Von der Freiheit und ihrer Verkehrung: Eine Studie zu Kant und den Bedingungen der Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft [Reprint 2011 ed.] 9783110924626, 3110178974, 9783110178975

This study aims to present the conditions allowing for a theory of society which is both objective and, at the same time

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German Pages 242 [244] Year 2003

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Table of contents :
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
1 Freiheit und Natur in der Kritik der reinen Vernunft
1.1 Freiheit und Natur in den transzendentalen Deduktionen
1.2 Zum System der kosmologischen Ideen
1.3 Kausalität aus Freiheit oder Kausalität nach Naturgesetzen
2 Freiheit und Natur in der Kritik der praktischen Vernunft
2.1 Zum Beweis der Freiheit
2.2 Zum Verhältnis von natura archetypa und natura ectypa
2.3 Die Äquivokation im Begriff der Typik der praktischen Vernunft
2.4 Die Naturbegriffe in der Kritik der Praktischen Vernunft
3 Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft
3.1 Die Einleitung der Kritik der Urteilskraft [2. Fassung]
3.2 Die Kritik der teleologischen Urteilskraft
4 Der Schluß auf das Absolute und die Einheit des Systems
4.1 Zum ontologischen Gottesbeweis
4.2 Zu den analogen Schlüssen auf das Dasein Gottes
4.3 Der Widerspruch in der Einheit des Systems
5 Zu den Bedingungen der Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft
5.1 Identität und Differenz der analogen Begründung der zweiten Natur nach der ersten Natur
5.2 Zum Prinzip der Organisation der Totalität der Individuen
5.3 Zur Verkehrung der Freiheit
5.4 Zum Begriff der Kritik
5.5 Die kritische Theorie als nicht-affirmative Theorie
Schluß und Ausblick
Literaturverzeichnis
Namenregister
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Von der Freiheit und ihrer Verkehrung: Eine Studie zu Kant und den Bedingungen der Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft [Reprint 2011 ed.]
 9783110924626, 3110178974, 9783110178975

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Till Streichert Von der Freiheit und ihrer Verkehrung

w DE

G

Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Gerhard Funke, Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Thomas M. Seebohm

144

Walter de Gruyter · Berlin * New York 2003

Till Streichert

Von der Freiheit und ihrer Verkehrung Eine Studie zu Kant und den Bedingungen der Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft

Walter de Gruyter · Berlin · New York

2003

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-017897-4 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.de > abrufbar.

© Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin

Vorwort Mein besonderer Dank für die Betreuung, Unterstützung und Begutachtung dieser Studie, die im Frühling 2002 als Dissertation der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Hannover vorgelegt wurde, gilt Prof. Peter Bulthaup, Universität Hannover, und Prof. Volker Gerhardt, Humboldt Universität zu Berlin. Für die fruchtbare Zeit als Visiting Scholar an der Boston University bin ich Prof. Henry E. Allison sehr dankbar. Für die Bereitschaft, immer wieder aufs neue Thesen und Fragen zu diskutieren danke ich Prof. Günther Mensching, Dr. Frank Kühne, Dr. Hans-Georg Bensch und Dr. Myriam Gerhard. Der Friedrich-Ebert-Stiftung gilt mein Dank für die Förderung der Promotion durch ein Stipendium. Daß Philosophie, die einmal überholt schien, sich am Leben erhalte, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward (Adorno, Negative Dialektik), scheint alle jene zu entlasten, die ihr - freiwillig oder unfreiwillig - den Rücken kehrten. Doch am Leben erhalten wird Philosophie nur durch diejenigen, die sie studieren, lehren, durchdenken und fortschreiben.

Bonn, im Juni 2003

Till Streichert

Inhaltsverzeichnis Vorwort Abkürzungsverzeichnis

V XI

Einleitung

1

1 Freiheit und Natur in der Kritik der reinen Vernunft

5

1.1 Freiheit und Natur in den transzendentalen Deduktionen 1.1.1 Transzendentale Deduktion nach der zweiten Fassung 1.1.2 Transzendentale Deduktion nach der ersten Fassung 1.1.3 Zur Materialität und Idealität von Erkenntnissen anhand des Unterschieds von mathematischen und dynamischen Kategorien

5 5 12 15

1.2 Zum System der kosmologischen Ideen 1.2.1 Die Idee der Natur in der transzendentalen Analytik 1.2.2 Kategorie und Idee

19 19 20

1.3 Kausalität aus Freiheit oder Kausalität nach Naturgesetzen 24 1.3.1 Regressive und progressive Synthesis, zur gespaltenen Totalität 24 1.3.2 Zur dritten Antinomie der reinen Vernunft 27 1.3.3 Zur Auflösung der dritten Antinomie 38 1.3.4 Freiheit im kosmologischen und Freiheit im praktischen Verstände...50 2 Freiheit und Natur in der Kritik der praktischen Vernunft

54

2.1 Zum Beweis der Freiheit 54 2.1.1 Die Offenbarung der Freiheit 54 2.1.2 Zum Verhältnis von Grund und Begründimg am Begriff der Freiheit 64 2.2 Zum Verhältnis von natura archetypa und natura ectypa

71

2.3 Die Aquivokation im Begriff der Typik der praktischen Vernunft

73

2.4 Die Naturbegriffe in der Kritik der Praktischen Vernunft

76

3 Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft

78

VIII

Inhaltsverzeichnis

3.1 Die Einleitung der Kritik der Urteilskraft [2. Fassung] 3.1.1 Der Grund der Einheit des Natur- und Freiheitsbegriffs 3.1.2 Zu den Vermögen des Gemüts 3.1.3 Das Prinzip der Urteilskraft und die Zweckmäßigkeit der Natur 3.1.4 Zum Begriff der Heautonomie 3.2 Die Kritik der teleologischen Urteilskraft 3.2.1 Die Reflexivität des Zwecks 3.2.2 Zum Naturzweck 3.2.3 Das System der Naturzwecke 3.2.4 Die Antinomie der teleologischen Urteilskraft 3.2.5 Anmerkungen zur Anmerkung des § 76, Regulativität und Konstitutivität der Ideen 3.2.6 Der Grund der Einheit von Mechanismus und Zweckursache 3.2.7 Der letzte Zweck der Natur und ihr Endzweck 3.2.8 Die Affirmation der Herrschaft 4 Der Schluß auf das Absolute und die Einheit des Systems

78 78 86 89 97 100 100 101 103 109 113 117 120 124 130

4.1 Zum ontologischen Gottesbeweis

130

4.2 Zu den analogen Schlüssen auf das Dasein Gottes 4.2.1 Kritik der reinen Vernunft 4.2.2 Kritik der praktischen Vernunft 4.2.3 Kritik der Urteilskraft

134 134 138 142

4.3 Der Widerspruch in der Einheit des Systems

149

5 Zu den Bedingungen der Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft

152

5.1 Identität und Differenz der analogen Begründung der zweiten Natur nach der ersten Natur 154 5.2 Zum Prinzip der Organisation der Totalität der Individuen

161

5.3 Zur Verkehrung der Freiheit 5.3.1 Zweck und Freiheit, Freiheit und Gesellschaft 5.3.2 Zur Bestimmung des ökonomischen Zwecks durch Marx 5.3.3 Die Verkehrung der Freiheit

170 170 174 178

5.4 Zum Begriff der Kritik

181

5.5 Die kritische Theorie als nicht-affirmative Theorie 5.5.1 Kritik und Selbstbewußtsein 5.5.2 Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie 5.5.3 Adorno: Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien

191 191 193 211

Inhaltsverzeichnis

IX

Schluß und Ausblick

215

Literaturverzeichnis

219

Namenregister

229

Abkürzungsverzeichnis Die Werke Kants werden, mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft, die nach der Ausgabe von Raymund Schmidt zitiert wird, nach der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften zitiert und, wie im folgenden angeben, abgekürzt. Die in der Kritik der reinen Vernunft mitgeführte A- bzw. BPaginierung wird an zweiter Stelle nach der Seitenangabe entsprechend angegeben. Mitgeführte Paginierungen in der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften werden, soweit vorhanden, ebenfalls an zweiter Stelle, nach der Seitenangabe, angegeben. Zusätzlich sind, soweit vorhanden, Paragraphen an dritter Stelle beigefügt:

Fortschritte

Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolfs Zeiten in Deutschland gemacht hat?, Kant's handschriftlicher Nachlaß, Bd. VD

GMS

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

In weltbürgerlicher Absicht

Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht

KpV

Kritik der praktischen Vernunft

KrV

Kritik der reinen Vernunft

KU

Kritik der Urteilskraft

KU l.Einl.

Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, Kant's handschriftlicher Nachlaß, Bd. VH

XII

Abkürzungsveizeichnis

Logik

Logik (Jäsche)

MdS

Die Metaphysik der Sitten

Prolegomena

Prolegomena

Reflexionen (Logik)

Kant's handschriftlicher Nachlaß, Bd. m , Logik

Reflexionen (Metaphysik)

Kant's handschriftlicher Nachlaß, Bd. V, Metaphysik zweiter Theil

Religion

Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft

Vorlesungen über Metaphysik

Vorlesungen über Metaphysik, 1. Einleitung, Prolegomena und Ontotogie nach Pölitz

Einleitung Nach Auskunft des Aristoteles'1 könne es von den Handlungen der Menschen keine Wissenschaft geben, da die Handlungen willkürlich bestimmbar, somit zufällig bestimmbar seien. Da Zufälliges nicht Gegenstand apodiktischer Urteile sein kann, könne es folglich keine Wissenschaft der Gesellschaft, die Resultat vergangener und aktueller menschlicher Handlungen ist, geben. Nicht nur die gesamten sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern auch die Möglichkeit dieser Wissenschaften selbst wäre mit dem alten, durchaus stichhaltigen Argument Aristoteles' in Zweifel zu ziehen. Giovanni Battista Vico, der seinen Versuch, die Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker zu bestimmen, nicht minder dem überlieferten Erkenntnisideal der Naturwissenschaften verpflichtet ansah, ging davon aus, daß die Erkenntnis dessen, was von Menschenhand selbst hervorgebracht sei, einen Wahrheitsanspruch erheben könne, der den Naturwissenschaften versagt bleiben müsse. Der Gedanke, daß die gesellschaftlichen Phänomene von Menschen hervorgebracht, damit aus Freiheit sind, und gerade deshalb eher den Vermögen der Erkenntnis angemessen seien als die Phänomene der Natur, steht den Versuchen, die gesellschaftlichen Phänomene dadurch als gesetzmäßig zu bestimmen, daß mechanische Modelle und mit ihnen die Negation der Freiheit zugrundegelegt werden, entgegen. Der Gedanke, daß das von Menschen Hervorgebrachte eher der Erkenntnis zugänglich sei als die Erscheinungen der Natur, ist auch als der spätere Gedanke Kants zu lesen, "daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt (...)."2 Doch für Kant stand die Erkennbarkeit der Natur ebenso wie deren Unabhängigkeit vom Willen außer frage. Ebensowenig hat Kant es sich zur Aufgabe gemacht, nach den Bedingungen der Möglichkeit von Gesellschaftswissenschaft zu fragen. Kant unterscheidet die Philosophie in die Naturphilosophie und die Moralphilosophie, deren explizite Gegenstände Natur und Freiheit sind. Die Naturphilosophie geht auf das, was da ist, die Moralphilosophie auf das, was da sein soll.3 Die daseienden Handlungen innerhalb der Gesellschaft und deren Resultate gehen jedoch nicht in der Dichotomie von Naturphilosophie und Moralphilosophie auf.

1 2 3

Aristoteles: Nikomacbische Ethik, 133 f., 1139b-1140a. KrV, 18, Β XIII. Vgl. KrV, 755, Β 868.

Einleitung

2

Sie sind vielmehr weder a priori als moralisch zu bestimmen4 noch sind sie Natur in der Bedeutung der ersten Natur, die Gegenstand der Naturwissenschaften ist. Sie sind aus Freiheit und doch erscheinen ihre Resultate als ob sie Natur wären. Daß diese Natur von der ersten Natur unterschieden ist, und so als zweite Natur bestimmt werden kann, ist bereits Ausdruck des Bewußtseins, daß die Ursache der zweiten Natur Freiheit ist. - Werden die daseienden Handlungen innerhalb der Gesellschaft zum Gegenstand von Wissenschaft, ist nach den Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Wissenschaft zu fragen. Die These meiner Untersuchung ist die, daß aus den kantischen Bestimmungen der Natur- und Freiheitsbegriffe, aus den Bestimmungen der Philosophie der Natur und der Philosophie der Moral, die im System der Philosophie zu vereinigen seien, Bedingungen einer Theorie der Gesellschaft zu entwickeln sind. Eine so bestimmte Wissenschaft der Gesellschaft könnte dem Erkenntnisideal der Naturwissenschaften verpflichtet sein, doch wäre sie zugleich wesentlich von den Naturwissenschaften unterschieden. Die These der Untersuchung läßt sich kurz spezifizieren: Erstens, es gibt eine Theorie der Gesellschaft, deren erkenntnistheoretische Bedingungen der Möglichkeit aus der theoretischen Philosophie Kants zu entwickeln sind. Der Bestimmung des Zwecks, des letzten Zwecks und des Endzwecks kommt hierbei eine herausragende Rolle zu. Zweitens ist zu zeigen, daß durch die kantische Unterscheidung der theoretischen von der praktischen Philosophie zu der erkenntnistheoretischen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit einer Theorie der Gesellschaft ein Kriterium gegeben ist, das eine moralische Beurteilung dessen, was erkannt wird, zuläßt. Drittens, eine Theorie der Gesellschaft, in die sowohl das Bewußtsein ihrer erkenntnistheoretischen Bedingungen eingegangen ist als auch das Bewußtsein der Möglichkeit, das, was in ihr erkannt ist, moralisch beurteilen zu können, wird eine kritische Theorie der Gesellschaft genannt werden können. Der Aufbau der Arbeit ergibt sich daraus, daß für die Bestimmung der Bedingungen einer kritischen Theorie der Gesellschaft, das Begriffspaar ,Natur und Freiheit' zu analysieren ist. Das geschieht in den ersten drei Hauptkapiteln, die sich mit der Kritik der reinen Vernunft, der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft befassen. Jeweils sollen anhand ausgewählter Passagen die Bestimmungen der Natur und Freiheit dargestellt oder, über die Darstellung hinaus, begründet entwickelt werden. Im Fortschritt der Arbeit sind die Resultate der Einzelinterpretationen aufeinander zu beziehen. Insbesondere im Kapitel zur Kritik der Urteilskraft, das sich nur der zweiten Fassung der Einleitung und der Kritik der teleologischen Urteilskraft annimmt, sind die Bestimmungen der Natur- und Freiheitsbegriffe aufeinander zu beziehen und der Zweckbegriff darzustellen. Im vierten Hauptkapitel wird versucht, den Widerspruch im Schluß auf das Absolute darzustellen. Der Schluß auf das Absolute ist in jeder der drei 4

Vgl. KrV, 536, Β 579.

Einleitung

3

Kritiken Kants nachzuweisen. Soll durch diesen Schluß die Einheit von Naturphilosophie und Moralphilosophie, deren Gegenstände Natur und Freiheit sind, begründet werden, wäre die Widersprüchlichkeit dieses Schlusses als Möglichkeit von Natur und Freiheit nachzuweisen. Das fünfte Hauptkapitel versucht, auf Grundlage der bis dahin erfolgten Interpretation Bedingungen der Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft zu bestimmen. Dabei ist nach der Übereinstimmung und dem Unterschied von erster und zweiter Natur und dem Prinzip der Organisation der Totalität aller Individuen einer Gesellschaft zu fragen. Bereits in diesen Kapiteln werden Thesen und Argumente von den Begründern der sogenannten kritischen Theorie, Horkheimer und Adorno, verhandelt. Das darauf folgende titelgebende Kapitel zur Verkehrung der Freiheit greift die kantischen Bestimmungen der Freiheit und des Zwecks auf und versucht eine Analogie zwischen der Bestimmung des letzten Zwecks bzw. Endzwecks und der marxschen Bestimmung des ökonomischen Zwecks aufzuzeigen. Sowohl Elemente der kantischen Philosophie als auch der marxschen Kritik der politischen Ökonomie sind in die Begründung der kritischen Theorie eingegangen. Steht eine sich selbst als kritisch ausweisende Theorie vor dem Problem, einerseits den Gegenstand der Theorie zwangsläufig affirmativ als erkannten Gegenstand zu bestimmen, andererseits den Gegenstand der Theorie als unvernünftigen jedoch abzulehnen, ist zumindest in knapper Ausführung der Begriff der Kritik zu analysieren. Die letzten Kapitel des fünften Hauptkapitels diskutieren ausgewählte Passagen der Begründung der kritischen Theorie durch Horkheimer und Adorno. Konzentriert auf die Schriften Traditionelle und kritische Theorie und Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien ist nachzuweisen, daß insbesondere anhand der Rezeption der kantischen Bestimmungen der Naturbegriffe und der Freiheitsbegriffe nicht selten sich die originären Bestimmungen als avancierter erweisen gegenüber der Rezeption, die sich in der Tradition Kants wähnte. Im letzten Kapitel zum Schluß und Ausblick wird erneut der Schluß auf das Absolute und die Einheit des Systems für die Begründung der Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft thematisiert. Ist die "Bescheidenheit, seine Einwürfe nur als Zweifel vorzutragen"5, so wäre gänzlich unbescheiden die Einleitung in die folgende Untersuchung an dieser Stelle zu beschließen und darauf hinzuweisen, daß das Verfahren dieser Arbeit sich nicht erschöpfe im Zweifeln an bereits unternommenen Versuchen, Bedingungen der Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft aufzuzeigen, sondern vielmehr diese eigenständig entwickele. Doch ist diese Arbeit der Bescheidenheit in der Bedeutung einer Einschränkung dessen, was im Rahmen dieser Arbeit zu leisten war, verpflichtet. Weder war es möglich oder geplant, die in sich unterschiedenen Versuche der Neukantianer, die Möglichkeit von Sozial5

Logik, 83.

4

Einleitung

Wissenschaft zu begründen, noch die zeitgleich zur kritischen Theorie oder später ausgearbeiteten Versuche zu diskutieren. Ebensowenig war es möglich oder geplant, den Stand der Kant-Forschung so zu referieren, wie es in einschlägigen Monographien und Aufsätzen üblich ist, deren Themen zurecht oftmals auf die Untersuchung beispielsweise nur der dritten Antinomie oder nur der teleologischen Urteilskraft oder des Begriffs der Natur konzentriert sind. Es liegen mannigfache, sehr detaillierte Kommentare und Interpretationen zu den drei Kritiken und erheblich mehr Interpretationen einzelner Textpassagen und Probleme vor. Dem zu erwartenden Zweifel, wie eine sachgerechte Rekonstruktion der Natur- und Freiheitsbegriffe aus den drei Kritiken Kants und deren Transfer auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft zu leisten sei, kann nicht anders entgegnet werden, als daß betont wird, daß es eine Idee ist, die diese Untersuchung zusammenhält, daß es eine Idee ist, die es rechtfertigen können sollte, eine solch breite Textgrundlage zu bearbeiten: Es ist die Idee, aus der kantischen Philosophie, den Begriffen Freiheit, Natur, Zweck und System, Bedingungen der Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft zu entwickeln.

1 Freiheit und Natur in der Kritik der reinen Vernunft 1.1 Freiheit und Natur in den transzendentalen Deduktionen 1.1.1 Transzendentale Deduktion nach der zweiten Fassung Jede Synthesis des Mannigfaltigen zu einer Einheit ist ein Akt des Denkens. Die reinen Verstandesbegriffe, die Kategorien, sind von Kant als Funktionsbegriffe dieser Einheit bestimmt: Diese "Funktion (...) gibt auch der bloßen Synthesis verschiedene(r) Vorstellungen in einer A n s c h a u u n g Einheit, welche allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt." 6 Als Funktionsbegriffe dieser Einheit sind sie von dieser Einheit unterschieden. "Die Kategorie setzt also schon Verbindung voraus. Also müssen wir diese Einheit (als qualitative § 12) noch höher suchen, nämlich in demjenigen, was selbst den Grund der Einheit verschiedener Begriffe in Urteilen, mithin der Möglichkeit des Verstandes, sogar in seinem logischen Gebrauche, enthält."7

Diese höhere Einheit, die als Grund der Einheit verschiedener Begriffe bestimmt ist, ist die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption. Auch in der ersten Fassung der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe von 1781 ist die transzendentale Einheit der Apperzeption als "transzendentaler Grund (...) in der Synthesis des Mannigfaltigen aller unserer Anschauungen (...)" s bestimmt. Da die Synthesis des Mannigfaltigen vermittelst der Kategorien erfolgt, ist die transzendentale Einheit der Apperzeption Grund der Kategorien, höhere Einheit oder deren ursprüngliche Einheit. Andererseits bestimmt Kant die Kategorien auch als Beweisgrund der transzendentalen Einheit der Apperzeption: Durch die Kategorien oder die "allgemeinen Funktionen der Synthesis (...)" kann "die Apperzeption allein ihre durchgängige und notwendige Identität a priori beweisen." 9 Gäbe es keine gemeinschaftliche Funktion des Gemüts durch eben jene Begriffe, die für jede mögliche Erfahrung konstitutiv sind, wäre ein einheitliches Bewußtsein undenkbar. 10 Das Begründungsverhältnis von transzendentaler 6 7 8

' 10

KrV, 117, Β 104 f. Vgl. 132, Β 123, vgl. 156b, Β 143. KrV,140b, Β 131. KrV, 154a, A 106. KrV, 163a, A 112. Vgl. 264, Β 263. Vgl. Hemy Allison: Idealism and freedom, 48 f.

6

Freiheit und Natur in der Kritik der reinen Vernunft

Einheit der Apperzeption und Kategorien oder Einheit und Funktionsbegriffen dieser Einheit ist damit als zirkulär bestimmt. Die Untersuchung in der zweiten Fassung der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe von 1787 folgt dann der Frage nach der den Kategorien vorausgesetzten Einheit. Durch das "Ich denke", das alle möglichen Vorstellungen muß begleiten können, wird einerseits "ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in e i n e m B e w u ß t s e i n (...)" n verbunden. Andererseits ist das "Ich denke" selbst eine Vorstellung, die, gleich jeder anderen Vorstellung, vom "Ich denke" muß begleitet werden können. Die Vorstellung des "Ich denke", die Resultat eines Akts der Spontaneität sei, begleitet demnach sich selbst als Vorstellung und ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen.12 Reflexives Denken und die Gegenstände dieses Denkens sollen andererseits strikt unterschieden sein. Ohne ein ontologisches Korrelat, den transzendentalen Gegenstand, positiv der transzendentalen Einheit der Apperzeption entgegenzustellen, wie in der ersten Fassung der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe geschehen, hält Kant auch in der zweiten Fassung an der Unabhängigkeit des Mannigfaltigen vom Denken fest: "Allein von einem Stücke konnte ich im obigen Beweise doch nicht abstrahieren, nämlich davon, daß das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, gegeben sein müsse; wie aber das bleibt hier unbestimmt."13

Daß Kant gegen die alte Forderung, wenn Etwas sei, auch angebbar sein müsse, was dieses Etwas sei oder wie es bestimmt sei14, verstößt, ist die Reproduktion eines Problems, das sich erneut stellt, sobald die Deduktion zur Erklärung der Möglichkeit der Apperzeption gelangt: Die doppelte Unterscheidung im Subjekt der Apperzeption, das einmal Gegebenes synthetisiert als auch im Synthetisierenden sich selbst synthetisch als Einheit herstellt, spaltet die Synthesis des Subjekts in die der Erkenntnis ihm äußerlicher Gegenstände und die Erkenntnis seiner selbst. Wie diese beiden Synthesen miteinander zusammenhängen und welche Schwierigkeiten aufgrund dieses Zusammenhangs entstehen, zeigt sich bei der Erklärung der Möglichkeit der ersten Erkenntnis des Verstandes15, die als Erkenntnis seiner selbst die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption zum Resultat haben soll.

11 12

13 14

15

KrV, 142b, Β 133. "That is, consciousness of objects is implicitly reflexive because, according to Kant, whenever I am conscious of any object, I can also be said to "apperceive" implicitly my being thus conscious."(Robert Pippin: Hegel's Idealism, 21). KrV, 158b, Β 145. Vgl. Aristoteles: "(...) behauptete vielmehr jemand, das Wort bezeichne unendlich vieles, so wäre offenbar gar keine Rede möglich, denn nicht ein Bestimmtes bezeichnen ist dasselbe wie nichts bezeichnen (...)."(Metaphysik, 75,1006 b 7 ff.). Vgl. KrV, 148b, Β 138.

Freiheit und Natur in den transzendentalen Deduktionen

7

"Wie aber das Ich, der ich denke, von dem Ich, das sich selbst anschauet, unterschieden (indem ich mir noch andere Anschauungsart wenigstens als möglich vorstellen kann) und doch mit diesem letzteren als dasselbe Subjekt einerlei sei, wie ich also sagen könne: Ich, als Intelligenz und denkend Subjekt, erkenne mich selbst als g e d a c h t e s Objekt, so fern ich mir noch über das in der Anschauung gegeben bin, nur gleich andern Phänomenen nicht, wie ich vor dem Verstände bin, sondern wie ich mir erscheine, hat nicht mehr, auch nicht weniger Schwierigkeit bei sich, als wie ich mir selbst überhaupt ein Objekt und zwar der Anschauung und innerer Wahrnehmungen sein könne."

Da Voraussetzung der Selbsterkenntnis des Ich die innere Wahrnehmung seiner selbst sei, verlangt Kant mit der Unterscheidung des Ich in Intelligenz und denkend Subjekt eine weitere Differenz im erkennenden Subjekt. Die Wahrnehmung seiner selbst, die Selbstaffektation des Ich, kann nur in der Zeit, deren Form die des inneren Sinnes ist, in aufeinanderfolgenden Schritten der Synthesis stattfinden, da eine Synthesis im Raum als Form des äußeren Sinns das Ich in ein nebeneinander bestehendes dirimierte und die in der Zeit apprehendierten Vorstellungen nicht einem Ich zugeordnet werden könnten. Die Zeit selbst aber könne von empirischen Subjekten jedoch nicht anders als "unter dem Bilde einer Linie, sofern wir sie ziehen (...)"17 vorgestellt werden. Jede Bestimmung der Zeit müsse von dem hergenommen werden, "was uns äußere Dinge Veränderliches darstellen (...)."18 Die Vorstellung des Ziehens einer Linie oder die Veränderung äußerer Dinge als Material der Vorstellung der Zeit ist explizit empirisch.19 Wenn Voraussetzung der transzendentalen Einheit der Apperzeption die Selbsterkenntnis des Ich, die Anschauung seiner selbst ist, diese jedoch nur vermittelst der Form des inneren Sinnes, die ihrerseits aber äußerer Dinge bedarf, möglich ist, dann wäre die empirische Einheit der Apperzeption der transzendentalen vorausgesetzt, was der Intention Kants zuwiderläuft. "Ob ich mir des Mannigfaltigen als zugleich, oder nacheinander, empirisch bewußt sein könne, kommt auf Umstände, oder empirische Bedingungen, an. Daher die empirische Einheit des Bewußtseins, durch Assoziation der Vorstellungen, selbst eine Erscheinung betrifft, und ganz zufällig ist. (...) Jene Einheit [die transzendentale, T.S.] ist allein objektiv gültig; die empirische Einheit der Apperzeption, die wir hier nicht erwägen, und die auch nur von der ersteren, unter gegebenen Bedingungen in concreto, abgeleitet ist, hat nur subjektive Gültigkeit."20

Ermöglichte die empirische Einheit der Apperzeption die transzendentale, müßte dieser über die Synthesis jener eine einheitliche Ordnung der Dinge, deren Entsprechung sie wäre, gegeben sein. Die einheitliche Ordnung der Dinge garan16 17 18 19 20

KrV, 172b, Β 155 f. KrV, 173b, Β 156. Ebda. Vgl. KrV, 175b Fn, Β 158, vgl. 199, Β 179. KrV, 151b f., Β 139 f.

8

Freiheit und Natur in der Kritik der reinen Vernunft

tierte der empirischen Einheit der Apperzeption, daß die von Kant gegen die empirische Einheit der Apperzeption aufgezeigte Konsequenz abgewiesen wäre: "Einer verbindet die Vorstellung eines gewissen Wortes mit einer Sache, der andere mit einer anderen Sache (...)·"21 Dieser Abweis hätte jedoch zur Voraussetzung, daß der empirischen Einheit der Apperzeption die Erkenntnis der einheitlich verfaßten Dinge möglich wäre. Die Form einer solchen Erkenntnis der einheitlich verfaßten Dinge nennt Kant intellektuelle Anschauung, und zu der sei der menschliche Verstand niemals fähig.22 Die Verwickeltheit der kantischen Argumentation zeigt sich darin, daß sie auch gegen die Konsequenz einer ontologischen Ordnung der Gegenstände als Voraussetzung der transzendentalen Einheit der Apperzeption noch Argumente aufzubieten hat: Erstens, Kant hat für die Selbsterkenntnis des Ich, über die Form des inneren Sinns, als Modell mit der Linie eine geometrische Figur gewählt. Nur wenn die Erkenntnisse der Mathematik ihrer bloßen Form nach Erkenntnisse23 seien und unbestimmt bleibe, ob es zu dieser Form einen Gegenstand möglicher Erfahrung geben könne, böte der Selbstanschauung des Ich ein Verfahren, das frei von der Verstrickung in empirische Anschauung wäre. Einen Satz weiter liefert Kant auch dagegen sofort ein Argument: Da "alle Erkenntnis mit der Erfahrung anfange (...)"24, bei den Gegenständen der Mathematik jedoch unausgemacht bleibe, ob in der Form der reinen Anschauung wirkliche Dinge angeschaut werden könnten, "sind alle mathematischen Begriffe für sich nicht Erkenntnisse (...)."25 Wenn die Linie, insofern sie gezogen wird, zwar vorgestellt werden könne, jedoch keine Erkenntnis sei, dann stünde die Selbsterkenntnis des Ich, zu der die Linie geometrisches Modell sein soll, unter demselben Vorbehalt, den Kant allen mathematischen Erkenntnissen gegenüber formuliert hat. Die Wahrnehmung des Ich wäre die rein formale Handlung der Synthesis ohne einen wirklichen Inhalt. "Bewegung, als Handlung des Subjekts, (...) folglich die Synthesis des Mannigfaltigen im Räume, wenn wir von diesem abstrahieren und bloß auf die Handlung achthaben, dadurch wir den i n n e r e n Sinn seiner Form gemäß bestimmen, bringt sogar den Begriff der Sukzession zuerst hervor."26

Durch die Abstraktion von dem, was das Material der Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen im Raum ist, wäre die Synthesis des Ich frei von der 21 22

23 24 25 26

KrV, 152b, Β 140. Vergleiche im Unterschied zu dieser Interpretation des Verhältnisses von empirischer und transzendentaler Einheit der Apperzeption die von Henry Allison in Kant's transcendental Idealism, 156 f. Vgl. KrV, 160b, Β 147. KrV, 38, Β 1. Vgl. parallel dazu: "Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an (...)."(338, Β 355). Oder: "So fängt denn alle menschliche Erkenntnis mit Anschauungen an, (...)."(649, Β 702). KrV, 160b, Β 147. KrV, 171b, Β 154 f.

Freiheit und Natur in den transzendentalen Deduktionen

9

Synthesis bestimmter Gegenstände und das Ich existierte "als Intelligenz, die sich lediglich ihres Verbindungsvermögens bewußt (...)"27 wäre.28 Die Selbsterkenntnis des Ich ist durch die reine Handlung der Synthesis nicht hinreichend begründet.29 Kant betont dies mehrfach: "Dieser Grundsatz, der notwendigen Einheit der Apperzeption, ist nun zwar selbst identisch, mithin ein analytischer Satz, erklärt aber doch eine Synthesis des in einer Anschauung gegebenen Mannigfaltigen als notwendig, ohne welche jene durchgängige Identität des Selbstbewußtseins nicht gedacht werden kann. Denn durch das Ich, als einfache Vorstellung, ist nichts Mannigfaltiges gegeben (,..)."30 Oder: "So wie zum Erkenntnisse eines von mir verschiedenen Objekts (...) ich doch noch einer Anschauung bedarf (...), so bedarf ich auch zum Erkenntnisse meiner selbst außer dem Bewußtsein, oder außer dem, daß ich mich denke, noch einer Anschauung des Mannigfaltigen in mir (...)."31

Die, im Kontext dieser Zitate nicht immer explizit ausgeführten, Argumente für die Insuffizienz der Selbsterkenntnis des Ich als einfache Vorstellung oder reine Handlung der Synthesis sind apagogisch: Erstens, in der reinen Handlung der Synthesis des Ich sind Synthetisierendes und Synthetisiertes gar nicht zu unterscheiden, so daß die reine Handlung der Synthesis in leere Identität zusammenfiele. Zweitens, bedürfte die Synthesis des Ich nicht des Mannigfaltigen als äußerlich gegebenes Material der Synthesis, müßte mit dem Ich alles 27

28

29

30 31

KrV, 176b, Β 158 f. Vgl. "Die Apperzeption und deren synthetische Einheit ist mit dem inneren Sinne so gar nicht einerlei, daß jene vielmehr, als der Quell aller Verbindung, auf das Mannigfaltige der Anschauungen überhaupt unter dem Namen der Kategorien, vor aller sinnlichen Anschauung auf Objekte übeihaupt geht (...)."(169b f., Β 1S4). Daß die Handlung der Synthesis ohne Material nicht zu ihrem Gegenteil würde, bliebe paradox, wenn es nicht wirklich ein vom Material unabhängiges Moment von Handlungen gäbe. Gäbe es dieses vom Material unabhängige Moment nicht, wären alle Handlungen der Synthesis bestimmt nach den Regeln der Kausalität und Wechselwirkung. Dieses unabhängige Moment ist das Vermögen der Kausalität aus Freiheit. Auf das Vermögen ist nur durch das Resultat der Aktualisierung des Vermögens zu schließen. Das materielle Resultat dieses Vermögens ist ein produziertes Mehrprodukt. Die Produktion dieses Mehrprodukts ist nicht vollständig unabhängig vom Material, da das Material Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand ist, führt aber doch über es hinaus und hat insofern ein Moment der reinen Handlung. Vgl. Peter Bulthaup: Affirmation und Realität, 117. Insofern hat Dieter Sturma recht, zwischen formaler Selbstreferenz und Selbstbewußtsein zu unterscheiden. Von "einer Konzeption selbstreferentieller kategorialer Synthesis (...)"(Dieter Sturma: Kant über Selbstbewußtsein, 45) im § 16 der Deduktion zu sprechen, betont jedoch die Selbständigkeit der formalen Synthesis, die sachlich nicht begründet ist. Später führt diese Betonung zu dem Begriff eines Selbstbewußtseins, das unabhängig von der Anschauung in sich subsistieren können solle: "Selbstbewußtsein kann ich der Möglichkeit nach auch in mentalen Zuständen haben, die nicht intentional auf in der Anschauung gegebenen Objekte bezogen sind, das gilt beispielsweise für Empfindungszustände."(Dieter Sturma: Kant über Selbstbewusstsein, 54). KrV, 145b, Β 135. KrV, 175b f., Β 158 f.

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Mannigfaltige bereits implizit gegeben sein. Der Begriff des Ich wäre der Begriff, der an sich schon ein unterschiedenes Seiendes enthielte. Die zweite Differenz im erkennenden Subjekt, die von Intelligenz und denkendem Subjekt, ist damit reduziert auf die erste, die von der Erkenntnis dem Ich äußerlicher Gegenstände und der Erkenntnis seiner selbst, deren Möglichkeit auf die Erkenntnis äußerer Gegenstände angewiesen ist. Sofern die Möglichkeit der Apperzeption bedingt ist durch von ihr Unterschiedenes, ist diese Nichtidentität des erkennenden Subjekts konstitutiv für die Apperzeption. Konstitutiv ist diese Nichtidentität jedoch nicht in Gestalt bestimmter einzelner Gegenstände, deren einheitliche Ordnung eine entsprechende Synthesis des erkennenden Subjekts zur Folge hätte, sondern als die der "Objekte überhaupt (...)"32. Die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption ist damit identisch nur vermöge ihrer Inkonsistenz: Das doppelt gespaltene Ich enthält ein Moment von Freiheit, sofern seine Synthesis spontan oder reine Handlung der Synthesis des Ich ist, und ein heterogenes Moment, da die reine Handlung ohne dieses keine Wirklichkeit haben könnte und der Begriff des Ich auf den Begriff, der an sich schon ein Sein enthielte, reduziert wäre. Dieses notwendig heterogene Moment nennt Kant "Natur überhaupt (...)."33 Dadurch, daß dieses heterogene Moment als ein Reflexionsbegriff gedacht wird, dem keine bestimmte Anschauung, jedoch eine Realität, korrespondieren kann, ist das Denken selbständig gegen das Seiende oder ist spekulativ. Von diesem spekulativen Begriff der Natur, gibt Kant zwei Fassungen: Der Begriff der "natura materialiter spectata" sei die Natur als der Inbegriff aller Erscheinungen, der Begriff der "natura formaliter spectata" sei der gesetzmäßige Zusammenhang aller dieser Erscheinungen.34 "Kategorien sind Begriffe, welche den Erscheinungen, mithin der Natur, als dem Inbegriffe aller Erscheinungen (natura materialiter spectata), Gesetze a priori vorschreiben, und nun fragt sich, da sie nicht von der Natur abgeleitet werden und sich nach ihr als ihrem Muster richten (weil sie sonst bloß empirisch sein würden), wie es zu begreifen sei, daß die Natur sich nach ihnen richten müsse, d.i. wie sie die Verbindung des Mannigfaltigen der Natur, ohne sie von dieser abzunehmen, a priori bestimmen können. Hier ist die Auflösung dieses Rätsels. (...) Da nun von der Synthesis der Apprehension alle mögliche Wahrnehmung, sie selbst aber, diese empirische Synthesis, von der transzendentalen, mithin den Kategorien abhängt, so

32 33 34

KrV, 170b, Β 154. KrV, 185b, Β 165. Den spekulativen Begriff der natura materialiter spectata versucht Kant in der Prolegomena auf die materiellen Gegenstände zu restringieren. Zwar ist keine Formulierung zu finden, daß der Inbegriff aller Erscheinungen ein Gegenstand der Erfahrung sein könne, doch scheint dies nahegelegt: "Wie ist Natur in materieller Bedeutung, nämlich der Anschauung nach, als Inbegriff der Erscheinungen, wie ist Raum, Zeit, und das, was beide erfüllt, der Gegenstand der Empfindung, überhaupt möglich? Die Antwort ist: vermittelst der Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit (...)."(Prolegomena, 318, § 36). Der Gegenstand der Empfindung als transzendentaler Gegenstand oder Inbegriff aller Erscheinungen ist kein Gegenstand der Empfindung.

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müssen alle mögliche Wahrnehmungen, mithin auch alles, was zum empirischen Bewußtsein immer gelangen kann, d.i. alle Erscheinungen der Natur, ihrer Verbindung nach unter den Kategorien stehen, von welchen die Natur (bloß als Natur überhaupt betrachtet) als dem ursprünglichen Grunde ihrer notwendigen Gesetzmäßigkeit (als natura formaliter spectata) abhängt. Auf mehrere Gesetze aber als die, auf denen eine Natur überhaupt als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen im Raum und Zeit beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon nicht v o l l s t ä n d i g a b g e l e i t e t werden, ob sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen. Es muß Erfahrung dazu kommen, um die letztere überhaupt kennen zu lernen (...)."35

Die Möglichkeit aller Wahrnehmung der Erscheinungen der Natur hänge von der durchgängigen Verknüpfung der Erscheinungen gemäß den Kategorien ab. Insofern die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung36 sind, sind die Kategorien formale Konstitutionsbegriffe. Als Konstitutionsbegriffe bringen sie die Möglichkeit des gesetzmäßigen Zusammenhangs der einzelnen Erscheinungen, die nichts als subjektive Vorstellungen von Dingen sind, hervor, nicht jedoch die materiellen Dinge selbst.37 Die natura formaliter spectata muß bezogen sein auf die natura materialiter spectata, der Inbegriff der Regeln auf den Inbegriff der Erscheinungen.38 Die Form der Gesetzmäßigkeit, die der Verstand der Natur vorschreibt, bedarf der Anwendung auf Erscheinungen, so daß einzelne, empirische Gesetze in einem System des Wissens vereinbar sind. Das Andere der Form der Gesetzmäßigkeit sind nicht die materiellen Dinge selbst, sondern ist als Inbegriff der Erscheinungen eine erschlossene Reflexionsbestimmung, deren Funktion darin besteht, a priori die Kompatibilität der Form der Gesetze mit der Anwendung dieser Gesetze auf Erscheinungen zu garantieren. Die Entfaltung der Distinktion im "Ich denke", das sowohl die Vorstellungen von Gegenständen als auch sich selbst als Vorstellung muß begleiten können, führte zunächst auf die Notwendigkeit der Selbstaffektation des Ich, die nur vermöge äußerer Gegenstände, Natur, von der Kant mit den Begriffen der natura formaliter spectata und der natura materialiter spectata zwei Fassungen liefert, möglich sei. Der wohl zu erwartenden Intention entgegen ist die eine Fassung des Begriffs äußerer Gegenstände, die natura formaliter spectata, bestimmt als Resultat apriorischer Handlungen des Verstandes, dessen Spontaneität nur unter der Bedingung mit den materiellen Gegenständen in Übereinstimmung zu bringen wäre, wenn diese Gegenstände vom Verstand 35 36 37 38

KrV, 183b ff., Β 163 ff. Vgl. KrV, 212 f., Β 197. Vgl. Robert Pippin: Hegel's Idealism, 26 ff. Vgl. Christian Wohlers: Kants Theorie der Einheit der Welt, 174.

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produziert würden. Auch die zweite Fassung, die der natura materialiter, führt nicht zu den materiellen Gegenständen selbst, sondern gleichfalls auf eine Reflexionsbestimmung.39 In dem Verhältnis dieser beiden Reflexionsbegriffe der Heterogenität ist damit das in der Distinktion des "Ich denke" ausgedrückte Verhältnis von Reflexivität und Irreflexivität des Denkens wiedergekehrt, ohne daß dadurch die Immanenz des Bewußtseins durchbrochen wäre. Insofern, als in ihr alles empirische Bewußtsein eine notwendige Beziehung auf ein diesem vorgängiges transzendentales Bewußtsein haben soll40, ist die revidierte Fassung der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe eher um die Möglichkeit der Apperzeption41 zentriert als um die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis, die im Zentrum der ersten Fassung der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe steht. Trotz der Verschiebung des Akzents der Untersuchung ist auch anhand der ersten Fassung der Deduktion das Verhältnis von Natur in formeller und materieller Bedeutung darstellbar.

1.1.2 Transzendentale Deduktion nach der ersten Fassung Da alle Erkenntnis von der Erfahrung anhebe, beginnt die Untersuchung in der ersten Fassung der Deduktion mit der ersten Synthesis, die in jeder Erkenntnis enthalten ist, der Synthesis der Apprehension. Voraussetzung der Apprehension in der Anschauung sei, daß das, was wahrgenommen werde, in der Einbildungskraft reproduzierbar sei. Ohne die Reproduktion der Wahrnehmungen fielen diese erinnerungslos ins Nichts, Synthesis zu einer Erkenntnis wäre nicht möglich. Voraussetzung der Reproduktion in der Einbildungskraft ist die Reproduzibilität der Erscheinungen, Voraussetzung der Reproduzibilität der Erscheinungen ist die Konstitution durch den Begriff, die ihrerseits durch die Rekognition im Begriffe erfaßt wird. Allen drei Synthesen ist die Affinität des Mannigfaltigen auf Seiten des Objektes vorausgesetzt. Objektiver Grund42 sowohl der Apprehension als auch der Reproduzibilität der Erscheinungen als auch deren Rekognition im Begriffe ist demnach die Affinität derselben. Weil die gemeinschaftliche Funktion der Gemüter oder die kollektive Einheit der Gemüter ohne Synthesis im Mannigfaltigen nicht denkbar ist, schließt Kant auf den Grund dieser gemeinschaftlichen Funktion, der nicht im Subjekt liegen könne, insofern 39

40 41

42

Lothar Schäfer weist ebenfalls nach, daß beide Naturbegriffe Begriffe der Vernunft oder Ideen seien: "Natur als Idee vorstellen, d. h. sie als oberstes Prinzip so denken, daß alles Naturhafte in systematischem Zusammenhang erscheint."(Kants Metaphysik der Natur, 20). KrV, 171a Fn, A 117. Es besteht jedoch kein Unterschied zwischen dem Begriff der transzendentalen Einheit der Apperzeption in den beiden Versionen der transzendentalen Deduktionen. Vgl. Henry Allison: Idealism and freedom, 46. Vgl. KrV, 178a, A 121.

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zwischen urteilendem Subjekt und Subjekt des Urteils, Denken und seinen Gegenständen, ein eminenter Unterschied bestehe. "Der Grund der Möglichkeit der Assoziation des Mannigfaltigen, sofern es im Objekte liegt, heißt die A f f i n i t ä t des Mannigfaltigen." 43 Der Begriff der empirischen Affinität der Gegenstände führt damit die Form des Seienden bei sich, das Grund einer jeden Vorstellung eines Gegenstandes sein muß: "Würde der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert werden, am längsten Tage bald das Land mit Früchten, bald mit Eis und Schnee bedeckt sein, so könnte meine empirische Einbildungskraft nicht einmal Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung der roten Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken zu bekommen; oder würde ein gewisses Wort bald diesem, bald jenem Dinge beigelegt, oder auch eben dasselbe Ding bald so, bald anders benannt, ohne daß hierin eine gewisse Regel, der die Erscheinungen schon von selbst unterworfen sind, herrschte, so könnte keine empirische Synthesis der Reproduktion statt finden."44 Zugleich nimmt Kant den eminenten Unterschied zwischen urteilendem Subjekt und Subjekt des Urteils zurück, da die " t r a n s z e n d e n t a l e A f f i n i t ä t (,..)" 4 5 , das heißt die durchgängige Verknüpfung aller Erscheinungen nach notwendigen Gesetzen, den Grund der empirischen Affinität derselben liefern solle, womit die Affinität oder die "Natur sich nach unserem subjektiven Grunde der Apperzeption richten (,..)"46 müsse. Das Argument ist apagogisch geführt: Wäre die Einheit der Natur empirisch von den Gegenständen der Natur entlehnt, so könnte sie nicht mehr Gegenstände umfassen als die bislang von einem empirischen Subjekt wahrgenommenen und wäre damit eine kontingente Einheit, die nie "alle Erscheinungen (...)"47 zu einem notwendigen Zusammenhang brächte. Der umgekehrte Schluß von der empirischen auf die transzendentale Affinität führte auf eine generatio aequivoca48 und setzte damit eine ontologische Ordnung voraus, deren Entsprechung dann die logische Ordnung der wahrgenommenen Erscheinungen wäre. Dreh- und Angelpunkt der Rücknahme dieser ontologischen Ordnung der Gegenstände wird die Bestimmung des Begriffs der Erscheinung nicht als "Ding(e) an sich selbst (~.)"49, sondern als subjektive Vorstellung, deren Objektivität allein durch die kategoriale Synthesis begründet sei. Der Begriff dieser durch die kategoriale Synthesis begründeten Einheit ist die transzendentale Einheit der Apperzeption, die jedoch, soll sie nicht leer, gedachte

43 44 45 46 47 48 49

KrV, 165a, A 113. KrV, 145a f., A 100 f. KrV, 166a, A 114. Ebda. Ebda. KrV, 188b, Β 167. KrV, 158a, A 109.

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Einheit von Nichts, sein, der Beziehung auf Gegenstände möglicher Erfahrung bedarf. Das, "was in allen unseren empirischen Begriffen überhaupt Beziehung auf einen Gegenstand, d. i. objektive Realität verschaffen kann (...)". ist der transzendentale Gegenstand = X. "Diese Beziehung aber ist nichts anderes, als die notwendige Einheit des Bewußtseins, mithin auch der Synthesis des Mannigfaltigen durch gemeinschaftliche Funktion des Gemüts, es in einer Vorstellung zu verbinden."50 Ist das, was die Beziehung der Einheit des Bewußtseins auf Gegenstände möglicher Erfahrung liefern sollte, nicht unterscheidbar von dieser Einheit, dann sind transzendentaler Gegenstand und transzendentale Einheit der Apperzeption identisch gesetzt. Die Konsequenz der Identifikation von transzendentalem Gegenstand und transzendentaler Einheit der Apperzeption ist aus der Argumentation Kants zu ziehen und auch gezogen worden51, doch seiner Intention entgegengesetzt. Bestimmten die Gegenstände die Vorstellungen von diesen Gegenständen, wäre die Übereinstimmung von Gegenständen und Vorstellungen nur durch eine generatio aequivoca begründbar. Die radikale Inversion dieses Verhältnisses in das, daß die durch die Einbildungskraft erzeugten Vorstellungen die Gegenstände ermöglichten, führt auf die Forderung, die Gegenstände der Erfahrung aus dem Denken zu konstruieren.52 Damit wäre jedoch nicht nur der Unterschied von natura formaliter spectata und natura materialiter spectata negiert, sondern auch der von Natur und Freiheit, da die notwendige Konstruktion der Gegenstände allein ein Akt der Spontaneität oder der Freiheit des Denkens wäre. Der Unterschied von Natur und Freiheit fiele damit nicht in ein Drittes, sondern in die Freiheit selbst. Fiele der Unterschied von Freiheit und Natur in die Freiheit, dann gäbe es weder Natur noch Freiheit, da der Unterschied von Freiheit und Natur die Bestimmung beider ist.53 50 51

52

53

KrV, 159a, A 109. "(...); die wahre synthetische Einheit [der Apperzeption, T.S.] oder vernünftige Identität ist nur diejenige, welche die Beziehung ist des Mannichfaltigen auf die leere Identität, das Ich, aus welcher, als ursprünglicher Synthesis das Ich als denkendes Subjekt und das Mannigfaltige als Leib und Welt sich erst abscheiden (,..)."(Hegel: Glauben und Wissen, A. Kantische Philosophie, 328). Vgl. dagegen: "(...) in der TD Α [wird] sein Sinn [der des transzendentalen Gegenstandes = X, T.S.] durch den Begriff der formalen Einheit des Bewußtseins definiert."(Dieter Sturma: Kant über Selbstbewußtsein, 51). Diese Konsequenz ist von Robert Pippin in der Einleitung zu seiner Interpretation Hegels angedeutet: "And again, what makes this controversy between Kant and his successors so difficult to assess (...) is that it is extremely difficult to distinguish between what Hegel in particular seemed to see as a problem in Kant and what Kant would state as the successful result of his Deduction. Alternatively, the issue between Kant and his successors could be put simply as follows: How should one understand the claim that "intuitions must conform to the categories for experience to be possible"? (...) Or does Kant's own claim rely on undercutting his own understanding of syntheticity and objective reality? Does such a claim amount to the assertion that we can know a priori that intuitions conform to categories because there is no real independent "giveness" in experience [Hervorhebung von mir, T.S.] (...)."(Hegel's Idealism, 30). Das Argument, daß "das Wesen dieser Freiheit darin besteht, nur durch ein Entgegengesetztes zu seyn", führt Hegel zurecht gegen Kant an. Es fußt aber auf der hegelschen Interpretation Kant

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1.1.3 Zur Materialität und Idealität von Erkenntnissen anhand des Unterschieds von mathematischen und dynamischen Kategorien Kant zufolge sei lediglich die Form einer möglichen Erfahrung antizipierbar, nie jedoch der Inhalt dieser Erfahrung.54 Die antizipierbare Form ist die Form der Gesetzmäßigkeit und als diese Resultat der Spontaneität des Verstandes. Insofern die empirischen Gesetze zu einem System des Wissens zusammenschließbar sind, seien sie "nur besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes (...)."55 Sie sind aber nicht aus dem Verstand zu deduzieren. Die bloße Form der Gesetzmäßigkeit ergibt jedoch noch keine Gesetzmäßigkeit, sondern diese ergibt sich erst aus der Anwendung dieser Form auf Gegenstände möglicher Erfahrung56,wodurch die Form der Gesetzmäßigkeit zu bestimmten Gesetzen restringiert wird. In dieser Restriktion der Form der Gesetzmäßigkeit auf bestimmte Gesetze ist der Unterschied zwischen den Gesetzen der Mathematik und denen der Physik, der zwischen den mathematischen und den dynamischen Kategorien, enthalten. Sowohl die Gesetze der Mathematik als auch die der Physik müssen erstens der Form der Gesetzmäßigkeit genügen und zweitens als bestimmte Gesetze, die den Inhalt der Form der Gesetzmäßigkeit ausmachen, vorliegen. Daß mathematische Gestalten von Gesetzen nicht gleichermaßen Naturgesetze sind, ist unter der Bedingung darstellbar, daß beliebige mathematische Gesetze auf ein und denselben Gegenstand möglicher Erfahrimg bezogen auf Widersprüche führen. Diese Restriktion auf Gegenstände möglicher Erfahrung führt auf die Differenz von bloß logisch miteinander kompatiblen Sätzen und bestimmten physikalischen Gesetzen. Entgegen der Konsequenz, daß die Gegenstände der Erfahrung aus dem Denken zu konstruieren seien, ist diese Differenz, der mathematischen Kategorien und der dynamischen Kategorien, die auf die Existenz der Gegenstände sich beziehen, Ausdruck des materialen Gehalts der Erkenntnistheorie. Durch eben diese Differenz zwischen mathematischen Erkenntnissen, die Erkenntnis "aus der Konstruktion der Begriffe (...)"57 sind, und Erkenntnissen, die nicht aus Begriffen konstruierbar sind, sondern "das

54 55 56

57

Einen Satz weiter wird dies Argument Hegel bei der Erörterung der theoretischen Philosophie Kants auch zum Argument gegen dessen praktische Philosophie: "Dieser diesem System unüberwindliche und es zerstörende Widerspruch wird zur realen Inconsequenz, indem diese absolute Leeifaeit sich als praktische Vernunft einen Inhalt geben und in der Form von Pflichten sich ausdehnen soll."(Hegel: Glauben und Wissen, A. Kantische Philosophie, 336). Vgl. KrV, 101, Β 83 f., vgl. parallel dazu 187a, A 127, vgl. 184b, Β 164, vgl. 296, Β 303. KrV, 188a, A 127 f. Die Forderung nach einer Restriktion auf Gegenstände wirklicher Erfahrung ließe keine wissenschaftlichen Urteile zu, da deren Geltung sich gerade nicht nur auf die untersuchten Gegenstände bezieht, sondern auf alle Gegenstände dieser Art als Gegenstände möglicher Erfahrung. KrV, 657, Β 741.

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Dasein der Erscheinungen a priori unter Regeln bringen sollen (...)"58, erhält sich die Doppelbestimmtheit der Natur als natura formaliter spectata und natura materialiter spectata. Erhielte sich dieser materiale Gehalt, der in den verschiedenen Ausdrücken der Natur als natura materialiter spectata, als empirische Affinität oder als Inbegriff der Erscheinungen explizit wird, nicht, beschränkten sich die Fragen aus der Einleitung der Kritik der reinen Vernunft, wie reine Mathematik und reine Naturwissenschaft möglich seiens®, auf die erste der beiden, was nicht nur die Erkenntnistheorie auf eine Grundlagentheorie der Mathematik reduzierte, sondern auch mit der vorausgesetzten Existenz der Naturwissenschaft Physik nicht zusammenginge. Die von Ernst Cassirer aufgestellte These über den Vorrang60 des formalen Naturbegriffs, worin die eigentliche Leistung der kantischen Philosophie bestehe, hat zwar in der sogenannten kopernikanischen Wende Kants ihr stärkstes Argument, muß aber am Gehalt der Argumentation, der oftmals nur aus Doppeldeutigkeiten und Widersprüchen zu entwickeln ist, die selbst Kant bisweilen "widersinnig und befremdlich (...)"61 vorkamen, vorbeigehen. Zu den Verhältnissen, erstens von Materialität und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, und zweitens von Idealität und mathematischen Erkenntnissen gibt Kant einen Hinweis, der in einer Fußnote des Abschnitts über den obersten Grundsatz synthetischer Urteile versteckt ist: Die Synthesis des Mannigfaltigen gemäß den mathematischen Kategorien verbinde das, "was nicht notwendig zueinander gehört, wie ζ. B. die zwei Triangel, darin ein Quadrat durch die Diagonale geteilt wird, für sich nicht notwendig zueinander gehören (,..)."62 Die Synthesis des Mannigfaltigen gemäß den dynamischen Kategorien verbinde dagegen das, was "notwendig zueinander gehört, wie ζ. B. das Akzidens zu irgendeiner Substanz, oder die Wirkung zu einer Ursache (...), weil sie nicht willkürlich ist (...)."63 Im Unterschied zur Synthesis der Gegenstände der Mathematik, die rein durch die Konstruktion von Begriffen begründet werden, sei die Syn58 59 60

61 62 63

KrV, 232, Β 221 f. KrV, 52*. Β 20. Die Entwicklung dieses "neuen" Begriffs der Natur durch Kant bestehe in der Wendung von "der Wesenheit der Dinge (...) zu ihrer zahlmäßigen Ordnung und Verknüpfung, von ihrem substantiellen Inneren zu ihrer funktionalen, mathematischen Struktur. (...) Es ist die Fortsetzung und Vollendung dieser Gedankenentwicklung, wenn Kant nunmehr den materiellen Begriff der Natur vom formalen sondert und diesen letzten als die eigentliche und ursprüngliche Voraussetzung aufdeckt."(Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 671). KrV, 166a, A 144. Vgl. 183a, Β 164, vgl. 620, Β 691. KrV, 216 fti, Β 201. Ebda. Aus der negativen Formulierung läßt sich auf die willkürliche Synthesis der Gegenstände der Mathematik schließen. Doch auch explizit taucht, wenngleich in einem anderen Zusammenhang, eine solche Formulierung auf: "Also blieben keine anderen Begriffe übrig, die zum Definieren taugen, als solche, die eine willkürliche Synthesis enthalten, welche a priori konstruiert werden kann, mithin hat nur die Mathematik Definitionen."(KrV, 670, Β 757).

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thesis der daseienden Erscheinungen, weil abhängig vom heterogenen Material, nicht willkürlich konstruierbar. So wären die mathematischen Kategorien Ausdruck der Freiheit der Vernunfterkenntnis, die dynamischen dagegen Ausdruck der durch das Material bestimmten Naturerkenntnis des Verstandes, weshalb beispielsweise die Kategorie Ursache und Wirkung auch nicht auf Gegenstände der Mathematik anwendbar sei.64 Von beiden Abteilungen der Kategorien sagt Kant, daß ihr Gebrauch Urteile von unbedingt notwendiger, also apodiktischer Geltung zum Resultat habe. Die apodiktische Geltung der Urteile von Mathematik und Physik ist zu unterscheiden von der Modalität des Urteils über die Existenz der Wissenschaften. Kant schließt von den daseienden Wissenschaften auf deren Möglichkeit. In diesem Schluß sind die Kategorien Dasein und Möglichkeit verbunden. Da die dritte Kategorie jeder Klasse aus der "Verbindung der zweiten mit der ersten ihrer Klasse entspringt (...)"65, müsse nach Kant die Verbindung der Existenz mit der Möglichkeit die Notwendigkeit ergeben. Ist die "Notwendigkeit nichts anderes als die Existenz, die durch die Möglichkeit selbst gegeben ist (...)"66, wird von der Möglichkeit über die darin eingeschlossene Wirklichkeit auf die Notwendigkeit der Existenz geschlossen. Das Modell dieser Verbindung der drei Kategorien der Modalität ist der ontologische Gottesbeweis. Der Schluß von der Wirklichkeit der Wissenschaften auf deren Möglichkeit erreicht dagegen die Notwendigkeit nicht. Das Urteil, daß die Wissenschaften seien, ist ein assertorisches Urteil. Der Schluß von dem assertorischen Urteil auf das apodiktische Urteil, daß die Existenz der Wissenschaften notwendig sei, enthält den logischen Fehler des Wechsels der Modalität im Schluß. Die Wirklichkeit der Wissenschaften schließt deren Möglichkeit ein. Die Wissenschaften selbst sind jedoch nicht notwendig. Die Urteile der Wissenschaften müssen dagegen apodiktische Urteile sein. Für die Anwendung der dynamischen Kategorie Ursache und Wirkung muß deshalb "die Wirkung nicht bloß zu der Ursache [empirisch, T.S.] hinzukomme(n), sondern durch dieselbe gesetzt sei(n), und aus ihr erfolge(n)."67 Als von der Ursache gesetzte ist die Wirkung notwendig. Für die Anwendung der mathematischen Kategorien ergibt sich die Notwendigkeit eines Materials, das die Möglichkeit der Existenz der Gegenstände der Mathematik abgibt. Ohne ein Material, worin die Resultate der Konstruktionsanweisungen ein von diesen Anweisungen unabhängiges Bestehen hätten, wären Konstruktionsanweisung und Resultat der Anweisung nicht unterschieden. Alle weiteren Urteile über das Resultat der Konstruktion müßten dann aus der Konstruktion durch analytische Urteile extrapoliert werden können, was bei nichttrivialen Beweisen der Mathematik 64 65 66 67

Vgl. KU, 366 Fn, 279, § 63. KrV, 122, Β 110. KrV, 122, Β 111. KrV, 132, Β 124.

