Von Freud und Lacan aus: Literatur, Medien, Übersetzen: Zur »Rücksicht auf Darstellbarkeit« in der Psychoanalyse [1. Aufl.] 9783839404669

Wie kann etwas Einzigartiges formuliert werden? »Rücksicht auf Darstellbarkeit« nennt Sigmund Freud ein Arbeitsprinzip u

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German Pages 286 [285] Year 2015

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Inhaltsverzeichnis
Rücksicht auf Darstellbarkeit – Vorwort
Schrift – Male Zu späten Texten Adalbert Stifters
Montagen und Demontagen eines Phantasmas: Henry James’ »Schraubendrehungen«
»Käthchen von Heilbronn« – ein verkehrtes Stück
»Botschafter der Versagung«: Lacan als Leser Claudels
Idealisierung der Frau oder Sublimierung der Liebe?
Das Weib und das Ende der Verführung im Houellebecqschen Roman
Das Begehren am Kriminalroman
La donna delle stelle – Die Liebe zur Übertragung
Kunst und Deckerinnerung
Konstruktionen: Moses und Aron – Brüderlichkeit
Noch eine Stimme, die fehlt
Rücksicht bei der Darstellung
»Son nom de Venise dans Calcutta désert«
»Schade, daß man sich fürs Intimste immer den Mund verschließt.« Zur Abwesenheit des Herrn Signorelli
Das Undarstellbare des psychoanalytischen Prozesses macht erfinderisch – möglicherweise
Eine Struktur, mehrere Modelle
Erschließen und Übersetzen in der Psychoanalyse
Zu Jutta Prasses »Fremdsprache«
Autorinnen und Autoren
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Von Freud und Lacan aus: Literatur, Medien, Übersetzen: Zur »Rücksicht auf Darstellbarkeit« in der Psychoanalyse [1. Aufl.]
 9783839404669

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Von Freud und Lacan aus: Literatur, Medien, Übersetzen

Die Beiträge dieses Buches sind unserer im Frühsommer 2004 verstorbenen Kollegin Jutta Prasse gewidmet. Entstanden sind sie anläßlich des Gedenk-Kongresses am 4. und 5. Dezember 2004 im Berliner Haus der Kulturen der Welt, veranstaltet von der Freud-Lacan-Gesellschaft – Psychoanalytische Assoziation Berlin und der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse. Das Thema »Rücksicht auf Darstellbarkeit« sollte und soll zur Weiterarbeit an den Themen anregen, an denen Jutta Prasse lag: – Psychoanalyse und Literatur – Psychoanalyse in den Medien – Wie stellt sich die Frage der Darstellbarkeit in der Psychoanalyse und für die Psychoanalyse? – Was bedeutet Übersetzung in der Psychoanalyse? Die Herausgeber: Tanja Jankowiak Karl-Josef Pazzini Claus-Dieter Rath

Tanja Jankowiak, Karl-Josef Pazzini, Claus-Dieter Rath (Hg.) Von Freud und Lacan aus: Literatur, Medien, Übersetzen. Zur »Rücksicht auf Darstellbarkeit« in der Psychoanalyse

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Jens Löffler, psb, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-466-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Hinrich Lühmann Rücksicht auf Darstellbarkeit – Vorwort

7

Marianne Schuller Schrift – Male. Zu späten Texten Adalbert Stifters

13

Bernhard Schwaiger Montagen und Demontagen eines Phantasmas: Henry James’ »Schraubendrehungen«

28

Peter Widmer »Käthchen von Heilbronn« – ein verkehrtes Stück

59

Regula Schindler »Botschafter der Versagung«: Lacan als Leser Claudels

83

Claus von Bormann Idealisierung der Frau oder Sublimierung der Liebe?

106

Jean Clam Das Weib und das Ende der Verführung im Houellebecqschen Roman

117

Birgit Althans & Antke Tammen Das Begehren am Kriminalroman

133

Ilsabe Witte La donna delle stelle – Die Liebe zur Übertragung

151

Cornelius Tauber Kunst und Deckerinnerung

154

Dieter Pilz Konstruktionen: Moses und Aron – Brüderlichkeit

173

Norbert Haas Noch eine Stimme, die fehlt

183

Hans Naumann Rücksicht bei der Darstellung

192

Françoise Samson »Son nom de Venise dans Calcutta désert«

203

Robin Cackett »Schade, daß man sich fürs Intimste immer den Mund verschließt.« Zur Abwesenheit des Herrn Signorelli

210

Karl-Josef Pazzini Das Undarstellbare des psychoanalytischen Prozesses macht erfinderisch – möglicherweise

227

Antonello Sciacchitano Eine Struktur, mehrere Modelle

245

Claus-Dieter Rath Erschließen und Übersetzen in der Psychoanalyse

255

Michael Meyer zum Wischen Zu Jutta Prasses »Fremdsprache«

274

Autorinnen und Autoren

279

Hinrich Lühmann

Rücksicht auf Darstellbarkeit – Vorwort

Jutta Prasse ist unserem, sie ist meinem Erleben, meiner Erinnerung noch sehr nahe. Zu nahe, als daß ich sie hier öffentlich würdigen könnte und wollte. Aber ich will einige offenbare Umstände und Wirkungen, die mit ihr verbunden sind, in Erinnerung rufen – die uns berührt haben und berühren, uns, die wir ihr im Umfeld der Psychoanalyse und ihren Anwendungen begegnet sind. Diese Begegnungen waren überwiegend gebunden an die psychoanalytischen Gesellungen, in denen Jutta Prasse gearbeitet hat. Sie war keine Funktionärin der Psychoanalyse; die formalen Details bewältigte sie aus spürbarer Distanz, engagiert, unter herzhafter Mißachtung jeder Tagesordnung und der Rednerliste, aber nicht überheblich, nicht verächtlich auf das Formale der Satzungen blickend, vielmehr sehr energisch intervenierend, deutlich mit dem Ziel, Klarheit zu schaffen, Unnötiges schnell abzuschließen und zu den Inhalten zu gelangen. Sie war auch keine Gründerin – aber uns war es unmöglich, ohne sie zu gründen. Und so war sie Gründungsmitglied der Sigmund-Freud-Schule, der Assoziation. Die Zeit zum Begreifen, der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse und schließlich der Berliner Freud-Lacan-Gesellschaft. Daß keine dieser Gesellschaften als exklusiver Club von Analytikern konzipiert war, sondern daß sie Menschen, die mit der Psychoanalyse und ihren Anwendungen arbeiten wollten, zusammenführten, das war auch ihr Verdienst. In diesen Gesellungen war sie kenntlich, jemand, von dem her man zählte, eine, deren Wort zählte und auf die man sich bezog. Jutta locuta, causa finita? Nein, genau das nicht. Vielmehr es war so: Hatte sie gesprochen, waren die Dinge neu angeordnet, neu beleuchtet, das Gespräch kam in eine weitere Runde. Was sie in den Diskussionen der Gesellschaften sagte, war klar, kenntlich, rücksichtslos, nie gefällig, nie gemacht im Hinblick auf Kompromiß und Harmonie, sondern Position, die man nicht übergehen konnte und zu der wir uns verhalten mußten, ob wir das mochten oder nicht. 7

Hinrich Lühmann

Diese Wirkung verdankte sich keiner Hermetik, Weisheit, Abgehobenheit, Jutta Prasse war keine Freundin auf Tafeln gemeißelter Ewigkeiten, auch keine Freundin der gezügelten Sätze der mündlichen Rede – vor allem nicht im Arbeitsgespräch der zahlreichen Arbeitsgruppen, denen sie angehörte. Da ist zum Beispiel die Arbeitsgruppe »Psychoanalyse und Literatur«, die über zehn Jahre bestanden hat. Wir werden ihre Beiträge nicht vergessen: geschichtengesättigte Erinnerungen, Erlebtes, angeeignetes Erlebtes, hohe Literatur und Schauergeschichten, die sie lustvoll als Wirklichkeiten weitergab. Rührbarkeit und Plaudrigkeit, die Privates nicht ausschloß, aber immer wieder überraschende und sicher gesetzte Deutung, die eine Lichtbahn in das Halbdunkle warf. Dieses Sprechen war unabgesichert, voller Risiko, deshalb manchmal auch daneben, manchmal uferlos, aber immer wahrhaftig. Unser Arbeiten war nie stringent, schien ungeordnet, war assoziativ, ungegliedert, aber wir waren alle in dem Bewußtsein, da ist etwas, das wir uns gemeinsam zu fassen mühen, und von dem vor allem Jutta Prasses Reden, ihre Setzungen, ihre Fragen nicht abließen. Auch dort, wo man nicht ihrer Meinung sein konnte oder nicht sein wollte, ergab es sich, daß in der Ablehnung genau das zur Wirkung kam, was in dem Text, über den wir stritten, lebte und puckerte und von uns Wort haben wollte und dann auch bekam. Einige von uns haben das, was sie haben schreiben können, ob wenig oder viel, in der Nötigung dieser durch ihr Insistieren entstandenen Wahrnehmung dessen geschrieben, was da lebte in einem Textgewebe. Jutta Prasse hat Vorträge gehalten, die uns in Erinnerung bleiben werden; denn sie sind nicht nur von Gewicht für die Psychoanalyse, sie haben auch hohen literarischen Rang. Und ich bin froh, daß es Claus Rath gelungen ist, viele ihrer Vorträge und Veröffentlichungen zusammenzutragen in einem Band, hergestellt in überraschend kurzer Zeit, den wir heute erwerben und aufschlagen können. Die Psychoanalytikerin Jutta Prasse war auch Literaturwissenschaftlerin. Sie beherrschte ihr philologisches Handwerk. Ihre Kenntnisse waren stupend; es schien, als habe sie alles gelesen; wie es auch schien, als habe sie jeden Film gesehen. Diese Vorträge 8

Rücksicht auf Darstellbarkeit – Vorwort

gehen oft von einem erzählenden Kern aus. Aber sie plaudern überhaupt nicht. Mit Sprachkraft, Genauigkeit und Farbigkeit der Worte bereiten sie das Feld für Jutta Prasses Deutungen. Den theoretischen Status dieser Deutungen zu benennen und zu bestimmen, das wäre eine eigene Untersuchung wert. Sie wendet nicht vorgefertigte Theorien an, ihre Vorträge kennen nicht das kalte und starre Waffenarsenal der gelernten Fakten und Begriffe; sie liefern einen ihr eigenen Zugang. Im Psy-Jargon, den sie verachtet hat, gesprochen und geschrieben ist keiner. Sie ordnen sich ein – wie in ein immer wieder auflebendes Gespräch, sie öffnen den Blick auf einen überraschenden Zusammenhang, sie stellen dar, sie zeigen uns: da, in den literarischen Texten und in den Filmen, da gibt es ein ganz eigenes Reich der Darstellung in seinen Verschlingungen, Substitutionen, Verweisungen. Jutta Prasses Deutungen führen nicht zu einem stillstellenden »Schaut, ich zeige euch den entschlüsselten Sinn!«. Dies führt uns zu unserer Arbeit, führt uns zu unserem Kongreß, den wir unter das Thema »Rücksicht auf Darstellbarkeit« gestellt haben. Diese griffige Formel lädt zu Mißverständnissen ein. »Rücksicht auf Darstellbarkeit« könnte ja so gelesen werden, als gäbe es zunächst und zuerst den reinen unverfälschten Sinn, das »eigentlich Gemeinte«. Der, weil er der Rücksichtnahme auf die Möglichkeiten der Darstellung – zum Beispiel in einem Roman, in einem Film, in welchem Sprach- und Bilderwerk auch immer – unterworfen ist, nur entstellt zur Gestalt komme. Ein Eigentliches, das in der Darstellbarkeit gleichsam untergegangen und zermahlen worden wäre – Darstellung als Entstellung. So daß es nur des Fachmannes bedürfte, der die Wege der Entstellung kennt, die Hindernisse beiseite rückt, um nun den eigentlichen Gedanken freizuräumen, ihn zu präparieren und dem staunenden Publikum zu zeigen. »Rücksicht auf Darstellbarkeit« könnte so gelesen werden, als nehme eine bewußt gestaltende Kraft Rücksicht auf Gegebenheiten, die bei einer Sinnübermittlung zu beachten seien. Als hätte sie die Wahl, als wählte sie und könnte entscheiden. So daß dank dieser Rücksichtnahme auf die Bedingungen der Darstellbarkeit ein Text »verständlich«, »kenntlich« wird, als könne man eine zu 9

Hinrich Lühmann

vermittelnde Botschaft nur unter Beachtung gewisser Darstellungsschwierigkeiten so formulieren, daß sie unentstellt durchdringt. Schließlich könnte »Rücksicht auf Darstellbarkeit« auch so verstanden werden, als gelte es, bei dem, was man sagt, kluge Rücksicht zu nehmen – auf das Medium zum Beispiel, in dem man sich äußert, in dem man sich, seine Gedanken ausstellt oder kluge Rücksicht zu nehmen auf die Rezipienten, eine an Bilder-Plattheiten gewohnten Öffentlichkeit zum Beispiel, der man ein arkanes Wissen ad usum Delphini zulöffeln, zuschaufeln, es ihm verträglich portionieren möchte. Das wäre Rücksicht auf Bekömmlichkeit. Freud belehrt uns da etwas genauer. Es war schon schwer, klagt er in der Traumdeutung, die Leser an den Unterschied von latent und manifest zu gewöhnen. Nun, da sich wenigstens die Analytiker damit befreundet haben, für den manifesten Traum seinen durch Deutung gefundenen Sinn einzusetzen, machen sich viele von ihnen einer anderen Verwechslung schuldig, an der sie ebenso hartnäckig festhalten. Sie suchen das Wesen des Traumes in diesem latenten Inhalt und übersehen dabei den Unterschied zwischen latenten Traumgedanken und Traumarbeit. Der Traum ist im Grunde nichts anderes als eine besondere Form unseres Denkens, die durch die Bedingungen des Schlafzustandes ermöglicht wird. Die Traumarbeit ist es, die diese Form herstellt, und sie allein ist das Wesentliche am Traum, die Erklärung seiner Besonderheit. Zu den vier Elementen der Traumarbeit gehört neben Verdichtung, Verschiebung und sekundärer Bearbeitung »Rücksicht auf Darstellbarkeit«. Sie ist der Verschiebung eng verwandt. Dort wird ein farbloser und abstrakter Ausdruck des Traumgedankens gegen einen bildlichen und konkreten eingetauscht. Denn das Bildliche ist für den Traum darstellungsfähig, zudem erleichtert es die Verdichtung, und deshalb gehört zur Traumarbeit die Rücksicht auf Darstellbarkeit; genauer, wie es an anderer Stelle der Traumdeutung heißt: »Die Rücksicht auf Darstellbarkeit in Sinnesbildern«. Es geht also nicht um eine durchdringende Botschaft, nicht um Gestaltung, nicht um Verständlichkeit. Freuds Anmerkung mahnt uns, nicht eine Botschaft, sondern die Traumarbeit, das Zusammenspiel der vier Traumbildner selbst in den Blick zu nehmen. Dies um so mehr, als sich die Frage stellt, ob 10

Rücksicht auf Darstellbarkeit – Vorwort

überhaupt das, was im Traum zur Darstellung, Offenbarwerdung, zur Geburt, zum Lichte drängt, von der Ordnung der Inhalte ist, ob es nicht erst nachträglich Inhalt wird, erst in der Darstellung aufgerufen und erzeugt. Wenn wir annehmen, daß Bild- und Wortgebilde auf eine Weise, die ich hier nicht darlegen kann, den Bildungen des Unbewußten sehr nahe sind, daß Bilder und Sprachbilder Gesetzen unterworfen sind wie der Traum, vielleicht mit einer besonderen Prominenz der sekundären Bearbeitung, dann stellen sich die Fragen: Wie können wir davon reden? Welchen Status hat dann die literarische Deutung? Sie ist offensichtlich etwas anderes als die philologische Erklärung eines Textes, derer wir gleichwohl nicht entbehren können. Wenn Jutta Prasse über einen literarischen Text sprach, dann so: Weite Passagen waren das, was dem Philologen eigentlich nicht gestattet ist: schildernde Nacherzählung. Dies war ihr Weg, das, was sich in einem Text sagt, zu Worte kommen zu lassen. Daraus erwuchs dann die Deutung: als Hervorheben einer Struktur, eines Bruches, eines Signifikanten in unerwarteter Bedeutung. Als wir einmal vor sehr langer Zeit, in den frühen achtziger Jahren, über Psychoanalyse und Literatur sprachen, war es dieser Ausdruck, den sie aufgriff und immer wieder für die literarische Deutung verwendete: Trouvaille – ein Fundstück, das für die Dauer der Betrachtung in einem unerwarteten Licht aufleuchtet und zu dem hin und von dem her sich der Text neu ordnet. Zum Hören kommt ein anderer Sinn als der erwartete. Aufhebung eines erwarteten Sinnzusammenhanges, Öffnung für eine gewisse Zeit – für die Zeit des Sprechens und ein wenig länger. Dies geht nicht ohne Kenntnis und Anwendung der Philologie (Philo-logus ist, wer das Wort liebt), ohne sich von der sinnstiftenden Seite der Philologie forttragen zu lassen. Sie ein Stück weit zu nehmen, sie dann wieder beiseite zu lassen, das ist ein Teil von Jutta Prasses, der Literaturwissenschaftlerin Kunst. Diese Art der Annäherung an Texte, sie sprechen lassen, sie deuten, sie wieder ruhen, sich weiter erzählen lassen, ist, wenn ich so sagen darf, eine enthaltsame Lust, eine hohe Kunst, sie ist jenes Gay sçavoir, von dem in »Télévision« Lacan spricht. Gay sçavoir ist ein Neologismus, den er erfindet in Verbindung von ça (es) und savoir, Wissen, ein Begriff, in dem vielerlei anklingt vom Gai Savoir 11

Hinrich Lühmann

der Minnesänger und Meistersinger bis hin zur Fröhlichen Wissenschaft Nietzsches. Gay sçavoir besteht darin: non pas comprendre, piquer dans le sens, mais le raser d’aussi près qu’il se peut sans qu’il fasse glu … pour cela: jouir du déchiffrage – nicht verstehen, nicht in den Sinn stoßen, sondern ihn so nahe streifen, wie das möglich ist, ohne daß er uns leimt … und dafür die Lust des Dechiffrierens genießen. Dieses Deuten, wenn es denn nicht sich leimen läßt in die Sinnfixierung, schließt nicht ab, es nötigt zur insistierenden Fortsetzung, die von der Ordnung des Begehrens ist, was ganz etwas anderes ist als bloße insistierende Wiederholung. Meine Damen und Herren, eine Frage, die das Kongreßthema uns aufgibt, ist also nicht allein, wie fungiert, arbeitet, wirkt die Rücksicht auf Darstellbarkeit in den einzelnen Künsten, mit denen Jutta Prasse sich beschäftigt hat, in der Literatur vor allem, im Film. Sondern: wie können, wie sollen, wie müssen wir reden über Bildgeflechte, über jene Werke, die durch Rücksicht auf Darstellbarkeit gezeichnet ist. Was Jutta Prasse in ihrem Fragen und Arbeiten umgetrieben haben mag, das können wir nicht wissen und das geht uns auch nichts an. Aber wir können versuchen, das Gespräch wieder aufzunehmen und fortzusetzen, das sie immer wieder begonnen, geführt und begleitet hat. Und wir können es aufzunehmen versuchen in dem Stil, den sie vertreten hat: in dem Respekt vor jenen Texten und Filmen, die in je besonderer Weise durch Rücksicht auf Darstellbarkeit geprägt sind. Jutta Prasses letzter veröffentlichter Text, ein Text, der ihr sehr wichtig war, wie ich weiß, schließt so: »Die Erkenntnis hat nichts erledigt, es braucht eine nächste Geschichte«. Die Wahrheit dieses Satzes liegt darin, daß er die Konsequenz dessen ist, daß in literarischen Texten, daß im Film stets die Rücksicht auf Darstellbarkeit wirkt. Deshalb hält keine Deutung, hält keine Erkenntnis, deshalb muß weiter erzählt werden. »Die Erkenntnis hat nichts erledigt, es braucht eine nächste Geschichte«. Unsere Aufgabe sollte es sein, dies gelten zu lassen, Rücksicht zu nehmen auf sie, die in den Texten wirkende Rücksicht auf Darstellbarkeit. So würde ich gern, damit können wir Jutta Prasse ehren. 12

Marianne Schuller

Schrift – Male Zu späten Texten Adalbert Stifters

Die im Untertitel des Symposions für Jutta Prasse angesprochene Konfiguration »Psychoanalyse und Literatur« umschreibt ein weites Feld, das nach wie vor eine Herausforderung darstellt. Jutta Prasse hat diese Herausforderung aufgenommen, indem die kleine Kopula ›und‹ nicht zum Signum eines längst geregelten, meist nach der Figur der Einbahnstraße verlaufenden Verhältnisses, sondern zum Ort einer insistierenden Frage wird: Zu einer Frage, die, weil sie nicht ein für alle Mal beantwortet werden kann, immer wiederholt, immer wieder eingesetzt und in jeder Wiederholung das erste Mal praktiziert werden muß. Ein solcher Umgang, der die Konstellation zum Ereignis macht, hat Auswirkungen auch auf das Verständnis von Psychoanalyse. Sie kann nicht einfach als Besitz bewahrt, sondern muß immer wieder neu entdeckt werden. Dieser Ereignischarakter der Psychoanalyse jedenfalls geht aus Jacques Lacans Lektüre von Edgar Allen Poes Purloined Letter hervor: Im Zuge dieser unnachahmlichen Lektüre beginnt sich die Erzählung Poes als eine dramatische Allegorie der Psychoanalyse selber abzuzeichnen, sofern diese sich ihrerseits als ein entwendeter, verlorener, verschobener, deplazierter Brief darstellt. Als Etwas, dem das Verlieren und das Wiederauftauchen keineswegs äußerlich, sondern inhärent ist.1 Es ist nicht zuletzt dieses Moment der Nicht-Verfügbarkeit, des Nicht-Verfügens – auch über die Psychoanalyse ›selbst‹ –, das die Texte von Jutta Prasse auszeichnet. Wenn man davon ausgeht, daß die Ausprägungen der Psychoanalyse als Praxis, als Methode/Tech1

Jacques Lacan (1973): Das Seminar über E. A. Poes »Der entwendete Brief«. In: ders. Schriften I. Ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas, Olten (Walter), S. 7–41. Vgl. hierzu Shoshana Felman (1987): The case of Poe: Applications/Implications of Psychoanalysis. In: dies. Jacques Lacan and the Adventure of Insight. Psychoanalysis in Contemporary Culture. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts and London, England (Harvard University Press), S. 27–51.

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Marianne Schuller

nik und als Theorie nicht umstandslos aufeinander abbildbar sind – so steht die Theorie in einem unhintergehbaren Verhältnis der Nachträglichkeit zur Praxis des analytischen Lesens –, bildet sie kein in sich selbst zurückkehrendes, totalisierbares System, sondern produziert und hinterläßt Spaltungen und Differenzen, die Spielräume für neue Konfigurierungen erzeugen2. An der Eröffnung von Spielräumen hat Jutta Prasse in meinen Augen nuanciert gearbeitet. So in ihrer Lektüre einer kleinen, geradezu unscheinbaren Episode aus Gottfried Kellers spätem Roman Martin Salander. Die Rede ist von überflüssig erscheinenden Füllworten wie »ja« »doch« »ganz« usw., die Keller als »kleine Zutaten« charakterisiert. In dem Maße, wie sie »vom Wert des nicht unbedingt zum Sachverständnis Notwendigen in der Sprache«3 handeln, werden sie von Jutta Prasse als »Sprachüberschuß« gelesen: »Der Sprachüberschuß, von dessen Wert ich hier gesprochen habe, ist ein über die beabsichtigte Aussage Hinausrutschen hin zum andern und zur eigenen Spaltung.«4 Und in dem Moment, in dem Jutta Prasse sich fragt, was sich in ihrem Lesen der KellerEpisode wirklich ereignet hat, kommt es zu einer leichten Verschiebung oder Nuancierung innerhalb der psychoanalytischen Theorie: »Diese kleinen Zutaten gesellen sich gleichberechtigt, wenn auch theoretisch weniger beachtet, zu dem klassischen Zuviel in der Sprache, mit dem die Analyse arbeitet, der Plurivalenz der Bedeutungen und den Fehlleistungen.«5 *** Ich möchte nun meinerseits ein paar kleine Zutaten beibringen. Sie betreffen nicht Gottfried Keller, dem sich Jutta Prasse immer wieder zugewendet hat6, sondern einen anderen Autor des 19. Jahr2

3

4 5 6

Vgl. Shoshana Felman (1987): An Act that is yet to come. In: dies. Jacques Lacan and the Adventure of Insight, a. a. O., S. 3–16; hier bes. S. 15. Jutta Prasse (2004): Die kleinen Zutaten – Vom Wert des Sprachüberschusses. In: dies. Sprache und Fremdsprache. Psychoanalytische Aufsätze. Hg. von Claus-Dieter Rath. Bielefeld, S. 177–181, hier: S. 177. Ebd., S. 181. Ebd., S. 181. Vgl. die entsprechenden Aufsätze in Jutta Prasse (2004): Sprache und Fremdsprache, a. a. O.

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Schrift – Male. Zu späten Texten Adalbert Stifters

hunderts: Adalbert Stifter. Jutta Prasse und ich haben des öfteren über Stifter und die rätselhafte Faszination gesprochen, die von seiner lang weilenden Literatur ausgeht. Zumal der letzte, unter dem Titel Mein Leben firmierende Text Stifters, hatte Jutta Prasses Interesse angefacht. Die folgende Lektüre, die noch einen anderen autobiographischen Text des späten Stifter einbezieht, steht im Zeichen der Erinnerung an diese Gespräche und an das nie wieder gutzumachende ihres Abbruchs. 1867 verfaßt Adalbert Stifter unter dem Titel Aus dem Bairischen Walde einen autobiographischen Text, der über den beschriebenen Anlaß, einen plötzlich einsetzenden »Dauer-Schneefall«, hinaus, als eine poetologische Reflexion auf das Problem der Darstellbarkeit im Modus des Erzählens lesbar ist.7 Der biographische Kontext ist, daß Stifter, aus Angst vor der Cholera8, im Herbst 1866 seine Zuflucht im Bayrischen Wald gesucht hat, in den Lackerhäusern, die auch häufig den Schauplatz seiner Erzählungen bilden: »Das ist die Gegend, in welcher ich so gerne und so oft weilte, und zu welcher ich auch jetzt meine Zuflucht nahm.«9 Anstatt die ersehnte Ruhe zu finden, wird er dort von einer ›unerhörten Begebenheit‹, einem plötzlich einsetzenden »Dauer-Schneefall« überrascht, der die gesamte Gegend in eine »weiße Wildnis« verwandelt und eine Abreise unmöglich macht. Ebenso wird die Briefzustellung zu seiner im Wohnort Linz zurückgebliebenen, an einer Krankheit laborierenden Gattin Amalie unterbrochen. 7

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9

Meine Lektüre ist im wesentlichen zwei Arbeiten verpflichtet: Arno Dusini (1998): Wald. Weiße Finsternis. Zu Stifters Briefen und Erzählung »Aus dem bairischen Walde«. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. 92. Bd., S. 437–455; und Elisabeth Strowicks Bezugnahmen auf Stifter in ihrer Habilitationsschrift Sprechende Körper – Poetik der Ansteckung. Performativa in Literatur und Rhetorik, 2005 (unveröffentlicht), die auf produktivste Weise an der Universität Hamburg gehaltene Vorlesungen sowie meinen Vortrag Fool’s Gold. The Crisis of Form in Stifer’s Late Writings (New York, 2004) fortführen und den dort entwickelten Begriff der »Krise der Form« weiter ausarbeiten. Zur Paraphrase des Inhalts vgl. Elisabeth Strowick (2005): Sprechende Körper – Poetik der Ansteckung. Performativa in Literatur und Rhetorik (unveröffentlicht). Adalbert Stifter (1935): Aus dem Bairischen Walde. In: ders. Sämmtliche Werke in 25 Bdn. Bd. 15. Hg. von August Sauer u. a., Prag 1904 ff./Reichenberg 1927 ff., S. 333. (= sog. Reichenberger Ausgabe).

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Marianne Schuller

Ist mit dieser Ausgangssituation – Flucht vor der Cholera einerseits und der ›unerhörten Begebenheit‹ andererseits – das Grundmuster der Novelle angespielt, so will diese doch nicht so recht zum Zuge kommen. Man möchte sich jener Zuhörerin von Stifters Lesung 1867 in Karlsbad anschließen, die sich bei Gelegenheit einer Lesung Stifters über den Jahrhundert- bzw. Jahrtausend-Schneefall dahingehend geäußert hat, daß die Erzählung »so umständlich« gewesen sei, »daß man nach einer Stunde vor lauter Einleitung und Vorgeschichte noch keine einzige Schneeflocke zu Gesicht bekommen« habe10. Der Ungeduld jener Ohrenzeugin wird aber dann der Boden entzogen, wenn man die erste Texthälfte nicht als ›Einleitung‹ und ›Vorgeschichte‹, sondern als einen selbständigen Teil betrachtet, der dem zweiten, gleich langen, eben der Schilderung des Schneefalls, gleichrangig zur Seite steht. Enthält der erste Teil eine großangelegte Naturschilderung, so ist der zweite dem DauerSchneefall gewidmet, der die eben ausgebreitete »prachtvolle Waldgegend« in ein konturloses »weißes Ungeheuer« verwandelt. Hier eine Kostprobe der die Stiftersche Literatur insgesamt bestimmenden Walddarstellung: »Gegen Nordwest, Nord und Nordost ist die Aussicht beschränkter, aber sehr ernst. Waldwoge steht hinter Waldwoge, bis eine die letzte ist und den Himmel schneidet. Großartig ist es, wenn Wolkenberge an dem Himmel lagern, und mit blauen Schattenflecken dieses Waldmeer unterbrechen. Kann man eine herrliche Alpenansicht ein schwungvolles lyrisches Gedicht nennen, so ist die Einfachheit dieses Waldes ein gemessenes episches.«11

Wenn die Walddarstellung, die überdies alle Attribute des Epischen versammelt, explizit in einen gattungspoetischen Bezug gestellt wird, so scheint es nicht weit her geholt, sie als Allegorie des Epischen zu lesen.12 Von daher erweist sich dann auch der die Kontu10

11 12

Vgl. die Einleitung zum Bd. 15 der Sämmtlichen Werke, S. XXXV; Arno Dusini (1998): Wald. Weiße Finsternis. Zu Stifters Briefen und Erzählung »Aus dem bairischen Walde«, a. a. O., S. 443 f. Adalbert Stifter (1935): Aus dem Bairischen Walde, a. a. O., S. 330–331. Vgl. Arno Dusini (1998): Wald. Weiße Finsternis. Zu Stifters Briefen und Erzählung »Aus dem bairischen Walde«, a. a. O., S. 443 f.

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Schrift – Male. Zu späten Texten Adalbert Stifters

ren des Waldes verschlingende Schneefall von poetologischer bzw. darstellungslogischer Tragweite: Er wird lesbar als Artikulation einer traumatischen Krisis der epischen Darstellung. Das Schneien ist buchstäblich »unsäglich«, wie es in einem Brief an Amalie Stifter vom 20. 11. 1866 heißt. Wie nun zeichnet sich die Grenze des Erzählens ab? Sie ist markiert durch das Moment der Konturlosigkeit, durch eine alle Differenzen einebnende Gleichförmigkeit: »Ich kehrte meine Aufmerksamkeit nach Außen. Die Gestaltungen der Gegend waren nicht mehr sichtbar. Es war ein Gemische da von undurchdringlichem Grau und Weiß, von Licht und Dämmerung, von Tag und Nacht, das sich unaufhörlich regte und durcheinander tobte, Alles verschlang, unendlich groß zu sein schien, in sich selber bald weiße fliegende Streifen gebar, bald ganze weiße Flächen, bald Balken, und andere Gebilde, und sogar in der nächsten Nähe nicht die geringste Linie oder Grenze eines festen Körpers erblicken ließ. Selbst die Oberfläche des Schnees war nicht klar zu erkennen.«13

In der Rede vom »Gemische«, das keine Unterschiede und Differenzen kennt, ist ein Topos vernehmbar: der Topos vom Zusammenhang zwischen Schnee und Schrift. Wird dieser von Robert Walser und Walter Benjamin immer wieder aufgegriffen und literarisch belebt, so findet er sich weitläufig und in melancholischem Gestus ausgeschrieben bei Jacob Grimm in der Vorrede zum Deutschen Wörterbuch: »Im vorgerückten alter fühle ich, dasz die fäden meiner übrigen angefangenen oder mit mir umgetragenen bücher, die ich jetzt noch in der hand halte, darüber abbrechen, wie wenn tagelang feine, dichte flocken vom himmel niederfallen, bald die ganze gegend in unermeszlichem schnee zugedeckt liegt, werde ich von der masse aus allen ecken und ritzen auf mich andrängender wörter gleichsam eingeschneit.«14

Gemäß diesem Topos bringt auch Stifter Schrift und Schnee zusammen. Nicht zuletzt buchstäblich. So heißt es, mit einer minimalen 13 14

Adalbert Stifter (1935): Aus dem Bairischen Walde, a. a. O., S. 338–339. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm (1981 ff. = Nachdruck d. Erstausgabe von 1854): Deutsches Wörterbuch. Bd. 1. München, S. XII.

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Marianne Schuller

Buchstaben-Differenz spielend, in einem Brief an seine Gattin Amalie vom 20. 11. 1866: »Jetzt ist Dienstag Morgens, ich fahre fort zu schreiben. Das Wetter fährt auch fort, zu schneien.«15 Der Text referiert also nicht nur auf die Naturkatastrophe des außergewöhnlichen Schneefalls, sondern die »weiße Finsternis«16 figuriert ebenso ein Moment des Schreibens: das leere weiße Blatt, das sich ohne Spur und Kontur ausbreitet. Die ›unerhörte Begebenheit‹, an die der Text anspielt und appelliert, ist, so gelesen, nicht so sehr die erzählte Naturkatastrophe, sondern der Ausfall des Erzählens im Erzählen selbst wie die Auslöschung der Schrift, die sich im Fortschreiben selber vollzieht. Wo jede Kontur verschwindet, lösen sich auch die Buchstaben auf und erscheinen nur mehr als ein Flirren: »Ich sah buchstäblich das Lackerhäuserschneeflirren […] vor mir. Und wenn ich die Augen schloß, sah ich es erst recht. […] Endlich verlor es sich, und ich konnte daran denken und davon erzählen.«17 Wo aber das Schriftbild ins Flirren gerät, wird auch die Lektüre unmöglich. Lassen sich also die Beschreibung des Schneefalls darstellungslogisch als Inszenierung des Erzählens und einer ihm inhärenten Grenze, das Schneien und Flirren der Buchstaben als verschwimmende Auslöschung der Schrift lesen, so gewinnt auch das angesichts des buchstäblichen Flirrens gebannte Starren des Erzählers eine poetologische Dimension. »Ich konnte nichts thun, als immer in das Wirrsal schauen. Das war kein Schneien wie sonst, kein Flockenwerfen, nicht eine einzige Flocke war zu sehen, sondern wie wenn Mehl von dem Himmel geleert würde18, strömte ein weißer Fall nieder, er strömte aber auch wieder gerade empor […] und dieses Flimmern und Flirren und Wirbeln dauerte fort und fort und fort, wie Stunde an Stunde verrann.«19

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16 17 18

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Adalbert Stifter: Briefe. In: ders. Sämmtliche Werke in 25 Bdn. Bd. 22, a. a. O., S. 47. Ebd., S. 47. Adalbert Stifter (1935): Aus dem Bairischen Walde, a. a. O., S. 353. Vgl. zur biblischen Anspielung Arno Dusini (1998): Wald. Weiße Finsternis. Zu Stifters Briefen und Erzählung »Aus dem bairischen Walde«, a. a. O., bes. S. 450. Adalbert Stifter (1935): Aus dem Bairischen Walde, a. a. O., S. 341.

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Schrift – Male. Zu späten Texten Adalbert Stifters

Während sich erst später der »Bann«20 löst, ist Stifter von dem Krisenmoment der Schrift und der Grenze der Lesbarkeit in einen Zauber gebannt. »Ein Bangen kam in die Seele. Die Starrheit des Wirbelns wirkte fast sinnbestrickend, und man konnte dem Zauber nicht entrinnen. […] Das Flirren war nun geradezu entsetzlich, und es riß die Augen an sich, wenn man auch nicht wollte.«21

Liest man die Szene als Leseszene, so wird der durch eine Katachrese eingeführte Blick auffällig. Es ist ein angesichts der »Starrheit des Wirbelns« gebanntes Starren, aus dem sich das lesende Subjekt, bzw. der sprachlose Erzähler, nicht zu lösen vermag. Es gibt also einen Bild-Ausfall im Akt des Sehens selbst, wie in die Lektüre ein Moment der Unlesbarkeit eingetragen ist. Damit formuliert Stifters späte Erzählung nicht nur eine dem Epischen inhärente Grenze des Erzählens und die damit verbundene Auslöschung der Schrift, sie führt auch das Lesen in eine Krise, die ihm inhärent ist. Diese dem Erzählen und Lesen inhärente Krise nimmt bei Stifter die Form eines zauberischen »Banns« an. Nach Giorgio Agamben bezeichnet »Bann« nicht eine einfache Beziehungslosigkeit bzw. einfache Ausgeschlossenheit, sondern eine Beziehung zur Beziehungslosigkeit. »Bann« ist eine »Ausnahmebeziehung«22, »Setzung einer Beziehung mit dem Beziehungslosen«, »Grenzform der Beziehung« oder »äußerste Form der Beziehung, die etwas einzig durch seine Ausschließung einschließt«.23 Unter der paradoxen Figur einer »einschließenden Ausschließung«, wie sie der Bann nach Agamben figuriert, stellt sich die »weiße Finsternis« nicht bloß als eine von außen einbrechende Katastrophe, sondern als ein Moment dar, das der Schrift, das dem Lesen und Schreiben inhärent ist. Anders als bei Boccaccios Decamerone, bei dem das Erzählen bzw. das Erzählte, bei dem die Novellen als Zuflucht vor

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Ebd., S. 350. Ebd., S. 342 u. S. 344–345. Giorgio Agamben (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M., S. 39. Ebd., S. 28.

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der Katastrophe, der Cholera in Florenz, fungieren, steht Stifters Literatur auch, und sofern sie vor der Katastrophe flieht, in deren Bann.24 *** Ungefähr ein Jahr vor seinem Selbstmord, während er sich in seinem Geburtsort Oberplan aufhält, um einen Stein für das Grab seiner Mutter setzen zu lassen, schreibt Stifter einen nur wenige Seiten umfassenden autobiographischen Text.25 Von den Herausgebern der Sämmtlichen Werke, mit dem an Jean Paul26 angelehnten Titel Mein Leben versehen, wird dieser Nachlaßtext aufgrund seiner für Stifter und für das Genre Autobiographie so befremdlichen Kürze und wohl auch aufgrund der interpretatorischen Unzugänglichkeit meist als »autobiographisches Fragment«27 klassifiziert. Unter einer poetologisch-darstellungslogischen Perspektive, die sich der Frage des traumatischen Ausfalls des Erzählens im Erzählen selbst zuwendet, ist jedoch nicht mit Bestimmtheit zu entscheiden, ob es sich um ein Fragment oder um nichts anderes als einen Text handelt, der sich um ein Unzugängliches herum schreibt. Zunächst ein längeres Zitat: »Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzüken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang, und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die fest gehalten wurden, sind: es war Glanz, es war Gewühl, es war unten. Dies muß sehr früh gewesen sein; denn mir ist, als liege eine sehr weite Finsterniß des Nichts um das Ding herum. / Dann war etwas Anderes, das sanft und 24 25

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Diese Pointierung verdanke ich Elisabeth Strowick. Vgl. Marianne Schuller (2003): Das Kleine in der Literatur. Stifters Autobiographie. In: Marianne Schuller/Gunnar Schmidt: Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen. Bielefeld, S. 77–89; dies. (2005): Zwischen Sinn und Unsinn. Wort-Ding oder Wahn beim späten Stifter. In: Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer: Wahn – Wissen – Institution. Undisziplinierbare Näherungen. Bielefeld, S. 137–146. Vgl. Jean Paul (o. J.): Mein Leben. Ein Bruchstück. In: Eduard Berend (Hg.): Jean Pauls Werke. 5 Bde. Bd. 1. Berlin (Propyläen), S. 829 ff. Zu diesem Text gibt es eine Vielzahl von Interpretationen; ich verweise hier stellvertretend auf Christian Begemann (1995): Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren, Stuttgart, S. 95 ff. (dort auch weiterführende Literatur).

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Schrift – Male. Zu späten Texten Adalbert Stifters lindernd durch mein Innres ging. Das Merkmal ist: es waren Klänge. / Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich schwamm hin und wider, es wurde immer weicher und weicher in mir, dann wurde ich wie trunken, dann war nichts mehr. […] Ganz klar war etwas, das sich immer wiederholte. Eine Stimme, die zu mir sprach, Augen, die, mich anschauten, und Arme, die Alles milderten: ich schrie nach diesen Dingen. Dann war Jammervolles, Unleidliches, dann Süsses, Stillendes. […] Ich erinnere mich an Glanz und Farben, die in meinen Augen, an Töne, die in meinen Ohren, und an Holdseligkeiten, die in meinem Wesen waren. Immer mehr fühlte ich die Augen, die mich anschauten; die Stimme, die zu mir sprach, und die Arme, die alles milderten. Ich erinnere mich, dass ich das ›Mam‹ nannte. Diese Arme fühlte ich mich einmal tragen. Es waren dunkle Fleke in mir. Die Erinnerung sagte mir später, dass es Wälder gewesen sind, die außerhalb mir waren. Dann war eine Empfindung wie die erste meines Lebens, Glanz und Gewühl. Dann war nichts mehr.«28

Der Text spricht von Objekten, die sich in den Wiederholungen und Umschreibungen als Statthalter eines ursprünglichen, an die mütterliche Position gebundenen Befriedigungserlebnisses darstellen, das unwiederbringlich verloren ist. Ein funkelndes kostbares Anderes, das gibt und ja sagt und das zugleich die entsetzliche Macht des Vorenthaltens hat. Nach Jacques Lacan können die kontingenten Objekte wie Rausch, Klang, Funkeln oder Blickpunkte als Versuche der Wiederaneignung eines verlorenen Körpers gesehen werden, die er als Objekte a angeschrieben hat. Wenn sich, nach Lacan, um dieses a Phantasien auf der Suche nach den Urobjekten wie Fäzes, Brust, Stimme, Blick gruppieren29, so bringt sich der Text Stifters als diese sich in Wiederholungen, Schlaufen und Kreisen bewegende Suche nach dem verlorenen Körper, der als mütterlicher markiert ist, hervor. Der Anfang des Sprechens, das die symbolische Separation vom mütterlichen Körper vollzieht – es ist der Moment, in dem »Mam« 28

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Adalbert Stifter (1939): Mein Leben. In: ders. Sämmtliche Werke in 25 Bdn. Bd. 25. Hg. von Klaus Zelewitz. Reichenberg, S. 177. Vgl. Marianne Schuller/Gunnar Schmidt (2003): Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen. Bielefeld, S. 29.

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den Namen »Mutter« erhält und als Gestalt vor dem Ich aufsteht –, stellt sich als traumatisches Ereignis dar. Das Kind hat ein Fenster zerschlagen und blutende Schnittwunden davongetragen, die von der Mutter verbunden werden. Es heißt: »Ich fand mich einmal wieder in dem Entsetzlichen, Zugrunderichtendem, von dem ich oben gesagt habe. Dann war Klingen, Verwirrung, Schmerz in meinen Händen und Blut daran, die Mutter verband mich, und dann war ein Bild da, das so klar vor mir jetzt dasteht, als wäre es in reinlichen Farben auf Porzellan gemalt. Ich stand in dem Garten, der damals zuerst in meiner Einbildungskraft ist, die Mutter war da, […] in mir war die Erleichterung, die alle Male auf das Weichen des Entsezlichen und Zugrunderichtenden folgte, und ich sagte: ›Mutter, da wächst ein Kornhalm.‹ / Die Großmutter antwortete darauf: ›Mit einem Knaben, der die Fenster zerschlagen hat, redet man nicht.‹ […] die Mutter sprach wirklich kein Wort, und ich erinnere mich, daß ein ganz Ungeheures auf meiner Seele lag; das mag der Grund sein, daß jener Vorgang noch jetzt in meinem Innern lebt. Ich sehe den hohen schlanken Kornhalm so deutlich, als ob er neben meinem Schreibtische stände […].«30

Figuriert der Wunden-Schnitt die traumatische Separation vom mütterlichen Körper, so tauchen in der Erinnerung exakt an dieser Schnittstelle ein klares Vorstellungsbild und ein wohl artikuliertes Syntagma auf: »Mutter, da wächst ein Kornhalm.« Es ist emphatisch an die ›Mutter‹ adressiert, die jedoch, während sie die Wunde verbindet, ihrerseits schweigt. Ist das Schweigen der Mutter – »die Mutter sprach wirklich kein Wort« – traumatisch, so wird darüber zugleich das Sprechen des Kindes als eines gekennzeichnet, welches durch das Ausbleiben, durch das Fehlen der Resonanz der mütterlichen Position markiert ist. Dem wohl artikulierten Wort/Syntagma fehlt etwas: Vielleicht das, was als das Konturlose, das Undifferenzierte, das Gemische, das Formlose, das Mütterliche, Moorige, Meerige in anderen Stifter-Texten als Grenze der Darstellung aufgeschienen ist. Damit beschreibt sich der autobiographische Text, den Stifter während seiner Bemühungen um einen Grabstein für seine Mutter schreibt, selbst als Denkmal: als Denkmal dessen, daß die symbolische Produktion als Bild und Sprache von einem 30

Adalbert Stifter (1939): Mein Leben, a. a. O., S. 179.

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traumatischen Verlust getragen ist, von dem sie zugleich ablenkt, indem sie ihn substituiert: Mutter, da wächst ein Kornhalm. Trotz seiner grammatischen und syntaktischen Korrektheit erscheint dieser Satz absurd. Warum? Weil er in seiner Isoliertheit und gefrorenen Kontingenz eine halluzinativ anmutende Bildpräsenz erzeugt, die sich einer emblematischen Bedeutung und dem Verstehen verschließt. Genau diese Resistenz gegen das Verstehen aber ist es, die eine bleibende Herausforderung für Stifter darstellt: »Ich sehe den hohen schlanken Kornhalm so deutlich, als ob er neben meinem Schreibtisch stände.« Der Signifikant ›Halm‹/Kornhalm spielt eine ebenso kontingente wie ursächliche Rolle: In der Position eines Vergleichs – »mein Leben war einfach wie ein Halm wächst« –, in metaphorischer Funktion zunächst eingeführt, wird er nun zu jenem Signifikanten, der sinnlos und wirksam den kleinen Albert wie den großen Adalbert Stifter trifft. Steckt im Vater-Namen ›Stifter‹ das Wort ›Stift‹, so bezeichnet ›Halm‹31 ein stiftähnliches Gebilde: Sowohl den Stengel mit der Frucht als auch, wie etwa in ›Strohhalm‹, den abgelebten toten Rest der Getreidefrucht bezeichnend, sind darin Fülle und Leere, Lebendiges und Totes verschränkt wie ›Halm‹ über die indogermanische Wurzel kal im Sinne von »treiben, bewegen« bzw. über »holm, erhöhung, hügel« eine phallische Bedeutung annimmt. Diese überträgt sich metonymisch auf Schrift, sofern ›Halm‹ nicht nur ›Rohr‹, sondern auch ›Schreibrohr‹ bezeichnet. Das Schreibrohr ist ein Stift, mittels dessen gezeichnet und geschrieben wird. Wie Stifter nicht nur Schriftsteller, sondern auch Maler war, so kehrt in ›Halm‹ ein Bezug zu ›Mal‹ wieder: Während ›Mahl‹ ein Anagramm von ›Halm‹ ist und Korn (›Kornhalm‹) Inbegriff von Speise, so ist das Wort gleichlautend mit ›Mal‹, das sich auch im Namen von Stifters Frau – Amalie – findet und in dem eine bestimmte Art von Zeichen widerhallt: Mal, Wundenmal des Kindes, Christi Wundenmale, Grabmale, Muttermale – alles Zeichen, die unauslöschlich am Realen des Körpers erscheinen.32

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Jacob Grimm/Wilhelm Grimm (1981 ff. = Nachdruck der Erstausgabe v. 1854): Deutsches Wörterbuch. Bd. 10, a. a. O., Sp. 237–240. Wie Lawrence Rickels ausführt, hatte Stifter, der in einem Stift erzogen worden ist, selbst eine Art Muttermal, das er durch einen Bart zu ver-

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Marianne Schuller

In einer später erinnerten Leseszene tauchen seltsame Worte auf; seltsam nicht zuletzt deswegen, weil sie der symbolischen Assimilation und dem Verstehen unzugänglich sind. Man könnte sie als Wort-Dinge bezeichnen: »Auf diesem Fensterbrette war es auch allein, wenn ich zu lesen anhob. Ich nahm ein Buch, machte es auf, hielt es vor mich, und las: ›Burgen, Nagelein, böhmisch Haidel.‹ Diese Worte las ich jedes Mal, ich weiß es, ob zuweilen noch andere dabei waren, dessen erinnere ich mich nicht mehr.«33

Genau diese durch eine Art Sinnsperre ausgezeichneten Wort-Dinge aber finden sich nicht nur in diesem Text, sondern sie wandern auch durch andere Erzählungen Stifters. Sie tauchen immer an der Grenze zur Sprachlichkeit, bzw. zur Schrift, also an der das Symbolische instituierenden Grenze auf. So beispielsweise in der Erzählung Der Waldgänger von 1847 oder Der Waldbrunnen von 1866. In dieser späten Erzählung ist von einem wilden braunen Mädchen die Rede, die sich jeder erzieherischen Maßnahme widersetzt, bis sie, durch einen Mentor angeregt, einen Sinneswandel durchmacht, der sich im sonderbaren Auftauchen von Schrift ankündigt: »[D]er alte Mann erstaunte auf das Höchste, da er die Schrift las. Es war nirgends das, was auf der Vorschrifttafel stand, abgeschrieben, oder etwas geschrieben, was in die Feder gesagt worden sein konnte, oder was man sich selbst zu denken vermochte, sondern ganz andere seltsame Worte: Burgen, Nagelein, Schwarzbach, Suselein, Werdehold, Starau, zwei Engel, Zinzilein, Waldfahren und Ähnliches[.]«34

Auch hier also eine Ansammlung von unverständlichen Wort-Dingen, die dem Erzählen wie Male eingesenkt sind. Im autobiogra-

33 34

decken suchte. Lautete der Vorname seiner Frau ›Amalie‹, so fordert Stifter, der sie in Briefen häufig ›Mali‹ nannte, sie ebenso häufig mit der Wendung ›Mal ja‹ auf zu malen. Vgl. Lawrence Rickels (1985): Stifter’s »Nachkommenschaften«: The Problem of Surname, the Problem of Painting. In: MLN, Volume 100/No. 3, S. 577–598, hier: S. 594. Adalbert Stifter (1939): Mein Leben, a. a. O., S. 180–181. Adalbert Stifter: Der Waldbrunnen. In: Sämmtliche Werke. Bd. 13, 2, S. 324–325.

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phischen Text steht in dieser Funktion ein Wort-Ding, das auch vom braunen Mädchen aufgeschrieben worden ist: »Schwarzbach«. »Auf diesem Fensterbrette sah ich auch, was draußen vorging, und ich sagte sehr oft: ›Da geht ein Mann nach Schwarzbach, da fährt ein Mann nach Schwarzbach, da geht ein Weib nach Schwarzbach, da geht ein Hund nach Schwarzbach, da geht eine Gans nach Schwarzbach.‹ Auf diesem Fensterbrette legte ich auch Kienspäne ihrer Länge nach an einander hin, verband sie wohl auch durch Querstäbe, und sagte: ›Ich mache Schwarzbach.‹«35

Bei der Sequenz geht es nur scheinbar um die Beschreibung von Beobachtungen und damit nur scheinbar um die Abbild- oder Referenzfunktion von Sprache. Vielmehr tritt, nicht zuletzt durch die leiernde Wiederholung, der Signifikant ›Schwarzbach‹ als WortDing hervor. Kontingent und delirant wird ›Schwarzbach‹ zum Anlaß einer Poesis, die sich in einer der Schrift strukturell verwandten Anordnung zur Geltung bringt. Das Ich stellt schwarz auf weiß ein Gitterwerk aus Kienspan her, das aus dem toten Holzstück zugleich das wärmende Licht einer Ordnung gewinnt. Als Abfall beim Holzhandwerk gewonnen, zum Feueranmachen und als Fackel benutzt36, verschränkt der Kienspan wie der Buchstabe37 das Tote und das Lebendige. Die Szene also figuriert eine Urszene der Schrift, die sich als Wiederholung der Schöpfungsgeschichte, nach der die Worte Gottes Licht und Finsternis voneinander scheiden, darstellt38: »Ich mache Schwarzbach.« Nimmt man es als Tintenstrom wie als eine Übersetzung von ›Styx‹, dem dunklen Fluß des Totenreichs, so hallt in dem einen Schöpfungsakt vollziehenden Wort das traumatische Schweigen wider, in welches sich die Mutter zurückgezogen hat. Ein mütterliches Schweigen, ein Tod, der im Wort haust. 35 36

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Adalbert Stifter (1939): Mein Leben, a. a. O., S. 181. Vgl. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm (1981 ff. = Nachdruck der Erstausgabe v. 1854): Deutsches Wörterbuch, a. a. O., Bd. 11, Sp. 685. Angeblich ist das Wort ›Buchstabe‹ von ›Buchenbaum‹ abgeleitet, woraus sich eine Nähe zwischen Kienspan und Buchstabe ergibt. Vgl. 1. Mose, 1-2.

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Vielleicht könnte man das Wort-Ding als Mal der Schrift auch an die Figur der Krypta binden: »Als ein im Inneren des (Text)Innen ausgeschlossenes Außen«39 bleibt der Ort dieser Vertiefung unzugänglich von innen wie von außen. In gewisser Weise a-topisch. Das im Inneren des Innen ausgeschlossene Außen – das Wort/Ding, die Krypta, das Schrift-Mal – erscheint dann als ein nicht mehr Symbolisierbares im Text, welches das Geheimnis der Schrift als ein Unzugängliches bewahrt. Mit der anderen Topik der Krypta (und der ihr assoziierten Metaphorik der Gräber) aber würde eine andere Archäologie als die notwendig, die der Metaphorik des Ausgrabens verpflichtet ist. Die ›kryptische‹ Interpretation würde die Rücksicht auf Darstellbarkeit mit einer Rücksicht auf Versteckbarkeit verschränken40: Damit die Literatur, besser das »literarische Ding« (Felman), als das gewürdigt wird, das Interpretation verlangt, wie es ihr widersteht. Wie das Subjekt (in) der Psychoanalyse.

Literatur Giorgio Agamben (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. Christian Begemann (1995): Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart. Jacques Derrida (1979): Fors. In: Nicolas Abraham, Maria Torok (1979): Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns. Übers. v. W. Hamacher, Frankfurt a. M./Berlin/Wien, S. 7–52. Arno Dusini (1998): Wald. Weiße Finsternis. Zu Stifters Briefen und Erzählung »Aus dem bairischen Walde«. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte, 92. Bd., S. 437–455. Shoshana Felman (1987): The case of Poe: Applications/Implications of Psychoanalysis. In: dies. Jacques Lacan and the Adventure of Insight. Psychoanalysis in Contemporary Culture. Cambridge, Massachusetts and London, England (Harvard University Press), S. 27–51. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm (1981 ff. = Nachdruck d. Erstausgabe von 1854): Deutsches Wörterbuch. 33 Bde. München. 39

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Jacques Derrida (1979): Fors. In: Nicolas Abraham, Maria Torok: Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns. Übers. v. W. Hamacher, Frankfurt a. M./Berlin/Wien, S. 7–52, hier: S. 10. Vgl. Anselm Haverkamp (1991): Kryptische Subjektivität. Archäologie des Lyrisch-Individuellen (Freud, Benjamin und Derrida). In: ders. Laub voll Trauer. Hölderlins späte Allegorie. München, S. 15–29.

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Schrift – Male. Zu späten Texten Adalbert Stifters Anselm Haverkamp (1991): Kryptische Subjektivität. Archäologie des LyrischIndividuellen (Freud, Benjamin und Derrida). In: ders. Laub voll Trauer. Hölderlins späte Allegorie. München, S. 15–29. Jacques Lacan (1973): Das Seminar über E. A. Poes »Der entwendete Brief«. In: ders. Schriften I. Ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas. Olten (Walter). Jean Paul (o. J.): Mein Leben. Ein Bruchstück. In: Eduard Berend (Hg.): Jean Pauls Werke, 5 Bde. Berlin (Propyläen), Bd. I, S. 829–887. Jutta Prasse (2004): Die kleinen Zutaten – Vom Wert des Sprachüberschusses. In: dies. Sprache und Fremdsprache. Psychoanalytische Aufsätze. Hg. v. Claus-Dieter Rath. Bielefeld (transcript), S. 177–181. Lawrence Rickels (1985): Stifter’s »Nachkommenschaften«: The Problem of Surname, the Problem of Painting. In: MLN, Volume 100/No. 3, S. 577–598. Marianne Schuller (2003): Das Kleine in der Literatur. Stifters Autobiographie. In: Marianne Schuller/Gunnar Schmidt: Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen. Bielefeld, S. 77–89. – (2005): Zwischen Sinn und Unsinn. Wort-Ding oder Wahn beim späten Stifter. In: Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer: Wahn – Wissen – Institution. Undisziplinierbare Näherungen. Bielefeld, S. 137–146. Adalbert Stifter (1935): Aus dem Bairischen Walde. In: ders. Sämmtliche Werke in 25 Bdn. Bd. 15. Hg. v. A. Sauer u. a., Prag 1904 ff./Reichenberg 1927 ff. (= sog. Reichenberger Ausgabe). – (1939): Mein Leben. In: ders. Sämmtliche Werke in 25 Bdn. Bd. 25. Hg. Klaus Zelewitz. Reichenberg, S. 176–181. – Briefe. In: ders. Sämmtliche Werke in 25 Bdn. Bde. 20–22. – Der Waldbrunnen. In: ders. Sämmtliche Werke in 25 Bdn. Bd. 13, 2. Elisabeth Strowick (2005): Sprechende Körper – Poetik der Ansteckung. Performativa in Literatur und Rhetorik (unveröffentlicht).

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Bernhard Schwaiger

Montagen und Demontagen eines Phantasmas: Henry James’ »Schraubendrehungen«1

The Outlook (29. Oktober 1898): »Die Geschichte selbst ist geradezu abstoßend.« The Independend (5. Januar 1899): »The turn of the screw ist die unwiderruflich verwerflichste Geschichte, die wir je in der ganzen alten oder modernen Literatur gelesen haben […]; eine Studie über die höllische menschliche Ausschweifung – denn um nichts anderes geht es darin.«2 Die Geschichte erscheint vom 17. Januar bis 16. April 1898 als Fortsetzung in einer englischen Wochenzeitschrift, und die beiden Zitate sind Reaktionen der viktorianischen Kritik. Seither erschienen über diese Geschichte einer Erzieherin, die zwei im Bann von Geistern stehende Geschwister erlösen will, mehr als hundert Interpretationen aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten: Literatur, Psychologie, Psychoanalyse, Psychiatrie. Sie wurde verfilmt (Jack Clayton: The Innocents) und als Oper vertont (Benjamin Britten). Über diese Erzählung hier sprechen zu wollen hat also etwas Anmaßendes, da ich nicht weiß, ob nicht schon alles darüber gesagt worden ist, doch scheint mir diese Geschichte das widerzuspiegeln, was ich in Anspielung auf eine Äußerung Jacques Lacans folgendermaßen formulieren möchte: man sagt immer die Wahrheit über diese Erzählung, aber nie die ganze. Der Geschichte begegnete ich zuerst in der Verfilmung, die im Deutschen mit Das Schloß des Schreckens betitelt wurde. Ich war ungefähr 15 Jahre alt, und die Zweideutigkeit des Schreckens in diesem Film bewegte mich tief: Es ist ein Schrecken, der auf den Erfindungen der eigenen Phantasien beruht und dadurch unweigerlich mit dem Sexuellen konfrontiert. 1

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Vortrag in der von Jutta Prasse initiierten Reihe über Henry James im Literaturhaus Berlin-Fasanenstraße (11. 12. 2002). Zitiert nach Bernard Terramorsi (1996): Henry James ou le sens des profondeurs. Paris (L’Harmattan), (eigene Übersetzung aus dem Französischen), S. 208–209.

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Montagen und Demontagen eines Phantasmas

Die Erzählung Der eigentliche Bericht der Erzieherin über die unerhörten Ereignisse ist in eine Rahmenhandlung eingebettet, die ich etwas eingehender schildern möchte: Am Weihnachtsabend werden am Kaminfeuer Schauergeschichten erzählt. Soeben wurde von einer Begebenheit berichtet, in der einem Knaben, der mit seiner Mutter im selben Zimmer schlief, ein gräßliches Gespenst erschien. Er weckte seine Mutter, nicht um von ihr beruhigt zu werden, sondern damit auch sie dieses Gespenst sehe. Der Ich-Erzähler nimmt später die Reaktion eines Teilnehmers der Runde namens Douglas wahr, den diese Begebenheit nachdenklich gestimmt zu haben scheint und der etwas später am Abend folgendes mitteilt: »›Wenn es [das Gespenst] zuerst einem kleinen Jungen in so zartem Alter erscheint, so gibt es der Sache eine eigene Nuance. Aber es ist nicht die erste derartige, übersinnliche Begebenheit, von der ich weiß, daß ein Kind davon betroffen ist. Wird die Wirkung durch das Kind besonders hoch geschraubt [another turn of the screw] – was sagen sie dann, wenn zwei Kinder …?‹ ›Selbstverständlich‹, rief jemand, ›daß zwei Kinder die Wirkung zweimal so hoch schrauben! [they give two turns] Und außerdem, daß wir diese Geschichte hören wollen.‹ […] ›Niemand außer mir hat bis jetzt davon gehört. Es ist allzu entsetzlich.‹ […] ›Es übertrifft alles sonst. Ich weiß überhaupt nicht, was ihm nahekommt.‹ ›An unvermischten Schrecken?‹ erinnere ich mich, gefragt zu haben. Er schien sagen zu wollen, so einfach sei das nicht – schien wirklich in Verlegenheit, wie es zu nennen sei. Er führte die Hand über die Augen, sein Gesicht zuckte. ›An grausig Grauenvollem!‹ ›Oh wie wonnig!‹ rief eine der Damen. Er beachtete sie nicht; er sah mich an, doch so, als erblicke er nicht mich, sondern das, wovon er sprach.«3 Dann eröffnet Douglas der neugierigen Runde, daß sie sich 3

Henry James (1970): Schraubendrehungen. Stuttgart (Reclam) (übers. Alice Seiffert), S. 3–4; Henry James (1969): Turn of the screw, in: Casebook ed. Gerard Willen, Thomas Y., New York (Crowell Comp.), S. 3–4. In Penguin Popular Classics (1994), England, S. 7–8. (Künftig beziehen sich die Seitenzahlen der zitierten Textpassagen der Erzählung zuerst auf die deutsche Reclamausgabe, dann auf das Casebook und schließlich auf die Penguin Classics-Ausgabe.)

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noch einige Tage werde gedulden müssen, da das Manuskript dieser Geschichte in einem verschlossenen Fach liege und er erst seinem Diener den Schlüssel schicken müsse, damit dieser es ihm zusenden könne. Er schildert, wie er in den Besitz dieses Manuskripts kam: Vor zwanzig Jahren bekam er von der Erzieherin seiner Schwester diese vertraulichen Aufzeichnungen. Die Erzieherin starb kurz darauf. Zwischen ihm und ihr, die zehn Jahre älter als er war, bestand ein vertrauliches Verhältnis, so daß sie mit ihm über dieses schreckliche Erlebnis auch sprach. Sie ist die jüngste von mehreren Töchtern eines armen Landpfarrers. 20 Jahre alt, reist sie nach London, um zum ersten Mal eine Stelle als Erzieherin anzunehmen. Ihr Arbeitgeber oder künftiger »Brotherr« (prospective patron) erweist sich als »Inbegriff eines Gentleman, Junggeselle noch in den besten Jahren, kurz gesagt, als eine Persönlichkeit, wie sie einem aufgeregten bangen Mädchen aus einem Pfarrhaus in Hampshire bis dahin höchstens im Traum oder in einem alten Roman erschienen war«.4 Sie ist fasziniert von ihm. Dieser Herr erklärt ihr den Umstand und die Bedingungen ihrer Erzieheraufgaben. Er ist seit zwei Jahren Vormund zweier Kinder: des Mädchens Flora und des Knaben Miles (acht bzw. zehn Jahre alt, wie wir später erfahren). Es sind die Kinder seines Bruders, der mit seiner Frau in Indien gestorben war. Er brachte die Geschwister auf seinen Landsitz in Bly. Dort kümmerten sich eine Erzieherin und die ältere Haushälterin Mrs. Grose nebst Bediensteten um die Kinder. Diese Erzieherin sei leider gestorben, so daß jetzt nur noch Mrs. Grose für die Kinder sorge. Sie (die Erzieherin) solle nun an die Spitze der Dienerschaft treten und sich um die Erziehung der beiden kümmern. Daran knüpft er eine entscheidende Bedingung: »Daß sie ihn niemals behelligen dürfe – nie und nimmer, weder ihn um Rat bitten noch sich beklagen, noch wegen irgend etwas schreiben; vielmehr solle sie in allen Fragen ganz allein entscheiden.«5 Als die Erzieherin in Bly ankommt, ist sie von der Natur und dem alten Landsitz bezaubert. Sie wird von der Haushälterin Mrs. Grose und der kleinen Flora freudig empfangen. Doch schon 4 5

Ebd., S. 8 (S. 7; S. 11). Ebd., S. 11 (S. 8–9; S. 13).

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die übermäßige Freude von Mrs. Grose über ihre Ankunft verwundert sie leicht. Am Ende ihrer ersten Nacht in Bly glaubt sie, Kinderschreie aus der Ferne zu hören. Am Morgen kündigt ihr Mrs. Grose das Kommen von Miles an. Dieser wird in ein paar Tagen zu den Sommerferien eintreffen. Der Ankunft Miles’ geht ein Brief seines Internats voraus. Mrs. Grose gibt ihn der Erzieherin, da sie selbst nicht lesen kann. Darin steht, daß Miles der Schule verwiesen wird; er sei schädlich und den anderen nicht zuzumuten, berichtet die Erzieherin erstaunt und befragt Mrs. Grose über Miles. Diese beruhigt sie, indem sie versichert, er sei eben wie andere Kinder und manchmal eben unartig, was doch ganz normal sei. Dann befragt sie Mrs. Grose über ihre Vorgängerin und erfährt, daß diese verstarb. Den Tag darauf holt sie mit Flora Miles von der Poststation ab, wo er mit der Kutsche eingetroffen ist. Sie ist von ihm ebenso bezaubert wie von Flora und verwundert, »daß ein Kind, wie es sich mir soeben geoffenbart hatte, einem Bann verfallen sein sollte« (under an interdict). Sie findet ihn »über alle Wahrscheinlichkeit schön« (incredible beautiful) und sieht in ihm eine Art, die »nichts auf der Welt kannte, als Liebe« (knowing nothing in the world but love)6. Sie verschließt beruhigt den Brief in einer Schublade und teilt Mrs. Grose mit, dem Onkel nicht davon berichten zu wollen, wie es ja auch dessen Bedingungen fordern. Während der ersten Wochen lebt sie auf Bly in einem noch nie gekannten Glücksgefühl, das sie nachträglich als allzu trügerisch wertet. Als sie eines Spätnachmittags in Gedanken an den Onkel der Kinder – ihren Herrn – versunken ist, sich vorstellt, wie er sie loben würde und wünscht, er würde ihr hinter einer Wegbiegung (at the turn of a path7) begegnen, sieht sie plötzlich auf einem der Türme des Landsitzes eine männliche Gestalt. Sie ist entsetzt: Sie hat diesen Mann noch nie gesehen, und er starrt sie an. Sie spricht mit niemandem über dieses Erlebnis und widmet sich ganz der Erziehung der Kinder: »Ich weiß, ich stand unter dem Zauber, und das Wunder der Wunder ist: Selbst damals war mir das voll bewußt. Aber ich gab mich ihm willig hin […].«8 6 7 8

Ebd., S. 23–24 (S. 16; S. 23). Ebd., S. 27 (S. 18; S. 26). Ebd., S. 34 (S. 22–23; S. 31).

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Als sie eines Sonntagabends ins Speisezimmer tritt, sieht sie, daß jemand von draußen sie durch das Fenster anstarrt. Sie bemerkt sofort, daß es der Mann ist, der auf dem Turm war. Dies dauert nur wenige Sekunden. Sie läuft ins Freie, um durch das Fenster, durch das sie soeben dieser Mann anstarrte, selber in das Speisezimmer zu blicken. Da betritt Mrs. Grose das Zimmer und erblickt sie, erschrickt und läuft dann zu ihr hinaus. Jetzt beschreibt die Erzieherin aufgeregt den Mann: »rotes Haar«, »blasses schmales Gesicht«, »kein Gentleman«, »er trägt keinen Hut«, »macht den Eindruck eines Schauspielers«, »er ist schlank, rasch, steif aufrecht« (tall, active, erect).9 Mrs. Grose erkennt an dieser Beschreibung den ehemaligen Diener und anschließenden Stellvertreter (in charge) des Herrn (master) Peter Quint. Als die Erzieherin fragt, was aus ihm geworden sei, antwortet Mrs. Grose, er sei gestorben, bei einem Unfall auf eisiger Straße. Von nun an ist die Erzieherin zunehmend davon überzeugt, daß der Geist des verstorbenen Quint den kleinen Miles heimsucht. Sie wird darin bestärkt, als ihr Mrs. Grose andeutet, wie ausschweifend Quint auf Bly lebte: »Quint nahm sich zuviel Freiheiten heraus.« […] »Freiheiten mit meinem Jungen«,10 entsetzt sich die Erzieherin. Immer mehr sieht sich die Erzieherin in der Rolle der Beschützerin: »Ich war eine Schutzwand [a screen], ich mußte mich vor sie [die Kinder] stellen; je mehr ich sah, desto weniger sehen sie.«11 Eines Nachmittags geht die Erzieherin an den großen Teich, der zum Landsitz Bly gehört, um nach Flora zu sehen. Sie setzt sich auf eine Bank neben der spielenden Flora und bemerkt, daß eine weibliche Gestalt am gegenüberliegenden Ufer sie beide beobachtet. Sie ist überzeugt, daß Flora die Gestalt sah und dieser absichtlich den Rücken kehrte und nun so tut, als hätte sie nichts gesehen. Die Erzieherin spricht anschließend mit Mrs. Grose über die Frauengestalt. Diese stellt entsetzt fest, daß es sich dabei um die verstorbene Vorgängerin der Erzieherin, nämlich Miss Jessel, handeln müsse. Sie erzählt, wie Miss Jessel Peter Quint hörig war und wohl deshalb erkrankte und starb. 9 10 11

Ebd., S. 40–41 (S. 27; S. 36). Ebd., S. 45 (S. 30; S. 40). Ebd., S. 48 (S. 32; S. 42).

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Die Erzieherin ist mehr und mehr davon überzeugt, daß die Kinder von diesen Geistern wissen und mit ihnen verkehren. »Die Kinder wissen … es ist unvorstellbar entsetzlich. … sie wissen, sie wissen!« – »Aber was in der Welt?« fragt Mrs. Grose. »Ach alles was wir wissen und der Himmel weiß was noch.«12 Die Erzieherin will nun die schwere Aufgabe übernehmen, die Kinder von diesem Bann zu befreien. Noch ist sie von den Kindern bezaubert, doch fühlt sie zunehmend, von ihnen hintergangen zu werden. »[…] ich hatte mich von neuem in Floras eigene Nähe gewagt und dort erfahren – fast war’s ein schwelgerisch wollüstiger Genuß! –, daß sie ihr kleines wissendes Händchen genau auf die wehe Stelle zu legen verstand.«13 Sie fühlt sich von den Kindern manipuliert: Sie ist überzeugt, daß diese sich heimlich mit den Geistern treffen. Von jetzt an beschreibt sie ihren unausgesprochenen Kampf mit den Kindern. Diese benehmen sich mustergültig, lernen ohne Tadel, sind höflich und verstehen sich glänzend, doch wittert die Erzieherin nur noch List. Sie erblickt den Geist Quints das nächste Mal auf der Treppe, als sie sich nachts vom Bett erhebt, um nach Miles zu sehen, empfindet aber keine Angst mehr vor ihm. Eines Nachts findet sie Floras Bett, das neben ihrem steht, leer. Sie entdeckt sie hinter der Gardine, aus dem Fenster blickend. Die Erzieherin ist überzeugt, daß sie Ausschau nach jemandem hält. Flora rechtfertigt sich, aber dies empfindet die Erzieherin nur noch als Ausflucht. Einige Nächte später ist Floras Bett wieder leer, sie steht am Fenster und sieht hinaus. Die Erzieherin ist überzeugt, daß Flora etwas sieht. Sie will zu Miles gehen, da sieht sie vom Fenster aus, daß Miles im Park ist und am Haus emporstarrt, auf einen der Türme. Sie stellt ihn zur Rede. Er erwidert, er habe sie nur erschrecken wollen, da er ja auch mal unartig sein müsse (»Glauben – zur Abwechslung einmal – ich sei bös!«14). Sie ist davon überzeugt, daß dies alles nur von einem gewünschten Treffen mit Jessel und Quint ablenken soll. Da kommt ihr zum ersten Mal der Gedanke, daß sie dem Onkel davon berichten müsse, damit er die Kinder abhole, aber sie besinnt 12 13 14

Ebd., S. 51 (S. 34; S. 45). Ebd., S. 57 (S. 38; S. 50). Ebd., S. 78 (S. 51; S. 67).

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sich auf die Abmachung. Sie erwähnt, daß der Onkel nie an die Kinder schreibt und auch sie die Briefe der Kinder an den Onkel nie absandte. Die Kinder stellen ihr des öfteren Fragen, wann denn der Onkel kommen werde, worauf sie keine Antwort weiß. Eines Sonntags – der Sommer neigt sich dem Ende zu – stellt Miles ihr die Frage, wann er wieder zur Schule gehen könne und pocht »auf die Rechte seines Geschlechts …« (the rights of his sex …)15. Miles: »Wissen Sie, meine Liebe, immer nur mit einer Dame zusammensein, ist für einen Jungen …!«16 Miles drängt darauf, daß sie den Onkel nach Bly holen solle. Als sie die Forderung Miles überdenkt, während die Kinder in die Kirche gehen und sie aufgewühlt nach Hause zurückkehrt, erblickt sie im Schulzimmer an ihrem Schreibtisch sitzend Miss Jessel, die zögernd einen Brief schreibt: wohl an den Geliebten, schlußfolgert sie zynisch. Sie befindet sich immer noch im Zwiespalt, da empfindet sie Miles’ Forderung plötzlich als eine List. Sie beschließt, noch heute abend einen Brief an den Onkel zu schreiben. Als sie sich an den Tisch setzt, um zu schreiben, verweilt sie lange vor dem weißen Blatt Papier und steht auf, um an Miles Tür zu lauschen. Er hört sie und bittet sie in sein Zimmer. Sie setzt sich an sein Bett. Er wiederholt ihr gegenüber seinen Wunsch, hier weg zu wollen und daß sein Onkel herkommen solle: »Mein Onkel muß herkommen und Sie müssen alles von Grund auf mit ihm ordnen. […] Ich will Neues! (I want a new field!)« Sie empfindet Mitleid und Zärtlichkeit, gibt ihm sogar einen Kuß, fragt aber immer weiter: »Was ist vorher geschehen?« – »Vor was?« – »Bevor du zurückkamst. Und bevor du weggingst.« Statt einer Antwort spürt sie einen Windstoß und die Kerze erlischt. »Ich habe sie ausgeblasen, meine Liebe«17, sagt Miles. Die Erzieherin schreibt den Brief, schickt ihn aber noch nicht ab, legt ihn auf den Tisch, damit ihn ein Bote abends abhole. Sie hört Miles beim Klavierspielen zu und bemerkt plötzlich, daß Flora fehlt. Sie ist sich sicher, daß Miles sie absichtlich ablenkte. Sie läuft mit Mrs. Grose an den Teich, wo sie entdecken, daß das Boot 15 16 17

Ebd., S. 91 (S. 59; S. 77). Ebd., S. 91 (S. 60; S. 78). Ebd., S. 105–108 (S. 69–70; S. 89–91).

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fehlt. Sie suchen es entlang des Ufers und entdecken Flora, die mit ihm fortgerudert war. Die Erzieherin ist überzeugt, daß Flora zu Miss Jessel wollte. Die Erzieherin will nun auch Mrs. Grose davon überzeugen, daß Flora sich verstellt und ihnen nur was vorspielt. »Eher gehe ich zum Teufel, hieß er [der Blick Floras], als daß ich etwas sage!« interpretiert die Erzieherin. Da hält sie sich nicht länger zurück und stellt Flora die Frage: »Wo, mein Lieb, ist Miss Jessel?« Floras Blick scheint zu zucken und Mrs. Grose stößt einen Schrei aus. Da sieht die Erzieherin am gegenüberliegenden Ufer Miss Jessel stehen. Aber »nichts regte sich in Floras Gesicht«. Die Erzieherin bedrängt sie immer mehr und empfindet, »daß es das kleine Mädchen selber vor meinen Augen in ein gespenstisch unheimliches Wesen verwandelte«. Doch jetzt protestiert auch Mrs. Grose: »Was für ein gräßlicher Einfall, Miss! Wo in aller Welt wollen Sie denn etwas sehen?« Die Erzieherin weist auf die Gestalt Miss Jessels: »Sehen Sie’s nicht, so wie wir es sehen?« Aber Mrs. Grose verneint. Die Erzieherin fühlt: »… wie rührend gern sie [Mrs. Grose] mich unterstützt hätte, wäre es ihr irgend möglich gewesen.« Mrs. Grose versucht nun Flora zu trösten, die wild um sich schreit: »Oh! Oh! Ich will weg! weg von der.«18 Am nächsten Tag berichtet Mrs. Grose der Erzieherin, in was für einem Zustand sich Flora befindet: sie sei direkt alt geworden und wolle sie (die Erzieherin) nicht mehr sehen. Außerdem habe sie ungeheuerliche Sachen über sie gesagt. »Über Sie, Miss, … da Sie’s ja doch erfahren müssen. Es ist unvorstellbar, bei einer so jungen Lady. Und ich kann mir gar nicht denken, wo sie das her hat …«19 Man beschließt, daß Flora zu ihrem Onkel fahren soll. Die Erzieherin kommt zu der Überzeugung, daß diese Krise Flora befreit haben könnte und sie richtig handelte. Mrs. Grose schließt sich dieser Überzeugung an und weist die Erzieherin darauf hin, daß der Brief über Miles nicht an den Onkel gesandt werden konnte, da er nicht mehr an seinem Platz aufzufinden war. Die Erzieherin ist überzeugt, daß Miles den Brief gestohlen hat. Sie bereitet sich, nachdem Mrs. Grose und Flora abgereist waren, darauf vor, Miles 18 19

Ebd., S. 116–120 (S. 76–78; S. 98–101). Ebd., S. 127 (S. 83; S. 106–107).

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zur Rede zu stellen, um auch ihn zu einem Bekenntnis zu zwingen: »Jetzt, so gestand ich mir ein, war ich wirklich Auge in Auge mit den Elementen.«20 […] »Ich konnte überhaupt nur weiterkommen, wenn ich die Natur zu Rate und ins Vertrauen zog, wenn ich meine ungeheure Erprobung als einen Vorstoß in ein gewiß ungewöhnliches und widriges Gebiet behandelte, die mir trotz allem jedoch, um aufrecht und mit offener Stirn hindurchzukommen, nur eine weitere Drehung der Schraube normaler menschlicher Tapferkeit abverlangte. Indessen konnte wohl kein Unterfangen höheren Takt erfordern als eben dies, auf sich gestellt und allein für die ganze Natur zu stehen.«21 […] »Konnte man nicht, um seinen Geist zu erreichen, seine Seele zu erschüttern wagen?«22 Sie sitzt mit Miles im Speisezimmer. Sie reden über die Abreise und Krankheit Floras, den Ursachen ausweichend. Die Erzieherin spürt, daß Miles sich unwohl fühlt. Sie konfrontiert ihn mit dem Diebstahl des Briefes: »… sag mir, ob du gestern nachmittag vom Tisch in der Halle, na du weißt schon, meinen Brief weggenommen hast.«23 Im selben Augenblick sieht die Erzieherin Quint durch das Fenster starren. Sie fühlt die Macht, die er über Miles hat. Sie drängt Miles, der zu zittern und schwitzen beginnt, zu einer Antwort. Er gibt zu, den Brief genommen zu haben, um darin etwas über sich zu lesen, habe aber nichts erfahren und ihn schließlich verbrannt. Die Erzieherin triumphiert über dieses Geständnis. Sie sieht Quint nicht mehr. Da will sie von ihm wissen, was in der Schule passiert ist. Er gesteht, anderen Kindern schlimme Sachen erzählt zu haben, die diese wiederum wohl den Lehrern berichteten. Die Erzieherin sieht wieder den Geist Quints durchs Fenster starren. Sie preßt Miles an sich, der stöhnend fragt, ob Miss Jessel hier sei. Die Erzieherin verneint; sie will, daß er den Namen Quints ausspricht. »Ist’s er?« stöhnt Miles. »Ich war fest entschlossen zu meinem vollen Beweis, daß ich Eiseskälte vortäuschte, um ihn zu reizen.« – »Wen meinst du? Wer ist er?« – »Peter Quint – du 20 21 22

23

Ebd., S. 130 (S. 84; S. 109) Ebd., S. 132 (S. 86; S. 111). Ebd., S. 133 (S. 86; S. 111). »Mightn’t one, to reach his mind, risk the strech of an angular arm over his character?« (Mind und character werden hier »pathetisch« mit Geist und Seele übersetzt.) Ebd., S. 139 (S. 90; S. 116).

