „nach dem Geist“. Beides geschieht hier aber nicht. Der Text eignet sich daher im Blick auf die Frage der Toraobservanz weder als Beleg für noch gegen eine fortdauernde Toraobservanz des Paulus bzw. anderer jüdischer Jesusnachfolger. Für die galatischen Christen allerdings ist die durch Christus errungene Freiheit so oder so keine „Freiheit vom Gesetz“. Denn das würde voraussetzen, dass sie dem Gesetz zuvor unterstellt waren. Der Begriff der Freiheit in 5,1 kann sich vielmehr nur auf die zuvor erwähnte Knechtschaft unter den Mächten der Welt (4,3.8) oder auch auf die Knechtschaft falscher Götter (4,8) beziehen.110 Wie in Röm 6–8 ist daher auch hier die gewonnene Freiheit von diesen Mächten keine Antithese zum Gesetz. Im Gegenteil, Paulus gründet seine ethischen Anweisungen im Folgenden gerade auf das mosaische Gesetz (5,13f.; 6,2),111 wobei auch hier, wie in den vorangehend untersuchten Texten, das Tun des Gesetzes nicht als ein Gegensatz zur Freiheit, sondern gera110

Vgl. auch WOLTER, Paulus, 374. VOLLENWEIDER, Freiheit, 296f., sieht einen begrifflichen Zusammenhang mit dem zelotischen Streben nach der „Freiheit Jerusalems“, auch wenn diese bei Paulus eben nicht irdisch-politisch, sondern himmlisch-apokalyptisch verstanden werde. Mehrere Ausleger sehen in den Parallelitäten zwischen den στοιχεῖα und dem νόµος (beide kennzeichnen die Existenz „vor Christus“, beide werden mit ὑπό verbunden, der νόµος wird mit einem παιδαγωγός und die στοιχεῖα werden mit einem ἐπίτροπος bzw. οἰκονόµος verglichen, zwei ähnliche, aber eben doch nicht identische Bilder) einen Anlass, beide Begriffe in eins zu setzen bzw. die Tora zu den στοιχεῖα zu zählen, die den Menschen versklaven (vgl. z.B. BETZ, Galaterbrief, 313; OAKES, Law, 147; HÜBNER, Gesetz, 35). Diese Gleichsetzung nimmt aber Paulus gerade nicht vor, und sie widerspräche auch seinem Argument in Gal 3, dass die Tora eben nicht widergöttlichen Ursprungs ist. Es wäre auch schwer nachvollziehbar, dass Paulus unmittelbar nach der Erwähnung der στοιχεῖα den νόµος als Beleg für seine eigene Argumentation anführen würde, wenn er ihn selbst zu den στοιχεῖα rechnen würde (vgl. dazu RÄISÄNEN, Paul, 22f.). Die ὑπό-Formulierungen sind also zwar formal parallel, aber zugleich sachlich gegensätzlich. Vgl. dazu auch die modernen Analogien unten S. 304f., Anm. 120.122. 111 Inwiefern hier eine inhaltliche Reduktion oder lediglich eine rhetorische Konzentration der Sinaitora auf das Liebesgebot vorliegt, ist eine weiterführende Frage, die sich an dieser Stelle ergibt. Vgl. dazu oben S. 269, Anm. 29.

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de als deren Ausdruck verstanden wird.112 Die Warnungen vor dem Verlust der Gnade in 5,2–4 dagegen beziehen sich nicht auf das Gesetz als solches, sondern auf den Irrtum, durch das Halten des Gesetzes gerecht werden zu können. Eine „Freiheit vom Gesetz“ als solche ist in Gal 4,22–5,1 aber nicht im Blick. V. Zusammenfassung: Gesetz und Freiheit bei Paulus Die Formel „Freiheit vom Gesetz“ erscheint bei Paulus ausschließlich im Kontext von Röm 7–8. Dort steht sie jedoch nicht absolut, sondern im Kontext einer polarisierenden Gegenüberstellung von zwei einander entgegengesetzten Gesetzen und bezeichnet dort speziell die Freiheit vom Gesetz der Sünde bzw. des Todes. Diese Freiheit wird für Paulus aber gerade durch die Bindung an das Gesetz Gottes bzw. des Geistes realisiert. „Freiheit vom Gesetz“ steht bei Paulus also nie absolut, sondern stets in der Kontrastaussage: „Freiheit von einem Gesetz durch Bindung an ein anderes“. Gleiches gilt auch für den Galaterbrief, auch wenn dort die Formel selbst keine Verwendung findet: Freiheit ist für Paulus hier die Freiheit von menschlichen Zwängen (Gal 2,14) und irdischen Mächten (Gal 5,1), aber nicht die Freiheit vom Gesetz. Im Gegenteil, auch hier ist das Gesetz Gottes, oder die Tora, ein Garant der Freiheit (Gal 3,22–25), wenn auch nur für eine zeitlich begrenzte Zeit.113 Und auch nach der „messianischen Wende“ bleibt der Mensch, analog zu Röm 8,2, gebunden an ein Gesetz, hier formuliert als das Gesetz Christi (Gal 6,2). Für Paulus besteht die Frage also nicht darin, ob der Mensch einem Gesetz untergeordnet ist, sondern lediglich darin, welchem er sich unterordnet. Freiheit von einem Gesetz bedeutet daher für Paulus immer zugleich Bindung durch ein anderes. Die Sinai-Tora steht dabei für Paulus in allen hier betrachteten Texten nicht auf der Seite der Größen, von denen der Mensch befreit werden muss, sondern sie gehört zu den Größen, die Freiheit erst ermöglichen, indem sie Sklaverei durch andere Mächte oder Gesetze verhindern. Zwar ist die Tora selbst zeitweilig der Herrschaft der Sünde (Röm 7,7–21; Gal 3,22f.) bzw. der irdischen Mächte (Gal 4,21–31) unterworfen und muss daraus, zusammen mit dem Menschen, durch Christus befreit werden. Paulus geht aber nicht so weit, 112 Die Frage, wie Paulus zwischen solchen Teilen des Gesetzes unterscheidet, die auch von Heidenchristen eingehalten werden sollen (und die im Liebesgebot zusammengefasst sind), und solchen, die von Heidenchristen nicht befolgt werden dürfen (z.B. die Beschneidung), kann hier nicht thematisiert werden. M.E. hat Paulus für diese Frage auch noch kein schlüssiges System entwickelt, sondern vertraut hier auf die Leitung des Geistes (5,22–25). 113 Auch wenn das Gesetz mit dem Kommen des Messias seine zentrale Schutzfunktion verliert (Gal 3,25), wird dieser Vorgang von Paulus nicht als „Befreiung“ gedeutet, und es wird damit auch nicht thematisiert, ob und inwieweit es auch weiterhin verbindlich bleibt. Vgl. dazu auch unten S. 304f., Anm. 120.122.

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diese „Befreiung des Gesetzes aus der Sklaverei der Sünde“114 deshalb mit einer „Befreiung vom Gesetz“ gleichzusetzen.

C. Gesetz und Freiheit in anderen frühjüdischen Texten Der Begriff ἐλευθερία hat in biblisch-hebräischer Terminologie keine direkte Entsprechung. In der LXX erscheint er nur sieben Mal, davon nur einmal mit einer direkten Vorlage im masoretischen Text (‫שׁה‬ ָ ‫) ֻח ְפ‬.115 Entsprechende Verben und Adjektive sind hingegen häufiger, sie bezeichnen durchgängig den soziologischen Gegensatz von Sklaven und Freien oder auch die Freiheit eines Landes von Unterdrückern. Ein übertragener Gebrauch, wie er in der Formel „frei vom Gesetz“ vorliegt (z.B. „frei von Angst“), ist im biblischen Sprachgebrauch unbekannt. Die pointierte Verwendung der Freiheitsterminologie bei Paulus wird daher oft als ein Niederschlag seiner hellenistischen Prägung gewertet, die in einem deutlichen Kontrast zur jüdischen Tradition stehe.116 Der Sache nach ist jedoch die Beziehung zwischen Gesetz und Freiheit auch in der jüdischen Tradition fest verankert. So thematisiert der wirkungsgeschichtlich wohl bedeutendste Gesetzestext der hebräischen Bibel gleich im ersten Satz die Themen der Sklaverei und der Freiheit: Εγώ εἰµι κύριος ὁ θεός σου, ὅστις ἐξήγαγόν σε ἐκ γῆς Αἰγύπτου ἐξ οἴκου δουλείας. (ExLXX 20,2)

Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. (Luther 1984)

In der jüdischen Tradition stehen deshalb Exodus und Sinai, oder im Festkalender Pesach und Schawuot, in einer engen Beziehung: Die Gabe des Gesetzes wird zugleich als Gabe der Freiheit von fremden Herrschern und fremden Göttern gedeutet. Dieser Zusammenhang von Gesetz und Freiheit wird in der frühjüdischen Literatur wiederholt aufgegriffen, etwa in der folgenden Zusammenfassung der makkabäischen Errungenschaften: „Die Geschichten aber von Judas, dem Makkabäer, […] und weiter davon, wie sie den Tempel, der in aller Welt berühmt ist, wiedergewonnen und die Stadt befreit haben und wie sie die Gesetze, die man auflösen wollte, wieder aufgerichtet haben (καὶ τὴν πόλιν 114

Vgl. oben S. 281, Anm. 56. Lev 19,20; sonst nur 1Esr 4,49.53; 1Makk 14,26; 3Makk 3,28; Sir 7,21 (hebr. Mss.: ‫ ;)ח ֹ ֶפשׁ‬33,26 (hebr. vacat). 116 Ausdrücklich z.B. VOLLENWEIDER, Freiheit, 14: „Die Griechen entdecken die Freiheit des Menschen, Israel aber die Freiheit Gottes. Erst Paulus sucht beides zusammenzusehen.“ Für VOLLENWEIDER ist die „Herkunft des Freiheitsgedankens aus der griechischen Kultur […] unabweisbar“ (ebd.); er sei vor allem durch kynische Wanderphilosophen und stoische Einflüsse, „vom Judentum weitgehend unabhängig[…]“, in das vorpaulinische Christentum eingedrungen (a.a.O., 16). 115

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ἐλευθερῶσαι καὶ τοὺς µέλλοντας καταλύεσθαι νόµους ἐπανορθῶσαι), weil der Herr ihnen wohlwollte und gnädig war: Dies alles, das Jason von Kyrene in fünf Büchern aufgezeichnet hat, gedenken wir, hier in eins zusammenzuziehen“ (2Makk 2,20–24).

In ähnlicher Weise ist auch für Josephus die Gesetzestreue eng mit dem Begriff der Freiheit verbunden. Freiheit ist für Josephus die Freiheit, das Gesetz halten zu können. Das zeigt vor allem seine Zusammenstellung römischer Edikte zur jüdischen Religionsfreiheit, etwa das Beispiel des Edikts von Sardes: „Senat und Volk haben auf Antrag der Vorsteher beschlossen wie folgt. Da unsere jüdischen Mitbürger, die vom Volk allzeit viele und grosse Wohlthaten erfuhren, Senat und Volk gebeten haben, es möge ihnen jetzt, da das Volk und der Senat der Römer ihnen ihre Freiheiten und die Möglichkeit, nach ihrem Gesetze zu leben, wiedergegeben haben, bei der Abhaltung ihrer religiösen und von ihrem Gesetze vorgeschriebenen Zusammenkünfte nichts in den Weg gelegt […] werden“ (Josephus, Ant 14,259f., ed. Clementz, 249).

In der Darstellung seiner eigenen Rede vor den Mauern des belagerten Jerusalem im jüdischen Krieg formuliert er ähnlich: „Die Römer verlangen nichts als den gewöhnlichen Tribut, den unsere Väter ihren Vätern stets zahlten, […] vielmehr gewähren sie euch alles andere, was sonst noch in Frage kommt: die Freiheit eurer Familien und die uneingeschränkte Verfügung über den Besitz und den Schutz der heiligen Gesetze“ (Josephus, Bell 5,406, ed. Michel/Bauernfeind, 173).

Auch in der späteren rabbinischen Literatur wird der Zusammenhang von Freiheit und Gesetz, wie er schon in Ex 20,2 durchschimmert, mit der Redewendung vom „Joch“ aufgegriffen, die auch von Jesus und Paulus verwendet wird. Dabei bildet das „Joch der Tora“ bzw. das „Joch des Himmelreichs“ immer wieder einen Kontrastbegriff zu anderen menschlichen Jochen. Das Aufnehmen des „Joches der Tora“ bedeutet also stets zugleich die Freiheit von anderen Herrschaftsansprüchen. „Rabbi Nechonja ben Hakkanah (1. Jh.) sagte: Jeder, der das Joch der Tora auf sich nimmt, wird vom Joch der Regierung und vom Joch weltlicher Beschäftigung frei; aber jedem, der sich vom Joch der Tora losmacht, wird das Joch der Regierung und das Joch weltlicher Beschäftigung auferlegt“ (Av 3,5, ed. Marti, 68f.). „[Erklärungen zum Passafest]: Gleich einem König, der seinen Sohn aus dem Gefängnis herausgeführt (befreit) hatte und nun sprach: Machet diesen Tag jährlich zu einem Festtag, an welchem mein Sohn aus der Finsternis zum Licht, aus dem eisernen Joch zum Leben, aus der Sklaverei zur Freiheit, aus der Abhängigkeit zur Erlösung (Selbständigkeit) gelangt ist. So hat auch Gott die Israeliten aus dem Gefängnis herausgeführt, […] vom eisernen Joche hinweg zum Joch der Tora, aus der Sklaverei zur Freiheit“ (ShemR 15,11 zu Ex 12,2, ed. Wünsche, 110). „Als der Hedonismus zunahm, kam Gottes Zorn über die Welt, und die Herrlichkeit der Tora verging. Als die bestechlichen Richter zunahmen, wurde das Gesetz verdreht, und der Heilige Geist hörte auf zu wirken in Israel. Als die Parteilichkeit zunahm, ging der Respekt der Menschen voreinander verloren, und man bekam Angst voreinander. Und die Men-

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schen warfen das Joch des Himmels von sich ab und nahmen das Joch von Menschen auf sich (‫( “) ופרקו עול שמים ונתנו עליהם עול בשר ודם‬TSot 14,3f.; vgl. bSot 47b, eigene Übersetzung). „R. Johanan ben Zakkai (1. Jh.) wurde von seinen Schülern gefragt: Warum wird dem Sklaven das Ohr durchbohrt [wenn er im siebten Jahr auf die Freilassung verzichtet und weiter seinem israelitischen Herrn dient, vgl. Ex 21,6; G.B.] und nicht irgendein anderes Körperteil? Er antwortete ihnen: Es ist sein Ohr, das am Sinai die Worte hörte: ‚Du sollst keine anderen Götter neben mir haben‘ – und doch hat er das Joch der Königsherrschaft der Himmel abgeworfen und das Joch eines irdischen Menschen auf sich genommen (‫( “)ופירקה מעליה עול מלכות שמים וקיבלה עליה עול בשר ודם‬yQid 1,2 59c, eigene Übersetzung).

Rabbinische Wortspiele mit dem Wort „Freiheit“ führen diese gedankliche Linie fort: „‚Und die Tafeln waren ein Werk Gottes, sie waren eingegraben auf die Tafeln [‫חָרוּת‬ ‫עַל־ ַה ֻלּח ֹת‬, Ex 32,16; G.B.]‘. Was heisst ‫ ?חרות‬R. Jehuda sagt: Lies nicht ‚eingegraben‘ [‫;חרות‬ G.B.], sondern ‚Freiheit‘ [‫ ;חירות‬G.B.], nämlich von den Reichen. R. Nechemja sagt: frei vom Todesengel; unsere Rabbinen sagen: frei von Leiden. R. Eleasar ben R. Jose des Galiläers sagte: Wenn der Todesengel käme und vor Gott spräche: Du hast mich umsonst in der Welt erschaffen, so würde er ihm antworten: Über jede Nation in der Welt lasse ich dich herrschen, nur über diese nicht, denn dieser habe ich die Freiheit [‫ ;חירות‬G.B.] verliehen. Das wollen die Worte sagen: ‚Freiheit [‫ ;חרות‬G.B.] auf den Tafeln‘“ (ShemR 41 zu Ex 31,18, ed. Wünsche, 291). „‚Und die Tafeln waren ein Werk Gottes, sie waren eingegraben auf die Tafeln [‫חָרוּת‬ ‫עַל־ ַה ֻלּח ֹת‬, Ex 32,16; G.B.]‘. Lies nicht ‚eingegraben‘ [‫ ;חרות‬G.B.], sondern ‚Freiheit‘ [‫;חירות‬ G.B.]; denn es gibt keinen wahrhaft Freien außer dem, der sich mit [dem Studium] der Tora beschäftigt“ (mAv 6,2, ed. Strack, 37).

In die Reihe dieser jüdischen Texte aus vor- und nachchristlicher Zeit117 fügen sich die bisher betrachteten paulinischen Aussagen über Gesetz und Freiheit schlüssig ein: Auch für Paulus ist das Gesetz Gottes nicht Gegenbild der Freiheit, sondern ermöglicht Freiheit, indem es den Menschen vor der Sklaverei anderer Mächte oder Gesetze bewahrt: In Röm 7–8 wird die Freiheit vom Gesetz der Sünde und des Todes ermöglicht durch die Unterordnung unter das Gesetz Gottes bzw. das Gesetz des Geistes. In Gal 2,14 wird die Freiheit in Christus dadurch bewahrt, dass Paulus und die übrigen „Angesehenen“ sich den falschen Brüdern nicht unterwarfen. In Gal 3,22f. wird der Mensch durch das Gesetz vor der Unterwerfung durch die Sünde bewahrt. Und in Gal 4,21–5,2; 6,2 wird die Freiheit vom Joch der Sklaverei unter den „Mächten dieser Welt“ dadurch gewährleistet, dass die Galater dem im Liebesgebot zusammengefassten Gesetz bzw. dem Gesetz Christi folgen. Für Paulus ist die Frage also nicht, ob der Mensch sich einem Gesetz unterordnet oder nicht. Der Unterschied zwischen Freiheit und Knechtschaft entscheidet 117

375.

Zu vergleichbaren Aussagen aus der nichtjüdischen Literatur s. WOLTER, Paulus,

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sich vielmehr daran, an welches Gesetz er gebunden ist. Mit dieser Zuordnung von Gesetz und Freiheit ist Paulus fest verankert im Kontext frühjüdischer Überzeugungen. Bahnbrechend ist für ihn allerdings die Einsicht, dass selbst das Gesetz Gottes (die Tora) die Kraft, Freiheit zu bringen, eben nicht in sich selbst trägt, ja dass es sogar selbst Gefangener der Sünde ist und erst durch das Christus-Ereignis und die Gabe des Geistes aus dieser Gefangenschaft befreit wird. Folglich ist auch der Mensch nicht frei, zwischen den sich ihm bietenden Gesetzen zu entscheiden oder zu wählen, sondern er wird erst durch den Tod Christi und die Kraft des Geistes in die Freiheit des Gesetzes Gottes hineingenommen. So wird er zwar zusammen mit dem Gesetz befreit, aber nicht vom Gesetz.

D. ὑπὸ νόµον und οὐκ ὑπὸ νόµον als paulinische Formeln Auch wenn „Freiheit vom Gesetz“ keine paulinische Formel ist, so gilt Gleiches doch nicht für die Wendungen ὑπὸ νόµον und οὐκ ὑπὸ νόµον.118 Sie erscheinen im Corpus Paulinum insgesamt elf Mal,119 wobei ihre absolute Verwendung einen stehenden Begriff voraussetzt. Dass es sich um eine spezifisch paulinische Formel handelt, wird dadurch deutlich, dass die Wendung, im Kontrast zu ihrer Häufung bei Paulus, nicht nur im übrigen Neuen Testament, sondern auch bei Josephus, Philo und in der pseudepigraphen Literatur gänzlich fehlt. Die Formel bezeichnet für Paulus zwei klar voneinander zu trennende, heilsgeschichtliche oder lebensgeschichtliche Zeitabschnitte, wobei ὑπὸ νόµον den Menschen vor seiner Wendung zu Christus beschreibt, οὐκ ὑπὸ νόµον dagegen seinen Zustand nach der Wendung zu Christus, was in Röm 6,14 mit ὑπὸ χάριν gleichgesetzt wird. Die Nichtjuden in 1Kor 9,21 werden von Paulus vermutlich bewusst nicht als οὐκ ὑπὸ νόµον, sondern als ἄνοµος bezeichnet, um die Eindeutigkeit der Begrifflichkeit zu bewahren. Die Kontexte, in denen Paulus die Formel verwendet, legen es dabei nahe, die Formel nicht im halachischen Sinn zu verstehen (ὑπὸ νόµον = gesetzestreu, an das Gesetz gebunden, οὐκ ὑπὸ νόµον = gesetzesfrei, nicht an das Gesetz gebunden), sondern als heilsgeschichtlichen Begriff. In der traditionellen, durch Luther geprägten Auslegung wird ὑπὸ νόµον dagegen häufig als Ausdruck einer Versklavung unter das Gesetz gedeutet, οὐκ ὑπὸ νόµον dementsprechend als Ausdruck einer „Freiheit vom Gesetz“ im existentiell-theologischen Sinn. Paulus selbst gebraucht gerade diese Bilder von Freiheit und Sklaverei jedoch nicht, wie zu sehen war, im Zusammenhang mit der Formel ὑπὸ νόµον. 118 119

Vgl. dazu WILSON, Law, passim. Röm 6,14f.; 1Kor 9,20(4x); Gal 3,23; 4,4(2x).21; 5,18.

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Trifft die hier vorgeschlagene bisherige Analyse der paulinischen Texte zu, dann wären die Begriffe ὑπὸ νόµον und οὐκ ὑπὸ νόµον bei Paulus rein temporal zu verstehen: ὑπὸ νόµον bezeichnet dann die Zeit vor der Zeitenwende, ὑπὸ χάριν die durch das Kommen Christi charakterisierte Zeit danach. Dabei wird Christus zunächst noch hineingeboren in die alte Zeit (ὑπὸ νόµον, Gal 4,4), um die Menschheit dann von dort „herauszuführen“ (ἐξαγοράζω) in die neue Zeit, die für Paulus vermutlich mit Tod und Auferstehung Christi beginnt. Es ist zu beachten, dass Paulus an dieser Stelle nicht den Begriff der Befreiung und auch nicht geläufige Begriffe der Erlösung verwendet. Luthers Übersetzung („damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste“) legt auch hier wiederum nahe, dass Christus die Menschen „vom Gesetz“ erlöste. Das jedoch sagt Paulus hier nicht. Wo immer er die Erlösung näher definiert, beschreibt er sie als Erlösung „von dieser gegenwärtigen, bösen Welt“ (Gal 1,4) bzw. als Erlösung „von dem Fluch des Gesetzes“ (Gal 3,13), aber nicht als Erlösung „vom Gesetz“. Die Formel οὐκ ὑπὸ νόµον kommt also sachlich dem am nächsten, was in der lutherischen Auslegung mit der Formel „Freiheit vom Gesetz“ bezeichnet wird. In der Tat beschreibt sie einen kategorialen Wandel in der Beziehung des Menschen zum Gesetz: Das Gesetz verliert für Paulus seine daseinsbestimmende Rolle, die von da an nur noch durch Christus eingenommen wird. Dennoch besagt die Formel οὐκ ὑπὸ νόµον nicht dasselbe wie „Freiheit vom Gesetz“ – zum einen, weil Paulus sprachlich den Begriff der „Freiheit“ gerade nicht mit dieser Formel verbindet, zum anderen aber auch, weil er den Übergang vom Sein ὑπὸ νόµον zum Sein οὐκ ὑπὸ νόµον zwar inhaltlich als einen Übergang von Knechtschaft zu Freiheit beschreibt, das Gesetz dabei aber nicht die Größe ist, aus der der Mensch befreit wird. Befreit wird er aus der Gefangenschaft ὑπὸ ἁµαρτίαν und ὑπὸ τὰ στοιχεῖα τοῦ κόσµου. Auch wenn diese Befreiung zeitlich zusammenfällt mit dem Ende der Zeit ὑπὸ νόµον, bedeutet sie nicht auch inhaltlich eine Befreiung vom νόµος.120

120

In der oben verwendeten apokalyptischen Bildwelt von der Belagerung einer Stadt gesprochen, werden zwar die Belagerten in einer Festung durch die Ankunft eines Retters aus ihrer misslichen Lage befreit, und sie können ihre Festung nun auch ohne Gefahr verlassen. Dennoch würden sie diese Befreiung nicht als eine Befreiung aus ihrer Festung, sondern als eine Befreiung von den feindlichen Heeren beschreiben. Für Paulus beschreibt ὑπὸ νόµον also zwar den Aufenthaltsort des Menschen vor Christus, aber nicht den Grund seiner Gefangenschaft. Eine andere moderne Analogie mag diesen Sachverhalt zusätzlich verdeutlichen: Teile der evangelischen Kirche existierten zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur zugleich „unter dem NS-Regime“ als auch „unter dem Bruderrat der Bekennenden Kirche“, ohne dass beides miteinander identifiziert oder in der Funktion gleichgesetzt würde. Die Befreiung aus der NS-Diktatur fiel zwar zeitlich (annähernd) mit der Überführung des Bruderrates der Bekennenden Kirche in den neu zu bildenden Rat der EKD zusammen, so dass zeitgleich mit der Zeit „unter dem NS-Regime“ auch die Zeit

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Die Formel οὐκ ὑπὸ νόµον kann daher bei Paulus zwar im Sinne von „nicht mehr unter dem Fluch des Gesetzes“121, „nicht mehr unter dem Urteil des Gesetzes“ oder auch „nicht mehr unter der Herrschaft des Gesetzes“ verstanden werden. Sie beinhaltet aber nicht eine „Freiheit vom Gesetz“ und sagt an sich auch noch nichts über die Frage der bleibenden halachischen Gültigkeit des Gesetzes aus.122

E. Konsequenzen für die halachische Praxis des Paulus Die Frage, ob die Tora für Paulus auch unter den neuen Bedingungen des Christus-Ereignisses eine bleibende halachische Gültigkeit behält, hängt nicht nur an der Formel der „Freiheit vom Gesetz“ oder des neuen Seins οὐκ ὑπὸ νόµον. Aus der Tatsache, dass die Tora nun nicht mehr die lebensbestimmende Größe für Paulus ist, folgt nicht zwangsläufig, dass sie ihre Gültigkeit oder ihre halachische Verbindlichkeit verliert. Zwei Fragebereiche müssen für eine befriedigende Antwort nach der bleibenden halachischen Gültigkeit der Tora näher untersucht werden: zum einen die Frage, ob sich das Gesetz des Mose und das „Gesetz Christi“ (Gal 6,2) material voneinander unterscheiden, insbesondere in Fragen der Beschneidung, der Reinheits- und Speisegebote.123 Die bisher verhandelten Texte sagen zu dieser Frage nichts aus. Andere Texte, die häufig als Beleg für einen faktischen Bruch des Paulus mit Torabestimmungen angeführt werden, erweisen sich bei näherer Betrachtung zumindest als ambivalent.124 „unter der Bekennenden Kirche“ endete. Dennoch würde niemand diesen Vorgang als eine „Befreiung von der Bekennenden Kirche“ bezeichnen. 121 So der Vorschlag von WILSON, Law, passim. 122 In der Analogie aus Anm. 120 gesprochen: Welche kirchenrechtlichen Bestimmungen und Strukturen beim Übergang von der Zeit „unter dem Bruderrat der Bekennenden Kirche“ in die Zeit „unter dem Rat der EKD“ übernommen und welche verändert wurden, war auf den Synoden von Treysa 1945 und Eisenach 1948 Verhandlungssache und im Einzelfall zu klären. Faktisch wurde die Mehrzahl der rechtlichen Regelungen aus der Zeit der Bekennenden Kirche unverändert in die Grundordnung der EKD übernommen. 123 Vgl. dazu oben S. 269, Anm. 29. 124 Zum Teil handelt es sich um generalisierende Formeln, deren scheinbar universale Bedeutung jedoch durch den Kontext jeweils deutlich eingeschränkt wird (1Kor 6,12; 10,23; Röm 10,4; 14,20; Gal 6,15), zum Teil handelt es sich um Texte, in die eine Verletzung jüdischer Speisegebote hineingelesen wird, obwohl sie ausschließlich halachische Grenzfragen der Tischgemeinschaft thematisieren (Gal 2,11–14; Röm 14–15; 1Kor 8+10). Auch die Passage 1Kor 9,19–23 beschreibt zwar unterschiedliche Argumentationsweisen des Paulus in seiner Missionstätigkeit, aber nicht unbedingt Verhaltensweisen, die jüdischen Toravorschriften widersprechen (vgl. NANOS, Relationship, 130; dagegen WRIGHT, Paul, 1438f.). Für den Nachweis eines für die jüdische Identität so grundlegenden Schrittes wie des Bruchs mit der Tora scheint mir eine gründlichere Prüfung dieser Texte notwendig

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Zum zweiten aber stellt sich auch die Frage, ob sich für Paulus die „alte“ und die „neue“ Zeit nahtlos und übergangslos aneinander anschließen, oder ob es eine „Überlappung“ der Zeitalter zwischen Auferstehung und Vollendung gibt. Immerhin besteht das „jetzige Jerusalem“ ja auch nach der Ankunft Christi noch weiter. Es ist also durchaus denkbar, dass für Paulus zwar die messianische Zeit in Christus bereits angebrochen ist, aber die „jetzige böse Welt“ dennoch nicht vergangen, sondern nur „im Vergehen“ ist, wie es etwa der Autor des Hebräerbriefs ausdrückt (Hebr 8,9–13). Die Zuordnung von ὑπὸ νόµον und οὐκ ὑπὸ νόµον wäre demnach wie folgt darzustellen:

Es wäre dann zu klären, zu welchem Zeitpunkt für Paulus die Gültigkeit des Gesetzes endet: zum Zeitpunkt der Ankunft Christi, zur Zeit der individuellen Taufe oder zur Zeit der Ernte, wenn das „jetzige Jerusalem“ und die „gegenwärtige Zeit“ ihr Ende finden. Im letzteren Fall würde für Paulus die Toraobservanz als Merkmal der Zugehörigkeit zum irdischen Gottesvolk so lange bestehen bleiben, wie dieses irdische Volk besteht, während er sich gleichzeitig bereits in Christus als Teil der neuen, kommenden Welt verstand. Der Argumentationsgang des Paulus in Röm 5–8, aber auch Texte wie Phil 3,12– zu sein, denn nach dem Grundsatz der „historischen Kontextplausibilität“ liegt die Beweislast auf der Seite derjenigen, die den Bruch mit der Tora annehmen, nicht bei denen, die eine Kontinuität als selbstverständlich annehmen, solange es keinen Nachweis des Gegenteils gibt. ZETTERHOLM, Assumptions, passim, weist allerdings auf die prinzipielle methodische Schwierigkeit hin, Aussagen darüber zu machen, ob Paulus jüdische halachische Vorschriften missachtete oder nicht: Denn zum einen wissen wir aufgrund der unsicheren Quellenlage kaum etwas über die tatsächliche halachische Praxis im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Zum zweiten ist jüdische Halacha kein statisches Phänomen, sondern auch zur Zeit des Paulus ständigem Wandel und anhaltendem innerjüdischen Diskurs unterworfen. Ob ein bestimmter Vorgang daher einen Bruch mit jüdischer Halacha darstellt oder nicht, wird sich im Einzelfall weder anhand von Quellen rekonstruieren lassen, noch kann fraglos angenommen werden, dass darüber einheitliche Ansichten bestanden. Für den Nachweis eines bewussten Bruchs mit der Halacha wäre also nicht nur der Nachweis eines aus heutiger Sicht „gesetzeswidrigen“ Verhaltens nötig, sondern zudem auch der Nachweis, dass Paulus selbst darin tatsächlich einen Gesetzesbruch sah. Ersteres wird sich als schwierig erweisen, Letzteres vermutlich als unmöglich.

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21 deuten zumindest darauf hin, dass Paulus in solchen Kategorien einer „doppelten Existenz“ dachte und lebte: „Fortan leben die an Christus Glaubenden in zwei Zeiten gleichzeitig; sie leben noch in dem (rasch zu Ende gehenden) alten Äon und schon im Zeichen des Anbruchs der ἡµέρα σωτηρίας“.125

F. Fazit Die in der protestantischen Paulusauslegung zentrale Formel der „Freiheit vom Gesetz“ ist in dieser Absolutheit keine paulinische Formel. Zwar verwendet Paulus verwandte Formulierungen in einer Passage des Römerbriefs zwei- bzw. viermal, jedoch bezeichnen sie dort, zunächst im Bild und dann in der Übertragung, lediglich die Freiheit von einem näher spezifizierten Gesetz, nämlich „vom Gesetz der Sünde und des Todes“ (Röm 8,2), der Paulus jedoch im gleichen Zusammenhang die Bindung an das „Gesetz Gottes“ bzw. das „Gesetz des Geistes“ gegenüberstellt. Eine grundsätzliche Freiheit vom Gesetz oder von der jüdischen Tora ist mit dieser Formulierung also nicht im Blick. Andere Textstellen, die den Begriff der Freiheit (oder zumindest Bilder von Freiheit) verwenden, formulieren keine „Freiheit vom Gesetz“, sondern durchgängig eine Freiheit von anderen Mächten oder Herren. Zwar wird das Gesetz selbst als von diesen Mächten und Herren „gefangen“ oder „beherrscht“ dargestellt, und es muss, ebenso wie der Mensch, aus dieser Herrschaft befreit werden. Diese „Befreiung des Gesetzes“ ist aber für Paulus nicht mit einer „Befreiung vom Gesetz“ gleichzusetzen. Kehren wir zurück zu den eingangs benannten verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten der Formel „Freiheit vom Gesetz“,126 dann ergibt sich als Ergebnis: (a) Eine „Freiheit vom Gesetz“ im Sinne einer Freiheit vom Zwang zur Selbstrechtfertigung durch „gute Werke“, d.h. eine Absage an jede soteriologische Funktion des Gesetzes, ist ohne Zweifel der Sache nach ein Kernanliegen des Paulus.127 Es wird aber von ihm nirgendwo mit den Begriffen von 125

STUHLMACHER, Theologie, 289. Vgl. oben S. 271. 127 Die „neue Paulusperspektive“ hat dabei m.E. zu Recht aufgezeigt, dass Paulus diese Überzeugung nicht in Abgrenzung zu einer (vermeintlich einheitlichen) jüdischen Lehre der Selbstrechtfertigung aus dem Gesetz entwickelt hat, sondern dass er sich mit dieser Überzeugung durchaus selbst im Rahmen polymorpher jüdischer Vorstellungen von Gesetz, Bund und Gnade bewegt. Dass Paulus selbst vor seiner Lebenswende dem Gesetz eine heilsentscheidende Funktion zuschrieb und sich dann angesichts seiner Christusbegegnung gezwungen sah, „in bezug auf die Tora umzudenken“ (RIESNER, Frühzeit, 352), dass er also angesichts des Christusereignisses innerhalb des Spektrums möglicher jüdischer Gesetzesvorstellungen von einer Überzeugung zu einer gegensätzlichen wechselte, ist 126

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Freiheit oder Gefangenschaft beschrieben, sondern mit Begriffen wie χωρὶς νόµου (Röm 3,21.28) oder, zumindest nach lutherischer Auslegungstradition, auch durch den Ausdruck οὐκ ἐξ ἔργων νόµου (Gal 2,16 u.ö.). (b) Eine „Freiheit vom Gesetz“ im Sinne eines „gesetzesfreien Evangeliums“ für Nichtjuden, das ihnen einen Christusglauben ohne die Übernahme der für das Judentum kennzeichnenden Gesetzesvorschriften (χωρὶς ἔργων νόµου nach dem Verständnis „neuer“ Paulusperspektiven) erlaubt, gehört ebenfalls zweifellos zur paulinischen Kernbotschaft. Aber auch diese wird von Paulus nicht mit der Terminologie von Freiheit oder Gefangenschaft beschrieben: Nichtjuden müssen nach Ansicht von Paulus nicht vom Gesetz befreit werden, denn sie waren ihm nie unterworfen.128 (c) Eine „Freiheit vom Gesetz“ im Sinne einer Freiheit von bestimmten Aspekten des Gesetzes (z.B. vom Urteil des Gesetzes, von der Anklage des Gesetzes, vom Fluch des Gesetzes) oder auch vom Gesetz in einer bestimmten Funktion (etwa vom Gesetz als Ankläger, vom Gesetz als Aufseher, vom Gesetz als Zuchtmeister, vom Gesetz als Todbringer) entspricht zwar ebenfalls sachlich der Theologie des Paulus. Jedoch gebraucht Paulus auch für diesen Vorgang in den entsprechenden Passagen (Röm 7,7–21, Gal 3,13.22– 25) nicht die Terminologie von Freiheit oder Gefangenschaft. Stattdessen verwendet er hierfür οὐκ ὑπὸ νόµον und verwandte Formeln. (d) Eine „Freiheit vom Gesetz“ im Sinne eines Verzichts auf jüdische „boundary markers“ auch für jüdische Jesus-Nachfolger, sei es grundsätzlichprogrammatisch oder situativ-pragmatisch, ist bei den hier besprochenen Texten nicht im Blick. Ob ein solcher Verzicht auf jüdische „boundary markers“ bei anderen paulinischen Texten vorausgesetzt werden muss oder darf,129 ist umstritten. Aber selbst wenn es so sein sollte, verwendet Paulus in diesen Kontexten nicht die Terminologie von Freiheit oder Gefangenschaft, sondern, in der Auslegungstradition der „neuen Paulusperspektive“ verstanden, den Ausdruck οὐκ ἐξ ἔργων νόµου.130 (e) Martin Luther verstand die „Freiheit vom Gesetz“ im Sinne eines endgültigen Bruchs des Paulus und der ersten Christen mit jüdischer Toraobserdurch diese Einsicht der „neuen Perspektive“ allerdings nicht ausgeschlossen. Vgl. dazu auch FREY, Judentum, 34.41. 128 Vgl. WOLTER, Paulus, 376: „Für keinen nichtjüdischen Hörer der paulinischen Christusverkündigung ging von der Tora irgendeine Verpflichtung aus. Aus diesem Grunde kann man mit guten Gründen ausschließen, dass die Freiheit vom Gesetz ein Thema in der paulinischen Missionsverkündigung war.“ 129 Vgl. dazu etwa die Formel ἐθνικῶς καὶ οὐχὶ Ἰουδαϊκῶς ζῇς (Gal 2,14), µετὰ τῶν ἐθνῶν συνήσθιεν (Gal 2,12) oder die oben, S. 305f., Anm. 124, genannten Passagen. 130 Die – in vielerlei Weise hilfreiche und weiterführende – Unterscheidung der „neuen Perspektive“ zwischen „Gesetz“, „Werken“ und „Werken des Gesetzes“ führt in der Frage nach der „Freiheit vom Gesetz“ also nicht weiter, da Paulus das Syntagma ἔργα νόµου nie mit dem Freiheitsbegriff verknüpft.