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nicht möglich ist. Die Wirklichkeit des Materials der Gegenstände der Mathematik ist nicht unabhängig von existierenden Gegenständen der Mathematik zu erweisen. Der Nachweis des Materials ist aber nicht abhängig von bestimmten Gegenständen der Mathematik, sondern das Material ist das Material aller möglichen Gegenstände der Mathematik. Das unterscheidet synthetische Urteile a priori von synthetischen Urteilen a posteriori, Erfahrungsurteilen, die sich auf ein bestimmtes Material, einen oder mehrere bestimmte Gegenstände beziehen.68 Die Konstruktion im Material der Gegenstände der Mathematik geschieht "entweder durch bloße Einbildung, in der reinen, oder nach derselben auch auf dem Papier, in der empirischen Anschauung, beidemal aber völlig a priori, ohne das Muster dazu aus irgendeiner Erfahrung geborgt zu haben (...). Die einzelne hingezeichnete Figur ist empirisch, und dient gleichwohl den Begriff, unbeschadet seiner Allgemeinheit, auszudrücken (~.)."69 Die freie Konstruktion des Begriffs der mathematischen Erkenntnisse hat die ideelle Existenz des Konstruierten zum Resultat, ohne daß dadurch die Allgemeinheit des Begriffs lädiert sei. Die Allgemeinheit des Begriffs sei deshalb nicht lädiert, weil dessen ideelle Existenz a priori in einem Material gesetzt ist. Ist der Begriff a priori im Material gesetzt, kann dieses Material nicht an sich bestimmt sein. Die Konstruktionsanweisung enthält aber nicht immer die Konstruierbarkeit des zu Konstruierenden. Die Anweisung aus drei Geraden ein Dreieck zu bilden, ist nur dann ausführbar, wenn die Strecke einer Geraden nicht größer als die Summe der Strecken der beiden anderen Geraden ist. Die synthetische Erweiterung der Konstruktionsanweisung um die Bedingung der Konstruierbarkeit, daß die Strecke einer Geraden nicht größer als die Summe der Strecken der beiden anderen Geraden sein kann, ist durch die An-sich-Bestimmtheit des Materials der Konstruktion erzwungen. Ist die Konstruktionsanweisung einmal erweitert, dient das Material wieder als bestimmungsloses Material der ideellen Existenz des nach der Konstruktionsanweisung Konstruierten. In der Konstruktionsanweisung ist die vom Material auch abhängige Entwicklung der Konstruktionsanweisung nicht mehr erkennbar. Die Materialbestimmtheit der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse hätte dagegen eine Aposteriorität zur Folge, die nur zu problematischer Geltung oder komparativer Allgemeinheit ihrer Urteile führte. Die Apodiktizität der Urteile innerhalb der Naturwissenschaften erzwingt den Schluß auf die Notwendigkeit der Existenz eines Gegenstands, der kein bestimmter Gegenstand ist, auf den aber alle Urteile der Wissenschaft widerspruchsfrei beziehbar sein müssen. In der apodiktischen Geltung der Urteile der Naturwissenschaften sind diese bezogen auf ein an sich bestimmtes Material, einzelne empirische Gegenstände, die die 68

69

Christian Wohlers hat recht, in der Darstellung des Verhältnisses von Mathematik und Gegenstandskonstitution die Konstruktion von der Konstitution zu unterscheiden, doch sind die Gegenstände der Mathematik nicht beliebig konstruierbar. Vgl. Kants Theorie der Einheit der Welt, 95. KrV, 658, Β 741 f.

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bestimmten Inhalte der Erkenntnisse abgeben, und zugleich unabhängig von diesem an sich bestimmten Material in ihrer widerspruchsfreien Beziehung auf den transzendentalen Gegenstand = X. Sowohl die Synthesis nach den dynamischen als auch die Synthesis nach den mathematischen Kategorien enthält damit ein materielles und ein ideelles Moment. In der Genesis der Urteile ist das materielle Moment enthalten, in der apodiktischen Geltung der Urteile ist mit dem transzendentalen Gegenstand das ideelle Moment enthalten. Der transzendentale Gegenstand = X ist zwar kein Gegenstand möglicher Erfahrung, als Grund der Objektivität der wissenschaftlichen Urteile muß er aber auch real sein.

1.2 Zum System der kosmologischen Ideen 1.2.1 Die Idee der Natur in der transzendentalen Analytik In der transzendentalen Analytik ist dargelegt, daß jeder Erkenntnis die reinen Verstandesbegriffe als intellektuelle Formen zugrunde liegen. Insofern diese intellektuellen Formen durch die Schemata auf keinen anderen als einen möglichen empirischen Gebrauch restringiert werden, seien diese von immanentem70 Gebrauch. Damit der Gebrauch der Kategorien nicht beliebig, sondern a priori gewiß erfolge, müssen die Kategorien sich auf einen Gegenstand beziehen und in Beziehung auf diesen Gegenstand miteinander übereinstimmen. Dieser Gegenstand ist zunächst ununterschieden als Natur zu bezeichnen. Zwei Momente dieses Naturbegriffs sind in den beiden Fassungen der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe enthalten, die weder aufeinander rückführbar noch miteinander zu verschränken sind. Das erste Moment beschreibt Natur als das, was dem Denken heterogen entgegensteht. Die empirische Affinität behauptet eine Regularität der Erscheinungen und damit die ontologische Ordnung der ihnen zugrundeliegenden Gegenstände gemäß Gesetzen, wozu der an sich bestimmte Zinnober das Modell abgibt. Das zweite Moment dagegen bestimmt Natur als Reflexionsbegriff, als Objekt oder Natur überhaupt. Diesen Reflexionsbegriff unterscheidet Kant in den der natura materialiter spectata und den der natura formaliter spectata. Dieser Unterscheidung entspricht die der Natur als "Inbegriff von Erscheinungen (...)"71 und als "Menge von Vorstellungen des Gemüts (...)"72, die unter der Form der Gesetzmäßigkeit stehen. Die Natur als Inbegriff von Erscheinungen ist eine intensionale Bestimmung, die Natur als Menge von Vorstel70 71 72

Vgl. KrV, 359, Β 383. KrV, 166a, A 114. Ebda.

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lungen des Gemüts ist eine extensionale Bestimmung. Diese Doppelbestimmtheit der Natur wird im, transzendentalen Ideal der reinen Vernunft als ein affirmativer Begriff der Totalität, der sowohl als intensive Realität als auch als extensive Totalität zu fassen ist, wieder aufgegriffen. Implizit ist mit diesen Bestimmungen der Natur die Restriktion der reinen Verstandesbegriffe auf Gegenstände möglicher Erfahrung transzendiert, da weder die Totalität der Vorstellungen noch der Inbegriff der Erscheinungen ein Gegenstand möglicher Erfahrung oder als Gegenstände möglicher Erfahrung darstellbar sind. Sie sind vielmehr Resultat des Schlusses von der transzendentalen Einheit der Apperzeption auf die Affinität der Natur oder die "allgemeine Natureinheit (...)."73 Als erschlossene ist diese Einheit eine Idee der Vernunft74, die die Grenzen möglicher Erfahrung transzendiert. In der transzendentalen Analytik ist damit enthalten, was erst in der transzendentalen Dialektik ausgeführt wird, insbesondere im Abschnitt von dem transzendentalen Ideal der reinen Vernunft.

1.2.2 Kategorie und Idee Kategorien und Ideen sind bei Kant terminologisch streng unterschieden. Die einen sind Begriffe des Verstandes und konstitutiv für die Erkenntnisse, die anderen sind Begriffe der Vernunft und von nur regulativem Gebrauch. Der Verstand ist das Vermögen der Regeln, die Vernunft das Vermögen der Prinzipien dieser Regeln.75 Die Regeln, die an sich schon der transzendentalen Einheit der Apperzeption unterstehen, werden noch einmal geordnet nach Prinzipien der Vernunft. Insofern die Begriffe des Verstandes sich auf Gegenstände möglicher Erfahrung beziehen, sei die durch sie erzeugte Ordnung oder Einheit noch eine beschränkte, die einer Erweiterung bedürfe, damit der Verstand in seinem "Gebrauch, indem er aufs äußerste erweitert, zugleich mit sich selbst durchgehende einstimmig gemacht wird."76 Diese durchgängige Einstimmigkeit ist notwendig, damit erstens partikulare Erkenntnisse, das heißt einzelne Gesetze oder einzelne Gruppen von Gesetzen, die nach ihrem Gegenstandsbereich geordnet werden, allgemein gelten, und zweitens diese durchgängig zu einem System des Wissens zusammenschließbar sind. Ist jedoch die äußerste Erweiterung des Verstandes zum Unbedingten hin Voraussetzung seines Gebrauchs, fordert Kant hier, die distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs in die kollektive Einheit des Erfah-

73 74

75 76

KrV, 167a, A 114. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant explizit die Freiheit als "eine Idee der Vernunft (...)" von der Natur, die "aber ein V e r s t a n d e s b e g r i f f (...)"(GMS, 455) sei. Vgl. KrV, 338 ff., Β 356 ff. KrV, 357, Β 380.

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rungsganzen zu verwandeln, was er im Abschnitt über das transzendentale Ideal kritisiert.77 "Nun geht der transzendentale Vernunftbegriff jederzeit nur auf die absolute Totalität in der Synthesis der Bedingungen und endigt niemals als bei dem schlechthin, d.i. in jeder Beziehung Unbedingten. Denn die reine Vernunft überläßt alles dem Verstände, der sich zunächst auf die Gegenstände der Anschauung oder vielmehr deren Synthesis in der Einbildungskraft bezieht. Jene behält sich allein die absolute Totalität im Gebrauche der Verstandesbegriffe vor und sucht die synthetische Einheit, welche in der Kategorie gedacht wird, bis zum Schlechthinunbedingten hinauszuführen. Man kann daher diese die Vernunfteinheit der Erscheinungen, so wie jene, welche die Kategorie ausdrückt, V e r s t a n d e s e i n h e i t nennen."78

Daß hier die Rede von der Vernunfteinheit der Erscheinungen ist, zeigt ein Problem der Argumentation an, da die Idee nur unweit dieser Fundstelle als ein Vernunftbegriff bestimmt wird, "dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann." 79 Wie die Kategorie von der Idee sei auch die Verstandes- von der Vernunfteinheit wesentlich unterschieden.80 Ferner sind die Einheiten und die Begriffe zu diesen Einheiten unterschieden. Die Kategorien sind Funktionsbegriffe der Verstandeseinheit.81 Sie sind die "Bedingungen (...), welche die Einheit der Apperzeption möglich machen (..,)."82 Kant zufolge sind die "transzendentalen Ideen eigentlich nichts, als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien (~.)."83 Sind die Funktionsbegriffe der Einheiten durch Erweiterung der Kategorien zum Unbedingten ineinander überführbar, ist der Plural von Einheit problematisch und mit ihm die wesentliche Unterschiedenheit der Einheiten. Wenn durch die Beziehung auf die Totalität die Kategorie zur transzendentalen Idee wird, ließe sich umgekehrt folgern, daß die Kategorien als konstitutive Begriffe der Erkenntnis nur die Bedingungen bedingter, wirklicher Erfahrung sein könnten. Diese Konsequenz kommt auch darin zum Ausdruck, daß die "systematische Einheit (als bloße Idee) (...) dazu dient, (...)" den "besonderen Verstandesgebrauche (...) auch über die Fälle, die nicht gegeben sind, zu leiten und zusam-

77

78 79 80 81

82 83

KrV, 560, Β 610 f. Sowohl für die Kritik der, der distributiven Einheit des Verstandesgebrauchs vorausgesetzten, kollektiven Einheit des Erfahrungsganzen als auch für Notwendigkeit dieser Voraussetzung gibt es Argumente. Vgl. "(...) indem sie [die Vernunft, T.S.] eine gewisse kollektive Einheit zum Ziele der Verstandeshandlungen setzt, welche sonst nur mit der distributiven Einheit beschäftigt sind."(KrV, 606, Β 672). KrV, 358 f., Β 382 f. KrV, 359, Β 383. Vgl. KrV, 341, Β 359, vgl. 344, Β 363, vgl. 450, Β 450. In der doppelten Bedeutung des Genitivs als Genitivus subiectivus und Genitivus obiectivus. Zur Zirkularität von Kategorien und transzendentaler Einheit der Apperzeption vgl. Kapitel 1.1.1 dieser Arbeit. KrV, 153a, A 105. KrV, 440, Β 436.

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menhängend zu machen."84 Stimmte diese Konsequenz, daß der Verstandesgebrauch mittels der Kategorien noch nicht mit sich selbst durchgängig einstimmig sei und damit der Idee bedürfe, wären nicht nur die Kategorien auf die Gegenstände wirklicher Erfahrung restringiert, sondern auch die durch die Kategorien erst mögliche transzendentale Einheit der Apperzeption in derselben Weise restringiert auf ein Bewußtsein der Einheit der jeweils schon erkannten Gegenstände der Erfahrung. Dann wäre die Verstandeseinheit die Einheit des aktuell Erkannten. Der mögliche Einwand, daß diese Erklärung der Vernunfteinheit der Erscheinungen ebensowenig mit der Argumentation verträglich ist wie die erklärte Formulierung selbst, ist richtig. Die Kategorien sind als "die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt (...)"85 bestimmt. Dieser Begriff der möglichen Erfahrung ist weiter als der der wirklichen Erfahrung. Er enthält die Totalität86 der Erscheinungen, die selbst kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist. Wenn die Kategorien erstens schon als Begriffe der Totalität bestimmt sind, zweitens es offenbar einen Übergang von der Kategorie zur Idee durch eine Erweiterung gibt, ist nicht auszumachen, durch was der wesentliche Unterschied von Kategorie und Idee, mithin der von Verstandeseinheit und Vernunfteinheit, begründet ist. Zum Ersten: Im Unterschied zur Idee sind die Kategorien potentielle Totalitätsbegriffe. Sie sind die Begriffe zur Organisation der Totalität aller Gegenstände möglicher Erfahrung. Dagegen ist die eine Idee der Totalität, oder des Ganzen, der Potentialität der Kategorien notwendig vorausgesetzt. "Diese Vernunfteinheit setzt jederzeit eine Idee voraus, nämlich die von der Form eines Ganzen der Erkenntnis, welches vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorhergeht und die Bedingungen enthält, jedem Teile seine Stelle und Verhältnis zu den übrigen a priori zu bestimmen."87 Zum Zweiten: Die Erweiterung der Kategorie zur Idee ist kein quantitativer Übergang, wie irrtümlich aus manchen Formulierungen, wie der, daß die Vernunft "die Kategorie zur transzendentalen Idee macht (...)"88, zu folgern wäre, sondern enthält durch den spekulativen Schluß auf das Unbedingte einen Bruch. Dieser Bruch stellt ein Argument für den wesentlichen Unterschied von Kategorie und Idee dar. Insofern die Kategorien die Begriffe zur Organisation der Totalität sind, ist die durch sie begründete transzendentale Einheit der Apperzeption das Bewußtsein dieser Totalität. Diese Totalität als reale ist der transzendentale Gegen84 85 86 87 88

KrV, 608 f., Β 675. KrV, 162a, A 111. Vgl. KrV, 187a, A 127, vgl. 187b f. Fn. Β 166. KrV, 607, Β 673. KrV, 439, Β 436.

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stand = X. Als notwendiges Korrelat der transzendentalen Einheit der Apperzeption ist er erschlossener Reflexionsbegriff und zugleich reale Voraussetzung jeder einzelnen Erfahrung. Der einerseits als Verstandeseinheit zu bezeichnenden transzendentalen Einheit der Apperzeption, da durch die Verstandesbegriffe begründet, ist andererseits notwendig die Idee der Totalität in der "Form eines Ganzen der Erkenntnis (...)"89 vorausgesetzt, da sonst keine "durchgängige(n) Einheit des Selbstbewußtseins (...)"9° zu garantieren wäre. Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist demzufolge als Verstandeseinheit ein Vernunftbegriff.91 Wenn sich zum einen zeigen läßt, daß der von Kant behauptete Unterschied von Verstandeseinheit und Vernunfteinheit problematisch ist und sich zum anderen zeigen läßt, daß die Ideen als Begriffe der Vernunfteinheit sich in Antinomien verwickeln, ist ihr antinomischer Charakter und dessen Auflösung beziehbar auf die transzendentale Einheit der Apperzeption. Der nicht unproblematischen Unterscheidung von Verstandes- und Vernunfteinheit entgegen ist die in ihr enthaltene Intention, die partikularen Gesetze von der Organisation dieser zu einem System des Wissens zu unterscheiden, richtig. Die partikularen Gesetze sind nur zu gewinnen unter der Voraussetzung einer Isolation bestimmter Naturphänomene aus der unübersehbaren Fülle aller dieser Naturphänomene und, sofern diese Gesetze in Experimenten demonstrierbar sind, leistet die Versuchsanordnung diese Isolation gegen die Totalität der Gegenstände. Daß die der Verstandeserkenntnis zuzurechnenden partikularen Gesetze einer Disziplin der Naturwissenschaften kompatibel sind mit partikularen Gesetzen einer anderen Disziplin, ist weder aus den untersuchten Gegenständen noch aus den partikularen Gesetzen selbst zu folgern. Deshalb bedarf der Verstand als das Vermögen der Regeln bzw. der Gesetze eines ihm übergeordneten Prinzips, das die Resultate seiner Tätigkeit systematisiert. "Diese Idee [der Form eines Ganzen der Erkenntnis, T.S.] postuliert demnach vollständige Einheit der Verstandeserkenntnis, wodurch diese nicht bloß ein zufälliges Aggregat, sondern ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhängendes System wird."92

89 90 91

92

KrV, 607, Β 673. KrV, 163a, A 111. Georg Picht deutet diese Konsequenz an: "Indem Kant die Verstandeseinheit [die transzendentale Einheit der Apperzeption, T.S.] zu bestimmen versucht, ist er genötigt, gegen seine eigenen Regeln zu verstoßen, oder anders gesagt, die von ihm selbst gezogenen Grenzen zu Uberschreiten. An diesem Widerspruch setzt später die Philosophie des Deutschen Idealismus ein. Sie hat Kant wegen dieser Grenzüberschreitung mit vollem Recht nicht getadelt sondern gelobt, und hat ihn nur deswegen getadelt, weil der aus der Unausweichlichkeit dieser Grenzüberschreitung nicht die gebotene Konsequenz gezogen hat."(Kants Religionsphilosophie, 425 f.). KrV, 607, Β 673. Daß diese Systematisierung der Verstandeserkenntnisse in der Retrospektive des Fortschritts der Wissenschaften nicht a priori gelungen ist, ist demonstrierbar daran, daß die Inkompatibilität der Maxwellschen Gesetze der Elektrodynamik mit den Gesetzen der

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Freiheit und Natur in der Kritik der reinen Vernunft

1.3 Kausalität aus Freiheit oder Kausalität nach Naturgesetzen 1.3.1 Regressive

und progressive

Synthesis, zur gespaltenen

Totalität

Kant unterscheidet in der Idee der Form eines Ganzen der Erkenntnis oder der Totalität die Totalität der regressiven von der der progressiven Synthesis: "Ich will die Synthesis einer Reihe auf der Seite der Bedingungen, also von derjenigen an, welche die nächste zur gegebenen Erscheinung ist, und so zu den entfernteren Bedingungen, die r e g r e s s i v e , diejenige aber, die auf der Seite des Bedingten von der nächsten Folge zu den entfernteren fortgeht, die p r o g r e s s i v e Synthesis nennen. Die erstere geht in antecedentia, die zweite in consequentia. Die kosmologischen Ideen also beschäftigen sich mit der Totalität der regressiven Synthesis und gehen in antecedentia, nicht in consequentia. Wenn dieses letztere geschieht, so ist es ein willkürliches und nicht notwendiges Problem der reinen Vernunft, weil wir zur vollständigen Begreiflichkeit dessen, was in der Erscheinung gegeben ist, wohl der Gründe, nicht aber der Folgen bedürfen. (...) Die Zeit ist an sich selbst eine Reihe (und die formale Bedingung aller Reihen), und daher sind in ihr, in Ansehung einer gegebenen Gegenwart, die antecedentia als Bedingungen (das Vergangene) von den consequentibus (dem Künftigen) a priori zu unterscheiden. Folglich geht die transzendentale Idee, der absoluten Totalität der Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten, nur auf alle vergangene Zeit. Es wird nach der Idee der Vernunft die ganze verlaufene Zeit als Bedingung des gegebenen Augenblicks notwendig als gegeben gedacht."93 Gegenstand der kosmologischen Ideen sei allein die Totalität der regressiven Synthesis. Der eigens getroffenen Definition dessen, was absolut sei: "ohne Restriktion (...)" 94 geltend, entgegen unterscheidet Kant die Absolutheit der Totalität in eine regressive und eine progressive. D i e Totalität der progressiven Synthesis sei ein willkürliches, somit nicht notwendiges Problem der Vernunft.

93 94

Newtonschen Mechanik erst durch die Entwicklung der speziellen Relativitätstheorie Einsteins behoben wurde. Nicht als Beweis dieser Kompatibilität, sondern nur als Beleg, daß die Inkompatibilität in der Entwicklung der speziellen Relativitätstheorie thematisch ist, sei folgendes genannt: Das spezielle Relativitätsprinzip besagt, daß es unendlich viele, relativ zueinander in Translationsbewegungen befindliche, gleichberechtigte Systeme, sogenannte Inertialsysteme, gebe. Die Transformation dieser Systeme geschieht durch die Galüei-Transfonnation. "(...) Daraus folgt, daß die klassische Mechanik dem speziellen Relativitätsprinzip entspricht (...). Aber diese Bestrebung, die Translationsrelativität auf die Galilei-Transformation zu gründen, scheitert an den elektromagnetischen Vorgängen. Die Maxwell-Lorentzschen elektromagnetischen Feldgleichungen sind bezüglich Galilei-Transformationen nicht kovariant. (...) Es wäre also der Bezugsraum von Κ [ein Inertialsystem, T.S.] bezüglich seiner physikalischen Eigenschaften von allen relativ bewegten Bezugsräumen ausgezeichnet (ruhenden Äther)."(Albert Einstein: Grundzüge der Relativitätstheorie, 17 f.). Das aber verträgt sich nicht mit der Gleichheit der Lichtgeschwindigkeit in allen Inertialsystemen. KrV, 441 f., Β 438. KrV, 358, Β 382.

Kausalität aus Freiheit oder Kausalität nach Naturgesetzen

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Unterschiede Kant die regressive und die progressive Synthesis nicht voneinander, müßte in jeder Erscheinung nicht nur die Folge aller vorangegangenen Bedingungen sondern auch die Folge aller zukünftigen Bedingungen virtuell gegeben sein. Alle Erscheinungen, sowohl die vergangenen als auch die noch nicht erschienenen, wären durchgängig bestimmt nach den dynamischen Kategorien Kausalität und Wechselwirkung, Vergangenheit und Zukunft wären nicht zu unterscheiden, Geschichte nicht zu denken. Das, worin Vergangenheit und Zukunft koinzidieren, das heißt auch unterscheidbar sind, ist die Gegenwart. In ihr verwandelt sich die regressive in die progressive Synthesis. Ohne die Gegenwart selbst zu begründen, setzt im Zitat Kant eine "gegebene(n) Gegenwart" voraus, in der die Bedingungen von den Folgen zu unterscheiden sind, um mit einem "folglich" schließen zu können, daß die Idee der absoluten Totalität nur in der regressiven Synthesis begründet sein könne. Die Subreption in diesem Schluß liegt darin, daß die Gegenwart als Voraussetzung des Unterschieds von regressiver und progressiver Synthesis selbst nicht begründet ist. Der Unterschied von regressiver und progressiver Synthesis ist unter der vorausgesetzten durchgängigen Bestimmung der Erscheinungen weder unmittelbar einzusehen noch folgt er aus dem Begriff der Totalität. Richtig an diesem Schluß ist, daß die Erscheinungen nur in der Gegenwart gegeben sein können. Diese Gegenwart ist jedoch erst vom Terminus ad quem der transzendentalen Dialektik, die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit als möglich zu erweisen und als Einheit und Unterschied von regressiver und progressiver Synthesis zu begründen. Als Einheit und Unterschied beider Synthesen ist die Gegenwart widersprüchlich bestimmt. Implizit enthält dieser Widerspruch der Einheit und Unterschiedenheit von regressiver und progressiver Synthesis die Möglichkeit von Freiheit, deren eine Gestalt Geschichte ist. Analog zur Koinzidenz von regressiver und progressiver Synthesis in der Gegenwart koinzidieren diese im Ursprung. Der aufgegebene Regressus zu jedem Bedingten seine Bedingung zu finden, führt auf einen Regressus in indefinitum, dessen spekulativer Abbruch durch ein Unbedingtes notwendig in Widerspruch zu diesem steht. So gewiß es ist, daß jeder Mensch Eltern hat, ist "die Reihe der Voreltern zu einem gegebenen Menschen (...)"9S nicht nur kein Gegenstand möglicher Erfahrung, da sie sich im Dunkel der Ahnenfolge verliert, sondern nötigt die Vernunft, erste Eltern zu postulieren, deren Existenz weder aus früheren Eltern noch aus Nicht-Eltern zu begründen ist. Dieser Ursprung ist spekulativ erschlossen. Voraussetzung dieses Schlusses auf einen notwendig unbedingten Ursprung der regressiven Synthesis ist die progressive Synthesis. Die Vorstellung der Ahnenfolge, daß eine Generation aus der früheren hervorging, ist

95

KrV, 508, Β 541.

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Voraussetzung dafür, diese rückwärts auf ihren Ursprung hin zu untersuchen.96 Im Ursprung, der einerseits unbedingte Bedingung der Progression aller folgenden Bedingungen, andererseits Resultat des Schlusses der Regression aller vorangegangenen Bedingungen auf ihre erste, unbedingte Bedingung ist, koinzidieren regressive und progressive Synthesis. Für diesen Ursprung als unbestimmter Bedingung der bestimmten Bedingungen und Einheit von regressiver und progressiver Synthesis bietet Kant mehrere Ausdrücke an: Weltanfang, Weltgrenze, das Einfache, die absolute Naturnotwendigkeit und die absolute Selbsttätigkeit oder Freiheit.97 Zunächst sind Ursprung und Gegenwart hinsichtlich ihrer Einheit von regressiver und progressiver Synthesis analog bestimmt. Insofern der Ursprung als ein Akt der durch nichts bedingten Selbsttätigkeit, die als Freiheit zu bezeichnen ist, und die Kausalität aus Freiheit als das "Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen (...)"98, dessen Realisierung in der Gegenwart stattfindet, bestimmt ist, sind Ursprung und Gegenwart auch hinsichtlich ihrer Unbedingtheit analog. Damit ist der zeitliche Ort der Freiheit sowohl der Ursprung als auch die Gegenwart.

96

Im Mythos der Theogonie von Hesiod ist die Voraussetzung der Lobpreisung der Götter durch Hesiod der gewordene "Stamm der unsterblichen ewigen Götter". Die progressive Darstellung des Werdens der Götter beginnt mit der Frage nach ihrem Ursprung: "Sagt mir denn, wie Götter zuerst und Erde geworden, Auch die Ström', und des Meers endlos aufstüimender Abgrund Auch die leuchtenden Stern' und der weit umwölbende Himmel; Und, die aus jenen entsproßt, die seligen Geber des Guten, Wie sie das Reich sich getheilt, und göttliche Ehren gesondert, Und wie zuerst sie behauptet den vielgewundnen Olympos. Dies nun meldet mir, Musen, olympische Häuser bewohnend, Seit dem Beginn, und saget, wie eins von jenen zuerst ward. Siehe, vor allem zuerst ward Chaos; aber nach diesem Ward die gebreitete Erd', ein daurender Siz den gesamten Ewigen, welche bewohnen die Höhn des beschneiten Olympos, Tartaros' Graun auch im Schooße des weitumwanderten Erdreichs, Eros zugleich, der, geschmückt vor den Ewigen allen mit Schönheit, Sanft auflösend, den Menschen gesamt und den ewigen Göttern Bändiget tief im Busen den Geist und bedachtsamen Rathschluß. Erebos ward aus dem Chaos, es ward die dunkele Nacht auch. Dann aus der Nacht ward Äther und Hemera, Göttin des Lichtes (...)."(100 f., Verse 108-124).

97 98

Die .gähnende Leere' des Chaos ist der spekulative Begriff des Unbestimmten, das den Ursprung des Werdens aller Bestimmtheit abgeben soll. Das rationale Moment des Mythos' besteht darin, daß zum einen regressiv nach dem Ursprung gefragt wird und zum anderen der in dem Schluß auf die Unbedingtheit des Ursprungs enthaltene Widerspruch zum Prinzip der Progression erklärt wird. Vgl. KrV, 446 f., Β 446. KrV, 523, Β 561.

Kausalität aus Freiheit oder Kausalität nach Naturgesetzen

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1.3.2 Zur dritten Antinomie der reinen Vernunft Die transzendentalen oder kosmologischen Ideen beziehen sich auf die Totalität der regressiven Synthesis. Die regressive Synthesis ist Resultat der Anwendung der Kategorie der Kausalität auf Erscheinungen. Nur sie erzeuge eine Reihe" von Ursachen und Wirkungen. Da die Ideen nach Kant nichts anderes als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien seien, seien jene "nach den Titeln der letzteren angeordnet (,..)."100 Entsprechend der vier Titel der Kategorien ergeben sich vier kosmologische Ideen, deren jede auf eine Antinomie führe. "1. Die a b s o l u t e V o l l s t ä n d i g k e i t der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen. 2. Die absolute Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung. 3. Die absolute Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung überhaupt. 4. Die a b s o l u t e V o l l s t ä n d i g k e i t der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erscheinung." 101

Allen vier Ideen liegt der Begriff der regressiven Synthesis zugrunde. An der Konstruktion der vier kosmologischen Ideen und ihren Antinomien irritiert, daß die unter dem Titel der Kategorien der Relation stehende Kategorie der Kausalität einerseits die Voraussetzung aller kosmologischen Ideen darstellt und andererseits selbst unter dem Titel einer kosmologischen Idee abgehandelt wird. Als Voraussetzung der regressiven Synthesis aller kosmologischen Ideen scheint die Kategorie Kausalität die strikte Unterscheidung von mathematischen und dynamischen Kategorien102, die sich von den kosmologischen Ideen103 über die Unterscheidung von Welt- und Naturbegriffen104 bis hin zu den Antinomien fortsetzt, zu konterkarieren. Die Kategorie Kausalität ist von Kant nur zur Erklärung dynamischer Synthesen, die auf das Dasein der Erscheinungen gehen, bestimmt. Daß Kant sie zur Voraussetzung aller kosmologischen Ideen erklärt und damit auch auf mathematische Verhältnisse anwendet, scheint diese Unterscheidung zurückzunehmen. Kant hält aber an dem Unterschied von dynamisch und mathe99

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104

Das, was Kant eine Reihe nennt, ist in der Mathematik eine Folge. Allgemein ist eine Reihe die Folge ihrer Partialsummen: Die zu einer Folge (a„) gehörige Partialsummenfolge (sn) heißt unendliche Reihe: ai+a2+a3+... oder (S„) η Ε Ν. Es geht Kant nicht um die Summe der Folgenglieder, sondern um die Unendlichkeit der Folge. Schreibt Kant davon, " w e n n d a s B e d i n g t e g e g e b e n i s t , so ist a u c h d i e g a n z e S u m m e d e r B e d i n g u n g e n , m i t h i n d a s s c h l e c h t h i n U n b e d i n g t e gegeben"(KrV, 440, Β 436), muß dies als unendliche Menge interpretiert werden. KrV, 440, Β 436. KrV, 444 f., Β 443. Vgl. KrV, 214 ff., Β 199 ff. Vgl. die gesamte Schlußanmerkung unter dem Titel: " z u r A u f l ö s u n g d e r m a t h e m a t i s c h transzendentalen, und V o r e r i n n e r u n g zur A u f l ö s u n g der dynamischt r a n s z e n d e n t a l e n Ideen"(KrV, 519 ff., Β 556 ff.). Vgl. zum Unterschied von mathematischem und dynamischem Regressus auch KrV, 543, Β 588. Vgl. KrV, 447 f., Β 446 ff. Vgl. Christian Wohlers: Kants Theorie der Einheit der Welt, 170 ff.

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Freiheit und Natur in der Kritik der reinen Vernunft

matisch fest und betont, dieser Unterschied sei ein "wesentlicher Unterschied (...)"105, der zum Dreh- und Angelpunkt der Auflösung der dritten Antinomie und damit der Vereinbarkeit von Natur und Freiheit werde. Auf eine weitere irritierende Eigentümlichkeit sei hingewiesen: Kant gibt der dritten kosmologischen Idee den Titel "Die absolute Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung". Die Kategorie Kausalität beschreibt erstens das Verhältnis von Ursache und Wirkung, zweitens ist sie die Voraussetzung der regressiven Synthesis, die die absolute Vollständigkeit zum Ziel hat. Das Verhältnis von Ursache und Wirkung, mithin die Kategorie Kausalität, muß zur Erklärung der Entstehung, und mit ihr des Daseins, einer Erscheinung angewandt werden. Da in dem Prozeß der Entstehung aus Nichts Etwas wird oder die Ursache der Wirkung eine unbedingte Ursache ist, steht die unbedingte Ursache in dem Prozeß der Entstehung nicht selbst wieder unter der Kategorie Kausalität. Die absolute Vollständigkeit der Entstehung ist so mit der Unbedingtheit der Ursache gegeben. Mit der Wahl des Titels der dritten kosmologischen Idee hat Kant die Forderung, vermittelst der regressiven Synthesis, die absolute Vollständigkeit zu erreichen, erstens erfüllt, zweitens damit den Inhalt der Thesis im Titel der sich in Widerstreit verwickelnden Idee antizipiert und drittens bleibt er die Erklärung des Vermögens, das vermag eine Reihe, die unter der Kategorie Kausalität steht, zu produzieren, aber selbst nicht dieser unterworfen ist, noch schuldig.

A. Thesis Die Thesis des dritten Widerstreits der transzendentalen Ideen lautet: "Die Kausalität ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig."106

Die Beweisführung ist apagogisch, sowohl in der Thesis als auch der Antithesis.107 Die Thesis geht vom Gegenteil des Beweisziels aus: Wären alle Erscheinungen in der Erklärung einer Erscheinung nach der Kategorie Kausalität zu verknüpfen, ergäbe sich eine unendliche Folge von Bedingungen und Bedingtem. Da jeder Bedingung eine ältere vorausgehe, sei keine Vollständigkeit der Folge zu erreichen. Von dieser Vollständigkeit hänge aber die Form der Gesetzmäßigkeit der Natur ab: "daß ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache 105

106 107

KrV, 520, Β 557. Gegen Kant kommt Christian Wohlers zu dem Schluß: "Ein sachlicher Unterschied zwischen Welt und Natur ist also weder im Hinblick auf die KdrV noch im Hinblick auf die MadN von der Unterscheidung eines mathematischen und eines dynamischen Aspekts her verständlich."(Kants Theorie der Einheit der Welt, 173). KrV, 462, Β 472. Vgl. Odo Marquard: Skeptische Methode im Blick auf Kant, 95.

Kausalität aus Freiheit oder Kausalität nach Naturgesetzen

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nichts geschehe."108 Die Form der Gesetzmäßigkeit der Natur fordere demnach einen affirmativen Begriff der Vollständigkeit der regressiven Synthesis. Dieser affirmative Begriff der Vollständigkeit, in dem die unendliche Folge von Bedingungen und Bedingtem aktuell enthalten ist, sei der Bestimmung der Ursache als einer hinreichenden vorausgesetzt. Nach Kant kann es einen solchen affirmativen Begriff des Vollständigen oder Unendlichen nicht geben, sondern nur einen negativen als Begriff des potentiell Unendlichen, da zu jedem Folgenglied, ein weiteres, zu jeder Bedingung, eine weitere angebbar sei. Weil nur ein potentiell Unendliches, dessen Unabgeschlossenheit zur ins Unendliche laufenden Regression nötige, denkbar sei, "widerspricht der Satz, als wenn alle Kausalität nur nach Naturgesetzen möglich sei, sich selbst in seiner unbeschränkten Allgemeinheit (...)."109 Dieser Widerspruch110 wird zum Argument, eine von der Naturkausalität unterschiedene Kausalität aus Freiheit anzunehmen.111 Die Kausalität aus Freiheit wird als das Vermögen, "eine Reihe von Erscheinungen (...) von selbst anzufangen (...)" m , zum Garanten der Vollständigkeit oder Abgeschlossenheit der Folge.

B. Exkurs Voraussetzung des Arguments, eine besondere Art von Kausalität, die Kausalität aus Freiheit, anzunehmen, ist die Unabgeschlossenheit der Reihe bzw. Folge. Die Reihe bzw. Folge ist Resultat der Anwendung der Kategorie Kausalität. In der Diskussion der dritten Antinomie identifiziert Kant die Gesetze der Natur einzig mit der Kategorie Kausalität, da die Kategorie Wechselwirkung keine Subordination, sondern nur eine Koordination der Erscheinungen zulasse und so weder für Thesis noch Antithesis brauchbar erscheine. Zwar führt die Kategorie Kausalität, je nach dem sie auf eine Erscheinung oder mehrere angewandt wird, auf eine oder mehrere Reihen bzw. Folgen, doch ist eine durchgängige Verknüpfung aller Erscheinungen durch sie allein nicht herstellbar. Die verschiedenen Reihen existierten distinkt, ohne einander zu tangieren - was der Vorstellung von einer aus unendlich vielen Reihen bestehenden vertikal organisierten Totalität gleichkäme. Erst die Hinzunahme der Kategorie Wechselwirkung schließt diese distinkten Reihen zu einer durchgängigen Verknüpfung aller Erscheinungen zusammen. Wenngleich bezogen auf einen 108 109 110

111 112

KrV, 463, Β 474. Ebda. Vgl. dagegen Andreas Gunkel: Spontaneität und moralische Autonomie, 69. Andreas Gunkel bestreitet diesen Widerspruch. Vgl. Andreas Gunkel: Spontaneität und moralische Autonomie, 58. KrV, 463, Β 474.

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Freiheit und Natur in der Kritik der reinen Vernunft

anderen Gegenstand, die Verhältnisse der "universal vergesellschafteten Gesellschaft", ist dieses die Intention des Begriffs der Integration "(...) als universale Abhängigkeit aller Momente von allen (...). Jeder [Zustand, T.S.] hängt horizontal wie vertikal mit allen zusammen, tingiert alle, wird von allen tingiert."113 Daran, nur die Kausalität dem Gesetz der durchgängigen Verknüpfung der Erscheinungen zugrunde zu legen, setzt die hegelsche Kritik der dritten Antinomie an: "Die wahrhafte Auflösung dieser Antinomie ist die Wechselwirkung, daß die Ursache, welche in Wirkung übergeht, an dieser wieder eine ursachliche Rückwirkung hat, wodurch die erste Ursach zur Wirkung, zum Gesetzten wird (.,.)."114 Da in der durch die Ursache hervorgebrachten Wirkung die Ursache mit sich selbst in Beziehung stehe, sei die Kausalität an sich eine reflexive Relation, so bereits die Wechselwirkung. In der Wechselwirkung sei erstens der schlecht-unendliche Progreß der Folge von Ursachen und Wirkungen "umgebogen" in einen des "unendlichen Wechselwirken(s)" 1 1 5 , womit die Forderung der Antithesis nach durchgängiger Bestimmung, ohne eine erste Ursache annehmen zu müssen, erfüllt ist. Zweitens ist in der Wechselwirkung die Bedingtheit der Ursache aufgehoben, so daß die in der Thesis zum Argument der Freiheit erhobene Vollständigkeit der Folge der Bedingungen garantiert und die Reflexivität der Relation als Freiheit zu interpretieren ist. Der Witz bei Kant, den Hegel gewitzt für seine Kritik auszunutzen weiß, ist, daß in der Alternative, Freiheit oder Natur, sowohl für die Freiheit als auch die Natur mit dem Begriff der Kausalität argumentiert wird. Die, gemäß der Antithesis, mit der Kausalität unvereinbare Freiheit ist Kausalität aus Freiheit. Das meint der adornosche Satz: "Noch Freiheit konstruiert er [Kant, T.S.] als Spezialfall von Kausalität."116 Hegel löst die Antinomie mit dem Begriff der Wechselwirkung, die er als die Wahrheit der Kausalität ausgibt, so daß "keines der beiden Momente der Causalität [die Momente sind: erste Ursache und Wirkung oder Freiheit und Natur (-notwendigkeit), T.S.] ein für sich Absolutes [ist, T.S.], sondern nur dieser in sich geschlossene Kreis der Totalität an und für sich ist."117

113 114

115 116 117

Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, 264. Hegel: Philosophische Propädeutik, Zweite Abteilung. Logik, (hrsg. von Karl Rosenkranz), 136, §84. Hegel: Wissenschaft der Logik, 1812/13,407. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, 248. Hegel: Philosophische Propädeutik, Zweite Abteilung. Logik, (hrsg. von Karl Rosenkranz), 190.

Kausalität aus Freiheit oder Kausalität nach Naturgesetzen

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C. Antithesis Die Antithesis lautet: "Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur."118 Die Antithesis, deren Beweisziel die durchgängige Verknüpfung aller Erscheinungen nach der Kategorie Kausalität ist, geht von der Kausalität aus Freiheit aus.119 Im kantischen Text sind zwei Argumente gegen die Freiheit enthalten, die nicht explizit von Kant unterschieden werden. Beide sind sachlich miteinander verschränkt, doch lassen sich beide Argumente getrennt voneinander darstellen: Erstens, da die absolute Spontaneität der Ursache keine weitere Ursache voraussetze, stehe sie dem Kausalgesetz, daß zu jeder Ursache eine weitere angebbar sein müsse, entgegen. Zweitens, Kant schreibt: "Es setzt aber ein jeder Anfang zu handeln einen Zustand voraus der noch nicht handelnden Ursache (,..)."120 Der Anfang einer Handlung setze einen Zustand einer nicht handelnden Ursache voraus. Da der Anfang und die Ursache einer Handlung sachlich hier nicht zu unterscheiden sind und der Anfang oder die Ursache einer Handlung einen Zustand einer nicht handelnden Ursache voraussetzten, fordert Kant einen Anfang oder eine Ursache von Nichts, da eine nicht handelnde Ursache eine Ursache ohne Wirkung wäre. Die Wirkung der Ursache ist jedoch deren Bestimmung, nur von der Wirkung kann auf die Ursache der Wirkung geschlossen werden. In der Bestimmung der Ursache sind damit die progressive und die regressive Synthesis in Einheit. Fordert Kant dagegen einen Anfang ohne etwas, das durch ihn angefangen wird, oder eine erste Ursache ohne deren Wirkung, sind weder die progressive noch die regressive Synthesis denkbar. Freiheit als ein solcher Anfang oder eine solche erste Ursache wäre die reine Potentialität, auf die nicht einmal durch die regressive Synthesis zu schließen wäre, da sie sich in Nichts aktualisierte. Aus beiden Argumenten wäre die Alternative zu formulieren: Entweder ist Freiheit als erste Ursache ohne Wirkung die reine Potentialität, auf die nicht einmal zu schließen wäre, oder Freiheit bringt als erste Ursache eine Wirkung

118 119

120

KrV, 462*, Β 473. Peter Strawson gilt die Antithesis als "a simple denial of freedom"(The bounds of sense, 208). Herbert Meyer weist dies zurück, indem er in "praktischer Hinsicht [die Antithesis, T.S.] eher als Kritik der unzureichenden Freiheitskonzeption der Thesis (,..)"(Herbert Meyer: Kants transzendentale Freiheitslehre, 26) ansieht. In der Antinomie bereits den positiven Begriff der praktischen Freiheit einzuführen, weil "mit dem rein indeterministischen Freiheitsbegriff der Thesis gar nicht gedient sein kann"(ebda), antizipiert dessen Einfuhrung in der Auflösung der Antinomie und übersieht die Notwendigkeit der transzendentalen Freiheit für die Vollständigkeit der Reihe von Bedingungen und die systematische Einheit aller Erkenntnisse. KrV, 462*, Β 473.

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hervor, die dem Gesetz ihrer Kausalität121 untersteht. Die Aktualität der Freiheit in dieser letzteren Bestimmung als Kausalität aus Freiheit wäre Voraussetzung des Schlusses auf die Freiheit als Potentialität. Die aktualisierte Freiheit stünde damit unter dem Gesetz der Kausalität, ohne daß zu ihrer Ursache eine andere angebbar wäre. Im Begriff der Kausalität ist, wie Adorno bemerkt hat, die Äquivokation enthalten, zum einen die Kausalität nach Gesetzen der Natur, die zu jeder Bedingung die ihr vorausgesetzte fordert, und zum anderen die Kausalität aus Freiheit, auf die sich nur aus ihrer Wirkung schließen ließe, ohne daß zu der Ursache dieser Wirkung eine andere Ursache angebbar wäre. Beide Argumente sind sachlich dadurch miteinander verschränkt, daß die Aktualität der Kausalität aus Freiheit Voraussetzung des Schlusses auf die Freiheit als reine Potentialität ist, und umgekehrt die reine Potentialität der Freiheit das ist, was ihre Kausalität von der Kausalität nach Naturgesetzen unterscheidet. Beide Argumente koinzidieren in der Bestimmung der Freiheit als Kausalität aus Freiheit. Freiheit als Kausalität aus Freiheit kann nicht wie die Kausalität nach Naturgesetzen auf einen Widerspruch geführt werden. Freiheit als Kausalität aus Freiheit wird dem Kausalgesetz als Bedingung der Einheit der Erfahrung entgegengesetzt.122 Das zentrale Argument lautet: Weil die Kausalität aus Freiheit den nach der Kategorie Kausalität organisierten durchgängigen Zusammenhang der Erscheinungen durchlöchere, destruiere sie die Einheit der Erfahrung (...)."123 Ist die Einheit der Erfahrung, die eine Welt, der kollektiven Einheit des Bewußtseins als ihr Gegenstand nicht mehr gegeben, beziehen die verschiedenen Subjekte dieser Einheit des Bewußtseins sich auf verschiedene Welten, und die Aussagen über die Gegenstände dieser Welten wären miteinander so verträglich wie die Welten einander glichen. Die kollektive Einheit des Bewußtseins oder Wissenschaft wären zufällig. Doch Kant wäre nicht Kant, wenn nicht auch gegen diese Konsequenz ein Argument, allerdings außerhalb der Erörterung der dritten Antinomie stehend, zu zitieren wäre: "Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch, d. i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System (...). Da also die Antithesis nirgend ein Erstes einräumt, und keinen Anfang, der schlechthin zum Grunde des Baues dienen könnte, so ist ein vollständiges Gebäude der Erkenntnis, bei dergleichen Voraussetzungen, gänzlich unmöglich. Daher führt das architektonische Interesse der Vernunft (...) eine natürliche Empfehlung für die Behauptungen der Thesis bei sich."124 Einerseits zerrütte die in der Thesis angenommene Freiheit die Einheit der Erfahrung, andererseits sei die Freiheit, so ist aus dem eben Zitierten zu folgern, notwendige Bedingung der systematischen Einheit aller Erkenntnisse. Die Einheit der Erfah121 122 123 124

Dies gilt auch für den intelligiblen Charakter. Vgl. KrV, 527, Β 567. Vgl. Henry Allison: Kant's theory of freedom, 20, 23 ff. KrV, 463*, Β 475. KrV, 479, Β 502 f.

Kausalität aus Freiheit oder Kausalität nach Naturgesetzen

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rung und die Einheit der Erkenntnis sind aber nicht identisch. Wären die Gegenstände nur in der einen Erfahrung125 den empirischen Subjekt zugänglich, setzte die Erkenntnis dieser Gegenstände die Fähigkeit voraus, die Totalität wahrnehmen zu können und damit die Fähigkeit zu intellektueller Anschauung. Da der menschliche Verstand dieser intellektuellen Anschauung nicht fähig sei, sondern nur denkend das Mannigfaltige der Anschauung "zur Einheit der Apperzeption zu bringen (,..)"126 vermag, ist die Isolation von Erscheinungen aus dem Zusammenhang aller Erscheinungen eine Voraussetzung von Naturerkenntnissen. Die Isolation von Erscheinungen aus der durchgängigen Verknüpfung aller Erscheinungen, empirisch im Versuchsaufbau eines Experiments und durch die Angabe von Randbedingungen, ist ein Resultat der technischpraktischen Freiheit.127 Die Freiheit ist damit die Voraussetzung einer jeden Naturerkenntnis, die notwendig partikular und gleichwohl von notwendig allgemeiner Geltung ist. Als Voraussetzung partikularer Naturerkenntnisse ist die Destruktion der Einheit der Erfahrung notwendig. Die Restriktion der Kategorie Kausalität auf partikulare Systeme führt aber auf das Problem, daß die Einheit dieser partikularen Naturerkenntnisse nicht garantiert ist. Das, was die Einheit der einzelnen Erkenntnisse garantiert, ist die, bereits genannte, Idee der Form eines Ganzen aller Erkenntnisse oder deren systematische Einheit. Diese Idee ist nicht empirisch zu gewinnen, sondern Resultat der Spekulation, die auf nichts anderem als der Spontaneität oder Freiheit beruht. Sowohl die Partikularisierung der einzelnen Erkenntnisse, die der Verstandeseinheit zuzuschreiben sind, als auch die ihr übergeordnete Vernunfteinheit sind Voraussetzung von Wissenschaft und Resultat der Freiheit. Mit der Wirklichkeit von Wissenschaft, die von Kant nie bestritten wurde128, ist die Antinomie von Kausalität und Freiheit "zugunsten der Autonomie der Subjektivität [entschieden, T.S.], wenn diese eine Bedingung der Möglichkeit exakter Wissenschaft ist."129

125 126 127

128 129

Vgl. KrV, 160a, A 110, vgl. 559, Β 610. KrV, 158b, Β 143. Zum Verhältnis von vorausgesetzter Wirklichkeit der Freiheit im theoretischen Erkennen und deren Begründung durch das moralische Gesetz als Erkenntnisgrund schreibt Gerold Prauss: "War Kant nicht möglicherweise in einer fundamentalen Täuschung befangen, indem er meinte, einen selbständigen und eigentümlichen Zugang zur Freiheit als Wirklichkeit nicht gefunden zu haben, ihn vielmehr allein durch das Moralgesetz finden zu können?"(Gerold Prauss: Kant Uber Freiheit als Autonomie, 116). Vgl. KrV, 52*. Β 20 f. Peter Bulthaup: Die transzendentale Einheit der Apperzeption, das System des Wissens und der Begriff gesellschaftlicher Arbeit, 102. Vgl. "For this line of argument [creating a logical space for the transcendental idea of freedom, T.S.] to amount to a proof of transcendental idealism, it would be necessary to establish the reality of such freedom. But this is precisely what Kant denies to be possible (.. .)."(Henry Allison: Kant's theory of freedom, 25).

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Freiheit und Natur in der Kritik der reinen Vernunft

D. Thesis und Antithesis Zwischen Thesis und Antithesis liegt eine folgenreiche Akzentverschiebung im Begriff der Freiheit vor: Die Antithesis unterscheidet Natur und Freiheit mit den Begriffen Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit.130 Natur sei das unter der Form der Gesetzmäßigkeit Stehende, Freiheit das der Form der Gesetzmäßigkeit Entgegenstehende.131 Die Thesis dagegen behauptet die Freiheit als das Vermögen, "eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen [Hervorhebung von mir, T.S.] läuft, von selbst anzufangen, ohne welche selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig ist."132 Da die Freiheit als Vermögen der Vollständigkeit der Reihen bzw. Folgen, die nach der Kategorie Kausalität verknüpft sind, bestimmt ist, ist die Gesetzlosigkeit der Freiheit Voraussetzung der Erkenntnis von Naturgesetzen. Der Thesis zufolge ist die Freiheit damit auf den "Laufe der Natur" bezogen. Die Antithesis behauptet dagegen, daß, selbst wenn Freiheit als Vermögen der Vollständigkeit der Bedingungen zugestanden werde, dieses Vermögen "außerhalb der Welt sein (...)"133 müsse. Könnte die Freiheit nur als außerhalb der Welt gedacht werden, bezöge sie sich ausschließlich auf sich selbst, wäre dann ein "leeres Gedankending (,..)"134, ein ens rationis. Naturwissenschaften, die immer auch ein Moment technisch-praktischer Freiheit in ihrer Tätigkeit enthalten, wären nicht möglich. Die Akzentverschiebung im Begriff der Freiheit von der Thesis zur Antithesis besteht demnach darin, daß letzterer zufolge die Freiheit als intelligible Ursache keine reale Ursache zeitigen könnte. Alle Antinomien werden von Kant durch die regressive Synthesis auf den Begriff des potentiell Unendlichen gebracht. Dieser Begriff des potentiell Unendlichen sei für "einen jeden Verstandesbegriff entweder zu groß oder zu

130 131

132 133 134

Vgl. KrV, 463*, Β 475. Gerold Prauss überträgt diese Entgegensetzung auf das Verhältnis des transzendentalen zum praktischen Freiheitsbegriffs: "Ist nämlich Freiheit dieses Andere zur Gesetzlichkeit der Natur gerade als Ungesetzlichkeit oder Regellosigkeit, so bedeutet das zunächst einmal: Ausgerechnet für solche Bewegung, fur die sie selbst der Ursprung sein soll, nämlich für Handlung des Menschen, hat Freiheit aus sich selbst heraus anscheinend übeifaaupt kein Gesetz, nichts von Prinzip, keinerlei Regel (...). Vielmehr ist genau in dieser Hinsicht so etwas wie Freiheit als Ungesetzlichkeit oder Regellosigkeit offenbar etwas für sich selber schlechterdings Leeres (...)."(Gerold Prauss: Kant über Freiheit als Autonomie, 55). Die Leere oder die Regellosigkeit, die der Freiheit der Antithesis zufolge zum Problem werde, ist in der Kritik der praktischen Vernunft (KpV, 49, 85) durch das Sittengesetz ausgefüllt bzw. behoben, so daß die Konsequenz, Freiheit mit dem "Fähnlein im Winde fremdgeregelter Bewegung"(Geiold Prauss: Kant über Freiheit als Autonomie, 55) gleichzusetzen, mit der Einführung der praktischen Freiheit und des Sittengesetzes nicht mehr angemessen erscheint. KrV, 463, Β 474. KrV, 464*, Β 479. KrV, 463», Β 475.

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klein (...)."135 Zu groß, wenn versucht würde, das Unendliche sukzessive, von Bedingung zu deren Bedingung usf., zu durchschreiten. Zu klein, wenn die regressive Synthesis durch ein Erstes abgebrochen würde. In Begriffen der dritten Antinomie ausgedrückt: "Die bloß wirkende Natur ist also für allen euren Begriff, in der Synthesis der Weltbegebenheiten, zu groß. (...) Wählt ihr, hin und wieder, von selbst gewirkte Begebenheiten, mithin Erzeugung aus Freiheit; so verfolgt euch das Warum nach einem unvermeidlichen Naturgesetze, und nötigt euch, über diesen Punkt nach dem Kausalgesetze der Erfahrung hinauszugehen, und ihr findet, daß dergleichen Totalität der Verknüpfung für euren notwendigen empirischen Begriff zu klein ist." 136

Die logische Struktur der Antinomien ist die der Alternative oder der Disjunktion.137 Entweder es gilt die Aussage der Thesis oder es gilt die der Antithesis. Im apagogischen Beweis der Thesis wird die Voraussetzung des Beweises, die Annahme der durchgängigen Organisation aller Erscheinungen nach der Kategorie Kausalität auf einen Widerspruch geführt. In Kurzform: Die Thesis besagt, wenn nur Naturkausalität anzunehmen sei, dann ergäbe sich keine Vollständigkeit der Folge, was dem Gesetz der Kausalität, der hinreichend bestimmten Ursache, widerspreche, deshalb müsse auch eine Kausalität aus Freiheit angenommen werden. Im Unterschied dazu kann im apagogischen Beweis der Antithesis nicht die Voraussetzung des Beweises, die Annahme einer unbedingten Ursache aus Freiheit, auf einen Widerspruch geführt werden. Die Kausalität aus Freiheit widerspricht nicht sich selbst, sondern der durchgängigen Verknüpfung nach der Kategorie Kausalität, die die Einheit der Erfahrung begründe. Weil die Einheit aller möglichen Erfahrung eine notwendige Voraussetzung von Wissenschaft ist, könne es keine Freiheit geben. Zwischen Thesis und Antithesis besteht im apagogischen Beweis eine Asymmetrie. In der Thesis wird die durchgängige Organisation aller Erscheinungen nach der Kategorie Kausalität auf einen Widerspruch geführt. In der Antithesis wird bewiesen, daß die Kausalität aus Freiheit der Kausalität nach Naturgesetzen widerspreche. Die Asymmetrie besteht darin, daß jeweils der Begriff der Kausalität der Beweisgrund ist. Symmetrisch wären die Beweise, wenn beide Annahmen der apagogischen Beweise für sich, das heißt auch die Kausalität aus Freiheit, auf einen Widerspruch zu führen wären. Die Freiheit als reine Potentialität widerspräche sich selbst, da sie ohne etwas, worin sie sich aktualisierte, kein Bestehen hätte, als reine Potentialität wäre sie die Möglichkeit von nichts Bestimmtem und damit selbst Nichts. Der Schluß auf die Freiheit als Potentialität hat deren aktualisierte Form zur Voraussetzung. Logisch wäre dem133 136 137

KrV, 488, Β 514. KrV, 489, Β 516. Vgl. KrV, 525, Β 564.