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Satan!« schreit Miles und fügt verzweifelt um sich blickend hinzu: »Wo?« – »Dort … dort!« antwortet die Erzieherin. Miles zuckt und starrt ans Fenster. Quint ist nicht mehr zu sehen. Miles schreit auf und sinkt in die Arme der Erzieherin, die ihn gerettet wähnt: »[…] doch allmählich wurde ich mir bewußt, was ich in Wahrheit hielt. Wir waren allein mit dem stillen Tag, und sein kleines Herz, vom Bann erlöst, hatte aufgehört zu schlagen.«24

Interpretationen Diese Geschichte einer Erziehung mit tödlichem Ausgang wurde von der Kritik äußerst kontrovers diskutiert. Henry James vieldeutiger Stil ermöglicht es, die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. In der angloamerikanischen Textkritik von den zwanziger bis in die sechziger Jahre bildeten sich zwei Sichtweisen heraus. Diese klassischen Deutungen erschienen zusammen mit der Geschichte in einem sogenannten Casebook (1969). Ich möchte hier zusammenfassend einzelne Fragestellungen und Interpretationen darstellen, bevor ich eigene Gedanken formuliere. Der Hauptunterschied dieser beiden Richtungen liegt in der Interpretation der Wahrnehmung: Existieren die Geister Jessel und Quint wirklich oder lediglich in der Einbildung der Erzieherin? Die Deutungen der klassischen Literaturkritik analysieren hauptsächlich die Mittel, mit denen Henry James die Ambivalenz erzeugt. Seine Wortwahl ist voller Anspielungen auf Sexualität: z. B. erect, intercourse, die zweideutig für aufrecht bzw. Verkehr stehen und to screw, das im vulgären Englisch auch ficken bezeichnet. Die Beziehung von Rede und Gegenrede ist nicht eindeutig festgelegt: so bleiben Miles’ letzte Worte »Peter Quint – du Satan (Peter Quint – you devil)« unbestimmt; es ist nicht entscheidbar, ob sich das you devil an den Geist oder an die Erzieherin richtet. Auch Handlungen bleiben ambivalent. So hebt Muriel West einige Stellen des Schlußkapitels hervor, um ihre These zu untermauern, daß Miles’ Tod durch die nicht mehr zu kontrollierende körper24

Ebd., S. 145 (S. 94; S. 121).

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liche Gewalt der Erzieherin verursacht wurde. So z. B., als die Erzieherin Miles in der Schlußszene, als Quint erscheint, an sich drückt: »No more, no more, no more! I shrieked, as I tried to press him against me, to my visitant.«25 Muriel West stellt fest: »Was meint sie mit him – Miles oder ihren Besucher? Weiß sie wer wer ist?«26 Diese Stellen machen im übrigen auch deutlich, wie schwierig eine Übersetzung dieser Geschichte ist. So wird dieser Satz in der Reclam-Ausgabe folgendermaßen übersetzt: »›Nie mehr! nie mehr! nie mehr!‹ schrie ich meinem grausigen Besucher zu und suchte den Knaben an mich zu pressen.«27 Es entsteht eine im Text nicht vorhandene Eindeutigkeit. Die bekannteste sogenannte Freudian Interpretation von Turn of the screw stammt von dem berühmten amerikanischen Kritiker Edmund Wilson aus dem Jahre 1934 (The Ambiguity of Henry James). Er beschreibt die Geschichte als einen neurotic case of sex repression – die Erzieherin unterdrücke eigene sexuelle, von der viktorianischen Gesellschaft tabuisierte Gefühle, die sie gegenüber dem Onkel der Kinder hegt. »Her inability to admit herself natural sexual impulses«28 treibe Flora in die Hysterie und Miles in den Tod. Die Geister sind keine »real ghosts but hallucinations of the governess«.29 Auch der Analytiker und Psychiater Maurits Katan spricht von hysterischen Halluzinationen der Erzieherin. Er geht einen Schritt weiter und sieht in der Geschichte eine Verarbeitung von James’ eigenem Ödipuskomplex: James identifiziere sich mit dem Onkel der Kinder (der als asexueller Junggeselle und Beobachter fungiere), während Quint einen »very sexual, morally low valet«30 darstelle. Es handle sich dabei um ein und dieselbe Person: »Das Über-Ich der Erzieherin verurteilt ihr sexuelles Verlangen und stellt den Onkel – der das Hauptobjekt ihrer Begierden ist – als einen Schurken

25 26

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Casebook, S. 94; penguin classics, S. 120. Muriel West (1964): The death of Miles in ›The Turn of the Screw‹, in Casebook, S. 345 (eigene Übersetzung). A. a. O., S. 144. Casebook, S. 121. Ebd., S. 115. M. Katan (1962): A causerie on Henry James’s ›The Turn of the Screw‹, in Casebook, S. 327.

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[Quint] dar.«31 James’ eigenes zwiespältiges Verhältnis zur Sexualität werde damit in Szene gesetzt. Gerald Willen, der Herausgeber des Casebook, formuliert in seinem Vorwort zu der Sammlung verschiedener Interpretationen: »was James in dieser Erzählung getan hat, um solchen Reaktionen Anlaß zu geben, besteht darin, das Besondere verallgemeinert zu haben, während Sophokles z. B. im Ödipus das Universale als Besonderes dargestellt hat.«32 Willen bezieht dies auf das Allgemeine unserer »imaginary childhood terrors«33, führt dies allerdings nicht weiter aus. Oscar Cargill (Henry James as a Freudian Pioneer; 1956)34 verweist auf den Fall Lucy R. in den Studien über Hysterie von Breuer und Freud. Cargill weist nach, daß James die 1895 erschienenen Studien gekannt haben dürfte, und legt die ähnliche Struktur dieses Falls von Hysterie und der Geschichte der Erzieherin dar. Miss Lucy, eine englische Erzieherin, die in einer Industriellenfamilie in Wien arbeitet, konsultiert Freud 1892 wegen einer Geruchshalluzination, die mit depressiven Verstimmungen einhergeht. Sie fühlt sich von dem Geruch nach verbrannter Mehlspeise verfolgt. Nach und nach gelingt es Freud im Verlaufe der Behandlung, die damals noch von Handauflegen begleitet wurde, zu zeigen, daß die Symptome Lucys auf ihre verdrängte Liebe zum Hausherrn, dessen Frau verstorben ist, zurückzuführen sind. Auf den Gedanken, daß Quint und der Onkel ein und dieselbe Person sein könnten (Katan), die Feststellung, daß diese Erzählung etwas Universales formuliert (Willen), wie auch auf den Fall Lucy R. möchte ich später noch einmal zurückkommen. Der Neurologe J. Purdon Martin kommt in seinem Artikel Neurology in ›The Turn of the screw‹ zu der Erkenntnis, daß eine Temporallappen-Epilepsie (temporal lobe epilipsy) für die Erlebnisse der Erzieherin verantwortlich sein könnte.35 Zuletzt noch eine originelle Interpretation des Psychiaters C. Knight Aldrich, der der Bedeutung Mrs. Groses nachgeht und 31 32 33 34 35

Ebd. (eigene Übersetzung). A. a. O., S. VII (eigene Übersetzung). Ebd. A. a. O., S. 223–238. In British Medical Journal, 894/4, Dec. 22, 1973.

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zu dem Schluß kommt, daß sie die eigentliche Intrigantin der Geschichte ist: sie manipuliere die psychisch labile Erzieherin, bestärke sie in ihrem Wahn, um sie schließlich loszuwerden. Das Motiv sei die für sie unerträgliche Konkurrenz zu den Kindern: »My main point is that ›The turn of the screw‹ is not a ghost story, and is more than a psychiatric case history. It is a tragedy of an evil older woman who drives an unstable younger woman completely out of her mind and whose jealousy was the indirect cause of a little boys’ death.«36 Überraschenderweise kann man die Geschichte nach dieser Interpretation tatsächlich ganz anders lesen: nämlich als Kriminalgeschichte. Diese Auslegungen, die in den Geistern eindeutig Halluzinationen der Erzieherin erkennen, werden in der angloamerikanischen Rezeption als The Freudian Point of View bezeichnet, ohne daß Freud sich jemals zu dieser Geschichte geäußert hätte. Es ist wohl charakteristisch für eine gewisse Richtung der Psychoanalyse, die vor allem in Amerika unter dem Begriff der Ego-Psychology zusammengefaßt werden kann, daß hier die Interpreten einen Punkt der Wirklichkeit in dieser Geschichte suchen, um von dort aus die sichere Deutung zu bewerkstelligen. Dieser Punkt ist in diesem psychiatrisch-analytischen Diskurs die Krankheit des anderen – eben der Erzieherin –, demgegenüber die Wissenschaft den unzweideutigen Standpunkt der Normalität einnehmen kann. Überspitzt formuliert: Hätte sich die Erzieherin der richtigen Behandlung unterziehen können, gäbe es eine solche Geschichte nicht, und man bräuchte nicht zu deuten und darüber zu diskutieren. Die eigentliche Welt ist normal und Geistergeschichten entstehen aus pathologischer Abweichung einzelner. In diesem Falle der Erzieherin oder Henry James selbst. Sicherlich ist dieses sogenannte Freudian Reading nicht identisch mit Freuds Psychoanalyse, denn sonst wäre die Geschichte des König Ödipus auch nur eine Fallgeschichte, die für eine allgemeine Theorie des Subjekts ungeeignet wäre und höchstens über das pathologische Verhältnis, das der Autor – also Sophokles – zur Sexualität hatte, Aufschluß geben könnte.

36

A. a. O., S. 377.

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Brittens turn Meine noch auszuführenden Überlegungen sind, daß diese Erzählung eine moderne Variante des Ödipus-Mythos ist und somit auf etwas Grundlegendes, das Subjekt Konstituierendes und Strukturierendes verweist. Um dies zu veranschaulichen, möchte ich zunächst auf Benjamin Brittens gleichnamige Oper eingehen, die meines Erachtens einen entscheidenden Schritt in diese Richtung nimmt. Brittens Oper, deren Libretto in Zusammenarbeit mit Mrs. Myfanwy Piper entstand, fügt der Ambivalenz eine neue Dimension hinzu. Die Frage nach der Wirklichkeit der Geister bleibt nach wie vor offen, doch beginnen diese nun zu singen. Zu dem Blick der Erzieherin, der die einzige Wahrnehmungsperspektive darstellt, kommt jetzt die Stimme hinzu. Sie konfrontiert uns mit dem Begehren der Geister, das somit nicht mehr ausschließlich von den Gedanken und Äußerungen der Erzieherin vermittelt wird. Pipers Libretto bzw. Brittens Oper beginnt wie die Erzählung mit einem Prolog: der Weisung des Onkels, die Erzieherin müsse ganz alleine mit der Erziehung der Kinder fertig werden. An der Stelle (Erster Akt, Szene 8), als die Erzieherin Miles alleine im Garten stehend zum Turm emporblicken sieht, tritt Quint singend auf; er singt zu Miles: »I am all things strange and bold, The riderless horse …«37, so bezaubert er Miles. Flora erblickt durchs Fenster Miss Jessel, die ebenfalls zu ihr singt: »Flora, Flora, Come … Their dreams and ours can never be one.«38 Zu Beginn des zweiten Aktes singen Quint und Jessel miteinander: Jessel macht Quint Vorwürfe, weil er ihr keinen Frieden läßt: »Cruel! Why did you beckon me to your side?« Worauf Quint erwidert: »I beckon? No, not I! Your beating heart to your own passions lied.«39 Und zusammen besingen sie den Untergang der Unschuld: »The ceremony of innocence is drowned.«40 – Die Zeremonie der Unschuld geht zugrund (zitiert

37

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Benjamin Britten, The Turn of the Screw, Aufnahme von Sir Colin Davis, Philips, 1983, Booklet, S. 41. Ebd., S. 42. Ebd., S. 44. Ebd.

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aus Yeats The second coming). In der Schlußszene befiehlt Quint Miles, den Brief zu stehlen. Das Anliegen der Geister ist deutlich, das erotisch-sexuelle bleibt aber nach wie vor nur angedeutet. Sicherlich ist der Gesang der Geister ein erheblicher Eingriff in die Geschichte, doch entzieht er – wie schon James’ Zweideutigkeiten – dem Zuschauer/Zuhörer in einer weiteren »Drehung der Perspektive« den sicheren Standpunkt: Die Melodien Quints und Jessels müssen gehört werden. Der sichere Standpunkt, der es ermöglichte, aus medizinischer Sicht die Pathologie der Erzieherin zu beschreiben, ist nicht mehr möglich – wir nehmen am Wahn teil, genießen die Melodien und halluzinieren mit. Hier möchte ich nun auf eigene Überlegungen zu sprechen kommen, die in der Geschichte eine höchst komplexe Totalität, in der alle Figuren in einem äußerst strukturierten Spiel aufeinander bezogen sind, zu sehen versucht. Um diesen Überlegungen ein Gerüst zu geben, möchte ich drei mir grundlegend erscheinende Aspekte ausarbeiten: Blicke, Briefe und Väter. Blicke In dieser Geschichte wird erblickt, gestarrt und zum Sehen gezwungen. Schon in der Rahmenhandlung, als einer der Teilnehmer die Geistergeschichte beendet, in der ein Knabe seine Mutter aufweckt, geht es darum, dem anderen etwas zu zeigen: »sondern damit sie auch selber […] das Entsetzliche sehe […]«41 – nämlich den Geist, den er im Schlafe sah. Später, als Douglas den Ich-Erzähler anblickt, stellt dieser fest: »[…] er sah mich an, doch so, als erblicke er nicht mich, sondern das, wovon er sprach.« ([…] instead of me, he saw what he spoke of.)42 Hier werden wir auf die Grundthematik der Erzählung eingestimmt: die Blicke in ihr treffen sich nicht, sie divergieren und verweisen alle Personen auf ihre Subjektivität. Zunächst ist dieser Blick noch verzaubernd. Als die Erzieherin ihr Zimmer in Bly betritt, sieht sie in den »Spiegel, in dem ich mich 41 42

A. a. O., S. 3 (S. 3; S. 7). Ebd., S. 4 (S. 4; S. 8).

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zum erstenmal in meinem Leben vom Kopf bis zu den Füßen sah […]«43. Sie tritt in das Geisterland von Bly ein. Von Flora ist sie bezaubert, so daß sie in ihrer Gegenwart »nur durch freudig sprechende Blicke«44 über manch ernstere Dinge mit Mrs. Grose spricht. Sie meint »ein Zauberschloß zu sehen, in dem ein rosiges Elfchen wohnt, ein Schloß, das zur Befriedigung der jungen Phantasie alle Farbenglut von Märchen und fabelhaften Geschichten überstrahlte«45. Noch fehlt diesem Blick nichts. Auch als Miles ankommt, verwirft die Erzieherin ihre Zweifel: »Meine liebe Mrs. Grose, schauen Sie ihn doch nur an!«46 Nur rückblickend unterbricht die Erzieherin diese Beschreibung des Zaubers: »[…] daß es heute meinen älteren und erfahreneren Augen wesentlich unbedeutender erscheinen würde.«47 Von dem Moment an, als sie selbst Objekt eines prüfenden Blicks wird, verweist dieser auf etwas, was nicht gesehen werden kann, auf einen unsichtbaren Makel – einen Mangel an Wissen, der die imaginäre Fülle dieses Märchenortes infrage stellt. Als sie Quint zum ersten Mal auf dem Turm stehend sieht, beschreibt sie: »[…] und ich erinnere mich, es lag etwas wie seltsame Ungebundenheit und Intimität darin, daß er barhaupt war – mich von seinem Standort aus starr ansah, mit ganz dem gleichen, scharf prüfenden Blick durchs verlöschende Tageslicht, mit ganz der gleichen Frage, zu der er selbst durch seine Anwesenheit herausforderte.«48 Über dieses Erlebnis schweigt sie. Als sie Quint das nächste Mal sieht, starrt er sie von draußen durchs Fenster an, doch »er [der Blick] löste sich für kurze Zeit von mir, indes ich ihn noch verfolgen konnte, wie er in einem Ding im Zimmer nach dem andern haftete. Mit einem Schlag erschütterte mich die neue Gewißheit, daß nicht ich es war, derentwegen er kam. Um eines anderen Willen kam er. Dieses blitzartige Wissen […] brachte in mir die un43 44 45 46

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Ebd., S. 14 (S. 10; S. 15). Ebd., S. 16 (S. 11; S. 16). Ebd., S. 18 (S. 12; S. 18). Ebd., S. 24 (S. 17; S. 23). »My dear woman, look at him!« (Hervorhebungen im englischen Originaltext.) Ebd., S. 18 (S. 12; S. 18). »… to my older and more informed eyes it would now appear sufficiently contracted.« Ebd., S. 29–30 (S. 20; S. 28).

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erwarteste Wirkung hervor, […] mich beschwingten Pflichtgefühl und Mut.«49 Sie spürt, nachdem sie ins Freie eilt, ein »dunkles Verlangen, mich dorthin zu stellen, wo er gestanden hatte«50. Wie schon erwähnt, blickt sie von außen durchs Fenster, Mrs. Grose betritt das Zimmer, sieht die Erzieherin starren, erschrickt, eilt ins Freie; die Erzieherin erzählt ihr die Erscheinung und Mrs. Grose identifiziert Quint; die Erzieherin gewinnt die Überzeugung, daß Quint mit Miles und die später erscheinende Miss Jessel mit Flora verkehrt (intercourse). Die Fensterszene (wie ich sie hier nennen will) stellt eine entscheidende Wende dar: Der Blick tritt aus der Spiegelung heraus und schweift umher, und damit beginnt die Odyssee der Erzieherin, die versucht, diese Leerstelle zu finden und zu füllen. Doch zunächst versucht sie die Position des Anderen einzunehmen, um etwas über den Blick zu erfahren. Es findet eine Wiederholung statt, die ihr keine neuen Erkenntnisse bringt, sondern nur die Vermutung, entsetzlich ausgesehen zu haben, weil sie Mrs. Grose so erschreckte. Sie kann den Blick des Anderen (Quint) nicht wiederholen, doch beschwingt sie dessen umherschweifender Blick mit Pflichtgefühl und Mut: das angstvolle Imaginäre, in dem sie gefangen war, löst sich auf. Miles und Flora werden zu Objekten dieses Blicks, der nun der ihre ist. »Je me voyais me voir« – »Ich sah mich, mich sehen« zitiert Jacques Lacan aus dem Gedicht La jeune Parque von Paul Valéry im Seminar über die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse.51 Sich sehen sehen ist die Illusion des Bewußtseins – des sich selbst Begreifen-Wollens. Es verweist auf eine narzißtische Fülle (das »sichganz-im-Spiegel-Sehen« der Erzieherin). Doch das Objekt des Sehens ist der Blick selbst, und dieser verweist auf einen Mangel, der ihn selbst erst konstituiert. Die Erzieherin will diesen Mangel sehen, sie ist in dieser phantasmatischen Szenerie gefangen: Sie will die Position des Anderen einnehmen, um sich sehen zu sehen: 49 50

51

Ebd., S. 35–36 (S. 23–24; S. 32). Ebd., S. 36 (S. 24; S. 33) »It was confusedly present to me that I ought to place myself where he had stood.« Jacques Lacan (1973): Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, Le Séminaire, Livre XI. Paris (Seuil), S. 76. Deutsche Fassung: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Weinheim/Berlin (Quadriga), S. 86.

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Subjekt und Objekt vertauschen sich. Mrs. Grose unterbricht diese Szene und nimmt die Funktion ein, die sie während der ganzen Erzählung innehat: Sie vermittelt Geschichte, Zusammenhänge und Zeit, ohne die das Szenario in einem zeitlosen Phantasma erstarren würde. Durch die Geschichte wird die Erzieherin in ihrer soeben erlangten Gewißheit bestärkt. Sie will die anderen (Flora, Miles, Grose) auch sehend machen; so überträgt sie den Mangel. Im Verlaufe der Erzählung verschärft sich ihre Position. Stellt sie zunächst fest: »Ich war eine Schutzwand (a screen), ich mußte mich vor sie stellen; je mehr ich sah, desto weniger sehen sie«52, so wird sie später zu einem screen (einer Projektionsfläche), die zu sehen zwingt. Die Erzieherin stellt sich in diesem phantasmatischen Szenario der Fensterszene die Frage, was sie im Begehren des Anderen ist, aber sie erhält keine Antwort vom Anderen. Er wendet den Blick von ihr, und da verspürt sie die Gewißheit, daß er Anderes begehrt als sie, es mangelt ihm an etwas. Über sich erfährt sie nichts, und auch als sie die Stelle dieses Blicks einnimmt, wird ihr nichts enthüllt. Aber sie identifiziert sich als Blick, und eben dies gibt ihr Gewißheit und eine Mission, die schließlich zu Ende geführt wird: als eine Illusion von Bewußtsein bzw. bewußtem Handeln, das geschirmt von der Schutzwand (screen) ihres Phantasmas – nämlich der Blick für Dinge zu sein, vor denen sie andere schützen muß. Doch am Ende genügen die trügerischen Blicke nicht mehr, diese täuschen und hinterlassen nur Zweifel und Verzweiflung, das Gesehene muß nun benannt werden, worauf Flora und Miles ihr jeweiliges Schicksal erfahren. Die oben aufgeführten sogenannten Freudian Readings sind hier – bei diesem imaginären Szenario – stehengeblieben. Anhand der zweideutigen Beschreibungen Quints (barhaupt, aufrecht/erect usw.) ist es nicht schwer, in ihm ein phallisches Symbol zu erblicken (sic). Daher die Schlußfolgerung, die verdrängte Sexualität der Erzieherin sei Ursache für ihre Halluzinationen (also Quint und Jessel selbst). Diese Beschränkung der Erzählung auf die Geschichte einer Verdrängung und deren Wiederkehr scheint mir zu sehr dem Imaginären verhaftet zu sein, dessen Ambivalenz Henry 52

A. a. O., S. 48 (S. 32; S. 42).

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James so meisterhaft darstellt. Diese Interpretation sucht – wie gesagt – einen normalen Punkt innerhalb einer Fiktion. Es ist der Wunsch des medizinischen Blicks, dem nichts mangelt und der vermeint, alles enthüllen zu können. Dabei stellt sich ganz pragmatisch die Frage, warum Halluzinationen in diesem Ausmaß als Resultat einer Verdrängung und nicht einer Verwerfung interpretiert werden. Vielleicht weil das Unheimliche des Verworfenen dann den Geist repräsentierte und sich die Frage nach dem unzugänglich Realen hinter dieser Erscheinung stellen würde. Dies ließe den sicheren Standpunkt dieser Deutung erzittern: Das Treffen mit dem Realen (tyché), das jenseits der bloßen Wiederkehr (automaton) liegt, wie Lacan ausführt.53 Ein Versuch, dieses Reale zu beschreiben und zu ertragen, wäre dann z. B. die diagnostizierte Temporallappen-Epilepsie der Erzieherin.

Briefe Neben trügerischen Blicken handelt die Geschichte von Briefen, die andeuten, nicht ankommen und nichts preisgeben. Der Spannung der Blicke setzen die Personen ein Schreiben entgegen. Schon die in der Rahmenhandlung erzählte Geschichte des Manuskripts ist höchst komplex: Der Bericht der Erzieherin ist eine Abschrift des Ich-Erzählers, des von Douglas erhaltenen Manuskripts (»Um es ein für allemal erledigt zu haben, sei hier ganz klar festgestellt: Was ich jetzt mitteilen werde, ist diese Erzählung nach einer viel später von mir selber angefertigten Abschrift. Der arme Douglas übergab mir kurz vor seinem Tode das Manuskript, das ihm am dritten Tage jenes Beisammenseins erreichte …«).54 Der Leser wird also darauf hingewiesen, daß er sich schon nicht mehr in der eindeutigen geschriebenen Wahrheit befindet; zur Ambivalenz des von der Erzieherin Berichteten kommt die mögliche Differenz der Überlieferung hinzu. Nach einem kurzen Briefwechsel mit ihrem zukünftigen Brotherrn bekommt die Erzieherin die Stelle in Bly zu den bekannten 53 54

A. a. O., S. 64. A. a. O., S. 7 (S. 6; S. 10–11).

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Bedingungen. Der nächste Brief erreicht sie von Miles’ Schule: über seine Entlassung wird nur mitgeteilt, daß er schädlich für die anderen sei (»that he’s an injury for the others«55). Dieser Brief ist nicht an sie adressiert, er ging an den Onkel der Kinder, der ihn – unentsiegelt – an sie weiterleitete. Nachdem sie Mrs. Grose über Miles befragt hat, schließt sie ihn in eine Schublade. Später erwähnt sie, daß sie beunruhigende Briefe von daheim bekomme. Über deren Inhalt erfährt der Leser nichts. Nebenbei erwähnt sie, daß der Onkel niemals an die Kinder schreibe und sie die Briefe der Kinder an ihn niemals absandte: »Ich meinte daher, ich handelte im Geiste meines Versprechens, ihn nicht zu behelligen, wenn ich den Kindern begreiflich machte, ihre Briefe seien nichts als reizende Stilübungen (charming literary exercises). Sie waren allzu schön, um der Post überantwortet zu werden; ich behielt sie; ich besitze sie nämlich heute noch.«56 Es gibt also nichts zu schreiben, was von Belang wäre. Sie sieht Miss Jessel traurig an ihrem Tisch einen Brief schreiben, kurz nachdem sie sich selber entschlossen hatte, den Brief an den Onkel zu schreiben. Sie wollte zuerst Mrs. Grose schreiben lassen, doch diese kann ja weder lesen noch schreiben. So fertigt sie den Brief, den Miles dann entwendet, selber an. Miles gesteht, den Brief genommen und gelesen zu haben, aber er erfährt nichts aus ihm: »Nichts (nothing).« – »Nichts, nichts! Ich schrie es fast in meinem Jubel. »Nichts, nichts, wiederholte er traurig.«57 Daraufhin gesteht Miles, daß er in der Schule schlimme Dinge zu seinen Kameraden sagte, zu schlimm (too bad), als daß die Schulleitung es nach Hause hätte schreiben können. Etwas widersetzt sich dem Schreiben. Ein Austausch (oder Kommunikation, wie man heute sagen würde), der über die Schrift stattfände und Widersprüche und Zweifel lösen könnte, ist unmöglich. Trotzdem gäbe es ohne das Geschriebene keine Geschichte: Das überlieferte Manuskript, der Brief aus der Schule, der Brief der Erzieherin an den Onkel treiben die Geschichte voran. Man hört nicht auf zu schreiben, auch wenn das Geschriebene nichts preis55 56 57

Ebd., (S. 14; S. 20). Ebd., S. 89 (S. 58; S. 76). Ebd., S. 141 (S. 91–92; S. 118).

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gibt. Die Briefszene (wie ich sie analog zur Fensterszene nennen möchte), in der die Erzieherin den Brief an den Onkel schreibt und den Miles entwendet, gibt überhaupt erst den Anlaß bzw. die Voraussetzung, Miles zu verhören und ihn zu einem Geständnis zu zwingen. Der Diebstahl des Briefs ist die einzig manifeste Fehlhandlung, der sich Miles schuldig macht. Doch aus diesem Brief erfährt er nichts; er verbrennt ihn. Dies erinnert an Lacans berühmte Abhandlung über Poes Erzählung Der entwendete Brief. Der Brief stelle einen Signifikanten dar, der die Position der Subjekte verändert, je nachdem, in welcher Relation sie zu ihm stehen. Der Brief ist eine eigene Person und nicht, der ihn schreibt. »[…] pour chacun la lettre est son inconscient«58, für jeden ist der Brief sein Unbewußtes, führt Lacan aus. Die Position ist dabei entscheidend, nicht der Inhalt. Auch in dieser Geschichte ordnen sich die Personen um die beiden Briefe: um den aus der Schule und um den an den Onkel. Beide Briefe beziehen sich auf eine symbolische Instanz: der Schule und dem Onkel. Der erste Brief reißt schon zu Beginn eine Lücke in die von der Erzieherin beschriebene märchenhafte imaginäre Fülle Blys und positioniert die Personen in einer zunehmend unerträglichen Ambivalenz zueinander. Verschlossen in einer Schublade, ordnet er das Verhältnis der Protagonisten. Der Brief an den Onkel wird von Miles verbrannt, da er ihm nichts offenbart. Mit diesem Diebstahl, Zerstörungswerk und Bekenntnis setzt er den Prozeß seines Verhörs in Gang. Er zerstört das ordnende, symbolische Wort des an den Onkel gerichteten Briefs und ist von nun an dem Imaginären der Erzieherin ausgeliefert. Der Inhalt der Briefe appelliert an etwas, das nicht faßbar, ja unheimlich ist: die Schule verweist auf einen Makel, vom Inhalt des Briefs an den Onkel erfährt auch der Leser nichts – er kann nur ahnen, daß es die Bitte ist, dieser möge doch nach Bly kommen. Der Appell dieser Briefe wird nicht erhört; die Erzieherin und Miles bleiben in der imaginären Welt Blys gefangen: es gibt kein Zurück an die Schule und der Onkel kommt nicht. Die Blicke, die 58

Jacques Lacan (1978): Le moi dans la théorie de Freud et dans la technique de la psychanalyse, Le Séminaire, Livre II. Paris (Seuil), S. 231. (Deutsche Fassung: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse.)

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so Schreckliches andeuten und doch ungewiß bleiben, finden in der Schrift keinen Halt, keine Verankerung und keine Ordnung (»verloren wie eine Handvoll Passagiere auf einem großen, von der Strömung fortgetragenen Schiff«59). In dieser Unmöglichkeit hört man nicht auf, nicht zu schreiben: die Kinder schreiben belanglose Briefe, die nicht abgeschickt werden, oder man erfährt daraus nichts, »nothing, nothing«, wie Miles enttäuscht, aber auch entlarvend äußert. Unmöglich, aus der Schrift etwas über sich zu erfahren. »Miles trug seinen Anspruch auf Unabhängigkeit, auf die Rechte seines Geschlechts und seines Standes so weithin lesbar an der Stirn geschrieben, daß ich, hätte er plötzlich seine Freiheit gefordert, nichts zu tun oder zu sagen gewußt hätte«60, äußert die Erzieherin einmal, aber davon erfährt Miles nichts. Das Notwendige und das Unmögliche stehen sich gegenüber: Die Notwendigkeit seines Geschlechts/seiner Sexuation (the rights of his sexe) und die Unmöglichkeit des rapport sexuel – des Geschlechterverhältnisses. In der phantastisch-phantasmatischen Welt Blys verkehrt man nur mit wollüstigen Geistern. Vor den Augen der Erzieherin – ihrem subjektiven Blick – wird ein unerträgliches Genießen inszeniert, das sie (und mit ihr der Leser) nur erahnen kann. Daß in der gleichnamigen Oper Quint Miles befiehlt, den Brief zu nehmen, akzentuiert die Problematik des Verhältnisses der Personen zueinander: will Quint, daß Miles darin etwas liest oder daß der Brief nicht ankommt? Aber gibt es in dieser Geschichte überhaupt Antagonisten – gute, böse oder verrückte Personen? Ich glaube nicht und möchte mich hier von Lacans Äußerung bezüglich Poes Erzählung leiten lassen, daß nämlich »in jedem Augenblick jeder definiert ist, bis hin zu seiner sexuellen Haltung, aufgrund der Tatsache, daß ein Brief immer sein Ziel erreicht«61. Väter »Indessen konnte wohl kein Unterfangen höheren Takt erfordern als eben dies, auf sich gestellt und allein für die ganze Natur zu ste59 60 61

A. a. O., S. 18 (S. 12; S. 18). Ebd., S. 91 (S. 131; S. 77). Jacques Lacan, Séminaire, Livre II. A. a. O., S. 240.

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hen« (to supply, one’s self, all the nature).62 So die Erzieherin, als sie sich entschließt, ihre Aufgabe bis zum Ende durchzuführen. Dieses Ganze ist undurchschaubar und rätselhaft. Die Fatalität in dieser Erzählung, in der Blicke verwirren, Briefe nur andeuten und selbst das Kommunizieren so lange an der Doppeldeutigkeit der Worte scheitert, bis letztendlich ein Opfer dargebracht wurde, verweist auf etwas Mythisches, auf etwas nicht weiter hinterfragbares und endlos zu deutendes Geschehen. »Der Mythos bedeutet [signifiziert], und er bedeutet, indem er zeigt; er bezieht sich auf das institutionelle Unternehmen zu zeigen: das Prinzip zu zeigen«, so definiert der Rechtswissenschaftler und Psychoanalytiker Pierre Legendre.63 Der Mythos inszeniert die Leere und trennt die Wörter von den Dingen; er zeigt, was verborgen bleiben muß. Die Geschichte beginnt mit einer Abdankung. Der Onkel der Kinder und Herr von Bly stellt die Forderung, nie mit etwaig auftretenden Problemen behelligt zu werden. Dies ist die Bedingung, mit der die Erzieherin die Stelle antritt, oder besser gesagt: einnimmt. Ohne diese Vorbedingung wären die darauffolgenden Schraubendrehungen nicht möglich. Auch Brittens Oper beginnt mit diesem Prolog zwischen Onkel und Erzieherin, der stattfindet, bevor der Vorhang hochgezogen wird und Bly erscheint. Bly ist ein märchenhafter, verzauberter und schrecklicher Ort, dem keiner unbeschadet entkommt und der die Akteure unerbittlich miteinander verknüpft. Jeder nimmt darin eine bestimmte Position ein und erfüllt die ihm aufgetragenen Aufgaben – jeder spielt seine Rolle bis zum bitteren Ende. Wie sind die Personen zueinander geordnet? In der Vorgeschichte erfahren wir, daß die Eltern von Miles und Flora gestorben sind. Im Bericht der Erzieherin werden sie nie erwähnt, weder von ihr, Mrs. Grose, noch von den Kindern. Als der Onkel noch auf Bly lebte, war Quint sein Kammerdiener und Miss Jessel die Erzieherin der Kinder. »›Dann ging der Herr, und Quint blieb

62 63

A. a. O., S. 132 (S. 86; S. 111) – im Original kursiv. Pierre Legendre (1994): Dieu au miroir – Etude sur l’institution des images, Paris (Fayard), S. 140 (eigene Übersetzung, Hervorhebungen im Originaltext).

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allein.‹ Ich folgte, doch etwas verzögernd. ›Allein?‹ ›Allein mit uns.‹ Danach, wie aus tieferer Tiefe herauf schöpfend, setzte sie hinzu: ›Als Stellvertreter‹ (in charge)«64, so das Gespräch zwischen Mr. Grose und der Erzieherin. Sie erzählt außerdem noch, wie Quint die Kleidung seines Herrn trug und immer die Nähe zu Miles suchte. Nachdem Quint tödlich verunglückte, starb bald darauf Miss Jessel, die Quint hörig war. Deren Platz nahm schließlich die Erzieherin ein, und auf bizarre Weise scheint sich nun eine vergangene Geschichte zu wiederholen. Es scheint sich etwas im Kreis zu drehen, und vor allem Miles scheint darunter zu leiden: »Ich will Neues!« (»I want a new field!«)65, fordert er von der Erzieherin, als sie für ihn erhofft, der Onkel könnte ihn in die Schule zurückschicken. Was ist es, was sich hier wiederholt? Ich möchte hier zwei Gedanken der oben zitierten Kritiker wiederaufnehmen: Cargill verweist auf Freuds Fall Lucy R. aus den Studien über Hysterie, in der er das mögliche Vorbild für die Jamessche Figur der Erzieherin sieht. Quint und der Onkel sind ein und dieselbe Person, schlußfolgert Katan, wobei er dann aber auf Henry James’ Ödipuskomplex und sein schwieriges Verhältnis zur Sexualität abzielt, und diese dann erörtert. Zunächst möchte ich eine Passage aus Lucy R. zitieren, als Freud ihr seine, von ihr dann akzeptierte, Deutung vorträgt. »Ich glaube nicht, daß dies alle Gründe für Ihre Empfindungen gegen die beiden Kinder sind, ich vermute vielmehr, daß Sie in Ihren Herrn, den Direktor, verliebt sind, vielleicht, ohne es selbst zu wissen, daß Sie die Hoffnung in sich nähren, tatsächlich die Stelle der Mutter einzunehmen, und dazu kommt noch, daß Sie so empfindlich gegen die Dienstleute geworden sind, mit denen Sie jahrelang friedlich zusammengelebt haben.«66 Ohne auf die Komplexität dieses Falles eingehen zu wollen (er ähnelt tatsächlich in vielen Dingen der Erzählung, auch wenn darin keine Geister erscheinen und die Geschichte einen weitaus weniger dramatischen Ausgang nimmt), möchte ich die Äußerung 64 65 66

A. a. O., S. 41 (S. 27; S. 37). Ebd., S. 106 (S. 69; S. 89). Sigmund Freud (1895d): Studien über Hysterie, G.W. 1, S. 175.

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Freuds, »… tatsächlich die Stelle der Mutter einzunehmen …«, herausgreifen. Stellvertretend für die verstorbene Mutter wünscht die Erzieherin Lucy sowohl bei ihrem Brotherrn als auch bei dessen Kindern, deren Position einzunehmen. Die Geruchshalluzination fand ihren Ursprung, als den Kindern tatsächlich eine Mehlspeise anbrannte, weil sie aus lauter Aufmerksamkeit für die Erzieherin (diese bekam einen Brief) nicht achtgaben. In diesem Moment empfand die Erzieherin sich als Mutter. Auch die Erzieherin in James’ Erzählung nimmt eine Stelle ein. Sie vertritt die verstorbene Miss Jessel, die ihrerseits die tote leibliche Mutter der Kinder vertrat. Die leibliche Mutter war mit dem toten leiblichen Vater verheiratet, die verstorbene Miss Jessel war dem ebenfalls toten Peter Quint hörig, was sich fortsetzt, als diese als Untote erscheinen. Die Erzieherin selbst empfindet Hochachtung, Bewunderung und Zuneigung zu ihrem Herrn, dem Junggesellen und Onkel der Kinder. Sexualität ist in der Erzählung durch das Paar Jessel-Quint und durch deren supponiertes Verhältnis zu den Kindern Flora-Miles stets präsent. Die Erzieherin nimmt nun eine Stellung ein, in der sie mit Hilfe von Mrs. Grose diese komplexe Familiengeschichte auf sich bezieht. Ausgehend von den Überlegungen Willens, daß es um etwas Universales geht, und denen Cargills, daß im Unbewußten der Erzieherin Onkel und Quint die selbe Person sind (der idealisierte Mann und der sexuelle Wüstling, und nur ihre Neurose die Spaltung vornimmt und einen Geist erscheinen läßt), möchte ich hier eine Überlegung hinzufügen. Wenn wir die Struktur der Erzählung betrachten, so gibt es drei männliche Figuren: den toten Vater, den sich nicht einmischenden Onkel und den aggressiven untoten Quint. Und hier, denke ich, befinden wir uns am entscheidenden Punkt: alle drei Figuren sind entscheidend für das dargestellte Drama – und nicht die subjektive Empfindung des einzelnen. Der Geist Quints stellt eine notwendige Position dar, die sich nicht auf eine krankhafte, überflüssige Halluzination oder Einbildung der Erzieherin beschränken läßt. Wenn ich Quint dabei heraushebe und den Geist Miss Jessels vernachlässige, dann deshalb, weil Quint als der Böse, wenn nicht das Böse schlechthin, dargestellt wird: auch Jessel ist eines seiner Opfer und existiert als böser Geist nur durch ihn. Der Schritt besteht nun darin, diese drei männlichen Personen 52

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als Repräsentanten ein und derselben Funktion zu betrachten, auch wenn ihre Position zu den anderen jeweils verschieden ist: es ist die väterliche Position gegenüber Miles und Flora. Deren leiblicher Vater ist gestorben. Der Onkel, der den symbolisch-ordnenden Platz des leiblichen Vaters einnimmt, dankt ab, und an dessen Stelle treibt das phallische Gespenst Peter Quint sein Unwesen. Die Frage nach der Realität Quints – existiert er nur für die Erzieherin oder auch für die Kinder – ist sekundär. Als Gespenst ist er, der das Geschick der Beteiligten entscheidend bestimmt, dem Imaginären zuzuordnen. Die Erzieherin nimmt den Platz einer Mutter ein, der vorher von der leiblichen Mutter und deren (un)toten Vertreterin Miss Jessel besetzt war. In dieser Position wird vermittels der Erzieherin etwas sichtbar, was letzten Endes als die Frage »Was ist ein Vater?« gedeutet werden kann. Der Vater tritt also einmal in der Realität auf, er ist tot, ebenso wie die Mutter, in der Gestalt des Onkels ist er im Reden und Wünschen der Beteiligten stets präsent und als Geist gibt er sich zu erkennen. Um diese Konstellation genauer zu fassen, möchte ich einen kurzen Exkurs in die Lacansche Ausarbeitung der ödipalen Problematik unternehmen: Für Lacan wird die Struktur des Ödipus, also des Kastrationskomplexes, nur verständlich, wenn der Trias Vater – Mutter – Kind der Phallus hinzugefügt wird. Nur so wird eine Position von Vater – Mutter – Kind gegenüber diesem phallischen Signifikanten, der für eine Abwesenheit steht, deutlich. Er verweist auf den Mangel im Anderen, trägt das Begehren und ermöglicht den Ausweg aus dem inzestuösen und von Rivalität geprägten Erleben dieser Trias. Die Funktion des Vaters arbeitet Lacan ab 1956 aus. Diese Funktion läßt sich auf drei Ebenen beschreiben: Der symbolische Vater artikuliert sich nur über das Begehren der Mutter, das im Diskurs der Mutter auf etwas anderes verweist; etwas, das das Kind nicht ist und nicht ausfüllen kann. Im Diskurs verweist sie auf den Mangel, den das Kind nicht füllen kann. Der Name des Vaters wird durch diesen Mangel im Diskurs der Mutter für das Kind begründet. Sie weist dem realen Vater einen Namen zu. Dieser Platz, diese Leerstelle des Vaters, wird im Diskurs der Mutter eingerichtet. Der reale Vater kann diesen Platz einnehmen, er kann 53

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angerufen werden. Der reale Vater impliziert eine Unmöglichkeit: es ist das Unmögliche einer wahren Vaterschaft. Wissenschaftlich »gibt es nur einen realen Vater«, sagt Lacan ironisch, »nämlich das Spermatozoid«67, und fügt hinzu: »Der reale Vater ist nur eine Wirkung der Sprache und hat nichts anderes Reales.«68 Aber dieser Vater bedeutet dem Kind, nicht der Phallus seiner Mutter zu sein, und konfrontiert es gleichzeitig mit einem Nicht-Wissen: dem Unmöglichen der wahren Vaterschaft. Diese Ungewißheit kastriert. Da aber diese Position des Nicht-Wissens für das Kind unmöglich ist, tritt der Vater in dieser Dialektik als privateur/Entziehender auf: Es ist die Position des imaginären Vaters, der der Mutter ihr Objekt der Begierde – den Phallus – entzieht. Hier ist also der Ort der Rivalitäten, aber auch der Idealisierungen und auch der perversen Begegnung, wenn der Vater diesen Idealisierungen zu entsprechen versucht. In der Sitzung Die drei Zeiten des Ödipus69 im Seminar Die Bildungen des Unbewußten entwickelt Lacan die Grundlagen einer ödipalen Dialektik, die ich hier kurz zusammenfassen möchte: Im ersten Moment dieser Dialektik stellt sich die Frage nach dem Phallus durch die Mutter, in deren Diskurs das Kind ihn ortet (symbolischer Vater). In einem zweiten Moment tritt der Vater als versagender auf. Die Mutter positioniert ihn als denjenigen, der ihr das Gesetz macht (imaginärer Vater). Im dritten Moment interveniert der Vater als real: er hat den Phallus, aber über das Genießen des Vaters weiß das Kind nichts. Es identifiziert sich mit dem Unmöglichen dieses Ideals und tritt in die Dialektik des Begehrens ein. Es soll hier nicht darum gehen, diese drei Momente des Vaters bzw. der ödipalen Dialektik mit Henry James’ Erzählung in Deckungsgleichheit zu bringen, aber es scheint mir legitim, unter diesen ödipalen Gesichtspunkten die Stellung Quints genauer zu betrachten. Der Geist Peter Quint ist in einer Mittlerposition: Er ist die einzig erreichbare, wirksame und (zumindest für die Erziehe67

68 69

Jacques Lacan (1991): L’envers de la psychanalyse, Le Séminaire, Livre XVII. Paris (Seuil), S. 148 (eigene Übersetzung). Ebd., S. 147–148 (eigene Übersetzung). Jacques Lacan (1998): Les formations de l’inconscient, Le Séminaire, Livre V. Paris (Seuil), S. 179–212.

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rin) sichtbare Vaterfigur. Er erfüllt die Funktion des imaginären Vaters, der der Mutter den Phallus entzieht und eine sowohl idealisierende als auch verführerische Rolle gegenüber den Kindern einnimmt: er bezaubert und mißbraucht. Zahlreiche Stellen in der Erzählung weisen darauf hin, daß die Erzieherin Angst und Wut darüber empfindet, daß ihre Macht über die Kinder ihr von den Geistern entzogen wird. Quint ist der Mittler zwischen dem toten, realen Vater und dem (auf das Symbolische verweisenden) Onkel der Kinder, der nur im Diskurs der Erzieherin und der Kinder existiert, ohne erreichbar zu sein. Diese symbolische Vaterfigur begründet das Begehren der Erzieherin, das in Textstellen wie dieser formuliert wird: »Ja, sie liebte. Das heißt sie hatte geliebt. Es stellte sich heraus – sie konnte ihre Geschichte nicht erzählen, ohne daß es herauskam«70, berichtet Douglas in der Rahmenhandlung. »Ich tat ja das, was er [der Onkel] von mir so inständig erhofft und unumwunden verlangt hatte, und daß es mir trotz allem glückte, war mir sogar eine noch größere Lust, als ich erwartet hatte«71, so die Erzieherin. Sie empfindet dessen Abwesenheit und Unerreichbarkeit als Mangel, und dieser Mangel setzt sich in den Kindern – vor allem in Miles – fort. Dieser Mangel zeigt den Weg, der aus Bly führt. Der reale, tote Vater stellt eine Unmöglichkeit dar. Über ihn wird nicht gesprochen – er wird nur in der Rahmenhandlung erwähnt –, doch dreht sich das ganze Drama um dessen Abwesenheit. Die Erzählung ist so komplex aufgebaut, daß ohne die Figuren des toten Vaters und des unerreichbaren Onkels der Handlungsablauf nicht möglich wäre. Wäre z. B. der leibliche Vater nicht tot, sondern auf der Position des unerreichbaren Onkels, wäre die Rolle Quints banal; er würde lediglich als rivalisierende, böse Vaterfigur auftreten, die (wie in so vielen Grusel- und Horrorgeschichten) besiegt werden muß, oder der leibliche Vater würde durch seine Abdankung zum realen Unheil für die Kinder werden. Die Erzählung liefe Gefahr, zum Groschenroman herabzusinken. Die Vergeblichkeit einer Identifikation mit diesem realen Vater kommt in den Briefen zum Ausdruck. Die Instanzen der symbo70 71

A. a. O., S. 6 (S. 5; S. 9). Ebd., S. 27 (S. 18; S. 25).

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lischen Ordnung wie die Schule (Brief von der Schule) und der Onkel (im Brief vom Onkel steckt der Brief der Schule; dann der Brief an den Onkel) geben keine Auskunft über den Mangel, die Protagonisten bleiben in der imaginären Welt Blys gefangen. Aber diese Briefe sind Voraussetzung für den Fortgang der Erzählung: sie hören nicht auf, sich nicht zu schreiben. Im Erleben der Erzieherin kommt nun diese Problematik zum Vorschein. In ihr konvergieren Namen und Erscheinungen, und so wird ihr Diskurs entscheidend für die Kinder. In ihr wird ein Konflikt – ein Komplex – aktuell, der letztendlich eine Lösung erfährt. Zu Beginn erfährt die Erzieherin von Mrs. Grose, daß die Kinder eine Zeitlang mit den lebenden Personen Quint, Jessel und dem Onkel auf Bly gelebt haben. Die Personen Quint und Onkel werden als sehr intim miteinander beschrieben (Quint zog Kleidung des Herrn an, sie waren immer zusammen). Dann wurde Quint zum Stellvertreter des Herrn und starb. Nun hat sich also eine Trennung vollzogen; die Situation wiederholt sich, spitzt sich zu und verlangt nach einer Lösung. »Ich will Neues!« fordert Miles. Dieses Drama einer Erziehung könnte also auch anders gesehen werden: nicht als Scheitern, sondern als notwendige Tragik jeder Erziehung. Als Flora mit dem Namen Miss Jessel, der als Signifikant für die Weiblichkeit steht, konfrontiert wird, schreit sie und spricht später »entsetzliche Sachen« (horrors, really shocking). So tritt sie in den Ödipuskomplex ein. Ihre Sexualität findet Worte. Als Miles den Namen Peter Quint ausspricht, löst er sich von dieser imaginären Vaterfigur. Mit der Metapher »du Satan« (you devil), die für die Erzieherin wie für Quint stehen kann, und mit der verzweifelten Frage »Wo?« verläßt er die Szene: »sein kleines Herz, vom Bann erlöst, hat aufgehört zu schlagen« (his little heart, disposessed, had stopped) (auch dies könnte mit der Betonung auf kleines gelesen werden). Der ödipale Komplex »Bly« wird zerstört, indem Miles abtritt. Auch das Phantasma der Erzieherin bzw. der Erziehung zerbricht: der Tod, bisher hinter dem Phantasma verborgen, tritt in Erscheinung. Die Frage, ob Quint und Jessel nur für die Erzieherin sichtbar sind oder für Miles und Flora, spielt dabei keine Rolle. (Britten dramatisiert diese Ambivalenz, indem nur die Kinder dem Gesang der Geister antworten, obwohl sie für die Erzieherin Realität sind.) 56

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Entscheidend ist, daß sie für die Identifizierungen der Kinder – für den Eintritt in bzw. Austritt aus dem Kastrationskomplex (Bly) – die unabdingbare Voraussetzung bilden. Hier steht die Erzieherin für die ganze Natur, ihr Diskurs und ihre Handlung entscheiden über das Schicksal der Kinder. Dieses Wissen über ihre Position (für die ganze Natur zu stehen) macht sie zu einer tragischen Heldin. Die Erzieherin hat wie der Onkel und der tote Vater keinen Namen – sie transportiert in ihrem Diskurs den Namen der anderen (Quint/Jessel) – und ist Trägerin des Begehrens. Dabei übernimmt sie die unmögliche Aufgabe jeder Erziehung, sie muß sich von eigenen Idealvorstellungen befreien, um den Kindern »Neues« zu ermöglichen. So verlagert sich hier die Zweideutigkeit dieser Erzählung: Die Ambivalenz beruht letztendlich weniger auf der Unentscheidbarkeit der Echtheit der Geister als vielmehr auf der Ambivalenz von Liebe und Haß, die den Diskurs der Erzieherin und damit die Erzählung letztendlich determiniert. Mit ihrer Liebe will sie die Kinder retten, indem sie die Sexualität benennen und dadurch vom Genießen trennen will. Dies gelingt ihr – und das ist die Tragik. Als Miles verschwindet, endet das Manuskript der Erzieherin. In einer endlosen Schraubendrehung kann es nun weitergereicht und weitererzählt werden, als universales Drama der Subjektwerdung. Zum Schluß noch einige Sätze über die Geister Quint und Jessel und die Erzählung aus der Feder Henry James’ selbst: »Peter Quint und Miss Jessel sind keine Geister im heutigen Sinne, sondern Kobolde, Elfen, Teufelchen und Dämonen, die genauso vage definiert sind wie die der alten Hexenprozesse, oder scherzhafter, Feen aus altem Legendenschatz, die ihre Opfer anziehen, um sie unterm Mond tanzen zu sehen.«72 Und noch einmal James: »Laßt den Leser Böses denken, macht, daß er es selbst denkt, und euch bleiben mittelmäßige Details erspart.«73

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Terramorsi, a. a. O., S. 209–210 (eigene Übersetzung aus dem Französischen). Ebd., S. 210.

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Literatur Britten, Benjamin (1983): The turn of the screw. Aufnahme von Sir Colin Davis, Philips. British Medical Journal, 894/4, Dec. 22/1973. Freud, Sigmund (1895d): Studien über Hysterie, G.W. 1. James, Henry (1970): Schraubendrehungen. Stuttgart (Reclam). – (1994): Turn of the screw (England, Penguin Popular Classics). Lacan, Jacques (1978): Le moi dans la théorie de Freud et dans la technique de la psychanalyse, Le Séminaire, Livre II. Paris (Seuil). (Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse.) – (1998): Les formations de l’inconscient, Le Séminaire, Livre V. Paris (Seuil). – (1973): Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, Le Séminaire, Livre XI. Paris (Seuil). (Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse.) – (1991): L’envers de la psychanalyse, Le Séminaire, Livre XVII. Paris (Seuil). Legendre, Pierre (1994): Dieu au miroir – Etude sur l’institution des images. Paris (Fayard). Terramorsi, Bernard (1996): Henry James ou le sens des profondeurs, Paris (L’Harmattan). Willen, Gerard edit. (1969): Casebook. New York (Thomas Y. Crowell Comp).

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Peter Widmer

»Käthchen von Heilbronn« – ein verkehrtes Stück

1. Einleitung In Heinrich von Kleists Werk, seien es Dramen oder Erzählungen, geht manches anders zu, als der geneigte Leser erwartet, ja, man kann sogar wagen, die Behauptung zu verteidigen, daß Verkehrungen zu seinem Wesen gehören oder sogar seinen Sinn ausmachen. Da ist der Richter, der als Täter seines Amtes walten muß und deshalb die Schuldfrage umzukehren versucht; oder die Amazonenkönigin, die nicht nur ihren Geliebten kannibalisch tötet, sondern ihn auch belügt und täuscht. Zu denken ist sodann an den träumerischen Prinzen, der die militärische Order mißachtet, das Schlachtglück damit auf seiner Seite hat und doch nur durch einen Akt der Gnade der Hinrichtung entgeht. Die Beispiele setzen sich in den Erzählungen und Anekdoten fort: In »Das Erdbeben von Chile« erreicht ein zum Tode Verurteilter, notabene wegen eines illegalen Geschlechtsverkehrs, die Freiheit durch ein katastrophales Erdbeben, bevor er als ein scheinbar durch höhere Mächte Begnadeter ein noch schlimmeres Schicksal erleidet. »Der Findling« konfrontiert uns mit der absurden Geschichte eines Mannes, der seinen Sohn durch Pest verliert, einen andern an dessen Stelle aufnimmt, ihn mit aller erdenklichen Sorgfalt aufzieht und am Ende erfahren muß, daß dieser seine Frau und ihn selber ruiniert, so daß der verbitterte Vater seinen Adoptivsohn tötet und sich zudem angesichts der bevorstehenden Hinrichtung mit Kirche und Glauben überwirft. Viele andere Beispiele wären ebenso aussagekräftig, um die Bedeutung der Verkehrungen in Kleists Werk zu belegen, doch soll es damit sein Bewenden haben. Man ist sogar versucht, Kleists Leben auf diesen Signifikanten des Verkehrten zurückzuführen: Seine abgebrochene militärische Laufbahn und die darauffolgende, permanent unglückliche Suche nach einer anderen Bestimmung, die ihn sogar in den Bauernstand am Thunersee führte; oder seine Beziehungen zu Frauen, die allesamt mißrieten und anscheinend nie so weit gediehen, daß ein sexueller Kontakt zustande gekom59

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men wäre. So war denn der Suizid ein Akt, der diesen Verkehrungen ein Ende setzte und sein noch junges Leben auslöschte – eine letzte Verkehrung seines Lebens. Und »Käthchen von Heilbronn«? Gehört dieses Theaterstück auch in die Reihe der Verkehrungen? Die folgenden Ausführungen versuchen zu zeigen, daß es keine Ausnahme darstellt, im Gegenteil: Die Verkehrungen erreichen in »Käthchen von Heilbronn« eine besondere Dichte, nicht nur innerhalb des Geschehens, sondern auch im Kontext der anderen Kleistschen Werke. Hier wird vor allem das Tragische, Absurde, Himmelschreiende, das so manchem Kleistschen Stück eigen ist, in Märchenhaftes gewendet, in dem das Ideale dominiert. Aber greifen wir nicht vor, sondern versuchen wir, uns behutsam dem Geschehen zu nähern.

2. Das Materielle und das Ideale Betrachten wir zunächst die bedeutsamsten Figuren, die im »Käthchen von Heilbronn« eine Rolle spielen: Nebst Käthchen sind es Graf Wetter vom Strahl und Kunigunde. Es sind keine größeren Extreme denkbar als diejenigen zwischen Käthchen und Kunigunde. Käthchen verkörpert Reinheit, Liebe, Kunigunde Falschheit und Haß. Man ist versucht, auch die Polarität von Selbstlosigkeit (Käthchen) und Egoismus (Kunigunde) gelten zu lassen, aber dieser Einteilung wohnt die Gefahr der Oberflächlichkeit inne, denn auch Käthchen ist in einem bestimmten Sinne egoistisch: In ihrem Grunde weiß sie genau, was sie will; ihre Selbstlosigkeit hat da ihre Grenzen, wo sie dem Grafen von Strahl widerspricht und sich nicht wegschicken läßt, schon gar nicht zu ihrem Vater zurück. Sie ist nicht die zu allem gehorsamsbereite Magd, sondern ihr Gehorsam gilt nur für ihren Geliebten, und auch da nur innerhalb bestimmter Grenzen. Sie lassen sich da ziehen, wo es um Wahrheit und Wahrhaftigkeit geht. Käthchen läßt sich als Verkörperung der Wahrheit auffassen, was nicht bedeutet, daß sie diese Wahrheit wie einen Besitz hat, sondern daß sie diese als Wahrhaftigkeit lebt. Ihr Verhalten wird dabei getragen von einer unerschütterlichen Zuversicht, die auch dann gilt, wenn die äußeren Verhältnisse ihr zu wider60

»Käthchen von Heilbronn« – ein verkehrtes Stück

sprechen scheinen, wenn z. B. ihr Geliebter die Heirat mit Kunigunde plant, oder wenn er Käthchen mit Androhung von Peitschenhieben buchstäblich zum Teufel schickt, obwohl sie ihn vor einem bevorstehenden Komplott warnen will. Kunigunde erscheint im Ablauf des Geschehens zunächst als üble Gestalt, die es auf den Besitz eines Landstückes abgesehen hat, das Graf Wetter vom Strahl zu seiner Herrschaft zählte. In der tatsächlichen Begegnung trifft er sie dann als entführtes Opfer eines enttäuschten Liebhabers in einer Köhlerhütte während einer Regennacht; er befreit sie aus ihrer Gefangenschaft, wofür sie ihm dankbar ist. Sie verzichtet in der Folge auf den zuvor geltend gemachten Besitz der umstrittenen Landschaft, was dazu beiträgt, daß sich eine Beziehung zwischen beiden anbahnt, die rasch in konkreten Heiratsplänen ihre Fortsetzung findet. In Käthchen erkennt sie bald eine gefährliche Rivalin, von der sie spürt, daß Graf Wetter vom Strahl sich immer wieder mit ihr beschäftigt, auch wenn er sie wegschickt; Kunigunde versucht deshalb, sie zu beseitigen, was mißlingt und dazu führt, daß kurz vor der Hochzeit der Graf sich eines Besseren, oder zutreffender gesagt: einer Besseren besinnt. Eine wichtige Rolle bei der geplanten ehelichen Verbindung mit Kunigunde spielen, mehr noch als die eine kurze Zeit aufflackernde Zuneigung, standesrechtliche Verhältnisse: Käthchen erscheint bis fast zuletzt als Tochter eines Schmieds, nicht als Adlige – für den Grafen ein wichtiger Grund, eine Heirat mit Käthchen in den Bereich der Phantasie zu verschieben. Darüber hinaus tritt er als Mann auf, der geteilt ist in eine praktisch-realistische und eine ideelle Seite. Zu jener gehört das Interesse an seinem Besitz, das ihn immer wieder in kriegerische Auseinandersetzungen zieht, auch wenn diese von Motiven getragen ist, die selber über das Interesse an materiellen Dingen hinausgehen, wie Ehre, Recht, Pflicht. In diesem Sinne verkörpert der Graf die Gestalt eines edlen Ritters, der unerschrocken einsteht für solche Werte. Seine physische Kraft wird deutlich, etwa wenn er den Ritter, der Kunigunde entführte, mit einem Faustschlag niederstreckt. Es gibt jedoch eine andere Seite in ihm, und diese ist es, die ihn auch da an Käthchen bindet, wo er es nicht weiß. Sie hat dazu geführt, daß der Graf vor der Begegnung mit Käthchen monatelang krank darniederlag und offen61

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bar niemand ihm helfen konnte. Man könnte wahrscheinlich am ehesten von Melancholie sprechen; jedenfalls zeigte sich die Krankheit weniger als körperliches Übel denn als Überdruß an der Welt; der Graf litt unter der Unehrlichkeit, die er immer wieder antraf, und der vergeblichen Suche nach einer Frau, wie er sie sich wünschte. Er war nicht ansprechbar und es schien, als ob er sterben würde. In einer Silvesternacht kam dann die Wende, als ihm in einem Traum prophezeit wurde, daß er eine Kaisertochter heiraten würde. Später zeigte sich, daß Käthchen von diesem Traum wußte; eine himmlische Figur, ein Cherubim, stiftete zu gleicher Zeit die Beziehung zwischen Käthchen und dem Grafen. Diese ideelle Seite, die sich eher nächtlicherweise als tagsüber zeigt und vielmehr mit dem Unbewußten als mit dem Bewußten zu tun hat, obsiegt schließlich, was dadurch möglich wird, daß sich erweist, daß Käthchen ein uneheliches Kind des Kaisers ist, das dieser schließlich als seine Tochter anerkennt.

3. Die andern Figuren Lassen sich die beiden weiblichen Hauptfiguren den beiden Extremen des Ideellen, Liebenden, bzw. des Materiellen, Hassenden zuordnen, eine Polarität, die sich in der Gestalt des Grafen Wetter vom Strahl vereinen und um die Vorherrschaft kämpfen, so gilt diese Polarität auch für die anderen Figuren, jedoch in einem geringeren Ausmaß. Am ehesten verkörpert die Mutter des Grafen die ideelle, liebende Seite: Ihrer Liebe zu ihrem Sohn haftet nichts Possessives an. Bemerkenswert ist, daß sie besser als der Graf spürt, daß seine Liebe zu Kunigunde nicht seinem Ideal entspricht, obwohl er es selber glaubt und infolgedessen das Datum der Heirat so früh wie möglich ansetzen will. DER GRAF VOM STRAHL. So wahr, als ich ein Mann bin, die begehr ich Zur Frau! GRÄFIN. Nun, nun, nun, nun! DER GRAF VOM STRAHL. Was! Nicht? Du willst, daß ich mir eine wählen soll; Doch die nicht? Diese nicht? Die nicht? 62

»Käthchen von Heilbronn« – ein verkehrtes Stück GRÄFIN. Was willst du? Ich sagte nicht, daß sie mir ganz mißfällt. DER GRAF VOM STRAHL. Ich will auch nicht, daß heut noch Hochzeit sei: – Sie ist vom Stamm der alten sächs’schen Kaiser. GRÄFIN. Und der Silvesternachttraum spricht für sie? Nicht? Meinst du nicht? DER GRAF VOM STRAHL. Was soll ich’s bergen: ja! GRÄFIN. Laß uns die Sach ein wenig überlegen. (2. Akt, 13. Auftritt)

Es ist nicht Eigennutz, die die Gräfin veranlaßt, ihn mit diplomatischer Vorsicht zu Geduld zu ermahnen, sondern zumindest eine Ahnung, daß trotz allen Freundlichkeiten, die bisher zwischen Kunigunde und ihr ausgetauscht worden sind, etwas nicht stimmt in dieser Beziehung zu ihrem Sohn. In diesem Sinne verkörpert die Mutter des Grafen ebenfalls ein unbewußtes Wissen, das sie nicht offen zu artikulieren vermöchte, von dem sie aber spürt, daß es da ist, daß sie ihm vertrauen und ihre Worte von ihm leiten lassen kann. Auch Gottschalk, Knecht des Grafen, verkörpert viele ideale Züge: Treue, Besonnenheit, die ihn gelegentlich bis an die Grenzen des Ungehorsams gegenüber seinem Meister führt, etwa in der Szene, wo Käthchen den Grafen vor dem bevorstehenden Komplott mit einem abgefangenen Brief warnen will, den der Graf in seiner Situation, kurz vor der Hochzeit mit Kunigunde, nicht zur Kenntnis nehmen will, eine Situation, in der Gottschalk vermittelnd eingreift und auf diese Art die bevorstehende Gefahr doch dem Grafen zur Kenntnis bringt. Das zeigt auch seine Beziehung zu Käthchen, der er durchgehend vertraut, ja, es ist etwas von Liebe zu ihr spürbar, die ihn in eine Position der Rivalität bringt, die in den Momenten um so gerechtfertigter erscheint, in denen der Graf von allen guten Geistern verlassen scheint und Käthchen wie eine aufdringliche oder sogar heruntergekommene Dirne behandelt. Rührend ist die Szene, wo Käthchen einen Bach überschreiten und dabei ihren Rock schürzen muß. Gottschalk will ihr dabei behilflich sein, aber Käthchen empfindet Scham angesichts des zu erwartenden Blicks des Knechts; sie zieht es vor, ihn zu enttäuschen und lieber zu Fuß eine andere Brücke zu suchen. Dieser kurze Moment einer Vermischung zwischen Hilfsangebot und Triebinteresse gibt 63

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Gottschalk etwas Menschliches; er ist, wie sein Meister, nicht der, der zum vornherein auf der idealen Seite steht, obwohl sich diese durchsetzt. Eine merkwürdige Figur ist Theobald, Käthchens Vater, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt des Eingeständnisses des Kaisers, daß er Käthchens leiblicher Vater ist. Anders als die Mutter des Grafen Wetter vom Strahl sind bei ihm possessive Züge unverkennbar. Sie zeigen sich darin, daß er Käthchen nicht freigeben will, daß er sich vorstellt, sie würde ihn in seinen alten Tagen pflegen, für ihn da sein. In diesem Sinne erweist sich seine Liebe zu ihr als unwahr, weil sie nicht Käthchen gilt, sondern letztlich seinem eigenen Wohl, das er erzwingen will. Er ist es auch, der den Grafen vor Gericht zieht und ihn der Verführung anklagt, wobei er alle Beweise schuldig bleibt. Seine Interessen versucht er mit religiösen Argumenten zu rechtfertigen, vor allem bezichtigt er den Grafen, im Besitz okkulter Mächte zu sein, als deren Opfer er Käthchen sieht. THEOBALD. Gift? Opiate? Ihr hohen Herren, was fragt ihr mich? Ich habe die Flaschen nicht gepfropft, von welchen er ihr, an der Wand des Felsens, zur Erfrischung reichte; ich stand nicht dabei, als sie in der Herberge, Nacht für Nacht, in seinen Ställen schlief. Wie soll ich wissen, ob er ihr Gift eingeflößt? Habt neun Monate Geduld; alsdann sollt ihr sehen, wie’s ihrem jungen Leibe bekommen ist. (1. Akt, 1. Auftritt)

Die Liebe zwischen ihr und dem Grafen vermag er nicht anzuerkennen; da, wo er erfahren muß, daß es ihm nicht gelingt, Käthchen vom Grafen fernzuhalten, schmiedet er Pläne, sie ins Kloster zu bringen. Erst im letzten Moment erkennt er, daß Käthchen dabei zugrunde gehen würde, so daß er ihr, schon auf dem Weg ins Kloster, offeriert, doch nicht dort einzutreten. Diese Umkehr, die sich darin zeigt, daß Theobald und Käthchen im Kloster als Gast übernachten, anstelle des geplanten Eintritts, bekommt nachträglich einen anderen Sinn: Durch den Prior, ein Freund von Theobald, erfahren sie nämlich vom bevorstehenden, gegen den Grafen von Strahl und Kunigunde gerichteten Komplott. Auch hier, wie im Traum, als der Cherubim erscheint, erkennt man, daß die Handlungen letztlich anders motiviert sind, als es den Anschein macht. Theobalds Absicht, Käthchen ins 64

»Käthchen von Heilbronn« – ein verkehrtes Stück

Kloster zu bringen, drückt nicht bloß den Willen eines verbitterten Vaters aus, sondern erweist sich letztlich als Ausdruck eines von höheren Mächten beeinflußten Geschicks. Hätte Theobald Käthchen nicht ins Kloster bringen wollen, so wäre das Komplott gegen die Burg von Strahl nicht aufgeflogen. Das höhere Geschick macht sich zusätzlich dort bemerkbar, wo der Prior eine Botschaft in die Hände bekommt, die er nicht versteht – er kann sie nicht verstehen, weil sie gar nicht an ihn adressiert ist, sondern an einen Mitverschwörer; der Organisator des Komplotts, jener Graf, der von Kunigunde im Stich gelassen und vom Grafen Wetter vom Strahl gedemütigt worden war, hatte zwei Briefe verschickt, um seinen Angriff zu organisieren, dabei geschah es, daß er die Briefe in die falschen Umschläge steckte, die versiegelt wurden. Dieser Verschwörer hatte im Moment der Übergabe der Briefe an die Boten an eine mögliche Verwechslung gedacht, jedoch passierte ihm ein zweites Mißgeschick, indem er nämlich glaubte, ein anderer hätte die Briefe in die Umschläge gesteckt, nicht er selber. Als ihm die andern sagten, kein anderer als er selbst habe die Briefe in die Umschläge gesteckt, schloß er daraus, daß alles seine Richtigkeit haben werde. Auch in dieser kleinen, jedoch bedeutungsvollen Szene, deren Wirkung sich ebenfalls erst nachträglich erweist, erkennt man die Wirkung einer Macht, die sich gegen das Bewußtsein durchsetzt. Davon wird noch zu sprechen sein. Jedenfalls geht daraus hervor, daß alle psychologischen Beschreibungen der einzelnen Charaktere problematisch sind, weil es eine Ebene gibt, die diejenige des Verhaltens, auch der Worte und der bewußten Absichten subvertiert. Die Figuren des Stücks erweisen sich als quer zu ihren Aussagen und Vorstellungen als Verkörperungen von Mächten, die sich hinter ihrem Rücken durchsetzen.

4. Die Namen Man kann annehmen, daß ein Dichter vom Range Kleists seinen Figuren nicht beliebige Namen gibt. Manchmal sind seine Namensgebungen geradezu aufdringlich: so heißt der Richter in »Der zerbrochene Krug«, der über seine eigene Schuld befinden muß, Adam, das Mädchen, bei dem er nächtlicherweise eingestiegen ist, 65

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Eva. Auch die andern Namen in dieser Komödie scheinen für sich zu sprechen: der Gerichtsaufseher heißt Walter, Adams Gehilfe Licht. Ganz anders spielen im »Amphitryon« die Namen eine Rolle, etwa in der Schlüsselszene, in der sich erweist, daß Jupiter, der sich an die Stelle Amphitryons setzt und statt seiner ihr ein Geschenk darbietet, diesem sein verräterisches Initiale J aufgeprägt hat statt ein A, womit er bezeugt, daß selbst ein Gott an seiner Identität festhält. Andererseits wird man im Kontext der Ausführungen über die Transzendierung des Bewußtseins vorsichtig sein müssen mit der These »Nomen = Omen«. Sie ist vielleicht dann am plausibelsten, wenn den Kleistschen Figuren ihr Eigenname kaum bewußt ist, oder wenn er überhaupt nicht thematisiert wird; in diesem Falle wird er selber zum Ausdruck einer objektiven Macht, die sich gegen das Bewußtsein durchsetzt. Wie steht es nun mit der Namensgebung im »Käthchen von Heilbronn«? Zwei Feststellungen kann man sogleich machen: Einzelne Namen, insbesondere derjenige des Grafen Friedrich Wetter vom Strahl, aber auch derjenige Käthchens von Heilbronn, sind auffallend. Die Namen selber werden niemals thematisiert; es gibt zwar wenige Szenen, wo der Graf sagt, »so wahr ich der Graf Wetter vom Strahl bin […]«, aber das ist keine Reflexion auf seinen Namen, sondern eher auf seine Macht. In diesem Sinne kann jeder Familienname dazu benutzt werden, zu sagen, so wahr ich ein X bin, oder: Ein echter X würde das und das niemals tun. Käthchens Name, griechisch gelesen, enthält die Reinheit schon in ihrem Namen (katharos, rein). Sie wird noch akzentuiert durch »von Heilbronn«, der Stadt, in der sie lebt. »Heilen« und »Brunnen« im Sinne von »Quelle« geben zusammen mit »Reinheit« das Bild von Jugend, Gesundheit, wohl auch Tugendhaftigkeit. Käthchen ist ja erst 15 Jahre alt, wobei das Alter des Grafen nicht genannt wird; aus einzelnen Passagen geht jedoch hervor, daß er um viele Jahre älter ist als sie. Reinheit, Brunnen, Quelle, Heilen passen nun vorzüglich zusammen zur Weiblichkeit, die der Graf sucht, um aus seiner Melancholie herauszukommen. Daß Käthchens Name dem Stück nicht äußerlich ist, zeigt sich in einer Schlüsselszene im Badehaus des Schlosses von Strahl, in dem Käthchen als unfreiwillige Lauscherin von den gegen sie gerichteten Mordplänen Kunigundes erfährt. Ihre Rivalin plant an dem Ort 66

»Käthchen von Heilbronn« – ein verkehrtes Stück

der Reinigung das Unheil gegen Käthchen von Heilbronn, indem sie einen Giftmord anstiftet! Noch auffallender als Käthchens Name ist derjenige des Grafen Friedrich Wetter vom Strahl. »Wetter« und »Strahl« lassen an Blitz denken, vielleicht sogar an Zeus, der den Blitz ebenfalls in seinem Namen hat. »Strahl« verweist jedoch auch auf den Blick, den Strahl des Blicks, den strahlenden Blick, schließlich auch auf den Strahl des Urins als Zeichen einer kräftigen Männlichkeit. Von »Strahl« ist es zu »Stahl« nicht weit; tatsächlich beginnt das Stück mit Theobalds Erzählung einer Szene, in der das Käthchen erstmals den Grafen sah und dabei in Ohnmacht fiel. Graf Wetter vom Strahl ließ eine defekte Schiene seiner Rüstung in Theobalds Schmiede wiederherstellen; dabei bat er Käthchen, Wein und Essen zu bringen. Als sie unter seine Augen trat, ließ sie bei seinem Anblick das Geschirr fallen und fiel in tiefe Ohnmacht. Das Rätsel um das, was passiert war, wurde noch größer, als Käthchen nach des Grafen Weggang aus der Schmiede aus dem Fenster sprang, und dabei beide Lenden brach und monatelang zwischen Leben und Tod schwebte. Anzunehmen ist, daß der Blick des Grafen ihr bis ins Mark ging, weil er auf ein unbewußtes Wissen in ihr traf, das fortan Käthchen auf Gedeih und Verderb an den Grafen band. Diese Szene wird noch näher untersucht werden.