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vanz. Dieser Ansicht folgt bis heute die Mehrheit der Ausleger,131 auch wenn sie zunehmend in Frage gestellt wird.132 In den hier betrachteten Freiheitsaussagen des Paulus ist diese Bedeutung jedoch in der Tat nicht nachzuweisen. Als Beleg müssen hier vielmehr wiederum die unter (d) genannten Texte dienen, was in der Literatur auch regelmäßig geschieht. Die Formel „Freiheit vom Gesetz“ ist in dieser Absolutheit also weder eine paulinische Formel, noch beschreibt sie zutreffend ein paulinisches Denkmuster. Nach Ansicht des Paulus ist der Mensch weder im Gesetz gefangen noch vom Gesetz versklavt. Er muss auch nicht vom Gesetz (nicht einmal von den, spezifischer verstandenen, „Werken des Gesetzes“) befreit werden, sondern von der Sünde, vom Tod, von Vergänglichkeit und vom gegenwärtigen bösen Äon: Im Zentrum der paulinischen Rechtfertigungsbotschaft, die zweifellos nicht nur einen „Nebenkrater“ seiner Theologie darstellt,133 steht daher nicht eine existentielle Einsicht in die Unzulänglichkeit eines jüdischen (oder modernen) Gesetzesverständnisses, sondern ein heilsgeschichtlich gedeutetes historisches Ereignis, der Anbruch der messianischen Zeit in der Person Jesu. Es ist deshalb auch nicht die (vermeintliche) Freiheit vom Gesetz, die Paulus von der Mehrheit seiner jüdischen Zeitgenossen unterscheidet, sondern es ist der Glaube an die Messianität Jesu und an die heilschaffende Bedeutung seines Sühnetodes. Dieser Glaube bildet daher auch, bis heute, die bleibende Bruchlinie im Prozess der Trennung der Wege,134 jedoch zugleich auch die entscheidende Verbindungslinie zwischen Jesus und Paulus.135 Ohne Zweifel trägt das Gesetz dazu bei, dass der Mensch an die Mächte von Sünde und Tod gebunden wird, denn es fordert Übertretung heraus (Gal 3,19; Röm 5,20; 7,5) und wird, indem es selbst durch die Sünde versklavt wird, zu deren Instrument (Röm 7,8–13; Gal 3,10–13). Ohne Zweifel bringt daher das Kommen Jesu für den Menschen eine Befreiung. Jedoch ist dies für 131

Vgl. oben S. 270, Anm. 31. Vgl. oben S. 271, Anm. 35, und ergänzend S. 305f., Anm. 124. 133 Vgl. RIESNER, Frühzeit, 352f.; DERS., Historical Jesus, 190. 134 Paulus allerdings verstand diesen Glauben gerade nicht als eine Abkehr von seinem jüdischen Glauben, sondern als dessen Bestätigung. Während daher in älteren jüdischen Paulusdarstellungen dessen Stellung zum Gesetz als entscheidendes Trennungskriterium benannt wird (vgl. oben S. 270, Anm. 31), hat sich dieser Schwerpunkt in neueren jüdischen Darstellungen deutlich auf die Frage nach dem Anbruch der messianischen Zeit in der Person Jesu hin verschoben (vgl. etwa NANOS, Irony, 292: “The good news of Jesus Christ proclaimed by Paul represented [nothing] other than messianic eschatology”; FREDRIKSEN, Question, 185–189.201; BEN-CHORIN, Paulus, 188f.). An dieser Stelle öffnet sich daher auch die Tür, an der die Diskussion um Möglichkeit und Berechtigung eines jüdischen Jesusglaubens heute ansetzen kann und muss. Vgl. dazu auch RIESNER, Jesus, 14; DERS., Prägung, 248. 135 Vgl. dazu RIESNER, Historical Jesus, 196f.; DERS., Jesus, 10. 132

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Paulus keine Befreiung vom Gesetz, sondern eine Befreiung „aus dem gegenwärtigen bösen Äon“ (Gal 1,4), der bestimmt ist von der Macht der Sünde und den Mächten der irdischen Welt. Das Gesetz hat in diesem Äon eine zeitlich begrenzte Rolle: Es soll vor Sünde bewahren und schützen, aber es klagt auch an und überführt. Durch das Kommen Christi jedoch verliert es für den Glaubenden diese daseinsbestimmende Rolle, denn nun untersteht der Mensch nicht mehr dem Schutz des Gesetzes, sondern der Gnade Christi. Dieser Übergang vom alten zum neuen Äon wird bei Paulus mit der häufig verwendeten und exklusiv paulinischen Formel οὐκ ὑπὸ νόµον bezeichnet, die jedoch von ihm gerade nicht mit den Begriffen der „Freiheit“ oder „Befreiung“ in Verbindung gebracht wird. Ob die Formel οὐκ ὑπὸ νόµον allerdings für Paulus auch grundsätzlich ein Ende jüdischer Toraobservanz beinhaltet, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden und bedarf weiterer exegetischer Prüfung. Sollten sich aus den Briefen des Paulus tatsächlich eindeutige Nachweise eines Bruchs mit halachischen Vorschriften aufzeigen lassen,136 so würden diese jedenfalls von Paulus nicht mit der Formel „Freiheit vom Gesetz“ begründet.

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Die Verkündigung des jüdischen Messias in der paganen Welt Der Beitrag der Gemeinde in Philippi zur Mission des Apostels Paulus1 Detlef Häußer Abstract: In first century Philippi, religious syncretism was a common phenomenon. Greek, Roman, Thracian and Egyptian gods as well as the imperial cult found adherents. Jews were only a small minority. Unlike in Judaism where there was no real mission work, i.e. organised activities with the purpose of winning converts, the Pauline mission was directed towards the nations, and the church played an important role. There was a partnership between Paul and the church in Philippi in the proclamation of the gospel (Phil 1:5). The Philippians contributed to the Pauline mission through (1) their own proclamation of the gospel (“shine like stars in the universe” and “hold forth the word of life”, see Phil 2:15f). The content of the Word of life can be determined by Phil 2:6–11 and should be seen against the backdrop of the tradition of the Old Testament and of the Jesus Tradition influenced by early Judaism. (2) personnel support, by sending Epaphroditus (Phil 2:25–30). (3) material support in the form of their (most likely financial) gift (Phil 4:10–20). In this context, the giving and receiving should be primarily interpreted within the framework of the antique concept of friendship and as mutual exchange.

A. Neue Wege: Mission unter Heiden Im Jahr 2000 erschien von Rainer Riesner ein wegweisender Beitrag: „A preChristian Jewish mission?“ In diesem Aufsatz zeigt Riesner, dass es keinen wirklichen Hinweis auf eine vorchristliche jüdische Mission im Sinne einer zielgerichteten Aktivität zur Gewinnung von Konvertiten gab.2 Weil jüdi1

Erweiterte Fassung eines Vortrages im Rahmen des neutestamentlichen Symposions „Der jüdische Messias Jesus und sein jüdischer Apostel Paulus“ am 8./9. Juni 2015 in Tübingen anlässlich des 65. Geburtstages von Prof. Dr. Rainer Riesner, Gomaringen. – Ich danke meinem Freund Dr. Stefan Jäger für die kritische Durchsicht des Manuskripts und den konstruktiven Austausch. 2 Vgl. RIESNER, Jewish Mission, 249. RIESNER, a.a.O., 223, definiert: “Mission is an activity intended to win converts.” Nach RIESNER, a.a.O., 234, “Matthew 23:15 probably has in mind not the conversion of pagan Gentiles to Judaism but the conversion of a God-

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scherseits die Hinwendung der Heiden zum Judentum für die messianische Zeit erwartet wurde, ist das Fehlen von Missionsaktivitäten von Juden plausibel. Weil das frühe Christentum der Überzeugung war, in der Zeit der messianischen Erfüllung zu leben, ist seine universale Heidenmission folgerichtig.3 Beim Thema „Der jüdische Messias in der paganen Welt“ ist demnach klar: Wenn es um den aktiven Beitrag der Gemeinde zur Mission geht, dann ist die Suche nach Anknüpfungspunkten oder Vorbildern im Judentum wenig aussichtsreich. Der Philipperbrief zeigt, dass die Gemeinde in Philippi dennoch an der paulinischen Mission mitwirkte und sie unterstützte. Bevor wir dies genauer untersuchen, ist zunächst das Umfeld der Gemeinde zu betrachten.

B. Philippi als Ort der paganen Welt Die Mission des Paulus generell konzentriert sich auf Orte, die der paganen Welt zuzurechnen sind, auch wenn die Apostelgeschichte über die Existenz von Synagogen in den Missionsorten und deren Besuch von Paulus berichtet. Hinsichtlich der Zuordnung zur paganen Welt bildet Philippi keine Ausnahme – im Gegenteil. Der archäologische Befund erweist Philippi als einen Ort des antiken Synkretismus. In Philippi gab es Tempel für Artemis und für weitere Gottheiten. Die archäologischen Zeugnisse für Tempel des Kaiserkults datieren zwar aus dem 2. Jh., es dürfte aber Vorgängerbauten gegeben haben. Der epigraphische Befund stützt ebenfalls die Annahme eines Synkretismus für den Ort. In den Inschriften werden flamines bzw. sacerdotes4 sowie weibliches Kultpersonal5 erwähnt. Die Meinungsverschiedenheiten beginnen bei der Frage nach der vorherrschenden religiösen Prägung im Philippi des 1. Jahrhunderts. Die thrakische Gottheit Ἥρως Αὐλωνείτης, der thrakische Reiter, dürfte, so P. Pilhofer, eine „Schlüsselstellung“6 gehabt haben, zumal dieser Kult staatlich gefördert wurde. Der Gott Dionysos wurde von Thrakern, Griechen und Römern verehrt, Silvanus, der Gott des Waldes, vornehmlich von römisch geprägten Menschen.7 Bei L. Bormann liegen die Gewichte etwas anders. Er geht „von einer fearing Gentile to become a proselyte.” Die Einsicht, dass es keine wirkliche vorchristliche jüdische Mission gab, fand vielfach Zustimmung, u.a. auch in der umfassenden Studie von WARE, Paul and the Mission of the Church (2011). 3 Vgl. RIESNER, a.a.O., 250. 4 Vgl. PILHOFER, Philippi I, 109f. Zur Diskussion einer entsprechenden Inschrift aus dem 2. Jh. vgl. DERS., Philippi II, 205–210. 5 Siehe dazu die Weihinschrift für Liber, Libera und Herkules, vgl. KLOPPENBORG/ASCOUGH, Associations, 333–335, und zum Text PILHOFER, Philippi II, 406f. 6 PILHOFER, Philippi I, 94. 7 Vgl. PILHOFER, Philippi I, 92–113.

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primär römisch geprägten religiösen Identität“ aus, „in deren Mittelpunkt neben dem traditionellen griechischen Pantheon die Verehrung des Prinzeps und seiner divinisierten Ahnen bzw. Vorgänger steht.“8 Für unsere Frage ist, unabhängig von den Gewichtungen im Einzelnen, die Feststellung eines gewissen religiösen Synkretismus hinreichend. Griechische, römische, thrakische und ägyptische Götter sowie der Kaiserkult fanden Anhänger, und insofern erweist sich Philippi als ein Ort der paganen Welt. Umstritten ist die Bedeutung des Judentums in Philippi. M. Hengel vermutet, dass die in Act 16,13.16 erwähnte προσευχή eine Gebetsstätte, ein Gebäude bezeichnet. Dies wäre gemäß dem Sprachgebrauch antiker Autoren (z.B. Philo, Apion, Kleomedes) eine Synagoge.9 U.a. J. Becker und H. Wojtkowiak haben dem widersprochen.10 Auch wenn für das 1. Jh. für Philippi inschriftlich keine Synagoge sicher belegt ist, sollte man die Existenz einer solchen nicht kategorisch ausschließen. Die einzige epigraphische Ausnahme ist eine Stele, die eine συναγωγή erwähnt. Sie stammt gemäß der Epigraphischen Datenbank Heidelberg aus dem 3. oder 4. Jh., so dass angesichts des zeitlichen Abstands kaum Rückschlüsse auf das 1. Jh. möglich sind.11 Φ(λάβιος) Νικόστρα(τος)· / Αὐρ(ήλιος) Ὀξυχόλιος / ἑαυτ κατεσκεύ/βασα τὸ χαµωσό/ρον τοῦτω· ὃς ἂν δὲ / ἑτέρων νέκυν καταθέ/σε δώσι προστείµου τῇ συ/ναγωγῇ µ(ύ)ρ(ια) Flavius Nikostratos (liegt hier begraben). Ich, Aurelius Oxycholios, habe für mich selbst dieses Grab errichtet. Wer aber einen anderen Toten hier niederlegt, der soll der Synagoge 1 000 000 Denare Strafe zahlen. (Übersetzung nach Pilhofer)

Wenn nur in einer einzigen der über tausend Inschriften aus dieser Stadt – und zwar einer aus der späteren römischen Zeit (3./4. Jh.) – die Existenz von Juden in Philippi belegt ist, gibt dies zu denken. Im 1. Jh. dürften Juden in Philippi – erwähnt werden in Act 16,13 ja jüdische Frauen – wohl nur eine sehr kleine Minderheit gestellt haben. Wenn Paulus Christus in Philippi predigt, dann trifft also die Verkündigung des jüdischen Messias auf eine primär pagane Welt. Philippi dürfte zu den Orten in der Mission des Paulus gehören, an denen eine Vertrautheit mit atl. und jüdischer Tradition am wenigsten vorausgesetzt werden konnte. Manches spricht dafür, dass Paulus in seiner missionarischen Erstverkündigung bei der Gründung der Gemeinde (vgl. Act 16) atl. Tradition und Jesusüberlie8

BORMANN, Philippi, 63f. Vgl. HENGEL, Proseuche, bes. 175. 10 Vgl. BECKER, Paulus, 323; WOJTKOWIAK, Christologie, 62. CLAUSSEN, Versammlung, 116–118, schließt ein Synagogengebäude nicht aus, hält aber einen Gebetsort unter freiem Himmel für wahrscheinlicher. 11 Vgl. http://edh-www.adw.uni-heidelberg.de/edh/inschrift/HD045719, dort auch zum Text der Inschrift. Vgl. weiter PILHOFER, Philippi I, 232. Zu Wortlaut, Übersetzung und Erläuterung dieser Inschrift vgl. DERS., Philippi II, 465–467, für ein Bild der Stele s. www.philippoi.de. 9

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ferung weitergegeben hat. Immerhin kann er in seinen Briefen auf solche anspielen, auch im Philipperbrief. Als weiterer Tradent kommt Lukas in Frage, der vermutlich als enger Mitarbeiter und Vertrauter des Paulus längere Zeit in dieser Gemeinde stationiert war (vgl. die Wir-Berichte Act 16,40; 20,5). Nach diesen Vorüberlegungen wollen wir uns nun unserer Hauptfrage zuwenden: Wie lässt sich die Verkündigung des jüdischen Messias Jesus Christus in der paganen Welt beschreiben und welche Rolle kommt dabei der Gemeinde zu? Ich beschränke mich dabei auf die Situation in Philippi und auf den Philipperbrief, wohl wissend, dass das Verhältnis von Paulus zu den Philippern ein besonderes ist und dass allein schon deshalb Studien zu den anderen Orten und Briefen des Paulus interessant wären.

C. Die Partnerschaft von Paulus und der Gemeinde in Philippi Als eine grundlegende Bestimmung und Beschreibung des Verhältnisses von Paulus und den Philippern zueinander kann Phil 1,5 gelten. Exklusiv spricht Paulus im Hinblick auf die Philipper von einer Gemeinschaft am Evangelium, wobei κοινωνία ὑµῶν εἰς τὸ εὐαγγέλιον wohl besser zu übersetzen ist als „eure Partnerschaft am Evangelium“. Für die Wendung κοινωνία ὑµῶν εἰς τὸ εὐαγγέλιον gibt es unterschiedliche Interpretationsvorschläge. Eine Entscheidung oder ein Votum in dieser Diskussion wird immer abhängig sein vom Verständnis der beiden Substantive κοινωνία und εὐαγγέλιον sowie der Deutung der Präposition εἰς.12 Nach J. Gnilka13 u.a. meint Paulus in Phil 1,5 mit „Anteil am Evangelium“ die Anteilhabe am Heil. G. Barth schließt dies aus der Näherbestimmung „vom ersten Tag an bis heute“, denn nur die Anteilhabe am Heil, also der entsprechende Glaubensstand der Philipper, sei von Anfang an vorauszusetzen.14 Angesichts des oft hohen missionarischen Engagements junger Christen ist dieses Argument keinesfalls zwingend. M.E. ist mit anderen eine alternative Position besser begründet: Das Wortfeld κοινωνία steht bei Paulus für die Gemeinschaft mit jemandem oder für die Anteilhabe an etwas. Paulus verwendet dann normalerweise κοινωνία mit einem Genitiv, wobei der Genitiv definiert, an wem oder was man teilhat (1Kor 1,9: Gott hat uns berufen εἰς κοινωνίαν τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ Ἰησοῦ Χριστοῦ, vgl. 1Kor 10,16; Phil 2,1; 3,10). In Phil 1,5 ist ὑµῶν der Genitiv, d.h. Paulus spricht von seiner Gemeinschaft mit den Philippern. Die κοινωνία ist hier zusätzlich durch die präpositionale Wendung εἰς τὸ εὐαγγέλιον spezifiziert. εἰς bestimmt die Richtung bzw. das Ziel. Ähnlich 12

Ausführlicher dazu HÄUSSER, Philipper, 62–64. GNILKA, Philipperbrief, 45. 14 Vgl. BARTH, Philipper, 18f. 13

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konstruiert ist κοινωνία εἰς in Röm 15,26 und 2Kor 9,13, wo Gemeinschaft ebenfalls ein aktives Element hat. εἰς (τὸ) εὐαγγέλιον verwendet Paulus in Röm 1,1; 2Kor 2,12 für sein Verkündigen. Von daher dürfte auch in Phil 1,5 die Wendung dahingehend zu verstehen sein, dass die Philipper aktiv an der Evangeliumsverkündigung beteiligt sind.15 Zwischen ihnen und Paulus besteht eine Partnerschaft, die ausgerichtet ist auf das Evangelium.16 Dabei ist εὐαγγέλιον wegen der verwendeten Präposition εἰς als Evangeliumsverkündigung zu bestimmen und somit ein nomen actionis. Diese Partnerschaft am Evangelium beschränkt sich nicht auf materielle Hilfe, sondern impliziert neben dem Gebet (1,19) und Leiden (1,27–30) auch die eigene Evangeliumsverkündigung (2,15) und die Entsendung eines Mitarbeiters (2,25–30).17 Die beiden konkurrierenden Auslegungen muss man nicht als sich gegenseitig ausschließende Alternativen denken. Die Anteilhabe am Evangelium ist konstitutiv für die Gemeinde. Die Partnerschaft von Paulus und den Philippern basiert grundlegend auf dem Christusglauben, sie umfasst aber weiter auch die gemeinsame Anteilhabe an der Evangeliumsverkündigung, die ja die Anteilhabe am Evangelium voraussetzt.18 Vor dem Hintergrund dieser Klärungen für V. 5 ist dann auch die Rede vom „guten Werk“ in V. 6 zu verstehen. Man sollte dabei beachten, dass Phil 1,6 von dem guten Werk Gottes spricht.19 Das Verständnis von κοινωνία εἰς τὸ εὐαγγέλιον in V. 5 bestimmt auch die Deutung des Ausdrucks ἔργον ἀγαθόν in V. 6. Interpretationsvorschläge sind: 1. Das gute Werk als Gottes Handeln in Erlösung und Neuschöpfung: Nach P. O’Brien bezeichnet das gute Werk das Erlösungshandeln Gottes. Zumindest ein Bezug zur Evangeliumsverkündigung ist bei O’Brien impliziert, wenn er die Anteilhabe an Paulus’ Dienst als Beweis dieses Heilswerks bestimmt.20 In eine ähnliche Richtung weist H. Stettler, wenn sie sagt: „Die absolute Rede von ‚dem guten Werk‘ zielt auf das Werk der Neuschöpfung am Anfang des Glaubensweges (vgl. Gen 2,2 mit 2Kor 5,17).“21 15

Vgl. O’BRIEN, Philippians, 61f. Vgl. OGEREAU, Koinonia, 246–260. Ogereaus Studie berücksichtigt leider kaum philosophische Texte, sondern basiert primär auf Papyrustexten und epigraphischem Material (vgl. a.a.O., 151–219), wo κοινωνία meist eine Partnerschaft bezeichne. 17 Es werden noch weitere Formen der Beteiligung vorgeschlagen, die im Brief aber nicht explizit erwähnt werden. MICHAELIS, Philipper, 13, nennt z.B. die Gastfreundschaft und erwägt weiter die eigene Missionsarbeit der Gemeinde im mazedonischen Hinterland. 18 So mit HANSEN, Philippians, 49. 19 Zur Verwendung von Schöpfungsterminologie und zu den Parallelen und Unterschieden zu Gen 1–2 vgl. HÄUSSER, Philipper, 65. 20 Vgl. O’BRIEN, a.a.O., 64. 21 STETTLER, Heiligung, 520. Zwischen diesem Anfang und der Vollendung am Tag Christi „liegt das Leben in der Heiligung“ (ebd.). In Phil 1,6 ist die Heiligungsthematik m.E. aber allenfalls am Rande im Blick. 16

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2. Das gute Werk als Teilhabe am Heil und als Glauben der Gemeinde: In diesem Sinne deutet U.B. Müller das ἔργον ἀγαθόν.22 Ähnlich bezieht Gnilka das gute Werk auf den „Glaubensstand der Gesamtgemeinde“.23 3. Das gute Werk als Partnerschaft in der Evangeliumsverkündigung: Dieses weiter gefasste Verständnis von Gottes Schöpfungshandeln ergibt sich, wenn man V. 5 primär auf die Evangeliumsverkündigung bezieht. Die, die als Glaubende am im Evangelium verkündigten Heil Anteil haben, bilden eine Gemeinschaft von Partnern in der Verkündigung des Evangeliums. Trotz aller Bedrohungen dieser Gemeinschaft von außen (vgl. 1,28) und durch innere Konflikte (vgl. 4,2) vertraut Paulus auf die Vollendung des gutes Werks durch Gott. Jede echte Partnerschaft am Evangelium wird von Gott begründet und wird auch von ihm vollendet.24 Als Zwischenfazit ist zu konstatieren: Schon im Proömium sagt Paulus ganz grundsätzlich über die Philipper: Sie sind Partner in der Evangeliumsverkündigung und in der Mission des Paulus. Im Folgenden wollen wir nun versuchen zu klären, worin genau der Beitrag der Philipper zur Mission des Paulus bestand. Im Philipperbrief sind vor allem drei Aspekte in den Blick zu nehmen, wobei zwei davon in der neueren und neuesten Forschung intensiv diskutiert und teils monographisch bearbeitet wurden: 1. der Beitrag in Form der Verkündigung des Evangeliums (2,15f.), 2. der Beitrag in Form der Sendung von Mitarbeitern (2,25–30) – personelle Unterstützung, 3. der Beitrag in Form des „Gebens und Nehmens“ (4,10–20) – finanzielle Unterstützung.25

D. Der Beitrag der Gemeinde durch die Verkündigung des Evangeliums (Phil 2,15f.) Haben wir schon in Phil 1,5f. die Partnerschaft der Gemeinde an der Verkündigung des Evangeliums festgehalten, so ist als weitere Stelle vor allem Phil 2,15f. in den Blick zu nehmen: „… damit ihr tadellos und ohne Falsch werdet, makellose Kinder Gottes mitten in einem verdorbenen und verkehrten Geschlecht, in welchem26 ihr scheint wie Leuchten in (der) Welt, indem ihr (das) lebendige Wort darbietet.“

22

MÜLLER, Philipper, 43. GNILKA, Philipperbrief, 46. 24 Vgl. HANSEN, Philippians, 50. 25 Darüber hinaus könnte man noch weitere Aspekte in Betracht ziehen, z.B. die Leidensgemeinschaft (1,27–30) oder das gemeinsame Nachfolgen (3,17). 26 Der Plural οἷς mit Bezug auf den Singular γενεᾶς ist eine constructio ad sensum. 23

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In V. 15 betont die Bezeichnung τέκνα θεοῦ ἄµωµα das Kindschaftsverhältnis der Gemeinde zu Gott.27 Phil 2,15 spielt an auf das Moselied in DtnLXX 32,5f. (τέκνα µωµητά γενεὰ σκολιὰ καὶ διεστραµµένη).28 Paulus modifiziert die Tradition signifikant und stellt dem wegen seiner Rebellion gegen Gott tadelnswerten (µωµητός) Israel die Gemeinde als makellose (ἄµωµoς) Kinder Gottes gegenüber, die mitten in einem verkehrten Geschlecht leben. So wird eine Prädikation für das Israel der Exodusgeneration (Dtn 32,5) auf die heidnischen Zeitgenossen der Philipper transferiert. Die Gemeinde lebt erkennbar anders als die Menschen ihrer Umwelt, und zwar in der Gegenwart. Für das Motiv φαίνεσθαι ὡς φωστῆρες ἐν κόσµῳ kommt als traditionsgeschichtlicher Hintergrund in Betracht: 1. DanLXX 12,3: Die Weisen Israels scheinen ὡς φωστῆρες des Himmels. Aufgrund der häufig belegten Rezeption dieser Metaphorik von Dan 12,3 im Frühjudentum dürfte diese Paulus bekannt gewesen sein (vgl. z.B. äthHen 38,4; 104,2; 108,11–14; slHen 66,7; syrBar 51,3.10f.; AssMos 10,9; 4Esr 7,97.125; 4Makk 17,5). Zusammen mit der Wortlautübereinstimmung spricht dies für eine Anspielung auf DanLXX 12,3.29 Bei Paulus leuchten natürlich die Philipper und nicht die Weisen Israels. 2. Evtl. lässt sich eine Linie zum Gottesknecht ziehen. Beim Gottesknecht sind die Motive Zeugenschaft und Licht miteinander verbunden. Der Gottesknecht ist Zeuge gegenüber Israel und zusammen mit Israel gegenüber den Heiden (Jes 43,10–12; 49,6). In Jes 42,6 und 49,6 wird der Gottesknecht das φῶς ἐθνῶν genannt. Bezieht man diese Bestimmung auf die Zeit der eschatologischen Erneuerung und die Umkehr der Heiden,30 dann hätte Paulus die Gemeinde als das eschatologische Israel Gottes gedacht, und dies in der Gegenwart.31 Auch Paulus selbst verstand seine Berufung zur Heidenmission vor dem Hintergrund dieser beiden Prophetenworte (vgl. Gal 1,15f.).32 3. Möglicherweise knüpft Phil 2,15 an solche Jesustradition an, die auch Mt 5,14–16 zugrunde liegt. In diesem Fall würde Phil 2,15 einen missionari27

Vgl. Gal 4,5f. Zur Qualifizierung als ἄµωµος vgl. HÄUSSER, Philipper, 182f. Zu Anspielung und Anklang (zumindest ein solcher ist anzunehmen) vgl. HÄUSSER, Christusbekenntnis, 54. Die Synonyme σκολιὸς καὶ διεστραµµένος sind paulinische hapax legomena und legen deshalb eine Rezeption von Traditionsmaterial nahe. 29 Vgl. dazu WARE, Mission, 254; BOCKMUEHL, Philippians, 158. 30 So WARE, a.a.O., 101–107.286. Für diese Perspektive im Frühjudentum s. Sib 3,195; äthHen 105,1f., vgl. RIESNER, Jewish Mission, 242. 31 Für solch eine missionarische Ausrichtung gibt es allerdings keine wirkliche Parallele im Frühjudentum (s.o. Anm. 2; vgl. WARE, a.a.O., 288). 32 Vgl. RIESNER, a.a.O., 243f. Nach Lukas ist Jes 49,6 Schrift-Begründung für Paulus und Barnabas, sich den Heiden zuzuwenden (Act 13,47). Für das Verständnis der paulinischen Missionsstrategie (Röm 15,16–28) im Lichte von Jes 66,18–21 vgl. RIESNER, Frühzeit, 216–225.272f. 28

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schen Aspekt, nämlich das Zeugnis der Gemeinde gegenüber der Welt, implizieren.33 M.E. ist es durchaus vorstellbar, dass Paulus verschiedene Motive und Traditionsstränge rezipiert. Dies gilt umso mehr, als die Jüngerbeauftragung in Mt 5,14–16 wiederum atl. Lichtmetaphorik aufgreift. Insbesondere weisheitlich geprägte Texte verwenden solche im Zusammenhang mit der Weisung Gottes (Prov 6,23; Ps 119,105).34 Der in Phil 2,15 beschriebene universale Auftrag nimmt auch die Welt jenseits der Grenzen von Philippi in den Blick. In theozentrischer Perspektive ist die Verbreitung des Evangeliums Gottes Aktivität, und zwar im Unterschied zum Judentum durch sein Wirken in den Glaubenden.35 Das Wort des Lebens bzw. das lebendige Wort ist das von Paulus auch in Philippi verkündigte Evangelium, welches auch Jesusgeschichten beinhaltete (vgl. Act 16,32). Kontrovers diskutiert wird die Bedeutung von ἐπέχειν. Syntaktisch ist das Partizip modal φαίνεσθε zugeordnet. Eine klare neutestamentliche Parallele zu Phil 2,16, also zu ἐπέχειν in transitiver Stellung, gibt es nicht. ἐπέχειν steht in Lk 14,7 („bemerken“) und in Act 3,5; 1Tim 4,16 („achten auf“/„beobachten“) jeweils nicht transitiv. Einzig in Act 19,22 liegt eine transitive Stellung vor, hier aber mit der Bedeutung „verweilen/bleiben“. Nach Bauer/Aland ist transitives ἐπέχειν mit „festhalten, in seiner Gewalt halten“ zu übersetzen.36 Ein Vergleich mit anderen Wörterbüchern zeigt, dass diese Bedeutung für ἐπέχειν keinesfalls sicher ist. Vielmehr ergibt sich für transitives ἐπέχειν ein wesentlich weiteres, teilweise auch ein gänzlich anderes semantisches Spektrum, wie folgende Übersicht zeigt.37 Menge: „hinhalten“, „darreichen“, „vor sich haben“; „festhalten“ (insbesondere im Sinne von „aufhalten“, „zurückhalten“, „verzögern“). Dies deckt sich nicht mit der in Phil 2,16 anzunehmenden Semantik von „festhalten“. Passow (für transitives ἐπέχειν): „hinhalten“, „die Mutterbrust geben“; „anhalten“, „zurückhalten“, „hemmen“. Pape (wie Passow und zusätzlich): „darauf hinrichten“; „innehalten“, „sich erstrecken“.

33

Für eine Verbindung mit Mt 5,14–16 vgl. PEDERSEN, Furcht, 8f.; WARE, Mission,

256.

34

Vgl. DEINES, Gerechtigkeit, 218–229. Vgl. WARE, a.a.O., 292. Eine Brücke lässt sich schlagen zur Prädikation „Kinder des Lichts“ (1Thess 5,5; Eph 5,8); vgl. die Selbstbezeichnung in 1QS 1,9; 2,16; 1QM 13,5.9 (vgl. BOCKMUEHL, Philippians, 158). Paulus verbindet Jesu Kondeszendenz und seine Erhöhung als Messias (Phil 2,6–11) mit der Umkehr der Heiden (Jes 45,22f.). 36 Vgl. BAUER/ALAND, Wörterbuch, 578. 37 Vgl. MENGE, Großwörterbuch, 260; PASSOW, Handwörterbuch, 1029f.; PAPE, Handwörterbuch I, 919; LIDDELL/SCOTT/JONES, Lexicon, 619; LOUW/NIDA, Lexicon, 372. 35

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Liddell/Scott: „to have, hold“; „to hold out, present, offer“. Louw/Nida (für Phil 2,16): „to hold (firmly) to“; „to offer“.38

Angesichts dieser Diskrepanzen ist eine genaue Analyse der Semantik angezeigt, wobei wir an neuere Beiträge zu diesen Fragen anknüpfen können.39 V.S. Poythress und J.P. Ware zeigen überzeugend, dass sich für transitives ἐπέχειν mit den von Bauer/Aland genannten (vermeintlichen) Belegstellen die Bedeutung „festhalten“ nicht verifizieren lässt.40 Exemplarisch kann auf TestJos 15,3 verwiesen werden. Dort heißt es: πάλιν ἤθελον δακρῦσαι, καὶ ἐπέσχον ἐµαυτόν („wieder wollte ich weinen, und ich beherrschte/kontrollierte mich“). ἐπέχειν steht im Sinn von „erfassen“/„im Griff haben“, z.B. eine Stadt oder ein Land, und dies transitiv, bei Diodorus Siculus 12.27.3: ταραχὴ τὴν πόλιν ἐπεῖχε („Aufruhr erfasste/kam über die Stadt“), und in Josephus, Ant 2,101; Bell 2,462 und ähnlich bei Philo, Som 2,133 („einen Platz/Raum erfüllen“).41 Die Bedeutung „erfassen“/„im Griff haben“ ist semantisch aber klar von „sich an etwas orientieren“ zu unterscheiden. Letztere wäre bei der Übersetzung „das Wort des Lebens festhalten“ vorauszusetzen, aber dies ist nach der Quellenlage nicht wahrscheinlich. Kritisch zu hinterfragen ist vor diesem Hintergrund das Plädoyer von J.P. Dickson für die Übersetzung „to take hold“.42 Mit Recht verweist er auf das große Bedeutungsspektrum von ἐπέχειν, er berücksichtigt aber nicht hinreichend die jeweilige grammatikalische Konstruktion und die genaue Semantik. Wenig überzeugend ist sein Hinweis, dass in Phil 1,27–2,18 das Leben würdig des Evangeliums und somit die Ethik im Fokus sei und dass nur in dieser ein missionarischer Akzent enthalten sei. Das Darbieten des Evangeliums widerspricht sicherlich nicht der Aufforderung in 1,27. Chrysostomus’ Kommentierung der Stelle ist offen für beide Interpretationen, also im Sinne von „festhalten“ und von „darbieten“.43 Nach ihm geht es darum, unter den Gottlosen εὐθύς (aufrichtig, offen) zu bleiben. Wenn er da38

Auch THAYER, Lexicon, 231, nimmt für Phil 2,16 die Bedeutung „to hold forth, present“ an. 39 Vgl. POYTHRESS, Hold fast, 45–53; WARE, Mission, 256–270; OAKES, Échos intertextuels, 251–287. 40 Vgl. POYTHRESS, a.a.O., 50f.; WARE, a.a.O., 267–269. Auch OAKES, a.a.O., 267– 273, bezweifelt diese Möglichkeit. Er nimmt für Phil 2,16 bei ἐπέχειν eine Weiterentwicklung einer speziellen Konstruktion (λόγον + Genitiv + ἔχειν) und die Bedeutung „die Funktion von Leben haben“ an (vgl. a.a.O., 275–285; DERS., Re-mapping, 320f., Anm. 61). Vgl. kritisch dazu WARE, a.a.O., 269, der „sein“ bzw. „dienen“ zwar für mögliche Bedeutungen von ἐπέχειν hält, nicht aber in Phil 2,16. 41 Semantisch ähnlich, jedoch nicht transitiv: Philo, SpecLeg 2,87; VitMos 1,90; Josephus, Bell 4,442 („der Winter hielt an“). 42 Vgl. DICKSON, Mission-Commitment, 108–114. 43 Vgl. CHRYSOSTOMUS, Ad Philippenses, 244.

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von spricht, ἄµεµπτος zu sein, dann spricht dies stärker für ein Verständnis von ἐπέχειν im Sinne von „festhalten“, auch wenn die alternative Bedeutung nicht ausgeschlossen ist. Der Satz Οἱ φωστῆρες, φησί, λόγον φωτὸς ἐπέχουσιν· ὑµεῖς λόγον ζωῆς spricht aber klar für die Bedeutung „darbieten“.44 Die Sterne halten das Licht ja gerade nicht fest, sondern strahlen es ab. Eine Minderheitsposition vertritt Poythress. Er übersetzt ἐπέχειν mit „to hold“ bzw. „to have“. ἐπέχειν könne man dahingehend deuten, dass das Wort die Evangelisation unterstütze oder dass es zur Reinheit beitrage.45 Poythress wendet gegen die Übersetzung von ἐπέχειν mit „to hold forth“ (bzw. „darbieten“) ein, dass diese Bedeutung in der griechischen Literatur nur in einem speziellen Kontext vorliege, nämlich der Flüssigkeitsgabe, und zwar besonders für kleine Kinder (inklusive Stillen).46 Für den dann anzunehmenden metaphorischen Gebrauch gebe es im Kontext von Phil 2,16 aber keine Hinweise. Dagegen ist aber zu sagen, dass Paulus in 1Kor 3,2 eine ähnliche Metapher verwendet: γάλα ὑµᾶς ἐπότισα, οὐ βρῶµα – „Milch habe ich euch zu trinken gegeben, nicht feste Speise“. Ware widerspricht Poythress’ Argumentation für „to have“ und zeigt, dass die von ihm angeführten Belegstellen seine Argumentation nicht zu tragen vermögen.47 Für ἐπέχειν in Phil 2,16 hat Ware die Bedeutung „to hold forth“ eindrücklich profiliert und dabei auch die Einwände von Poythress gegen diese Übersetzung dezidiert zurückgewiesen. Ein wichtiges Argument ist, dass das Präfix ἐπί eine Ausdehnung signalisiert. Entscheidend ist aber, dass in antiken griechischen Texten die Bedeutung „darbieten“ eindeutig belegt ist, z.B. im Supplementum Epigraphicum Graecum 1,362: τὸ δὲ λοιπὸν ἐπέχηκε τῇ πόλει („das Übrige bot er der Stadt dar“). Weiter zu nennen ist Theocritus, Idyll 13,46: „… der junge Mann hielt hin [ἐπεῖχε] dem Wasser einen vielfassenden Krug um zu schöpfen…“48 Dies ist zugleich ein starkes Argument gegen den zentralen Einwand von Poythress gegen die Bedeutung „darbieten“, dass ἐπέχειν sonst nur im speziellen Kontext der Flüssigkeitsgabe verwendet werde.49 Nach der ausführlichen Wortstudie von Ware kann transitives ἐπέχειν bedeuten: a) „etwas unterlassen/etwas zurückhalten“ oder b) „darbieten/ausbreiten“.50 Dies wird durch die großen deutschen Wörterbücher, abgesehen von Bauer/Aland, bestätigt.