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nach die Wirkung der Potentialität als deren aktualisierte Form vorausgesetzt. Ontologisch wäre dagegen die reine Potentialität, die jedoch drohte, von Nichts nicht unterscheidbar zu sein, vorausgesetzt. Da die Wirkung der Potentialität als deren aktualisierte Form auch unter den Begriff der Kausalität fällt, sind im Begriff der Freiheit als Kausalität aus Freiheit sowohl die aktualisierte Form der Potentialität als auch die reine Potentialität, die dadurch bestimmt ist, daß sie keine weitere Ursache hat, damit unbedingt ist, enthalten.138 Die Freiheit als Kausalität aus Freiheit widerspricht damit der Kausalität nach Naturgesetzen, die Voraussetzung der Einheit der Erfahrung ist, nicht jedoch sich selbst. Der Form nach stehen Thesis und Antithesis in dem Verhältnis eines kontradiktorischen Widerspruchs: Alle Erscheinungen sind nach der Kategorie Kausalität organisiert, Einiges kann nicht durch die Kausalität nach Naturgesetzen erklärt werden, sondern setzt Kausalität aus Freiheit voraus. Thesis und Antithesis können weder beide wahr noch beide falsch sein. "Wenn daher das eine wahr ist: so ist das andere falsch und umgekehrt."139 Der Wahrheitswert der Kontradiktion ist falsch. Formallogisch wäre die Antinomie damit nicht entscheidbar. Die kantische Argumentation ist jedoch ihrem Anspruch nach keine formallogische Argumentation.140 Unter der Voraussetzung der Existenz exakter Naturwissenschaften ist die Antinomie dennoch nicht entscheidbar. Sie scheint zugunsten der Freiheit entscheidbar zu sein, da die Antithesis in ihrer allgemein bejahenden Form im Beweis der Thesis auf einen Widerspruch geführt wird. Wäre jedoch die Antithesis falsch, unterminierte diese mit der Einheit der Erfahrung die objektive Voraussetzung exakter Wissenschaft.141 Wäre dagegen die Thesis falsch142 und somit strikte Naturkausalität anzunehmen, dann müßte deren Begriff aus ihr selbst folgen, was auf ein durch die Naturkausalität determiniertes Bewußtsein der Wissenschaft betreibenden Subjekte hinausliefe. Daß die Gegenstände die Vorstellungen von diesen Gegenständen bestimmen würden, steht jedoch Kants Argumentation entgegen. Überdies wäre, wenn die Thesis als falsch zu erweisen wäre, der Begriff der praktischen Freiheit, der sich 138

139 140 141

142

Vermutlich liegt auch Herbert Meyers Überlegungen das Verhältnis von Freiheit als reiner Potentialität und deren aktualisierte Form als Erkenntnisgrund zugrunde. Dieses Verhältnis bereits als Auflösung der Antinomie anzunehmen, verkennt jedoch den Gehalt der Antithesis. Vgl. "Durch diese Integration des Moments der Determination in den Freiheitsbegriff gelingt nun auch die Auflösung der oben aufgewiesenen Antinomie (...)."(Herbert Meyer: Kants transzendentale Freiheitslehre, 41). Logik, 117, §48. Vgl. KrV, 94 ff., Β 74 ff. Hans Wagner betont, daß fur Kant "doch das gesamte Geschehen in unserer empirischen Welt von Naturkausalität und ihrer (...) Gesetzlichkeit unverbrüchlich bestimmt ist, - und Kant ist von letzterem überzeugt."(Kants ergänzende Überlegungen zur Möglichkeit von Freiheit im Rahmen der Auflösung der dritten Antinomie, 226). Diese Annahme schlägt Peter Strawson als Lösung der Antinomie vor: "The thesis, then, is false, the antithesis true."(The bounds of sense, 209).

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auf dem Begriff der transzendentalen Freiheit gründe, und damit Moral, nicht möglich. Beinahe wörtlich sind diese beiden, apagogisch geführten, Argumente für die Thesis in der Reflexion 5441 zu finden: "Alle unsre und anderer Wesen Handlungen sind necessitirt, nur allein der Verstand (und der Wille, so fern er durch Verstand bestimmt werden kann.) ist frey und eine reine Selbstthätigkeit, die durch nichts anderes als sich selbst bestimmt ist. Ohne diese ursprüngliche und unwandelbare Spontaneitaet würden wir nichts a priori erkennen; denn wir wären zu allem bestirnt, und unsere Gedanken selbst ständen unter empirischen Gesetzen. Das vermögen, a priori zu denken und zu handeln, ist die einzige Bedingung der möglichkeit des Ursprungs aller andern Erscheinungen. Das sollen würde auch gar keine Bedeutung haben."143 Die Nichtentscheidbarkeit der Antinomie ist nicht mit Kants Absicht, die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit nachzuweisen, kompatibel. Der kontradiktorische Widerspruch der Antinomien sei nach Kant "durch Berichtigung und Bestimmung gewisser darin vorkommender Begriffe (...)"144 aufzulösen. Dieser Auflösung zufolge seien die mathematischen Antinomien in konträre Widersprüche zu verwandeln, so daß "beide dialektischen Gegenbehauptungen für falsch erklärt werden (...)"145 müßten. Die dynamischen Antinomien seien dagegen in subkonträre Widersprüche zu verwandeln, so daß Thesis und Antithesis "alle beide wahr sein können (...)."14i Das Beweisziel der Auflösung der dritten Antinomie, daß Thesis und Antithesis beide wahr seien oder, "daß Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite (...)"147, sei zu erreichen, dadurch daß an "einen wesentlichen Unterschied (...), der unter den Objekten, d. i. den Verstandesbegriffen herrscht, welche die Vernunft zu Ideen zu erheben trachtet (.,.)"148, erinnert werde149.

143 144 145 146

147 148 149

Reflexionen (Metaphysik), 182 f. KrV, 497, Β 526. KrV, 521 f., Β 559. KrV, 522, Β 560. Heinz Röttges hat recht damit, daß die Auflösung der dritten Antinomie nach dem Modell der mathematischen Antinomien "fatale Konsequenzen"(Kants Auflösung der Freiheitsantinomie, 40) für die Begründung der Objektivität von Wissenschaft und die Möglichkeit von praktischer Freiheit hätte. "Die Auflösung der Freiheitsantinomie, würde sie nach dem Vorgang der Auflösung der ersten beiden Antniomien vorgenommen, nämlich daß Thesis und Antithesis beide falsch sind, würde also die theoretische und praktische Philosophie Kants im Prinzip negieren."(40, vgl. 34). Hervorzuheben ist, daß Heinz Röttges die Nicht-Entscheidbarkeit der dritten Antinomie auf die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie bezieht. KrV, 542, Β 586. KrV, 520, Β 557. Hingewiesen sei auf die Schrift von Wolfgang Ertl Kants Auflösung der "dritten Antinomie", als Darstellung des Forschungsstands ist sie hilfreich.

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Freiheit und Natur in der Kritik der reinen Vernunft

1.3.3 Zur Auflösung der dritten Antinomie Drei Varianten der Vereinbarkeit von Natur und Freiheit sind anhand des Textes sowohl zu entwickeln als auch zu belegen. Ihnen entsprechen, wenngleich nicht streng, die textchronologisch angeordneten Passagen A. "Schlußanmerkung zur Auflösung der mathematisch-transzendentalen, und Vorerinnerung zur Auflösung der dynamisch-transzendentalen Ideen" 150 , B. "Auflösung der kosmologischen Ideen von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen"151 und C. "Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit, in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesetze der Naturnotwendigkeit" 1 5 2 . Dieser Einteilung kann nur soweit gefolgt werden, als die Argumentationen nicht verschränkt sind.

A. Die mathematischen und die dynamischen Antinomien stimmen darin überein, daß sie in der regressiven Synthesis mit dem Begriff eines potentiell Unendlichen argumentieren. Ihr Unterschied besteht jedoch darin, daß die mathematischen Antinomien auf der "Synthesis des Gleichartigen (...)"153 beruhen, wogegen bei den dynamischen Antinomien eine Synthesis des "Ungleichartigen (...) wenigstens zugelassen werden muß."154 Die dynamische Folge sinnlicher Bedingungen erlaube demnach eine ungleichartige Bedingung, die allerdings "nicht ein Teil der Reihe [sein dürfe, T.S.], sondern, als bloß intelligibel, außer der Reihe liegt, wodurch denn der Vernunft ein Genüge getan und das Unbedingte den Erscheinungen vorausgesetzt wird, ohne die Reihe der letzteren, als jederzeit bedingt, dadurch zu verwirren und, den Verstandesgrundsätzen zuwider, abzubrechen."155 Die Forderung, sich eine Folge von Bedingungen zu denken, die eine ungleichartige Bedingung nur zulasse, wenn diese außerhalb der Folge stehe, ist aporetisch.156 Zudem läuft sie der Argumentation der Thesis zuwider. Die absolute Spontaneität, eine Folge von Erscheinungen von selbst zu beginnen, war dort 150 151 152 153 154 155 156

KrV, 519, Β 556. KrV, 522, Β 560. KrV, 527, Β 566. KrV, 521, Β 558. Ebda. KrV, 521, Β 558 f. Vgl. "Diese Unterscheidung [von dynamischen und mathematischen Antinomien, T.S.] soll das ungeklärte [HervoAebung von mir, T.S.] - Einwirken einer ungleichartigen Ursache - mithin eine intelligible Ursache als denkbar zulassen."(Heinz Röttges: Kants Auflösung der Freiheitsantinomie, 41).

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ausdrücklich auf die sinnliche Natur bezogen.157 Nur unter Rekurs auf diese Aussage der Thesis ist die Formulierung aus der Vorerinnerung zur Auflösung der dynamisch-transzendentalen Ideen, die Folge der Erscheinungen sei "mit der zwar empirischunbedingten, aber auch nichtsinnlichen Bedingung verknüpft (.,.)"158, erklärbar: Einer empirischunbedingten Bedingung geht erstens keine weitere sinnliche Bedingung voraus, woraus zweitens unmittelbar zu folgern ist, daß sie unbedingt ist. Das Vermögen, das vermag, diese Bedingung in die empirische Welt zu setzen, muß drittens von dieser Welt unterschieden, außer ihr, ungleichartig, sein, da es sonst selbst nur Wirkung einer Ursache wäre. Viertens muß dieses Vermögen der empirischen Welt auch angehören, um eine empirischunbedingte Ursache in die Welt hineinbringen zu können. Die Konsequenz, daß die Kausalität aus Freiheit auch in der Welt anzutreffen sein müsse, wehrt Kant ab159: "Dagegen verstehe ich unter Freiheit, im kosmologischen Verstände, das Vermögen, einen Zustand von s e l b s t anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht (...). Die Freiheit ist in dieser Bedeutung eine reine transzendentale Idee, die erstlich nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, zweitens deren Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann (...)."16°

In der erörterten Passage der Kritik der reinen Vernunft argumentiert Kant, daß die Synthesis des Ungleichartigen möglich sein, das heißt die Synthesis der sinnlichen mit der intelligiblen Bedingung zusammenstimmen könne. Dem sind die Passagen, deren Gegenstand die dritte Antinomie ist, aus der Schrift über die Fortschritte der Metaphysik entgegenzustellen.161 Die kontradiktorische Form des Verhältnisses von Thesis und Antithesis ist nach Kant dadurch in die Form eines subkonträren Verhältnisses, dem zufolge die Aussagen gleichermaßen wahr sein können, zu verwandeln, daß "die Reihe der Bedingungen in zweyerley verschiedener Art, nämlich als Object der Sinnlichkeit, oder der bloßen Vernunft betrachtet wird." 162 Dieser Unterschied, zwischen der sinnlichen und der intelligiblen Bedingung oder der causa phaenomena und der causa noumena163, setzte die Kausalität nach Naturgesetzen und die Kausalität aus Freiheit außer aller Gemeinschaft. Die Verwandlung der kontradiktorischen Form des Widerspruchs von Thesis und Antithesis in die sub157 158 159 160 161 162 163

Diese Kritik stimmt mit der Andreas Gunkels überein. Vgl. Andreas Gunkel: Spontaneität und moralische Autonomie, 65f. KrV, 522, Β 559. Vgl. Heniy Allison: Kant's theory of freedom, 25. KrV, 523, Β 561. Elemente dieser Passagen decken sich jedoch auch mit Passagen aus der Kritik der reinen Vernunft. Vgl. Unterkapitel B. im Kapitel 1.3.3 dieser Arbeit. Fortschritte, 328, 192. Fortschritte, 328 f., 192 f.

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konträre Form setzte voraus, die Antithesis, deren Form die eines allgemein bejahenden Urteils ist, in ein partikulär bejahendes Urteil zu verwandeln. Danach stünde die Thesis als ein partikulär verneinendes Urteil der Antithesis als ein partikulär bejahendes Urteil entgegen: Einiges kann nicht durch die Kausalität nach Naturgesetzen erklärt werden, sondern setzt Kausalität aus Freiheit voraus, und einiges kann durch die Kausalität nach Naturgesetzen erklärt werden. Kant argumentiert, daß die kontradiktorische Form der Antinomie durch "Berichtigung und Bestimmung"164 der Begriffe, die den Inhalt der Form ausmachten, in ein subkonträres Verhältnis zu verwandeln sei. Diese Verwandlung, die konstitutiv für die Auflösung der Antinomie ist, bestimme das "Subject der entgegengesetzten Urtheile [d. h. die Kausalität, die eine Reihe von Bedingungen erzeuge, T.S.] (...) in verschiedener Bedeutung (,..)."165 Die korrigierte Bestimmung des Inhalts hebe demnach die kontradiktorische Form auf.166 Die Korrektur der Bestimmung des Inhalts, in welcher "die Reihe der Bedingungen in zweyerley verschiedener Art [Hervorhebung von mir, T.S.], nämlich als Object der Sinnlichkeit, oder der bloßen Vernunft betrachtet wird"167, behauptet damit, daß die Objekte der Sinnlichkeit und die der Vernunft verschiedener Art seien. Das worin, die Verschiedenheit der Arten als Übergeordnetem in Einheit ist, ist die Gattung. Da der Schluß auf die Einheit dieser Verschiedenen ein Schluß der Vernunft ist, fallt die Einheit der Objekte der Sinnlichkeit und der Objekte der Vernunft in das Denken. Diese Asymmetrie, die von Kant wohl kaum intendiert war, ist aus der Korrektur der Bestimmung des Inhalts der Antinomie zu entwickeln. Dadurch daß Natur und Freiheit oder die sinnliche und die intelligible Ursache in der Schrift über die Fortschritte der Metaphysik als zweierlei Arten, die in der ihnen übergeordneten Gattung in Einheit sind, bestimmt werden, wäre die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit durch das Denken in das Denken verlegt. Dieses Resultat stimmt mit dem Resultat der erörterten Passage aus der Kritik der reinen Vernunft überein: Die aporetische Formulierung, sich eine Folge von Bedingungen zu denken, die eine ungleichartige Bedingung nur zulasse, wenn diese außerhalb der Folge stehe, setzte Natur und Freiheit außer aller Gemeinschaft. Wären sinnliche und intelligible Bedingung oder Natur und Freiheit im kosmologischen Verstände ungleichartig, widersprächen sie einander nicht. Die Ungleichartigkeit von Natur und Freiheit hätte zur Folge, daß diese - entgegen 164 165 166

167

KrV, 497, Β 526. Fortschritte, 291,96. Andreas Gunkel behauptet dagegen, daß die Urteile "sich zwar der Form nach kontradiktorisch, aber dem Inhalte nach subkonträr zueinandei"(Andreas Gunkel: Spontaneität und moralische Autonomie, 63) verhielten. Dies hätte jedoch zur Voraussetzung, daß Form und Inhalt sich selbst widersprechend zu bestimmen wären. Fortschritte, 328,192.

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der Schrift über die Fortschritte der Metaphysik - nicht in einem übergeordneten Dritten als deren Gattung in Einheit wären. Gäbe es kein Drittes als Beziehungsgrund, wäre auch kein Unterscheidungsgrund zu denken. Ohne den gemeinsamen Grund der Unterscheidung von Natur und Freiheit wären beide absolut unterschieden. Als absolut Unterschiedene wären sie durch Nichts zu unterscheiden, damit nicht unterschieden oder identisch. Der Schluß von der Ungleichartigkeit auf den absoluten Unterschied und damit die Identität von Natur und Freiheit ist ein Schluß des Denkens. Darin, daß die Vereinbarkeit bzw. Identität von Natur und Freiheit in das Denken fällt, stimmen die Argumentationen aus der Schrift über die Fortschritte der Metaphysik und die aus der Kritik der reinen Vernunft überein. Daß beide, von entgegengesetzten Prämissen ausgehend, dasselbe Resultat ergeben, ist Ausdruck der Dialektik in Kants Argumentationen zur dritten Antinomie. Beide Argumentationen haben zur Konsequenz, daß Freiheit als reine transzendentale Idee, die weder aus der Erfahrung entnommen noch in ihr anzutreffen sei, bestimmt ist. Diese Konsequenz der Auflösung der Antinomie erscheint auch Kant "überaus merkwürdig (...)"168, hat sie doch zur Folge, daß praktische Freiheit, deren Grund die transzendentale sei, nicht denkbar wäre.

Exkurs zu A Hegel hat die Auflösung der dynamischen Antinomie durch deren absolute Unterschiedenheit aufgedeckt: "(...); die Auflösung [der dynamischen Antinomien, T.S.] lautet dahin, diese Gegensätze nicht auf diese dürftige Weise zu beziehen, sondern sie als absolut ungleichartig, außer aller Gemeinschaft seyend zu denken. (...) sie ganz außer aller Gemeinschaft gedacht, widerstreiten sie sich nicht."169 Sind Natur und Freiheit als außer aller Gemeinschaft stehend absolut unterschieden, sind sie durch kein Drittes, und damit selbst nicht, unterscheidbar. Der Begriff des absoluten Unterschieds ermöglicht es Hegel, aus der kantischen Philosophie den Schluß zu ziehen, "daß die Vernunft zugleich absolute Realität habe, daß in dieser Idee aller Gegensatz der Freyheit und der Notwendigkeit aufgehoben (...) ist (...). Diese Idee ist nun durchaus keine andere als diejenige, welche der ontologische Beweis, und alle wahre Philosophie als die erste und einzige, sowie allein wahre und philosophische erkennt."170 Der Gedanke, daß die absolute Unterschiedenheit auf die Identität der Unterschiedenen führt, ist auch in dem fragmentarischen Studienheft Novalis' zur Naturwissen168 169 170

KrV, 523, Β 561. Hegel: Glauben und Wissen, A. Kantische Philosophie, 337 f. Hegel: Glauben und Wissen, A. Kantische Philosophie, 344 f.

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Freiheit und Natur in der Kritik der reinen Vernunft

schaft nachzulesen: "Das Reich der Willkühr (Anarchie) und d[as] Reich der Gesetze-das System - Archie - haben nichts mit einander zu t h u n - S i e sind abs[olut] getrennt - Harmonische Synthese beyder."m Überdies schreibt Novalis: "Eine wahre Antinomie ist eine abs[olute] Gleichung."172

B. Die Merkwürdigkeit, daß praktische Freiheit, deren Grund die transzendentale sei, nicht denkbar wäre, mag Kant veranlaßt haben, die Frage, "ob nicht vielmehr b e i d e s [Naturkausalität oder Kausalität aus Freiheit, T.S.] in verschiedener Beziehung bei einer und derselben Begebenheit zugleich stattfinden könne (...)"173 noch einmal aufzugreifen. "Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten. Alsdann ist Natur die vollständige und an sich hinreichend bestimmende Ursache jeder Begebenheit, und die Bedingung derselben ist jederzeit nur in der Reihe der Erscheinungen enthalten, die, samt ihrer Wirkung, unter dem Naturgesetze notwendig sind. Wenn dagegen Erscheinungen für nichts mehr gelten, als sie in der Tat sind, nämlich nicht für Dinge an sich, sondern bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind. Eine solche intelligible Ursache aber wird in Ansehung ihrer Kausalität nicht durch Erscheinungen bestimmt, obzwar ihre Wirkungen erscheinen, und so durch andere Erscheinungen bestimmt werden können. Sie ist also samt ihrer Kausalität außer der Reihe; dagegen ihre Wirkungen in der Reihe der empirischen Bedingungen angetroffen werden."174

Die Formulierung, sich eine Kausalität außer der Reihe zu denken, deren Wirkung aber in der Reihe erscheinen soll, ist äquivalent zu der Formulierung175, die darauf führte, Freiheit und Natur außer aller Gemeinschaft zu setzen. Das Argument, Natur und Freiheit als miteinander vereinbar zu beweisen, ist hier jedoch ein anderes: Weil Erscheinungen Vorstellungen seien, keine Dinge an sich, müßten diese Vorstellungen einen Grund haben, der selbst nicht eine Erscheinung sei. Diesen Grund nennt Kant die intelligible Ursache. Die intelligible Ursache ist als erschlossener Begriff der Ursache der Erscheinungen Resultat der Spontaneität des Denkens, der transzendentalen Freiheit. Die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit ist damit, bis auf einen Vorbehalt, vollständig in das Denken verlegt. Gedachte Vorstellung und den Vorstellungen zugrunde liegende intelligible Ursache sind als gedachter Begriff und erschlossener Begriff des Denkens a priori 171 172 173 174 175

Novalis: Aus den Freiberger Naturwissenschaftlichen Studien, 1798/99,456. Novalis: Aus den Freiberger Naturwissenschaftlichen Studien, 1798/99,470. KrV, 525, Β 564. KrV, 526, Β 564 f. Vgl. KrV, 521, Β 558 f.

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kompatibel. Der Vorbehalt dagegen, daß diese Kompatibilität darauf beruhe, Vorstellungen als bloße Produktionen des Denkens anzusehen, ist richtig, da die Erscheinungen als Vorstellungen sich vermittelst der Anschauung auf Gegenstände der empirischen Welt beziehen müssen, und kommt auch darin zum Ausdruck, daß Kant "dasjenige an einem Gegenstande der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist, intelligibel (...)"176 nennt. Der Differenz von dem, was an einem Gegenstand der Sinne Erscheinung und das, was Intelligibilität ist, liegt der Unterschied von Verstand und Vernunft zugrunde. Der Verstand bezieht sich auf Erscheinungen als sinnliche Vorstellungen177, die Vernunft dagegen ist das intelligible Vermögen der Erscheinungen, indem es die Einheit dieser Erscheinungen garantiert, die selbst nicht sinnlich ist. Insofern diese Einheit als Idee der intelligiblen Ursache oder des transzendentalen Gegenstands178 jeder Erscheinung zugrunde liegt, sind die Idee der Freiheit und die Erscheinung als bloße Vorstellung eines Gegenstands der Natur miteinander vereinbar. Sind sowohl die Freiheit als auch die erscheinenden Gegenstände der Natur als bloß gedachte bestimmt, wäre die transzendentale Freiheit als spontanes Vermögen zugleich das Vermögen, die Erscheinungen und mit ihnen die Gegenstände dieser Erscheinungen zu produzieren. Sie wäre dann der Existenzgrund der Welt der Erscheinungen, hätte aber den Mangel, daß die Notwendigkeit, den Existenzgrund der Erscheinungen zu denken, nicht seine Wirklichkeit einschlösse. Insofern diese Erscheinungen nicht, als bloß gedachte, vollständige Produktionen des Denkens sein können, sondern immer Erscheinungen der auch an sich bestimmten Sinnenwelt sind, sind transzendentale Freiheit und Natur nicht vereinbar. Die Auflösung durch Hinsichten der Vereinbarkeit von Natur und Freiheit an einer Begebenheit ist keine Lösung. Der eigens getroffenen Unterscheidung von intelligibler Ursache, die selbst keine Erscheinung ist, und deren Wirkungen, die aber zur Auflösung der Antinomie erscheinen können sollen, gesteht Kant zu, daß auch sie "äußerst subtil und dunkel erscheinen muß

176 177 178

179

Ebda. Der Begriff taucht bei Kant auf. Vgl. KrV, 709, Β 808. Vgl. KrV, 527, Β 566 f. KrV, 526, Β 565.

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Freiheit und Natur in der Kritik der reinen Vernunft

c. Setzte der erste Versuch, die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit zu beweisen, an der Ungleichartigkeit der Bedingung einer Reihe, bzw. daß diese zweierlei verschiedener Art seien, der zweite an der Einführung verschiedener Hinsichten bei einer und derselben Begebenheit an, schließt Kant nun180 von dem Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen auf den Träger dieses Vermögens. Mit dem Schluß auf die Träger dieses Vermögens, die Subjekte, in ihrer traditionellen Bestimmung als vernunftbegabte Sinnenwesen erhält die Argumentation eine Wendung, die jedoch zur Folge hat, daß die Begriffe transzendentale und praktische Freiheit nicht auseinander zu halten sind. Der Träger dieses Vermögens sei das Wesen, an dem Intelligibilität und Sensibilität widerspruchsfrei zu denken seien. Der Charakter dieses Wesens sei demnach doppelt bestimmt: "(...) erstlich [müsse es, T.S.] einen empirischen Charakter haben, wodurch seine Handlungen, als Erscheinungen, durch und durch mit anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhange ständen (...). Zweitens würde man ihm noch einen intelligiblen Charakter einräumen müssen, dadurch es zwar die Ursache jener Handlungen als Erscheinung ist, der aber selbst unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht, und selbst nicht Erscheinung ist."181 Als "Phänomen"182, darin es jedem anderen Naturding gleicht, steht dieses Wesen unter dem Verstandesgesetz, das einer jeden Ursache eine andere voraussetze. Als "Noumenon" 1 8 3 dagegen ist es außerhalb der empirischen Folge. Zwei Stränge der Argumentation, die miteinander verschränkt sind, werden bei Kant parallel geführt. Der erste hat die Kausalität, der zweite die Selbsterkenntnis des in sich gespaltenen Wesens zum Gegenstand. Die Kausalität des Wesens als Phänomen ist die praktische Handlung. Die Kausalität des Wesens als Noumenon ist ein Imperativ: "Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt."184 Daß die Kausalität dieses Wesens nicht vollständig in seinen praktischen Handlungen aufgeht, sonst "müßten sich alle seine Handlungen nach Naturgesetzen erklären lassen (...)"185, "ist aus den Imperativen klar (,..)."186 Das Sollen des Imperativs "drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund

180

181 182 183 184 185 186

Dies sei ein "neue(r) Anlauf, der "ErIäuterung"."(Hans Wagner: Kants ergänzende Überlegungen zur Möglichkeit von Freiheit im Rahmen der Auflösung der dritten Antinomie, 230). KrV, 527 f., Β 567. KrV, 533, Β 574. KrV, 529, Β 569. KrV, 534, Β 575. KrV, 529, Β 568. KrV, 533 f., Β 575.

Kausalität aus Freiheit oder Kausalität nach Naturgesetzen

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nichts anderes, als ein bloßer Begriff ist (...)."187 Die Existenz des Imperativs ist von Kant als der Erkenntnisgrund bestimmt, die Handlungen nicht als vollständig nach Naturgesetzen erklärbar anzusehen.188 Der Imperativ enthält aber nur die Möglichkeit einer Handlung. Soll der Imperativ die Möglichkeit von Freiheit begründen, ist jedoch seine Wirklichkeit, als realisierter Imperativ, vorausgesetzt: "so muß [Hervorhebung von mir, T.S.] sie, so sehr sie auch Vernunft ist, dennoch einen empirischen Charakter von sich zeigen (...)"189; oder: der empirische Charakter ist die Erscheinung des intelligiblen Charakters190, der erscheinen muß. Da die Vernunft nicht nur negativ als unabhängig von empirischen Bedingungen, sondern auch positiv als ein die Handlungen bestimmendes Vermögen bestimmt ist, "folgt sie nicht der Ordnung der Dinge (...), sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt (...)."191 Diese Ordnung nach Ideen muß bereits hier, in der Argumentation der Kritik der reinen Vernunft, als die durch das moralische Gesetz bestimmte sittliche Ordnung aufgefaßt werden. Seinem eigenen Programm entgegen, weder die Wirklichkeit noch die Möglichkeit von Freiheit bewiesen haben zu wollen, vielmehr die Freiheit nur als transzendentale Idee 192 behandelt zu haben, argumentiert Kant in der Auflösung der dritten Antinomie notwendig mit dem Begriff der praktischen Freiheit, der den Unterschied zwischen moralisch-praktischer und technisch-praktischer Freiheit enthält. Zum Verhältnis des Begriffs moralisch-praktischer Freiheit, dem Sittengesetz und der Antinomie der reinen Vernunft schreibt Kant in der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft: "Die Vereinigung der Kausalität, als Freiheit, mit ihr, als Naturmechanism, davon die erste durchs Sittengesetz, die zweite durchs Naturgesetz, und zwar in einem und demselben Subjekte, dem Menschen, fest steht, ist unmöglich, ohne diesen in Beziehung auf das erstere als Wesen an sich selbst, auf das zweite aber als Erscheinung, jenes im reinen, dieses im e m p i r i s c h e n Bewußtsein, vorzustellen. Ohne dieses ist der Widerspruch der Vernunft mit sich selbst unvermeidlich."193

Der zweite Strang der Argumentation dreht sich um die Selbsterkenntnis des in sich gespaltenen Wesens. Sie geschehe einerseits "durch bloße Apperzeption (.,.)"194 des Ich, andererseits dadurch, daß das Ich "sich selbst (...) Phänomen C·.)"195 sei. Jene sei durch die Vernunft, diese durch den Verstand möglich. Das 187 188 189 190 191 192 193 194 195

KrV, 534, Β 575. Vgl. Henry Allison: Kant's theory of freedom, 38. KrV, 535, Β 577. Vgl. KrV, 529, Β 569. KrV, 534, Β 576. Vgl. KrV, 542, Β 586. KpV, 6 Fn, 10. KrV, 533, Β 574. Ebda.

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Freiheit und Natur in der Kritik der reinen Vernunft

Ich erkennt sich selbst damit einmal als reine Intelligibility oder Vernunfteinheit und als durch die Kategorien bewirkte Verstandeseinheit. Gezeigt werden konnte, daß die transzendentale Einheit der Apperzeption die durch die Kategorien begründete Verstandeseinheit, aber selbst ein Vernunftbegriff ist, da ihr notwendig die Idee der Totalität in der Form eines Ganzen der Erkenntnis vorausgesetzt ist. Wenn der Unterschied von Verstandeseinheit und Vernunfteinheit problematisch ist und die Ideen als Begriffe der Vernunfteinheit sich in Antinomien verwickeln, ist die Antinomie und der Versuch ihrer Auflösung beziehbar auf die transzendentale Einheit der Apperzeption. Insofern das "Ich denke" sowohl sich selbst als Vorstellung als auch jede andere Vorstellung muß begleiten können, ist das Ich gespalten: "Ich als Subject, und das Ich als Object. (...) Es wird dadurch aber nicht eine doppelte Persönlichkeit gemeint, sondern nur Ich, der ich denke und anschaue, ist die Person, das Ich aber des Objectes, was von mir angeschauet wird, ist gleich andern Gegenständen außer mir, die Sache."196 Gleich anderen Gegenständen außerhalb der reinen Apperzeption zu sein, entspricht der Bestimmung des Ich als empirischem Charakter, der dem Gesetz der Naturkausalität untersteht. Der empirische Charakter ist jedoch von Kant als die Erscheinung des intelligiblen Charakters oder dessen "sinnliche(s) Zeichen (...)"197 bestimmt. Wenn die Vernunft als das Vermögen des intelligiblen Charakters bestimmend ist, der empirische Charakter "die unmittelbare Wirkung des intelligiblen Charakters der reinen Vernunft (...)"198 als eine Erscheinung der Sinnenwelt ist, und diese Erscheinung unter den Gesetzen der Naturkausalität steht, koinzidieren im empirischen Charakter Bestimmbarkeit und Bestimmtheit. Bestimmbar199 ist der empirische Charakter als Erscheinung des intelligiblen Charakters, bestimmt dagegen ist er nicht nur als dessen erscheinende Wirkung, sondern auch als "Sache", als Naturwesen. Die Bestimmbarkeit des empirischen Charakters durchbricht damit als Erscheinung die durchgängige Organisation der Erscheinungen nach der Kategorie Kausalität. Als Erscheinung muß er aber auch durch dieselbe organisierbar sein. Diese Aporie200 ist es, die in jener Formulierung, oder dazu äquivalenten Formulierungen, sich eine Kausalität außer der Reihe zu denken, deren Wirkung aber in der Reihe erscheinen soll, zum Ausdruck kommt, und von Kant als Lösung der Antinomie vorgestellt wird:

196 197 1,8 199

200

Fortschritte, 270, 35 f. KrV, 533, Β 574. KrV, 538, Β 581. Vgl. Hans Wagner: Kants ergänzende Überlegungen zur Möglichkeit von Freiheit im Rahmen der Auflösung der dritten Antinomie, 231 f. Henry Allison spricht nicht von einer Aporie, doch kommt er in der Diskussion des Verhältnisses von intelligiblem und empirischem Charakter zu dem Schluß, daß dieses "not entirely unproblematic (...)"(Kant's theory of freedom, 30) sei. Vgl. dazu ähnliche Formulierungen, 31 f., 41,42.

Kausalität aus Freiheit oder Kausalität nach Naturgesetzen

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"Man würde von ihm [dem tätigen Wesen, T.S.] ganz richtig sagen, daß es seine Wirkungen in der Sinnen weit v o n selbst anfange, ohne daß die Handlung in ihm selbst anfängt (...)· So würde denn Freiheit und Natur, jedes in seiner vollständigen Bedeutung, bei eben denselben Handlungen, [je] nachdem man sie mit ihrer intelligiblen oder sensiblen Ursache vergleicht, zugleich und ohne allen Widerstreit angetroffen werden."201

Das Ich als Subjekt, dessen Vorstellung reflexiv sich selbst begleitet, bedarf notwendig des Ichs, das als empirischer Charakter sich auf das Mannigfaltige irreflexiv beziehen kann. Die zunächst parallel dargestellten beiden Stränge der Argumentation, die Selbsterkenntnis des in sich gespaltenen Wesens und dessen Kausalität, sind insofern miteinander verschränkt, als daß die Selbsterkenntnis des Ich, wie jede andere Erkenntnis, als ein Akt der Synthesis, eine Handlung, bestimmt ist. Nur in seinen Handlungen erkennt das Ich sich selbst. Wären diese Handlungen reine Handlungen, durch Abstraktion von dem, was Material der Handlung ist, fielen diese als leere in sich zusammen. Voraussetzung der Selbsterkenntnis ist damit erstens die Tätigkeit oder die Handlung des Ich und zweitens ein von diesem Ich unterschiedenes Material seiner Tätigkeit.202 Die Funktion des empirischen Charakters besteht darin, diese Beziehung auf das Material durch Handlungen, die "unter Naturbedingungen (...)"203 nur stattfinden können, zu leisten. Die Beziehung auf das Material durch praktische Handlungen ist irreflexiv. Da das Ich als intelligibler Charakter sich diese irreflexive Beziehung als sein Sollen, seine Handlungsanweisung oder seinen zu realisierenden Zweck selbst zum Gegenstand des Denkens machen kann, wird es vermittelst dieser Irreflexivität reflexiv. Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist damit als an201 202

203

KrV, 529, Β 569. Vgl. 541, Β 585. Andreas Gunkel ist einer der wenigen Autoren, der das Verhältnis von dritter Antinomie und transzendentaler Einheit der Apperzeption zum Gegenstand macht. Weü nach Kant die transzendentale Einheit der Apperzeption eine reine Synthesis oder leere Vorstellung sei, lehnt Andreas Gunkel deren notwendige Beziehung, durch Handlungen, auf ein von ihr unterschiedenes Material ihrer Synthesis ab: "Von unserer Freiheit als "denkende" Subjekte lässt sich nämlich nicht unvermittelt auf unsere Freiheit als "praktische" Subjekte schliessen. Ein solcher Schluss würde die Einsicht in die Einheit theoretischer und praktischer Vernunft voraussetzen, und ein Nachweis dieser Einheit ist Kant ja bekanntlich weder in seinen Hauptwerken noch in seinen Spätschriften gelungen."(Andreas Gunkel: Spontaneität und moralische Autonomie, 86 f.). Das Argument der nicht bewiesenen Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft ist kein zureichendes Argument dagegen, daß die Erkenntnis des Ich auf dessen Handlungen notwendig bezogen ist, da Kant die moralisch-praktische von der technisch-praktischen Freiheit unterscheidet. Die Handlungen des Wissenschaft betreibenden Individuums, das Träger der überindividuellen transzendentalen Einheit der Apperzeption ist, sind technisch-praktisch frei. Sie sollten auch mit der Freiheit des Willens nach dem Sittengesetz übereinstimmen können, doch stimmen sie mit diesem unter heteronomen Bedingungen nicht a priori überein. Deshalb setzt der Schluß von der reinen Synthesis der Einheit der Apperzeption auf die Notwendigkeit von Handlungen, die ein von der Einheit der Apperzeption unterschiedenes Material zum Gegenstand haben, nicht "ein analoges Verhältnis zwischen theoretischer und sittlich-praktischer [Hervorhebung von mir, T.S.] Einsicht (,.,)"(87) voraus. Vgl. Gerold Prauss: Kant über Freiheit als Autonomie, 119 f. KrV, 534, Β 576.

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tinomische Einheit bestimmt. 204 Sie ist nur durch das, was sie selbst nicht ist. Die nachweisbare 205 problematische Unterscheidung als Verstandeseinheit ein Vernunftbegriff zu sein, ist damit an der dritten Antinomie entwickelbar.

D. Versuche der Interpretation - Nachtrag zur Auflösung der dritten Antinomie Sollen schwierige, eher esoterisch anmutende, Passagen des Textes nicht unerklärt übergangen werden, droht die Erklärung sich in jene Schwierigkeiten zu verstricken, die zu erklären sie angetreten war. So handelt es sich im folgenden um einen Interpretationsversuch. "Ich nenne dasjenige an einem Gegenstande der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist, intelligibel. Wenn demnach dasjenige, was in der Sinnenwelt als Erscheinung angesehen werden muß, an sich selbst auch ein Vermögen hat, welches kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist, wodurch es aber doch die Ursache von Erscheinungen sein kann: so kann man die Kausalität dieses Wesens auf zwei Seiten betrachten (...). Eine solche doppelte Seite [d. i. der empirische und intelligible Charakter, die Kausalität als sensible und intelligible oder als empirische und intellektuelle, T.S.], das Vermögen eines Gegenstandes der Sinne sich zu denken, widerspricht keinem von den [oben genannten, T.S.] Begriffen, die wir uns von Erscheinungen und von einer möglichen Erfahrung zu machen haben. Denn da diesen [das Demonstrativpronomen bezieht sich auf Erscheinungen, T.S.!?], weil sie an sich keine Dinge sind, ein transzendentaler Gegenstand zum Grunde liegen muß, der sie als bloße Vorstellungen bestimmt, so hindert nichts, daß wir diesem transzendentalen Gegenstande, außer der Eigenschaft, dadurch er erscheint, nicht auch eine Kausalität beilegen sollten, die nicht Erscheinung ist, obgleich ihre Wirkung dennoch in der Erscheinung angetroffen wird."206 Kant spricht dem transzendentalen Gegenstand das Vermögen der Kausalität zu. Interpretierbar wäre dieses Vermögen mit Hilfe des im Text ohne Argument eingeführten Begriffs des Wesens, als dessen Vorstellungen die Erscheinungen 204

205 206

Georg Picht bezieht die transzendentale Einheit der Apperzeption negativ auf die Argumentation aus der transzendentalen Dialektik: "Die Einheit der Apperzeption ist dann gegen die Argumente der transzendentalen Dialektik gesichert, wenn man streng daran festhält, daß das Vermögen des Verstandes als reine Möglichkeit gedacht wird (...)."(Kants Religionsphilosophie, 428). Auf diese Passage bezieht sich die folgende: "Wir haben schon früher einmal festgestellt, daß die transzendentale Einheit der Apperzeption von den kritischen Argumenten der transzendentalen Dialektik nicht getroffen wird, wenn man sie als reines Vermögen denkt (...)."(449). Ist das reine Vermögen, ohne etwas von ihm Unterschiedenes, worin es sich aktualisierte, nicht als Vermögen zu bestimmen, ist die von Georg Picht genannte Bedingung, unter der die negative Beziehung der Einheit der Apperzeption auf die Dialektik steht, kaum zu rechtfertigen. Vgl. Kapitel 1.2.2 dieser Albeit. KrV, 527, Β 566 f.

Kausalität aus Freiheit oder Kausalität nach Naturgesetzen

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der Gegenstände der Sinne bestimmt sind, womit die Aktivität jedoch eine des erkennenden Subjekts wäre, wenn nicht Kant dem, allen Erscheinungen zugrunde liegenden, transzendentalen Gegenstand erstens eine "Eigenschaft, dadurch er erscheint" und zweitens "eine Kausalität" beigelegt hätte. Zum Ersten: Gegen die Eigenschaft des transzendentalen Gegenstandes, durch die er erscheint, spricht, daß der transzendentale Gegenstand als der Gegenstand bestimmt worden ist, der "nicht mehr angeschaut werden kann (..,)"207, der Ursache der Erscheinung, aber "selbst nicht Erscheinung (...)"208 ist. Zum Zweiten: Gesetzt transzendentaler Gegenstand und Ding an sich seien identifizierbar, sind sie die unbekannte Ursache der Erscheinungen. Diese unbekannte Ursache ist einerseits als das materielle Korrelat zur transzendentalen Einheit der Apperzeption209 unabhängig, und darin unterschieden vom erkennenden Subjekt, andererseits als erschlossene Ursache abhängig vom, und darin gleich dem erkennenden Subjekt.210 Erscheinungen sind Vorstellungen im Subjekt. Insofern sie bloße Vorstellungen wären, könnten sie im und durch das Subjekt existieren. Insofern sie Vorstellungen von Gegenständen sind, subsistieren sie nicht in sich und müssen einen von ihnen unterschiedenen Existenzgrund haben. Der Schluß auf einen anderen Existenzgrund ist problematisch, da er aus der negativen Bestimmung der Nicht-Subsistenz auf einen positiven Existenzgrund schließt.211 Der Existenzgrund der Erscheinungen, der selbst kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, ist das Ding an sich als unbekannte Ursache der Erscheinungen. Wenn der Existenzgrund der Erscheinungen außerhalb des erkennenden Subjekts liegt, dann bedarf das erkennende Subjekt eines Vermögens der Rezeptivität, das es die Erscheinungen als Wirkungen des Dings an sich, wahrnehmen läßt. Als Ursache dieser Wirkungen ist das Ding an sich aber selbst dynamisch oder tätiges Vermögen. Vorstellendes Subjekt und das die Vorstellungen bewirkende Ding an sich sind dann einander entgegengesetzte Tätigkeiten. In dieser Tätigkeit, oder ihrer Kausalität, stimmen Ding an sich und erkennendes Subjekt überein. Die unzulässige Gleichsetzung von Ding an sich und transzendentalem Gegenstand hinzugenommen, ist damit begründbar, worin erstens die Erscheinung des transzendentalen Gegenstands und zweitens seine Kausalität besteht. Die Beliebigkeit suggerierende Formulierung: "so hindert nichts, daß wir dem transzendentalen Gegenstande, (...), nicht auch eine Kausalität beilegen (...)"212, ist die der Erklärung des transzendentalen Gegenstands als vom Denken

207 208 209 210 211

212

KrV, 159a, A 109. KrV, 330, Β 344. Vgl. KrV, 299, A 250. Vgl. KrV, 159a, A 109. Dieser Schluß ist analog zu dem Schluß auf das Absolute durch die privative Negation. Vgl. Kapitel 4.1 dieser Arbeit. KrV, 527, Β 566 f.

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abhängig erschlossener Begriff notwendig entgegengesetzte Variante, die aus eben diesen Textstellen herauszuholen ist. Zu den beiden Charakteren des Menschen, dem empirischen und intelligiblen, erklärt Kant: "Man könnte auch den ersteren den Charakter eines solchen Dinges in der Erscheinung, den zweiten den Charakter des Dinges an sich selbst nennen."213 Die Identifikation des empirischen Charakters mit dem Ding der Erscheinung und des intelligiblen Charakters mit dem des Dinges an sich beruht auf dem eben vorgetragenen Argument: In ihrer Tätigkeit sind intelligibler Charakter und Ding an sich nicht zu unterscheiden. Sind sie nicht zu unterscheiden, kann der Unterschied beider nur in das reflektierende Subjekt des Philosophen als Drittes fallen. Ohne die Argumentation der Kritik der Urteilskraft zu antizipieren, ist diese Konsequenz, das Ding an sich und den intelligiblen Charakter als identisch zu bestimmen, dort belegbar: Es kann ein Begriff von Freiheit und Natur vorausgesetzt werden, "der eine Einsicht in das übersinnliche Substrat der Natur, und dessen Einerleiheit [Hervorhebung von mir, T.S.] mit dem, was die Kausalität durch Freiheit in der Welt möglich macht, enthalten müßte, die weit über unsere Vernunfteinsicht hinausgeht."214

1.3.4 Freiheit im kosmologischen und Freiheit im praktischen Verstände Darüber, wie das Beweisziel der transzendentalen Dialektik, die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit als möglich zu erweisen, zu erreichen sei, gibt Kant in der Kritik der reinen Vernunft verschiedene Auskünfte. Diesen verschiedenen Auskünften liegt die Äquivokation im Begriff der Freiheit als Freiheit im kosmologischen und Freiheit im praktischen Verstände zugrunde. Selbst die Erläuterung zur Auflösung der dritten Antinomie ist in der Verwendung dieser Äquivokation nicht konsistent. Einerseits erinnert Kant, die Äquivokation negierend, daran, daß "Freiheit (...) hier nur als transzendentale Idee behandelt [wird, T.S.], wodurch die Vernunft die Reihe der Bedingungen in der Erscheinung durch das Sinnlichunbedingte schlechthin anzuheben denkt, dabei sie sich aber in eine Antinomie mit ihren eigenen Gesetzen, welche sie dem empirischen Gebrauche des Verstandes vorschreibt, verwickelt."215 Andererseits bedient Kant sich der Äquivokation affirmativ, indem die Antinomie, darin die transzendentale Idee der Freiheit notwendig sich verstrickte, mit dem Begriff praktischer Freiheit als gelöst erklärt wird: "So würde denn Freiheit und Natur (...) bei eben denselben Handlungen (...) zugleich und ohne allen Widerstreit 213 214 215

KrV, 527 f., Β 567. KU, 575 Fn, 422, § 87. KrV, 542, Β 586.

Kausalität aus Freiheit oder Kausalität nach Naturgesetzen

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angetroffen werden."216 Im Kanon der reinen Vernunft ist diese Äquivokation noch zur Seite der praktischen Freiheit entschieden, die "das Problem für die Vernunft", das der transzendentalen Freiheit anhängig sei, nicht löse, weil es der praktischen Freiheit keines biete: "Und da ist denn zuerst anzumerken, daß ich mich voijetzt des Begriffs der Freiheit nur im praktischen Verstände bedienen werde, und den in transzendentaler Bedeutung, welcher nicht als ein Erklärungsgrund der Erscheinungen empirisch vorausgesetzt werden kann, sondern selbst ein Problem fur die Vernunft ist, hier, als oben abgetan, beiseite setze." 217

Bleibt der Begriff der Freiheit im kosmologischen Verstände ein Problem der Vernunft, müssen Freiheit im praktischen und Freiheit im kosmologischen Verstände disparat sein. Wären sie nicht disparat, müsse die sich auch aus der Antinomie ergebende Unmöglichkeit der transzendentalen Freiheit "zugleich alle praktische Freiheit vertilgen (,..)" 218 , da diese auf jener sich gründe.219 "Die F r e i h e i t im p r a k t i s c h e n V e r s t ä n d e ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. Denn eine Willkür ist sinnlich, so fern sie p a t h o l o g i s c h (durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) affiziert ist; sie heißt t i e r i s c h (arbitrium brutum), wenn sie p a t h o l o g i s c h n e c e s s i t i e r t werden kann. Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen." 220

Die Freiheit im praktischen Verstände ist doppelt bestimmt. Negativ ist sie als Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben bestimmt. Als positive ist sie das Vermögen, Handlungen zu bestimmen. Den Handlungen sind die durch sie zu realisierenden Zwecke vorausgesetzt. Zweckgerichtetes Handeln und praktische Freiheit sind jedoch nicht identisch. Heißt das, was "den Grund der Wirklichkeit

216 217 218 219

220

KrV, 529, Β 569. Vgl. 541, Β 585. KrV, 725, Β 829 f. KrV, 524, Β 562. Vgl. 725, Β 830. Vgl. KrV, 523, Β 561. Die sogenaiinte "patchwork theory" behauptet, daß zwischen der dritten Antinomie und dem Kanon der reinen Vernunft ein Widerspruch bestehe, da Kant in der Antinomie die transzendentale Freiheit zur Voraussetzung der praktischen Freiheit erkläre, im Kanon dagegen behaupte, daß die praktische Freiheit ohne die transzendentale bestehen könne. Dem ist zu entgegnen, daß Kant im Kanon die transzendentale und praktische Freiheit als disparat bezeichnet. Hätte Kant sie nicht als disparat bezeichnet und gleichzeitig die Auflösung der dritten Antinomie im Kanon zu einem Problem der Vernunft erklärt, dann ergäbe sich der Antithesis zufolge mit der Unmöglichkeit der transzendentalen Freiheit auch die der praktischen. Vertreter der sogenannten "patchwork theory" sind u. a. Albert Schweitzer: Die Religionsphilosophie Kants von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 481, und Norman Kemp Smith: A Commentary to Kant's 'Critique of Pure Reason', 569 f. KrV, 524, Β 562.

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Freiheit und Natur in der Kritik der reinen Vernunft

dieses Objekts enthält, der Zweck (...)" 22 \ liefert die operants Konditionierung222 von Tieren ein Modell, in dem zweckmäßiges Handeln und pathologische Nezessität sich nicht widersprechen. Die Verkehrung der Zeitordnung, die darin besteht, daß die Vorstellung zur Ursache ihrer Verwirklichung wird, ist in einer Realität, die durchgängig nach den Kategorien Kausalität und Wechselwirkung organisiert ist, nicht denkbar. Dem Begriff zweckgerichteten Handelns, ob pathologisch nezessitiert oder nicht, stehen der Behauptung der Antithesis der dritten Antinomie entgegen. Daraus zu schließen, daß zweckgerichtetes Handeln als ein Beweis der Thesis und mit ihr der transzendentalen Freiheit anzuführen sei, läuft der kantischen Intention, die selbst nicht konsistent ist, zuwider. Weder die Wirklichkeit noch die Möglichkeit der transzendentalen Freiheit seien beweisbar, da die Freiheit als Idee außerhalb der Erfahrung stehe223, die Möglichkeit der Erfahrung aber die Voraussetzung der Wahrheit, als Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand, die in jedem Beweis notwendig enthalten ist, bilde.224 Im Unterschied dazu könne die "praktische Freiheit (...) durch Erfahrung bewiesen werden."225 "Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung, als eine von den Naturursachen, nämlich eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens, indessen daß die transzendentale Freiheit eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Kausalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen,) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt fordert, und sofern dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung, zuwider zu sein scheint, und also ein Problem bleibt. Allein vor die Vernunft im praktischen Gebrauche gehört dieses Problem nicht (...). Die Frage wegen der transzendentalen Freiheit betrifft bloß das spekulative Wissen, welche wir als ganz gleichgültig beiseite setzen können, wenn es um das Praktische zu tun ist, und worüber in der Antinomie der reinen Vernunft schon hinreichende Erörterung zu finden ist."226

Die Intention, Freiheit im kosmologischen Verstände, auf die als den Begriff der Vollständigkeit der regressiven Synthesis geschlossen wurde, und Freiheit im praktischen Verstände, die die vernünftige Bestimmung des Willens zum 221 222

223 224

225 226

KU, 253, XXVIII. Durch Lernen können beispielsweise Ratten dazu gebracht werden, wenn sie Hunger haben, durch das Drücken einer Taste an Futter zu gelangen. Da die Vorstellung des Futters seiner Wirklichkeit voraus geht und dadurch zur Ursache der Verwirklichung wird, ist die Zeitordnung verkehrt. Vgl. KrV, 541 f., Β 585 f. Vgl. KrV, 490, Β 517. Explizit auf die Idee der Freiheit bezogen, ist dieser Gedanke in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ausgeführt: "Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückfuhren können, deren Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann. Freiheit aber ist eine bloße Idee, deren objektive Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgend einer möglichen Erfahrung dargetan werden kann, die also darum, weil ihr selbst niemals nach irgend einer Analogie ein Beispiel untergelegt werden mag, niemals begriffen, oder auch nur eingesehen werden kann."(GMS, 459). KrV, 726, Β 830. KrV, 727, Β 831 f.

Kausalität aus Freiheit oder Kausalität nach Naturgesetzen

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Gegenstand hat, als disparat227 auszugeben, konterkariert nicht nur die Auflösung der dritten Antinomie, dadurch daß der Begriff der transzendentalen Freiheit ein Problem bleibe, sondern behauptet durch die Äquivokation im Begriff der Freiheit einen Wechsel des Gegenstands von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der praktischen Vernunft,228

227

228

"The last paragraph of Section i does not say that practical freedom could stand if transcendental freedom were not real; it says merely that this question does not concern us in the practical field (.. .)."(Lewis White Beck: A commentary on Kant's Critique of Practical Reason, 190 Ri). Diesen von Kant im Kanon der Kritik der reinen Vernunft behaupteten Wechsel des Gegenstands weist Henry Allison mit Argumenten Kants zurück. Die sogenannte "Incorporation Thesis", die ihren Namen der Übersetzung der einschlägigen Passage aus der Religionsschrift (Religion, 24, 12. Vgl. Henry Allison: Kant's theory of freedom, 6 f., 40. Vgl. Henry Allison: Idealism and freedom, 142) Kants verdankt, behauptet, daß transzendentale Freiheit als Spontaneität eine notwendige Bedingung oder "an ineliminable component"(Henry Allison: Kant's theory of freedom, 6) jeder vernünftig bestimmten Handlungen sei. Vergleiche Henry Allisons Interpretation des Verhältnisses von dritter Antinomie und Kanon, Kant's theory of freedom, 57 f.

2 Freiheit und Natur in der Kritik der praktischen Vernunft 2.1 Zum Beweis der Freiheit229 2.1.1 Die Offenbarung der Freiheit Im Unterschied zur transzendentalen Freiheit sei nach Auskunft des Kanons der Kritik der reinen Vernunft die praktische durch Erfahrung beweisbar.230 "Wir

229

Den selbst gesetzten Grenzen dieser Arbeit fällt die Analyse der voneinander unterschiedenen Argumentationen für den Freiheitsbegriffs in der Kritik der praktischen Vernunft und der Grundlegung der Metaphysik der Sitten zum Opfer. Vgl. dazu Herny Allison: Kant's theory of freedom, 201-249; und Karl Ameriks: An Analysis of the Paralogisms of Pure Reason, 226 f. 230 Der mechanische Materialismus d'Holbachs leugnet noch die Möglichkeit praktischer Freiheit: "Die Fatalität ist die in der Natur festgesetzte ewige, unwandelbare, notwendige Ordnung oder die unvermeidliche Verbindung der Ursachen mit den von ihnen hervorgerufenen Wirkungen. Dieser Ordnung zufolge fallen die schweren Körper und streben die leichten Körper nach oben, ziehen sich verwandte Stoffe an und stoßen sich Gegensätze ab; gehen die Menschen gesellschaftliche Verbindungen ein, verändern sie sich gegenseitig, werden sie gut oder böse (...). Hieraus ist ersichtlich, daß die Notwendigkeit, die die Bewegungen der physischen Welt bestimmt, auch alle Bewegungen der moralischen Welt regelt (,..)."(Paul Thiry d'Holbach: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt, 182). "Mit einem Wort: die Handlungen der Menschen sind niemals frei; sie sind immer notwendige Folgen ihres Temperaments (,..)"(169). Dem liegt eine Äquivokation im Begriff der Natur zugrunde. 'Physische und moralische Welt sind in ihm ungeschieden. Der Gegenstand der Naturwissenschaften soll ebenso wie die aus Handlungen der Menschrai konstituierte moralische Welt nach den Gesetzen der Mechanik beschreibbar sein. Die Objektivität beider Bereiche ist ein und dieselbe, erste und zweite Natur dem systematischen Anspruch nach nicht distinguieit."(aus dem Vorwort von Günther Mensching zu Helv6tius: Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung, 10). Behauptet der mechanische Materialismus alle Erscheinungen seien nach den dynamischen Kategorien organisiert, erweitert er die Aussage der kantischen Thesis der dritten Antinomie von der physischen auf die moralische Welt. Die Behauptung dieser strengen Determination ist zwar brüchig, da sie selbst nicht Resultat der Determination sein kann, doch hat sie in der Anwendung auf willkürherrschaftliche Verhältnisse eine kritische Funktion: "Dennoch ist das Programm der systematischen Deutung des Zusammenhangs alles Seienden als des Systems der Natur in sich gebrochen. Es ist Kritik an theologisch begründeten Systemen der Vergangenheit, fiir die das diesseitige Dasein der Menschen nur einen transzendent verbürgten Sinn hatte. (...) Der Holbachsche Fatalismus ist so die polemische Destruktion der in der Tradition immer wieder gelehrten Freiheit des Menschen, einer Freiheit, die nur unter Abstraktion von den konkreten, materiellen Bedingungen von Unfreiheit behauptet werden konnte. Daher war die Insistenz auf der durchgängigen Notwendigkeit sowohl der materiellen wie auch der psychischen und historischen Prozesse ein Versuch, die rationale Erklärbarkeit an die Stelle einer Spekulation zu setzen, die nur mehr als Willkür der Einbildungskraft der erfahren wurde."(ll). Die Insistenz auf der

Zum Beweis der Freiheit

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erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung, als eine von den Naturursachen, nämlich eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens C..)."231 Nur als eine von den Naturursachen sei Freiheit erkennbar. Der doppelten Bestimmung "Naturursache" und "transzendentale Ursache (...)"232 zu sein, lag die Bestimmung des in empirischen und intelligiblen Charakter gespaltenen Wesens zugrunde. Demnach sei die praktische Freiheit nur anhand des empirischen Charakters erkennbar. Der Schluß, daß das Resultat von Handlungen, als erscheinende Naturursachen vollständig durch die transzendentale Ursache oder das moralische Gesetz bestimmt sei, womit die Freiheit an jeder Handlung demonstrierbar wäre, ist problematisch. Diese Problematik hat Kant selbst in der Kritik der reinen Vernunft in einer Fußnote angemerkt: "Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten."233

Wieviel an einer Handlung der "causa phaenomenon (...)"234 und der "causa noumenon (...)"235, wieviel dem unteren Begehrungsvermögen und dem oberen Begehrungsvermögen236 zuzuschreiben ist, sei nicht bestimmbar. Ist nicht eindeutig bestimmbar, daß die Handlung Wirkung des intelligiblen Charakters ist, kann sie nicht zum Beweis der Freiheit dienen. Keinen positiven Beweis der Freiheit durchführen zu können, ist ein Resultat der Auflösung der dritten Antinomie. An diesem Resultat wird in der Kritik der praktischen Vernunft festgehalten.237 Systematisch ist dieses Resultat den Passagen der Kritik der praktischen Vernunft vorausgesetzt, die sich mit der Verschränkung von Freiheit als ratio essendi des

231 232 233 234 235 236 237

Naturkausalität wird so zum Mittel der Kritik an der feudalen Herrschaft: "Zieht uns [der Appell richtet sich an die Natur und ihre Töchter Tugend, Vernunft und Wahrheit, T.S.] aus jenen Abgriinden, in die uns der Aberglaube gestürzt hat; zerstört die unheilvolle Herrschaft des Blendwerks und der Lüge. Entreißt ihnen die Macht, die sie sich über euch angemaßt haben. Gebietet uneingeschränkt über alle Sterblichen; zerbrecht das Zepter, das die Tyrannei in ihren Händen hält und mit dem sie die Menschen zermalmt (...)."(Paul Thiry d'Holbach: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt, 611). Vgl. Günther Mensching: Totalität und Autonomie, 28 ff., 178 ff. KrV,726f.,B 831. KrV, 533, Β 574. KrV, 536 f. Fn, Β 579. KrV, 532, Β 573. KpV, 55, 97. Das Verhältnis von unterem und oberem Begehrungsvermögen enthält das von Natur und Freiheit. Vgl. KpV, 48, 84.