5. Über das Psychologische hinaus Wie bereits angedeutet, läßt sich der Verlauf des Geschehens nicht auf einzelne Charaktere, ihr Zusammentreffen, ihre bewußten Wünsche und Absichten zurückführen. Es geschieht wiederholt, daß sich hinter dem Rücken der Akteure eine andere Macht durchsetzt, von der die Protagonisten entweder nichts wissen oder bloß etwas ahnen. Zwei Deutungsmuster bieten sich an, um diesem Rätsel näherzukommen: Hegels Auffassung des objektiven Geistes und Freuds Konzeption des Unbewußten. Vielleicht ist der Bezug auf diese eminent wichtigen Versatzstücke der Theorie gerade deshalb aufschlußreich, weil sich mit Kleist eine Verbindung zwischen beiden herstellen läßt. Aber greifen wir nicht vor. 67

Peter Widmer

In Hegels Philosophie des objektiven Geistes erscheint das Subjekt als Ort seiner Realisierung. Weder läßt sich von einem Objektiven ohne Subjektives noch von einem Subjektiven ohne Objektives sprechen. Auch wenn das Subjekt in seinem Werdegang, den Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« beschrieben hat, über mehrere Stufen seiner Realisierung nichts davon weiß, so liegt das Objektive als Ausdruck des Göttlichen an sich dem Subjekt voraus. In diesem Zusammenhang spricht Hegel von der List der Vernunft, die sich hinter dem Rücken des Subjekts durchsetzt. Das Subjekt glaubt etwa an dieses oder jenes und entdeckt erst nachträglich, daß es über sein Irren zu einer höheren Einsicht in das, was ihm an sich vorausliegt, gekommen ist. Darin liegt eine Zeitlichkeit beschlossen, die nicht linear ist. Erst hinterher kann das Subjekt auf seinem Bildungsgang das erkennen, was an sich objektiv schon gegeben ist. Dem Irrtum kommt deshalb eine große Bedeutung zu, er ist für den Werdegang des Subjekts unabdingbar, es gibt bei Hegel keinen direkten Zugang zur Wahrheit. Schließlich ist es auf jeder Stufe einer neuen Erkenntnis fraglich, ob sie nicht wieder einem neuen Irrtum entspricht, oder ob etwas Wahres, auch wieviel an Wahrheit, eingeholt sein wird. Letztlich ist auch das Objektive selber ein Moment des Andern, nämlich ein Ausdruck der Realisierung Gottes, der das Objektive setzt, um dadurch sich selber zu verwirklichen. Die Nichtidentität erweist sich auf jeder Stufe als grundlegend, denn die angestrebte Identität läßt sich nicht anders erkennen als über die Setzung des Nicht-Identischen. Das erfährt jedes Subjekt in seinem Bildungsprozeß; letztlich läßt er sich Hegel zufolge auffassen als Aneignung dessen, was ihm vorausgeht, wobei das Objektive dabei selber eine Veränderung erfährt, indem es als vom Subjekt erkanntes, subjektiviertes, ein anderes wird, als wenn es unbegriffen bleibt. Das Freudsche Unbewußte weist ähnliche Züge auf wie Hegels Objektivität, unterscheidet sich jedoch in grundlegenden Fragen. Auch vom Freudschen Unbewußten läßt sich sagen, daß es sich hinter dem Rücken des Bewußtseins durchsetzt. Fehlleistungen, Versprecher, ja sogar Vergessen von Namen zeugen davon, wie Freud schon am Beginn seines Werks, etwa in der »Psychopathologie des Alltagslebens«, nachgewiesen hat. Was sich auf diese 68

»Käthchen von Heilbronn« – ein verkehrtes Stück

Weise durchsetzt, ist alles andere als belanglos: die psychoanalytische Erfahrung zeigt, daß der Zugang zur Wahrheit des Subjekts über sein Stolpern führt. Schließlich geht es der Freudschen Psychoanalyse ebenfalls darum, das Subjekt so weit wie möglich aus seiner Unwissenheit herauszuführen, was bedeutet, es mit dem, was sein Bewußtsein subvertiert, vertraut zu machen. Es geht gerade nicht um den Versuch, diese Macht des Andern überwinden oder gar ausmerzen zu wollen, sondern um ihre Anerkennung, um ihre Affirmation. Der grundlegende Unterschied zu Hegels Philosophie des Objektiven liegt darin, daß sich die Psychoanalyse dem Systematischen widersetzt. Das Unbewußte ist für sie weder Ausdruck einer göttlichen Macht noch ein Ausdruck von dunklen Trieben, sondern eine Instanz, die, wie Heraklits Natur, es liebt, sich zu verbergen. Daß ihr gleichwohl die Dignität von Wahrheit zugesprochen wird, bedeutet nicht, daß sie eine verborgene Substanz ist, sondern daß dem Subjekt aus strukturellen Gründen notwendigerweise sein Innerstes verborgen bleibt. Versuche, die es dennoch gegeben hat, sie etwa dem Phylogenetischen zuzuschlagen, haben sich als nicht fruchtbar für die Praxis erwiesen; sie führen zu einem Biologismus und letztlich zu einer Substanzialisierung, die der Macht des Sprechens, auf die die Psychoanalyse baut, nicht korrespondiert. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang Freuds Bezug auf die Sprache als Ort des Bewußtseins; als Ort der Repräsentation schließt sie notwendigerweise etwas aus, was darin nicht erscheint. In diesem Zusammenhang spricht Freud vom Urverdrängten, einer inhaltlich unausschöpfbaren Quelle. In diesem Zusammenhang zeigt sich ein zweiter grundlegender Unterschied zu Hegels Philosophie des Objektiven: Dem Wissen kommt zwar eine große Bedeutung zu in der Psychoanalyse – Lacan hat es gar als Agens der Übertragung konzipiert –, die Grenzen der Wißbarkeit sind indessen enger gezogen als bei Hegel. Das absolute Wissen überläßt die Psychoanalyse der Philosophie; sie begnügt sich mit dem, was sich subjektiv manifestiert, artikuliert, ohne dies in bezug auf größere Zusammenhänge zu reflektieren. Vielleicht ist das ein Mangel der Psychoanalyse; andererseits würde sie ohne Fokussierung des Subjektiven dieses nicht ausloten können, sondern würde kurzschlüssig versuchen, auf die Ebene des Objektiven zu springen. 69

Peter Widmer

Nun stellt sich die Frage, welches Modell sich als tauglicher erweist, um das Geschehen im »Käthchen von Heilbronn« nachvollziehbar zu machen. Man wird vielleicht zunächst Einspruch gegen diese Frage erheben, mit der Begründung, daß Kleist sich zwar mit Kant beschäftigte, von einer Lektüre der Hegelschen Philosophie jedoch nichts bekannt ist, und daß er die ein Jahrhundert später erschienenen Werke Freuds gar nicht gekannt haben konnte. Gegen diesen Einwand läßt sich wiederum einwenden, daß Kleists Werke gerade darum so packend sind, weil sie, gewiß nicht in theoretischer, sondern in dramatischer Form, das darstellen, was in Philosophie und Psychoanalyse zum Teil gleichzeitig, zum Teil später theoretisch zu fassen versucht worden ist. Der Versuch einer Antwort auf diese Frage scheint deshalb nicht sinnlos zu sein. Wenn man an das glückliche Ende, an die Hochzeit des Grafen Wetter vom Strahl mit der als Kaisertochter anerkannten Braut Käthchen von Heilbronn denkt, wenn man zudem die Eingriffe der göttlichen Macht in Gestalt des Cherubims in Betracht zieht und des weiteren nicht vergißt, daß sich auch in anderen Passagen die Macht des Guten durchsetzt, wo man zunächst nur Leiden und Enttäuschungen sieht, dann kann man kaum anders, als an den Hegelschen Satz denken, daß das Wirkliche vernünftig sei. Das Wirkliche – also nicht das, was bewußt gegeben ist, sondern das, was hinter dem vordergründigen Geschehen, hinter allem Täuschenden liegt. Man muß sogar sagen, daß Kleist Hegels Satz vom Vernünftigen über alle Massen ausgedehnt hat, ins Märchenhafte, besonders, wenn man an andere Stücke von ihm denkt, in denen das Absurde, Tragische, Mißverständliche vorherrscht. Damit wird die besondere Position von »Käthchen von Heilbronn« im Kleistschen Werk deutlich. Im Gegensatz zu den meisten andern Arbeiten triumphiert hier das Glück, greift Gott mit seiner Macht da in die Geschicke ein, wo sonst Enttäuschungen und Leiden eingetreten wären. Der Vergleich zu den Dramen und zu den sonstigen Werken, die voller Tragik sind, zeigt jedoch noch mehr: Kleist hat das Gute, Rührende in »Käthchen von Heilbronn« dermaßen überhöht, daß er nicht nur die Gefahr des Kitschigen in einigen Passagen auf sich genommen hat, sondern daß er gerade durch die Überhöhung sein Gegenteil evoziert hat. Das Geschehen erscheint nicht als Modell einer geglückten Beziehung, sondern als 70

»Käthchen von Heilbronn« – ein verkehrtes Stück

Märchen, in dem so sehr das Versöhnliche triumphiert, daß nicht einmal die Hexe Kunigunde gerichtet wird. Es bleibt bei der Bezichtigung, sie sei eine Giftmischerin. Zwar geht Kleist nicht so weit, daß er auch noch Kunigunde mit dem Grafen oder gar mit Käthchen Versöhnung feiern läßt, aber weit davon entfernt ist er nicht, jedenfalls bleiben Kunigundes mörderische Absichten ungesühnt. Zudem versöhnt sich der Graf nicht nur mit Theobald, Käthchens Ziehvater, der ihn einst der dunklen Magie und Verführung bezichtigt hatte, sondern er nimmt ihn gar zu sich auf sein Schloß. Gerade dieses Übermaß, diese Überzeichnungen sind es, was dem geneigten Leser mit dem Gegenteiligen konfrontiert, das Kleist anderswo so treffend beschrieben hat. Durch diese Überhöhungen, die Unglauben hervorrufen, macht Kleist deutlich, daß er nur in einem ironischen Sinne an eine solche Geschichte, wie Käthchen sie verkörpert, glaubt. Dennoch: Stellt sie nicht ein Ideal dar, das allen Überzeichnungen zum Trotz einen Platz im Psychischen behauptet? Evozieren nicht umgekehrt die tragischen Geschichten Kleists den Wunsch nach Idealität?

6. Das sexuelle Verhältnis existiert! Die Lacansche Psychoanalyse ist nicht müde geworden, zu betonen, daß das sexuelle Verhältnis der Geschlechter nicht existiert. Dabei ist nicht gemeint, daß die Geschlechter nichts miteinander anfangen können oder daß es keine sexuellen Kontakte gebe; vielmehr meint die plakative Aussage »Il n’ y a pas de rapport sexuel«/ »Es gibt kein sexuelles Verhältnis«, daß die Geschlechter in keinem mathematisch formulierbaren Bezug zueinander stehen. Als Grund wird genannt, daß die Weiblichkeit kein sie definierendes Merkmal habe, wie das beim Mann der Fall ist (»Er ist nicht, ohne ihn zu haben«, erklärt Lacan). Infolgedessen läßt sich keine mathematisch formulierbare Relation finden; anders gesagt: Die Weiblichkeit entspricht mengentheoretisch nicht einer Menge, wie die Männlichkeit, sondern einer Klasse. Dabei gilt für die Männer, daß sie alle durch die Wirkung der sie repräsentierenden Signifikanten in einem symbolischen Sinne kastriert sind; die Sprache grenzt etwas aus, über das sie nicht verfügen, das ihrem Wissen Grenzen setzt. Wenn 71

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jedoch über die Gesamtheit der Männer gesprochen wird, so impliziert dies stets die Ausnahme eines Mannes, der selber von der Kastration nicht betroffen wird. Lacan liest auf diese Weise Freuds »Totem und Tabu« als Mythos, in dem der Urvater, der über alle Frauen verfügt, der Ausnahme entspricht, welche die Regel der Kastration bestätigt. Diese Figur hat es empirisch nie gegeben, aber sie entspricht einer Denknotwendigkeit, wie der Vater, der selber nie Sohn gewesen ist. Diese Ausnahme gibt es auf der weiblichen Seite nicht, weil die Frauen anders als die Männer von der symbolischen Kastration betroffen sind: Ihre Geschlechtlichkeit entzieht sich der Sagbarkeit, so daß Lacan den zur Absenz des Geschlechterverhältnisses komplementären Satz aufstellen kann: »La femme n’existe pas«; dieses eine Merkmal, das für den Mann unabdingbar ist, um dessen Verlust er fürchtet, wenn er die Geschlechtertrennung entdeckt, ist bei den Frauen nicht vorhanden. Ihr Begehren ist deshalb anders gelagert als dasjenige der Männer: Sie suchen ihren Halt im Symbolischen bei einem Mann, der sie anerkennt und ihnen eine Orientierung gibt; ihr Begehren gilt deshalb eher dem Sein als dem Haben. Bei den Männern richtet sich das Begehren nach Objekten, die den Mangel an Sein kompensieren, mit dem sie sowohl geschlechtlich wie symbolisch konfrontiert werden. Ihr Geschlecht geht eine innige Verbindung mit dem Symbolischen ein: sie repräsentieren das Subjekt, das auf diese Weise seinen Mangel an Sein mit Objekten zu decken versucht, die die trennende Wirkung der Repräsentation subvertieren. Vor diesem Hintergrund erscheint »Käthchen von Heilbronn« wie eine Antithese zur Lacanschen Psychoanalyse: Das Weibliche existiert – es gibt ein Verhältnis der Geschlechter! Ausdrücklich verleiht Kleist seinem Käthchen etwas Substanzielles, das es zwar nicht zu sagen vermag, das es jedoch trägt und unbeirrbar zum glücklichen Ende bringt. Und ebenso eindeutig läßt Kleist Mann und Frau als Paar, das sich gefunden hat und allen Widerwärtigkeiten und Verkennungen zum Trotz füreinander bestimmt ist, Hochzeit feiern. Doch auch hier ist es nicht so, daß Kleist einfach naiv eine rührende Geschichte erzählt: Gerade das Insistieren auf das Substanzielle der Weiblichkeit, verkörpert in Käthchen, und das Insistieren auf das sexuelle Verhältnis, das sich etwa im wiederholten Auf72

»Käthchen von Heilbronn« – ein verkehrtes Stück

treten des Cherubims zeigt, bewirken, daß das Gegenteil stets mitbedacht wird. Die Darstellung des Allzuschönen, himmlisch Verbürgten ist ein hervorragendes Stilmittel, eine ganz andere Ebene ins Spiel zu bringen, ohne sie artikulieren zu müssen. Wir erkennen darin wieder die Ironie, mit der Kleist die idealischen Überhöhungen letztlich in Frage stellt, nicht indem er Verhängnisse und scheußliche Schicksale schildert, sondern indem er die Ideale, das Kitschige in den Herzen der Leser und Zuschauer bekräftigt oder gar noch überhöht.

7. Einzelne Szenen 7.1. Erste Begegnung Die erste Begegnung Käthchens mit dem Grafen erfahren wir aus dem Munde Theobalds, der den Grafen Wetter vom Strahl vor Gericht der Verführung und Magie bezichtigt: THEOBALD indem er sich die Augen trocknet. Es mochte ohngefähr elf Uhr morgens sein, als er, mit einem Troß Reisiger, vor mein Haus sprengte, rasselnd, der Erzgepanzerte, vom Pferd stieg, und in meine Werkstatt trat: das Haupt tief herab neigt’ er, um mit den Reiherbüschen, die ihm vom Helm niederwankten, durch die Tür zu kommen. Meister, schau her, spricht er: dem Pfalzgrafen, der eure Wälle niederreißen will, zieh ich entgegen; die Lust, ihn zu treffen, sprengt mir die Schienen; nimm Eisen und Draht, ohne daß ich mich zu entkleiden brauche, und heft sie mir wieder zusammen. Herr! sag ich: wenn Euch die Brust so die Rüstung zerschmeißt, so läßt der Pfalzgraf unsere Wälle ganz; nötig ihn auf einen Sessel, in des Zimmers Mitte nieder, und: Wein! ruf ich in die Türe, und vom frischgeräucherten Schinken, zum Imbiß! und setz einen Schemel, mit Werkzeugen versehn, vor ihn, um ihm die Schiene wieder herzustellen. Und während draußen noch der Streithengst wiehert, und, mit den Pferden der Knechte, den Grund zerstampft, daß der Staub, als wär ein Cherub vom Himmel niedergefahren, emporquoll: öffnet langsam, ein großes, flaches Silbergeschirr auf dem Kopf tragend, auf welchem Flaschen, Gläser und der Imbiß gestellt waren, das Mädchen die Türe und tritt ein. Nun seht, wenn mir Gott der Herr aus Wol73

Peter Widmer ken erschiene, so würd ich mich ohngefähr so fassen, wie sie. Geschirr und Becher und Imbiß, da sie den Ritter erblickt, läßt sie fallen; und leichenbleich, mit Händen, wie zur Anbetung verschränkt, den Boden mit Brust und Scheiteln küssend, stürzt sie vor ihm nieder, als ob sie ein Blitz niedergeschmettert hätte! Und da ich sage: Herr meines Lebens! Was fehlt dem Kind? und sie aufhebe: schlingt sie, wie ein Taschenmesser zusammenfallend, den Arm um mich, das Antlitz flammend auf ihn gerichtet, als ob sie eine Erscheinung hätte. Der Graf vom Strahl, indem er ihre Hand nimmt, fragt: wes ist das Kind? Gesellen und Mägde strömen herbei und jammern: hilf Himmel! Was ist dem Jüngferlein widerfahren; doch da sie sich, mit einigen schüchternen Blicken auf sein Antlitz, erholt, so denk ich, der Anfall ist wohl auch vorüber, und gehe, mit Pfriemen und Nadeln, an mein Geschäft. Drauf sag ich: Wohlauf, Herr Ritter! Nun mögt Ihr den Pfalzgrafen treffen; die Schiene ist eingerenkt, das Herz wird sie Euch nicht mehr zersprengen. Der Graf steht auf; er schaut das Mädchen, das ihm bis an die Brusthöhle ragt, vom Wirbel zur Sohle, gedankenvoll an, und beugt sich, und küßt ihr die Stirn und spricht: der Herr segne dich, und behüte dich, und schenke dir seinen Frieden, amen! Und da wir an das Fenster treten: schmeißt sich das Mädchen, in dem Augenblick, da er den Streithengst besteigt, dreißig Fuß hoch, mit aufgehobenen Händen, auf das Pflaster der Straße nieder: gleich einer Verlorenen, die ihrer fünf Sinne beraubt ist! Und bricht sich beide Lenden, ihr heiligen Herren, beide zarten Lendchen dicht über des Knierunds elfenbeinernem Bau; und ich, alter, bejammernswürdiger Narr, der mein versinkendes Leben auf sie stützen wollte, muß sie, auf meinen Schultern, wie zu Grabe tragen; indessen er dort, den Gott verdamme! zu Pferd, unter dem Volk, das herbeiströmt, herüberruft von hinten, was vorgefallen sei! (1. Akt, 1. Szene)

Aus der Beschreibung Theobalds geht hervor, daß dem Visuellen offenbar eine große Bedeutung zugekommen ist; es ist der Anblick des Grafen, der Käthchen so betroffen macht, daß sie sogleich ihm zu Füßen stürzt. In Theobalds Rede ist vom Blitz die Rede, auch vergleicht er Käthchens Reaktion mit derjenigen, wie es ihm passieren würde, wenn ein Gott ihm erscheinen würde. Tatsächlich erkennt Käthchen im Grafen Wetter vom Strahl sofort ihren Herrn und Meister, dem sie dienen möchte. Käthchens Reaktion wird damit jedoch noch nicht nachvoll74

»Käthchen von Heilbronn« – ein verkehrtes Stück

ziehbar; erst die Fortsetzung wird erweisen, daß in ihr schon ein Wissen am Werk ist, das sie selber nicht zu formulieren vermöchte, das jedoch zur heftigen Reaktion führt. Interessanterweise führt das Wissen, daß der Graf sie anblickt, nicht zu einer Verstärkung des ekstatischen Zustandes Käthchens, sondern eher zu seiner Beruhigung, jedoch nur für kurze Zeit. Als der Graf mit geflickter Rüstung Theobalds Schmiede verläßt, stürzt sie sich aus dem Fenster und zieht sich lebensgefährliche Verletzungen zu: Sie bricht sich beide Lenden. Der Fenstersturz ist bei Melancholikern oft ein Akt, der zum Suizid führt. Was mag Käthchen dazu bewogen haben? Es war doch der Graf, der von Melancholie heimgesucht wurde, nicht Käthchen; hat sie sich demzufolge mit dem Grafen identifiziert, ist sie gleichsam an seiner Stelle aus dem Fenster gesprungen? Das wäre eine gewagte These, die kaum näher belegt werden könnte. Gewiß ist eher, daß Theobalds Schilderungen das Wesentliche offen lassen, es wird sich erst später herausstellen. Wenn von einem dunklen Wissen Käthchens die Rede ist, so wird man nicht nur die Liebe zum Grafen Wetter vom Strahl dazu zählen, sondern zugleich auch die Ahnung um das Geheimnis ihrer Vaterschaft. Der Graf erscheint Käthchen als derjenige, der die Wahrheit ans Licht bringen wird. Von Theobald wird sie ihre wahre Geschichte, ihre Herkunft nicht erfahren, er hat ein Interesse daran, sie zu verschweigen, Käthchen für sich zu behalten. Im Moment des Fenstersturzes bleiben diese Zusammenhänge ungeklärt, und als Leser denkt man zunächst eher an eine Pathologie Käthchens als an ein Geheimnis ihrer Herkunft. Kleist hat Käthchens Verhalten ein Wissen zugrundegelegt, das sie selber nicht weiß. Er hat damit vorweggenommen, was die Psychoanalyse über das Unbewußte sagt: Sie definiert es als ein Wissen, das sich nicht weiß. Dieses Wissen bleibt im Unmittelbaren; um wißbar zu werden, muß es zum Andern zurück, von dem es herkommt. In diesem Sinne verkörpert der Graf für Käthchen den Anderen, der zugleich Ort der Wahrheit – ihrer Wahrheit – ist, die sie später tatsächlich mit seiner Hilfe erfahren wird. Der Andere ist dabei auch im Kaiser verkörpert, der sie einst gezeugt und dies verschwiegen hatte. Käthchen ist demzufolge die Verkörperung und 75

Peter Widmer

Zeugin dieser Sünde, ohne dies zunächst zu wissen. Kleist hat hier das Unbewußte nicht nur mit dem Wissen in einen Zusammenhang gebracht, sondern auch mit der Kindheit, weniger als Erlebnis, sondern als Keim ihrer Wahrheit, die ihr verschwiegen worden ist. Ihre bewußte Unwissenheit zeigt sich auch im 1. Akt, 2. Auftritt, wo der Graf sie vor Gericht fragt, was sie denn so fesselt und sie aus des Vaters Hause trieb: Mein hoher Herr! Da fragst du mich zuviel. Und läg ich so, wie ich vor dir jetzt liege, Vor meinem eigenen Bewußtsein da: Auf einem goldnen Richtstuhl laß es thronen, Und alle Schrecken des Gewissens ihm, In Flammenrüstungen, zur Seite stehn; So spräche jeglicher Gedanke noch, Auf das, was du gefragt: ich weiß es nicht.

7.2. Die Wiedergeburt des Grafen Was sich im Unbewußten Käthchens ereignet, ihrem Bewußtsein verborgen, hat sein Pendant im Unbewußten des Grafen Wetter vom Strahl. Wenn man ihr Unwissen vergleicht, so muß man sagen, daß dasjenige des Grafen noch größer ist, denn als ihm Käthchen in der Schmiede begegnet, jene Gestalt also, von der wir später erfahren, daß sie es war, die ihm im Traum erschienen war, gibt es keine Anzeichen für ein Wiedererkennen. Psychoanalytisch gesehen kann man nicht anders, als von einer sehr gründlichen Verdrängung sprechen. Von der Erscheinung im Traum des Grafen erfahren wir durch den Mund Brigittes, einer Angestellten im Schloß von Strahl. Sie erzählt nicht etwa Käthchen, der Auserwählten, von dieser Begebenheit, sondern ausgerechnet Kunigunde, von der sie glaubte, daß sie ihrer kaiserlichen Vorfahren wegen die Auserwählte des Grafen sei. Das Unverständnis, auf das sie bei ihrer Zuhörerin stieß, schien sie dabei nicht zu stören, sie genoß es sichtlich, mit ihrer Darstellung in die Position einer Vertrauten Kunigundes rücken zu können.

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»Käthchen von Heilbronn« – ein verkehrtes Stück BRIGITTE. Der Graf war gegen das Ende des vorletzten Jahres, nach einer seltsamen Schwermut, von welcher kein Mensch die Ursache ergründen konnte, erkrankt; matt lag er da, mit glutrotem Antlitz und phantasierte; die Ärzte, die ihre Mittel erschöpft hatten, sprachen, er sei nicht zu retten. Alles, was in seinem Herzen verschlossen war, lag nun, im Wahnsinn des Fiebers, auf seiner Zunge: er scheide gern, sprach er, von hinnen; das Mädchen, das fähig wäre, ihn zu lieben, sei nicht vorhanden; Leben aber ohne Liebe sei Tod; die Welt nannt er ein Grab, und das Grab eine Wiege, und meinte, er würde nun erst geboren werden. – Drei hintereinander folgende Nächte, während welcher seine Mutter nicht von seinem Bette wich, erzählte er ihr, ihm sei ein Engel erschienen und habe ihm zugerufen: Vertraue, vertraue, vertraue! Auf der Gräfin Frage: ob sein Herz sich, durch diesen Zuruf des Himmlischen, nicht gestärkt fühle? antwortete er: ›Gestärkt? Nein!‹ – und mit einem Seufzer setzte er hinzu: ›Doch! Doch, Mutter! Wenn ich sie werde gesehen haben!‹ – Die Gräfin fragt: und wirst du sie sehen? ›Gewiß!‹ antwortet er. Wann? fragt sie. Wo? – ›In der Silvesternacht, wenn das neue Jahr eintritt; da wird er mich zu ihr führen.‹ Wer? fragt sie, Lieber; zu wem? ›Der Engel‹, spricht er, ›zu meinem Mädchen‹ – wendet sich und schläft ein. KUNIGUNDE. Geschwätz! […] BRIGITTE. Drauf in der Silvesternacht, in dem Augenblick, da eben das Jahr wechselt, hebt er sich halb vom Lager empor, starrt, als ob er eine Erscheinung hätte, ins Zimmer hinein, und, indem er mit der Hand zeigt: ›Mutter! Mutter! Mutter!‹ spricht er. Was gibt’s? fragt sie. ›Dort! Dort!‹ Wo? ›Geschwind!‹ spricht er. – Was? – ›Den Helm! Den Harnisch! Das Schwert!‹ – Wo willst du hin? fragt die Mutter. ›Zu ihr‹, spricht er, ›zu ihr. So! so! so!‹ und sinkt zurück; ›Ade, Mutter ade!‹ streckt alle Glieder von sich, und liegt wie tot. KUNIGUNDE. Tot? […] KUNIGUNDE. Sie meint, einem Toten gleich. […] BRIGITTE. Wir horchten an seiner Brust: es war so still darin, wie in einer leeren Kammer. Eine Feder ward ihm vorgehalten, seinen Atem zu prüfen: sie rührte sich nicht. Der Arzt meinte in der Tat, sein Geist habe ihn verlassen; rief ihm ängstlich seinen Namen ins Ohr; reizt’ ihn, um ihn zu erwecken, mit Gerüchen; reizt’ ihn mit Stiften und Nadeln, riß ihm ein Haar aus, daß sich das Blut zeigte; vergebens: er bewegte kein Glied und lag, wie tot. 77

Peter Widmer KUNIGUNDE. Nun? Darauf? BRIGITTE. Darauf, nachdem er einen Zeitraum so gelegen, fährt er auf, kehrt sich, mit dem Ausdruck der Betrübnis, der Wand zu, und spricht: ›Ach! Nun bringen sie die Lichter! Nun ist sie mir wieder verschwunden!‹ – gleichsam, als ob er durch den Glanz derselben verscheucht würde. – Und da die Gräfin sich über ihn neigt und ihn an ihre Brust hebt und spricht: Mein Friedrich! Wo warst du? ›Bei ihr‹, versetzt er, mit freudiger Stimme; ›bei ihr, die mich liebt! bei der Braut, die mir der Himmel bestimmt hat! Geh, Mutter geh, und laß nun in allen Kirchen für mich beten: denn nun wünsch ich zu leben.‹ KUNIGUNDE. Und bessert sich wirklich? ROSALIE. Das eben ist das Wunder. BRIGITTE. Bessert sich, mein Fräulein, bessert sich, in der Tat; erholt sich, von Stund an, gewinnt, wie durch himmlischen Balsam geheilt, seine Kräfte wieder, und ehe der Mond sich erneut, ist er so gesund wie zuvor. (2. Akt, 9. Auftritt)

Nebst der ersten Begegnung in Theobalds Schmiede und dieser Erzählung gibt es noch eine dritte Szene, in der wir von der Wirksamkeit der himmlischen Mächte im Traum erfahren, nämlich da, wo sich herausstellt, daß die rätselhafte Genesung des Grafen ihr Pendant hatte bei Käthchen, die zu gleicher Zeit eine Erscheinung hatte, in der ihr ihr Auserwählter erschien. Das traumartige Geschehen wurde durch die ins Zimmer mit Lichtern eintretende Mariane gestört, die nachsehen wollte, was in Käthchens Zimmer vor sich ging. Der Einbruch des Empirischen beendete den Traum, der sich ganz deutlich als Ort der Prophezeiung und der Wahrheit erweist. Freud hat zwar den Traum als Hüter des Schlafes dargestellt, jedoch gewußt, daß es Träume gibt, deren Bedeutung weit darüber hinausreicht, indem sie nämlich eine Wahrheit darstellen, die nicht die Funktion hat, den Schlaf zu retten, eher schon müßte man mit Lacan sagen, daß es ein Erwachen gibt, das dem Nicht-WissenWollen, dem Ausweichen der Begegnung mit der Wahrheit dient. Kleist hat mit seiner Darstellung dieser Traumszenen auch diese Einsicht der Psychoanalyse vorweggenommen. Das Empirische, Alltägliche, Materielle, das von Kunigunde verkörpert wird, ist der Schauplatz des Unwahren und des Hasses. Liebe transzendiert das Alltägliche, und wenn es nicht gelingt, sie zur Grundlage für den 78

»Käthchen von Heilbronn« – ein verkehrtes Stück

Alltag zu machen, so droht der Fall in die Melancholie, die nicht gleichbedeutend ist mit einer Abkehr vom Leben schlechthin, sondern der ein Begehren nach einem andern Leben zugrundeliegt. Käthchen wie der Graf haben die Nähe des Todes gerade dann gespürt, als sie der Liebe nahe waren. Käthchens Fenstersturz und die tiefe Verzweiflung des Grafen lassen sich als Ausdruck für ein erstes Mißlingen der Synthese lesen, die Liebe im Alltag zu leben. Für beide ist sie zunächst etwas, was sie vom alltäglichen Leben entfernt, etwas Tödliches, das höchstens im Traum oder im Koma noch einen Ort diesseits des Todes hat. Andererseits ist die Liebe des Grafen zu Kunigunde nur allzu banal, bald einmal schal und zunehmend voller Haß. Es braucht die Gnade des göttlichen Geschicks, um das Traumartige der Liebe zu Käthchen zur Realisierung zu bringen – eine märchenhafte Realisierung, wie sie eben einem Theaterstück eigen sein kann, das sich auf diese Weise von alltäglichen Erfahrungen unterscheiden kann, indem es sie verfremdet, überhöht. Beenden wir diese Arbeit mit der Kommentierung einer letzten Szene, die ein Lacansches Wort avant la lettre wahr macht: »Es spricht«. Es handelt sich um jene Szene, in der der Graf das schlafende Mädchen ausfragt, um die Wahrheit über sich und ihre Beziehung zu erfahren. DER GRAF VOM STRAHL. Mein liebes Käthchen! Er faßt ihre Hand. KÄTHCHEN. Mein hoher Herr! DER GRAF VOM STRAHL. Du bist mir wohl recht gut. KÄTHCHEN. Gewiß! Von Herzen. DER GRAF VOM STRAHL. Aber ich – was meinst du? Ich nicht. KÄTHCHEN (lächelnd). O Schelm! DER GRAF VOM STRAHL. Was, Schelm! Ich hoff – ? KÄTHCHEN. O geh! – Verliebt ja, wie ein Käfer, bist du mir. […] DER GRAF VOM STRAHL. Was, sprich, was soll draus werden? […] KÄTHCHEN. Zu Ostern, übers Jahr, wirst du mich heuern. DER GRAF VOM STRAHL das Lachen verbeißend. 79

Peter Widmer So! Heuern! In der Tat! Das wußt ich nicht! Kathrinchen, schau! – Wer hat dir das gesagt? KÄTHCHEN. Das hat die Mariane mir gesagt. DER GRAF VOM STRAHL. So! Die Mariane! Ei! – Wer ist denn das? KÄTHCHEN. Das ist die Magd, die sonst das Haus uns fegte. DER GRAF VOM STRAHL. Und die, die wußt es wiederum – von wem? KÄTHCHEN. Die sah’s im Blei, das sie geheimnisvoll In der Silvesternacht, mir zugegossen. KÄTHCHEN. Als ich zu Bett ging, da das Blei gegossen, In der Silvesternacht, bat ich zu Gott, […] Wenn’s wahr wär, was mir die Mariane sagte, Möcht er den Ritter mir im Traume zeigen. Und da erschienst du ja, um Mitternacht, Leibhaftig, wie ich jetzt dich vor mir sehe, Als deine Braut mich liebend zu begrüßen. DER GRAF VOM STRAHL. Ich wär dir –? Herzchen! Davon weiß ich nichts. – Wann hätt ich dich – ? KÄTHCHEN. In der Silvesternacht. Wenn wiederum Silvester kommt, zwei Jahr. DER GRAF VOM STRAHL. Wo? In dem Schloß zu Strahl? KÄTHCHEN. Nicht! In Heilbronn; Im Kämmerlein, wo mir das Bette steht. DER GRAF VOM STRAHL. Was du da schwatzst, mein liebes Kind. – Ich lag Und obenein todkrank, im Schloß zu Strahl. […] DER GRAF VOM STRAHL für sich. Seltsam, beim Himmel! In der Silvesternacht – Er träumt vor sich nieder. – Erzähl mir doch etwas davon, mein Käthchen! Kam ich allein? KÄTHCHEN. Nein, mein verehrter Herr. DER GRAF VOM STRAHL. Nicht? – Wer war bei mir? KÄTHCHEN. Ach, so geh! DER GRAF VOM STRAHL. So rede! KÄTHCHEN. Das weißt du nicht mehr? DER GRAF VOM STRAHL. Nein, so wahr ich lebe. KÄTHCHEN. Ein Cherubim, mein hoher Herr, war bei dir, Mit Flügeln, weiß wie Schnee, auf beiden Schultern, Und Licht – o Herr! das funkelte! das glänzte! – 80

»Käthchen von Heilbronn« – ein verkehrtes Stück Der führt’, an seiner Hand, dich zu mir ein. DER GRAF VOM STRAHL starrt sie an. So wahr, als ich will selig sein, ich glaube, Da hast du recht! […] KÄTHCHEN lächelnd. Nun! Siehst du wohl? – Der Engel zeigte dir – DER GRAF VOM STRAHL. Das Mal – Schützt mich, ihr Himmlischen! Das hast du? KÄTHCHEN. Je, freilich! DER GRAF VOM STRAHL reißt ihr das Tuch ab. Wo? Am Halse? […] DER GRAF VOM STRAHL. Was mir ein Traum schien, nackte Wahrheit ist’s: Im Schloß zu Strahl, todkrank am Nervenfieber, Lag ich danieder, und hinweggeführt, Von einem Cherubim, besuchte sie Mein Geist in ihrer Klause zu Heilbronn! […] DER GRAF VOM STRAHL. Weh mir! Mein Geist, von Wunderlicht geblendet, Schwankt an des Wahnsinns grausem Hang umher! Denn wie begreif ich die Verkündigung, Die mir noch silbern wiederklingt im Ohr, Daß sie die Tochter meines Kaisers sei? (4. Akt, 2. Auftritt)

In dieser teilweise köstlichen Szene erscheint Käthchen anders als sonst; sie spricht ohne Respekt zum Grafen, nennt ihn einen Schelm, einen verliebten Käfer, was sie im Wachzustand niemals tun würde, wo sie ihn oft mit »mein hoher Herr« anspricht. Kleist hat hier nicht nur das Unbewußte als ein sprechendes dargestellt, er hat auch das Subjekt nicht im Bewußten, sondern im Unbewußten lokalisiert. Anders gesagt: Im Traum spricht das wahre Käthchen, das artikuliert, warum es unbeirrbar dem Grafen folgt, und das genau weiß, daß der Graf ihm mehr zugetan ist, als er selber weiß. Der Graf wiederum sieht sich mit diesem Wissen konfrontiert, das ihn deswegen nicht zu entzücken vermag, weil er in dem Moment, in dem er Käthchens Aussagen hört, deren Inhalt nicht mit der Prophezeiung, daß er eine Kaisertochter heiraten werde, vereinbaren kann. In dieser Not denkt er gar an Wahnsinn. 81

Peter Widmer

Käthchens unbewußtes Wissen, das sich im träumenden Sprechen artikuliert, ist außerdem der Ort, der die Liebe des Grafen zu ihr fesselt; psychoanalytisch gesehen kann man hier von Übertragung sprechen, die dem Wissen gilt. Allerdings ist der Graf hinund hergerissen zwischen den silbernen Worten der Verkündigung und den entzückenden Aussagen Käthchens, die er als gegensätzlich auffaßt. Erst später, als der Kaiser eingestehen wird, daß er und nicht Theobald der leibliche Vater Käthchens ist, wird dieser Gegensatz aufgehoben werden. Aus Käthchens Aussagen geht außerdem hervor, daß sie weiß, daß sie eine Kaisertochter ist, deren Zeichen ein Muttermal am Halse ist, das dem Grafen in jener Silvesternacht, in der er von seiner Krankheit befreit wurde, vom Cherubin gezeigt wurde. Der Graf, der es in seiner nächtlichen Erscheinung gesehen hat, entdeckt es wieder unter Käthchens Halstuch, das er ihr wegreißt. Was in dieser Szene noch fehlt, ist das Wort des Kaisers, das allein Klarheit bringen kann, selbst wenn es einer Enthüllung oder gar dem Eingeständnis einer Peinlichkeit gleichkommt. Das Wort geht über jede Moral und jedes narzißtische Machtinteresse hinaus. Auch ein Kaiser ist in dem Sinne erst dann ein Subjekt, wenn er sich dem Wort beugt, weil es für Verhältnisse sorgt, die der Wahrheit entsprechen. In diesem Sinne läßt sich das wiederholte Auftreten eines Cherubims als Macht interpretieren, die der Wahrheit mittels Sprache zum Durchbruch verhilft.

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»Botschafter der Versagung«: Lacan als Leser Claudels

Als ich mich in den frühen 80er Jahren erstmals allein in die Löwengrube der Berliner Ur-Lacanianer wagte – Anlaß war eine Tagung an den herbstlichen Ufern des Comersees –, hat mich Jutta Prasse sehr herzlich aufgenommen, und seither ist sie mir, wie auch immer unsere Beziehung sich in der Folge wandeln sollte, als bewunderte und geschätzte Begleiterin meiner Anfänge in Erinnerung geblieben. Wenig später sollte eine Figur Claudels, Sygne de Coûfontaine, zur Begleiterin meines Neuanfangs in Paris werden, und sie ist mir gleichermaßen unvergeßlich geblieben. Der Zufall wollte es, daß ich vor den bekannten und vielkommentierten Text-Interpretationen Lacans in die bis heute wenig beachtete und kaum kommentierte Claudel-Lektüre einstieg. Lacan hat mir Claudel eröffnet, und daß ein Psychoanalytiker mir den Zugang zu einem großen dramatischen Text verschaffte, schlug unter anderem die bis anhin fehlende Brücke zwischen meinem Herkunftsort, der Literatur, und der Theorie und Praxis der Analyse. Lacan widmet der Claudel-Trilogie L’otage/Die Geisel, Le pain dur/Das harte Brot, Le père humilié/Der gedemütigte Vater im Seminar Le Transfert 1960/611 eine als Exkurs angekündigte Lektüre, die sich auf 6 Seminarsitzungen ausweitet (3. 5.–7. 6. 1961).2 Es handelt sich dabei keineswegs um die Reduktion des Textes auf ein schon bestehendes psychoanalytisches Begriffskorsett. Gewiß sind die Fragen, die Lacan an den Text stellt, seine Fragen, Fragen, die von der Alltagspraxis eines Analytikers ausgehen und auf diese zurückgebunden werden, es sind aber nicht die PseudoFragen eines Wissenden. Lacan unterstellt dem Claudel-Text in der Krise der frühen 60er Jahre ein spezifisches Wissen, genauer, eine Erfahrung, die »tragische Erfahrung des Begehrens«. 1 2

Jacques Lacan (1991): Le transfert. Le Séminaire, livre VIII. Paris (Seuil). Übersetzung der Lacan- und Claudel-Zitate im folgenden von R. S. Die Gesamt-Übersetzung der Claudel-Lektüre Lacans vom 3.–31. Mai 1961 von Gerhard Schmitz steht auf der Website des Lacan-Seminars Zürich, www.lacan-seminar.ch.

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Mit M. Waltz3 können wir dieser in der deutschen Rezeption ansonsten unscharf wahrgenommenen Krise den übersichtlichen Titel der Wende »von einer Ethik des Symbolischen zu einer Ethik des Realen« geben – soweit es denn eine Wende ist: Zum einen hat die Gewichtung dessen, was den symbolischen Andern »barriert«, durchkreuzt (oder, mit Claudel, kreuzigt), spätestens ab dem Seminar III Les Psychoses deutliche Vorläufer – und zum andern bleibt der Begriff »Ethik des Realen« fragwürdig insofern, als »das Reale« sich dem Begriff per definitionem entzieht und sich nur über und in bezug auf ein Sprechen einkreisen, zu Gehör bringen, anzeigen läßt. Die poetisch-dramatischen Figuren-Konstellationen Claudels eignen sich hervorragend dazu, hören zu lassen, aufzuzeigen, daß das Begehren, das »den Signifikanten anvisiert« und sich somit sprachlich zu artikulieren sucht, ein »textuelles«, ein »in die Person im weitesten Sinn eingewobenes« und damit ein vom Subjekt notwendigerweise »verkanntes« Begehren ist (3. 5. 61). Daß die analytische Sprech-Kur zu einer »Symbolisierung des Begehrens« führe, ist eine jener Halbwahrheiten, die vollends in die Irre führen, wenn man darunter ein Sprechen im Sinn der Befreiung aus der Verdrängung versteht. Wenn »der Signifikant selbst verantwortlich ist für die Partialität dessen, was man weiß«, kann das Sprechen die Kluft zwischen Wissen und Begehren niemals überbrücken. Hier liegt die crux der Wende, eines »Wegs«, der Lacan, in seinen Worten, von der »wissenschaftlichen Untersuchung der Begehren4 seit Sokrates« zur Befragung der »tragischen Erfahrung des Begehrens« geführt habe: zu Shakespeare, Sophokles und nun zu Claudel. Hamlet, Antigone, die Sippe der Coûfontaines erweisen sich als die Paten der Matheme des »barrierten Andern« und des »Objekts klein a«, die in diesen Jahren gesetzt, eingekreist und durchgearbeitet werden. An der »tragischen Erfahrung des Begehrens« interessiert den Analytiker Lacan, »daß das Begehren sich nicht mit nacktem 3

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Matthias Waltz: Ethik der Welt – Ethik des Realen. In: Gondek, Hans-Dieter; Hofmann, Roger; Lohmann, Hans-Martin (Hg.): Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk. Stuttgart (Klett-Cotta) 2001, S. 97–129. Auf den Plural komme ich noch zurück; R. S.

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»Botschafter der Versagung«: Lacan als Leser Claudels Antlitz zeigt, und daß es nicht an dem Platz ist, den die säkulare Erfahrung der Philosophie für es angegeben hat, um es zu zügeln, und ihm das Recht zu nehmen, uns zu bevormunden. Weit davon entfernt, daß dem so wäre, sind die Begehren überall, ja sie stecken im Herz unserer Bemühungen, ihrer Herr zu werden … Nun, man kommt um sie nicht herum, und zwar so wenig, daß es nicht genügt, ihnen aus dem Weg zu gehen, um uns nicht dennoch mehr oder weniger schuldig zu fühlen. Das, was die analytische Erfahrung uns lehrt, ist, daß der Mensch gezeichnet ist, daß er verstört ist durch alles, was sich Symptom nennt, insofern, als das Symptom folgendes ist: diesen Begehren, deren Grenze und Platz wir nicht bestimmen können, stets auf irgendeine Weise Genüge zu tun – ich sage y satisfaire, nicht les satisfaire, denn zu sagen les satisfaire ginge noch allzusehr in die Richtung, sie für greifbar zu halten, sagen zu können, wo sie sind – und dies dazu noch ohne Lust« (3. 5. 61).

Eine klare Abgrenzung der Analyse von philosophischen und wissenschaftlichen, und fügen wir hinzu: therapeutischen Bemühungen, die ex- oder implizit versprechen, die Subjekte aus den Fesseln des Begehrens zu befreien. Im Hintergrund Freud, der Freud von Jenseits des Lustprinzips, der Urverdrängung und der Versagung. »Versagung« in der eigenwilligen Übersetzung Lacans ist eines der Schlüsselwörter seiner Claudel-Lektüre: Er liest es buchstäblich als per-dire, als ein Sich-versprechen, ein Fehlgehen des Sagens selbst. Wir Analytiker, so Lacan, sind »Botschafter und Vehikel der Versagung« in bezug auf Versprechen, die uns schließlich nicht als Versprechen irgendwelcher Philosophen, Wissenschaftler und Therapeuten interessieren, vielmehr als Versprechen, die in der Signifikanten-Struktur selbst angelegt sind, und die die analytische Übertragung einleiten, prägen und stützen. Über das Fehlgehen des Versprechens der Signifikanten führt das Wort »Versagung« zur Möglichkeit des refus, der Rückweisung, Ablehnung des Versprechens der Signifikanten. Sygne de Coûfontaine wird ihm zur Kronzeugin für diesen refus und für das Überschreiten des Rands der Urverdrängung, das einer Auflösung des Subjekts entspricht. Wir werden mit und nach dem ClaudelDurchgang darauf zurückkommen, was diese Position der »Versagung« uns hier und heutzutage zu sagen hat.

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Die Wende dieser Jahre geht einher mit einer Wendung von dem zu den Begehren, zur Verortung der Begehren im Realen der geschichtlich und geschlechtlich geprägten Diskurse; sie ist die Bedingung dafür, daß etwas von der Struktur des Begehrens sich zeigen kann, nicht aber dessen Erklärung. Es sei nicht vorstellbar, so Lacan, daß die analytische Erfahrung nur ein Wunder gewesen sei, entstanden aus man weiß nicht welchem individuellen Zufall namens »der Wiener Kleinbürger Freud«. »Es gibt in unserer Epoche ganz gewiß, und zwar als ein Ensemble, alle Elemente einer Dramaturgie, die es uns erlauben kann, das Drama derer, mit denen wir es zu tun haben, auf dieselbe Stufe zu stellen, statt sich dort, wo es ums Begehren geht, mit einer Allerweltsgeschichte zu begnügen, wie man sie im Vorbeigehen aufschnappen kann.« Kürzlich sei er auf »eine Artikulation des Fantasmas gestoßen, deren Mediokrität mich hochfahren ließ«, was ihm, »ich kann nicht sagen, den Mut wiedergegeben hat, es braucht etwas mehr, eine Art Furor, um einmal mehr einen dieser Umwege zu nehmen, und ich hoffe, daß Sie die Geduld haben werden, diesem Rundgang zu folgen« (3. 5. 61).

Es handelt sich um einen Rundgang, der in den politischen und religiösen Wirrnissen eines fiktiv überhöhten nachrevolutionären Frankreichs situiert ist. Vorerst betone ich einen Zug der Trilogie, der mir dieses Unternehmen nochmals mit Jutta P. verbindet: Claudel schafft es, die Radikalität und Unbeugsamkeit weiblichen Begehrens – das, wohlgemerkt, Begehren des Andern ist, und was das, jenseits der gängigen Formel, heißt, wird sich an den Claudelschen Figuren verfolgen lassen – fern des Kitsches des Unsäglichen in einer Weise darzustellen, die in der modernen Literatur ihresgleichen sucht, und dies auf diversen Ebenen und in diversen Varianten: – in der ersten Generation, der ersten Zeit, im ersten Stück, die verzweifelte Variante der Sygne de Coûfontaine, die in ihrem Begehren, die Geisel/den Bürgen der christlichen Botschaft, den Papst, zu retten – Geisel/Bürge des Worts, fügt Lacan hinzu –, über das symbolische Opfer hinausgeht, ja es verwirft – ein Begehren, dem »allein der Bezug auf Sade noch gerecht wird«. Hier ist, wie man sehen wird, die vom Objekt unbefleckte Marke 86

»Botschafter der Versagung«: Lacan als Leser Claudels

des Signifikanten am Werk: er macht Sygne zum »puren Opfer des logos«. – in der zweiten Generation, dem zweiten Stück, der zweiten Zeit, dann eine Gablung: einerseits das radikale Begehren der Lumîr, Geliebte des Louis, Sohn der Sygne und ihres Peinigers und Ehemanns Turelure, die für die verlorene Sache Polens in den Tod geht, andrerseits das schlau-berechnende Begehren der Sichel, Maitresse des Turelure, die sich dessen Sohn Louis schnappt. Es herrscht, in dieser zweiten Zeit, die Passion des Objekts: Eine Zeit des Kampfs um Geld, Ländereien und Frauen zwischen Turelure und dem ungeliebten Sohn Louis, wobei keiner der beiden vor noch so perfiden Finten zurückschreckt, und die Frauen kräftig mitmischen, ja die Fäden der Intrige führen – was sich in einem farcenhaften Vatermord und der Heirat des Louis mit der begüterten Maitresse des Vaters selig, Sichel, niederschlägt. Eine ödipale Groteske, eine Version der Kastration, die noch in der mit manchen Wassern gewaschenen Postmoderne schockiert. Für Lacan-Claudel ist dieses »harte Brot« der Kastration das, was Louis zum Mann und Vater macht, und damit ein notwendiger Durchgang zum – dritten Stück, zur dritten Zeit, zur Zeit des Begehrens der blinden Pensée de Coûfontaine, Enkelin der Sygne und des Turelure, Tochter des Louis und der Sichel, ein Begehren, das vom verworfenen Kind der Sygne (Louis) zum begehrten Kind führt: die blinde Pensée erschleicht es sich von Orian, einem Soldaten des Papstes, im letzten Moment vor dessen Tod auf dem Schlachtfeld, und bekommt dazu einen passenden Vater in Gestalt des Orian-Bruders Orso. Es ist die Zeit der Konfiguration des Begehrens. Pensée ist die Lichtgestalt der Trilogie, und die Liebe, die bei den Paaren Sygne und Georges, Louis und Lumîr in einer wunderbaren poetischen Dichte evoziert wird und scheitert, mündet bei Pensée und ihrem Orian in eine fantasmatische Erfüllung, genauer, in die konkrete oder konkretistische Erfüllung des Fantasmas: in eine unio mystica der Seelen, die über das der Pensée dargebotene Herz des toten Orian läuft. Unüberhörbar der Anklang an die Eucharistie, ans »dies ist mein Leib« des katholischen Abendmahls – was immer man davon halten mag, die Allianz oder mésalliance zwischen 87

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»Seele« und »Leib« beziehungsweise Organ ist für uns, als Analytiker oder schlicht als zeitgenössische Männer und Frauen, in keiner Weise vom Tisch und treibt ihre Blüten im Diskurs der Liebe. »Ich will mich mit deiner Ursache vereinigen«, bekennt die Heldin des Seidenen Schuhs von Claudel – und bekanntlich bezeichnet Lacan das Objekt des Fantasmas als cause, Ursache. Die Claudel-Heldin fährt fort: »Die Kraft, durch die ich dich liebe, ist nicht verschieden von der, durch die du lebst.«5 Die Claudelschen Männer sind, wie man am Rand mitbekommen haben mag, entweder, grob gesagt, Kanaillen des aufkommenden Kapitalismus – die Turelures – oder zwielichtige Heilige – Badilon, Orian, Orso, Georges. Passion des Objekts ist auch als genitivus subjectivus zu lesen: Zumindest Turelure senior stellt sich im Harten Brot weitgehend dar als Objekt des Andern, Objekt der politischen und sozialen Verhältnisse. Lumîr wiederum macht sich zum Objekt des Andern im Sinn des Signifikanten, in dem sie ihr Schicksal sieht und dem sie sich opfert. Der Papst, dessen Flucht und Geiselnahme das Drama in Gang bringt, ist ein Schwächling: er wird als ein ohnmächtiger Vater dargestellt, der »in Hinblick auf die heraufkommenden Ideale den Gläubigen nichts zu bieten hat als die eitle, kraftlose Wiederholung traditioneller Worte« (17. 5. 61). Zurück zu den drei Zeiten Lacans: L’otage/Die Geisel ist die Zeit der »Marke/Markierung des Signifikanten«, Le pain dur/Das harte Brot die Zeit der »Passion des Objekts«, Le père humilié/Der gedemütigte Vater die Zeit der »Konfiguration des Begehrens«. Die Dreiteilung ist, so Lacan, eine künstliche Zerlegung dessen, wie sich beim Subjekt ein Begehren herausbildet: die dritte Zeit, die dritte Generation ist schon da auf der Ebene der vorhergehenden Zeiten, und diese sind die Antezedenzen jener dritten Zeit, um die es sich schließlich handelt. Das betrifft durchaus auch uns und unsere Subjekte in Analyse: wo es um die Situierung des Begehrens geht, müsse man nicht bis zu Adam zurückgehen: drei Generationen würden genügen. Was heutzutage auch als ein Hinweis gelesen 5

Übersetzung von Herbert Meier, »Claudel entdecken«, unpubliziert.

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werden kann darauf, daß es mit dem Kind von Mama und Papa noch nicht getan ist. Daß das Signifikanten-Martyrium der Großmutter Sygne und der Kampf ums Objekt der zweiten Generation der Turelures schließlich eine Lichtfigur hervorbringen wird, die blinde Pensée, eine Freidenkerin, die weder im Sinn hat, sich einem obskuren Signifikanten zu opfern, noch sich ihr Begehren entziehen und sich als Objekt der Kastration auf den öffentlichen Markt werfen zu lassen6, die vielmehr heiter und bestimmt ihr Begehren in die Tat umsetzt, dieser Ablauf stellt unter anderem auch gängige TraumaTheorien auf den Kopf, oder eher auf die Füße. Es sind nicht unbedingt die skandalösen Vorfahren, die unglücklichen Nachwuchs zeugen. Lacan definiert hier das Trauma folgendermaßen: Es ist das, was beim betroffenen Subjekt signifikante Strukturen geschaffen haben wird. Die notwendige Passage des Begehrens durch die Marke des Signifikanten und die Passion des Objekts wird wenig später7 präzisiert werden: die Konfiguration des Begehrens durchläuft die Alienation in und die Separation von der Signifikantenkette. In der Claudel-Trilogie ist Pensée die erste Coûfontaine, die diesen Durchgang schafft. *** Das erste Stück L’otage/Die Geisel, auf das und dessen Heldin Sygne wir nun detaillierter eingehen werden, verhandelt Glaubenswerte in der Zeit der Herrschaft Napoleons und bringt uns nahe, daß Religion, mit Walter Benjamin, nicht mehr »Fundament der weltlichen Ordnung« ist, sondern »der Abgrund, über dem sie schwebt«. Die Verkennung dieses Abgrunds, etwa in Form einer liberalen postmodernen Toleranz, die das Religiöse, soweit sie es nicht bloß belächelt, für ein frei wählbares, nützliches oder dekoratives Element des kulturellen Überbaus hält, ist uns in letzter Zeit drastisch vorgeführt worden. Claudel ist hier hochaktuell, und 6 7

So Lacan in der Seminarsitzung vom 24. 3. 61. Siehe: Jacques Lacan (1966): Position de l’Inconscient (1960/64). In: Écrits, Paris (Seuil), S. 829.

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man kann ihm ein revival nur wünschen. Daß er von links als katholischer Reaktionär, von rechts als blasphemischer Abtrünniger verunglimpft worden ist, spricht für den Spannungsbogen, den seine Texte aufrichten und durchqueren. Wenn Gott tot ist – und daß Gott tot sei, ist nach Lacan »der Kern dessen, was uns Claudel präsentiert« –, wenn Gott tot ist, wird »die Einwirkung des Symbolischen auf das Fleisch/auf den Körper (la chair) selbst« (17. 5. 61) in drastischer Weise sichtbar, lesbar, und schließlich ist es das, was Lacan an diesem ersten Stück so fesselt. Die Geschichte der Sygne tritt dafür den Textbeweis an: den Beweis dafür, daß das Verkennen des Begehrens, »insofern der Analytiker auf irgendeine Weise der Besitzer dieses seltsamen Maßes wäre, nicht spekulativ, sondern textuell ist – textuell in dem Sinn, daß es ein Verkennen ist, das wahrhaft eingewoben ist in die Konstruktion der Person im weitesten Sinn« (3. 5. 61). Dieses textuelle Eingewobensein des Begehrens – das die Analyse mit der Literatur verbindet – ist in den Claudelschen Namen schon gegenwärtig; in Schreibweisen, die eine Bedeutung andeuten und verstellen. Die Schreibweise Sygne weist auf signe, das Zeichen, läßt die Zeichen und Wunder christlicher Heiligen- und Märtyrerlegenden antönen, und versperrt, entstellt, im gleichen Zug dieses Bedeutungsfeld: das y anstelle des i markiert schon das Kreuz, das prominent an der Wand der Coûfontaines hängt und in der Sterbensgeste der Sygne dargestellt werden wird – oder eben nicht mehr dargestellt wird, denn Darstellung setzt stets noch eine minimale Distanz, Differenz zum Darsteller und zum Dargestellten voraus – das sich darbietet, sich konkretisiert in einer, so Lacan, »psychosomatischen« Geste: Der Körper der sterbenden Sygne wird nicht mehr auf das Kreuz hinweisen, vielmehr zum Kreuz werden. Das in Bronze gegossene Kreuz an der Wand wird übrigens im Verlauf des zweiten Stücks der Trilogie als Materialwert zu Geld gemacht werden: von der Marke des Signifikanten zur Passion des Objekts auch und gerade hier. Die imposition der Signifikanten auf das Fleisch (17. 5. 61), die Einwirkung, Auferlegung, Verordnung, hat im Französischen auch die Bedeutung der Steuerverfügung: Das Subjekt wird vom Signifikanten »markiert und entstellt« im Sinn einer Verfügung, Verordnung des Was, Wie und Wieviel seiner Steuerschuld. 90

»Botschafter der Versagung«: Lacan als Leser Claudels

Die Ersetzung des i durch das y nennt Lacan eine surimposition, frei übersetzt, eine Doppelbesteuerung. Die Verdoppelung der Schuld, die zwei sich überkreuzenden Ebenen der Schuld sind das, was die Geschichte der Sygne bis zum Exzeß prägen wird: Das, was wir als symbolische Schuld fassen, Schuld des Namens, der für die Herkunft, das Erbe, das Geschlecht steht, wird auf einer zweiten, radikalen Ebene dem »textuellen« Signifikanten, dem ins Fleisch eingewobenen Buchstaben des Kreuzes geopfert. *** Nach diesem Vorgriff auf das Ende sei nun die Geschichte in groben Zügen nachgezeichnet, was die Lektüre des Originals keineswegs ersetzen kann: Sygne ist, mit ihrem Cousin Georges, die einzige Überlebende der adligen Sippe der Coûfontaines, denen die Revolution den Garaus gemacht hat. Man befindet sich auf dem Höhepunkt der napoleonischen Herrschaft. Sygne hat ihr Leben der Erhaltung der Güter und Ländereien gewidmet, des Rests davon, den man ihr zugestand. Cousin Georges, ein emigrierter Royalist und Katholik, kommt auf Besuch; Sygne erfährt, daß er seine Frau an den Dauphin verloren hat und seine Kinder an eine Seuche. Zwischen den beiden einsamen und enttäuschten Coûfontaines entspinnt sich ein dichter Dialog um die Bande an den Namen, den Boden, die feudale Ordnung, und sie beschließen, sich vor Gott zu verloben. Claudel entwickelt hier eine Poetik der Liebe, die das Mystische nicht scheut, ohne deshalb ins Sentimentale zu kippen. Sygne wird als eine so besonnene und kluge wie generöse Frau gezeichnet: Ihre Verlobung mit Georges, deren Vollzug nicht im Rahmen des Möglichen liegt, besiegelt gewissermaßen ihre exemplarische Annahme der symbolisch-ödipalen Schuld. Nun ist aber Georges nicht allein gekommen, sondern hat eine Person in Obhut, deren Identität uns vorerst verhüllt bleibt, den vom Druck Napoleons in die Flucht getriebenen Papst, den höchsten Vater, den Repräsentanten des himmlischen Vaters. Um diese flüchtige, vertriebene, schwächliche und hinfällige Person, um diese Geisel wird sich das Drama drehen. Die Geisel ist aber auch Sygne selbst: Geisel des Worts, das sich verkörpert hat. Daß sich 91

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die Titel der drei Dramen keiner Einzelfigur zuschreiben lassen, sei hier am Rand erwähnt. In die Zwiesprache Sygne – Georges platzt ein Dritter, der Präfekt Toussaint Turelure, Sohn eines Hexers und einer Magd der Coûfontaines, die auch die geliebte Amme der Sygne war, somit ihr sozial inferiorer Ziehbruder. Er hat es dank der Revolution zum Baron und Präfekten des Landstrichs der Coûfontaines und damit zur Umkehrung der Machtverhältnisse gebracht. Die Identität des Flüchtigen ist ihm nicht entgangen, und er ergreift die Gelegenheit, Sygne zu erpressen: Madame, seit langem begehre und liebe ich Sie, heute aber, da Sie diesen alten Ewigen Vater bei sich haben, drehe ich ihm den Hals um, wenn Sie meine Bitte um Ihre Hand, die ich hier und jetzt ausspreche, nicht erhören. Turelure ist mit allen Attributen des Zynismus und der Gemeinheit versehen, zudem häßlich und verwachsen: Allerdings ist der Anstrich von Kasperletheater, mit dem dieser dramatische Knoten geschnürt wird, unübersehbar, und im Verlauf der Trilogie wird Turelure zu einer beinahe mitleidserregenden Figur werden. Hier aber bezeichnet er sich als l’homme du possible, der Mann des Möglichen, ist auf dem Höhepunkt seiner Macht über Sygne und scheut es nicht, sie daran zu erinnern, daß er in der guten alten Zeit von 1793 den übrigen Personen der Sippe den Kopf abgeschlagen hat. Sygne weist das Ansinnen von sich, ist aber in ein schreckliches Dilemma gestürzt. Die Triebfeder, das Vehikel, das Sygne dazu bringen wird, den Antrag Turelures anzunehmen, ist schließlich nicht der Bösewicht selbst, vielmehr Sygnes Beichtvater Badilon, der Heilige, und der Dialog, der sich nun zwischen Sygne und Badilon entspinnt, ist das Zentrum des Dramas. Badilon appelliert daran, daß sie, Sygne, von Gott auserwählt sei, den Papst zu retten. Er erlegt ihr das nicht als eine Pflicht auf, er geht noch weiter: nicht an ihre Stärke appelliert er, sondern an ihre Schwäche, und an die Schwäche dessen, den sie retten soll. Auf Sygnes Frage, ob denn Gott eine solche Einwilligung von ihr wolle, antwortet er (Akt II, Szene II): B: Er verlangt es nicht, das sage ich Dir mit Festigkeit. Und desgleichen, als der Sohn Gottes für das Heil der Menschen

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»Botschafter der Versagung«: Lacan als Leser Claudels Sich vom Schoß seines Vaters wegriß und die Demütigung und den Tod erlitt Und diesen zweiten Tod aller Tage, der die Todsünde derer ist, die er liebt, Die göttliche Gerechtigkeit hat auch ihn nicht dazu gezwungen. S: Ah, ich bin kein Gott, ich bin eine Frau! B: Ich weiß es, armes Kind. S: Ist es an mir, Gott zu retten? B: Es ist an Dir, Deinen Gast zu retten. S: Nicht ich habe ihn unter mein Dach gebeten. B: Dein Cousin hat ihn hergeführt. S: Ich kann nicht! oh mein Gott, nicht zu diesem Preis! B: Wenn die Kinder Deines Cousins noch lebten, und es sich darum handeln würde, ihn und die Seinen zu retten, Und den Namen, und das Geschlecht, wenn er selbst Dich darum bäte, Dieses Opfer, das ich Dir anbiete, Sygne, würdest Du es bringen? S: Ah, wer bin ich, armes Mädchen, mich mit den Männern meines Geschlechts zu messen? Ja, Ich täte es. B: Ich höre es aus Deinem eigenen Mund. S: Aber er ist mein Vater und mein Blut und mein Bruder und der Ältere, der erste und letzte von uns allen, Mein Meister, mein Herr, zu dem ich mich bekannt habe! B: Gott ist all das für Dich, vor ihm. S: Vater, versuche mich nicht über meine Kraft hinaus! […] 93

Regula Schindler B: Gott ist nicht über uns, sondern unter uns. Und es ist nicht gemäß Deiner Kraft, daß ich Dich versuche, sondern gemäß Deiner Schwäche. S: So denn: ich, Komtesse von Coûfontaine, Ich werde nach meinem eigenen Willen Toussaint Turelure ehelichen, den Sohn meiner Magd und des Hexers Quiriace, Ich eheliche ihn vor dem dreifaltigen Antlitz Gottes, und ich gelobe ihm Treue und wir stecken uns den Ehering an den Finger. Er sei das Fleisch meines Fleisches und der Geist meines Geistes, und das, was Jesus Christus für die Kirche ist, Turelure wird es für mich sein, unauflöslich. Er, der Metzger von 93, bedeckt vom Blut der Meinen, Er wird mich jeden Tag in seine Arme nehmen, und es wird nichts mir gehören, das nicht ihm gehörte. Und von ihm werden mir Kinder geboren werden, in denen wir vereint und verschmolzen sind. […] Schweigen S: Sie schweigen, mein Vater, und sagen mir nichts mehr! B: Ich schweige, mein Kind, und ich zittere! Ich erkläre Dir, daß weder ich Noch die Menschen, noch Gott selbst, Dir ein solches Opfer abverlangen. S: Und wer denn verpflichtet mich dazu? B: Christenseele! Kind Gottes! Es liegt einzig an Dir selbst, es nach deiner Art zu tun. S: Ich kann nicht. […] S: Herr, daß Dein Wille geschehe und nicht der meine!

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»Botschafter der Versagung«: Lacan als Leser Claudels B: Meine Tochter, mein geliebtes Kind, siehst Du jetzt, wie sehr Gott dich um etwas Leichtes bittet! Hier ist es nun zusammengeschlagen, das Haus Deiner Selbstliebe! Hier liegt sie niedergestreckt, diese Sygne, die Gott nicht gemacht hat! Hier ist sie samt den Wurzeln ausgerissen, Diese hartnäckige Liebe zu Dir selbst! Hier ist die Kreatur mit dem Schöpfer im Eden des Kreuzes! […] Es ist leicht, den Tod anzunehmen, und die Schande, und den Schlag ins Gesicht, und die Dummheit, und die Verachtung aller Menschen. Alles ist leicht, außer Dich zu betrüben. Alles ist leicht, oh mein Gott, dem, der Dich liebt, Außer, Deinen herrlichen Willen nicht zu vollstrecken. Nach einem weiteren Austausch: B: Mein Kind, sammle Dich, ich werde Dich segnen, und daß die Gnade Gottes mit Dir sei! Bühnenanweisung: Sie läßt sich mit dem Gesicht gegen die Erde fallen und bleibt liegen, die Arme ausgestreckt. Er macht langsam das Zeichen des Kreuzes über ihr, während die rötlichen Strahlen der untergehenden Sonne durch das Fenster dringen.

Sie haben es gehört: Badilon versteht es, in bester Jesuitenmanier die Argumente und Fragen der Sygne subtil zu unterhöhlen – nicht im plumpen Widerspruch, sondern im Wechsel der Ebenen des Appells: Der Appell an die Sippenschuld, die ödipale Schuld wird als Mittel der Überzeugung eingesetzt, und im Moment, wo Sygne zustimmt, entzogen im Namen eines Gottes, der ihr »all das« ist, vor Georges – der aber nicht allmächtig, nicht einmal »über«, sondern »unter uns« ist, denn wie sollte er denn anders eines Menschenopfers bedürfen? So aber wird die Schwäche, auf die Sygne zu plädieren versucht, als Argument entkräftet, und umgekehrt: Dieser schwache Gott appelliert an ihre Schwäche – und hier gibt Sygne nach. Kaum hat sie eingewilligt, den Peiniger und Metzger ihrer Sippe zu ehelichen, wird ihr auch noch die Vorstellung entzogen, Gott oder irgendein anderer verpflichte sie zu diesem Opfer: 95

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Wie wird auf »sich selbst« verwiesen. Der, die sich diesseits jeder Schuld, Pflicht und Selbstliebe opfert, wird die Union »der Kreatur mit dem Schöpfer im Eden des Kreuzes« versprochen, und dieses Versprechen wird denn auch im Sterben der Sygne seine elendigliche und schockierende Darstellung finden. »Dem Heiligen ist Gott ein Name seines Genießens, eines schon eher monströsen Genießens« (7. 6. 61). Badilon ist ein Heiliger und verkehrt Sygne in eine Heilige. Dieses Selbstopfer, so Lacan, geht weiter als das der antiken Tragödie: wo Oedipus und Antigone zum Opfer der até werden, des bösen Gottes des Schicksals, wird Sygne auf »sich selbst« zurückgeworfen, und das heißt schließlich, auf den ihr textuell eingewobenen Buchstaben des Kreuzes. »Der boshafte Gott der antiken Tragödie ist noch etwas, das sich mit dem Menschen […] durch die Vermittlung der até, des Schicksals, verbindet. […] Diese até hat noch einen Sinn als até des Andern, und in diesen Sinn schreibt sich Antigone und Oedipus, ein. Hier sind wir jenseits jeden Sinns. Das Opfer von Sygne de Coûfontaine mündet in nichts als die absolute Verhöhnung ihrer Ziele. Der Alte, den es den Krallen von Turelure zu entreißen galt, wird uns, ganz Höchster Vater der Gläubigen, der er ist, bis zum Ende der Trilogie als ein ohnmächtiger Vater dargestellt, der diesen Gläubigen im Hinblick auf die heraufkommenden Ideale nichts zu bieten hat als die eitle, kraftlose Wiederholung traditioneller Worte. Die angeblich wiederhergestellte Legitimität ist nichts als ein Trug, eine Fiktion, eine Karikatur, und in Wirklichkeit die Verlängerung der subvertierten Ordnung« (3. 5. 61).

Diese sublim-perverse christliche Selbstopferung unter Einfluß des Verführers Badilon ist nicht das letzte Wort Claudels. Sygne wird ihr sublimes Opfer des Opfers, ihren Verrat am Namen der Coûfontaines und insbesondere an Georges, und damit das Genießen der Heiligen schließlich verwerfen, und so ihrer fragwürdigen Nachkommenschaft eine Tür öffnen. Weiter im Text: Sygne ist nun also die Baronin Turelure und hat eben einen Sohn geboren. Die Machtkämpfe zwischen der napoleonischen Garde, der Turelure verpflichtet ist, und den Royalisten 96

»Botschafter der Versagung«: Lacan als Leser Claudels

gehen auf einen faulen Kompromiß zu: Cousin Georges erscheint als Gesandter von Louis XVIII. am Tag der Geburt des Sohns bei Turelure, der es inzwischen zum Präfekten von Paris gebracht hat, und verlangt von diesem die Schlüssel zur Hauptstadt. Eine der Bedingungen, die Turelure an die Übergabe stellt – die übrigens ein profitabler Verrat an der napoleonischen Garde ist –, ist die, daß der Name Coûfontaine – der Schatten der Dinge, aber auch das Wesentliche, so Lacan – auf die Mesalliance Turelure-Sygne übergehen soll. Natürlich enden die dermaßen weit getriebenen Dinge tödlich. Georges trägt eine Pistole bei sich, um mit Turelure abzurechnen, Turelure hat das vorausgesehen, und auf der Strecke bleibt der Gutmensch Georges, nicht zuletzt darum, weil Sygne sich schützend vor ihren ungeliebten Gatten geworfen hat. Diese Geste der monströsen ehelichen Pflicht setzt den Punkt auf ihr sublimes Opfer und läßt es kippen. Sie liegt im Sterben, und es gibt zwei Schlußszenen. In der ersten Schlußszene (Akt III, Szene IV) erscheint Badilon, um Sygne die Letzte Ölung zu geben. Alle Ermahnungen des Heiligen, der selbst zerrissen ist von der äußersten Konsequenz des Opfers, an dem er mitgewirkt hat, alle Appelle an Sygne, sich in ihrem Opfer mit Gott zu versöhnen, Turelure zu verzeihen, ihr Kind anzunehmen, scheitern an einem signe que non, einem Nein-Zeichen, einem Kopf-tic, der sich nicht mehr des Worts nein bedient. Die Serie der signes que non wird nur zweimal unterbrochen: In der Mitte der Szene beantwortet Sygne Badilons Frage, ob er ihr das eben geborene Kind bringen dürfe, mit einem klaren »nein« – und am Ende, als Badilon den Wahlspruch der Sippe Coûfontaine adsum an sie richtet, ist ihr letztes Wort tout est épuisé, alles ist ausgeschöpft. Damit werden die signes que non abgegrenzt vom Nicht-mehrsprechen-können einer Sterbenden: Sie verwirft das Wort selbst. Bühnenanweisung: Die Agonie beginnt. Sygne richtet sich plötzlich auf und streckt die beiden Arme gewaltsam im Kreuz über den Kopf; dann, aufs Kissen niedersinkend, gibt sie den Geist auf, mit einem Blutsturz.

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Regula Schindler Monsieur Badilon wischt ihr getreulich den Mund und das Gesicht. Dann, in Tränen ausbrechend, fällt er am Fuß des Betts auf die Knie.

Dieser Schluß wird von einem weiteren, etwas heitereren Schluß sekundiert: Turelure, der eben vom König für seine Taten, inklusive der Sohneszeugung, gelobt worden ist, appelliert an Sygne in einem für diesen Kasper anrührenden Liebesdiskurs, lobt sie und sich selbst, ihre Ehe, dankt ihr, bittet darum, den Sohn, in dem der Name Coûfontaine neu erstehe, ihr bringen zu dürfen, und schreit: Erhebe dich und rufe: »ADSUM! Sygne! Sygne! COÛFONTAINE, ADSUM! COÛFONTAINE, ADSUM!« Von seiten Sygnes hier durchgehend nur silence, signe que non, silence. Bühnenanweisung: Sie versucht sich zu erheben, und fällt zurück. Turelure, leiser und wie tief erschreckt: »COÛFONTAINE, ADSUM«.

Dieser zweite, leicht burleske Schluß kann den ersten, zutiefst schockierenden, nicht aufheben. Was bedeutet es, fragt Lacan, und fragen wir, daß der Dichter uns zu diesem Äußersten an Verhöhnung des Signifikanten führt? »Sie werden mir sagen, daß wir hartgesotten seien, daß uns nichts mehr imponieren kann – aber trotzdem […]« (3. 5. 61). *** Ich werde nun den Lacanschen Kommentar, der die Figur der Sygne in den Kontext der Verschiebung des Tragischen, der Schuld, des Glaubens von der Antike bis zum Subjekt der Moderne stellt, über große Strecken als solchen zitieren; keine Paraphrase könnte diesem Ton gerecht werden. Es ist der nahezu biblische Ton eines Predigers und Propheten, fern jeder Ironie. »Es gibt etwas anderes in diesem Bild, vor dem uns die Begriffe fehlen. Sie erinnern sich an die Begriffe des Aristoteles: ›durch allen überwundenen Schrecken und Mitleid hindurch‹ (die Katharsis). Was uns hier vorgestellt wird, führt uns noch weiter. Es ist das Bild eines Begehrens, dem, so scheint es, allein noch der Bezug auf Sade gerecht wird. 98

»Botschafter der Versagung«: Lacan als Leser Claudels Die Ersetzung des Christuskreuzes durch das Bild der Frau koinzidiert in der ganzen Trilogie mit dem Thema der Überschreitung, des Durchbruchs ins Jenseits jeglichen Glaubenswerts. Dieses Stück, das dem Anschein nach das eines Gläubigen ist, ist es nicht das Indiz dafür, daß der menschlichen Tragik ein neuer Sinn gegeben wird? Diese Figur der Geopferten, die das Zeichen ›nein‹ macht, hier ist die Markierung durch den Signifikanten zum höchsten Grad gesteigert, die Verweigerung zu einer radikalen Position erhoben, die wir ergründen müssen. Wir werden dabei einem Ausdruck Freuds wiederbegegnen, dem der Versagung. Der Ausdruck Versagung, insofern, als er den Mangel, den Webfehler (défaut) eines Versprechens impliziert, das Verfehlen eines Versprechens, für welches schon auf alles verzichtet worden ist, das ist der exemplarische Wert der Person und des Dramas von Sygne. Das, worauf zu verzichten von ihr verlangt wird, ist das, worauf sie all ihre Kräfte gerichtet hat, woran sie ihr Leben gebunden hat, und was bereits im Zeichen des Opfers stand. Diese Dimension nun im zweiten Grad, im Profundesten, der Verweigerung, die durch die Operation des Worts zugleich gefordert und auf eine abgründige Verwirklichung hin geöffnet werden kann, das ist es, was der Claudelschen Tragödie zugrunde liegt, und das kann uns nicht gleichgültig lassen. Noch können wir es einfach als das Extrem, den Exzeß, das Paradox einer Art religiösen Wahns betrachten, denn ganz im Gegenteil sind wir, wie ich Ihnen zeigen werde, genau an diesem Platz, wir Zeitgenossen, und zwar im Maß selbst, wie dieser religiöse Wahn uns fehlt. Beachten wir genauer, worum es für Sygne geht. Was ihr auferlegt wird, gehört nicht einfach ins Gebiet des Befehls und des Zwangs. Ihr wird auferlegt, sich freiwillig in einer Ehe zu engagieren mit dem Sohn ihrer Dienstmagd und des Hexers Quiriace. An das, was ihr auferlegt wird, kann sich für sie nur Verfluchtes knüpfen. So wird die Versagung, die Verweigerung, von der sie sich nicht lösen kann, zu dem, was die Struktur des Worts impliziert: zur Verweigerung betreffend le dit, das Gesagte. »Alles, was condition ist, Bedingung, wird zu perdition, Verderbnis, Verdammnis. Und darum wird »nicht sagen« zum »dit-non« – zum Neingesagten, Totgesagten. Wir sind diesem extremen Punkt schon begegnet, und das, was ich zeigen will, ist, daß er hier überschritten wird. Wir sind ihm begegnet am Schluß der Tragödie des Oedipus, im mè phunai 99

Regula Schindler des Oedipus auf Kolonos, diesem ›könnte ich doch nicht sein‹, was bedeutet ›nicht geboren sein‹, wo, ich erinnere sie daran, wir den wahren Platz des Subjekts finden, insofern es Subjekt des Unbewußten ist. Dieser Platz ist das mè, das ne, von dem wir in der Sprache nur Spuren eines paradoxalen Erscheinens erfassen, […] der Zipfel, die Spitze, wo sich das Subjekt zeigt, nicht das Subjekt des Ausgesagten/de l’énoncé, das das ich/je ist, jener, der gerade spricht, sondern das Subjekt dort, wo das Aussagen/ l’énonciation herkommt. Dieses ›wäre ich doch nicht, nicht da sein‹ des Oedipus, […], was wird da bezeichnet, wenn nicht, daß durch die Auferlegung eines Schicksals, die Aufbürdung parentaler Strukturen, etwas ihn bedeckt hat, das aus seinem Eintritt in die Welt den Eintritt in das unerbittliche Spiel der Schuld macht. Letztlich ist er aufgrund dieser Bürde, die er empfängt, aufgrund der até, die ihm vorausgeht, schuldig. Seither hat sich etwas anderes ereignet. Das Wort ist für uns Fleisch geworden, es ist in die Welt gekommen, und, gegen die Rede des Evangeliums, es ist nicht wahr, daß wir es nicht erkannt haben. Wir haben es erkannt und leben die Folgen dieser Erkenntnis. Wir sind in der Phase der Folgen dieser Erkenntnis, das möchte ich ihnen erläutern. Das Wort ist nicht mehr nur der Weg, in den wir uns einreihen, um, jeder von uns, unsere Bürde dieser Schuld zu tragen, die unser Schicksal ausmacht, sondern es eröffnet uns die Möglichkeit einer Versuchung, uns zu verfluchen, nicht nur als partikuläres Geschick, als Leben, sondern als Weg selbst, auf den uns das Wort verpflichtet, und als Begegnung, als Zusammenstoß mit der Wahrheit. Wir sind nicht mehr einfach der symbolischen Schuld ausgesetzt – daß wir die Schuld zu unseren Lasten haben, genau das kann uns vorgeworfen werden. Kurz, weil die Schuld, in der wir unsern Platz hatten, uns geraubt werden kann, können wir uns unserer selbst gänzlich entfremdet fühlen. Zweifellos machte uns die antike até schuldig, wenn wir ihr nachgaben, jetzt aber, da wir auf sie verzichten können, sind wir mit einem noch größeren Unglück belastet, dem, daß dieses Schicksal nichts mehr ist. Kurz, was wir wissen, was die tägliche Erfahrung uns nahe legt: was bleibt, ist das, was wir beim Neurotiker mit Händen greifen, das Schuldgefühl. Damit wird bezahlt eben dafür, daß der Gott des Schicksals tot ist. Daß dieser Gott tot sei, ist der Kern dessen, was uns Claudel präsentiert« (17. 3. 61).

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»Botschafter der Versagung«: Lacan als Leser Claudels

Lassen wir diese magistralen Bögen, an die sich viele Fragen anknüpfen könnten, für sich sprechen. Ich unterstreiche, was im partikulären Geschick einer exzentrischen Adligen des französischen 18. Jahrhunderts paradigmatisch bleibt: Der Verlust einer sicheren Verortung in der symbolischen Schuld, der diese Frau dem Signifikanten des toten Gottes, und schließlich dem »textuellen«, in la chair/das Fleisch eingewobenen Buchstaben des Kreuzes ausliefert. Ein Jenseits des Sinns, das dem Subjekt die Möglichkeit eröffnet, sich der ödipalen Schuld und Verpflichtung, und schließlich dem Wort selbst zu verweigern. Es ist eine Möglichkeit, die zur Forderung werden kann. Wir haben seit den frühen 60er Jahren, in denen dieses Seminar stattfand, das Aufblühen und Scheitern von Utopien aufgrund dieser Möglichkeit und Forderung hautnah erlebt. Daß der Zerfall der symbolischen Schuld und der damit einhergehenden traditionellen Wert-Diskurse, wie ihn Claudel uns vorführt, auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene des 20. Jahrhunderts nicht länger ignoriert werden konnte, war das eine. Zum andern erwies sich die Hoffnung auf Befreiung der Subjekte aus dem Imperativ mißliebiger Signifikanten als gefährliche Chimäre. Weder die RAF und ihre Sympathisanten noch die Spezies der neuen Natur-Romantiker, Esoteriker, Hippies haben sich der doppelten Steuerschuld entledigen können, ganz im Gegenteil haben sich ihre Wortführer in obskuren Meistersignifikanten verfangen, die im Endeffekt nur noch den Ausweg brutaler Gewalt und/oder der Selbsthypnose im Drogenrausch offenließen. Die heutige Ernüchterung, in unseren Breiten, in bezug auf Befreiungs- und Heils-Utopien aller Art, hat die bekannte Ratlosigkeit hinterlassen, und die Bereitschaft wächst an, sich irgendwelchen vom Zeitgeist heraufgespülten Signifikanten zu unterwerfen und/oder sich auf »den Körper« zurückzuziehen. Den Mut und die Fähigkeit, die heutigen subjektiven Positionen, Symptome und Pathologien auf die untergründig christlichen Strukturen des zum Fleisch gewordenen Worts hin zu reflektieren, ist wohl mit Lacan untergegangen. Die analytische Zunft hat zu den kulturellen Phänomenen im weitesten Sinn, zum rasanten Fortschritt der Bio-Wissenschaften und Organ-Manipulations-Techniken, offenbar nichts mehr zu sagen. Eine gewisse Selbstbeschei101

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dung vis-à-vis dem vollmundigen Deuten globaler Phänomene, die uns überrollen, ist denn auch Teil der analytischen Versagung. Eine Hypothese betreffs derer, die unter anderem auch unsere Praxen bevölkern, sei immerhin erlaubt: Die sogenannten »neuen Störungen«, die wohl so neu nicht sind, die sich aber, wie der Drogenkonsum, sozusagen demokratisiert haben – von den Fitneßund Schönheits-Obsessionen über Anorexie/Bulimie bis zum Sichzufügen von Schnitten und Wunden –, sprechen die Sprache einer generalisierten Psycho-Somatik: Dem Fleisch wird aufgebürdet, um so Unermeßlicheres zu leisten, je zeichenhafter und herrischer die Signifikanten werden, denen geopfert wird. Keine moralisch-pädagogische Aufrüstung, schon gar nicht die pseudo-lacanistische Propagierung einer längst subvertierten und fragmentierten »symbolischen Ordnung«, kann hier Abhilfe schaffen. Lacans Appell: Eure Position als Analytiker kann nur die der Ur-Versagung sein, hat mit dem Versagen irgendwelcher Gratifikationen im üblichen Sinn nichts zu schaffen – auch nicht mit dem Versagen kleiner Freundlichkeiten, Späße, Provokationen. Daß die Lacansche Praxis dergleichen eingesetzt hat und nach wie vor einsetzt, weiß man inzwischen. Der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Die Unverbürgtheit des Signifikanten-Wissens eröffnet das weite Feld einer Tragik, die mit der Komik, ja der Farce, kodimensional ist. Die Versagung, um die es geht, ist die Versagung des Versprechens, ein Signifikant oder eine bestimmte Konstellation von Signifikanten könnte dem Subjekt den Sinn seines Lebens, sein Schicksal weisen. »Wer einmal erfahren hat, wie die Flügel des Schicksals sich dem geheimen Wunsch in uns fügen, der trennt sich nur schwer davon«, sagt eine Claudelsche Figur (Don Pelayo im Seidenen Schuh zur Entscheidung seiner Ehefrau Proeza, allein nach Mogador zu gehen und dort zu leiden). Man denke an Lumîr, die »ihrem Schicksal entgegengeht«; diese Art des Genießens kann und darf die Analyse nicht unterstützen.8 Damit ist sie Versagung des Opfers, das stets den Signifikanten 8

Ich verdanke dieses Zitat und manche Anregung meinem Zürcher Kollegen Beat Keller.