44

Gegen DICKSON, Mission-Commitment, 110. Vgl. POYTHRESS, Hold fast, 51–53. 46 Vgl. POYTHRESS, a.a.O., 46–50. 47 Vgl. WARE, Mission, 268f. 48 Vgl. dazu WARE, a.a.O., 261–263. 49 Vgl. POYTHRESS, a.a.O., 46–50. 50 Vgl. WARE, a.a.O., 256–270. 45

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Als Fazit ergibt sich für das Verständnis von ἐπέχειν: 1. Die im Anschluss an Bauer/Aland im deutschsprachigen Raum (Luther, Einheitsübersetzung usw.) übliche Übersetzung mit „festhalten“ ist zu revidieren.51 2. Die philologischen Argumente stützen die Bedeutung „darbieten“52 bzw. engl. „to hold forth“/„to offer“. 3. Übersetzt man ἐπέχειν mit „darbieten“53 bzw. „to hold forth“,54 dann belegt Phil 2,16: Paulus rechnete mit der aktiven missionarischen Verkündigung durch die Gemeinde gegenüber Außenstehenden.55 Der Schluss von V. 15 (scheinen als Leuchten in der Welt) stützt diese Auslegung. Das Darbieten des Evangeliums korrespondiert der Darbietung des Gottesrechts (‫שׁ פָּט‬ ְ ‫ ) ִמ‬bzw. der ‫תּוֹרה‬ ָ (Jes 42,2.4) durch den Gottesknecht für die Heiden bzw. die Inseln.56 Im Zusammenhang mit V. 15 (Leuchten in der Welt) wird die Bezugnahme auf Jesaja (Licht der Heiden) gestützt. R. Deines hat für die Jünger in Mt herausgearbeitet: Sie partizipieren an Gott als dem wahren Licht, und sie können „das Messiaslicht weitertragen, das zur Gerechtigkeit verhilft, weil Jesus der Gottesknecht ist, der für dieses Heil die Voraussetzungen erfüllt.“57 Analog lässt sich dies hier über die Gemeinde sagen. Dabei sieht Paulus seine apostolische Mission erst darin erfüllt, dass die von ihm gegründeten Gemeinden durch ihre eigene Verkündigung das Evangelium weiter verbreiten.58 Insgesamt hat die Mission durch die Gemeinde eine große Relevanz im paulinischen Missionsdenken. Die Philipper teilen seine Überzeugung einer 51

Diese Übersetzung scheint (nur auf den ersten Blick) dem Kontext (V. 12) gut zu entsprechen, zumindest wenn man die Lutherübersetzung zugrunde legt. In V. 12 geht es Paulus aber darum, das Heil zu vollenden (κατεργάζεσθαι), also zu gestalten, und dem korrespondiert das Darbieten des Evangeliums sehr gut. Zu Phil 2,12f. vgl. HÄUSSER, Philipper, 174–181. 52 Diese Bedeutung präferieren neben Ware auch VINCENT, Philippians, 69f.; THURSTON/RYAN, Philippians, 96; MARSHALL, Philippians, 64; BEARE, Philippians, 16f.; HENDRIKSEN, Philippians, 125f.; PLUMMER, Mission, 74, und jetzt auch SCHNABEL, Paul, 200, der früher noch explizit die Bedeutung „festhalten“ annahm (vgl. SCHNABEL, Mission, 1394). Vgl. im Anschluss an Ware auch STENSCHKE, Mission, 88f. Die Bedeutung „to hold“/„to have“ (Poythress) liegt für ἐπέχειν nicht nahe. Gegen Poythress wäre jedenfalls eine metaphorische Bedeutung nicht auszuschließen. 53 So unter den gängigen deutschen Bibelübersetzungen nur Schlachter. 54 Folgendes würde auch für metaphorisch verstandenes „to hold“ gelten. 55 Vgl. PLUMMER, a.a.O., 76; WARE, Mission, 270.289; vgl. auch Eph 6,15; Kol 4,5f. Einen missionarischen Aspekt in Phil 2,16 lehnt MÜLLER, Philipper, 121, dezidiert ab. 56 Vgl. dazu DEINES, Gerechtigkeit, 229f. 57 DEINES, a.a.O., 230. 58 Weil dies im Kontext der Reflexion von Paulus über seine eigene Mission (Phil 2,16b–17) zu sehen ist, kann man für die Bedeutung „festhalten“ nicht mit Phil 3, also mit der paulinischen Warnung vor negativen Einflüssen, argumentieren (gegen WITHERINGTON III, Philippians, 162).

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Verpflichtung und Beauftragung der Gemeinde zur Darbietung bzw. Verbreitung des Evangeliums.59 Wenn wir die Verkündigung des Evangeliums als einen Beitrag der Gemeinde zur Mission des Paulus festhalten, dann stellt sich die Frage, wie der Inhalt des Evangeliums in Bezug auf den jüdischen Messias Jesus zu bestimmen ist. Zweifelsohne hat für Paulus die Christusverkündigung höchste Priorität (Phil 1,15–18; vgl. 1Kor 1,23; 2,2; 2Kor 4,5). Suchen wir innerhalb des Philipperbriefs nach einer genaueren inhaltlichen Bestimmung dessen, was Paulus als Wort des Lebens bezeichnet, so haben wir sicherlich und vor allem von Phil 2,6–11 auszugehen.60 In diesem von Paulus übernommenen Traditionstext haben wir m.E. keinen Hymnus vorliegen. Der oft behauptete parallelismus membrorum ist nur für einen Teil des Textes bestimmend und überdies nicht allein für Hymnen kennzeichnend, sondern auch für andere mnemotechnisch gestaltete Texte. Der ebenso häufig behauptete Rhythmus ist in keiner Weise erkennbar – Silbenlängen und Betonungen sind in jeder Zeile im Hinblick auf Anzahl und Verteilung unterschiedlich. Es könnte sich gut um ein katechetisches Summarium handeln.61 Diese Verse bieten also wahrscheinlich eine Zusammenfassung wesentlicher Inhalte dessen, was zum Evangelium gehört und in der Gemeindekatechese gelehrt worden sein dürfte, auch in Philippi. Im Philipperbrief steht dieser Text zwar in einem ethischen Kontext, d.h. Christus wird als Vorbild für das in 2,1–4 beschriebene Verhalten bzw. die entsprechende Haltung vorgestellt,62 dessen unbesehen lässt sich zugleich aus diesem Text der frühchristlichen Tradition entnehmen, was der Inhalt des Evangeliums ist. Dieses katechetische Summarium ist geprägt durch atl.-jüd. Tradition und durch Jesusüberlieferung und rezipiert diese (ähnlich fanden sich ja Anklänge an diese auch in 2,15). Exemplarisch sind zu nennen:63 1. Phil 2,6–11 beginnt bei der Präexistenz und beschreibt die Kondeszendenz Jesu und seine auf diese folgende Erhöhung. Das Schema „Erniedrigung – Erhöhung“ findet sich auch in dem sogenannten vierten Gottesknechtslied. Außerdem ist an den synoptischen Spruch in Lk 14,11; 18,14; Mt 18,4; 23,12 zu denken, in dem ebenfalls ταπεινοῦν ἑαυτόν und ὑψοῦν miteinander verbunden sind,64 was Phil 2,8f. entspricht. Insofern kann die Struktur von Phil

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Zur Mission der Gemeinde bei Paulus generell vgl. SCHNABEL, Mission, 1390–1414. HELLERMAN, Vindicating, 99f., postuliert, dass Paulus Phil 2,6–11 in Entsprechung zu den Ereignissen bei seiner Erstverkündigung in Philippi formuliert habe. 61 Vgl. HÄUSSER, Christusbekenntnis, 219–229. 62 Den weiteren Kontext bildet ein paränetisch geprägter Abschnitt (1,27–2,18) zum „Leben würdig des Evangeliums“. 63 Vgl. ausführlicher und umfassender HÄUSSER, a.a.O., 229–262. 64 Mt 18,4 formuliert inhaltlich ähnlich mit ὁ µείζων εἶναι statt mit ὑψοῦν. 60

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2,6–11 als aus dem Jesuswort abgeleitet und als christologische Anwendung desselben verstanden werden.65 2. das Lösegeldlogion (Mk 10,45): H. Riesenfeld bestimmt Phil 2,6–11 aufgrund der strukturellen Übereinstimmungen mit Mk 10,45 als „eine im Wissen um das Christusereignis durchreflektierte Auslegung des Menschensohnwortes“.66 Hier sollte man vorsichtiger urteilen, aber dass Phil 2,6–11 an das Lösegeldlogion anknüpft, darf man annehmen. Dieses ist schon in den 30er- und 40er-Jahren bekannt gewesen, und ein vorösterlicher Ursprung ist durchaus möglich.67 Die zahlreichen strukturellen bzw. terminologischen (οὐκ – ἀλλά) und inhaltlichen Beziehungen von Phil 2,6–8 zu Mk 10,45 (Menschensohn-Vorstellung, Dienen, Hingabe des eigenen Lebens usw.) lassen sich kaum als zufällig erklären.68 Hinter dem Lösegeldlogion stehen wiederum Jes 53 und bzw. oder Jes 43,3f. Was stärker zu gewichten ist, müssen wir hier nicht diskutieren, entscheidend ist, dass Phil 2 vor dem Hintergrund des Alten Testaments und atl. geprägter Jesustradition formuliert wurde. 3. der Menschensohn69: Dass Jesus von sich als Menschensohn gesprochen hat, ist schon allein deshalb höchst wahrscheinlich, weil andernfalls die sogenannte „Gemeinde“ diesen Titel Jesus zugelegt, ihn aber aufgrund seiner mangelnden Verwendbarkeit für die Missionsverkündigung dann sofort fallen gelassen haben müsste. Hinter Jesu Reden von sich als Menschensohn dürften Dan 7,13 und evtl. auch die frühjüdische Tradition (äthHen u.a.) stehen. 4. die Erhöhung und universale Akklamation (JesLXX 45,2370): Die sprachlichen Parallelen von Phil 2,10f. zu JesLXX 45,23 sind so frappierend, dass eine Anspielung als intendiert angenommen werden kann. Das Theologumenon von der universalen eschatologischen Akklamation Jahwes wird auf den erhöhten Christus transferiert. So wird der alttestamentliche Monotheismus 65 Bei Berger erscheint die Differenz von Phil 2 zum synoptischen Spruch größer, als sie ist. Er meint, dass in Phil 2 das synoptische Schema „Erniedrigung – Erhöhung“ nicht einfach reproduziert wird, weil die Abfolge „niedrig – hoch“ vermieden wird (vgl. BERGER, Theologiegeschichte, 237). In der Tat beginnt Phil 2,6–11 mit einer Hoheitsaussage. Übereinstimmung zwischen dem Jesuswort und Phil 2 besteht aber in dem dynamischen Charakter, der durch die Verben (ταπεινοῦν und ὑψοῦν) bestimmt wird. Auch in dem synoptischen Spruch findet sich die reine Abfolge „niedrig – hoch“ nicht, da ja implizit eine gewisse Höhe vorausgesetzt wird, ohne die ein Sich-Erniedrigen gar nicht möglich wäre. 66 RIESENFELD, Unpoetische Hymnen, 167. 67 Vgl. RIESNER, Historical Jesus, bes. 198. 68 Vgl. ausführlicher HÄUSSER, Christusbekenntnis, 252–259. 69 Die Wendung ἐν ὁµοιώµατι ἀνθρώπων in Phil 2,7 lässt sich mit dem aramäischen ‫ְכּבַר‬ ‫ ֱא נָשׁ‬in Dan 7,13 unter der Annahme verbinden, dass ἐν ὁµοιώµατι stärker die Differenz betont. ἐν ὁµοιώµατι ἀνθρώπων könnte dann gut eine theologisch präzisierte, auf ‫ ְכּבַר ֱאנָשׁ‬rekurrierende Bezeichnung für den sein, der bei aller Ähnlichkeit mit den Menschen als Menschensohn von diesen unterschieden und somit mehr als nur ein Mensch ist. Vgl. für weitere Argumente HÄUSSER, a.a.O., 278f. 70 JesLXX 45,23: ὅτι ἐµοὶ κάµψει πᾶν γόνυ καὶ ἐξοµολογήσεται πᾶσα γλῶσσα τῷ θεῷ.

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christologisch interpretiert, was in der Übertragung des höchsten Namens, also des Jahwe-Namens, zum Ausdruck kommt. Die Beispiele für Anklänge und Anspielungen ließen sich noch vermehren. Aber die genannten genügen, um die Verwurzelung des Wortes des Lebens, des Evangeliums, wie es in Phil 2,6–11 katechetisch entfaltet wird, in der atl.frühjüdischen Tradition sowie der Jesusüberlieferung zu zeigen. Nach N. Walter sind die Verfasser von Phil 2,6–11 in der antiochenischen Gemeinde oder unter jüdisch-hellenistischen Christen in Ephesus zu suchen, weil der Text „Elemente hellenistischer Popularphilosophie und die Kenntnis des AT in der Gestalt der Septuaginta voraussetzt“.71 Für Hengel sind Entstehungsort und -zeit dieses Textes letztlich ungewiss.72 Mangels Beweisen für eine aramäische Grundlage hält er eine Jerusalemer Herkunft für relativ unwahrscheinlich. Allerdings lässt sich ein griechischsprachiger Ursprung genauso wenig eindeutig verifizieren. Hinweise auf eine judenchristliche Herkunft dieses katechetischen Summariums sind die Wiedergabe des Tetragramms mit τὸ ὄνοµα (V. 9) und die mit J. Jeremias zu vermutende Abhängigkeit der Wendung ἑαυτὸν ἐκένωσεν vom hebräischen Text von Jes 53,12.73 Der parallelismus membrorum ist allenfalls ein Indiz, weil er zwar für die semitische Poesie typisch, aber nicht auf sie beschränkt ist.74 Das FastZitat aus JesLXX 45,23 in Phil 2,10f. spricht für eine LXX-Rezeption. Eine semitische Vorlage ist möglich,75 eindeutig entscheiden lässt sich die Frage der Sprache der Urfassung aber nicht. Sicher ist, dass für des Hebräischen bzw. des Aramäischen unkundige Hellenisten schon in Palästina eine griechische Übersetzung benötigt wurde. In unserem Zusammenhang ist vor allem wichtig, dass dieser Text eine judenchristliche Christologie bzw. Messiasvorstellung spiegelt. Auch in der paganen Welt, wie z.B. in Philippi, wird kein anderes Evangelium gepredigt als das des Christus. Dieses Evangelium eines jüdischen Messias wird von Paulus verkündigt. Und – dies soll auch durch die Gemeinde geschehen.

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WALTER, Philipper, 59. Für die Rückführung von Phil 2,6–11 auf das hellenistische Judenchristentum vgl. STRECKER, Theologie, 78. 72 Vgl. HENGEL, Präexistenz, 485f. 73 Nach JEREMIAS, Gedankenführung, 275, Anm. 22, ist dieser Ausdruck „im Griechischen nirgendwo belegt und grammatisch außerordentlich hart“ und nur als korrekte Wiedergabe des hebräischen ‫( ֶהע ֱָרה ַל ָמּ וֶת נַפְשׁוֹ‬Jes 53,12) zu begreifen, wobei diese reflexive Wendung auch im Hebräischen singulär ist (vgl. DERS., Zu Philipper 2,7, 310). 74 Insofern ist das Urteil von HOOKER, Philippians 2:6–11, 157, zu Phil 2 (“It is certainly not Greek poetry.”) nicht sicher. 75 Für die Möglichkeit einer Rückübersetzung von Phil 2,6–11 in das Aramäische des 1. Jh. vgl. GRELOT, Philippiens 2,6–11, 184–186; FITZMYER, Background, 470–483. Zur Annahme einer semitischen Vorlage neigen auch RIESNER, Christologie, 240; ELLIS, Making, 68.

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E. Der Beitrag in Form personeller Unterstützung Auf diesen Beitrag kann hier nur sehr kurz eingegangen werden.76 In Phil 2,25 bezeichnet Paulus Epaphroditus als einen Bruder, Mitarbeiter und Mitstreiter. Er arbeitet ebenfalls – gemeinsam mit Paulus – am Werk der Mission und Verkündigung, und er war bereit dabei sein Leben zu riskieren (vgl. 2,30). Wichtig ist hier: Epaphroditus ist Gesandter (ἀπόστολος) der Gemeinde in Philippi. Die Gemeinde übernimmt also Mitverantwortung für die Mission und unterstützt diese personell. Epaphroditus ist zudem Diener (λειτουργός) von Paulus. Stellvertretend für die Philipper nimmt er den (priesterlichen) Dienst in der Ausrichtung des Evangeliums wahr. Auch Paulus nennt sich in Röm 15,16 einen λειτουργός Christi, der das Evangelium priesterlich ausrichtet (ἱερουργεῖν). Nicht eindeutig klären lässt sich, wie genau das συναθλεῖν (Phil 1,27; 4,3) gestaltet war. Es ist sicher Ausdruck des mit Paulus geteilten Anliegens und der gemeinsamen Ausrichtung, offen bleibt aber der Ort dieses Mitkämpfens.

F. Der Beitrag in Form finanzieller Unterstützung – Geben und Nehmen (Phil 4,10–20, bes. V. 15) In Phil 4,10–20 kommt Paulus auf die finanzielle Unterstützung seitens der Gemeinde zu sprechen.77 Durch diese leistet die Gemeinde in Philippi einen Beitrag zur Verkündigung des Messias in der paganen Welt und dies über Philippi hinaus, z.B. in Thessalonich (Phil 4,16) und Korinth (2Kor 11,9). Die Auslegung des Abschnitts Phil 4,10–20 gehört zu den umstrittensten Fragen in der Philipperforschung.78 Einig ist man sich, dass Phil 4,10–20 ein Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses zwischen Paulus und der Gemeinde in Philippi ist. Diverse Monographien und Artikel über diese Beziehung kommen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen.79 76

Ausführlicher zu Phil 2,25–30 vgl. HÄUSSER, Philipper, 193f.199–208. Im Hinblick auf Phil 4,10–20 wird in der Forschung oft von einem „danklosen Dank“ gesprochen. Dass Paulus seinen Dank gegenüber den Philippern nicht explizit formuliert, könnte daran liegen, dass ein verbaler Dank zwischen Freunden gemäß den sozialen Konventionen der Antike unüblich war. Er hätte fälschlicherweise als Aufforderung zu weiteren Spenden verstanden werden können (vgl. PETERMAN, Thanks, 261–270; DERS., Paul’s Gift, 73–83.158.196). Außerdem könnte die Zurückhaltung daraus resultieren, dass für Paulus der Dank Gott, dem eigentlichen Geber der Gabe, gebührt (so Briones, s.u.). 78 Dies hat mit Fragen der literarischen Integrität zu tun, manche sehen in 4,10–20 einen eigenen Dankbrief. Mit SCHNELLE, Einleitung, 157–160, kann an der Einheitlichkeit des Philipperbriefes festgehalten werden. 79 Vgl. BORMANN, Philippi, passim; PETERMAN, Paul’s Gift, passim; OGEREAU, Koinonia, passim. Wichtige Aufsätze sind BRIONES, Thanks, passim; BETZ, The Cost of Mission, 77

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In V. 10 verleiht Paulus seiner Freude Ausdruck, dass die Philipper wieder aufgeblüht sind in Bezug auf die Fürsorge für Paulus. Sie hatten sich auf diese ausgerichtet (φρονεῖν τὸ ὑπὲρ ἐµοῦ), aber es fehlten Gelegenheit und Möglichkeit. Die Fürsorge geschieht reziprok, denn eine fürsorgliche Haltung zeigt auch Paulus (vgl. 1,24f.). Die Haltung des φρονεῖν vertieft die Beziehung, wobei die Gabe die Echtheit des φρονεῖν bestätigt. In der griechischrömischen Philosophie hat die Einstellung für eine Freundschaft Priorität gegenüber der Unterstützungsleistung.80 Aristoteles kritisiert, dass oft die, die einem nützlich sind, für Freunde gehalten werden (EthNic 9.9). Seiner Meinung nach basiert Freundschaft auf der Tugend und weniger auf dem Gefallen oder dem Streben nach einem eigenen Nutzen aus der Freundschaft (EthNic 8.3–7). Auch die Stoa lehnt einen Utilitarismus für Freundschaft ab (vgl. Seneca, Ep 9,17). Cicero schreibt in Lael 51: „Die Freude kommt weniger aus dem durch einen Freund gewonnenen Nutzen, als vielmehr aus der Liebe des Freundes selbst.“ Cicero sieht den Ursprung der Freundschaft mehr in dem ureigenen Wesen und in dem Liebesempfinden als in der Überlegung, einen wie großen Vorteil (utilitas) die Freundschaft bringen wird (Lael 27– 28). Vielmehr liebe man um der Tugend willen selbst solche Menschen, die man noch nie gesehen habe. Hinsichtlich der Philipper ist festzuhalten: Ihre Gabe entspringt der Liebe81 und ist keinesfalls eine Erstattung für Dienste, noch resultiert sie aus einer generellen christlichen Verpflichtung. Diese Perspektive lässt sich nicht mit der von Bormann und D. Briones vereinbaren. Bormanns These sei hier nur kurz skizziert.82 Er versteht Phil 4,10–20 im Lichte der hellenistisch-römischen Struktur von Patron (Paulus) und Klientel (Gemeinde in Philippi). Weil Paulus wie auch das Evangelium angeklagt ist, sind die Philipper zur Unterstützung von Paulus herausgefordert und verpflichtet. Mit ihrer finanziellen Hilfeleistung hätten sie ein „Guthaben“ bei Paulus, für dessen Ausgleich Paulus, abweichend von Senecas Konzeption hinsichtlich beneficium, auf Gott verweist (Phil 4,19). In ähnlicher Weise knüpft auch Briones an solche hellenistisch-römische soziale Konventionen an.83 Er nimmt das Beziehungsdreieck bestehend aus Paulus, den Philippern und Gott in den Blick, wobei sich die Zuordnung signifikant von der bei Bormann unterscheidet: Gott ist der Patron, die Philipper sind die Vermittler, und Paulus ist der Klient. Der Vermittler überbringt z.B. Botschaften oder Güter vom Patron zur Klientel, die wiederum ihren Dank an den Patron richtet, wobei der Dank vom Vermittler überbracht werden konnpassim. Für einen ausführlichen Forschungsüberblick und eine kritische Würdigung der verschiedenen Thesen vgl. SCHLIESSER, Paulus, 33–119. 80 Vgl. zum Folgenden BERRY, Language, 110–112. 81 Vgl. DICKSON, Mission-Commitment, 204. 82 Für eine ausführlichere Auseinandersetzung vgl. HÄUSSER, Philipper, 306f. 83 Vgl. BRIONES, Thanks, 47–69.

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te. Briones tritt für ein theologisches Beziehungsmodell ein. In 4,10–20 stellt Paulus seine materielle Unabhängigkeit von den Philippern und seine Genügsamkeit in Gott heraus, womit nicht gesagt ist, dass Paulus die Philipper nicht auch als Vermittler braucht; sein Dank richtet sich aber an Gott, den eigentlichen Geber. Von V. 16 und 19 her wird die Beziehung von Paulus und den Philippern als reziprok verstanden, so dass die Rollen des Vermittlers und der Klientel wechselseitig wahrgenommen werden, wobei Gott in jedem Fall der Patron ist. Gegen dieses Modell ist einzuwenden, dass der Text nichts davon sagt, dass “the Philippians will also depend on God’s heavenly riches through Paul or another.”84 Und wenn den Philippern in V. 19 eine Erstattung ihrer Gabe an Paulus zugesagt wird, dann geschieht diese ohne die Vermittlung durch Paulus. Insofern gibt es keine hinreichenden Gründe für die Reziprozität des Vermittlungsprozesses. Paulus stellt heraus, dass er zwar nicht von der Gabe abhängig ist, aber in 4,14 wird die Gabe, die er nicht gesucht hat, von ihm als Ausdruck der Partnerschaft wertgeschätzt. Paulus zielt nicht so sehr auf die Unterstützung an sich ab, sondern maßgeblich ist für ihn die Beziehung zur Gemeinde. Im Anschluss an J.B. Lightfoot kann man mit G.W. Hansen sagen: “His focus is more on their close relationship with him than on the support they gave him.”85 Paulus lobt ausdrücklich, dass die Gemeinde als ganze intensiv Anteil an seiner Bedrängnis genommen hat (συγκοινωνεῖν), nicht nur durch die Gabe86, sondern auch durch die Sendung von Epaphroditus. Mit dem Geld konnten Christen am Haftort Güter zur Versorgung von Paulus kaufen.87 Die Unterstützung der paulinischen Mission leisteten die Philipper vom Anfang des Evangeliums an, also seit der Mission des Paulus im Umkreis von Philippi.88 Die Unterstützung ist die Reaktion der Glaubenden bzw. der Gemeinde auf den Empfang des Evangeliums. Diese Partnerschaft am Evangelium (vgl. 1,5) umfasst bei den Philippern auch eine finanzielle Komponente. Sie ist exklusiv, d.h. sie bestand von Paulus ausschließlich zur Gemeinde in Philippi. Exegetisch besonders umstritten ist die Wendung κοινωνεῖν εἰς λόγον δόσεως καὶ λήµψεως (Teilhaben an der Sache des Gebens und Nehmens) in Phil 84

BRIONES, Thanks, 61. HANSEN, Philippians, 316. Paulus’ warmherziges Lob der Gemeinde für ihre Unterstützung widerlegt das Postulat von PETERLIN, Disunity, 216: “The church to which Paul was writing was divided over the allegiance to him, and he knew it.” Paulus argumentiert nirgends explizit gegen solche Kritiker, was auch PETERLIN, a.a.O., 215, zugesteht. Es gibt im Philipperbrief keine Hinweise dafür, dass die paulinische Mahnung zur Einheit auf eine Uneinigkeit der Gemeinde in der Frage der Unterstützung bezogen ist. 86 Weil die Gabe über eine längere Strecke hinweg transportiert werden musste, dürfte es sich um eine finanzielle gehandelt haben. 87 Vgl. LÖHR, Lohn, 195. 88 Vgl. schon PLUMMER, Philippians, 103; jetzt MÜLLER, Philipper, 207. 85

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4,15. Bauer/Aland bestimmen εἰς λόγον als einen kaufmännischen terminus technicus mit der Bedeutung „in gegenseitiger Abrechnung“.89 Die Deutung der Wendung als „Geschäftsausdruck“90 (so vermutlich auch in SirLXX 41,21; 42,7) ist mit kleinen Nuancen verbreitet.91 Die Deutung dieser kaufmännischen Terminologie im Hinblick auf das Verhältnis von Paulus zu den Philippern ist jedoch sehr kontrovers. Drei wichtige Positionen seien hier genannt: 1. der Bezug auf die societas (J.M. Ogereau): Vorausgesetzt ist dabei eine Partnerschaft von Paulus und den Philippern auf Grundlage der societas.92 Die societas sei die etablierte griechisch-römische Konzeption von sozioökonomischer Partnerschaft gewesen.93 Weniger der juristische Status garantiere die Sicherheit dieser societas, sondern dies leiste zuallererst der Konsens zwischen den socii. Genauer bestimmen lässt sich die Partnerschaft als societas unius rei. Sie ist also auf ein besonderes Ziel ausgerichtet.94 Die Philipper steuern in dieser Partnerschaft die pecunia bei und Paulus die opera und ars.95 Dabei stehe λόγος δόσεως καὶ λήµψεως für einen gemeinsamen Fonds, in den die Philipper einzahlten und aus dem Paulus Geld für die Deckung der Kosten seiner Missionsarbeit entnehmen konnte.96 Zur Vorsicht gegenüber Ogereaus These sollte mahnen, dass in Phil 2,1; 3,10 ein Verständnis von κοινωνία im Konzept einer sozio-ökonomischen Partnerschaft nicht greift. Weiter gründet nach der paulinischen Ekklesiologie eine christliche Gemeinschaft in Christus und nicht auf einer wie auch immer gearteten Übereinkunft der jeweiligen Partner.97 2. der Bezug auf Konto, Fonds, Quittungsschreiben (H.D. Betz): Nach Betz handelt es sich bei Phil 4,10–20 um eine Art Quittungsschreiben, mit dem die Legitimität von Herkunft und Bestimmung der Gelder bestätigt wer-

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Vgl. BAUER/ALAND, Wörterbuch, 971. Vgl. MOULTON/MILLIGAN, Vocabulary, 379; LOHMEYER, Philipper, 185, Anm. 2; HAUCK, Art. κοινός κτλ., 809; MÜLLER, Philipper, 207, Anm. 81. 91 O’BRIEN, Philippians, 538f.; BETZ, Cost, 120, verstehen die Wendung im Sinne von „auf das Konto von“ und MÜLLER , ebd., im Sinne von „zur Abrechnung von Ausgabe und Einnahme“. Nach MARTIN/HAWTHORNE, Philippians, 270, steht die Wendung für „the debit and credit sides of the ledger“. 92 Diese These findet sich früher schon bei SAMPLEY, Partnership, 51–62, nach dem in dieser societas die Philipper für die Ausgaben der paulinischen Missionstätigkeit aufkamen. Sampley hat aber wenig Zuspruch erfahren. Zur Kritik der These von Sampley vgl. PETERMAN, Paul’s Gift, 123–127; BERRY, Language, 118f. 93 Vgl. OGEREAU, Koinonia, 311–316.326.348. 94 Vgl. OGEREAU, a.a.O., 337f. 95 Vgl. OGEREAU, a.a.O., 349. 96 Vgl. OGEREAU, a.a.O., 288f. 97 Vgl. SCHLIESSER, Paulus, 53f. Schließer kritisiert an der societas-These weiter, dass sie auf verschiedenen Konstruktionen, die unsicher bleiben, basiert und „vorschnell von sprachlichen auf sachliche Konvergenzen schließt“ (a.a.O., 51). 90

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den konnte, z.B. gegenüber staatlichen Autoritäten.98 Beweisen lässt sich dies nicht. Nach Betz liegt der Verpflichtung in Phil 4,10–20 ein einvernehmlich geschlossener Vertrag (κοινωνία) zugrunde.99 Gemäß der Rekonstruktion von Betz haben nämlich Paulus und die Philipper nach der Gemeindegründung exklusiv (und wahrscheinlich mündlich) einen formellen Vertrag über die Bildung eines speziellen Fonds geschlossen.100 Dieser habe der Unterstützung der paulinischen Mission gedient. Damit hätten die Philipper zugleich akzeptiert, Missionspartner des Apostels zu sein. Wenn man aber keine Briefteilung voraussetzt, ist die These von Betz, dass Phil 4,10–20 als ein Quittungsschreiben zu bestimmen ist, nicht plausibel. Zudem bleibt es weitgehend unklar (um nicht zu sagen fraglich), wie genau das Zahlungssystem und die Finanztransaktionen ausgesehen haben sollen und können. 3. die Reziprozität innerhalb von Freundschaft (P. Marshall, G.W. Peterman): Hier wird die Finanz- bzw. Wirtschaftsterminologie als metaphorisch gebraucht verstanden. Paulus hat sie in diesem nichttechnischen Sinn auf seine Freundschaftsbeziehung zu den Philippern anwenden können.101 Es ist das Verdienst von Marshall, mit vielen Belegstellen von paganen griechisch-römischen Autoren (Aristoteles, Cicero, Seneca) gezeigt zu haben, dass εἰς λόγον δόσεως καὶ λήµψεως nicht nur in Geschäftszusammenhängen verwendet wurde, sondern auch für die Reziprozität sowie den Austausch von Gefälligkeiten innerhalb einer Freundschaft.102 Marshall resümiert: “κοινωνεῖν εἰς λόγον δόσεως καὶ λήµψεως is an idiomatic expression indicating friendship.”103 Auch Cicero bejaht solchen gegenseitigen Austausch als einen integralen Bestandteil von Freundschaft. Er stellt in Off 1,56 heraus, dass das Geben und Nehmen die Freundschaft stärken. Mit dem Geben und Nehmen sieht Marshall das Element einer gegenseitigen Verpflichtung104 zwischen Paulus und den Philippern verbunden. Mit Recht wird dies von Peterman als eine zu 98

Vgl. BETZ, Cost, 124. Vgl. BETZ, ebd. 100 Vgl. BETZ, a.a.O., 128f. 101 Vgl. für diese Position z.B. HANSEN, Philippians, 318f., der explizit auf PETERMAN, Paul’s Gift, 51–89, verweist. 102 Vgl. MARSHALL, Enmity, 160–164. Reziprozität ist auch in säkularen lateinischen und griechischen Briefen ein Charakteristikum für Freundschaft, vgl. MARSHALL, a.a.O., 113–115. Zum Gebrauch dieser Wendung in der atl.-frühjüdischen Literatur vgl. PETERMAN, a.a.O., 22–50, zur griechisch-römischen Literatur vgl. a.a.O., 51–89 (mit vielen Belegen von Platon, Aristoteles, Seneca u.a.). Vgl. außerdem MARSHALL, a.a.O., 157–164; ihm folgend BERRY, Language, 118f., mit zahlreichen Belegen bei Aristoteles, Cicero, Seneca (Ep 81,12; Ben 1,4,2). Die Mahnung von SCHLIESSER, Paulus, 75, zur Vorsicht, wenn philosophische Entwürfe mit einem ntl. Gelegenheitsschreiben verglichen werden, ist ernst zu nehmen, schließt aber einen solchen Vergleich auch nicht aus. 103 MARSHALL, a.a.O., 163; ihm folgend WALTON, Paul, 228. 104 MARSHALL, a.a.O., 173, spricht von „mutual obligations“. 99

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einfache bzw. zu schnelle Übertragung griechisch-römischer Vorstellungen auf die Beziehung zwischen Paulus und den Philippern kritisiert. Von einer sozialen Verpflichtung ist im Philipperbrief nicht betont die Rede.105 Paulus ist mit der Annahme weder der Gabe der Philipper noch von anderen Hilfen (Epaphroditus) eine soziale Verpflichtung gegenüber der Gemeinde eingegangen. Die Argumentation und Sprache in V. 14–19 zeigen, dass Paulus keinerlei Verpflichtung gegenüber den Philippern sieht, auch nicht im Sinne einer Beziehung zwischen Patron und Klientel. Weder klagt er über seine Situation, noch hat er um Hilfe gebeten. R.S. Ascough weist darauf hin, dass der Unterstützung seitens des Patrons meist die Bitte der Klientel an diesen vorausging.106 Paulus nimmt, so Peterman, Anleihen beim antiken Benefizialwesen, wobei er sich als Wohltäter der Gemeinde in Philippi versteht, der das Evangelium gibt.107 Unter Berücksichtigung des Kontextes des Briefes insgesamt ist die paulinische Aussage über das κοινωνεῖν εἰς λόγον δόσεως καὶ λήµψεως vor dem Hintergrund der antiken Freundschaftskonzeption und des Benefizialwesens zu interpretieren.108 Insofern sollte – gegen Bormann – die Beziehung zwischen Paulus und den Philippern nicht primär als Beziehung zwischen Patron und Klientel rekonstruiert werden. Durch ihre Gabe, die Paulus angenommen hat, sind die Philipper Partner des Apostels an der Verkündigung des Evangeliums geworden, wobei diese auch an anderen Orten geschieht.109 Ganz abwegig ist die Annahme, die Gabe der Philipper sei eine Erstattung oder Bezahlung für die paulinische Mission in Philippi. Die Gabe ist vielmehr Ausdruck der gemeinsamen Partnerschaft in der Mission. Nach Dickson war Paulus vermutlich erst durch die Gaben der von ihm in Philippi gegründeten Gemeinde bei seinen weiteren Reisen nicht mehr auf die finanzielle Unterstützung der jeweiligen Gemeinde am Ort seiner Mission angewiesen.110 Trotz der Spende der Philipper arbeitete Paulus offenbar neben seiner Verkündigung auch als Zeltmacher, wobei die Handwerksarbeit ihm eventuell auch missionarische Möglichkeiten eröffnete.111 Das „Geben und Nehmen“ ist aber nicht ausschließlich auf materielle Dinge zu beziehen, sondern auch auf geistliche.112 Die Partnerschaft sollte man 105

Vgl. PETERMAN, Paul’s Gift, 146–148. Vgl. ASCOUGH, Associations, 154f. 107 Vgl. PETERMAN, a.a.O., 197. 108 Vgl. PETERMAN, a.a.O., 147. PETERMAN, a.a.O., 148, bestreitet in Auseinandersetzung mit HAINZ, KOINONIA, 69, die Möglichkeit, von Gal 6,6 her die Verpflichtung zur finanziellen Unterstützung der eigenen Lehrer, verstanden als eine Form von Dank, auf den Philipperbrief zu übertragen. 109 Vgl. PETERMAN, a.a.O., 151.159. 110 Vgl. DICKSON, Mission-Commitment, 208–212. 111 Vgl. WALTON, Paul, 232. 112 So schon CHRYSOSTOMUS, Ad Philippenses, 290f. 106

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nicht auf eine Wirtschaftsbeziehung reduzieren,113 wie schon die in 1,5 herausgestellte Partnerschaft in der Evangeliumsverkündigung zeigt. Paulus greift hier zwar auf die Terminologie für materiellen Austausch zurück, verwendet sie aber als Metaphern für geistliche Transaktionen.114 κοινωνεῖν εἰς λόγον δόσεως καὶ λήµψεως deutet darauf hin, dass die Partnerschaft geistlich motiviert ist. Sie besteht u.a. darin, dass Paulus das Evangelium verkündigt, auch in Philippi, und dass die Gemeinde ihn mit ihrer Gabe unterstützt. Wiederholt (V. 16) haben die Philipper Paulus unterstützt, aber offenbar nur dann, wenn Paulus an einem anderen Ort als Philippi missioniert hat. Peterman folgert mit Recht: “They are not exactly giving back for his teaching but are partners with him to bring the teaching to others.”115 Indem Paulus kein Geld von der Gemeinde am jeweiligen Ort seiner Verkündigung annahm (2Kor 2,17; vgl. 11,8–9) wahrte er seine Unabhängigkeit bei der Verkündigung seiner unpopulären Botschaft (1Kor 1,22f.).116 Außerdem wusste er sich zu seinem Dienst von Gott gedrängt (1Kor 9,16). Zugleich konnte er mit dem Verzicht auf „Entlohnung“ den Charakter des Evangeliums als eines „kostenfreien“ Angebotes Gottes an alle unterstreichen.117 Dass Paulus die finanzielle Unterstützung seitens der Philipper für die Gründung anderer Gemeinden verwendete, entsprach nicht der in weltlichen Vereinen üblichen Praxis118 und unterstreicht umso mehr die Besonderheit der Beziehung zwischen Paulus und der Gemeinde in Philippi. Diese betrifft noch weitere Aspekte, z.B. die gegenseitige Anteilnahme an Freud (Phil 2,18f.) und Leid (Phil 4,14). Paulus geht es um die geistliche Frucht (V. 17), und zwar zugunsten der Philipper. Die kaufmännische Terminologie εἰς λόγον ὑµῶν dürfte nämlich im Sinne von „einem Guthaben auf einem Konto“ zu deuten sein, wobei es hier um eine geistliche Investition geht.119 Paulus’ Interesse zielt nicht auf die Gabe bzw. seinen eigenen Vorteil, sondern auf den Geber bzw. den geistlichen Fortschritt der Gemeinde.120 Dabei ist für ihn das Handeln Gottes im Leben der Philipper entscheidend. Seine Beziehung zu ihnen versteht Paulus als eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Die Gabe seiner Partner interpretiert er theozentrisch, und er nimmt sie an als eine Gabe, die letztlich von Gott selbst kommt, der mit der Gabe geehrt wird (Phil 4,18.20).