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Freiheit und Natur in der Kritik der praktischen Vernunft

moralischen Gesetzes und moralischem Gesetz als ratio cognoscendi der Freiheit beschäftigen: "Damit man hier nicht I n c o n s e q u e n z e n anzutreffen wähne, wenn ich jetzt die Freiheit die Bedingung des moralischen Gesetzes nenne, und in der Abhandlung nachher behaupte, daß das moralische Gesetz die Bedingung sei, unter der wir uns allererst der Freiheit b e w u ß t werden können, so will ich nur erinnern, daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei. Denn, wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (...), a n z u n e h m e n . Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht a n z u t r e f f e n sein."238

Die Freiheit sei der Existenzgrund des moralischen Gesetzes. Gäbe es keine Freiheit, wäre die vernünftige Bestimmung des Willens nicht zu denken. Da dieser Existenzgrund aber aus dem moralischen Gesetz erschlossen ist, ist das moralische Gesetz der Grund der Erkenntnis der Freiheit. Freiheit und moralisches Gesetz, Existenzgrund und Erkenntnisgrund, sind somit verschränkt; sie "(...) weisen also wechselweise auf einander zurück."239 "Freiheit ist aber auch die einzige unter allen Ideen der speculativen Vernunft, wovon wir die Möglichkeit a priori w i s s e n , ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist welches wir wissen."240

Daß etwas gewußt werden könne, was jedoch keiner Einsicht fähig sei, ist die paradoxe Formulierung für die Offenbarung der selbst nicht erkennbaren Freiheit.241 Das, worin die Freiheit sich offenbare, sei das moralische Gesetz. Da das moralische Gesetz der von sinnlichen Bedingungen unabhängige Bestimmungsgrund des Willens ist, führe es "gerade auf den Begriff der Freiheit (..,)."242 Damit ist die Frage nach der Beweisbarkeit von Freiheit in die nach der des moralischen Gesetzes transponiert.243 Später, in der Deduction der Grundsätze, wird die Transponierung der Beweisfrage dadurch konterkariert, daß der Beweis oder die Deduktion des moralischen Gesetzes als undurchführbar244 bestimmt wird und "an die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduction des moralischen Principe [tritt, T.S.], daß es umgekehrt selbst zum Princip der Deduction eines unerforschlichen Vermögens dient, (...) nämlich das der Freiheit (...)."245 238 239

240 241 242 243 244 245

KpV, 4 Fn, 6. KpV, 29, 53. Hemy Allison hat für dieses wechselseitige Verhältnis die Bezeichnung "Reciprocity Thesis"(Kant's theory of freedom, 201) geprägt. Vgl. ebenfalls Allison: Idealism and Freedom, 114-118. KpV, 4,5. Vgl. Dieter Henrich: Die Deduktion des Sittengesetzes, 64. KpV, 30, 53. Vgl. KpV, 30,53. Vgl. Karl Ameriks: Kant's Theory of Mind, 209 ff. KpV, 47, 82.

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Ausgehend von dem moralischen Gesetz wird dieses damit von Kant in der Deduction der Grundsätze zum Prinzip der Deduktion der Freiheit erklärt.246 Die Transponierung der Frage nach der Beweisbarkeit der Freiheit in die nach der des moralischen Gesetzes und die sich daraus ergebende Ordnung beider Beweisfragen sei bestätigt, zum einen dadurch, daß "man niemals zu dem Wagstücke gekommen sein würde, Freiheit in die Wissenschaft einzuführen, wäre nicht das Sittengesetz und mit ihm praktische Vernunft dazu gekommen (...)"247, zum anderen durch Erfahrung.248 Soll die Erfahrung die Ordnung zweier Begriffe, deren der eine als von sinnlichen Bedingungen unabhängig bestimmt, der andere noch nicht einmal erkennbar ist, bestätigen, sind die von Kant zitierten Beispiele dem Beweis inadäquat.249 Ist die Bestätigung aus Erfahrung nicht möglich und das Wagstück, Freiheit anzunehmen, wenn nicht das Sittengesetz gegeben wäre, nur eine Variante der Formulierung des Beweisziels, bleibt die Frage der Beweisbarkeit des moralischen Gesetzes unbeantwortet. Die Antwort

246

247 248 249

Vgl. Henry Allison: "As we have seen, in the Critique of Practical Reason at least, Kant consistently maintains that the move is from the moral law to freedom."(Kant's theory of freedom, 245). KpV, 30,54. Vgl. KpV, 30,54. Zwei Beispiele nennt Kant, worin die handelnde Person "in sich die Freiheit (...)"(KpV, 30, 54) erkenne: In Anbetracht des Galgens der erotischen Passion nicht nachzugeben, sei Ausweis, von sinnlichen Neigungen unabhängig, damit frei zu sein. Da die Drohung, den der erotischen Passion Nachgiebigen am Galgen aufzuknüpfen, zweifellos einen sinnlichen Bestimmungsgrund abgibt, sich dieser Leidenschaft zu versagen, ist die vorausgesetzte Eindeutigkeit des Schlusses auf das moralische Gebot, sein Leben zu erhalten, nicht erfüllt. Diese Uneindeutigkeit drückt die Differenz von pflichtmäßig und aus Pflicht zu handeln aus: "Sie bewahren ihr Leben zwar p f l i c h t m ä ß i g , aber nicht aus Pf licht."(GMS, 397). Auf dieser Uneindeutigkeit beruht das stärkste Argument des mechanischen Materialismus gegen jeden Beweis der Freiheit aus der Erfahrung: "Tatsächlich bestimmte mich der Durst, bevor ich wußte, daß das Wasser vergiftet sei, ebenso notwendig zum Trinken, wie diese neue Entdeckung mich notwendig dazu bestimmt, nicht zu trinken; dann wird der ursprüngliche Antrieb, den der Durst meinem Willen gab, durch den Selbsterhaltungstrieb zunichte gemacht oder aufgehoben; der zweite Beweggrund wird stärker als der erste; die Furcht vor dem Tode siegt notwendig über die unangenehme Empfindung, die der Durst mir verursachte. Aber (...) wenn der Durst sehr stark ist, wird es ein vorsichtiger Mensch ohne Rücksicht auf die Gefahr dennoch wagen (...); in diesem Fall wird der erste Antrieb das Übergewicht haben (...), weil er stärker ist als der zweite."(Paul Thiry d'Holbach: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt, 160). Auch das zweite Beispiel, worin der Fürst unter Androhung der Todesstrafe "ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann (...)"(KpV, 30, 54) erzwingen will, liefert keinen positiven Beweis des moralischen Gesetzes, sondern zeigt die Verstrickung in Widersprüche, wenn ein vernünftig bestimmter Wille unter heteronomen Bedingungen sich realisieren soll. Der Heroismus der Selbstaufgabe und die Unterwerfung unter den Zwang, falsches Zeugnis abzulegen, sind beide dem moralischen Gesetz entgegengesetzt Sind weder die Selbstaufgabe noch die Unterwerfung mit dem moralischen Gesetz kompatibel, läßt sich jedoch auf die heteronomen Bedingungen schließen, die keine Verwirklichung des vernünftig bestimmten Willens zulassen. Kant selbst hat sich explizit auch gegen die Möglichkeit der Bestätigung der Freiheit aus Erfahrung gewandt. Vgl. KpV, 46 f., 81, vgl. 48 f., 84 f.

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ist vielmehr die, daß das Bewußtsein250 des moralischen Gesetzes ein "Factum der Vernunft (...)"251 sei. Dieses Faktum der Vernunft taucht in verschiedenen Kontexten mit unterschiedlichen Bedeutungen252 auf: Die Freiheit, die durch die theoretische Vernunft "bloß gedacht werden konnte, [werde, T.S.] durch ein Factum bestätigt."253 Das "Bewußtsein dieses Grundgesetzes [des moralischen Gesetzes könne man, T.S.] ein Factum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, ζ. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann (,..)."254 "Diese Analytik tut dar, daß reine Vernunft praktisch sei, d. i. für sich, unabhängig von allem Empirischen, den Willen bestimmen könne - und dieses zwar durch ein Factum, worin sich reine Vernunft bei uns in der That praktisch beweiset, nämlich die Autonomie in dem Grundsatze der Sittlichkeit, wodurch sie den Willen zur That bestimmt. - Sie zeigt zugleich, daß dieses Factum mit dem Bewußtsein der Freiheit des Willens unzertrennlich, ja mit ihm einerlei sei ^ ^ »255

"Auch ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Factum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist, gegebene...)."256 Es ist voneinander zu unterscheiden, 1.) daß das Faktum der Vernunft den Erkenntnisgrund der Freiheit darstelle, ihr damit logisch vorausgesetzt sei, 2.) daß das Bewußtsein des moralischen Gesetzes von Kant als Faktum der Vernunft bezeichnet wird, 3.) daß dieses Bewußtsein mit dem Bewußtsein der Freiheit gleichgesetzt wird, womit der logische Vorrang des Bewußtseins des moralischen Gesetzes als Faktum der Vernunft kassiert wird und 4.) daß, nicht mehr das Bewußt250

251 252

253 254 255 256

Jürgen Stolzenberg thematisiert die Frage nach dem Verhältnis von Selbstbewußtsein und reiner praktischer Vernunft: "Ist es nämlich der Fall, daß ein unbedingtes Gesetz bloß das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft ist, dann müßte das Bewußtsein des moralischen Gesetzes doch auch als ein Selbstverhältnis der reinen praktischen Vernunft beschrieben werden können."(Jürgen Stolzenberg: Das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft, 186). Zunächst ist bei Kant nur von dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes die Rede, nicht von einem Selbstbewußtsein. Das reflexive Verhältnis von moralischem Gesetz und Vernunft als Selbstbewußtsein zu interpretieren, stößt auf verschiedene Schwierigkeiten: zum einen auf die prinzipielle Schwierigkeit, der sich auch die theoretische Vernunft nicht entziehen konnte, aus der reinen Reflexivität Selbstbewußtsein nicht begründen zu können. Zum anderen müßte gezeigt werden, worin der Unterschied eines Selbstbewußtseins der theoretischen und eines der praktischen Vernunft begründet sei. KpV, 31, 56. Eine ausführliche Darstellung und Diskussion der acht Passagen, die das Faktum der Vernunft zum Gegenstand haben Lewis White Beck (A Commentary on Kant's Critique of Practical Reason, 166-170) und Henry Allison (Kant's theory of freedom, 230-239) geleistet. KpV, 6, 9. KpV, 31,56. KpV, 42,72. KpV, 47, 81.

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sein des moralischen Gesetzes, sondern das moralische Gesetz selbst "gleichsam als ein Factum der reinen Vernunft" bezeichnet wird. Lewis White Becks Unterscheidung des Faktums der Vernunft in "fact of pure reason" und "fact for pure reason"257, die der im Deutschen manchmal möglichen doppelten Bestimmung des Genitivattributs innerhalb eines komplexen Satzglieds, sowohl ein Genitivus subiectivus als auch ein Genitivus obiectivus zu sein, zu entsprechen scheint, ist fragwürdig. Das Genitivattribut "der Vernunft" als Genitivus obiectivus zu interpretieren, setzte voraus, daß das Ziel der Tätigkeit oder des Geschehens die Vernunft wäre. Das Faktum wäre als tätiges Subjekt aufzufassen. Die zu stellende Frage, was an dem Faktum wie tätig werden könne, wäre ebensowenig zu beantworten, wie der nicht-tätigen Vernunft das Faktum als tätiges Subjekt zu Bewußtsein kommen solle. Deshalb muß das Genitivattribut "der Vernunft" als Genitivus subiectivus des Faktums interpretiert werden. Die Vernunft wäre dann selbst Agens der Tätigkeit oder des Geschehens. Diese Tätigkeit der Vernunft wäre die Tätigkeit, durch die das Bewußtsein des moralischen Gesetzes als Faktum der Vernunft zu Stande käme. Wie jedes Bewußtsein als Bewußtsein von etwas ein Akt der Synthesis ist, wäre in der Bedeutung des Genitivattributs als Genitivus subiectivus das Bewußtsein des moralischen Gesetzes durch einen Akt der Synthesis erzeugt. Diese Synthesis, deren Resultat das Bewußtsein des moralischen Gesetzes wäre, wäre der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption, die selbst synthetisch, doch jeder Synthesis notwendig vorausgesetzt ist und nicht aus anderem erklärt werden kann, darin analog, daß die reflexive Bestimmung dieser, in ihrer Zirkularität, faktisch angenommen werden muß. Die Synthesis, deren Resultat das Bewußtsein des moralischen Gesetzes ist, wäre einerseits als Tätigkeit zu bestimmen, da sonst das moralische Gesetz nicht als Faktum der Vernunft in das Bewußtsein gelangen könne. Andererseits ist sowohl das Synthetisierende als auch das Synthetisierte, das moralische Gesetz, Vernunft.258 Dieses Verhältnis, das sowohl das Moment der Synthesis oder Tätigkeit als auch das Moment der Identität enthält, wäre als reflexive Identität oder, wie Kant schreibt, als Faktum der Vernunft zu bezeichnen. Das Faktum der Vernunft ist, als Partizip Perfekt auch seiner grammatikalischen Form nach, damit der statische Ausdruck eines Prozesses, dessen Statik auf seiner Reflexivität beruht. Aus der Notwendigkeit beider Momente, Tätigkeit und Identität, erscheint es erklärbar, warum Kant das moralische Gesetz selbst nicht als Faktum der Vernunft, sondern nur als "gleichsam" einem Faktum der Vernunft seiend bestimmt: Das moralische Gesetz ist bloß ein Moment in dem Prozeß seiner 257 25!

Lewis White Beck: A Commentary on Kant's Critique of Practical Reason, 168. Hier ist Lewis White Beck zu folgen: "Fact of pure reason (...) may mean the fact there is pure reason, known by reason reflexively."(A Commentary on Kant's Critique of Practical Reason, 168).

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Freiheit und Natur in der Kritik der praktischen Vernunft

Bewußtwerdung, nicht auch der Prozeß selbst, den Kant als ganzen im Begriff des Faktums faßt. Das Faktum der Vernunft sei einerseits apodiktisch gewiß oder "unleugbar"259, andererseits etwas "unerklärliches."260 Der Widerspruch, der darin besteht, daß das Faktum notwendig, doch anscheinend nicht zu erklären sei, erscheint Kant dadurch gerechtfertigt, daß das Faktum "nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft (...)"261 abgeleitet werden könne. Die Unmöglichkeit einer Erklärung des Faktums aus ihm Vorausgesetzten262 ist kongruent zu der NichtBeweisbarkeit der ersten Prinzipien der Logik.263 Die Unmöglichkeit einer Erklärung des Faktums oder die Nicht-Beweisbarkeit der ersten Prinzipien der Logik ist jedoch nicht gleichbedeutend damit, daß die Notwendigkeit des Faktums oder der ersten Prinzipien nicht zu begründen sei. Die Begründung von etwas aus etwas anderem, die Notwendigkeit des Begründeten und die Begründung der Notwendigkeit des Begründeten sind zu unterscheiden. Auf diesen Unterscheidungen beruht der Unterschied zwischen einer Deduktion als Ableitung aus einem obersten Prinzip und dem kantischen Begriff der transzendentalen Deduktion als Beweis des rechtmäßigen Gebrauchs der Kategorien. Zwar sei die Durchführung der Deduktion des Geschmacksurteils in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft von der der Kategorien darin unterschieden, daß sie "so leicht [sei, T.S.], weil sie keine objective Realität eines Begriffs zu rechtfertigen nöthig hat (...)"264, doch ist der Begriff der "Deduction, d. i. die Rechtfertigung des Anspruchs eines dergleichen Urtheils auf allgemeinnotwendige Gültigkeit (.,.)"265 mit dem aus der Kritik der reinen Vernunft gleichbedeutend. Die Begründung der Rechtmäßigkeit oder Zulässigkeit des Faktums der Vernunft, die demnach auch für die Kritik der praktischen Vernunft als Deduktion zu bezeichnen wäre, sei nach Kant unter Rekurs auf die Argumentation der Kritik der reinen Vernunft durchführbar: "Wie nun dieses Bewußtsein der moralischen Gesetze, oder, welches einerlei ist, das der Freiheit, möglich sei, läßt sich nicht weiter erklären, nur die Zulässigkeit derselben in der theoretischen Kritik gar wohl verteidigen."266

Der Grund der Zulässigkeit, Freiheit und moralisches Gesetz als ein Faktum der Vernunft anzunehmen, liege außerhalb der praktischen in der theoretischen Vernunft, "da die theoretische Vernunft wenigstens die Möglichkeit einer Freiheit 259 260 261 262 263 264 265 266

KpV, 32, 56. KpV, 43,74. KpV, 31,56. Vgl. Henry Allison: Kant's theory offreedom, 233. Vgl. Aristoteles: Metaphysik, 74,1006a 6. KU, 290,152, § 38. KU, 280, 133, § 30. KpV, 46,79 f.

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a n z u n e h m e n genöthigt war (,..)."267 Die Möglichkeit oder Zulässigkeit der Freiheit beruht auf der Thesis der dritten Antinomie. Die Thesis, wie auch die Antithesis, verwickeln sich jedoch in Widersprüche, die zur Folge haben, daß die Antinomie nicht entscheidbar ist. Diese Nicht-Entscheidbarkeit, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft noch mit dem Superlativ, "das unauflöslichste Problem (.,.)"268, ausstattet, sei demnach die Grundlage der praktischen Freiheit: Erstens, die Möglichkeit der transzendentalen Freiheit basiert auf der NichtEntscheidbarkeit der Antinomie. Zweitens, die Möglichkeit der praktischen Freiheit oder des moralischen Gesetzes sei, obzwar nicht zu erklären, doch zu verteidigen. Diese Verteidigung basiere ihrerseits auf der Möglichkeit der transzendentalen Freiheit. Drittens, die praktische Freiheit oder das moralische Gesetz beruht damit auf der Möglichkeit der transzendentalen Freiheit, die, ob der NichtEntscheidbarkeit der Antinomie, zugleich auch ihr Gegenteil, ihre Unmöglichkeit, einschließt. Nach der Seite ihrer Möglichkeit entschieden, ist dieses Begründungsverhältnis von transzendentaler und praktischer Freiheit in der Anmerkung zur Thesis antizipiert: "Die transzendentale Idee der Freiheit macht zwar bei weitem nicht den ganzen Inhalt des psychologischen Begriffs dieses Namens aus, welcher großenteils empirisch ist, sondern nur den der absoluten Spontaneität der Handlung, als den eigentlichen Grund der Imputabilität derselben (...). Dasjenige also in der Frage über die Freiheit des Willens, was die spekulative Vernunft von jeher in so große Verlegenheit gesetzt hat, ist eigentlich nur transzendental, und geht lediglich darauf, ob ein Vermögen angenommen werden müsse, eine Reihe von sukzessiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen."269

Parallel dazu lautet die Formulierung in der Kritik der praktischen Vernunft: "(...) so muß ein solcher [durch die Form des moralischen Gesetzes bestimmter, T.S.] Wille als gänzlich unabhängig von dem Naturgesetz der Erscheinungen, nämlich dem Gesetz der Causalität (...) gedacht werden. Eine solche Unabhängigkeit aber heißt Freiheit im strengsten, d. i. transcendentalen Verstände."270

In ihrer negativen Bestimmung, das heißt in ihrer Unabhängigkeit vom Gesetz der durchgängigen Bestimmung nach den Kategorien Kausalität und Wechselwirkung, stimmen transzendentale und praktische Freiheit überein. In ihrer positiven Bestimmung, spontane Ursache zu sein, sind transzendentale und praktische Freiheit jedoch unterscheidbar. Erstere hat die Erkenntnis von Seiendem, letztere die Bestimmung von dem, was sein soll, zum Gegenstand. An der Differenz zwischen dem Vermögen der Vollständigkeit der Folge durch eine 267 268 269 270

KpV, 48, 83. KpV, 30, 53. KrV, 464, Β 476. KpV, 29, 51 f.

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Freiheit und Natur in der Kritik der praktischen Vernunft

erste Ursache und dem vernünftig bestimmten Willen unterscheidet Kant die theoretische von der praktischen Philosophie, die "zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System (,..)"271 vereinigt werden sollen. Die Behauptung aus dem Kanon der Kritik der reinen Vernunft, daß transzendentale und praktische Freiheit disparat seien, ist für die negative Bestimmung beider Begriffe falsch, da sie in ihrer Unabhängigkeit vom Gesetz der Kausalität gar nicht zu unterscheiden sind. Weder die transzendentale noch die praktische Freiheit sind eines positiven Beweises fähig. Auch "in der Erfahrung [kann, T.S.] kein Beispiel (...)"272 für sie angetroffen werden. Die Freiheit kann jedoch nicht nur nicht weggedacht werden, weil das Denken seine eigene Negation denken können müßte, sondern sie muß auch wirklich sein. Mit der Wirklichkeit von Naturwissenschaft und deren in Technik transformierten Resultaten ist sie als technisch-praktische Freiheit wirklich. Moralisch-praktisch ist unter heteronomen Bedingungen ihre Wirklichkeit jedoch eine noch herzustellende, deren Bedingung der Möglichkeit auf die Darstellung der Postulate der reinen praktischen Vernunft führt.273 Die Freiheit ist eine "nothwendige Voraussetzung der Vernunft in einem Wesen, das sich eines Willens, d. i. eines vom bloßen Begehrungsvermögen noch verschiedenen Vermögens (...) bewußt zu sein glaubt."274 Wie die Freiheit eme notwendige Voraussetzung der Vernunft bezogen auf den Willen, ist die Einheit der Erfahrung eine notwendige Voraussetzung der Vernunft bezogen auf die Erkenntnis von Naturerscheinungen. Der Schluß auf die Zerrüttung der Einheit der Erfahrung durch die technisch-praktische Freiheit ist so notwendig wie der auf die Einheit der Erfahrung, oder, in Begriffen der Kritik der Urteilskraft, so notwendig wie die Zweckmäßigkeit der Natur275, "weil wir ohne dasselbe [Gesetz der Vernunft, das die Einheit der Erfahrung fordert, T.S.] gar keine Vernunft, ohne diese aber keinen zusammenhängenden Verstandesgebrauch, und in dessen Ermangelung kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben würden, und wir also in Ansehung des letzteren die systematische Einheit der Natur durchaus als objektiv gültig und notwendig ansehen müssen."276 Beide Schlüsse, den 271 272 273

274 275

276

KrV, 755, Β 868. KpV, 47, 81. "In der Postulatenlehre wird somit solches postuliert, das zu garantieren vermag, daß die Natur, die das Andere des moralischen Prinzips ist, diesem Prinzip gleichwohl nicht widerstreitet."(Wolfgang Bartuschat: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 73). GMS, 459. "Dieser transzendentale Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur ist nun weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff, weil er gar nichts dem Objekte (der Natur) beilegt, sondern nur die einzige Art, wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen, folglich ein subjektives Prinzip (Maxime) der Urteilskraft (...)."(KU, 184, XXXIV). KrV, 611, Β 679.

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auf die Freiheit und den auf die einheitlich verfaßte Natur, faßt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft unter dem Titel von "Grundkräften oder Grundvermögen (.,.)"277 zusammen. Der im folgenden diskutierten Passage ist eine Uneindeutigkeit, die darin besteht, daß das Bewußtsein des moralischen Gesetzes mit dem Bewußtsein der Freiheit gleichgesetzt wird vorangestellt.278 In der Passage scheint das moralische Gesetz als eine von mehreren Grundkräften oder Grundvermögen bestimmt zu werden. Sachlich und durch die im Text angelegte Uneindeutigkeit naheliegend ist jedoch, die Freiheit als Grundkraft oder Grundvermögen zu bestimmen. Als eine von den "Grundkräften (...) [kann, T.S.] deren Möglichkeit [die der Freiheit, T.S.] (...) durch nichts begriffen, darf aber auch eben so wenig beliebig erdichtet und angenommen werden. Daher kann uns im theoretischen Gebrauche der Vernunft nur Erfahrung dazu berechtigen, sie [die absolute Grundkraft aus der Kritik der reinen Vernunft, T.S.] anzunehmen. Dieses Surrogat, statt einer Deduction, aus Erkenntnisquellen a priori, empirische Beweise anzuführen, ist uns hier aber in Ansehung des reinen praktischen Vernunftvermögens auch benommen. Denn, was den Beweisgrund seiner Wirklichkeit von der Erfahrung herzuholen bedarf, muß den Gründen seiner Möglichkeit nach von Erfahrungsprincipien abhängig sein (...)."279 Die Differenz, die Kant zwischen dem Begriff der Grundkraft, der in der Kritik der reinen Vernunft im Kapitel über den regulativen Gebrauch der Ideen eingeführt wird, und dem der Freiheit als Grundkraft in der Kritik der praktischen Vernunft behauptet, ist jedoch problematisch. Die "systematische Einheit mannigfaltiger Kräfte (...)"280 in Form einer absoluten Grundkraft ist eine Vernunfteinheit. Wäre diese Vernunfteinheit durch das "Surrogat" Erfahrung bestätigbar, gölte derselbe Einwand, den Kant gegen jeden Beweis oder eine Deduktion des moralischen Gesetzes oder der Freiheit aus der Erfahrung erhebt. Wie die objektive Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduktion oder ein Surrogat für eine Deduktion beweisbar sei, könne auch die Idee einer Grundkraft, die der Natur eine systematische Einheit beilege, nur "objektive Realität vorgebe(n) (...)."281 Sowohl die Freiheit als auch die Natur sind ihrer Bestimmung nach Ideen. Beide nehmen den Rang nicht beweisbarer notwendiger Grundkräfte der Vernunft ein und werden doch als nur regulative Ideen bezeichnet.282 Kant lehnt, wie gezeigt, in der Kritik der praktischen Vernunft die Möglichkeit einer Deduktion des moralischen Gesetzes ab.283 Gegen die Zurückweisung 277 278 279 280 281 282 283

KpV,46f., 81. Vgl. KpV, 46,79. KpV, 46 f., 81. KrV, 611, Β 678. KrV, 610, Β 678. Vgl. KrV, 604 ff., Β 670 ff., vgl. KpV, 48, 84. Vgl. KpV, 93 f., 167.

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Freiheit und Natur in der Kritik der praktischen Vernunft

der Möglichkeit einer Deduktion des moralischen Gesetzes steht Kants Bestimmung des Begriffs einer Deduktion aus der Kritik der reinen Vernunft. Die hinreichende Beantwortung der quaestio iuris wird dort als Deduktion bezeichnet.284 Bestätigbar ist dies durch die Reflexion 5636: "Quaestio facti ist, auf welche Art man sich zuerst in den Besitz eines Begriffes gesetzt habe; quaestio iuris, mit welchem Recht man denselben besitze und brauche."285 Wenn das moralische Gesetz, wie Freiheit und Natur auch, als notwendig erkannt sind, sind sie damit bewiesen, oder, nach dem Begriff der Deduktion aus der Kritik der reinen Vernunft, deduziert.286

2.1.2 Zum Verhältnis von Grund und Begründung am Begriff der Freiheit In den bislang erörterten Textpassagen der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft sind am Begriff der Freiheit wenigstens vier Verhältnisse des Grundes zu dessen Begründung entwickelt bzw. sind entwickelbar: A. das von Freiheit und moralischem Gesetz oder moralischem Gesetz und Freiheit, B. das von Freiheit und moralischem Gesetz als ratio essendi und ratio cognoscendi, C. das von Freiheit und Natur oder Natur und Freiheit, D. das von transzendentaler und praktischer Freiheit und dessen Verkehrung, das die Wendung zum Vorrang der praktischen vor der transzendentalen Freiheit darstellt: "Daß dieses [letztere, T.S.] die wahre Unterordnung unserer Begriffe sei und Sittlichkeit uns zuerst den Begriff der Freiheit entdecke [, was noch nicht über das Verhältnis von ratio essendi und ratio cognoscendi hinausgeht, die zentrale Aussage folgt direkt, T.S.], mithin praktische Vernunft zuerst der spekulativen das unauflöslichste Problem mit diesem Begriffe aufstelle (...), man [sonst, T.S.] niemals zu dem Wagstücke gekommen sein würde, Freiheit in die Wissenschaft einzuführen, wäre nicht das Sittengesetz und mit ihm praktische Vernunft dazu gekommen (...)."287

284

Vgl. KrV, 126, Β 116. Reflexionen (Metaphysik), 267. 286 »j]j e c o n c i u s i o n to be drawn from all of this is that in a sense the analysis of morality is its deduction [Hervorhebung von mir, T.S.], which in tum helps us to understand why Kant denies that a deduction is necessary ."(Henry Allison: Kant's theory of freedom, 238). Vgl. ebenso: "In diesem Sinne ist die Antwort auf die quaestio juris des Erkennens eine Deduktion aus dem Ursprung einer Erkenntnis als der Bedingung ihrer Möglichkeit."(Dieter Henrich: Die Deduktion des Sittengesetzes, 78). 287 KpV, 30, 54. 285

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A. Freiheit und moralisches Gesetz oder moralisches Gesetz und Freiheit Der Vorrede zufolge sei die Freiheit die Bedingung des moralischen Gesetzes. In der Deduction der Grundsätze erklärt Kant dagegen das moralische Gesetz zu einem Prinzip der Deduktion der Freiheit. Beide zueinander konträren Bestimmungen münden - ebenfalls in der Deduction der Grundsätze - in die Formulierung eines symmetrischen Verhältnisses: "(...) jene [reinen praktischen, T.S.] Gesetze sind nur in Beziehung auf Freiheit des Willens möglich, unter Voraussetzung derselben aber nothwendig, oder, umgekehrt, diese ist nothwendig, weil jene Gesetze, als praktische Postulate, nothwendig sind."288

Unmittelbar auf diese Passage folgt die bereits erwähnte, problematische, Ineinssetzung des Bewußtseins des moralischen Gesetzes mit dem der Freiheit. Zurecht weist Henry Allison darauf hin, daß dieses Verhältnis zirkulär sei.289 Durch den Grund, der seinerseits durch das Begründete als Grund zu begründen sei, sei das Begründete begründet.290 Doch scheint Henry Allisons Argumentation für die Begründung einer Variante der "Reciprocity Thesis in a non-questionbegging manner [Hervorhebung von mir, T.S.] (...)"291 durch Kants explizite Klarstellung aus der Vorrede, daß die Freiheit die ratio essendi des moralischen Gesetzes und das moralische Gesetz die ratio cognoscendi der Freiheit sei, antizipiert. Diese Unterscheidung der Momente des Verhältnisses von Freiheit und moralischem Gesetz die darin besteht, daß das eine dem anderen der Existenz- bzw. der Erkenntnisgrund sei, stellt eine Entwicklung des Begründungsverhältnisses von Freiheit und moralischem Gesetz dar, die sachlich über das symmetrische, wechselseitige Begründungsverhältnis hinausgeht.

288 289

290 291

KpV, 46,79. Allen Woods Interpretation des kantischen Beweises der Freiheit scheint eine weitere Alternative aufzuzeigen. Sein .Beweis' der Freiheit, der apagogisch von der Negation der Freiheit ausgeht, hat jedoch das Bewußtsein des moralischen Gesetzes zur Voraussetzung. Damit stellt Allen Woods Alternative eher eine Variante des als zirkulär dargestellten Verhältnisses dar "Suppose I deny that my will is free. If I deny this, I must deny that I can conceive the possibility of my willing autonomously. But in order to obey the moral law, I must will autonomously. Therefore, if I deny that my will is free, I am committed to deny that I do (or even can) obey the moral law. But I am rationally aware that I am unconditionally obligated to obey the moral law. Thus if I deny that I am free, I am committed to deny that I can do what I am unconditionally obligated to do. This conclusion is presumably an absurdum practicum, a conclusion about myself as a moral agent which I cannot tolerate. Therefore, I postulate and believe that I am free, even though I can neither demonstrate that I am free nor produce evidence that I am free."(Allen Wood: Kant's moral religion, 36 f.). "Such a move, however, would appear to beg the question and to raise once again the specter of circularity ."(Henry Allison: Kant's theory of freedom, 239). Henry Allison: Kant's theory of freedom, 239.

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Freiheit und Natur in der Kritik der praktischen Vernunft

B. Freiheit und moralisches Gesetz als ratio essendi und ratio cognoscendi Die Freiheit ist als Existenzgrund des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz als Erkenntnisgrund der Freiheit bestimmt. Die Freiheit ist als der Grund der Existenz, das moralische Gesetz als das Begründete aufzufassen. Die Begründung jedoch, das heißt das Verhältnis von Grund und Begründetem, hebt an von dem Begründeten, das als Grund der Erkenntnis des Existenzgrundes diesem vorausgesetzt ist. Die erkenntnistheoretische Reflexion verkehrt die Folge von Grund und Begründetem. Logisch ist das existierende Begründete als Erkenntnisgrund früher und deshalb auch als Grund des logisch späteren Existenzgrundes zu bestimmen. Ontologisch dagegen ist der Existenzgrund früher als das aus ihm Begründete, Existierende. Die Positionen von Grund und Begründetem wechseln zwischen dem Existenzgrund und dem Erkenntnisgrund in deren ontologischer und logischer Begründung. Weder der Grund noch das Begründete enthalten ihre Vermittlung. Die Vermittlung von Grund und Begründetem ist die Begründung. Ohne die Begründung ist der Grund kein Grund und das Begründete kein Begründetes. Die Begründung fallt in ein Drittes oder bedarf eines zweiten Prinzips.292 Dieses Dritte, das die Begründung anstellt, ist das Denken. Der Erkenntnisgrund ist das durch den Existenzgrund Begründete, von dem aus das Denken den Existenzgrund erschließt. Erkenntnistheoretisch ist der Existenzgrund als erschlossener jedoch das vom Denken Begründete. So ist das Denken zugleich Grund des Existenzgrundes und das, was die Vermittlung von Existenz- und Erkenntnisgrund leistet. Damit wäre das Verhältnis von Existenzund Erkenntnisgrund asymmetrisch zur Seite des Denkens entschieden. Da das Denken den Existenzgrund aber als ein Erstes oder Unmittelbares, das nicht aus anderem begründet werden kann, erschließt, muß dieser Schluß des Denkens auch seine eigene Negation enthalten. Die erkenntnistheoretische Begründung, die vom Erkenntnisgrund, dem moralischen Gesetz, ausgehend den Existenzgrund zum Begründeten macht, muß zugleich auch dessen Nicht-Begründung sein. Der als Begründetes gedachte Existenzgrund, die Freiheit, hat damit den Widerspruch an sich, sowohl erschlossen, ausgedacht, als auch unmittelbar, in sich subsistierend, unabhängig dem Begründeten, dem moralischen Gesetz als seinem Erkenntnisgrund, und dem Denken gegenüber zu sein. Der Begriff der Freiheit ist damit nur als ein widersprüchlicher Begriff zu bestimmen. Daß Kant-in einer bereits zitierten Passage: das "Bewußtsein der moralischen Gesetze, oder, welches einer292

"Denn das zugrunde Liegende bewirkt doch nicht selbst seine eigene Veränderung. Ich meine so: ζ. B. das Holz und das Erz sind nicht die Ursache der Veränderung in ihnen, und nicht das Holz macht ein Brett oder das Erz die Bildsäule, sondern etwas anderes ist die Ursache der Veränderung. Diese Ursache nun suchen heifit das zweite Prinzip suchen, oder, wie wir es nennen würden, dasjenige suchen, wovon die Bewegung [vom Grund zum Begründeten, T.S.] ausgeht."(Aristoteles: Metaphysik, 17, 984a 23 ff.).

Zum Beweis der Freiheit

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lei ist, das der Freiheit (...)"293 - die Erkenntnis des moralischen Gesetzes und die der Freiheit in eins setzt, ist eine Ungenauigkeit, die zur Folge hat, daß die Argumentationsfigur, von der Wirkung, dem moralischen Gesetz im Bewußtsein eines jeden Individuums, auf die Ursache der Wirkung, die Freiheit, zu schließen, undenkbar wird.

C. Freiheit und Natur oder Natur und Freiheit Die Argumentationen in der Thesis und der Antithesis sind apagogisch geführt. Die Thesis, deren Beweisziel die Freiheit ist, geht aus von der Antithesis, die eine durchgängige Verknüpfung aller Erscheinungen nach der Kategorie Kausalität behauptet. Die Antithesis geht umgekehrt vor. Die Begründung der durchgängigen Naturkausalität führt auf den Widerspruch der Unvollständigkeit der Folgen, der Grund der Einführung der Freiheit sei. Die Begründung der Kausalität aus Freiheit führt auf den Widerspruch, daß ihre Gesetzlosigkeit die kollektive Einheit der Erfahrung, die Voraussetzung von Wissenschaft ist, zerstört. In dem wechselseitigen Voraussetzen von bloßer Natur in der Begründung der Thesis und von bedingungsloser Freiheit in der Begründung der Antithesis, sind sie analog dem wechselseitig voraussetzenden Verhältnis von Existenzgrund und Erkenntnisgrund der Freiheit und des moralischen Gesetzes. Die Analogie erstreckt sich, wenngleich Grund und Begründetes in den apagogischen Beweisen von Thesis und Antithesis sich nicht nach Existenz- und Erkenntnisgrund unterscheiden lassen, auch auf die dargestellte Asymmetrie von Existenz- und Erkenntnisgrund und deren Negation: Symmetrisch ist das Verhältnis von Natur und Freiheit in ihrem wechselseitigen Voraussetzen bei der Begründung ihres Gegenteils. Asymmetrisch ist ihr Verhältnis, da erstens der Begriff der Natur, zweitens der Unterschied von Natur und Freiheit und drittens die Durchführung, mit dem Resultat der Undurchführbarkeit oder Inkonsistenz, ihrer Beweise nicht in die Natur, sondern in das Denken, das nicht empirisch determiniert, sondern frei ist, fällt. Der Versuch der Vereinbarkeit von Natur und Freiheit in der Auflösung der dritten Antinomie durch den Begriff der Handlung ist deshalb als ein Versuch zu interpretieren, die Symmetrie durch das Wesen, das sowohl einen intelligiblen als auch einen empirischen Charakter besitzt, wieder herzustellen. Die aus der Möglichkeit, daß der vernünftig bestimmte Wille beim Versuch seiner Realisierung auch scheitern kann und so zum unglücklichen Bewußtsein wird, sich ergebende Asymmetrie von intelligiblem und empirischem Charakter ist davon jedoch noch zu unterscheiden.

293

KpV, 46,79. Vgl. KpV 42,72.

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Freiheit und Natur in der Kritik der praktischen Vernunft

D. Transzendentale und praktische Freiheit oder praktische und transzendentale Freiheit Einerseits294 sei der Grund der praktischen Freiheit die transzendentale, andererseits sei, die vermittelst des moralischen Gesetzes erkennbare praktische Freiheit diejenige, welche die theoretische Vernunft nötige, die transzendentale Freiheit einzuführen. Das Verhältnis von Grund und Begründetem ist von der Kritik der reinen zur Kritik der praktischen Vernunft verkehrt. Im folgenden soll mit den Termini Grund und Begründetes versucht werden, diese Verkehrung des Begründungsverhältnisses von transzendentaler und praktischer Freiheit aufzuklären: Die transzendentale Freiheit, wie auch die praktische, sind in der Kritik der reinen Vernunft explizit doppelt bestimmt. Positiv sind sie zum einen als die Spontaneität der Ursache, zum anderen als die vernünftige Bestimmung des Willens bestimmt. Negativ sind sie als Unabhängigkeit von der Naturkausalität und Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben bestimmt.295 Diese Doppeltbestimmtheit sowohl der transzendentalen als auch der praktischen Freiheit ist in der Kritik der praktischen Vernunft weitgehend aufgehoben. Die negative Bestimmung wird mit der transzendentalen Freiheit, die positive Bestimmung der Freiheit mit der praktischen Freiheit und dem moralischen Gesetz identifiziert.296 Auf dieser Identifikation beruht die Behauptung des Begründungsverhältnis von transzendentaler und praktischer Freiheit und auch dessen Verkehrung. In der negativen Bestimmung der Freiheit sei die transzendentale früher als die praktische Freiheit.297 Insofern wäre sie Grund der begründeten praktischen Freiheit.298 In 294 295

296

297

298

Vgl. KrV, 464, Β 476, vgl. 523, Β 561. "Dagegen verstehe ich unter Freiheit, im kosmologischen Verstände, das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht (...)."(KrV, 523, Β 561). "Die F r e i h e i t im p r a k t i s c h e n V e r s t ä n d e ist die Unabhängigkeit der Willkür von der N ö t i g u n g durch Antriebe der Sinnlichkeit. (...) dem Menschen [wohnt, T.S.] ein Vermögen [bei, T.S.], sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen."(KrV, 524, Β 562). "Eine solche Unabhängigkeit [des Willens vom Naturgesetz, T.S.] aber heißt Freiheit im strengsten, d. i. transcendentalen Verstande."(KpV, 29, 51 f.). Die theoretische Vernunft leistete soviel, "die Freiheit, negativ betrachtet, anzunehmen (...)."(KpV, 42, 73). "Jene U n a b h ä n g i g keit aber ist Freiheit im n e g a t i v e n , diese e i g e n e G e s e t z g e b u n g aber reinen, und, als solche, praktischen Vernunft ist Freiheit im p o s i t i v e n Verstande."(KpV, 33, 59). Vgl. KpV, 48, 83. Ihr "erster Begriff [ist, T.S.] negativ (...)"(KpV, 29, 53). Die Frage nach der "Freiheit des Willens (...) ist eigentlich nur transzendental (,..)."(KrV, 464, Β 476). Nahegelegt scheint dies auch in der Passage aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: "Die angeführte Erklärung der Freiheit ist n e g a t i v und daher, um ihr Wesen einzusehen, unfruchtbar; allein es fließt aus ihr ein p o s i t i v e r Begriff derselben, der desto reichhaltiger und fruchtbarer ist."(GMS, 446). Brigitte Högemann sucht eine Erklärung für den Begriff des "Fließens" des positiven Begriffs aus dem negativen in dem kantischen Begriff der Hypotypose (vgl. KU, 352 f., 257, § 59). Sie weist jedoch nicht nach, wie die doppelte Funktion der Urteilskraft in der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung diese auf einen anderen Begriff, der kein Gegenstand der

Zum Beweis der Freiheit

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der positiven Bestimmung, als vernünftig bestimmter Wille, sei jedoch die praktische Freiheit früher und gebe den Grund ab, die transzendentale Freiheit einzuführen.299 Die Wirklichkeit der Freiheit in der positiven Bestimmung sei bewiesen durch das moralische Gesetz: Die "(...) Freiheit, von der das moralische Gesetz, welches selbst keiner rechtfertigenden Gründe bedarf, nicht bloß die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit an Wesen beweiset, die dies Gesetz als für sie verbindend erkennen."300 Das "moralische Gesetz beweiset seine Realität dadurch auch für die Kritik der speculativen Vernunft genugthuend, daß es einer bloß negativ gedachten Causalität, deren Möglichkeit jener unbegreiflich und dennoch sie anzunehmen nöthig war, positive Bestimmung, nämlich den Begriff einer den Willen unmittelbar (...) bestimmenden Vernunft hinzufügt (...)."301 Die Wirklichkeit der Freiheit sei bewiesen durch das moralische Gesetz, die Realität302 des moralischen Gesetzes hingegen durch die Positivität der den Willen vernünftig bestimmenden Kausalität. Ist die Positivität der praktischen Freiheit in Gestalt des moralischen Gesetzes das, was die Realität beweise, bildet sie den Existenzgrund der negativ bestimmten transzendentalen Freiheit. Der "bloß gedacht(en) (...)"303 Freiheit der theoretischen Vernunft werde "Realität verschafft (...)."304 Die "praktische Realität (,..)"305 der transzendentalen Idee als realisierte praktische Freiheit wäre dann das ontologisch Frühere. Der ontologische Grund der begründeten transzendentalen Freiheit wäre die praktische Freiheit, durch die erst die transzendentale Freiheit in die Wissenschaft eingeführt werde. Logisch früher wäre jedoch die negative Bestimmung der transzendentalen Freiheit als Unabhängigkeit von der Naturkausalität. Die Erklärung der Verkehrung des Begründungsverhältnisses

299 300 301 302

303 304 305

Anschauung ist, überträgt und damit eine Erklärung des Begriffs des "Fließens" durch den Begriff der Hypotypose ermöglicht. Vgl. Brigitte Högemann: Die Idee der Freiheit und das Subjekt, 230. Vgl. KpV, 29 f., 53 f. KpV, 47, 82. KpV, 48, 83. Die Begriffe Realität, Wirklichkeit und Dasein werden von Kant im Zusammenhang mit dem moralischen Gesetz genannt. Daß schon die Begriffe Wirklichkeit und Dasein nicht synonym sind, wird an Folgendem deutlich: Die praktische Vernunft "muß (...) von reinen praktischen Gesetzen und deren Wirklichkeit anfangen. Statt der Anschauung aber legt sie denselben den Begriff ihres Daseins in der intelligiblen Welt, nämlich der Freiheit, zum Grunde."(KpV, 46, 79). Auch Realität und Wirklichkeit sind nicht immer synonym verwandt: Die "Realität" des moralischen Gesetzes sei schon durch die "positive Bestimmung (,..)"(KpV, 48, 83) des Willens bewiesen. Ob dieser vernünftig bestimmte Wille wirklich sein kann, hänge jedoch ab von dem "angemessenen physischen Vermögen (,..)."(KpV, 43, 75). Diese Uneindeutigkeiten sind nicht vornehmlicher Gegenstand dieser Arbeit. Vergleiche zu diesem Problem Anneliese Maier: Kants Qualitätskategorien, 71 ff. KpV, 6, 9. Ebda. KpV, 48, 83.

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durch die Unterscheidung von negativer, transzendentaler als logischem Grund und positiver, praktischer Freiheit als ontologischem Grund hätte aber zur Folge, daß die Idee der Freiheit wirklich sein müßte. Dann jedoch könnte sie nicht nur, wie Kant auch schreibt, eine regulative Idee der Vernunft sein. Ausgehend von der Einsicht darein, daß die Idee der praktischen Freiheit real sein müsse, sei Dieter Henrich zufolge die Realität dieser Idee "eine notwendige Bedingung für die Realität des Sittengesetzes. Sie ist aber zugleich auch eine hinreichende Bedingung für diese Realität."306 Ist die Realität der praktischen Freiheit eine hinreichende Bedingung der Realität des Sittengesetzes, wird aus der Folge der, oben erklärten, Verkehrung des Begründungsverhältnisses auf die, durch das Sittengesetz garantierte, realisierte Einheit aller vernünftig bestimmten Willen geschlossen.307 Die Welt wäre so schon die beste aller möglichen Welten. Obzwar Kant gegen diese Konsequenz argumentiert, indem er die Freiheit zu einem "regulativen Princip der Vernunft (...)"308 erklärt, ist diese Konsequenz aus dem Verhältnis der Begründungen von transzendentaler und praktischer Freiheit entwickelbar: "Allein, da es schlechterdings unmöglich ist, ihr [der transzendentalen Freiheit, T.S.] gemäß ein Beispiel in irgend einer Erfahrung zu geben, weil unter den Ursachen der Dinge, als Erscheinungen, keine Bestimmung der Causalität, die schlechterdings unbedingt wäre, angetroffen werden kann, so konnten wir nur den G e d a n k e n einer freihandelnden Ursache (...) v e r t h e i d i g e n (...). (...) Ich konnte aber diesen G e d a n k e n [den des Unbedingten oder der transzendentalen Freiheit, T.S.] nicht r e a l i s i e r e n , d. i. ihn nicht in Erkenntnis eines so handelnden Wesens, auch nur bloß seiner Möglichkeit nach verwandeln. Diesen leeren Platz füllt nun reine praktische Vernunft, durch ein bestimmtes Gesetz der Causalität in einer intelligibelen Welt (durch Freiheit), nämlich das moralische Gesetz, aus. Hiedurch wächst nun zwar der speculativen Vernunft in Ansehung ihrer Einsicht nichts zu, aber doch in Ansehung der S i c h e r u n g ihres problematischen Begriffs der Freiheit, welchem hier objektive und obgleich nur praktische, dennoch unbezweifelte R e a l i t ä t verschafft wird."309

306 307

308 309

Dieter Henrich: Die Deduktion des Sittengesetzes, 89. Wolfgang Bartuschat folgt Kant in der Aufhebung der Doppeltbestimmtheit der transzendentalen und praktischen Freiheitsbegriffe. Er nimmt sich nicht des damit zusammenhängenden Problems des Begründungsveihältnisses von transzendentaler und praktischer Freiheit an, gelangt aber ebenso zu dem Schluß, daß Freiheit wirklich sein müßte: "Die Freiheit, die die K.d.r.V. negativ bestimmt hatte als etwas, das in der theoretischen Philosophie keinen Ort hat, das damit aber auch nicht schon als unmöglich erwiesen ist, behält in der praktischen Philosophie nicht nur diesen negativen Akzent (...), sondern erhält eine positive Bestimmung (...). Darin erhält das, was in der theoretischen Philosophie ein bloß problematischer Begriff ist, in praktischer Hinsicht Realität, allerdings nur dann, wenn das, worin sich die Freiheit faktisch bekundet, eine von der Freiheit verschiedene Wirklichkeit ist (,..)."(Wolfgang Bartuschat: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 75). KpV, 48 f., 84. KpV, 48 f., 84 f.

Zum Beweis der Freiheit

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Der Vorbehalt gegen die Wirklichkeit der praktischen Freiheit als realisiertes Sittengesetz ist der, daß dieses Sittengesetz ein Gesetz der "intelligibelen Welt" sei. Dieser Vorbehalt ist begründet dadurch, daß die Positivität der praktischen Freiheit und ihre Wirklichkeit nicht a priori identisch sind. Diese Differenz von Positivität und Wirklichkeit der praktischen Freiheit führt auf die Unterscheidung einer sinnlichen Natur, die nach der Form einer übersinnlichen Natur einzurichten sei.

2.2 Zum Verhältnis von natura archetypa und natura ectypa Das moralische Gesetz "soll der Sinnenwelt, als einer sinnlichen Natur (was die vernünftigen Wesen betrifft), die Form einer Verstandeswelt, d. i. einer übersinnlichen Natur verschaffen, ohne doch jener ihrem Mechanism Abbruch zu thun. Nun ist Natur im allgemeinsten Verstände die Existenz der Dinge unter Gesetzen. Die sinnliche Natur vernünftiger Wesen überhaupt ist die Existenz derselben unter empirisch bedingten Gesetzen, mithin für die Vernunft Heteronomie. Die übersinnliche Natur eben derselben Wesen ist dagegen ihre Existenz nach Gesetzen, die von aller empirischen Bedingung unabhängig sind, mithin zur Autonomie der reinen Vernunft gehören."310 Daß die Natur die Existenz der Dinge unter Gesetzen sei, ist von Kant in der Kritik der reinen Vernunft dargelegt. Insofern die Form der Gesetzmäßigkeit ihr vom Verstand vorgeschrieben wird, ist die Natur als ein Reflexionsbegriff, als eine Idee bestimmt. Diese Idee der Natur sei nun mit den Begriffen Autonomie und Heteronomie zu unterscheiden. Als Idee einer übersinnlichen Natur, die die vorgestellte Realisierung vernünftig bestimmter Willen zum Inhalt hat, sei sie Resultat der Autonomie der Vernunft. Als sinnliche Natur sei sie für die Vernunft Heteronomie. Diese sinnliche Natur ist jedoch in der Kritik der reinen Vernunft als eine Idee bestimmt, womit hier, in der Kritik der praktischen Vernunft, ein Vernunftbegriff zum Anderen dessen, was ihn erschlossen hat, erklärt würde. Der Vernunftbegriff wäre der Vernunft selbst alio genos. Dieselbe Natur ist einerseits bestimmt nach den Gesetzen, durch die die Naturerscheinungen untereinander verknüpft sind, andererseits als vorgestellte Realisierung der vernünftig bestimmten Willen bestimmt. "Das Gesetz dieser Autonomie aber ist das moralische Gesetz; welches also das Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandes weit ist, deren Gegenbild in der Sinnenwelt, aber doch zugleich ohne Abbruch der Gesetze derselben, existieren soll. Man könnte jene die urbildliche (natura archetypa), die wir bloß in der Vernunft erkennen, diese aber, weil sie die mögliche Wirkung

310

KpV, 43,74.

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Freiheit und Natur in der Kritik der praktischen Vernunft

der Idee der ersteren, als Bestimmungsgrundes des Willens, enthält, die nachgebildete (natura ectypa) nennen."311

Soll die Realisierung des moralischen Gesetzes als Gegenbild in der Sinnenwelt mit den Gesetzen dieser Sinnenwelt kompatibel sein, das heißt ohne Abbruch mit diesen zusammenstehen können, kann diese Sinnenwelt nicht heteronom sein. Wenn das, was sein soll, mit dem, was ist, ohne Abbruch vereinbar sein soll, können Seinsollendes und Seiendes nicht wie Autonomie und Heteronomie zueinander stehen. Der Unterschied zwischen dem Begriff der sinnlichen Natur, den die theoretische Vernunft erschließt, und dem Begriff der Natur, den die praktische Vernunft sich als zu realisierende Form einer übersinnlichen Natur aufgibt, ist nicht aufrecht zu halten. Die Idee der Natur der theoretischen Vernunft kann auch der praktischen Vernunft nicht heteronom sein. Ist die natura ectypa als die Wirkung der natura archetypa bestimmt, können beide nicht in dem Verhältnis von Autonomie und Heteronomie stehen. Durch die Realisierung der vernünftig bestimmten Willen nach dem Verhältnis von Urbild und Nachbild wäre der Unterschied von Autonomie und Heteronomie aufgehoben. Diese Realisierung vermöchte die reine Vernunft jedoch nur zu leisten, "wenn sie mit dem ihr angemessenen physischen Vermögen begleitet wäre (...)"312, womit der "Begriff zugleich der Grund der Wirklichkeit (...)"313 der übersinnlichen Natur wäre. Gegen die Aufhebung des Unterschieds von Autonomie und Heteronomie, das heißt dagegen, daß Begriff und Wirklichkeit des moralischen Gesetzes nicht unterschieden sind, die wirkliche Welt schon eine moralisch verfaßte ist, ersteht unter dem Titel der Heteronomie der Natur wieder die alte ontologische Bestimmtheit der Gegenstände dieser Welt. Die zwei einander entgegengesetzten Momente des Naturbegriffs der theoretischen Vernunft314, das, was die Natur als empirische Affinität, und das, was die Natur als Reflexionsbegriff, als Idee, beschreibt, tauchen in der Argumentation der Kritik der praktischen Vernunft wieder auf. Die sinnliche Natur, der die Form einer übersinnlichen Natur verschafft werden solle, stellt, in der Bestimmung als empirische Affinität, für die Autonomie des Willens die Heteronomie dar. Die Insuffizienz endlicher vernünftiger Wesen in der Heteronomie diese aufzuheben und das "höchste Gut (...)"315 hervorzubringen, läßt die gesetzgebende Vernunft zu einer gesetzprüfenden Vernunft werden.

311 312 313 314 315

KpV, 43,74 f. Ebda. KpV, 45,78. Vgl. Kapitel 1.2.1 dieser Arbeit. KpV, 43,75.

Zum Verhältnis von natura archetypa und ectypa

73

"Wenn die Maxime, nach der ich ein Zeugnis abzulegen gesonnen bin, durch die praktische Vernunft geprüft wird, so sehe ich immer darnach, wie sie sein würde, wenn sie als allgemeines Naturgesetz gölte."316

Die gesetzgebende Vernunft gibt mit dem moralischen Gesetz nur die allgemeine Form eines Gesetzes. Dient diese Form der gesetzprüfenden Vernunft als Kriterium zur moralischen Beurteilung, muß das, was an dieser Form geprüft werden soll, gegeben sein. Das der Form des Gesetzes Gegebene sind die Maximen. Die Maximen sind jedoch dem unteren Begehrungsvermögen, der Heteronomie, entnommen. Das Vermögen der Beurteilung einer in der Sinnlichkeit möglichen Handlung, ob diese der allgemeinen Form eines Naturgesetzes genüge, ist die praktische Urteilskraft.

2.3 Die Äquivokation im Begriff der Typik der praktischen Vernunft Ob die Maxime einer möglichen Handlung "an der Form eines Naturgesetzes überhaupt die Probe hält (...)"317, setzt die praktische Urteilskraft als das Vermögen voraus, die Kompatibilität einer Maxime mit dem moralischen Gesetz zu beurteilen. Insofern die praktische Urteilskraft prüft, ob eine gegebene Maxime der Form eines Naturgesetzes angemessen sei, urteilt sie wie die Urteilskraft der reinen theoretischen Vernunft318, die zufolge der in der Kritik der Urteilskraft getroffenen Unterscheidung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft als bestimmende Urteilskraft zu bezeichnen ist. Ihr sind die durch sie zu prüfenden Fälle gegeben. Doch seien diese ihr gegebenen und zu prüfenden Fälle nicht der Sinnenwelt entnommen, da sie als realisierte Handlungen Teil der Sinnenwelt, der Heteronomie, seien und so aus dem .Funktionsbereich' der praktischen Urteilskraft heraus ragten. Wären die Fälle der Sinnenwelt entnommen gehörte ihre Beurteilung "unter Naturbegriffe, deren Schema transcendentale Einbildungskraft entwirft."319 Der von Kant anvisierte Ausweg, deshalb nur eine "mögliche Handlung (...)"32° der praktischen Urteilskraft vorzugeben, bietet dennoch keine Lösung der Verwicklung der Typik in die Heteronomie. "Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Theil wärest, geschehen sollte, sie du wohl, als durch deinen Willen möglich, ansehen könntest."321

316 317 318 319 320 321

KpV, 44, 75. KpV, 69 f., 123. Vgl. KrV, 193, Β 171. KpV, 68,121. KpV, 67, 119. KpV, 69, 122.

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Freiheit und Natur in der Kritik der praktischen Vernunft

Zwei Einwände sind anzuführen: Erstens ist auch die mögliche Handlung als zu realisierender Wille auf einen Gegenstand, die Materie des Wollens, bezogen.322 Diese Materie des Wollens, auch als nur vorgestellte, führt auf die "Heteronomie der Willkür, nämlich Abhängigkeit vom Naturgesetze, irgend einem Antriebe oder Neigung zu folgen (,..)."323 Zweitens - dieser Einwand ist in der Typik selbst genannt - "ist es nicht um das Schema eines Falles nach Gesetzen, sondern um das Schema (wenn dieses Wort hier schicklich ist) eines Gesetzes [des moralischen Gesetzes, T.S.] selbst zu thun (,..)."324 Diese Bestimmung der Aufgabe, ein Schema des moralischen Gesetzes selbst zu suchen, geht gegen die Beurteilung einzelner, partikularer Handlungen. Insofern ein Schema des moralischen Gesetzes selbst zu bestimmen sei, urteilt die praktische Urteilskraft wie die bestimmende Urteilskraft, die unter ein gegebenes Gesetz subsumiert. Maximen einzelner Handlungen können unter heteronomen Bedingungen einander widersprechen, wie die, sein Leben zu opfern, um nicht falsches Zeugnis abzulegen und die, sein Leben zugleich zu erhalten.32S Daß die Beurteilung einzelner Handlungen unter heteronomen Bedingungen auf Widersprüche führen kann, mag Kant zu der Äquivokation im Begriff der Typik veranlaßt haben: Ist das Naturgesetz mit seiner Form der Gesetzmäßigkeit der 'Typus der Beurtheilung [Hervorhebung von mir, T.S.] (...)"32δ möglicher Handlungen auf ihre Kompatibilität mit dem Sittengesetz, verwickelt sich die Typik notwendig in die Heteronomie. Ist dagegen das Naturgesetz der 'Typus des Sittengesetzes [Hervorhebung von mir, T.S.] (,..)"327, dreht sich die Argumentation nicht um die Subsumtion einzelner Fälle unter das moralische Gesetz, sondern um die Anwendung des moralischen Gesetzes selbst auf Gegenstände möglicher Erfahrung. 328 "Folglich hat das Sittengesetz kein anderes, die Anwendung desselben auf Gegenstände der Natur vermittelndes Erkenntnisvermögen, als den Verstand (nicht die Einbildungskraft), welcher einer Idee der Vernunft nicht ein S c h e m a der Sinnlichkeit, sondern ein Gesetz, aber doch ein solches, das an Gegenständen der 322 323 324 325

326 327 328

Vgl. KpV, 34, 60 f., vgl. 57 f., 101. KpV, 33,59. KpV, 68,121. "Eben so wird die Maxime, die ich in Ansehung der freien Disposition über mein Leben nehme sofort bestimmt, wenn ich mich frage, wie sie sein miißte, damit sich eine Natur nach einem Gesetze derselben erhalte. Offenbar würde niemand in einer solchen Natur sein Leben willkürlich endigen können, denn eine solche Verfassung würde keine bleibende Naturordnung sein (...)."(KpV, 44,75 f.). KpV, 69, 123. KpV, 69,122. Auf die für die Analogie von Typik und Schematismus notwendige Darstellung des Kapitels über den transzendentalen Schematismus aus der Kritik der reinen Vernunft, an das eine Diskussion von Kants Begriff der Hypotypose aus dem § 59 der Kritik der Urteilskraft anzuschließen wäre, muß hier verzichtet werden. Zu letzterem vergleiche Henry Allison: Kant's theory of taste, 254267.