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anvisiert. Es wäre verfehlt, zu glauben, wir hätten das Opfer überwunden, weil der symbolischen Schuld, und damit dem Begriff des Schicksals, mangels eines verläßlichen Referenten im Andern der Boden entzogen worden ist. Bekannt genug sind uns jene Neurotiker, die in einem ständigen Opfer-Versuch befangen sind, der, da er nie beim Andern ankommt, sich endlos verzweigt und das Subjekt jenen Schuldgefühlen ausliefert, mit denen es sich und uns peinigt. Schon eher verkannt wird die Dimension des Opfers bei denen, die uns mit diversen Symptomen der Selbstzerstörung in Trab halten. Sie der Symbolisierungs-Störungen zu bezichtigen, hilft da gewiß nicht weiter. Die Süchtigen, Phobischen, »Neu-Gestörten« sind der Gestörtheit des Symbolischen, seiner Inkonsistenz, direkter ausgesetzt, und sie sind oft intelligenter als ihre Therapeuten: sie lesen zwischen den Zeilen. Es ist die andere Seite jener doppelten Steuerauflage der Signifikanten, die hier deutlicher zum Zug kommt: wo der Glaubenswert der Wörter schwindet, muß mit la chair, mit dem Körper selbst bezahlt werden. Nicht, daß die Neurotiker dies, hinter ihrem Wort-Panzer, nicht auch täten. Die Position der Versagung, so Lacan, ist die, den Platz des fehlenden Referenten im Andern, den Platz des fehlenden Signifikanten, der dem Subjekt sein Schicksal weisen könnte, leer zu halten, offen zu halten, damit die spezifischen Signifikanten, die dieses Subjekt geprägt haben, ihn durchlaufen können, und damit in ihren Intervallen etwas vom »Objekt« erscheint, vom Rest eines Seins des Subjekts, »des Zipfels, der Spitze, wo sich das Subjekt zeigt, nicht das Subjekt des Ausgesagten, das ich/je dessen, der gerade spricht, sondern das Subjekt dort, wo das Aussagen herkommt«. In diesen Intervallen erscheint die Angst, die ein Heraufkommen des Begehrens anzeigt, und Versagung heißt hier, sich und seinen Analysanden das Signal der Angst zu versagen (31. 3. 61). Die Versagung durchquert einen Nullpunkt, von dem aus sich das Begehren neu konfigurieren kann. Die Trilogie nimmt ihren Fortgang, das Seminar auch. Sygnes Verweigerung, als Heilige in Gott einzugehen, hat den folgenden Generationen die Tür einen Spalt weit geöffnet und »dem Tragischen einen neuen Sinn« gegeben. Sie bäumt sich auf gegen den Gott, den Badilon, der Heilige, ihr als 103

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den Namen eines monströsen Genießens anbietet: Würde sie es annehmen, wäre das das Ende aller Tage – es bliebe ein »Es ist vollbracht«. Hier ist nichts vollbracht. Die psychosomatische Geste der Kreuzwerdung bleibt dunkel und ruft gerade deshalb nach Deutung. Sie kann zumindest doppelt gelesen werden: Als Verwerfung des Glaubenswerts des Worts und als Bodensatz seiner wie auch immer gearteten Wiederaufrichtung. Die Überkreuzungen von Tod und Auferstehung, Fleisch und Geist sind unserer Tradition, der christlichen, seit jeher eingeschrieben. Ist ein »Jenseits jeden Glaubenswerts« ein Jenseits allen Glaubens? Eine, wie mir scheint, eminent klinische Frage, die Lacan später, im Seminar Encore, mit »Gott ist unbewußt« anders nuanciert. Ob Gott tot sei oder unbewußt: Das Wort jedenfalls setzt uns weiterhin unter Doppel-Steuerpflicht, und die, sagt Lacan, ist nicht mit Worten allein zu begleichen. Was den Wert der analytischen Verbal-Deutung noch vor aller Sinn-Deutung in Frage stellt. Es war gewiß keine bloße Marotte eines kranken alten Mannes, die Deutung schließlich in einem »Diskurs ohne Worte« zu situieren und dessen »Resonanzen im Realen« anzupeilen – ohne die Ethik des bien-dire je zu verwerfen. Nochmals: Wozu fordert Lacan die Analytiker auf, wenn er sie »Botschafter und Vehikel der Versagung« nennt? Dazu, den Analysanden mit ihren Allerwelts-Geschichten das Niveau und den paradigmatischen Wert einer Claudel-Figur zuzumuten; über ihren Allerwelts-Symptomen nicht zu vergessen, daß sie unter der doppelten Steuerauflage unverbürgter Signifikanten stehen, und daß die Versuchung, sich deren vom Un-Sinn durchkreuzten Sinn zu opfern, eher zu- als abnimmt. Noch zu vergessen, daß auch bei den Subjekten, die die Analyse praktizieren, der textuell eingewobene, psychosomatische Zug des Begehrens ihr Wissen und ihre Affekte steuert und ihnen versagt ist, als Subjekte einen Platz zu verstopfen, der der Platz des sens blanc, des »leeren Sinns«, und des semblant, des Scheins ist, Schein der Ursache/cause. Die Signifikanten sind Marter-, Angst- und Genußinstrumente par excellence. Wir sind nicht die Vollzugsbeamten dieser Marter und 104

»Botschafter der Versagung«: Lacan als Leser Claudels

dieses Genießens. Wie weit wir der Konfigurierung des Begehrens in seiner Destruktivität Lauf lassen können, damit sind wir je allein. Das Übertragungs-Seminar schließt mit diesem Satz: »Mit jedem Beliebigen können Sie die Erfahrung machen, zu wissen, bis wohin Sie im Befragen eines Wesens zu gehen wagen, auf das Risiko hin, Ihr eigenes, du disparaître/des Verschwindens, der Auflösung.«

Was weder den Reichtum dieses Seminars an klinischen Details, Anregungen, Reflexionen, noch den heiteren Ton, der den melancholischen sekundiert, zum Verschwinden bringt.

1. L’OTAGE/DIE GEISEL

M. Badilon

Papst

Sygne de Coûfontaine

Georges de Coûfontaine

»marque du signifiant«

2. LE PAIN DUR/ DAS HARTE BROT

Toussaint Turlure

Louis de Coûfontaine

»passion de l’objet«

Sichel

Lumir

3. LE PÈRE HUMILIÉ/ DER GEDEMÜTIGTE VATER

Pensée de Coûfontaine

Orian

»configuration du désir«

»das Kind«

Orso

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Claus von Bormann

Idealisierung der Frau oder Sublimierung der Liebe? »Leila und Madschnun« und »Tristan und Isolde« – der höfische Roman im Orient und im Okzident

Freud unterscheidet in seiner »Einführung des Narzißmus« sehr genau zwischen den beiden genannten unbewußten Prozessen.1 Lacan nimmt diese Differenzierung in seiner »Ethik der Psychoanalyse« mehrfach auf, legt den Akzent allerdings allein auf die Sublimierung und ordnet ihr die Idealisierung unter.2 Denn nur die Sublimierung artikuliert das Begehren nach einem nie erreichbaren Objekt, insofern das immer schon verlorene Objekt das Verhältnis zu einem jenseitigen »Ding« anzeigt. Diesen Begriff der Sublimierung wendet er auf die Verhältnisse der höfischen Liebe an, die das Streben nach dem Offenen und Fehlenden des Dings als vorbildlich für die psychoanalytische Ethik verkörpert. Ich versuche, beide Ansätze zu verbinden, die Freudsche Unterscheidung festzuhalten sowie die Lacansche Anwendung fruchtbar zu machen, indem ich eine klassische europäische Ausprägung des höfischen Liebesromans mit einem eben solchen Klassiker der islamischen Überlieferung konfrontiere. Vielleicht wirft dieser Vergleich ein Licht auf die Differenz der Erotik in Orient und Okzident und damit auch auf die verschiedenen Kulturen. Freud also unterscheidet zwischen Sublimierung und Idealisierung. »Die Sublimierung ist ein Prozeß an der Objektlibido und besteht darin, daß sich der Trieb auf ein anderes, von der sexuellen Befriedigung entferntes Ziel wirft; der Akzent ruht dabei auf der Ablenkung vom Sexuellen. Die Idealisierung ist ein Vorgang mit dem Objekt, durch welchen dieses ohne Änderung seiner Natur vergrößert und psychisch erhöht wird. […] So ist zum Beispiel die Sexualüberschätzung des Objektes eine Idealisierung desselben. Insofern also Sublimierung etwas beschreibt, was mit dem Trieb, Idealisierung etwas, was am Objekt vorgeht, sind die beiden be1 2

Sigmund Freud (1914c): Zur Einführung des Narzißmus. S.A. III, S. 61 f. Jacques Lacan (1996): Die Ethik der Psychoanalyse. Weinheim, Berlin (Quadriga) (franz.: Paris 1986), Kap. VII–XII.

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grifflich auseinanderzuhalten.«3 Wer idealisiert, erhebt sein Objekt zum Ideal und stellt hohe Ansprüche an sich selbst, er identifiziert sich mit seinem Objekt, das seine »Natur« behält, also es selbst bleibt, aber sein Triebanspruch kann ganz »primitiv libidinös« (Freud) bleiben. Wer dagegen sublimiert, verfeinert seine Triebregung, zumindest nach ihrem Ziel, möglicherweise aber auch im Verhältnis zu ihrem Objekt, indem er das Objekt wechselt oder verallgemeinert. Weil die Idealisierung auf dem Ichideal beruht, von der Selbstachtung des Ichs getragen ist, stellt sie eine der stärksten Kräfte zur Verdrängung dar, führt also leicht zur neurotischen Erkrankung. Dagegen kann die Sublimierung die Anforderungen des Ichideals – durch Verschiebung – erfüllen, ohne die Verdrängung und damit die Neurose nach sich zu ziehen. Sublimierung ist ein alter Begriff, stammt vom lateinischen »sublimis« ab: hoch, sich hebend, erhaben, in der Luft; er soll im Umkreis des deutschen Idealismus ausdrücken, daß etwas in seiner unmittelbaren Realisierung blockiert und dadurch indirekt in eine höhere Form gebracht wird, eine Art »Vergeistigung« erfährt. Idealisierung wird dagegen erst im 19. Jahrhundert vom idealistischphilosophischen Begriff des Ideals abgeleitet, der bei Schiller etwa den Höhepunkt einer künstlerischen, persönlichen oder geschichtlichen Entwicklung meint und zugleich als Leitbild dient. Daraus ergeben sich die von Freud für beide Begriffe in Anspruch genommenen Bedeutungen. Die Sublimierung entsteht nach ihm aus dem Sexualtrieb – und zwar ausschließlich aus ihm, auch nach den späteren Überlegungen Freuds nicht aus dem Destruktionstrieb, wie andere Analytiker meinen. Jener »stellt der Kulturarbeit außerordentlich große Kraftmengen zur Verfügung, und dies zwar infolge der bei ihm besonders ausgeprägten Eigentümlichkeit, sein Ziel verschieben zu können, ohne wesentlich an Intensität abzunehmen. Man nennt diese Fähigkeit, das ursprünglich sexuelle Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles, aber psychisch mit ihm verwandtes, zu vertauschen, die Fähigkeit zur Sublimierung.«4 Wichtig für die Definition der Sublimierung ist vor allem, daß die 3 4

Freud, a. a. O., S. 61; Hervorh. C. v. B. Sigmund Freud (1908d): Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität. S.A. IX, S. 18; Hervorh. C. v. B.

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Befriedigung im sublimierten Genießen gegenüber dem ganz sinnlichen Genuß nicht »wesentlich an Intensität« abnimmt. Doch betonen sowohl Freud als auch Lacan, daß »ein gewisses Maß direkter sexueller Befriedigung […] unerläßlich (scheint), und die Versagung dieses individuell variablen Maßes […] sich durch Erscheinungen (straft), die wir […] zum Kranksein rechnen müssen,«5 daß »da etwas ist, das nicht sublimiert werden kann, es gibt eine libidinöse Forderung, die Forderung einer bestimmten Dosis, eines bestimmten Satzes an direkter Befriedigung, in dessen Ermangelung es in der Folge zu Schäden und schweren Störungen kommt«.6 Denn, wie Freud an späterer Stelle sagt, die Befriedigungen etwa des Künstlers durch sein Schaffen, des Forschers am Erkennen der Wahrheit mögen zwar »höher und feiner« erscheinen, also sublimiert, »aber ihre Intensität ist im Vergleich mit der aus der Sättigung grober, primärer Triebregungen gedämpft; sie erschüttern nicht unsere Leiblichkeit«.7 Die Idealisierung erwächst aus dem Ichideal, einem Ideal, das dem narzißtischen Idealich und dem Gewissen, das unter dem Einfluß der Eltern und anderer Instanzen der menschlichen Gesellschaft gebildet und später als Überich bezeichnet wird, entspricht.8 In gewisser Weise verschiebt sich das Ichideal nach außen, so daß es nach dem Untergang des Ödipuskomplexes dem anderen Inhalt des Ichs als ein fremdes Ideal, als Schuldgefühl, das die Idealbildungen der Gesellschaft in sich aufgenommen hat, meist sogar als strafend, gegenübertritt.9 Ein großer Teil der psychischen Entwicklung des Menschen besteht darin, dieses Ideal zu erfüllen, das er als »Ersatz für den verlorenen Narzißmus seiner Kindheit« vor sich hin projiziert und das er in einem äußerlich aufgenötigten Ichideal unter bestimmten Umständen wiederzufinden glaubt.10 Dieses Ideal kann nun, gerade wenn es Erfolg hat, wenn das Subjekt den Anforderungen von dessen Moral oder auch Hypermoral gehorsam folgt, äußerst streng und aggressiv sein; es ist ja durch die 5 6 7 8 9

Freud, ebd., S. 19. Lacan: Ethik, a. a. O., S. 114; franz.: p. 110. Sigmund Freud (1930a): Das Unbehagen in der Kultur. S.A. IX, S. 211. Freud: Narzißmus, a. a. O., S. 60 und 62. Sigmund Freud (1923b): Das Ich und das Es. S.A. III, S. 301; Unbehagen, a. a. O., Kap. VII.

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Identifizierung mit den strafenden Instanzen in der Außenwelt und in sich selbst entstanden und kann daher gerade bei an sich untadeligem Verhalten ganz aggressiv gegen das Subjekt vorgehen und entsprechende Schuldgefühle erzeugen. Da diese Identifizierung aber auch als Sublimierung verstanden wird, denn sie ist eine Folge des Ödipuskomplexes, kommt der Schein zustande, auch aggressive Strebungen würden sublimiert.11 Die klare Unterscheidung, die Freud ursprünglich zwischen Sublimierung und Idealisierung macht, scheint sich dabei zu verwischen. Wenn wir jetzt den beiden Romanen der höfischen Liebe zuhören, sie vergleichen und je den beiden psychischen Prozessen zuzuordnen suchen, so wird manchem vielleicht zunächst schwerfallen, im abendländischen Epos der unglücklichen Liebe vor allem Sublimierung zu finden und im arabisch-persischen Mythos vom tragischverrückten Liebenden die Idealisierung am Werk zu sehen. Denn das erste schildert doch ganz unverhohlen die körperliche Liebe der beiden einander in verbotener Weise Verfallenen, während der zweite die reine Liebe von Leila und Madschnun ganz ins Geistige erhebt. So sollen erst einmal die Texte sprechen, bevor sich die psychoanalytische Deutung ihnen nähert. Fast jeder kennt das Epos von Tristan und Isolde und sei es in der Version von Wagners Oper. Denis de Rougemont nennt es »Mythos«, weil es in einer exemplarischen Weise das Liebesverhältnis von Mann und Frau darstellt, wie es im europäischen Adel des 12. und 13. Jahrhunderts begründet wurde – in der Literatur, nicht etwa schon in der gesellschaftlichen Wirklichkeit – und noch heute gilt: den »Kultus der leidenschaftlichen Liebe« als einen Mythos vom Ehebruch.12 Es existieren aus dem 12. Jahrhundert zumindest fünf Versionen, die in dem Roman »Tristan und Isolde« von Joseph Bédier von 1901 zusammengestellt sind.13 Ich hebe nur die wichtigsten Gesichtspunkte hervor. Tristan 10 11 12

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Freud: Narzißmus, a. a. O., S. 61 und 66. Freud: Das Ich und das Es, a. a. O., S. 320 f. Denis de Rougemont (1939, 2. Aufl. 1956): Die Liebe und das Abendland. Zürich (Diogenes) 1987, S. 30. Tristan und Isolde. Roman von Joseph Bédier (1979). Deutsch von Rudolf G. Binding. Frankfurt a. M. (Insel).

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erringt die Liebe von Isolde durch mehrere Listen: Er tut, als werbe er selbst um sie und beschwichtigt so ihren Zorn, als sie in ihm den Mörder ihres Onkels Morholt erkennt, doch tritt er als Brautwerber seines Onkels Marke auf. Beide trinken auf der Überfahrt von Irland nach Cornwall versehentlich von einem für König Marke bestimmten Liebestrank und verfallen nun der leidenschaftlichsten Liebe zueinander, die sie schon auf der Fahrt und dann neben der Ehe Isoldes mit Marke, ohne voneinander lassen zu können, verwirklichen. Tristan hält aber trotzdem an seiner Vasallentreue und Liebe zu seinem Onkel, der ihn einst wie einen Sohn aufgenommen hat, fest, indem er ihm seine Braut übergibt. Er vereinigt in sich die Liebe zu Isolde und die Treue zum Onkel ebenso wie Isolde die Verehrung und Liebe zum König und die Leidenschaft zu Tristan. Sie überleben den Verrat ihres Ehebruchs und viele Tücken von Neidern durch Listen, Abenteuer und sogar einen formal zwar richtigen, inhaltlich aber falschen Eid Isoldes in einem Gottesurteil. Nach drei Jahren einsamer Liebe im Wald, wohin sie geflohen waren, verlassen sie einander scheinbar – nach der ursprünglichen Version, weil der Liebestrank nun aufgehört hat zu wirken –, nach der vorliegenden Erzählung aber, weil beiden ihre Handlungsweise dem König gegenüber, der sie entdeckt, aber großmütig verschont hat, leid tut und weil Isolde das Hofleben und Tristan die Abenteuer locken. Aber die Liebenden versprechen einander, sich wiederzusehen und auf ein verabredetes Zeichen hin unbedingt zueinander zu eilen. So geschieht es, Isolde kehrt zu König Marke zurück, Tristan zieht auf der Suche nach Abenteuern nach Frankreich, heiratet sogar eine andere Isolde »um ihres Namens und ihrer Schönheit willen«. Aber endgültig kommen sie erst wieder zueinander, als Tristan an einer Wunde stirbt, für deren Heilung Isolde trotz des gesandten Zeichens aufgrund einer List der eifersüchtigen zweiten Isolde zu spät kommt, so daß ihr nur bleibt, ihm nachzusterben. Die Autoren stellen den listenreichen und seinem König untreuen Tristan als ein Muster von Ritterlichkeit dar und beschreiben die ehebrecherische Isolde als tugendhafte Frau, die ehrgeizigen Barone dagegen, die Markes Ehe verteidigen wollen, gelten ihnen als »Verräter«. Im Epos rebelliert, wie Denis de Rougemont ausführt, die höfische Liebe der Troubadoure gegen das überkommene Institut 110

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der feudalherrschaftlichen Ehe, in der die Frau eine Art von Besitz des Herrn darstellt. Entscheidend werden die Liebe und Treue gegenüber der erwählten Dame, dem »domnei«, Eherücksichten werden sekundär. Darum auch geht die Liebe, wie im höfischen Liebesverhältnis überhaupt, unglücklich aus: Tristan wirbt Isolde für jemand anderen, obwohl sie einander lieben; sie treffen sich nur im Ehebruch, obwohl Tristan sie nach dem Recht des Stärkeren entführen können hätte; sie trennen sich wieder, obwohl sie einander noch lieben, Isolde kehrt zu Marke, Tristan in seine Heimat zurück; Tristan heiratet sogar, obwohl er wegen seiner eifersüchtigen Ehefrau dann sterben muß. Denis de Rougemont deutet dieses paradoxe Liebesverhältnis: »Sie bedürfen einander, um zu brennen, aber nicht einer des anderen so, wie er ist, auch nicht der Gegenwart des anderen, sondern vielmehr seiner Abwesenheit! Die Trennung der Liebenden geht so aus ihrer Leidenschaft selbst hervor und aus der Liebe, die sie mehr zu ihrer Leidenschaft als zu ihrer Befriedigung, als zu ihrem lebendigen Gegenstand in sich tragen.«14 Es gibt eine alte, bis in vorislamische Zeit zurückreichende persische Version des Konflikts der Tristanerzählung, »Wîs und Râmîn«, die genau dieselbe Handlung wiedergibt bis auf ein charakteristisches Detail: Der Liebhaber der Königin, Râmîn, der junge Bruder des Königs, empört sich gegen diesen, der König wird durch Zufall getötet, und Râmîn erbt Thron und Gemahlin. Für den Liebestrank des Tristanstoffes tritt ein Talisman ein, der es vermag, die Potenz des Königs außer Kraft zu setzen, so daß die anstößige doppelte erotische Beziehung der Königin entfällt und der Ehebruch im milderen Lichte erscheint.15 Noch keuscher, geradezu rein stellt sich das orientalische Epos von der höfischen Liebe dar, »Leila und Madschnun«. Aus vielen verstreuten arabischen Leila-Madschnun-Erzählungen, die im Bereich des heutigen Arabiens und Iraks spielen, formt der persische Dichter Nizami am Ende des 12. Jahrhunderts ein großes Epos,16 14 15

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Denis de Rougemont, a. a. O., S. 50. Elisabeth Frenzel (1988): Stoffe der Weltliteratur. 7. Aufl. Stuttgart (Kröner), S. 755 f. Nizami (1963): Leila und Madschnun. Deutsch und mit einem Nachwort von Rudolf Gelpke. Zürich (Manesse), 7. Aufl. 1996.

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das eine eindrückliche Wirkung zeigen sollte: mehr als hundert es nacherzählende Romane. Von persischen Herausgebern ist es vor allem mit Shakespeares »Romeo und Julia« verglichen worden. Folgendes ist der Kern der Erzählung, wie sie zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert bei den Arabern überliefert wurde: Der Knabe Qeis begegnet als Hirtenjunge dem Mädchen Leila. Beide entbrennen in heftigster Liebe zueinander. Aber Leilas Vater will von einer Heirat nichts wissen, was zumeist damit begründet wird, daß Qeis die Ehre des Mädchens und damit auch der Sippe durch seine öffentlichen Liebesgedichte verletzt habe. Leila wird ungefragt einem anderen zur Frau gegeben. Nun steigert sich das Liebesleid des Jungen zur Verrücktheit: Qeis wird »Madschnun« (ein Verrückter). Umsonst pilgert sein Vater nach Mekka mit ihm, umsonst sind alle Ermahnungen seiner Angehörigen, sich zu beherrschen. Madschnun verläßt Heimat, Eltern und Stamm. Er durchirrt allein, nackt und ziellos die Felsgebirge der Wüste von Nadschd. Die Augen der Gazellen erinnern ihn an die verlorene Geliebte. Niemand kann ihm helfen, niemand ihn einfangen. Er weiß und spricht von nichts anderem mehr als von Leila. Auch dichtet er ständig Verse auf sie, die teilweise von anderen gesammelt werden und ihn und seine Liebe berühmt machen. In äußerster Einsamkeit und innerer Umnachtung stirbt er.17 Nizami übernimmt die Geschichte, verändert und ergänzt sie allerdings in wichtigen Teilen: Die Liebenden lernen sich als Kinder aus edlen Familien in der Schule kennen, wachsen miteinander auf und fallen so in Liebe zueinander. Sie versuchen sich zu beherrschen und einander zu meiden, als der Klatsch über ihre Liebe beginnt, aber vor allem Qeis gelingt es nicht, er wird als »Madschnun« verspottet. So behalten Leilas Eltern ihre Tochter zu Hause und schirmen sie vor dem verliebt-vernarrten Jüngling ab. Leila »vergoß ihre einsamen Tränen.« (S. 21) Madschnun, so heißt er nun, »macht die Sehnsucht erst recht zum Sklaven der gefangenen Geliebten«, er irrt umher und besingt sie. (S. 23) Eines Tages sieht er sie unverschleiert im Zelt sitzen, und sie sieht ihn. Keiner rührt sich, nur ihre Augen begegnen sich und ihre Stimmen liebkosen einander klagend, »eine Laute war Leila – und die Fidel Madschnun«. 17

Nizami, a. a. O., Nachwort von R. Gelpke, S. 321 f.

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(S. 29) Doch Madschnun flieht davon, »so floh er denn vor Leila, um weiter nach Leila zu suchen«. (S. 30) Madschnun zieht sich in die Wildnis zurück und lebt mit den Tieren und wie ein Tier, doch seine Gedichte auf Leila sind ohne Makel, und gelegentlich findet eines von ihnen zu Leila und bestärkt sie in ihrer Liebe. Ein tapferer und mächtiger Beduinenfürst, Noufal, gewinnt Madschnun zum Freund und will ihm helfen. Die einzige Hilfe, die er geben kann, ist, Leilas Stamm anzugreifen und die Liebenden mit Gewalt zu vereinen. Doch Madschnun steht in der Schlacht zwischen den Heeren, er kann nicht für seine Freundin kämpfen. »Sterben will ich für die Geliebte, nicht töten. Wie sollte ich also, da ich mich selbst so aufgegeben habe, auf eurer Seite stehen können«, entgegnet er einem Krieger, der ihn zum Kampf für seine Liebe auffordert. (S. 112) Madschnun zieht sich wieder in die Wüste und zu den Tieren zurück. Leilas Vater verheiratet seine Tochter schließlich mit dem edlen Ebn Salam, der schon vorher um sie geworben hat, aber Leila weigert sich, sein Lager zu teilen, eher wolle sie sterben. Sie bleibt keusch in der Ehe und wartet nur immer auf ein Zeichen von Madschnun. Doch der hat sich als Wilder in der Wildnis verloren. Als sein Vater ihn besucht, ihn zurückzuholen, entgegnet er ihm: »Ich habe nicht nur dich verloren; ich kenne auch mich selber nicht mehr. Wer bin ich? Ich drehe mich um mich selbst und rufe: ›Wie heißt du? Liebst du? Und wen? Oder wirst du geliebt? Von wem? […]‹ Eine Glut ist in meinem Herzen, eine Glut ohne Maß, und sie hat alles von meinem Ich zu Asche verbrannt. […] Mich zieht es zum Tod – der Tod sitzt in mir.« – »Er war ein Gefangener im Reich der Liebe, und von dort holte ihn niemand zurück.« (183 ff.) Er denkt auch nicht einmal mehr an Leila, sie ist in ihm. »Ein Name ist besser als zwei. Einer genügt für uns beide. Wenn ihr wüßtet, was ein Liebender ist, so wüßtet ihr auch, daß man nur ein wenig kratzen muß an ihm, und schon tropft die Geliebte heraus […]« (S. 195) Auch Leila leidet wie er, als Frau kann sie nicht handeln wie er, aber sie sehnt sich nach Nachricht von ihm, und so schreiben sich beide geheime Briefe, in denen sie ihre Treue zueinander beschwören, er mit bitterer Eifersucht. Leila trifft sich heimlich mit Madschnun, zehn Schritte voreinander bleiben sie stehen. Madschnun versinkt in Ohnmacht, wiedererweckt rezitiert er seine Verse an Leila, flieht dann aber, 113

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»denn war er auch trunken vom Dufte des Weines, den Wein zu trinken ist im Paradies erst erlaubt«. (S. 279) Sein Wahlspruch ist der eines Derwischs geworden: »Frei ist, wer nicht mehr begehrt.« (S. 254) Als erster stirbt der Gatte Leilas, an Kummer über seine vergebliche Liebe; nun ist Leila erlöst, endlich kann sie weinen und klagen, wie es ihr zumute ist. Aber auch ihre Kraft schwindet, und sie stirbt, mit ihren Gedanken bei Madschnun. Madschnun eilt herbei, wahnsinniger denn je in seiner Klage um sie, und stirbt am Grab Leilas. Man bestattet ihn neben der Geliebten. Daß dieses Epos keine Episode ist, sondern eine kollektive Phantasie im Islam trifft, bezeugt die Überlieferung mit vielen analogen Geschichten.18 Die Idealisierung der Frau führt bis in die islamische Mystik und zu einem häufigen dichterischen Vergleich der Geliebten mit der Kaaba, dem verhüllten Zentralheiligtum des Islams in Mekka.19 Aber es handelt sich ganz um Idealisierung mit allen ihren Problemen, was das Verhältnis der Geschlechter anbelangt. Überschätzung des Liebesobjekts und Entwertung des Subjekts sowie deren Umkehrung gehören zusammen. Man idealisiert die jungfräuliche Frau, die schöne Frau, die Frau im Harem; die Konkubine erregt mehr Interesse als die Gattin, wird aber auch mehr verachtet, noch mehr die Sklavin, von der man »besondere Dienste« erwarten kann. Dieses Weiblichkeitsideal als Inbegriff von Schönheit, Schamhaftigkeit und Keuschheit ist zutiefst zweideutig. Einerseits werden die Frauen in der Mystik als »Manifestationen des Einen« gesehen, »nicht nur der Teil (die Frau, einst aus Adams Rippe geschaffen) sucht wieder das Ganze, sondern das Ganze sucht nach dem von ihm getrennten Teil. Mann und Weib gehören unlösbar zueinander, und nur ihr harmonisches Zusammen […] macht das eigentliche Leben aus.«20 Andererseits hängt die Ehre der Frau, des Mannes, ja der Sippe an der züchtigen Haltung der Frau. Die Bereiche des Weiblichen, die Jungfräulichkeit, der weibliche Körper, seine keusche Verschleierung, die eheliche 18

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Malek Chebel (1997): Die Welt der Liebe im Islam. Eine Enzyklopädie. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), S. 278 ff.; Annemarie Schimmel (1995): Meine Seele ist eine Frau. Das Weibliche im Islam. München (Kösel), S. 98 ff. Schimmel, a. a. O., S. 99 f., 147 f. Ebd., S. 185.

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Treue der Frau als höchstes Symbol der Ehre, zeigen, daß der Begriff der Ehre letztlich sexuell, und zwar durch die Sexualität der Frau bestimmt ist. Indem in der Idealisierung das Objekt so behandelt wird wie das eigene Ich, kann es dazu dienen, »ein eigenes, nicht erreichtes Ichideal zu ersetzen«, das Objekt wird immer großartiger, das Ich immer anspruchsloser, bis das Objekt das Ich sozusagen aufgezehrt hat. Das ist der Überschritt von der Sexualüberschätzung zur verliebten Hörigkeit und zur Melancholie.21 Doch das Umschlagen ins Gegenteil ist immer möglich, es kann ein Zurückziehen der Libido und damit eine Rückkehr zum Narzißmus einsetzen, mit grausamen Konsequenzen fürs Ich, aber vor allem fürs Objekt. Bei verletzter Ehre kennt das islamische Recht keinen Pardon für die Frauen, wie heute noch übliche Ehrenmorde bei vorehelicher Sexualbetätigung oder Steinigungen bei Ehebruch – immer nur von Frauen – zeigen. Wenn wir nun noch abschließend die Sublimierung der Liebe in dem Roman von Tristan und Isolde suchen wollen, so fällt sofort eine Diskrepanz zu den Freudschen Bestimmungen auf. Freud schreibt von der Verschiebung der sexuellen Triebe auf nicht sexuelle Ziele, in den späteren Schriften sogar von einem »Aufgeben der Sexualziele, einer Desexualisierung«.22 Aber was ist deutlicher im Tristanmythos als das unbeirrte Beharren auf der sexuellen Betätigung, dem sexuellen Ziel und dem sexuellen Objekt, über alle möglichen moralischen und loyalen Bedenken hinweg? Man muß Lacans Überlegungen zu Hilfe nehmen, wenn man die Sublimierung besser verstehen will. Lacan erinnert zu Beginn seiner Gedanken zur Sublimierung im Anschluß an Freud daran, wie ungeheuer verschiebbar, ja plastisch die sexuellen Triebe sind, daß diese Verschiebbarkeit bei Quelle, Objekt und Ziel des Triebes nach Freud geradezu das Wesen der Triebe ausmacht, wie aus der »Anlehnung« an Körperfunktionen und ihrer Umkehrung deutlich wird.23 Das Wesen der Sublimierung liegt dann allein in der Verschiebbarkeit des Triebes ohne irgendeine Richtungsangabe nach

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22 23

Sigmund Freud (1921c): Massenpsychologie und Ich-Analyse. S.A. IX, S. 102 ff. Freud: Das Ich und das Es, a. a. O., S. 298, vgl. S. 311. Lacan: Ethik, a. a. O., S. 113 ff.; franz.: p. 109 ff.

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oben oder unten, so daß der ursprüngliche Wortsinn der Verfeinerung bedeutungslos wird. Entscheidend ist für Lacan jedoch eine grundsätzliche Bestimmung des Objekts. Das Problem der Sublimierung ist zu suchen in der Differenz zwischen dem Objekt und dem »Ding«, insofern dieses auf ein Jenseits des Gesetzes anspielt, eine Leere, die den Ort der Erotik anzeigt.24 Das Objekt ist aber kein konkreter Mensch oder gar Partner in einem Liebesverhältnis, es »spezifiziert die Richtungen, die Attraktionspunkte für den Menschen in seinem Offenen, in seiner Welt«. Es gibt die Richtung eines unerfüllbaren Begehrens vor. Auf diese Weise erhebt die Sublimierung »ein Objekt zur Würde des Dings«, und die höfische Liebe verkörpert die Sublimierung in dem insistierenden Streben nach dem weiblichen Objekt, dem keine wirkliche Frau je genügen kann.25 Die höfische Liebe kreist um die Leere des Begehrens und die Unerreichbarkeit des Objekts – trotz aller Befriedigungen, die es zwischenzeitlich geben mag –, und darum kann die Liebe von Tristan und Isolde vielleicht als Beispiel der so schwer verständlichen und noch schwerer zu verwirklichenden Sublimierung dienen.

24 25

Ebd., S. 102, 122, 160; franz.: p. 100, 117 f., 155. Ebd., S. 138 f., 155 f.; franz.: p. 133 f., 150 f.

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Jean Clam

Das Weib und das Ende der Verführung im Houellebecqschen Roman

Der Houellebecqsche Roman Die Romanschrift Houellebecqs1 hat keinen Stand in der Tradition des literarischen plaisir du texte und der literarisierten, in einem besonderen Setting von Romanlektüre verankerten sublimierenden Sage der Liebe. Wenn Céline sich entschieden außerhalb der literarischen Tradition stellt, dann ist dies, um eine eigene schöpferische Sagegewalt zu entfalten, deren Inventivität stets beeindruckt und die der traditionellen Schrift überbietet. Houellebecq hingegen stellt sich auch im Literarischen – d. h. nicht nur im Erotischen – auf die Seite der Ausgeschlossenen und Verlierer2. Er schreibt wie ein internaute3: sein Stil läßt totalen Mangel an literarischer Bildung, aber Vertrautheit mit der Schreibweise von Science-fictionErzählungen ahnen. Er schreibt wie Leute aus den technischen Berufen oder wie Amateurschriftsteller, die Narrationen sehr schlicht an Ereignisfolgen als solchen artikulieren, unbekümmert um Feinbeschreibung und Nuancierung von Kontexten, Stimmungen, Erlebnissen4. In einem solchen Roman wie dem Houellebecqschen kann keine Aneignung von Welt, keine Zugehörigkeit zu sozialen Orten in ihr vollzogen werden. Seine (Anti-)Helden binden nicht nur keine 1

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Ich beziehe mich im folgenden auf die drei Romane, die Michel Houellebecq (1999, 2000, 2002) bis heute veröffentlicht hat. Ganz unerwartet gewinnt er in der literarischen Partie. Dies ist der gebräuchliche französische Terminus zur Bezeichnung der Person, die auf dem Internet surft, auf seinen Straßen fährt. Internaut/Cybernaut wäre ein deutsches Replikat dazu. Somit haben erotische Passagen seiner Romane viele Gemeinsamkeiten mit den Erzählmitteln der Pornoliteratur: Direktheit, Schlichtheit, Minimalismus der Beschreibung, die sich an den stereotypisierten Abfolgen von stereotypischen erotischen Handlungen erschöpft. Der Präsenzmodus der Leiber und Dinge ist in der Regel platt, anatomisch, von eindeutigen Gebräuchen bestimmt.

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Identifizierung des Lesers, sondern finden selbst nicht einmal Stand in den sichersten und durchschnittlichsten Formaten moderner Existenz – z. B. als mittlere Beamte in einem Ministerium. Ihr Begehren ist so dringlich, obsessiv, kurzatmig und masturbatorisch fixiert, daß sich mit ihnen und an ihnen kein Gefühl, keine Sensibilität erziehen kann. Die symbolische Form Literatur, wenn sie aus solcher Ferne zur Tradition ihrer Schrift und deren plaisir, aus solcher Entfremdung zur Enarration des Liebesbegehrens als Wagnis, Annäherung und Verbindung schreibt, wird gebrochen5. Etwas anderes ist nun am Werk, das ein Ende der in der Moderne gestifteten Konjunktion von Romanliteratur und Liebe ahnen läßt. Das hat zu tun mit einer doppelten Bewegung der Entfremdung: einerseits kann der Roman als Sage des Begehrens jene Formen der Sublimierung nicht mehr bieten, die so ungemein konsonant waren mit Formen des Begehrens, die ihrerseits der Liebe den Charakter eines Itinerarium geben, das durch Strecken und Landschaften, Schübe und Aufschübe geht, und ihr typische Verläufe zumutet, an denen sie sich entwickelt und verwirklicht. Andererseits kann die Liebe nicht mehr mit einer literarisierten Form des sublimierenden plaisir du texte konsonant sein, wenn sie eine Wandlung durchmacht, bei der die Handelns- und Erlebnisabfolge der Verführung (und ihrer Enarration im Roman) hinfällig geworden ist. Damit läßt sich behaupten, daß diese Form des Begehrens, die sich im und am Roman ausgebildet hat, aus ihrer Berahmung herausgefallen und zerbrochen ist. Die Brutalität des Sagens in Houellebecqs Romanschrift geht einher mit einer Löschung des literarischen Gedächtnisses. Das Sagen ist so einsam wie der Erzähler und sein affektives und sexuelles Elend. Auf weiter Flur ist nichts und niemand: keine Bücher, keine

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Die Frage nach dem Bezug dieser neuen Schriftart zur Sublimierung muß offen gelassen werden. Welches ist das neue Setting der Lektüre, welche sind die Einstellungen und Erwartungen der neuen Leserschaften, welche die Psychosomatik der Lektüre-effekte, …? All diesen Fragen müßte man nachgehen. Man kann Hypothesen zu einer Wandlung der Sublimierungsmechanismen aufstellen. Dann muss man fragen: Wie läßt sich in einer Kultur, in den Erzeugnissen ihrer Schöpfer, das Maß an Sublimierung ermitteln, zumal wenn die betreffende Kultur sich zu libertären Optionen bekennt, die allen Ansätzen zu massiver Verdrängung zuvorkommen will?

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Das Weib und das Ende der Verführung im Houllebecqschen Roman

Romane, keine genießerische Lektüre, die das eigene Pathein in Formen voluptuöser Erwartung verwandeln lassen. Das Format der Existenz ist ein solches, das zum Fokus einer allgemeinen Sinnzerlösung wird. Starke Semantiken sind aber die Voraussetzung für das Inswerksetzen von Formen des sublimierenden Auslebens von Triebintensitäten. Houellebecq steht vor dem Scherbenhaufen dieser restlos zerbrochenen Semantiken. Er spricht von einem so fragilen Ort heraus, daß das Genießen (jouissance) an die Stelle der metaphorisierenden Sinnketten und -synthesen eintreten muß. Er spricht aus der Einsamkeit und Brutalität eines Begehrens heraus, das abstandslos am Konsommatorischen von direkten (straight), festen Genitalbefriedigungen klebt. Er spricht von der Pommesbude an der Supermarkt Ecke-heraus, vom Fernsehzimmer mit den IKEA-Regalen, von der Eßnische mit der Thunfischbüchse à la Provençale auf dem Formica-Tisch, von den leeren Fluren mittelständischer HLM6 und den vielen Bars, wo alle Begegnung sich ihm verweigert. Bei Houellebecq antwortet auf den allgemeinen Sinnschwund eine Zubündelung allen Anspruchs (demande) auf das einzige Objekt, das inmitten dieser Unmöglichkeit des Glaubens an irgendeinen Sinn der Dinge um uns (in Politik, Wirtschaft, Religion, …) noch gesucht werden kann. Gerade nicht, weil es Sinn macht, sondern weil es ohne Sinnhaftigkeit auskommt. Es ist das Objekt, das in schlichten Aktivitäten des Körpers, in einer direkten, settingindifferenten Betätigung seiner Sexualorgane Lust, gelegentlich extreme Lust geben kann. Daher kristallisiert sich alles in Houellebecqs Romanen um die Problematik des Zugangs zu diesem Objekt und seiner Lustspendung.

Wandel der Roman- und Liebesstruktur Die europäische Liebeskultur und insbesondere die französische Kultur der literarischen Roman-Liebe hat Liebe als Wert verknappt und ihr dadurch zu einer sozialen und psychischen Wahrnehmung verholfen, die ihre Unwahrscheinlichkeit, ihre Kostbar6

Französisches Kürzel für Sozialbauwohnungen.

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keit und die Auserlesenheit ihrer Gratifikationen sehr stark betont. Wertungen wirken nämlich verknappend jedes Mal, wenn sie Steigerungen in Bedeutung und Artikulation der betreffenden Werte induzieren. In der Tat tritt hier eine Signifikanzbereicherung auf, welche das Trajekt zur Bedeutung und ihrer Artikulation, d. h. zum Gut und seiner gebrauchenden oder konsumptiven Habe, bricht, Umwege hineinbaut und auf Strecken hin mit vielfältigen Windungen verlängert. Dies ist heute auf dem Gebiet der Intimbeziehungen leicht im Vergleich mit anderen Kulturen – ja an ihrem Eindringen in die französische Kultur – beobachtbar: die »Entromanisierung« der Liebeskultur, die Übernahme der führenden, Semantik und Interaktionsmuster bestimmenden Rolle durch das Kino, das Möglichgewordensein – in Großstädten wie Amsterdam oder Berlin – von libertären, von keiner Anomie mafiöser Zuhälterei und illegaler Gewalt verdunkelten (verzwielichtigten) öffentlichen Räumen der erotischen Interaktion: all dies hebt die auf der Liebe lastende, verknappende Wertung auf. Es entmystisiert die Liebe und zeigt, daß sie in ihren beinah sexuellen sowie offen sexuellen Realisierungen ohne besondere Kosten für Individuum und Gesellschaft zu haben ist. Die Liebe wird entlastet von den schweren Signifikanzhypotheken. Sie wird entmetaphorisiert und die Trajekte zu ihren Konsommationen werden verkürzt. Ähnlich ist es mit der Nahrung bestellt, die in den romanischen Kulturen verknappt, d. h. hoch gewertet wird. Dadurch erfordert mental der Zugang zu ihr eine Art »magischer« Bereitung. Die Nahrung wird in verschiedenen Registern komponiert – LéviStrauss hat zwei Dimensionen in einem Menü unterschieden und sie nach Saussure (1985) als die syntagmatische und die paradigmatische bezeichnet7. Ihre Bedeutung wird tropisch, umweghaft erzeugt und ihr Kosten, der Genuß an ihr langatmig. Solche Verknappungen stellen Beschwerlichungen, Penibilisie7

Bei Saussure heißen die paradigmatischen Zusammenhänge vornehmlich assoziative Zusammenhänge (S. die von Tullio de Mauro besorgte Ausgabe des Cours de linguisitique générale [1985]). Lévi-Strauss (1985, S. 267) arbeitet mit dem eingebürgerten Gegensatz von syntagmatischer und paradigmatischer Verkettung. Zur Entwicklung und Benutzung dieser Unterscheidung im Strukturalismus, siehe Leach (1976), S. 48 ff.

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rungen der Erlangung (des betreffenden Gutes) dar. Die Realdeckung des Liebesversprechens durch die Materialisierung realer (sexueller) Gratifikationen wird verschoben, sistiert und mystisiert – und d. h., als etwas ganz Besonderes, Unwahrscheinliches behandelt. Das Medium Liebe, wie es die Roman-Liebe entwirft, verknappt Liebe, hält sie zurück, stellt ihre realen Gratifikationen hintan und bindet die Erregungsspannung in Signifikanten, welche die Habe von Liebe intrinsisch umwegig und sublimierend machen8. Dies setzt, wie ich es oben kurz angemerkt habe, die Lebendigkeit starker Semantiken der romanhaften Liebe voraus9. Diese enthalten in sich narrative Geschehensmuster – sowie narrative Erzähloder Sagensmuster –, welche der Liebe als Kernabschnitt einer Geschichte des Ichs ihre Konsistenz geben. Die Ich-Biographie bildet sich und strukturiert ihre Sinnhaftigkeit um diese (Ereignis-) Attraktoren, welche die Narrationen der Liebe sind. Inhaltlich sind diese Entfaltungsräume für Verführungsgeschichten: d. h. für Geschichten, in denen ein Liebesreiz in der Welt aufscheint, das Subjekt an sich bindet und es seiner Macht unterwirft. Die Strecken der Verführung sind die Substanz des Liebesromans. Sie drehen sich um die Ausstrahlung von Reiz, das Empfindlichwerden für ihn, das Krankwerden an ihm, den Wunsch nach Zurückstrahlung von Reiz und eine Dialektik des Gefallens. Es sind Geschichten von der Geburt des Begehrens, wie es anhebt, anschwillt, vom Sub8

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Wo diese Gratifikationen als sexuelle Lust auch immer in der narrativen Folge fallen, bleibt allein der Liebesaffekt zentral. Die sexuelle Lust hat zweierlei Funktionen im klassischen Liebesroman: entweder den Affekt zu stärken und rasend zu machen, oder gerade ihn zu trüben, ihn zu Niedergang und Erlöschen zu verurteilen. Wir sehen hier von einer wichtigen Vorgabe ab: der der Solidarität der Liebessemantik und ihrer »Stärke« mit anderen Semantiken. In der Regel haben Semantiken verschiedener Bereiche der sozialen Kommunikation einen gemeinsamen doxischen Charakter, der die doxische Verfassung der in dieser Kommunikation geläufigen Sinnentwürfe widerspiegelt. Starke Semantiken mobilisieren hohe doxische Potentiale, d. h. hohe Potentiale, an emphatische Sinnunterstellungen glauben zu können. Wenn solche fehlen, dann haben es Semantiken schwer, über rhetorische Vergewisserung und Behauptung ihre »Stärke« zu retten. Sie erleben dann Erosion und Niedergang. Sie werden als schwulstig, hohl, überemphatisch – mit Überhang über die Sache – erlebt.

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jekt Besitz ergreift; wie dieses der Verführungsmacht der Radianz sinnlicher Phantasmen an einem Objekt a erliegt.

Väterliche Funktion und Sinnbindung Bei Houllebecq fehlen grundsätzlich sowohl die Semantiken der Verführung als auch ihre Anbindung an Verführungsnarrationen als solche. Die Semantiken kranken an dem allgemeinen Sinnschwund. Der Vater, die väterliche Funktion, ist bei Houellebecq das Fehlende in der Aneignung der Rede, in der Anzeige der Dinge als behaftet mit Sinn. Ein Reden, das sich irgendwo knotet, d. h., das die Spannung innehat, die im Verhältnis zum Sinngewicht der Dinge steht, wird immer gespannt und geknotet durch einen Namen-des-Vaters, der Wert und Unwert scheidet, Liebe- und Haßidentifikationen bindet, Bahnen des Strebens anlegt oder sie zerklüftet und die Söhne zu Ohnmacht und Fall bringt10. Der Houellebecqsche Vater ist ein abgemeldeter Vater, kein bloß abwesender. Er ist nicht in den Krieg gezogen wie alle Männer seiner Generation, er ist nicht unterwegs auf beruflichen Reisen, noch sitzt er überarbeitet vor seinem Computer – und hat im übrigen wenig Lust, sich mit seinen Kindern zu beschäftigen. Michels und Brunos Vater – d. i. der Vater der beiden Männer, um deren Geschicke es in Les Particules élémentaires geht – verläßt seine Söhne11, um seinen erotischen Wünschen zu frönen. Damit wurde den Söhnen signalisiert, daß der Name des Vaters keinerlei Dinge in der Welt in ihrer Sinnhaftigkeit deckt, sie als sinnmachend entwirft, für sie eintritt, sich für sie einsetzt bei Hinnahme von Opfern und Gefahren12. Er kennt nichts außer der sexuellen Lust, was wert 10

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Über die knotende und zusammenhaltende Funktion des Namens des Vaters, siehe Lacan (2002), Séminaire XXII, R.S.I., Leçon du 15 avril 1975, sowie Lacan (2001), Séminaire XXIII, Le sinthome, Leçon 13 avril 1976. Sowie die Mutter im übrigen. Die Bedeutung dieses mütterlichen Verlassens ist eine andere. Dieses ist mehr für die Züge von abandonnisme verantwortlich, die an beiden Buben auffallen – jedoch mehr an Michel denn an seinem Bruder. Ein extremes Beispiel ist der Krieg, von dem der Vater möglicherweise auch nicht zurückkehrt.

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wäre, Objekt einer geordneten Zielverfolgung zu sein. Der (Name des) Vaters desertiert alle Lebensfelder, und allen zuvor jenes seiner eigenen Vaterschaft: er ernennt seine Söhne nicht zu seinen Söhnen und kann sie daher väterlich nicht annehmen. Mit dem Namen des Vaters desertiert dann der Sinn alle Lebensfelder, in denen von nun an nichts mehr artikuliert werden kann. Der Vater hält sich bei seiner Lust auf 13 und hofft, von dieser Lust aus alle Lebensbereiche wieder mit Sinn besetzen zu können. Die sexuelle Lust als einziger Sinn des Lebens soll dieses zu seiner letzten Sinnhaftigkeit erwecken, mit all seinen Bestandteilen versöhnen und es endgültig befrieden und beglücken. Die Söhne werden Lust gerade als Nicht-Sinn obsessiv verfolgen: sie wird bei ihnen zur Stelle, an der die Sinnflucht wettgemacht wird. Dies nicht in dem Sinne, daß hier irgendwie für diesen Schwund kompensiert wird. Vielmehr ist die Lust die Stelle der Erübrigung aller Kompensation für Sinndefizite. Sexuelle Lust macht jeden solchen Mangel gleichgültig. Sie hat in sich eine Art Genügsamkeit, welche den Sinnschwund verdoppelt und sich selbst dabei reflektiert: Lust wird geschöpft gerade an der Fähigkeit der Lust, alles andere neben ihr gleichgültig zu machen, ihre Fähigkeit den Mangel an Sinn, d. h. an der vollen Artikulation, an einer vollen sprechenden Anzeige von Weltverhältnissen kraftlos zu machen14. Der Sinnschwund selbst schwindet und verliert jede Schmerzhaftigkeit. Die Auflösung aller starken Semantiken und die an dieser Stelle als Erübrigung des Mangels auftretende sexuelle Lust befreien von der Not, einen irgendwie gearteten Glauben an die Sinnordnungen des (alltäglichen, sozialen und persönlichen) Lebens mit allen möglichen Krücken zu stützen. Um so brisanter wird das Problem der Verfügbarkeit dieser Lust. Wenn der Vater sie zu einem anaklitischen Punkt macht, von dem aus alle Welt ohne Mühe und ohne Folgen ausgehoben wer13

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Der Utopismus dieser Hedonik wird in den Romanen Houellebecqs regelmäßig lächerlich gemacht. Zum Unterschied zwischen parole pleine und parole vide, siehe Lacan (1975), Séminaire I, Les écrits techniques de Freud (Leçon 5, 3 fév. 1954). Erstere ist eine »parole en tant qu’elle réalise la vérité du sujet«, letztere »parole en tant que le sujet va s’égarer dans tout ce que nous pourrions appeler les machinations du langage«.

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den kann; wenn er sie zu einer Art Gegenwelt macht, von der alle Schwerkraft von Sinn – d. h. auch von Schuld und Verantwortung – abgefallen ist, dann müßte sie bestens passen, in Funktion und Ortung, in die seelischen Anlagen seiner Söhne. Die Romane erzählen aber gerade vom kläglichen, ungeheuer schmerzlichen Scheitern dieser einzigen Option der Söhne. Die Frage ist dann: warum? Die Antwort scheint dann einfach zu sein: weil es den Söhnen an Eigenschaften fehlt, diese Lust ohne besondere Mühen zu erlangen – sie sind nicht ansehnlich, sind eher schlichtweg häßlich und abstoßend; sie sind nicht reich und ihre Umgangsfähigkeiten, durch Adoxie15 und Zynismus, äußerst beschränkt. Dies ist auch die Darstellung des Sachverhalts im Roman. Dieser erfordert jedoch eine tiefer gehende Deutung.

Die Lust und das Ende der Verführung Der Zugang zu Lust ist den Söhnen versperrt, weil sie verführungsunfähig sind. Meine Deutung gibt sich diese Formulierung als Leitfaden. Die Frage, die dann beantwortet werden muß, ist die folgende: Was verursacht bei den Söhnen den Verlust jedes agalmatischen Reizes? Was macht sie so auralos, so arm an Brillanz? Genauer: Was macht sie so hartnäckig bei der Abstreifung jeglicher Brillanz von sich, der Erstickung jeglichen agallein 16. Denn es versteht sich, daß die Erklärung der erotischen Pleite durch den Man15

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Ich würde Adoxie diese grundsätzliche Unmöglichkeit nennen, irgendeinem Sinnanspruch Glauben zu schenken. Es ist bekannt, daß Lacan (1991) sein Objekt klein a von dieser Urwirkung des Glanzes und der Ausstrahlung her versteht – siehe dazu vor allem Séminaire VIII, Leçon 10. Daher das Anhängen seiner Einführung und Deutung dieses Objekts an die Interpretation des platonischen agalma im Symposion. Einzig problematisch ist die Findung eines Verbs, das im Griechischen das Strahlen im agalma ausdrückt. agallô heißt eher schmücken und ehren und aglaos (i. e. glänzend, strahlend) verweist auf kein (erhaltenes) verbales Radikal. Was an sich überrascht wegen der ausgesprochen »verbalen«, Akt- und Agierensaspekt des Strahlens als ein von sich aus Wirkens (Strahlens) einer Sache. Im Gegensatz zu schmücken ist strahlen ein der Sache inhärentes, höchst inniges, von ihr her kommendes Wirken. Es ist gerade das, was sie von sich aus gibt. Es ist so etwas wie ihr Urakt, ihre unausgesetzte eigenste Tat.

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gel bestimmter objektiver Eigenschaften nichtssagend ist. Das Entscheidende am Erfolg der Liebesverbindung ist in der Roman-Liebe die Verführung als solche. Verführen heißt Gefallen, seine eigene Person zum eigenen Vorteil in ein bestimmtes Licht rücken. Etwas an sich so hervortreten lassen, daß es Begehren an sich ziehen, es berücken und umgarnen kann. Verführung ist dann nichts anderes als ein Sicheinlassen auf, ein Gewährenlassen einer Reizausstrahlung, die nicht vom Körper und seinen Qualitäten kommt, sondern sich nur an sie heftet und von einer Erlaubnis zur, einem Eigengefallen des Subjekts an seiner eigenen Ausstrahlung herrührt. Das Gewährenlassen einer auratisch-agalmatischen Radianz ist etwas, das die tragenden psychischen Organisationen impliziert. Verführen und Gefallen sind eine Grundfunktion der Psyche. Störungen dieser Funktion haben weitgehende Folgen. Solche Störungen geben sich strukturell als beflissene Inhibierungen der Funktion. Es ist eine zähe und unablässige Destruktionsarbeit an der eigenen angeborenen Gefallensausstrahlung. Das Begehrenssubjekt strahlt nämlich von sich aus, d. h., soweit es sich als ein solches Subjekt erhält, einen Anspruch auf Begehren (im Sinne eines Begehrtwerdens). Die demande (Anspruch) ist stets eine native, strahlende demande d’amour (Liebesanspruch)17, die durch ihr Strahlen das Begehren des Anderen anzieht, verführt und einfängt. Solange ein Begehren im Subjekt pocht, ist es radiant mit diesem Anspruch. Die Anspruchsradianz ist strukturell im Subjekt angelegt und kann nicht ausgesetzt werden. Sie ist in Operation, solange im Subjekt das geringste Zittern einer Triebspannung vorliegt. Der Anspruch strahlt aus einem sozusagen vor-desiderialen Ort heraus: er ist strahlend-operierend schon da »vor« der Brechung der Triebspannung und ihrer Führung durch die Engpässe der Signifikanten –

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Zur demande d’amour, siehe Lacan (1998), Séminaire V, Les formations de l’inconscient, Leçons 21, 22 und folgende. Die »demande d’amour« unterscheidet sich darin vom Bedürfnis, daß sie ein Verlangen nach nichts Bestimmtem ist, nach keiner besonderen Befriedigung, die das Verlangen stillen würde. Wer ihr antwortet, bringt ihr nichts Partikulares entgegen. Das Eigentümliche der Figur, die von Michel exemplifiziert ist, liegt in der Kappung der Artikulation des Begehrens am Rätsel des Weibes und damit in der Überspringung der »Verbegehrlichung« (Desiderialisierung sozusagen) der demande und im direkten Kippen in die tätige sexuelle Lust.

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kann aber nur von dieser her sich artikulieren. Er ist das Strahlende und Pochende am Begehren selbst18. Native Strahlung kann von dem genommen werden, der am Aufkommen dieser Strahlung sozusagen reziprok19 beteiligt ist. Die komplexen, reziproken oder spiegelbildlichen Konditionierungen des Begehrens sind seit Lacan besser bekannt: sie lassen Größen, die früher als für sich bestehend verstanden wurden, als Funktion von anderen erscheinen, die ihrerseits oft Funktion der in ihnen als Argument auftretenden Größen sind. Native Strahlung kann von jenem großen Anderen genommen werden, von dessen Begehren her sie nur gedeihen kann. Der Andere kann durch Verweigerung seines antwortenden Begehrens die native Verführung durch sein kleines Gegenüber vereiteln. Er kann sie so oft vereiteln, daß sie sich zu immer drängenderen Formen der Anziehung wendet: sie fleht und bettelt, anstatt über ihre bloße Radianz mit eigenen Überschüssen der Attraktivität (und fremden Überschüssen der Zuwendung) zu kokettieren. Nach langem drängendem Betteln nimmt die Strahlung ab und das Subjekt verliert allmählich den Sinn für die Existenz einer agalmatischen Potenz an ihm. Es wird blind wie ein Stein, der seinen Glanz verloren hat. Der Verlust eines Sinnes für das Agalmatische am eigenen Wesen zerstört die agalma-Ausstrahlung noch nicht völlig. Nur Tote haben alle Radianz eingebüßt – und das nur beschränkt, wie 18

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Die Verhältnisse sind hier, wenn man sich an Lacans Unterscheidung und Theoretisierung von Bedürfnis, Anspruch und Begehren orientiert, sehr verwickelt. Wir stellen sie so dar, als ob die demande vor-desiderial wäre und die Engpässe des Begehrens die der signifikanten Artikulation wären – mit anderen Worten, der Versprachlichung. Für eine solche Darstellung spricht natürlich vieles bei Lacan. Jedoch der Kern des Lacanschen Gedankens wird verfehlt, wenn man nicht im Auge behält, das das Begehren an sich keinen anderen Signifikanten haben kann als den Phallus – sowohl beim Mann als bei der Frau. Dieses Begehren ist dann aber ganz eng gefaßt als streng sexuelles Begehren – das Begehren, das hinter die chemisette greift, ins Leere und in den Fehl des Phallus greift. Das Sexuelle als solches erscheint dann als nicht artikulierbar, weil sein Signifikant es nicht sein kann. Das führt Lacan dann auf die Wege der Negation des rapport sexuel. Siehe zum Gemenge dieser Interpretationen, Lacan (1998), Séminaire V, Les formations de l’inconscient, Leçon 21, 7 mai 1958, in der die Stelle mit der chemisette zu finden ist. Ich spiele hier auf Lacans Prinzip der »réciprocité des sentiments« an.

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man es an Totenmasken beobachten kann. Deswegen muß eine gezielte Arbeit der Destruierung der eigenen Brillanz aufgewendet werden. Sie nimmt die Gestalt einer Hartnäckigkeit der Haftung am eigenen Stil des Verlustes in einer Art Treue zum eigenen Scheitern. Die Lacansche Psychoanalyse lehrt uns diese Hartnäckigkeit als jouissance erkennen und verstehen: als jouissance am Symptom, an dieser ganz besonderen Art, sich weh zu tun – beim Sichstoßen gegen dieselben Wände – und an deren endlosen Wiederholung. Bei Houellebecq nährt sich diese Hartnäckigkeit von einem Gefühl des »Zu-spät-seins«: Es kann nichts wieder gut gemacht werden, weil die Existenz schon jetzt vom jahrelang erlittenen Leid an der Frustration durch und durch vergiftet ist. Indem »Michel« – ich nenne so den paradigmatischen Houellebecqschen Charakter – sich für die Verführung untauglich macht durch systematische, symptomatische Inhibierung der Ausstrahlung einer Einladung zum Begehren, gibt er dem Wunsch nach Erlangung der Lust eine besondere Schärfe. Ohne Verführung und Gefallen entsteht eine äußerst harte Alternative, die den ganzen Horizont des Begehrens und Anliegens des Subjekts besetzt: die der schlichten Faktualität des Lusterlangens (am Körper eines Anderen) oder Nicht-Lusterlangens mit nichts dazwischen und ohne Ausweg. Hingegen ist gerade Verführung als Gefallensausstrahlung und Ansichführung fremden Begehrens ein Spiel mit dem Trieb: sie ermöglicht ausgesprochen die Nicht-Konsommation der Triebbefriedigung durch eine im selben Register des erotischen Triebs noch verbleibenden Entschädigung; die Bestätigung und Steigerung der Begehrlichkeit von Selbst befriedigt eine narzißtische Triebfeder in der Materialisierung von Selbstbegehrlichkeit. Die Verführung macht es möglich, sich mit der Versicherung des Anziehenkönnens fremden Begehrens zu bescheiden und die freigemachten libidinalen Intensitäten in einer Rückstrahlung narzißtischer Lust zu binden. Der Roman der Literatur-Liebe lebt von diesen Rückstrahlungen und streckt seine Verführungsstrecken durch ihre Vermittlung. Direkte Realisierungen von sexueller Lust würden die narzißtische Lust an der Radianz des Ichs drastisch reduzieren: sie würden die Ich-Fläche, an der die agalmatische Ausstrahlung haftet und stattfindet, auf die unmittelbar in der sexuellen Interaktion 127

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beteiligten Komponenten verkleinern. Sie geht mit einer PenisFixierung einher, an der ein Michel, dem die Befriedigungsobjekte seiner Begierde als unerreichbar erscheinen, leiden muß. Im Gegensatz zur durchgängigen Szene des Verführungsromans, die von Aufschub, Ferne und Beschwerlichung der Erlangung lebt, kann die verführungabgewandte, postseduktionelle Szene des Houellebecqschen Romans die anatomische Vergrellung des peniszentrierten Ichs nicht verhindern. Die Szene des Verführungsromans ist metaphorisch gesprochen eine leicht belichtete, schattenbehangene20. Vom ausstrahlenden Ich bleibt sehr viel im Schatten: die einander verführenden Subjekte sind von der Zeit der Aufschübe und den Räumen der Getrenntheit der klaren, scharfen, grellen Profilfixierung entrückt. Sie gefallen mit ihrem ganzen Wesen, das in Augenblicken der Begegnung aufstrahlt und bezaubert, das aber auch von eigener Entrückung und Absenz des Anderen gewebt ist. So bildet für Stendhal die »Idealisierung«, die nur und notwendig an Partialbild und Partialpräsenz des Verführers ansetzen kann, ein wesentliches Moment der Liebe – und muß als solches in einer Lehre von der Liebe identifiziert und begrifflich gefaßt werden.

Der Wunsch nach dem Ende der Sexuierung Michel hingegen erlebt die Verführung – als begehrensgetriebenes Wagnis, Annäherung und Verbindung – als die absolut grausamste Seite der Liebe. Deswegen ist seine Ablehnung aller seduktionellen Szenarien radikal. Als Ausstrahlungsloser, Verführungsunfähiger ist Michel der schlechthin aus der Verführungsliebe Ausgeschlossene. Wie wir gesehen haben, orientiert er sich deshalb um und sucht umweglos die sexuelle Lust als das alles Stillmachende: in der sehr starken Lust des Sexes erübrigt sich alle weitere Artikulation – von irgend etwas, was noch Sinngewicht hätte. Solange sich diese Lust aber weiterhin verweigert, kann sich Michels Wunsch nur noch auf

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Viele Erstgefallensszenen finden in Kirchen statt – im dunklen Raum der Andacht und des gefühlvollen Gesangs, in dem man vom Anderen nur ein von trübem Licht gezeichnetes Profil ahnt und sich im Gedächtnis einprägt.

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eine Art kataklysmatisches Ende der Sexualität richten. Das tut er auch in Elementarteilchen, das sich als Erzählung von einem späteren Zeitalter her ausgibt: Michel ist Biologe und forscht sozusagen um sein Leben. Sein Triumph, den er in einem einsamen Selbstmord durch Eingehen in ein weit offenes Meer feiert, ist gerade die Erfindung der genetischen Formel, welche die Abschaffung der Sexualität aus der Biologie des Menschen ermöglicht. In seinem letzten Roman (Plattform) erahnt jedoch Houellebecq die Möglichkeit eines Zugangs zur Lust und einer dauerhaften Befriedigung dieser auf postseduktionellem Boden. Dafür braucht er aber zentral die Gestalt eines Weibes, das dies ermöglicht. Das ist die Valéry von Plattform. Ob nun die Möglichkeit der Lusterlangung gegeben ist – wie in Plattform – oder nicht, ist die postseduktionelle Szene21 gekennzeichnet durch zweierlei: die Reduktion der agalmatischen Ich-Fläche und die grelle Beleuchtung ihrer Hauptstellen. In bezug auf diese muß man betonen, daß sie unter solcher Beleuchtung sich kaum anders geben können als krude und anatomisch. Die postseduktionell, die Liebe auf ihre sexuelle Realisierung zuführende agalmatische Reduktion muß die Gestalt des postseduktionellen Ich-Subjekts anatomisieren und sie um seinen nackten Penis zentrieren. Die Verführung wird erfahren als die harte, schneidende Kante der Liebe. In der Verführung nämlich erreicht die Problematik des Habens eine extreme Verschärfung: sie verlangt das Verfügen über Attribute, über ein Seduktionskapital, das eingesetzt werden kann. Michel (der Michel von Elementarteilchen) empfindet sich nicht nur als arm an diesem Kapital und zu sehr verspätet in der Nutzung seiner schäbigen Reste; er verzichtet überhaupt auf den Einsatz irgendwelcher seiner Anteile. Er beschwört die Zerstörung der Sexualität und die Erschließung eines biologischen Jenseits ihrer. Er will sich grundsätzlich nicht auf das Spiel der Verführung einlassen. Er will überhaupt dem »Geschlechterverhältnis«, dem rapport sexuel, den Garaus machen. Er will, daß es nicht mehr existiert. Für Lacan gibt es das Geschlechterverhältnis nicht. Wie erklärt sich dann aber, daß in einem zeitgenössischen Roman ein so star21

Diese Szene nimmt z. B. in swinger-clubs sowie in Praktiken des dating/ mating konkrete Gestalt an.

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ker, fast halluzinatorischer Wunsch erwächst, dieses Verhältnis aus der Welt der Organismen zu schaffen. Wie treffen sich Michels Wunsch nach einem jenseits der Sexualität und Lacans Ausspruch einer Negation des »il y a« des Geschlechterverhältnisses? Gerade dieses Treffen/Nicht-Treffen ist an sich anregend. Man muß eben einsehen, daß die Nicht-Gabe des rapport sexuel gerade das ist, was dieses »rapport« so grausam und unaushaltbar macht. Daß es es nicht gibt, exazerbiert die Verführung und die mit ihr zusammenhängende Problematik der Habe von dem, was verführt. Die Problematik der Habe kippt von der der (Nicht-)Habe von Strahlungsattributen auf die der Gabe von etwas, was man nicht hat, nämlich den Phallus. Dies würde heißen, daß Michel die Verführung als das Spiel mit dem Trieb, das dessen »mit ihm gehenden« Befriedigung ausmacht, nicht nur als Illusion entlarvt, sondern als radikale Unmöglichkeit erlebt, und damit an die Struktur der Sexuation rührt und rüttelt. Die Verfügung über Seduktionskapital hilft zwar, wenn keine Destruierung an ihm systematisch/symptomatisch angesetzt wird, beim Zustandekommen der Verführung. Jedoch kann kein so großes Seduktionskapital die Habe des Phallus in eine mögliche Gabe oder auch umgekehrt die Gabe des Phallus in eine mögliche Habe verwandeln. Mit dem Ausfall der Verführung als Form der Temporalisierung, Engführung und Umgarnung des Begehrens stößt man frontal auf die Inexistenz des rapport sexuel und der von ihr her bestimmten Unmöglichkeit jeglichen Liebestausches. Den einzig denkbaren Halt gibt hier eine vollkommen unerwartete Figur, die aus der Unmöglichkeit und Zerrissenheit des Liebesmediums geboren wird. Michels so unerbittliches, schmerzliches Bedürfnis nach sexueller Lust, seine konstante, stets akute Nachfrage nach ihr ist ein Anspruch (demande), der durch die Radikalität seiner Entlarvung der Unmöglichkeit der Verführung und der Inexistenz des Geschlechterverhältnisses sich nicht mehr durch die Engpässe des Begehrens führen läßt. Michel verbleibt auf der Ebene des Anspruchs und weigert sich, dessen Engführungen durch die Signifikantenketten durchzumachen. Damit bringt er eine neue Figur des Objekts seines Anspruchs hervor in der Gestalt eines Weibes, das diesen Anspruch mit keiner Fraglichkeit des eigenen Begehrens beantwortet. Dank der Emergenz dieser Figur des Weibes kommt eine Form der 130

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Sexuation herauf, die unmittelbar an die perplexierenden Verschränkungen von Nicht-Habe und Nicht-Gabe angelehnt ist. Die Form von Sexualität und sexueller Lust, die da ausgelebt wird, ist nicht nur postseduktionell, sondern entspringt den äußersten Härten, die im Erlebensumkreis des letzten Wunsches nach Abschaffung des Sexuellen walten. An Valérie richtet sich ein stiller und starker Anspruch Michels nach sexueller Lust. Valérie ist nichts anderes als jene Figuration des Weibes, die einen solchen Anspruch beantworten kann. Sie ist dazu bestellt, ist nichts anderes als dessen gehörige Gegengestalt. Sie ist Auftrag und Fügung, das genaue Stück, das von der Landschaft der unmöglichen Liebe gefordert wird. Sie ist die Ausgeburt, aus der Qual des Ermangelns, eines nun im Imaginären produktiv gewordenen Wunsches. Sie füllt eine Stelle aus und hatte eine Art sacerdotium inne. Ihre Stelle ist eine dienende, antwortende, vermittelnde und hat deswegen die Charakteristika eines Priestertums. Sie hat nichts Heiliges an sich; sie nimmt vielmehr all das Unreine des Sexuellen auf sich. Die Konnotation des Heiligen hat sie aus den Gewalten, in deren Dienst sie tritt. Was dieses neue Weib ist, ist, daß sie nichts »will«. Sie ist da, taucht unbegründet auf, ist eine zufällige Begegnung im Dienst des nicht gelingenden Begehrens des Mannes. Sie verhilft dem Mann zur jouissance. Sie hebt ihr eigenes Rätsel auf: sie ist kein Rätsel mehr, da sie nichts will. Sie wird nicht erobert, sie verführt nicht (mit ihren Reizen, ihrer Maskerade). Sie will nicht verführt noch erobert werden. Sie will bloß da sein für den unattraktiven, ϕ-Gewalt, ϕ-Macht, ϕ-Ausstrahlung nicht entwickeln könnenden ϕ-Haber. Sie will seinen Anspruch beantworten, aber nicht mit ihrem eigenen Rätsel und der Hölle ihrer Rätselhaftigkeit, sondern mit der vollkommenen Gefügigkeit ihres Körpers zu seiner Begierde. Sie ist das mit jouissance erfüllende Sich-stets-Bieten eines weiblichen Körpers, der seine jouissance gerade in dieser Gefügigkeit als Aufgabe jeglichen antwortenden Wollens findet. Dieser Körper erscheint dann als stilles (Ein-)Verständnis des Weibes. Ein stilles, tiefes und beglückendes Auskommen wird beschrieben: Michel und Valérie treffen sich im Einverständnis um das Neue und Lösende. Es sind keine komplizierten Konstruktionen der sexuellen Lust nötig – man bleibt der Lustsystematik der SM-Praxis fern. Die Lust wird 131

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nicht gesucht. Sie stellt sich einfach durch den Körper des rätsellosen, nicht rückfragenden Weibes ein. Der Traum eines Endes der Sexuation, wie er in Elementarteilchen zur Sprache kommt, ist an sich nicht weit von dieser in Plattform vorgeschlagenen Lösung entfernt: ein Ende der Fraglichkeit des Weibes, ein Ende des Nichtwissen(können)s dessen, was sie will, wäre das Ende der strukturellen Überbordung des männlichen Begehrens durch das weibliche. Der an das Weib gerichtete Anspruch begegnet keinem Entgegenkommenden, den man nicht entziffern kann. Als Grundschmerz der Sexuation gilt dieses Nichtwissen dessen, was das Weib will, weil gerade dieses Nichtwissen die ganze Konstruktion des Anspruchs des Mannes um das Haben seines ϕ ins Wanken bringt. Houellebecqs Leidensweg ist die Erfahrung der Reißung des Mediums Liebe durch seine äußerste Verhärtung in der Befreiung der sexuellen Begierde zur unbeschränkten Betätigung in wiederholter jouissance durch viele symbolische Schranken hindurch. Das Paradox ist, daß das Medium sich bei seiner Entschränkung verhärtet und reißt und nicht etwa sich lockert und ausweitet.

Bibliographie Michel Houellebecq (1999): Extension du domaine de la lutte. 2e éd. Paris (J’ai lu). – (2000): Les particules élémentaires. Paris (Flammarion). – (2002): Plateforme. Paris (Flammarion). Jacques Lacan (1975): Séminaire I, Les écrits techniques de Freud. Paris (Seuil). – (1991): Séminaire VIII, Le transfert. Paris (Seuil). – (1998): Séminaire V, Les formations de l’inconscient. Paris (Seuil). – (2001): Séminaire XXIII, Le sinthome. Paris (Editions de l’Association Lacanienne Internationale). – (2002): Séminaire XXII, R.S.I., Paris (Editions de l’Association Lacanienne Internationale). Edmund Leach (1976): Claude Lévi-Strauss. Harmondsworth (Penguin). Claude Lévi-Strauss (1985): La potière jalouse. Paris (Plon). Ferdinand de Saussure (1985): Cours de linguistique générale. Éd. critique de Tullio de Mauro. Paris (Payot).

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Birgit Althans & Antke Tammen

Das Begehren am Kriminalroman Wir beschäftigen uns nun mit einer Sorte Literatur, die in ihrer Buchgestalt meist eselsohrig, zerknickt, mit unterschiedlichsten Flecken übersät, mit einem Wort: gebraucht aussieht. Diese Bücher sind keine Bücher fürs Regal, sie sind nicht repräsentativ, nicht ›wichtig‹, ihnen fehlen die Unterstreichungen, mit denen die bedeutsamen Stellen in akademischen Büchern markiert sind. Wir sprechen von Büchern, die man mit ins Bett nimmt, in die U-Bahn, an den Strand, in die Badewanne, mit denen man ißt, verdaut und sich entleert. Eine Literatur, zu der man ein leicht regressives Verhältnis hat, die man verschlingt, die mehr die Ebene der Bedürfnisse als ein sublimes Begehren zu befriedigen scheint1. Trotz all dieser körperlichen Begleitumstände sei gleich von Anfang an ge1

Dies bestätigen so unterschiedliche Krimikonsumenten wie Walter Benjamin und Ernst Bloch. Während ersterer das Kriminalromanlesen als untrennbar mit dem Eisenbahnfahren verbunden empfand (Walter Benjamin [1922/1998], S. 24), gehörte beim letzteren zum Krimilesen ein bequemer Sessel, »die abendliche Stehlampe«, Tee, Rum und Tabak sowie das Gefühl, »persönlich gut gesichert und ruhevoll in gefährliche Dinge vertieft, die flach sind«, zu sein (Ernst Bloch [1960/1998], S. 38).

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Birgit Althans & Antke Tammen

sagt, daß es sich paradoxerweise beim Vergnügen am mit Mord und Totschlag operierenden Kriminalroman um ein intellektuelles Genießen handelt, um die Lust am Denken, Ermitteln und Kombinieren, am Aufdecken von dunklen Wahrheiten und verborgenen und verdrängten Geheimnissen, um ein Begehren zu wissen. Diesen Genuß am Kriminalroman teilten wir mit Jutta Prasse2, die im übrigen schon auf die Bezüge und Nicht-Bezüge zwischen Kriminalroman und Psychoanalyse hingewiesen hat, als sie Edgar Allen Poes Klassiker Der Doppelmord in der Rue Morgue und Das Geheimnis der Marie Rogêt mit Sigmund Freuds Katharina-Analyse in seinen frühen Hysteriestudien verglich3. Es ging Jutta Prasse und uns allerdings immer um eine besondere Gattung des Kriminalromans, den – so meinten wir, feststellen zu können – vor allem weibliche Leser bevorzugen: Den Detektivroman, den klassischen whodunnit.

Wir nutzen in unseren Überlegungen eine von Richard Alewyn vorgenommene inhaltliche Unterscheidung zwischen Kriminalroman und Detektivroman: »Der Kriminalroman erzählt die Geschichte eines Verbrechens, der Detektivroman die Geschichte seiner Aufklärung.«4 Angesichts der deutschen Tradition, die Kriminalroman und Detektivroman bis heute synonym gebraucht, unterscheiden wir zwischen Thriller und Detektivroman/Kriminalroman. Während der klassische Thriller die Verfolgung eines Mörders – gern eines Serienkillers – beschreibt und aus dem Abenteuerroman stammt, beschreibt der Detektivroman die Lust am Beobachten, Denken und Kombinieren. Walter Benjamin beschrieb in seinem Buch über Charles Baudelaire – dem französischen Übersetzer Edgar Allen Poes – die Herkunft des Detektivromans aus dem Gestus des großstädtischen Flaneurs5. 2

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So nebst einer wunderbaren, genußreichen Vorbereitungszeit u. a. in der Veranstaltungsreihe »Der mörderische Konflikt: Krimis, Kreativität, Karriere und das Begehren zu wissen«, Psychoanalytische Lektüren der FreudLacan-Gesellschaft Berlin, im Literaturhaus Fasanenstraße (2000/2001). Jutta Prasse (2004a). Richard Alewyn (1968/1998), S. 52. Vgl. Walter Benjamin (1937–39/1998).