113

Gegen MARTIN/HAWTHORNE, Philippians, 270. Vgl. HANSEN, Philippians, 319. 115 PETERMAN, Paul’s Gift, 151. 116 Paulus stand also nicht in der Gefahr, sich bei seiner Predigt von Geldgebern vor Ort inhaltlich leiten zu lassen. 117 Vgl. dazu WALTON, Paul, 224.232. 118 Vgl. ASCOUGH, Associations, 152f. 119 Vgl. MARTIN/HAWTHORNE, Philippians, 271. 120 So auch BERRY, Language, 120; PETERMAN, a.a.O., 151f. HENDRIKSEN, Philippians, 208: “It was not the gift but the giver that was the object of Paul’s concern.” 114

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Im Hinblick auf das Verhältnis von Paulus und den Philippern zueinander kann man von einer „,Neukonfiguration‘ vorhandener Paradigmen und Denkmuster“121 sprechen. Bei dieser sind insbesondere die Anknüpfungen an die antike Freundschaftsrhetorik und das Benefizialwesen zu beachten. Allerdings überschreitet die Beziehung zwischen Paulus und den Philippern die Grenzen dieser sozialen Konventionen, indem und weil ihre Partnerschaft entscheidend durch Christus bestimmt ist.

G. Fazit Der Fokus dieser Untersuchung lag auf der Gemeinde in Philippi. Zumindest für diese lässt sich sagen, dass sie in mehrfacher Hinsicht einen maßgeblichen Beitrag zur Mission des Paulus leistet und so an der Verkündigung des jüdischen Messias in der paganen Welt mitwirkt. In der Partnerschaft mit Paulus umfasst ihr Beitrag die eigene Verkündigung des Evangeliums, die Sendung (mindestens) eines Mitarbeiters und die finanzielle Unterstützung des Apostels. Im Hinblick auf Letzteres erwartet Paulus, dass Gott an seiner Stelle dies kompensiert und die Bedürfnisse der Philipper stillt (V. 19). J.B. Lightfoot hat dies auf den Punkt gebracht: “You have supplied all my wants (vv. 16, 18), God on my behalf shall supply all yours.”122 Vielleicht darf man dies auch auf den Beitrag der Gemeinde insgesamt ausweiten.

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121 122

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Paulus und die coloniae Warum der Apostel nicht der einzige römische Bürger unter den frühen Christen war Alexander Weiß Abstract: Whether or not Paul was a Roman citizen, a considerable number of people among the early Christians must have possessed Roman citizenship, for there are several Roman coloniae among the cities where Christian communities came into existence through Paul’s missionary activities (e.g. Pisidian Antioch, Philippi, Corinth). Although we cannot give any definitive figures regarding the relative proportion of citizens and noncitizens, it is very likely that the (vast) majority of inhabitants in the coloniae had Roman citizenship. If, as the so-called ‘new consensus’ supposes, the early Christian communities represented a cross-section of their local societies, there must have been a significant number of Roman citizens among the early Christians in the Roman coloniae. This article attempts to substantiate this hypothesis.

A. Das römische Bürgerrecht des Paulus Mit der Frage nach dem römischen Bürgerrecht des Paulus hat sich Rainer Riesner in einem von drei Exkursen im Rahmen seiner Habilitationsschrift befasst, damals vor allem in kritischer Auseinandersetzung mit einem kurz zuvor erschienenen Beitrag von Wolfgang Stegemann, der seither vielfach als Präponent für die Position zitiert wird, der Apostel habe das römische Bürgerrecht wohl eher nicht besessen. Stegemann hatte einen mittlerweile klassischen Kanon von Argumenten vorgetragen, darunter einige sozialhistorische, mit denen er seine Skepsis begründen wollte.1 Riesner hingegen maß keinem der Einwände entscheidende Durchschlagskraft zu und folgte der Darstellung der Apostelgeschichte, der zufolge Paulus ein civis Romanus, und zwar von Geburt an, gewesen sei.2 Dem soll gerade aus sozialhistorischer Perspektive an dieser Stelle gleichsam als Addendum eine kleine, aber grundsätzliche Beobachtung hinzugefügt werden: Stegemann scheint die Besitzer des römischen Bürgerrechts im griechischen Osten mit der lokalen sozialen Elite zu

1 2

W. STEGEMANN, Bürger, passim. RIESNER, Frühzeit, 129–139.

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Alexander Weiß

identifizieren3 und Paulus vor allem deswegen das römische Bürgerrecht abzusprechen, weil er ihn nicht als Angehörigen der sozialen Elite betrachtet. Stegemann ist zwar insofern recht zu geben, als er den Besitz des römischen Bürgerrechts als Hinweis auf einen relativ höheren sozialen Status ansieht, insbesondere im griechischsprachigen Teil des römischen Reiches, aber es ist eben nur ein Hinweis auf einen relativ höheren Status, denn das Personenrecht ist nur ein Kriterium zur Bestimmung des sozialen Status, der sich aus vielen weiteren Variablen zusammensetzt und daher nicht immer eindeutig zu bestimmen ist.4 Mit der Annahme, Paulus habe das römische Bürgerrecht besessen, und einer damit verbundenen Gewichtung des historischen Quellenwertes der Apostelgeschichte stand und steht Riesner nicht alleine. Diese Position ist seither von neutestamentlicher Seite vor allem in einer umfangreichen Behandlung des Themas durch Heike Omerzu vertreten worden, welche die Angaben des Lukas zum römischen Bürgerrecht des Paulus für „historisch zutreffend“ hält.5 Es finden sich aber weiterhin alle Positionen gleichmäßig verteilt, von einer ungebrochen vorhandenen Skepsis, nach der es unwahrscheinlich gewesen wäre, dass Paulus das römische Bürgerrecht besessen habe,6 bis hin zur gleichsam selbstverständlich vorgetragenen Behauptung, wir wüssten, dass Paulus römischer Bürger gewesen sei7 – und alle möglichen Schattierungen dazwischen.8 Einen im Vergleich dazu „idyllischen Befund“ – so Peter Pilhofer9 – bietet die altertumswissenschaftliche Landschaft in ihren Beiträgen zum römischen Bürgerrecht des Paulus. Von Theodor Mommsen über Sir William M. Ramsay, Eduard Meyer, Adrian Nicholas Sherwin-White und Wilfried Nippel bis hin zum jüngsten Beitrag von Ekkehard Weber zieht sich

3 So W. STEGEMANN, Bürger, 213f.226; vgl. auch E.W. STEGEMANN/W. STEGEMANN, Sozialgeschichte, 256f. Dass die Inhaber des römischen Bürgerrechts im griechischen Osten mit der lokalen Elite zu identifizieren wären, findet sich schon bei MOMMSEN, Rechtsverhältnisse, 82. 4 So zu Recht MEEKS, Christians, 54; vgl. zuvor schon JUDGE, Society, 25 (= Distinctives, 82). 5 OMERZU, Prozeß, 27–52. 6 Z.B. STANDHARTINGER, Letter, 109: “in my opinion […] improbable”. 7 BAUCKHAM, Names, 372: “we know that Paul was a Roman citizen”. Auch THEISSEN, Studien, 266, ging ganz selbstverständlich davon aus, Paulus sei römischer Bürger gewesen. 8 Eher skeptisch zuletzt z.B. PILHOFER, Bürgerrecht, 75: „wahrscheinlicher […], daß Paulus das römische Bürgerrecht nicht besessen hat“, sowie KOCH, Geschichte, 345–350. Auf der anderen Seite unter den jüngsten Äußerungen z.B. SCHNELLE, Paulus, 42–44, und ADAMS, Paul, passim; vgl. aber auch schon LÜDEMANN, Christentum, 249f.; HENGEL, Paulus, 84–99; SCHÜRER, History, 133. 9 PILHOFER, Bürgerrecht, 64.

Paulus und die coloniae

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die Galerie der viri illustres, welche Paulus als römischen Bürger sehen.10 Allein für Karl Leo Noethlichs neigt sich die Waagschale auf die andere Seite, doch sein Schlussargument bleibt schwach: Es gebe im 1. Jh. insgesamt kaum Belege für kleinasiatisch-syrische Juden mit römischem Bürgerrecht.11

B. Paulus war nicht der einzige römische Bürger unter den frühen Christen Die These dieses Beitrags lautet zugespitzt: Paulus war nicht der einzige römische Bürger unter den frühen Christen. Oder etwas weniger provokativ: Es gab eine ganze Reihe von römischen Bürgern unter den frühen Christen, unabhängig davon, ob Paulus dazuzurechnen ist oder nicht. Wenn dies so ist, könnte allerdings vielleicht auch der gesamte Streit um die Frage, ob und wenn ja warum der Verfasser der Apostelgeschichte den Paulus als römischen Bürger darstellt, etwas an Schärfe verlieren. Es ist dann zwar immer noch möglich, dass der Verfasser der Apostelgeschichte die Paulus-Traditionen, die ihm vorlagen, missverstanden oder gar das römische Bürgerrecht des Paulus fingiert hat. Aber insbesondere Letzteres erscheint dann weniger plausibel. Wenn der Apostel letztendlich nur einer von vielen römischen Bürgern unter den frühen Christen war, war es für den Acta-Verfasser überflüssig, das römische Bürgerrecht des Paulus zu fingieren, um den „Neuen Weg“ für römische Leser attraktiver zu machen.12

C. Personen mit lateinischen Eigennamen im Umfeld des Paulus Nun gibt es zwei Möglichkeiten, die These zu untermauern, außer Paulus hätten noch weitere Christen das römische Bürgerrecht besessen. Die erste Möglichkeit besteht in einer Untersuchung der Namen der Personen aus dem Umfeld des Paulus, die in der Apostelgeschichte und den paulinischen Briefen überliefert sind. Schon Sherwin-White hatte darauf hingewiesen, dass die lateinischen Eigennamen ein Hinweis auf römische Bürger unter den frühen Christen sein könnten, hielt die Angelegenheit aber insgesamt für zu unsicher. Nur Titius Iustus (Act 18,7) sei durch seine Nomenklatur als römischer 10 MOMMSEN, Rechtsverhältnisse, passim; MEYER, Ursprung, 308; SHERWIN-WHITE, Society, 144–162; NIPPEL, Paulus, passim; WEBER, Bürgerrecht, passim. 11 NOETHLICHS, Paulus, 83f. Dass epigraphische Belege weithin fehlen, bedeutet ja nicht, dass es das entsprechende Phänomen nicht gegeben hätte. Für das 2. Jh. n.Chr. gibt es (reichsweit) fast gar keine epigraphischen Belege für Christen. Daraus wird aber niemand schließen wollen, es habe im 2. Jh. fast gar keine Christen gegeben. 12 In diesem Sinne schon JUDGE, Base, 553.

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Bürger zu identifizieren, alle anderen Träger eines einfachen lateinischen Praenomen oder Cognomen betrachtet Sherwin-White eher als Personen peregrinen, also nicht-römischen Status’.13 Anders sind die lateinischen Namen in Acta und Paulus-Briefen von Judge gewertet worden. Ein Drittel der Personen “around St Paul” trügen lateinische Namen, dies allein sei schon ein bemerkenswert hoher Anteil. Von diesen hätten Judge zufolge wohl die meisten das römische Bürgerrecht besessen. Darüber hinaus hätten aber möglicherweise auch einige der Personen, welche einen griechischen Namen tragen, ebenfalls das römische Bürgerrecht besessen, darunter vor allem einige Personen aus der Grußliste in Röm 16. Es ist sicherlich möglich, dass auch unter denjenigen stadtrömischen Christen, welche griechische Namen trugen, einige das römische Bürgerrecht besaßen – beweisen lässt sich das bedauerlicherweise nicht. Bauckham hat außerdem darauf hingewiesen, dass ein beachtlicher Teil der Personen mit lateinischem Eigennamen mit mehr oder minder großer Wahrscheinlichkeit Juden gewesen sind und es für Juden verschiedene Gründe gab, lateinische Namen zu führen, die nicht auf das römische Bürgerrecht zurückzuführen sind.14 Während Sherwin-Whites minimalistische Position somit am einen Ende der Skala steht, repräsentiert Judges Annahme, möglicherweise seien über die Hälfte von “Paul’s associates” römische Bürger gewesen, das andere Ende.15 Die historische Wahrheit muss nicht unbedingt in der angeblich goldenen Mitte zwischen diesen beiden Polen liegen, denn die relativ hohe Zahl von Personen mit lateinischen Eigennamen im Umfeld des Paulus ist in der Tat auffällig und es wäre lohnenswert, sich dieser Frage noch einmal im Speziellen zu widmen. Letzteres soll hier nicht geleistet werden, aber dass dieser Befund eng verquickt ist mit der Frage nach dem römischen Bürgerrecht unter den frühen Christen, ist offensichtlich.

D. Paulinische Gemeinden in römischen coloniae Dass es durchaus wahrscheinlich, ja, ich möchte behaupten sogar ziemlich sicher ist, dass neben Paulus weitere der ersten Christen das römische Bürgerrecht besaßen, liegt an den Reiserouten des Apostels, der auf seinem Weg durch Kleinasien und Griechenland eine Reihe von Städten besuchte, welche durch einen besonderen Rechtsstatus privilegiert waren. Gemeint sind natürlich die coloniae, die Orte mit römischem Stadtrecht. Unter den Städten, in 13

Vgl. SHERWIN-WHITE, Society, 156–162 (zur Diskussion um die lateinischen Namen in Acta und Briefen insgesamt); a.a.O., 158 (zu Titius Iustus); a.a.O., 161 (zur abschließenden Einschätzung). 14 BAUCKHAM, Names, passim, zur Kritik an Judge s. a.a.O., 388–391. 15 JUDGE, Base, passim (bes. 553).

Paulus und die coloniae

345

welchen sich Paulus nach der Apostelgeschichte eine Zeit lang aufhielt und in denen infolge seines Aufenthaltes christliche Gemeinden entstanden oder wenigstens mit einer gewissen Zahl von Christen zu rechnen ist, besaßen die folgenden den Rechtsstatus einer colonia:16 das pisidische Antiochia (Act 13) Lystra (Act 14 und 16) Iconium (Act 14 und 16) Alexandria Troas (Act 16 und 20 sowie 2Kor 2,12) Philippi (Act 16 und 20, Phil sowie 1Thess 2,2) Korinth (Act 18, 1/2Kor, 2Tim 4,20)

„Brüder“ trifft Paulus darüber hinaus in folgenden coloniae: Ptolemais (Act 28,7) Puteoli (Act 28,13)

Außerdem hält er sich drei Tage in der colonia Syrakus auf (Act 28,12). Pilhofer zufolge ist die Tatsache, dass sich unter den ‚paulinischen‘ Städten eine Reihe von coloniae befinden, kein Zufall, sondern auf die Missionsstrategie des Paulus zurückzuführen. Paulus habe von Beginn an – oder zumindest von einem relativ frühen Zeitpunkt an – Rom und darüber hinaus vor allem Spanien, gleichsam das westliche Ende der Welt, als Ziel seiner Missionstätigkeit im Blick gehabt,17 und da er in diesen Teilen des Imperium Romanum mit einer stärker romanisierten und vor allem lateinischsprachigen Bevölkerung rechnen musste, habe er sich durch die Konzentration auf die coloniae, welche der spätere Kaiser Hadrian zurecht als kleine Abbilder Roms charakterisierte (Aulus Gellius, n.a. 16,13,4), gleichsam einer praeparatio Romana unterzogen, einer Vorbereitung auf die römische Kultur. Ob Paulus wirklich in diesem Sinne strategisch gedacht hat, lassen wir einmal dahingestellt. Die Route der ersten Missionsreise, auf welcher Paulus allein drei seiner sechs kleinasiatisch-griechischen coloniae kennenlernte, ist vielleicht eher als ad hoc-Itinerar zu verstehen.18 Aber Pilhofer ist sicher insofern 16 PILHOFER, Wurzeln, 162, führt in seiner Liste der paulinischen coloniae fälschlicherweise auch Derbe auf. Zu Derbe s. VON AULOCK, Münzen, 38–40, und TAYLOR, Empire, 1221–1224. Korinth hingegen fehlt in Pilhofers Liste, vermutlich weil es vorher in der Liste der Provinzhauptstädte vertreten ist. – Thessalonike, ebenfalls eine ‚paulinische‘ Stadt, wird erst in nachapostolischer Zeit colonia, wohl in der Mitte des 3. Jh. 17 In PILHOFER, Antiochien, passim (bes. 165), klingt es noch so, als hätte Paulus erst im Nachhinein aus seiner Kenntnis der coloniae Lehren für die Spanienmission gezogen. In DERS., Welt, 236, und DERS., Wurzeln, 161–163, bes. 162f., erscheint umgekehrt der Besuch der coloniae als ein zielgerichtetes Propädeutikum für die Spanienmission. 18 Dazu WEISS, Elite, 73f.

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recht zu geben, als Paulus in den entsprechenden Städten in einem viel größeren Ausmaß auf in jeglicher Hinsicht römische Strukturen traf. Einen Aspekt dieses Aufeinandertreffens nimmt Pilhofer allerdings, wenn ich nichts übersehen habe, nicht in den Blick: Ein großer Teil der Einwohnerschaft einer römischen colonia besaß das römische Bürgerrecht. Dies hat eine simple, aber nicht unbedeutende Konsequenz: Es ist äußerst wahrscheinlich, dass auch unter den frühen Christen, zumindest in den entsprechenden Städten, eine nicht unerhebliche Zahl das römische Bürgerrecht besaß.

E. Wenn christliche Gemeinden Querschnitt durch die lokale Gesellschaft bildeten, waren in coloniae römische Bürger unter den Christen Für diese Schlussfolgerung spricht zunächst einmal eine ganz allgemeine Überlegung. Es gibt mittlerweile einen gewissen Konsens – oder sagen wir etwas vorsichtiger: die unter Sozialhistorikern des frühen Christentums verbreitete Auffassung –, dass die frühchristlichen Gemeinden hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft, das heißt in praxi der lokalen Gesellschaft der jeweiligen Stadt darstellten.19 Wenn dies auch in den coloniae gilt – und nichts spricht prima facie dagegen –, dann müssten wir dort gleichsam zwangsläufig unter den Christen auch Personen mit römischem Bürgerrecht finden. Wenn man also dem ‚new consensus‘ hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung der frühen, städtischen Gemeinden folgt, könnte man den Beitrag an dieser Stelle eigentlich abschließen: Quod erat demonstrandum. Aber selbst wenn man ihm folgt, möchte man sich damit natürlich nicht zufrieden geben. Je nachdem wie hoch der Anteil der Personen mit römischem Bürgerrecht in den betreffenden Städten ist, könnte das Argument durchaus an Gewicht gewinnen (bei einem hohen Anteil an cives Romani in der jeweiligen colonia) – aber natürlich auch verlieren, wenn der Anteil geringer ist, als man zunächst unter den allgemeinen Voraussetzungen annehmen könnte.

19

Zum sog. „new consensus“ vgl. WEISS, Elite, 17f. (mit weiterer Literatur). Den schärfsten Widerspruch hat MEGGITT, Poverty, passim, geäußert, welcher der Auffassung ist, dass die Mitglieder der frühchristlichen Gemeinden aus den armen und ärmsten Bevölkerungsschichten stammten. Dies beruht allerdings auf der unhaltbaren These, 99% der Bevölkerung des römischen Reiches hätten am Rande oder unterhalb des Existenzminimums gelebt. In Teilen durchaus berechtigte, wenngleich im Ergebnis vielleicht doch zu skeptische Vorbehalte hinsichtlich der Möglichkeiten einer statistischen Auswertung unseres Quellenmaterials hat SCHÖLLGEN, Sozialstruktur, passim, geäußert.

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I. Zum proportionalen Verhältnis zwischen Personen mit und ohne römisches Bürgerrecht in den coloniae 1. Allgemeine Überlegungen Damit kommen wir zu der Frage nach dem proportionalen Verhältnis zwischen Personen mit und ohne römisches Bürgerrecht in den coloniae. Darüber lässt sich keine allgemeingültige Aussage treffen. In den sog. Titularkolonien erhielten mit der Erhebung der Stadt zur colonia alle Bürger der Stadt das römische Bürgerrecht. Diese Form der Ehrung und Privilegierung scheint in neronischer Zeit einzusetzen und ist dann im 2. und 3. Jh. die gängige Art und Weise, durch die eine Stadt den Status einer colonia erhält.20 Wären die paulinischen coloniae Titularkolonien, könnte kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Christen in diesen Städten die civitas Romana innehatten. Man müsste sonst den höchst unwahrscheinlichen Fall annehmen, dass die Christen sich dort ausschließlich aus den Kreisen der incolae, also der Personen ohne lokales Bürgerrecht, und der Sklaven rekrutiert hätten. Als einzige Titularkolonie unter den Städten der Apostelgeschichte wäre die kampanische Stadt Puteoli anzuführen, die unter Nero im Jahre 57 n.Chr. privilegiert wurde. Allerdings besaß Puteoli zu diesem Zeitpunkt bereits das ius coloniae, da es 194 v.Chr. als Siedlungskolonie gegründet wurde und dann wohl im späten 1. Jh. v.Chr. zusätzlich eine Veteranenkolonie erhielt. Unter Nero handelt es sich also formal um eine Erneuerung des Stadtrechts, das ihr, als Nero nach seinem Tod der damnatio memoriae verfiel, durch Vespasian unter dem Namen colonia Flavia Augusta Puteoli noch einmal bestätigt wurde. Die verwickelte Geschichte des puteolanischen Stadtrechts soll uns hier aber nicht weiter kümmern.21 Von Bedeutung für unsere Frage ist allein, dass sich die Einwohnerschaft Puteolis in der Mitte des 1. Jh. n.Chr. mit Sicherheit zum überwiegenden Teil aus Inhabern des römischen Bürgerrechts zusammensetzte, auch wenn in der bedeutenden Hafenstadt natürlich mit der Präsenz von Händlern mit peregrinem Status aus den östlichen Teilen des Reiches zu rechnen ist. Dass sich unter den „Brüdern“, bei denen Paulus in Puteoli sieben Tage lang blieb (Act 28,13f.), niemand mit römischem Bürgerrecht befunden haben soll, erscheint schwer vorstellbar. Überhaupt ändert sich das Bild natürlich schlagartig, wenn wir davon ausgehen, dass es wohl auch bereits im 1. Jh. christliche Gemeinden im italischen Raum gegeben hat: In Italien war das römische Bürgerrecht ja seit den Bundesgenossenkriegen überall verbreitet. Leider lassen uns unsere Quellen über die Ausbreitung des Christentums in Italien in dieser Zeit im Dunkeln.22 20 Zu den Titularkolonien s. VITTINGHOFF, Kolonisation, 27–33; zu deren Anfängen in neronischer Zeit s. BENEFIEL, Puteoli, passim. 21 S. dazu FREDERIKSEN, Campania, 331f.; BENEFIEL, Puteoli, 353 m. Anm. 21. 22 Vgl. VON HARNACK, Mission, 811–816.

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In den sog. Siedlungskolonien23 – und um solche handelt es sich bei den paulinischen coloniae in Kleinasien und Griechenland, die uns hier ja vorrangig beschäftigen – ist der Fall nicht ganz so deutlich gelagert. Siedlungskolonien waren ursprünglich in mittelrepublikanischer Zeit Gründungen ex nihilo, also an Stellen, an denen es zuvor keine Siedlung gegeben hatte. In spätrepublikanischer Zeit kommt es bei der Praxis der Koloniegründungen allerdings zu einschneidenden Veränderungen. Kolonien wurden nun nicht mehr an vorher unbesiedelte Orte deduziert, sondern jetzt wird zu bereits existierenden Siedlungen mit mehr oder minder großer Bevölkerung eine Ansiedlung römischer Kolonisten hinzugefügt. Entweder wurde dadurch die gesamte Siedlung, welche zuvor peregrinen Status besessen hatte, zur colonia erhoben (so in Korinth, Philippi und Alexandria Troas) oder – seltener – die griechische Polis existierte weiter neben der römischen colonia als eigenständige Organisationsform (so wohl in Iconium24). In einigen Städten werden zivile Kolonisten angesiedelt, wie in Korinth unter Caesar, in den meisten Fällen handelt es sich allerdings um Militärkolonisten, wie in Philippi, Antiochia Pisidiae und Iconium. Wie auch immer die administrative Organisation gestaltet wurde – die Bevölkerung einer Siedlungskolonie bestand keinesfalls ausschließlich aus cives Romani, sondern neben den coloni gab es eine nicht näher zu bestimmende Zahl an incolae, also freie Personen ohne römisches Bürgerrecht, bei denen es sich um die ortsansässige Altbevölkerung handelte, die nicht in die neue Gemeinde aufgenommen wurde, vielleicht auch um ortsansässige Fremde, die auch vor der Koloniegründung nicht über das lokale Bürgerrecht verfügt hatten.25 In Antiochia Pisidiae sind coloni und incolae explizit bezeugt im Edikt des Statthalters Lucius Antistius Rusticus aus dem Jahre 93 n.Chr.26 Wir halten noch einmal fest: Auch die Bevölkerung der Siedlungskolonien ist durchaus gemischt27 und wir können keine allgemeingültigen Aussagen über das proportionale Verhältnis von Personen mit und ohne römisches Bürgerrecht treffen. 2. Das Beispiel der paulinischen colonia Alexandria Troas Belastbare Aussagen über das jeweilige Verhältnis in den einzelnen uns hier interessierenden coloniae zu treffen, ist ebenfalls nicht leicht, wenngleich wir 23

Zu den Siedlungskolonien s. VITTINGHOFF, Kolonisation, 23–27. Zu Iconium s. VON AULOCK, Münzen, 53–59; MITCHELL, Iconium, 411–425 (mit weiteren Ausführungen zur Zusammensetzung der Bevölkerung). 25 Zur Semantik des Begriffs incola s. RIZAKIS, Incolae, passim. 26 Zu diesem Edikt, allerdings unter vorwiegend wirtschaftshistorischer Fragestellung, s. WIEMER, Edikt, passim. 27 Konkret zum pisidischen Antiochia s. LEVICK, Colonies, 71f.; MITCHELL/WAELKENS, Antioch, 8. 24

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auf der lokalen Ebene einige Anhaltspunkte mit Hilfe des epigraphischen Materials gewinnen können. Für Alexandria Troas hat die Herausgeberin des betreffenden Inschriftenbandes, Marijana Ricl, dankenswerterweise das Material in einem kleinen Kapitel zur Bevölkerungszusammensetzung ausgewertet.28 Danach besaßen von 144 auf den Inschriften identifizierbaren Individuen 121 (84%) das römische Bürgerrecht, 23 Personen (16%) hingegen nur peregrinen Status. Sollte diese Verteilung in den Inschriften die Realität spiegeln, dann sind unter den Zuhörern der ermüdenden Predigt des Paulus vor Ort (Act 20,6–12) zweifelsohne auch Personen mit römischem Bürgerrecht zu erwarten. Aber ist der epigraphische Befund wirklich repräsentativ? Ricl vermutet, bei Gründung der Kolonie habe ein großer Teil der ursprünglichen Bevölkerung der Stadt nicht das römische Bürgerrecht erhalten. Im Laufe der Zeit sei der Anteil der römischen Bürger dann wohl stetig durch Einbürgerung von Peregrinen und Freilassung von Sklaven römischer Bürger gestiegen, aber erst mit der constitutio Antoniniana des Jahres 212 n.Chr. hätten alle Einwohner die civitas Romana erhalten.29 Das heißt, wir sollten davon ausgehen, dass der Anteil der incolae in Alexandria Troas im 1. Jh. n.Chr. wohl über den 16% des epigraphischen Befundes liegt. Über eine Obergrenze lässt sich natürlich nur spekulieren, aber es erscheint wenig wahrscheinlich, dass die Peregrinen wesentlich mehr als 50% der Bevölkerung ausgemacht hätten. Trotz aller Unsicherheiten und der gebotenen Zurückhaltung erscheint es angesichts dieser Zahlen kaum plausibel, dass unter den Christen in Alexandria Troas kein einziger das römische Bürgerrecht besaß. Eine gründlichere Untersuchung aller paulinischen coloniae in Hinblick auf das Personenrecht der Bevölkerung wäre ein lohnenswertes Unterfangen, um wenigstens Näherungswerte für die Zahl der Personen mit römischem Bürgerrecht im Verhältnis zur Gesamtzahl der jeweiligen städtischen Bevölkerung zu erhalten.30

28

Vgl. RICL, Alexandreia, 13–15. Zum Gründungsdatum der Kolonie in Alexandria Troas s. allerdings jetzt LAFFI, Colonia, passim. 29 Vgl. RICL, Alexandreia, 15. Dies deckt sich mit der Feststellung von RIZAKIS, Incolae, 617, die Unterscheidung zwischen coloni und incolae finde sich in den coloniae im 2. Jh. viel seltener und verschwinde im 3. Jh. gänzlich. 30 Meines Wissens liegt eine ähnlich genaue Erhebung, wie sie RICL für Alexandria Troas durchgeführt hat, für die anderen paulinischen coloniae nicht vor. PILHOFER, Philippi, 85–92, hat versucht, für Philippi Aussagen zur ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung zu treffen, sich aber nicht zur proportionalen Verteilung des Personenrechts geäußert. Durch epigraphische Publikationen gut erschlossen sind außer Alexandria Troas und Philippi natürlich vor allem Korinth und das pisidische Antiochia.

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II. Zur Zahl der Personen mit römischem Bürgerrecht in den coloniae 1. Allgemeine Überlegungen Wenden wir uns nun der Frage nach den absoluten Zahlen zu. Wie viele coloni sind in einer Siedlungskolonie angesiedelt worden? Auch diese Frage wollen wir zunächst unter dem Gesichtspunkt behandeln, ob wir hierzu allgemeine Aussagen treffen können, und uns dann den einzelnen Städten zuwenden. Bei den coloniae civium Romanorum der mittleren Republik handelte es sich in der Regel um Neusiedlungen mit meist 300 Bürgern der Stadt Rom und deren Familien als Kolonisten. In spätrepublikanischer Zeit hören wir dann allerdings von größeren Zahlen für die coloni. Der höchste Wert von 6.000 Kolonisten wird für die von Caius Gracchus im Jahre 122 v.Chr. geplante Neugründung Karthagos als colonia Iunonia genannt (Appian, b.c. 1,24). Sein politischer Gegner und Kollege im Amt des Volkstribunen, Livius Drusus, schlug demgegenüber vor, zwölf Kolonien mit je 3.000 Siedlern auf italischem Boden zu gründen (Plutarch, C. Gracchus 9). Beide Projekte sind schließlich nicht ausgeführt worden, aber für das Jahr 63 v.Chr. erfahren wir, dass Capua mit der Erhebung zur Kolonie 5.000 Siedler erhalten hat (Cicero, leg.agr. 2,76). In diesem Spektrum dürfte grundsätzlich auch die Zahl der Siedler in den caesarisch-augusteischen Kolonien liegen, zu denen alle paulinischen coloniae gehören. Man hat versucht, die Siedlerzahl für die augusteischen Koloniegründungen aus einem Hinweis im Tatenbericht des Augustus zu extrahieren. In RgdA 15 schreibt Augustus, er habe in Zusammenhang seines Dreifach-Triumphes des Jahres 29 ein congiarium, also eine Geldzahlung, an die Siedler in den Kolonien (in colonis) ausgegeben. Davon hätten 120.000 Mann profitiert. Die Frage ist: Welche coloniae hatte Augustus im Sinn? Die 28 von ihm in Italien gegründeten? Dann könnte man die 120.000 durch 28 teilen und hätte ca. 4000 Kolonisten pro colonia (plus deren Familien und Sklaven, d.h. zukünftige Freigelassene). Leider ist weder klar, welche coloniae Augustus in RgdA 15 meint, noch ist die Zahl von 28 Koloniegründungen in Italien nach Actium gesichert, und auch die Zahl von 120.000 Empfängern für das Donativ ist angezweifelt worden.31 Eine genauere Angabe erhalten wir allerdings für die augusteische Koloniegründung Augusta Praetoria (Aosta). Nach Strabon 4,7 206C wurden dort 3.000 Kolonisten angesiedelt. Angesichts dessen dürfte eine Zahl von 3.000–4.000 Kolonisten in den augusteischen Kolonien kein gänzlich unrealistischer Richtwert sein. Barbara Levick hat aus Strabons Angaben auf eine Gesamtsiedlerzahl von über 10.000 Personen in Augusta Praetoria geschlossen.32 31

Dazu KEPPIE, Colonisation, 73–82. Zur Diskussion um die Siedlerzahlen für die augusteischen Kolonien s. LEVICK, Colonies, 92–95 mitsamt der Anmerkungen. 32

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Für die meisten der paulinischen coloniae erhalten wir aus den literarischen Quellen keine genaueren Hinweise auf die Zahl der Kolonisten. Für die galatischen Kolonien finden sich wiederum bei Levick Schätzwerte. Für das pisidische Antiochia veranschlagt sie aufgrund der Größe des der colonia zugeteilten Territoriums die Zahl der Kolonisten auf etwa 3.000 und die Gesamtbevölkerungszahl auf “something over 5,750”. Für das kleinere Lystra hingegen taxiert sie die Zahl der coloni auf nur etwa 1.000.33 2. Das Beispiel der paulinischen colonia Philippi Etwas genauer informiert sind wir über Philippi, deren Gründungsgeschichte als Kolonie zwar ebenfalls keine exakten Zahlen, aber doch eine Reihe von Hinweisen für die hier behandelten Fragen nach Zahl und Zusammensetzung der Bevölkerung der colonia liefert.34 Philippi ist in der späten Republik innerhalb relativ kurzer Zeit zweimal als colonia gegründet worden und bei beiden Gelegenheiten ist dieser Akt mit der Ansiedlung von Veteranen als Kolonisten verbunden. Die Veteranenansiedlungen in Philippi hängen natürlich mit den immer wieder notwendigen Demobilisierungen der gigantischen Heere der Bürgerkriegszeit und den daraus resultierenden Landzuweisungen an die ehemaligen Soldaten zusammen. Zunächst wurden nach der DoppelSchlacht von Philippi des Jahres 42 v.Chr. wenigstens einige hundert Soldaten des Antonius angesiedelt. Nach der Schlacht von Actium und dem Ende der Bürgerkriege siedelte Augustus die Soldaten einer Prätorianerkohorte in Philippi an, das heißt wohl mindestens 500, vielleicht 1000 Mann, vielleicht sogar auch noch mehr. Hinzu kamen einige weitere zivile Kolonisten (Hunderte?, Tausend[e]?) aus Italien, die zuvor von Octavian aufgrund der Ansiedlung seiner Veteranen auf italischem Boden enteignet worden waren und dann als Ersatz offenbar in Philippi neue Landlose erhielten. Die Gesamtzahl der Siedler in der Frühphase der Kolonie lässt sich natürlich nur schätzen. Bormann nennt als Untergrenze zusammengerechnet 1000 Kolonisten.35 Eine Obergrenze lässt sich, pace Bormann, nicht benennen. Aber wenn man die Zahl der Kolonisten nur ein Stückchen über diesem Minimum ansetzt und noch deren Familien hinzurechnet, dann sind wir m.E. rasch bei etwa 5000 Personen, die, notabene, alle das römische Bürgerrecht besaßen und dies in ihren Familien auch weitergaben. Einige dieser Familien haben sicher Sklaven besessen, die nach ihrer Freilassung dann natürlich auch das römische Bürgerrecht erhielten. Wir wissen weiterhin, dass sich in Philippi im Laufe der Zeit weitere Veteranen niedergelassen haben. Außerdem wird man sicher 33

LEVICK, Colonies, 94. Ausführlich zur doppelten Gründung der Kolonie COLLART, Philippes, 223–241; eine ausgezeichnete Zusammenfassung bei BORMANN, Philippi, 19–24; vgl. auch VITTINGHOFF, Kolonisation, 128f. 35 BORMANN, Philippi, 21. 34

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einigen incolae das städtische und damit das römische Bürgerrecht gewährt haben, so dass sich die Zahl der Personen mit römischem Bürgerrecht in Philippi stetig vermehrt hat. Dank einer Bemerkung Strabons können wir sogar eine Aussage hinsichtlich des proportionalen Verhältnisses zwischen coloni und incolae wagen. Nach Strabon war Philippi vor der Koloniegründung nur ein „kleines Nest“ (κατοικία µικρά) und ist erst durch die Ansiedlung der Kolonisten zu einer Stadt angewachsen.36 Die Einwohnerschaft Philippis dürfte somit zur Zeit des Paulus wahrscheinlich in der übergroßen Mehrheit das römische Bürgerrecht besessen haben. Dies gilt zumindest für die Einwohner der Stadt selbst.37 Thrakische Bevölkerungselemente lassen sich in Philippi zwar bis in das 3. Jh. n.Chr. hinein nachweisen. Diese lebten aber eben vorwiegend in den vici des weitreichenden Territoriums der colonia.38 Für die frühchristliche Gemeinde in Philippi gilt allerdings wohl das Gleiche wie für alle anderen paulinischen Gemeinden, nämlich dass es sich um eine ‚städtische‘ Gemeinde handelte. Das heißt nun aber angesichts der Bevölkerungsgeschichte der Stadt, dass aller Wahrscheinlichkeit nach ein nicht unerheblicher, m.E. sogar der weitaus überwiegende Teil der Christen in Philippi römische Bürger gewesen sind.39

F. Fazit und Ausblick Fassen wir also zusammen: Es ist mehr als wahrscheinlich, dass sich unter den frühen Christen eine nicht unbeträchtliche Zahl von Personen mit römischem Bürgerrecht befindet – unabhängig davon, ob Paulus nun dazuzurechnen ist oder nicht. Dies ist die gleichsam notwendige Konsequenz dessen, dass Paulus auf seinen Reisen durch Kleinasien und Griechenland in einer Reihe von Städten mit dem privilegierten Rechtsstatus einer colonia gewirkt hat, in denen ein großer Teil, in manchen Fällen vielleicht der überwiegende oder sogar weitaus überwiegende Teil der Bevölkerung das römische Bürgerrecht besaß. Wenn man annimmt, dass die frühchristlichen Gemeinden hin36

Strabon 7 frg. 17 Radt. PILHOFER, Philippi, 92, hingegen meint, die ‚Römer‘ seien auch in der Stadt selbst „zahlenmäßig nicht in der Mehrheit“ gewesen. 38 PAPAZOGLOU, Villes, 411; ebenso aber auch PILHOFER, Philippi, 88f. 39 Anders OMERZU, Paulus, 173: „die Mehrzahl von ihnen besaß wohl nicht das römische Bürgerrecht“; EBEL, πολίτευµα, 161: „Kaum werden unter den Gemeindegliedern Frauen oder Männer mit städtischem und römischem Bürgerrecht zu finden sein. Sie sind vermutlich alle Bewohnerinnen und Bewohner Philippis zweiter Klasse.“ Abgesehen davon, dass beide Autorinnen die Bevölkerungsgeschichte Philippis nicht berücksichtigen, schwingen in solchen Äußerungen offenbar immer noch sozialromantische, mittlerweile aber doch wohl überholte Vorstellungen vom frühen Christentum als Bewegung der unteren Schichten mit. 37

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sichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung ein Spiegelbild oder zumindest einen Querschnitt der jeweiligen lokalen Gesellschaft darstellten, dann müssen zu den christlichen Gemeinden auch Personen mit römischem Bürgerrecht gehört haben, und zwar beiderlei Geschlechts. Niemand anderes als Sherwin-White hatte einst in einem berühmten Diktum gewarnt, die Untersuchung der Ausdehnung des römischen Bürgerrechtes in den östlichen Provinzen sei kein übermäßig lohnenswertes Unterfangen.40 Manchmal muss man Warnungen in den Wind schlagen, selbst dann, wenn sie von dem Verfasser des thematisch einschlägigen Standardwerkes geäußert wurden. Weil dieser Beitrag aber nur einige erste Schneisen ins Dickicht geschlagen hat, soll abschließend kurz skizziert werden, welche Aufgaben eine gründlichere Studie zum römischen Bürgerrecht unter den frühen Christen zu bewältigen hätte: Für jede einzelne ‚paulinische‘ colonia müsste die lokale literarische, epigraphische und natürlich auch numismatische Überlieferung mit Blick auf die Zusammensetzung der Bevölkerung unter personenrechtlichen Gesichtspunkten noch einmal umfassend ausgewertet werden. Dann müsste man den Blick natürlich über die coloniae hinaus weiten: Auch in Ephesos besaß in der Mitte des 1. Jh. n.Chr. ein guter Teil der Einwohner die civitas Romana,41 von Rom selbst ganz zu schweigen. Ephesos ist aber nicht nur eine ‚paulinische‘, sondern ebenso eine ‚johanneische‘ Stadt. Weitere ‚johanneische‘ Städte, die man einbeziehen müsste, wären Pergamon und Smyrna: An beiden Orten gab es eine nicht unbeträchtliche Zahl römischer Bürger.42 Auch die Namen der Personen “around St Paul” müssten noch einmal genauer untersucht werden. Die auffällig hohe Zahl lateinischer Eigennamen bekommt angesichts des Wirkens des Paulus in den coloniae m.E. noch einmal ein besonderes Gewicht. Vielleicht ist Judges Annahme, über die Hälfte von “Paul’s associates” seien römische Bürger gewesen, gar nicht so kühn, wie sie auf den ersten Blick scheint. Was auch immer das genauere Ergebnis einer zukünftigen gründlicheren Untersuchung sein wird – am Ergebnis dürfte sich nicht viel ändern: Die Missionstätigkeit des Paulus in einigen coloniae in Kleinasien und Griechenland hatte zur Folge, dass es unter den frühen Christen eine Reihe von Personen mit römischem Bürgerrecht gab. Diesen cives Romani verkündet der Apostel nun ein höheres Bürgerrecht, wie auch ihren servi und den peregrini: Ausgerechnet der Gemeinde der colonia Iulia Augusta Philippensis schreibt er: ἡµῶν γὰρ τὸ πολίτευµα ἐν οὐρανοῖς ὑπάρχει (Phil 3,20).