Die Äquivokation im Begriff der Typik der praktischen Vernunft

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Sinne in concreto dargestellt werden kann, mithin ein Naturgesetz, aber nur seiner Form nach, als Gesetz zum Behuf der Urtheilskraft unterlegen kann, und dieses können wir daher den Typus des Sittengesetzes nennen."329 Der Verstand gebe der Idee des moralischen Gesetzes als Schema die allgemeine Form des Gesetzes. Diese Form der Gesetzmäßigkeit erlaube es, "die Natur der Sinnenwelt als Typus einer intelligibelen Natur zu brauchen, so lange ich nur nicht die Anschauungen, und was davon abhängig ist, auf diese übertrage (,..)."330 Die Univozität der Form der Gesetzmäßigkeit liegt sowohl dem Verhältnis von natura archetypa und natura ectypa, als auch der Typik in dem Verhältnis des moralischen Gesetzes zu seiner Anwendung zugrunde. Beide Verhältnisse stehen zueinander im Verhältnis der Verkehrung. Die Intention des Verhältnisses von natura archetypa und natura ectypa ist die, die Heteronomie in die Autonomie zu verwandeln, indem der sinnlichen Natur die Form einer übersinnlichen Natur verschafft werde. Die Typik dagegen macht die Form der Natur der Sinnenwelt331, die nicht sinnlich ist, zum Typus einer intelligiblen Natur. Diese Verkehrung des Verhältnisses von der Deduction der Grundsätze zur Typik durch den Begriff der einen Form der Gesetzmäßigkeit ist nicht falsch, impliziert aber eine entscheidende Äquivokation im Begriff der Heteronomie. Diene die Form der Sinnenwelt, die damit die Form der Heteronomie sein muß, dem moralischen Gesetz als Typus, kann diese Sinnenwelt nicht dieselbe Heteronomie wie die der Deduction der Grundsätze sein, der die Form einer übersinnlichen Natur erst noch verschafft werden solle. Einerseits, wie in der Deduction der Grundsätze genannt, soll die Heteronomie durch die Form der Gesetzmäßigkeit in die Autonomie verwandelt werden, andererseits stehe, der Typik zufolge, die Heteronomie selbst schon unter der Form der Gesetzmäßigkeit, und könne deshalb als Typus des moralischen Gesetzes fungieren. Kant greift zum einen in der Typik auf das zweite332, von ihm in der Kritik der reinen Vernunft entwickelte, Moment des Naturbegriffs zurück, darin die Heteronomie als jene Natur bestimmt sei, deren Form der Gesetzmäßigkeit ihrer Erscheinungen vom Verstand ihr vorgeschrieben werden. Zum anderen sei in der Deduction der Grundsätze die Heteronomie eine Natur, der die Form einer übersinnlichen Natur noch zu verschaffen sei. Anhand der Verkehrung dieses Verhältnisses ist die Äquivokation im Begriff der Heteronomie, die den Unterschied zwischen erster und zweiter Natur enthält, nachweisbar. Die Unterscheidung der Natur in die erste und zweite Natur wird von Kant in der Kritik der praktischen Vernunft jedoch weder explizit 329 330 331

332

KpV, 69,122. KpV, 70,124. Vgl. Der "Verstand ist selbst der Quell der Gesetze der Natur, und mithin der formalen Einheit der Natur (...)."(KrV, 187a, A 127). Daß der Verstand der Natur die gesetzliche Form vorschreibt, erklärt die Klammerbemerkung: der "Verstand (nicht die Einbildungskraft) (,..)"(KpV, 69, 122), wie im transzendentalen Schematismus, sei das vermittelnde Erkenntnisvermögen. Vgl. Kapitel 1.2.1 dieser Arbeit.

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Freiheit und Natur in der Kritik der praktischen Vernunft

genannt noch strikt durchgehalten. Die Beispiele, die Kant für seine Argumentation zitiert, sind allermeist solche, die gesellschaftlichen Verhältnissen333 entnommen sind, und damit implizit den Unterschied von erster und zweiter Natur enthalten.

2.4 Die Naturbegriffe in der Kritik der Praktischen Vernunft Zu den zwei in der Kritik der reinen Vernunft entwickelten Naturbegriffen sind zwei weitere aus der Kritik der praktischen Vernunft entwickelbar. Die jeweiligen Begriffspaare aus der Kritik der reinen und der Kritik der praktischen Vernunft sind miteinander verschränkt, aber nicht vollständig aufeinander rückführbar. Die Natur in ihrer Bestimmung der Kritik der reinen Vernunft als empirische Affinität ist dem Denken heteronom. Als Anderes des Denkens taucht sie in der Kritik der praktischen Vernunft im Begriff der sinnlichen Natur, der Heteronomie, der die Form der Autonomie noch verschafft werden solle, wieder auf. Identisch sind beide Naturbegriffe darin, daß sie der Vernunft Entgegenstehendes beschreiben. Unterschieden sind sie darin, daß die Erscheinungen der Natur als empirische Affinität, deren Gegenstände Gegenstände der Erkenntnis sind, an sich selbst gesetzmäßig, ontologisch, geordnet sind.334 Die Erscheinungen der Natur als zweite Natur sind dagegen nicht notwendig moralisch gesetzmäßig verfaßt. Dieser Natur soll nach Kants Auffassung erst noch die Form der Gesetzmäßigkeit verschafft werden. Die Natur in ihrer zweiten Bestimmung der Kritik der reinen Vernunft ist als Idee ein Reflexionsbegriff. Auf ihre durch den Verstand ihr vorgeschriebene Form der Gesetzmäßigkeit wird sowohl in der Typik als auch in dem Verhältnis von natura archetypa und natura ectypa zurückgegriffen. Identisch sind die Idee der Natur und die Natur als Archetyp in der Form der Gesetzmäßigkeit. Unterschieden sind sie darin, daß die eine gegebene Erscheinungen inbegreift, die andere seinsollende Erscheinungen zum Ziel hat. Sind beide Naturbegriffe Begriffe der Reflexion, sind sie dadurch unterschieden, daß die Realisierung der seinsollenden Erscheinungen ein Postulat ist. Ist dieses Postulat erfüllt, wird aus

333

334

Das "Depositum"(KpV, 27, 49), das Lotterbett in anbetracht des "Galgens"(KpV, 30, 54), der Fürst, der "falsches Zeugnis"(ebda) zu erpressen vorhat, die "Strafe"(KpV, 37, 66) usf. sind allesamt Erscheinungen der zweiten Natur. Vgl. KrV, 145a f., A 100 f.

Die Naturbegriffe in der Kritik der Praktischen Vernunft

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der heteronomen zweiten Natur Autonomie. Die in der Idee der ersten Natur ohnehin schon bei sich selbst seiende Vernunft wäre auch in der nach ihr eingerichteten zweiten Natur ohne Gegensatz.

3 Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft 3.1 Die Einleitung der Kritik der Urteilskraft [2. Fassung]335 3.1.1 Der Grund der Einheit des Natur- und Freiheitsbegriffs Die Philosophie sei nach Kant in zwei Teile, die Naturphilosophie und die Moralphilosophie, einzuteilen. Die Urteilskraft sei "ein Mittelglied (...)"336 zu diesen Teilen der Philosophie, so daß "zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System (...)"337 beide Teile vereinigt seien.338 Sie soll den "Übergang (...) vom Gebiete der Naturbegriffe zum Gebiete des Freiheitsbegriffs (...)"339 bewirken.340 Die der Urteilskraft zugedachte Aufgabe, ein Mittelglied zwischen Natur- und Moralphilosophie zu sein, ist zu bestimmen aus dem Unterschied und dem Tertium comparationis der zu vereinigenden Teile der Philoso335

336 337 338

339 340

Wie auch die revidierte Fassung der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in der Kritik der reinen Vernunft nötigt, nach dem Grund der Revision zu fragen, ist die Forderung eines Vergleichs der ersten mit der zweiten Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft zu erheben, doch kann sie hier nicht erfüllt werden. Vgl. zu den Differenzen beider Fassungen Björn Kaluza: Kants Kritik der Urteilskraft im Entwurf der beiden Einleitungen. Wolfgang Bartuschat: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 222 ff. Henry Allison: Kant's theory of taste, 13-42. Joachim Peter: Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft, 51-85. KU, 168, V. KrV, 755, Β 868. Die Frage, ob Kant bereits beim Verfassen der Kritik der reinen Vernunft die Idee, die Urteilskraft als Mittelglied zu bestimmen, ist in dieser Arbeit nicht Gegenstand. KU, 179, XXV. Vgl. zum Begriff des Übergangs die Formulierungen 176, XX, vgl. 196, LV. In der Kritik der reinen Vernunft ist die Funktion, den Übergang von Naturbegriffen zu den praktischen "vielleicht"(KrV, 361, Β 386) zu ermöglichen, den transzendentalen Vemunftbegriffen oder Ideen zugesprochen. Henry Allison beurteilt die Differenz zwischen Kritik der reinen Vernunft und Kritik der Urteilskraft wie folgt, der ich nichts hinzuzufügen habe: "Nevertheless, it must be emphasized that on either interpretation, there remain significant differences between the first and third Critiques in the unterstanding of both the nature and the necessity of the transition. Indeed, I believe that these differences are so great that it is highly misleading to regard the passing mention of an Übergang in the first Critique as an anticipation of the problem with which Kant became centrally concerned in the third. (...) Of even greater relevance to our present concerns, however, are the facts that in the third Critique the Übergang is attributed to judgment's concept of purposiveness of nature, rather than to ideas of reason (...)."(Hemy Allison: Kant's theory of taste, 198). Vgl. Heinz Heimsoeth: Transzendentale Dialektik: Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, 59. Vgl. Klaus Düsing: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 102-115.

Die Einleitung der Kritik der Urteilskraft

79

phie. Wären die Moralphilosophie und die Naturphilosophie absolut unterschieden, ließen sie sich in keinem System vereinigen, da die Vereinigung in einem Dritten zu dem Unterschied notwendig die Identität beider voraussetzt. Wären sie in keinem Dritten vereinbar, ist der Schluß von der absoluten, durch nichts vermittelbaren, Unterschiedenheit auf die Identität beider Teile zwingend. Die Identität von Naturphilosophie und Moralphilosophie ließe ebensowenig wie die, von dieser Identität nicht zu unterscheidende, absolute Unterschiedenheit eine Vereinigung zu. Ist der Terminus ad quem der Argumentation das eine einzige philosophische System, das sowohl die Natur- als auch die Moralphilosophie in sich begreift, muß Kant für die Vereinigung beider deshalb ein gemeinsames Drittes, worin beide übereinstimmen, und ihren Unterschied angeben können. "Unser gesammtes Erkenntnisvermögen hat zwei Gebiete, das der Naturbegriffe und das des Freiheitsbegriffs; denn durch beide ist es a priori gesetzgebend. Die Philosophie theilt sich nun auch diesem gemäß in die theoretische und die praktische. Aber der Boden, auf welchem ihr Gebiet errichtet und ihre Gesetzgebung ausgeübt wird, ist immer doch nur der Inbegriff der Gegenstände aller möglichen Erfahrung (,..)."341

Die Unterschiedenheit von theoretischer und praktischer Philosophie bezeichnet Kant durch die ihnen zugehörigen "Gebiete". Die Identität bestehe dagegen darin, daß diese Gebiete auf "einem und demselben Boden (...)"342, den Gegenständen möglicher Erfahrung, sich befinden, auf den sich beide Teile der Philosophie gleichermaßen beziehen lassen müssen. Das Gebiet der theoretischen Vernunft sei die Natur. Ihre Gesetzgebung geschehe durch den Verstand. Das Gebiet der praktischen Vernunft sei die Freiheit, deren Gesetzgebung durch die Vernunft geschehe. "Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so daß von dem ersteren zum anderen (also vermittelst des theoretischen Gebrauchs der Vernunft) kein Übergang möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einfluß haben kann: so s o l l doch diese auf jene einen Einfluß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen (.,.)."343

341

342 343

KU, 174, XVII. Daß Kant in der Einleitung der Kritik der Urteilskraft beinahe durchweg den Plural des Naturbegriffs dem Singular des Freiheitsbegriffs gegenüberstellt, ist ein weiterer Beleg für die Reduktion der Doppeltbestimmtheit des transzendentalen und praktischen Begriffs der Freiheit aus der Kritik der reinen Vernunft auf nur einen expliziten Freiheitsbegriff in der Kritik der praktischen Vernunft, der als negativer Begriff der Unabhängigkeit von der durchgängigen Bestimmung aller Erscheinungen die transzendentale, als positiver Begriff der Bestimmung des Willens dagegen die praktische Freiheit enthalte. Vgl. KU, 171, Β XI f., vgl. 174, XVII. KU, 175, XVIII. KU, 175 f., XIX. Zur Differenz der Formulierungen von erster zu zweiter Einleitung und der Bewertung dieser vergleiche Henry Allison: Kant's theory of taste, 201.

Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft

80

Die übersinnliche Welt sei zu beziehen auf die sinnliche Welt, damit jene in dieser wirklich werde. Das Argument dieser Forderung ist folgendes: Der aufgegebene Zweck ist die vernünftige Bestimmung des Willens durch das moralische Gesetz. Wenn dieser vernünftig bestimmte Wille sich realisieren soll, muß er in seinen Handlungen sich auf Naturgegenstände beziehen. In dieser Beziehung auf Naturgegenstände wirkt der Wille wie eine Naturursache. In der Realisierung des vernünftig bestimmten Willens hat die Gesetzgebung der Vernunft damit denselben Boden wie die Gesetzgebung des Verstandes. Der vorgestellten Realisierung eines bestimmten Willens geht nach der Typik der reinen praktischen Urteilskraft die Überprüfung seiner Kompatibilität mit der allgemeinen Form eines Gesetzes der ersten Natur voraus. Da diese Überprüfung unter heteronomen Bedingungen der zweiten Natur auf Widersprüche führen kann, ergab die Äquivokation im Begriff der Typik, nicht die Maxime eines partikularen Willens an der allgemeinen Form eines Gesetzes zu prüfen, sondern den Typus des moralischen Gesetzes selbst zu suchen. Dieser Typus müßte die Anwendung des moralischen Gesetzes auf die Totalität aller partikularen Willen leisten. Die Realisierung der Totalität aller dieser vernünftig bestimmten partikularen Willen schüfe die von Kant in der Deduction der Grundsätze der Kritik der praktischen Vernunft geforderte Natur nach der Form einer übersinnlichen Natur. Jene Natur ist jedoch als zweite Natur die der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sollen die vernünftig bestimmten Willen, die sich auf die zweite Natur beziehen, und die Gesetzgebung des Verstandes, die der ersten Natur die Form der Gesetzmäßigkeit vorschreibt, denselben Boden haben, müssen die erste und die zweite Natur miteinander vermittelbar sein. Das Vermögen der Vermittlung von erster und zweiter Natur ist der durch ein unteres und oberes Begehrungsvermögen bestimmte Wille. "Der Wille, als Begehrungsvermögen, ist nämlich eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt, nämlich diejenige, welche nach Begriffen wirkt; und alles, was als durch einen Willen möglich (oder nothwendig) vorgestellt wird, heißt praktisch-möglich (oder nothwendig) (,..)."344

Zwischen dem Willen als dem Begehrungsvermögen und dem Gegenstand als dem Begehrten besteht ein Unterschied. Dieser Unterschied ist die Ursache, ihn aufzuheben. Damit erscheint er als die Ursache, sich selbst, als Unterschied zwischen dem Begehren und dem Begehrten, aufzuheben. Der Unterschied zwischen dem Begehren und dem Begehrten als Ursache sei jedoch keine Ursache des "Mechanism"345, die notwendig eine Wirkung zur Folge habe, sondern sei eine Wirkung nach Begriffen des handelnden Subjekts. Die Negation dieses Unterschieds ist damit als der Zweck der durch den Willen bestimmten 344 345

KU, 172, XII. KU, 172, XIII.

Die Einleitung der Kritik der Urteilskraft

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Handlung bestimmt. Bewirkt die Handlung diese Negation, ist sie zweckmäßig. Der Begriff dessen, was als Wirkung des Willens von Kant praktisch-möglich oder notwendig genannt wird, enthält die "wesentlich(e)"346 Unterscheidung von Prinzipien, die "technisch-praktisch (...)" oder "moralisch-praktisch (...)"347 seien. Technisch-praktisch sei die Wirkung des nach dem Naturbegriffe handelnden Willens, moralisch-praktisch die des nach dem Freiheitsbegriffe handelnden Willens. Beide Begriffe sind, da deren Wirkungen von Kant als "eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt" bestimmt werden, auf die empirische Welt als den Ort ihrer Realisierung bezogen. Ist ein technischpraktischer Zweck nur in der empirischen Welt realisierbar, muß er mit den Gesetzen dieser Welt verträglich sein. Die Welt oder Natur, in der ein technischpraktischer Zweck zu realisieren sein soll, ist als notwendiges Korrelat der transzendentalen Einheit der Apperzeption ein erschlossener Reflexionsbegriff, jedoch zugleich reale Voraussetzung jeder einzelnen Erfahrung. Beide Naturbegriffe, worin die Natur einerseits als empirische Affinität, andererseits als Reflexionsbegriff in der Bedeutung des Inbegriffs der Erscheinungen oder der Menge von Vorstellungen des Gemüts, bestimmt ist, tauchen in der Realisierung von Zwecken wieder auf. In der technisch-praktischen Realisierung von Zwecken ist erfahrbar, daß diese Natur eine empirische Affinität besitzt. Das Moment des Naturbegriffs, das die Natur als an sich bestimmte Natur faßt, ist erfahrbar. Der Versuch, Zwecke zu realisieren wie beispielsweise den, sich an zwei durch größere Entfernung voneinander getrennten Räumen gleichzeitig aufzuhalten, scheitert an der empirischen Affinität der Natur. Wären jedoch, wie in der Antithesis der Kritik der reinen Vernunft behauptet, alle Erscheinungen der Natur nach den Kategorien Kausalität und Wechselwirkung geordnet, und entspräche dieser tatsächlich eine ontologische Ordnung der Dinge der Natur, wäre mit der transzendentalen Freiheit auch die Realisierung technisch-praktischer Zwecke in dieser Natur undenkbar. Die Realisierung technisch-praktischer Zwecke führt auf ein doppeltes Paradoxon. Dieses Paradoxon, das der dritten Antinomie analog ist, besteht zum einen darin, daß die Natur, in der die Zwecke realisierbar sein sollen, durch die Form der Gesetzmäßigkeit bestimmt ist, aber diese Form der Gesetzmäßigkeit nicht das Ganze der Natur determinieren kann, weil sonst die Realisierung von Zwecken, als unbedingte Ursachen, nicht möglich wäre. Zum anderen könnten die Erscheinungen der Natur nicht auch als "Mittel"348 und bestimmtes Material reproduzierbarer technischer Zusammenhänge dienen, wenn sie nicht auch an sich, als empirische Affinität, durchgängig gesetzmäßig verfaßt wären, da die Selbständigkeit des Mittels und des bestimmten Materials Voraussetzung der Reproduzierbarkeit technischer Zusammenhänge ist. Wären 346 347 348

Ebda. Ebda. Ebda.

82

Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft

die Erscheinungen der Natur an sich jedoch vollständig determiniert, gäbe es keine Möglichkeit, in der Natur etwas anderes zu realisieren als das, was je schon vorhanden wäre. Unabhängig von dem Unterschied der doppelten Gestalt des Paradoxons muß das in der Natur realisierende Wesen, gemäß der von Kant in der Auflösung der dritten Antinomie gegebenen Spaltung seines Charakters in den intelligiblen und den empirischen Charakter, außerhalb der Natur, damit frei, und selbst ein Teil ihrer sein, um auf sie nach Begriffen wirken zu können. Gäbe es nur die Bestimmung eines Willens, der nach Naturbegriffen wirkte, ließe sich kein anderes Urteil über die zu realisierenden technisch-praktischen Zwecke fällen, als das, ob sie realisierbar seien oder nicht. Die Realisierbarkeit als das einzige Kriterium zur Beurteilung technisch-praktischer Zwecke führte darauf, daß die Realisierung eines Zwecks zum Beweis seiner Realisierbarkeit würde: 'machbar ist, was machbar ist'. Kant erklärt die technisch-praktischen Regeln zu Korollarien349 der Naturphilosophie. Der dadurch angedeutete Unterschied von Technik und Naturwissenschaft ist entscheidend, jedoch bei Kant in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft nur zu erschließen: Technik ist nicht Naturwissenschaft, sondern zum einen in Gestalt eines zu realisierenden Versuchsaufbaus im Experiment eine Voraussetzung von Naturwissenschaft350 und zum anderen die Anwendung der Resultate der Naturwissenschaften. Kant identifiziert einerseits den Naturbegriff als Prinzip der Möglichkeit seiner Gegenstände mit der "theoretische(n) Erkenntnis nach Principien (.,.)"351, es seien "Naturbegriffe a priori (...) eigentlich reine Verstandesbegriffe (.,.)"352, andererseits sei der Naturbegriff der Begriff, der den Willen als Begehrungsvermögen bestimme.353 Der Naturbegriff ist damit zum einen Verstandesbegriff und der Naturphilosophie zugehörig, zum anderen den Willen bestimmender Begriff und den Korollarien der Naturphilosophie zugehörig. Der durch den Naturbegriff bestimmte Wille ist dem unteren Begehrungsvermögen zuzurechnen, das dem oberen entgegengesetzt ist. Sowohl das Erkenntnisvermögen als auch den Willen des unteren Begehrimgsvermögen subsumiert Kant der Naturphilosophie. Das ist richtig, insofern der technisch-praktisch bestimmte Wille nur Zwecke gemäß den Kategorien, nach "Naturbegriffen a priori", realisieren kann. Doch seien die Korollarien zwar nach den Kategorien, die Begriffe der Form der Gesetzmäßigkeit sind, bestimmt, jedoch "nicht Gesetze (...), sondern nur Vorschriften: und zwar 349

350

351 352 353

Vgl. ebda. Als Korollarien der theoretischen Philosophie sind die technisch-praktischen Prinzipien den moralisch-praktischen entgegengesetzt. Vgl. Peter McLaughlin: Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, 36. "Alle Wissenschaften haben irgend einen praktischen Theil, der aus Aufgaben besteht, daß irgend ein Zweck für uns möglich sei, und aus Imperativen, wie er erreicht werden könne. Diese können daher überhaupt Imperativen der Geschicklichkeit heißen."(GMS, 41S). KU, 171, Β XII. KU, 178, XXIV. Vgl. KU, 172, XVIII f.

Die Einleitung der Kritik der Urteilskraft

83

darum, weil der Wille nicht bloß unter dem Naturbegriffe, sondern auch unter dem Freiheitsbegriffe steht (,..)."354 Daß der Wille sowohl unter Naturbegriffen als auch unter dem Freiheitsbegriff stehe, bestimmt ihn einerseits zur technischpraktischen Bedingung im Fortschritt der Naturwissenschaften und der Transformation ihrer Resultate in Technik, andererseits lassen die Handlungen dieses Willens sich moralisch beurteilen, die jenseits der Beurteilung der Vollkommenheit der technisch-praktischen Handlung ist.355 In der strikten Trennung von Naturphilosophie und Moralphilosophie ist angelegt, daß nicht über die Resultate des Erkenntnisvermögens moralische Urteile gefällt werden können, sondern nur über den Willen, der die Korollarien der Naturphilosophie zum Gegenstand hat. Der technisch-praktisch wirkende Wille ist bei Kant nicht eindeutig bestimmt. Einerseits sei der Wille als nach Begriffen wirkend jedweder Bestimmung durch Triebe entgegengesetzt, andererseits sei er "durch Triebfedern der Natur (,..)"356 bestimmt. Ist der Wille durch Triebfedern der Natur bestimmt, ist er durch diese pathologisch nezessitiert. Seine Handlungen können zweckmäßig, aber nicht frei sein.357 Wirkt der Wille dagegen nach Begriffen, ist er unabhängig von der Natur, damit frei. Die Imperative der Klugheit oder Geschicklichkeit, die Kant als Naturbegriffe zur Naturphilosophie zählt, setzen, um die durch sie gesetzten Zwecke realisieren zu können, Freiheit voraus. Diese Freiheit kann nur die transzendentale Freiheit sein, da, sie als praktische Freiheit auszugeben, zur Konsequenz hätte, daß jeder technisch-praktische Zweck schon ein moralisch-praktischer wäre. In ihrer negativen Bestimmung ist die transzendentale Freiheit die Unabhängigkeit von der durchgängigen Bestimmung der Erscheinungen nach den Kategorien Kausalität und Wechselwirkung, die Voraussetzung der Realisierung technisch-praktischer Zwecke ist. In ihrer positiven Bestimmung ist sie das Vermögen der spontanen Ursache, die mit dem technisch-praktischen Zweck darin übereinstimmt, daß in der Natur etwas geschaffen wird, was zuvor nicht schon da war, und dessen Bedingungen sich zurückverfolgen ließen. Als realisierter technisch-praktischer Zweck muß die in der Thesis der dritten Antinomie erschlossene Idee der transzendentalen Freiheit auch wirklich sein. Daß dieser realisierte technisch-praktische Zweck auch moralisch-praktisch sei, wäre nur zufällig358, da die den Zweck realisierende Handlung "bloß wozu anders als 354 355

356 337 358

KU, 172, XIV. "Ob der [technisch-praktische Zweck, T.S.] vernünftig und gut sei, davon ist hier gar nicht die Frage, sondern nur, was man tun müsse, um ihn zu erreichen. Die Vorschriften für den Arzt, um seinen Mann auf gründliche Art gesund zu machen, und fur einen Giftmischer, um ihn sicher zu töten, sind in sofern von gleichem Wert, als eine jede dazu dient, ihre Absicht vollkommen zu bewirken."(GMS, 415). KU, 172, XIV. Die durch operante Konditionierung zweckmäßig handelnde Ratte handelt nicht frei. Vgl. KpV, 134,47.

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Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft

Mittel gut sein würde (...)"359> nicht aber die Handlung eines "an sich gut(en) (...)"36° Willens wäre. Dem nach dem Naturbegriff wirkenden Willen, der "jederzeit sinnlich bedingt ist (...)"361, hat Kant den, der nach dem Freiheitsbegriff wirkt, entgegengesetzt. Der nach dem Freiheitsbegriff wirkende Wille ist "ohne vorhergehende Bezugnehmung aufZwecke und Absichten (...)"362 bestimmt. Sein Bestimmungsgrund ist das moralische Gesetz. Kant hat sowohl den Willen, der nach Naturbegriffen handelt, als auch den, der nach Freiheitsbegriffen handelt, zu den Naturursachen gerechnet. Doch weder der eine noch der andere sind Naturgegenstände. Der Unterschied, unangesehen dessen, was begehrt wird, zwischen dem Begehrenden und dem Begehrten ist nur als Nichtübereinstimmung, das heißt durch eine Negation, bestimmbar. Die, nicht als Naturgegenstand faßbare, Nichtübereinstimmung ist durch den die Übereinstimmung herstellenden Willen aufhebbar. Aus den technisch-praktischen Handlungen dieses so bestimmten Willens und seinen Resultaten ist der Wille zu erschließen, nicht jedoch als ein Gegenstand möglicher Erfahrung. Im Unterschied zu dem Willen, der nach Naturbegriffen handelt, ist der vernünftig bestimmte Wille nur durch die Form der Gesetzmäßigkeit bestimmt. Soll er "den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen (..,)"363, müssen die Wirkungen des moralisch-praktischen Willens in der auch an sich bestimmten ersten Natur realisierbar sein. Sie erscheinen als Wirkungen des technisch-praktischen Willens, als Naturursachen, sind aber im Unterschied zu den Wirkungen des technisch-praktischen Willens moralisch begründet.364 Diese moralische Begründung schüfe in ihrer technisch-praktischen Realisierung eine zweite Natur, die den Gesetzen der ersten Natur nicht zuwiderliefe und mit dem moralischen Gesetz verträglich wäre. Die Möglichkeit der Vermittlung von erster und zweiter Natur durch die Wirkungen des Natur- und des Freiheitsbegriffs besteht in der vernünftig bestimmbaren Organisationsform der Reproduktion vernünftiger Naturwesen. Diese vernünftig bestimmbare Organisationsform der Reproduktion böte dem Gebiet des Naturbegriffs und dem des Freiheitsbegriffs die Möglichkeit des gemeinsamen Bodens. Für Kant besteht diese Vermittlung von erster und zweiter Natur in der "Verfassung im Verhältnisse der Menschen untereinander, wo dem Abbruche der einander wechselseitig widerstreitenden Freiheit gesetzmäßige Gewalt in einem Ganzen, welches bürgerliche Gesellschaft heißt, entgegengesetzt wird (..,)."365 Wie das weltbürgerliche Ganze aller Staaten sei sie 359 360 361 362 363 364 365

GMS, 414. Ebda. KU, 173, XV. KU, 173, XVI. KU, 176, XIX. Vgl. KrV, 536 f. Fn, Β 579. KU, 432, 394, § 83.

Die Einleitung der Kritik der Urteilskraft

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Resultat eines "moralisch begründeten Systems (...)."366 Die bürgerliche Gesellschaft ist die zweite Natur, deren Notwendigkeit von Kant damit begründet wird, daß nur in ihr zugleich die "größte Entwickelung der Naturanlagen (,..)"367 der Menschen in deren Auseinandersetzung mit der ersten Natur möglich sei. Die damit einhergehende "Ungleichheit unter Menschen C·.)"368, der "Krieg" und die "schrecklichsten Drangsale (...)" erschienen Kant als "unvermeidlich(e)"369 Kosten des Fortschritts. Die programmatische Erklärung am Ende der Kritik der reinen Vernunft, daß die Moralphilosophie und die Naturphilosophie sich in einem System zusammenschlössen, zwingt zu dem Schluß: "Also muß es doch einen Grund der Einheit (...) geben (,..)."370 Obgleich dieses bei Kant nicht expressis verbis steht, ist die Spekulation auf einen Grund der Einheit der ersten Natur und der nach dem Freiheitsbegriff in ihr bewirkten zweiten Natur theologisch und antitheologisch zugleich. Theologisch ist die Einheit von Freiheit und Gegenständen der Freiheit, der Natur, immer schon garantiert im Begriff des Absoluten, da das Absolute Grund der Natur und Grund der moralischen Bestimmung des Willens ist. Darin daß Natur und Freiheit explizit in der dritten Antinomie unterschieden werden und die Antinomie nicht entscheidbar ist, besteht implizit die Abwendung von der Theologie. Durch den Unterschied von Freiheit und Natur wird die Einheit beider erst denkbar. Diese Bestimmung, daß die Einheit von Freiheit und Gegenständen der Freiheit, Natur, im Absoluten verweigert wird, erlaubt den Gedanken der Antizipation einer möglichen Einheit von Freiheit und Natur, die in der Realisierung der vernünftig bestimmten Willen bestünde. Die durch den Sündenfall371 in die Welt gesetzte Differenz der "prima natura hominis (...)" und der "quasi secunda natura (...)"372 entließ die Menschen um den Preis der Erkenntnis aus dem Garten Eden in die Endlichkeit. Daß die erlangte Erkenntnis nicht nur um den Preis der Möglichkeit des Irrtums zu haben ist, da der menschliche Intellekt, wie Kant des öfteren anmerkt, keiner intellektuellen Anschauung fähig sei, sondern überdies die Menschen in den Stand versetzt hat, im Schweiße ihres Angesichts sich ihr Brot zu erarbeiten, enthält ein agitatorisches Moment, das darin besteht, in einer säkularisierten Variante des Absoluten, wenigstens die

366 367 368 369 370 371 372

Ebda. Ebda. KU, 432, 392, § 83. KU, 433, 394, § 83. KU, 176, Β XX. Vgl. Die Bibel: 1. Mose, (Genesis), Verse 2,4b-25 bis 3,1-19. Augustinus: De Div. Quaestionibus ad Simplic.: Die Sterblichkeit des Menschen sei nicht seine erste Natur, sondern sei gleichsam einer zweiten Natur als Strafe der Erbsünde, der "originalis peccati"(15) geschuldet. Das vollständige Zitat lautet: "Non enim est haec prima natura hominis sed delicti poena, per quam facta est ipsa mortalitas quasi secunda natura, unde nos gratia liberat conditoris subditos sibi per fidem."(16).

86

Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft

weite Natur der Form einer rational organisierten materiellen Reproduktion in der ersten Natur gemäß einzurichten.373

3.1.2 Zu den Vermögen des Gemüts Der Form nach ist die Gesetzgebung des Verstandes nicht von der Gesetzgebung der Vernunft unterschieden. Die Form der Gesetzmäßigkeit374 wird dem jeweiligen Inhalt a priori vorgeschrieben. Dem Inhalt nach beziehen sich die Gesetzgebung des Verstandes und die der Vernunft auf zwei verschiedene Gebiete, das der Naturbegriffe und das des Freiheitsbegriffs. Um die Urteilskraft als Mittelglied zwischen dem Verstand und der Vernunft zu erweisen, weist Kant auf eine Analogie hin zwischen dem, was die Vermittlung von Erkenntnis- und Begehrungsvermögen leiste und dem, was "in der Familie der oberen Erkenntnisvermögen (...)"37S die Vermittlung von Verstand und Vernunft leiste. "Nun ist zwischen dem Erkenntnis- und dem Begehrungsvermögen das Gefühl der Lust, so wie zwischen dem Verstände und der Vernunft die Urtheilskraft, enthalten. Es ist also wenigstens vorläufig zu vermuten, daß die Urtheilskraft eben so wohl für sich ein Princip a priori enthalte, und, da mit dem Begehrungsvermögen nothwendig Lust oder Unlust verbunden ist (...), eben so wohl einen Übergang von reinen Erkenntnisvermögen, d. i. vom Gebiete der Naturbegriffe zum Gebiete des Freiheitsbegriffs, bewirken werde, als sie im logischen Gebrauche den Übergang vom Verstände zur Vernunft möglich macht."376

Das vermutete Prinzip der Urteilskraft, das den Übergang zwischen dem Gebiet der Naturbegriffe zu dem des Freiheitsbegriffs bewirke, ist das der Zweckmäßigkeit der Natur. Der Schluß auf diese Vermutung sei durch die analogen Einheiten von Erkenntnis- und Begehrungsvermögen durch das Gefühl der Lust oder Unlust, und der von Verstand und Vernunft durch die Urteilskraft begründet. In der Tafel der systematischen Einheit aller oberen Vermögen ist diese Analogie schematisch dargestellt.377 Die Vermögen des Gemüts sind das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen. Die Erkenntnisvermögen sind der Verstand, die Urteilskraft und die Vernunft. Deren apriorische Prinzipien sind die Gesetzmäßigkeit, die Zweckmäßigkeit und der Endzweck. Der Begriff des Erkenntnisvermögens taucht in der schematischen Darstellung doppelt auf: als durch das Gefühl der Lust und Unlust mit dem Be373

374

375 376 377

Gleichwohl nicht auf die theologische Spekulation bezogen, ist dieser Gedanke in der kritischen Theorie zentral. Vgl. Zum Begriff der Form der Gesetzmäßigkeit KrV, 184a, A 126 f., vgl. 166a, A 114, vgl. 183 f., Β 164, vgl. 755, Β 869. Vgl. KpV, 70,123 ff. Vgl. KU, 174 f., XVII. KU, 177, XXI. KU, 178 f., XXIV f. Vgl. KU, 198, LVIII.

Die Einleitung der Kritik der Urteilskraft

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gehrungsvermögen zu Vermittelndes und als Oberbegriff der drei Erkenntnisvermögen378, Verstand, Urteilskraft und Vernunft.379 Für das, was Kant dem unteren Begehrungsvermögen zurechnet, ist das Verhältnis von dem Erkenntnisvermögen, dem Gefühl der Lust bzw. Unlust und dem Begehrungsvermögen unproblematisch zu bestimmen: Das Begehrungsvermögen wird vom begehrten Gegenstand affiziert. Die Erfüllung des Begehrens ist Ursache des Gefühls der Lust. Das Erkenntnisvermögen als Vermögen, das Verhältnis von Zweck und Mittel zur Realisierung des Zwecks rational zu bestimmen, gibt die technisch-praktische Regel zur Erlangung des Gefühls der Lust. Problematisch wird dagegen die Bestimmung dieses Verhältnisses am oberen Begehrungsvermögen, da das obere Begehrungsvermögen unabhängig von der Affektation durch das Objekt des Willens sei. Die "negative Wirkung aufs Gefühl (...)"38°, die das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens ausübt, sei zwar "selbst Gefühl (...)"381, "welches Schmerz genannt werden kann, und hier haben wir nun den ersten, vielleicht auch einzigen Fall, da wir aus Begriffen a priori das Verhältnis eines Erkenntnisses (hier ist es einer reinen praktischen Vernunft) zum Gefühl der Lust oder Unlust bestimmen konnten."382 Doch sei die positive Wirkung des moralischen Gesetzes als Gefühl der Achtung für das moralische Gesetz "nicht pathologisch (,..)"383, da die Bestimmung dieses Gefühls in der reinen praktischen Vernunft liege. Als nicht pathologisches Gefühl, das aus Begriffen erzeugt sei, könne die "Achtung [für das moralische Gesetz, T.S.] (...) so wenig ein Gefühl der Lust (.,.)"384, mithin kein Gefühl hervorrufen, "weil alles Gefühl sinnlich ist (...)."385 Das moralische Gesetz erzeugt damit ein Gefühl der Unlust durch die negative Wirkung auf die Neigungen und sinnlichen Antriebe und in seiner positiven Wirkung ein Gefühl, das kein Gefühl oder nur ein Gefühl sein kann, das den Widerspruch enthielte, sowohl pathologisch als auch nicht pathologisch zu sein. Das Gefühl der Lust, das beim unteren Begehrungsvermögen die Vermittlung von diesem mit dem Erkenntnisvermögen bewirkt habe, ist beim oberen Begehrungsvermögen, das die vernünftige Bestimmung des Willens zum Gegenstand hat, ausgeschlossen. Das

3,1 379

380 381 382 383 384 385

Vgl. KrV, 192, Β 169. Zu erklären, ob diesem doppelten Gebrauch des Begriffs des Erkenntnisvermögens eine rationale Funktion in der Argumentation der Vereinigung von Natur- und Freiheitsbegriff zukommt, war zweifellos begehrt, scheiterte jedoch an meinem mangelnden Erkenntnisvermögen und war so eher Grund zu einiger Unlust. KpV, 73,129. Ebda. KpV, 73,130. KpV, 75,134. KpV, 77,137. KpV, 75,134.

Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft

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mag der Grund dafür sein, daß Kant am Ende der Einleitung der Kritik der Urteilskraft das Gefühl der Lust in ein "reine(s) intellectuelle(s) Wohlgefallen am Objecte (...)"386 verwandelt. Die Zweckmäßigkeit der Natur ist Kant zufolge der "Grund a priori"387 der Einheit empirischer Gesetze, und damit auch der Grund des Gefühls von Lust: "In der That, da wir von dem Zusammentreffen der Wahrnehmungen mit den Gesetzen nach allgemeinen Naturbegriffen (den Kategorien) nicht die mindeste Wirkung auf das Gefühl der Lust in uns antreffen, auch nicht antreffen können, weil der Verstand damit unabsichtlich nach seiner Natur nothwendig verfährt: so ist andrerseits die entdeckte Vereinbarkeit zweier oder mehrerer empirischen heterogenen Naturgesetze unter einem sie beide befassenden Princip der Grund einer sehr merklichen Lust (.,.)."388

Daß nicht schon die der Natur vorgeschriebene Form der Gesetzmäßigkeit Lust bereite, begründet Kant damit, daß ihr "keine Absicht (,..)"389 zugrunde liege, sondern sie "nothwendig"390 für die Möglichkeit der Erkenntnis der Natur sei. Folglich kann nur das durch eine Absicht Erreichte Grund des Gefühls der Lust sein. Das, was der Vereinbarkeit verschiedener Verstandesgesetze vorausgesetzt ist, ist die Idee der Form eines Ganzen aller Erkenntnisse. Die Idee selbst könne keine Lust bereiten, da "alles Gefühl sinnlich ist (,..)."391 Diese Idee der vollständigen Einheit der Verstandeserkenntnisse ist, da sie dem Begehrungsvermögen zugerechnet wird, begehrt. Sie sei "niemals von konstitutivem Gebrauche (..,)"392, sondern habe für die Vernunft "einen vortrefflichen und unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch (...)."393 Ihre Regulativität besteht dann, so ist zu folgern, darin, bloß begehrt oder mit Absicht "projektierte Einheit (,..)"394 zu sein. Die Erfüllung der begehrten Idee der Form eines Ganzen durch die Entdeckung der Vereinbarkeit verschiedener Verstandeserkenntnisse rufe das Gefühl der Lust hervor. Diese Lust kann jedoch nur auf einer partiellen Erfüllung der Idee basieren, da die entdeckte Vereinbarkeit verschiedener Verstandeserkenntnisse nie die Totalität aller, das heißt, zu den gegebenen noch die zukünftigen Verstandeserkenntnisse, betreffen kann, es sei denn, dem erkennenden Subjekt wäre durch eine ihm transzendente Instanz garantiert, daß die gegebenen mit den zukünftigen Erkenntnissen kompatibel wären. 386 387 388 389 390 391 392 393 394

KU, 197, LVI. KU, 187, XL. Ebda. KU, 186, XXXVIII. Ebda. KpV, 75,134. KrV, 606, Β 672. Ebda. KrV, 608, Β 675.

Die Einleitung der Kritik der Urteilskraft

89

In der Analogie der herzustellenden Einheit von Erkenntnis- und Begehrungsvermögen durch das Gefühl der Lust oder Unlust und der von Verstand und Vernunft taucht die Urteilskraft doppelt auf. Sie vermittele zum einen zwischen Verstand und Vernunft, zum anderen-in "einer anderen Ordnung unserer Vorstellungskräfte (...)"395 - zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen. Terminus ad quem der Argumentation ist die Vereinbarkeit von Naturund Freiheitsbegriff durch die Urteilskraft. Am unteren Begehrungsvermögen ist die Vereinbarkeit unproblematisch. Doch auch am oberen Begehrungsvermögen will Kant die Vereinbarkeit des moralisch-praktisch handelnden Willens mit der Natur nachweisen. Am oberen Begehrungsvermögen wird die Begründung der Analogie jedoch brüchig. Ist die Begründung der Analogie, "daß die Urtheilskraft eben so wohl für sich ein Princip a priori enthalte (...)"396, brüchig, muß nicht zwangsläufig auch der Inhalt der Vermutung, die Zweckmäßigkeit der Natur, das Prinzip a priori der Urteilskraft, brüchig sein.

3.1.3 Das Prinzip der Urteilskraft und die Zweckmäßigkeit

der Natur

Kant unterscheidet im Begriff der Urteilskraft die bestimmende von der reflektierenden Urteilskraft. Der bestimmenden Urteilskraft sei das Gesetz als Allgemeines gegeben. Unter dieses Allgemeine subsumiere sie "das Besondere in der Natur (...)."397 Der reflektierenden Urteilskraft sei dagegen das Besondere gegeben, zu dem das Allgemeine zu finden sei. Die transzendentale Einheit der Apperzeption schreibt der Natur überhaupt die Form der Gesetzmäßigkeit vor. Sie ist das Konstitutionsprinzip der formalen Einheit der Gegenstände möglicher Erfahrung, nicht aber das der materialen Einheit. "Auf mehrere Gesetze aber, als die, auf denen eine Natur überhaupt, als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen (...), beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu (...). Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon nicht vollständig abgeleitet werden, ob sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen. Es muß Erfahrung dazu kommen (...).'

Das Hinzukommende, die Erfahrung oder die besonderen empirischen Gesetze, ist "das für die menschliche Einsicht Zufällige (...)."399 Dieses Zufällige muß einerseits unter der Form der Gesetzmäßigkeit der transzendentalen Einheit 395 396 397 398 399

KU, 177, Β XXII. KU, 178, Β XXIV. KU, 179, XXVI. KrV, 185b, Β 165. KU, 183, XXXIII.

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der Apperzeption stehen, da es sonst nicht Gegenstand möglicher Erfahrung sein könnte, ist aber andererseits aus dieser Form nicht abzuleiten. Dieser .Hiatus' zwischen der allgemeinen Form der Gesetzmäßigkeit und den besonderen empirischen Gesetzen, zwischen der Einheit der Gesetze und der Einheit der Erfahrung, zwischen dem System des Wissens und dem "System der Erfahrung (,..)"400 oder zwischen der formalen Einheit und der materialen Einheit, sei durch die Urteilskraft zu schließen. Das Material der formalen Einheit sind die Gegenstände der Natur. Der Versuch, diesen .Hiatus' durch die bestimmende Urteilskraft zu schließen, führte auf ein Verfahren, der allgemeinen Form die besonderen Gegenstände zu subsumieren. Voraussetzung der Subsumierbarkeit ist jedoch, daß diese Gegenstände an sich allgemein wären. Doch ist nicht der einzelne Gegenstand selbst allgemein, sondern nur die Relation, das heißt die Bestimmung des Verhältnisses, verschiedener Gegenstände kann allgemein sein. Die Allgemeinheit einer Relation von Gegenständen kann nicht aus den Gegenständen resultieren, sondern ist Resultat desjenigen Vermögens, das Kant die reflektierende Urteilskraft nennt. Als das Vermögen von dem Besonderen zu dem Allgemeinen aufzusteigen, ist die reflektierende Urteilskraft damit Voraussetzung der bestimmenden Urteilskraft. Die Resultate der reflektierenden Urteilskraft wären jedoch nur von komparativer Allgemeinheit, wenn ihr nicht die bestimmende Urteilskraft, die die Allgemeinheit des zu subsumierenden Besonderen zur Voraussetzung hat, vorausgesetzt wäre. Bestimmende und reflektierende Urteilskraft sind zirkulär bestimmt.401 "Allein die reflectirende Urtheilskraft soll unter einem Gesetze 400 401

KU, 180, XXVII. Henry Allison diskutiert ausführlich (Henry Allison: Kant's theory of taste, 22-30) die Zirkularität in dem sachlich analogen Problem, wie die bestimmende durch die reflektierende Urteilskraft zu den Begriffen, unter die sie subsumiere, gelangen könne. Henry Allison, dessen Diskussion hier zustimmend Β 6atrice Longuenesses Interpretation (B6atrice Longuenesse: Kant and the Capacity to Judge, 116 ff.) referiert, zitiert die kantische Reflexion 2880: "Wir vergleichen nur das allgemeine der Regel unserer Auffassung." Der Vergleich des Allgemeinen der Regel unserer Auffassung wird Allison und Longuenesse zum Argument, dem durch die reflektierende Urteilskraft zu bestimmenden Begriff den Begriff des Schemas vorauszusetzen. "Since what is universal in a rule of governing or ordering our apprehension of an object is equivalent to what the Critique characterizes as a schema, it follows that the comparison leading to the formation of concepts is a comparison of schemata rather than merely of impressions or images (...)."(Kant's theory of taste, 24). "Indeed, we could go further and claim that one cannot really be said to possess a concept without also having its schema, which is just the rule for its application."(25). Letztere Weiterung, daß einem Begriff sein Schema vorausgesetzt sei, kann nicht für jeden Begriff gelten. Die Ideen als Begriffe der Vernunft sind nicht auf Erscheinungen anwendbar, ihnen können deshalb keine Schemata verschafft werden. Zwar bedürfe nach der Architektonik der reinen Vernunft die Idee "zur Ausführung ein Schema (,..)"(KrV, 749, Β 861), doch ist dieses Schema zuvor im Abschnitt von dem regulativen Gebrauch der Ideen sachlich angemessen als ein "Analogon von einem Schema der Sinnlichkeit (...), [das, T.S.] nur eine Regel oder Prinzip der systematischen Einheit alles Verstandesgebrauchs"(KrV, 622, Β 693) sei, bestimmt worden. Durch die Transformation des Problems, wie die reflektierende Urteilskraft der bestimmenden die Begriffe liefere, in das, wie die reflektierende Urteilskraft der bestimmenden die Schemata zu den Begriffen liefere, wird das Problem nicht gelöst: "And how can schemata both provide the terms

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subsumiren, welches noch nicht gegeben (...) ist."402 Um subsumieren zu können, muß der reflektierenden Urteilskraft das Gesetz gegeben sein, das durch ihre Tätigkeit erst erschlossen wird, wodurch diese dann aber zur bestimmenden Urteilskraft würde. Erschlösse die reflektierende Urteilskraft sich ihr Gesetz, wäre

402

of a universalizing comparison and be themselves products of such a comparison? The veiy idea appears to threaten us with either an infinite regress or a replay of the same circularity that plagued Kant's original account of concept formation."(Kant's theoiy of taste, 27) "[The, T.S.] process seems hopelessly circular."(22). Beide, Henry Allison, der B6atrice Longuenesses Lösung für angemessen, jedoch nicht ausreichend entwickelt hält, und Biatrice Longuenesse sehen das Problem dadurch als gelöst an, daß durch den Vergleich empirischer Gegenstände bzw. deren Erscheinungen die Entstehung von Begriffen erklärbar sei: "Thus, Kant's savage, never having seen a house, initially had no basis of comparison to order his apprehension. But after seeing many similar objects, which he presumably relates by association, he will begin to perceive relevant similarities and differences, which, in tum, leads (...) to the formation of a schema of a house as a rule governing apprehension, and possibly even the full-fledged concept. (...) In addition to providing at least the outlines of a much more nuanced and sophisticated account of concept formation and the conditions of its possibility than is possible on the basis of sparse materials of classical empiricism, this reading avoids the circularity problem with which our reflection began [Hervorhebung von mir, T.S.]. Contrary to what initially seemed to be the case, one does not need already to have a schema in order to acquire it in the first place."(Kant's theory of taste, 27). Es bleibt jedoch unklar, wie die Vermeidung des zirkulären Verhältnisses von bestimmender und reflektierender Urteilskraft mit den folgenden Ausführungen zusammengeht, deren Gegenstand die Reflexion 2883 ist, die Henry Allison als Beleg fur seine Interpretation anfuhrt. Die Reflexion 2883 lautet: "Diese Gemeingültigkeit setzt freilich eine Vergleichung voraus, aber nicht der Wahrnehmungen, sondern unserer Auffassung, so fem sie schon die Darstellung eines noch unbestimmten Begriffs enthält und an sich allgemein ist."(Reflexionen (Logik), 557). Die Erklärung dieser Reflexion betreffend hebt Henry Allison hervor: "(...) and most important, the contents of these acts of apprehension contain something .universal in itself. (...) Clearly, reflection, so construed, rests on the assumption that there is something .universal in itself encoded, as it were, in our experience, which provides the basis for the formation of both schemata and reflected concept for without this presupposition the process of reflection would never get off the ground."(Kant's theory of taste, 28). Voraussetzung der Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft, von dem Besonderen zum Allgemeinen aufzusteigen, wäre demnach die allgemeine Bestimmtheit des Besonderen selbst. Diese an sich Bestimmtheit des Besonderen als Allgemeines wäre damit Voraussetzung des Verfahrens, das Henry Allison, Kants Beispiel, wie ein Wilder zu Begriffen komme, aufgreifend, als erfolgreiche Vermeidung des .Zirkularitätsproblems' von bestimmender und reflektierender Urteilskraft anfuhrt. Diese Voraussetzung selbst kritisiert jedoch Henry Allison mit Kant zurecht: "Clearly, Kant could not simply help himself to such an ontologically grounded realism. This is precluded not only by the transcendental theory of sensibility, which denies the human mind access to anything like Leibnizian real essences, but also by Hume's critique of the rational credentials of the belief in the uniformity of nature."(29). Durch die Kritik daran, daß die Allgemeinheit der Relation der unter sie fallenden Gegenstände der Natur eine ontologisch fundierte Relation sein müßte, ersteht das .Zirkularitätsproblem' wieder. Wie ohne vorausgesetzten Begriff oder vorausgesetztes Schema aus der wiederholten Wahrnehmung eines Gegenstandes bzw. dessen Erscheinung Begriff und Schema des- bzw. derselben entstehen sollen, bleibt unklar. KU, 385, 312, §69.

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ihre Subsumtion nicht mehr Tätigkeit der reflektierenden, sondern die der bestimmenden Urteilskraft. Die Auflösung der Zirkularität von bestimmender und reflektierender Urteilskraft führte darauf, daß die Allgemeinheit der Relation der unter sie fallenden Gegenstände der Natur, die Resultat der reflektierenden und Voraussetzung der bestimmenden Urteilskraft ist, eine Entsprechung in der, dann an sich bestimmten, Natur haben müßte. Dann allerdings hätte die systematische Einheit der Gesetze zur Voraussetzung die systematische Einheit der Gegenstände; der formalen Einheit wäre die materiale vorausgesetzt, der transzendentalen die empirische Einheit der Apperzeption.403 Der Begriff einer solchen "gewissen Ordnung der Natur (,..)"404 ist der ihrer Zweckmäßigkeit.405 Die Zweckmäßigkeit der Natur erfüllte damit die in der transzendentalen Einheit der Apperzeption gedachte Idee der Form eines Ganzen aller Erkenntnisse.406 Gegen den Schluß auf eine an sich bestimmte Natur - "die Natur specificirt ihre allgemeinen Gesetze nach dem Princip der Zweckmäßigkeit für unser Erkenntnisvermögen, d. i. zur Angemessenheit mit dem menschlichen Verstände in seinem nothwendigen Geschäfte: zum Besonderen, welches ihm die Wahrnehmung darbietet, das Allgemeine (...) zu finden (,..)"407 - wendet Kant ein, daß es nur ein Schluß der "Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig

1103 404 405

406 407

Vgl. Heide Homann: Zweckmäßigkeit bei Kant und bei Hegel, 180. KU, 184, XXXV. Vgl. dazu Giorgio Tonellis schematische Darstellung der verschiedenen Bedeutungen des Wortes Zweckmäßigkeit: Von den verschiedenen Bedeutungen des Wortes Zweckmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft, 154-166. Vgl. KU, 373, Β 291, §65. KU, 186, XXXVII. Vgl. "In der Tat ist auch nicht abzusehen, wie ein logisches Prinzip der Vemunfteinheit der Regeln stattfinden könne, wenn nicht ein transzendentales vorausgesetzt würde, durch welches eine solche systematische Einheit, als den Objekten selbst anhängend [Hervorhebung von mir, T.S.], a priori als notwendig angenommen wird."(KrV, 611, Β 678 f.). Vgl. Peter McLaughlin: Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, 33. Kant betont, daß das logische Prinzip ein transzendentales notwendig voraussetze (vgl. KrV, 613, Β 682), obgleich dieses durch keine transzendentale Deduktion zu beweisen sei (vgl. KrV, 621, Β 691 f.). In der Kritik der Urteilskraft sei der Begriff der Zweckmäßgikeit dagegen ein transzendentales Prinzip, das "also auch einer transcendentalen Deduction"(KU, 182, XXXI) bedürfe (vgl. Joachim Peter: Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft, 64 f.). Die Erklärung dieser Differenz ist aus dem von Peter McLaughlin genannten Unterschied zwischen der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft, "daß die regulativen Prinzipien für die reflektierende Urteilskraft nicht bloß die Natur überhaupt betreffen, sondern auch einzelne empirisch gegebene Dinge"(Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, 34 f.), zu erschließen. Sei ein transzendentales Prinzip eine notwendige Voraussetzung, "unter der allein Dinge Objecte unserer Erkenntnis überhaupt werden können"(KU, 181, XXIX), müsse dieses durch eine Deduktion beweisbar sein. Ob diesem Kriterium nicht doch auch das logische Prinzip der systematischen Einheit aller Verstandeserkenntnis (vgl. KrV, 609, Β 676), wodurch dieses zu einem transzendentalen Prinzip würde, genüge, schien Kant selbst "merkwürdig"(KrV, 620, Β 691), da ohne ein solches transzendentales Prinzip "keine empirischen Begriffe, mithin keine Erfahrung möglich wäre."(KrV, 613, Β 682).

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zusammenhängende Erfahrung (...), folglich ein subjectives Princip (Maxime) der Urteilskraft (,..)"408 sei. Die Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf Erscheinungen setzt nach Kant ein transzendentales Schema voraus. Ohne die transzendentalen Schemata wären die "Verstandeshandlungen (...) unbestimmt (,..)" 409 und ohne "Bedeutung (,..)."410 Da die reinen Verstandesbegriffe Funktionsbegriffe der Vernunfteinheit oder der transzendentalen Einheit der Apperzeption sind, beziehen sich die Schemata dieser Begriffe "indirekt auf die Einheit der Apperzeption (,..)."411 Indirekt deshalb, weil "für die durchgängige systematische Einheit aller Verstandesbegriffe [die transzendentale Einheit der Apperzeption, T.S.] kein Schema in der Anschauung ausfindig gemacht werden kann (.,.)."412 Könne die transzendentale Einheit der Apperzeption nicht durch ein Schema auf Gegenstände der Erfahrung angewendet werden, sei sie, wie die Kategorien ohne Schemata, "an sich selbst unbestimmt." 4 1 3 Diese Unbestimmtheit macht Kant zum Grund der Forderung eines Analogons eines solchen Schemas, "welches die Idee des Maximum der Abteilung und der Vereinigung der Verstandeserkenntnis in einem Prinzip ist."414 Diese Idee des Maximum als das Analogon des Schemas der transzendentalen Einheit der Apperzeption ist das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur für die Erkenntnis. Sollen die Einheit der Verstandeshandlungen und die Einheit der Erscheinungen der Natur analog zum Schema der transzendentalen Urteilskraft, die, der kantischen Einteilung folgend, bestimmende Urteilskraft wäre, in dem Prinzip der Zweckmäßigkeit, analog zu den Schemata, als Drittem koinzidieren, müssen beide zweckmäßig verfaßt sein. Die Zweckmäßigkeit der partikularen Verstandeshandlungen besteht darin, dem System des Wissens als ihrem Zweck kompatibel zu sein. Dieser entspricht die Zweckmäßigkeit der Naturerscheinungen. Die Konstruktion eines Analogons des Schemas hat dann jedoch zur Folge, daß die zweckmäßige Organisation der Naturerscheinungen keine regulative Idee mehr wäre und die Tätigkeit der vermittelnden Urteilskraft nicht reflektierend, sondern die an sich zweckmäßig organisierten Erscheinungen bestimmend subsumieren könnte. Soll dem System des Wissens, den einheitlich verfaßten Erkenntnissen, ein selbständiger Gegenstand korrespondieren, müßten das System des Wissens und das System der Gegenstände entweder in einem gemeinsamen Prinzip übereinstimmen, das als erschlossen und als wirklich, gedacht und nicht gedacht, damit widersprüchlich, nur sein könnte, oder das System des Wissens als Zweck der partikularen 408 409 410 411 412 413 414

KU, 184, XXXIV. KrV, 621, Β 692 f. KrV, 203, Β 185. Ebda. KrV, 622, Β 693. Ebda. Ebda. Vgl. 360, Β 384.