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Das Begehren am Kriminalroman

Wir werden hier ausschließlich über den klassischen Detektivroman des Golden Age des 20. Jahrhunderts und die aktuellen, in seiner Tradition stehenden Remakes von Elisabeth George, Deborah Crombie und P. D. James nachdenken, dem es vor allem um die Frage whodunnit geht, um die Aufklärung eines Mordes, um die Lösung eines Rätsels, das Bertolt Brecht – der Kriminalromane liebte – mit dem Lösen von Kreuzworträtseln verglich6. Hier stehen – im Gegensatz zu den Techniken des Serienmordens im Thriller – die Techniken des Denkens im Vordergrund. Es ist eine literarische Gattung, die zwar auf zwei Stammväter (Poe und Doyle) zurückgeht, in der aber die Damen (Sayers, Christie und James) regieren, wie es immer in den Klappentexten von P. D. James’ Büchern heißt. Zentral ist dabei immer die Figur eines gebildeten, oft melancholischen, gern exzentrischen Detektivs, der die Arbeit des Ermittelns nicht auf sich nimmt, weil er muß, sondern weil es ihn danach gelüstet und weil sie ihm die Zeit vertreibt; und der sich somit – ganz wichtig – außerhalb der Institutionen der Gerechtigkeit befindet, denen er mit seinem Wissen überlegen ist. Ihm ist meist ein unterlegener Anderer unterstellt, der meist eine Funktion als Gefäß erfüllt, in das sich das überlegene Wissen des Detektivs ergießt. Inzwischen ist diese Konstruktion in den whodunnits durch ermittelnde Paare abgelöst, die meist der Polizei – hier gern: Scotland Yard – angehören, und bei denen die Kämpfe der weiblichen Partnerin um Emanzipation und die Versöhnung zwischen Familie und Karriere inzwischen mit zum Plot gehören. Die Handlung selbst interessiert nur während des Lesens, das ungeduldig, schnell, fast rauschhaft zu erfolgen hat – danach ist sie sofort vergessen. Vergessen wird überhaupt viel, wenn man sich 6

»Der Kriminalroman handelt vom logischen Denken und verlangt vom Leser logisches Denken. Er steht dem Kreuzworträtsel nahe, was das betrifft. Dementsprechend hat er ein Schema und zeigt seine Kraft in der Variation. Kein Kriminalschriftsteller wird die leisesten Skrupel fühlen, wenn er seinen Mord in der im Bibliothekszimmer eines lordlichen Landsitzes vorgehen läßt, obwohl das höchst unoriginell ist. […] Die Originalität liegt in anderem. Die Tatsache, daß ein Charakteristikum des Kriminalromans in der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente liegt, verleiht dem Genre sogar das ästhetische Niveau« (Bertolt Brecht [1938/1998], S. 33).

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der Passion des ›Krimilesens‹ hingibt: Die Zeit, die Umgebung und der Detektivroman selbst – es ist nicht unüblich, sich mehrfach den gleichen Detektivroman zu kaufen – und dies erst nach den ersten 100 Seiten zu bemerken. Diese Achtlosigkeit, das Vergessen, drückt sich auch in der Materialität des Detektivromans aus – das Buch erscheint ›mitgenommen‹, geradezu ramponiert. Bedenkenlos wird es weitergegeben, nicht zurückgefordert, in allen Lebenslagen und Orten gelesen und ist gezeichnet von Knicken, Flecken und Rissen. Dieser Umgang mit dem Objekt des Begehrens erinnert an Mallarmés und Lacans Beschreibung der abgegriffenen Münze, die schweigend von Hand zu Hand weitergegeben wird, und ermöglicht, daß ›Eingeweihte‹ einander erkennen7. Der eingeweihte Leser des Detektivromans weiß, daß es trotz all seiner intellektuellen Eingebundenheit in die Ermittlung des Mordfalls nicht darum geht, Befriedigung in der Lösung, in der Aufdeckung des Tathergangs, in der Überführung des Täters zu finden. Es geht vielmehr um die Aufrechterhaltung des Begehrens, das einen eingefleischten Krimileser wie einen Kettenraucher sofort zur nächsten Zigarette, zum nächsten Krimi greifen läßt.

Dieser Wunsch nach Aufrechterhaltung des Begehrens des Mangels verbindet die Konsumenten des Detektivromans mit den Hysteriepatientinnen aus Freuds und Breuers Studien über Hysterie, wo auch Freud besonders bei seiner Analyse der Frau Cäcilie M. feststellen mußte, daß diese nach erfolgreicher Hypnose- und Absprechbehandlung ihrer Symptome sofort das nächste produzierte. Auch Freud baute auf die intellektuelle Mitarbeit seiner Patientinnen, ähnlich wie Edgar Allen Poe, Sir Arthur Conan Doyle, Dorothy L. Sayers und Agatha Christie auf die Bereitschaft ihrer Leser, sich auf ihre verstrickten, aber dennoch logisch konstruierten mysteries einzulassen, indem sie ihnen gemäß der Fair play-Regel getreulich alle Fakten mitteilten, die dem Detektiv bekannt waren. Bertolt Brecht, der den Kriminalroman im Gegensatz zu Siegfried Krakauer8 als Ausschnitt der Wirklichkeit auffaßte, sah in ihm 7 8

Jacques Lacan (1953/1991), S. 89. Siegfried Kracauer (1922/1998).

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Das Begehren am Kriminalroman

nicht nur den intellektuellen Genuß des »Beobachtungen-Anstellens, daraus Schlüsse-Ziehens und damit zu Entschlüssen-Kommens«, eine Lust am effektiven Verlauf von Denkprozessen, was im Alltag mit seinen vielen Denk-Hindernissen gar nicht möglich sei. Brecht konstatiert – »Wir sind weder Herr unserer Beschlüsse noch Herr unserer Entschlüsse«9 – ein Satz, der an Freuds Diktum »Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus« erinnert. Brecht sah in der Aufrechterhaltung des Kausalnexus im Kriminalroman auch eine Form der Krisenbewältigung: »Wir machen unsere Erfahrungen im Leben in katastrophaler Form. Aus Katastrophen haben wir die Form, wie unser gesellschaftliches Leben funktioniert, zu erschließen. Zu den Krisen, Depressionen, Revolutionen und Kriegen müssen wir, denkend, die ›inside story‹ erschließen. Wir fühlen aber schon beim Lesen der Zeitungen (aber auch der Rechnungen, Entlassungsbriefe, Einstellungsbefehle usw.), daß irgendwer irgendetwas gemacht haben muß, damit die offenbare Katastrophe eintrat. Was also hat wer gemacht? […] Der Mord ist geschehen. Was hat sich da zuvor zusammengezogen? Was für eine Situation war entstanden? Nun, man kann es vielleicht erschließen.«10

Was hat der Detektivroman anzubieten, warum liest man ihn, wie man ihn liest? Wer liest? Es scheinen Frauen zu sein, überall – und sie sprechen darüber. Erstaunt war ich festzustellen, daß in den Gesprächen in der psychiatrischen Institutsambulanz oft junge Frauen, die in ihrer Lebensgeschichte mit schweren Traumatisierungen belastet sind, darüber berichten, daß sie am liebsten Kriminalromane mit starken thriller-Anteilen lesen – aber eben keine Detektivromane.11 9 10 11

Bertolt Brecht (1938/1998), S. 35. Bertolt Brecht (1938/1998), S. 36. Eine Erklärung hierfür mag sein, daß es sich hier um Leserinnen handelte, die aufgrund lebensgeschichtlich früher Traumatisierungen eine Erfahrung des Einbruchs der Gesetze des Symbolischen (z. B. der Übertretung des Inzestverbots) gemacht haben. Zurück bleibt häufig eine weitgreifende Verunsicherung bzw. ein Mißtrauen bezüglich der Tragfähigkeit des Symbolischen. Neben anderen Symptomen berichten die Patientinnen oft von einer nicht faßbaren Angst, von der sie im Alltag unmittelbar überflutet

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Es gibt keinen Trost, aber Literatur!

Es gibt keine Literatur, aber Trost –

Der Detektivroman als intellektuelle, private Ersatzkrisenbewältigung im Alltag also? Trifft das in besonderem Maße auf das weibliche Begehren am Kriminalroman zu? Richard Alewyn zufolge ist er eine Revolte gegen die Trivialität, eine Auflehnung gegen den Alltag und – im Gegensatz zu Brecht formuliert – ein Aufbegehren gegen den Kausalnexus.12 Was also stimmt? Wir werden dieser Frage nach dem (weiblichen) Begehren am Kriminalroman nunmehr in drei Schritten nachgehen: Erstens mit einer kurzen Skizzierung seiner Geschichte und seiner fiktiven Urszene; zweitens, um das Begehren am Kriminalroman dann mit einem negativen Beispiel, einer ausnahmsweise schlechten Geschichte von Dorothy L. Sayers – The image in the mirror – zu illustrieren, um dann drittens zu versuchen, das Begehren mit einer Gegenüberstellung von Kriminalroman und Psychoanalyse zu spiegeln und so – als Vexierbild – zu befragen.

1. Der Detektivroman und seine fiktive Urszene: Aufklärung, Romantik und das Unbewußte Gibt es eine Urszene – den ersten Detektivroman? Umberto Eco hat es übernommen, uns dieses erste Ermittlerpaar zu entwerfen13.

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werden. Im Vergleich mit dem Detektivroman läßt der Thriller den Leser/ die Leserin etwas anderes genießen. Auch hier wird eine Ordnung wiederhergestellt, sein wesentliches Strukturmerkmal besteht jedoch in der Schaffung eines Szenarios überwältigender Angst, die schließlich eingedämmt wird. Die Ablehnung des Detektivromans wird nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass es im Detektivroman um ein Genießen der Gesetze geht. Sie werden gebrochen, um letztlich in ihrem Anspruch auf Gültigkeit bestätigt zu werden. Um diesen Prozeß genießen zu können, bedarf es möglicherweise eines Vertrauensvorschusses in sie. Richard Alewyn (1968/1998), S. 70.

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Das Begehren am Kriminalroman

In dem Roman Der Name der Rose 14 führt er uns vor, wie im ausgehenden Mittelalter William von Baskerville und sein Schüler Adson als Repräsentanten der ›reinen Ratio‹ deduktiv eine Serie von Morden in einem abgelegenen Kloster aufklären. Eco arrangiert seinen Roman mit allen Attributen des klassischen Detektivromans: ein Meister-Schüler-Verhältnis, ein abgeschlossener Ort, eine überschaubare Personenzahl und besondere Regeln, in diesem Falle der klösterlichen Kultur, in die der Leser nebenbei eingeführt wird. Doch Eco gibt uns mehr als den Mythos des ersten Detektivs – er verweist auf eine Situation. Nicht von ungefähr siedelt er die Handlung in der ausgehenden Spätscholastik an, einer Zeit des Umbruchs, in der die Vorstellung eines allmächtigen Gottes, der zugleich auch Quelle und Ursprung aller Dinge und Phänomene (auch des Bösen) ist, Risse bekommt. Der Meisterdetektiv des Romans, William von Baskerville, bezieht sich auf William von Ockham15 als seinen theoretischen Lehrer. Der tatsächliche William von Ockham, eine charismatische Figur, ist einerseits unter ausgesprochen riskanten Bedingungen angetreten, um im Sinne der Zweiweltenlehre16, der Logik und der deduktiven Hypothesenbildungen den Weg zu ebnen, und hat damit den Wissenschaften den Boden bereitet. Andererseits bezeichnet er sich als einen ›Terministen‹17. Damit verbindet sich ein erkenntnistheoretischer An13

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Der Hinweis, daß eigentlich der »Ödipus« die erste Detektivgeschichte gewesen sei, wird oft gegeben. Dies wurde auch in der Diskussion nach unserem Vortrag angeführt. Allerdings hat Marianne Schuler dazu bemerkt, daß es sich um eine Erzählstruktur handelt, die dem Muster der Detektivgeschichte des whodunnit diametral entgegenläuft. Der Leser weiß von Anfang an, wie es war, und Ödipus nimmt nicht die Position des Detektivs ein, sondern erfährt etwas über sich selbst. Vgl. dazu auch Roger Caillos (1941/1989), S. 158. Umberto Eco (1982). William von Ockham (um 1285–1349). In der Nachfolge William von Ockhams kommt es zu einer erheblichen Verunsicherung, weil sich die Vorstellung eines Willkür-Gottes entwickelt, eines Gottes, der also jederzeit die Schöpfung widerrufen könnte. Die Unterscheidung zwischen einer Glaubenswahrheit und einer anderen Wahrheit betont die vertiefte Trennung zwischen Theologie und weltlich rationaler Wissenschaft. Ockham und seine Nachfolger nannten sich selbst Terministen, eine Spielart des Nominalismus, mit der Vorstellung, daß den Allgemeinbegriffen nichts Reales entspreche. Ockham bekämpft die scholastischen ›Realisten‹

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satz, der in der Wahrnehmung die Dinge nicht durch nachahmende Abbilder ihrer selbst repräsentiert sieht, sondern annimmt, daß Zeichen die Statthalter der Dinge sind und damit ein eigenes System bilden. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, daß die Welt immer eine andere ist, als unsere Vorstellung uns sie zu sehen ermöglicht. Gattungsgeschichtlich gilt Der Doppelmord in der Rue Morgue aus dem Jahre 1841 von Edgar Allan Poe als die erste Detektivgeschichte. Der Detektivgeschichte geht jedoch eine andere Form der Kriminalerzählung voraus: die »Schauergeschichte«. Richard Alewyn18 versteht die Flut von Geheimnis- und Schauergeschichten der literarischen Romantik als einen Reflex auf die Aufklärung, die »die ganze Welt zu einem grundsätzlich lückenlosen Kausalnexus erklärt«. Die Wunder seien aus dem Leben verbannt und in die Literatur abgedrängt worden, wo der Leser diese verbotenen Früchte genießen könne, ohne seinem Unglauben untreu zu werden, denn … »weniger leicht, als die Köpfe zu überzeugen, war es, die atavistischen Instinkte zu beschwichtigen«.19 Die Aufklärung also? Die Aufklärung, die alle Herren abschafft und die Vernunft auf den Thron setzt. Das Unheimliche kommt über die Literatur in die Welt zurück. Doppelgänger, unheimliche Mächte und dunkle Triebe bevölkern die literarische Welt E. T. A. Hoffmanns, der als einer der bekanntesten Autoren gelten darf. Bezeichnenderweise ist die Geschichte des Detektivromans, Eco sei die Erfindung des zauberhaften Beginns gedankt, mit erkenntnistheoretischen Fragen verknüpft. Auch in der Romantik geht es um die Frage der Grundlagen von Erkenntnis. Sind die Dinge, wie sie erscheinen? Der Leser der Romantik sucht sich mit Begeisterung in der Literatur zu vergewissern, welche dunklen Mächte, Triebe und verborgenen Persönlichkeitsanteile in seinem unscheinbaren Nachbarn ruhen könnten. R. L. Stevensons Dr. Jekyll/Mr. Hyde (1886) bietet ein anschauliches Beispiel dafür. Erneut geht es um eine Problematik der Repräsentanz. Isaiah Berlin20 vermutet, daß über die Stilmittel der Romantik, wie Allegorie und Symbol, ins Spiel ge-

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und tritt gegen die Auffassung an, Begriffe seien abbildende Nachahmung des Wirklichen. Richard Alewyn (1968/1998), S. 71. A. a. O., S. 71. Isaiah Berlin (2004).

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bracht wird, was ansonsten nicht in die Sprache kommen kann, und fragt sich, ob es hier nicht um die Vermittlung von ›Unbewußtem‹ geht. Auch Freud geht davon aus, daß sich nicht alles symbolisieren läßt, und nennt es z. B. Trauma. Bei Lacan steht hierfür der Begriff des Realen, das sich prinzipiell der Sprache entzieht. »Sexualität, Tod, Gewalt, Nicht-Sinn bilden die Grenze dessen, was ins Symbolische integrierbar ist«21, und bilden die zentralen Themen des Detektivromans. Der Streit in der Literaturwissenschaft, wessen Kind der Detektivroman denn nun sei, der Romantik (Richard Alewyn) oder der Aufklärung und des Rationalismus (Richard Gerber)22, mag für die Leser auf der Ebene des Geschlechts entschieden worden sein. So ist mit Bühler23 zu erfahren, daß der Detektivroman zu Beginn hauptsächlich männliche Leser hatte, die sich an der kühlen, rationalen Aufklärung eines Falles, im Sinne eines Rätsels, delektierten und deren Held Sherlock Holmes war. Das Genießen der Leserin scheint dagegen zwischen den Positionen von Romantik und Aufklärung zu oszillieren. Stellt sich dabei eine Doppellust her? Auf der einen Seite, wie in einem verdrehten Fort-Da, läßt das Lesen des Detektivromans die von der Aufklärung vertriebenen ›Ungeheuer‹, die sich in Mord, Rache, Gier, verschmähter Liebe manifestieren, alle wieder auferstehen und gibt versichernde Hinweise, daß alles noch da ist. Die grandes dames des Detektivromans schrieben und schreiben in Serie, so daß in regelmäßigen Abständen, mit etwa jährlicher Frequenz, mit der Möglichkeit zu rechnen ist, das Unheimliche im Anderen zu genießen. Auf der anderen Seite zelebriert der klassische whodunnit eben nicht den ›Nicht-Sinn‹. Es geht um die Herstellung von Sinn und symbolischer Ordnung. Eines ist garantiert: Der Leser erfährt am Ende, wer es war, wie es geschehen ist und warum. Aber es ist die Geschichte, die wir immer sofort wieder vergessen. Dies mag ein Hinweis sein, daß etwas anderes genossen wird – eine Struktur. Rituell wird zu Beginn das Gesetz gebrochen, fast ausschließlich in der Form eines Mordes, dann wird rekonstruiert, 21 22 23

Peter Widmer (1990), S. 49. Richard Gerber (1966/1998). Patrick Bühler (2002), S. 69 f.

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spekuliert, man spaziert kontrolliert, durch den Detektiv geleitet, in den dunklen Höhlen, in denen die mörderische Motivation wohnt, und schließlich werden ganz sicher die Gesetze wiederhergestellt. Schulz-Buschhaus24 beschreibt den beruhigenden, sogar tröstenden Effekt, der entsteht durch »die permanente Wiederholbarkeit eines Erkenntnis- und Ordnungsprozesses, der – einmal historisch vollzogen – immer wieder erfolgreich erneuert werden kann«. Unsere These ist diesem folgend, daß das Begehren am Kriminalroman in Gang gehalten wird durch ein Genießen der Gesetze an den einbrechenden Rändern des Realen. Es sind diese Ränder, die aufgesucht werden müssen, damit man sie umkreisen kann.

2. Warum das Begehren der Leserin im Detektivroman ungestillt bleiben muß: Dorothy L. Sayers The image in the mirror – Das Spiegelbild Eine Geschichte von Dorothy L. Sayers, die den schönen Titel The image in the mirror trägt, fügt kongenial ein Motiv der Romantik und ein Thema der Psychoanalyse »Ich ist ein Anderer« ineinander und versagt dabei als Detektivroman kläglich. Die Geschichte ist kurz erzählt: Lord Peter Wimsey unterhält sich in einem Hotel mit einem Mann, Mr. Duckworthy. Dieser berichtet über ein traumatisierendes Ereignis im Ersten Weltkrieg. Als junger Mann sei er 1918 Opfer eines Bombenangriffs geworden und habe einen Gedächtnisverlust für den Tag des Ereignisses erlitten. Ein Arzt habe ihn damals untersucht und nebenbei festgestellt, daß er einen sogenannten situs inversus habe – er sei innerlich sozusagen ›seitenverkehrt‹, alle Organe befänden sich auf der anderen Seite. Als Soldat im Krieg und in einer Begegnung mit einer jungen Frau sei er später auf bestimmte Handlungen angesprochen worden, doch habe er selbst daran keine Erinnerung gehabt. Tiefgreifend verunsichert durch die Angst, nicht zu wissen, was er tut, habe er begonnen, sich nachts einzuschließen, und lebe seitdem in stän24

Ulrich Schulz-Buschhaus (1997/1998), S. 533 f.

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diger Unsicherheit, durch andere von den eigenen Untaten zu erfahren. Es sei soweit gegangen, daß er von einem Doppelgänger aus dem Spiegelbild geträumt habe und sogar einmal tagsüber den Eindruck gehabt habe, er begegne diesem an einer Glastür. Es habe sich aber abgewandt und sei weggegangen. Jeden Morgen lese er die Zeitung, in der Sorge, darin über sich etwas zu erfahren. Noch in derselben Nacht erfährt Lord Peter Wimsey durch ein Fahndungsfoto in der Abendzeitung, daß dieser Mann wegen Mordes gesucht wird. Aufgrund der Schilderungen Mr. Duckworthys, den er sofort aufsucht, ist er von dessen Unschuld überzeugt und bietet ihm seine detektivischen Fähigkeiten an, die (dem Leser verborgene) Lösung bereits ahnend. Es stellt sich heraus, daß dieser Mann nicht, wie zu vermuten steht, an einer dissoziativen Störung leidet, und es entfaltet sich keineswegs eine komplexe Jekyll/Hyde-story. Im Gegenteil, Lord Peter Wimsey gelingt es innerhalb kürzester Zeit herauszubekommen, daß das Fahndungsfoto seitenverkehrt vergrößert worden war und der gesuchte Mörder Mr. Duckworthys unbekannter Zwillingsbruder mit korrekter Anatomie und schlechtem Charakter ist. Wegweisend war ihm dabei die Tatsache des seitenverkehrten Körpers (situs inversus), der bei Zwillingen, so sagt er, häufiger anzutreffen sei. Beide wurden kurz nach der Geburt getrennt und wußten nicht voneinander. Der vergessene Zwilling erweist sich sowohl für den Mord als auch für andere Handlungen verantwortlich, die Mr. Duckworthy vorgehalten worden waren. Die Kurzgeschichte umspielt kunstvoll in vielerlei Variationen das Thema der Spiegelung und der Differenz, trotzdem ist der Leser enttäuscht. Dorothy L. Sayers sagt später in anderem Kontext zur Konstruktion des guten Plots: Wo erfunden werde, sei »das Unmögliche, aber Wahrscheinliche vorzüglicher als das Mögliche, das unglaubhaft ist«.25 Wie wahr.

Diese Geschichte lehrt uns, daß das Begehren der Leserin ungestillt bleibt, weil ein anderer eingeführt wird, den wir (so) nicht wollen. Er erfüllt zwar einige der auch von Freud genannten Kategorien des Doppelgängers: er ist unheimlich, weil er vertraute Züge trägt 25

Dorothy L. Sayers (1935/1998), S. 16.

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und dabei trotzdem das unerwartete andere verkörpert – aber er ist von der Autorin für ihre inzwischen vorgebildeten, mit dem Muster des Detektivromans vertrauten Leserinnen viel zu einfach gestrickt. Denn die Befriedigung des Bedürfnisses nach einer einfachen – wenn auch zunächst verborgenen – Lösung entspricht nicht dem Begehren der Krimileserin, die gewohnt ist, daß der Spannungsbogen bis zum Schluß kontinuierlich steigt. Die Schnelle von Bedürfnisbefriedigung ist vielmehr das Kennzeichen eines schlechten Kriminalromans, dem fast food in diesem Genre – vielleicht auch Merkmal einer mißlungenen Analyse. Es ist ungerecht, Dorothy L. Sayers allein mit dieser Geschichte zu präsentieren. Sayers war eine Virtuosin darin, mit dem Begehren ihrer Protagonisten, aber auch mit dem ihrer Leser zu spielen. Am schönsten tat sie es vielleicht in Gaudy Nights/Aufruhr in Oxford von 1935, einem auch von Jutta Prasse heiß geliebten Krimi, der in der Freud-Lacan-Gesellschaft eine kleine Vortragsreihe über das weibliche Begehren an und im Krimi in Gang gesetzt hat. Die Geschichte spielt an einem Frauen-College in Oxford, das mit einer Serie anonymer Briefe obszönen Inhalts konfrontiert wird. Die Kriminalschriftstellerin Harriet Vane, eine ehemalige Absolventin des Colleges – und den Lesern von Sayers Lord Peter Wimsey-Serie als Lord Peters sich stets entziehendes Objekt des Begehrens bekannt –, wird um ihren Rat und ihre Hilfe gebeten. Harriet Vane tut ihr Bestes, mit all ihrem Wissen im Umgang mit Fakten und Spuren, das sie als Schriftstellerin wie auch als Akademikerin erworben hat, aber sie tut sich schwer: Wie Jutta Prasse in ihrer Analyse von Gaudy Nights schon gezeigt hat, wendet sich die schöne Metaphorik des Zitats von John Donne26, das dem Roman vorangestellt ist, gegen sie. Die Universität als Paradies, in dem Ströme von Wissen fließen, bewahrt ihre verschlossenen Gärten (horti conclusi) und versiegelten Brunnen (fontes signati) und 26

»Die Universität ist ein Paradies, Ströme von Wissen fließen darin, Geistesund Naturwissenschaften kommen von dort. Die Seminare sind horti conclusi (wie es im Hohelied heißt), verschlossene Gärten, und fontes signati, versiegelte Borne; bodenlose Tiefen unerforschlichen Ratschlusses.« John Donne, zit. als ein dem Buch ›Aufruhr in Oxford‹ vorangestelltes Motto in Dorothy L. Sayers (1935/1987).

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bleibt Ort unerforschlichen Ratschlusses. Im Verlauf der Ermittlungen, die sie, wie sie es auf der Universität gelernt hat, deduktiv angeht, bleibt ihr das Rätsel des hier zugrunde liegenden Begehrens verschlossen. Sie vermag sich nicht vorzustellen, daß es sich bei den obszönen Anschuldigungen gegen Akademikerinnen, die in lateinischen Hexametern abgefaßt werden, um das Produkt einer unterdrückten Sexualität einer anderen Akademikerin handeln muß. Erst der von ihr zähneknirschend herbeigerufene Lord Peter Wimsey, der sich ihre Schlußfolgerungen und Hypothesen geduldig anhört, weist sie darauf hin, daß nicht nur Vorurteile, sondern auch ihr eigenes ungeklärtes Begehren ihr den Blick auf das Offensichtliche, das dann auch die Leserinnen sehen können, verstellen. (Die Täterin ist letztendlich ein Hausmädchen, Witwe eines Akademikers, der von einer Angehörigen des Colleges eines wissenschaftlichen Täuschungsversuchs überführt wurde, und der sich daraufhin umbrachte und sie mit zwei Töchtern zurückließ.) Wimsey, der einzige, der völlig frei von jeder Verallgemeinerung bleibt, findet die Lösung, indem er in der klassischen Dupinschen und Holmesschen Manier vom augenscheinlich Unmöglichen ausgeht, das nach Ausschluß aller anderen Möglichkeiten als einzig mögliche Lösung übrig bleibt. Wimsey fungiert hier als Harriet Vanes Anderer, der zur Ausstattung eines jeden Detektivromans der klassischen Ära gehört und auch in den modernen whodunnits unverzichtbar ist. Jeder Ermittler, jede Ermittlerin braucht in diesem Genre einen Anderen – einen, der hört und schweigt (und nicht handelt).

3. Der Detektiv und sein Anderer – Bezüge und Nicht-Bezüge zwischen Kriminalroman und Psychoanalyse Der klassische Kriminalroman benötigt in seinem Handlungssetting, wenn alle Spuren gesammelt und gelesen, die vermeintlichen Motive erhoben sind und alle Fäden ins Leere gehen, die Phase des ungehemmten Spekulierens des ratlosen und damit zum Raten verdammten Detektivs. Der Detektiv oder die Detektivin – in diesem 145

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Genre ›das Subjekt, dem unterstellt ist, zu wissen‹27 – versucht, einen vertrauten, möglichst unbedarften, naiven, widerspruchslos zuhörenden anderen (wir kennen alle Sherlock Holmes tumben Watson) darüber zu belehren, was vermutlich passiert ist oder was hätte sein können. Im Monolog des Detektivs, der die verschiedenen Möglichkeiten der Täterschaft, den Tathergang und die vermeintlichen Motive referiert, kommt es zum spekulativen Modellieren oder zur abduktiven Induktion, wie es ein Zeitgenosse Freuds, der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce (1839–1914), formuliert hat, dessen Methode der Abduktion, des kreativen, aber sehr sicheren Ratens, mit der Holmesschen Methode in Verbindung gebracht wurde. Wir haben soeben mit unserer Wortwahl das Spekulieren des Detektivs vor den Ohren seines braven Gefährten mit dem analytischen Setting in Verbindung gebracht und dabei auch noch die Plätze vertauscht. In der Psychoanalyse Lacanscher Prägung ist es der Analytiker als das Subjekt, dem zu wissen unterstellt ist, der die Rolle des schweigenden Anwesenden einnimmt. Aber, wie wir gesehen haben, erzeugt die Spiegelung stets Verdrehungen und Vertauschungen – und wir möchten die Methode des Ratens und Spekulierens im Detektivroman gerne im analytischen Setting spiegeln, um einige Fragen an die Analyse zu richten. Zunächst zu den Gemeinsamkeiten. Sowohl in der Analyse wie im Detektivroman geht es um die Themen Tod und Sexualität. Dem Analytiker wie auch dem Detektiv wird ein Erfahrungswissen unterstellt. Beide betonen in ihren Fallgeschichten zwar immer wieder, daß sie auch nicht mehr wissen als alle anderen Protagonisten, daß sie lediglich fragen und deuten können. Dennoch wird ihnen aufgrund ihrer Fähigkeit, aus den bekannten Fakten andere Schlüsse zu ziehen als alle anderen Beteiligten, ein Mehr an Wissen – manchmal auch ein magisches Wissen, eine Deutungsmacht – unterstellt. Die Lösung des Falls soll Heilung – auch wenn Freud der Heilung nicht die oberste Priorität einräumte –, Klärung bringen. Ana27

Schon Siegfried Kracauer beschreibt in dem 1922 erschienenen Text Detektiv den Ermittler als mit dem »Schein der Allwissenheit« umgeben, als Detektiv-Gott in einer Welt, die Gott schon verlassen hat. Siegfried Kracauer (1922/1998), S. 27.

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lysiert wird in der Psychoanalyse als auch im Detektivroman das Begehren nach einem abwesenden Objekt. Im Detektivroman ist es besonders radikal dem Zugriff entzogen, da es meist um die Rekonstruktion des unerfüllten Begehrens des Toten geht, das die Handlung in Gang gesetzt hat. Hiermit wird das Begehren des Lesers evoziert. Nun zu den Unterschieden: Der Detektivroman beruft sich erklärtermaßen auf etablierte wissenschaftliche Denktraditionen: Philosophie, Logik, Semiotik und Naturwissenschaften, Chemie, Physik und Biologie spielen bei der Aufklärung von Morden, bei der Sicherung und Interpretation von Indizien eine große Rolle. Die vorgeführten Befragungstechniken lassen sich, wenn man denn möchte, bis auf Sokrates Mäeutik28 zurückverfolgen und werden vom Detektiv in klassischer akademischer Manier vorgetragen. Die Psychoanalyse dagegen scheint mit alldem zu brechen. Denn das Unbewußte, das in der Analyse zum Sprechen gebracht werden soll, widersetzt sich jedem logischen Zugriff. Der Analytiker darf zudem nicht deduzieren. Er muß der Rede dessen, der ihn beauftragt hat, zuhören, um das Begehren aufscheinen zu lassen. Er muß sich im Gegensatz zum materielle Spuren und Fakten sammelnden und Zeichen deutenden Detektiv ganz auf die Macht der Sprache verlassen. Es geht ihm um die Wahrheit des in Sprache gehüllten, verhüllten individuellen Begehrens. In einer Psychoanalyse geht es zudem niemals um das Allgemeine, sondern immer um das Besondere; um das Begehren desjenigen, der spricht. Aber, und das wäre jetzt unsere Frage, sind die Differenzen wirklich so groß? Gibt es nicht doch Ähnlichkeiten im Monolog des spekulierenden, logische Hypothesen29 bildenden, scheinbar allwissenden De28

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Sokrates »Hebammenkunst«. Eine dialogische pädagogische Didaktik, beim Schüler durch Fragen das in ihm verborgene Wissen herauszulocken, das ihm selbst nicht bewußt und unzugänglich ist. Sokrates verglich diese Fragekunst mit den Techniken der Hebamme, einem Kind (hier: der Wahrheit, dem Guten & Schönen) ans Licht der Welt zu verhelfen. Platon (2003), Theätet. Stuttgart. Peirce bezeichnete die Abduktion (auch Retroduktion) selbst gern als Raten, oder als Frage, die in Form einer Abduktion gestellt wird. Daß wir meist richtig raten, ist bei ihm durch die Evolution begründet. »Dem Wahr-

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tektivs und dem Sprechen des Analysanten, der nicht weiß, was er mitteilt? Muß nicht in beiden Fällen ein Heraustreten aus dem Alltag gewährleistet werden? Wird nicht in beiden Situationen die gleichschwebende Aufmerksamkeit des Anderen gesucht, egal, ob er nun als unwissend oder allwissend deklariert wird? Wird nicht in beiden Fällen eine Situation erzeugt, »in der es heller wird, wenn jemand spricht«, um Freuds Diktum zu paraphrasieren, wie auch Jutta Prasse das einmal in einem sehr schönen Aufsatz getan hat? Wird nicht auch im scheinbar so logischen Sprechen des Detektivs vor allem deutlich, daß das Begehrte nicht da ist – und wirkt nicht gerade das beruhigend? Ist hier nicht auch die Stimme Halluzination für den Blick, für das, was man zu sehen begehrt? Ist in der Stimme das Begehren aufgehoben? Und ist nicht, und das wäre jetzt unsere eigentliche Frage, die Deutung des Begehrens mit der vom Detektiv bereitgestellten Hypothese – als des Unmöglichen, das übrigbleibt – vergleichbar? Und macht nicht gerade das – das Begehren als das Unmögliche, das am Ende übrigbleibt – den Krimi so attraktiv? Schon Sayers’ Roman scheint aufzuzeigen, daß dem so ist. Die Detektivin/der Detektiv ist Agent der Leserin. Ihm oder ihr wird das Wissen unterstellt, die Symptome lesen zu können und den Fall zu lösen, aber ihr Begehren ist damit nicht gestillt. Ihr Begehren hält das Lesen in Gang – deswegen muß weitergelesen werden.

Es handelt sich beim Lesen von Detektivromanen also keineswegs um ein kathartisches Erlebnis, und wie gesagt: gestillt wird nichts. Die Leserinnen wissen das und nehmen ihn wie ein amuse geule bei Tisch. Ein amuse geule, das ist eine kleine Gaumenfreude, ein kleines Häppchen, mit dem man während eines längeren Menüs Wartezeiten überbrücken kann. Es streift lediglich die Geschmackspapillen, man wird nicht satt, verträgt davon aber eine ganze Menge. scheinlichkeitsprinzip zufolge ist es einem Menschen praktisch unmöglich, durch puren Zufall zu erraten [… es kann …] kein plausibler Zweifel daran gehegt werden, daß das menschliche Denken, da es sich unter dem Einfluß der Naturgesetze entwickelt hat, aus diesem Grund auch mehr oder weniger in naturgesetzlichen Bahnen verläuft.« (Peirce, zit. n. Thomas A. Seboek/Jean Seboek [1985], S. 36 f.)

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Das Begehren am Kriminalroman

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Birgit Althans & Antke Tammen Vogt, Jochen (1998): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München (Fink). Widmer, Peter (1990): Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder Die zweite Revolution der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. (Fischer). Abbildung: Der Originaldruck des von uns verfremdeten Bildmaterials heißt »The Tales of Wonder« und befindet sich im British Museum, London.

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Ilsabe Witte

La donna delle stelle – Die Liebe zur Übertragung »… und sprechen!« Mit dieser Aufforderung beginnt ein Film mit dem schönen italienischen Titel L’uomo delle stelle, wörtlich: »Der Mann der Sterne«. Sterne, stars, Filmstars, »neue Gesichter für das Kino«: ein Mann, Joy Morelli, fährt in den fünfziger Jahren mit einem alten Lastwagen durch ein malerisches Bergdorf in Sizilien und preist sich per Megaphon an als Entdecker von Talenten, als Mann mit den besten Verbindungen zum großen Regisseur Victor de Sica und zur Universalfilmgesellschaft in Rom, eine sichere Karriere winkt […], Erfolg und Geld für jeden! Und die Menschen strömen herbei, sammeln sich auf dem Dorfplatz vor seinem Zelt, nehmen Platz vor seinem großen Filmapparat … und sprechen. Morelli hatte zuvor Textzettel zum Auswendiglernen verteilt, blau unterstrichen die Passagen für die Männer, rot für die Frauen. Man sieht das Dorf aufgeregt auf den Beinen, Dialoge deklamierend, bis schließlich eine junge Frau als erste vor der Kamera das Wort ergreift. Sie spricht die auswendig gelernten Sätze: »Ich werde den Weg zu ihm finden – aber nicht heute. Verschieben wir’s auf morgen!«, um dann plötzlich fortzufahren: »Morgen, morgen – bring ich mich um!« – »Warum?« fragt Morelli. Von dieser Frage an wird dem Zuschauer klar, daß es für Morelli noch um etwas anderes zu gehen scheint als um ein gelungenes Rollenspiel oder um die Fähigkeit zu dramatischer Darstellung. »Sprich doch, sag einfach, was dir einfällt, was dir in den Sinn kommt«, sagt er dem nächsten, etwas einfältig dreinschauenden Bauern. Als sich zwei Brüder vor der Kamera beklagen, daß sie vor Schreck den lange eingeübten Satz vergessen hätten, antwortet er nur: »Macht nichts, redet von eurer Familie!« Ich weiß nicht mehr, wann genau sich meine Perspektive auf den Film geändert, quasi verschoben hat, wann sich, wie es bei einem Vexierbild geschieht, in einem plötzlichen Umkippen eine andere Sicht und ein anderes Hören eingestellt hat. 151

Ilsabe Witte

Nachträglich betrachtet, könnte es der Moment gewesen sein, an dem man als Zuschauer erfährt, daß Morellis silbernglänzende Filmrollenbehälter lediglich alte, längst belichtete Zelluloidstreifen enthalten, daß er demnach nichts aufzeichnen kann, keine Probeaufnahmen »nach oben« zur Universa nach Rom schickt, daß er vor dem Hintergrund seiner Versprechungen schlicht und einfach ein Betrüger ist. Die Menschen sprechen also vor einer Filmkamera, in der sich kein Film befindet, und gleichzeitig erlebt man, wie sich ein sehr eigenes Sprechen über das Leben jedes einzelnen entwickelt, Bahn bricht, das in seinem Ernst, seiner Verzweiflung, seinem Realismus und seiner Phantasie, auch seiner Angeberei und Protzerei, seiner Schlichtheit und Leidenschaft einfach ergreifend ist. Morelli als Psychoanalytiker – diese Sichtweise erzeugt nun einen neuen Film mit einem anderen Ernst und auch einem anderen Witz: Es ist schon witzig, wie wichtig ihm das Geld ist, wie penibel er Quittungen ausstellt und wie entschieden er am Ende jeder »Sitzung« auf dem Bezahlen besteht. Verführungsversuchen schöner Frauen steht er sehr reserviert gegenüber und bleibt standhaft, fast jedenfalls. Nach einer Sitzung, in deren Verlauf der Große Geheimnisvolle des Dorfes, ein seit seiner Rückkehr aus dem spanischen Bürgerkrieg verstummter, mit schwarzer Pelerine bekleideter Mensch in der Nacht zu ihm gekommen war, um für einmal noch seine Stimme zu erheben: »Ich lag in vorderster Front … das fünfte Regiment … das Maschinengewehr rattert, immer rattert das Maschinengewehr, und Franco spaziert immer weiter …«, ist er so erschüttert und erschöpft, daß er sich zu einem langen Stoßseufzer hinreißen läßt: »Völlig durch den Wind, der Mann! Echte Verrückte sind das alle, und wenn sie bei mir auch noch zu heulen anfangen …!« Bei anderer Gelegenheit bringt er ziemlich beherzt und kaltblütig drei Gauner, die ihn brutal überfallen und an sein Geld wollen, davon ab und zum Sprechen. Als er danach wie immer sein Honorar einfordert, sind die drei fassungslos: »Erst rauben wir ihn nicht aus, dann schneiden wir ihm nicht die Kehle durch, und dann will er auch noch unsere Knete!« 152

La donna delle stelle – Die Liebe zur Übertragung

Und sie bezahlen ihn. So habe ich Morelli zum Psychoanalytiker werden lassen; aber was hat nun die Menschen dazu gebracht, in seiner Gegenwart, vor seinem Filmapparat, so anders zu sprechen als in ihrem Alltag, und damit gar nicht so selten ihrem Leben eine andere Richtung zu geben, etwas Entscheidendes in ihrem Leben ändern zu können? Freud schreibt in den »Bemerkungen über die Übertragungsliebe« von dem Ausbrechen der Liebe zu Zeiten der Kur: »Es gibt einen völligen Wechsel der Szene, wie wenn ein Spiel durch eine plötzlich hereinbrechende Wirklichkeit abgelöst würde, etwa wie wenn sich während einer Theatervorstellung Feuerlärm erhebt.«1 Die hereinbrechende Wirklichkeit, coup de foudre, vom Blitz getroffen, das trifft mich wie ein Schlag, vom Donner gerührt, unsere Sprache bietet einiges auf im Versuch, etwas, ein Weniges über den »Wirklichkeitsschock«, das Reale, an dessen einem Pol die Liebe steht, zu sagen. Ein künstliches Arrangement, ein Theater, ein Zelt mit einem Filmapparat ohne Film oder eben ein psychoanalytisches Kabinett, gibt den Rahmen dafür, daß sich in der Übertragung, mit Hilfe der Übertragung, etwas sagen läßt, etwas in die Sprache kommen kann, das, wenn es gutgeht, Gewicht wegnimmt und es vielleicht nicht ganz anders, aber leichter weitergehen läßt. Schließen möchte ich, indem ich nochmals Freud zu Wort kommen lasse, seine Worte aber aus ihrem wohlbekannten Zusammenhang reiße, um ihn als uomo delle stelle sprechen zu lassen: »[…] daß ich ihm natürlich aber nichts schenken könne, worüber ich keine Verfügung habe. Ebensogut könne er mich bitten, ihm zwei Kometen zu schenken.«2

1

2

Sigmund Freud (1915a [1914]): Bemerkungen über die Übertragungsliebe (Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse, III). In: S.A. Erg., S. 222. Sigmund Freud (1909d): Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose [Der »Rattenmann«]. In: S.A. VII, S. 44.

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Cornelius Tauber

Kunst und Deckerinnerung 1. Maus Das Buch Maus des amerikanischen Zeichners und Comicautoren Art Spiegelman ist ein außergewöhnliches Comicbuch.1 Spiegelman hat an diesem zweibändigen Buch – vorab in einzelnen Kapiteln veröffentlicht – von 1978 bis 1991 gearbeitet. Maus I erschien 1986, Maus II im Jahr 1991.

Titelbild von Maus I und Maus II

Maus, Titel im Original deutsch, handelt von der Geschichte der jüdischen Familie des Autors während des Holocaust in Polen und Deutschland. Die Geschichte wird als Erzählung des Vaters von Art Spiegelman, Vladek Spiegelman, dargestellt. Vladek Spiegelman erzählt sein Leben, »blutet Geschichte«, wie es im Untertitel des Buches heißt. Er erzählt von seiner Familie, die in Polen in Czesto1

Art Spiegelman (1986): Maus I, New York 1986, und Art Spiegelman (1991): Maus II, New York. Alle im folgenden zitierten Textstellen und dargestellten Abbildungen von Art Spiegelman sind aus diesen Werken.

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Kunst und Deckerinnerung

chowa gelebt hat, nahe der deutschen Grenze, und von der Familie seiner Frau Anja Zylberberg, die aus Sosnowiec stammte. Und er erzählt davon, daß fast alle Mitglieder dieser Familien einschließlich des ersten Sohnes von Anja und Vladek, Richieu, in den Jahren von 1939 bis 1945 in den Ghettos und Konzentrationslagern, die die deutschen Besatzer in Polen errichtet hatten, entweder ermordet worden oder der drohenden Ermordung durch Selbstmord entgangen sind. Vladek erzählt diese Geschichte in vielen kleinen Episoden aus der Erinnerung, sein Sohn Art ist der Aufzeichner (im doppelten Sinn), mein Vortrag soll von den Besonderheiten dieser Aufzeichnung handeln. Art fügt dem Text der Erzählung, die er aufzeichnet, noch die Zeichnung hinzu, die sich aus den Bildern speist, die die Erzählung des Vaters im Zuhörer Art evozieren, die Art aus den Geschichtsbüchern kennt, die er in Filmen wahrgenommen hat. Diese Bilder bekommen seine Handschrift, die sich aus dem Genre des Comics speist, einer für das Thema ungewöhnlichen Darstellungsform.

2. Eine Kindheitserinnerung von Art Spiegelman Das Buch beginnt mit der Wiedergabe einer Kindheitserinnerung des Autors Art Spiegelman. Eine alltägliche Szene: Art spielt mit seinen Freunden, sie fahren Rollschuh. »Wer als letzter am Schulhof ist, ist ein stinkendes Ei.« Art stürzt und seine Freunde lassen ihn zurück. Er geht nach Hause, weinend, und erzählt dem Vater, was geschehen ist. »Freunde, du sagst Freunde? Wenn du sie eine Woche zusammen in einem Raum einsperrst, ohne Essen, dann kannst du sehen, was Freunde sind.« Im Comic wird gezeigt, daß der Vater sägt, es heißt: »Mein Vater war vorne (in front) dabei, etwas festzumachen.« Der Sohn weinte. Der Vater hört zwar auf zu sägen, aber man sieht, daß er gleich fortfahren wird. Die Antwort des Vaters gibt nicht den vom Sohn wohl erwarteten Trost, sondern die Verbitterung des Vaters macht deutlich, daß er von eigenen Erfahrungen spricht, die in der Welt des Sohnes völlig unverständlich sein müssen. Art Spiegelman setzt diese Episode exemplarisch an den Beginn von Maus I, gleichsam als ob durch 155

Cornelius Tauber

Deckerinnerung 1 und 22

sie der Wunsch des Sohnes nach Verständnis der Lebensgeschichte seiner Eltern erst geweckt worden wäre.

3. Die Geschichte, vom Ende her erzählt In der Regel erzählen die »Sieger« die Geschichte, die anderen sind meist mundtot!3 Die Geschichte von Anja und Vladek weist in der Darstellung des Buches in eine ganz andere Richtung. Sie handelt 2 3

Abb. Spiegelman: Maus I, S. 5 und 6. Walter Benjamin nennt dies, mit Bezug auf den Historiker Fustel de Coulanges, Geschichtsschreibung mit dem Mittel der Einfühlung. Einfühlung zielt nach Coulanges darauf ab, die Folgen der Geschichte auszublenden, um sich völlig in die historische Zeit hineinzuversetzen, denn nur so könne eine Epoche möglichst getreu nacherlebt werden. Benjamin sieht darin die »Fühllosigkeit« des Historismus, bei der der Geschichtsschreiber sich immer nur in den Sieger der Geschichte einfühlt. Für den historischen Materialisten sei es dagegen wichtig, das Aufblitzen des Bildes der Vergangenheit in der Gegenwart zu erfassen, wie es in einem Moment der Gefahr aufblitzt. Siehe: Walter Benjamin (1974): Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften, Band I 2, S. 696, Frankfurt a. M.

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Kunst und Deckerinnerung

Die Ankunft von Anja und Vladek in Auschwitz4

davon, daß es fast unmöglich war, die Ghettos und Lager zu überleben. Die Erzählung der Überlebenden ist so – vor allem – eine Erzählung über diejenigen, die nicht überlebt haben. Die Überlebenden, die Survivor5, sind keine Sieger, sie sind Zeugen. Maus I und II ist der Versuch, das Zeugnis dieser Zeugen in einer Form darzustellen, die den Inhalt des Erzählten weder als vereinzelte biographische Anekdote noch als bloß exemplarisch für einen übergeordneten historischen Zusammenhang erscheinen läßt. Freud weist in seinem Leonardotext darauf hin, daß gewöhnlich biographische Texte dazu tendieren, den Gegenstand der Darstellung zu idealisieren oder zumindest als bruchlos darzustellen.6 Die Psychoanalyse richtet das Interesse nicht unmittelbar auf das 4 5

6

Abb. Spiegelman: Maus I, S. 157. Der Ausdruck Survivor ist eine in den USA gängige Bezeichnung für Überlebende des Holocaust. Vgl. Sigmund Freud (1910): Eine Kindheitserinnerung des Leonardo. G.W. VIII, S. 128. »Wenn die seelenärztliche Forschung, die sich sonst mit schwächlichem Menschenmaterial begnügt, an einen der Großen des Menschengeschlechts herantritt, so folgt sie dabei nicht den Motiven, die ihr von den Laien so häufig zugeschoben werden. Sie strebt nicht danach, ›das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen‹; es bereitet ihr keine Befriedigung, den Abstand zwischen jener Vollkommenheit und der Unzulänglichkeit ihrer gewöhnlichen Objekte zu verringern.«

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Ein Beispiel für die Erzählung mit Rahmenhandlung: Der Tod von Mandelbaum. Die Schrifttafel im 3. Bild verdeckt den toten Körper von Mandelbaum wie ein Leichentuch, wobei die Texttafel in ihrer bildlichen Form als Kommentar aus der Gegenwart dem Geschehen etwas hinzufügt, was in der historischen Situation brutal verweigert wurde, nämlich die Würde des Körpers des Toten zu achten.7

Gegenteil aus, sondern sie fragt nach weiteren Momenten der Geschichte, nach den Triebschicksalen und ihren Auswirkungen, die im Fall von Leonardo nach Ansicht von Freud die Hemmung seiner künstlerischen Tätigkeit war8. Art Spiegelman gliedert Maus in einzelne Kapitel, mit zum Teil anspielungsreichen Überschriften wie »the sheik« (der Scheich), was sich auf den Spitznamen des Vaters bezog, der als junger Mann gerne mit Rudolph Valentino verglichen wurde. Andere Titel sind sehr bezeichnend, wie »mouse hole«, Mauselöcher (Verstecke) oder »mouse trap«, Mausefalle (in der Falle) und dann auch »Mauschwitz«, ein Kapitel über Auschwitz. 7 8

Abb. Spiegelman: Maus II, S. 35. Vgl. Freud, S., a. a. O., S 134. Er schreibt: »Die Langsamkeit, die an Leonardos Arbeiten von jeher auffiele, erweist sich als ein Symptom dieser Hemmung, als der Vorbote der Abwendung von der Malerei, die später eintrat.«

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Kunst und Deckerinnerung

Die Kapitel werden durch eine Rahmenhandlung begleitet, die meist in die Episoden einführt, diese gelegentlich auch unterbricht oder abschließt. Die Rahmenhandlung spielt in der Gegenwart, d. h. in der Entstehungszeit des Buches, und sie zeigt in der Regel Art im Gespräch mit seinem Vater, mit dessen zweiter Frau Mala oder mit seiner ersten Frau Jaqueline. Die Gespräche handeln vom Alltag, von häuslichen Problemen, gelegentlich auch vom Buchprojekt, wodurch die Rahmenhandlung nicht nur als Zutat zur Erzählung, sondern vor allem als wesentliches Stilmittel der Wiedergabe erkennbar wird. Vladek spricht in den Gegenwartssequenzen häufig von seinen gesundheitlichen oder auch von seinen Eheproblemen, bevor er dann beginnt, die eigentliche Geschichte zu erzählen. Art protokolliert diese Erzählung, später nimmt er sie auf Tonband auf. Er interveniert selten, meist fragt er nur, aber er ist auch kein »neutraler, im naturwissenschaftlichen Sinne objektiver Recorder«, denn schließlich geht es hier auch um die Geschichte seiner Eltern und seines toten Bruders. Die Einführung einer Rahmenhandlung führt den Leser, vermittelt durch die in der Darstellung auftauchende Person Art Spiegelmans, als Zuhörer in eine Identifikation nicht mit dem Erzähler Vladek (dem Protagonisten), sondern mit dem Aufzeichner (Zuhörer) Art. So werden die Zuhörer/Leser weiterhin mit den Fragen nach der Erzählbarkeit selbst, nach der Form der Darstellung konfrontiert. Ich zeige hierzu eine kleine Episode, in der Art mit seinem Analytiker Pavel spricht. Das Thema des Gesprächs ist das Überleben. Art berichtet von einer Schreibblockade. »Es ist zu schrecklich, an Auschwitz zu denken.« Er ist in der Zwischenzeit durch die Veröffentlichung von Maus I berühmt geworden, er hat großen Erfolg bei Lesern und Kritik, doch was zählt das gegen die Leistung des Vaters, Auschwitz überlebt zu haben. Pavel spricht von der Schuld 9 des Vaters, die dieser womöglich auf den Sohn übertragen habe. Art fragt Pavel10, ob er als ein Überlebender der Lager Schuld fühlt.

9

10

Im Originaltext gesperrt, dies gilt auch für die folgenden Textpassagen, die kursiv gesetzt sind. Der Analytiker wird im Text als Pavel vorgestellt. Auch er ist ein Überlebender. Die Wahl dieses Analytikers ist sicher nicht zufällig.

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Beim Analytiker Pavel 11

»Nein, nur Traurigkeit« lautet dessen Antwort. Letztlich, sagt Pavel, haben nicht die Besten überlebt, es waren auch nicht die Besten, die gestorben sind, sondern es war Zufall. Der Analytiker trägt in dieser Situation deutlich kenntlich eine Mausmaske. Auch er ist, ähnlich wie Art Spiegelman als Autor des Buches, in einer doppelten Funktion anwesend, er ist sowohl Analytiker12 als auch Survivor.

4. Maus Warum ist die Maus eine Maus? Warum werden die Juden als Mäuse, die Deutschen dann entsprechend als deren natürliche Feinde, d. h. als Katzen, die Polen als Schweine, die Franzosen als Frösche oder die Amerikaner als Hunde gezeichnet? Man könnte meinen, es handele sich um eine Tierfabel, allerdings ist die Figur

11 12

Abb. Spiegelman: Maus II, S. 45–46. Zudem gehört es zur Rolle des Analytikers, nicht zum Teil der Lebensgeschichte des Analysanden zu werden, sondern die Übertragung stattfinden zu lassen, die dann ja auch wieder aufgelöst werden muß.

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Kunst und Deckerinnerung

der Maus im Reich der Fabeln und Märchen eher selten13. Dafür ist aber die wohl berühmteste Comicfigur der Welt eine Maus, nämlich Mickymaus. Art Spiegelman stellt dem Buch Maus II als Motto einen Ausschnitt aus einer deutschen Zeitung voran, der Mitte der dreißiger Jahre erschienen ist. Ich zitiere14: »Mickey Mouse ist das schlechteste Ideal, das je hervorgebracht worden ist. […] Gesunde Gefühle sagen jedem aufstrebenden jungen Mann, jeder tugendhaften Jugend, daß das schmutzigste und verdorbenste Tier im Tierreich, der größte Überträger von Bakterien, niemals ein ideales Tier sein kann. […] Hinfort mit der jüdischen Brutalisierung der Menschheit! Nieder mit Mickey Mouse! Tragt das Hakenkreuz!«15

Dieser seltsame Vergleich von Juden und Mäusen ist also das Vorbild für die Wahl der Darstellung. Mickey Mouse ist auch die einzige Comicfigur, von der Vladek erzählt, daß er sie kennt. Zum besseren Verständnis der Wahl des Motivs Maus möchte ich an dieser Stelle auf die Eigengesetzlichkeit des Genres Comics eingehen. Dazu werde ich mich auf das Buch Understanding Comics16 des Zeichners Scott McCloud beziehen, das selbst in der Form eines Comics geschrieben ist. Zu den Grundregeln des Comics gehört nach McCloud, daß die Abbildung eines Porträts um so universeller ist, je mehr sie sich dem Cartoon nähert.17 Zu dieser Reihe von McCloud kann man ergänzen: Je cartoonhafter die Darstellung, um so eher ist es den Lesern möglich, sich 13

14 15 16

17

Marianne Schuller hat in der Diskussion des Vortrags auf ein Beispiel für die Verwendung der Maus als Fabeltier in der Erzählung von Franz Kafka »Josefine die Sängerin oder Das Volk der Mäuse« hingewiesen. Sie bemerkte, daß das Volk der Mäuse in dieser Erzählung als eine Anspielung auf den Begriff »das Volk der Juden« verstanden werden kann. Die Erzählung Kafkas wurde 1924 in der Zeitschrift »Prager Presse«, 1924, No. 110 (Apr. 20, 1924) zuerst veröffentlicht. Rückübersetzung ins Deutsche von mir; C. T. Zitiert nach Art Spiegelman: Maus II, S. 4. McCloud, Scott Understanding Comics, deutsch: Comics richtig lesen, Hamburg 1993. Alle Abbildungen im folgenden von McCloud aus diesem Buch. Cartoon im Sinne von vereinfachender, stilisierender Darstellung. Die cartoonhafteste Darstellung ist demnach das einfache Strichmännchen.

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Abbildung McCloud: Bildreihe

mit den Erzählfiguren zu identifizieren18, da diese in der konkreten Handlung immer auch als exemplarisch für viele gesehen werden können. Für den Comicautor Art Spiegelman bietet das Mausmotiv die Möglichkeit, eine Geschichte von universeller Bedeutung in individualisierter Form zu erzählen. McCloud definiert Comics als »sequentielle Kunst«. Das Besondere dieser sequentiellen Darstellung ist, daß sie bildliche und auch andere Zeichen räumlich anordnet (während der Film sie zeitlich anordnet), d. h., der Comic besteht meist aus Bild und Text in beliebiger räumlicher Anordnung. An Hand der sequentiellen Erzählform arbeitet McCloud eine Vielzahl unterschiedlicher Darstellungsmöglichkeiten des Comics heraus, von denen ich zum besseren Verständnis von Maus zwei Aspekte herausgreifen will. Ein Comic besteht zwar aus Einzelbildern, doch das wesentliche erzählerische Element ist die Lücke zwischen den Bildern, der »Rinnstein«, wie es die Zeichner nen18

Freud weist darauf hin, daß Identifizierung schon durch einen einzigen Zug ausgelöst werden kann.

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Kunst und Deckerinnerung

Abbildung McCloud: Beispiel für die sequentielle Erzählform des Comics: Der »Axtmord«

nen. Diese Form der Darstellung bietet reichhaltige Möglichkeiten. Man kann mit den Rahmen, den Panels selbst spielen. Indem man sie wegläßt, wie es McCloud hier tut, und wie es auch Spiegelman für seine Rahmenhandlung nutzt, erzeugt man eine Zwischenebene der Erzählung, eine Rahmung des Textes. Zudem bietet diese Form der sequentiellen Darstellung auch die Möglichkeit der Verdichtung der Erzählung, die so weit reichen kann, daß der Zeichner bewußt das vermeintliche Geschehen ausspart.19 Spiegelman nutzt die Möglichkeit der Verdichtung der Erzählung an vielen Stellen. Ich habe hierzu ein Beispiel ausgewählt, daß ein Erlebnis von Anja in Auschwitz Birkenau wiedergibt. Man sieht, wie sie durch einen Kapo mit Stiefeltritten gequält wird. Sie kann diese Qual beenden, weil sie in Auschwitz Kontakt zu Vladek gefunden hat, der während dieser Zeit in der Schusterei arbeitet und so die Möglichkeit hatte, die Stiefel des Kapo heimlich zu reparieren. 19

Man beachte, daß McCloud in der unteren Zeile den Abstand zwischen den beiden Bildern der Handlung so vergrößert, daß hier nun die Figur des erläuternden Autors selbst auftauchen kann.

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Cornelius Tauber

Anja im KZ. Die Darstellung selbst ist überaus »dicht«, neben der Verknappung der Geschichte fällt auf, daß die Bildhintergründe fast geschwärzt sind.20

Durch die Darstellung der Personen in der Form der Fabel ist es schwierig, die Handelnden im Bild voneinander zu unterscheiden. Die Maus als Figur eignet sich nur bedingt für eine individualisierte Darstellung. Deshalb werden die Personen durch ergänzende Attribute unterschieden. Vladek erkennen wir in der Rahmenhandlung an seiner Brille, während Art immer eine Weste trägt und in der Regel eine Zigarette raucht. Diese Attribute sind als Zeichen zu lesen, wodurch das in der Geschichte Dargestellte immer auch als Bezeichnetes kenntlich, d. h. zu entziffern bleibt. Ich resümiere: Bislang habe ich über zwei rhetorische Mittel gesprochen, die Spiegelman nutzt, um Maus zu erzählen. Durch die Rahmung wird aus einer biographischen Geschichte eine Geschichte, in der die gewählten Mittel der Darstellung selbst thematisiert werden. Mit Bezug auf Benjamin kann man sagen, daß es notwendig ist, das Aufblitzen der Vergangenheit in der Gegenwart 20

Abb. Spiegelman: Maus II, S. 63.

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selbst zum Fokus der Darstellung zu machen, da sonst allenfalls nur eine sentimentale Einfühlung in das historische Geschehen versucht werden könnte, ein Unterfangen, das angesichts des Grauens von Auschwitz den Gehalt der Geschichte nur verfehlen kann.21 Durch die Cartoonform wird die persönlich erzählte Leidensgeschichte des Vaters in den Kontext eines kollektiven Leidens gestellt und bekommt so einen exemplarischen Charakter.

5. Anja und Vladek Im Jahr 1968 hat sich Anja Spiegelman das Leben genommen. Sie hat kein Wort oder keinen Abschiedsbrief hinterlassen, wie Vladek immer wieder betont. Art Spiegelman hat 1973 über den Tod der Mutter ein Comic gezeichnet, mit dem Titel: Prisoner of Hell, Gefangener der Hölle. Dieser Comic wird in Maus als Zitat abgebildet. Er zeigt Vladek und Art, von Trauer überwältigt; er zeigt Art, der sich in Selbstmitleid und Selbstanklagen ergeht und der zuletzt in einer Art von Schuldgefängnis landet, wo er seine Mutter anklagt: »Du hast mich ermordet!« – doch aus einer anderen Zelle ruft einer herüber: »He, Alter, nun mal leise, hier wollen Leute schlafen!« Es ist wahrscheinlich dieser lakonische Humor, der bewirkt, daß Maus im Ton mitunter zwar anrührend, aber niemals sentimental ist. In Anlehnung an Freuds Traumdeutung könnte man sagen: Der Gedanke einer Geschichte ist nicht zugänglich, nicht rezipierbar, nicht einfach da. Es bedarf der Arbeit des Erzählens. Dieses Erzählen, auch das zeigt Freud, ist nicht »einfach zu haben«, Erzählung und Darstellung sind dabei nicht nur die Mittel der Wiedergabe, sondern hier zeigen sich auch die Widerstände, die sich der Erzählung entgegenstellen. Ein Moment des »Erzählwiderstands« ist in diesem Fall der Erzähler selbst, nämlich Vladek Spiegelman. 21

Dies gilt auch dann, wenn Art in Gesprächen mit seiner Frau sich immer wieder vorstellt, er würde sein Buch besser schreiben können, wenn er das Schicksal der Eltern selbst miterlebt hätte, wodurch er sich gedanklich in die Position der Einfühlung begibt. Gerade an dieser Stelle ist es von höchster Bedeutung, daß Spiegelman als Autor an keiner Stelle die Position des Einfühlenden einnimmt, was gerade nicht impliziert, daß er nicht mitleidet.

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Das Comic »Prisoner of Hell« (1973) über den Tod der Mutter wird in Maus I vollständig zitiert, dabei werden die Seiten schwarz gerahmt (ähnlich einer Traueranzeige). Die Darstellungsform unterscheidet sich deutlich von Maus, sie erinnert in der Betonung der Linien und der Konturen an expressionistische Holzschnitte.22

Vladek Spiegelman wird als ein äußerst schwieriger Mensch gezeigt. Vor allem in den Geschichten der Rahmenhandlung wird dies angesprochen. Auf der Straße hebt er ständig irgendwelche Dinge auf, die er noch verwenden will, alte Drähte, Papierfetzen, usw. Das Thema seiner Krankheiten – er hat Diabetes, schlechte Augen und auch ein schwaches Herz – wird von ihm in fast jedem Gespräch erwähnt. Daneben steht die Dauerklage über Mala, seine zweite Frau, die ebenfalls eine Überlebende ist und der er vorwirft, sie wolle nur sein Geld. 22

Abb. Spiegelman: Maus I, S. 103.

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Zählritual 23

Immer wieder taucht fast beiläufig Vladeks Zählritual auf. Er zählt jeden Morgen seine Tagesration von Pillen ab, wobei aber ständig etwas dazwischenkommt. Später erfährt man, daß er die meisten dieser Pillen gar nicht auf Grundlage einer Verschreibung einnimmt, sondern weil er glaubt, diverse Vitaminpräparate zu brauchen. Es liegt nahe, dieses Zählritual mit einer ganz anderen Zählung zu verbinden, nämlich den oftmals stundenlang dauernden Zählappellen im KZ. »Immer wieder mußte von vorne gezählt

Zählappell 24 23 24

Abb. Spiegelman: Maus II, S. 77. Abb. Spiegelman: Maus II, S. 50.

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werden, weil sich die Aufseher verzählt hatten. Oft dauerte das die ganze Nacht.« Im Text wird dieser Zusammenhang nicht unmittelbar hergestellt. Art begegnet den ständigen Klagen des Vaters meist mit Gleichmut, man könnte auch sagen, mit einem passiven Widerstand, aber wenn es ihm zuviel wird, dann kann er auch sehr fordernd sein: »Das interessiert mich jetzt nicht. Erzähl weiter von Auschwitz«, heißt es dann. Ähnlich wie in der Eingangssequenz des Buches, als der Vater auf den Kummer des Sohnes beim Spiel nicht eingeht, übergeht nun der Sohn die Klagen des Vaters, fordert aber statt dessen die Fortsetzung der Erzählung, deren Anfang er als Kind in erratischer Form wohl zuerst gehört hatte. Am Schluß von Maus I schildert Art Spiegelman eine äußerst harte Auseinandersetzung mit dem Vater. Art hat erfahren, daß seine Mutter in Auschwitz ein Tagebuch geführt hat, welches sie nach dem Krieg, weil es verlorengegangen war, noch einmal aus dem Gedächtnis aufgeschrieben hat. »Ich brauche das Tagebuch unbedingt für mein Buch, das wird die Darstellung um einen wesentlichen Gesichtspunkt erweitern«, sagt Art im Gespräch mit seiner Frau.

Schlußbild Maus I 25 25

Abb. Spiegelman: Maus I, S. 159.

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Nach einigen Umschweifen gibt Vladek schließlich zu, daß er das Tagebuch in seiner Verzweiflung nach dem Tod von Anja verbrannt hat. Auf Arts Nachfragen erwähnt er, daß er das Buch nicht gelesen habe, aber er erinnere sich, daß es von Anja vor allem ihren Nachkommen, d. h. auch ihrem Sohn, gewidmet worden sei. »Himmel, du bewahrst jeden wertlosen Scheiß auf, … Verdammt, du, du Mörder«, ruft Art. Art entschuldigt sich für diesen Ausbruch, doch auf dem Heimweg sieht man ihn, das Wort »Mörder« vor sich hin murmelnd. Dies ist das letzte Bild von Maus I.

6. Richieu

Porträtfoto Richieu 26

Ein weiterer Widerstand der Erzählung27 gegen das Buchprojekt ist der Autor selbst. Hierbei kann man zwei Themen unterscheiden. Das erste Thema ist die Frage, die Art Spiegelman sich häufig stellt, ob man überhaupt ein Comic über Auschwitz machen dürfe, ob 26 27

Abb. Spiegelman: Maus II, S. 5. Das Bild ist dem Buch vorangestellt. Neben der Person von Vladek, a. a. O.

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diese Geschichte nicht viel zu komplex für das Medium des Comics sei. Dieser Zweifel dient letztlich der Selbstvergewisserung28 des Autors. Das zweite Thema ist das Verhältnis Arts zu seinem Bruder Richieu, der 1943 zu seiner Tante Tosha in das Ghetto von Zawiercie geschickt worden war, weil man dachte, daß er dort eine größere Überlebenschance hätte. Aber es kam anders. Nach einem Wechsel der Wachmannschaft sollte das Ghetto geräumt werden, d. h., die Insassen sollten nach Auschwitz deportiert werden. Darauf beschloß Tosha, sich gemeinsam mit ihren Kindern und Richieu das Leben zu nehmen, damit sie nicht in der Gaskammer enden müßten.

Art Spiegelmann als Zeichner mit Maske 29 28

29

Vgl. hierzu Sigmund Freud (1925): Die Verneinung. G.W. XIV. Freud betont, daß der Zweifel in der Analyse meist die erste Form der Anerkennung eines verdrängten Inhalts ist, der ja dank der Zensur in seinem vollen Inhalt für das Bewußtsein nicht zugelassen werden kann. Abb. Spiegelman: Maus II, S. 41.

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Kunst und Deckerinnerung

Richieu wurde von seinen Eltern sehr betrauert. In ihrem Schlafzimmer, erzählt Art, stand immer ein Bild von Richieu, aber nie ein Bild von Art. Dabei sieht er sich in aussichtsloser Konkurrenz zu seinem Bruder, der ja sein ganzes Leben noch vor sich hatte, womöglich eine glanzvolle Zukunft gehabt hätte, während Art, kann man ergänzen, mit den Eltern gemeinsam aufgewachsen ist, so keinen Anlaß zu solchen Projektionen bieten konnte. Vielleicht hat sich aus dieser Konstellation für Art eine besondere Verpflichtung ergeben, die Geschichte seiner Eltern und auch seines Bruders aufzuzeichnen. Ich möchte zum Abschluß noch über einen wichtigen Punkt sprechen, der die Frage der Darstellung betrifft. Hierzu möchte ich Ihnen eine Passage aus Maus II zeigen, in der man den inzwischen erfolgreichen Zeichner Art Spiegelman am Schreibtisch bei der Arbeit sieht. Wir sehen ihn bekleidet mit einer Mausmaske. Im letzten Bild ist zu seinen Füßen ein Berg von Leichen zu sehen. Später treten Reporter hinzu, die ebenfalls Masken tragen, und interviewen ihn. In manchen Bildern scheint die Maske mit dem Kopf von Art zu verschmelzen, dann tritt sie wieder deutlich hervor. Durch die Mausmaske kann Art in seiner Doppelrolle als Sohn und Autor im Buch auftauchen. Die cartoonhafte Stilisierung ermöglicht dabei eine Identifizierung mit dem Schicksal der Eltern. Doch die Maske bietet auch die Möglichkeit, eine Distanz zum Erzählten einzunehmen. So kann in Maus letztlich beides zur Darstellung kommen, sowohl die Geschichte des Vaters (in dem Sinn, daß er der Erzähler der historischen Geschichte ist) als auch die Geschichte des Sohnes Art Spiegelman, die er als Comic erzählt, wobei die Entstehungsgeschichte dieses Comics selbst ein zentrales Thema des Buches ist.30 Nun noch ein Schlußbild: Es zeigt Vladek und Art nach einer längeren Sequenz der Erzählung. »Bitte, stopp den Recorder«, sagt Vladek, »ich bin müde vom Sprechen, Richieu. Und es sind für jetzt 30

Hierzu Benjamin: »Die Geschichte ist der Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet«, a. a. O., S. 701. Auffällig ist die Gleichzeitigkeit der Begriffswahl zu Freuds Text: Konstruktionen in der Analyse (Freud [1937]: G.W. XVI). Dies deutet nach meiner Einschätzung auch auf eine inhaltliche Übereinstimmung hin.

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Cornelius Tauber

genug Geschichten erzählt.« Mit dem Bild dieser Fehlleistung endet Maus II.

Schlußbild von Maus II 31

31

Abb. Spiegelman: Maus II, S. 136.

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Dieter Pilz

Konstruktionen: Moses und Aron – Brüderlichkeit

Konstruktionen in der Psychoanalyse1 – unter diesen Titel stellte Jutta Prasse ihren Vortrag anläßlich des 50. Todestages von Sigmund Freud am 20. September 1989 im Martin-Gropius-Bau in Berlin. Es ist der Titel eines späten, 1937 erschienenen Aufsatzes von Freud 2, in dem es – wie sie sagt – mal wieder um »sein großes, nie abgeschlossenes Thema der Erinnerung geht, und zwar so, daß anstelle der Erinnerung die Konstruktion des Analytikers in ihrer Wirksamkeit auf die Fortsetzung der Analyse behandelt wird«3. Der Analytiker konstruiert aus dem Gehörten, aus dem in der Analyse vorgebrachten Material das Vergessene und teilt es dem Analysanten mit, u. a. durch die Materialisierung einer Deutung, und dieser stimmt der Konstruktion zu oder lehnt sie ab. Wie verhält sich der Analytiker auf die Reaktion Zustimmung oder Ablehnung des Betroffenen hin?, fragt sich Freud und mit ihm Jutta Prasse. Freud verteidigt sich gegen den Vorwurf, die psychoanalytische Technik verfahre nach dem berüchtigten Prinzip: »Heads I win, tails you lose. Das heißt, wenn er uns zustimmt, dann ist es eben recht; wenn er aber widerspricht, dann ist das nur ein Zeichen seines Widerstandes, gibt uns also auch recht.«4 Der Analytiker maße sich also an, immer recht zu haben, weil er sich jeglichen Widerspruch des Analysanten als Widerstand zurechtdeuten könne. Eingehend auf diese Kritik, stellt Freud abschließend fest: »Wir verdienen nicht den Vorwurf, daß wir die Stellungnahme des Analysierten zu unseren Konstruktionen geringschätzig zur Seite drängen. Wir achten auf sie und entnehmen ihr oft wertvolle Anhaltspunkte. 1

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Jutta Prasse (1990): Konstruktionen in der Psychoanalyse. In: Brief der Psychoanalytischen Assoziation »Die Zeit zum Begreifen«, Nr. 5, Berlin, S. 5–15. Sigmund Freud (1937d): Konstruktionen in der Analyse. S.A. Erg., S. 393 bis 407. Jutta Prasse (1990): Konstruktionen in der Psychoanalyse, a. a. O., S. 5. Sigmund Freud (1937d): Konstruktionen in der Analyse, a. a. O., S. 395.

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Aber diese Reaktionen des Patienten sind zumeist vieldeutig und gestatten keine endgültige Entscheidung. Nur die Fortsetzung der Analyse kann die Entscheidung über die Richtigkeit oder Unbrauchbarkeit unserer Konstruktion bringen. Wir geben die einzelne Konstruktion für nichts anderes aus als für eine Vermutung, die auf Prüfung, Bestätigung oder Verwerfung wartet. Wir beanspruchen keine Autorität für sie, fordern vom Patienten keine unmittelbare Zustimmung, diskutieren nicht mit ihm, wenn er ihr zuletzt widerspricht. Kurz, wir benehmen uns nach dem Vorbild einer bekannten Nestroyschen Figur, des Hausknechts, der für alle Fragen und Einwendungen die einzige Antwort bereit hat: ›Im Laufe der Begebenheiten wird alles klar werden.‹«5 Hier hakt Jutta Prasses Freud-Lektüre ein: Sie nimmt sich den Hausknecht vor und rückt mit ihm zusammen den anderen literarischen Figuren des Freudschen Textes auf den Pelz. Meisterhaft, luzide, humorvoll und witzig analysiert sie nicht nur die Nestroyschen Figuren und die Freudschen Fehlleistungen, sondern entknotet auch das komplexe Gebilde, um es erneut zu verweben, um so die analytische Arbeit auf einem anderen Niveau aufscheinen zu lassen. Die Verbindung von literarischer und analytischer Konstruktion bei Freud hat sie immer wieder herausgefordert, nicht nur in diesem Vortrag. Mit Hilfe von Nestroy gelingt es Freud, ein Schlußtableau im Sinne einer mehr oder weniger geschlossenen Form zu schaffen. »Das Gewünschte ist ein zuverlässiges und in allen wesentlichen Stücken vollständiges Bild der vergessenen Lebensjahre des Patienten.« Das Gewünschte wird als vollständiges Bild gesehen, das im Zuge einer Restaurierung, im Sinne einer Rekonstruktion entstanden, wiedererstanden ist. »Deutlicher als in der Hochblüte der Posse bei Nestroy«, schreibt Jutta Prasse, »deutlicher als mit dem Satz Im Laufe der Begebenheiten wird alles klar werden, kann es sich gar nicht aussprechen, daß Vollständigkeit ohne fehlenden, nicht aufgehenden Rest, das wohlgeordnete Schlußtableau unter Einsetzen heiterer Musik, nur die glatte, stimmige Oberfläche einer Konstruktion ist, einer Konstruktion angesichts des Nicht-zu-

5

Ebd., S. 402 f.

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Konstruktionen: Moses und Aron – Brüderlichkeit

Habenden, des wohlgeordneten, vollständigen organischen Lebens, deutlicher ausgedrückt: des Psychischen als Organischem.«6 Das Gewünschte, um dessen Herstellung es in der Analyse geht, ist als Konstruktion so künstlich wie das Schlußtableau der Posse, mit dem Unterschied, daß es kein Schlußtableau ist und daß es keine Moral hat. Jutta Prasse schafft es, das schon fast wieder geschlossene, abgeschlossene und somit vollständige Bild als Verkennung zu brandmarken, indem sie einen analytischen Ordnungsruf aussendet, feststellend, »daß nämlich die menschliche Psyche kein organisch dem Körper entsproßtes Ganzheitliches ist, sondern Trieb, geschnitten durch Sprache, nichts Vollständiges. Daß das Sinnvolle, das Vollständige des Erlebens nur über Bilder zu haben ist«7. Knapp und bündig wird hier das Wesentliche in einer klaren, ästhetisch angenehmen Sprachform auf den analytischen Punkt gebracht, ohne daß die Lacanschen Termini holzschnittartig bemüht werden müßten. Bild, Buchstabe, Konstruktion, Realität, Reales – darum wird es auch im nachfolgenden gehen. Freud hat sich auch in anderen Kontexten um Konstruktionen oder Hilfsvorstellungen bemüht, auch bei seinen großen historischen Ableitungen – den historischen Konstruktionen, den Konstruktionen einer »historischen Realität« –, so in seiner Ausarbeitung des Ödipuskomplexes, seiner Verarbeitung des Darwinschen Urvatermordes in Totem und Tabu und vor allem auch in seinen Auseinandersetzungen mit dem Mann Moses. Diesen Konstruktionen »historischer Realität« und ihrer Darstellbarkeit in den entsprechenden Mythen möchte ich mich im folgenden widmen. Ausgangspunkt war im Frühjahr dieses Jahres [2004] ein Besuch in der Lindenoper: Arnold Schönbergs Oper Moses und Aron stand auf dem Programm, in der Inszenierung von Peter Mussbach und Daniel Barenboim, der den Klangkörper dirigierte. Schönbergs Moses entstand etwa zeitgleich mit Freuds Moses, als Vorausahnung dunkler Zeiten. Die Bühne, ebenfalls von Mussbach entworfen, ist ein düsteres Dreieck der Macht. Von Brücken und Emporen wird das Volk in der Bühnenmitte hin und her dirigiert. Eine gleichgeschaltete Masse. Alle tragen schwarze Anzüge. Alle tragen den 6 7

Jutta Prasse (1990): Konstruktionen in der Psychoanalyse, a. a. O., S. 12. Ebd., S. 13 f.

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gleichen Haarschnitt. Alle tragen eine Sonnenbrille. Alle sind men in black, auch die Brüder Moses und Aron. Sie sind zugleich Gehirn und Zunge einer neuen Religion. Elias Canetti führt uns dementsprechend mit seinen Ausführungen zu den Eigenschaften der Masse im Begleitheft8 in die Thematik ein, ihm folgt Jan Assmann zur Mosaischen Unterscheidung. Das Bühnenbild und das Auftreten der Protagonisten erinnert auf vertrackte Art an den amerikanischen Film Matrix mit Keanu Reeves und Laurence Fishburne. Die Umsetzung dieses Ursprungsmythos auf Schönbergsche Art ist sicherlich auch ein Versuch, einen Rahmen zu spannen, in dem das Reale einzufangen und zu vermitteln versucht wird. Daß das Ganze, besser das Halbe-Ganze, auf der Bühne stattfindet, stellt die Verbindung zu dem anderen Schauplatz her. Die »Matrix« des Films ist so etwas wie eine virtuelle symbolische Ordnung – der große Andere, der das Netzwerk darstellt, das die Wirklichkeit strukturiert.9 Ein zentraler Gedanke des Films ist, daß all dies geschieht, weil eine Matrix die wahre Wirklichkeit, die hinter allem steckt, verdeckt. Der Film suggeriert ein Jenseits unserer alltäglichen, von der Matrix generierten Wirklichkeit, als ob es eine andere wirkliche Wirklichkeit gäbe. Die Inszenierung versucht, diesen Gedanken aufzunehmen. Der Film hat nicht unrecht, wenn er darauf besteht, daß etwas Reales hinter der Simulation der virtuellen Realität existiert. Aber dieses Reale ist nicht die wahre Wirklichkeit hinter der virtuellen Simulation, sondern die Leere, die die Wirklichkeit unvollständig und widersprüchlich macht, und es ist Aufgabe der Matrix – als einer symbolischen Ordnung –, diese Widersprüche zu verbergen. Auch musiktheoretisch scheint es ein Band, zumindest Analogien zwischen Schönberg und dem Theoretiker der drei Dimensionen – des Symbolischen, des Imaginären und des Realen – zu geben, denn der atonale Einschnitt und der Signifikant kennzeichnen sich beide durch die Differenz. Jeder Ton sei nur die Differenz zu den anderen Tönen – dies scheint doch ein Bezug zu sein auf den rein differentiellen Begriff des Signifikanten.10 8

9

Staatsoper unter den Linden (2004): Moses und Aron. Oper in drei Akten von Arnold Schönberg, Berlin. Vgl. dazu: Alain Badiou et al. (2004): Matrix – machine philosophique, Paris.