40

SHERWIN-WHITE, Citizenship, 408. Unter den 53 Stiftern, welche die Bauinschrift des Fischerei-Zollhauses aus der Zeit zwischen 54–59 n.Chr. nennt (I. Ephesos 20), besaßen 28, der Nomenklatur nach zu urteilen, das römische Bürgerrecht. 42 S. die Listen 36 (Pergamon) und 52 (Smyrna) bei HOLTHEIDE, Bürgerrechtspolitik. 41

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Alt und Neu Innovative Begriffsbildungen in den Pastoralbriefen als Indiz ihres pseudepigraphen Charakters Michael Theobald Abstract: The unknown author of the Letter to Titus accommodated his vocabulary to the terminology of the collection of Paul’s Letters. In doing so he “translated” Paul, underlining Paul’s compatibility with contemporary thinking and speaking. The author’s method fits the assumption of concealed pseudepigraphy. Pretending to present original letters of Paul, the author further develops Paul’s patterns of speech. The distinctive gap between Paul’s texts and the Corpus Pastorale makes it clear that none of Paul’s companions (e.g. Luke) could have written the texts immediately after Paul’s death.

Rainer Riesner hat sich in den letzten Jahren des Öfteren zu den Pastoralbriefen geäußert1 – Grund genug, auf einem Symposium zu seinen Ehren sich auf dieses derzeit heiß umstrittene Feld neutestamentlicher Wissenschaft zu begeben und das Gespräch mit seiner Position zu suchen. Während die Mehrheit der Forschung – jedenfalls der deutschsprachigen – nach wie vor die drei Schreiben für Pseudepigrapha hält, verteidigt Riesner ihren „historische[n] und inhaltliche[n] Zusammenhang mit dem ‚historischen Paulus‘“. Den stellt er sich so vor, dass ein Paulus-Mitarbeiter, nämlich Lukas, sie „noch aus unmittelbarer Erinnerung an dessen Lehre“ geschrieben und dabei „sogar genuine Paulus-Schriften benutzt“ habe. Deshalb könnten sie auch „nicht einfach als pseudonym“ eingestuft werden, sondern stünden – weil von einem Intimus stammend – noch im Gedankenstrom des Apostels selbst. Allerdings spreche „die Art“, wie sie „Paulus als überragendes apostolisches Vorbild und normative Gründergestalt darstellen, […] eher gegen eine Endfassung noch zu seinen Lebzeiten“.2 Dass ein Sekretär des Paulus sie vor seinem Tod niedergeschrieben habe, sei eher unwahrscheinlich. Einerseits kommt Rainer Riesner mit dieser Position denjenigen entgegen, die eine Erklärung der Pastoralbriefe als literarische Fälschung vermeiden

1

Vgl. RIESNER, Luke-Acts, passim; DERS., Taufkatechese, passim; DERS., Pastoral Epistles, passim; DERS., Apostelgeschichte, passim. 2 RIESNER, Apostelgeschichte, 158 (alle Zitate).

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wollen – I.H. Marshall spricht enigmatisch von „allonymity“3 –, andererseits hebt er sich von Verfechtern ihrer Authentizität dadurch ab, dass er auf den „sprachlichen und theologischen Differenzen“ zwischen den Pastoralbriefen und den als authentisch geltenden Briefen des Paulus beharrt. Diese Differenzen dürften nicht minimalisiert werden.4 Die Frage lautet allerdings, wie die behauptete Nähe der Pastoralbriefe zum authentischen Paulus bei aller Anerkennung ihrer Differenzen zu denken ist. Müssen wir tatsächlich eine unmittelbare Lehrer-Schüler-Konstellation postulieren5 oder gehören die Briefe in die spätere Phase einer Rückbesinnung auf Paulus zu einer Zeit, da sein Erbe bereits umstritten war? Reicht die Annahme mündlicher Paulus-Tradition als Medium der Kontinuität aus6 oder ist mit einer literarischen Vermittlung zu rechnen? Die Annahme, der Autor der Pastoralbriefe habe authentische Fragmente des Paulus („genuine PaulusSchriften“) verarbeitet, scheidet aus. Bei der durchgehend einheitlichen literarischen Qualität der drei Schreiben bleibt unklar, wie sich eine solche Fragmentenhypothese verifizieren ließe. Im Anschluss an Autoren wie vor allem P.N. Harrison, A.E. Barnett, P. Trummer und zuletzt A. Merz schlage ich einen anderen Weg vor.7 Meine These lautet: Sehr wahrscheinlich hat der Autor des Corpus Pastorale – die drei Schreiben bilden ein inneres Ganzes! – bereits ein Corpus Paulinum vor sich, in das er die drei Briefe einfügt, um sie in Umlauf zu bringen. Das heißt, sein Rückbezug auf Paulus ist bereits literarisch vermittelt und, weil er die paulinische Hinterlassenschaft in Gestalt einer Sammlung voraussetzt, auch keinesfalls kurz nach dem Tod des Apostels erfolgt, sondern gehörige Zeit später – entsprechend den Vorstellungen, die man vom Werden eines Corpus 3

MARSHALL, Pastoral Epistles, 92; zustimmend von RIESNER zitiert in: DERS., LukeActs, 241. 4 RIESNER, Luke-Acts, 239.258: “There are undeniable differences in language and theological expression between the Pastoral Epistles and the undisputed letters of Paul”. 5 Gegen Lukas als Autor der Past sprechen gewichtige Gründe: „Warum sollte Paulus plötzlich als Briefschreiber dargestellt werden, obwohl dies in der Apg nie erwähnt worden war? Warum sollte der Verfasser den Widerspruch zwischen der Mitnahme des Timotheus auf die Reise von Ephesus nach Griechenland (so Apg 20,4) und seinem Bleiben in Ephesus (so 1Tim 1,3) produziert haben? Warum sollte er Paulus zwei ‚Testamente‘ – ein mündliches an die Presbyter von Ephesus [Milet-Rede: Act 20,17–38; M.T.] und ein schriftliches an Timotheus [= 2Tim; M.T.] – verfassen lassen? Auch dass Lukas einen fiktiven Paulusbrief an den in der Apg gar nicht erwähnten Titus verfasst haben sollte, erscheint unwahrscheinlich“ (SCHRÖTER, Kirche, 78). Der Vergleich von Past und Apostelgeschichte, den Schröter unternimmt, ergibt, dass es „Analogien“ und gemeinsame Traditionen sind, die beide miteinander verbinden. 6 Mit ihr rechnet in starkem Maße noch LOHFINK, Vermittlung, 267–289; DERS., Theologie, 291–343. 7 Vgl. HARRISON, Problem, passim; BARNETT, Paul, passim; TRUMMER, Corpus Paulinum, passim; MERZ, Selbstauslegung, passim; DIES., Amore Pauli, passim.

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Paulinum und konkret von der Sammlung besitzt, die unserem Autor vorlag.8 Ohne die damit aufgeworfene Datierungsfrage, bei der noch andere Parameter zu berücksichtigen wären,9 weiter verfolgen zu können, seien im Folgenden lediglich einige literarische Hinweise geboten, welche die mit dieser Rahmentheorie gegebene spezifische Art der Fortschreibung paulinischer Prätexte durch unseren Autor veranschaulichen können. Konkret soll es um seine Vorliebe für Kombinationen von zwei oder mehr Substantiven bzw. (Verbal-) Adjektiven oder Partizipien10 gehen, in denen er geläufigen paulinischen Termini neue zur Seite zu stellt – mit dem Effekt, dass das paulinische Kerygma so etwas wie eine „Modernisierung“ erfährt.11 Ist ein paulinisches Sprachspiel – etwa das der „Rechtfertigung“ aufgrund nicht von Werken des Gesetzes, sondern des Glaubens an Jesus Christus – nicht oder nur mehr kaum verständlich, „übersetzt“ er es in neue Sprachspiele. Dass eine derartige Transformation eine gegenüber Paulus neue theologiegeschichtliche Situation voraussetzt,

8

Vgl. THEOBALD, Israel-Vergessenheit, passim; ein erster Entwurf dieser These in: Israel- und Jerusalem-Vergessenheit, 317–412. 9 Dazu gehört z.B. die Frage, wann die Pastoralbriefe im 2. Jh. zum ersten Mal zitiert werden; s. dazu meine Monographie von 2016. 10 Das Phänomen gibt es auch in den authentischen Paulusbriefen, aber lange nicht so gehäuft. BAUM, Variation, 271–292, spricht von „semantischer Variation“ im Corpus Paulinum und sieht in den Past lediglich das „reichere Vokabular“ (dazu EHRMAN, Forgery, 202f.); weitere Studien zum Stil der Past (inklusive statistischen Fragen): HOLTZMANN, Pastoralbriefe, 84–118 (Kap. 7: „Schreibweise und Sprachgebrauch“); HARRISON, Problem, passim; GRAYSTON/HERDAN, Authorship, 1–15; O’ROURKE, Considerations, 483–90, ROBINSON, Grayston, 282–293; NEUMANN, Authenticity, passim; O’DONNELL, Fingerprints, 206–262; LINNEMANN, Echtheitsfragen, 87–109; BIRD, Authorship, 118–137; hilfreich SPICQ, Épîtres I, 179–200. 11 Das Stilmittel der Kombination von zwei oder mehr Substantiven, (Verbal-)Adjektiven oder Partizipien usw. kann freilich unterschiedlichen Zielen dienen, auch rhetorischen oder der Absicht, einen „quasi-liturgischen“ Stil mittels Häufung von Substantiven zu erzielen (vgl. etwa 1Tim 6,15f.). – Eine Analogie zum genannten Stilmittel ist übrigens die Technik der „Verbindung von bekannten mit unbekannten Namen“ (WEISER, 2Tim, 330), wie sie etwa im Eschatokoll des Titusbriefs mit seinen Namens-Paaren – „Artemas und Tychikus“, „Zenas und Apollon“ (Tit 3,12f.) – zu beobachten ist; OBERLINNER, Tit, 199: „Vielleicht wählt der Verfasser hier wie an anderen Stellen bewusst zwei Namen, von denen jeweils nur einer in der paulinischen Tradition einen festen Platz hat. Auf diese Weise wird auf der einen Seite die Kontinuität zu Paulus betont. Andererseits wird mit der Nennung einer nicht in den Paulusbriefen bezeugten Person darauf aufmerksam gemacht, dass solche Kontinuität nicht nur Gültigkeit besitzt für die bekannten Personen, sondern auch für andre, unbekannte Personen, die dem Auftrag des Paulus entsprechen und die ‚jetzt‘, in der neuen Situation der dritten christlichen Generation, den Dienst in den Gemeinden verrichten. Dass diese neue Situation im Vordergrund steht, kann man aus der Reihenfolge der Namen erschließen; die fremde Person wird jeweils an erster Stelle genannt“. Vgl. auch HÄFNER, Kommunikation, 337f. DERS.,

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zeigt einerseits die im Corpus zu beobachtende Israel-Vergessenheit12, andererseits seine gewachsene Offenheit für hellenistische Denk- und Sprachformen. Jene belegt etwa die Christologie des Corpus, die das Motiv der „Herkunft Jesu aus dem Samen Davids“ nicht mehr (wie noch der Römerbrief) „im umfassenden messianischen Sinn“, sondern als „genealogische Herkunftsbezeichnung“ versteht,13 eben als Hinweis auf seine menschliche Herkunft und damit sein sich im Leiden erfüllendes Mensch-Sein, das Timotheus sich in seinem Einsatz für das Evangelium zum Vorbild nehmen soll (vgl. 2Tim 2,8). Und wenn Ps-Paulus in 2Tim 1,3 von sich sagt, „er diene Gott mit reinem Gewissen von seinen Vorfahren her“, äußert sich darin auch nicht mehr der in Israel verwurzelte Apostel, der er nach Röm 9–11 ist, sondern das Vorbild einer Frömmigkeit, die sich im „Haus“ als dem entscheidenden sozial-ethischen Ort zu bewähren hat. Dazu gehört die Sorge um die Weitergabe des Glaubens „von den Vorfahren her“ an die jeweils nächste Generation. Dass Paulus jüdische Vorfahren hat, spielt keine erkennbare Rolle mehr. Auf der anderen Seite belegt das Corpus Pastorale eine neue Stufe der Offenheit für zeitgenössische Denk- und Sprachformen. C. Spicq meinte vor Jahren, die Pastoralbriefe böten „den ersten Versuch einer Übersetzung christlicher Theologie in die Sprache des Okzidents“,14 wobei er an das Lateinische,15 aber auch an römische Denkformen dachte wie die juridische Figur der Sukzession.16 Diese These verband er mit der Annahme, dass Paulus die Briefe nach seinem Besuch in Spanien geschrieben habe, einer Erfahrung, die ihn nachhaltig veränderte, erkennbar etwa an seiner erweiterten Terminologie. Auch reflektierten seine Briefe « quelques acquisitions religieuses dont Paul s’est enrichi après ses contacts avec les Espagnols ».17 12

Vgl. THEOBALD, Israel-Vergessenheit, passim. WEISER, 2Tim, 167; HASLER, Past, 65: Der Satz hat „im hellenistischen Offenbarungsschema die heilsgeschichtliche, messianische und endzeitliche Bedeutung verloren“. OBERLINNER, 2Tim, 76, verweist zugunsten der Deutung, dass es dem Autor allein um Jesu „menschliche Herkunft“ geht, (1) auf die Umstellung der beiden Sätze und (2) auf die auch sonst in den Past zu findende „nachdrückliche Betonung der Inkarnation“ (vgl. v.a. 1Tim 2,5). – Anders RIESNER, Luke-Acts, 255, der in 2Tim 2,8 ein “summary of Luke’s first volume” sieht; das Signal: „(aus dem Samen Davids [ἐκ σπέρµατος ∆αυίδ]) gemäß meinem Evangelium (κατὰ τὸ εὐαγγέλιόν µου)“ bezieht sich aber auf Röm 2,16: „gemäß meinem Evangelium (κατὰ τὸ εὐαγγέλιόν µου)“; vgl. auch Röm 16,25, außerdem 1,1.9.16. 14 SPICQ, Espagne, 67: « le premier essai de traduction de la théologie chrétienne dans la langue occidentale ». 15 A.a.O., 61, Anm. 43 (mit Verweis auf HITCHCOCK, Latinity, 347–352). 16 Ebd. (mit Verweis auf PARSI, Désignation, 6): « un parallèle et un antécédent dans la transmission de l’Imperium de droit divin »; vgl. jüngst ZIEGLER, Successio, passim. – Zum Terminus παραθήκη, der „in der biblischen Tradition vor den Past keinerlei Rolle“ spielte und „wohl erst vom Verfasser der Past mit einer spezifisch christlichen Bedeutung gefüllt“ wurde, vgl. LOHFINK, Normativität, 348; vgl. bereits SPICQ, Dépôts, 481–502. 17 SPICQ, Espagne, 62. 13

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So zutreffend und überaus gelehrt C. Spicq den Sprachwandel der Pastoralbriefe gegenüber den anderen Paulusbriefen in seinem philologisch bis heute unübertroffenen Kommentar beschreibt, derartige biographische Erklärungsmuster bleiben unbefriedigend. Der angedeutete Paradigmen-Wechsel gegenüber Paulus, auch der im Hintergrund des Corpus stehende Streit mit asketischen Paulusverehrern und -verehrerinnen um die Interpretationshoheit über das literarische Erbe des Paulus18 und vor allem der Rückbezug auf ihn über das literarische Medium eines bereits vorliegenden Corpus Paulinum deuten auf einen zeitlichen Abstand zu Paulus hin. Wenn wir im Folgenden wenige Beispiele innovativer Begriffsbildungen unter Anknüpfung an paulinische Termini und Prätexte vorstellen,19 orientieren wir uns am Titusbrief. Wir beginnen mit seinem Präskript – dem längsten der drei Präskripte zum kürzesten der drei Schreiben, deswegen wohl auch die programmatische Einführung ins ganze Corpus!20 – und wenden uns dann den beiden theologischen Höhepunkten des Schreibens, Tit 2,11–14 und 3,4–7, zu. Der Titusbrief gibt uns überdies Gelegenheit, auf den Römerbrief als den wohl wichtigsten Prätext des Corpus21 hinzuweisen, so dass unsere Behauptung, der Autor habe ein Corpus Paulinum vor sich, nicht ganz unausgewiesen bleibt.

A. Glaube und Erkenntnis (Tit 1,1) Zum gnoseologischen Interesse des Autors Dass das Präskript des Titusbriefs sich an das des Römerbriefs anlehnt, zeigen die Übereinstimmungen zwischen beiden Texten. Zu nennen sind die Selbstvorstellung des Absenders als „Knecht“ und „Apostel“ (im Corpus Paulinum nur in Tit 1,1 und Röm 1,1), der Verweis auf die autoritative Bestallung des Apostels durch Gott bzw. Jesus Christus (Tit 1,3 par. Röm 1,5) sowie die Verankerung des Evangeliums bzw. Kerygmas, mit dem der Apostel betraut wurde, in der Verheißung Gottes (Tit 1,2 par. Röm 1,2). Die Übereinstimmung in der Grußformel „Gnade … und Friede (χάρις … καὶ εἰρήνη)“

18 Vgl. MERZ, Selbstauslegung, passim; DIES., Amore Pauli, 274–294; MACDONALD, Legend, passim. 19 Vgl. auch unten den Anhang, der leicht um weitere Tabellen (zu größeren Reihenbildungen, auch von Asyndeta) ergänzt werden könnte. 20 So inzwischen die Mehrheitsmeinung unter den Vertretern der Corpus-Theorie; vgl. bereits QUINN, Captivity, 291: “To put such an introduction before the three brief chapters of Titus alone would be like building the west portal of York minster in front of a village church”; vgl. DERS., Tit, 19f. 21 Im Einzelnen vgl. die Nachweise in THEOBALD, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit, passim, und WEIDEMANN, Bekehrung, passim.

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ist an sich nicht auffällig, da sie stereotyp in allen authentischen Schreiben des Paulus begegnet. Tit 1,4 weicht darin aber signifikant von den Präskripten 1Tim 1,2 und 2Tim 1,2 ab, die beide (gegen Paulus) noch ἔλεος als mittleres Element aufweisen. Die christologische Glaubensformel Röm 1,3f. hat übrigens unser Autor nicht einfach übergangen, sondern, wie bereits gesagt, gegen Ende seines Corpus in 2Tim 2,8 aufgegriffen. Ihr Fehlen hier im Titus-Präskript hat allerdings zur Folge, dass in V. 3 Gottes Offenbarung unmittelbar mit dem Kerygma des Apostels verknüpft wird, ohne zuvor ausdrücklich an das Christusgeschehen gebunden worden zu sein. So ist auch der Glaubensbegriff im Corpus Pastorale nicht streng christologisch („Glaube Jesu Christi“), sondern eher theozentrisch konzipiert.22 Tit 1,1–4 kann somit als Adaption des Römerbrief-Präskripts auf ein fiktives Instruktionsschreiben des Apostels an seinen weisungsbefugten Schüler Titus gelesen werden.23 Tit 1,1–4

Röm 1,1–7

(V. 1) Paulus, Knecht Gottes und (δέ) Apostel Jesu Christi

(V. 1) Paulus, Knecht Christi Jesu, berufener Apostel, ausgesondert für das Evangelium Gottes,

gemäß (κατά) dem Glauben der Auserwählten Gottes (ἐκλεκτῶν θεοῦ) und der Erkenntnis (ἐπίγνωσιν) der Wahrheit, die der Frömmigkeit gemäß (ist), (V. 2) in (ἐπ’) der Hoffnung auf ewiges Leben, das der untrügliche Gott vor (πρό) ewigen Zeiten verheißen hat (ἐπηγγείλατο),

22

(V. 2) das er (vor-)verheißen hat (προ-επηγγείλατο) durch seine Propheten in heiligen Schriften (V. 3) bezüglich seines Sohnes, der aus dem Samen Davids wurde gemäß dem Fleisch, (V. 4) der zum Sohn Gottes eingesetzt wurde in Macht gemäß dem Geist der Heiligkeit seit (bzw. aufgrund) der Auferweckung der Toten,

Scheinbare Ausnahmen: 1Tim 3,13 (feierliche Formel am Ende eines Absatzes); 2Tim 1,13; 3,15. Die Formel ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ auch in 2Tim 2,10, auch hier mit einem bestimmten Artikel nachgetragen. Interessant ist 1Clem (z.B. 1,2), wo die Formel den Sinn gewinnt: „christlich“. Zum Glaubensverständnis der Past vgl. MUTSCHLER, Glaube, passim; EISELE, Glaube, 81–114. 23 Zur Gattungsbestimmung vgl. WOLTER, Pastoralbriefe, 156–202.

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Jesus Christus, unseren Herrn, (V. 3) sein Wort aber hat er zu den eigenen Zeiten offenbart in der Verkündigung (κηρύγµατι), mit der ich betraut worden bin gemäß dem Auftrag Gottes, unseres Retters.

(V. 4) An Titus, das rechtmäßige Kind gemäß (κατά) dem gemeinsamen Glauben Gnade und Friede von Gott, dem Vater, und Christus Jesus, unserem Retter.

(V. 5) durch den wir Gnade und Apostolat empfangen haben, in seinem Namen den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden (ἐν πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν), (V. 6) unter denen auch ihr seid, Berufene Jesu Christi (κλητοὶ Ἰησοῦ Χριστοῦ). (V. 7) An alle, die in Rom sind, die Geliebten Gottes, die berufenen Heiligen (κλητοῖς ἁγίοις); Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater, und (dem) Herrn Jesus Christus.

Hier genügen wenige Beobachtungen zur Trias von V. 1: Glaube – Erkenntnis – Hoffnung, einer Variation der alten paulinischen Trias Glaube – Liebe – Hoffnung (1Thess 1,3; 5,8; 1Kor 13,13).24 Die Rede vom „Glauben der Erwählten Gottes (ἐκλεκτῶν θεοῦ)“ an erster Stelle – ein vom Autor des Corpus Pastorale neu gebildetes Syntagma – knüpft sowohl an Röm 1,5, „Gehorsam des Glaubens“, als auch an das zweifache κλητοί = die Berufenen von Röm 1,6.7 an25, hat aber außerdem noch Röm 8,33 im Blick: „Wer will klagen gegen die Auserwählten Gottes [ἐκλεκτῶν θεοῦ]?“ Auch 2Tim 2,10 spricht von den ἐκλεκτοί, für unseren Autor wohl bedeutungsgleich mit den κλητοί26: „deswegen dulde ich alles um der Auserwählten willen, damit auch sie das Heil in Christus mit ewiger Herrlichkeit erlangen“. Wenn er in Tit 1,1 vom „Glauben der Auserwählten Gottes“ spricht, meint er wohl den rechten, orthodoxen Glauben derer, die er zur Ekklesia zählt, unter Ausschluss der von ihm bekämpften heterodoxen Christen, wie der Brief sich ja auch an Titus als „das rechtmäßige (γνησίῳ) Kind“ des Apostels richtet, „gemäß dem gemein24

Vgl. auch THEOBALD, Glauben, passim. 1Tim 5,21 ist die Rede von „den auserwählten Engeln (τῶν ἐκλεκτῶν ἀγγέλων)“ (sollen sie von gefallenen Engeln abgehoben werden?). – κλητοί begegnet in den Past nicht, vgl. aber 2Tim 1,9. 26 Vgl. Apk 17,14: „mit ihm [sc. dem Lamm] sind die Berufenen und Auserwählten und Gläubigen (κλητοὶ καὶ ἐκλεκτοὶ καὶ πιστοί)“; anders Mt 22,14: „Viele nämlich sind berufen (κλητοί), wenige aber auserwählt (ἐκλεκτοί)“. – ἐκλεκτοί wird immer mehr terminus technicus für die Glieder der ἐκκλησία: vgl. Mt 24,22.24.31; Mk 13,20.22.27; Lk 18,7; Kol 3,12; 1Petr 1,1. 25

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samen Glauben“, der beide – den Apostel und seinen Schüler – miteinander verbindet. Offenkundig gibt es Lehrer bzw. Lehrerinnen, die sich gleichfalls von der Tradition des Paulus her begreifen, aber vom Autor der Past als illegitime „Kinder“ des Apostels zurückgewiesen werden. Der Streit um das Erbe des Paulus ist in vollem Gange. Wenn „Paulus“ sich nun in Tit 1,1 als „Apostel Jesu Christi“ vorstellt „gemäß 27 dem Glauben der Erwählten Gottes und der Erkenntnis der Wahrheit, die der Frömmigkeit gemäß (ist)“, wird in dieser Kombination der Syntagmata das zweite das erste näher bestimmen, das καί also explikativ zu verstehen sein. Das heißt: Der „Glaube der Erwählten Gottes“ schließt die „Erkenntnis der Wahrheit“ ein bzw. genauer: er ist „Anerkenntnis der Wahrheit“, ἐπί-γνωσις.28 Ihm eignet dieses kognitive Moment, weil er auf der „Offenbarung“ der Wahrheit im Kerygma gründet,29 die er annimmt und – das zeigt die nähere Bestimmung der ἀλήθεια durch κατ’ εὐσέβειαν – auch in „Frömmigkeit“ bewährt. Ein Glauben, welcher „Anerkenntnis der Wahrheit“ ist, ist dem Autor zufolge auch „immer tätiger, konkret gelebter Glaube“.30 Ein Blick ins weitere Corpus Pastorale bestätigt dieses Glaubensverständnis. So heißt es in 1Tim 4,3f., einer genauen Parallele zu Tit 1,1, über die gegnerischen Lehrer: 3 a b c

4 a b c 5 a

Sie verbieten die Ehe, (fordern,) sich von Speisen zu enthalten, die Gott zum Verzehr unter Danksagung für die Glaubenden und zur Erkenntnis der Wahrheit Gekommenen (τοῖς πιστοῖς καὶ ἐπεγνωκόσι τὴν ἀλήθειαν) geschaffen hat (ἔκτισεν). Denn (ὅτι) alles von Gott Geschaffene ist gut und nichts ist verwerflich, wenn es mit Danksagung genossen wird. denn (γάρ) es wird geheiligt durch Gottes Wort und durch Gebet.

Was Tit 1,1 substantivisch sagt, formuliert 1Tim 4,3 personal: Die Glaubenden sind die, welche die Wahrheit erkannt haben. Auch hier geht es um einen Glauben, der sich in einer bestimmten Frömmigkeit bewährt, für die unser 27 Anders BAUER/ALAND, WbNT, 826: „Apostel … für den Glauben … und die Erkenntnis“; „doch ist auch d. Bedeutung ‚entsprechend‘, ‚nach‘, ‚gemäß‘ möglich“. – „Für den Glauben“ würde die „Indienstnahme“ des Apostels „als Werkzeug der Verkündigung des Glaubens“ ausdrücken (so OBERLINNER, Tit, 4), wohingegen die Übersetzung mit „gemäß“ weiteren semantischen Nuancen Raum lässt, etwa dem Gedanken des „gemeinsamen Glauben[s], der die Gemeinschaft zwischen Apostel und Gemeinde konstituiert“ (ebd.); deshalb wählt Oberlinner als Übersetzung auch das offenere „gemäß“. Die Verwendung von κατά in V. 4 gibt ihm m.E. Recht. 28 Grundlegend zur Verwendung dieses Terminus in den Past DIBELIUS, ΕΠΙΓΝΩΣΙΣ, 1–13. 29 Vgl. Tit 1,3: ἐφανέρωσεν [...] τὸν λόγον αὐτοῦ ἐν κηρύγµατι. 30 OBERLINNER, Tit, 5.

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Autor zwei grundlegende Elemente benennt: die Ehe als Fundament des Sozialzusammenhangs des „Hauses“ (οἶκος), in dem sich die εὐσέβεια zu bewähren hat, und die eucharistische Mahlpraxis als dichteste Form der Kommunikation in der Gemeinde. Beides torpedieren nach seiner Meinung die Gegner, wenn sie (wohl unter Berufung auf Paulus) Sexual- und Nahrungsmittelaskese fordern. Damit verleugnen sie die „Wahrheit“ des Schöpfer-Gottes (V. 4a), durch dessen Wort – gemeint ist wohl „die Zusage des endzeitlichen Heils in Christus“31 – wie das gottesdienstliche Eucharistiegebet, das auf diese Zusage antwortet, die im Mahl gewährten Speisen geheiligt werden. Beide Momente – „der Glaube“ und die ihn erhellende „Erkenntnis“ – sind auch in 1Tim 2,4–7 miteinander verwoben, der Begründung für die zuvor eingeforderte Fürbitte „für alle Menschen, für die Könige und für alle in maßgeblichen Stellungen“ (1Tim 2,1f.). Es geht um die später so genannte oratio universalis, die gottesdienstliche Fürbitte, wie wir sie aus dem 1. Clemensbrief kennen (1Clem 59–61).32 Die Begründung dafür, dass sie allen Menschen zugewendet werden soll, lautet: 3 a 4 a

5 a b c 6 a b 7 a b c d

Das ist recht und wohlgefällig vor Gott, unserem Retter (σωτῆρος ἡµῶν), der will, dass alle (πάντες) Menschen gerettet werden (σωθῆναι) und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen (εἰς ἐπίγνωσιν ἀληθείας ἐλθεῖν). Einer nämlich ist Gott, und einer ist Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich zum Lösegeld für alle (ὑπὲρ πάντων) gab – (Dies ist) das Zeugnis zur rechten Zeit, für das ich eingesetzt wurde als Herold und Apostel – ich spreche die Wahrheit, ich lüge nicht –, als Lehrer der Völker in Glaube und Wahrheit (ἐν πίστει καὶ ἀληθείᾳ).

Wenn am Ende dieses Absatzes „Paulus“ als „Lehrer der Völker in Glaube und Wahrheit“ präsentiert wird, dann entspricht dieses Tit 1,1 variierende Wortpaar nach Art einer inclusio genau der Eröffnung der begründenden Passage in V. 3f., wo es heißt, das universale Gebet sei deshalb „recht und wohlgefällig vor Gott“, weil „er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“. Statt vom Glauben ist jetzt vom „Gerettet-Werden“ die Rede, das, wie die πίστις in Tit 1,1, durch das nachfolgende εἰς ἐπίγνωσιν ἀληθείας ἐλθεῖν erläutert wird: „Gerettet-Werden“ ist nichts, was erst bei der Parusie geschähe, sondern bedeutet, jetzt schon „zur Anerkenntnis der Wahrheit zu kommen“. Worin diese „Wahrheit“ besteht, erläu-

31 32

ROLOFF, 1Tim, 227. Vgl. STEINHILBER, Fürbitte, passim.

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tern V. 5–6a unter Rekurs auf gottesdienstliches bzw. katechetisches Formelgut.33 Für das rechte Verständnis dieses gnoseologischen Konzepts von Glauben und Gerettet-Werden ist wichtig, dass nach dem Autor des Corpus Pastorale die „Erkenntnis“ immer eingebunden bleibt in den Zusammenhang der von ihm empfohlenen christologisch grundierten „Frömmigkeit“ (εὐσέβεια), aus dem herauszulösen hieße, sie zu einer „fälschlich so genannten Erkenntnis“ zu pervertieren, wie es die Warnung am Ende des 1. Timotheusbriefs ausspricht: „Halte dich fern von den gottlosen leeren Reden (κενοφωνίας) und Widersprüchen (ἀντιθέσεις) der fälschlich so genannten ‚Erkenntnis‘ (ψευδωνύµου γνώσεως)“ (1Tim 6,20). Wenn der Autor hier vor einer sich verselbständigenden Erkenntnis = Gnosis warnt,34 schwebt ihm vielleicht 1Kor 8,3f. vor, wo es heißt: „Wenn jemand meint, etwas erkannt zu haben, hat er noch nicht erkannt, wie es notwendig ist zu erkennen. Wenn aber jemand Gott liebt, dieser ist von ihm erkannt.“35 Halten wir nach unserem ersten Beobachtungsgang fest: So oft Paulus selbst in seinen authentischen Briefen vom „Glauben“ spricht, nie verbindet er ihn, die πίστις, mit den Termini „Erkenntnis“ oder „Wahrheit“,36 auch nicht die Rede vom „Gerettet-Werden“, die er – abgesehen von einer Ausnahme (Röm 8,24) – stets auf die zukünftige Rettung der Glaubenden bei der Parusie bezieht. Anders der Autor des Corpus Pastorale: Er knüpft im programmatischen Tituspräskript an die paulinische Terminologie an, schreibt aber sein eigenes, gnoseologisch konzipiertes Verständnis des Glaubens in sie ein. Glauben impliziert für ihn immer auch Erkenntnis, eine Erkenntnis freilich, die der Mensch nicht aus sich selbst heraus gewinnt, sondern die ihm in der Offenbarung der „Wahrheit“ geschenkt wird.37 2Tim 1,10 sagt es auf dem Hintergrund von Taufe und Taufkatechese mit entsprechender Licht-Meta33

Vgl. ROLOFF, 1Tim, 110f. Verbal über die Gegner in Tit 1,16: „Sie beteuern, Gott zu kennen (θεὸν ὁµολογοῦσιν εἰδέναι), durch ihre Werke aber verleugnen sie (ihn) (ἀρνοῦνται)“. 35 ROLOFF, 1Tim, 374: „Es wird hier unter Anspielung auf 1Kor 8 gegen die antichristlichen ‚Widersprüche‘ derer polemisiert, die sich des Besitzes von ‚Erkenntnis‘ rühmen“. Doch vielleicht haben sich auch schon die Gegner des Autors, soweit sie sich als Pauliner verstanden, auf 1Kor 8 bezogen: „Was aber das Götzenopferfleisch betrifft: Wir wissen, dass wir alle Erkenntnis haben (πάντες γνῶσιν ἔχοµεν).“ 36 Benachbart sind beide Termini nur in 2Kor 8,7, einer Auflistung „charismatischer Gaben“, welche die Korinther auszeichnen (WINDISCH, 2Kor, 250): „Aber wie ihr in allem reich seid, an Glauben, im Wort, in der Erkenntnis, an jedem Eifer und an der Liebe – der von uns unter euch –, so sollt ihr auch in diesem Gnadenwerk überreich sein.“ Πίστις ist hier – wie in Gal 5,22 – nicht der „rechtfertigende Glaube“, sondern die „Treue“ oder das „Zutrauen“ der Liebe (1Kor 13,7). 37 Weitere Spuren eines solchen gnoseologischen Glaubensverständnisses sind etwa Tit 3,3 (die Vorrangstellung von ἀνόητοι im Lasterkatalog), 1Tim 1,13 („vorchristlicher“ Paulus: ἀγνοῶν ἐποίησα ἐν ἀπιστίᾳ) usw. 34

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phorik so, dass uns die Gnade „durch die Epiphanie“ Christi offenbart worden sei, dieser uns „Leben und Unsterblichkeit“38 durch das Evangelium habe „aufleuchten“ lassen.39 Zwar grenzt sich unser Autor deutlich von „gnostisierenden“ Tendenzen ab, teilt aber grundsätzlich eine Anthropologie, die um die Bedeutung auch des Erkenntnisstrebens für den Menschen weiß.