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Erkenntnisse wäre, der kantischen Bestimmung des Zwecks gemäß, der "Grund der Wirklichkeit (...)."415 Als Grund der Wirklichkeit approbierte die Einheit des Wissens die Einheit der Gegenstände des Wissens.416 Entweder ist die durch die Urteilskraft herzustellende Relation symmetrisch. Die Selbständigkeit des Systems des Wissens und des Systems der Gegenstände führte dann auf die erkenntnistheoretische Frage, wie die Übereinstimmung beider zu gewährleisten sei. Die Resultate der Erkenntnis wären nur von komparativer Allgemeinheit. Das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur wäre nur ein regulatives Forschungsprinzip. Oder die Relation ist asymmetrisch zur Seite des Denkens entschieden, das sich seine Gegenstände seinem Zweck gemäß konstituierte. Gegen diesen Schluß wendet sich Kant durch seine Insistenz auf die Regulativität des Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur. Als regulatives Forschungsprinzip sei dieses Prinzip jedoch notwendig, "weil wir, nur so weit als jenes Statt findet, mit dem Gebrauche unseres Verstandes in der Erfahrung fortkommen und Erkenntnis erwerben können."417 Im Unterschied zu den mathematischen Grundsätzen, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft als konstitutive Grundsätze bezeichnet, seien die dynamischen "bloß regulative Prinzipien (...)."418 Einerseits seien die Analogien der Erfahrung als Grundsätze "von den Gegenständen (der Erscheinungen) [Hervorhebung von mir, T.S.] nicht konstitutiv, sondern bloß regulativ (...)."419 Andererseits ist dem zu entgegnen, daß die Analogien der Erfahrung die Einheit der Natur darstellten. Diese Einheit der Natur sei notwendig, "weil ohne diese Einheit a priori keine Einheit der Erfahrung, mithin auch keine Bestimmung der Gegenstände in derselben möglich wäre."420 Ist die Einheit der Natur notwendige Voraussetzung der Einheit der Erfahrung und damit der Bestimmung der Gegenstände in dieser, sind die dynamischen Grundsätze auch konstitutiv, das heißt konstitutiv für die Möglichkeit von Erfahrung überhaupt. Ohne diese Einheit der Natur wäre Erfahrung nicht möglich: "Diesem [daß die dynamischen Grundsätze als regulativ bezeichnet wurden, T.S.] ungeachtet sind gedachte dynamische Gesetze allerdings konstitutiv in Ansehung der Erfahrung, indem sie die Begriffe, ohne welche keine Erfahrung stattfindet, a priori möglich machen."421 In Ansehung der Möglichkeit Gegenstände der Erfahrung sind die dynamischen Grundsätze regulativ, in Ansehung der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind sie dagegen auch konstitutiv. Diese Distinktion 415 416

417 418 419 420 421

KU, 180, XXVIII. Diese Konsequenz ist bei Schelling zu finden, vgl. Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, 276 ff. KU, 186, XXXVIII. KrV, 232, Β 222. KrV, 233, Β 222 f. KrV, 264, Β 263. KrV, 621, Β 692.

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ist übertragbar auf das Prinzip der Zweckmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft. Das Prinzip der Zweckmäßigkeit sei ein transzendentales Prinzip: "Denn der Begriff von den Objecten, sofern sie als unter diesem Princip stehend gedacht werden, ist nur der reine Begriff von Gegenständen des möglichen Erfahrungserkenntnisses überhaupt [Hervorhebung von mir, T.S. ] C..)."422 Als Prinzip von Gegenständen des möglichen Erfahrungserkenntnisses überhaupt ist das Prinzip der Zweckmäßigkeit auch konstitutiv. Darin stimmt das Prinzip der Zweckmäßigkeit mit der Form der Gesetzmäßigkeit, die der Verstand der Natur vorschreibt, überein.423 Als Prinzip der Gegenstände der Erfahrung ist das Prinzip der Zweckmäßigkeit dagegen, wie Kant immer betont, regulativ. Durch dieses Prinzip sei "gar nichts dem Objecte (der Natur) bei[ge]legt, sondern nur die einzige Art, wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen, vor[ge]stellt, folglich ein subjectives Princip (Maxime) der Urtheilskraft; daher wir auch, gleich als ob es ein glücklicher unsre Absicht begünstigender Zufall wäre, erfreuet (eigentlich eines Bedürfnisses entledigt) werden, wenn wir eine solche systematische Einheit unter bloß empirischen Gesetzen antreffen: ob wir gleich nothwendig annehmen mußten, es sei eine solche Einheit, ohne daß wir sie doch einsehen und zu beweisen vermochten."424 In Ansehung der Reflexion über die Gegenstände der Natur ist das Prinzip der Zweckmäßigkeit regulativ, in Ansehung der Voraussetzung der systematischen Einheit der Erfahrung ist es dagegen auch konstitutiv. Die reflektierende und die bestimmende Urteilskraft sind zirkulär bestimmt. Nur im Prozeß der Erweiterung der Erkenntnis sind die reflektierende und die bestimmende Urteilskraft unterschieden. Hat die reflektierende Urteilskraft ein empirisches Gesetz gefunden, wird sie zur bestimmenden Urteilskraft, die die Regulativität dieses Gesetzes, daß die unter diesem Gesetz befaßten Gegenstände als zweckmäßig, unter der Form einer "gesetzliche(n) Einheit"425 stehend, angenommen werden, nur in Gestalt des abgeschlossenen Erkenntnisprozesses enthält426, und das Gesetz wird zu einem Obersatz der bestimmenden Urteilskraft. Diese Verkehrung ist die Grundlage der dogmatischen Darstellung der Resultate

422 423

424 425 426

KU, 181 f., XXX. Darin stimmt das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur auch mit dem Prinzip der systematischen Einheit aller Verstandeserkenntnisse, das die systematische, nach Kant bloß logische, Einheit aller Gegenstände voraussetzt, ttberein. KU, 184, XXXIV. KU, 184, ΧΧΧΙΠ. In der Reflexion auf den Widerspruch zwischen Genesis und Geltung der Erkenntnisse hätte ein skeptizistischer Einwand seine rationale Funktion. Vgl. Till Streichelt: Kants affirmativer Begriff der Totalität - Zur Triftigkeit eines skeptizistischen Arguments am transzendentalen Ideal, 840846.

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der Naturwissenschaft, wie sie sich in allen Lehrbüchern der Physik und der Chemie findet. In der Kritik der reinen Vernunft hat Kant gezeigt, daß durch die Begriffe der transzendentalen Einheit der Apperzeption, die Kategorien, der Natur die Form der Gesetzmäßigkeit vorgeschrieben werde. Zu dieser formalen Einheit müsse Erfahrung hinzukommen, da diese, um ein Gegenstand von Erkenntnis werden zu können, zwar a priori unter der Form der Gesetzmäßigkeit stehe, nicht aber aus dieser Form abzuleiten sei. Diese Erfahrung ist damit als transzendentale Bedingung427 der Möglichkeit von Erkenntnis bestimmt.428 Dem Verhältnis von Form der Gesetzmäßigkeit und unter dieser Form stehenden Erfahrung entspricht das Verhältnis von transzendentaler Einheit der Apperzeption und transzendentalem Gegenstand. Die Erfahrung als transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis ist äquivok bestimmt. Als formal bestimmte steht sie a priori unter der Form der Gesetzmäßigkeit, als auch material bestimmte enthält sie ein arbiträres Moment, das nicht aus der Form resultieren kann. Dieses arbiträre Moment ist es, das Kant in der zweiten Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft spezifiziert. Nicht nur die Form der Gesetzmäßigkeit aller Gegenstände möglicher Erfahrung ist vorausgesetzt, sondern auch die Spezifikation dieser Form der Gesetzmäßigkeit zu einem System empirischer Gesetze.429 Nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit seien dabei sowohl die empirischen Gesetze, deren Zweck ihre Einheit ist, als auch die unter diesen Gesetzen stehenden Naturerscheinungen organisiert. Das Problem, daß "die specifische Verschiedenheit der empirischen Gesetze der Natur, sammt ihren Wirkungen, dennoch so groß sein könnte, daß es für unseren Verstand unmöglich wäre, in ihr eine faßliche Ordnung zu entdecken (...)"430, sei nach Kant durch eben dies Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur lösbar, "welches man das Gesetz der Specification der Natur in Ansehung ihrer empirischen Gesetze nennen könnte (...)."431 Ungeachtet dessen, ob das Gesetz der Spezifikation der Natur bloß regulativ, konstitutiv oder in der An-sich-Bestimmtheit der Natur fundiert sei, ist damit in der zweiten Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft durch das Prinzip der Zweckmäßigkeit eine Spezifikation des Naturbegriffs

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428

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430 431

Vgl. KrV, 154a, A 106, obzwar dort die "transzendentale Bedingung" im Kontext der Begründung der notwendigen Einheit des Bewußtseins genannt wird. Damit ist Erfahrung auch reflexiv bestimmt. Das zeigt Robert Pippin an den transzendentalen Deduktionen der Kritik der reinen Vernunft: "according to Kant, experience itself is "implicitly" reflexive."(Robert Pippin: Hegel's Idealism, 21). "Ob sich an der Natur die Tauglichkeit zu einem in der ersten Kritik deduzierten Systembegriff aufweisen läßt, ist noch offen und verlangt nach der Wiederaufnahme dieses Problems in der Weise, daß das Verhältnis der Idee zu dem Besonderem in der Anschauung thematisch wird."(Joachim Peter: Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft, 44, vgl. 46). KU, 185, XXXVII. KU, 186, XXXVII.

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vorgenommen, die in der Kritik der reinen Vernunft nicht explizit ausgeführt, wohl aber angedeutet432 ist.

3.1.4 Zum Begriff der Heautonomie Die eigene Gesetzgebung der Vernunft sei Autonomie.433 Das Gesetz dieser Autonomie "aber ist das moralische Gesetz (...)"434, das der heteronomen zweiten Natur die Form der Autonomie verschaffen solle. In der Auflösung der Antinomie der teleologischen Urteilskraft bestimmt Kant den Grund dieser Antinomie, der darin bestehe, "daß man einen Grundsatz der reflectirenden Urtheilskraft mit dem der bestimmenden, und die A u t o n o m i e der ersteren (...) mit der H e t e r o n o m i e der anderen, welche sich nach den von dem Verstände gegebenen (...) Gesetzen richten muß, verwechselt."435 Die Bestimmung der reflektierenden Urteilskraft als Autonomie, die dieselbe Autonomie wie die der Gesetzgebung der praktischen Vernunft sein müßte, wenn es nicht eine Äquivokation, wie im Begriff der Heteronomie, auch im Begriff der Autonomie geben solle, ist doppelt inkonsistent: erstens in der Verwendung bei Kant und zweitens auch argumentativ inkonsistent. "Die Urtheilskraft hat also auch ein Princip a priori für die Möglichkeit der Natur, aber nur in subjectiver Rücksicht, in sich, wodurch sie, nicht der Natur (als Autonomie), sondern ihr selbst (als Heautonomie) für die Reflexion über jene, ein Gesetz vorschreibt (...)." 436

Die Autonomie der reflektierenden Urteilskraft sei folglich doch keine Autonomie, sondern die Heautonomie der reflektierenden Urteilskraft. Die der reflektierenden Urteilskraft verweigerte Autonomie ist die Autonomie der reinen praktischen Vernunft. Soll, vom Terminus ad quem argumentiert, die Urteilskraft als Verbindungsglied der theoretischen und praktischen Philosophie fungieren, kann die Urteilskraft nicht vollständig in der Bestimmung eines zu vermittelnden Glieds aufgehen. Ihr Begriff der Zweckmäßigkeit sei entsprechend "weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff (...)."437 Die Urteilskraft verschafft dabei nicht der heteronomen zweiten Natur die Form einer übersinnlichen Natur, schreibt nicht ihr das moralische Gesetz vor, sondern gibt sich selbst das Gesetz 432 433 434 435 436 437

Vgl. KrV, 638, Β 714, vgl. 638 f., Β 721 f., vgl. 744, Β 854. Vgl. KpV, 33,58 f. KpV, 43,74. KU, 389, 318 f., § 71. Vgl. 384, 309 f., § 68. KU, 185 f., XXXVII. KU, 184, XXXIV. Vgl. die entsprechende Formulierung der ersten Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, "Diese Gesetzgebung müßte man eigentlich H e a u t o n o m i e nennen, da die Urtheilskraft nicht der Natur, noch der Freyheit, sondern lediglich ihr selbst das Gesetz giebt (...)."(KU 1. Einl., 225).

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Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft

der Spezifikation der ersten Natur. Als sich selbst gesetzgebend ist die Urteilskraft wie die praktische Vernunft autonom. Ihre Autonomie gibt ihr jedoch nicht das von sinnlichen Bedingungen unabhängige, den Willen bestimmende moralische Gesetz, sondern ein Gesetz der Reflexion, das "eine faßliche Ordnung (...)"438 empirischer Gesetze und der unter diesen Gesetzen stehenden Naturgegenstände zum Inhalt hat.439 Dieser Unterschied mag als Erklärung dienen, warum Kant das Prinzip der Zweckmäßigkeit nicht als durch Autonomie, sondern durch Heautonomie gesetzt bezeichnet.440 Prima facie schiene der Begriff der Heautonomie vom Terminus ad quem, der Urteilskraft als das Vermittelnde zwischen Natur und Freiheit, dadurch zu erklären, daß er aus dem Begriff der Heteronomie und dem der Autonomie zusammengesetzt wäre. Sachlich wäre dagegen nichts einzuwenden, wenn nicht nachweisbar wäre, daß grammatikalisch die Zusammenziehung zu Heautonomie eine Verstärkung der Reflexivität bedeute.441 Sich eine Verstärkung der Reflexivität zu denken, ist jedoch anakoluth. Sich selbst ein Gesetz zu geben, ist der Ausdruck eines reflexiven Verhältnisses, das sich nicht steigern läßt. Sowohl die Autonomie der reinen praktischen Vernunft als auch die Heautonomie der Urteilskraft geben sich selbst ein Prinzip. Die durch den, von Kant geprägten, Begriff der Heautonomie intendierte Differenz dieser beiden reflexiven Verhältnisse besteht nicht in deren Reflexivität, sondern darin, daß das moralische Gesetz als Ausdruck der Autonomie "der Sinnenwelt (...) die Form (...) einer übersinnlichen Natur verschaffen (,..)"442 soll, das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur dagegen bloß ein Prinzip der Reflexion über diese sei.

438 439

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442

KU, 185, XXXVI. "Heautonomy does not serve for Kant, as autonomy does, to express the sort of reflexivity which is (my) self s spontaneity and freedom. Nor does it, like what Kant calls heteronomy, serve any conception of, or interest in, the existence of a particular state of natural affairs."(Juliet Floyd: Heautonomy: Kant on Reflective Judgment and Systematicity, 205). Joachim Peter weist zurecht darauf hin, daß "die Urteilskraft sich selbst (als Heautonomie) das Gesetz der Reflexion über die Natur gibt und sie somit (...) an einer Vorsaussetzung orientiert ist, die aus der Struktur der Urteilskraft und nicht der Vernunft gewonnen ist."(Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft, 70 Fn). "The resulting term, heauto, means just what auto does except that it may only appear grammatically in a sentence reflexively (...), as an emphasizer (...). By contrast, auto can occur either reflexively or intensively. Philologically speaking, Kant is trying to emphasize a certain necessarily reflective character of the faculty of judgment."(Juliet Floyd: Heautonomy: Kant on Reflective Judgment and Systematicity, 205). Vgl. "In order to emphasize the purely reflexive, self-referential nature of this principle, Kant coins the term "heautonomy". To claim that judgment is "heautonomous" in its reflection is just to say that it is both source and referent of its own normativity."(Henry Allison: Kant's theory of taste, 41). KpV, 43, 74.

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Exkurs zur ästhetischen Urteilskraft Auch in der Dialektik der ästhetischen Heautonomie implizit thematisch.

Urteilskraft ist der Begriff der

"In diesem Vermögen [des Geschmacks, T.S.] sieht sich die Urtheilskraft nicht, wie sonst in empirischer Beurtheilung einer Heteronomie der Erfahrungsgesetze unterworfen: sie giebt in Ansehung der Gegenstände eines so reinen Wohlgefallens ihr selbst das Gesetz, so wie die Vernunft es in Ansehung des Begehrungsvermögens thut; und sieht sich sowohl wegen dieser innem Möglichkeit im Subjecte, als wegen der äußern Möglichkeit einer damit übereinstimmenden Natur auf etwas im Subjecte selbst und außer ihm, was nicht Natur, auch nicht Freiheit, doch aber mit dem Grunde der letzteren, nämlich dem Übersinnlichen, verknüpft ist, bezogen, in welchem das theoretische Vermögen mit dem praktischen auf gemeinschaftliche und unbekannte Art zur Einheit verbunden wird."443 Die sich selbst das Gesetz gebende Urteilskraft sei bezogen auf das Übersinnliche, das sowohl Grund der Freiheit sei als auch das, worin die theoretische und die praktische Philosophie zu vereinigen seien. Implizit ist damit der Begriff der Heautonomie als der Begriff bestimmt, der über den Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur Heteronomie und Autonomie, Natur und Freiheit, vereinigen soll.444

443 444

KU, 353,258 f., § 59. Vgl. 288,148, § 36. Henry Allison weist die Funktion des Begriffs der Heautonomie sowohl für die Deduktion des reinen Geschmacksurteils als auch für den Übeigang von Natur und Freiheit nach. Vgl. Kant's theory of taste, 41,160 ff., 196 ff.

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3.2 Die Kritik der teleologischen Urteilskraft 3.2.1 Die Reflexivität des Zwecks Zweck und Denken sind analog. Das Denken bezieht sich auf Gegenstände, ohne die es leeres Denken, Denken von Nichts und damit selbst Nichts wäre. Insofern das Denken den Unterschied von Denken und Gegenständen sich denkend zum Gegenstand macht, wird es mittelbar sich selbst Gegenstand und so reflexiv. Reflexiv ist die mittelbare Beziehung auf sich selbst. Irreflexiv ist die unmittelbare Beziehung des Denkens auf die Gegenstände. Ist der Zweck nach Kant der "Grund der Wirklichkeit dieses [bezweckten, T.S.] Objects C·.)"445, muß die Potentialität seiner vorgestellten Wirklichkeit aktualisiert werden: Ein Zweck, der nicht realisiert wird, ist kein Zweck. Das, worin der Zweck nur realisiert werden kann, sind die von ihm unterschiedenen, äußeren Gegenstände. Das, wodurch der Zweck realisiert wird, ist das Mittel seiner Realisierung. In der Realisierung eines Zwecks sind Gegenständliches und nicht Gegenständliches miteinander verschränkt. Gegenständlich sind die Mittel als Werkzeuge oder als Komplex von Gegenständen, die erforderlich sind, um einen Zweck zu realisieren. Nicht gegenständlich ist dagegen die Tätigkeit im Prozeß der Realisierung, ohne die die gegenständlichen Mittel nicht zu Mitteln würden, da diese sich nicht von allein zur Realisierung des Zwecks bewegen. Die äußeren Gegenstände als Material und Mittel sind damit Bedingung der Realisierung des Zwecks. Insofern der Zweck durch Äußeres bedingt ist, ist seine Beziehung auf dieses Äußere als Realisierung in und mit diesem Äußeren irreflexiv. Als realisierter Zweck ist er jedoch von der Antizipation seiner Realisierung wie die realisierte Vorstellung von der Vorstellung ihrer Realisierung unterschieden. "Denn, die vorgestellte Wirkung, deren Vorstellung zugleich der Bestimmungsgrund der verständigen wirkenden Ursache zu ihrer Hervorbringung ist, heißt Zweck." 446 Wird die Vorstellung der Wirkung, der realisierte Zweck, zum Bestimmungsgrund der wirkenden Ursache, die den Zweck realisiert, ist der Zweck mit sich selbst vermittelt, damit auch reflexiv. Ist der Zweck realisiert, stimmt er mit sich und dem Resultat seiner Realisierung überein, das aber von ihm unterschieden sein muß, wie das existierende Begründete von dem Grund seiner Wirklichkeit unterschieden ist.

445 446

KU, 180, XXVIII. KU, 426, 382, § 82. Vgl. 220,32 f., § 10.

Die Kritik der teleologischen Urteilskraft

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3.2.2 Zum Naturzweck Kant unterscheidet den Zweck, dessen Realisierung ein Kunstprodukt zu Resultat hat, von dem, der einem Naturprodukt als Grund der Erkenntnis zugesprochen wird. Das Kunstprodukt sei durch einen nach Begriffen wirkenden Willen erzeugt.447 "Denn das Ding selbst ist ein Zweck, folglich unter einem Begriffe oder einer Idee befaßt, die alles, was in ihm enthalten sein soll, a priori bestimmen muß. Sofern aber ein Ding nur auf diese Art als möglich gedacht wird, ist es bloß ein Kunstwerk, d. i. das Product einer von der Materie (den Theilen) desselben unterschiedenen vernünftigen Ursache, deren Causalität (in Herbeischaffung und Verbindung der Theile) durch ihre Idee von einem dadurch möglichen Ganzen (...) bestimmt wird."448 Nicht jedes Naturprodukt ist auch als ein Naturzweck zu erkennen. Wäre jedes Naturprodukt als Naturzweck erkennbar, gäbe es keinen Unterschied zwischen belebter und unbelebter Natur. Die Formulierung, daß ein "Naturproduct (...) doch auch [Hervorhebung von mir, T.S.] als Zweck, mithin als Naturzweck (,..)"449, erkannt werden könne, enthält die Unterscheidung der Wissenschaften, wie die Physik und die Chemie, die unbelebte Natur zum Gegenstand haben, von der Biologie.450 Die Erkenntnis eines Naturprodukts als Naturzweck setze voraus, daß "es von sich selbst (obgleich in zwiefachem Sinne) Ursache und Wirkung (,..)"451, demnach reflexiv sei. Erstens sei im Prozeß der Reproduktion der Gattung der, von Kant als Beispiel genannte, Baum sowohl die Wirkung vergangener als auch die Ursache zukünftiger Bäume. Zweitens reproduziere er sich im Prozeß des Wachstums als Individuum. Ursache des Wachstums sei nicht das Material der Assimilation, sondern er sei Ursache seiner selbst, da das vorausgesetzte Material der Assimilation erst im Stoffwechsel des Baumes in eine das Wachstum bewirkende spezifische Form verwandelt werde. Drittens sei die Reproduktion einer Art mit der Reproduktion anderer Arten über Nahrungsketten vermittelt. Die reflexive Bestimmung des Naturzwecks "sich zu sich selbst wechselseitig als Ursache und Wirkung (.„)"452 zu verhalten, drückt die von Kant intendierte Unabhängigkeit des als Naturzweck erkannten Naturprodukts vom Willen aus, die den Unterscheidungsgrund zu dem vom Willen abhängigen Kunstprodukt ausmacht. Als vom Willen des erkennenden Subjekts unabhängig ist es nicht ein Kunstprodukt. Ist das als Naturzweck zu er-

447 448 449 450

451 452

Vgl. KU, 370 f., 285 f., §64. KU, 373,290, § 65. KU, 370,286, § 64. Vgl. zur Theorie des Organismus im 18. Jahrhundert Peter McLaughlin: Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, 9-35. KU, 370,286, § 64. KU, 373,291, § 65.

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kennende Naturprodukt nicht als Realisation des Willens eines vernünftigen Wesen zu bestimmen, ist es selbst ohne einen Zweck. "Die Zweckmäßigkeit kann also ohne Zweck sein, sofern wir die Ursachen dieser Form nicht in einem Willen setzen, aber doch die Erklärung ihrer Möglichkeit, nur indem wir sie von einem Willen ableiten, uns begreiflich machen."453

Die anscheinend paradoxe Konstruktion, .zweckmäßig ohne Zweck' zu sein, ist auflösbar: Weil der Zweck ein Vernunftbegriff ist, das als Naturzweck erkannte Naturprodukt jedoch nicht Wirkung einer vernünftigen Ursache, sonst wäre es ein Kunstprodukt, ist, liegt ihm kein Zweck zu Grunde. Daß die Naturprodukte dennoch zweckmäßig seien, so als ob sie durch einen Zweck bestimmt wären, sei, wie Kant immer betont, nur ein Schluß der reflektierenden Urteilskraft, dessen Resultat weder konstitutiv für die Erkenntnis der Naturprodukte sei noch den Naturprodukten einen ihnen innewohnenden Zweck imputiere, sondern sei nur eine regulative Idee. Grund des Schlusses auf diese "Idee von einem Naturzwecke (,..)"454 sei die Existenz organisierter Wesen. "Organisirte Wesen sind also die einzigen in der Natur, welche (...) doch nur als Zwecke derselben möglich gedacht werden müssen, und die also zuerst dem Begriffe eines Zwecks, der nicht ein practischer sondern Zweck der Natur ist, objective Realität, und dadurch für die Naturwissenschaft den Grund zu einer Teleologie, d. i. einer Beurtheilungsart (...) verschaffen, dergleichen man in sie einzuführen (...) sonst schlechterdings nicht berechtigt sein würde."455

Dieser Begriff der Teleologie führt in die Naturwissenschaft zu dem "nexus effectivus (...)" den "nexus finalis (...)"456 als zweite Erklärungsart ein. Kant rekurriert in der Unterscheidung beider Kausalverbindungen auf die in der Kritik der reinen Vernunft getroffene Unterscheidung der Totalität in eine durch die regressive Synthesis erzeugte Totalität, die auf die Antinomien der kosmologischen Ideen führte, und eine durch die progressive Synthesis erzeugte Totalität.457 Im Unterschied zur regressiven Synthesis, die gemäß der Kategorie Kausalität nach der Ursache einer Wirkung fragt, sei die Synthesis nach der Idee des Zwecks progressiv und regressiv zugleich. Damit ist sie auch reflexiv. Insofern die Wirkung einer Ursache vorgestellt ist, liegt sie in der progressiven Synthesis. Diese vorgestellte Wirkung wird jedoch zur Ursache ihrer selbst, die, von der Wirkung her betrachtet, in der regressiven Synthesis liegt. Die zeitlich spätere Wirkung wird zur Ursache der zeitlich früheren Ursache der Wirkung. In der Verkehrung der Zeitfolge ist begründet, daß die durch den Zweck erzeugte Folge, "sowohl abwärts als aufwärts Abhängigkeit bei sich führen würde, in der das 453 454 455 436 457

KU, 220, 33, § 10. Vgl. 364,274 f., § 62, vgl. 370 f., 285 f., § 64. KU, 371, 286, § 64. KU, 375 f., 295, § 65. KU, 372,289 f., § 65. Vgl. KrV, 441 f., Β 438.

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Ding, welches einmal als Wirkung bezeichnet ist, dennoch aufwärts den Namen einer Ursache desjenigen Dinges verdient, wovon es die Wirkung ist."458 Insofern der Zweck ein Begriff der Vernunft sei, nennt Kant die Verknüpfung nach Zwecken eine "der idealen Ursachen (...)"» die nach der Kategorie Kausalität die "der realen [Ursachen, T.S.] (,..)."459 Die Einführung der teleologischen Erklärung ist eine weitere Bestimmung der Gegenstände möglicher Erfahrung über deren kategoriale Bestimmung hinaus. Sie "führt die Vernunft in eine ganz andere Ordnung der Dinge, als die eines bloßen Mechanisms der Natur (,..)."460 Die teleologische Bestimmung der Gegenstände möglicher Erfahrung resultiert nicht aus deren kategorialer Bestimmung. Sie soll vielmehr-in zweifacher Weise-die Beschränktheit der kategorialen Bestimmung aufheben, ohne diese auszuschließen.461 In zweifacher Weise deshalb, weil es erstens Gegenstände möglicher Erfahrung gebe, die nicht nur durch die reinen Verstandesbegriffe zu bestimmen seien, und zweitens durch die Teleologie ein System aller Gegenstände möglicher Erfahrung zu begründen sei, das die Beschränktheit der durch die Kategorie Kausalität erzeugten regressiven Totalität aufhebe.

3.2.3 Das System der Naturzwecke Der Zweck, der ein Kunstprodukt zum Resultat hat, ist reflexiv und in seiner Realisierung auch irreflexiv. Der Zweck, der die Mittel und die Tätigkeit bestimmt, liegt als Idee außerhalb des Kunstprodukts. Diese Idee, die die Mittel und die Tätigkeit, in den Worten Kants: "die Form und Verbindung aller Theile (...)"462, organisiert, ist die "Idee des Ganzen (,..)."463 Wie der Zweck ist auch das als Naturzweck bestimmte Naturprodukt reflexiv. Die Reflexivität des Organismus besteht, mit Kant, in dem Prozeß der Reproduktion der Gattung und dem Prozeß des Wachstums. Sein Begriff, Naturzweck zu sein, ist dem Organismus notwendig transzendent.464 Im Wachstums- und Reproduktionsprozeß der 458 459

440 461 462 463 464

KU, 372, 289, § 65. KU, 372 f., 290, § 65. In der Verkehrung der Zeitordnung ist die Idealität der Zweckursache begründet. Peter McLaughlin bestreitet dies jedoch und behauptet: "Es handelt sich also, soweit ich sehen kann, ausschließlich um eine "reale" Kausalität. (...) Die möglicherweise naheliegende Deutung von Kants Metapher in der "Reihe" von Ursache und Wirkung als vorwärts und rückwärts in der Zeit ist falsch."(Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, 45). Gegen diese offenkundig falsche Interpretation von Peter McLaughlin steht auch die von Joachim Peter: Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft, 191. KU, 377, 297, § 66. Vgl. KU, 417 f., 367 f., § 80. KU, 373,291 f., § 65. Ebda. Kein Tier setzt sich den Zweck, größer zu werden durch mehr Fressen.

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Gattung bezieht sich der Organismus irreflexiv auf die äußeren Gegenstände. Den Begriff des Organismus spezifiziert Kant so, "daß die Theile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind."465 Diese Spezifikation hat nicht mehr den Lebensprozeß des Organismus, sondern dessen innere Organisation zum Gegenstand. Im Unterschied zum Kunstprodukt ist der Organismus als das Ganze nicht durch einen äußeren Zweck hervorgebracht. Vielmehr werde er nur so beurteilt, daß er "ein Ganzes aus eigener Causalität (.,.)"466 sei. Das Ganze ist das Ganze seiner Teile. Das Prinzip der Verknüpfung dieser Teile ist die Kausalität nach der Zweckursache. Diese Kausalverknüpfung nach einem Zweck muß das von Kant genannte Verhältnis der Teile als wechselseitige Ursachen und Wirkungen voneinander ergeben. Ist ein Teil die Ursache eines anderen Teils und das verknüpfende Prinzip nicht die Kategorie Kausalität, sondern der Zweck, ist das zu Bewirkende, die antizipierte Wirkung, die ideale Ursache seiner selbst. Die Ursache ist Ursache der Wirkung und die Wirkung wird zur Ursache der Wirkung. Die zweckmäßige Verknüpfung der Teile ist dem Ganzen als Zweck ihrer Verknüpfung angemessen. Ist das Ganze als Zweck zu bestimmen, kann es nicht nur Ursache der zweckmäßigen Ordnung, sondern muß auch Wirkung der zweckmäßig angeordneten Teile sein.467 Sind die Teile durch ihre Zweckverknüpfung als reflexiv bestimmt, kann das Ganze nicht nur irreflexiv sein. Eben dies Ganze, von dem aus die Spezifikation seiner inneren Organisation ausgeht, ist von Kant als Organismus, der reflexiv ist, bestimmt. Das Verhältnis der Teile des Ganzen spezifiziert Kant weiter: "(...) jedes Glied [oder jeder Teil, T.S.] soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß als Mittel, sondern zugleich auch Zweck (...) sein."468 Um von der durch einen Zweck verknüpften Ursache zu deren existierender Wirkung zu gelangen, muß der Zweck realisiert werden. Die Mittel der Realisierung, wenngleich dies bei Kant nicht ausgeführt ist, seien beim Organismus, analog zur nicht gegenständlichen Tätigkeit, die "bildende Kraft (...)"469 und, analog zu den gegenständlichen Werkzeugen und Materialien, die anderen Glieder oder Teile desselben. Im Unterschied zur Bestimmung des Zwecks nach dem Modell handwerklicher Tätigkeit, fallen der Zweck und die Mittel seiner Realisierung nicht in die zwecksetzende Vernunft und die äußeren Gegenstände, sondern in 465 466 467

468 469

KU, 373,291, § 65. Ebda. "Das Ganze ist hier allein Ursache, nicht Wirkung. Die Kausalität, die von ihm ausgeht (in der Verbindung der Teile) gehorcht allein der Idee von einem durch die Teile möglichen Ganzen, nicht jedoch auch dem, was die Teile qua Materie unabhängig von der Idee sind."(Wolfgang Bartuschat: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 179). Ohne die Beziehung auf das Ganze sind die Teile nicht Teile des Ganzen. Das gilt aber umgekehrt auch für das Ganze, das nicht ohne seine Teile als Ganzes zu bestimmen wäre. KU, 375 Fn, 294 f., § 65. KU, 374,293, § 65.

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den Organismus selbst: "Ein organisirtes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist." 470 Analog der Zweckmäßigkeit des Organismus konstruiert Kant die Totalität aller Organismen in einem System der Naturzwecke.471 Terminus ad quem der Argumentation ist eine durch den Zweckbegriff organisierte Totalität aller Gegenstände möglicher Erfahrung. Die Konstruktion des Systems der Naturzwecke erfolgt durch zwei Argumentationen, die bei Kant nicht explizit geschieden sind, der Darstellung halber jedoch getrennt dargestellt werden sollen.

A.

Wie in der inneren Zweckmäßigkeit des Organismus alle Teile desselben wechselseitig Zweck und Mittel seien, sei die Totalität aller Organismen durch die äußere oder relative Zweckmäßigkeit zu einem System der Naturzwecke konstruierbar.472 "Alles [zunächst nur alle Organismen, T.S.] in der Welt ist irgend wozu gut; nichts ist in ihr umsonst (...)."473 Kant schließt von der inneren Zweckmäßigkeit des Organismus auf die äußere Zweckmäßigkeit aller Organismen. Diesem Schluß von der inneren Zweckmäßigkeit des Organismus auf die äußere Zweckmäßigkeit der Totalität der Organismen liegt jedoch die Verwechslung der Form eines partikularen allgemeinen Prozesses, dem Prozeß der zweckmäßigen Organisation des Organismus, mit der allgemeinen Form partikularer Prozesse, dem Prozeß der zweckmäßigen Organisation aller partikularen Organismen, zu Grunde. Dieser Schluß führte auf die Totalität analog eines Organismus oder eine Teleologie der Totalität.474 Die vorgetragene Kritik an diesem Schluß, die Verwechslung der Form eines allgemeinen Prozesses mit der allgemeinen Form aller Prozesse, ist nicht die Kants. Sein Einwand gegen die äußere oder relative Zweckmäßigkeit aller Organismen, die 470 471

472

473 474

KU, 376, 295, § 66. "Von dieser besonderen und hervorstechenden Weise von Zweckmäßigkeit, die wir in den Organismen sehen, geht Kant nun aus und erweitert das teleologische Prinzip auf das Weltganze. "(Klaus Düsing: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 121). "Eines der grossen Verdienste Kants um die Philosophie besteht in der Unterscheidung, die er zwischen relativer oder äusserer und zwischen innerer Zweckmäßigkeit aufgestellt hat (...)."(Hegel: Wissenschaft der Logik (1816), 157). KU, 379, 300, § 67. Weder, daß es sich um einen Schluß noch, daß dieser Schluß auf einer Verwechselung der Form eines partikularen allgemeinen Prozesses mit der allgemeinen Form partikularer Prozesse beruht, wird bei Klaus Düsing deutlich: "Die reale Zweckmäßigkeit an Organismen, in denen alle Teile zugleich Zwecke und Mittel sind und jedes Glied zugleich zweckmäßig für das Ganze ist, wild daher zum "Beispiel", zum Modell und exemplarischen Fall dafür, wie die Natur, nach dieser Idee des Naturganzen, überhaupt eingerichtet ist; die reale Zweckmäßigkeit wird zum Muster für alle Zweckmäßigkeit des Mannigfaltigen der Welt."(Klaus Düsing: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 124).

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"zu keinem absoluten teleologischen Urtheile berechtige (...)"475, basiert auf dem in der Kritik der reinen Vernunft entwickelten Begriff des potentiell Unendlichen. Wie bei der durch die Kategorie Kausalität erzeugten Folge führe die Frage, um wessen Zweckes willen ein Naturzweck sei, auf einen Regressus476, dessen spekulativer Abbruch durch einen unbedingten Zweck einen Endzweck postuliere, der "ganz außerhalb der physisch-teleologischen Weltbetrachtung liegt."477 Dieser "Zweck der Existenz der Natur selbst muß über die Natur hinaus gesucht werden."478 Damit ist der Zweck, durch den das System der Naturzwecke begründet wird, selbst kein Naturzweck, sondern der Natur transzendent.479 Diesen Zweck nennt Kant einen "kategorischen Zweck (,..)"480, der als solcher wie die Kategorien konstitutiv sein muß. Daß dieser Zweck kein Naturzweck ist, gibt Anzeige darauf, daß es ein, durch eine vernünftige, jedoch nicht notwendig auch moralisch bestimmte, Ursache, gesetzter Zweck ist.481

B.

Der Grund der Erkenntnis des Prinzips der inneren Zweckmäßigkeit in Organismen sei die Existenz dieser. Da das Prinzip der Zweckmäßigkeit ein Begriff der Vernunft ist, könne es nicht aus der Beobachtung einzelner organisierter Wesen abgeleitet, sondern müsse ein weiteres Prinzip, "irgend ein Princip a priori (...) zum Grunde haben."482 Was dieses dem Prinzip der Zweckmäßigkeit zugrunde liegende Prinzip sei, führt Kant jedoch nicht aus. Das Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit des partikularen Organismus ist eine Idee. Die Idee ist von Kant in der Kritik der reinen Vernunft als Begriff der Totalität bestimmt. Sie ist das Prinzip, das die systematische Einheit der 475 476

477 478 479

480 481

482

KU, 369, 283, § 63. Dieser Regressus wäre einerseits als ein Regressus ad indefinitum aufzufassen, da die Totalität aller Zwecke nicht in der empirischen Anschauung (vgl. KrV, S08, Β S40) erfahren werden kann, andererseits wäre er als ein Regressus ad infinitum aufzufassen, da das System aller Zwecke analog dem von Kant genannten Körper (vgl. ebda) ist. KU, 378, 300, § 67. KU, 378,299, § 67. Peter McLaughlin meint dagegen: "Femer sollte man die Natur als System relativer Zwecke beurteilen, ohne natürlich eine Hierarchie der Zwecke mit einem letzten Zweck der Natur anzunehmen."(Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, 47). KU, 378, 300, § 67. Vgl. Kapitel 3.2.7 dieser Arbeit. "Um aber nicht nur ein Aggregat, sondern eine System der Zwecke aufstellen zu können, brauchen wir als Prinzip der Unterordnung dessen, was wir in der Natur als Mittel und was als Zweck anzusehen haben, einen obersten Zweck, der nicht mehr natürlich und bedingt sein kann, sondern über die Natur hinausliegen muß. Erst in ihm vollendet sich in der Kritik der Urteilskraft die teleologische Weltbetrachtung."(Klaus Düsing: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 207). KU, 376,296, § 66.

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partikularen Verstandeserkenntnisse in der Form eines Ganzen garantiert. Kant nennt diese Idee in der Kritik der teleologischen Urteilskraft eine "absolute Einheit (...)"483; absolut deshalb, weil sie nicht in Relation zu einem Gegenstand möglicher Erfahrung steht und durch diesen restringiert wird.484 Weil der Begriff der Zweckmäßigkeit eine Idee sei, es einzelne Naturprodukte oder Gegenstände möglicher Erfahrung gebe, die nur mit Hilfe dieser Idee erklärt werden könnten, und sie ein Begriff der Totalität, der Form eines Ganzen, sei, müsse "der Zweck der Natur auf alles, was in ihrem Producte liegt, erstreckt werden. Denn, wenn wir einmal dergleichen Wirkung [die eines Zwecks, T.S.] im Ganzen auf einen übersinnlichen Bestimmungsgrund [die Idee des Ganzen, T.S.], über den blinden Mechanism der Natur hinaus, beziehen, müssen wir sie [die Natur, T.S.] auch ganz nach diesem Princip beurtheilen; und es ist kein Grund da, die Form eines solchen Dinges noch zum Theil vom letzteren [dem Mechanism, gemeint sein muß die Erklärung nach der Kategorie Kausalität, T.S.] als abhängig anzunehmen, da alsdann, bei der Vermischung ungleichartiger Principien, gar keine sichere Regel der Beurtheilung übrig bleiben würde."485 Von der Anwendung des Zweckbegriffs zur Erklärung eines Organismus wird auf die Notwendigkeit, "alles", das heißt nicht nur die Totalität der Organismen, sondern die Totalität der Gegenstände möglicher Erfahrung, nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit zu erklären, geschlossen.486 Auch die unbelebte Natur, die Gegenstand der Physik und Chemie ist, müsse "als zu einem System der Zwecke gehörig (,..)"487 beurteilt werden. Es müsse "die Einheit des übersinnlichen Princips nicht bloß für gewisse Species der Naturwesen, sondern für das Naturganze, als System, auf dieselbe Art als gültig betrachtet werden (,..)."488 Die Begründung erfolgt ex negativo: Würde ein Naturprodukt nach dem Mechanismus der Kategorie Kausalität und nach der Zweckverknüpfung zu 483 484

485 486

487 488

KU, 377,297, § 66. "Man kann eigentlich nicht sagen, daß diese Idee ein Begriff vom Objekte sei, sondern von der durchgängigen Einheit dieser Begriffe [der Verstandesbegriffe in partikularen Erkenntnissen, T.S.] (,..)."(KrV, 607, Β 673). KU, 377, 297, § 66. "Wenn dieser Übergang ein legitimes Unternehmen sein soll und nicht nur Schwärmerei, die sich in Spekulation verliert, die gegenüber der zu thematisierenden Natur unfruchtbar sind, dann darf das freilich nicht nur behauptet werden, wie Kant an dieser Stelle tut, sondern muß aus der Struktur der Idee hergeleitet werden."(Wolfgang Bartuschat: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 187). Die Forderung, den Begriff der Idee als Voraussetzung des Schlusses auf die Totalität zu erklären, hat Kant in der Kritik der reinen Vernunft erfüllt. Richtig dagegen ist die Frage nach dem 'Funktionsbereich' der reflektierenden Urteilskraft, deren Prinzip die Idee der Zweckmäßigkeit ist: "Kant schließt die Analytik der teleologischen Urteilskraft ab, ohne einen weiteren Beleg für die Rechtmäßigkeit des Sicherstreckens der Urteilskraft auf die Natur im Ganzen zu geben. Er kann diesen Beleg nicht geben, weil er keine Analyse der Idee, unter die sich die Urteilskraft stellt, gibt. Die Struktur der reflektierenden Urteilskraft bleibt so noch ungeklärtem). KU, 380, 303, § 67. KU, 381, 304, § 67.

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erkennen sein, käme es zu einer Vermischung ungleichartiger Prinzipien, die einer sicheren Regel der Erklärung entgegen stünden. Um die Eindeutigkeit der Erklärung eines Gegenstandes möglicher Erfahrung zu garantieren, müsse die mechanische Erklärungsart der teleologischen "untergeordnet"489 werden. Aus dem Schluß von der inneren Zweckmäßigkeit des partikularen Organismus auf die Zweckmäßigkeit der Totalität aller Organismen und der These, daß die teleologische Beurteilung der mechanischen übergeordnet sei, ist ein Argument entwickelbar, das bei Kant so nicht vorkommt: Die Kategorien sind potentielle Totalitätsbegriffe. Sie schreiben als Begriffe der transzendentalen Einheit der Apperzeption der Natur überhaupt die Form der Gesetzmäßigkeit vor. In jeder besonderen Erkenntnis der Natur sind die Kategorien jedoch auf einen partikularen Zusammenhang der Totalität aller Gegenstände möglicher Erfahrung restringiert. Die Restriktion auf partikulare Systeme ist notwendig für die Erkenntnis, doch der Idee der systematischen Einheit aller Erkenntnisse, und damit der transzendentalen Einheit der Apperzeption, entgegengesetzt. Potentiell sind die Kategorien die Begriffe dieser Einheit, die durch sie aktuell erkannten partikularen Gesetze stehen jedoch nicht a priori unter dieser Einheit, sondern bedürfen eines sie koordinierenden Prinzips. Dieses koordinierende Prinzip ist der Zweckbegriff. Der Begriff der Natur als Totalität aller erkennbaren Gegenstände möglicher Erfahrung bedarf damit des Zweckbegriffs, der als Idee im Unterschied zur Kategorie kein potentieller Totalitätsbegriff ist. "Würde dagegen-auf cartesianische Weise - der Versuch unternommen, ein ens naturale rein nach den Gesetzen der Mechanik zu erklären, so fehlt das Prinzip, das eben diese Gesetze und die Prozesse, die ihnen gehorchen, der «Idee von einem Ganzen» unterordnet."490 Ist es ein Prinzip, das die partikularen Verstandeserkenntnisse analog den partikularen Organismen zu einer systematischen Einheit analog dem System der Naturzwecke organisiert, kann der einzelne zweckmäßig organisierte Organismus jedoch nur Modell der Idee der systematischen Einheit aller Gegenstände möglicher Erfahrung sein. Wären alle Gegenstände möglicher Erfahrung nach der durchgängigen Zweck-Mittel-Relation eines einzelnen Organismus wie ein einziger Organismus organisiert, führte das auf die durchgängige Determiniertheit aller Naturprodukte, die in der Antithesis der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft formuliert ist. Der Unterschied beider Determiniertheiten bestünde darin, daß erstens ein und dieselbe Totalität der Gegenstände möglicher Erfahrung zum einen durch einen konstitutiven und zum anderen durch einen regulativen Begriff geordnet wäre, und zweitens die Determiniertheit durch den Zweck zu der durch die regressive Synthesis erzeugten 489 490

KU, 379, 300, § 67. Karl Heinz Haag: Der Fortschritt in der Philosophie, 70. Das Zitat, die «Idee von einem Ganzen», ist nachgewiesen durch: KU, 408, 351, § 77. Vgl. KU, 373, 291 f., § 65.

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noch die durch die progressive Synthesis erzeugte Totalität ergänzte. Das Verhältnis dieser beiden Begriffe zueinander, der mechanischen und teleologischen Beurteilungsart, ist Gegenstand der Antinomie der Urteilskraft.

3.2.4 Die Antinomie der teleologischen

Urteilskraft

Kant zufolge verwickele sich die Beurteilungsart nach der Kategorie Kausalität mit der nach dem Zweckbegriff in eine Antinomie: "Die erste Maxime derselben ist der Satz: Alle Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen muß als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurtheilt werden. Die zweite Maxime ist der Gegensatz: Einige Producte der materiellen Natur können nicht als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurtheilt werden (ihre Beurtheilung erfordert ein ganz anderes Gesetz der Causalität, nämlich das der Endursachen). Wenn man diese regulativen Grundsätze für die Nachforschung nun in constitutive der Möglichkeit der Objecte selbst verwandelte, so würden sie so lauten: Satz: Alle Erzeugung materieller Dinge ist nach bloß mechanischen Gesetzen möglich. Gegensatz: Einige Erzeugung derselben ist nach bloß mechanischen Gesetzen nicht möglich."491 Die Verwandlung der regulativen Grundsätze in konstitutive enthält eine .Metabasis eis alio genos', die Kant selbst für die Auflösung der Antinomie in Anschlag bringt. Als konstitutive Prinzipien der Erkenntnis aller Gegenstände möglicher Erfahrung seien die Grundsätze solche der bestimmenden Urteilskraft, die sich in die Antinomie verwickelten. Nicht jedoch die regulativen Grundsätze der reflektierenden Urteilskraft, die "in der That gar keinen Widerspruch (...)" 492 enthalten, weil man "sie nur zum Leitfaden der Reflexion braucht, die dabei für alle mechanische Erklärungsgründe immer offen bleibt (...)." 493 Die Verwandlung der Grundsätze in konstitutive, die erst die Antinomie der Urteilskraft ergäben, und der durch den .Wechsel des Gegenstands' bewirkten Ermäßigung, daß zwischen ihnen als regulativen Grundsätzen doch kein Widerspruch bestehe, resultiert aus dem Problem, daß ein konstitutiver Begriff der Erkenntnis, die Kategorie Kausalität, in ein Verhältnis zu einem regulativen Begriff, der Idee der

491 492 493

KU, 387, 314 f., §70. KU, 387,315, §70. KU, 389,318, §71.

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Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft

Zweckverknüpfung, gebracht wird. Dieses Problem, zwei Begriffe .fremden Geschlechts' in ein Verhältnis zu setzen, bestimmt die weitere Argumentation Kants. Darüber hinaus enthält dieses Problem noch eine Doppeldeutigkeit: Es sind zwei Bedeutungen des Mechanismus in zwei verschiedenen Kontexten zu unterscheiden.494 Einerseits wird der Mechanismus in der Vorstellung der Antinomie implizit mit der Kategorie Kausalität identifiziert. Deutlich wird das in zwei Passagen, zum einen darin, "daß die Urtheilskraft in ihrer Reflexion von zwei Maximen ausgeht, deren eine ihr der bloße Verstand a priori an die Hand giebt (...)"495, zum anderen darin, daß "ohne ihn [den Mechanism, T.S.] zum Grunde zu legen, es gar keine eigentliche Naturerkenntnis geben kann."496 Andererseits, im § 77 über die Vorstellung der Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes, wird der Mechanismus oder die "mechanische Erklärungsart"497 anders bestimmt. An dem Unterschied zwischen Analytisch-Allgemeinem und SynthetischAllgemeinem und der Frage, wie ein "reales Ganze der Natur"498 zu erklären sei, führt Kant die Variante ein, "daß die Vorstellung eines Ganzen den Grund der Möglichkeit der Form desselben und der dazugehörigen Verknüpfung der Theile enthalte."499 Die Hervorhebung, daß es bloß eine Vorstellung und nicht ein Grund sei, soll das, was als Grund angenommen, dem diskursiven Verstand zum Widerspruch geriete, vermeiden. Die Vorstellung des Ganzen als Ursache seiner Möglichkeit durch die Teile ist von Kant im folgenden als Zweck bezeichnet. Dieser Zweck als Vorstellung ist als Folge aus der besonderen Beschaffenheit unseres Verstandes bestimmt500, womit der Verstand in dieser Hinsicht der reflektierenden Urteilskraft gleich zu sein scheint. Weil Kant den Begriff der Form einerseits mit der Vorstellung eines Ganzen und damit mit dem Zweckbegriff identifiziert, andererseits ihn im Zusammenhang mit dem Mechanismus nennt501, scheint die strikte Unterscheidung von mechanischer und teleologischer Erklärungsart in der Erklärung eines Ganzen aufgeweicht zu sein. Demnach wären innerhalb der Dialektik der teleologischen Urteilskraft zwei Bestimmungen des Mechanismus enthalten. Die erste, auf der Kategorie Kausalität basierend, würde die mechanische Erklärungsart als konstitutiv besagen; die zweite, basierend auf der Interpretation des § 77, dagegen diese als regulative Erklärungsart. Durch diese Doppeldeutigkeit in der Bestimmung der mechanischen Erklärungsart, wird das Problem, zwei Begriffe .fremden Geschlechts' in ein Ver494 495 496 497 498 499 500 501

Vgl. Henry Allison: Kant's Antinomy of Teleological Judgment, 26-28. KU, 386, 314, § 70. KU, 387, 315, §70. KU, 408, 351, § 77. KU, 407, 349, § 77. KU, 407 f., 349 f., § 77. KU, 408, 351, §77. Ebda.

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hältnis zu setzen, in eben den zwei Varianten, einmal als Verhältnis zweier regulativer Begriffe und als Verhältnis zweier konstitutiver Begriffe, denkbar. Den Mechanismus als Maxime der Reflexion anzusehen, scheint durch die Argumentation im § 77 gedeckt. Die zweite Variante, die auf der zunächst nicht einzusehenden Verwandlung der regulativen Grundsätze in konstitutive Grundsätze beruht, ist dennoch zu erklären. Wären beide Grundsätze subjektive Maximen der Reflexion, müßten beide Grundsätze erkenntnistheoretisch gleichen Ranges sein. Die Kategorie Kausalität wäre damit jedoch kein Verstandesbegriff, sondern eine Idee.502 Gegen diese Konsequenz, die expressis verbis nicht im Text steht, argumentiert auch Kant. Sowohl die erste Bestimmung der mechanischen Erklärungsart als auch die von Kant behauptete Ordnung der mechanischen und der teleologischen Erklärungsart sind Beleg dafür. Sowohl das Verhältnis der regulativen Grundsätze als auch das in ein Verhältnis konstitutiver Grundsätze überführte ist kontradiktorisch.503 Sind beide Verhältnisse kontradiktorische, kann nicht das eine die widerspruchsfreie Lösung des anderen liefern.504 Die von Kant intendierte Lösung der Antinomie thematisiert nicht diesen Gedanken, sondern behauptet, daß durch die Rückkehr zum Ausgangspunkt der Antinomie, zu den regulativen Maximen zur Reflexion über die Möglichkeit, Gegenstände der Natur zu beurteilen, kein Widerspruch bestehe. "Denn wenn ich sage: ich muß alle Ereignisse in der materiellen Natur, mithin auch alle Formen, als Producte derselben, ihrer Möglichkeit nach, nach bloß mechanischen Gesetzen beurtheilen: so sage ich damit nicht: sie sind darnach allein (...) möglich; sondern ich soll jederzeit über dieselben nach dem Princip des bloßen Mechanisms der Natur r e f l e c t i r e n und mithin diesem, soweit ich kann [Hervorhebung von mir, T.S.], nachforschen, weil, ohne ihn zum Grunde der Nachforschung zu legen, es gar keine eigentliche Naturerkenntnis geben kann. Dieses hindert nun die zweite Maxime bei gelegentlicher Veranlassung [Hervorhebung von mir, T.S.] nicht, nämlich bei einigen Naturformen (und auf deren Veranlassung sogar der ganzen Natur), nach 502

503

504

Vgl. Henry Allison: Kant's Antinomy of Teleological Judgment: "First, assuming, as is usually done, that the principle of mechanism of the third Critique is equivalent to the causal principle of the first, it suggests that Kant underwent a remarkable change of mind regarding the status of this principle. Indeed, since it involves demoting the causal principle to merely regulative status, this change might be thought to threaten the coherence of the "critical" philosophy."(25). Peter McLaughlin diskutiert die Frage nach dem ,eikenntnistheoretischen Status' der Kategorie Kausalität im Zusammenhang mit der Auflösung der Antinomie als dritten Ansatz der Auflösung. (Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, 130). Vgl. "Die Tendenz des Kausalitätsbegriffs, von seiner ursprünglichen konstitutiven kategorialen Dignität herabzusinken zum regulativen Prinzip ist dann zu Ende geführt in der Antinomienlehre der Kritik der Urteilskraft."(Wilhelm Emst: Der Zweckbegriff bei Kant und sein Verhältnis zu den Kategorien, 64). Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik (1816), 158. Vgl. Henry Allison: Kant's Antinomy of Teleological Judgment, 29. Vgl. zustimmend zu Klaus Ε. Kaehler: Comment on Henry E. Allison: Kant's Antinomy of Teleological Judgment, 45.

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einem Princip zu spüren, und über sie zu reflectiren, welches von der Erklärung nach dem Mechanism der Natur ganz verschieden ist, nämlich dem Princip der Endursachen."505 Die offenbar von vornherein avisierte Vermeidung der Antinomie beruht damit auf der Einführung eines Unterschieds im Rang beider Prinzipien, die "geboten"506 sei. Zum einen sei nach Kant die Natur als Ganzes nur als System der Naturzwecke denkbar, weshalb die mechanische der teleologischen Beurteilungsart untergeordnet werden müsse.507 Zum anderen führt er gegen die Gleichheit des Ranges beider Beurteilungsarten an, daß nur diejenigen Naturprodukte, die nicht hinreichend durch Verstandesbegriffe erklärbar seien, durch den Zweckbegriff zu erklären seien. In der Auflösung der Antinomie der Urteilskraft sind gemäß der Doppeldeutigkeit der mechanischen Erklärungsart zwei Varianten zu unterscheiden. Die eine, nicht haltbare, Variante bestünde darin, basierend auf der Bestimmung der mechanischen Erklärungsart aus dem § 77, die mit der behaupteten Regulativst aus dem § 70 übereinstimmte, daß die Regulativität oder die Bestimmung der Grundsätze als Maximen der Reflexion an sich gar nicht antinomisch seien. Die zweite Variante, basierend auf der durch die Kategorie Kausalität bestimmten mechanischen Erklärungsart, bestünde dagegen darin, daß schlichtweg die beiden Prinzipien der Naturerkenntnis, von denen das erste nach der Kategorie Kausalität konstitutiv sein müsse, weil es sonst "keine eigentliche Naturerkenntnis (...)"508 geben könne, durch eine Rangfolge getrennt werden. Beide Varianten koinzidieren darin, daß durch deren Ordnung die mechanische Erklärungsart "immer offen bleibt"509 für die teleologische. Die Resultate der beiden Prinzipien der Erklärung, die in der Erkenntnis partikularer Gegenstände der Natur einander nachgeordnet seien, sollen aber noch durch das zweite der beiden, das regulative Prinzip der Zweckverknüpfung, zu einem System der Erkenntnisse vereint werden können. Das regulative Prinzip der Zweckverknüpfung wäre damit das Prinzip der Erkenntnis der Gegenstände der Natur, die nicht nach der Kategorie Kausalität erklärbar sind, und zugleich das Prinzip der Ordnung der .mechanischen' und .teleologischen' Erkenntnisse. Ob diese gedachte Vereinigung beider Prinzipien in der Form des Ganzen aller Erkenntnisse auch an "denselben Dingen (.,.)"510 der Natur nach einem "inneren Grunde der Natur (...)"511 wirklich, das heißt durch die Prinzipien als konstitutive

505 506 507 508 509

510 511

KU, 387, 315, §77. KU, 388,316, §70. Vgl. KU, 379,301, § 67. KU, 387, 315, §70. KU, 389, 318, § 71. Die zitierte Stelle ist indifferent gegen die im § 70 angeführte Ordnung der Erklärungsarten. KU, 388, 31, §70. Ebda.

Die Kritik der teleologischen Urteilskraft

113

Grundsätze erzeugt, sein könne, wodurch die Antinomie, die der konstitutiven Begriffe, gelöst wäre, bleibe Kant zufolge jedoch "unausgemacht (...)."512

3.2.5 Anmerkungen zur Anmerkung des § 76, Regulativität und Konstitutivität der Ideen Sich selbst, das heißt die Argumentationen aus der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft, referierend, unterscheidet Kant, den § 76 zusammenfassend, die Idee des Naturzwecks von der Idee der praktischen Freiheit und der Idee des Urgrundes. In diesem Referat findet jedoch eine Verschiebung des Akzents der referierten Argumentationen statt. Sowohl die theoretische als auch die praktische Vernunft hätten, zum einen in der Idee "einer unbedingten Nothwendigkeit ihres Urgrundes (...)", zum anderen in der Idee einer "unbedingte(n) Causalität, d. i. Freiheit (,..)"513, "Ideen, denen angemessen kein Gegenstand in der Erfahrung gegeben werden kann, und die alsdann nur zu regulativen Principien (...) dienen konnten."514 Der Urgrund der theoretischen Vernunft und die Kausalität aus Freiheit der praktischen Vernunft seien nach Auskunft des, den § 76 am Anfang zusammenfassenden, § 77 der Kritik der Urteilskraft bloß regulative Ideen, dagegen die der Idee des Naturzwecks "gemäße Folge (das Product selbst) (...) doch in der Natur gegeben [ist, T.S.], und der Begriff einer Causalität der letzteren, als eines nach Zwecken handelnden Wesens, scheint die Idee eines Naturzwecks zu einem constitutiven Princip desselben zu machen: und darin hat sie etwas von allen andern Ideen Unterscheidendes."515 Daß die praktische Freiheit eine regulative Idee sei, stützt sich auf ein entwickelbares Moment der Argumentation der Kritik der praktischen Vernunft. Dort, die Thesis der dritten Antinomie zitierend, nennt Kant die transzendentale Freiheit ein "regulative(s) Princip der Vernunft (...)"516, dessen Gedanke durch die "positive Bestimmung, nämlich den Begriff einer den Willen unmittelbar (...) bestimmenden Vernunft (...)"517 realisiert werden soll. Ist das moralische Gesetz, dessen Existenzgrund die praktische Freiheit sei, der Bestimmungsgrund des moralisch handelnden Willens, kann die praktische Freiheit kein regulativer, sondern muß vielmehr ein konstitutiver Begriff sein. Kant schreibt in der Kritik der Urteilskraft: "Eben so ist der Vernunft, welche nirgend als lediglich in Ansehung des Begehrungsvermögens constitutive Principien a priori enthält, 512

513 514 515 516 517

Ebda. Sehr detailliert diskutiert Peter McLaughlin die Antinomie der teleologischen Urteilskraft: Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, 117-162. KU, 403,342, § 76. KU, 405, 345, § 77. Ebda. KpV, 48, 84. KpV, 48, 83.