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Konstruktionen: Moses und Aron – Brüderlichkeit »Einziger, ewiger, allgegenwärtiger, unsichtbarer und unvorstellbarer Gott!«11 – das sind die ersten Worte, mit denen Moses Gott begegnet. Bei Schönberg ist Gott ein Gedanke, der sich weder sprachlich noch bildlich oder symbolisch ausdrücken läßt. Er ist kein Gedanke, den Moses sich ausdenkt, sondern er empfängt diesen Gedanken, er nimmt ihn auf. Zu den fünf Gottesprädikaten »einziger, ewiger, allgegenwärtiger, unsichtbarer und unvorstellbarer Gott!« schreibt Jan Assmann im Begleitheft: »Von den 5 Gottesprädikaten wird das letzte gedehnt ausgesprochen: Auf dieses Wort kommt es vor allen anderen an, und dieses Wort ist es auch, mit dem sich Schönberg gleich am Anfang weit von dem mosaischen Gott der Bibel entfernt. ›Einziger‹ ist das zentrale Gottesprädikat in der Thora (dem Pentateuch) und wird im 1. Gebot und im Schema-Gebet herausgestellt: Der Herr, unser Gott, ist ein Einziger. Als ›Ewiger‹ wird Gott etwa im 90. Psalm gepriesen, der als ein Psalm Moses gilt. ›Ehe die Berge geboren wurden, die Erde entstand und das Weltall, bist du, o Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.‹ Von der Allgegenwärtigkeit Gottes handelt der 139. Psalm ›Steige ich hinauf in den Himmel, so bist du dort; bette ich mich in der Unterwelt, bist du zugegen‹. Die Unsichtbarkeit Gottes wird in Deuteromonium 4, 15 betont: ›[…] ihr habt keinerlei Gestalt (kol-temunah) gesehen an dem Tag, als der Herr am Horeb mitten aus dem Feuer zu euch sprach.‹ Diese 4 Gottesprädikate sind biblisch belegbar, das fünfte jedoch führt über den biblischen Gott hinaus.«12

Um so überraschender ist, daß Schönberg den unvorstellbaren Gott aus dem Dornbusch zu Moses sprechen läßt. »Nun verkünde«13, sagt die Stimme zu Moses. Moses dankt Gott dafür, daß er den Gedanken seiner Väter in ihm wiedererweckt hat, fleht ihn aber an, ihn nicht zu nötigen, ihn zu verkünden. »Meine Zunge ist zu ungelenk …« und »Ich kann denken, aber nicht reden«. So kommt es zur brüderlichen Arbeitsteilung. 10

11 12

13

Vgl. dazu: Hans Ulrich Fuss (2004): Zwischen anschaulicher Gestalt und abstraktem Gedanken. Form und Struktur in Moses und Aron, In: Staatsoper unter den Linden (2004): Moses und Aron, a. a. O., S. 33–42. Eberhard Freitag (2004): Arnold Schönberg, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt). Staatsoper unter den Linden (2004): Moses und Aaron, a. a. O., S. 56 ff. Jan Assmann (2004): Die mosaische Unterscheidung in Schönbergs Moses und Aron. In: Staatsoper (2004): Moses und Aron, a. a. O., S. 15. Vgl. zu den folgenden Ausführungen Staatsoper unter den Linden (2004): Moses und Aaron, a. a. O., S. 56 ff.

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Denken und Sprechen in extremis, diese Gegenüberstellung ist an und für sich nicht haltbar – wie auch nicht die von Bild und Letter. Schönberg stilisiert Moses zum fanatischen Idealisten, zum Ikonoklasten, der jedes Bild und jeden Beweis seines Gottes verbietet. Dagegen ist Aron ein populärer Prophet, der versucht, das Volk mit Bildern und Wundern von der Existenz Gottes zu überzeugen. Tatsächlich gleicht der Opern-Aron eher dem biblischen Moses, während der Opern-Moses eher an einen antiken Gelehrten erinnert. Hier können wir durchaus die oben angesprochene MatrixSymbolik wiederfinden. Ein Denker, dem das Denken genügt, ein reiner Denker ohne imaginäre Einschübe – mithin ein Unmögliches. Die Verkennung wird immer ein dem Bild Inhärentes bleiben. Schönberg strebt mit seiner Oper etwas die Sinnlichkeit und jede Subjektivität Übersteigendes an, etwas wie eine unvermittelte Darstellung des Absoluten. Er versucht, in dem Bruderpaar sich selbst mit seinen Zweifeln in Szene zu setzen. Aron als der Mann des Bildes, hinter dessen Kunstform der sich über Jahrzehnte mit Malerei Beschäftigte aufscheint, und der sich im singenden Aron als Musiker auszusagen vermag, der aber das Theoretische der Musik, sobald er höchste intellektuelle Gedanken äußert, nur der Sprechstimme anvertrauen kann. »Kein Bild kann dir ein Bild geben vom Unvorstellbaren«, sagt Moses bei Schönberg. Lacan – als er 1970 die Deklination der Mythen Freuds wieder aufnimmt und er bei Moses ankommt, spricht vom: »Le comble du comble, c’est le Moïse«14, vom absoluten Gipfel. Auch spricht er – angesichts der Mythen – von einer Posse, von einer Darwinschen Posse – »cette pitrerie darwinienne«15 – und auch hier geht es um Brüder, die er theoretisch zu erfassen versucht, nicht um Moses und Aron und deren seltsame Arbeitsteilung. Vom Vater der Horde – sagt er – habe man nie die geringste Spur gefunden, man habe Orang-Utans gesehen, aber vom Vater der menschlichen Urhorde sei nichts gefunden worden.16 Nach Lacan habe Freud daran festgehalten als »an 14

15 16

Jacques Lacan (1991): Le séminaire, livre XVII. L’envers de la psychanalyse. Texte établi par J.-A. Miller, Paris (Seuil), S. 132. Ebd., S. 129. Ich gebe hier die Millersche Transkription des Lacanschen Textes vom 11. März 1970, S. 128–135, ein wenig freier übersetzt paraphrasiert wieder.

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Konstruktionen: Moses und Aron – Brüderlichkeit

einem Etwas vom Realen«. Er habe Totem und Tabu geschrieben, und damit habe alles angefangen, all die Scherereien, auch diejenige, Psychoanalytiker sein zu wollen. Das sei wirklich eine Geschichte, die einem die Schuhe auszieht – »il y a l’histoire à dormir debout« –, der Urvatermord, und ulkigerweise sei genau das Gegenteil dabei herausgekommen. Der alte Papi hätte alle für sich gehabt – warum eigentlich sollte er alle für sich haben können? … Wenn’s doch auch noch andere Typen gegeben hätte – und dann hätte es ja auch noch die Frauen gegeben, und die hätten doch auch ihre eigenen kleinen Ideen im Kopf haben können, vermutet Lacan, dies als Darwinsche Posse bezeichnend. Also, man tötet ihn. Als Konsequenz käme dann etwas völlig anderes heraus als beim Ödipusmythos – dafür, daß sie den Alten, den alten Orang töteten, passierten zwei Dinge. Nach der Tat fänden sie sich als Brüder wieder – und über diese Entdeckung könnten wir eine kleine Idee davon bekommen, was es mit der Brüderlichkeit auf sich hat. Diese Energien, die wir darauf verwenden, um alle miteinander Brüder zu sein, beweisen, daß wir es sicher nicht sind – selbst mit unserem Blutsbruder nicht, denn wir hätten sicherlich eine Menge gegensätzlicher Chromosomen. Diese Verbissenheit zur Brüderlichkeit, stöhnt Lacan, indem er sich über den verbleibenden Rest der zwei anderen Revolutionsmotti der Tricolore mokiert: Freiheit und Gleichheit – das sei doch etwas ganz Besonderes. Es gebe nur einen einzigen Ursprung der Brüderlichkeit, behauptet Lacan, und das sei die Segregation (Absonderung), und die gibt’s ja überhaupt nicht mehr, das sei ja was Unerhörtes, wenn man mal die Zeitungen aufschlage. Jedoch, in der Gesellschaft sei alles, was existiert, auf Segregation gegründet, und in einer ersten Zeit eben auf Brüderlichkeit. 1968, zur Zeit der Studentenbewegung, skandierte man in Paris: »Nous sommes tous des juifs allemands!« – welch intonierte Brüderlichkeit, auf die sich Lacan in seinem Seminar 1970 L’envers de la psychoanalyse – »Jenseits der Psychoanalyse« – bezieht. Auch in Berlin vereinigte man sich und trennte sich unter dem Banner eines wahren Lacanismus: Sigmund-Freud-Schule, Die Zeit zum Begreifen – Psychoanalytische Assoziation, Freud-Lacan-Gesellschaft. Jutta Prasses zitierter Eingangsbeitrag wurde auf einer Erinne179

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rungsveranstaltung zu Ehren Freuds 1989 gehalten. Sie sprach damals als Präsidentin der nach Auflösung der Sigmund-Freud-Schule Berlin neu gegründeten psychoanalytischen Assoziation Die Zeit zum Begreifen, die sich dann auch wieder auflöste – aus Segregationsgründen. Die Brüder finden sich bei Darwin als Brüder wieder, weil sie sich als solche erkennen und entdecken. Man fragt sich schon, in wessen Namen, im Namen welcher Segregation? Der Mythos führt sie dahin, läßt sie schwach werden, und dann entscheiden sie sich alle – einmütig –, daß man die kleinen Muttis nicht anrühren wird.17 Der alte Knacker hatte sie alle für sich, das ist ja schon komisch, stellt der Dr. Lacan fest. Es gibt ja mehr als eine, und sie könnten auch noch ausgetauscht werden. Sie könnten ja mit der Mutter des Bruders schlafen, klar doch, da sie ja Brüder sind, alle – nur durch den Vater. Lacan spricht vom Mythos als dem Feld der Blödheit, »le champ du déconnage«18. Déconnage – in diesem Neologismus Lacans steckt einiges drin: Blödheit, Entblödung, aber auch eine Beziehung zum »blöden« Signifikanten und zum Versprecher, der die Wahrheit hervorbringt – das Alles-Sagen, in dem die Barriere zum Unbewußten aufgehoben scheint. Und steckt in der »déconnage« nicht auch eine Entschleierung, wenn wir von dem in »con« steckenden weiblichen Geschlecht angezogen sind? »Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende.«19 Da, wo etwas fehlt, figuriert Freud einen Anfang und erzeugt das Bild einer historischen Realität. »Eines Tages – es war einmal …« Das Aufgeschriebene der Erzählung verbindet Ursprüngliches und Aktuelles, ist Begehren und Akt zugleich. Die Erzählung macht das Reale denkbar. Es ist, wie Lacan im Seminar Acte psychanalitique sagt, »ein aphasisches Drama«20, ein 17

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19 20

Fortführung der Paraphrase von Jacques Lacan (1991): Le séminaire, livre XVII. L’envers de la psychanalyse, a. a. O., S. 129 ff. Vgl. Jacques Lacan (1991): Le séminaire, livre XVII. L’envers de la psychanalyse, a. a. O., S. 127: »Et le déconnage, comme je vous l’ai dit depuis toujours, c’est la vérité. C’est identique. La vérité ca permet tout dire.« Sigmund Freud (1912–13a): Totem und Tabu. S.A. IX, S. 426. Jacques Lacan (1968 [1967–1968]): Le séminaire 15. L’acte psychanalytique, Masch. Manu.

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Konstruktionen: Moses und Aron – Brüderlichkeit

Mord ohne Worte, ohne Ab-Sprache. Etwas, das notwendigerweise erst noch erzählt werden wird, eine Erzählung in Worten über die Ursprünge der Menschheit, Kern der historischen Wahrheit oder archaisches Erbe. Dieses Reale bestimmt den Gründungsakt menschlicher Gemeinschaften und in deren Folge den der Religionen, der Neurosen und den der Wahnvorstellungen in den Psychosen. Lacan wird aus dem Vatermord den Ort des radikalen Mangels des Symbolischen machen. Wo Freud den Verlassenheitspunkt des Realen, den Übertritt ins andere Register, weg von der Horde als phylogenetischem Anfangspunkt definiert, wird Lacan seinen barrierten Anderen hinstellen, da, wo der Andere fehlt, oder besser: fehlgeht, und wo es keinen Signifikanten gibt, der das Subjekt für einen anderen Signifikanten zu repräsentieren in der Lage wäre. Also ergibt sich aus dem Vatermord die Möglichkeit, über den Mythos hin zum barrierten Anderen zu gelangen – als einer Figur des Realen? Es wäre eine der Konsequenzen des Freudschen Geschriebenen – des Freudschen Mythos –, daß man unterstellte, der Mythos sei die Figur dieses Realen, der im unbewußten Wissen herumspukt. Wäre es ohne Unterstützung durch einen Mythos überhaupt möglich, das Reale zu schreiben? Heute vor 50 Jahren, am 15. Dezember 1954, hält Lacan sein Seminar Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, er steht am Beginn der Ausarbeitung seiner Lehre – der theoretischen Fundierung des Subjekts. Er beginnt die Sitzung mit einem Plädoyer gegen die Idolatrie: »Freilich, was wir immer wieder vorkommen sehen, im dichtesten des Freudschen Textes, das ist etwas, das, ohne ganz und gar Anbetung des Goldenen Kalbs zu sein, gleichwohl eine Idolatrie ist. Was ich hier zu tun versuche, ist, Sie ein für allemal da herauszureißen. Ich hoffe, ich werde damit genug tun, so daß eines Tages Ihr Hang verschwindet, allzu bildhafte Formulierungen zu gebrauchen. […] Das Bedürfnis, zu bebildern, hat im wissenschaftlichen Exposé ebenso wie in anderen Bereichen sicherlich seinen Wert – aber vielleicht nicht so sehr, wie man denkt. Und nirgendwo verbirgt es mehr Fallen als in dem Bereich, wo wir sind, im Bereich der Subjektivität. Die Schwierigkeit, wenn man von der Subjektivität spricht, ist, das Subjekt nicht zu entifizieren.«21 181

Dieter Pilz »Das Subjekt ist niemand. Es ist zerlegt, zerstückelt. Und es blockiert sich, es wird angezogen von dem zugleich täuschenden und realisierten Bild des anderen oder überhaupt von seinem eigenen Spiegelbild. Da findet es seine Einheit.«22

Serge Leclaire, der in dieser Sitzung oder am Vorabend ein Exposé vorgestellt hatte, wird von Lacan der Idolatrie verdächtigt und denunziert; Leclaire versucht, sich zu verteidigen: »Wenn ich die Tendenz gehabt habe, das Subjekt zu idolisieren, dann deshalb, weil ich denke, daß das notwendig ist, daß man’s nicht anders machen kann.«23

Darauf antwortet der Dr. Lacan: »Eh bien, vous êtes un petit idolâtre. Je descends du Sinai et brise les tables de la Loi.«24 – »Na, Sie sind eben ein kleiner Idolisierer. Ich steige vom Sinai herab und zerbreche die Gesetzestafeln.«25

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Jacques Lacan (1980): Das Seminar. Buch II. Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Übers. v. H.-J. Metzger, Olten/Freiburg (Walter), S. 72. Ebd., S. 73. Ebd., S. 74. Jacques Lacan (1978): Le séminaire, livre II. Le moi dans la théorie de Freud et dans la technique de la psychanalyse. Texte établi par J.-A. Miller, Paris (Seuil), S. 73. Jacques Lacan (1978): Das Seminar, Buch II. Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, a. a. O., S. 74.

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Norbert Haas

Noch eine Stimme, die fehlt

Darstellbarkeit, biographisch: »Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen.« (Freud an Arnold Zweig am 31. Mai 1936)

Was es bedeutete, daß vor nunmehr 26 Jahren deutschsprachige Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker und andere an Psychoanalyse Interessierte sich zusammentaten, um in ihrer Orientierung an Freud und Lacan die Möglichkeiten psychoanalytischen Handelns zu erproben, ist heute kaum wiederzugeben. Eine junge Frau, die von damals nur aus Berichten wissen kann, sagt zu mir: »Ich bin jetzt dabei, eine Ausbildung in Psychotherapie zu machen, ich habe aber nach wie vor meine lacanianische Seite.« Das ist für mich wie ein Schlag ins Gesicht. Dokument eines Mißlingens. Ich weiß nicht, welche Positionen bezüglich der Standardisierung der Psychoanalyse Jutta Prasse in den letzten Jahren eingenommen hat, ich weiß nicht, was sie gegen die himmeltraurigen Psychotherapiegesetze unternommen hat, die in den letzten Jahren von der Mehrheit deutschsprachiger Analytikerinnen und Analytiker (in Deutschland, Österreich und in der Schweiz) fahrlässig akzeptiert worden sind. Es war nicht Gegenstand unserer Unterhaltungen, die es noch gegeben hat, auch nach der Auflösung der Sigmund-Freud-Schule Berlin. Früher, als wir uns oft sahen, hätte ich es sagen können. So schrieb sie 1981, anläßlich des achtzigsten Geburtstags von Jacques Lacan: »Es handelt sich nicht um eine technische Einzelfrage, wenn ich z. B. auf der nicht festgelegten Dauer der Sitzung bestehe, und es handelt sich auch nicht um die sauren Trauben, wenn ich keine Kassenanalyse machen kann, sondern um mein Verständnis der Interventionsmöglichkeiten, der Position des Analytikers, des Vertrags, den er mit seinen Analysanten schließt.« 183

Norbert Haas

Ihr genügte, daß es eine Gruppe gab, in der die Arbeit an Freud und Lacan einigermaßen organisiert werden konnte. Es war im übrigen nicht geheim, was wir trieben, gelegentlich sahen auch Ausbildungskandidaten der Institute bei uns herein. »Was, Ihr rechnet nicht über die Kasse ab?« – »Nein, das tun wir nicht.« – »Ja, aber das ist doch nicht sozial gedacht!« – »Doch, Sie müssen sich nur dazu entschließen, die Kosten sozial verträglich zu machen. Wer hat, zahlt, wer weniger hat, zahlt weniger.« – »Ach so.« … Manches von dem, was wir taten, ist dokumentiert in der Zeitschrift Der Wunderblock.

Feste Unsere kleine Gesellschaft wußte zu feiern. Natürlich sind die Stimmen verklungen und ist das Flair unserer Treffen unwiederbringlich dahin. Doch über dem Stimmengewirr an den Tischen in Basel, in Magden, in Varenna am Comer See, in Hamburg, in Münster, bei uns oder in Lutz Mais und Christiane Schrübbers’ Berliner Zimmer höre ich immer noch Juttas Stimme. Irgendwann hatte sich diese Stimme stets gegen die anderen durchgesetzt. Und es geschah oft durch die Wiedergabe leicht skurriler Geschichten. »Hat es hier Zahnstocher?« fragt jemand, und Jutta greift die Frage sofort auf und erzählt von dem älteren Herrn, der sich in einem italienischen Restaurant bei ihr erkundigt, wie »Zahnstocher« auf Italienisch heiße. »Stuzzicadenti«, sagt sie und sieht, wie der Mann erschreckt sich an den Mund faßt. Jutta fragt, was los ist, und erfährt, daß der Mann das Wort »stuzzicadenti« falsch verstanden, es als anders zusammengesetzt aufgefaßt hat, als es die Grammatik verlangt. Statt das Wort aus »stuzzicare«, »stochern«, und »denti«, »Zähne«, gebildet zu sehen, hat er, seiner begrenzten Sprachkenntnis folgend, »stuzzi«, das heißt verballhornt »Stummel«, »Stutzen«, und »cadenti«, »fallend«, gehört und so den Schrecken erlebt, daß ihm beim Essen die Zähne aus dem Mund gefallen sind. (Wahrscheinlich waren ihm wie jedem Auto fahrenden Italienreisenden die Wörter »sassi cadenti«, »Steinschlag«, und die dazugehörende eindrückliche Abbildung auf den Warnschildern bekannt.) Mittlerweile hört der ganze Tisch Jutta zu. Der Frager vom Be184

Noch eine Stimme, die fehlt

ginn wiederholt seine Frage: »Hat es hier Zahnstocher?« (Schweizerisch für: »Gibt es hier Zahnstocher?«) Jutta nimmt das sofort zum Anlaß für einen Exkurs über die Eigentümlichkeiten des Alemannischen, zum abermaligen Vergnügen der Tafelrunde. Wenn sie einmal in Fahrt war, gab es eigentlich nur ein Mittel, sie zu unterbrechen: Man mußte sie in der Erzählung überbieten, und der einzige, der das zu Zeiten schaffte, war Lutz Mai.

Textstörung Einer der schönsten Texte von Jutta Prasse geht auf ein Wochenendseminar der Sigmund-Freud-Schule Berlin von 1981 zurück und trägt den Titel Der blöde Signifikant und die Schrift – Stilfragen. Die »Darstellung« bei der Traumbildung hat wohl im wesentlichen damit zu tun: mit dem Signifikanten, mit seiner Blödigkeit und mit der Schrift. In diesem Text geht Jutta Prasse der Frage nach, warum Texte von Psychoanalytikern – freilich nicht nur diese, aber die Frage ist an dieser Stelle eben spezifischer gefaßt – stilistische Eigentümlichkeiten aufweisen, die als »Störungen« empfunden werden müssen. In der Tat ist, um ein prominentes Beispiel zu nennen, der Text von Freuds Traumdeutung, den ich früher einmal daraufhin untersucht habe, vielfach gestört. Diese Störungen in Freuds Buch können die Form von unlogischen Wendungen haben, es können inkomplette Sätze sein, schiefe Vergleiche, fehlerhafte Zitate, es können in der Traumdeutung ganze Passagen benannt werden, die offenbar flüchtig geschrieben sind und damit Freuds, übrigens eingestandenen, Unwillen dokumentieren, sich im Zuge seiner Untersuchungen nun auch noch mit diesem Argument oder mit jenem Aspekt beschäftigen zu müssen. Jutta Prasse spricht angesichts solcher und ähnlicher Ereignisse davon, daß der Schreibende seinen »Stil nicht im Griff habe«, daß sein Text von etwas unterwandert werde, das nicht in seiner Verfügungsgewalt stehe. Gegen dergleichen wird oft massive Abwehr aufgeboten, vom Autor selbst und auch von seinen Lesern. Abwehr kann die Form des Gemeinplatzes annehmen, demzufolge Freud als glänzender Schriftsteller zu gelten habe. Dabei wäre es zutreffender zu bemer185

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ken, daß Freud sich gerade in seiner Schreibkunst gewissen Fährnissen der Schrift ausgeliefert sieht, die seinen Text auch zu einem gestörten machen. Ein Text läuft eben anders, als es das Bild haben möchte, das der Schreibende von sich und seiner Tätigkeit hat. (Freud hat über sich selbst als Schreibenden freilich recht illusionslos geurteilt!) Was aber wird in Texten und durch Texte abgewehrt, allgemein in den stereotypen Urteilen des Kulturbetriebs wie auch vom einzelnen Schreibenden? Abgewehrt wird ein Überschuß des Textes, in wissenschaftlichen Texten beispielsweise etwas, das eigentümlich über den Wissenschaftsdiskurs hinausreicht, die Andeutung einer »Mehrlust« in und durch den Text. Eine Störung des Textes. Freud in der Traumdeutung will von seinem Thema gelegentlich einfach seine Ruhe haben. Jutta Prasse war zu Zeiten der Sigmund-Freud-Schule Berlin ganz sicher die, die am »klassischsten« geschrieben hat. Von den vieren, die die Schule gegründet haben, ist sie in ihrer Schreibweise Freud am nächsten gestanden: Wie Freud, der in seiner Prosa souverän, ebenmäßig, humorvoll wirkt, sich mit den besten Wissenschaftsschriftstellern der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts (mit Helmholtz, Du Bois-Reymond, Brücke) messen kann, scheint auch die Schreibweise von Jutta auffallend harmonisch, ruhig, klar disponierend zu sein. Sie ist geschult an den großen Romanschriftstellern derselben Zeit, bildet deren Sprache manchmal sogar mimetisch nach. Nicht von ungefähr war Jutta Prasse auch eine begabte Übersetzerin. Doch gibt es Störungen auch in ihren Texten. Sie selbst deutet es an in einer Passage von Der blöde Signifikant und die Schrift – Stilfragen. Es geschieht freilich in einer eigentümlichen Verschiebung des Sinns der Störung im Vergleich mit Freuds Text. Wenn der Stil der Traumdeutung, Freuds Einsicht folgend, so unausstehlich witzelnd ist, wie jeder Träumer unausstehlich witzig sein muß, ist das leicht Aufsässige des Stils von Jutta Prasse nach ihren eigenen Worten gerade in der Ebenmäßigkeit, der Harmonie ihrer Texte zu sehen. Jutta war in solchen Dingen sehr hellsichtig. So ist es geschehen, daß ich nach einem ihrer Vorträge zu ihr sagte, dieser wäre sehr schön gewesen, und sie zur Antwort gab: »Ja, Norbert, leider.«

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Anfang und Ende An der Tagung Lacan lesen hat Lucien Israël davon berichtet, wie Lacan anläßlich eines Treffens, bei dem sie nur zu zweit waren, zu ihm gesagt hätte, er dürfe nicht meinen, daß sie »unter sich« seien. Ich kann das auf die erste Begegnung beziehen, die ich mit Jutta hatte. An der genannten Tagung hatten drei der Organisatoren (Lutz Mai, Vreni Haas, Norbert Haas) den Teilnehmern ein Papier vorgelegt, in dem zur Gründung der Sigmund-Freud-Schule Berlin aufgerufen wurde. Bis zum Ende der Tagung hatte sich niemand gemeldet, der mitgründen wollte. So stand man in den schönen Räumen Niebuhrstraße 77, die Leute begannen sich zu verabschieden, und die Hoffnung auf eine Gründung war beinahe dahin, als Lutz Mai sich vernehmen ließ: »Soll ich Jutta Prasse fragen, ob sie mitgründen will?« Natürlich sollte er. Also ging er in den Raum, in dem Jutta sich aufhielt, und es dauerte nicht lange, bis er mit ihr zusammen wiederkam. Daß Jutta Prasse zu den vier Gründern gehörte, ist bekannt. Es dürfte nicht so bekannt sein, daß ohne sie wohl nicht gegründet worden wäre. Das hat den einfachen, zumindest psychoanalytisch einfachen Grund, daß die drei anderen es ohne sie wahrscheinlich nicht geschafft hätten, nicht der Illusion zu erliegen, »unter sich zu sein«, so eng befreundet, wie sie waren. Jutta war, ich darf das sagen nach all den Jahren der Freundschaft und der gemeinsamen Arbeit, die notwendige Vierte, die ein Element des Fremden eingeführt hat, das für die Gründung wichtig war. Ich möchte nicht sagen, daß niemand anderer dies vermocht hätte. Doch Jutta war der glückliche Zufall, sie kam von auswärts (aus Mailand), stammte nicht aus den Berliner bzw. Münsteraner 68er-Kreisen, unterschied sich in Gestus und Sprache. (Den Brief, mit dem Jutta ankündigte, daß sie nach Berlin übersiedeln werde, aus der Via S. Maria Valle 4, Mailand, kommend, ein großes rotes Kuvert, Espresso, Per Via Aerea, Recommandé, mit Berliner Eingangsstempel, habe ich bis heute jeden Tag vor Augen.) Die Mitglieder der Schule, erst vier, dann fünf, sechs, sieben, acht, neun, beschäftigten sich über mehrere Jahre mit der Satzung des Instituts. Über eine halbe Seite konnten wir ein ganzes Wochenende reden. Sollen die Lacanschen Matheme in die Satzung, sollen 187

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sie nicht? Sie sollten. Völlig klar war, daß wir mit einem Minimum an Organisation auskommen wollten, es sollte keine Standesorganisation werden, jedes Treffen der Mitglieder sollte einmalig sein. (Daß jede einzelne psychoanalytische Sitzung einmalig sei, beschäftigte uns.) Wir wollten keine Ausbildung betreiben, sondern psychoanalytische Bildung ermöglichen. Solcher organisatorische Minimalismus hatte in Jutta Prasse eine vehemente Verfechterin. Ich glaube, es war den meisten Mitgliedern auch klar, daß diese kleine Gesellschaft eine Organisation auf Zeit war. Acht Jahre hat die Sigmund-Freud-Schule gedauert. Vielleicht ein Wort über Treue. Juttas Treue zu Freud und zu Lacan war, wie mir all die Jahre schien, unverbrüchlich. Diese absolute Treue verstehe ich bis heute nicht. Vielleicht war es aber gerade sie, die einem die Möglichkeit gab, Schwierigkeiten, die man in einzelnen Punkten mit Lacan und auch mit Freud hatte, ihr gegenüber zu artikulieren. Ich wußte, daß das nicht leicht zu ertragen war für Jutta. Aber die gegenseitige Achtung war groß. Erst gegen Ende der Schule hatte sich etwas geändert, was sich mir darin zeigte, daß ich Rücksicht zu nehmen begann, wo ich nicht hätte Rücksicht nehmen dürfen. Ich begann Worte zu verschlucken. Und als dann Jutta bei der, wie man heute weiß, letzten Tagung der Sigmund-Freud-Schule Berlin (in Münster in Westfalen) plötzlich vom »Begehren des Norbert Haas« sprach, wußte ich, daß es nun zu Ende ging. Natürlich nicht deshalb ging es zu Ende, aber es war eines der Anzeichen. Daß es zu Ende ging, war gut. Wenn ein Zusammenschluß, eine Organisation von Psychoanalytikern lange dauert (mehr als fünfzehn, mehr als zehn Jahre), muß etwas schieflaufen.

Pariser Mißverständnis Nicht lange nach der Gründung der Sigmund-Freud-Schule Berlin, wahrscheinlich im Februar 1979, waren Jutta, Lutz Mai und ich in Paris, um Lacan von der Gründung zu berichten. Lacan hörte uns schweigend zu und rief schließlich, wie mir schien, mit einem Ausdruck der Verwunderung aus: »Une seconde Freud-Schule!« Also eine zweite Schule dieses Namens, die seine hieß École freudienne de Paris. 188

Noch eine Stimme, die fehlt

Dies führte zu einem Wortwechsel, der mir bis in die Nuancen der Stimmen und Gesten in Erinnerung ist. Jutta griff Lacans Formulierung sofort auf und sagte: »Non, docteur Lacan, une Sigmund-Freud-Schule«, das »Sigmund« deutlich betonend. Worauf der Meister unbeirrt: »Une seconde Freud-Schule!«, jetzt mit deutlich erhobener Stimme. Jutta bewahrte die Ruhe und wiederholte: »Sigmund-Freud-Schule«. So ging es ein paarmal hin und her, bis Lacan uns schließlich, durchaus freundlich, verabschiedete. Später gab es Leute, die meinten, Lacan wäre so unbelehrbar gewesen, weil er eine Deutung geben wollte. Schon möglich. Für mich war die Szene vor allem komisch, ich glaube, Jutta und Lutz Mai haben es auch so empfunden. Es war jedenfalls Gegenstand unserer Erheiterung noch Jahre danach. Die kleine Geschichte ist übrigens in Jean Allouchs Buch – Allô, Lacan? – Certainement pas eingegangen, sie befindet sich dort im Abschnitt Geschichte der psychoanalytischen Bewegung und hat den Titel Sigmund. Ich möchte daraus wörtlich zitieren, auch um am ein Beispiel so zu illustrieren, wie die stille Post unter Pariser Lacanianern funktioniert: »Er ist Deutscher, Übersetzer, Psychoanalytiker und gesellschaftlich hinreichend gut gestellt, um eines Tages zu Lacan sagen zu können: Ich werde die Sigmund-Freud-Schule gründen.

Lacan scheint nicht zu verstehen und fragt: Die zweite Freud-Schule? [La seconde Freud-Schule?]«

Und noch ein Ondit kann ich hier vielleicht korrigieren. Es hat Leute gegeben, die gehört haben wollten, Lacan hätte, als er uns bei dem damaligen Besuch einlud, Platz zu nehmen, Lutz Mai seinen Fauteuil angeboten. Ich weiß nicht, ob Lutz das selbst verbreitet hat, möglich ist es, ich habe ihn freilich nie solches behaupten hören. Richtig ist, jedenfalls nach meiner Erinnerung, daß Lutz sich nach der Begrüßung ganz selbstverständlich auf Lacans Analytikersessel niederließ, während Jutta und ich auf der Couch Platz nahmen. In Lacans winzigem Kabinett in der Rue de Lille 5 waren außer Fauteuil und Couch nur noch ein Sekretär und zwei zierliche Sitzmöbel, auf deren eines sich Lacan gesetzt hatte. Wir hätten uns 189

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anders im Raum verteilen können. Dann wären wir aber nicht mehr zu dritt Lacan gegenüber gesessen.

Literatur Daß Lacan gestorben war, habe ich spätabends am 9. September 1981 von Jutta erfahren. Wir (Lutz Mai, Vreni Haas, unsere Tochter Mimi, Jutta und ich) waren an dem Tag in Rheinsberg gewesen und nach einem ziemlich abenteuerlichen Abendessen (»Die gehen mit einem Kleinkind abends in ein Gasthaus! Das ist wie bei den Russen!«) spät nach Berlin zurückgekommen. Ich war kaum in der Wohnung, als Jutta anrief. … Fontane war immer dabei bei diesen Ausflügen, die unsere kleine Gesellschaft in die Mark Brandenburg machte, nach Paretz, Werder, Kloster Lehnin. Mit Jutta teilte ich die Liebe für die große realistische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Fontane, Keller, Dickens, darüber konnten wir sprechen bis zuletzt. Wir phantasierten gemeinsam, daß wir in dem bewährten Kaminzimmer im Literaturhaus zu zweit über Stendhals Le rouge et le noir sprechen wollten. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Zwei Monate vor ihrem Tod rief Jutta in unserem Ferienhaus in Restorf an, und es war, nachdem sie über ihr Befinden gesprochen hatte, ihre erste Bemerkung, daß sie endlich Fontanes Roman Vor dem Sturm gelesen habe. Damit hatte es eine besondere Bewandtnis. Jahrelang hatten Vreni und ich ihr die Lektüre dieses Romans empfohlen und hatten mehrere Male zu hören bekommen, daß sie damit angefangen, aber nicht weit gekommen sei, weil sie nicht in den Text fand. Und nun teilte sie mit, daß es ihr endlich gelungen war. Es folgte, obwohl es sie anstrengte, ein Bericht über all das, was ihr an dem Buch besonders gefallen hatte. Zu den gegenseitigen Empfehlungen von Büchern, eine Gewohnheit, die wir über viele Jahre hinweg pflegten, sollte ich vielleicht sagen, daß gelegentlich auch Texte genannt wurden, von denen wir annahmen, daß ihre Lektüre dem jeweils anderen nicht unbedingt leicht fallen würde. So war es mit Fontanes Vor dem 190

Noch eine Stimme, die fehlt

Sturm. Jutta war eine begeisterte Leserin von Fontanes Romanen, doch an diesem frühen Roman bestätigte sich die Begeisterung lange nicht. War es, weil er zwar reich an Personen und großartig in deren Schilderung ist, doch die Verwicklungen unter den Personen nicht tragisch verlaufen, eher leise und traurig, karg wie das Land, das sie bewohnen? Alles Theatralische fehlt diesem Roman. War es das, was Jutta Schwierigkeiten bereitete? Ihr, die die Oper, die größere Szene liebte. Jetzt aber hatte sie Vor dem Sturm gelesen. Es war Juttas letzte Romanlektüre.

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Rücksicht bei der Darstellung

Die Darstellung ist eine Kunst, die Freiheit voraussetzt, kann aber auch zu einem schrecklichen Zwang werden. Drei Formen der Darstellung will ich zeigen, in denen die Rücksicht die Freiheit zur Darstellung ermöglicht bzw. der Mangel an Rücksicht den Zwang zur Darstellung bestimmt. Zunächst möchte ich jedoch einige Gedanken zur Rücksicht und deren Tüchtigkeit vortragen.

Die Tüchtigkeit der Rücksicht Wer Rücksicht übt, läßt seinen Blick schweifen, spürt, daß er nicht allein ist, gibt den Dingen und Menschen Raum und Zeit, nimmt sich dabei zurück, läßt den anderen sein, ist bereit, sich berühren zu lassen. Er respektiert, achtet Lebendes und Totes, indem er staunend wartet. Er weiß um das Singuläre, das Zerbrechliche, das schlechthin Unfaßbare des sich ihm Zeigenden. Der Rücksichtsvolle fühlt sich angeblickt und erwünscht als jemand, dem selbst Achtung gebührt. Vorsicht, die ihm seine Selbstachtung gebietet, leitet seine Handlungen, hindert ihn am zupackenden Denken, verzögert seinen Fußtritt, bricht sein ungehemmtes Aussprechen. Rücksicht, Vorsicht, Umsicht und Einsicht stützen sich gegenseitig in der Achtung des anderen, damit dieser sich zeigen, präsent sein, zur gewollten Darstellung kommen kann. Sie unterstellen sich ganz dieser Darstellung, die der andere ist, vollzieht oder auch vermeidet. Gerade für das Zögern, das Vermeiden der Darstellung bedarf es der zurückhaltenden Vorsicht, um den anderen nicht zu beschämen.

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Rücksicht bei der Darstellung

Rücksichten bei dem Wunsch, mit Kindern ein Märchen darzustellen Die Wichtelmänner der Gebrüder Grimm wollte ich mit der Kindergartengruppe meiner beiden Söhne darstellen. Ein Märchen, ein Text, mir fremd, lag vor mir. Mehrmals las ich ihn, ließ ihn auf mich wirken, überlegte, ob er in einem Spiel darstellbar, in die Vorstellungswelt von Kindern übersetzbar sei. Gemäß dem Satz Freuds »Das Bildliche ist für den Traum darstellungsfähig« träumte ich das Märchen, hörte die Wichtelmänner tuscheln, sah den Wald vor mir, durch den sie liefen, folgte ihnen auf ihrem Weg zu des Schusters Häuschen, ließ sie über Pfützen springen, sich in Büschen verirren, vor dem plötzlichen Geschrei der Eule erschrecken, ließ den Wind heulen und den Regen prasseln. Dann blickte ich, mit diesen Bildern im Kopf, auf meine Söhne und fragte mich, ob sie dieses in mir in Bilder verwandelte Märchen aufnehmen und spielen können. Mit dieser Frage stellte ich mich dann der ganzen Kindergartengruppe vor. Zunächst las ich das Märchen, ließ die Kinder fragen und phantasieren. Dann schlug ich ihnen vor, dieses Märchen ihren Eltern vorzuspielen. Die Kinder waren von diesem Vorhaben begeistert. Die Arbeit der Darstellung konnte beginnen. »Kannst du dir einen Wichtelmann vorstellen?« Jedes Kind, das einen Wichtelmann darstellen wollte, machte sich sein eigenes Bild vom »Wichtelmann«, brauchte seine Zeit des Bildens, des Schlüpfens in die Rolle des anderen. Ermutigen, vorspielen, beim Bilden und Darstellen Anstöße geben, immer wieder Teile des Märchens erzählen gehörten zu meinen Aufgaben. Geduld, Rücksicht und Respekt vor dem Erproben der Einbildungskraft und der Darstellung waren die wesentlichen Momente unserer gemeinsamen Arbeit, die nicht von Anfang an da waren, sondern erst im Verlauf der Proben durch die Kinder entwickelt wurden. Schließlich hatten wir die Gewißheit, das anverwandelte Märchen den Eltern darstellen zu können, die nicht ihren Kindern, sondern den Wichtelmännern begegnen sollten, die dem Schuster und seiner Frau auf des Schusters Art halfen, ohne diese zu beschämen. Rücksicht nahm ich auf den Text der Gebrüder Grimm, die Darstellbarkeit durch die Kinder, auf deren Fähigkeiten und jewei193

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lige Grenzen, auf die Zeit des Vorstellens, des Verwandelns und Darstellens. Die Kinder adaptierten das Märchen auf ihre besondere Weise und brachten es endlich zur spielerischen Darstellung und anerkennenden Aufnahme der zuschauenden Eltern. Während der gesamten Probenzeit wurde viel gesprochen, immer wieder gefragt und diskutiert. Alle vertrauten dem Wort und seiner kreativen Macht; ihm vor allem unterstellten wir uns. Es übte eine geheime, aber anerkannte Macht über uns aus. Es gab uns die Freiheit, die wir brauchten, um einen Text Grimms auf die Bühne zu bringen.

Das Fehlen der Rücksicht und seine Folgen Nun möchte ich anhand der Geschichte der Gebrüder Kain und Abel des Alten Testaments1 zeigen, was geschieht, wenn diese Rücksicht, dieser Respekt und jene Anerkennung fehlen. Kain und Abel bringen Jahwe, ihrem Gott, jeweils ihr Brandopfer dar. Sie bringen mit diesem Opfer ihren Glauben an Jahwe, ihren Gehorsam und ihre Dankbarkeit für Jahwes Schöpferkraft und Gaben zum Ausdruck. Beide opfern wortlos. Jahwe, ihr gemeinsamer Gott, nimmt nur das Opfer Abels an, während er das von Kain verwirft, nicht gnädig ansieht. Er versagt Kain Achtung und Respekt, wendet sich von ihm wortlos ab und beschämt ihn grundlos. Seine sich hingebende Darstellung in dem Brandopfer findet keinen anerkennenden Blick und kein bejahendes und aufnehmendes Wort. Beschämt durch Jahwe, der ihn seine Nichtigkeit schmerzlich spüren läßt, entflammt Kain in mörderischer Wut und ermordet Abel, den Jahwe ihm vorgezogen hatte. Fortan bleibt Kain von diesem tragischen Geschehen gezeichnet. Voller Schuldgefühl irrt er umher, nirgendwo findet er Halt und Ruhe. Das schreckliche Gefühl, Nichts zu sein, verläßt ihn keinen Moment. Kains Wunsch, sein Anspruch, von Jahwe geachtet und anerkannt zu werden, bestimmen sein Drama. Jahwes stummes und grundloses Verweigern seines Anspruchs beschämten ihn und ließen ihn seine Nichtigkeit erfahren. Die Rücksichtslosigkeit Jahwes 1

Vgl. Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Das erste Buch Mose (Genesis). Kapitel 4, S. 1–16.

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bewirkt Kains blinde Wut und mörderische Rücksichtslosigkeit Abel gegenüber. Kains Darstellung seines Glaubens unterliegt dem Zwang und nicht seiner inneren Freiheit. Dieser Zwang will auch eine gnädige Antwort Jahwes erzwingen, auf die er einen Anspruch zu haben glaubt. Worte lassen sich jedoch nicht erzwingen, sondern nur erbitten, was Kain nicht getan hat. Indem er diese Darstellung seines Wunsches in Worten umgeht, vermag er auch das Schweigen Jahwes nicht zu ertragen und tötet, verschiebt seine sprachlose Wut auf Abel, den er zwanghaft umbringen muß.

Zwanghafte Rücksicht und deren Folgen Was sich ereignet, wenn in einer bestimmten und einseitigen Weise auf Worte bzw. Zeichen Rücksicht genommen wird, will ich durch den Ödipusmythos und dessen Darstellung in der Tragödie des Sophokles Ödipus der Tyrann 2 zeigen. Laios, Sohn des Labdakos, »des Hinkenden, des Schwachen«, rechtmäßiger Anwärter auf den Thron Thebens, wird zum Exil bei König Pelops von Korinth gezwungen, der ihn gastfreundlich aufnimmt. Sein Name Laios, der auch die Bedeutung »linkisch, verbogen« hat, scheint sein Geschick von Anfang an vorzuzeichnen: Verdrängt wird er vom Thron Thebens, die Thronfolge wird »verbogen«. Nicht den Gesetzen der Gastfreundschaft folgt er am Hofe des Pelops, dankt diesem nicht mit Gegengaben, sondern gibt seiner »Schwäche« Raum; sein erotischer Wunsch treibt ihn weg von der Rücksicht auf die Philoxenia seines Gastgebers, verführt ihn dazu, den außergewöhnlich schönen Sohn des Pelops, Chrysippos, zu umschwärmen und zu bedrängen. Die Gesetze der Liebe verbiegt er, scheint sie nicht zu kennen, läßt die Gegenseitigkeit, den liebevollen und zarten Austausch nicht zu. Selbst den Widerstand des Chrysippos mißachtet und verleugnet er, indem er ihn gewaltsam gefügig machen möchte. In einigen Erzählungen treibt diese 2

Vgl. Sophokles (1985): Ödipus der Tyrann. In: ders. Dramen, griechisch und deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Wilhelm Willige. München, S. 284 ff.

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blinde Rücksichtslosigkeit des gewaltsamen Begehrens Chrysippos in den Selbstmord. Pelops verhängt daraufhin den feierlichen Fluch gegen Laios, sein Geschlecht dürfe keinen Nachfolger haben. Dieser so verfluchte Laios kehrt nach Theben zurück und wird unter Jubel als rechtmäßiger Thronfolger empfangen. Selbstverständlich, ohne Scham und ohne Gewissensbisse, beansprucht er die königliche Macht und übt sie aus. Iokaste, auch sie mit Echion verwandt, der an die Echidna, ein unbezwingbares Ungeheuer der Tiefen der Erde, das den Hund des Hades und die dreiköpfige Chimäre gebar, erinnert, wird die Ehefrau von Laios. Da Iokaste keine Kinder zur Welt bringt, fährt Laios nach Delphi, um das Orakel zu befragen, wie sie Kinder/Thronnachfolger bekommen können. Die auf dem Dreifuß sitzende Pythia, Mund des Apollon, antwortet ihm: »Solltet Ihr einen Sohn bekommen, so wird er dich töten und sich mit seiner Mutter vereinen.« Entsetzt kehrt er nach Theben zurück. Von nun an versucht Laios alles, um Iokaste nicht zu schwängern. Doch er wird wieder »schwach«, »verbiegt« sein Versprechen, das er angesichts der Worte des Orakels sich und Iokaste gegeben hat, betrinkt sich, vergißt alle Vorsicht und schwängert seine Frau. Iokaste gebärt einen Jungen. Beide halten sich nun sklavisch an die Worte des Orakels, reagieren panisch auf die in ihm verkündeten Folgen und beschließen, ihn aus dem Weg zu räumen. Einem Hirten, der die Herden im Sommer auf den Weiden des Kithairon hütet, übergeben sie das Kind und befehlen ihm, es in den Bergen auszusetzen, damit es dort von Tieren restlos verschlungen werde. Der Hirte nimmt den Jungen, den er wie ein kleines, erlegtes Wild behandelt; er durchbohrt dessen Fersen, steckt durch die Löcher einen dünnen Strick, wirft ihn dann über seine Schulter, trägt ihn so bis ins Gebirge, während er die Herde vor sich her treibt. In den Bergen angekommen, nimmt er den Jungen von seiner Schulter und schaut ihn an. Der Kleine lächelt, der Hirte fühlt sich angeblickt und beginnt nachzudenken. Was soll ich machen? Dem Befehl gehorchen oder meinem Zaudern, meinem Gewissen, meinem Berührtsein durch diesen Blick des Jungen folgen? Er nimmt schließlich Rücksicht auf sein Gewissen, nimmt dabei die Folgen seines Ungehorsams in Kauf, achtet das Leben dieses Kindes, sieht einen korinthischen Schafhirten, der auf dem gegenüber196

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liegenden Hang des Berges seine Schafe weiden läßt. Zu diesem läuft er, schildert ihm seine Not und bittet ihn, ihm zu helfen. Der Schafhirte fühlt sich angesprochen, denkt an den König Polybos und dessen Frau, Periboia, die sich ein Kind wünschen, bisher jedoch keines haben. Dieser Gedanke, den er für sich behält, verknüpft mit dem Wunsch, seinen König und dessen Frau froh zu machen, bringt ihn dazu, die Bitte des Thebaners zu erfüllen. Er nimmt das an den Fersen verletzte Kind, bringt es nach Korinth und übergibt es Polybos und dessen Frau. Beide freuen sich über diese unverhoffte Gabe, sind glücklich und betrachten das Kind als ihren eigenen Sohn. Laios und Iokaste wollten ihren Jungen verschwinden lassen, glaubten fest an den Kadavergehorsam ihres Hirten, der sich jedoch an sein eigenes Gewissen durch das Lächeln des Kindes, in das er sich durch das Durchbohren der Fersen eingeschrieben hat, erinnerte und das Kind einer eigenen und ungewissen Zukunft übergab, die am Königshof von Korinth beginnt. Namenlos kam es in »die Hände« des Königspaares. Sie schauten es an, sahen die durchbohrten Fersen und nannten es Ödipus, der »Hinkende«, »der Schwellfuß«, der »Zweibeiner«. Ödipus hatte es gut am Hofe seiner vermeintlichen Eltern. Er wurde von den besten Lehrern unterrichtet, wurde wegen seines Scharfsinnes und Mutes geschätzt und beneidet. Als es eines Tages, so wird erzählt, zwischen Ödipus und einem etwa Gleichaltrigen zu einem heftigen Streit kam, demütigte dieser ihn mit dem Satz, er sei gar nicht der richtige Sohn des Polybos. Empört und verletzt wandte sich Ödipus an seinen Vater, dem er von diesem Vorwurf erzählte. Polybos wich aus, beruhigte den wütenden Sohn, beschwichtigte mit dem Hinweis, das sei nur leichtfertiges und dummes Gerede, auf das er nichts geben solle. Polybos wies die Aussage »du bist nicht der richtige Sohn von Polybos« nicht als falsch zurück und er bestätigte auch nicht, du bist natürlich der Sohn von mir und deiner Mutter. Indem er ihm diese Worte vorenthält und ihm die Wahrheit über seine Ankunft in Korinth verschweigt, nährt der König in Ödipus den Zweifel an seiner Herkunft, an seiner Sohnschaft. Ohne seinen Vater und seine Mutter zu befragen, sie mit seinem Zweifel an ihrer Elternschaft zu bedrängen, verläßt er Korinth, um das Orakel von Delphi zu fragen, ob er der leib197

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liche Sohn des Polybos und der Periboia ist oder nicht ist. Die Pythia antwortet nicht direkt auf seine Frage, sondern sagt voraus: »Du wirst deinen Vater töten und mit deiner Mutter schlafen.« Diese Worte erschrecken Ödipus so sehr, daß er nicht merken will, daß er keine Antwort auf seine Frage erhalten hat. Er flieht, will einen möglichst großen Abstand schaffen zwischen sich und jenen, die er nun doch für seine Eltern hält. Alles will er tun, um die Worte des Orakels nicht zu erfüllen. Wie Dionysos irrt Ödipus umher. Er, der sich ob der Worte der Pythia aus seiner vermeintlichen Heimat vertrieben hat, hat schließlich den Weg von Delphi nach Theben, seiner eigentlichen Heimatstadt, eingeschlagen. Zur selben Zeit war Laios mit einer kleinen Gefolgschaft aus Theben, das unter den Folgen der Pest zu leiden hatte, aufgebrochen, um beim Orakel Rat und Hilfe zu erbitten. So treffen Vater und Sohn aufeinander – der Vater, sich dessen gewiß, daß sein Sohn tot ist, der Sohn, davon überzeugt, daß sein Vater ein anderer ist –, an der Stelle, an der drei Wege zusammenlaufen. Die Wagen können diese Stelle nicht gleichzeitig passieren, so daß einer der beiden Wagen ein Stück zur Seite gelenkt werden müßte, um Platz zu schaffen. Laios glaubt, er habe als König das Recht, daß Ödipus ihm Platz macht, und befiehlt dem Wagenlenker, den Fremden aufzufordern, den Weg zu räumen. Da sich Ödipus weigert, schlägt der Wagenlenker diesen mit seinem Knüppel auf die Schulter. Wutentbrannt packt Ödipus seinen Schlagstab und streckt den Wagenlenker zu Boden, dann tötet er Laios und dessen Begleiter mit wuchtigen Schlägen. Nur ein Thebaner entwischt dem Rausch des Ödipus und kann unversehrt nach Theben fliehen. Ödipus, der glaubt, aus Notwehr getötet zu haben, setzt seinen Irrweg fort und trifft auf die Sphinx, das Ungeheuer mit Frauenkopf und Löwenkörper. Sie sitzt auf einem höheren Felsen vor den Toren Thebens. Die Götter haben sie geschickt, um Laios/Theben für die Schmach, die dieser Chrysippos zugefügt hat, zu bestrafen. Jedes Jahr verlangte sie, die Würgerin, einen Jüngling von Theben, dem sie ihr Rätsel stellte. Bisher konnte keiner das Rätsel lösen, und viele junge Männer wurden von der Sphinx erwürgt und verschlungen. Nun steht Ödipus vor diesem menschenverschlingenden Ungeheuer, das sich der erneuten Beute sicher ist. Sie stellt ihm folgendes Rätsel: »Wie heißt das Wesen, das von allen Wesen, die 198

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auf der Erde, in der Luft oder im Wasser leben, nur eine Stimme hat, nur eine Gestalt, aber zwei Beine, drei Beine und vier Beine?« Ödipus, der weiß, daß es um sein Leben geht, überlegt. Wahrscheinlich von der zweiten Silbe seines Namens »dipous« unbewußt gelenkt, antwortet er schließlich: »Mensch heißt dieses Wesen. Als Säugling kriecht er auf allen vieren, als Mann steht er auf beiden Beinen, als Greis stützt er sich auf seinen Stock.« In dem Moment, in dem Ödipus das Rätsel gelöst hat, stürzt sich die Sphinx von ihrem Felsen in die Tiefe und stirbt. Zum Dank erhält er Thebens verwitwete Königin, Iokaste, seine wirkliche Mutter, zur Ehefrau und wird, ohne es zu wissen, den zweiten Teil des Orakels erfüllen. Vier Kinder gebärt Iokaste: Polyneikes, Eteolkes, Ismene und Antigone. Alles scheint geordnet und harmonisch in Theben zu verlaufen. Da breitet sich plötzlich die Pest aus. Unermeßliches Leid erduldet das Land. Keiner weiß zu erklären, warum die Götter diese Epidemie geschickt haben? Nachdem die Kinder und Greise mit Bittzweigen zu Ödipus gekommen sind, um ihn anzuflehen, er, der seine Macht als Rätsellöser gezeigt habe, möge sie von dieser Plage befreien, entschließt dieser sich, Kreon nach Delphi zu schicken, um das Orakel nach dem Grund dieses Unheils zu befragen. In dem Moment, in dem er gelobte, die Ursache des Übels mit allen Mitteln und unerbittlich zu suchen, kommt Kreon aus Delphi zurück, um die Antwort des Orakels zu verkünden: »Die Pest werde so lange wüten, bis der Mord an Laios nicht gesühnt sei.« Den Mörder zu finden, zu bestrafen und aus Theben zu vertreiben, verspricht Ödipus den Menschen Thebens. Wie vor der Sphinx beginnt Ödipus zu fragen, zu forschen und zu prüfen. Er will unbedingt wissen, wer der Schuldige ist. Eine akribische Untersuchung setzt er in Gang, in der er kein Mittel scheut. Die Alten empfehlen ihm den blinden Seher Teiresias, der den Vogelflug zu deuten verstehe und die Wahrheit vielleicht durch göttliche Eingebung erkennen könne. Ödipus läßt den Alten kommen, der nur ungern den Markt der Stadt betritt, um von Ödipus befragt zu werden. Als er sich weigert, ihm zu antworten und beharrlich behauptet, nichts zu wissen, packt Ödipus, der die Achtung vor Teiresias verliert, die Wut. Er glaubt, der Widerstand des Sehers, ihm auf seine Fragen zu antworten, weise auf eine Verschwörung hin, die dieser mit Kreon 199

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gegen ihn aushecke. Dieser Verfolgungswahn bringt Ödipus sogar dazu, Kreon als Mörder des Laios zu verdächtigen, und ihm zu befehlen, Theben sofort zu verlassen. Iokaste will zwischen den beiden vermitteln, doch es gelingt ihr nicht. Die Stadt bleibt gespalten. Haß und Streit bestimmen das Klima. Die Wut, die Wahrheit wissen zu wollen, treibt Ödipus zu weiteren Untersuchungen an. Der Begleiter des Laios, dem es gelungen war, dem Gemetzel des Ödipus zu entkommen, soll berichtet haben, mehrere Räuber hätten Laios und seine Begleiter an der Kreuzung von drei Wegen überfallen und getötet. Nur er sei ihnen lebend entkommen. Die Erwähnung der Kreuzung irritiert Ödipus; sie erinnert er genau, an ihr hat er ihm unbekannte Menschen in Notwehr getötet. Er war allein, während Laios und seine Begleiter von mehreren Räubern getötet wurde. Er ist nach einer kurzen Beunruhigung wieder sicher, daß er es nicht gewesen sein kann, der den Laios getötet hat. Dennoch möchte er diesen Mann auch persönlich befragen, läßt ihn auf dem Land aufspüren und zu sich bringen. Schonungslos will Ödipus ihn verhören; doch dieser schweigt so beharrlich wie Teiresias. Ödipus, ungeduldig und wütend geworden, droht ihm schließlich mit Folter, um ihn zum Sprechen zu bringen. Selbst dieses Mittel scheut Ödipus nicht, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Sein Trieb, wissen zu wollen, ist in diesem Moment sogar bereit zur gewalttätigen Rücksichtslosigkeit, die die Angst vor dem körperlichen Schmerz ausnutzt, um den Widerstand gegen die Forderung des Ödipus, zu antworten, zu brechen. Doch bevor es zur Folterung kommt, trifft ein Bote aus Korinth bei Iokaste und Ödipus ein. Er fragt nach dem König Thebens, dem er die traurige Nachricht zu überbringen habe, daß sein Vater und seine Mutter gestorben seien. Einerseits schmerzt Ödipus der Tod seiner Eltern, andererseits atmet er erleichtert auf, da er seinen toten Vater nicht mehr töten und seine tote Mutter nicht mehr ehelichen kann. Ihr natürlicher Tod gibt ihm zudem die Gewißheit, daß die Worte des Orakels nicht Wirklichkeit wurden und werden. Als Ödipus jedoch meint, dem Boten erklären zu müssen, weshalb er Korinth verlassen und sich ferngehalten habe, wiederholt er die ihn erschreckenden Worte der Pythia. Der Bote spricht nun das aus, was Ödipus ahnte, aber nicht wahrhaben wollte. »Polybos und Periboia sind nicht deine Eltern.« Verwirrt fragt Ödipus den 200

Rücksicht bei der Darstellung

Boten dann: »Warum hat er mich dann seinen Sohn genannt und mich sehr geliebt?« Dieser erzählt ihm nun die Geschichte, die ihm seine vermeintlichen Eltern aus falscher Rücksicht vorenthielten, erklärt ihm, daß sein Name ihm wegen der durchbohrten Versen gegeben wurde. »Schandfleck« nennt Ödipus diese Stellen an seinen Füßen. »Wer gab mir diesen ›schändlichen Namen‹? Mutter oder Vater? Sprich!« Der Bote fährt fort: »Ich weiß es nicht. Derjenige, der dich mir gab, weiß es vielleicht.« – »Und wer gab dir das Kind? Kennst du seinen Namen?« – »Nein, seinen Namen kenne ich nicht, aber er gab sich als ein Hirte des thebanischen Königs Laios zu erkennen.« Ödipus, der trotz der Beschwörungen von Iokaste, die nach den Worten des Boten die schreckliche Wahrheit ahnt, er solle das Nachforschen aufgeben, »wenn dein Leben dir lieb ist, und ich leide schon genug«, befiehlt, den Hirten herbeizuschaffen, um die Wahrheit über seine Herkunft ans Licht zu bringen. Mit den Worten »Unseliger! Erführst du niemals, wer du bist! Weh dir, du Unglückseliger! Dies allein noch hab ich dir zu sagen, anderes nimmermehr fortan« geht sie in den Palast. Der herbeigeholte Hirte wird von dem Boten erkannt. Das Verhör kann beginnen. Die Spannung steigt mit jedem Satz. Der Hirte weigert sich, die Wahrheit zu sagen, verflucht den Boten und dessen Worte, will ihn mit Gewalt daran hindern, weiterzusprechen. Ödipus spürt, daß der Hirte das Kind verleugnen will, das er dem Boten übergab, und droht ihm mit Folter. Als er sich weigert, Ödipus zu sagen, von wem er das Kind empfangen habe, droht dieser, ihn zu töten. Mit den Worten »Das Schreckliche zu sagen ist an mir« beginnt der Hirte, die wahre Herkunft des Ödipus ans Licht zu bringen. »Sein Kind ward es genannt; doch drin dein Weib kann wohl am besten sagen, wie sich das verhält.« – »Wie? Übergab denn sie es dir?« fragt Ödipus entsetzt zurück. »Gewiß, Herr, Ja!« Ödipus hält nicht inne, sondern will sogar noch wissen, aus welchem Grund Iokaste es weggegeben habe: »Vernichten sollte ich es.« Nicht glauben will Ödipus, daß die Mutter seine Vernichtung wollte, und hört vom Boten den ersten Teil des Orakelspruchs (»Es wird den Vater töten«) als Begründung. Jeder Zweifel an seiner wahren Herkunft, der durch die Worte eines anderen »Du bist gar nicht der richtige Sohn des Polybos« in ihm erregt wurde, ist der schrecklichen Gewißheit gewichen, daß er, ohne es zu wissen, die 201

Hans Naumann

Orakelworte erfüllt hat. Das Wissen, daß er etwas getan hat, was er auf keinen Fall tun durfte und dessen Verwirklichung er mit allen Mitteln verhindern wollte, treibt ihn in den begreifenden Wahnsinn. Er läuft tobend in den Palast, verlangt rasend nach einem Schwert, tritt die Doppeltür zum Zimmer der Iokaste auf und sieht sie mit ihrem Gürtel an der Decke aufgehängt. Er löst die Schnur und reißt die Spangen ihres Kleides heraus, um sie sich in die Augen zu stoßen, die diejenige sahen und begehrten, die sie nie hätten schauen dürfen. Kein Licht, kein Gesicht kann er mehr sehen. Zum Schandfleck Thebens geworden, Ursache der Pest und unermeßlichen Leids, hätte er am liebsten taube Ohren, wäre in totale Einsamkeit geflohen. An sein gegebenes Versprechen gebunden, will er nur eins, ihn, den Schandfleck, das Miasma, aus Theben verjagen lassen, wozu er Kreon auffordert, der ihm schließlich befiehlt, Theben ohne seine Kinder zu verlassen. Der Ödipusmythos und seine Wiederaufnahme durch Sophokles stellen den rücksichtlosen Trieb, das mythische Wesen, dar, den »Zwang, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat«. Worte der Pythia sind es, die den Trieb benennen und ihn in Ödipus erregen. Ödipus’ Drama ist die unbewußte Inszenierung dieses Wortes, seine verheerende Verwirklichung. Ödipus hat demnach, worin meines Erachtens die packende Macht der Tragödie besteht, kein Unbewußtes, sondern er ist das Unbewußte, er ist der rücksichtslose und sich gewaltsam verwirklichende Trieb, der Trieb, den Vater zu töten, um die Mutter zu besitzen, wie auch der Trieb, mit allen Mitteln die Wahrheit ans Licht bringen zu wollen. Die Erfahrung des gesprochenen und dann auch sanktionierten Verbotes, das Nein seines Vaters, Laios, sind Ödipus genommen worden, weil dieser Vater, der von diesem Trieb seines zukünftigen Sohnes wußte, diesen so sehr fürchtete, daß er die Vernichtung dieses kleinen Jungen seinen machtvollen Worten vorzog. Gerade die Entwertung der Symbolisierung durch den Vater und die Mutter haben Ödipus dazu verdammt, den Trieb zu leben. Vergleichbares bewirkt der halbherzige Versuch des Polybos, die Zweifel des Ödipus an seiner Sohnschaft zu zerstreuen. Auch Polybos traut seinen Worten als Vater nicht, übernimmt die Verantwortung nicht, mit machtvollen und schneidenden Worten den Trieben seines anerkannten Sohnes Grenzen zu setzen. 202

Françoise Samson

»Son nom de Venise dans Calcutta désert«

Ich habe diesen Titel von Marguerite Duras übernommen. So heißt einer ihrer Filme. Oft, wenn ich in der letzten Zeit an Berlin, an Jutta Prasse dachte, drängte sich mir dieser Filmtitel wie eine alte, halb vergessene Melodie auf. Erst in Venedig, wo ich vor kurzem war, begann sich ein Stückchen des Schleiers meines Nichtwissenwollens zu zerreißen, der diesen wiederholten Einfall verhüllte: Juttas italienische Seite, Thomas Manns und Viscontis Tod in Venedig, Juttas Liebe zur Literatur und zum Kino, Rilke, Psychoanalyse – so fielen die ersten Elemente der Kette ab. Dann eine Erinnerung: an einem Arbeitsnachmittag des Collège de la passe der École de Psychanalyse Sigmund Freud (EPSF) und der Lettre lacanienne wurde voriges Jahr über den Namen A. E. (Analyste de l’école)1 gesprochen. Eine leicht gereizte Stimme ließ sich plötzlich hören: »Mais le nom d’A. E., ce n’est quand même pas Son nom de Venise dans Calcutta désert!« Da erwiderte Anne-Lise Stern mit nicht weniger gereizter Stimme: »Aber eben doch, der Name A. E. ist Son nom de Venise!« Diese Erinnerung tauchte am Tage auf, als Venedig unter sehr hohem Wasser lag, acqua alta heißt es dort. Plötzlich und unaufhaltsam fließt das Wasser über die Schwelle des Hauses, überschwemmt die Wohnung, die Grenze zwischen dem Kanal und der fondamenta wird undeutlich, die trockenen Wege werden Wasserwege, die Boote schwimmen zwanzig Zentimeter über dem Bodenniveau, kurz, der Uferstreifen, der littoral, ist überschwemmt. Hinter der Schönheit seiner Pracht läßt Venedig sein wahres, reales Gesicht sehen. Und Venedig zeigt es unmittelbar, ohne den Übergang, mit dem andere Städte es tun. Rilke schrieb: »In kurzem würde es kalt sein. Das weiche, opiatische Venedig ihrer Vorurteile und Bedürfnisse verschwindet mit diesen somnolenten Ausländern, 1

Analyste de l’École, ein Analytiker, der in der la passe genannten Prozedur über seine eigene Analyse gesprochen hat. Er hat sich dazu an zwei Passeure gewandt, die einem Cartel de Passe darüber berichtet haben. Das Cartel ernennt den Analytiker daraufhin zum A. E. – oder auch nicht.

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Françoise Samson

und eines Morgens ist das andere da, das wirkliche, wache, bis zum Zerspringen spröde, durchaus nicht erträumte: das mitten im Nichts auf versenkten Wäldern gewollte, erzwungene und endlich so durch und durch vorhandene Venedig2.« Ein Jahr nach dem Ende ihres Films India Song erwachte Marguerite Duras eines Morgens und hatte den plötzlichen, unerwarteten Einfall: »Ich muß diesen Film machen.«3 Welchen Film also? Sie geht in den Rothschild Palast in Boulogne, wo sie schon die Außenaufnahmen von India Song gedreht hatte. Dieser Ort war die Ruine eines prächtigen Palastes, den Göring bewohnt hatte und den die Familie Rothschild danach als verwunschen zurückgelassen hatte. Die Kamera findet ihren Weg durch diese Räume, wo alles zerstört, verwüstet ist, alle Kamine, alle Spiegel, fast alle Fensterscheiben, überall Spinnweben. Die schönen Fassaden nähern sich uns wie ein großes Schiff in der Dämmerung, der herrlichen Steintreppe zu Füßen liegt der erhabene, nun verwilderte Park im winterlichen Licht. Während dieser langen Kamerafahrten, wo keine menschliche Figur mehr zu sehen ist, hört man die Stimmen, den Text, also die Tonspur des vorigen Films India Song. Die Kamera, sagt Bruno Nuytten, der Kameramann, zehn Jahre später, entdeckt und erforscht eine schon erzählte Geschichte. Es sei wie eine Fahrt ins Unbewußte gewesen. India Song hatte schon die traditionelle Form des Erzählens aufgebrochen. Marguerite Duras hat eine Mischung vom Vergangenen und Gegenwärtigen geschaffen und zugleich eine Distanz, einen Riß zwischen dem gesprochenen Text und dem Bild4. Die Kamera filmt die Schauspieler, die ihre Figur spielen, aber ohne den Text auszusprechen, ihr Mund bleibt geschlossen. Man könnte diese filmische Erfindung mit der Traumarbeit vergleichen, die ein2

3

4

Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. München (dtv) 1962, S. 164. Marguerite Duras: Son nom de Venise dans Calcutta désert. Recueil de textes de et sur Marguerite Duras. Paris (Editions Albatros) 1979, S. 93. Ebd., S. 80–81: »[…] Na, siehst du, wenn sie sprechen und ihre eigenen Worte hören, hallen die Worte unendlich mehr wider. Das heißt: man vermutet, daß sie das sagen, was man hört, aber zugleich, genau zur gleichen Zeit, könnten sie auch etwas ganz anderes sagen. Das Feld öffnet sich, das Feld der Sprache öffnet sich unendlich viel mehr. Ich glaube, es ist so, und alles wird dadurch zweideutig.«

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»Son nom de Venise dans Calcutta désert«

zelne bleiche, stumme, bewegungslose Figuren erscheinen läßt, um einen Toten darzustellen und damit als Zeitangabe den Wunsch des Traums zu datieren. Durch diese Mischung und diese Spaltung hat sie Stimme und Bild isoliert. In Son nom de Venise erweitert sie den Riß: es bleiben nur noch die Stimme als Rest der schon erzählten Geschichte und der Ort, die Ruine des Palastes als Rest des Geschehenen. Die Personen sind aber nicht mehr zu sehen. Stimme und Blick sind nicht mehr am gewohnten Platz, sie sind dezentriert und entmischt. Daraus entsteht eine Art Schwindel. Ein kleines Beispiel nur. Die Stimme des Vize-Konsuls sagt: »Ich wußte nicht, daß Sie existierten. Calcutta ist für mich eine Form der Hoffnung.« Die Kamerafahrt streift über den eisigen Boden, der glänzt wie gesplittertes Glas, wie ein zerbrochener Spiegel. Marguerite Duras sagt 1984 in einem Dokumentarfilm namens Der englische Friedhof, sie habe etwas Neues erfunden, nämlich den schon vorhandenen Ton benutzt, um neue Bilder zu schaffen, eine »Freveltat«, die India Song zur »grundlegenden Demut«, zur »organischen Menschheit« verwandelt hat, so daß »andere Filme dann möglich waren«. Sie habe India Song auf die Probe gestellt, nämlich »zerstört, entvölkert«. Diese »Freveltat«, diese Zerstörung des Selbstgeschaffenen, hat mehrere Folgen. Erstens die Darstellbarkeit des Vergessens zu ermöglichen: sie habe das Vergessen von India Song gefilmt. Sie habe »eine erste Schicht des Realen ausgeräumt«, um die untere Schicht erscheinen zu lassen, die dann zu lesen, »wortwörtlich und materiell zu entziffern« sei. Diese Zerstörung des Selbstgeschaffenen ist eine Zerstörung der Konstruktion, jedoch eine mit Sorgfalt konstruierte Zerstörung, die das Feld des Möglichen eröffnet. Damit ist sie an der äußersten Grenze der Darstellbarkeit, der Grenze des Unmöglichen angelangt. Bis hin zur schwarzen Leinwand, die als einziges den Blick auf sich zieht und ihn hält. Diese neue dekonstruierte Konstruktion ist wie eine umgekehrte Erzählung, ein »mitten im Nichts auf versenkten Wäldern« aufgebautes Venedig. Son nom de Venise ist eigentlich Anna-Maria Guardi, der italienische Name von Anne-Marie Stretter, ihr Name also aus Venedig, ihr Mädchenname, der Name ihres Vaters. Diesen Namen schreit aus unmöglicher Liebe der verzweifelte Vize-Konsul in dem leeren Kalkutta. Die Spuren dieses Schreis, dieser unmöglichen Liebe sind 205

Françoise Samson

in den Spuren der Ruinen eines verödeten Palastes, in ihnen und durch sie, zu entziffern. Dieser so genannte Name, Son nom de Venise, ist die Wortbrücke zwischen den beiden Filmen. Der Name des Übergangs eines Stückes Realem, das in der Erzählung des Geschehenen enthalten war, aber erst lesbar wurde, nachdem die Ausstattungen des inneren und äußeren Theaters genug zerstört und zerlegt wurden, daß die Kehrseite durch die Splitter des Spiegels erscheinen konnten. Im Französischen kann das Wort éclat zugleich Pracht und Splitter bedeuten, Venedig Vorder- und Rückseite. Aber, um diesen Film, diese Vollendung von India Song zu machen, hat Marguerite Duras nicht die Pracht von Venedig, nicht die Ufer des Ganges gewählt, sondern die Ruine einer vom Nazismus zerstörten Pracht. Wohin führen die langen Wege einer Analyse, die unzähligen Fahrten ins Unbewußte? Nun auf die Bahnungen unseres psychischen Apparates, die die Spuren unserer frühesten Abenteuer, Liebes- und Haßgeschichten mit diesem unvergeßlichen Anderen sind, kehren wir bis zu dem Ort zurück, wo sich unsere Subjektivität auf der »Oberfläche eines Organismus« aufgebaut hat5, zu diesem Ort der grundlegenden Demut, der organischen Menschheit, würde Marguerite Duras sagen. Die ersten Fahrten, Windungen einer Analyse, sind wie eine Erzählung, die noch viele Personen, viele Geschichten nach der Art eines mehr oder weniger klassischen Romans enthält. Dann folgt eine zweite Phase, wo dieser Roman nicht mehr erzählt, sondern gelesen, sogar nachgelesen wird. Die Erzählung erfährt verschiedene Niederschriften, die auch Zersplitterungen sind. Dabei verschwinden Personen, als wären sie ausradiert, manchmal bleiben von ihnen nur die Namen. Die Geschichten verlieren ihren Affektbetrag, sie verblassen und vermischen sich in den Ausstattungen, die plötzlich undeutlicher, unbestimmter werden. Kaum etwas ist noch am gewohnten Platz. Wo bin ich in dieser Geschichte? Wäre etwa das Ganze nichts als Lug und Trug? Was tue ich denn überhaupt hier? Was bin ich denn? Es kommt die Zeit der Hochfluten des Triebes, acqua alta, die das Phantasma nicht mehr aufsaugen kann, weil es allmählich undicht 5

Jacques Lacan: L’éthique de la psychanalyse, Séminaire VII. Paris (Seuil) 1986, S. 31.

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»Son nom de Venise dans Calcutta désert«

geworden ist, gelöchert, seiner Bewohner und Möbel entleert, seine Wände sind voller Schimmelflecken. Schimmelflecken können ein guter Anlaß sein, eine Madonna oder einen muskulösen Athleten daraus zu malen, sagt Lacan, der sich dabei auf Leonardo da Vinci beruft6. Venedig enthält eine prächtige Sammlung solcher Kunstwerke, nicht wahr? Diese Sammlung entstand aber nicht ohne diese abgehärteten latenten Energien, wie Rilke schreibt. Kunstwerke sind »geheimnisvolle Existenzen«, die zugleich die Schimmelflecken durch den Schirm der Schönheit verstecken und sie trotzdem enthalten und die Leere erblicken lassen. Dieses Bild der Leere7 ist ein anderer Name des Dings aus Freuds Entwurf. »In Freuds Text ist die Weise, in der das Fremde, das Feindliche in der ersten Erfahrung der Realität für das menschliche Subjekt erscheint, der Schrei«8, sagt Lacan. Son nom de Venise, dieser Name, den der Vize-Konsul im leeren Kalkutta schreit, ist zwar der Name einer geliebten Frau, enthält aber zugleich die Spur des Namens des Vaters (symbolisch) und die Spuren des toten Vaters des Genießens (real). Wäre dieses leere Kalkutta »das Ding, als absoluter Anderer des Subjekts, der wiederzufinden ist«9? Wäre der wilde Schrei des Vize-Konsuls ein Ruf? Eine Art »Versuchung«, vielleicht »den prähistorischen, unvergeßlichen Anderen zu zähmen, der uns wohl plötzlich überraschen und aus der Höhe seiner Erscheinung hinabstürzen könnte. Du enthält was weiß ich welche Abwehr – und ich würde sagen, daß das, was ich Ihnen als das Ding vorgestellt habe, im Moment, wo es ausgesprochen wird, ganz in diesem Du, und nicht anderswo, liegt.«10 Dieser Ruf, der aus unserer Stimme auftaucht, in Notlagen, in Momenten der Verwirrung, ein Ruf, der einem bevorzugten Anderen gilt. Ist es ein Wunder, wenn Rilke dieses Gedicht in diese Venediger Szene einge6

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8

9 10

Jacques Lacan: Le savoir du psychanalyste, Entretiens de St-Anne. Unveröff., Sitzung vom 3. Februar 1972. François Balmès (1997): Le nom, la loi, la voix. Toulouse (Scripta, Érès), S. 138. Jacques Lacan: L’éthique de la psychanalyse, Séminaire VII. Paris (Seuil) 1986, S. 68. Ebd., S. 65. Ebd., S. 69.

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fügt hat, das mit Du beginnt und von einer fremden Frau gesungen wird: Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertauschen. Eine Weile bist du’s, dann wieder ist es das Rauschen, oder ist es ein Duft ohne Rest. Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren, du nur, du wirst immer wieder geboren: weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest.11

Nun, heute malt man keine Madonnen mehr, und wie Rilke oder M. D. zu schreiben ist leider nicht einem jeden gegeben. Also was bleibt dem, der sich in dieses dunkle Licht gewagt hat, wo Bilder die Leere, die sie enthalten, nicht mehr verhüllen können, anderes übrig, als Analytiker zu werden? Er, der diese Arbeit der dekonstruierten Konstruktion hat machen müssen, der erlebt hat, wie aus den Resten von Gehörtem und Gesehenem Blick und Stimme isoliert wurden, wie sie ihrer phallischen Pracht entkleidet wurden. Auf dem Weg zum »Kern historischer Wahrheit«, die das Fundament ist, auf dem er sich aufgebaut hat, hat er das Vergessene rekonstruieren müssen, um durch eine Fiktion das primitive Reale zu entziffern und lesbar zu machen. Denn allein die Fiktion kann diese ursprüngliche Kerbung lesbar machen, an der er sich einmal festgehakt hat und die sein Schicksal bestimmt hat. Nun, wie kann man sich an dem Loch eines Einschnittes, an einer Leere festhaken? Hat man da nicht die Grenze der Darstellbarkeit, die Grenze des Möglichen, das heißt zugleich die Grenze des Unmöglichen, des Urverdrängten erreicht? Jetzt weiß ich, warum dieser nom de Venise sich mir so aufdrängte: er enthält die Frage, die ich uns hier stellen wollte. Wieso will denn einer, der weiß, »daß es keinen Ort gibt, wo man eine Klage anbringen kann«12, Analytiker werden? Aus Lust an »Freveltat«? Aus Wunsch, anderen das Feld des Möglichen zu eröffnen? Aus innerer Notwendigkeit? Nun, Freud und Lacan haben uns 11

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Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. A. a. O., S. 167. Siehe den Brief von Sigmund Freud an Sandor Ferenczi vom 4. Februar 1920 (Briefwechsel, Bd. III/1, 1920–1924, Wien/Köln/Weimar [Böhlau], S. 51).

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»Son nom de Venise dans Calcutta désert«

gelehrt: Wenn man eine Frage stellt, hat man schon mindestens die Hälfte der Antwort. Darum muß man diese besondere Frage endlos stellen.

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»Schade, daß man sich fürs Intimste immer den Mund verschließt.«1 Zur Abwesenheit des Herrn Signorelli

Es schien mir unabweisbar, hier über jenen Moment zu sprechen, an dem der Tod das Sprechen des Psychoanalytikers durchkreuzt. Die erste sinnfällige Stelle, an der mir dies zu passieren schien, war Freuds Vergessen des Namens Signorelli. Inzwischen komme ich mir ein wenig ruchlos vor. Schon das Freud-Zitat aus einem Brief an Fließ, das ich vor einiger Zeit für diesen kleinen Beitrag ausgewählt habe, hätte mir zu denken geben sollen: Welche Intimitäten sollen dem längst für immer verschlossenen Mund hier nachträglich noch entrungen werden? »Ich denke«, schrieb Jutta Prasse einmal, »daß berechtigte Kritik an den psychoanalytischen Ausflügen und ›Kücks‹ hinüber in das Gebiet der Literatur dort anzubringen ist, wo der literarische Text als Symptom des Autors aufgefaßt wird. Wenn das in aller Konsequenz geschieht, wird der Text durch eine so gestaltete Deutung als solcher zum Verschwinden gebracht, zugunsten einer supponierten (meist postum erschlossenen) Lebensgeschichte, die dem Text vorausgegangen sein soll. Begriffe […] stellen sich an seiner Stelle ein, man weiß nun (etwa vom Mutterkomplex des Autors, seiner Impotenz, seiner unterdrückten Homosexualität usw. usw.), aber mit dem Genuß am Text selbst ist es vorbei. Man hat verstanden und genießt sich selbst als anders Wissenden.«2 1

2

Das Zitat stammt aus einem Brief Sigmund Freuds an Wilhelm Fließ, BF Nr. 149. Vgl. Sigmund Freud (1986): Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Hg. von Jeffrey Moussaieff Masson, Übers. v. M. Schröter. Frankfurt a. M. (Fischer), S. 310. Der nähere Kontext lautet: »Seitdem ich das Unbewußte studiere, bin ich mir selbst so interessant geworden. Schade, daß man sich fürs Intimste immer den Mund verschließt. / ›Das Beste, was Du weißt, / Darfst Du den Buben doch nicht sagen.‹« Jutta Prasse: »Kück« und Sprung: Ein paar Bemerkungen zur Deutung in der Psychoanalyse und in der Literatur. In: dies. Sprache und Fremdsprache. Psychoanalytische Aufsätze. Hg. von Claus-Dieter Rath, Bielefeld (transcript), S. 13 f.