B. Vom tugendhaften Leben angesichts der „Epiphanie“ Gottes und Jesu Christi (Tit 2,11–14) Tit 2,11–14 bietet ein weiteres Beispiel für die Technik unseres Autors, an paulinische Vorgaben anzuknüpfen und sie fortzuschreiben. Im Duktus des Briefs hat dieser Abschnitt die Funktion, die in Tit 2,1–10 voranstehenden sozial-ethischen Instruktionen für verschiedene Gruppen in der Gemeinde, Alte und Junge beiderlei Geschlechts sowie die Sklaven, theologisch grundzulegen.40 Sind diese Anweisungen von der Sorge um die missionarische Außenwirkung der Gemeinde diktiert, so knüpft unser Abschnitt daran an, wenn er mit dem Motiv von der allen Menschen geltenden Heilsabsicht Gottes einsetzt: 11

a b a b

12

c

13

a

14

a b c d

Denn erschienen ist die Gnade Gottes (ἐπεφάνη … ἡ χάρις τοῦ θεοῦ), Rettung bringend allen Menschen (σωτήριος πᾶσιν ἀνθρώποις), die uns erzieht (παιδεύουσα ἡµᾶς), damit wir, nachdem wir der Gottlosigkeit (τὴν ἀσέβειαν) und den weltlichen Begierden (τὰς κοσµικὰς ἐπιθυµίας) abgesagt haben, besonnen (σωφρόνως), gerecht (δικαίως) und fromm (εὐσεβῶς) in dieser Weltzeit leben, erwartend die selige Hoffnung (τὴν µακαρίαν ἐλπίδα) und Erscheinung der Herrlichkeit (ἐπιφάνειαν τῆς δόξης) des großen Gottes und unseres Retters Jesu Christi (σωτῆρος ἡµῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ), der sich für uns hingegeben hat, damit er uns freikaufe von jeder Ungesetzlichkeit (ἀπὸ πάσης ἀνοµίας) und sich ein auserlesenes Volk reinige (καθαρίσῃ ἑαυτῷ λαὸν περιούσιον), eifrig in guten Werken.

In der „Biographie“ der angesprochenen Christen durchwandert dieser Text gleichsam drei Zeitstufen: ihre überwundene unheilvolle Vergangenheit (V. 12b), ihre tugendhafte Lebensführung in der Gegenwart (V. 12c) und schließlich ihre „Erwartung“ heilvoller Zukunft (V. 13). Am Ende blendet der Text in die heilsgeschichtliche Vergangenheit des Todes Jesu zurück, der die 38

Vgl. auch Röm 2,7. Leben + Licht: 1Tim 6,16a–c; 2Tim 1,10. 40 Vgl. WEISER, Titus 2, 397–414. 39

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gegenwärtige Situation der Christen erst eigentlich ermöglicht. Das Leitmotiv von der „Rettung bringenden Gnade Gottes“ am Eingang des Textes wird an seinem Ende christologisch konkret. Was den Text auszeichnet, ist die Absicht seines Autors, Altes mit Neuem zu verschränken und kreativ weiterzuführen. Zu Recht meint L. Oberlinner: Schon „in der Art und Weise der Ausformulierung erweist sich der Abschnitt als eine für die Past insgesamt charakteristische Verknüpfung von traditionellem Formelgut, wie es in V. 14 in der Bekenntnisaussage von der Selbsthingabe Jesu Christi (sicher) und im Verbum λυτροῦσθαι (möglicherweise) vorliegt, mit Begriffen, die für die theologische und christologische Konzeption der Past zentral sind (ἐπιφάνεια/ἐπιφαίνεσθαι, σωτήρ/σωτήριος).“41

Das sei kurz vertieft: (1) Der Auftakt des Textes, V. 11, knüpft mit der Stichwortkombination ἡ χάρις τοῦ θεοῦ + Dativ πᾶσιν ἀνθρώποις offenkundig an Röm 5,12–21 an, und zwar an die dortige Kernaussage, dass „die Gnade Gottes (ἡ χάρις τοῦ θεοῦ) überreich auf die Vielen (εἰς τοὺς πολλούς) übergeströmt ist“ (V. 15; vgl. V. 21) bzw. „allen Menschen (εἰς πάντας ἀνθρώπους)“ im Tod Jesu eröffnet wurde (V. 18).42 Der Autor greift diese paulinische Kernaussage aus dem Römerbrief auf und übersetzt sie in griechisch-hellenistische Begrifflichkeit, die es den Lesern erlaubt, sie mit zeitgenössischen Erwartungen zu korrelieren, um sie besser zu verstehen. Es ist einerseits der Terminus der ἐπιφάνεια (V. 13, in V. 11a das dazugehörige Verb43), andererseits die Rede von Gott als σωτήρ (Tit 3,3, hier in V. 11b das Adjektiv σωτήριος). Beides assoziiert breit belegbare Erfahrungsmuster, denen zufolge ein Gott sich durch „geschichtlich fassbare[s] Eingreifen […] zugunsten seiner Verehrer“ als „Retter“ erweist44 und so heilvoll „epiphan“ wird, was in der kaiserzeitlichen Herrscherverehrung auch auf den römischen Kaiser übertragen werden konnte. Wenn der Autor ein solches Muster heilbringender „Epiphanie“ aufgreift, beansprucht er es exklusiv für Gottes „Offenbarung“ als σωτήρ im Christus-Geschehen in dessen ganzer Weite. Nicht lediglich ein Ereignis der Vergangenheit – etwa Christi Menschwerdung oder sein Tod und seine Auferstehung – ist „Epiphanie“ Gottes, diese „Weltzeit“ (V. 12c) steht insgesamt im Horizont jener

41

OBERLINNER, Tit, 126. Erhärten lässt sich das auch durch die Parallele 1Tim 2,4 („der will, dass alle Menschen gerettet werden…“), wo der Rückbezug auf Röm 5,12–21 zusätzlich durch die Rede vom ἄνθρωπος Χριστὸς Ἰησοῦς (vgl. Röm 5,15: ἐν χάριτι τῇ τοῦ ἑνὸς ἀνθρώπου Ἰησοῦ Χριστοῦ) sichergestellt ist. 43 Das Adjektiv ἐπιφανής begegnet nicht in den Past. 44 LÜHRMANN, Epiphanie, 195f.; vgl. OBERLINNER, Tit, 156. 42

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„Epiphanie“ Gottes bis hin zum eschatologischen Durchbruch seiner „Herrlichkeit“ am Ende der Zeit.45 (2) Mit der Aussage zur eschatologischen Ausrichtung christlicher Existenz (V. 13) knüpft der Autor gleichfalls an den Römerbrief an, zum einen an 5,2: „wir rühmen uns aufgrund der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes (ἐπ’ ἐλπίδι τῆς δόξης τοῦ θεοῦ)“, zum anderen an Röm 8,18–30, die Ausarbeitung von Röm 5,1–11, wo sich neben den Lexemen ἐλπίς und δόξα auch noch das Tit 2,13 (προσ-δεχόµενοι) entsprechende Verb des „Erwartens“ findet (ἀπεκδέχεσθαι: Röm 8,19.23.25). ἐλπίς und δόξα mit dem Genitiv τοῦ θεοῦ begegnet im Corpus Paulinum nur in Tit 2,13 und Röm 5,2.46 An beide Prätexte knüpft unser Autor an und schreibt sie fort, indem er die vorgegebenen Lexeme mit den eigenen überlagert und sie mittels eines explikativen καί interpretiert: „erwartend das selige Hoffnungsgut (ἐλπίδα), das heißt (καί): das Erscheinen der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Retters Jesus Christus…“ Was Paulus in Röm 8 mittels ἀποκάλυψις (V. 19) und ἀποκαλύπτω (V. 18) ausdrückt, „übersetzt“ unser Autor in seine spezifisch hellenistische Terminologie: Das erwartete „Hoffnungsgut“ ist die „Epiphanie“ der „Herrlichkeit“ Gottes – und damit in eins auch die „unseres Retters Jesus Christus“. (3) Auch in V. 12, der Aussage zur gegenwärtigen Lebensführung der Christen, knüpft der Autor an Paulus an, wenn es dort heißt, wir hätten „der Gottlosigkeit (τὴν ἀσέβειαν) und den weltlichen Begierden (τὰς κοσµικὰς ἐπιθυµίας) eine Absage erteilt“. Beide Termini, ἀσέβεια und ἐπιθυµία, sind Leitworte, mit denen Paulus die in der Rechtfertigung überwundene alte Existenz des Menschen charakterisiert (vgl. nur Röm 1,18.24)47. In Tit 2,12 steht der ἀ-σέβεια das als εὐ-σεβῶς bezeichnete neue Leben der Christen gegenüber,48 wobei die Trias „besonnen“49, „gerecht“ und „fromm“ zusätzlich zum Konzept der εὐ-σέβεια die griechisch-hellenistische Tradition der Kardinaltugenden einholt.50 Diese bieten den Christen Orientierung, freilich unter dem ihr Leben nun bestimmenden Vorzeichen der „Gnade Gottes“, welche ihre παιδεία durchwirkt. 45 Zu den politischen Implikationen s. den Exkurs „Das römische Imperium im Corpus Pastorale – die Bühne des Apostels“ in THEOBALD, Israel-Vergessenheit, 129–135. 46 Ansonsten vgl. noch Eph 1,18b–d: „damit ihr wisst, was die Hoffnung (ἡ ἐλπίς) seiner Berufung ist, was der Reichtum der Herrlichkeit (τῆς δόξης) seines Erbteils“; Kol 1,27: „denen Gott kundtun wollte, was der Reichtum der Herrlichkeit (τὸ πλοῦτος τῆς δόξης) dieses Geheimnisses unter den Heidenvölkern ist – das ist der Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit (ἡ ἐλπὶς τῆς δόξης)“; außerdem 1Thess 2,19f.; 2Kor 3,11f. 47 ἀσέβεια (Röm 1,18) ist Leitwort der ganzen Argumentation Röm 1,18–32. 48 Zum Konzept der εὐσέβεια in den Past vgl. STANDHARTINGER, Eusebeia, passim. 49 Das Wortfeld nur in den Past. 50 Dazu MOTT, Ethics, passim; ZIMMERMANN, Wiederentstehung, 293; HORN, Kardinaltugenden, passim; vgl. auch REISER, Sprache, 81f.

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C. Vom Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Geist (Tit 3,4–7) Bietet Tit 2,1–10 Instruktionen für das inner-gemeindliche Zusammenleben, so Tit 3,1f. zum Außenverhältnis der Gemeinde, im Anschluss an Röm 13,1 vor allem die Autoritäten in Imperium und Polis betreffend, indes mit der zum Leitmotiv der Pastoralbriefe vom universalen Heilswillen Gottes passenden Pointe: „lauter Güte erweisend allen Menschen gegenüber (πρὸς πάντας ἀνθρώπους)“ (V. 2fin.). Solche Offenheit begründet der Autor in V. 3 damit, dass „wir ja einst auch unverständig“ und „allen möglichen Begierden und Leidenschaften versklavt waren“ und unseren gegenwärtigen Heilsstand allein „Gottes Güte“ verdanken. Das Einst-Jetzt-Schema, das er in V. 3/4–7 einsetzt, dient ihm dazu, jeglichen elitären Zug aus dem Gemeindeverständnis zu verbannen.51 In der Protasis der langen Periode (V. 4) knüpft er in leicht veränderter Formulierung noch einmal an Tit 2,11 an („erschienen ist nämlich die Gnade Gottes…“), im parenthetischen Nachtrag V. 5a–d schirmt er diese Aussage gegen Missverständnisse ab, um auf dieser Basis in V. 5e–7, der Apodosis, die eigentlich angezielte Aussage zu treffen: „Gott hat uns errettet durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist“, weshalb wir der „Erbschaft“ ewigen Lebens gewiss sein können. 4

a

5

a b c d e

6

a

7

a b

51

Als aber die Güte und die Menschenfreundlichkeit (ἡ χρηστότης καὶ ἡ φιλανθρωπία) unseres Retter-Gottes (τοῦ σωτῆρος ἡµῶν θεοῦ) erschienen ist (ἐπεφάνη) – nicht aufgrund von Werken (οὐκ ἐξ ἔργων), solchen in Gerechtigkeit, die wir getan haben,52 sondern gemäß seinem Erbarmen (ἔλεος) –, hat er uns gerettet (ἔσωσεν) durch das Bad der Wiedergeburt (διὰ λουτροῦ παλιγγενεσίας) und der Erneuerung im Heiligen Geist (ἀνακαινώσεως πνεύµατος ἁγίου), den er ausgegossen hat über uns in Fülle durch Jesus Christus, unseren Retter (τοῦ σωτῆρος ἡµῶν), damit wir – gerechtfertigt durch seine Gnade (δικαιωθέντες τῇ ἐκείνου χάριτι) – Erben würden entsprechend der Hoffnung auf ewiges Leben (κατ ἐλπίδα ζωῆς αἰωνίου).

Dies wird auch in Opposition zu den gegnerischen Gruppierungen stehen. Luther: „nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit“. Konjunktivisch geben das Verb wieder die Elberfelder Übersetzung („nicht aus Werken, die, in Gerechtigkeit , wir getan hätten“) und die Einheitsübersetzung („nicht weil wir Werke vollbracht hätten, die uns gerecht machen können, sondern aufgrund seines Erbarmens“). Obwohl der Autor in Tit 3,3 vom „Ver52

Alt und Neu

371

Auch in diesem Abschnitt knüpft der Autor an sein Corpus Paulinum an: mit der formelhaften Wendung „nicht aufgrund von Werken“ (V. 5) an Stellen wie Röm 3,20.28; Gal 2,16 und Eph 2,9 (οὐκ ἐξ ἔργων),53 mit dem Partizip „gerechtfertigt durch seine Gnade“ (V. 7) fast identisch an Röm 3,24: δικαιούµενοι … τῇ αὐτοῦ χάριτι. Weitere paulinische Leitworte treten hinzu: χρηστότης = Güte54, ἔλεος = Barmherzigkeit55, der „paulinische Neologismus“ ἀνακαίνωσις πνεύµατος ἁγίου = Erneuerung im heiligen Geist56 und das Stichwort κληρονόµοι = Erben in der eschatologischen Klimax des Absatzes.57 Die Hauptaussage „er hat uns errettet (ἔσωσεν)“ könnte Eph 3,5.8 zur Vorlage haben.58 Die Klausel „Hoffnung auf ewiges Leben (ἐλπὶς ζωῆς αἰωνίου)“ greift noch einmal das Präskript Tit 1,2 auf und rahmt den Brief. Kennzeichnend für die Technik unseres Autors sind wieder die beiden Kombinationen von jeweils zwei Lexemen in V. 4 und V. 5e, einem paulinischen und einem eigenen Signalwort, die sich gegenseitig interpretieren. In V. 4 ist es die χρηστότης Gottes, seine gütige Zuwendung zum Menschen,59 mit der der Autor die Rede von der φιλανθρωπία Gottes, seiner „Menschenliebe“ (Luther) bzw. „Menschenfreundlichkeit“, verknüpft. Der sklavt-Sein“ des Menschen unter „alle möglichen Begierden und Leidenschaften“ spricht, scheint er nicht auszuschließen, dass der Mensch ohne Christus „gerechte Werke“ zu leisten imstande ist, ohne dass diese für seine Rechtfertigung relevant wären. So sollte man V. 5c vielleicht doch indikativisch wiedergeben. 53 Vgl. auch Eph 3,5: χάριτί ἐστε σεσῳσµένοι, eine „paulinische“ Parole, die Eph 3,8 wiederholt: τῇ γὰρ χάριτί ἐστε σεσῳσµένοι διὰ πίστεως. 54 Auf Gott bezogen: Röm 2,4: „Verachtest du etwa den Reichtum seiner Güte (τοῦ πλούτου τῆς χρηστότητος), Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass Gottes Güte (τὸ χρηστὸν τοῦ θεοῦ) dich zur Umkehr treibt?“; 11,22: „Siehe also die Güte und die Strenge Gottes: gegenüber denen, die gefallen sind, die Strenge, gegen dich die Güte Gottes, wenn du bei der Güte bleibst, sonst wirst auch du (aus dem Ölbaum) herausgehauen“; Eph 2,7: „damit er in den kommenden Äonen (= Zeiten) den überragenden Reichtum seiner Gnade erweise durch Güte gegen uns (ἐν χρηστότητι ἐφ’ ἡµᾶς) in Christus Jesus“. – Auf Menschen bezogen: Röm 3,12; 2Kor 6,6; Gal 5,22; Kol 3,12. 55 BREYTENBACH, Gott, 53, verweist darauf, „dass das Empfinden von Mitleid [ἔλεος] von der kynisch-stoischen Tradition abgelehnt wurde“ (vgl. Epiktet 2,17; 3,22; Cicero, Tusc 4,18); vgl. DERS., „Charis“, passim, sowie SPICQ, Lexique, 472. 56 ZIMMERMANN, Wiederentstehung, 272; dieser „Neologismus“ ist gebildet auf der Basis von Röm 12,2: „und gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes (τῇ ἀνακαινώσει τοῦ νοός)“; 2Kor 5,17: „deshalb: wenn jemand in Christus ist, ist er neue Schöpfung (καινὴ κτίσις)“; Eph 4,23: „dass ihr euch aber erneuern lasst durch den Geist in eurem Sinn (ἀνα-νεοῦσθαι δὲ τῷ πνεύµατι τοῦ νοὸς ὑµῶν)“ und Kol 3,10: „und ihr habt den neuen Menschen angezogen, der (immer wieder) erneuert wird (ἀνα-καινούµενον) zur Erkenntnis nach dem Bild seines Schöpfers“. 57 Vgl. Röm 8,17; Gal 3,29; 4,1.7. 58 Eph und Kol gehörten zum Corpus Paulinum, auf das sich der Autor der Past bezog; Nachweise in: THEOBALD, Israel-Vergessenheit, 164–169. 59 Dazu STACHOWIAK, Chrestotes, passim.

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Terminus legte sich ihm von der Basisaussage Tit 2,11 her nahe: „die Gnade Gottes, heilbringend für alle Menschen“, trägt aber als „ein Schlüsselwort der hellenistischen Epoche“60 auch einen eigenen Akzent. Vorbereitet durch das hellenistische Judentum, ist dies die älteste christliche Verwendung des urgriechischen Wortes φιλανθρωπία. Seine Leistungskraft ist laut F. Prostmeier enorm, vermochten es die Christen doch, mit ihm „attraktiv“ für ihr „eminentes ethisches Niveau zu werben, denn dieses Signalwort versprach zugleich ein Höchstmaß an Gemeinsamkeit mit den Idealen griechisch-römischer Lebensart“ und eignete sich auch dazu, die Rede von dem in einem Menschen epiphan werdenden Gott gegen alle philosophischen Einwände zu plausibilisieren.61 Was den Herrschern als höchste Tugend zugedacht war, wird hier dem „großen Gott“ (Tit 2,13) zugesprochen, erhält im Kontext aber auch eine „paradigmatische Bedeutung“62, insofern Gottes „Menschenfreundlichkeit“ indirekt auch den Glaubenden zur Nachahmung ans Herz gelegt wird. Nichts anderes meint die Weisung von V. 2, sie sollten „allen Menschen lauter Freundlichkeit erweisen“. Unter der Hand wandelt sich so das aristokratische Merkmal „gnädiger Herablassung“ in ein solches demütiger Zuwendung. Die Kehre, die den Glaubenden eine solche Lebenseinstellung ermöglicht, ist dem Autor zufolge ihre Taufe, die er in V. 5e „Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im heiligen Geist (παλιγγενεσίας καὶ ἀνακαινώσεως πνεύµατος ἁγίου)“ nennt. Der pagane Terminus, in den er den paulinischen Neuschöpfungsgedanken übersetzt, – „Wiedergeburt“ – steht voran. Jüngst hat noch einmal Chr. Zimmermann seine zeitgenössische Verbreitung und „Modernität“ dokumentiert.63 Ihr zufolge dürfte er in Tit 3,4 die „größten Konvergenzen“ zu den Mysterienreligionen besitzen, insofern ein „prämortales Wiederentstehen des Menschen im Initiationsritus“ hier und dort im Fokus steht.64 Dass in der zeitgenössischen christlichen Literatur der Gebrauch von Metaphern des Geboren- und Gezeugtwerdens, auch des Gebärens, für die Taufe Konjunktur hat,65 belegt die zeitgenössische Attraktivität von Tit 3,4. 60

PROSTMEIER, Φιλανθρωπία, 144, im Anschluss an SPICQ, Lexique, 922: « un mot-clef de l’époque hellénistique, tant dans la littérature que dans les papyrus et les inscriptions ». Vgl. SÖDING, Menschenfreundlichkeit, passim; HERZER, Menschenfreundlichkeit, passim. 61 PROSTMEIER, ebd. (alle Zitate). 62 BROX, Past, 306: „wegen der intendierten Nachahmung“ sei die „Herrschertugend der Herablassung zu Untergebenen“ hier „gerade nicht“ gemeint, „sondern das nun auch dem Glaubenden mögliche und ihn verpflichtende Verhalten“. „Die zentralen Theologumena werden in den Pastoralbriefen immer in ihrer direkten Bedeutsamkeit für das praktische Christsein erinnert“. Andere Akzente setzt ZIMMERMANN, Wiederentstehung, 293. 63 ZIMMERMANN, Wiederentstehung, 294: ein „Begriff, der um die Zeitenwende offenbar an Modernität gewann“. Vgl. bereits DEY, ΠΑΛΙΓΓΕΝΕΣΙΑ, passim. 64 Ebd. 65 Vgl. Joh 3,3.5.7; 1Joh 3,9; 4,7; 5,1.4.18; 1Petr 1,3.23; 2,2; Jak 1,18; Justin, 1 apol 61,4 usw.

Alt und Neu

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D. Anknüpfung und Fortschreibung – ein Ausblick Fassen wir die gesammelten Beobachtungen an den ausgewählten Texten des Titusbriefs zusammen, können wir beim Autor des Corpus Pastorale zunächst grundsätzlich von einer Methodik der Anknüpfung an paulinische Vorgaben samt Einschreibung neuer Elemente in sie sprechen. Diese Methodik kommt facettenreich bei ihm zum Zug und ist von der Gesamtintention des Corpus Pastorale her zu verstehen: (1) Auffällig ist die Technik, Termini miteinander zu kombinieren, was auf gezielte Begriffsbildung hindeutet. Der Autor greift einen gängigen paulinischen Terminus auf und paart ihn mit einem neuen Terminus, die sich beide gegenseitig interpretieren. So „übersetzt“ er Paulus und unterstreicht dessen Anschlussfähigkeit an zeitgenössisches Sprechen und Denken. Dabei geht es nicht nur um „semantischen Reichtum“, sprachliche Varianz im Vergleich zu Paulus, um Termini, die zwar nur in den Pastoralbriefen begegnen, mit den „semantischen Nachbarn“ der authentischen Briefe aber austauschbar wären,66 sondern um Weiterentwicklungen mit erstaunlich innovativem Potential. (2) Der Autor greift nicht nur einzelne Termini des Paulus auf, sondern knüpft auch literarisch an Paulus an, insofern ihm ein Corpus Paulinum als Basis seiner eigenen literarischen Tätigkeit zur Verfügung steht. Beim Titusbrief lässt sich insbesondere der Römerbrief als der maßgebliche Prätext identifizieren. Sein Präskript Röm 1,1–7 liefert dem die Trilogie insgesamt eröffnenden Präskript Tit 1,1–4 die Matrix. (3) Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass der Autor seinem Text durchgehend eine paulinische Grundierung zuteil werden lässt, sie aber stark mit hellenistischer Sprache „übermalt“. Genannt seien die Leitworte εὐσέβεια („Frömmigkeit“), ἐπιφάνεια („Offenbarung“), παιδεία („Erziehung“), φιλανθρωπία („Menschenfreundlichkeit“), σωτήρ und σωτηρία („Retter“ und „Rettung“/„Heil“).67 Damit werden sowohl ethische als auch religiöse Anschlusspunkte an zeitgenössisches Denken deutlich, die der Autor wahrnimmt und für die eigene Konzeption nutzt. Diese Methodik passt zur Annahme verdeckter (nicht offener) Pseudepigraphie. Wenn der uns unbekannte Autor faktisch den Anspruch erhebt, genuine Schreiben des Apostels vorzulegen, wahrt er die Fiktion, indem er seine Fortschreibungen in die paulinischen Sprachmuster einschreibt. So lässt er den Eindruck entstehen, dass „Paulus“ seine Grundintentionen, wie sie aus 66

BAUM, Variation, 278: „semantic neighbours“. Vgl. STOCKMEIER, Glaube, 880–882 („Die Adaption religiöser Begrifflichkeit“). – Die Situation ist vergleichbar mit 1Clem, der auch Leitworte wie εὐσέβεια (1,2; 2,3; 11,1; 15,1; 32,4; 50,3; 61,2) und παιδεία rezipiert und christlich adaptiert; vgl. DERS., Begriff, passim. 67

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seinen anderen Briefen bekannt sind, in denen an seine Schüler weiterentwickelt. (4) Wenn das theologische Grundaxiom des Autors lautet: „Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1Tim 2,4), dann bewährt er dieses Grundaxiom nicht zuletzt in seiner kreativen literarischen Arbeit, die einen missionarischen Impetus auszeichnet. Es wäre zu wenig, seine Leistung nur darin sehen zu wollen, das beanspruchte paulinische Erbe in Gestalt katechetisch tradierbarer „Lehre“ weiterzureichen. Vielmehr verfügt er über eine genuin theologische Sensibilität für die Notwendigkeit, das tradierte Gut auch zu „übersetzen“ und jede Esoterik dabei zu vermeiden. Wenn „Gott will, dass […] alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“, dann müssen auch alle die Botschaft zu ihrer Zeit verstehen können.68 Der hier aufscheinende Abstand zu Paulus, verbunden mit einem erstaunlichen hermeneutischen Bemühen, das dem eingetretenen Situationswandel geschuldet ist, lässt es nach meinem Urteil nicht als geraten erscheinen, das Corpus Pastorale von einem Intimus des Apostels unmittelbar nach dessen Tod verfasst sein zu lassen.

E. Anhang Tabelle Nr. 1: Kombination zweier Substantive in den Pastoralbriefen Tit Tit Tit Tit Tit Tit

1,1 1,4 1,14 1,15 2,11 2,12

κατὰ πίστιν ἐκλεκτῶν θεοῦ καὶ ἐπίγνωσιν69 ἀλήθειας χάρις καὶ εἰρήνη µὴ προσέχοντες Ἰουδαϊκοῖς µῦθοις καὶ ἐντολαῖς ἀνθρώπων µεµίανται αὐτῶν καὶ ὁ νοῦς καὶ ἡ συνείδησις ἡ χάρις τοῦ θεοῦ σωτήριος (Substantiv + Adjektiv) ἀρνησάµενοι τὴν ἀσέβειαν καὶ τὰς κοσµικὰς ἐπιθυµίας

68 Dieses Prinzip hat schon Paulus selbst vertreten, vgl. 1Kor 14,19: „Ich will aber in der Gemeinde lieber fünf Worte mit meinem Verstand reden, damit ich auch andere unterweise, als zehntausend Worte in Zungen“; 14,23–25: „Wenn nun die ganze Gemeinde sich versammelt und alle in Zungen reden, und es kommen Unkundige oder Ungläubige hinzu, werden sie dann nicht sagen: Ihr seid von Sinnen! Wenn aber alle prophetisch reden und ein Ungläubiger oder Unkundiger kommt herein, dann wird ihm von allen ins Gewissen geredet, und er fühlt sich von allen ins Verhör genommen; was in seinem Herzen verborgen ist, wird aufgedeckt. Und so wird er sich niederwerfen, Gott anbeten und ausrufen: Wahrhaftig, Gott ist bei euch!“ – Bemerkenswert ist auch, dass Paulus nicht mehr den „Menschensohn“-Titel benutzt, den er wohl kannte, der seinen Gemeinden aber vielleicht nicht mehr verständlich gewesen wäre, sondern in Röm 5,12–21 vom „Menschen“ Jesus Christus spricht. 69 ἐπίγνωσις: Röm 1,28; 3,20; 10,2; Phil 1,9 (ἵνα ἡ ἀγάπη ὑµῶν ἔτι µᾶλλον καὶ µᾶλλον περισσεύῃ ἐν ἐπιγνώσει καὶ πάσῃ αἰσθήσει); Phlm 6 (ὅπως ἡ κοινωνία τῆς πίστεώς σου ἐνεργὴς γένηται ἐν ἐπιγνώσει παντὸς ἀγαθοῦ τοῦ ἐν ἡµῖν εἰς Χριστοῦ).

Alt und Neu Tit

2,13

Tit Tit Tit 1Tim 1Τim 1Τim 1Tim 1Tim 1Tim 1Tim 1Tim 1Tim 1Tim 1Tim

3,3 3,4 3,5 1,4 1,14 1,17 1,19 2,2 2,2 2,7 2,7 2,8 2,9 3,13

1Tim 1Tim 1Tim 1Tim 1Tim 1Tim 1Tim

3,15 4,1 4,5 4,6 5,17 6,1 6,3

1Tim 1Tim 1Tim 1Tim 1Tim 1Tim

6,4 6,8 6,9 6,13 6,15 6,16

70

375

προσδεχόµενοι τὴν µακαρίαν ἐλπίδα καὶ ἐπιφάνειαν70 τῆς δόξης τοῦ µεγάλου θεοῦ καὶ σωτῆρος ἡµῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ δουλεύοντες71 ἐπιθυµίαις καὶ ἡδοναῖς72 ποικίλαις73 ἡ χρηστότης καὶ ἡ φιλανθρωπία … τοῦ σωτῆρος ἡµῶν θεοῦ διὰ λουτροῦ παλιγγενεσίας καὶ ἀνακαινώσεως πνεύµατος ἁγίου µὴ προσέχειν µύθοις καὶ γενεαλογίαις ἀπεράντοις ἡ χάρις τοῦ κυρίου ἡµῶν µετὰ πίστεως καὶ ἀγάπης τῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ τιµὴ καὶ δόξα ἔχων πίστιν καὶ ἀγαθὴν συνείδησιν ὑπὲρ βασιλέων καὶ πάντων τῶν ἐν ὑπεροχῇ ὄντων βίον … ἐν πάσῃ εὐσεβείᾳ καὶ σεµνότητι ἐγὼ κῆρυξ καὶ ἀπόστολος διδάσκαλος ἐθνῶν ἐν πίστει καὶ ἀληθείᾳ χωρὶς ὀργῆς καὶ διαλογισµοῦ74 µετὰ αἰδοῦς καὶ σωφροσύνης75 βαθµὸν ἑαυτοῖς καλὸν περιποιοῦνται καὶ πολλὴν παρρησίαν ἐν πίστει τῇ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ στῦλος καὶ ἑδραίωµα τῆς ἀληθείας προσέχοντες πνεύµασιν πλάνοις καὶ διδασκαλίας δαιµονίων διὰ λόγου θεοῦ καὶ ἐντεύξεως τοῖς λόγοις τῆς πίστεως καὶ τῆς καλῆς διδασκαλίας µάλιστα οἱ κοπιῶντες ἐν λόγῳ καὶ διδασκαλίᾳ ἵνα µὴ τὸ ὄνοµα τοῦ θεοῦ καὶ ἡ διδασκαλία βλασφηµῆται µὴ προσέρχεται ὑγιαίνουσιν λόγοις τοῖς τοῦ κυρίου ἡµῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ καὶ τῇ κατ’ εὐσέβειαν διδασκαλίᾳ νοσῶν περὶ ζητήσεις καὶ λογοµαχίας διατροφὰς καὶ σκεπάσµατα εὶς ὄλεθρον καὶ ἀπώλειαν παραγγέλλω σοι ἐνώπιον τοῦ θεοῦ … καὶ Χριστοῦ Ἰησοῦ … ὁ βασιλεὺς τῶν βασιλευόντων καὶ κύριος τῶν κυριευόντων τιµὴ καὶ κράτος αἰώνιον

ἐπιφάνεια: 1Tim 6,14; 2Tim 1,10; 4,1.8; außerdem ἐπιφαίνω: Tit 2,11; 3,14. – προσδέχοµαι: Lk 2,25.38; 23,51; Act 23,21; 24,15; bei Paulus nur Röm 16,2 und Phil 2,29 im Sinne von „gastfreundlich aufnehmen“. 71 Vgl. Tit 2,3. 72 ἡδονή: Lk 8,14; Jak 4,1.3; 2Petr 2,13; bei Paulus nirgends; ἐπιθυµία: Röm 1,24; 6,12; 7,7f.; 13,14; Gal 5,16.24; 1Thess 4,5. 73 Vgl. 2Tim 3,6: ἀγόµενα ἐπιθυµίαις ποικίλαις. 74 „So will ich nun, dass die Männer beten an allen Orten und aufheben heilige Hände ohne Zorn und Zweifel“ (Luther); EÜ: „ohne Zorn und Streit“. ROLOFF, 1Tim, 131f.: „Dass das mehrdeutige Wort διαλογισµός hier nicht mit ‚Zweifel‘, sondern mit ‚feindselige Gedanken‘ bzw. ‚Streit‘ zu übersetzen ist, ergibt sich aus der vorliegenden Topik […], in der das Thema des Gebetszweifels bzw. der Laxheit des Betens keinen Platz hat“. Bei Paulus begegnet das Wort immerhin Röm 1,21; 14,1; 1Kor 3,20; Phil 2,14 (πάντα ποιεῖτε χωρὶς γογγυσµῶν καὶ διαλογισµῶν), im Corpus Pastorale nur hier (möglicherweise durch Phil 2,14 beeinflusst; vgl. auch die v.l.). 75 Beide Termini nicht bei Paulus.