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in der Kritik der praktischen Vernunft ihr Besitz angewiesen worden."518 Dem widerspricht die Passage, ebenfalls aus der Kritik der Urteilskraft, in dem die praktische Freiheit "zu einem allgemeinen regulativen Princip (...)"519 erklärt wird. In dem Widerspruch, dagegen daß die Freiheit in dem moralischen Gesetz nicht konstitutiv, sondern nur ein Gebot, ein Seinsollen ausdrücke, kann jedoch das Referat des § 76 der Kritik der Urteilskraft sich auf das aus der Kritik der praktischen Vernunft entwickelbare Problem berufen, daß kein partikularer Wille, als durch das moralische Gesetz konstitutiv bestimmt, unter heteronomen Bedingungen wirklich sein kann. Nur in der Realisierung des Modells von natura archetypa und natura ectypa wäre auch der einzelne Wille als vernünftig bestimmter Wille verwirklicht. Da es jedoch sowohl dem partikularen Willen als auch "uns"520, das heißt der kollektiven Einheit der vernünftig bestimmbaren Willen, an dem "angemessenen physischen Vermögen (,..)"521 fehle, der sinnlichen, muß heißen, der zweiten Natur, die Form einer übersinnlichen Natur zu verschaffen, bleibe die Idee der praktischen Freiheit ohne Gegenstand in der Erfahrung, mithin ein regulatives Prinzip der gesetzprüfenden Vernunft der Typik der reinen praktischen Urteilskraft. Der Begriff der praktischen Freiheit ist in der Kritik der praktischen Vernunft nicht als regulative Idee bestimmt, sondern als Bestimmungsgrund des Willens. Doch läßt sich zeigen, daß sie ohne das ihr angemessene physische Vermögen zu einem Prinzip der Reflexion über die Heteronomie der zweiten Natur wird, wie die Zweckmäßigkeit das Prinzip der Reflexion über die erste Natur ist. Der Begriff der praktischen Freiheit ist demnach regulativ und konstitutiv zugleich.522 Auch an dem erschlossenen Urgrund der theoretischen Vernunft ist nachweisbar, daß sein Begriff nicht nur, wie Kant im § 76 richtig die Intention der Kritik der reinen Vernunft referiert, regulativ523, sondern auch konstitutiv sein muß. Der Begriff des Urgrundes ist durch verschiedene Begriffe zu 518

519 520 321 522

523

KU, 168, V. Vgl. "Hier werden sie [die transzendenten Ideen durch die praktische Vernunft, T.S.] immanent und c o n s t i t u t i v , indem sie Gründe der Möglichkeit sind, das n o t h w e n d i g e Object der reinen praktischen Vernunft (das höchste Gut) w i r k l i c h zu machen, da sie, ohne dies, transcendent und bloß r e g u l a t i v e Principien der speculativen Vernunft sind (...)."(KpV, 135, 244). KU, 404, 343, § 76. KpV, 43, 75. Ebda. Vgl. KU, 403 f., 343, § 76. "Die reine Vernunft als praktisches Vermögen, d. i. als Vermögen den freien Gebrauch unserer Causalität durch Ideen (reine Vernunftbegriffe) zu bestimmen, enthält nicht allein im moralischen Gesetze ein regulatives Princip unserer Handlungen, sondern giebt auch dadurch zugleich ein subjectiv-constitutives in dem Begriffe eines Objects an die Hand (...)."(KU, 453,429, § 88). Nur ein expliziter Beleg für die Regulativität der Idee des Urgrundes oder des höchsten Wesens sei angeführt: "Der erste Fehler, der daraus entspringt, daß man die Idee eines höchsten Wesens nicht bloß regulativ, sondern (...) konstitutiv braucht, ist die faule Vernunft (,..)."(KrV, 640, Β 717). Ein Beleg dafür, daß das höchste Wesen mit dem Urgrund zu identifizieren ist, sei ebenfalls genannt: "Denn, wo will jemand durch reine Spekulation der Vernunft die Einsicht hernehmen, daß es kein höchstes Wesen, als Urgrund von Allem, gebe (...)."(KrV, 603, Β 669).

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charakterisieren. Er ist A. als erste, unbedingte Ursache und B. als transzendentales Ideal zu bestimmen.524

A. Die Idee der ersten, unbedingten Ursache ist nach Kant als erschlossene absolute Spontaneität der Ursachen ein bloß regulatives Prinzip der Vernunft. Das Vermögen dieser unbedingten Ursache ist die transzendentale Freiheit. Die Totalität der Gegenstände möglicher Erfahrung ist die reale Voraussetzung jeder Erkenntnis. Da diese Totalität selbst kein Gegenstand möglicher Erkenntnis ist, ist in der kollektiven Einheit des Erfahrungsganzen die transzendentale Freiheit, in ihrer technisch-praktischen Realisierung, als das Vermögen, einzelne Naturzusammenhänge aus der Totalität zu isolieren, auch konstitutiv für die Möglichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Wie alle transzendentalen Ideen sei sie "niemals von konstitutivem Gebrauche, so daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden (,..)."525 Doch ist die transzendentale Freiheit in ihrer technisch-praktischen Realisierung eine konstitutive Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. Konstitutiv ist sie jedoch nicht wie es die mathematischen Grundsätze seien, deren Gegenstände durch Konstruktion erzeugt würden526, sondern nur in der Bedeutung, daß sie das Vermögen ist, das die Isolation von Erscheinungen der Natur aus dem Ganzen der Natur leiste.

B. Das transzendentale Ideal - Synonyme dazu sind: "die Idee von einem All der Realität (...)"527, "das Urwesen (...), das höchste Wesen (...), das Wesen aller Wesen (,..)"528 oder "Gott"529 - sei die Idee der durchgängigen Bestimmung aller Gegenstände möglicher Erfahrung. Dieses Ideal sei eine Vorstellung, ein "regulatives Prinzip der Vernunft (,..)"530 und dürfe nicht hypostasiert werden.531 Die durchgängige Bestimmung eines Gegenstandes erfolge durch

524

525 526 527 528 529 530 531

Daß es nur diese beiden Begriffe seien, die den Begriff des Urgrunds bestimmen, ist nicht intendiert. KrV, 606, Β 672. Vgl. KrV, 232, Β 221. KrV, 555, Β 604. KrV, 557, Β 606 f. KrV, 558, Β 608. KrV, 587, Β 647. KrV, 560 Fn, Β 611.

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Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft

bejahende und verneinende Prädikate.532 Wäre ein Gegenstand nicht durchgängig durch bejahende oder verneinende Prädikation bestimmt, könnte er aufgrund einer einzigen Bestimmung, in der er nicht durchgängig gegen einen anderen Gegenstand bestimmt ist, mit diesem verwechselt werden. Diese durchgängige Bestimmung der Gegenstände geschieht zunächst durch ein abgeschlossenes System von Relationen. Wäre es nicht abgeschlossen, bestünde weiterhin die Möglichkeit der Verwechslung von Gegenständen. Diese Relationen haben zunächst nur die Form affirmativer und negativer Urteile, genauer: Erstens die Form eines affirmativen tautologischen, die Identität des Gegenstandes mit sich behauptenden, Urteils, zweitens die Form negativer, nichttautologischer, die Differenz zu anderen Gegenständen behauptender, Urteile. Partikulare Urteile dieser Formen, Α ist Α, Α ist nicht Β, Α ist nicht C usf., lassen sich jedoch in keinerlei logischen Zusammenhang bringen. Für die logische Bestimmung eines Gegenstandes sind demnach drittens affirmative nichttautologische universale Urteile notwendig, die die Identität, insofern das Subjekt zum Prädikat, die Species zum Genus proximum, gehört, die Differenz, insofern das Subjekt vom Prädikat, die Species vom Genus proximum durch die Differentia specifica, unterschieden ist, behaupten. Daß diese Form des Urteils der Identität und Differenz die des disjunktiven Vernunftschlusses533 ist, den Kant als Voraussetzung der logischen Bestimmung eines Begriffs angibt, ist begründet: Erst wenn partikulare Urteile bezogen werden auf einen Obersatz oder ein gemeinsames Subjekt, sind Widersprüche zwischen ihnen möglich. Das transzendentale Ideal ist damit als erstes Subjekt der Prädikation Voraussetzung des Widerspruchs zwischen verschiedenen Bestimmtheiten. Diese durchgängige Bestimmtheit aller Gegenstände möglicher Erfahrung hat jedoch zur Folge, daß in der Bestimmtheit eines einzelnen Gegenstandes die Totalität aller Gegenstände implizit enthalten ist.534 Diese implizite Voraussetzung in der Bestimmung eines Gegenstandes hätte in der Erkenntnis desselben zur Folge, daß der distributiven Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes die kollektive Einheit des Erfahrungsganzen vorausgesetzt wäre. Konstitutiv sei der Prolegomena zufolge ein Begriff oder eine Idee, wenn "man sie (...) dafür ansieht, als ob sie dem Objecte der Erkenntnis anhänge (...)."535 Wäre die kollektive Einheit des Erfahrungsganzen als transzendentales Ideal Voraussetzung der distributiven Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes, wäre sie die Voraussetzung der Erkenntnis, die dem Objekt der Er-

532

533 534

535

Vgl. Heinz Heimsoeth: Transzendentale Dialektik: Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, 424,427. Vgl. KrV, 555 f., Β 604 f. Das Modell hierzu böte die ,abor poihyriana'. Vgl. Porphyrius: Einleitung in die Kategorien, 1134. Prolegomena, 350, § 56.

Die Kritik der teleologischen Urteilskraft

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kenntnis anhinge. Gegen Kants Intention müßte deshalb die Idee des transzendentalen Ideals auch konstitutiv sein.

3.2.6 Der Grund der Einheit von Mechanismus und Zweckursache An der Antinomie der Urteilskraft vorbei hat Kant erklärt, daß die mechanische und teleologische Erklärungsart als regulative Prinzipien einander nicht ausschlössen. Terminus ad quem der weiteren Argumentation ist es, den Übergang von einer daraus zu erschließenden möglichen Vereinigung zu der "Nothwendigkeit einer Vereinigung beider Principien in der Beurtheilung der Dinge als Naturzwecke (...)"536 zu begründen. "Das Princip, welches die Vereinbarkeit beider in Beurtheilung der Natur nach denselben möglich machen soll, muß in dem, was außerhalb beiden (...) liegt, von dieser aber doch den Grund enthält, d. i. im Übersinnlichen, gesetzt, und eine jede beider Erklärungsarten darauf bezogen werden."537

Die Vereinigung der zu vereinigenden Prinzipien setzt voraus, daß diese Prinzipien auf das Übersinnliche als das ihnen Gemeinsame beziehbar sind. Sind die mechanische und die teleologische Erklärungsart gleichermaßen auf das Übersinnliche beziehbar, setzt dieses wiederum voraus, daß sowohl dem Mechanismus als auch der Teleologie ein Moment des Übersinnlichen immanent ist. Als das Dritte der Vereinigung538 von Mechanismus und Teleologie muß das Übersinnliche zu den durch es vereinigbaren Prinzipien im Verhältnis des Unterschieds und der Identität stehen. Es kann nicht nur, wie Kant sagt, außerhalb ihrer sein. Die teleologische Erklärungsart erklärt durch den Begriff des Zwecks die Naturprodukte. Ihrer Erkenntnis liegt die Idee der zweckmäßigen Organisation der Naturprodukte zu Grunde. Die Idee der Zweckmäßigkeit ist das Übersinnliche der Teleologie. Auch dem Mechanismus muß das Übersinnliche als Grund der Vereinbarkeit nachweisbar sein, denn "das gemeinschaftliche Princip der mechanischen einerseits und der teleologischen Ableitung andrerseits [ist, T.S.] das Ü b e r s i n n l i c h e , welches wir der Natur als Phänomen unterlegen müssen."539 Die Lösung des Problems, einer einzelnen Verstandesverknüpfung nach der Kategorie Kausalität ihre Übersinnlichkeit nicht nachweisen zu können,

536

537 538

539

KU, 414, 360, § 78. Vgl. den Titel des § 78, "Von der Vereinigung des Principe des allgemeinen Mechanismus der Materie mit dem teleologischen in der Technik der Natur."(410, 354). KU, 412, 357, § 78. Analog, eine Passage aus der Einleitung erläuternd, bestimmt Jürg Freudiger den Grund der Einheit von Natur und Freiheitsbegriff als zugrundeliegendes Drittes. Vgl. Kants Schlußstein: Wie die Teleologie die Einheit der Vernunft stiftet, 426. KU, 412, 358, § 78.

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ist am Begriff der Natur entwickelbar.540 Analog den explizierten Bestimmungen des Urgrundes A. als erste, unbedingte Ursache und B. als transzendentales Ideal, läßt sich zeigen, daß die kategoriale Bestimmung der Natur notwendig auf Übersinnliches verwiesen ist. A. Der Schluß auf die transzendentale Freiheit ist Resultat des Widerspruchs, in den sich die reale Ursache, die Kategorie Kausalität, in der dritten Antinomie verwickelte. Ohne die Beziehung auf das übersinnliche Vermögen der Freiheit widerspräche die durchgängige Organisation nach der Kategorie Kausalität sich selbst. B. Die kollektive Einheit des Erfahrungsganzen ist ein Ideal. Sie ist die intelligible, übersinnliche Voraussetzung der distributiven Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes. - Der Nachweis der Übersinnlichkeit des Mechanismus abstrahiert jedoch notwendig davon, daß das transzendentale Ideal auch reale Voraussetzung oder "materiale Bedingung (,..)"541 der Erfahrung ist. Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist als Verstandeseinheit ein Vernunftbegriff.542 Dem Verhältnis von Verstandeseinheit und Vernunftbegriff ist das von Natur als kategorialer Einheit und Natur als durch den Zweckbegriff bestimmter Einheit analog. Sowohl der kategorialen Einheit als auch der Einheit durch den Zweckbegriff liegt das Übersinnliche zu Grunde. Von der Idee des Übersinnlichen als das intelligible Substrat der Natur sei kein affirmativer Begriff möglich.543 Daß die "Natur (...) für uns ein System ausmacht, welches sowohl nach dem Princip der Erzeugung von physischen [gemeint ist die reale Ursache nach der Kategorie Kausalität, T.S.] als dem der Endursachen als möglich erkannt werden könne (..,)"544, sei nicht positiv beweisbar. Die Naturphilosophie Kants ist dieser Intention nach keine affirmative Metaphysik der Natur.545 Ohne dies explizit darzutun, verkehrt Kant den Schluß auf das nur negativ zu erschließende Übersinnliche als Grund der Vereinigung beider Prinzipien in eine positive Bestimmung der Vereinigung, die hernach zur Kultur der Menschen erklärt wird. "Denn, wo Zwecke als Gründe der Möglichkeit gewisser Dinge gedacht werden, da muß man auch Mittel annehmen, deren Wirkungsgesetz fiir sich nichts einen 540

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542 543

544 543

Vgl. dagegen Wolfgang Bartuschat: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 217 ff. KrV, 555, Β 604. Vgl. Peter Bulthaup: Die transzendentale Einheit der Apperzeption, das System des Wissens und der Begriff gesellschaftlicher Arbeit, 97. Vgl. Kapitel 1.2.2 und 1.3.3 C dieser Arbeit. Vgl. KU, 413, 359 f., §78, 421 f., 374 f., § 81. "Its [the supersensible's, T.S.] initial function, which has already been discussed, is completely negative."(Henry Allison: Kant's Antinomy of Teleological Judgment, 38). KU, 413, 358 f., § 78. "Das heißt aber: Metaphysik ist nur als negative Metaphysik möglich - nicht als deduktives System. Eine Philosophie, die organisierte Natur aus einem absolut Ersten deduzieren möchte, mutet menschlicher Vernunft zu, was sie nicht leisten kann (,..)."(Karl Heinz Haag: Der Fortschritt in der Philosophie, 72).

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Zweck voraussetzendes bedarf, mithin mechanisch und doch eine untergeordnete Ursache absichtlicher Wirkungen sein kann."546 Die Verkehrung des Schlusses kann sich auf folgende, bei Kant nicht ausgeführten, Argumente berufen: Die Mittel der Realisierung des Zwecks sind nicht der Zweck selbst. Da es nach Kant nur zwei Kausalitäten, die des Mechanismus und die des Zwecks, gebe, können die Mittel des Zwecks nicht anders als mechanisch bestimmt sein. Das Argument ist apagogisch geführt: Wären die Mittel selbst Zweck, bedürften sie ihrerseits der Mittel ihrer Realisierung, die nicht wieder Zweck sein können, wenn die Realisierung eines Zwecks nicht an dem sich daraus ergebenden Regressus scheitern soll. In der Realisierung des Zwecks durch die Mittel sind damit immer schon Mechanismus und Teleologie in Einheit. Die Symmetrie der Vereinigung von Mechanismus und Teleologie im Übersinnlichen wird dadurch zu einer Asymmetrie, in der der Mechanismus der Teleologie untergeordnet ist.547 Der Begriff des Naturzwecks der Teleologie ist damit das Modell der Realisierung autonom aus Freiheit gesetzter Zwecke, die nicht die Kausalität nach Naturgesetzen durchbrechen, sondern ihrer sich als Form der Mittel bedienen. Im Unterschied zu der Kausalität aus Freiheit durchbricht der Naturzweck die durchgängige Bestimmung aller Erscheinungen nach den Kategorien Kausalität und Wechselwirkung nicht. Der unter dem Begriff des Naturzwecks stehende Organismus ist als reflexive Natur bestimmt, der sich in seiner Reproduktion mechanisch auf die von ihm unterschiedene, für ihn irreflexive Natur bezieht. Der Organismus wäre damit die in der Natur als Natur existierende Kausalität aus Freiheit, der in der Realisierung seines Zwecks nicht gegen die durchgängige Bestimmung nach den Kategorien Kausalität und Wechselwirkung verstößt. Diese Konsequenz resultiert aus der Asymmetrie, jedes Naturprodukt so weit als möglich nach der Kategorie Kausalität zu bestimmen und nur das, was, nicht in der durchgängigen Bestimmung nach den Kategorien Kausalität und Wechselwirkung aufgeht, aber immer noch nur Natur ist, nach dem Zweckbegriff zu bestimmen. Der als Naturzweck bestimmte Organismus kann bloß Modell der Vereinbarkeit von kategorial bestimmter Natur und freiem Zweck sein, da dessen Bestimmung als Naturzweck nicht in den Organismus selbst fällt, sondern in ein reflektierendes Subjekt, dessen Reflexion den durchgängigen Zusammenhang der Natur notwendig durchbricht. Dreh- und Angelpunkt der Vereinigung von Natur und Freiheit, dessen Modell der unter dem Begriff des Naturzwecks stehende Organismus ist, ist die doppelte Bestimmung dieses reflektierenden Subjekts als Naturzweck und letzter Zweck der Natur. 546 547

KU, 414, 361, §78. Das kann den irritierenden Aufbau der kantischen Argumentation verständlich machen: in den §§ 67, 69 und 77 sei der Mechanismus der Teleologie untergeordnet, im § 78 wird eine symmetrische Vereinigung beider im intelligiblen Substrat dargestellt und in den §§ 78, 80 und 81 diese symmetrische Vereinigung in das asymmetrische Verhältnis der Unterordnung verwandelt.

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Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft

3.2.7 Der letzte Zweck der Natur und ihr Endzweck Kants Einwand, aus der Analytik der teleologischen Urteilskraft, gegen die von ihm selbst durchgeführte Begründung des Systems aller Naturzwecke durch den Begriff der äußeren oder relativen Zweckmäßigkeit aller Organismen fußt auf dem Regressus, dessen spekulativer Abbruch einen letzten Zweck oder Endzweck postuliert, der selbst kein Naturzweck, sondern der Natur transzendent ist.548 Kant unterscheidet den letzten Zweck von dem Endzweck. Der Endzweck sei im Unterschied zum letzten Zweck ein unbedingter, damit freier Zweck. Der letzte Zweck sei dagegen bedingt, jedoch selbst nicht Bedingung eines anderen Zwecks. Ist der letzte Zweck nicht Zweck für anderes, ist er Zweck an sich selbst. Als Zweck an sich selbst ist er jedoch frei und stimmt darin mit dem Endzweck überein. In der Unterscheidung des unbedingten Endzwecks vom bedingten letzten Zweck, der jedoch auch als frei zu bestimmen ist, ist die Unterscheidung von moralisch-praktisch frei und technisch-praktisch frei angelegt. Der letzte Zweck der Natur oder deren Endzweck sei der Mensch.549 Er sei nicht nur "wie alle organisirte Wesen, als Naturzweck, sondern auch hier auf Erden als den letzten Zweck der Natur, in Beziehung auf welchen alle übrige Naturdinge ein System von Zwecken ausmachen (...)"5S0 zu bestimmen. Sind die Menschen der letzte Zweck der Natur, muß die Natur selbst diesen Zweck realisieren. In der Realisierung ihres letzten Zwecks ist die Natur damit als tätiges Subjekt551 bestimmt, die "zu leisten vermag (...)"552, die "in Absicht auf den Endzweck, der außer ihr liegt, ausrichten (...) kann (...)"553 oder die "ihre Endabsicht (...) erreichen kann (...)."554 Ist die Natur das tätige Subjekt in der Realisierung ihres letzten Zwecks, ist dieser durch sie bedingt. Der Widerspruch, daß der letzte Zweck sowohl bedingt als auch frei und damit unbedingt sein müsse, ist bei Kant 54,1

349

550 551

552

553 554

Vgl. Klaus Düsing: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 207, 212, 230. Vgl. Jürg Freudiger: Kants Schlußstein: Wie die Teleologie die Einheit der Vernunft stiftet, 429-431. Heinrich Böckerstette entgeht durch die bloße Deskription der systematische Gehalt der kantischen Argumentation, wenn er schreibt, Kant "definiert" im Hinblick auf den handelnden Menschen, dieser sei das einzige Wesen auf Erden, "welches Verstand, mithin ein Vermögen (habe), sich selbst willkürlich Zwecke zu setzen" [nachgewiesen durch: KU, 431, 390, § 83]. Darum sei er "betitelter Herr der Natur (,..)"[nachgewiesen durch: ebda]."(Heinrich Böckerstette: Aporien der Freiheit und ihre Aufklärung durch Kant, 259). KU, 429, 388, § 83. Hier ist Klaus Düsings Erklärung uneindeutig: "Der "Wille" der Natur oder kritisch gesprochen: der als Leitfaden der Beurteilung angenommene Zweck der menschlichen Natur besteht darin, daß keine Anlagen brach liegen und umsonst sein sollen (,..)."(Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 218). In der dazugehörigen Fußnote steht dagegen: "die Natur "will", heißt: sie tut es selbst, ob wir es wollen oder nicht."(Ebda). KU, 431, 391, § 83. In Kants Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht ist die Bestimmung der Natur als tätiges Subjekt explizit: "Die Natur hat gewollt (...)."(In weltbürgerlicher Absicht, 19). KU, 431, 391, §83. KU, 432, 393, § 83.

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nicht explizit thematisch, jedoch zu belegen: Der Mensch sei "seiner Bestimmung nach der letzte Zweck der Natur; aber immer nur bedingt [Hervorhebung von mir, T.S.], nämlich daß er es verstehe und den Willen habe, dieser und ihm selbst eine solche Zweckbeziehung zu geben, die unabhängig [Hervorhebung von mir, T.S.] von der Natur, sich selbst genug, mithin Endzweck, sein könne (...)."555 Darin, daß sowohl der letzte Zweck als auch der Endzweck die Funktion erfüllen, das System von Naturzwecken zu begründen, stimmen sie überein.S56 Unterschieden seien sie jedoch darin, daß der letzte Zweck der Natur auch ein Naturzweck sei, der von der Natur realisiert werde, der Endzweck dagegen ein moralischer Zweck, der "kein Zweck sei, welchen zu bewirken und der Idee desselben gemäß hervorzubringen die Natur hinreichend wäre, weil er unbedingt ist."557 Diesen Unterschied drückt Kant in einer Rangfolge aus, daß die Natur in der Realisierung ihres letzten Zweckes den Menschen "zu dem vorzubereiten [sucht, T.S.], was er selbst thun muß, um Endzweck zu sein (...)."558 Den letzten Zweck der Natur unterscheidet Kant in die Glückseligkeit und die Kultur der Menschen. Die Glückseligkeit sei der Zweck, der durch die Wohltätigkeit der Natur selbst realisiert werde.559 Zu erweisen sei, daß die Glückseligkeit des Menschen nicht der letzte Zweck der Natur sein könne, sondern ihn als "Glied in der Kette der Naturzwecke (...)"560 und folglich zu einem mechanisch bestimmten Mittel anderer Naturzwecke bestimme.561 Drei Argumente für die Unangemessenheit von Glückseligkeit und Endzweck führt Kant an: Erstens, da die Glückseligkeit von "jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust (...)"562 verschiedener Menschen abhänge, könne "die Natur (...) schlechterdings kein bestimmtes allgemeines und festes Gesetz annehmen (...), um mit (...) dem Zweck, den jeder sich willkürlicher Weise vorsetzt, übereinzu-

555 556

557 558

559 560 561 562

KU, 431,390, § 83. Bs sei "der Mensch der Schöpfung Endzweck; denn ohne diesen wäre die Kette der einander untergeordneten Zwecke nicht vollständig gegründet (...)."(KU, 435, 398, § 84). Klaus Düsing behauptet dagegen, daß dies den Unteischeidungsgrund von letztem Zweck und Endzweck darstelle: "Da diese Überlegungen von dem Versuch der teleologischen Urteilskraft geleitet sind, in der Natur ein System der Zwecke aufzustellen, setzt Kant den Menschen in seiner Naturüberlegenheit nicht gegen eine nur noch als Gegenstand der Bearbeitung fungierende Natur. Vielmehr wird der Mensch selbst als oberstes Glied der vielgestaltigen Reihe der bedingten Zwecke, als Gipfel des Ganzen aller Zwecke angesehen. - Damit ergibt sich nun jedoch ein Unterschied zwischen dem über alle Natur hinausführenden Endzweck und dem letzten Zweck der Natur, der noch ein Zweck in der Natur ist, aber bereits zum Endzweck vorbereitet."(Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 213). KU, 435,397, § 84. KU, 431, 391, § 83. Vgl. Klaus Düsing: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 213, 231. Vgl. Henry Allison: Kant's theory of taste, 211. Vgl. KU, 429 f., 388, § 83. KU, 430,390, § 83. Vgl. ebda, vgl. 426 f., 383 f., § 82. KpV, 25,46.

122

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stimmen."563 Zweitens, selbst wenn das individuelle Streben nach Glückseligkeit auf "das wahrhafte Naturbedürfnis, worin unsere Gattung durchgängig mit sich übereinstimmt (,..)"564 herabgesetzt sei, könne die Glückseligkeit nicht erreicht werden. Das wahrhafte Naturbedürfnis, worin die Gattung mit sich selbst übereinstimmt, ist ihre Reproduktion durch die Befriedigung materieller Bedürfnisse. Weil die Befriedigung eines Bedürfnisses sowohl das Gefühl der Befriedigung als auch das Bedürfnis verschwinden läßt, ist weder die Befriedigung noch das Bedürfnis von Dauer.565 Ruft die Befriedigung des Bedürfnisses das Bedürfnis selbst wieder hervor, kann die Befriedigung des Bedürfnisses "nie erreicht werden; denn seine Natur [die des Menschen bzw. der Menschen, T.S.] ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genüsse aufzuhören und befriedigt zu werden."566 Ein solches Bedürfnis, das durch seine Befriedigung nicht verschwindet, ist maßlos. Drittens, da der Menschen Naturanlage zu den Plagen der Pest, des Hungers usf. noch "selbstersonnene Plagen (,..)"567 wie Herrschaft, Barbarei, Kriege usf., die der "Zerstörung der eigenen Gattung (...)"568 dienen, hinzusetze, sei weder durch die wohltätige Natur außer uns noch durch die innere Natur der Menschen selbst die Glückseligkeit zu erreichen. Der Endzweck der Natur ist als unbedingter Zweck frei.569 Die Glückseligkeit des Menschen könne nicht ihr letzter Zweck, das heißt "nicht Zweck der Freiheit (...)"57°, sein, da weder ein identischer Zweck noch dessen Realisierung aufgrund der immer wiederkehrenden Bedürfnisse der Menschen und den von ihnen selbstersonnenen Plagen zu garantieren sei. Die Kultur der Menschen dagegen sei der Zweck, der "in seiner Freiheit (...)"571 begründet, damit unbedingt und so zur Vorbereitung des Endzwecks taugen könne. "Es bleibt also von allen seinen [denen des Menschen, T.S.] Zwecken in der Natur nur die formale subjective Bedingung, nämlich der Tauglichkeit: sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen, und (...) die Natur den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen, als Mittel, zu gebrauchen, übrig, was die Natur, in Absicht auf den Endzweck, der außer ihr liegt, ausrichten, und welches also als ihr letzter Zweck angesehen werden kann. Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Cultur. Also kann nur die Cultur der letzte Zweck sein, den man der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen hat (...)."572

563 564 565 566 567 568 569 570 571 572

KU, 430, 389, § 83. Ebda. Vgl. Piaton: Das Gastmahl, 305, 200a-201d. KU, 430, 389, § 83. KU, 430, 389 f., § 83. KU, 430, 390, § 83. Vgl. 435, 397 f., § 84. KU, 430, 389, § 83. KU, 431, 391, §83. Ebda.

Die Kritik der teleologischen Urteilskraft

123

Diesem Schluß auf die Kultur der Menschen liegt eine doppelte Bestimmung der Natur zu Grunde: Als tätige Natur realisiert sie ihren letzten Zweck, die Kultur, dadurch, daß sie sich selbst in der Realisierung dieses Zwecks auch zum untätigen Mittel bestimmt. Sie realisiert ihren letzten Zweck dadurch, daß sie sich auch zum Mittel ihres eigenen Zwecks bestimmt. Sind Mittel und Zweck ein und dieselbe Natur, ist die Natur doppelt bestimmt oder in sich gespalten. Die reflexive, teleologische Natur führte die irreflexive, mechanische Natur zur Realisierung ihres letzten Zwecks, womit in der Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt, das heißt der Kultur, Mechanismus und Teleologie in Einheit wären. Der letzte Zweck der Natur wäre ihr transzendent, weil kein Naturzweck, und immanent zugleich, weil von ihr gesetzt und durch sie realisiert. Das allerdings hätte eine Spontaneität der Natur zur Folge, die erst in der mit Notwendigkeit hervorgebrachten Kultur des Menschen sich aktualisiert hätte. Zwischen dieser Konsequenz und dem begründeten, wenngleich selten explizit dargestellten Einwand, daß zwischen dem reflektierenden Subjekt und dem Subjekt der Reflexion, dem letzten Zweck der Natur, ein Unterschied bestehe, der in der Formulierung enthalten ist, daß die Kultur der Zweck sei, "den man der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen [Hervorhebung von mir, T.S.] (...)"573 habe, schwankt Kant. Das reflektierende Subjekt ist in seiner Zwecksetzung "unabhängig von der Natur (,..)"574 und soll sich ihrer als eines Mittels bedienen, den von ihm erschlossenen letzten Zweck der Natur zu realisieren. Als "betitelter Herr der Natur (...)"575 habe der Mensch "dieser und ihm [gemeint sein muß: sich, T.S.] selbst eine solche Zweckbeziehung zu geben, die unabhängig von der Natur sich selbst genugsam, mithin Endzweck, sein könne (...)."576 Das Setzen dieser Zweckbeziehung ist äquivok bestimmt, bezogen auf die Natur ist es der Schluß der Reflexion auf den Zweck der Natur, bezogen auf sich selbst, ist es die Realisierung des erschlossenen Zwecks. Der Mensch bestimmt damit sich in seiner Reflexion als tätiges Subjekt, das seine Kultur als letzten Zweck der Natur erschließt und in ihr realisiert.577 An die Bestimmung der Kultur als Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt schließt Kant an, daß diese Tauglichkeit in der Freiheit des vernünftigen Wesens bestehe. Die Freiheit wäre folglich einerseits durch die Natur als deren letzter Zweck zu realisieren und andererseits das, was sowohl dem Schluß auf den letzten Zweck der Natur als auch der Tauglichkeit zu 573 574 575 576 577

Ebda. KU, 431, 390, § 83 Ebda. Ebda. Hier wäre der Ort, das Verhältnis von Kants sogenannter kopemikanischer Wende und der Bestimmung des Endzwecks, das von Volker Gerhardt angesprochen wird, zu bestimmen. Vgl. Kants kopemikanische Wende, 140,143.

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Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft

beliebigen Zwecken, die das vernünftige Wesen von der Natur unterscheidet und zu deren "betitelte(m) Herr(n)" als Grund des Systems der Naturzwecke bestimme, vorausgesetzt wäre. Die Natur würde demnach etwas ihr selbst Widersprechendes hervorbringen.578 Jeder Versuch, aus der Natur etwas, was nicht mehr Natur sei, zu begründen, scheitert an diesem Widerspruch.

3.2.8 Die Affirmation der Herrschaft Der Widerspruch in der doppelten Bestimmung der Natur, die als tätige die Kultur selbst hervorbringe, und der Natur, die bestimmbares Mittel der Realisierung der Kultur sei, wird nicht aufgelöst, sondern verwandelt sich in die Affirmation der Herrschaft von Menschen über Menschen, deren Elend, weil "doch mit der Entwickelung der Naturanlagen in der Menschengattung verbunden (...)"579, "glänzende(s) Elend ist (...)."58° "Die Geschicklichkeit kann in der Menschengattung nicht wohl entwickelt werden, als vermittelst der Ungleichheit unter Menschen; da die größte Zahl die Nothwendigkeit des Lebens gleichsam mechanisch, ohne dazu besonders Kunst zu bedürfen, zur Gemächlichkeit und Muße anderer, besorget, welche die minder nothwendigen Stücke der Cultur, Wissenschaft und Kunst, bearbeiten, und von diesen in einem Stande des Drucks, saurer Arbeit und wenig Genusses gehalten wird, auf welche Classe sich denn doch manches von der Cultur der höheren nach und nach auch verbreitet."381

Die Herrschaft wird damit von Kant zur Bedingung der "bis zum höchsten Grade (,..)"582 zu entwickelnden Talente der Menschheit erklärt. Es ist das Argument Aristoteles', daß erst das zum Leben Notwendige produziert sein müsse, ehe Wissenschaften und Künste sich entwickeln können583, auf das Kant sich berufen kann. Was bei Aristoteles nur als notwendige Bedingung bestimmt ist, fällt bei Kant mit dem letzten Zweck der Natur, die diesen realisiere und damit die Kultur hervorbringe in eins. Wäre die Natur das tätige Subjekt, unterschiede sie sich, entsprechend der doppelten Bestimmung der Natur, in der 378

579 580

581 582 583

Dieser Widerspruch wird bei Klaus Düsing nicht deutlich. Einerseits bestimmt er den letzten Zweck der Natur ausschließlich als Natuizweck im Unterschied zum Endzweck, womit die technisch-praktische Freiheit zu einer Naturanlage würde, andererseits sei der letzte Zweck auch unabhängig von der Natur und damit ein Zweck der Freiheit. Vgl. Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 213-215. KU, 432, 393, § 83. Ebda. Klaus Düsing faßt die Ungleichheit als den "Unterschied des Standes und der äußeren Lebensverhältnisse (...)"(Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 218) auf, wobei unklar bleibt, ob die Standesunterschiede auf einem Herrschaftsverhältnis beruhen. KU, 432, 392 f., § 83. KU, 433, 394, § 83. Vgl. Aristoteles: Metaphysik, 11, 981b 20 ff.

Die Kritik der teleologischen Urteilskraft

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Realisierung ihres letzten Zwecks in Menschen, die diesen Zweck setzten, und solche, die Mittel der Realisierung dieses Zwecks wären. Sei die Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt, das heißt die Möglichkeit, sich Zwecke zu setzen, die Kultur, wäre die Herrschaft notwendige Bedingung der Kultur. Die Entwicklung der Kultur hätte damit Herrschaft zur Voraussetzung. Die Bestimmung der Kultur, letzter Zweck der Natur zu sein, bestimmte damit Herrschaft zu einem naturhaften Verhältnis der Ungleichheit innerhalb der Gattung. Die Erkenntnis, daß die Ungleichheit innerhalb der Gattung ein naturhaftes Verhältnis sei, fällt jedoch nicht in die Natur selbst, da diese zwar als reflexiv erkannt ist, nicht aber über das Vermögen der Reflexion verfügt, sondern muß in ein reflektierendes, von der Natur unterschiedenes, Subjekt fallen. Die in der transzendentalen Einheit der Apperzeption bestehende Einheit dieses reflektierenden Subjekts ist überindividuell. Deren Existenz ist jedoch individuell. Diese Differenz zwischen überindividueller Einheit und individueller Existenz ist der zwischen dem Begriff der Wissenschaft und den Wissenschaft betreibenden Subjekten analog. Im Erkenntnisprozeß sind die transzendentale Einheit der Apperzeption und das reflektierende Individuum kompatibel, das heißt in Einheit. Die Differenz von reflektierendem Individuum und überindividueller Einheit der Apperzeption führte jedoch in der Begründung der Kultur auf deren Inkompatibilität, die überindividuelle Einheit und deren individuelle Existenz wären nicht miteinander vermittelbar. Das dialektische Argument, daß die Erkenntnis der Nicht-Vermittelbarkeit ihrerseits in ein reflektierendes Subjekt, das unter der Form der Einheit der Apperzeption stehend denkt, falle, ist nicht von der Hand zu weisen, doch wird damit die bestehende Inkompatibilität nicht beseitigt, sondern besteht in Gestalt des nicht mit sich und seiner Existenz in Einheit seienden unglücklichen Bewußtseins fort: Das reflektierende Subjekt in der Position des herrschenden erkennte sich als letzten Zweck der Natur, der einerseits ein Naturzweck sei, andererseits als realisierter Zweck die Möglichkeit freier Zwecksetzung zum Resultat habe. Zur Hervorbringung der Möglichkeit freier Zwecksetzung schiene die Herrschaft, die den Beherrschten allerdings diese Möglichkeit verweigerte, unabdingbar. Obgleich als Zweck der Natur von ihr hervorgebracht, unterschiede das herrschende Subjekt sich von ihr in dem Vermögen der Reflexion und der freien Zwecksetzung. Die Voraussetzung des Unterschieds zur Natur, die Herrschaft, als ein naturhaftes Verhältnis zu bestimmen, mystifiziert den Widerspruch, als Zweck der Natur Natur und als realisierter Zweck zugleich von ihr unterschieden zu sein. Der Widerspruch, sowohl Natur als auch nicht Natur zu sein, stellte sich dem reflektierenden Subjekt in der Position als beherrschtem verkehrt dar. Als reflektierendes Subjekt wäre ihm mit dem erkannten Unterschied seiner und des Subjekts des Schlusses, der Kultur als letztem Zweck der Natur, die Notwendigkeit der Herrschaft erkennbar. Es erkennte sich als notwendiges Mittel

126

Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft

der Realisierung des Zwecks der Natur. Da die Mittel der Realisierung des letzten Zwecks der Natur jedoch Gegenstände der Natur sind, erkennte das beherrschte reflektierende Subjekt sich als bloße Natur. Die Erkenntnis seiner selbst als Natur ist Resultat eines Vermögens, das nicht Natur sein kann, doch ohne Natur als Grundlage seiner Existenz Nichts wäre. Das in seiner Reflexion freie, jedoch in seiner Existenz beherrschte Subjekt, würde sich in seinen Handlungen als Natur erkennen, doch in seiner Reflexion sich als unterschieden von der Natur voraussetzen müssen. Als Naturzweck wäre es das Mittel, den letzten Zweck der Natur, der die Möglichkeit freier Zwecksetzung zum Resultat habe, zu realisieren.584 In Termini der Kritik der praktischen Vernunft lautete dies, daß der transzendentalen Freiheit des intelligiblen Charakters seiner unfreien Existenz als empirischer Charakter inkompatibel wäre. Die nachgewiesene doppelte Bestimmung des letzten Zwecks der Natur, sowohl als Zweck der Natur ein Naturzweck zu sein als auch als letzter Zweck unbedingt, frei zu sein, das heißt, sowohl Natur als auch nicht Natur zu sein, ist die Erklärung der Unterscheidung der Gattung in Herrschende und Beherrschte. Weder dem Vermögen der Reflexion noch ihrer leiblichen Existenz nach sind Herrschende und Beherrschte unterschieden. Darin, daß die Möglichkeit der Herrschenden, technisch-praktisch frei zu handeln, Wissenschaft und Kunst zu betreiben, den Beherrschten verwehrt bleibt und sie so zu Mitteln der Realisierung der Möglichkeit der Freiheit der Herrschenden werden, sind sie unterschieden. Die Realisierung des letzten Zwecks der Natur bereite die Menschen auf ihren Endzweck vor. Die schöne Kunst und die Wissenschaften machten die Menschen zwar "nicht sittlich besser, doch gesittet (.,.)."585 Sei der sittliche Zustand der Realisierung des Endzwecks vorbehalten, hätte der sittliche Zustand den gesitteten als Vorbereitung zur Voraussetzung. Bestehe der sittliche Zustand in der "Herrschaft (...), in welcher die Vernunft allein Gewalt haben soll (...)"586, dann hätte die Herrschaft der Vernunft die Herrschaft in Gestalt der Ungleichheit innerhalb der Gattung als Vorbereitendes zur Voraussetzung, die Sittlichkeit die Sitte, die als letzter Zweck der Natur nur durch die Herrschaft zu erreichen wäre. Die so bestimmte Sitte wäre jedoch mit der Sittlichkeit, zu der sie vorbereiten 584

585 586

Christian Wohlers kommt zu dem Schluß, daß in der kantischen Begründung des Systems von Zwecken das Mittel und der Zweck identisch seien. Es entgeht ihm jedoch, weil die einschlägigen Passagen aus der Kritik der Urteilskraft nicht diskutiert werden, daß dieses die Ungleichheit in die Gattung hineinbringt: "Gerade eine solche Identität von Werkzeug, Werkzeugbenutzer und dem Zweck, dem die Benutzung dieses Werkzeugs dient, ist im Falle der Vernunft gegeben, denn die Vernunft bringt die Natur als System hervor, indem sie eine interne Struktur ihrer selbst - also ihre eigene Systematik - in der Natur wiederkehren läßt. Ein solches Verfahren ist nur in dem Falle nicht einfach zirkulär, in dem die Vernunft sich hierin selbst als Teil dessen begreift, das sie beschreibt."(Kants Theorie der Einheit der Welt, 238). KU, 433, 395, § 83. Ebda.

Die Kritik der teleologischen Urteilskraft

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solle, nicht kompatibel. Die Ungleichheit innerhalb der Gattung steht dem Sittengesetz entgegen. In ihrer Genesis wäre die Sittlichkeit mit einem Makel behaftet, der nicht das Sittengesetz selbst kritikabel werden läßt, sondern die empirischen Bedingungen, unter denen Freiheit, die Kant in die moralisch-praktische und technisch-praktische unterscheidet, möglich würde, moralisch degradierte. Die Unterscheidung von technisch-praktischer und moralisch-praktischer Freiheit ist wesentlich für die moralische Kritik an der Voraussetzung ihrer Entstehung. Die moralisch-praktische Freiheit hätte die technisch-praktische Freiheit als das sie Vorbereitende zur Voraussetzung. Die Möglichkeit der technisch-praktischen Freiheit hätte ihrerseits Herrschaft zur Voraussetzung. So würde die Voraussetzung dessen, was zur Vorbereitung auf die Sittlichkeit notwendig sei zur Möglichkeit der Kritik an dieser Voraussetzung. In der Bestimmung des letzten Zwecks und in dessen Verhältnis zu der Bestimmung des Endzwecks ist jeweils ein Widerspruch enthalten. Der eine Widerspruch besteht darin, daß in der Realisierung des letzten Zwecks der Natur ein bruchloser Übergang von Natur zu technisch-praktischer Freiheit behauptet wird. Die Hervorbringung und Anwendung des Vermögens, sich technisch-praktisch frei Zwecke zu setzen, nennt Kant Kultur. Diese Kultur hat als zum Endzweck Vorbereitendes den Makel an sich, auf Herrschaft zu beruhen. Damit widerspricht der moralisch bestimmte Endzweck seiner Voraussetzung, die zwar nicht als ihn Realisierendes, aber doch ihn Vorbereitendes bestimmt ist. Dreh- und Angelpunkt der Möglichkeit von Kritik an der, unter Bedingungen der Herrschaft hervorgebrachten, Kultur ist der Unterschied zwischen den Bestimmungen des letzten Zwecks der Natur und dem Endzweck. Den letzten Zweck bestimmt Kant als Naturzweck, womit die technisch-praktische Freiheit durch Natur hervorgebracht würde. In der Kultur werde "der Zweck der Natur selbst, wenn es gleich nicht unser Zweck ist, (...) doch hiebei erreicht."587 Dieser Zweck, der nicht der der Menschen, sondern der Natur sei, erfülle die Funktion, auf den Endzweck vorzubereiten. Als auf den sittlichen Zustand Vorbereitendes, sei er notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung des sittlichen Zustande. Den Endzweck und damit den sittlichen Zustand zu realisieren, sei etwas, "was er selbst [der Mensch, T.S.] thun muß (...)."58s Mit der Unterscheidung von letztem Zweck und Endzweck bewahrt Kant sich davor, noch die moralisch-praktische Freiheit oder die Sittlichkeit als Resultat der tätigen Natur zu bestimmen. Die durch vertikale Arbeitsteilung entwickelte Geschicklichkeit ist von einem bestimmten Niveau ihrer Entwicklung an nicht ohne horizontale Arbeitsteilung und Kooperation denkbar. Unabhängig von der Affirmation der Herrschaft fällt Kant mit der in der Geschicklichkeit enthaltenen horizontalen Arbeitsteilung und Kooperation ein richtiges Urteil über eine technisch-praktische Bedingung des 587 588

KU, 432,393, § 83. KU, 431,391, §83.

128

Freiheit und Natur in der Kritik der Urteilskraft

Systems des Wissens. Im arbeitsteilig kooperierenden Wissenschaftsprozeß ist die Geschicklichkeit zum einen notwendige Bedingung jeder experimentellen Einzelwissenschaft, zum anderen entspricht der in der Geschicklichkeit angelegten Arbeitsteilung und Kooperation die arbeitsteilige Forschung an verschiedenen Gegenstandsbereichen589, deren Funktion in der Partikularisierung der Natur als Idee der Einheit aller Gegenstände möglicher Erfahrung besteht. Die arbeitsteilig oder auch parallel hervorgebrachten partikularen Resultate müssen jedoch immer unter der Idee der Form eines Ganzen aller Erkenntnisse stehen können und damit, wie in dem kooperativen Arbeitsprozeß die Resultate der Teilarbeiten, zusammenschließbar sein. Zwei Varianten der Vereinigung von Mechanismus und Teleologie, ohne diese als solche zu kennzeichnen, hat Kant gegeben. Die erste Variante führte auf den Nachweis der Übersinnlichkeit beider Prinzipien als Grund ihrer Vereinigung. Die zweite führte auf die asymmetrische Vereinigung von Teleologie und Mechanismus in der Realisierung eines Zwecks.590 Die asymmetrische Vereinigung von Teleologie und Mechanismus erscheint in der Realisierung des letzten Zwecks der Natur in Gestalt der Herrschaft. Die nicht nur auf dem Vermögen der Reflexion gegründete, sondern die so realisierte materielle Distanz des Herrschenden gegenüber der ersten Natur erhebt ihn über diese. In der Realisierung des letzten Zwecks der Natur ist der intelligible Charakter des Beherrschten reduziert auf ein Instrument der zweckmäßigen Führung und Bearbeitung der Mittel. Sein empirischer Charakter ist als Natur von anderen organisierten Wesen, die als Naturzwecke bestimmt sind, nicht zu unterscheiden. In der Herrschaft von Menschen über Menschen ist damit die doppelte Bestimmung des Menschen, Naturzweck und Zweck der Natur zu sein, enthalten.591 In der Kultur, so wie sie existiert und deren Bedingung von Kant richtig bestimmt sind, sind Natur und technisch-praktische Freiheit in Einheit. Der Preis dieser Einheit ist die kritiklose Affirmation der Herrschaft samt ihren unglückseligen Folgen für den größten Teil der Menschheit. Wenngleich Kant die Herrschaft nicht kritisiert, sondern sie als Vorbereitung der Sittlichkeit ansah, enthält die Unterscheidung des letzten Zwecks der Natur vom Endzweck oder die Unterscheidung der technisch-praktischen Freiheit von der moralisch-praktischen die Möglichkeit der Kritik an dieser Herrschaft.592 So ist die Vereinbarkeit von 589

590 591 592

"Die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft, der eindeutigen Fixierung von isolierten Naturzusammenhängen, sind zugleich die der gesellschaftlichen Arbeit, die durch die Kombination der eindeutig fixierten Naturzusammenhänge in der Maschinerie und der Integration der Einzelarbeiten in der industriellen Produktion bestimmt ist. "(Peter Bulthaup: Die transzendentale Einheit der Apperzeption, das System des Wissens und der Begriff gesellschaftlicher Arbeit, 100). Vgl. Kapitel 3.2.6 dieser Arbeit. Vgl. KU, 429 f., 388 f., § 83. "Die Ungleichheit wird nur für die Entwicklung der Kultur als notwendig angesehen, nicht aber moralisch gerechtfertigt."(Klaus Düsing: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 219 Fn).

Die Kritik der teleologischen Urteilskraft

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Natur und Freiheit zu unterscheiden in die von Natur und technisch-praktischer Freiheit und die von Natur und moralisch-praktischer Freiheit, die noch aussteht.593

593

Diese Unterscheidung teilt Klaus Düsing nicht. Vgl. Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 231.

4 Der Schluß auf das Absolute und die Einheit des Systems 4.1 Zum ontologischen Gottesbeweis Gegenstand der Philosophie ist das Absolute. Sie ist Wissenschaft des Absoluten. Kant schreibt: "Das System aller philosophischen Erkenntnis ist nun P h i l o s o p h i e . " 5 9 4 Ist die Philosophie das System aller philosophischen Erkenntnis, ist sie die Einheit der Philosophie der Moral und der Philosophie der Natur.595 "Die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft (Philosophie) hat nun zwei Gegenstände, Natur und Freiheit, und enthält also sowohl das Naturgesetz, als auch das Sittengesetz, anfangs in zwei besonderen, zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System. Die Philosophie der Natur geht auf alles, was da ist; die der Sitten, nur auf das, was da sein soll." 596 Wie die unterschiedenen Wissenschaften, müssen auch deren Gegenstände, Natur und Freiheit, als in einem System vereinbar begründet werden. Da das, was da ist, von dem, was da sein soll, unterschieden ist, bedarf die Philosophie des Prinzips, das ihr System begründet. "Die Welt muß als aus einer [Hervorhebimg von mir, T.S.] Idee entsprungen vorgestellt werden, wenn sie mit demjenigen Vemunftgebrauch, ohne welchen wir uns selbst der Vernunft unwürdig halten würden, nämlich dem moralischen, als welcher durchaus auf der Idee des

594

KrV, 752 f., Β 866.

595

Es ist nicht Gegenstand dieser Arbeit, die Entwicklung der Konzeption des Systems darzustellen. Arbeiten jüngsten Datums hierzu sind, meines Kenntnisstandes nach, die von Hans Friedrich Fulda und Jürgen Stolzenberg herausgegebenen Vorträge in: Architektonik und System in der Philosophie Kants, und der Voitrag von Dieter Henrich: Systemfoim und Abschlussgedanke: Methode und Metaphysik als Problem in Kants Denken. Im Anschluß an die These von Dieter Henrich ist im folgenden meine Argumentation auf den Widerspruch im Schluß auf das Absolute als Grund der Einheit von Natur und Freiheit Gegenstand konzentriert bzw. eingeschränkt. "Allerdings ist, worauf Kant selbst als Systemkonzeption ausging, keinen wie immer verborgenen oder verstreuten Texten Kants, oder auch allen seinen Texten zusammengenommen, verlässlich zu entnehmen. Wer die Systemkonzeption der kritischen Philosophie auch nur in ihrer historischen Gestalt begreifen und verdeutlichen will, ist also darauf angewiesen, sie sich sowohl in exegetischer wie auch argumentanalytischer Kombinations- und Auslegungsarbeit selbstständig zu erschließen."(Systemform und Abschlussgedanke: Methode und Metaphysik als Problem in Kants Denken, 97). 596 KrV, 755, Β 868.

Zum ontologischen Gottesbeweis

131

höchsten Guts beruht, zusammenstimmen soll."597 Die Idee der Vereinbarkeit von Sittlichkeit und sinnlicher Natur, von Freiheit und Natur ist die Idee des gemeinsamen Ursprungs im göttlichen Akt der Schöpfung. Die Schöpfung ist die Unterscheidung, das Schöpfende die Einheit beider. Die zunächst nichttheologische Bestimmung Kants, daß die Philosophie das System aller philosophischen Erkenntnisse sei, ist damit auf die Theologie verwiesen. Die Theologie, die ihrem Begriff nach das Absolute dem menschlichen Erkenntnisvermögen zugänglich machen will, setzt die Unterschiedenheit ihrer vom Absoluten voraus. Da keine Erkenntnis eines Gegenstands vom Gegenstand dieser Erkenntnis bewirkt ist, ist es ein Akt der Freiheit des Denkens, die im Absoluten in Einheit seiende Natur und Freiheit und damit das Absolute selbst zu erschließen. Dieser Schluß auf das Absolute ist der Beweis Gottes, zu dem in der Tradition einige Varianten entwickelt sind.598 Der kosmologische Gottesbeweis schließt von dem Seienden auf dessen Urheber, vom effectus auf die causa.599 Daß Seiendes sei, ist ein assertorisches Urteil. Seiendes ist und es kann nicht gesagt werden, daß es notwendig so ist, wie es ist. Im Schluß von dem Seienden auf den Urheber dieses Seienden wird von der Prämisse auf die Konsequenz die Modalität gewechselt. Der kosmologische Gottesbeweis beruht damit auf dem logischen Fehler des Wechsels der Modalität im Schluß. Um diesen logischen Fehler zu vermeiden, müßten Beweisgrund und Beweisthema unter derselben Modalität stehen. Das Medium des Beweises, das vom Beweisgrund sich nicht strikt unterscheiden läßt, ist jedoch immer das Denken eines endlichen Subjekts, dessen Existenz nicht notwendig ist. Der Mangel des kosmologischen Gottesbeweises ist der Ausgangspunkt des ontologischen Gottesbeweises von Anselm von Canterbury.600 Der ontologische Gottesbeweis enthält zwei Elemente, die im Beweis systematisch aufeinander bezogen sind: Erstens, wäre alles, was gedacht werden kann, dem Bewußtsein immanent, könnte die Differenz von dem, was gedacht wird, und dem Denken nicht gedacht werden. Das Denken ist jedoch in der Lage den Unterschied seiner

597 598

599 600

KrV, 736, Β 843 f. Dem Thema schlechthin der Philosophie diese Kürze der Erörterung beizumessen, ist mißlich, doch - nicht nur aufgrund der Themensetzung dieser Arbeit - zumindest durch ein Argument zu rechtfertigen: Da Beweisthema und Beweisgrund dieselben sind, höbe die Widerspruchsfreiheit eines Beweises alle anderen Beweisvarianten auf. "Eine Mehrheit von Ausgangspunkten können wir uns unbefangen gefallen lassen; sie thut der Forderung, zu der wir uns berechtigt glaubten, daß der wahrhafte Beweis nur Einer sey, für sich keinen Eintrag, insofern derselbe (...), obgleich von verschiedenen Anfängen aus genommene Weg aufgezeigt werden kann."(Hegel: Vorlesungen über das Daseyn Gottes, 416 f., (achte Vorlesung)). "Gelänge der ontologische Beweis, so würden durch ihn alle anderen Beweisveisuche überflüssig."(Dieter Henrich: Der ontologische Gottesbeweis, 168). Vgl. Dieter Henrich: Der ontologische Gottesbeweis, 174. Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 33 ff.

132

Der Schluß auf das Absolute und die Einheit des Systems

und der gedachten Gegenstände denkend sich zum Gegenstand zu machen.601 Durch diesen Unterschied kann das Denken den Gedanken, dem eine Realität korrespondiert von dem Gedanken, dem keine Realität korrespondiert, unterscheiden. Der Gedanke, dem eine Realität korrespondiert, erfaßt sich und ein Sein und damit mehr als der Gedanke, dem ein Nichtsein korrespondiert. Der Gedanke Anselms, daß ,Gott das sei, über dem nichts Größeres könne gedacht werden'602, schließt die Realität des Gedachten mit ein. Wäre das, ,über dem nichts Größeres könne gedacht werden', als nichtseiend zu denken, so wäre der Gedanke nicht das, ,über dem nichts Größeres könne gedacht werden', da zu dem Gedanken immer noch sein Sein, die dem Gedanken korrespondierende Realität, zu denken wäre. Das, ,über dem nichts Größeres könne gedacht werden', ist damit die Realität des Gedachten oder der Begriff der "an sich selbst schon ein Sein ausdrückt und daher Realität (Sachheit) genannt wird (...)."603 Zweitens, dem schließenden Subjekt ist die Endlichkeit seiner Existenz und seines Denkens als ein Mangel bewußt. Dieser Mangel ist nur als das Nichtsein von etwas ohne Mangel, das heißt als privative Negation des vollkommenen Subjekts der privativen Negation, denkbar. Vom Resultat der privativen Negation wird geschlossen auf das Subjekt der privativen Negation, von der Endlichkeit des schließenden Subjekts auf die Unendlichkeit des Subjekts der privativen Negation. Notwendig ist dieser Schluß deshalb, weil die Annahme des Resultats einer privativen Negation ohne das Subjekt der privativen Negation logisch unmöglich ist.604 Da das schließende Subjekt und das Resultat der privativen Negation identisch sind, umfaßt das schließende Subjekt im Schluß sich und das Subjekt der privativen Negation, das Unendliche oder Vollkommene. Der Schluß auf das Absolute enthält folglich einen Widerspruch im schließenden Subjekt: Einerseits identifiziert sich das schließende Subjekt im Schluß notwendig mit dem Subjekt der privativen Negation, dem Absoluten. Andererseits muß es unterschieden von dem Absoluten sein, da das schließende Subjekt zugleich das Resultat der privativen Negation ist. Das schließende Subjekt denkt sich als Unendliches, Vollkommenes und Endliches, Unvollkommenes zugleich. Als unendliches Denken ist es das transzendentale Subjekt Kants, das als "Ich, oder Er, oder Es

601

602 603 604

Am methodischen Zweifel Descartes' ist dies demonstrieibar. Vgl. Ren6 Descartes: Meditationes de prima philosophia, II. Meditation, 41 ff. Vgl. Anselm von Canterbuiy: Proslogion, 85 ff., (insbesondere die Kapitel 2 bis 5). KrV, 554, Β 602. Vgl. 229, Β 217. Auch Dieter Henrich weist auf das Element der privativen Negation im ontologischen Gottesbeweis hin, doch wird ihm keine besondere Funktion zuerkannt (vgl. Der ontologische Gottesbeweis, 141). Indem Giovanni Sala behauptet, daß die privative Negation sachlich nicht zu der Argumentation des transzendentalen Ideals gehöre, entgeht ihm dieses Element: "Nun aber sind solche transzendentalen Verneinungen (Nichtsein) nur von den entgegengesetzten Bejahungen (Sein) her zu verstehen. Gerade wegen dieses abkünftigen Charakters gehören sie nicht in das transzendentale Ideal als ursprünglichen Begriff."(Kant und die Frage nach Gott, 245). Vgl. Kant und die Frage nach Gott, 248,250,258.