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»Schade, daß man sich fürs Intimste immer den Mund verschließt.«

Aber Jutta Prasse verwies auch auf den Trost, der darin liegt, daß der Text, der einem solchen Blick unterzogen und damit »um die Ecke gebracht« wird, wie sie es ausdrückte, daß der Text diese Behandlung allemal überlebe, daß er »bei prächtiger Gesundheit weiterlebe« und nur von neuem gelesen zu werden brauche, um erkennen zu lassen, daß er eben doch nicht ganz verstanden worden sei, daß einem Bezüge und Anspielungen entgangen seien, kurz: »daß er der alles abklärenden Deutung widersteht«. Ich hoffe, Sie werden es mir nachsehen, wenn ich hier trotzdem ein wenig »symptomaufdeckende« Lektüre, eine wenig biographisch-kriminalistische Motivforschung treibe, denn zum einen handelt es sich bei den Texten Freuds streng genommen nicht um Literatur im oben gemeinten Sinn, sondern um Texte, die sich, mit gewissen Einschränkungen und Rücksichten, selbst einer solchen Behandlung unterwerfen; und zum zweiten bleibt abzuwarten, ob meine Anmerkungen den Text am Ende tatsächlich um die Ecke gebracht haben werden, und wenn ja, um welche. Sie alle kennen jene frühe Episode, in der Freud der Eigenname des Malers der Fresken in der Brizio-Kapelle im Dom zu Orvieto entfiel. Es ist der dritte, von Freud bekannte Fall von »Namenvergessen«, und von diesem Fall sind uns wiederum drei Darstellungen überliefert, man könnte in loser Analogie auch »Niederschriften« sagen, insofern diese Darstellungen unterschiedlich starke Bearbeitungsspuren tragen. Eine erste, sehr kurze findet sich in Freuds Brief an seinen Freund und Kollegen Wilhelm Fließ vom 22. September 1898. Eine zweite, weit ausführlichere findet sich in dem Aufsatz Zum psychischen Mechanismus der Vergeßlichkeit, den Freud unmittelbar nach jenem Brief verfaßte und sofort veröffentlichen ließ. Drei Jahre später schließlich benutzte Freud dasselbe Beispiel als Auftakt zur Psychopathologie des Alltagslebens. Es handelt sich um eine Art psychoanalytischen Urtext, in dem eine ganze Reihe wesentlicher psychischer Vorgänge und Phänomene angesprochen und zum Teil genauer analysiert werden: Der Komplex von Erinnern, Vergessen und Verdrängen; die Funktion der Zensur, die das Sprechen und die Erinnerung hemmt; die Prinzipien der Verschiebung und Verdichtung, wie sie in der Bildung von Ersatznamen, aber auch bei der Traumarbeit und der Symptombildung am Werke sind; die Überdeterminiertheit von Signifi211

Robin Cackett

kanten; die Übersetzung von Wortvorstellungen in Sachvorstellungen oder in Bilder von zum Teil halluzinatorischer Deutlichkeit; die Frage nach dem Adressaten des Sprechens bzw. nach der Übertragung, die es ausrichtet; und nicht zuletzt die Frage nach dem Zusammenhang von Sexualität und Tod, sei es in Freuds Leben, in der psychoanalytischen Theorie oder in unserem sprachlichen Inder-Welt-Sein als solchem.3 Ich fasse die Episode dieser Fehlleistung kurz zusammen und folge dabei im wesentlichen der zweiten Darstellung: Freud befand sich (mit seiner Frau Martha) auf einer Urlaubsreise nach Dalmatien. Von Dubrovnik aus unternahm er (ohne seine Frau) eine Wagenfahrt ins Innere der Herzegowina. Zwischen Freud und einem Begleiter4 entspann sich ein Gespräch, zunächst über die Eigenheiten der in Bosnien lebenden Türken, sodann über Italien und die Kunstgenüsse, die dieses Land zu bieten hat. Freud empfahl seinem Begleiter »dringend«, sich die »Fresken vom Weltuntergang und Letzten Gericht« im Dom zu Orvieto anzusehen, konnte sich jedoch auf den Namen des Malers Signorelli nicht mehr besinnen. Statt dessen standen ihm die Bilder »sinnlich lebhafter« als gewöhnlich vor Augen, »überdeutlich« erschien ihm vor allem das Selbstbildnis, in dem sich der Künstler in der linken unteren Ecke des Freskos vom Antichristen verewigt hat.5 Alle fortgesetzten Be3

4

5

Ausführlicher beschäftigen sich mit unterschiedlichen Aspekten Jacques Lacan (1957); (1990); (1994); Wilden (1966); Weber (1978); Anzieu (1990). Laut Freuds Brief an Fließ befand sich Freud in Begleitung eines Berliner Assessors namens Freyhan. Vgl. Sigmund Freud (1986): Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, a. a. O., S. 357. Die frühere Ausgabe der Briefe durch Kris gibt eine andere Transkription des Eigennamens des Reisebegleiters. Nebst seinem Vorgänger Fra Angelico, der die Arbeiten in der BrizioKapelle begonnen hatte. Die Regression von der Wortvorstellung auf die Sachvorstellung, die bei dieser Fehlleistung passiert, ist derjenigen im Traum analog. Signorellis Selbstporträt hebt sich in einem besonders auffälligen und ungewöhnlichen Punkt gegen das Porträt von Fra Angelico ab: Der Maler sieht dem Betrachter so direkt in die Augen, daß dieser sich unweigerlich angesehen fühlt. Auf halbem Wege zwischen den frommen Malern und dem predigenden Antichristen ist in diesem Fresko außerdem ein jüdischer Geldverleiher zu sehen. Es gab also noch eine weitere Hinsicht, in der Freud sich gerade von diesem Fresko besonders angesprochen gefühlt haben könnte.

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»Schade, daß man sich fürs Intimste immer den Mund verschließt.«

mühungen, den Namen des Malers zu erinnern, brachten lediglich zwei andere Namen hervor, »Botticelli und in zweiter Linie Boltraffio«, die Freud sogleich »als unrichtig erkannte und verwarf«, die jedoch »beständig wiederkehrten«. Freud mußte sich die mit dem »Ausfall der Erinnerung verbundene, mehrmals am Tage wiederkehrende Qual durch mehrere Tage gefallen lassen«, bis ihn schließlich ein »gebildeter Italiener« durch Mitteilung des Namens Signorelli »befreite«. Sogleich fiel Freud nun von selbst der Vorname Luca ein, und die »überdeutliche Erinnerung an die Gesichtszüge des Meisters auf seinem Bilde verblaßte«.6 Wie soll man sich diese Vorgänge begreiflich machen? Bevor das Gespräch der beiden Reisenden auf die Fresken im Dom zu Orvieto kam, hatte Freud von zwei besonders bemerkenswerten Eigenheiten der bosnischen Türken, die ihm ein »lieber Kollege«7 vor Jahren geschildert hatte, nur deren Schicksalsergebenheit gegenüber dem Tode erwähnt; die zweite, nämlich ihre »alles überragende« Wertschätzung der »Sexualgenüsse«, jedoch aus Gründen der Schicklichkeit unterdrückt. Was Freud sagte, war: »Wenn der Arzt einem Familienvater mitteilen muß, daß einer seiner Angehörigen dem Tode verfallen ist, so lautet dessen Erwiderung: ›Herr, was ist da zu sagen? Ich weiß, wenn er zu retten wäre, würdest du ihm helfen.‹« Was Freud von den Ausführungen seines Kollegen erinnerte, aber nicht sagte, war: »Einer seiner Patienten sagte einmal: ›Du weißt ja, Herr, wenn das nicht mehr geht, dann hat das Leben keinen Wert [wobei mit das die Sexualgenüsse gemeint waren].‹« Freud und seinem Kollegen schien es, »als sei zwischen den beiden hier erläuterten Charakterzügen des bosnischen Volkes ein intimer Zusammenhang anzunehmen«8. Der unterdrückte Gedanke an die überlebensgroße Wichtigkeit 6

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8

Sigmund Freud (1898b): Zum psychischen Mechanismus der Vergeßlichkeit. G.W. I, S. 520 f. Ebd., S. 520. Laut Anmerkung 1, S. 526, handelt es sich bei diesem Kollegen um einen Herrn Pick, vermutlich Alois Pick. Laut Swales war Pick zeitweilig als Militärarzt bei der in Bosnien stationierten österreichischungarischen Garnison tätig. Vgl. Senyener (2004), S. 2. Zu Freuds Vergessen des Namen Pick und der Verbindung zu seinen Herzbeschwerden siehe die genannten Stellen, sowie Weber (1978), Kapitel 6. Sigmund Freud (1898b): Zum psychischen Mechanismus der Vergeßlichkeit, a. a. O., S. 522.

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der Sexualität bei den Bosniern9 habe, so Freud, den »gesuchten Namen in die Verdrängung nachgezogen«. Die Unterdrückung eines Gedankens hat an einer anderen Stelle des Diskurses eine Lücke geschlagen. Der genaue Ort, wo dies geschieht, scheint Freud weniger semantisch, durch »inhaltliche Verwandtschaft« der Diskurse bestimmt, als vielmehr »vermittelst oberflächlicher10 Assoziationen«: Durch Fixierung der Verdrängung an einen bestimmten Signifikanten (das Herr als Anrede an den Arzt in den Äußerungen des bosnischen Patienten) und seine Übersetzung in eine andere Sprache. Auch im Italienischen geht es, wie bei Herr – Herzegowina, um eine Fixierung an den Laut, da ja nicht das italienische Wort für Herr vergessen wurde, sondern der Name eines Malers, in dem der unterdrückte Signifikant Herr in der italienischen Übersetzung Signor vorkommt. »Der Vorgang wurde offenbar dadurch erleichtert, daß ich die letzten Tage in Ragusa beständig italienisch gesprochen, d. h. mich gewöhnt hatte, in meinem Kopf aus dem Deutschen ins Italienische zu übersetzen.« Soweit zur Fehlleistung und ihrer Erklärung.11 Bei der Durchsicht einiger Kommentare fiel mir auf, daß sich die Abwesenheit des Herrn bei der Überquerung über den Rhein wiederholt – fast könnte man von einer Wiederkehr der Verdrängung sprechen. Vielleicht liegt es an der französischen Übersetzung der Freud-Texte. Sowohl in Lacans12 als auch in Anzieus Resümee der Ereignisse verschwindet der vergessene Signifikant aufs neue, wenn auch an anderer Stelle. Bei Lacan heißt es, daß es Freud

9 10 11

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Vermutlich könnte man »bei den bosnischen Männern« präzisieren. Im späteren Text bezeichnet Freud die Assoziationen als »äußerlich«. In der Psychopathologie des Alltagslebens antwortet Freud auf die Frage, »ob eine solche äußerliche Assoziation wirklich die genügende Bedingung dafür sein kann, daß das verdrängte Element die Reproduktion des gesuchten Namens störe, ob nicht doch notwendig ein intimerer Zusammenhang der beiden Themata erforderlich« sei, deutlich weniger kategorisch: »Bei eingehender Untersuchung findet man aber immer häufiger, daß die beiden durch eine äußerliche Assoziation verknüpften Elemente […] außerdem einen inhaltlichen Zusammenhang besitzen, und auch in dem Beispiel Signorelli läßt sich ein solcher erweisen« [Hervorh. R. C.]. Vgl. Sigmund Freud (1901b): Zur Psychopathologie des Alltagslebens. G.W. IV, S. 11. Jacques Lacan (1990): Das Seminar, Buch I. Freuds technische Schriften. Übers. v. W. Hamacher, Weinheim/Berlin (Quadriga), S. 63.

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»Schade, daß man sich fürs Intimste immer den Mund verschließt.«

»dank eines analytischen Vorgehens« schließlich doch noch gelungen sei, sich an den gesuchten Namen zu erinnern. Noch hagiographischer wird Anzieu: »Statt sich darauf zu versteifen, mühsam nach dem Namen zu suchen, nimmt Freud die psychoanalytische Haltung ein: er läßt seinen Geist frei assoziieren. Das scheinbar vergessene Wort kehrt wieder: Signorelli, und sofort auch der Vorname: ›Luca als Beweis, daß es nur ein Verdrängen, kein echtes Vergessen war.‹«13

Nun stimmt es zwar, daß Freud in der Einleitung zum Vergeßlichkeitsaufsatz mit dem Volksmund empfiehlt: »Das beste Verfahren, sich des gesuchten Namens zu bemächtigen, besteht bekanntlich darin, ›nicht an ihn zu denken‹, d. h. den Teil der Aufmerksamkeit, über den man willkürlich verfügt, von der Aufgabe abzulenken«, aber in seiner Beschreibung des Vergessens macht er doch keinen Hehl daraus, daß ihm dieser Versuch, des Künstlernamens mittels einer Art gleichschwebender Aufmerksamkeit habhaft zu werden, im Falle Signorellis gründlich mißlang. Das vergessene Wort kehrte keineswegs dank seines »analytischen Vorgehens« oder seiner »psychoanalytischen Haltung« wieder, wie in Frankreich idealisierend behauptet wird, sondern der abhanden gekommene Signifikant wurde Freud von einem »gebildeten Italiener« mitgeteilt, mit anderen Worten: von einem Signor! Ich muß allerdings einräumen, daß die spätere Darstellung der Ereignisse in der Psychopathologie des Alltagslebens, auf die man sich jenseits des Rheins offenbar hauptsächlich bezog, dieser Wiederholung der Verdrängung selbst Vorschub leistet, alldieweil dort vom gebildeten Italiener keine Rede mehr ist; statt dessen wird Freud »der richtige Name« in dieser Fassung »von fremder Seite« mitgeteilt.14 Der Signor ist also schon in Freuds zweiter öffentlicher Darstellung zu einem einfachen Fremden geworden, allein, zur Idealisierung der psychoanalytischen Selbstbefreiung bestand dennoch kein Grund.15 13

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Didier Anzieu (1990): Freuds Selbstanalyse, Übers. v. E. Moldenhauer, München/Wien (VIP), S. 311. Sigmund Freud (1901b): Zur Psychopathologie des Alltagslebens, a. a. O., S. 6. Es gibt noch einige weitere Unstimmigkeiten zwischen der Darstellung in

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Boltraffio zum ersten Auf welche Weise kamen die Ersatzbildungen Botticelli und Boltraffio zustande? Die Endung elli im vergessenen Namen Signorelli hatte keinen Bezug zum unterdrückten Gedanken und konnte daher bei der Suche nach dem Künstlernamen leicht hervorgebracht werden, ja drängte sich als verbliebener Rest des Gesuchten vielleicht sogar auf. Daß beide Ersatzbildungen mit Bo- beginnen, kann als weiterer Fingerzeig sowohl auf das fehlende Wort als auch auf den verdrängten Gedanken gedeutet werden. Der Anlaut bo verweist einmal mehr auf den fehlenden Signifikanten Herr, insofern Bosnien und Herzegowina regelmäßig in einem Atemzug genannt werden. Er verweist jedoch auch auf den unterdrückten Gedanken selbst, insofern dieser von der Einstellung zu Tod und Sexualität bei den Bosniern handelte. Freud hält jedoch fest: »Damit dieses Thema solche Wirkungen äussern könne, reicht es nicht hin, dass ich es einmal im Gespräch unterdrückt habe, wofür ja zufällige Motive massgebend waren. Es muss vielmehr angenommen werden, dass dieses Thema selbst wieder in intimer Verbindung mit Gedankengängen stehe, die sich bei mir im Zustande der Verdrängung befinden, d. h. trotz der Intensität des ihnen zufallenden Interesses einem Widerstande begegnen,

Lacans Seminar I und bei Freud, die allerdings strukturell vergleichbar sind, insofern es auch hier einen ausgeschlossenen Dritten gibt: Lacan geht davon aus, daß Freuds Reisegefährte ein Arzt gewesen sei, »der in dieser Gegend eine Praxis hat«, und er schreibt den Satz »Wenn das nicht mehr geht, hat das Leben keinen Wert mehr« einem Patienten Freuds zu (statt einem bosnischen Patienten des mit Freud befreundeten Arztes Pick). Beide diese Abweichungen lassen sich auf den nämlichen Grund zurückführen: Lacan hat übersehen, daß Freud auf der Fahrt mit dem Fremden die ärztlichen Erfahrungen eines abwesenden Kollegen kolportiert. Da es diesen abwesenden Dritten für Lacan nicht gibt, legt er dessen Äußerungen entweder Freud oder seinem Reisebegleiter in den Mund. Man kann beide diese Fehlleistungen als Verdichtungen begreifen, die, obwohl sie sich von Freuds Text entfernen, doch in gewisser Weise zutreffen: Der Satz »Wenn das nicht mehr geht, hat das Leben keinen Wert« wurde von Freuds mutmaßlichem Patienten nicht gesagt, sondern getan (siehe oben: »Boltraffio zum ersten«); über die Identifizierung von Freuds Reisebegleiter mit einem »Arzt« wird weiter unten noch zu sprechen sein (siehe unten: »Boltraffio zum zweiten«).

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»Schade, daß man sich fürs Intimste immer den Mund verschließt.«

der sie von der Verarbeitung durch eine gewisse psychische Instanz und damit vom Bewusstwerden fernhält. Dass es sich mit dem Thema von ›Tod und Sexualität‹ in jener Zeit wirklich so bei mir verhielt, dafür habe ich mehrfache Beweise aus meiner Selbsterforschung, die ich hier nicht anzuführen brauche«16 [Hervorh. R. C.]. Und in der Tat, das letzte ungeklärte Element, die Endung traffio in der zweiten, scheinbar unwichtigeren und fernerliegenden Ersatzbildung Boltraffio, erweist sich als der Königsweg zu einem wirkungsmächtigeren, unbewußten Gedankenkomplex über den »intimen Zusammenhang« zwischen Tod und Sexualität, nicht nur bei den Türken. »Einige Wochen vorher« habe er in einem Ort namens Trafoi »eine gewisse Nachricht« erhalten, »und dieser Name ist der zweiten Hälfte im Namen Boltraffio zu ähnlich, um nicht auf seine Auswahl bestimmend eingewirkt zu haben«.17 Worin diese »gewisse Nachricht« bestand, erfahren wir nicht, und auch der unmittelbar vor Abfassung des Aufsatzes verfaßte Brief an Fließ bringt keinerlei weitere Aufklärung. Dort heißt es lapidar: »Die Silbe Trafio ist wohl Anklang an das auf der ersten Reise gesehene Trafoi!«18 Mit der »ersten Reise« ist eine Reise nach Südtirol und ins Engadin gemeint, die Freud im Vormonat unternahm und die über Trafoi und Bormio führte. Die Reisebriefe und Postkarten, die Freud und seine Schwägerin Minna Bernays unterwegs an Martha Freud schrieben, geben keinerlei Fingerzeig auf bedeutsame Ereignisse in Trafoi, es sei denn die Herrlichkeit der Alpenfahrt als solche.19 Es bleibt also unklar, welche verdrängten Gedanken durch 16

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Sigmund Freud (1898b): Zum psychischen Mechanismus der Vergeßlichkeit, a. a. O., S. 523 f. Ebd., S. 524. Sigmund Freud (1986): Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, S. 357 f. Vgl. Sigmund Freud (2002): Unser Herz zeigt nach dem Süden. Reisebriefe 1895–1923. Hg. von Christfried Tögel unter Mitarb. v. Michael Molnar, Berlin (Aufbau). Die Reise, die Freud einige Wochen zuvor nach Trafoi führte, war die erste Reise, die er in ausschließlicher Begleitung seiner Schwägerin unternahm. »Liebstes Herz!« schreibt Minna Bernays am 6. August 1898 aus Landeck an ihre Schwester Martha Freud. »Wir wären also glücklich so weit, jede Nacht in einem anderen Bett zu schlafen, was ja Sigis Ideal ist. Er sieht unberufen großartig aus und ist kreuzfidel, natürlich ganz ruhelos.« Die beiden hoffen, »in drei bis 4 Tagen im Engadin zu sein«, und Minna bittet die Schwester: »Bitte schreibe nach Erhalt dieses [Briefs] Pontresina poste restante.« Danach führt die Reise das verschwägerte Paar

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die »gewisse Nachricht« aufgerufen wurden. Freuds Mund bleibt zunächst fest verschlossen. Erst in der Psychopathologie des Alltagslebens von 1901 teilt Freud mit, welche Nachricht er in dem Südtiroler Ort Trafoi erhalten habe. In Erwiderung einer Kritik seines ehemaligem Mentors und Freundes Josef Breuer, der im Herbst 1899 moniert hatte, daß in Freuds Aufsatz nicht ausgeführt werde, worin die Verbindung zwischen Tod und Sexualität in Freuds Gedanken bestehe,20 erklärt

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über Finstermünz nach Prad, das die beiden am 8. August verlassen, um über Trafoi und das Stilfser Joch nach Bormio zu gelangen, wo sie ein weiteres Mal übernachten. Am Morgen nach der Durchreise durch Trafoi, wo Freud die fragliche Nachricht vom Suizid seines Patienten erhalten haben will, schreibt er aus Bormio an seine Frau Martha, das Wetter jenseits des Passes sei zwar »entsetzlich kalt […], mit Wind und Regen«, aber die Fahrt von Trafoi aufs Stilfser Joch sei »herrlich großartig« gewesen: »Alles bis jetzt sehr gelungen.« Noch am selben Tag geht es weiter nach Le Prese, von wo Minna Bernays am Mittwoch (den 10. August 1898) mitteilt: »Der großartigste Tag war vielleicht Montag, um 1/2 8 früh von Prad fort, dann in Trafoi, wo ich dir ja geschrieben, es ist über alle Beschreibung schön, und nach hier, das Schönste, das wir gesehen. Da mußt Du einmal hin, man braucht gar nicht in das große Hotel. Die ›Post‹ ist auch reizend. Nach Trafoi beginnt schon die Stilfser Straße, stundenlang Serpentinen bergauf, wir sind natürlich viel ausgestiegen, und Sigi hat die herrlichsten Blumen gepflückt, die ich aufgehoben habe. […] Ich freue mich schon sehr, daß wir morgen hoffentlich in Pontresina von Euch hören, das ist wirklich die einzige Entbehrung.« Weder in Freuds eigenen Briefen an seine Frau noch in denen der Schwägerin ist nach der Durchreise durch Trafoi eine Stimmungstrübung zu verzeichnen, ganz im Gegenteil, die Fahrt von Trafoi aufs Stilfser Joch überbietet alles bisher Erlebte. Auch in dem ersten Brief, den Freud bald nach seiner Rückkehr nach Aussee an Fließ schreibt, wird zwar kurz über die Reise berichtet, der Tod eines Patienten aber mit keinem Wort erwähnt. Bereits in Landeck wurde Martha Freud angewiesen, poste restante nach Pontresina zu schreiben, und auf der Reise dorthin bestand »die einzige Entbehrung« darin, nichts von der in Aussee verbliebenen restlichen Familie zu hören. Man kann zwar nicht ausschließen, daß Freud in Trafoi vielleicht telegraphisch eine Nachricht erhielt, es scheint jedoch nicht sehr wahrscheinlich. Wer sollte sie ihm dorthin gesandt haben? Die entsprechende Passage aus dem Brief Nr. 208 an Fließ vom 01. 08. 1899, vgl. Sigmund Freud (1986): Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, S. 398–400, lautet: »Von Breuer habe ich wieder gehört, daß er über die letzte Arbeit (Vergessen) geäußert, er wundere sich nicht, daß niemand etwas auf meine Sachen gibt, wenn ich solche Lücken lasse. Er meinte, daß ich nicht ausgeführt, worin die Verbindung von Tod und Sexualität in mei-

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»Schade, daß man sich fürs Intimste immer den Mund verschließt.«

Freud: »Ein Patient, mit dem ich mir viele Mühe gegeben, hatte wegen einer unheilbaren sexuellen Störung seinem Leben ein Ende gemacht.«21 »Du weißt ja, Herr, wenn das nicht mehr geht, dann hat das Leben keinen Wert«, scheint diese Tat dem abwesenden Herrn Doktor Freud sagen zu wollen. Und dieser beeilt sich, die sexuelle Störung seines Patienten für »unheilbar« zu erklären. Was so viel heißt wie: »Herr, was ist da zu sagen? Ich weiß, wenn er zu retten wäre, hättest du ihn gerettet«22, wie es nun im Perfekt und nicht mehr im Präsens heißt.23 Womit wir wieder am Anfangs- und zugleich am Endpunkt angekommen wären. Denn mit dieser Erklärung scheint das Sprechen zu einem Ende geführt, wenn auch vielleicht nicht an seinen Term. Endlich haben wir ein Motiv fürs Vergessen, aber um den Preis des Einbruchs der Realität des Todes in den Text. Kein Wunder, daß es dem Subjekt die Sprache verschlägt! Und sei dieses Subjekt der Leser. Die Bündigkeit dieser Geschichte ist für mich schwer zu ertragen. Freuds nachgeschobenes Motiv für die Fehlleistung, das ich stets als vorgeschobenes lese, wirkt um so unangreifbarer, als darin implizit die Frage nach einem möglichen ärztlichen Versagen angesprochen ist – Freud also sein ärztliches Renommee aufs Spiel setzt.

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nen Gedanken besteht. Wenn das Traumbuch fertig daliegt, wird er sich über das Gegenteil, über die Fülle von Indiskretionen entsetzen können.« Woraus man zumindest folgern kann, daß die Erläuterung der Verbindung von Tod und Sexualität eine »Indiskretion« wäre, wie man sie in der Traumdeutung häufiger findet. Sigmund Freud (1901b): Zur Psychopathologie des Alltagslebens, a. a. O., S. 8. Sigmund Freud (1901b): Zur Psychopathologie des Alltagslebens, a. a. O., S. 7. Die Aussage über die Schicksalsergebenheit der Bosnier wurde vom Präsens ins Perfekt gerückt. Aus »Herr, was ist da zu sagen? Ich weiß, wenn er zu retten wäre, würdest du ihm helfen« in der Fassung von 1898 wurde »Herr, was ist da zu sagen? Ich weiß, wenn er zu retten wäre, hättest du ihn gerettet« in der Fassung von 1901. Fast klingt es, als sei der (bosnische, Freudsche) Patient zwischen diesen beiden Publikationen zu Tode gekommen. Der Satz über die Schicksalsergebenheit der Bosnier liest sich nun wie eine Rechtfertigung Freuds gegen einen uns unbekannten Vorwurf.

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Boltraffio zum zweiten Zwar ereignete sich Freuds Erinnerungsausfall nicht auf der Couch, sondern im Coupé, aber vielleicht dürfen wir dennoch nach der »Übertragungsspitze« dieser Fehlleistung fragen, ein wenig darüber spekulieren, wem gegenüber Freud seine Gedanken unter Zensur stellte. Bei Lacan heißt es, Freud habe »genau so lange, wie er fortfuhr, sich an besagten [Reise-]Partner zu wenden, über diesen Terminus als Signifikantenmaterial nicht mehr verfügen« können.24 Aber Freud mußte sich die »innere Qual« seines Erinnerungsausfalls über »mehrere Tage« »mehrmals am Tage« gefallen lassen, bis ihm endlich der italienische Herr zur Seite sprang. Gibt es also einen anderen Adressaten, an den sich sein Versagen insgeheim, über mehrere Tage hin, wendet? Fest steht, daß der Partner des Dialogs im Coupé Berliner war, und möglicherweise hatte Lacan doch nicht ganz Unrecht, wenn er ihn als einen Kollegen bezeichnete, demgegenüber Freud »in der vorangehenden Konversation« zumindest einiges »unter Zensur gestellt hatte«.25 Der erste uns bekannte Adressat von Freuds Analyse dieses Falles von Namensvergessen war, wie bereits erwähnt, sein in Berlin lebender und praktizierender Freund und Kollege Wilhelm Fließ. Freuds Verhältnis zu Fließ war indes von einer zunehmenden Gefühlsambivalenz geprägt, wie an den Briefen deutlich wird, die Freud im Vorjahr schrieb. Einer der Gründe für den wachsenden Riß in Freuds Bewunderung für Fließ war ein ärztliches Versagen seines Freundes, ein Kunstfehler, den Fließ an Freuds Patientin Emma Eckstein beging und der leicht zu deren Tod hätte führen können.26 Blenden wir zurück zum August 1897, wir befinden uns ein Jahr vor der Signorelli-Episode. Freud hat vor einigen Tagen in Wien einen Grabstein für seinen im letzten Herbst verstorbenen Vater besorgt und ist zu seiner Familie in die Sommerfrische nach 24

25 26

Jacques Lacan (1994): Einführung zum Kommentar von Jean Hyppolite über die »Verneinung« von Freud. Übers. v. U. Rütt-Förster. In: ders. Schriften III. Weinheim/Berlin (Quadriga), S. 189. Ebd., S. 189. Zum Verhältnis zwischen Freud und Fließ in jenen Jahren vgl. Didier Anzieu (1990): Der Traum von Irmas Injektion. In: ders. Freuds Selbstanalyse, a. a. O., S. 25–56.

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»Schade, daß man sich fürs Intimste immer den Mund verschließt.«

Aussee zurückgekehrt, wo er dringend den Besuch von Wilhelm Fließ erwartet. Am 5. 8. schreibt er an Fließens Frau Ida27, beklagt den durch Sommerstürme »abgebrochenen Kontakt« und will vor allem wissen, »wann Sie zu uns [nach Aussee] zu kommen gedenken«. »Hinter dem ›Wann‹ verbirgt sich ein der Verdrängung zu unterziehendes ›Ob‹, von dem weiter nicht die Rede sein soll«, witzelt Freud. Doch dieses der Verdrängung zu unterziehende Ob gewinnt in den folgenden Wochen eine immer größere Bedeutung, bis allmählich klar wird, daß Fließens nicht nach Aussee kommen werden. Am 8. 8. 1897 schickt Freud einen Eilbrief nach Trafoihotel, Tirol: Darin unterbreitet er Fließ »eine ganze Reihe von Vorschlägen [drei an der Zahl] […], die eines festhalten, daß wir uns in den nächsten 14 Tagen sehen, was mir ein überfälliges Bedürfnis ist«. Wie auch immer Fließ sich entscheide, Freud bringe »allen Lösungen […] die gleiche freudige Annahme entgegen. Es gilt ja einer ordentlichen Wunscherfüllung, einem schönen Traum, der sich realisieren soll.«28 In den folgenden Tagen kommt es vermutlich zu einem Austausch von Telegrammen, der in einer gekränkten Absage Freuds gipfelt. Denn am 14. 8. schreibt dieser doppeldeutig: »Ich muß mir vorhalten [!], daß ich mit der Absage gestern eine gute Tat getan habe, sonst tut’s mir zu leid. Ich meine aber, es war wirklich so.«29 Fließ hatte es offenbar abgelehnt, zu Freud nach Aussee zu fahren, und statt dessen vorgeschlagen, sich am 23. 8. kurz in Bozen zu treffen. Zu kurz, fand Freud, denn er hatte dem Freund ein »großes Geheimnis« anzuvertrauen30. »So gab ich der Enttäuschung Ausdruck, Du merktest es und versuchtest von nun an alle Opfer zu bringen, um die Begegnung zu ermöglichen. Ich machte mich unterdes mit dem Wegfall unseres Wiedersehens vertraut, fand es recht traurig und war darum herzlich froh, als Du den 22. bestimmtest. Jeder andere Tag wäre mir damals ebenso recht ge-

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Sigmund Freud (1986): Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, a. a. O., S. 276–277. Ebd., S. 277–279. Ebd., S. 279. Ebd., S. 283.

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wesen.«31 Das Eintreffen von Familie Freud am 22. hätte jedoch zur Folge gehabt, daß Fließens nur 2–3 Tage mit ihren Eltern in Karersee hätten beisammen sein können, daher überkam Freud »das Mitleid. Von Bozen nach Karersee oder Trafoi sind es vielstündige Wagenfahrten. Bozen oder Dein Befinden dort hast Du selbst geschildert. […] Wenn wir den 22. wählten, dann sähe Eure Existenz so aus. Von Trafoi am 18. nach Bozen, von dort am 19. nach Karersee, von dort am 22. zurück. Oder in Bozen unseretwegen mit den Eltern verbleiben! Daß Ihr uns die Wagenfahrt nach Trafoi oder zurück nicht vorschlagen würdet, nehmen wir als sicher«32 [Hervorh. R. C.]. Und Freuds Fazit lautete: »Es geht nicht zusammen, sagte ich mir, und man soll nichts forcieren wollen. […] Aber ich kann immer, wenn ich es nicht aushalte, über einen Samstag und Sonntag nach Berlin.«33 Was Freud nach seiner Rückkehr nach Wien dann auch tat (wo sich prompt eine weitere Vergeßlichkeit ereignete).34 Freud sah sich durch Fließ’ Antwortschreiben bestätigt. Am 18. 8. schrieb er: »Ich freue mich, daß ich Dir etwas Ungemach ersparen konnte; aber gerne ist es nicht geschehen. Neurotische Gründe hat meine Absage sicherlich keine gehabt, aber etwas wie ein Aberglauben: man soll nichts forcieren wollen, hat mitgewirkt […].«35

31 32 33 34

35

Ebd., S. 279. Ebd., S. 279. Ebd., S. 280. Es handelt sich um das Vergessen des Adreßzettels bzw. des Straßennamens des in Berlin lebenden Sohnes von Freuds ehemaligem Hebräischlehrer Samuel Hammerschlag. Der Fall wird in Zum psychischen Mechanismus der Vergeßlichkeit gleichsam als Nachgedanke zum Vergessen des Namens Signorelli geschildert und bestätigt daher indirekt die Fährte, die nach Berlin zu Fließ führt. Familie Hammerschlag war eng mit Familie Breuer befreundet. Freud beabsichtigte 1895, sein letztes Kind nach seinem Freund Wilhelm Fließ zu benennen; da es ein Mädchen wurde, erhielt das Kind statt dessen den Namen von Hammerschlags einziger Tochter, Anna [Vgl. Anzieu (1990): Der Traum von Irmas Injektion. S. 30, der im übrigen vorschlug, Irma aus dem Traum »Irmas Injektion« als Anna HammerschlagLichtheim zu entschlüsseln; BF, Nr. 176, insbes. Anm. 3]. Ebd., S. 281.

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Doch gegen Ende desselben Briefes gesteht Freud »neue Ängstlichkeiten« ein, deren ödipale Herkunft und aggressive Tönung schwer zu überhören sind: »Täglich berichtete Eisenbahnunfälle können einem Familienvater- und -mutterpaar nicht gerade viel Lust [zur Reise] machen. […] Aus der Furcht vor dem nächsten Eisenbahnunfall hat mich vor einer halben Stunde die Erwägung gerissen: Wilhelm und Ida sind ja auch unterwegs. Damit war der Narrentanz zu Ende.«36 Das »große Geheimnis«, das Freud so sehnlich mit Fließ zu besprechen wünschte, war der Widerruf der »Vaterätiologie« der Neurose, der sogenannten Verführungstheorie, und damit einhergehend die Entschuldung seines eigenen Vaters und die Anerkennung des sexuellen Begehrens des Kindes. Obschon Freud wähnte, »in diesem Sturz aller Werte«37 sei er des »ewigen Nachruhms […] und des sicheren Reichtums«38 verlustig gegangen, hatte er dabei bemerkenswerterweise doch »mehr das Gefühl eines Sieges als einer Niederlage«39.

Boltraffio zum dritten Bei Boltraffio handelt es sich in der Tat um einen äußerst selten erwähnten Maler. Freud schreibt, daß ihm der zweite Ersatzname sehr unvertraut sei und daß er von »dessen Träger kaum etwas anderes anzugeben wüßte, als seine Zugehörigkeit zur mailändischen Schule«40. Boltraffio wird einmal en passant in einem Werk genannt, das Freud leidlich gekannt haben dürfte, nämlich in Giorgio Vasaris Lebensbeschreibungen der ausgezeichnetsten Bildhauer, Maler und Architekten.41 Am Ende der Biographie Leonardo da 36 37 38 39 40

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Ebd., S. 282. Ebd., S. 286. Ebd., S. 285. Ebd., S. 285. Sigmund Freud (1901b): Zur Psychopathologie des Alltagslebens, a. a. O., S. 7. Vgl. Giorgio Vasari (1940): Künstler der Renaissance. Lebensbeschreibungen der ausgezeichnetsten italienischen Baumeister, Maler und Bildhauer, Leipzig (Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung). Die Annahme, Freud habe im Zusammenhang mit seinen Italienreisen in den 1890er Jahren Vasaris

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Vincis erwähnt Vasari dessen unbedeutendere Schüler, darunter einen gewissen Giovanni Antonio Boltraffio aus Mailand. Von diesem Boltraffio wird weiter nur gesagt, daß er bei der Signatur seines besten Werks auch seine künstlerische Affiliation hinzugefügt habe: Boltraffio, Schüler von Leonardo.42 Unmittelbar vor dieser einzigen Erwähnung Boltraffios bei Vasari findet sich, gleichsam als Höhe- und Endpunkt der Lebensgeschichte Leonardos, ein Epigramm zu Ehren dieses Künstlers: »Vince costui pur solo / Tutti altri, e vince Fidia e vince Apelle, / E tutto il lor vittorioso stuolo.« – »Dieser besiegte ganz allein alle anderen, und er besiegte Phidias und er besiegte Apelles und ihre ganze siegreiche Schar.« Das Epigramm auf den großen Renais-

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Lebensbeschreibungen gelesen, ist, soweit ich sehe, weder zu beweisen noch zu widerlegen. Kris und Schröter halten den Anfang des Briefs an Fließ vom 14. 11. 1897, in dem Freud seine Vorstellungen über die Libidoentwicklung skizziert, für eine Travestie des Beginns von Vasaris Michelangelo-Biographie. Falls dies zutrifft, wäre damit auch die ebenso notorische wie amüsante These von Peter Swales widerlegt, Freud habe den Maler Boltraffio zum Zeitpunkt seiner Fehlleistung überhaupt nicht gekannt, sondern sei dem Namen erst eine Woche danach in einem Buch von Morelli über die italienische Malerei sowie in einer Ausstellung in Bergamo, in der Werke von Signorelli, Botticelli und Boltraffio zu sehen gewesen seien, begegnet. Swales zieht aus seiner Behauptung offenbar den Schluß, Freuds Fehlleistung könne nicht in der beschriebenen Form stattgefunden haben, sondern sei frei erfunden. Da mir der Aufsatz von Swales nicht zugänglich war, stütze ich mich hier auf die Zusammenfassung seiner Thesen durch Christfried Tögel, einen der beiden Herausgeber von Freuds Reisebriefen. Tögel hält Swales’ »Rekonstruktion der Ereignisse« für »schlüssig«, mißt jedoch der angeblichen »Tatsache, daß die Fehlleistung nicht so stattgefunden hat«, im weiteren wenig epistemisches Gewicht bei: Si non e vero e ben trovato. Die angeblich erfundene Ersatzbildung Boltraffio erscheint Tögel als ein vertretbares »Gedankenexperiment« im Dienste der Wissenschaft. Strukturell scheint es bei dieser Kontroverse um Dichtung oder Wahrheit um die relative Bedeutung der äußeren und der psychischen Realität zu gehen, also um die Verkennung bzw. Wiederholung von Freuds »Sturz aller Werte« im Jahr 1897. Was die äußere Realität anbelangt, so hat Swales meiner Ansicht nach die hier genannte Stelle bei Vasari übersehen. Freud wird später die Ansicht vertreten, daß Leonardo sich seine Schüler, darunter Boltraffio, »nach ihrer Schönheit und nicht nach ihrem Talent« ausgewählt habe, weshalb keiner von ihnen als bedeutender Maler hervorgetreten sei. Vgl. Sigmund Freud (1910c): Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. S.A. X, S. 127.

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»Schade, daß man sich fürs Intimste immer den Mund verschließt.«

sancemeister spielt mit der Homonymie zwischen dem Eigennamen »Vinci« (Leonardo aus Vinci) und dem Verb vincere (siegen, gewinnen). Der Künstlername als Teekesselchen findet sich also bereits bei Vasari.43 Sollte es ein Zufall sein, daß der von Freud so bewunderte Leonardo den Sieg ebenso im Namen trägt wie Sigmund ihn tagtäglich im Munde führte? Sie werden nicht weiter überrascht sein zu erfahren, welche Künstlerbiographie derjenigen Leonardos bei Vasari vorangeht: Es ist die Vita des Luca Signorelli. Man könnte also sagen: Im »Kück« von Signorelli zu Boltraffio liegt das Leben des Leonardo – oder die Sublimierung der Homosexualität. Doch an welchem gewachsenen Fels die Männerfreundschaft zwischen Sigmund und Wilhelm zerschellte, ist eine andere Geschichte. Am Ende spricht aus meinem untilgbaren Zweifel am Tod von Freuds Patienten vielleicht nur die hartnäckige Weigerung, an den Tod jener Analytikerin zu glauben, zu deren Gedenken wir uns hier eingefunden haben.

Literatur Anzieu, Didier (1990): Freuds Selbstanalyse, Übers. v. E. Moldenhauer, München/Wien (VIP). Barolsky, Paul (1995): Warum lächelt Mona Lisa? Vasaris Erfindungen. Übers. v. R. Cackett, Berlin (Wagenbach). – (1996): Giottos Vater: Vasaris Familiengeschichten. Übers. v. E. B. Drolshagen, Berlin (Wagenbach). Freud, Sigmund (1898b): Zum psychischen Mechanismus der Vergeßlichkeit. G.W. I. – (1900a): Die Traumdeutung. S.A. II. – (1901b): Zur Psychopathologie des Alltagslebens. G.W. IV. – (1910c): Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. S.A. X. – (1925h): Die Verneinung. S.A. III.

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Bei Barolsky werden die Parallelen zwischen Vasaris poetischen Verschiebungen von Signifikanten in den Eigennamen von Renaissancekünstlern im Interesse der Konstruktion von »Familienromanen« und den vergleichbaren unbewußten bzw. psychoanalytischen Operationen besonders deutlich. Vgl. Barolsky (1995) zur Rolle von Sprachspiel und Eigennamen bei Vasari, und Barolsky (1996) zur Bedeutung der Familienromane.

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Robin Cackett –

(1986): Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Hg. von Jeffrey Moussaieff Masson, Übers. v. M. Schröter, Frankfurt a. M. (Fischer). – (2002): Unser Herz zeigt nach dem Süden. Reisebriefe 1895–1923. Hg. Christfried Tögel unter Mitarb. v. M. Molnar, Berlin (Aufbau). Kris, Ernst (1950): Einleitung zur Erstausgabe 1950. In: Sigmund Freud (1986): Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Hg. von Jeffrey Moussaieff Masson, Übers. v. M. Schröter, Frankfurt a. M. (Fischer), S. 519–561. Lacan, Jacques (1957): La psychanalyse et son enseignement. www.ecole-lacanienne.net/bibliotheque, (23. 02. 1957) Zugriff: 22. 09. 2004. – (1964): Das Seminar. Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Übers. v. N. Haas, Olten (Walter). – (1990): Das Seminar. Buch I: Freuds technische Schriften. Übers. v. W. Hamacher, Weinheim/Berlin (Quadriga). – (1994): Einführung zum und Antwort auf den Kommentar von Jean Hyppolite über die »Verneinung« von Freud. Übers. v. U. Rütt-Förster. In: ders. Schriften III. Weinheim/Berlin (Quadriga). S. 179–219. Laplanche, J./Pontalis, J.-B. (1972): Das Vokabular der Psychoanalyse. Übers. v. E. Moersch, Frankfurt a. M. (Suhrkamp). Prasse, Jutta: »Kück« und Sprung: Ein paar Bemerkungen zur Deutung in der Psychoanalyse und in der Literatur. In: dies. Sprache und Fremdsprache. Psychoanalytische Aufsätze. Hg. von Claus-Dieter Rath, Bielefeld (transcript), S. 11–20. Riess, Jonathan B. (1995): The Renaissance Antichrist. Luca Signorelli’s Orvieto Frescoes. Princeton, N. J. (Princeton UP). Senyener, Sebnem (03. 03. 2004): How the »divan« became the »couch«? In: Eurozine. Swales, Peter J. (2003): Freud, Death and Sexual Pleasures: On the Psychical Mechanism of Dr. Sigm. Freud. In: Arc de cercle. An International Journal of the History of the Mind-sciences, Vol. 1, No. 1 (Jan. 2003), S. 4–74. Tögel, Christfried: Sigmund Freud – Leben und Werk. Verpflichtet sich der Biograph zur Lüge?, www.uchtspringe.de/toegel1.htm, Zugriff: 27. 11. 2004. Vasari, Giorgio (1940): Künstler der Renaissance. Hg. Herbert Siebenhühner, Leipzig (Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung). – (1963): Lives of the Painters, Sculptors and Architects. Hg. William Gaunt, London/New York (Everyman’s Library). Weber, Samuel M. (1978): Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse. Frankfurt a. M./Berlin/Wien (Ullstein). Wilden, Anthony G. (1966): Freud, Signorelli, and Lacan. The Repression of the Signifier. In: American Imago, 1966/4/23, S. 332–366.

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Das Undarstellbare des psychoanalytischen Prozesses macht erfinderisch – möglicherweise

Abb. 1

An die Grenze der Darstellbarkeit gerät, wer sich auf die Psychoanalyse einläßt. Auch Sterben und Tod eines nahen Menschen konfrontiert damit. Wichtiges Moment des psychoanalytischen Prozesses ist die Trauerarbeit. Dieser Zusammenhang soll im folgenden angespielt werden. Redet man vom Nicht-Vorstellbaren, vom Nicht-Darstellbaren, handelt es sich zweifellos um eine Verneinung, die immer etwas auftauchen und entstehen läßt, von dem man nur weiß, denkt, ahnt, daß es nicht genauso ist, daß es mehr ist, daß es nicht mehr ist, daß es so nicht mehr ist, daß es jetzt anders ist, daß man selbst deshalb jetzt auch anders ist und daß man an eine Grenze gestoßen ist und etwas jenseits dieser Grenze bleibt. Ein Tod konfrontiert damit deutlich. Nur Darstellungsversuche erzeugen das Undarstellbare. Neben Verdichtung und Verschiebung verwandelt die »Rücksicht auf die Darstellbarkeit in dem eigentümlichen psychischen Material, dessen sich der Traum bedient, also zumeist in visuellen Bildern«1, die Traumgedanken, die ohne Darstellung nicht zur Sprache kommen können, in einen rezipierbaren Trauminhalt, 1

Sigmund Freud (1900a): Die Traumdeutung. S.A. II., S. 339.

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schreibt Freud. Auch neuere Forschungen aus der Hirnphysiologie belegen eine Tendenz, noch nicht artikulierte Gedanken, die mit Wünschen einhergehen, in visuellen Bildern und Bildfolgen darzustellen oder, wie Freud formuliert, so umzugießen, daß es zu einer Darstellung kommt2. Erst von daher kann eine Ahnung aufkeimen, daß etwas der Darstellung entwischt. Aber auch, daß in der Darstellung zuviel produziert wird, etwas, das den zunächst latenten Gedanken glatter macht, als er noch soeben bemerkt wurde, eine eigene Qualität erhält, etwas, das mit der Zeit das zunächst nicht Darstellbare vergessen läßt, oder etwas, das dem nunmehr Dargestellten eine eigene Dynamik verleiht, die über den Anlaß der Darstellung hinausgeht, sich im Medium selbständig macht und den Anlaß verschüttet. Eine Ausrichtung bekommt der noch nicht dargestellte Gedanke durch den Kontrast mit dem schon Dargestellten. Aus dieser Vergangenheit heraus ist dann je gegenwärtig eine Rücksicht möglich, eine Sicht auf einen Weg, einen Prozeß, der vorher so nicht bemerkt werden konnte. Was man da »sieht«, hängt davon ab, welche Differenzierungsmöglichkeiten man sich zutrauen kann, welche Darstellungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Auch das »zuviel« oder »zuwenig« Dargestellte hat Effekte. Es konserviert aber, man kann also darauf zurückkommen. Deshalb wohl auch die Scheu vor der Macht der Darstellung, aber auch der Reiz, der in ihr liegt. Beide ergreifen das Subjekt besonders in der Konfrontation mit dem Tod eines nahen Menschen. Wenn man über diese Macht spricht oder schreibt, kommen auch die anderen Momente des Wortes »Rücksicht« zum Tragen. De mortuis nil, nisi bene, also Behutsamkeit, Vorsicht, Sorgfalt, vielleicht sogar Klugheit und Besonnenheit, es mag auch Duldsamkeit bedeuten. Das Bemühen, etwas darzustellen, führt jedoch an die Grenze, nimmt Rücksicht, geht aber darüber hinaus. 2

Vgl. Gerald Hüther (2005): Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. Göttingen (Vandenhoek&Ruprecht); Gerhard Roth (1997): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 360–370, insbes. S. 244 ff.; Gérard Pommier (2004): Comment les neurosciences démontrent la psychanalyse. Paris (Flammarion), insbes. S. 81 ff.

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Das Undarstellbare des psychoanalytischen Prozesses

Abb. 2

Im Anschluß an das oben Zitierte führt Freud aus: »[…] die Traumarbeit scheut nicht die Mühe, den spröden Gedanken etwa zuerst in eine andere sprachliche Form umzugießen, sei diese auch die ungewöhnlichere, wenn sie nur die Darstellung ermöglicht und so der psychologischen Bedrängnis des eingeklemmten Denkens ein Ende macht.«3

In der Traumarbeit geht es auch um die Milderung der Bedrängnis der Psyche, in die sie durch ihre eigene, allmählich mit Rücksicht auf Darstellbarkeit entwickelte Logik kommt. Das »Umgießen« ist zu verstehen als eine Veränderung des Inhalts in und durch eine andere Form (und umgekehrt)4, eine Konstruktion, eine Dekon-

3 4

Sigmund Freud (1900a): Die Traumdeutung. S.A. II, S. 339. Das legt Georges Didi-Huberman (1999) filigran dar in seinem Buch: Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. München (Fink), S. 149 ff.

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struktion des noch nicht Gefaßten, in der Metaphorik Freuds »eines eingeklemmten Denkens«. Im Umgießen entsteht erst der Inhalt, der davor nicht bemerkbar war. Diese Produktion ist ein Nein zu den Anwandlungen der Resignation, die daraus resultieren, das Ganze haben zu wollen. Es bildet sich dann etwas anderen Mitteilbares, etwas Mittelbares, forminhaltlich. Einer der Aufführungsorte des möglicherweise nie Dargestellten und damit auch der Bildungen des Unbewußten ist das psychoanalytische Setting. Es gehört mittlerweile zum kulturell be-

Abb. 3 230

Das Undarstellbare des psychoanalytischen Prozesses

kannten, nicht immer begriffenen Bestand. Die Couch ist zu seiner Abbreviatur geworden. Dieses Ruhebett hat es in sich, läßt offenbar nicht in Ruhe, läßt sich aber nicht so recht beiseite schieben, denn irgend etwas drängt über dieses oft oberflächliche Wissen hinaus. Irgend etwas an diesem Setting ist so provokant, daß es in unterschiedlichen Medien immer wieder auftaucht, immer wieder schmunzeln oder lachen läßt, manchmal auch Psychoanalyse lächerlich macht. Was ist nun eingeklemmt gewesen? Welche Gedanken, die nicht mitteilbar waren, bringt der Gedanke an das psychoanalytische Setting in eine Klemme und so zur immer wieder variierten Darstellung? Eine der Erfindungen, um die es hier gehen wird, ist die

Abb. 4 231

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Metaphorisierung, genauer Ikonisierung eines Möbelstücks, der Couch zum pars pro toto für den psychoanalytischen Prozeß. Selbst andere psychotherapeutische Verfahren, die überhaupt keinen Gebrauch von der Couch machen, werden damit identifiziert. Die Couch wird zur Ikone, zum Accessoire des Psychoanalytikers wie laborähnliche Einrichtungen oder Bücherwände in den Darstellungen von Wissenschaftlern. Kaum eine Anspielung auf die Psychoanalyse kommt ohne Couch aus. Und diese Darstellung ist mehr als nur ein Formgebungsprozeß, hier wird ein »Gedanke« im Sinne der Traumdeutung, also etwas, was noch nicht gefaßt ist, zu einem Rahmen, zu Leinwand und Farbe, zur Photographie. Der Gedanke betritt so eine Bühne und wird nicht selten von der plötzlichen Aufmerksamkeit abgelenkt, d. h. verschoben und verdichtet. Er wird Stoff, Materie. Neben einer Performanz geht es also um eine Permaterianz.

Abb. 5 232

Das Undarstellbare des psychoanalytischen Prozesses »Ja, wenn man genauer zusieht, muß man erkennen, daß die Traumarbeit mit dieser Art von Ersetzung überhaupt nichts Originelles leistet. Zur Erreichung ihrer Zwecke, in diesem Falle der zensurfreien Darstellbarkeit, wandelt sie eben nur die Wege, die sie im unbewußten Denken bereits gebahnt vorfindet, bevorzugt sie jene Umwandlungen des verdrängten Materials, die als Witz und Anspielung auch bewußt werden dürfen und mit denen alle Phantasien der Neurotiker erfüllt sind.«5 Und ein paar Zeilen weiter schreibt Freud, daß solche Umarbeitung »im Denken der Neurotiker [und wer ist das nicht? KJP] ein regelmäßiges Vorkommnis ist«6.

Die Existenz des psychoanalytischen Settings, vertreten durch das Mobiliar, ruft etwas hervor. Immer wieder. Es kommt nicht zum Abschluß. Etwas, was unformuliert bleibt, reizt zu Witzen. Freud schreibt in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten in einer Fußnote: »Viele meiner neurotischen in psychoanalytischer Behandlung stehenden [eigentlich ja »liegenden«, KJP] Patienten pflegen regelmäßig durch ein Lachen zu bezeugen, daß es gelungen ist, ihrer bewußten Wahrnehmung das verhüllte Unbewußte getreulich zu zeigen, und sie lachen auch dann, wenn der Inhalt des Enthüllten es keineswegs rechtfertigen würde.«7

Vielleicht ist dies eine Spur.

Abb. 6

5 6 7

Sigmund Freud (1900a): Die Traumdeutung. S.A. II, S. 341. Ebd. Sigmund Freud (1905): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. S.A. IV, S. 159 Fn.

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Abb. 7

Es ist allgemein bekannt, daß es in der Psychoanalyse um das Unbewußte geht, daß da etwas ist, das nicht unmittelbar zuhanden, manipulierbar, darstellbar ist, das zwar strukturiert ist wie eine Sprache, aber keine ist. Insofern kann man es nicht einfach so »sprechen« wie ein native speaker. Es braucht der Konkretisierung, des Zusammenwachsens von verschiedenen sinnlichen Wahrnehmungen und von Regeln der Verknüpfung, die immer wieder auch in bei ihrer Darstellung sagen: »Das ist es nicht.« Genau so aber etwas sagen. Das Setting wird identifiziert mit dem Aufführungsort dessen, was unbewußt ist und unbewußt werden kann, aber auch mit dem Unbewußten schlechthin. Er wird zum Hinweis auf einen anderen Schauplatz. 234

Das Undarstellbare des psychoanalytischen Prozesses

Gelingt es so, »das verhüllte Unbewußte getreulich zu zeigen«? – Kürzlich, bei einem Spaziergang, sehen wir ein Auto mit nicht ganz geschlossener Heckklappe. Daraus hervor lugte eine Couch. Wie aus einem Munde sagten wir: »Oh, da zieht ein Analytiker um!« – »Getreulich«? Vielleicht taucht nur das Unbewußte in seiner Allgemeinheit, seiner prinzipiellen Existenz, als Neugier darauf auf, als Ärgernis und vielleicht noch in einer spezifischen Bedeutung zusätzlich, von der man aber nichts wissen kann, da das Lachen zunächst einmal eine Art schneller Abfuhr ist. Die Ikone von etwas Unbewußtem bewirkt zumindest zweierlei. Die paranoische Variante: Angst, daß eben dies enthüllt wird, was ich selber noch gar nicht kenne. Zum anderen etwa die passiv exhibitionistische: Der Wunsch, daß es enthüllt und bekannt wird. Es scheint zu reichen, daß Motive des Settings gezeigt werden, um Angst und Lust hervorzurufen. Auf diesem Umweg beginnen Abbildungen und Anspielungen auf das Setting etwas vom Unbewußten »getreulich zu zeigen« (Freud). Es kommt zu einer Mischung aus erkennendem Lachen, einer Begegnung, und abwehrendem Lachen auf der Kippe zum Versuch, lächerlich zu machen. Aber das ist noch sehr grob. Irritationen tauchen auch bei der wissenschaftlichen Beschreibung des Settings auf.

Abb. 8 235

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So schreibt Claudia Guderian in ihrer Dissertation Die Couch in der Psychoanalyse, Geschichte und Gegenwart von Setting und Traum, 2004, die Couch sei »das hervorstehende Andere«, das, »was die Psychoanalyse schon von weitem kennzeichnet. Sie ist so entwaffnend einfach und doch so geheimnisvoll potent in ihrer Fähigkeit, Zugang zum menschlichen Unbewußten zu gewähren. […] Doch es ist natürlich nicht die Couch als selbständiges Subjekt, sondern der Analysand als erkennendes Subjekt seiner Selbst, der sich zum Zwecke der Erkenntnis auf die Couch begibt. […] Es ist also die horizontale Position zum Zwecke der Erkenntnisgewinnung, die aus dem Raum einen anderen Raum macht, aus der Couch einen anderen Ort, und aus der CouchSessel-Gemeinschaft, dem Setting, eine symbiotische Gemeinschaft zu schweißen vermag. […] Sobald der Patient liegt und ohne Blickkontakt mit dem Analytiker spricht, schaltet die für Logik und Kontinuität zuständige Gehirnhälfte ab (bei Rechtshändern die linke) und die für Emotionen, Phantasien und Illusionen zuständige Hirnhälfte (die jeweils andere) wird aktiv.«8

Abb. 9

8

A. a. O., S. 15.

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Das Undarstellbare des psychoanalytischen Prozesses

Kurz darauf, wenn sie auf die Erscheinungsweise des Behandlungsraumes eingeht und dessen unterschätzte Bedeutung darlegen will, heißt es: »Ein Analysand, der zum ersten Mal den Weg zu seinem zukünftigen Analytiker sucht, registriert sehr wach, in wessen Hände er sich begeben wird.«9 Und weiter: »Die Couch gilt nach wie vor als das geeignetste Mittel, das Unbewußte zu aktivieren.«10

Hier kann man mit Händen greifen, welche Verwirrung selbst eine Ikone des Unbewußten anrichtet. Betrachter und Produzenten von Bildern der Couch stellen sich offenbar vor, auf der Couch zu liegen. Sie wird dabei zu einem hoch ambivalenten Möbel und Bild. So wird sie überdeterminiert.

Abb. 10 9 10

A. a. O., S. 17. A. a. O., S. 23.

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Abb. 11

Mit der Couch wird kline assoziiert, das Ruhemöbel etwa beim griechischen Symposion; auch bei Orgien soll es Verwendung gefunden haben, Ausläufer dieser Nutzung gab es im bürgerlichen Salon und in den kleinbürgerlichen Wohnzimmern. Die Couch weckt Bett-Assoziationen. Des weiteren sieht man in der Couch das Krankenbett. Und schlimmer noch: das Totenbett. Zu Füßen von Freuds Couch befand sich, wie Guderian schreibt, eine Mumienmaske11. Dies konnte ich allerdings nicht am vorhandenen Photomaterial nachvollziehen. Zu sehen ist lediglich, daß ein mit einem Porträt des Toten bemalter Mumiendeckel ungefähr am Kopfende der Couch hing, fast mehr noch über dem Kopf des Analytikers. Im Text von Guderian ist dagegen der Tod zu Füßen des Analysanten, auf den vorhandenen Photos hängt er über dem Kopf des Analytikers. Das Bild, nicht nur das Couch-Bild, »reicht in den Raum der Todeserfahrung zurück«, wie Hans Belting schreibt:

11

Vgl. auch Claudia Guderian (2004) in ihrer Dissertation: Die Couch in der Psychoanalyse, Geschichte und Gegenwart von Setting und Traum. Stuttgart (Kohlhammer), S. 105.

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Das Undarstellbare des psychoanalytischen Prozesses »Das Bild entstand in der Lücke, welche die Toten hinterließen. […] Das Bild gab dem Toten ein Medium zurück, in dem er den Lebenden begegnete und von ihnen erinnert wurde. Der Bildkörper gehörte als Tauschkörper dem abwesenden Toten. So trug das Bild die Referenz auf eine elementare Abwesenheit in sich, die es gegen eine Anwesenheit ›im Bilde‹ eintauschte.«12

Die Furcht vor Tod und Vergessen ist eine Quelle für die Bemühung um Darstellung, getrieben durch ein Phantasma des ewigen Lebens, der Überwindung des Todes. Da aber sehr schnell klar wird, daß es schwierig ist, die Bedeutung und Deutung der sprachlichen und bildlichen Darstellungen festzulegen, braucht es einer Art Kult, um die Bedeutung in Grenzen zu halten. Umgekehrt braucht es Auflösung, denn wenn sich Bedeutung festzurrt, schafft sie Leid. Als Möbel wie als Bild läßt die Couch den Tod assoziieren, und eben auch beider Nähe zur Sexualität. In der Psychoanalyse durchquert der Analysant solche zum Phantasma gewordenen Schutzeinrichtungen, schützende und abdichtende Bilder. Der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman schreibt am Ende seines Buches Devant l’image: »Weit über das ›Thema‹ oder den ›Begriff‹ des Todes hinaus also hat das abendländische Bild eine Arbeit beständigen Schwankens – wie Ebbe und Flut – in Unruhe versetzt; zwischen Lust und Risiko, zwischen dialektischer Operation und Rißsymptom, zwischen einer immer wieder einsetzenden, entstellenden Defiguration.«13 Er bezeichnet die Auseinandersetzung mit dem Bild als eine Geschichte der Grenzen der Repräsentation und gleichzeitig der Repräsentation der Grenzen14. Der Tod ist die Herausforderung, die Grenze der Darstellbarkeit zu suchen. Das Sterben, also jener Vorgang, der aus erlebter oder mitgeteilter Erfahrung zum Tod führen wird, kann durch eine Reihe von Veränderungen, aufeinander folgender differenter Zu12

13

14

Hans Belting (2000): Vorwort zu einer Anthropologie des Bildes. In: Ders.; Kamper, Dietmar (Hg.): Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion. München (Wilhelm Fink), S. 10. Georges Didi-Huberman (1990): Vor einem Bild. München/Wien (Hanser), S. 234. Ebd., S. 201 f.

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stände beschrieben, erzählt, mit verschiedenen sinnlichen Möglichkeiten nachverfolgt werden. Der Tod hingegen wird festgestellt. Und die Veränderung, die da festgestellt wird, ist anders als das Sterben, ist anders als sonstige Veränderungsprozesse. Deshalb geht vom Tod mit Dringlichkeit die Sehnsucht nach Repräsentation aus – mit einer Sicht zurück auf das Leben. Eine Grenze wird überschritten. Die Überschreitung läßt zunächst ein Erscheinungsbild zurück, das meist fast aussieht wie gerade eben noch. Es sei denn, es handelt sich um einen gewaltsamen Mord oder einen deformierenden Unfall. Aber der oder die nunmehr Tote ist etwas radikal anderes geworden. Die Anerkenntnis dieser Veränderung ist schwierig. Hilfsweise kann man sich bei der Darstellung auf Riten stützen, vielleicht auch auf eine Abgrenzung davon. Aber das kann auch schief gehen, zum Kitsch werden. In der psychoanalytischen Kur geht es um Trauerarbeit. Das heißt um Ausscheidung, Trennung von Identifikationen, Stoffwechsel und seine Behinderungen. Das erinnert an Klinik, ans Krankenbett. Angesammelte Bilder werden zersetzt und ausgeschieden. Fazit: Das Bild der Psychoanalyse, kondensiert in der Couch, legt – wie die vielfältigen Konnotationsmöglichkeiten zeigen – nahe, daß es hier um einen Verlust an Gewißheiten gehen wird, daß hier Identifizierungen in Frage gestellt werden. Die Auflösung von Identifizierungen beginnt offenbar schon bei der Wahl der Ikone für die Psychoanalyse, sonst wäre es nicht immer wieder fixe Idee und Ausgangspunkt mit Attraktion, hätte sich längst verschlissen. Aber die Couch kann nicht ohne Schwierigkeit als ein pars pro toto genommen werden, das für etwas Bekanntes Anderes steht. Die Einschätzung der psychoanalytischen Kur kann sich nicht auf die gewohnten Beobachtungsinstrumentarien stützen. Um das nicht Greifbare und Begreifbare, schwer Darstellbare mit den zur Verfügung stehenden Medien präsentieren zu können, werden Witze gemacht, werden als typisch geltende Accessoires isoliert und als Klischees eingesetzt. So gerinnt die Couch zunächst zur Ikone für alle möglichen Assoziationen, wandelt sich beim näheren 240

Das Undarstellbare des psychoanalytischen Prozesses

Abb. 12

Hinsehen in die Konstruktion eines Symptoms, das als solches immer Zweifel weckt, Zweifel, ob es denn so sein müsse, wie es ist. Solcherart als konstruiert erfahrene Symptome sind der Beginn der Trauerarbeit. Die Prozesse der Trauerarbeit können nicht immer zu einem Punkt der Trennung von dem gebracht werden, was im Symptom als Zweifel auslösend zusammenschießt. Identifizierende Suchbewegungen verstopfen die Wahrnehmungskanäle für Neues. Sie werden zu Störungen. Die differentielle Bedeutung gebende Verbindung zum geliebten Objekt ist abgerissen. Aller Ersatz antwortet: »Das ist es nicht.« Die Grenze in der aktiven Bearbeitung der Trauer ist vielleicht identisch mit der Grenze der Deutung des Traums, des Nabels des Traums, da, wo er dem Unerkannten aufsitzt. Der Tod läßt das Reale unsymbolisiert und ohne zutreffende Vorstellung auf uns zukommen. Hier helfen nur Erfindungen. Ansonsten kommt es zu unbeendbarer Trauerarbeit, zur Idealisierung des Verlorenen. Nicht beendbare Trauerarbeit wandelt sich in Melancholie. Die Melancholie zieht alle Besetzung von bisher interessierenden Objekten ab. Sie werden verleugnet. Man tut sich selbst leid. Von den verlorenen Objekten kann nicht mehr Zeugnis gegeben werden. So trübt auch die Intelligenz ein, Intelligenz im wörtlichen Sinne, als die Fähigkeit dazwischen zu lesen, zu sammeln, Spannungen als produktiv zu akzeptieren. Wem es nicht gelingt zu trauern, scheidet aus dem Prozeß des Zeugenkönnens aus. Kann das Andenken an den oder das Verschwundene nicht bewahren. Denn Zeuge kann nur sein, wer Verknüpfungen realisiert, und die sprechende Auflösung beginnt. 241

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Ohne Zeugnis kommt es zur Wiederholung des immer Gleichen, eben zur Unfruchtbarkeit, Zeugungsunfähigkeit. In bezug auf lieb gewordene Menschen, die gestorben sind, können leere Verallgemeinerung im Muster der Heiligenviten entstehen, die die Toten durch Idealisierung ihrer Singularität berauben. Freud schreibt, daß der eigene Tod nicht zu repräsentieren sei, immer wieder überlebt man in der Vorstellung, wechselt lediglich die Perspektive. Aber: »Wir sterben in der Identifizierung mit dem einen Helden, überleben ihn aber doch und sind bereit, ebenso ungeschädigt ein zweites Mal mit einem anderen Helden zu sterben.«15 Und so weiter, immer wieder. Und die, die immer wieder etwas tun, was sie selber lieber lassen würden, die an einem Wiederholungszwang leiden, sind zwar zu Hause, also da, wo sie meinen hinzugehören, stehen aber unter Einfluß, sind doch nicht ganz drinnen, sind unheimlich. Sie stehen oft unter einem verkitschten Einfluß von Toten. Zum Kitsch schrieb Adorno, daß in ihm Freiheit von Natur zelebriert werde. »Was den Menschen in Schauer verhielt, wird zu einer verfügbaren Sache. Bilder und Bildchen haben gemein, daß sie die Urbilder hantierbar machen.«16

Abb. 13

15 16

Sigmund Freud (1918): Zeitgemäßes über Krieg und Tod. G.W. X, S. 344. Theodor W. Adorno (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 302.

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Das Undarstellbare des psychoanalytischen Prozesses

Die zum pars pro toto für den psychoanalytischen Prozeß gemachte Couch kündet vom Unheimlichen. »Das Unheimliche wäre eigentlich immer etwas, worin man sich sozusagen nicht auskennt«, schreibt Freud. »Je besser ein Mensch in der Umwelt orientiert ist, desto weniger leicht wird er von Dingen oder Vorfällen in ihr den Eindruck der Unheimlichkeit empfangen.«17 Georges Didi-Huberman erinnert daran, daß nach Freud jeder Neurotiker, »das heißt im Grunde jeder Mensch – diese Desorientierung des Unheimlichen letzten Endes am stärksten gegenüber dem weiblichen Geschlecht [empfindet]: und zwar dann, wenn sich vor ihnen jener sonderbare Ort an der überschrittenen Quelle der Geburt auftut – der in Wirklichkeit so sonderbar ist, weil er eine Rückkehr ins verlorene ›Heimische‹ darstellt. Der metapsychologische Bezug auf die Kastrationsangst wird hier also um einen Bezug auf die ›Mutterleibsphantasie‹18 ergänzt.«19

Das schreibend, fiel mir natürlich Courbet ein. Damit würde noch einmal die sexuelle Konnotation der Couch angespielt.

Abb. 14 17 18 19

Sigmund Freud: Das Unheimliche. S.A. IV, S. 244. Ebd., S. 271. Georges Didi-Huberman (1999): Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. München (Fink), S. 222.

243

Karl-Josef Pazzini »Wie schnell sind wir bei der Entzifferung wieder bei dem, was wir schon kennen, eine der unheimlichen Erfahrungen bei jeder Tagung, übrigens, die uns demütig machen müßte angesichts der Einsicht in unsere Ohnmacht. Der Ort des psychoanalytischen Wissens in der Kultur scheint mir immer noch beunruhigend offen zu sein. Daher waren meine Ausführungen auch so voller Umschweife und Windungen, konnten nur Andeutungen sein. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld.«20

So beendete Jutta Prasse 1990 ihren Vortrag über das Freudsche Unheimliche.

Abbildungen Abb. 1 aus: Serge Tisseron (2004): Journal d’un psychanalyste, Paris (Marabout), S. 5 Abb. 2 aus: Wiener Diwan – Sigmund Freud heute (1989). Katalog, Wiener Festwochen, Klagenfurt (Ritter Verlag), S. 112 Abb. 3: Kurier 22. 10. 2004 Abb. 4: Hans Hollein: Sigmund Freud, Traum und Wirklichkeit. Wien 1985 Abb. 5: Les Archives du Monde 14./15. 3. 2004 Abb. 6: die tageszeitung 30. 11. 95 Abb. 7: Serge Tisseron, in: Magazine Littéraire, Fév. 2004 Abb. 8: Photo KJP (Paris, rue des Martyrs) Abb. 9: http://rhein-zeitung.de/on/02/01/29/magazin/news/mortal-dpa.html/ 01. 12. 04 Abb. 10: Lydia Marinelli (Hg.) (1998): Meine … alten und dreckigen Götter. Aus Sigmund Freuds Sammlung. Ausstellung vom 18. 11. 1998–17. 2. 1999 im Sigmund-Freud-Museum. Wien/Frankfurt a. M. (Stroemfeld), S. 20 Abb. 11: ebd., S. 117 Abb. 12: Max Steck (1948): Dürers Gestaltlehre der Mathematik und der Bildenden Künste. Halle a. d. Saale (Max Niemeyer-Verlag) (1948), Tafel III, Abb. 5 Abb. 13: L’association des Amis de Gustave Courbet et du Musée à Ornans (Hg.): Courbet, l’amour … Catalogue de l’exposition estivale 1996. Ornans: Eté 1996 Abb. 14: http://www.lacan.com/courbet.htm/ 1. 12. 04

20

Jutta Prasse (1990): Das Freudsche Unheimliche der Schrift, in: Brief der psychoanalytischen Assoziation. Die Zeit zum Begreifen, Sonderheft 2, S. 66.