376

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1Tim

6,20

2Tim 2Tim 2Tim 2Tim 2Tim 2Tim 2Τim 2Tim

1,3 1,9 1,10 1,13 3,13 4,1a 4,1c 4,2

ἐκτρεπόµενος τὰς βεβήλους κενοφωνίας76 καὶ ἀντιθέσεις τῆς ψευδωνύµου γνώσεως ἐν ταῖς δεήσεσίν µου νυκτὸς καὶ ἡµέρας κατὰ ἰδίαν πρόθεσιν καὶ χάριν φωτίσαντος δὲ ζωὴν καὶ ἀφθαρσίαν διὰ τοῦ εὐαγγελίου ἐν πίστει καὶ ἀγάπῃ τῇ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ πονηροὶ ἄνθρωποι καὶ γόητες διαµαρτύροµαι ἐνώπιον τοῦ θεοῦ καὶ Χριστοῦ Ἰησοῦ καὶ τὴν ἐπιφάνειαν αὐτοῦ καὶ τὴν βασιλείαν αὐτοῦ ἐν πάσῃ µακροθυµίᾳ καὶ διδαχῇ

Tabelle Nr. 2: Kombination von zwei (Verbal-)Adjektiven/Partizipien Tit 1Tim 1Tim 1Tim 1Tim 1Tim 2Τim 2Tim 2Tim

1,15 2,2 2,3 6,2 6,14 6,15 2,20 2,23 3,16

τοῖς µεµιαµµένοις καὶ ἀπίστοις οὐδὲν καθαρόν ἵνα ἤρεµον καὶ ἡσύχιον βίον διάγωµεν τοῦτο καλὸν καὶ ἀπόδεκτον πιστοί εἰσιν καὶ ἀγαπητοί τηρῆσαί σε τὴν ἐντολὴν ἄσπιλον ἀνεπίληµτον ὁ µακάριος καὶ µόνος δυναστής οὐκ ἔστιν µόνον σκεύη χρυσᾶ καὶ ἀργυρᾶ, ἀλλὰ καὶ ξύλινα καὶ ὀστράκινα τὰς δὲ µωρὰς καὶ ἀπαιδεύτους ζητήσεις παραιτοῦ πᾶσα γραφὴ θεόπνευστος77 καὶ ὠφέλιµος πρὸς διδασκαλίαν

Τabelle Nr. 3: Kombination von zwei Verbal-Phrasen in den Pastoralbriefen Tit Tit Tit

1,5 1,9 2,14

1Tim 1Tim 1Tim

2,4 6,2 6,3

1Tim 2Τim 2Tim 2Tim 2Tim 2Tim 2Tim

6,5 1,9 2,14 3,13 3,14 4,17 4,18

76

ἵνα τὰ λείποντα ἐπιδιορθώσῃ, καὶ καταστήσῃς κατὰ πόλιν πρεσβυτέρους παρακαλεῖν … καὶ τοὺς ἀντιλέγοντας ἐλέγχειν. ἵνα λυτρώσηται ἡµᾶς ἀπὸ πάσης ἀνοµίας καὶ καθαρίσῃ ἑαυτῷ λαὸν περιούσιον … ὃς πάντας ἀνθρώπους θέλει σωθῆναι καὶ εἰς ἐπίγνωσιν ἀληθείας ἐλθεῖν ταῦτα δίδασκε καὶ παρακάλει εἴ τις ἑτεροδιδασκαλεῖ καὶ µὴ προσέρχεται ὑγιαίνουσιν λόγοις τοῖς τοῦ κυρίου ἡµῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ ... διεφθαρµένων ἀνθρώπων τὸν νοῦν καὶ ἀπεστερηµένων τῆς ἀληθείας τοῦ σώσαντος ἡµᾶς καὶ καλέσαντος κλήσει ἁγίᾳ ταῦτα ὑποµίµνῃσκε διαµαρτυρόµενος ἐνώπιον τοῦ θεοῦ ... πλανῶντες καὶ πλανώµενοι σὺ δὲ µένε ἐν οἷς ἔµαθες καὶ ἐπιστώθης ὁ δὲ κύριός µε παρέστη καὶ ἐνεδυνάµωσέν µε ῥύσεταί µε ὁ κύριος ἀπὸ παντὸς ἔργου πονηροῦ καὶ σώσει εἰς τὴν βασιλείαν αὐτοῦ

Vgl. 2Tim 2,16: τὰς δὲ βεβήλους κενοφωνίας περιΐστασο. WEISER, 2Tim, 281: „Das Adjektiv θεόπνευστος selbst wurde gelegentlich von heidnischen Autoren seit dem 1. Jh. n.Chr. verwendet, um die göttliche Eingebung in Traum, Weissagung und Dichtung zu bezeichnen.“ 77

Alt und Neu

377

Tabelle Nr. 4: Kombination von drei Substantiven in den Pastoralbriefen Tit 1Τim

1,10 1,5

1Tim 1Τim 1Tim

1,13 2,15 5,21

1Tim 2Tim 2Tim

6,9 1,2 1,7

2Tim

1,11

καὶ ἀνυπότακτοι, µαταιολόγοι καὶ φρεναπάται ἀγάπη ἐκ καθαρᾶς καρδίας καὶ συνειδήσεως ἀγαθῆς καὶ πίστεως ἀνυποκρίτου βλάσφηµον καὶ διώκτην καὶ ὑβριστήν ἐὰν µείνωσιν ἐν πίστει καὶ ἀγάπῃ καὶ ἁγιασµῷ µετὰ σωφροσύνης διαµαρτύροµαι ἐνώπιον τοῦ θεοῦ καὶ Χριστοῦ Ἰησοῦ καὶ τῶν ἐκλεκτῶν ἀγγέλων εἰς πειρασµὸν καὶ παγίδα καὶ ἐπιθυµίας πολλὰς ἀνοήτους καὶ βλαβεράς χάρις ἔλεος εἰρήνη οὐ … πνεῦµα δειλίας ἀλλὰ δυνάµεως καὶ ἀγάπης καὶ σωφρονισµοῦ ἐγὼ κῆρυξ καὶ ἀπόστολος καὶ διδάσκαλος

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Autorenverzeichnis Guido Baltes, Dr. phil., Jg. 1968, Dozent für Neues Testament am mbs Bibelseminar in Marburg und an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg. Armin D. Baum, Dr. theol., Jg. 1965, Professor für Neues Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen, Adjunct Professor für Neues Testament an der Evangelische Theologische Faculteit Leuven (B), Visiting Professor für Neues Testament an der Theologische Universiteit Kampen (NL). Roland Deines, Dr. theol. habil., Jg. 1961, Lecturer (2006) bzw. Professor (2009–2016) für Neues Testament an der Universität von Nottingham (UK). Volker Gäckle, Dr. theol. habil., Jg. 1964, Professor für Neues Testament an der Internationalen Hochschule Liebenzell sowie deren Rektor und Privatdozent an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Detlef Häußer, Dr. phil., Jg. 1968, Professor für Neues Testament an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg. Thomas Pola, Dr. theol. habil., Jg. 1956, Univ.-Professor für Evangelische Theologie mit besonderer Berücksichtigung des Alten Testaments an der TU Dortmund, Projektleiter des archäologischen Ausgrabungsprojekts „Tulul adh-Dhahab: Interdisziplinäre Untersuchungen zu einem befestigten Zentralort im unteren Wadi az-Zarqa / mittleres Ostjordanland“. Emmanuel L. Rehfeld, Dr. phil., Jg. 1980, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der TU Dortmund und Pastor der Freikirche „Offene Tür“ in Lünen (Westf.). Hanna Rucks, Dr. phil., Jg. 1982, Pfarrerin in der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover und Autorin. Michael Theobald, Dr. theol. habil., Jg. 1948, Professor em. für Exegese des Neuen Testaments an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Alexander Weiß, Dr. phil. habil., Jg. 1968, apl. Professor, Lehrstuhlvertreter am Historischen Seminar der Goethe-Universität Frankfurt/M. Joel R. White, Dr. phil., Jg. 1962, Hochschuldozent an der Freien Theologischen Hochschule Gießen.

Stellenregister (in Auswahl) A. Altes Testament Genesis (Gen) 1,1–2,4a 1,2 1,11f. 1,29f. 2,2 16,2 20,18 25,21–26 49,10

16 18 18 18 319 290 290 15 10

Exodus (Ex) 3,6 8,15 12,29–14,30 17,7 Aqu 18 20,2 LXX 20,12–16 23,20 24,14–31 25,21f. 28,41 29,7 29,42 29,44–46 29,45f. 30,22–23 31,1–11 34,9 Aqu 34,24 35–40

85 197, 199 70 204 33 300 85 85 33 31 19 19 31 29, 31, 41 26, 31 19 26 204 63 33

Levitikus (Lev) 1–27 4,3 4,4 4,5

33 19 31 19

4,15 4,16 4,24 8,3 8,12 8,30 8,33–35 9,1 9,24 10,7 14,2 16 16,21 17–26 17,11 18,5 19,18 19,20 21,12 26,6

31 19 31 41 19 19 30, 41 30, 41 32 19 87 33 31 33 31 249f., 256 85 300 19 18

Numeri (Num) 24,17 25,10ff. 32,33 35,25

81, 98 34 98 19

Deuteronomium (Dtn) 6,5 85 6,13 84 6,16 84 8,3 84 13,1–11 68 13,1–6 117 17,15 34 17,22f. 34 18,15 258 23,8 15

384

Stellenregister

30,1–5 30,11–15 30,11–14 32,1–43 32,5f. LXX 32,21 32,35 32,43 LXX

230, 232 250 204, 251, 256–258 235f. 321 235–237 86 236, 238

Josua (Jos) 3–4

70

Richter (Jdc) 5,11 6,2

23 64

1. Samuel (1Sam) 2,35 16,13f. 21,4–7

33f. 19 87

2. Samuel (2Sam) 6,1–19 7,1–17 7,8ff

28 28 81

1. Könige (1Reg) 6,1–9,9 8,65 12 17,17–24

28 30, 41 23 19

2. Könige (2Reg) 4,18–37 16,5–18 16,10–18 17,7–18 18,4 22f. 22,1–23,2 22,1–28

19 36f. 28 23 28 28 30, 41 87

1. Chronik (1Chr) 3,2 3,19 17,12 17,14 28,5 29,23

68 28 183 183 183 183

2. Chronik (2Chr) 7,24 32 13,8 178 Esra (Esr) 2,2 3 3,1–6 4,7 5,1f. 6,3–5 6,14

61 62 30, 41 36 63 28 63

Nehemia (Neh) 13,29

34

Hiob (Hi) 1,6–20 2,1–6 2,8 2,8 Aqu 3,10

200 200 204 204 290

Psalmen (Ps) 2,1–9 22,2 22,19 22,29 23,6 25,11 26,8 27,4 30,21 42,5 47 47,9 63,3 72 80,18 84,4f. 84,9f. 84,10 85,11 86,5 88,6 Symm 91,12 93 93,1f. 96,13

37 83 83 178 32 32 32 32 33 32 178 183 32 254 28, 39 32 28 39 32 32 204 84 178 183 10

Stellenregister 98,9 103,3 103,19 105,15 109,6 110,1 117,26 LXX 118,21–28 118,26 119,105 130,4 132 132,1–10 132,11–18 137,7f. 141,5 Symm 145,11–13 145,14 146 146,7f.

10 32 178 19 200 73, 86, 211 10 85 10 322 32 28 27 27f. 15 204 178 18 22, 40 18, 20

Proverbien (Prov) 6,20 272 6,23 322 Jesaja (Jes) 1–33 1,10–17 3,15 6,1 6,1–8,18 6,1–12 6,5 6,9f. LXX 7 7,1–17 7,9 7,10ff. 7,14 7,14 LXX 8,16 8,23 9,1–6 9,5 9,5f. 11 11,1–5 11,1f. 11,1

14, 16, 22, 39 38 26, 38 183 36 32 183 121 36, 38 36–39 39 96 39, 55, 100 39 36 98 36, 39 71 98 10 97 18 55, 98

11,2 11,4f. 11,6–8 11,9 13–23 13,2–22 14,32 24–27 25,8 26,19 28,16 29,18 29,20 29–33 30,20f. 31,4 32,2f. 32,3f. 33,23f. 33,23 34f. 34 34,1–15 34,1 34,2–4 34,5–15 34,8 34,9 34,12 34,16f. 34,35 35 35,1f. 35,1 35,3f. 35,4 35,5–8 35,5f. 35,5 35,6 35,8–10 35,8f. 35,8 35,8 LXX 35,9 35,10 40–63 40ff. 40

385 81 81 16, 18 81 15 15 26, 38 22 17 12, 17f., 21 26, 39 12, 14 17, 40 14 14 179 12, 14 12 14, 23 12 12, 14–16, 24, 39f. 16, 21, 39 12, 14 16, 39 15 15 15, 17, 21, 39 15 17 17 12 12–18, 21–23, 39f. 16, 23 14, 23 14 14, 17, 21f., 39, 188 17 12, 14 12, 16, 18, 20, 23 12, 16 18 14 14, 16 12 16 23 39 16 14

386 40,1f. 40,1–11 40,3–5 40,4 40,8 LXX 40,9 40,9f. 40,12–55,13 41,18f. 42,1 42,2 42,4 42,6 42,7 43,1 43,3f. 43,10–12 43,20 45,3 45,23 LXX 49,6 52,7–10 52,7 52,13–53,12 52,15 53 53,4f. 53,11 53,12 54,1 55,1–2 55,7 56–63 56,1 56,7 61 61,1–3 61,1f. 61,1f. LXX 61,1 61,2 61,2 LXX 65,1f. 65,1 65,2 65,13 65,25 66,18–21

Stellenregister 23 14 84 16 115 14, 40 179, 188 14 16 18 325 325 321 38 18 327 321 16 18 327 321 14 179 90, 92, 326 238f. 327 89 113 86f., 90, 328 86 185 32 14 189 85 10 19, 21, 38 18f., 22, 40, 84, 94 117 12, 19f., 30 17f., 21f., 40 117 237 235 235 185 16, 18 238f.

Jeremia (Jer) 5,31 6,7–11 9,11 21,1–23,5 23,5f. 30f. 30,3f. 30,8f. 30,21 30,22f. 31,1 31,3 31,31–33 31,34 33,17f. 36,3 38,31–34 LXX

87 32 85 38f. 28, 36, 38f. 24 24 24, 40 33, 34 34 24 24 298 32 34 32 115

Ezechiel (Ez) 11,17–21 20,30–44 28,24–26 34 34–37 34,23f. 34,20–31 34,25 34,27–29 35–36 35,10 36 37 37,15–28 37,25–28 37,26–28 40 40,1–9

25 25 25 26f. 24 24f. 24, 40 18, 25 25f. 13 15 25 26f. 24–26, 40 26 29, 41 14 14

Daniel (Dan) 2,44 7,9–14 7,13 7,14 7,18 7,22 7,27 9,22–27 10,13f.

178, 183, 198 10 89, 327 178, 183 198 198 178, 183, 198 231 198

387

Stellenregister 12,1–3 12,3 LXX

17 321

Hosea (Hos) 1,7 2,1–3 3,5 5,5 9,7 10,8

23 26, 40 24 23 86 86

Joel 3,1–5

69

Amos (Am) 1,3–3,2 2,4f. 2,16 9,11f.

17 23 17 28

Obadja (Ob) 11

15

Micha (Mi) 1,2–4 4,7 5,1–3 6,4–8

15 178 55 178

Habakuk (Hab) 2,3 2,4 2,20

39 115, 250 32

Zefanja (Zeph) 1,2f.

15

Haggai (Hag) 1,1 1,12 1,14 2,2 2,4 2,5–9 2,6–8 2,11 2,20–23 2,23

61 61 61 61 61 62 10 62 10, 62 61

Sacharja (Sach) 2,17 3 3,1 3,8 3,9f. 4,7–10 4,8–10 4,9 –10 6,9–15 6,9f. 6,11 6,12f. 8,4f. 8,12 9,9 9,14 12–14 14,3f. 14,16

32 19, 30, 39, 41 200 28, 34 32 62 28 31 28, 39, 41 40 62 28f., 62 63 63 10, 188 10 10 188 73, 188

Maleachi (Mal) 1,2f. 2,1ff. 3,1 3,1–3

15 34 85 10

B. Apokryphen und Pseudepigraphen zum Alten Testament Assumptio Mosis (AssMos) 10,1ff. 179, 198 10,1–10 178 10,1 179, 183, 200 10,3 183 10,7–10 183, 200

10,9

321

Syrische Baruchapokalypse (syrBar) 29,3–30,1 211 40,1–4 211 51,3.10f. 321

388 53–74 72,2–74,3 73,1

Stellenregister 202 211 178

Griechische Baruchapokalypse (grBar) 29 185 4. Esra (4Esr) 7,26–28 7,97 7,125 12,31–34 12,32 13 13,26f. 13,52

211 321 321 211 39 26f., 40 39 39

Äthiopisches Henochbuch (äthHen) 1,4–9 188 38,4 321 40,7 200 62,14 185 90,28ff. 28 90,29f. 29 91 202 91,12–17 211 91,13 28 93 202 93,1–10 211 104,2 321 108,11–14 321 Slawisches Henochbuch (slHen) 66,7 321 Jubiläenbuch (Jub) 1,17 1,20 1,27 1,28 23,29 48,15 48,18

28f. 200 28f. 179, 183 179, 200 200 200

1. Makkabäer (1Makk) 2,20–22 63 3,19 213 5,62 64 9,73 63

13,27–30 14,4–15 14,26 14,41

64 63 63 64

2. Makkabäer (2Makk) 2,20–24 301 6,12–16 118 4. Makkabäer (4Makk) 7,19 278 16,25 278 17,5 321 Psalmen Salomos (PsSal) 5,18f. 178 17f. 57, 80f. 17,3 178 17,4 183 17,21–46 178 17,44 189 Sapientia Salomonis (SapSal) 28,15 183 Sibyllinen (Sib) 3,46ff. 3,47f. 3,767

178 179 178f., 183, 198

Sirach (Sir) 33,7f. 41,21 LXX 42,7 45,15f. 49,11f. 50,1–24 50,5ff. 50,17–21

120 332 332 34 63 63 32 32

Testament Abrahams (TestAbr) 1,3 198 Testament der zwölf Patriarchen Testament Benjamins (TestBen) 10,7 179

389

Stellenregister Testament Dans (TestDan) 5,10–13 178f., 183, 198, 200

Testament Levis (TestLev) 18 34, 80f.

Testament Judas (TestJud) 21f. 178 24 80f., 178

Tobit (Tob) 14,5

28

Testament Josefs (TestJos) 15,3 323

C. Qumranische Schriften 1QJesa 1QJesa (34,16f.) 1QJesb 1QM passim 1QM 6,6 1QM 7,3–7 1QM 12,8 1QM 12,15f. 1QM 13,5.9 1QS 1,9 1QS 2,16 1QS 9,3–11 1QS 9,11 1QSa 2 1QSa 2,11–22 1QSb 3,5 1QSb 4,24–26 1QSb 5,21 4Q161 4Q174 4Q174+177 4Q226 4Q246 4Q252 4Q266 Frg. 9 4Q266 11 I 4Q375 4Q376

13, 17, 38 17 38 200 178f., 198 21 178 178 322 322 322 35 34f., 64 21 34 178 178 178 81 34 81 29 34 34 21 35 34 34

4Q349 Frg. 8 IV 4Q396 Frg. 1–2 4Q400–407 4Q521 4Q521 2 II 4Q521 Frg.2 4Q521 Frg. 2 II 4Q522 Frg. 9 II 4Q541 11QShirShabb 11Q19 29 11Q19 29,7–10 11Q19 15,3 11Q19 17,5 11Q19 17,6–9 CD 4,4 CD 6,10f. CD 12,23–13,1 CD 12,23 CD 14,18f. CD 14,19 CD 19,7–11 CD 19,14 CD 19,19 CD 19,33–20,1 CD 20,1 CD 20,26 MasShirShabb

21 21 178 12, 18, 20–23, 27, 40 18, 22, 40 19 40 29, 41 34 178 29 29, 41 30 30 30 179 179 34 179 34f., 41 179 34 35 35 34, 65 179 179 178

390

Stellenregister

D. Jüdisch-hellenistische Literatur Josephus Flavius Antiquitates Judaicae (Ant) 1,191–193 297 2,101 323 6,315 204 7,247 198 8,210 198 13,299 64 14,259f. 301 17,41–45 66 18,9f. 68 20,97f. 70 De Bello Judaico (Bell) 1,61 64 1,68f. 64 1,70 64 1,649 68–70 2,60–65 72 2,118 68 2,162 69 2,433f. 68 2,443 68 2,445 68 2,448 68 2,462 323 5,362–419 76 5,391f. 76 5,406 301

6,288–315 7,323–336 7,341–388

202 76 76

Vita 15

198

Philo von Alexandrien De Abrahamo (Abr) 251 296 Legum Allegoriae (All) 3,215 198 3,244 297 De congressu eruditionis gratia (Congr) 22f. 296 De Somniis (Som) 2,133 323 De Specialibus Legibus (SpecLeg) 2,87 323 De Virtutibus (Virt) 85 179 De Vita Mosis (VitMos) 1,90 323

E. Neues Testament Matthäusevangelium (Mt) 1–2 55 1,1 54, 123 1,12f. 63 1,18–25 123 1,21f. 39 1,22 115 1,23 100, 115 2,1–12 113 2,4f. 72 2,5 115 2,15 113, 115 2,17 115

2,23 3,2 3,7–12 3,11f. 3,17 4,12 4,14 4,17 5,3 5,6 5,10–12 5,10 5,14–16

115 184 10, 117 117 113 11 115 22 192, 206 115 208 114, 192, 206 321f.

391

Stellenregister 5,17f. 5,17 5,19 5,20 5,21–48 5,35 5,48 6,9 6,10 6,25–33 6,33 7,1f. 7,12 7,13f. 7,14 7,19 7,21 7,21–23 8,5–13 8,11f. 8,12 8,17 10,1–4 10,5f. 10,7f. 10,7 10,13 10,15 10,33 10,37 10,39 11,1 11,2–6 11,2 11,3 11,5 11,6f. 11,11 11,12 11,13 12,5 12,17 12,25–30 12,25f. 12,25 12,27 12,28

111 114f. 185 209, 213 115 182 116 198 187, 219 213 206, 213 118 111 185 195 117 209 117 11 185, 214 184, 186 115 233 113, 124 197f. 188, 213 213 118 123f. 183 195 10 11f., 17f., 22f., 27, 40f., 189f. 10f., 23, 39 10 18, 21, 23, 39, 203 11 10, 185 196 111 111 115 200 197 186 117 119, 177, 181, 189f., 196–203, 206, 219

12,29 12,32 13,14f. 13,16f. 13,34f. 13,35 13,41f. 13,42f. 13,43 13,50 14,25 15,21–28 15,24 15,30f. 16,13–20 16,16 16,17 16,18 16,19 16,25 17,5–9 17,5 18,1 18,3 18,4 18,8f. 18,19 18,21–35 19,4–6.8 19,15 19,16–26 19,23f. 19,28 19,29 20,21 20,28 21,4 21,31 21,42 21,43 22,1–14 22,2 22,13 22,35f. 22,40 23,3 23,12 23,13 23,15

186, 197 195 121 189 121 115 184, 186 194 185 186 214 113 112, 124 11 55 113 110 123 185 195 115 113, 115 184f. 209 185, 326 194, 206 194 182 115 67 206 194, 209 117, 183, 233 193, 195, 208 184, 207 190 115 194, 209 115 192 182, 185, 219 182 184, 186 111 111 111 326 185 315

392 23,23 23,26 23,37f. 23,39 24,24 24,35 25,1–46 25,1–13 25,14–30 25,21 25,23 25,31–46 25,34 25,36 25,41 25,46 26,24 26,28 26,29 26,31 26,34f. 26,45f. 26,54 26,56 26,63f. 26,64 26,70 26,71 26,72 26,75 27,9 27,28–31 27,37 27,46 27,54 28,6 28,16–20 28,16 28,18 28,19 28,20

Stellenregister 111 203f. 120 120, 122 53 115 117 185f. 186 186, 219 186, 219 194 186, 194, 198, 206, 208f. 11 198 195, 206, 209 115 125 185 115 123 126 115 115 55 211 123f. 55 123f. 123 115 55 55 83 113 115 27, 122f. 123f. 115, 189, 211 113, 124 115

Markusevangelium (Mk) 1,1 54, 108, 113 1,2f. 79, 108 1,7 117 1,7f. 117 1,9–11 190

1,11 1,14f. 1,15 1,17f. 1,19f. 1,27 2,14 2,18–22 2,18–20 2,21f. 2,23–28 2,28 3,11 3,13–19 3,13 3,22–27 4,9–13 4,33f. 5,7 5,19f. 6,52 7,1–23 7,15 7,18 7,19 8,12 8,17–21 8,22–26 8,27–30 8,27f. 8,31 8,34 8,35 8,38 9,1 9,7f. 9,7 9,9 9,10 9,12 9,32 9,42–49 9,43–48 9,47 10,2–9 10,14f. 10,15 10,17–27 10,17

113 188f. 188, 190f., 198 121 121 111 121 111, 189 190 125 116 116 113 27 121 197 121 121 113 121 121 116 205 121 116 202 121 121 55, 190 189 126 109 195 117, 207 198, 207 116 113 126 121 126 121 117 193f., 198, 206, 209 194, 209 116 192, 206 209 193, 206 194, 206, 208

393

Stellenregister 10,23–26 10,23f. 10,23 10,25 10,26f. 10,30 10,32–45 10,37 10,45 10,46–52 11,15–17 11,17 12,6 12,9 12,18–27 12,28ff. 12,32–34 12,40 13 13,16f. 13,20 13,22 13,27 13,28f. 13,31 13,32 13,33 14,24 14,25 14,27f. 14,41f. 14,51f. 14,58 14,61f. 14,62 14,67 15,16–20 15,26 15,29–32 15,29 15,34 15,39 15,43 16,1–8 16,5–8 16,19

208f. 206 194 194 121 195 109 207 190, 327 121 117 67 113 118 116 116 186 118 117 190 121 53, 121 121 190 116 113 190 125 185 108 126 17 23, 28f., 41 55, 113, 189f. 108, 117 55 55 55 122 23, 28, 41 83 108, 113, 122 187 110 108 211

Lukasevangelium (Lk) 1–2 83f.

1,1–4 1,26–2,40 1,27 1,32 1,32f. 1,66 1,68 2,11 2,34f. 2,38 2,46 3 3,4–6 3,7–18 3,15f. 3,16f. 3,18 3,22 4 4,4 4,8–12 4,16–28 4,16–21 4,17f. 4,18–21 4,21 4,25–27. 5,6 5,14 6,3f. 6,35 7,1–10 7,16 7,18–23 7,18f. 7,19f. 7,20f. 7,22f. 7,22 7,26–28 7,26f. 7,28 8,7 8,10 9,18–21 9,19 9,22 9,24 9,30f.

110 55 99 183 99 197 56 54f. 117 56 204 117 84 117 55 117 111 92 117 84 84 70 22, 40, 189 84 93 85, 91 87 289 87 87 118 11 88 189f. 11, 40 10 10 11, 40 88, 203 91 85 185 204 88, 121 55, 91 88 113 195 91

394 9,31 9,35 9,44 9,54 10,5f. 10,9 10,11 10,12 10,18 10,23f. 10,24 10,25–28 10,25 10,26f. 11,2 11,16 11,17–23 11,17f. 11,20 11,21f. 11,29–32 11,29 11,49–51 11,52 12,22–31 12,27 12,45f. 12,49 12,51–53 12,56 13,1–5 13,16 13,23–30 13,23 13,28 13,28f. 13,34f. 13,35 14,7 14,11 14,14 14,15–24 14,15 14,16–24 15 16,8 16,16f. 16,16

Stellenregister 113 92 113 88 213 188, 197f. 188, 213 87 189, 198, 200f. 189f. 91 128 193 85 187, 198, 219 202 200 197 119, 177, 181, 189f., 196–202, 206 197 87, 91 202 87, 92 92 213 87 117 117 88, 117 202 118 88 185 193 186 185, 193 88, 120 120 322 326 118 182, 185 184f. 219 186 195 89 91, 111, 116, 196

16,29 16,31 17,19 17,20–37 17,20f. 17,25 17,26–32 17,33 18,14 18,17 18,18–27 18,20 18,24f. 18,30 18,31–33 18,31 19,9 19,11 19,12 19,15 19, 22–25 19,30 19,38 19,46 20,17f. 20,34f. 20,35 20,37 20,41–43 20,42 21,8–36 21,21 21,22f. 21,22 21,30f. 21,31 22,16 22,18 22,19f. 22,20 22,29f. 22,30 22,32 22,37 22,45f. 22,53 22,67 22,69 23,4

91 91 205 117 119, 196, 202–205 113 88 195 326 209 206 85 206 195 89 87, 90 88, 194 179, 182 185 185 88 88 85 85 85 195 192, 208 85, 87 86 87 88 204 86 87, 117 190 188f., 198 191, 206 191, 206 113 27, 111, 125 185 183 123 86f., 90, 113 126 126 55 211 113

395

Stellenregister 23,14f. 23,20 23,22ff. 23,29f. 23,34 23,35 23,37 23,38 23,39ff. 23,42f. 23,43 23,47 24 24,3 24,6–8 24,7 24,13–32 24,18–21 24,25–27 24,26 24,27 24,36ff. 24,44–49 24,44–46 24,44f. 24,44 24,46f.

113 113 113 86 83, 87 113 113 55 113 184 113 113 55, 127 55 90 55, 113 110 99 74, 89 56, 113, 207 56, 92 27 110 74, 90, 92 131 85, 89, 91, 113 56

Johannesevangelium (Joh) 1,14 29f. 1,17 54, 117 1,19–34 55 1,41 54 1,45f. 98 2,13 30, 41 2,19–21 23, 29 2,19f. 28, 41 2,22 112 3,3 191, 209 3,5 191, 209 3,17f. 117 4,22 128 6,37–40 122f. 6,41–59 125 6,67–69 55 7,26–52 72 10,27–29 123 12,16 112 12,25 195

12,31 12,47f. 13,19 13,34 14,25f. 14,28f. 16,1.4 16,12f. 17,1 17,11f. 18,9 18,36 20,31 21,15–23

189 117 112 115 112 112 112 112 126 123 123 194 195 123

Apostelgeschichte (Act) 1,5 111 1,7 190 2,16–36 68 2,33–35 211 2,41 120 2,47 120 3,5 322 3,13 113 3,14 113 3,26 113 4,14 70 4,27 113 4,28 197 4,30 113 5,14 120 5,25–33 69 5,31 211 5,34 68 5,36 70 5,37 68 6,14 28, 41 7,52 113 7,55f. 211 8,12 131 10,1–11,18 113 10,37 111 11,24 120 11,26 54 13 345 13,24f. 111 13,48 120 14 345 14,22 208

396

Stellenregister

15,5 15,10 16 16,14 16,32 16,40 17,7 18,2 18,17 18,24f. 19,4 19,8 19,19–22 19,20 19,22 20 20,4f. 20,5 20,6–12 20,25 22,14 28 28,7 28,12 28,13f. 28,13 28,23–28 28,23 28,25–28 28,31

205 294 344f. 120 322 318 218 113 343 214 111 131 55 120 322 345 239 318 349 131 113 117 345 345 347 345 122 131 121 131

Römer (Röm) 1,1–7 1,1 1,2f. 1,2 1,3f. 1,3 1,5 1,6 1,7 1,16 1,17 1,18–3,20 1,18ff. 1,18 2,7 3,20 3,21

362 319, 361 115 361 211, 362 97, 116, 125, 128 361, 363 363 363 214, 218 115 122 118 118 218 371 308

3,25 3,28 3,31 4,1–25 5–8 5,2 5,9 5,12–21 5,21 6,2 6,10 6,12–23 6,14 6,18–22 6,22f. 6,23 7–8 7,1–8,2 7,1–6 7,2f. 7,2 7,3 7,4 7,6 7,7–25 7,7–21 7,7–13 7,7–11 7,12–20 7,12 7,13 7,21–25 7,21 8,2 8,3 8,10f. 8,13 8,18–30 8,18 8,21 8,24 8,29f. 8,33 8,34 8,38f. 9–11 9,1ff. 9,4f.

35, 125 308, 371 115 115 306 369 218 368 218 278 278 272 303 274 218 195 299, 302 274, 281–284 272 266, 273–277 273 272 277–279 273f. 282, 293 299, 308 115 280 280 116 116 280 279 266, 272f., 279f., 307 125 122 249 369 207 207, 274 218 122 363 200, 211 122, 189 234, 236f. 128 254

397

Stellenregister 9,5 9,6ff. 9,23 9,30 10,1 10,4ff. 10,4–8 10,4 10,5ff. 10,5–9 10,5f. 10,6f. 10,9f. 10,9 10,10 10,19–21 10,19 11,1 11,11–16 11,11 11,17–36 11,17–24 11,25ff. 11,25 11,26 11,32 13,1–7 13,8–10 13,9 13,11 14,1–15,13 14,1–15,7 14,8 14,9 14,17 15,7f. 15,8f. 15,10 15,14–20 15,16

245f., 259 128 235 235 128 253 247 248–250, 252 249f. 256f. 248 258 258 246 218 237 235 128 235 121 114 235, 246, 259–263 122 236 120, 128 289 194 115, 270 270 190 213 237 278 211 213f., 217, 219f. 238 240 235f. 237f. 329

1. Korinther (1Kor) 1,9 318 1,10–4,21 214–216 1,12 214 1,17 215 1,17f. 219 1,18–2,16 111 1,18 214f., 218

1,20 1,22f. 1,23 2,1 2,2 2,4 2,5 2,13 3,2 4,19 4,20 4,21 5,1–13 5,5 6,9f. 6,11 6,12–21 7,29 8,3f. 8,11–13 9,16 9,19–23 9,21 10,1–13 10,16 11,25 11,26 11,30 11,32 15,3–5 15,3f. 15,23f. 15,24–28 15,24 15,25 15,26 15,31 15,43 15,50–53 15,50–52 15,50 16,22

215 335 326 215 326 215 215 215 324 215 213–217, 219f. 214 209 122 192f., 208f., 213f., 216f., 219f. 209 209 190 366 209 335 305 303 209 54, 318 125 188 122 122 54 90 212 117 211–213 211–212 212 54 207 210 211 192f., 208–210, 214, 216–220 188

2. Korinther (2Kor) 1,21f. 122 1,22 65, 216, 219 2,12 319, 345

398 2,17 3,1–18 3,6 3,17 3,18 3,6ff. 4,1–6 4,5 4,17 5,5 5,15 5,16 5,17 6,2 11,8–9 11,9 11,22 11,32 Galater (Gal) 1,3f. 1,4 1,12 1,13f. 1,15f. 1,16 1,23 2,1–16 2,4 2,11–14 2,14 2,16 2,19 3,3–5 3,13 3,16 3,19 3,22–25 3,22f. 3,23 3,25f. 4,3 4,4f. 4,4 4,8 4,9–11 4,21–5,2 4,21–5,1

Stellenregister 335 111 298 266 207 112 111 326 207 122, 216, 219 112 111 112, 319 118 335 329 128 289f.

296 291 111 128 111, 321 209 128 114 266, 283–285 285f. 299, 302 128, 308, 371 278 296 296, 304, 308 128 293 286–293, 299, 308 299, 302 294 296 298 296 65, 116, 125, 128, 294, 304 298 128 302 294–299

4,21–31 5,1 5,2–4 5,13f. 5,13 5,14 5,21 6,1f. 6,2 6,6 6,8 6,14f. 6,17

266, 299 266 128, 299 298 266 270 193, 208f., 213f., 216, 219f. 122 270, 298f., 302, 305 334 218 128 128

Epheser (Eph) 1,14 1,20–23 1,21 2,7 2,9 2,11–3,13 3,5 3,8 5,8

65 189, 211 195 195 371 114 371 371 322

Philipper (Phil) 1,5 1,5f. 1,6 1,15–18 1,19 1,27 2,25 2,30 1,24f. 1,27–30 1,27–2,18 2,1–4 2,1 2,6–11 2,6ff. 2,12 2,12f. 2,15f. 2,15 2,18f. 2,25–30 3,7–9

318f., 331, 335 320 319 326 319 329 329 329 330 319 323 326 318, 332 326–328 128 218 325 320–326 319 335 319 128

399

Stellenregister 3,10 3,12–21 3,20 3,21 4,3 4,5 4,7 4,10–20 4,16

318, 332 306f. 353 207 329 190 289f. 329–335 329

Kolosser (Kol) 1,13f. 2,9–11 2,15 2,19f. 3,1 4,11

211 211 189, 211 211 211 210

Titus (Tit) 1,1–4 1,1 1,2 1,3 1,4 2,11–14 2,11 2,12 2,13 3,1f. 3,3–7 3,12f.

362, 373 361–367 361 361 362 367–369 372 369 369 370 370–372 359

Hebräer (Hebr) 1,3 1,13 4,6f. 7,14 7,22 8,1 8,6ff. 8,9–13 10,12f. 12,2

211 211 118 128 125 211 125 306 211 211

1. Petrus (1Petr) 1,5 2,13 3,22

290 194 211

1. Timotheus (1Tim) 2,1f. 365 2,4–7 365f. 2,4 374 4,3f. 364 4,16 322 6,15f. 359 6,20 366

2. Petrus (2Petr) 1,11

209

2. Timotheus (2Tim) 1,3 360 1,10 366 2,8 360, 362 2,10 363 3,16 111 4,18 209 4,20 345

Apokalypse (Apk) 1,3 12,5ff. 12,7–10 20,1–3 20,4–6 20,7–10 20,10 20,11–15

1. Thessalonicher (1Thess) 2,2 345 2,11f. 207 2,12 207–209, 220 2,16 118 4,13–18 210, 212 4,15 198 5,1ff. 190 5,5 322 2. Thessalonicher (2Thess) 1,5 207

1. Johannes (1Joh) 2,7f. 115 2. Johannes (2Joh) 5 115

190 200 200 200 211f. 212 190, 200 212

400

Stellenregister

F. Apokryphen zum Neuen Testament Evangelium nach Maria p. 8,11–9,5 204

Thomasevangelium (EvThom) 3 202, 204 3.113 203 113 202, 204

G. Frühchristliche und altkirchliche Schriften 1. Clemensbrief 11,11 59–61

10 365

Chrysostomos Ad Philippenses

323f., 334

Epiphanius Panarion (Pan.) 1,1 1,5 18 29 29,1,2 29,1,3f. 29,9

99 99 98 98 99 99 99

Eusebius Historia Ecclesiastica (HE) 3.11 55 3.32.6 55 4.22.4 55

Laktanz Divinae institutiones 5.3.18–21 58 Origenes Contra Celsum 3,1 7,18

59 59

Tertullian Adversus Marcionem (Marc) 4,35 203 Ignatius von Antiochien Trallianer (Tr) 7,2 203 Augustinus Ad Galatas (I) 26f.

291

H. Rabbinica Av 3,5 bBer 2,4f. bBer 29a bPes 119a Ber 9,5 ExR 10,7 Mak 24a mAv 6,2 mBer 2,2 mBer 2,5 mBer 5,5

301 179 26 85 255 197 250 302 179 179 21

mSan 10 mSuk 4,4 mYom 1,4–7 ShemR 15,11 ShemR 41 SifBam 15,39 SifDev 17,20 SifDev 32,29 TSot 14,3f. yQid 1,2 59c

199 272 33 301 302 179 179 179 302 302

401

Stellenregister

I. Targumim Jesaja 24,23 31,4 35,9 40,9 52,7 52,13 53,5 56,3–5 56,7

179 179 15 179 179 29 29, 41 67 67

Obadja 21

179

Micha 4,7

179

Sacharja 14,9

179

J. Pagane antike Schriften Appian b.c. 1,24

350

Aristoteles Nikomachische Ethik (EthNic) 8.3–7 330 9.9 330 Arrian An 5,22,4

204

Augustus Res Gestae Divi Augusti (RgdA) 15 350 Aulus Gellius Noctes Atticae (n.a.) 16,13,4 345 Cicero Laelius de Amicitia (Lael) 27–28 330 51 330 De lege agrarian (leg.agr.) 2,76 350 De Officiis (Off) 1,56

333

Diodorus Siculus 12.27.3

323

Epiktet Dissertationes 2,1,4 2,10,8

213 213

Herodot Hist 7,100

204

Platon Leges (Leg) 7,789

204

Phaidon (Phaid) 247a

204

Plutarch C. Gracchus 9

350

Seneca Epistulae 9,17

330

Strabon 4,7 206C 7frg. 17 Radt.

350 352

Sueton De Vita Caesarum (VitCaes) V, 25,4 113 III,36 113

402

Stellenregister

Xenophon (Xen) Historia Graeca (Hist) 2,3,19 204 Anabasis (An) 1,10,3

Theocritus Idyll 13,46

324

204

K. Inschriften Epigraphische Datenbank Heidelberg HD045719 317

Supplementum Epigraphicum Graecum 1,362 324

Autorenregister (in Auswahl) Aalen, S. 181f., 185f., 205 Adams, S.A. 79, 342 Ådna, J. 29, 66 Aland, B. 322, 332, 364 Aland, K. 107, 322, 332, 364 Allen, G.V. 78 Allen, L.C. 28 Allison Jr., D.C. 163, 167, 181, 184, 188, 191, 199 Althaus, P. 245–247, 255f., 259, 261, 287 Ascough, R.S. 316, 334f. Avemarie, F. 228 Averbeck, R.E. 239 Baasland, E. 181 Bachmann, M. 265, 268–271, 284, 295f. Barclay, J.M.G. 228 Barnett, A.E. 358 Barr, J. 180 Barrett, C.K. 179, 188 Barth, G. 318 Barthel, J. 36, 38 Bartlett, F.C. 152 Bauckham, R. 55f., 83, 95, 239, 342, 344 Bauer, W. 322, 332, 364 Baum, A.D. 137f., 154, 164–166, 168, 359, 373 Baumgarten, J. 35 Bauspieß, M. 110 Bayer, O. 125, 129f. Beare, F.W. 325 Beasley-Murray, G.R. 179 Becker, E.-M. 108 Becker, Joachim 9 Becker, Jürgen 30, 285, 287, 294f., 317 Beckwith, R.T. 79, 231

Bell, R.H. 237 Ben-Chorin, S. 271, 309 Benefiel, R.R. 347 Berger, K. 327 Berges, U. 13, 15 Berlejung, A. 27 Berry, K.L. 330, 333, 335 Betz, H.D. 287f., 294f., 298, 332f. Betz, O. 52, 66, 69, 70, 72, 97f., 116, 123 Beuken, W.A.M. 12–16, 19, 36, 38 Beyer, H.W. 287 Bilde, P. 52 Bird, M.F. 229 Blenkinsopp, J. 13, 19 Bockmuehl, M. 321f. Bohlen, M. 186, 194, 206f. Bormann, L. 317, 329, 351 Bornkamm, K. 284 Bovon, F. 87, 91, 117, 121 Breytenbach, C. 371 Briones, D. 329–331 Broadhead, E.K. 99 Brooke, G.J. 79, 85 Brox, N. 372 Buber, M. 270 Buchanan, G. W. 181 Burchard, C. 186 Bultmann, Rudolf 11, 109, 112, 125, 203 Burchard, C. 182 Cadbury, H.J. 166 Calvin, J. 268, 287f., 290 Camponovo, O. 178 Carmignac, J. 181 Carroll, M. 147–151, 153, 156f. Casey, M. 230 Chapple, A. 92 Charlesworth, J.H. 29, 35, 50

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Autorenregister

Childs, B.S. 13, 19 Chilton, B. 179 Claussen, C. 317 Cogan, M. 36 Collart, P. 351 Collins, A.Y. 54, 61 Collins, J.J. 12, 18f., 27, 54, 61, 65 Conzelmann, H. 111, 177, 181, 184, 189 Dalman, G. 180, 186 Davies, W.D. 163, 167 Day, M. 233 DeConick, A.D. 148 Deines, R. 49, 52f., 60, 65, 69f., 82f., 89, 93f., 98, 114–116, 123, 195, 201, 322 Delitzsch, F. 14–16, 19 Derrenbacker, R.A. 141 DeSilva, David A. 60 Dibelius, M. 118, 364 Dickson, J.P. 323f., 330, 334 Dietrich, W. 36 Dillmann, A. 19 Dimant, D. 77, 79 Dodd, C.H. 177, 196 Donaldson, T. 236 Duhm, B. 13f., 19, 38 Dunn, J.D.G. 143f., 153, 216f., 230, 268–270, 280, 284, 286, 288 Ebel, E. 352 Eberhart, C. 33 Ebner, M. 231 Eckstein, H.-J. 109, 118, 132, 268, 270, 287f., 290 Egger, W. 180 Ego, B. 15 Ehorn, S.M. 79 Ehring, C. 10 Eisele, W. 362 Elliger, K. 14 Ellis, E.E. 328 Ennulat, A. 167 Esler, P.F. 234, 286, 288 Evans, C.A. 196–198, 200, 230 Fabry, H.-J. 56, 60f., 64, 72f., 99 Fee, G.D. 211

Fiedrowicz, M. 58 Fischer, G. 24 Fishbane, M. 79 Fitzer, G. 198 Fitzmyer, J.A. 79, 81, 166f., 328 Fleddermann, H.T. 11 Flusser, D. 68 Förg, F. 15, 17, 32 Foster, P. 207 Frankemölle, H. 12, 57, 81 Frederiksen, M. 347 Fredriksen, P. 309 Frerichs, E. 50 Frey, H. 35, 27 Frey, J. 195, 268, 270f., 308 Friedman, M.M. 73 Gäckle, V. 119, 212, 214 García Martínez, F. 19 Gaston, L. 269 Gerhardsson, B. 137 Gerstenberger, E.S. 33 Gese, H. 27, 31f., 36, 96 Gesenius, W. 13, 23 Gieseler, J.C.L. 145 Giesen, H. 281, 293 Gitt, W. 50 Gnilka, J. 12, 17, 39, 108, 116, 121, 177, 318, 320 Goldstein, J.A. 63 Goodacre, M.S. 143 Goppelt, L. 111 Goulder, M.D. 140 Graetz, H. 270 Green, W.S. 50 Gregory, A. 138 Greimas, A.J. 231 Grelot, P. 19, 328 Griesbach, J.J. 142 Gunneweg, A.H.J. 61 Haacker, K. 38, 194, 206f., 209, 214, 245, 247f., 255f., 259, 261, 267f., 272, 275f., 278, 280 Häfner, G. 359 Hägerland, T. 57 Häußer, D. 319, 321, 325–327, 329 Haines-Eitzen, K. 137 Hainz, J. 334

Autorenregister Hansen, G.W. 319f., 331, 333, 335 Hanson, P.H. 19 Harris, W.V. 137 Harrison, P.N. 358 Hartenstein, F. 37 Hasler, V. 198, 360 Haufe, G. 208f., 213, 216, 218 Hausmann, J. 33 Hawkins, J.C. 142f. Hawthorne, G.F. 332, 335 Hays, R.B. 231, 233, 235 Heid, S. 59 Heilig, C. 229, 233 Heilman, S.C. 73 Heininger, B. 231 Hellerman, J.H. 326 Hendriksen, W. 325, 335 Hengel, M. 22, 50, 52–57, 59, 63–66, 69, 71, 73, 75, 78f., 81–83, 94, 97, 109, 114, 116, 122–126, 182, 195, 197, 199f., 269, 317, 328, 342 Herder, J.G. 144f. Hermisson, H.-J. 37 Herms, E. 130 Herzer, J. 372 Hewitt, J.T. 229 Hezser, C. 93, 137 Hill, C.E. 211 Hitchcock, M. 360 Hitzig, F. 15 Hofius, O. 35, 108f., 111, 117, 121f., 124, 126, 132, 236, 270f., 280, 282, 287 Holmén, T. 204 Holtheide, B. 353 Holzinger, H. 33 Hooker, M.D. 328 Horbury, W. 50, 70f. Horn, F.W. 186, 369 Horstmann, M. 108 Hubmann, F. 13 Hübner, H. 268–270, 280, 285, 298 Hunt, E. 153f. Hunter, I.M.L. 157 Hurtado, L.W. 72 Innes, G. 158 Irsigler, H. 36 Iwand, H.J. 126, 129

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Jaffee, M.S. 137 Janowski, B. 16, 31f. Jeremias, Joachim 29, 113, 117f., 127, 179, 186, 203, 328 Jeremias, Jörg 24, 32f. Jervell, J. 122 Joest, W. 267 Johnson, A.R. 27 Johnston, G. 216, 218 Jones, F.S. 265, 285, 294f. Jones, H.S. 322 Judge, E.A. 342–344 Jungbluth, R. 178, 183 Kähler, M. 108–111, 126, 129, 131 Kaiser, O. 15 Kammler, H.-C. 121f., 127, 215 Kapelrud, A.S. 27 Karrer, M. 51, 53, 131 Käsemann, E. 129 Kaufmann, J. 15 Keith, C. 57 Keppie, L. 350 Kessler, W. 19 Kiesow, K. 13 Kippenberg, H.-G. 96f. Kirk, A. 138 Kittel, G. 30 Kittel, R. 19 Klappert, B. 190 Klatzkin, J. 15 Klausner, J. 270 Klein, G. 177, 179, 184 Kleinknecht, H. 287 Kloner, A. 68 Kloppenborg, J.S. 141, 316 Knöppler, T. 35 Koch, D.-A. 132, 342 Koenen, K. 31 Konradt, M. 109 Kratz, R.G. 19 Kraus, W. 239 Kreitzer, L.G. 212 Kreplin, M. 11 Krötke, W. 130 Küchler, M. 70 Kuenen, A. 31 Kuhn, H.-W. 53, 97 Kuhn, K.G. 180

406 Kümmel, W.G. 11, 111, 177 Kvalbein, H. 21, 180, 182, 186, 193, 199 Laffi, U. 349 Landmesser, C. 122, 124 Lange, A. 63, 79 Le Donne, A. 57 Lehtipuu, O. 194 Lenhardt, A. 178 Levick, B. 348, 350f. Lichtenstein, J. 244–246, 250–252, 255–257, 261 Liddell, H.G. 322f. Liftin, D. 215 Lightfoot, J.B. 331, 336 Lindemann, A. 177f., 203, 211 Lohfink, G. 358, 360 Lohmeyer, E. 332 Löhr, H. 331 Lohse, E. 245, 247, 252, 255f., 259, 261 Lona, H.E. 59 Lord, A.B. 145f. Louw, J.P. 322 Love, T. 153f. Lüdemann, G. 123, 342 Lührmann, D. 368 Lünemann, G. 118 Lundström, G. 176 Lust, J. 15 Luther, M. 110, 129f., 267f., 283f., 287, 308 Lux, R. 27 Luz, U. 11, 112, 123f., 187, 189 Lykke, A. 73 MacDonald, D.R. 361 Maier, G. 120–122 Maier, J. 29 Malcolm, I.G. 72 Malcolm, M.R. 72 Marshall, I. H. 117, 325, 358 Marshall, P. 333 Marti, K. 19 Martin, R.P. 332, 335 Martyn, J.L. 291 Marx, A. 31 Marxsen, W. 191

Autorenregister Maschmeier, J.-C. 228 Matera, F.J. 268, 272, 275, 280, 288 Mathews, C.R. 13–16 Matlock, R.B. 231 McConville, J.G. 236 McIver, R.K. 147–151, 153, 156f. McKenzie, J.L. 19 Meeks, W.A. 342 Meggitt, J. 346 Meier, J. P. 179, 183, 185, 187f., 190, 196f., 202–204 Meiser, M. 291 Meissner, S. 271 Menge, H. 322 Merk, O. 37 Merkel, H. 176, 197 Merklein, H. 110, 180, 183, 188, 197, 200f., 214 Merz, A. 93f., 176, 178, 182, 185, 187, 189, 197f., 202–205, 358, 361 Meyer, E. 342f. Michaelis, W. 319 Michel, O. 245–247, 255f., 259, 261, 272, 276 Milbank, J. 52 Millard, A.R. 137 Miller, T. 295 Milligan, G. 332 Mitchell, S. 348 Mittmann-Richert, U. 84, 87, 89f., 92, 99f., 113, 117, 131 Moloney, F. 30 Moltmann, J. 177 Mommsen, T. 342f. Morgan, R. 58 Morgenthaler, R. 139, 163, 166 Mott, S.C. 369 Moulton, J.H. 332 Moyise, S. 82, 89 Müller, H.-P. 32 Müller, U.B. 320, 325, 331f. Mutschler, B. 362 Nanos, M. 271, 284–286, 297, 305, 309 Neusner, J. 50, 137 Nida, E.A. 322 Niebuhr, K.-W. 18 Niemann, H.M. 32

Autorenregister Nippel, W. 342f. Noethlichs, K.L. 343 North, R. 52 Novakovic, L. 12, 18, 20, 39 Oakes, P. 287, 298, 323 Oberlinner, L. 359, 364, 368 O’Brien, P.T. 319, 332 Oegema, G.S. 49f., 61, 63, 65 Ogereau, J.M. 319, 329, 332 Omerzu, H. 342, 352 O’Neill, J.C. 181 Pao, D.W. 82, 86, 88 Papazoglou, F. 352 Pate, C.M. 236 Pedersen, S. 322 Pennington, J.T. 187 Perrin, N. 179 Pesch, R. 122 Peterlin, D. 331 Peterman, G.W. 329, 333–335 Petersen, N.R. 231f. Pilhofer, P. 316f., 342, 345f., 349, 352 Pines, S. 27 Pixner, B. 55, 97f. Plummer, A. 331 Plummer, R.L. 325 Poirier, J. C. 150 Pola, T. 10, 12, 16, 18f., 26–28, 30, 33, 61, 70, 108 Pollmann, I. 268, 289, 294 Poon, L.W. 164 Popkes, E.E. 28 Poythress, V.S. 323f. Preuss, H.D. 10, 238 Pritz, R.A. 98 Prostmeier, F.R. 372 Puech, É. 12, 18–20, 29 Puig i Tàrrech, A. 55 Quinn, J.D. 361 Radick, G. 233 Räisänen. H. 268, 270, 272, 275f., 280, 287f., 295, 298 Rahal, T.A. 164 Rahmani, L.Y. 68 Ramsay, W.M. 342

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Ratzinger, J. 203 Regev, E. 63f., 66 Rehfeld, E.L. 92, 115–119, 122, 131f. Reinmuth, E. 118 Reiser, M. 118 Ricl, M. 349 Ricœur, P. 231 Riedo-Emmenegger, C. 66, 68, 70 Riesenfeld, H. 327 Riesner, R. 9–11, 22, 50f., 55f., 61, 68, 75, 83, 90, 94f., 97f., 112, 121, 145, 175, 239, 269, 307, 309, 315f., 321, 327f., 341, 357f., 360 Rizakis, A.D. 348f. Robinson, J.A.T. 83 Robinson, J.M. 11 Röcker, F.W. 207 Rohde, J. 287f. Roloff, J. 109, 112, 128, 365f., 375 Rose, M. 15 Rose, W.H. 28 Rubin, D.C. 164 Rucks, H. 244, 252, 262 Rudolph, W. 24 Ryan, J.M. 325 Sampley, J.P. 332 Sanders, E.P. 197f., 228 Sänger, D. 288 Sauer, G. 63 Schäfer, R. 271, 284 Schalit, A. 67 Schellong, D. 108 Schenke, L. 108, 177, 180f., 183, 190, 193, 195, 201–203 Schenker, A. 31 Schlatter, A. 17 Schließer, B. 330, 332f., 336 Schmidt, W.H. 36 Schnabel, E.J. 82, 86, 88, 229, 325f. Schnackenburg, R. 126, 189, 209, 211, 219 Schneider-Flume, G. 130f. Schnelle, U. 109, 265, 268–270, 272, 329, 342 Schniewind, J. 120 Schöllgen, G. 346 Scholtissek, K. 56, 60f., 64, 72f., 99 Schrage, W. 211

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Autorenregister

Schramm, T. 166 Schreiner, J. 15, 26, 31 Schröter, J. 109, 112, 131, 178, 180, 358 Schulkind, M.D. 164 Schürer, E. 50, 342 Schwambach, C. 118 Schweitzer, A. 97, 109, 269 Schweizer, E. 10, 12 Schwemer, A.M. 10, 12, 22, 54, 56, 63f., 79, 81, 94, 97, 125f., 178, 182, 195, 202–204 Scott, J.M. 230, 239 Scott, R. 322f. Seebass, H. 9 Seelig, G. 59 Sherwin-White, A.N. 342–344, 353 Shulam, J. 244, 246, 249f., 254, 257, 259, 261 Skarsaune, O. 181 Small, J. P. 137 Söding, T. 372 Spicq, C. 360f., 372 Stachowiak, L.R. 371 Stamm, J.J. 32f. Standhartinger, A. 295, 342, 369 Stanton, G.N. 181 Steck, O.H. 14, 230 Stegemann, E.W. 342 Stegemann, W. 341f. Steinhilber, M.G. 365 Stemberger, G. 56, 78, 145, 251, 254, 258f. Stendahl, K. 228 Stenschke, C.W. 325 Steppa, J.-E. 58 Stern, D.H. 244–246, 248f., 255– 259, 261f. Stettler, C. 118 Stettler, H. 10–12, 17, 19, 22, 38, 319 Stockmeier, P. 373 Stolle, V. 267 Strauss, H. 9 Strecker, G. 328 Strobel, L. 50 Stuhlmacher, P. 10, 12, 32, 35, 38, 53– 55, 60, 97, 180, 212, 229, 235, 237, 245, 247, 252, 255f., 259, 261, 268– 270, 272, 276, 280, 294, 307

Sweeney, M. 13, 16, 36 Tadmor, H. 36 Taeger, J.-W. 120 Talmon, S. 31, 36, 62 Taylor, J. 97, 345 Thayer, J.H. 323 Theis, J. 215 Theißen, G. 58, 93f., 176, 178, 182, 185, 187, 189, 197f., 202–205, 342 Theobald, M. 213, 359–361, 363, 368, 371 Thiessen, J. 178 Thiselton, A.C. 211, 215 Thoma, C. 50, 57, 61, 64, 66f. Thornton, C.-J. 179, 188 Thurston, B.B. 325 Tiwald, M. 268, 270f., 287, 295 Tolkien, J.R.R. 290f. Tomson, P. 271 Trummer, P. 358 Turner, S. 212 Tzoref, S. 79 van der Watt, J.G. 195 van der Woude, A.S. 28 Vermeylen, J. 13f. Vincent, M.R. 325 Vittinghoff, F. 347f., 351 Vollenweider, S. 265f., 275f., 285, 294f., 297f., 300 von Aulock, H. 345, 348 von der Osten-Sacken, P. 280 von Harnack, A. 347 von Rad, G. 30 von Wilpert, G. 149 Waelkens, M. 348 Walter, N. 328 Walton, S. 333–335 Ware, J.P. 321–325 Waschke, E.-J. 61 Weber, E. 342f. Wedderburn, A. 220 Weder, H. 203 Weidemann, H.-U. 361 Weigold, M. 63, 79 Weippert, H. 31 Weiser, A. 38, 359f., 367, 376

Autorenregister Weiß, A. 345f. Weiss, B. 11f., 17 Wengst, K. 109, 111, 245, 247, 253, 255–257, 259, 262 Wenham, D. 208, 213 Wernle, P. 11 Westermann, C. 19 White, J.R. 231–234, 238f. Whittle, S. 237 Wick, P. 180, 238 Wiemer, H.-U. 348 Wilckens, U. 245, 247, 255–257, 259, 262, 271f., 274–276, 280 Wildberger, H. 13, 15 Wilk, F. 128, 239 Wilke, C.G. 139 Wilke, H.A. 211f. Williams, F. 67 Wilson, T.A. 303, 305 Windisch, H. 195, 366 Winter, B.W. 215 Wischmeyer, O. 131 Witherington, B. 181, 183–186, 189, 207, 209f., 213f., 219, 288, 325 Wittekind, F. 126

409

Wojtkowiak, H. 317 Wolff, C. 211 Wolff, P. 209f., 213, 217f. Wolter, M. 111, 118, 184, 201, 266, 268f., 272, 274f., 278, 280, 294f., 298, 308, 362 Wrede, W. 184 Wright, N.T. 177, 227–233, 271, 276, 279 Yinger, K.L. 228 Young, N.H. 288 Zahn, T. 268, 274 Zapff, B. 13, 19 Zeller, D. 11 Zetterholm, K.H. 271, 306 Zetterholm, M. 271, 286 Ziegler, M. 360 Zimmerli, W. 24f. Zimmermann, C. 369, 371f. Zimmermann, J. 10, 12, 18–20, 22, 34 50, 52, 61, 64f., 80 Zobel, H.-J. 23 Zumstein, J. 30

Namen- und Sachregister Abschreibeprozess 138–140, 145f., 148 Actium 350f. Adiaphora 214 Äon – alter 10, 15, 17, 27, 296 – neuer 10, 16f., 27, 39f., 296 Ahas 37f. Aktantenanalyse 231 Allegorie 257 ἁµαρτία 280, 293, 304 Anknüpfung 373 Anspielung 11, 17f., 76f., 79f., 91, 232 Anthropologie 205 Antijudaismus 263 Antiochia Pisidiae 345, 348, 351 Antonius 351 Aphorismus 148f., 151, 156, 160f. Apokalypse 15, 17 Apokalyptik 17, 40 Apollos 214f. Apostel 144 Apostelgeschichte – Quellenwert 342 Aristobulos I. 97f. Artemis 316 Athrongas 72f. Auferstehung 41, 90, 108, 125, 127, 212 – Auferstehung der Glaubenden 212 – Auferstehung der Märtyrer 21, 212 – Auferstehung der Toten 12, 21, 211 – Auferstehungsleib 210, 217 Auferweckung s. Auferstehung Augustus 350f. Auswendiglernen 78, 153f., 165 Authentizität 51, 385 Autorität 285 Babylon 14 Bagoas 66f. Bar Kochba 56, 70

βασιλεία (τοῦ θεοῦ) 21, 27, 40f., 118f., 175f., 179–214, 217, 219f., s. auch Reich Gottes – Gabecharakter 192f. Bekenntnis 90, 113, 368 Ben Sira 120 Benefizialwesen 334, 336 Benutzungshypothese s. Quellen Beschneidung 269f., 284f., 296f., 305 Bethlehem 84, 98f. boundary marker 270f., 308 Bürgerrecht – römisches 341–349, 351–353 Bund – Bundesformel 25 – Alter Bund 127, 130, 297 – Neuer Bund 24–27, 34, 40, 124– 127, 130, 297f. Bundeslade-Überführung 27f. Capua 350 Christologie 124, 328, 360 Christen – Christianoi/Χριστιανοί 54, 58, 81 – römische Bürger 343f., 346, 353 chronologische Reihenfolge 231f. Claudius-Edikt 234 colonia s. Kolonie Dank 329 David 84, 94 – Davidsclan 60, 81, 96 – Davidide 26, 61f., 96, 98f. – Haus Davids 83 – Thron Davids 83 Deuterojesaja 14 deuteronomistisches Geschichtsbild 230, 234, 237 διαθήκη s. Bund Dionysos 316 Doxatheologie 30 Drohwort 208

412

Namen- und Sachregister

Echtheitskriterien 51, 57 Einlassspruch 207, 209, 219 Eleazar ben Jair 69, 76 Elia 91f. Elia redivivus 88 Elisabeth 97 Epaphroditus 329, 331, 334 ἐπέχειν 322–325 Ephesos 353 Epiphanie 91, 368f., 372 Erasmus 122 Erfüllungszitat 189 Erkenntnis 364–366 – Christuserkenntnis 110f. – JHWHs 25f., 40 – Ostererkenntnis 110 Erlösung 191, 303, 319 Erneuerung des Gottesvolkes 21 Ersatztheologie 261–263 Erwählung 262–364 – Davids 27 – Zions 27 Eschatologie 21, 71, 73, 81, 118, 195f., 205f., 231, 321 – endzeitliche Erfüllung 12 – endzeitliches Heilsmahl 185, 214 – präsentische Eschatologie 205 Essener 120f. Ethik 196, 209, 217–220, 298, 367, 369 Eucharistie 365 Evangelium 128–130, 191, 215–217, 319, 322, 326, 334, 361 – Evangeliumsverkündigung 118, 210, 215–217, 219, 284, 319f., 323, 325f., 328f., 334–336 – mündliches Evangelium 144f. ewiges Leben 193–195, 205–207, 210, 218f., 249f. Exegese – antike jüdische 257 – rabbinische 257–260, 263 Exil 231, 240 – Israels andauerndes Exil 229–232, 235, 240 Exodus 26, 232f. Exodustradition 207

Familie 72, 74, s. auch Jesu Familie Feinde 213 Fest 186 – endzeitliches Festmahl 185, 214 Fortschreibung 53, 59, 96, 359, 367f., 373 Fragmentenhypothese 358 freier Wille 120 Freiheit 267, 283–286, 290, 293f., 296–304, 310 – Freiheit in Christus 302 – Freiheit vom Gesetz 266, 271f., 279–284, 289, 293, 295, 297–299, 302–304, 307–309 – Freiheit von der Macht der Sünde 293 Freundschaft 330, 333f., 336 Frömmigkeit 360, 365f. Frühjudentum 10, 60, 79f. Fürbitte 365 Fürsorge 330 Gabe s. Unterstützung Galiläa 60, 97 Geben und Nehmen 331, 333–335 Gedächtnis 138, 141, 143, 153, 155, 160f., 169 – Gedächtnistätigkeit 140, 142, 144, 146, 151, 159, 162, 165, 168–170 Geist 18f., 22 – Heiliger Geist 214, 216–220, 249, 281, 303 Gemeinde 234, 321, 346, 363, 370 – in Jerusalem 92 – in Philippi 316, 318f., 329–333, 335f., 352 – in Rom 235, 344 Gerechtigkeit 253 – Gesetzesgerechtigkeit 247– 249, 253 – Glaubensgerechtigkeit 247–249, 251–253 – Toragerechtigkeit 252f. – Werkgerechtigkeit 269 Gericht 10, 16f., 39f. – Endgericht 193, 211 – Gericht JHWHs 12, 15, 38 – Weltgericht 10, 17, 27 Gesalbter s. Messias

Namen- und Sachregister Gesetz 91, 128–130, 247, 275, 277, 279, 281f., 285f., 289, 291f., 294, 298, 300–305, 309f. – Befreiung des Gesetzes 307 – Freiheit vom Gesetz s. Freiheit – Gesetz Christi 299, 302, 305 – Gesetz der Sünde und des Todes 279–281, 298, 302, 307 – Gesetz Gottes 279f., 282f., 298, 302f., 307 – Gesetz und Evangelium 129f., 267, 291 – Gesetzesgehorsam 25f., 40, 271, 285, 295, 301 – Gesetzeskritik 268 – Heiligkeitsgesetz 33 – usus legis 268 – Werke des Gesetzes 268f., 283, 309 Glaube 17, 36, 38f., 41, 110, 188, 249, 251, 293, 309, 320, 322, 362–366 – Glaubensformel 362 – Weitergabe des Glaubens 360 Gnade 122f., 128, 368f. Gottesdienst 38 Gottesknecht 18, 87, 90, 100, 113, 321, 325 Gottvertrauen 248 Grab (leeres) 107 Hadrian 345 Hagar 294–297 Haggai 62 Halacha 283–285, 305, 310 Hanna 56 Hasmonäer 63–65, 72f., 96, 98 Heiden 122, 235f., 239, 248, 284, 297, 316, 321 Heidenchristen 114, 234, 237, 239, 296 Heil 16, 122, 192, 194f., 199, 201, 206f., 209f., 213, 215–219, 320, 367 – Gabecharakter 193, 199, 205–207 – Heilsgeschichte 92 – Heilsraum 207f., 216, 218 – Heilsweg 116 – Heilszeit 17, 67, 191, 195, 216, 218 Heiligkeit 32 Heiligtum 14, 30 – himmlisches 195

413

– neues 26, 40f. Heiligung des Volkes 25 Hermeneutik 124, 128–132, 254, 259, 263 Herodes 67, 70 Herodes Antipas 88 Herodianer 73 Herrlichkeit Gottes 255 Herrschaft Gottes s. Königsherrschaft Hölle 194, 198 Hoffnung 216–218 Hymnus 326 Iconium 345, 348 ἱλαστήριον 35 Inkarnationstheologie 29 Intertextualität 16, 77 Israel 235f., 261f., 321, s. auch Volk – Befreiung Israels 183, 199 – Israels anhaltendes Exil s. Exil – Rest Israels 236f., 240 – Verstockung Israels 121f., 235f. – Verstoßung Israels 237 Italien 347, 350f. Jahwe-Königs-Psalmen 182 Jakobus 90, 95, 97 Jerusalem 91, 98f., 295, 306 Jesus (Christus) – Analogielosigkeit 110f. – auferstandener 41, 89, 111 – Bildung 83, 95 – Christos/Χριστός 54 – Davidssohn 99 – erhöhter 128, 327 – Familie Jesu 56, 81, 90f., 94–97, 99 – Familientradition Jesu 75, 82 – Geburt 84, 99, 294 – Genealogie 75, 94, 360 – Herrschaft Christi 211 – historischer Jesus 51, 110, 126 – irdischer Jesus 56, 58, 60, 94, 109, 117, 121f., 126, 128, 189, 201, 360 – Jesusbewegung 73f., 93 – Jesusforschung 58 – Jesusworte 51 – Kommen Jesu 115, 291, 293, 303, 309f. – Kondeszendenz 326

414

Namen- und Sachregister

– Lehre Jesu 82, 115 – (messianischer) Lehrer 51, 70, 75, 85, 91, 95 – Messianität 50, 52–55, 58–60, 74f., 82, 94, 190 – Parusie 190f., 210–212, 216f., 365f. – Persongeheimnis 110 – Präexistenz 108, 326 – Richten Jesu 118 – Retter 128, 132, 369 – Schriftausleger/-bezogenheit 70, 72, 74–76, 82, 85, 89–94, 97, 99 – Sendung Jesu 113, 115 – Sohn Gottes 92, 108, 113 – Tod Jesu 90, 94, 281, 291, 303, 367, s. auch Kreuz – Verkündigung Jesu 175, 177, 179– 183, 190, 196, 200, 205, 218, 220 – (Selbst-)Verständnis Jesu 51–53, 55, 59, 94 – Wunder Jesu 40, 197–201, 203 Jesusüberlieferung/-tradition 51, 71, 156–158, 175, 191, 195, 208f., 219, 317f., 326–328 Johannes der Täufer 10f., 55, 97 Johannes Hyrkanos 64, 97 Josephus 75 Judäa 84 Judas (Bruder Jesu) 95, 97, 99 Judas Galiläus 67–70, 72f. Judas Makkabäus 63 Judenchristen 114, 234, 237, 248, 252, 262f., 270, 295, 297, 308 jüdische Literatur- und Religionsgeschichte 58 jüdische Tradition 59, 300, 317, 326, 328 Jünger 108, 325 Justin der Märtyrer 59 Kaddisch-Gebet 188, 255 Kaiser 368 – Kaiserkult 316f., 368 Karthago 350 kashrut 213f., 218 Kelsos 59 Kerygma 110, 125, 127, 130, 361, 364 Kindschaft 297 Kleopas 55, 97

Knechtschaft 284f., 294–298, 302, 304 κοινωνία s. Partnerschaft Kollekte 239 Kolonie 344–353 – ius coloniae 347 – Militärkolonisten 348 – Siedlungskolonie 348, 350 – Titularkolonie 347 – Veteranenkolonie 347 – zivile Kolonisten 348 Königsherrschaft (Gottes) 17f., 21, 40 115, 178f., 181, 183f., 190f., 197, 202, 206, s. auch Reich Gottes Korinth 345, 348 – korinthische Spannungen 216, 219 Kreuz 108, 125–128, 215–217, 219, s. auch Sühnetod Kult 14, 23, 28, 31f., 38 Landverheißung 217 Lehrer 68, 70, 144, s. auch Messias – Lehrer der Gerechtigkeit 65 Liturgie (jüdische) 255 Logienquelle s. Quelle λόγος 215, 250 Lukas 82–85, 95, 318, 357 Luther 122 Lystra 345, 351 malkût 178, 180, 184 Maria 97, 99f. Markion 280 Markus – Markuspriorität 139f., 144 – Ur-Markus-Hypothese 139 Masada 69, 76 Menahem 68f. Menschensohn 118, 327 Messias 9, 21, 33, 35f., 40, 54f., 65, 67, 71, 73, 80, 84, 90f., 94, 96, 189f., 207, 235, 245, 248f., 253f., 258f., 293, 306, 309, 317, 326 – davidischer 24, 30, 40, 55f., 60, 67, 70, 81, 96 – designatus 61 – endzeitlicher 20, 22 – idealer Herrscher 18, 28, 36, 39 – Immanuel 38f., 96, 100 – königlicher 10, 30, 66

Namen- und Sachregister – – – –

kommender 10, 61, 65, 74, 189 Lehrer 66, 69, 95 leidender 56, 91, 207 messianische Verwirklichung 61, 65, 70, 74, 76, 94, 96 – messianische Zeit 306, 309, 316 – Messiasdogmatik 50f., 53 – Messiaserwartung 10f., 36, 39, 49– 51, 53, 56f., 59–61, 66, 71, 73f., 76, 94, 328 – Messiasgeheimnis 39, 121 – messianisches Zwischenreich 211f. – Messiasprätendent 66, 71, 73 – Messiasverkündigung 317f., 329, 336 – Präexistenz 254, 258 – priesterlicher 10, 30, 33f., 41, 66 – prophetischer 10, 20, 22, 40, 66 – Schriftbezogenheit 66, 68, 71 – Sohn Gottes 26f., 96 – Spross 28, 34, 38f., 55, 62, 96f. – Verborgenheit 38f. – weisheitlicher 10 Metanarrativ 229, 231–234, 240 Millennium 212 Minor Agreements 140f., 167–169 Mission 56, 58, 240, 325, 327, 329, 374 – Mission der Gemeinde 316, 322, 325f., 328, 367 – Heidenmission 238–240, 316 – jüdische Mission 315f. – paulinische Mission 238–240, 316f., 320, 326, 331–334, 336, 345 Mitarbeiter 210, 329, 336 Mose 91f., 197, 199 Mündliche Überlieferung/Tradition 137, 142–144, 146 Nachfolge 109, 118 Nachman ben Isaak 250 Naherwartung 65 Namen 343f., 353 Narrative Theologie 131 Nathanael 98 Nazareth 55, 98f., 117 Nazoräer 81, 98f. Nero 347

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Neuschöpfung 13, 16, 18, 21, 25–27, 29, 31f., 34, 40f., 52, 219, 319, 372 – kosmische Neuwerdung 39 – Neuschöpfung des Tempels 29 – Neuwerdung des Menschen 32 New Perspective on Paul 228, 268, 307f. νόµος 279, 292–294, 297f. – ὑπὸ νόµον 303–306, 308, 310 Oral Poetry 157–159, 161 Ostern 108, 110f., 126 παιδαγωγός 287–289, 292f. Parallelismus membrorum 164f., 168f., 326, 328 Parataxe 167 Partikularismus 112–114 Partnerschaft am Evangelium 318– 320, 331, 334–336 Patron 330f., 334 Paulus 75, 300, 318f., 331–333 – Berufung 238f., 321, 361 – Missionsreise 345, 352 – Missionsstrategie 345 – Reiserouten 344 Pergamon 353 Perseveranz s. Gnade Petrus 55, 69f., 123, 286 Pfingsten 249 Pharao 199 Pharisäer 66f., 120, 204f. Pheroras 67 Philippi 316f., 326, 328, 335, 345, 348, 351f. Philo 75 Prädestination 120f. Priester – endzeitlicher 34 – Hohepriester 19, 26, 30, 34, 41 – Oberpriester 28 – Priesterdienst 238 Prophet 19f. – endzeitlicher 40 Proselytenkonversion 296 Pseudepigrapha 357, 373 Ptolemais 345 Puteoli 345, 347

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Namen- und Sachregister

Quelle 138 – Benutzungshypothese 142 – Drei-Quellen-Hypothese 139 – Logienquelle/Quelle Q 10f., 141 – Zwei-Quellen-Hypothese 139–141, 143, 155, 159, 167 Qumran 50, 56, 72f., 78f., 96, 120, 236 Qumran-Schriften 9, 52 rabbinische Literatur/Tradition 56, 79, 146, 254f., 259, 263, 294 Ramban 256 realized eschatology 176f., 190, 196, 200 Rechtfertigung 209, 247, 269, 309 – Rechtfertigung durch das Gesetz 286 Redaktion 163f. regula fidei 131 Reich Gottes 127, 178, 182, 186, 191f., 194, 209, 215–218, s. auch βασιλεία und Königsherrschaft – ererben 182, 192–194, 205, 209f., 216, 219 – futurisch 176f., 187, 200f., 207, 216f., 219 – Kommen des Reiches Gottes 187f., 190, 201f., 205, 210 – präsentisch 176f., 216 – räumlich 217f., 220 Reich Satans 201 Reinheitsgebote 270, 305 Reproduktion 138f., 147–149, 153f., 156f., 160f., 168 – auswendige Wiedergabe 142–146, 157–159 Restitution Israels 24–27, 40f. Rettung 365–368, 371 – eschatologische 122, 193 Rhetorik 215, 217 Rom 345 Sacharja 62f. Sadduzäer 120 Salbung des Hohenpriesters 19 Sara 294f., 297 Satan 198, 201, 212 schechina 255

Schrift – claritas scripturae 130 – Schriftauslegung 70, 89, 93 – Schriftbeweis 90 – Schriftverweis 87 – Schriftzitat s. Zitat Second Quest 51, 57 Sein in Christus 216f. Sekretär 357 Serubbabel 61–63 Silvanus 316 Sklaverei 294 Smyrna 353 societas 332 Sondergut des Lukas 140 Soteriologie 120, 205, 207, 269, 307 sozialer Status 342 Spanien 345, 360 Speisegebote 252, 270, 286, 305 Starke und Schwache 213 Subtext 233 Sühne 31f., 41 – Sühnetod 90, 128, 291, 309 – Sühnweihe 31, 33f., 41 Sünde 280f., 291f., 299f., 309f. Synagoge 316f. Synkretismus 316f. Synoptische Frage 149–151 Synoptische Tradition 206 Syrakus 345 Tanna 78 Taufe 209, 296, 372 Tempel 16, 30 – „Dritter“ Tempel 29, 33, 41 – Neuschöpfung des Tempels 29 – Tempelbau 27–30, 33, 41, 62 – Tempelreinigung 30 – Tempelweihe 41 – Zerstörung des Tempels 31 Textsinn – allegorischer 257 – wörtlicher 258 Theophanie 13, 17, 32 Theudas 69f., 73 Thrakischer Reiter 316 Tiglat-Pileser III. 37 Tischgemeinschaft 286 Titius Justus 343

Namen- und Sachregister Titus 283f., 363 Third Quest 51f., 57 Tod 280 Tora 97, 115f., 249, 253, 258, 279, 281, 303, 305, 307 – eschatologische 19 – Joch der Tora 301 – Mosetora 114f., 283 – Sinai-Tora 19, 115, 269f., 279f., 299 – Toragebote 252f. – Toraobservanz 270f., 283–285, 294, 296f., 306, 308–310 Traditionshypothese 146 Traditionsweitergabe 72, 137, 145f., 152f., 157, 164 Tripeltradition 155 Troas 345, 348f. Umkehr 251, 253, 284f., 303, 321 Universalismus 112–114 Unterstützung (finanziell) 329, 331, 333–336 Urgemeinde 121 Vaterunser 187 Verheißung 70f., 99, 261, 291, 293, 361 Verheißungsgeschichte 52

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Verkündigung 69, 318–320, 325, 327, 329, s. auch Evangeliumsverkündigung Versöhnungstag 30 Vespasian 347 Völkerwallfahrt 236 Volk Gottes 199, 235f., 261f., 297, 306 Volk (Israel) 25f., 40 Wahrheit 130, 364–366 Weisheit (präexistente) 92 Werk (gutes) 319f. Wortlautidentität 138–143, 151, 153, 157, 159, 162, 165, 169f. Wunder 70, s. auch Jesu Wunder Zacharias 56, 97 Zadduk 69 Zedekia 38 Zeit 70, 189, 303, 305 Zeitenwende 296 Zeloten 69 Zion 14f., 27, 38, 40 Zitat/Zitation 11, 17, 60, 75–81, 83– 88, 91, 94f., 164, 169 Zwölferkreis 27, 41