244

Antonello Sciacchitano

Eine Struktur, mehrere Modelle Begehrungsvermögen ist das Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein. Das Vermögen eines Wesens, seinen Vorstellungen gemäß zu handeln, heißt das Leben. Immanuel Kant: Einleitung in die Metaphysik der Sitten Jeder kann bestätigen, daß wenn wir vom Unendlichen handeln, wir die Wirklichkeit verlassen. Domenico Costantini: I fondamenti storico-filosofici delle discipline statistico-probabilistiche

Erlauben Sie mir, mit einer autobiographischen Äußerung zu beginnen. Die Hälfte – die beste Hälfte – meines Lebens habe ich mit einer Künstlerin verbracht. Romana Debeus, meine Frau, war Malerin. Was für eine? Im wesentlichen eine darstellende Malerin, das heißt, sie malte Vorstellungen. Sie schuf Vorstellungen durch Gemälde und Bronze. Am Ende ihres Lebens schuf sie riesige, zumeist vielteilige Bilder von Widerspiegelungen. Ihre letzte Ausstellung trug den Titel La città riflette, einen zweideutigen Titel. Riflettere heißt im Italienischen zugleich »zurückstrahlen«, »widerspiegeln« und »nachdenken«. »Die Stadt widerspiegelt, die Stadt reflektiert« also. Die Bilder geben Widerspiegelungen der Glasfassaden der Wolkenkratzer von Mailand, Berlin und New York wieder und stellen insofern Vorstellungen der Stadt dar, die die Glasfassaden in das Auge der Künstlerin reflektiert haben. Im wesentlichen sind die Bilder dieser Serie Darstellungen von Vorstellungen, oder besser, sie sind ›Darstellungsrepräsentanzen‹. In einem gewissen Sinn sind sie Signifikanten. Sie repräsentieren das öffentliche Subjekt – die Stadt – für andere Signifikanten. Die Bilder meiner Frau bilden also eine signifikantenreiche Serie. Nun könnte ich vom Wiederholungszwang sprechen und erwähnen, daß der Künstler die Fähigkeit hat, die Signifikanten der Kulturarbeit zu erfassen und herauszuheben. Bei meiner Frau ging es um die Signifikanten des Stadtlebens. Ich will aber diesen Weg nicht einschlagen, da er das Feld des bekannten Wissens durch245

Antonello Sciacchitano

quert. Schon Freud sprach von Vorstellungsrepräsentanzen und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Als Freudianer kenne ich das ja. Die von Lacan durch das Spiegelstadium eingeführte Verbesserung ist mir ebenfalls vertraut. Heute aber, beim Gedenken an eine weitere Person, die für mich wichtig war, zielen meine Ausführungen auf etwas anderes. Um der verschwundenen Person würdig zu gedenken und nicht bloß auf ritualisierte Weise Bekanntes zu wiederholen, habe ich beschlossen, etwas Neues beizutragen. Ich weiß wohl um das Risiko, Dummheiten zu sagen. Deshalb fasse ich mir ein Herz und verzichte auf den beruhigenden Schulkommentar der erworbenen Lehre. Also frage ich mich: Was habe ich in den langen Jahren des Zusammenlebens mit einer Künstlerin Neues gelernt? Die Antwort lautet: Genau das, was uns vor langer Zeit Kant mit seiner Theorie der Einbildungskraft gelehrt hat. Und dieses Thema möchte ich hier ausarbeiten. Für den Künstler ist die Einbildungskraft alles. Deshalb ist es wichtig, auf die Frage zu antworten: »Wo sitzt diese Kraft und woher kommt sie?« Sowohl der Analytiker als auch der Philosoph haben ihre Antwort darauf. Vielleicht ist die des Philosophen klarer und für ein Publikum, das nicht aus Fachleuten besteht, zugänglicher. Deshalb benutze ich sie hier lieber, auch wenn sie ein wenig zur Tautologie neigt. Im ersten Satz seiner Metaphysik der Sitten stellt Kant fest, daß die Einbildungskraft die notwendige Voraussetzung für das Begehrungsvermögen ist. »Begehrungsvermögen«, sagte Kant, »ist das Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.« Es gibt keine Einbildungskraft ohne Begehren. Diese Voraussetzung alleine reicht aber leider nicht. Hier verläßt Kant das tautologische Gebiet und geht auf Einzelheiten ein. Um als Feder der Einbildungskraft zu funktionieren, muß das Begehrungsvermögen beweisen, daß es die Fähigkeit hat, die Vorstellungen zu behandeln. In bezug auf unser Thema würde ich sagen, daß es besondere Rücksicht auf Darstellbarkeit nehmen muß. Dieselbe Anforderung gilt auch für den Künstler. Ein Künstler muß beweisen, daß er mit Vorstellungen umgehen kann, daß er ein Vorstellungs- und Darstellungstechniker ist. Zu Recht nannten die alten Griechen die Kunst eine Techne. 246

Eine Struktur, mehrere Modelle

Aber das ist noch allzu allgemein. Die Einbildungskraft wird zur wirklichen Kraft nur dann, wenn sie durch ihre Vorstellungen ein neues Objekt erzeugen kann. Die Kantsche Aussage dazu ist klar. »Begehrungsvermögen ist das Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.« Kant sprach die alte aristotelische Sprache von Ursache und Wirkung. Das vorwissenschaftliche Wissen war seiner Natur nach ätiologisch, indem es den Satz vom zureichenden Grund zur Voraussetzung hatte. Das alte Wissen war eher kognitiv als wissenschaftlich. Sein Ziel war eher, das Objekt, das da ist, durch Vorstellungen zu erkennen, als das Objekt, das nicht da ist, zu erfinden. Der kognitive Ansatz kam trotz der kartesianischen Revolution bei Kant an. Lacan unterstand dem Einfluß Kants, als er mit dem Objekt ›Ursache des Begehrens‹ herauskam. Das war ein falscher Zug, der korrigiert werden muß, weil die Hauptvoraussetzungen der wissenschaftlichen Praxis sich verändert haben. Erstens nämlich ist die moderne Wissenschaft weniger auf die Erkenntnis des Objekts als auf seine Konstruktion ausgerichtet, und zweitens hängt sie weniger vom Begriff ›Ur-sache‹ ab. In den modernen Abhandlungen der theoretischen Physik spricht man deshalb nicht mehr von Ursache, sondern von Interaktion zwischen Komponenten eines Systems. Da die Psychoanalyse wissenschaftlich ist, folgt sie dem Schicksal der Wissenschaft. Sie braucht kein nichtsprachliches Fundament. Aber dazu später noch mal. Modern gesprochen, behaupte ich, daß das Begehren das Objekt durch eine Vorstellung von ihm erzeugt. Diese Formulierung ist schwach genug, um verschiedene Möglichkeiten zuzulassen. Vereinfachend kann man sagen, daß es drei Arten von Verhältnis zwischen Vorstellung und Objekt gibt. Das erste Verhältnis nenne ich das des Unmöglichen. Es gibt zwar ein Objekt, aber keine Vorstellung. Es ist unmöglich, das Objekt durch Vorstellungen darzustellen. Kant nennt noumenos das unvorstellbare Objekt. Wir werden gleich sehen, daß man keine neuen Namen zu erfinden braucht. Das zweite Verhältnis nenne ich nihilistisch. Es gibt zwar eine oder verschiedene Vorstellungen, aber kein Objekt. Die Objektbeziehung vermehrt sich in unzähligen Reflexen zwischen Vorstellungen. Dieses Verhältnis ist typisch für die Postmoderne. 247

Antonello Sciacchitano

Das dritte Verhältnis, das wichtigste für meine Ausführung, nenne ich nicht-kategorisch. Es ist nicht kategorisch in dem Sinn, daß es kein kategorisches Verhältnis zwischen dem Objekt und seiner Vorstellung gibt, keine klassische adaequatio rei et intellectus. Denn es gibt ein Objekt und zugleich viele nicht äquivalente Vorstellungen, die sich nicht nur dem Objekt, sondern auch untereinander nicht anpassen. Als Psychoanalytiker schließe ich die nihilistische, postmoderne Möglichkeit aus. Die psychoanalytische Erfahrung lehrt nämlich, daß das Objekt existiert. Es erzeugt Begehrenswirkungen, auch wenn es unvorstellbar ist. Die Freudsche Rücksicht auf Darstellbarkeit besteht in der Verbindung beider Alternativen: einerseits die Besonderheit der Unvorstellbarkeit des Objekts und andererseits die Vielfalt seiner unangemessenen Vorstellungen. Zwischen den beiden Alternativen des Dilemmas – eine Unvorstellbarkeit, mehrere Vorstellungen – handelt es sich weder um Paradoxe noch um Antinomien, sondern um das Gebiet der psychoanalytischen Deutung. In Lacanschen Termini könnte ich von Subjektspaltung sprechen. Um meine Ausführung zu konkretisieren, könnte ich klinische Fälle erwähnen. Da ich jedoch mit der Arbeit des Künstlers begonnen habe, gehe ich auf diesem Weg weiter. Der Künstler hat eine fast physiologische Empfindung des Unvorstellbaren. Wenn er Pinsel oder Spatel auf dem Gemälde bewegt, erzeugt er zwar Vorstellungen, doch die Bewegung des Pinsels selbst stellt sich nicht dar. Dasselbe geschieht beim Kind, das ein Spielzeugauto zeichnen will. Auf dem Blatt bewegt es den Bleistift, erstens, um sich den Raum der Vorstellung anzueignen, zweitens, um das Spielzeugauto zu zeichnen. Am Ende des Vorgangs finden wir die Zeichnung des Spielzeugautos, das sich aber überhaupt nicht bewegt. Die Bewegung ex-sistiert in bezug auf die Darstellbarkeit, würde Heidegger sagen. Sie wird nicht dargestellt, sondern bleibt außerhalb der Darstellung, auch wenn sie die Darstellung erlaubt. Die Philosophen haben immer Schwierigkeiten gehabt, die Bewegung zu denken. Zenons Paradoxa beweisen die Fremdheit des Bewegungsbegriffs in bezug auf die arme Ontologie des Parmenides, die nur zwei tautologische Möglichkeiten denken kann: 248

Eine Struktur, mehrere Modelle

das Sein, das ist, und das Nicht-Sein, das nicht ist. Die Ontologie eignet sich für die moderne Wissenschaft nicht, weil sie sich mit prä-ontischen Objekten befaßt, die noch nicht existieren, z. B. die Neutrinos oder die dunkle Energie. Zu Geschwindigkeit und Beschleunigung hatte Aristoteles nur anthropomorphe Ideen, die für die Entwicklung der Wissenschaft unbrauchbar, wenn nicht sogar wissenschaftsfeindlich sind. Die lange Inkubationszeit der modernen Wissenschaft bis zu Galilei hing von der topologischen Schwierigkeit ab, eine gute Formulierung des Begriffs der momentanen Geschwindigkeit zu finden. Die Schwierigkeit bestand in der im wissenschaftlichen Diskurs aufgetauchten Frage nach dem Unendlichen im Sinne des unendlich Kleinen oder des Infinitesimalen. Es ging um die temporale Unendlichkeit, die durch so kleine Zeiträume dargestellt wird, daß sie keine meßbare Dauer haben. Wie ist es möglich, eine Veränderung zu beobachten, wenn ein Zeitraum nicht einmal so lange dauert, daß sein Variieren festgestellt werden könnte? Für das naive Denken ist das widersprüchlich, also unvorstellbar. Beim Übergang zum räumlichen Unendlichen liefen die Dinge nicht besser. Die alten Griechen kannten überhaupt kein Unendliches. Das geometrische Unendliche der Griechen war ja eine unbestimmte Größe, vor allem kein Unendliches. Es war nämlich eine endliche Größe, die stets größer als jede andere endliche Größe ist. Aristoteles nannte sie »potentielles Unendliches«. Um dem aktuellen Unendlichen zu begegnen, mußten wir auf die Renaissancemaler warten. Ihre perspektivische Darstellung hat es geschafft, auf dem Gemälde das Unendliche an einem Punkt festzumachen, dem sogenannten Fluchtpunkt. Der Punkt im Unendlichen gilt als Angelpunkt, um den sich die ganze Darstellung des Bildes dreht. Es lohnt sich, auf die Besonderheit dieses Punktes hinzuweisen. Er ist zwar zentral in der Darstellung, wo er durch die Technik der Perspektive bestimmt wird, an sich ist er aber nur einer unter vielen. Die Tatsache, ein Punkt im Unendlichen zu sein, bringt ihn nicht auf eine andere Ebene. Das echte Unendliche, das heißt das nicht religiöse Unendliche, ist demokratisch und befolgt die für alle verbindlichen Regeln. Eigentlich ist die Perspektivlehre eine Rücksicht auf die Darstellbarkeit des Unendlichen, die Leon Battista Alberti, Piero della Francesca und Albrecht Dürer für uns erarbei249

Antonello Sciacchitano

tet haben, um uns zu erlauben, mit diesem neuen und vielleicht unheimlichen Objekt umzugehen. Das Unendliche ist das Objekt der Moderne, das der Mathematik, der Kunst, der Wissenschaft und der Psychoanalyse gemeinsam ist. Der moderne Mensch denkt nicht mehr mit seiner Seele wie im aristotelischen Zeitalter. Er denkt mit seinem Objekt, wie Lacan sagt, als er in seinem elften Seminar das Objekt a einführt. Aber es handelt sich um ein besonderes Objekt. Denn es ist nicht kategorisch. Das heißt, daß es durch verschiedene, nicht gleichwertige Vorstellungen dargestellt werden kann. Das arithmetische Modell des Unendlichen – das man zum Zählen braucht – entspricht nicht dem geometrischen Modell – das man zum Zeichnen braucht. Die Nicht-Kategorizität ist ein Phänomen, das man in der Mathematik sehr häufig antrifft. Beispielsweise darf man im Wahrscheinlichkeitskalkül der Wahrscheinlichkeit, daß beim Wurf der Münze ›Kopf‹ kommt, verschiedene, sogar unendliche Werte zuschreiben. Damit jede Zuschreibung folgerichtig wäre, verlangt man allein, daß die Wahrscheinlichkeit von ›Zahl‹ (x) durch die Wahrscheinlichkeit von ›Kopf‹ als ein Minus der Wahrscheinlichkeit von ›Kopf‹ bestimmt wird (1 – x). Zu dieser Situation meint Heidegger: »Die Wissenschaft denkt nicht.« Das stimmt. Die Wissenschaft denkt die Realität des Daseins gar nicht, sondern sie denkt die verschiedenen Modelle derselben epistemischen Struktur. Und die Psychoanalyse? Was denkt sie? Die Psychoanalyse denkt das ›Objekt des Begehrens‹, das Objekt a von Lacan. Absichtlich spreche ich von ›Objekt des Begehrens‹ und nicht, wie Lacan vorschlägt, von ›Objekt-Ursache-desBegehrens‹. Denn es ist eine Illusion, an eine Ursache zu denken. Es ist die typische psychiatrische Illusion, die behauptet, für jede psychische Krankheit gebe es eine spezifizierbare Ätiologie. Was nach einer Ursache aussieht, ist einfach die Folge der Wahl, die das Subjekt zwischen den verschiedenen Modellen des Objekts im Rahmen des Phantasmas trifft. Das Phantasma ist der Ort der nicht selten traumatischen Interaktion zwischen Subjekt und Objekt. Da das Subjekt endlich ist, kann es das unendliche Objekt nicht begreifen. Daher bleibt das Objekt für das Subjekt endgültig unbewußt. In 250

Eine Struktur, mehrere Modelle

bezug auf das Objekt des Begehrens hat das Subjekt zwei Möglichkeiten: Praktisch kann es eine Vorstellung des Objekts bilden, theoretisch ihm einen Namen zuschreiben, als wäre es eine zwar unbekannte aber nicht unbestimmte Größe, und darauf eine algebraische Lehre aufbauen, wie Lacan es versuchte. Die Lacanschen Ergebnisse kann man verbessern, und das versuche ich. Von hier aus kann man klinische Einzelheiten untersuchen. Während seiner eigenen Psychoanalyse und der Psychoanalyse seiner Analysanten erfährt der Psychoanalytiker das phantasmatische Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt des Begehrens. Es gibt ein reiches Spektrum aus verschiedenen phantasmatischen Interaktionen. Obwohl alle auf Interaktionen zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen zurückzuführen sind, sind nicht alle äquivalent. Jede von ihnen liefert ein Modell der Objektbeziehung. Zählen wir einige von ihnen auf. Wenn das Subjekt das Objekt des Begehrens als geometrisches Unendliches erlebt, befinden wir uns im Bereich der Schau-Erfahrungen. In der passiven Version begehrt das Subjekt, von unendlichen Raumpunkten her beobachtet zu werden. Das nennt sich Exhibitionismus. In der aktiven Version versucht das Subjekt den genauen Fluchtpunkt in einer Umgebung aus unendlichen, immer näher liegenden Punkten zu bestimmen, als suchte es eine Stecknadel im Heuhaufen. Das nennt sich Voyeurismus. Um ein unendliches Kontinuum geht es auch im Falle der Stimme als Objekt des Begehrens. Durch eine der unendlichen Kombinationen von verschiedenen Obertönen, die ihre eigene Klangfarbe ausbilden, ist das Subjekt von der Stimme des Anderen zum Sein gerufen. Jede Kombination kann ein Signifikant werden, der für einen anderen Signifikanten das Subjekt darstellt. Dieser Aspekt der Objektbeziehung wurde von Freud vernachlässigt. Lacan hat zu Recht den ›Anrufungstrieb‹ als Grundelement des sprechenden Unbewußten in die Metapsychologie eingeführt. Die Stimme ist ein ›plastisches‹ Objekt. Sie kann ihre Form ändern und vom geometrischen ins arithmetische Unendliche übergehen. Ich werde hier keine Zeit verlieren, um zu beweisen, daß beide Unendliche nicht äquivalent sind. Denn Cantor hat festgestellt, daß ersteres zahlreicher ist als letzteres. Da mich hier das 251

Antonello Sciacchitano

Qualitative und nicht das Quantitative interessiert, bemerke ich, daß auf der Ebene des arithmetischen Unendlichen das Objekt des Begehrens die Gestalt eines Rhythmus oder eines musikalischen Tempos annimmt. Freud, der zwar ein scharfes, aber kein musikalisches Ohr hatte, sprach philosophisch von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Das diskrete Unendliche übt seinen Einfluß auch auf konkrete Objekte wie die Brust und den Kot in den Momenten ihres Kommens und Gehens aus. Nach einer unendlichen und tränenreichen Wartezeit erscheint die Brust auf der Bühne des Subjekts. Der Kot kommt hingegen ganz plötzlich, und das Subjekt ist nicht in der Lage vorherzusagen, wann er wiederkommen wird. Die Zeit des Kots ist im alten Sinne unendlich, das heißt unbestimmt. Sie kann länger dauern als jeder begrenzte und bestimmte Zeitabschnitt. Es überrascht nicht, daß die Zwangsneurose, insbesondere die Psychoasthenie, eine anale Konstitution hat. Es gibt aber auch eine Kehrseite des hier Ausgeführten. Sie rechtfertigt das Interesse an einem mathematischen Annäherungsversuch an die Theorien des Objekts des Begehrens. Was passiert, wenn das Objekt endlich bleibt oder wieder endlich wird? Dann findet Perversion statt. Das perverse Subjekt begehrt kein unendliches Objekt, sondern es genießt unendlich das endliche Objekt, das nun den Namen Fetisch trägt. Jetzt eine notwendige Warnung. Eine Liste aller Modelle des Unendlichen, die als Objekte des Begehrens gelten können, ist Lacan zufolge undenkbar. Der Grund dafür ist, daß alle Vorstellungen des Unendlichen keine Menge ausbilden. Es ist unmöglich, alle Modelle aufzuzählen und sie in einer durch einen Begriff bestimmten Sammlung zusammenzufassen. In ihrem Fall kann man nur von echten Klassen sprechen. Nach von Neumann ist eine echte Klasse eine Mannigfaltigkeit, für die es keine (Meta-)Klasse gibt, zu der sie gehört. Im philosophischen Sinne ist eine echte Klasse kein vollständig und begrifflich bestimmtes Ganzes. Diesbezüglich würde Lacan von Nicht alles sprechen. Meiner Meinung nach ist der positive mathematische Begriff von echter Klasse vorzuziehen, da er nicht negativ ist. Die echte Klasse der unendlichen Vorstellungen ist sehr groß. Sie ist unend252

Eine Struktur, mehrere Modelle

lich im griechischen Sinne von ›unbestimmt‹ und ›ohne Grenze‹. Sie enthält auch das Nichts, das Objekt der Anorexie, und das verlorene Objekt, das Objekt der Melancholie. In einem gewissen Sinne sind das Nichts und das verlorene Objekt keine eigentlichen Objekte. Sie sind eher die Folge der Unmenge der Vorstellungen des Unendlichen, die so ungeheuerlich groß ist, daß in ihr kein Objekt wieder auffindbar ist und alle Objekte automatisch verloren werden. Dies unendlich Unendliche ist die echte ›Ursache‹ des Begehrungsvermögens und seiner Einbildungskraft. Gäbe es kein Unbewußtes, würde uns das Gebiet des Begehrens ganz unbekannt bleiben. Dank des Unbewußten erfahren wir überrascht manchmal – als hätten wir es mit einer Suchmaschine wie Google zu tun – durch Träume und Fehlleistungen etwas von unserem Begehren. Dann erscheint es uns so fremd, daß uns nichts Besseres einfällt, als es ›Begehren des Anderen‹ zu nennen. Ich höre hier auf, weil sich mir hier die Gelegenheit bietet, den Beitrag von Jutta Prasse zu meiner Arbeit zu erwähnen. Es ist die deutsche Übersetzung eines Gedichts von Leopardi, dessen Titel Das Unendliche ist, die Jutta Prasse zu Lacan und das Deutsche 1 für mich gemacht hat. Ich schätze ihre Übersetzung mehr als die offizielle, weil sie ›italienischer‹ klingt. Der Dichter spricht von der Aphanisis des endlichen Subjekts gegenüber dem unendlichen Objekt des Begehrens besser als der Psychoanalytiker. So schließe ich meine Ausführung, wie ich angefangen habe – mit der Erwähnung eines Künstlers. Immer war er mir lieb, dieser einsame Hügel, Und dieser Hain, der, wohin ich mich auch wende, den Blick auf den Horizont mir verwehrt. Doch wenn ich dort so sitze und schaue, unendliche Räume jenseits und übermenschliche Stille und tiefste Ruhe erschaff’ ich mir in Gedanken; wo beinah’ das Herz sich erschreckt. Und wie ich den Wind

1

Vgl. Jutta Prasse/Claus-Dieter Rath (Hrg.): Lacan und das Deutsche. Die Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein. Freiburg (Kore) 1994, S. 143 f.

253

Antonello Sciacchitano höre rauschen in diesen Bäumen, vergleich’ ich jenes unendliche Schweigen seiner Stimme: und ich denk an das Ewige und an die geschwundenen Zeiten und an die gewärtige lebendige und an ihren Klang. Und mein Denken ertrinkt in diesem Unermeßlichen: Und süß ist mir der Untergang in diesem Meer.

254

Claus-Dieter Rath

Erschließen und Übersetzen in der Psychoanalyse

Stellt ein Traum sich uns dar, ist er bereits entstellt. Der uns vertraute manifeste Traum besteht nur aus Abkömmlingen des latenten Traumgedankens, dessen Relationen verwandelt wurden: Traumarbeit hat ihn verdichtet, die Elemente seines Materials verschoben, also ersetzt1, sie hat dabei Rücksicht auf Darstellbarkeit geübt und all dieses einer sekundären Bearbeitung2 unterzogen. »Darstellbarkeit« bezieht sich hier nicht auf eine beliebige Ausdrucksform, sondern auf die Möglichkeiten und Wege, einen Gedanken bildhaft auszudrücken, und zwar »längs einer Assoziationskette«. Bei dem Streben nach »sinnlichen Bildern« vertauscht das einzelne Traumelement »seine Wortfassung gegen eine andere«3, vertauscht einen »farblose[n] und abstrakte[n] Ausdruck des Traumgedankens gegen einen bildlichen und konkreten«4. Beispielsweise ergibt sich aus dem Bild »Der Träumer zieht eine Frau hinter dem Bette hervor« der Wortlaut: »Er gibt ihr den Vorzug.« Oder aus dem Bild »Er (ein Offizier) sitzt an einer Tafel dem Kaiser gegenüber« – »er bringt sich in Gegensatz zum Kaiser (Vater).« Freud betont, daß diese »beide[n] Darstellungen vom Träumer selbst übersetzt«5 worden sind. Allgemein steht für ihn fest: Der »Traum bedient sich solcher Symbolisierungen, welche im unbewußten Denken bereits fertig enthalten sind […], weil sie wegen ihrer Darstellbarkeit, zumeist auch wegen ihrer Zensurfreiheit, den Anforderungen der Traumbildung besser genügen«6. Also ist bei 1 2 3

4 5

6

Sigmund Freud (1900a): Die Traumdeutung. S.A. II, S. 335. Ebd., S. 479 f. Ebd., S. 335; Hervorh. von Freud. Es werden »Wortvorstellungen auf die ihnen entsprechenden Sachvorstellungen zurückgeführt«. Sigmund Freud (1916–17f): Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre. G.W. X, S. 418. Sigmund Freud: Traumdeutung. A. a. O., S. 335. Freud hat dies 1913 in »Erfahrungen und Beispiele aus der psychoanalytischen Praxis« veröffentlicht, unter dem Titel »Rücksicht auf Darstellbarkeit« (G.W. X, S. 41 f.). Sigmund Freud: Traumdeutung. A. a. O., S. 344; Hervorh. CDR.

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Claus-Dieter Rath

dem urmenschlichen Vorgang des Träumens von vorneherein die Sprache im Spiel: als Sprachlichkeit (d. h. die Mechanismen von Metapher und Metonymie) und als Sprachschatz, Vorrat an Signifikanten, der einem bestimmten Menschen zugänglich ist; dazu gehört auch das, was Jacques Lacan lalangue nennt: »der Niederschlag, die Ablagerung, Versteinerung des Umgangs einer Gruppe mit ihrer unbewußten Erfahrung«7. Deshalb hat Freud sich eingehend mit Motiven der Folklore und mit der Idee einer Grundsprache befaßt. Lacan vergleicht die Verbildlichung der Traumarbeit mit dem Gesellschaftsspiel, das wir als Charade kennen. Bei diesem Silbenrätsel gibt man den Zuschauern einen bekannten Ausspruch, einen Film- oder Buchtitel »zu erraten […] allein mit Hilfe einer stummen Darstellung«8. Zu den unbewußten Gedanken gibt es keinen anderen Zugang als die sie entstellende Darstellung. Ob wir Psychoanalytiker, Dichter oder Künstler sind – auf diese Resultate der Traumarbeit und auch der Symptombildung sind wir angewiesen. Da »der Schauplatz der Träume ein anderer [ist], als der des wachen Vorstellungslebens«9, beschäftigt Freud sich mit dem Verkehr zwischen diesen beiden Bühnen. Die Bewußtseinspsychologie kennt nur einen einzigen Schauplatz – den der bewußten Wahrnehmung – und bleibt deshalb als Instrument hinter der Psychoanalyse zurück. Diese sieht Freud zufolge wie die Physik die »Aufgabe darin, hinter den unserer Wahrnehmung direkt gegebenen Eigenschaften (Qualitäten) des Forschungsobjektes an-

7

8

9

Jacques Lacan (1974): La troisième. In: Lettres de l’École Freudienne. Rome, 7ème Congrès de l’École Freudienne. Nr. 16, Novembre 1975, S. 189. Jacques Lacan (1957): Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud. (Übers. v. C. Creusot u. N. Haas). In: Schriften II, Olten/Freiburg i. Br. (Walter) 1975, S. 37. Genauer heißt das Spiel charade en action. Der Nouveau Petit Robert (Paris 2003, S. 401) führt das Wort auf charra, d. h. causer, plaudern, zurück. »Enigme où l’on doit deviner un mot de plusieurs syllabes décomposé en parties correspondent à un mot défini. […] Charade en action, ou l’on fait deviner les mots en mimant ce qu’ils expriment. Jouer aux charades.« Sigmund Freud: Traumdeutung. A. a. O., S. 512.

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Erschließen und Übersetzen in der Psychoanalyse deres aufzudecken, was von der besonderen Aufnahmsfähigkeit unserer Sinnesorgane unabhängiger und dem vermuteten realen Sachverhalt besser angenähert ist«10.

Gegenüber der sinnlich wahrnehmbaren »Realität«, d. h. Außenwelt11, grenzt Freud das »Reale« ab, das sich der Wahrnehmung und der Darstellbarkeit entziehe, und doch Wirkungen zeitige: »Das Reale wird immer ›unerkennbar‹ bleiben.« Es reicht also hinter den latenten Gedanken zurück, der ja noch in einen manifesten übersetzt werden kann. Für die Analyse ist die Psyche dabei nicht nur Forschungsmittel, sondern auch Forschungsobjekt. Und sie befaßt sich mit dem Begehren zu wissen, der Liebe zum Wissen und dem Nicht-wissenwollen. Dank der gefundenen technischen Mittel zur »Erschließung des Unbewußten«12 gelingt es ihr, »die Lücken unserer Bewußtseinsphänomene auszufüllen«, deren die Analytiker sich »bedienen wie die Physiker des Experiments. Wir erschließen auf diesem Weg eine Anzahl von Vorgängen, die an und für sich ›unerkennbar‹ sind, schalten sie in die uns bewußten ein und wenn wir z. B. sagen, hier hat eine unbewußte Erinnerung eingegriffen, so heißt das eben: Hier ist etwas für uns ganz Unfaßbares vorgefallen, was aber, wenn es uns zum Bewußtsein gekommen wäre, nur so und so hätte beschrieben werden können«13, also dargestellt werden können.

Unerkennbaren Vorgängen begegnet der Psychoanalytiker in der Kur als auch bei der metapsychologischen Arbeit. Durch Kombination ergibt sich dann etwa das Über-Ich als »eine von uns erschlossene Instanz«14. Und innerhalb der »einzelnen latenten Seelenvorgänge, die wir erschließen«15, läßt sich beispielsweise »aus 10

11 12 13 14

15

Sigmund Freud (1940a [1938]): Abriß der Psychoanalyse. G.W. XVII, S. 126; Hervorh. CDR. Ebd., S. 129. Sigmund Freud (1910a [1909]): Über Psychoanalyse. G.W. VIII, S. 31. Sigmund Freud: Abriß. A. a. O., S. 127. Sigmund Freud (1930a [1929]): Das Unbehagen in der Kultur. G.W. XIV, S. 496. Sigmund Freud (1915e): Das Unbewußte. G.W. VIII, S. 269.

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der Zwangsvorstellung […] das ursprüngliche Ereignis leicht erschließen«16. Als ich im Abriß der Psychoanalyse auf Freuds Unterscheidung des Realen stieß17, die übrigens von den englischen und französischen Freud-Ausgaben unterschlagen wird, interessierte mich vor allem jenes Erschließen des »vermuteten realen Sachverhalt[s]«: das Aufdecken und Kombinieren »eine[r] Anzahl von Vorgängen, die an und für sich ›unerkennbar‹ sind«. Zu meiner Überraschung hob Jutta Prasse an dieser Passage etwas anderes hervor: Das Übersetzen. Es heißt dort nämlich weiter: Den »vermuteten realen Sachverhalt […] selbst hoffen wir nicht erreichen zu können, denn wir sehen, daß wir alles, was wir neu erschlossen haben, doch wieder in die Sprache unserer Wahrnehmungen übersetzen müssen, von der wir uns nun einmal nicht frei machen können. Aber dies ist eben die Natur und Begrenztheit unserer Wissenschaft.«

Kurz danach kommt also: »Das Reale wird immer ›unerkennbar‹ bleiben.«18 Jutta Prasse schloß daraus: »Die Sprache unserer Wahrnehmungen: eine Übersetzung.« Und sie verwies auf »eine großartige Passage im 1. Kapitel von Das Unbehagen in der Kultur [als] ein ausführliches Beispiel für ein solches Übersetzen Freuds. Um die mit großer Sicherheit angenommene, erstaunliche und vom gesunden Menschenverstand nicht vorstellbare Tatsache zu vermitteln, daß im Psychischen keine einmal bestandene Phase untergeht, beschwört er den Leser, sich 16

17

18

Sigmund Freud (1895): Über Hysterie. G.W. Nachtragsband, S. 338. Ich bin auf diese Zusammenhänge ausführlicher eingegangen in: Claus-Dieter Rath (2005): ›Einfühlen‹ und ›Erschließen‹ bei Freud. In: Pazzini, KarlJosef/Gottlob, Susanne (Hrg.): Einführungen in die Psychoanalyse I. Bielefeld (transcript), S. 11–28. Es gab sie – weniger klar ausgedrückt – schon vor 1938, nämlich in der Erstausgabe der Traumdeutung: »Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane.« (Sigmund Freud: Traumdeutung. A. a. O., S. 580; Hervorh. v. Freud.) Sigmund Freud: Abriß. A. a. O., S. 126.

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Erschließen und Übersetzen in der Psychoanalyse Rom in allen Epochen seiner langen Baugeschichte vorzustellen, als wäre alles an seinem Platz erhalten geblieben, als stünden an derselben Stelle, wo der moderne Bau sich befindet, immer noch der frühere Barockpalast und der antike Tempel.«19

Dieses von ihr erwähnte veranschaulichende Übersetzen ist im Unterschied zu Freuds Traumdeutung, die vorliegende Bilder in Worte übersetzt, gewissermaßen etwas von Freuds eigener Traumarbeit. Lacan, schreibt Jutta Prasse weiter, habe mit Hilfe der Linguistik und des Strukturalismus »das Primat der Anschaulichkeit […] aufzugeben vermocht«. Das habe Verkrustungen in der Sprache der etablierten Psychoanalyse aufgesprengt. Und dann dreht sie die Freudsche Formulierung »Sprache unserer Wahrnehmungen« folgendermaßen: »Von der Nötigung der Sprache unserer Wahrnehmungen zur Nötigung der Wahrnehmungen unserer Sprache. Davon zeugt der Stil des Gewährsmanns Lacan, der auf seine Art gerade im Abstraktesten, in den Mathemen, den topologischen Figuren zeigt, daß sie aus Sprache gemacht, Wahrnehmungen unserer Sprache sind. Es liegt nun bei jedem einzelnen von uns, in der Transmission der Psychoanalyse weiterzugeben, daß wir um diese Nötigungen der Sprache nicht herumkommen, wenn wir noch etwas wahrnehmen wollen.«20

Und hier wendet sie sich kritisch an Lacanianer, die zum Jargon tendieren: »Wir können nicht einfach eine fertige Sprache übernehmen, gerade wir müssen wissen, daß Sprechen immer Übersetzen ist.« »Übersetzung« ist uns bis hierher begegnet als Deutung, als Veranschaulichung, aber nun auch als gleichbedeutend mit Sprache, Wahrnehmung, Sprechen. Während unserer Zusammenarbeit in der Berliner Freud-LacanGesellschaft entstand aus dieser Mehrdeutigkeit eine Kontroverse zwischen Jutta Prasse und mir. Beispielsweise stritten wir darüber, 19

20

Jutta Prasse (2004): Der Abhub der Erscheinungswelt und die Sprache unserer Wahrnehmungen. In: Sprache und Fremdsprache. Psychoanalytische Aufsätze. Bielefeld (transcript), S. 107. Ebd., S. 110. Explizitere Kritik am lacanianischen Analytikerjargon auf S. 109 und in ihrem Text Fremdsprache. Ebd., S. 90. Hervorh. CDR.

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ob Jargon sich auf Fachsprachen beschränkt oder auch die Alltagssprache durchdringt21. Und während sie bestimmte Jargon-Wörter kritisierte und darauf achtete, möglichst ohne Jargon auszukommen, interessierte mich eher, auf welchen Übersetzungswegen Jargon zustande kommt – was einiges mit »Rücksicht auf Darstellbarkeit« zu tun hat. Die Drehung von »Sprache unserer Wahrnehmungen« zu »Wahrnehmungen unserer Sprache« leuchtet ein, denn: »Wir können uns nicht freimachen von den Wahrnehmungen unserer Sprache«, hier: von dem, was unsere Sprache wahrnimmt oder wahrgenommen hat. Unsere psychische Arbeit ist ja über einen Schatz von Signifikanten unserer spezifischen Sprachen – nicht nur Regionalsprachen, sondern auch Fachsprachen und Jargon – vermittelt. Wie erwähnt, bedient sich die Traumarbeit »solcher Symbolisierungen, welche im unbewußten Denken bereits fertig enthalten sind«. Doch: Ist das Übersetzen von einer bekannten Sprache in eine andere bekannte Sprache (etwa vom Französischen ins Deutsche) dasselbe wie die Übersetzung von etwas Nichtwahrnehmbaren in eine sinnliche Wahrnehmung? Während Jutta Prasse meinte, daß letzteres auf jeden Fall eine Übersetzung bzw. ein Übersetzungsresultat ist (»Die Sprache unserer Wahrnehmungen: eine Übersetzung«), behauptete ich, daß in Freuds Satz: »daß wir alles, was wir neu erschlossen haben, doch wieder in die Sprache unserer Wahrnehmungen übersetzen müssen«, die »Sprache« eine Ordnung (Ordnung der Sinne, Darstellungsordnung) ist – vergleichbar der Freudschen »Sprache der ältesten oralen Triebregungen«, »Sprache der Hysterie«, »Sprache der Analerotik«, »Sprache der Perversionen« oder auch »Sprache der Libidotheorie«. »Übersetzen« bezeichnet dann hier nicht den Vorgang zwischen einer Sprache und einer anderen, sondern zwischen etwas Nichtsprachlichem und einer Sprache, in die übersetzt werden muß (auf dem Wege der Regression in die Ordnung des Systems W-Bw übersetzen, d. h. seinen Spielregeln oder seiner Grammatik entsprechen). Etwas nicht Wahrnehmbares, Reales, wird von da an so behandelt, als könne 21

Vgl. Günter Anders (1992): Über philosophische Diktion und das Problem der Popularisierung. Göttinger Sudelblätter. Göttingen (Wallstein Verlag).

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Erschließen und Übersetzen in der Psychoanalyse

man es sehen (hören, riechen, schmecken …), so daß man über höchst abstrakte Sachverhalte sagt: »Ja, es leuchtet mir ein, es ist evident, leicht einzusehen …« Jutta Prasse hat das »Übersetzen von einer sogenannten natürlichen Sprache in eine andere« sehr wohl unterschieden vom »Übersetzen zwischen dem Unbewußten und dem, was man zu sagen beabsichtigt, vom Übersetzen dessen, was man nicht sagen kann und will«22. In ihrem Text Fremdsprache liest man sogar, vom Analysieren erhole sie sich – beim Übersetzen: »[…] daß ich mir im Zuge dieser Rückkehr [aus Italien nach Deutschland] eine Nebentätigkeit, eine zusätzliche Praxis als Übersetzerin literarischer Texte geschaffen habe, die mir zur Erholung von der Psychoanalyse dient.«23

Psychoanalytische und literarische Übersetzungstätigkeit sind hier nicht ein- und dasselbe. Aber was unterscheidet sie? Hat das Psychoanalysieren etwas besonders Anstrengendes, von dem man sich erholen muß? Der Hauptunterschied liegt wohl darin, daß man beim Übersetzen dem Begehren eines Romanautors auf andere Weise begegnet als dem Begehren des Analysanten in der Kur. Ich möchte nun skizzenartig dem Thema »Übersetzung und Sprache« und der Problematik der Wahrnehmung und der Aufnahmsfähigkeit des Analytikers etwas weiter nachgehen. Denn zum einen ist das Freudsche Erschließen umfassender und allgemeiner als das Übersetzen; und es reicht weiter. Insofern ist Psychoanalysieren mehr als ein Übersetzen. Und zum anderen ergibt sich hier die Frage: Was nimmt der Analytiker durch welche Konstruktionen und Klischees vermittelt wahr – was passiert damit und wie geht er selbst damit um?

Bei größeren Einladungen drängte Jutta Prasse bald darauf, daß Charade gespielt werde, und zwar bezogen auf Film- und Buchtitel. Manche stimmten freudig zu, andere zeigten sich eher beklommen und verlegen. In den zwei Teams aus mehr oder weniger 22

23

Jutta Prasse (1994): Zu diesen Texten. In: Jutta Prasse/Claus-Dieter Rath (Hrsg.): Lacan und das Deutsche. Die Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein. Freiburg (Kore), S. 9–10. Jutta Prasse (2004): Fremdsprache. In: Sprache und Fremdsprache. Psychoanalytische Aufsätze. Bielefeld (transcript), S. 89.

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willigen Mitspielern gab es begnadete Darsteller und begnadete Errater (von beidem natürlich auch das Gegenteil). Also zweierlei Übersetzung: eine vom Wort in Richtung Bild, via Pantomime, und eine zweite vom Bild in Richtung Wort. Die pantomimische Darstellung entspricht dem manifesten Traum oder einer Symptomäußerung. Und die kurze Bedenkzeit, die ein Charadespieler erhält, nachdem er den ins Ohr geflüsterten Titel vernommen hat, um den Wortlaut »Vom Winde verweht« oder »Die Beständigkeit der Vernunft« Wort für Wort oder Silbe für Silbe in stumme Bildelemente umzusetzen (»Sprechen verboten!« – »Was mache ich nun?«), entspricht der Zeit der Symptombildung.24 Die Grundmechanismen der Traumarbeit wirken ja auch in den anderen Bildungen oder Ausbildungen des Unbewußten, beispielsweise in den Einfällen und Fehlleistungen. Dabei hat »der verdrängte Diskurs des Unbewußten sich ins Register des Symptoms übersetzt«25. Für Lacan handelt es sich um die »Übersetzung in eine andere figurative und vom Subjekt völlig unbemerkte Sprache von etwas, das sich nur in Termen des Diskurses versteht«26. Übersetzung gehört zu Freuds Arbeit – als Tätigkeit und als Gegenstand. Als Tätigkeit, weil er z. B. John Stuart Mills übersetzt hat und weil zur Arbeit des Psychoanalytikers ein besonderes Übersetzen gehört. Gegenstand ist sie im Entwurf einer Psychologie (1895), wo er einige Vorgänge in der Psyche »Übersetzung« oder »Umschrift« nennt. Für ihn liegen »Traumgedanken und Trauminhalt vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zei24

25

26

Man könnte noch weiter untersuchen, ob manchen diese Darstellung so peinlich ist, weil sie die eigenen Umsetzungs-Mechanismen zur Darstellung bringt. Freud sagt etwa, daß die Hysterischen »zumeist Visuelle sind« und »es dem Analytiker nicht so schwer machen wie die Leute mit Zwangsvorstellungen« (Sigmund Freud: Studien über Hysterie. G.W. I, S. 282). »Schlüssel für die Psychoanalyse«. Ein Gespräch mit Jacques Lacan. In: L’Express, 31. Mai 1957. Dt. Übers. in FRAG.MENTE, Dez. 1992, Heft 39/40, S. 296. Ebd., S. 299. (»transposition dans un autre langage figuratif et complètement inaperçu du sujet, de quelque chose qui ne se comprend qu’en terme de discours.«)

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Erschließen und Übersetzen in der Psychoanalyse chen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennen lernen sollen. Die Traumgedanken sind uns ohne weiteres verständlich, sobald wir sie erfahren haben. Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind.«27

Könnte Freud die Traumbilder auch ohne den Träumer übersetzen? Das wäre keine Psychoanalyse, auch wenn ein Moment ihrer Technik angewandt würde. Die Psychoanalyse deutet den Traum nicht nach einem willkürlichen Schlüssel, etwa wie die neapolitanische Smorfia, bei der jeder Traumbild-Bestandteil nicht nur in eine Bedeutung, sondern gleich noch in eine Lottozahl übersetzt wird: Die Beine einer Frau ergeben 77, Jesus ergibt 33, eine verstorbene Person, die spricht, 47, Angst im Traum 90, usw. In der Frühzeit sah Freud die Aufgabe des Analytikers in einer Art Direktübersetzung für den Patienten. Er wußte dabei stets schon, »nach welcher Richtung man zu forschen und welche Dinge man dem Kranken aufzudrängen hat. […] Es handelt sich ja wesentlich darum, daß ich das Geheimnis errate und es dem Kranken ins Gesicht zu sage; er muß dann meist seine Ablehnung aufgeben.«28

Es tun sich weitere Fragen auf: Wer oder was übersetzt? Was wird übersetzt? Wer übersetzt wem? Heißt Übersetzen lediglich etwas von einer Seite zu einer anderen zu bringen (to translate from … into), etwa vom Unbewußten ins Bewußte? Hier hat bei Freud ein Positionswechsel stattgefunden. Sonst würde man sagen: »Ich habe heute einen Übersetzungstermin« oder »einen Termin bei meinem Übersetzer«. Und wäre das Analysieren schlichtweg ein Übersetzen, müßte sogar ein Schriftstück für die Psychoanalyse ausreichen. (Dies berührt Fragen der Anwendung der Psychoanalyse auf die Literatur.) Das Wort »Übersetzen« erscheint in Freuds Sprache weit aus27 28

Sigmund Freud: Traumdeutung. A. a. O., S. 280; Hervorh. CDR. Sigmund Freud (1895): Studien über Hysterie. Zur Psychotherapie der Hysterie. G.W. I, S. 284.

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greifend: Erklären, Dolmetschen, Bedeuten, Entschlüsseln, Entziffern, Entwirren, Auslegen, Enträtseln, Dechiffrieren. Hat es Grenzen? Eine Grenze des Übersetzens – und zwar des Übersetzens eines latenten in einen manifesten Text – liegt für Freud im Übertragungsgeschehen. Nun komplizieren sich die Dinge: »Die Übertragung, die das größte Hindernis für die Psychoanalyse zu werden bestimmt ist, wird zum mächtigsten Hilfsmittel derselben, wenn es gelingt, sie jedesmal zu erraten und dem Kranken zu übersetzen.«29

Neben dem Übersetzen gibt es also auch das Erraten. Hier hat man zunächst die Produktionen der Übertragung (eines der Synonyme für Übersetzung), dann das Moment des Erratens und schließlich des Übersetzens, mit dem Freud hier sich sogar an den Patienten wendet. Zwei Übersetzungen also, bei denen jeweils es übersetzt und jemand übersetzt. Freuds Grenzziehung im Zusammenhang mit der Handhabung der Übertragung wird noch deutlicher: »Das Deuten der Träume, das Extrahieren der unbewußten Gedanken und Erinnerungen aus den Einfällen des Kranken und ähnliche Übersetzungskünste sind leicht zu erlernen; dabei liefert immer der Kranke selbst den Text. Die Übertragung allein muß man fast selbständig erraten, auf geringfügige Anhaltspunkte hin und ohne sich der Willkür schuldig zu machen.«30

Freuds Unterscheidung zwischen Übersetzen und Erraten bezieht sich darauf, daß Übertragungen nicht nach bekannten Regeln zu übersetzen sind, da sie im Vergleich zu einer Traumerzählung, mit der ein Text ausgebreitet wird, viel weniger Anhaltspunkte liefern. Dabei geht es auch um den Unterschied zwischen enoncé und enonciation, dem Ausgesagten und dem Aussagen, dem Gesprochenen und dem Sprechen. Erraten ist jedoch kein Herumrätseln, sondern eine Arbeit mit vereinzelten (isolierten, zusammenhanglos erscheinenden) Signifi29 30

Sigmund Freud (1905e): Bruchstück einer Hysterie-Analyse. S.A. VI, S. 182. Ebd., S. 181; Hervorh. CDR.

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Erschließen und Übersetzen in der Psychoanalyse

kanten. Erraten, erschlossen wird aus den Übertragungsdarstellungen das, was das Subjekt für das Begehren des Anderen zu sein glaubt, oder auch: der Text der Frage, die ein Subjekt umtreibt und auf die es mit seinen Liebesforderungen und seinen Symptomen auf eine je eigene umständliche Weise antwortet. Vielleicht wird nicht einmal diese Frage selbst erraten, sondern der Analysant arbeitet sie heraus dank seines Glaubens an ein Sujet Supposé Savoir, das die Antwort bzw. seine Frage in sich tragen soll. Eine zweite Grenze des Übersetzens ist die Begegnung mit dem Realen. Die Erschließungsaufgabe des Psychoanalytikers schließt auch das Supponieren des Unfaßbaren ein, etwa den »Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt. Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen.«31

Erschließen erstreckt sich bis in diesen Bereich des Urverdrängten, während das Übersetzen wie auch das Erraten sich eher auf sekundäre Verdrängungen bezieht, d. h. auf das Verhältnis manifestlatent. Für Lacan handelt es sich bei diesem »Unerkannten« nicht bloß um ein Noch-nicht-Erkanntes, sondern um das prinzipiell Unerkennbare, das Unmögliche oder Reale, das niemals gesagt werden kann. Er spricht im Zusammenhang mit dem Unerkennbaren von einem Loch.32 Denkt man nun aber an Freuds »Übersetzen in die Sprache unserer Wahrnehmungen«, die ja vom Realen ausgeht, müßte man Übersetzen nun doch alles nennen, was zwischen hier und dort, zwischen Auswärtigem und Hiesigem vor sich geht? Was bringt der Begriff dann noch spezifisch für die Psychoanalyse? So wie »Unbewußtes« nicht immer gleichbedeutend ist mit dem 31

32

Sigmund Freud: Traumdeutung. A.a.O., S. 503. In einer Fußnote zum Traum von Irmas Injektion: »[…] Jeder Traum hat mindestens eine Stelle, an welcher er unergründlich ist, gleichsam einen Nabel, durch den er mit dem Unerkannten zusammenhängt.« Ebd., S. 130, Fn. 2. Vgl. Réponse de Jacques Lacan à Marcel Ritter (12./13. 4. 1975) in: Lettres de l’École freudienne. 1976, Nr. 18. Journée des cartels. Strasbourg. Introduction aux séances de travail.

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Freudschen »Unbewußten«33, ist nicht jegliches Übersetzen ein psychoanalytisches Übersetzen. Lacan, der den Übersetzungscharakter des Freudschen Deutens hervorhebt, schält eine Spezifik des psychoanalytischen Übersetzens heraus: die Reduktion. Übersetzung »ist immer eine Reduktion und es gibt immer einen Verlust in der Übersetzung. Darum geht es, daß man verliert. Man berührt, nicht wahr, daß dieser Verlust das Reale des Unbewußten selbst ist, das Reale kurzum. Das Reale ist für das Sprechende Wesen das, was sich irgendwo verliert, und wo? Darauf hat Freud die Betonung gelegt, es verliert sich im Geschlechterverhältnis.«34

Der größte Wert der Übersetzung liegt hier nicht in einem trefflichen Ergebnis, sondern in der Arbeit des Übersetzens selbst, und zwar als Verfehlungsbewegung. Man kann noch so ausführlich im Wörterbuch nachschlagen – es bleibt ein Rest, ein Verlust. Dafür fügt man meist etwas Fremdes, einen neuen Signifikanten, in den Text ein, und diese Operation ermöglicht in der Psychoanalyse eine Öffnung zum Realen. Solch eine Reduktion des Sinns bedeutet, bezogen auf das Symptom, daß das, was an ihm genossen werden kann, reduziert wird. Man kann dies mit einem Bild Lacans aus jener Zeit zusammenbringen: »Ich nenne Symptom das, was vom Realen kommt. Das heißt, daß es sich wie ein Fischlein aufführt, dessen hungriges Maul sich erst wieder schließt, wenn es Sinn zwischen die Zähne bekommt. Entweder wird es dadurch gedeihen […] – oder daran eingehen. Am besten sollten wir uns darum bemühen, daß das Reale des Symptoms eingeht, und daraus ergibt sich die Frage: Wie macht man das?«35

Hier bietet sich auch eine neue Lesart von Freuds Aufgabe einer Trockenlegung der Zuydersee an. 33

34

35

»In unserem Unbewußten«; vgl. Sigmund Freud: Traumdeutung. A. a. O., S. 582. Jacques Lacan (1973): Interview mit France Culture. In: Le coq-héron, 1974, n° 46/47, S. 3–8. (Auch in der Internet-Fassung der Autres Écrits) Jacques Lacan (1974): La troisième. In: Lettres de l’École freudienne. Rome, 7ème Congrès de l’École freudienne. Nr. 16, Novembre 1975, S. 189.

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Erschließen und Übersetzen in der Psychoanalyse

Bei Lacan unternimmt nicht der Analytiker das Übersetzen, sondern er sorgt dafür, daß in der Analyse Übersetzung stattfindet. Das psychoanalytische Übersetzen ist hierbei nicht ein einmaliges Dekodieren, sondern eine anhaltende Entzifferungstätigkeit. Der Analytiker hilft hier – mit allen Mitteln der Kunst – dem Analysanten bei der Übersetzungskritik, d. h. bei der Durcharbeitung seiner eigenen Übersetzungen, Deutungen, Konstruktionen, Sinngebungen. Auch wenn der Analytiker nicht ständig herumrät und übersetzt, kommt mit dem Beginn einer Analyse eine Wahrheitssuche in Gang. Und zwar dadurch, daß der Analytiker einen bestimmten Platz einnimmt. In gewisser Weise ist auch dies eine Darstellungsfrage. Die hier erwähnten Bilder – Freuds Rom, Lacans Fischlein usw. – illustrieren, wie Analytiker Wortvorstellungen in sinnliche Bilder übersetzen. Sie tun es, wenn sie einer Öffentlichkeit vermitteln, was Psychoanalyse überhaupt ist, und sie tun es, wenn sie sich und anderen versuchen darzustellen, was sie konkret tun. In gewisser Weise ist der Analytiker auch ein Darsteller der Psychoanalyse, etwa wenn er Stellung nimmt zu den Vereinfachungen und Verzerrungen der Psychoanalyse in den Massenmedien. Lacan hat sich in einem Interview mit France Culture so geäußert: »Um über Analyse sprechen zu können, muß man zumindest in sie eingetreten sein, was nicht ausschließt, daß unter gewissen Bedingungen es schwierig ist, mit ihr fertig zu werden (aus ihr herauszukommen, mit ihr zurechtzukommen; de s’en sortir).«36

Es sei deshalb »besser, wenn der Analytiker, dem zum Glück nicht die gesamte Tätigkeit obliegt, weiß, was er tut. Wissen, was er tut, heißt wissen, in welchem Diskurs er steckt, weil dies die Ordnung des Tuns bedingt, zu dem er imstande ist.« 36

Jacques Lacan (1973): Interview mit France Culture (Text in der InternetFassung der Autres Écrits, S. 1460). Parue dans Le coq-héron, 1974, n° 46/47, S. 3–8.

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Daß ein Analytiker einigermaßen weiß, was er tut, ist nicht allein wichtig in bezug auf die Analysanten und in bezug auf die psychoanalytische Forschung: beispielsweise zu Fragen des Endes einer Kur oder der Beendigung einer Sitzung. Es ist nicht unerheblich, wie er etwas wahrnimmt und wie er versucht, das Wahrgenommene und das daraus Erschlossene zur Darstellung zu bringen; was folgt daraus für Deutungen, die er eventuell gibt, und für seine weitergehende theoretische Arbeit, für die Transmission der Psychoanalyse? Lacan und Freud weisen immer wieder auf die Wichtigkeit einer analytischen Gemeinschaft bzw. des Gedankenaustauschs unter Kollegen für die Arbeit an diesen Fragen hin. Auch beim Analytiker gibt es die der Zensur gehorchende Bedingung einer Rücksicht auf Darstellbarkeit – und zwar bei seiner psychoanalytischen Arbeit und in bezug auf sie. Da jede Darstellung hat Rücksicht nehmen müssen, nicht rücksichtslos sein kann, behindert sie die psychoanalytische Forschung. Doch geht es nicht ohne sie; die Erforschung des Realen kommt nicht ohne »die Sprache unserer Wahrnehmungen« aus, nicht ohne ein Minimum an Veranschaulichung. Dies bezieht sich nicht nur auf das Erschließen des Realen (was man darüber sagen kann), sondern auch darauf, was der einzelne Analytiker von dem weiß, was er tut. Freud hat sich gefragt, wie man das darstellen kann, was nicht übersetzbar ist. Mit der bekannten Äußerung, manche seiner Fallgeschichten seien wie Novellen zu lesen, bekundet er übrigens zugleich ein Ungenügen an dieser Darstellungsform37. Zwar vermittelt das Novellenhafte »Leidensgeschichte«, »Krankheitssymptome« und »Heilungsgeschichte« der Patientinnen, doch braucht Freud zur Darstellung der »Überdeterminierung« weitere Mittel38, nämlich eine »algebraische Darstellung der Vorstellungsmechanik«. Wir kennen ja neben seinen Analogien mannigfaltige Strukturskizzen39, Topiken, Zeichnungen, Tabellen usw., mit denen 37 38

39

Sigmund Freud (1901): Bruchstück einer Hysterieanalyse. G.W. V, S. 220. Die berühmte erste Stelle findet sich in Studien über Hysterie, 1895, G.W. I, S. 227; Epikrise, S. 233/234. Freuds Graphiken einer Struktur, eines Aufbaus, etwa der »Umschriften« im psychischen Apparat (in den Briefen an Fließ, S. 218, 112. Brief) oder der »Architektur der Hysterie« (ebd., S. 263).

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Erschließen und Übersetzen in der Psychoanalyse

Freud versucht, sich, seinen Kollegen und auch einem größeren Publikum etwas von dem, was er erschließt, begreifbar, anschaulich zu machen. Und »eine Versinnlichung der Art, wie ich mir die Funktion unseres seelischen Wahrnehmungsapparats vorstellen wollte«40, findet er in dem Schreibgerät Wunderblock. Mit dessen Hilfe illustriert er u. a., daß »unser seelischer Wahrnehmungsapparat […] aus zwei Schichten [besteht], einem äußeren Reizschutz, der die Größe der ankommenden Erregungen herabsetzen soll, und aus der reizaufnehmenden Oberfläche dahinter, dem System W-Bw.«41 Daß das Zusammenspiel dieser beiden Schichten dem Psychoanalytiker selbst zu schaffen macht, wird von Freud mehrmals betont: das Wahrnehmen des Analytikers sei wach, aufnahmsbereit zu halten (gleichschwebende Aufmerksamkeit), seine Wahrnehmungsorgane dürften weder durch überkommenes Wissen verkrustet, noch durch bestimmte Erwartungen gefärbt, sondern müßten immer für die Überraschung offen sein. Dem steht entgegen, daß jeder von uns sich einen Reizschutz geschaffen und ausgebaut hat. Zu einem Thema wird dieser meist nur in Situationen, in denen sich bei dem einzelnen Analytiker ein Angstsignal meldet bzw. eine Angstreaktion eintritt, was anzeigt, daß sein eigenes Begehren ins Spiel gekommen ist. Was macht er nun, was macht er daraus? Wendet er sich ab? Blendet er etwas aus? Macht er eine Pause? Muß er sich betäuben? »Es scheint also, daß zahlreiche Analytiker es erlernen, Abwehrmechanismen anzuwenden, die ihnen gestatten, Folgerungen und Forderungen der Analyse von der eigenen Person abzulenken, wahrscheinlich indem sie sie gegen andere richten, so daß sie selbst bleiben, wie sie sind, und sich dem kritisierenden und korrigierenden Einfluß der Analyse entziehen können. Es mag sein, daß dieser Vorgang dem Dichter recht gibt, der uns mahnt, wenn einem Menschen Macht verliehen wird, falle es ihm schwer, sie nicht zu mißbrauchen.«42 40

41 42

Sigmund Freud (1925a [1924]): Notiz über den ›Wunderblock‹. S.A. III, S. 369. Ebd., S. 368. Sigmund Freud (1937c): Die endliche und die unendliche Analyse. G.W. XVI, S. 95. (Freud weist an dieser Stelle auf Anatole France: La révolte des anges, hin.)

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Es sieht ja so gemütlich aus: der eine liegt auf der Couch, der andere ist in seinen Sessel hingefläzt. Freud sah sich nicht von ungefähr veranlaßt, auf die Gefahren der Psychoanalyse hinzuweisen, und zwar Gefahren für den Analytiker. Daß der Analytiker weiß, was er tut, ist auch wichtig in bezug auf ihn selbst. Freud führt diese Frage 1937 in Die endliche und die unendliche Analyse mithilfe eines anderen Technik-Bildes ein; es stammt aus dem Bereich dessen, was Lacan »das Reale der Wissenschaft« nennt und das uns in den Medien immer wieder als Schreckensmeldung begegnet (Tschernobyl, Biotechnologie): »Mitunter drängt sich dem um ein Verständnis Bemühten die unliebsame Analogie mit der Wirkung der Röntgenstrahlen auf, wenn man ohne besondere Vorsichten mit ihnen hantiert. Es wäre nicht zu verwundern, wenn durch die unausgesetzte Beschäftigung mit all dem Verdrängten, was in der menschlichen Seele nach Befreiung ringt, auch beim Analytiker all jene Triebansprüche wachgerüttelt würden, die er sonst in der Unterdrückung erhalten kann. Auch dies sind ›Gefahren der Analyse‹, die zwar nicht dem passiven, sondern dem aktiven Partner der analytischen Situation drohen, und man sollte es nicht unterlassen, ihnen zu begegnen. Es kann nicht zweifelhaft sein, auf welche Weise. Jeder Analytiker sollte periodisch, etwa nach Verlauf von fünf Jahren, sich wieder zum Objekt der Analyse machen, ohne sich dieses Schrittes zu schämen. Das hieße also, auch die Eigenanalyse würde aus einer endlichen eine unendliche Aufgabe, nicht nur die therapeutische Analyse am Kranken.«43

Beim Analytiker ist also nicht nur das eigene Es eine Gefahrenquelle, sondern auch das fremde Es44. Dieses wirkt nicht bloß in Gestalt der Liebes- und Haßregungen auf ihn ein, die ihm Tag für Tag entgegengebracht werden und denen er widerwillig oder freudig begegnet, sondern als durch analytische Zerlegung freigesetzte Libido. Sie gefährdet ihn als eine unsichtbare Nebenwirkung der Arbeit, die etwas ›sichtbar‹ macht (analysieren = röntgen). Ausgehend von dem Freudschen Bild einer nicht sinnlich wahrnehmbaren Strahlenbelastung kann man nun von ›Libidobelastung‹ sprechen, die im Analytiker unterdrückte Triebansprüche aktiviert. 43 44

Ebd. Sigmund Freud: Abriß. A. a. O., S. 130.

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Erschließen und Übersetzen in der Psychoanalyse

Diese und die Abwehrreaktionen des Analytikers gegen solche ›Verstrahlungsfolgen‹ widerstreben den Erfordernissen der psychoanalytischen Tätigkeit. Daraus ergeben sich Fragen, die die Wahrnehmung des Analytikers betreffen: Wie wirkt dieser Schutz, den jeder aufbaut, sich auf die Aufnahmsfähigkeit aus? Beschönigt er (sich selbst gegenüber) etwas? Will er nichts mehr, nicht mehr so viel wissen vom Unbewußten? Fängt er an, Sinndeutungen zu geben, um das ihn Beunruhigende zuzustopfen oder zu isolieren? Wie können wir dessen gewahr werden? Hier kommt es leicht zu einem Konflikt zwischen zweierlei Übersetzung. Das »Übersetzen in die Sprache unserer Wahrnehmungen« wird durch ein anderes Übersetzen – nämlich das zwischen Latentem und Manifestem – immer wieder behindert. Dieses führt statt zum Erschließen zu einem Verschließen, wenn wir vorschnell in dem, was uns in einer Analyse begegnet, einen Sinn suchen, weil wir uns vor etwas Beunruhigendem schützen müssen45. Das Abschotten und die Verknöcherung des Wahrnehmungsapparats verhindern, daß der Analytiker überhaupt aufnahmsfähig ist für das Überraschende, das vom Analysanten kommt. Eines dieser Momente sind die Fehlschlüsse durch Bilder, durchs Verstehenwollen. Im bezug auf die Traummechanismen schreibt Freud, unser »waches (vorbewußtes) Denken« benehme sich gegenüber jedem »beliebigen Wahrnehmungsmaterial ganz ebenso wie die […] [sekundäre Bearbeitung; CDR] gegen den Trauminhalt. Es ist ihm natürlich, in einem solchen Material Ordnung zu schaffen, Relationen herzustellen, es unter die Erwartung eines intelligibeln Zusammenhangs zu bringen. […] In dem Bestreben, die gebotenen Sinneseindrücke verständlich zusammenzusetzen, begehen wir oft die seltsamsten Irrtümer oder fälschen selbst die Wahrheit des uns vorliegenden Materials.«46

Die psychoanalytische Arbeit ist darauf ausgerichtet, aus Symptomen und weiteren Bildungen des Unbewußten das Begehren 45

46

Jutta Prasse setzte sich damit im Zusammenhang mit dem Kannitverstan auseinander; vgl. Jutta Prasse: Fremdsprache. A. a. O., S. 90. Sigmund Freud: Traumdeutung. S.A., S. 480.

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hervorzulocken und dem Unbewußten einen Auftritt zu verschaffen. Und genau hierbei erweisen die schwierig zu bezwingenden Übertragungsphänomene dem Psychoanalytiker »den unschätzbaren Dienst […], die verborgenen und vergessenen Liebesregungen der Kranken aktuell und manifest zu machen, denn schließlich kann niemand in absentia oder in effigie erschlagen werden«47.

Doch der Analytiker bekommt dabei einiges ab. Wie trägt, wie erträgt er das Übertragene? Während die Röntgenuntersucher, die beim Blick auf den Bildschirm, auf dem sich ein anderer Schauplatz abzeichnen sollte, damals selbst von den Strahlen beschossen wurden, früher oder später an Leukämie starben, weist Freud dem Psychoanalytiker einen Ausweg: alle fünf Jahre … Ich habe bislang von keinem Analytiker gehört, daß er diese Vorsichtsmaßnahme praktiziert. Sollte es zu peinlich sein, dies zu tun und kundzutun? Oder ist Freuds Warnung nicht mehr zeitgemäß? Gibt es analog zu der fortgeschritteneren Röntgen-Technik eine Analysetechnik, die diese Gefahren reduzierte oder ausschlösse? Übrigens: Wieso sollten – wie Freud andeutet – die Analytiker sich schämen, »sich wieder zum Objekt der Analyse [zu] machen«? Hätte das etwas mit der Position eines »passiven« Partners zu tun? Und mit der schwer erträglichen Vorstellung, nicht fertig zu sein, nicht fertig zu werden mit etwas Beunruhigendem? Hingegen scheint mir, daß die Lacansche Konzeption der Kontrollanalyse der Funktion dessen entspricht, was Freud mit seinem Fünf-Jahres-Vorschlag beabsichtigte. Sie ist nicht die vom Neuling zu absolvierende Wegstrecke unter »Aufsicht älterer, erfahrener Analytiker«48, wie in der ersten Konzeption der Berliner Psychoanalytischen Poliklinik, deren Modell sich weit verbreitet hat, und wobei der Kontrollanalytiker ein Besserwisser ist und ›die bessere 47

48

Ebd., S. 168. An anderer Stelle schreibt Freud: »[…] daß man keinen Feind umbringen kann, der abwesend oder nicht nahe genug ist« (Freud, S. (1914g): Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. S.A. Erg. Bd. Behandlungstechnik, S. 212). »[…] genießen die Aufsicht älterer, erfahrener Analytiker«; »unter der Kontrolle erfahrener Praktiker« (Sigmund Freud (1926e): Die Frage der Laienanalyse. S.A. Erg. Bd., S. 319 u. S. 336).

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Erschließen und Übersetzen in der Psychoanalyse

Übersetzung‹ hat, sondern ein Dispositiv, in dem der in Not und Angst geratene Analytiker seinem eigenen Analytikerbegehren anders begegnen und an ihm arbeiten kann. Die Kontrollanalyse als seconde vue stellt die premiere vue in Frage: »auf den ersten Blick« sieht es so und so aus, »auf den zweiten Blick« aber …49 Im Sprechen des Analytikers in Kontrolle zum Kontrollanalytiker erscheint eine Brechung des Diskurses des Analysanten. Durch ihre Ausrichtung auf das Begehren-des-Analytikers ist die Lacansche Kontrollanalyse ein Ort, an dem das sich immer wieder herstellende allzu Bildhafte zersetzt wird. Für die Aufrechterhaltung der Aufnahmsfähigkeit und für die Übersetzung in die Sprache unserer Wahrnehmungen reicht nicht eine einmal abgeschlossene Analyse. Denn bei seiner Arbeit des Übersetzens, Erratens, Erschließens hat der Analytiker permanent mit zwei Herausforderungen an sein savoir und an sein savoir faire zu tun: Umgang mit der eigenen Unvollkommenheit, mit dem eigenen Nichtwissen und dem eigenen Wissen (Dimension der Überraschung), und Umgang mit der Libido bei der Arbeit mit dem fremden Es. Innnerhalb der größeren, kulturellen Jargonbahnen bildet jeder – verbunden mit seinem Phantasma, seinem Individualmythos – eine Art inneren Jargons, der seine Wahrnehmung betoniert. Im Umgang mit alten Leitsätzen und mit neueren Slogans wie »Ein Analytiker stellt keine Fragen!« ergibt sich immer wieder die Notwendigkeit, sich aus dem Jargon herauszuarbeiten, sei er nun freudianisch, postfreudianisch, lacanianisch … Daher ist ein Bezug zu dem, was man macht, was man erfährt, notwendig. Nicht nur im Sinne eines Darüber-Redens, sondern auch mit Rücksicht auf die Auswirkung theoretischer Annahmen auf die Praxis. Und in diesem Punkt treffe ich mich wieder mit Jutta Prasse, dem Gegenüber, das ich verloren habe.

49

In der deutschen Ausgabe der Schriften ist seconde vue fälschlicherweise als »das zweite Gesicht« übersetzt worden. Jacques Lacan (1953): Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse (übers. v. K. Laermann). In: Schriften I. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1973, S. 91.

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Michael Meyer zum Wischen

Zu Jutta Prasses »Fremdsprache«

Unter dem Titel Fremdsprache1 hat Jutta Prasse einen Vortragstext für die Tagung Übertragung – Übersetzung – Überlieferung im Juli 2000 in Kassel verfaßt. Er kann als eine Art Umschrift einer früheren Arbeit verstanden werden, die auf dem Kongreß Le sujet de l’inconscient et les langues der Fondation Européenne pour la Psychanalyse in Dublin zu hören gewesen war: Le désir des langues étrangères. Ich denke, daß wir beim Lesen dieses Textes zu vielen Fragen geführt werden, die mit dem Thema »Rücksicht auf Darstellbarkeit« verbunden sind. Wie über Psychoanalyse sprechen, in welcher Sprache das Unsagbare doch zu Gehör bringen, das Undarstellbare doch zur Anschauung gelangen lassen? Wie läßt sich psychoanalytische Erfahrung lebendig vermitteln und der Gefahr begegnen, dabei in theoretische Formelhaftigkeit oder schamlose Enthüllung zu verfallen? Wie läßt sich etwas von der je eigenen subjektiven Begegnung mit dem Unbewußten sagen, was einen anderen erreichen kann, ihn vielleicht zu einem anderen Hören ermutigt? Jutta Prasse schreibt, daß sich beim Verfassen ihres Textes »ein Stückchen persönlicher Analyse« abgewickelt hat. Die Teilhabe an dieser Erfahrung eröffnet den Lesern einen Zugang zu dem, was Psychoanalyse ausmacht: Es sprechen zu lassen, das Subjekt des Unbewußten, das ja im Titel der Dubliner Tagung enthalten war. Jutta Prasse gewährt uns durch diesen Text einen Zugang zu einem »Stückchen« ihrer Selbstanalyse, es ist ein Geschenk, das für mich noch post mortem etwas von ihrem Begehren leben läßt – einem désir des langues étrangères. Vor allem die Fremdsprachen ermöglichen oft besser als die Muttersprache, etwas vom Begehren des Subjekts hören zu können. Dies geschieht gerade auch in den 1

Jutta Prasse (2004): Fremdsprache. In: dies. Sprache und Fremdsprache. Psychoanalytische Aufsätze. Hg. von Claus-Dieter Rath, Bielefeld (transcript), S. 79–90.

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Zu Jutta Prasses »Fremdsprache«

Fehlleistungen, wie das von Jutta Prasse geschilderte Beispiel so eindrücklich nachvollziehen läßt. Hier taucht das Wort fermer, »schließen«, auf, das sich für mich auch im Hinhören auf die Bewegung des Textes vernehmen läßt. Öffnen und schließen: Das Pulsieren des Unbewußten. Es läßt sich etwas sagen, aber nicht alles. Dies findet sich auch in dem Reim, den Jutta Prasse zitiert, der für ihre Selbstanalyse so wichtig war: »Le boeuf, der Ochs, la vache, die Kuh, Ferme la porte, die Türe zu.« Erst Öffnung, etwas kann gesagt werden, bekommt Gewicht, dann wird die Tür geschlossen, es wird wieder geschwiegen. So als käme das Öffnen und Schließen des Mundes hier selbst zu Gehör. Wenn es in der Psychoanalyse um ein Sprechen und Hören am Rande des Realen geht, dann treffen wir in diesen Zeilen auch auf das, was bei Freud als Kern unseres Wesens auftaucht: das Reale von Sexualität und Tod. So begegnen wir der Urszene, dem Rätsel der Geschlechtlichkeit und dem letzten Schließen einer Tür, durch die wir alle gehen müssen. Daß dies die entscheidenden Bezugspunkte einer Psychoanalyse sind, die sich auf die Lektüre Freuds bezieht, dessen kann man heute kaum noch gewahr werden, wenn man das meiste in Betracht zieht, was über Psychoanalyse gesagt und geschrieben wird. Jutta Prasse läßt in ihrem Text Tod und Sexualität zur Sprache kommen, und zwar in zweierlei Form. Sie folgt auch hier Freud, der seine Entdeckung des Unbewußten am Beispiel der eigenen Analyse, vor allem seiner Träume, Fehlleistungen und Deckerinnerungen zur Darstellung brachte, aber auch am Beispiel literarischer Texte. So findet sich im Text Jutta Prasses Johann Peter Hebels Kalendergeschichte Kannitverstan. In dieser Erzählung aus dem Rheinischen Hausfreund, als welcher ich nun, aus Köln kommend, gewissermaßen auftrete, stößt ein süddeutscher Handwerksgeselle in Amsterdam auf ein schönes Haus, ein schönes Schiff, und auf die Frage nach dessen Besitzer erhält er jeweils zur Antwort »Kannitverstan«. Als er auch auf sein Nachfragen, wer der Verstorbene auf einem Leichenzug sei, »Kannitverstan« hört, ruft er aus: »Armer Kannitverstan! […] was hast du von allem deinem Reichtum?« Jutta Prasse schreibt, daß dieser Handwerksbursche nicht weiß, daß er nach einem Signifikanten für sein Begehren fragt, »daß er nach dem Namen des unbekannten Besitzers fragt, um dessen Besitz zu begehren, ihn in der benannten Distanz zu sich 275

Michael Meyer zum Wischen

selbst darum beneiden zu können«. Wir lesen weiter, daß gerade dieses Mißverständnis zu einer Wahrheit führt: daß »selbst der ›Kannitverstan‹, nämlich einer, der nicht versteht, daß dieser fremde Reichtum, der ihn so beeindruckt, zwar unermeßlich sein mag, aber daß ein menschlicher Inhaber solchen Reichtums in seinem Sein nicht an dieser Unermeßlichkeit oder Unendlichkeit partizipieren kann, weil er eben menschlich und sterblich ist, weil im menschlichen, d. h. sprachlichen Zugang zum Realen, selbst im menschlichen Besitz materieller Güter, immer etwas aufklafft und fehlt.« So, lesen wir, heißt jeder Menschenname: »Du wirst einmal sterben.« In diesem Namen klingt zugleich mit der Sterblichkeit aber auch die Möglichkeit des Begehrens an, das immer unerfüllt bleiben muß. Mich haben diese Passagen des Textes an etwas erinnert, das ich wohl lange vergessen hatte: daß mir mein Vater in der Kindheit gerade diese Geschichte häufig vorlas und ich sie immer wieder hören wollte. Der Klang des Namens »Kannitverstan« hatte mir dabei in all seiner Lautmalerei großes Vergnügen bereitet, und es war mir ein besonderer Genuß, ihn ein um das andere Mal selber auszusprechen und dabei herzhaft zu lachen. Eines Tages erzählte mir mein Vater, daß er auch so eine Art »Kannitverstan« gewesen sei, als er Anfang 1945 desertierte und sich als holländischer Zwangsarbeiter ausgab, auf dem Weg in die niederländische Heimat. Er war auf einem niedersächsischen Bauernhof aufgewachsen und sprach plattdeutsch, was dem niederländischen ja verwandt ist. Ich erfuhr so, daß mein Vater eine mir fremde Sprache sprach, eine Sprache, die ihm geholfen hatte, einem Begehren zu folgen und im Rahmen seiner Möglichkeiten zu widerstehen. Erst beim Lesen von Jutta Prasses Text wurde mir klar, daß es mehrere Momente in meinem Leben gab, an denen ich »Kannitverstan« sagte und einen anderen Weg ging, als er mir vorgezeichnet schien, und daß dieser, mit meinem Vater verbundene, Name es mir ermöglichte, meinem Begehren zu folgen. Diese Erfahrung mit dem Text unterstreicht etwas anderes, was Jutta Prasse hier sagt: daß es häufig zufällige Begegnungen sind, wie die ihre bei der Apertura-Tagung in Straßburg, die ein weiteres Stück eigener Analyse in Gang setzen, oft wohl nach der Analyse, die man auf einer Couch gemacht hat. Immer wieder öffnet sich der »Tresor von Zufällen«, der die Sprache ist, wie Jutta Prasse schreibt. Die Konfron276

Zu Jutta Prasses »Fremdsprache«

tation mit ihrer Verwechslung von fermer und arrêter – über das Mittelglied des italienischen fermare – eröffnete ihr einen Zugang zur Urszene, der in der früheren Analyse noch nicht möglich gewesen war. Jutta Prasse schreibt, daß zwar eine Konstruktion schon ausgesprochen, daß sie von dieser aber nicht erfaßt worden war. »Erst mit dem Erlebnis im Taxi«, schreibt sie, »das in der rue Kageneck (Eck!) halten sollte, als ich halten und schließen verwechselte und mich deswegen so unverhältnismäßig schämte, kam das Erlebnis wirklich in der Sprache an, wurde es mir in seiner sprachlichen Dimension bewußt.« Die folgende Erinnerung an den deutsch-französischen Reim, der die Übersetzungsmöglichkeit unterschiedlicher Sprachen verdeutlicht, öffnete einen Raum für die neue Übersetzung der Urszene. Jutta Prasse macht uns als Leser ihrer Selbstanalyse zu Zeugen einer Eröffnung des Unbewußten, einer apertura, und gleichzeitig einer Schließung, eines Halts, wo das Sprechen an die Grenze des Unsagbaren stößt. Dies scheint mir eine Möglichkeit zu sein, über Psychoanalyse zu sprechen und etwas von der analytischen Erfahrung hörbar werden zu lassen. Der Punkt, an dem wir jeweils auf-hören, kann so ermöglichen, daß auch andere auf etwas hören können.

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Autorinnen und Autoren

Birgit Althans, Erziehungswissenschaftlerin (PD, Dr. phil.) an der Freien Universität Berlin im Arbeitsbereich Anthropologie und Erziehung am Institut für Allgemeine Pädagogik. Forschungsschwerpunkte: Pädagogische Anthropologie, gender und cultural studies, Historische Managementstudien. Laufendes Forschungsprojekt: »Lernen im Ritual – Lernen mit dem Körper« innerhalb des DFGSonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen«. Claus von Bormann, geb. 1936, Dr. phil., evang. Theologe (Pastor), Dozent für Philosophie i. R. und seit den 90er Jahren Psychoanalytiker in eigener Praxis. Schwerpunkt der Arbeit: philosophische Theologie, besonders zu Kierkegaard, praktische Philosophie und Hermeneutik sowie der Grenzbereich von Philosophie und Psychoanalyse in Ausarbeitung der durch Lacans Theorie der Psychoanalyse vorgegebenen Fragestellung. Gründungsmitglied der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse (AFP). Robin Cackett studierte Philosophie, Psychologie und Soziologie in Basel, Heidelberg und Berlin. Arbeitet als Übersetzer und als Psychoanalytiker in eigener Praxis in Berlin. Gründungsmitglied der Freud-Lacan-Gesellschaft. Psychoanalytische Assoziation Berlin. Jean Clam ist Forscher am Centre National de la Recherche Scientifique (Paris/Berlin) und arbeitet an Fragestellungen der Intimität und Sexualität im Grenzbereich zwischen Soziologie und Psychoanalyse. Norbert Haas, geb. 1942 in Vaduz, Liechtenstein. Lebt in Berlin und Restorf. Psychoanalytiker in freier Praxis, Übersetzer und Publizist. 1972–74 Dozent, 1974–80 Professor für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Darmstadt. Veröffentlichungen zur Literatur, Psychoanalyse und Kunst. Gründungsmitglied der Sigmund-Freud-Schule Berlin. Mitherausgeber der deutschen Ausgabe des Werks von Jacques Lacan. Mitherausgeber der Zeitschrift »Der Wunderblock«. 279

Autorinnen und Autoren

Tanja Jankowiak ist Architektin und Kulturwissenschaftlerin und lehrt als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bauhaus-Universität Weimar. Seit 2002 ist sie Mitglied der Freud-Lacan-Gesellschaft. Psychoanalytische Assoziation Berlin. Hinrich Lühmann, Dr. phil., Direktor des Humboldt-Gymnasiums Berlin, Psychoanalytiker in eigener Praxis, Gründungsmitglied der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse und der FreudLacan-Gesellschaft. Psychoanalytische Assoziation Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Literatur und Psychoanalyse, Pädagogik und Psychoanalyse. Michael Meyer zum Wischen, Dr. med., Psychoanalytiker in Köln. Mitglied der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse und der Freud-Lacan-Gesellschaft, Psychoanalytische Assoziation Berlin. Mitbegründer des Psychoanalytischen Kollegs. Besondere Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Psychoanalyse und ihrer Weitergabe (besonders der psychoanalytischen »Technik«), Psychose. Hans Naumann, Psychoanalytiker und Übersetzer aus dem Französischen und Englischen; langjähriges Mitglied der SigmundFreud-Schule Berlin; Gründer des Lehrhauses der Psychoanalyse Hamburg e. V. Karl-Josef Pazzini lehrt Bildungstheorie und Bildende Kunst an der Universität Hamburg und ist Psychoanalytiker in eigener Praxis, Koordinator des Psychoanalytischen Kollegs, 2. Vorsitzender der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse (AFP). Zahlreiche Veröffentlichungen zu Psychoanalyse, Ästhetischer Bildung, Bildender Kunst, Medien und Museum. 2005 erschienen zusammen mit M. Schuller/M. Wimmer: »Wahn, Wissen, Institution«. Zusammen mit S. Gottlob: »Einführungen in die Psychoanalyse«. Beide Bielefeld (transcript). S. a. http://kunst.erzwiss.uni-hamburg.de. Dieter Pilz, Dr. phil., Dipl.-Psych., seit 1974 tätig in Forschung, Lehre u. Therapie im Feld Spracherwerb in Berlin; seit 1990 ebendort arbeitend in einer Praxis für Psychotherapie und Psychoanalyse. 280

Autorinnen und Autoren

Claus-Dieter Rath, Psychoanalytiker in Berlin. Gründungsmitglied von: Fondation Européenne pour la Psychanalyse (1991); Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse (1994); Freud-Lacan-Gesellschaft. Psychoanalytische Assoziation Berlin (1997); Psychoanalytisches Kolleg (2004). Veröffentlichungen über Fragen der psychoanalytischen Praxis, der Geschichte der Psychoanalyse und über die Massenpsychologie des Alltagslebens. Mitherausgeber von (mit Jutta Prasse): »Lacan und das Deutsche. Die Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein«. Freiburg i. Br. (Kore) 1994. (mit André Michels, Peter Müller, Achim Perner): »Jahrbuch für klinische Psychoanalyse«. Tübingen (edition diskord) 1998 ff. Herausgeber der Textauswahl »Jutta Prasse: Sprache und Fremdsprache. Psychoanalytische Aufsätze«, Bielefeld (transcript) 2004. Françoise Samson, Psychoanalytikerin in Paris. Zahlreiche Veröffentlichungen in deutscher und französischer Sprache, Mitarbeiterin an der französischen Ausgabe des Briefwechsels von Freud und Ferenczi. Mitglied der École de Psychanalyse Sigmund Freud und der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse. Marianne Schuller, Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Zwischenzeitlich Dramaturgin am deutschen Schauspielhaus in Hamburg und am Bremer Theater. Mitarbeit im Psychoanalytischen Kolleg. Letzte Buchpublikationen (Auswahl): »Wahn – Wissen – Institution. Undisziplinierbare Annäherungen« (zus. mit Karl-Josef Pazzini, Michael Wimmer), Bielefeld 2005; »Mikrologien. Philosophische und literarische Figuren des Kleinen« (zus. mit Gunnar Schmidt), Bielefeld 2003. Regula Schindler, lic. phil. I, Psychoanalytikerin in freier Praxis, Zürich. Im Vorstand des Lacan Seminars Zürich. Buchbeiträge zum Grenzverkehr zwischen Psychoanalyse und Kunst (A. Giacometti), Philosophie/Literatur (Benjamin, Kleist, Claudel), Psychiatrie (L. Binswanger). Aufsätze zur psychoanalytischen Topologie, Begrifflichkeit und Klinik. Antonello Sciacchitano, Psychiater und Psychoanalytiker in Mailand. War Mitglied und auch Gründer mehrerer Psychoanalytischer 281

Autorinnen und Autoren

Assoziationen. Veröffentlichungen in psychoanalytischen Zeitschriften versch. Länder. Bücher: »Anoressia, sintomo e angoscia Milano« (Guerini) 1994; »Il terzo incluso. Saggio di logica epistemica«, Firenze (Shakespeare and Company) 1995; »Wissenschaft als Hysterie«, Wien (Turia und Kant) 2001; »Das Unendliche und das Subjekt«, Zürich (Riss Verlag) 2004. Bernhard Schwaiger, Anstaltspsychologe in Mecklenburg-Vorpommern. Mitglied der Freud-Lacan-Gesellschaft Berlin. Veröffentlichungen: »Vom Zeichen zur Sprache« (Reader der FLG, 1999); »Bildersprachen« (Konkursbuch 41, 2003); »Sprache in der Institution« (Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung, 2003). Antke Tammen, Psychiaterin am Niedersächsischen Landeskrankenhaus Wunstorf. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Sozialpsychiatrie. Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: Ludwik Fleck, Theorien ambulanter Wissenschaft. Laufendes Forschungsprojekt zur Gynäkologiegeschichte. Cornelius Tauber, geb. 1960. Studium der Philosophie, Soziologie und Psychologie in Berlin. 1988–1993 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Kassel, danach Architekturstudium in Berlin. 1999 Gründung des Architekturbüros mit Annegret Liebscher-Tauber. Mitglied der Freud-Lacan-Gesellschaft Berlin und des Psychoanalytischen Kollegs. Publikationen zur Psychoanalyse und zur Architektur/Kultur, z. B. »Außenhaut und Innenleben in der Architektur« (1999); »Künstler rede nicht, bilde! – Die Sprachtheorie des Künstlers Hugo Ball« (2004). Peter Widmer, Psychoanalytiker in eigener Praxis in Zürich; Gastprofessur an der Universität Kyoto und an der Columbia University; Initiant und Mitbegründer der psa. Zeitschrift RISS; Autor von »Subversion des Begehrens. Jacques Lacans zweite Revolution der Psychoanalyse«, 1990 (Fischer TB; Neuauflage bei Turia & Kant, 1998), und von »Angst. Erläuterungen zu Lacans Seminar X«, (transcript, 2004). Mitbegründer der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse (AFP) und des Lacan Seminar Zürich.

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Autorinnen und Autoren

Ilsabe Witte, Dr. med., Kinder- und Jugendpsychiaterin und Psychoanalytikerin in Berlin. Veröffentlichungen zur analytischen Praxis. Mitglied der Freud-Lacan-Gesellschaft. Psychoanalytische Assoziation Berlin.

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Weitere Titel dieser Reihe:

Karl-Josef Pazzini, Susanne Gottlob (Hg.) Einführungen in die Psychoanalyse II Setting, Traumdeutung, Sublimierung, Angst, Lehren, Norm, Wirksamkeit

Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) Wahn – Wissen – Institution Undisziplinierbare Näherungen (unter Mitarbeit von Jeannie Moser)

Januar 2006, ca. 150 Seiten, kart., ca. 15,80 €, ISBN: 3-89942-391-7

Februar 2005, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-284-8

Erik Porath Gedächtnis des Unerinnerbaren Philosophische und medientheoretische Untersuchungen zur Freudschen Psychoanalyse

Jutta Prasse Sprache und Fremdsprache Psychoanalytische Aufsätze (herausgegeben von Claus-Dieter Rath)

Oktober 2005, 542 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 3-89942-386-0

Karl-Josef Pazzini, Susanne Gottlob (Hg.) Einführungen in die Psychoanalyse I Einfühlen, Unbewußtes, Symptom, Hysterie, Sexualität, Übertragung, Perversion April 2005, 160 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 3-89942-348-8

2004, 212 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 3-89942-322-4

Manfred Riepe Intensivstation Sehnsucht Blühende Geheimnisse im Kino Pedro Almodóvars. Psychoanalytische Streifzüge am Rande des Nervenzusammenbruchs 2004, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 3-89942-269-4

Peter Widmer Angst Erläuterungen zu Lacans Seminar X 2004, 176 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-214-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Weitere Titel dieser Reihe: Marianne Schuller, Gunnar Schmidt Mikrologien Literarische und philosophische Figuren des Kleinen 2003, 182 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-168-X

Manfred Riepe Bildgeschwüre Körper und Fremdkörper im Kino David Cronenbergs. Psychoanalytische Filmlektüren nach Freud und Lacan 2002, 224 Seiten, kart., zahlr. SW-Abb., 24,80 €, ISBN: 3-89942-104-3

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de