Zum ontologischen Gottesbeweis

133

(...)"605 im schließenden Subjekt unabhängig von der Individualität dieses Subjekts denkt. Endlich ist das Denken darin, daß es das Denken empirischer Subjekte ist. Diese Endlichkeit ist im transzendentalen Subjekt aufgehoben zum einen dadurch, daß die erkannten Resultate der Wissenschaft für jedes denkende empirische Subjekt gelten, selbst wenn es sie nicht kennt, und zum anderen in der Tradierbarkeit dieser Resultate. Das Denken ist als unendliches dem Absoluten analog und erkennt die eigene Endlichkeit in seiner mangelhaften Existenz. Denkt das empirische Subjekt das, ,über dem nichts Größeres könne gedacht werden', erschließt es sich eine Realität, die ihm nicht analog ist. Wären das Resultat der privativen Negation und das Subjekt der privativen Negation durch das schließende Subjekt auch der Realität nach identisch gesetzt, höbe der Schluß sich selbst und damit den ontologischen Gottesbeweis auf. In ihrer Gottgleichheit litten die empirischen Subjekte keinen Mangel und wären der Erlösung nicht bedürftig. Der ontologische Gottesbeweis basiert damit auf der doppelten Bestimmung des schließenden Subjekts als empirisches Subjekt, dessen endliche Existenz das Denken determiniert und so als Prämisse in den Schluß auf das Absolute eingehen kann, und als transzendentales Subjekt, dessen Unendlichkeit im Schluß auf das Absolute an es heranreicht. Der Widerspruch, daß das Denken endlich und unendlich zugleich sei, ist durch die Distinktion von empirischem und transzendentalem Subjekt nicht gelöst. Sind schließendes Subjekt und Resultat der privativen Negation identisch, kann es keinen apodiktischen Schluß auf das Subjekt der privativen Negation geben, da die Endlichkeit des Denkens nicht nur durch die endliche Existenz des empirischen Subjekts determiniert ist, sondern dem Denken empirischer Subjekte die Möglichkeit des Irrtums zukommt. Die Erkenntnis, die auch Resultat irrenden Denkens sein kann, steht unter der Modalität der Möglichkeit. Darin, daß das Beweisthema und der Beweisgrund wie beim kosmologischen Gottesbeweis nicht unter derselben Modalität stehen, sind der kosmologische und ontologische Gottesbeweis systematisch verschränkt.606 Sind dagegen schließendes Subjekt und Subjekt der privativen Negation identisch, ist das Denken das Denken des Absoluten. Genitivus subiectivus und Genitivus obiectivus sind am Denken des Absoluten nicht zu unterscheiden. Diese Identität hat zur Konsequenz, daß mit dem Resultat der privativen Negation nicht nur die Prämisse des Schlusses, sondern auch der Unterschied zwischen dem Denken des schließenden Subjekts und dem, was gedacht wird, dem Subjekt der privativen Negation oder dem Subjekt des Schlusses entfällt. Ohne den Unterschied zwischen Denken und dem, was gedacht wird, ist aber überhaupt nicht zu denken, auch keine Philosophie als Wissenschaft des Absoluten. Der Widerspruch hat folglich zum Resultat, daß das Verhältnis des 605 606

KrV, 374, Β 404. "Die klassischen Beweise und vor allem der ontologische sind aber zugleich von dem kosmologischen Problem des ,ens necessarium' bestimmt."(Dieter Henrich: Der ontologische Gottesbeweis, 141).

134

Der Schluß auf das Absolute und die Einheit des Systems

schließenden Subjekts zu dem Subjekt Schlusses oder dem Subjekt der privativen Negation sowohl affirmativ als auch negativ sein muß. Das ist der rationale Gehalt der Insistenz Kants darauf, daß das Übersinnliche, das Urwesen oder Gott sein müsse, ohne jedoch bejahend von ihm etwas aussagen zu können.607

4.2 Zu den analogen Schlüssen auf das Dasein Gottes Kant kritisiert den ontologischen Gottesbeweis und führt ihn implizit, bisweilen auch vermittels offenkundiger Anleihen, die in der Kritik der reinen Vernunft im Schematismus und in den Antizipationen der Wahrnehmung darin bestehen, daß der Begriff der Realität der Begriff sei, der "an sich ein Sein (...)"608 enthalte. Demonstriert609 werden soll die analoge Argumentationsweise in der Kritik der reinen Vernunft am transzendentalen Ideal, in der Kritik der praktischen Vernunft am Postulat über das Dasein Gottes und in der Kritik der Urteilskraft am moralischen Beweise des Daseins Gottes.

4.2.1 Kritik der reinen Vernunft Zwei Momente des Naturbegriffs sind Resultat der beiden Fassungen der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe.610 Die Bestimmung des einen Moments der Natur als Reflexionsbegriff ist zweifach: erstens als "Inbegriff von Erscheinungen (...)" 6n und zweitens als "Menge von Vorstellungen des Gemüts (...)."612 Diese zweifache Bestimmung der Natur durch die Begriffe der intensionalen und extensionalen Totalität ist in der Erörterung des transzendentalen Ideals thematisch. Das transzendentale Ideal ist die Idee, der eine objektive Realität zukommen muß. Das transzendentale Ideal wird der "durchgängigen Bestimmung in unserer Vernunft (...)" als "transzendentales Substratum zum Grunde gelegt (...), [das, T.S.] nichts anderes, als die Idee von einem All der Realität (,..)"613 ist. Das transzendentale Ideal hat so dieselbe Funktion wie der transzendentale Gegen607

608 609

610 611 612 613

Vgl. KU, 410, 353 f., § 77, vgl. 412, 358, § 78, vgl. 413, 359 f., § 78 etc. Vgl. KrV, 557, Β 607, vgl. 648, Β 729. Vgl. KpV, 124,223 ff., vgl. 142,256 f. KrV, 229, Β 217. Vgl. 201, Β 182. Vgl. die umfangreiche, ζ. T. absatzweise vorgehende Abhandlung von Giovanni Sala: Kant und die Frage nach Gott, 219-252. Vgl. Kapitel 1.2.1 dieser Arbeit. KrV, 166a, A 114. Ebda. KrV, 555, Β 603.

Zu den analogen Schlüssen auf das Dasein Gottes

135

stand. Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist die Form der Gesetzmäßigkeit aller Gegenstände möglicher Erfahrung. Wäre ihr Inhalt nicht an sich dieser Form kompatibel bestimmt, könnte die Objektivität der Erkenntnisse nicht erklärt werden. Die Erklärung dieser Objektivität fordert deshalb "ein transzendentales Ideal, welches der durchgängigen Bestimmung, die notwendig bei allem, was existiert, angetroffen wird, zum Grunde liegt, und die oberste und vollständige materiale seiner Möglichkeit ausmacht, auf welcher alles Denken der Gegenstände überhaupt ihrem Inhalte nach zurückgeführt werden muß."614 Diese materiale Bedingung ist als Menge aller angeordneten Realitäten und als Inbegriff aller Realität denkbar. Die Extensionalität der Realitäten ist durch die Kategorien Kausalität und Wechselwirkung geordnet. Die durch sie geordnete Extensionalität ist jedoch keine Ordnung nach einem Prinzip, so daß die Totalität im Ganzen erkannt werden müßte, um die hinreichende Ursache einer Wirkung zu bestimmt. Nun ist die extensionale Bestimmung der Totalität der Gegenstände möglicher Erfahrung kein Gegenstand möglicher Erfahrung, was für die intensionale Bestimmung als Inbegriff aller Realität jedoch ebenso zutrifft. Die intensionale Bestimmung als Inbegriff aller Realität enthält aber entsprechend, "analogisch"615, dem disjunktiven Vernunftschluß das Prinzip der Ordnung aller Realitäten616 "und die durchgängige Bestimmung eines jeden Dinges beruht auf der Einschränkung dieses All der Realität, indem Einiges derselben dem Dinge beigelegt, das übrige aber ausgeschlossen wird, welches mit dem Entweder und Oder des disjunktiven Obersatzes und der Bestimmung des Gegenstandes, durch eins der Glieder dieser Teilung im Untersatze, übereinkommt."617 Das traditionelle Modell der Ordnung aller Realitäten durch Ableitung von der obersten und vollständigen materialen Bedingung ist die ,abor porphyriana'. Durch die garantierte Ordnung entsprechend dem disjunktiven Vernunftschluß ist in der Erkenntnis eines einzelnen Gegenstands implizit die extensionale Totalität aller anderen Gegenstände enthalten, ohne daß diese explizit erkannt können werden müßte.

614 615 616

617

KrV, 555, Β 604. KrV, 556, Β 605. Brigitte Falkenburg macht deutlich, daß sowohl die extensionale als auch die intensionale Bestimmung der Totalität bei Kant auftauchen. Abweichend von ihrer Auffassung ist die kantische Theorie der Natur jedoch nicht nur eine extensional bestimmte Theorie: "Im Rahmen der modernen Logik sind sie [systematische, nicht-extensionale Verhältnisse, T.S.] nicht erfaßbar. Genauso wenig sind sie in der reinen Form der Anschauung konstruierbar, die Kants Theorie der Natur zu einer extensionalen Theorie macht. Kant benötigt jedoch Kriterien daflir, wie man eine wissenschaftliche Theorie erzeugt und wann sie vollständig ist. Die nicht-extensionalen Prinzipien, nach denen ein Erkenntnissystem zusammenhängt, müssen ähnlich wie die reinen Verstandesbegriffe schematisiert werden (...)."(Brigitte Falkenburg: Kants Forderungen an eine wissenschaftliche Metaphysik der Natur, 310). KrV, 556, Β 605.

136

Der Schluß auf das Absolute und die Einheit des Systems

Obzwar Kant den ontologischen Gottesbeweis explizit in der Kritik der reinen Vernunft kritisiert, sind die zwei ausgeführten Elemente des ontologischen Gottesbeweises in der Argumentation zum transzendentalen Ideal zu finden: Erstens, das transzendentale Ideal ist der Inbegriff aller Realität oder der "höchsten Realität (,..)."618 Als höchste, oberste oder vollständige Realität619 ist es das, ,über dem nichts Größeres könne gedacht werden', und muß folglich die Realität seiner selbst einschließen.620 Schlösse das transzendentale Ideal, das höchste Wesen oder Gott die Realität seiner selbst nicht ein, enthielte es alle Realität und zugleich nicht alle Realität, da die seinige fehlte. Zweitens, die Einschränkung des Alls der Realität hat "mangelhafte Kopien (ectypa) (...)"621 zum Resultat. Sie bilden als Resultat der privativen Negation622 die Prämisse des Schlusses auf das Subjekt der privativen Negation als "Urbild (Prototypen) aller Dinge (...)."623 Das schließende Subjekt erschließt sich als transzendentaler Einheit der Apperzeption damit eine höchste Realität als Garanten der Objektivität seiner Erkenntnisse.624 Die garantierte Objektivität der Erkenntnisse durch die Einschränkung der höchsten Realität gemäß dem disjunktiven Vernunftschluß hat jedoch einen affirmativen Begriff der Totalität zur Konsequenz, der widersprüchlich ist. Als Inbegriff aller Realität ist es reines Sein und nicht Nichts, das aber in seiner

618 619

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624

KrV, 557, Β 606. Heinz Heimsoeth hat deutlich gemacht, daß in der Argumentation am transzendentalen Ideal dieses sowohl logisch als auch ontologisch bestimmt ist: "Jenem Fonngrundsatz der Bestimmbarkeit tritt also hier ein materialer Totalitätsgedanke als oberste Voraussetzung unsres Erkennens, des denkenden Bestimmens gegenüber."(Transzendentale Dialektik: Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, 428). "Denn zum ontologischen Beweis gehört wesentlich die Prämisse, daß der Begriff des Daseins im Gottesbegriff gedacht werden muß."(Dieter Henrich: Der ontologische Gottesbeweis, 142). KrV, 556, Β 606. Es ist kein Zufall, daß Kant das traditionelle Modell der privativen Negation, die Blindheit (vgl. Aristoteles: Metaphysik, 121,1022b 22 ff.), zuvor aufgreift. Vgl. KrV, 554, Β 603. Giovanni Sala erkennt nicht die Funktion der privativen Negation im Gottesbeweis: "Zu bemerken ist, daß hier der einzelne Gegenstand wieder als Einschränkung derjenigen Totalität aufgefaßt wird, die die Materie zur Möglichkeit aller Gegenstände der Sinne ist. Ein solches Verhältnis ist, wie schon im Abs. 11 gesehen, nicht unproblematisch."(Kant und die Frage nach Gott, 254). KrV, 556, Β 606. Auch wenn dieselben Termini verwendet werden, sind die abgeleiteten und deshalb mangelhaften Realitäten zu unterscheiden von dem Modell der natura archetypa und natura ectypa der reinen praktischen Vernunft. Der sinnlichen Natur, der Heteronomie, die Form der übersinnlichen Natur, der Autonomie zu verschaffen, ist in Analogie zu dem disjunktiven Vernunftschluß nicht denkbar. Das Modell der natura archetypa und natura ectypa ist nur denkbar, wenn die sinnliche Natur vollständig die Form der übersinnlichen Natur annähme. "Sie [die transzendentale Einheit der Apperzeption, T.S.] könnte der «transzendentale Grund»[nachgewiesen durch: KrV, A 127, T.S.] der Naturgesetze nur sein, wenn sie wäre, was sie nicht ist: der absolute Ursprung der Natur."(Karl Heinz Haag: Der Fortschritt in der Philosophie, 86). Im Schluß auf die höchste Realität ist die transzendentale Einheit der Apperzeption von dieser oder dem transzendentalen Ideal nicht zu unterscheiden. Daß Karl Heinz Haag diese affirmative Beziehung kritisiert, führt zur negativen Beziehung zurück, und ist damit eine Formulierung des Widerspruchs im Schluß auf das Absolute.

Zu den analogen Schlüssen auf das Dasein Gottes

137

Bestimmungslosigkeit vom Nichts nicht zu unterscheiden ist. Dieser Widerspruch625 ist die Grundlage der Kritik am Absoluten. Zugleich ist er die adäquate Bestimmung des Absoluten. Als Schöpfer ist es die oberste Einheit, deren Widerspruch, in das Werden transponiert626, zum Movens der Schöpfung des von ihm Unterschiedenen, Daseienden wird. In der rekursiven Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von existierender Wissenschaft ist die Genesis von der Geltung wissenschaftlicher Urteile zu unterscheiden. Die Restriktion der Anwendung der Kategorien auf partikulare Systeme von Gegenständen ist notwendige Bedingung unter der Erkenntnisse zu gewinnen sind. Diese Partikularisierung ist Resultat der Freiheit. Notwendige Bedingung der objektiven Geltung dieser Erkenntnisse ist dagegen die durchgängige Bestimmtheit aller Gegenstände, die diese Freiheit ausschließt. Der Gehalt der Alternative, die zu entscheiden Kant am transzendentalen Ideal sich geweigert hat, entweder keine Objektivität der Erkenntnisse oder die garantierte Objektivität der Erkenntnisse durch das zwangsläufig zu hypostasierende transzendentale Ideal als Inbegriff aller Realität, ist die Möglichkeit der Freiheit. Sie schließt in ihrer doppelten Bestimmung als transzendentale und praktische Freiheit die Möglichkeit des Irrtums der theoretischen Vernunft ein, aber auch die Möglichkeit der Kritik der als amoralisch erkannten Erscheinungen der zweiten Natur durch die praktische Vernunft. Der Preis der Objektivität der Erkenntnisse ist die affirmative Begründung der ersten und zweiten Natur. Die affirmative Begründung der ersten Natur durch das transzendentale Ideal627 tilgte mit der durchgängigen Bestimmung aller Gegenstände die transzendentale Freiheit. Die Affirmation der herrschaftlichen Verhältnisse der zweiten Natur ist jenseits der moralischen Bestimmung des Willens. Die Herrschaft noch zu der Bedingung, die ein "System von Zwecken (...)"628 und damit die Objektivität der Erkenntnisse sichere, zu erklären, ist Indiz dafür, daß der Kant der Kritik der Urteilskraft nicht mehr der der Kritik der reinen Vernunft ist.

625

Die Einheit alles unterschieden Seienden in "einer einzigen obersten Gattung (...)" durch die "Prinzipien der H o m o g e n i t ä t , der S p e z i f i k a t i o n und der K o n t i n u i t ä t (...)"(KrV, 616, Β 686) zu begründen, führt auf denselben Widerspruch. Kant hat diesen Widerspruch gesehen und insofern zu ermäßigen versucht, als daß diese Einheit "eine bloße Idee sei (...), weil die Spezies in der Natur wirklich abgeteilt sind, und daher an sich ein quantum discretum ausmachen müssen (,..)."(KrV, 619, Β 689). Wäre die oberste Einheit eine bloße Idee, reproduzierte sich die Argumentation des ontologischen Gottesbeweises, daß dieser Idee eine Realität zukommen müsse. 626 Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik (1832), 92 ff. ®27 Vgl. Peter Bulthaup: Affirmation und Realität, 109. 628 KU, 429, 388, § 83.

138

Der Schluß auf das Absolute und die Einheit des Systems

4.2.2 Kritik der praktischen Vernunft Das höchste Gut ist zusammengesetzt aus zwei Elementen, dem der Sittlichkeit und dem der Glückseligkeit. Im Subjekt der Willensbestimmung trifft das von Bestimmungsgründen der Natur unabhängige Gebot des moralischen Gesetzes auf das die eigene Glückseligkeit begehrende Vermögen. Terminus ad quem des Postulats vom Dasein Gottes ist die Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit. Jedoch ist "in dem moralischen Gesetz nicht der mindeste Grund zu einem nothwendigen Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionirten Glückseligkeit eines zur Welt als Theil gehörigen, und daher von ihr abhängigen, Wesens, welches eben darum durch seinen Willen nicht Ursache dieser Natur sein, und sie, was seine Glückseligkeit betrifft, mit seinen praktischen Grundsätzen aus eigenen Kräften nicht durchgängig einstimmig machen kann." 629 Ist das moralische Gesetz nicht als Grund der Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit zu bestimmen, muß dieser Grund anderswo liegen. Die Bestimmung eines, allerdings von Kant als defizitär ausgegebenen, Grundes der Einheit ist im Zitat angelegt: Das zentrale Argument ist wie beim transzendentalen Ideal die durchgängige Bestimmung oder Einstimmigkeit. Weil das Subjekt der Willensbestimmung als Teil der Welt von dieser abhängig sei, sei sein Vermögen, die Welt seiner Glückseligkeit entsprechend durchgängig einstimmig zu machen, defizitär. Könnte das Subjekt, dann als nicht defizitäres, die Welt durchgängig einstimmig seiner Glückseligkeit einrichten, genügte diese durchgängige Einstimmigkeit der vom moralischen Gesetz vorgeschriebenen Form der Gesetzmäßigkeit, die ein System ausmache. "Die Sittlichkeit an sich selbst macht ein System aus, aber nicht die Glückseligkeit, außer, sofern sie der Moralität genau angemessen ausgeteilt ist. Dieses aber ist nur möglich in der intelligiblen Welt, unter einem weisen Urheber und Regierer. Einen solchen, samt dem Leben in einer solchen Welt, die wir als eine künftige ansehen müssen, sieht sich die Vernunft genötigt anzunehmen, oder die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der notwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte."630

Analog der am transzendentalen Ideal exponierten Alternative, entweder keine Objektivität der Erkenntnisse oder einen affirmativen Begriff des Absoluten annehmen zu müssen, stellt Kant zur Alternative, entweder sei das moralische Gesetz ein leeres Hirngespinst oder es müsse einen weisen Urheber und Regierer geben, der die durchgängige Bestimmung des Systems der Sittlichkeit auf die 629 630

KpV, 124 f., 224 f. KrV, 733, Β 839. Die Kritik der reinen Vernunft zur Erläuterung des zweiten Postulats der praktischen Vernunft zu zitieren, scheint mißlich, doch sind die systematisch klaren Passagen zum Teü weit über die drei Kritiken verteilt.

Zu den analogen Schlüssen auf das Dasein Gottes

139

Glückseligkeit übertrage, indem er "alle Privatwillkür in sich, oder unter sich befaßt (...)."631 Die Konjunktion des weisen Urhebers mit dem Regierer ist, der kantischen Intention entgegen, doppeldeutig. Nach Kant ist der Regierer der unbeschränkte Gesetzgeber in einer nur intelligiblen Welt oder einem Reich der Zwecke.632 Nach der, im Zitat der Kritik der praktischen Vernunft enthaltenen, Wendung in der Bestimmung eines Grundes der Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit, der nicht im moralischen Gesetz liege, sondern im, allerdings defizitären, Subjekt der Willensbestimmung in der Durchsetzung der eigenen Glückseligkeit liegend gedacht werden kann, ist der Regierer auch als die Säkularisation des Absoluten in einem künftig zu erwartenden Staat, der zum System der Sittlichkeit das der Glückseligkeit ergänzt, zu verstehen. Diese Interpretation hat allerdings einen Wechsel des Gegenstands von der Moralphilosophie zur Geschichts- und Rechtsphilosophie zur Konsequenz. Am zweiten Postulat wird die Doppeldeutigkeit von Urheber und Regierer nicht weiter ausgeführt, sondern, der erklärten Intention Kants folgend, die Argumentation auf den Beweis vom Dasein Gottes gerichtet. "Gleichwohl [das Streben nach Glückseligkeit eines abhängigen Wesens keine Einstimmigkeit, damit keine Einheit von Glückseligkeit und Sittlichkeit ergibt, T.S.] wird in der praktischen Aufgabe der reinen Vernunft, d. i. der nothwendigen Bearbeitung zum höchsten Gute, ein solcher Zusammenhang als nothwendig postulirt: wir s o l l e n das höchste Gut (...) zu befördern suchen. Also wird auch das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesammten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit, enthalte, postulirt." 6 3 3

Von dem Gebot, das höchste Gut zu befördern, schließt Kant auf das Dasein Gottes.634 Die beiden Elemente des höchsten Guts, Sittlichkeit und Glückseligkeit, seien "ganz ungleichartig (...)"635, die Sittlichkeit ist das Prinzip der 631 632 633 634

635

KrV, 732, Β 838. Vgl. GMS, 438. Vgl. KU, 443 f., 413 f. KpV, 125,225. Diesen, a priori nicht einsichtigen, Schluß zu erläutern, bedarf es einiger Argumentationsschritte, die von ζ. T. weit auseinanderliegenden Stellen der Kritik der praktischen Vernunft zu zitieren sind. Vgl. "Der springende Punkt der oben dargelegten Fassung des moralischen Gottesbeweises liegt im Gebot: Wir sollen das höchste Gut verwirklichen."(Giovanni Sala: Kant und die Frage nach Gott, 416). Gegen das Gebot, das höchste Gut zu verwirklichen, seien "schwere Bedenken anführen"(ebda). Giovanni Sala stimmt darin mit Lewis White Beck überein, daß das Gebot gar nicht existiere, zumindest nicht unabhängig von dem kategorischen Imperativ. Vgl. Lewis White Beck: A Commentary on Kant's Critique of Practical Reason, 244 f. Der Ermäßigung wäre zuzustimmen, doch müßten fur die Aussage, die ermäßigt wird, daß das Gebot gar nicht existiere, zuvor Argumente genannt werden. Es verwundert, daß Manfred Kuehns Ausführungen zur transzendentalen Deduktion der Existenz Gottes in der Kritik der praktischen Vernunft weitgehend ohne Analyse des höchsten Guts auszukommen scheinen. Vgl. Kant's Transcendental Deduction of God's Existence as a Postulate of Pure Practical Reason, 152-169. KpV, 112, 202.

140

Der Schluß auf das Absolute und die Einheit des Systems

Form der Gesetzmäßigkeit, das Prinzip der Glückseligkeit hat dagegen eine Materie zum Gegenstand636, die das Begehrungsvermögen affiziert. Die Einheit der Form der Gesetzmäßigkeit und der unter ihr zu subsumierenden Materie von seiten der Glückseligkeit zu begründen, sei, so die erklärte Intention Kants, "unmöglich"637. Deshalb müsse "die bloße Form eines Gesetzes, welches die Materie einschränkt, (...) zugleich ein Grund sein, diese Materie zum Willen hinzuzufügen, aber sie nicht vorauszusetzen."638 Der Widerspruch einer zum Willen hinzuzufügenden apriorisch sittlich bestimmten, aber nicht als solche vorauszusetzenden Materie hat eine solche Bestimmung der Glückseligkeit zur Folge, daß "diese nur die moralisch bedingte, aber doch nothwendige Folge der ersteren [der Sittlichkeit, T.S.] sei."639 Beruht die Möglichkeit des höchsten Guts darauf, daß die Materie der Glückseligkeit immer schon durch das moralische Gesetz als ihre Bedingung "moralisch bedingt" bestimmt ist, besteht die Alternative, daß entweder "die Möglichkeit einer solchen Verbindung des Bedingten mit seiner Bedingung gänzlich zum übersinnlichen Verhältnisse der Dinge gehört, und nach Gesetzen der Sinnenwelt gar nicht gegeben werden kann (,..)"640, oder es muß einen Urheber geben, der die Materie der Glückseligkeit nach der Form der Gesetzmäßigkeit schöpft. Nur dann, wenn die Materie der Glückseligkeit an sich sittlich bestimmt wäre, wären Glückseligkeit und Sittlichkeit in Einheit. Diese Einheit als höchstes Gut zu befördern, ist den Subjekten als Sollen aufgegeben. Das, was soll, ist dessen, was den Inhalt des Sollens ausmacht, noch bedürftig. Das Sollen ist als Ausdruck der Defizienz des unter dem Sollen stehenden Subjekts das Resultat der privativen Negation.641 Vom Resultat der privativen Negation schließt das Subjekt auf das Subjekt der privativen Negation, den Inhalt des Sollens oder das höchste Gut. Dieser Schluß erschließe nur die "Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) (...)"642, da die Wirklichkeit des höchsten Guts mit der Prämisse des Schlusses, den Schluß selbst aufhöbe und die Welt tatsächlich die beste aller möglichen Welten sein müßte. Um der Realisierbarkeit des Sittengesetzes willen hat Kant jedoch die Alternative, entweder das Sittengesetz zu einem Hirngespinst zu erklären, deren Einheit mit der Glückseligkeit gar nicht in der Sinnenwelt gegeben werden könne, oder einen Schöpfer als Garanten der Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit anzunehmen, zweifelsfrei entschieden, dadurch 636 637 638 639 640 641

642

Vgl. KpV, 34,60 f. KpV, 119,214. KpV, 34, 61. KpV, 119,214. Ebda. Vgl. ebda. Das wäre das eine Element des ontologischen Gottesbeweises. Vgl. "Auch Kants Postulatenlehre ist im weiteren Sinne als "ontologischer Gottesbeweis" zu interpretieren."(Georg Picht: Der Begriff der Natur und seine Geschichte, 376). KpV, 125, 226.

Zu den analogen Schlüssen auf das Dasein Gottes

141

daß die "Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten u r s p r ü n g l i c h e n Guts, nämlich der Existenz Gottes (...)"643 einschließe. Der mögliche Einwand, daß ein Postulat der Wirklichkeit nur dann die Wirklichkeit des Postulierten einschließe, wenn das Postulierte der Inbegriff aller Realität sei, ist richtig, doch von Kant dadurch ausgehebelt, daß er zuvor aus der Defizienz des Gebots, das höchste Gut, seitens einzelner Wesen zu befördern, auf die Vollkommenheit des höchsten Guts selbst geschlossen hat und das höchste Gut mit der Glückseligkeit ein materiales Element einschließt, das real sein muß. Darüber hinaus kann der Schöpfer als Grund der Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit kein Schöpfer im Konjunktiv sein, sondern muß sich in seiner Schöpfung in Gestalt der sittlich bestimmten Materie der Glückseligkeit entäußert oder materialisiert haben. Das Postulat der Existenz Gottes schließt somit dessen Existenz ein. Mit der Entscheidung der Alternative zugunsten der Existenz des Grundes der Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit ersteht die Hypostasierung des transzendentalen Ideals in Gestalt des zweiten Postulats der Kritik der praktischen Vernunft wieder: "Die durch die Achtung fürs moralische Gesetz nothwendige Absicht aufs höchste Gut, und daraus fließende Voraussetzung der objectiven Realität desselben, fuhrt also durch Postulate der praktischen Vernunft zu Begriffen, welche die speculative Vernunft zwar als Aufgaben vortragen, sie aber nicht auflösen konnte. (...) 3. Verschafft sie [die praktische Vernunft, T.S.] dem, was speculative Vernunft zwar denken, aber als bloßes transcendentales Ideal unbestimmt lassen mußte, dem t h e o l o g i s c h e n Begriffe des Urwesens, Bedeutung (in praktischer Absicht, d. i. als einer Bedingung der Möglichkeit des Objects eines durch jenes Gesetz bestimmten Willens) (..,)."644

Wenn die Bedeutung des existierenden Urwesens als Bedingung der Möglichkeit des Objekts eines moralisch bestimmten Willens als doppeldeutig zu interpretieren wäre, wäre ein Gedanke anzufügen, der Grund für die Affirmation des höchsten Guts als ein Existierendes sein mag: Der durch den Regierer faktisch garantierten formalen Freiheit und Gleichheit aller Subjekte im bürgerlichen Staat entspräche die Form der Gesetzmäßigkeit des Sittengesetzes. Der von dem Regierer "genau angemessen (,..)"645 ausgeteilten Glückseligkeit entspräche die Garantie der materiellen Seite der Freiheit, das heißt der Ausschluß des größten Teils der Subjekte von den Mitteln der eigenen Reproduktion, der maßgeblich determiniert, was überhaupt Materie der Glückseligkeit als Gegenstand der "Privatwillkür"646 oder des Privatinteresses 643 644 645 644

Ebda. KpV, 132 f., 239 f. KrV, 733, Β 839. KrV, 732, Β 838.

142

Der Schluß auf das Absolute und die Einheit des Systems

werden kann. Dieses .System der Glückseligkeit' wäre nicht von den Bedürfnissen der Subjekte begründet, sondern bestimmte die Materie der Glückseligkeit negativ, durch Ausschluß. Daß Kant zum einen im Kapitel vom Fürwahrhalten seinen Beweis Gottes ins Belieben stellt, da man Gott "nicht beweisen, obgleich auch nicht widerlegen (,..)"647 könne, zum anderen er die, durch gesellschaftliche Verhältnisse faktisch erzeugte, "Einhelligkeit"648 der Privatinteressen in der gesamten Analytik der Kritik der praktischen Vernunft auch als "doch nur zufällig (,..)"649 erkannt hat, macht mit Argumenten Kants diese durchgängige Einstimmigkeit kritikabel.

4.2.3 Kritik der Urteilskraft Kant unterscheidet die physische von der moralischen Teleologie. Die physische Teleologie erfasse nur die relative oder äußere Zweckbeziehung der Naturprodukte, "weil die Zweckbeziehung in ihr immer nur als in der Natur bedingt betrachtet wird und werden muß."650 Der durch die Frage, zu wessen Zweck etwas sei, aufgegebene Regressus "treibt uns zwar an, eine Theologie zu suchen; aber kann keine hervorbringen, so weit wir auch der Natur durch Erfahrung nachspüren, und der in ihr entdeckten Zweckverbindung, durch Vernunftideen (...), zu Hülfe kommen mögen."651 In mit Freiheit begabten Wesen sei dagegen eine moralische Teleologie anzutreffen, die die "Beziehung unserer eigenen Causalität auf Zwecke und sogar auf einen Endzweck (...)"652 sei. Soll die moralische Gesetzgebung in der Natur realisierbar sein, ist mit der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der Realisierung des moralischen Gesetzes in der Natur dieselbe Frage gestellt, die schon im zweiten Postulat der reinen praktischen Vernunft thematisch war.653 Diese Frage setzt den moralischen Endzweck in Beziehung auf 647

648 649 650 651 652 6,3

KpV, 142, 257. Vgl. Manfred Kuehn: Kant's Transcendental Deduction of God's Existence as Postulate of Pure Practical Reason, 167. KpV, 26,47. Ebda. KU, 437,402, § 85. KU, 440,407, § 85. KU, 447,419, § 87. Giovanni Sala weist richtig auf den sachlichen Zusammenhang von der Postulatenlehre aus der Kritik der praktischen Vernunft und dem moralischen Beweis aus der Kritik der Urteilskraft hin. Vgl. Kant und die Frage nach Gott, 438. Dadurch daß Giovanni Sala offensichtlich nicht den in den §§ 83 und 84 eingeführten Unterschied zwischen der Bestimmung des letzten Zwecks und des Endzwecks beachtet, wäre zu erklären, warum er zu dem zu bezweifelnden Schluß, daß der moralische Beweis von der technisch-praktischen Freiheit ausgehe, gelangt: "Endzweck, der in der teleologischen Ordnung das Dasein der kontingenten Welt erklären kann, ist deshalb nur der Mensch. D. h. die verständige Ursache der Welt hat die ganze untermenschliche Schöpfung im Hinblick auf den Menschen als moralisches Wesen geschaffen. Damit ist der Ansatz zu einem

Zu den analogen Schlüssen auf das Dasein Gottes

143

"die äußere Möglichkeit seiner Ausführung (wozu keine physische Teleologie uns Anleitung geben kann) (,..)"654, doch als äußere Möglichkeit der Realisierung notwendig ist. Die Möglichkeit dieser Realisierung setzt die moralische Teleologie in Beziehung zur physischen Teleologie. Die Möglichkeit dieser Realisierung führe "von jener moralischen Teleologie, und ihrer Beziehung auf die physische, zur Theologie (...)." Dem Schluß des kosmologischen Gottesbeweises entsprechend schließt Kant von dem Dasein der Dinge, die "zufällig"656 seien, auf die "oberste hervorbringende Ursache (.,.)"657 derselben oder deren Endzweck. Der problematische Wechsel der Modalität des Schlusses ist nicht thematisch. Diese oberste Ursache oder der Endzweck der Natur, das heißt "aller ihrer Producte (...)"658, sei, die Argumentation des § 84 fortführend, keine andere "als der Mensch (...) unter moralischen Gesetzen (...)."659 Durch die Bestimmung des moralischen Gesetzes werde aus dem vernünftigen Wesen der absolute Endzweck der Natur. Die Begründung dieser These ist ein Schluß vermittels einer Analogie. Von der "eigenthümlichen Beschaffenheit [der moralischen Gesetze, T.S.], daß sie etwas als Zweck ohne Bedingung (,..)"660 seien, wird auf deren Angemessenheit zu der Bestimmung des Endzwecks geschlossen, der, wie das moralische Gesetz, ohne Bedingung oder unbedingt sei. Das Dasein des vernünftigen Wesens als des absoluten Endzwecks der Natur beruhe folglich auf dessen moralischer Bestimmung.661 Die Beziehung desselben vernünftigen Wesens auf die Natur zur Erlangung eigenen Wohlbefindens oder eigener Glückseligkeit setze dieses Wesen dagegen zu einem relativen Zweck oder Glied in der Kette der Naturzwecke herab.662 Da das höchste Gut die Einheit von Glückseligkeit und Sittlichkeit ist, müssen in ihm der relative Zweck und der absolute Endzweck vereint werden. "Diese zwei Erfordernisse des uns durch das moralische Gesetz aufgegebenen Endzwecks können wir aber, nach allen unsern Vernunftvermögen, als durch bloße Naturursachen v e r k n ü p f t , und der Idee des gedachten Endzwecks angemessen, unmöglich uns vorstellen. Also stimmt der Begriff von der p r a k t i s c h e n N o t h w e n d i g k e i t eines solchen Zwecks, durch die Anwendung unserer Kräfte

654 655 656 657 658 659 660 661 662

moralischen Gottesbeweis gegeben, der nicht von der Verbindlichkeit des Sittengesetzes ausgeht, sondern von der Möglichkeit der freien und verantwortlichen Handlungen in der Welt."(438 f.). KU, 447 f., 419, § 87. KU, 448,420, § 87. Ebda. KU, 448,421 f., § 87. KU, 448,422, § 87. Ebda. KU, 449,423, § 87. Vgl. KU, 448 f., 421 ff., § 87. Vgl. ebda.

144

Der Schluß auf das Absolute und die Einheit des Systems

nicht mit dem theoretischen Begriffe von der p h y s i s c h e n M ö g l i c h k e i t der Bewirkung desselben zusammen, wenn wir mit unserer Freiheit keine andere Causalität (eines Mittels), als die der Natur, verknüpfen." 663

Von dem defizitären physischen Vermögen, den durch das moralische Gesetz aufgegebenen Endzweck hervorzubringen, schließt Kant auf die Kausalität des Schöpfers, der vermag, "daß nicht allein wir einen uns a priori vorgesetzten Endzweck haben, sondern daß auch die Schöpfung, d. i. die Welt selbst, ihrer Existenz nach einen Endzweck habe (...)."664 Endzweck der existierenden Welt oder der Natur zu sein, hat Kant jedoch dem Menschen zuerkannt, der selbst nicht in der Lage sei, seinen Endzweck zu realisieren. Der Unterschied des a priori "gedachten Endzwecks (.,.)"665 durch das moralische Gesetz und des Endzwecks der existierenden Welt wäre jedoch in dem unter dem moralischen Gesetz stehenden Mensch in Einheit: "Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich (..,)."666 Das im Denken des Absoluten an das Absolute heranreichende schließende Subjekt, erschließt zu der Identität im Schluß des schließenden Subjekts auf das Subjekt der privativen Negation so das eigene Dasein als höchsten Zweck der Natur, "dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist."667 Seinem Begriff nach, als daseiender höchster Zweck, der unbedingt sei, dürfte es ihm an nichts mangeln. Das physisch mangelhafte Vermögen, den durch das moralische Gesetz aufgegebenen Endzweck nicht realisieren zu können668, ist jedoch als die Prämisse des Schlusses auf das Absolute erstens für den Schluß notwendig und zweitens dergestalt in ihn eingegangen, daß der gedachte Endzweck durch das moralische Gesetz unmöglich sei, "wenn wir mit unserer Freiheit keine andere Causalität (eines Mittels), als die der Natur, verknüpfen."669 Ist das, parenthetisch beigefügte, Mittel das der zu erschließenden anderen Kausalität, wird das Subjekt der privativen Negation und damit das Absolute zu dem Mittel herabgesetzt, das alle Naturzwecke teleologisch dem daseienden höchsten Zweck, dem Menschen, unterordnet. In dem Widerspruch der Bestimmung des unter dem moralischen Gesetz stehenden Menschen, einerseits höchster, unbedingter Zweck der Natur, dem diese als teleologisches System vollständig untergeordnet sei, andererseits unvermögend zu sein, das moralische Gesetz zu realisieren, reproduziert sich der 663 664 665 666 667 668

669

KU, 450, 424, § 87. KU, 453, 430, § 88. KU, 450,424, § 87. KU, 435, 398, § 84. KU, 436, 399, § 84. Wie bereits darauf hingewiesen, erklärt Giovanni Sala das Verhältnis von Gebot und dem mangelhaften Vermögen, dieses zu realisieren, fur problematisch und damit das Gebot für nicht existierend, womit der Schluß von der Privation auf das Subjekt der Privation jedoch undenkbar würde: Damit, daß den Endzweck zu befördern durch das moralische Gesetz geboten weide, könne Kant "nur ein partikuläres Gebot meinen, dessen Unrealisierbarkeit eben dieses Gebot auihebt, sonst nichts !"(Kant und die Frage nach Gott, 443). KU, 450,424, § 87.

Zu den analogen Schlüssen auf das Dasein Gottes

145

Widerspruch im schließenden Subjekt beim Denken des ontologischen Gottesbeweises, jedoch mit einer Variante in der Konsequenz des Widerspruchs. Das schließende Subjekt identifiziert sich notwendig im Schluß von dem Resultat der privativen Negation auf das Subjekt der privativen Negation mit diesem und muß zugleich als Resultat der privativen Negation von dem Subjekt der privativen Negation, dem Absoluten, unterschieden sein, weil sonst weder der Schluß auf das Absolute noch überhaupt zu denken wäre. Darin stimmen die ontologischen Gottesbeweise in den drei Kritiken überein. Schließt das schließende Subjekt nun von seinem defizitären physischen Vermögen, den gedachten Endzweck, das moralische Gesetz, nicht realisieren zu können, auf die Bedingung der Realisierung des gedachten Endzwecks, schließt es auf den Endzweck der Schöpfung, der "diejenige Beschaffenheit der Welt [ist, T.S.], die zu dem, was wir allein nach Gesetzen bestimmt angeben können, nämlich dem Endzwecke unserer reinen praktischen Vernunft, und zwar so fern sie praktisch sein soll, übereinstimmt."670 Der Endzweck der Natur, nicht der durch das moralische Gesetz gedachte Endzweck, ist damit aber dreifach äquivok bestimmt, erstens als die der Realisierung des moralischen Gesetzes angemessene Beschaffenheit der Welt, zweitens als daseiender, ohne Mangel seiender, höchster Zweck, der dem Menschen zukomme, und drittens als das Dasein des unter dem gedachten Endzwecks des moralischen Gesetzes stehenden Menschen, dessen defizitäres Vermögen Resultat der privativen Negation, folglich Prämisse des Schlusses, ist. Die zweite Bedeutung der Äquivokation ist von der ersten nicht zu unterscheiden, da jene die vollständige teleologische Ordnung der Natur auf ihren unter dem moralischen Gesetz stehenden daseienden Endzweck, den Menschen, sei, und die unangemessene Beschaffenheit der Welt oder Natur zu diesem unter moralischen Gesetzen stehenden Endzweck in Widerspruch zu der Vollständigkeit der teleologischen Ordnung stünde. In der dreifachen Äquivokation im Begriff des Endzwecks der Natur sind das Subjekt und das Resultat der privativen Negation identisch gesetzt. Zugleich muß diese Identität in der Äquivokation den Unterschied von dem Subjekt und dem Resultat der privativen Negation enthalten, weil sonst mit der Vollkommenheit des daseienden Endzwecks die Prämisse des Schlusses sich aufhöbe und die Natur dem moralischen Gesetz schon angemessen eingerichtet wäre. Die zugleich affirmative und negative Beziehung des schließenden Subjekts auf das Absolute im ontologischen Gottesbeweis ist in zwei Varianten aus der Argumentation des moralischen Beweises vom Dasein Gottes zu entwickeln: Erstens durch die erläuterte Äquivokation im Begriff des Endzwecks. Zweitens, wenn der Mensch selbst höchster Zweck der Natur, damit unbedingt, zugleich jedoch als bedingtes Naturwesen defizitär sei und seinen Endzweck nicht aus sich zu realisieren vermag, schließt das Subjekt vom Resultat der 670

KU, 455,432, § 88.

146

Der Schluß auf das Absolute und die Einheit des Systems

privativen Negation auf das Subjekt der privativen Negation. Schlösse es damit auf seine eigene Unbedingtheit, fiele der Schluß in sich zusammen, da das schließende Subjekt Resultat der privativen Negation ist, sich aber im Schluß mit dem Subjekt der privativen Negation identifiziert. So muß das schließende Subjekt sich sowohl affirmativ als auch negativ auf das Subjekt der privativen Negation beziehen. Erschließt das schließende Subjekt dagegen etwas, das sein Dasein als höchsten Zweck der Natur realisiert, ist das Subjekt der privativen Negation als das Mittel bestimmt - womit der Gehalt der Parenthese des obigen Zitats eingeholt ist. Bezöge das schließende Subjekt sich nur negativ auf das Subjekt der privativen Negation, könnte es nie über die Prämisse des Schlusses hinaus zum Schluß selbst gelangen. Bezöge das schließende Subjekt sich nur affirmativ auf das Subjekt der privativen Negation, wäre mit der Prämisse des Schlusses der Schluß selbst aufgehoben. In der dritten Variante erschließt das schließende Subjekt das Absolute als das Mittel, seinen Zweck, den Endzweck der Natur, was dem Menschen zukomme, zu realisieren. In diesem Schluß bezieht das schließende Subjekt sich negativ auf das Subjekt der privativen Negation, ohne daß es auf die Prämisse des Schlusses, das Resultat der privativen Negation, zurückfiele, da es sich als Endzweck von seinem Mittel unterscheidet. Affirmativ bezieht es sich auf das Subjekt der privativen Negation, ohne daß mit der Prämisse der Schluß selbst sich aufhöbe, da jeder Zweck, und damit auch der Endzweck, des Mittels seiner Realisierung bedarf. Diese als vermeintliche Lösung zu entwickelnde Variante der Konsequenz des Widerspruchs im Schluß auf das Absolute, die diesen von den Schlüssen in der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft unterscheidet, ist eine Subreption, nicht dessen Lösung, da der Widerspruch in anderer Gestalt sich reproduziert. Schließt das schließende Subjekt in seiner doppelten Bestimmung als defizitäres Subjekt und daseiender höchster Zweck auf das Absolute als das Mittel, die Beschaffenheit der Welt seinem Dasein als Endzweck angemessen zu ordnen, bezieht es sich affirmativ und negativ auf das Subjekt der privativen Negation. In der negativen Beziehung unterscheidet das schließende Subjekt sich als Endzweck von dem Absoluten als das Mittel seiner Realisierung. In der affirmativen Beziehung sind der Mensch als Endzweck und das Absolute als Mittel aufeinander bezogen. Der sich reproduzierende Widerspruch besteht darin, daß das Absolute als das Mittel, die Natur dem Menschen in seinem Dasein als höchster Zweck angemessen zu ordnen, mächtiger als sein Zweck sein müßte. Ein Begriffspaar ist in den drei Hauptwerken Kants immer thematisch. Es ist das Begriffspaar der Bestimmbarkeit und der An-sich-Bestimmtheit der Natur. Bestimmbar ist die Natur durch den Verstand, der ihr die Form der Gesetzmäßigkeit vorschreibt, durch die praktische Vernunft, die ihr die Form der übersinnlichen Natur verschaffen soll, und durch die Urteilskraft, die die Naturprodukte nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit bestimmt. An sich bestimmt ist die Natur dagegen als empirische Affinität. Diese empirische Affinität oder die

Zu den analogen Schlüssen auf das Dasein Gottes

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An-sich-Bestimmtheit der Natur ersteht in der Insuffizienz des unter dem moralischen Gesetz stehenden Subjekts, dieses als seinen Endzweck in der Natur zu realisieren, wieder. Die Funktion der Gottesbeweise ist die, zu der Bestimmbarkeit der Natur durch das reflektierende Subjekt noch die ihm adäquate Ansich-Bestimmtheit dieser Natur zu erschließen. Im transzendentalen Ideal ist die durchgängige materielle Bestimmtheit als die Bedingung der Möglichkeit der Objektivität der Erkenntnisse der Natur und im moralischen Beweis die dem moralischen Gesetz angemessen eingerichtete Natur als die Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts erschlossen. In der Kritik der Urteilskraft wird die Ansich-Bestimmtheit der Natur über die Erkennbarkeit ihrer Gegenstände und die Möglichkeit des höchsten Guts in ihr hinaus noch zur Möglichkeit der materiellen Aneignung der Natur in Gestalt der Realisierung beliebiger Zwecke durch den Menschen. Er sei "betitelter Herr der Natur (..,)"671, dem alle Naturprodukte, einschließlich einiger Naturprodukte, die seiner Gattung angehörten, teleologisch als Mittel der Realisierung seines Zwecks, der Kultur, die die Vorbereitung auf den moralischen Endzweck darstelle, untergeordnet seien. Die negative Beziehung des schließenden Subjekts auf das Absolute erhält mit der in dem Begriffspaar von bestimmbarer und an sich bestimmter Natur ausgedrückten Differenz die Ansich-Bestimmtheit der Natur. Darin, daß Kant die Identifikation des schließenden Subjekts mit dem Absoluten im Schluß auf das Absolute erklärterweise verweigert habe, bestehe "Kants wahrhaft kritischer Weg." 672 Dreh- und Angelpunkt der verweigerten Identifikation am moralischen Beweise Gottes in der Kritik der Urteilskraft ist der, immer betonte, Unterschied des Menschen unter und des Menschen nach moralischen Gesetzen: "Ich sage mit Fleiß: unter moralischen Gesetzen. Nicht der Mensch nach moralischen Gesetzen, d. i. ein solcher, der sich ihnen gemäß verhält, ist der Endzweck der Schöpfung. Denn mit dem letztem Ausdrucke würden wir mehr sagen, als wir wissen: nämlich daß es in der Gewalt eines Welturhebers stehe, zu machen, daß der Mensch den moralischen Gesetzen jederzeit sich angemessen verhalte; welches einen Begriff von Freiheit und der Natur (von welcher letztern man allein einen äußern Urheber denken kann) voraussetzt, der eine Einsicht in das übersinnliche Substrat der Natur und dessen Einerleiheit mit dem, was die Causalität durch Freiheit in der Welt möglich macht, enthalten müßte, die weit über unsere Vernunfteinsicht hinausgeht. Nur vom Menschen unter moralischen Gesetzen können wir, ohne die Schranken unserer Einsicht zu überschreiten, sagen: sein Dasein mache der Welt Endzweck aus."673 Unter moralischen Gesetzen stehend ist der Mensch als daseiender höchster Zweck noch defizitär bestimmt. Nach moralischen Gesetzen, das heißt ihnen 671 672 673

KU, 431, 390, § 83. Karl Heinz Haag: Der Fortschritt in der Phüosophie, 87. KU, 448 f. Fn, 422 f., § 87.

148

Der Schluß auf das Absolute und die Einheit des Systems

angemessen, handeln fähig zu sein, setze dagegen die Einheit von Freiheit und Natur voraus. Die Erkenntnis dieser Einheit durch den Welturheber fällt in das schließende Subjekt. Daß Kant die Erkenntnis des Absoluten mit der Kausalität aus Freiheit identifiziert, löst die Bestimmung des Menschen als daseiender höchster Zweck ein, die im notwendig widersprüchlichen Schluß auf das Absolute nicht gesichert war, und hebt den Beweis Gottes auf: Die Identifikation des Schlusses auf das Absolute mit dem praktischen Vermögen der Freiheit, aus sich heraus eine Folge von Ursachen und Wirkungen in die Welt zu setzen, erklärt das schließende Subjekt zu einem absoluten Subjekt, das denkend und in seiner praktischen Tätigkeit vom Absoluten nicht mehr zu unterscheiden ist.674 Fichte, als Kritiker des kritischen Wegs Kants, ist dieses absolute Subjekt das Erste, schlechthin Unbedingte der Philosophie.675 Den Verfassern des ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus ist die bei Kant angelegte Konsequenz des absoluten Subjekts Ausgangspunkt ihres Programms. "Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung v o n mir selbst als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze W e l t - a u s dem Nichts hervor-die einzig wahre und gedenkbare S c h ö p f u n g aus Nichts." 6 7 6

674

675 676

Die Gottesbeweise sind nicht der hauptsächliche Gegenstand von Klaus Düsings Interpretation, doch wäre an eine der Passagen die Argumentation, das Absolute mit dem schließenden Subjekt als Voraussetzung des Übergangs von Natur zu Freiheit gleichzusetzen, unmittelbar anzuschließen: "So kann - wie nun zu zeigen ist - der Gedanke einer verständigen Weltursache den "Übergang" von der Natur zur Freiheit ermöglichen."(Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 203). Vgl. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 97. Hölderlin: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, 309. Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus richtet sich gegen Kant, der "mit seinen beiden praktischen Postulaten nur ein Beispiel gegeben, nichts erschöpft hat (...)."(Ebda).

Der Widerspruch in der Einheit des Systems

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4.3 Der Widerspruch in der Einheit des Systems Der Grund der Einheit des philosophischen Systems, in dem die Natur- und die Moralphilosophie vereinigt seien, sei das Absolute. Der Widerspruch, der durch die zugleich affirmative und negative Beziehung des schließenden Subjekts auf das Absolute in die kantische Argumentation hineinkommt, sei das, was den kritischen Weg Kants ausmache.677 Ist der kritische Weg der der Entwicklung eines Widerspruchs, ist nicht nur auf jeder Stufe der Argumentation Kants dieser Widerspruch entwickelbar, sondern dieser Widerspruch hat die Inkonsistenz des einen philosophischen Systems zur Konsequenz.678 Das Absolute als Grund der Einheit des Systems negativ zu erschließen, negierte die Möglichkeit der Einheit des Systems und damit das System selbst. Das Absolute als Grund affirmativ zu erschließen, und damit die Einheit des Systems affirmativ zu bestimmen, hätte zur Folge, "daß die Gegenwart vernünftig ist."679 Die Vernünftigkeit der Gegenwart schlösse die Möglichkeit des Irrtums in der Erkenntnis dieser Gegenwart und die Möglichkeit der Kritik an dieser Gegenwart aus.680 Ohne den Unterschied zwischen dem, was da ist, und dem, was da sein soll, wäre das Daseiende zugleich das Seinsollende. Die Möglichkeit der Freiheit zur Kritik beruht damit auf der Inkonsistenz des philosophischen Systems.681 Daß Kant in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft die Freiheit zum " S c h l u ß s t e i n

von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der speculativen, Vernunft (...)"682 erklärt, läuft diesem Schluß zuwider, da das, was durch die Inkonsistenz der Einheit des Systems möglich ist, die Freiheit, in das, was die Inkonsistenz beheben soll, verkehrt wird. Wäre die Freiheit der Grund der Einheit des Systems, käme ihr die Bestimmung des Absoluten zu, aus sich die Einheit von Natur und Freiheit zu setzen. Die seiende Natur wäre entäußerte Freiheit. 677

678

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682

"Dadurch kam das Widerspruchsvolle in die kantische Konstruktion hinein: es gab einen göttlichen Ursprung der Natur und in der Einheit der reinen Apperzeption einen «transzendentalen Grund der notwendigen Gesetzmäßigkeit aller Erscheinungen in einer Erfahrung» [nachgewiesen durch: KrV, A 127, T.S.]."(Karl Heinz Haag: Der Fortschritt in der Philosophie, 83). Vgl. "So ist eine Aufgabe [das System zu begründen, T.S.], die sich schon von der allerersten Programmformel der kritischen Philosophie herleitet, von Kant ungelöst zurückgelassen worden."(Dieter Henrich: Systemform und Abschlußgedanke: Methode und Metaphysik als Problem in Kants Denken, 1 IS). Hegel: Phänomenologie des Geistes, 137. "Vollends Hegel (...) hat parallel die entgegengesetzte Tendenz: Kritik stillzulegen. Wer auf die beschränkte Tätigkeit des eigenen Verstandes sich verläßt, heißt bei ihm mit einem politischen Schimpfwort Raisonneur; er bezichtigt ihn der Eitelkeit, weil er nicht auf die eigene Endlichkeit sich besinne, unfähig, einem Höheren, der Totalität, begreifend sich unterzuordnen. Dies Höhere aber ist bei ihm das Bestehende. Hegels Abneigung gegen Kritik geht zusammen mit seiner These, das Wirkliche sei vemünftig."(Theodor W. Adorno: Kritik, 786). "Die kritische Philosophie ist die Philosophie der Freiheit."(Emst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft in der neueren Zeit, 761). KpV, 3 f., 4.

150

Der Schluß auf das Absolute und die Einheit des Systems

Natur und Freiheit wären nicht zu unterscheiden. Im Resultat der Genesis wäre wieder das Daseiende zugleich das Seinsollende. Daß die Genesis dieses Resultats, aus Freiheit die Einheit von Natur und Freiheit zu setzen, endlichen freien Wesen allenfalls in Anbetracht der zweiten Natur gelingen kann, sollte diesen zwar Agitation genug sein, sich zu Verfechtern der Elften These über Feuerbach683 zu erklären, doch die Einheit des philosophischen Systems herzustellen, ist kein revolutionärer Akt. Dem Schluß auf den Grund des einen philosophischen Systems bleibt notwendig der Widerspruch immanent. Dieser Widerspruch erhält die Möglichkeit der Freiheit. Jeder Versuch diesen Widerspruch zu eliminieren, kassierte mit dem Unterschied von Autonomie und Heteronomie den von Freiheit und Natur. Wie deren Gegenstände, die Natur und die Freiheit, sind die Philosophie der Natur und die Philosophie der Moral unterschieden. Das Denken dieses Unterschieds fällt dagegen in ein einiges reflektierendes Subjekt als Tertium comparationis: "(...) so ist es doch immer nur eine und dieselbe Vernunft, die, es sei in theoretischer oder praktischer Absicht, nach Principien a priori urtheilt (...)."684 So ist dem Unterschied von Natur und Freiheit, Naturphilosophie und Philosophie der Sitten, dem Unterschied von theoretischer und praktischer Vernunft und der Reflexion auf den Widerspruch im Schluß auf das Absolute die Einheit der Vernunft vorausgesetzt. Die Einheit der Vernunft ist Tertium comparationis und Terminus ad quem der Einheit des Systems. Als Tertium comparationis enthielte sie die Einheit und den Unterschied von Natur und Freiheit, Naturphilosophie und Philosophie der Sitten, den Unterschied von theoretischer und praktischer Vernunft und den Widerspruch im Schluß auf das Absolute. Als Terminus ad quem wäre sie dagegen als das Ziel bestimmt. Daß Kant die theoretische Vernunft von der praktischen noch unterschied und mit diesem Unterschied die Möglichkeit der Kritik erhielt, hat er Hegel voraus.685 Daß bei Kant die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft auch als Ziel bestimmt ist, enthielte zudem den Zweck, das, was durch theoretische Vernunft erkannt würde, der praktischen Vernunft gemäß anzuwenden. Demonstrierbar ist 683 684 685

Vgl. Marx: Thesen über Feueibach, MEW 3,7. KpV, 121,218. Hans-Jürgen Krahl argumentiert in dem Referat Produktion und Klassenkampf gegen Jürgen Habermas. En passant scheint er dabei, die Philosophie des deutschen Idealismus, Marx und Habermas auf den Begriff bringen zu wollen: "Hegel muss das kritische Konstitutionsproblem Kantens eliminieren. Das ist die unmittelbare Identifikation von theoretischer und praktischer Vernunft, von Produktion und Konstitution, wie sie extrem bei Fichte vorgezeichnet war; sie ist der falsche Preis, den die richtige Kritik an Kant zahlen mußte. Habermas will deshalb auf eine materialistische Erkenntnistheorie hinaus, weil in dieser das Problem der Konstitution wieder auftauchen muss. Bei Marx gibt es ein Problem der Konstitution, wenn theoretische und praktische Vernunft, das Ich denke und das Ich handle, nicht unmittelbar sollen zusammenfallen können und müssen. Die unmittelbare Identifikation von theoretischer und praktischer Vernunft ist ja nur um den Preis des Idealismus möglich [Hervorhebung von mir, T.S.]."(399).

Der Widerspruch in der Einheit des Systems

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dies an dem Verhältnis der systematischen Einheit aller Verstandeserkenntnisse zu der Einheit des Selbstbewußtseins: Beide sind durch die Idee der systematischen Einheit organisiert686, doch sind die systematische Einheit aller Verstandeserkenntnisse und die Einheit des Selbstbewußtseins nicht a priori identisch. Wären sie identisch, führte die Einheit aller Verstandeserkenntnisse den Begriff der Einheit des Selbstbewußtseins bei sich. Führte die Einheit aller Verstandeserkenntnisse den Begriff der Einheit des Selbstbewußtseins bei sich, wäre nicht nur die systematische Einheit aller Verstandeserkenntnisse sondern auch die Einheit des Selbstbewußtseins der Möglichkeit von Verstandeserkenntnissen vorausgesetzt.687 Dem steht entgegen, daß Verstandeserkenntnisse gewonnen werden können, ohne einen erkenntnistheoretischen Begriff von Wissenschaft zu haben. Einzelwissenschaften können betrieben werden, ohne daß ihrer Tätigkeit der Begriff der Einheit des Selbstbewußtseins vorausgesetzt wäre. Gleichwohl ist die Form der Einheit des Selbstbewußtseins der Form der systematischen Einheit aller Verstandeserkenntnisse analog. Ist die Form der Einheit der Wissenschaft dem Selbstbewußtsein nur analog, können die Wissenschaften jedoch auch ohne Selbstbewußtsein betrieben werden. Das Bewußtsein erschiene so abtrennbar vom Selbstbewußtsein. Daraus ergäbe sich die Aporie eines Bewußtseins, das kein Selbstbewußtsein hätte. Das, was an sich vernünftig wäre, die Erkenntnisse der Wissenschaften, würde nicht auch als für sich vernünftig erkannt werden können, weil es nicht a priori identisch mit dem Selbstbewußtsein wäre. Daraus, daß das, was an sich vernünftig wäre, auch als für sich vernünftig erkannt werden können müßte, ergäbe sich ein immanenter Zweck der Wissenschaften, ihre an sich vernünftigen Resultate vernünftig, d. h. moralisch-praktisch anzuwenden.688 Im vernünftigen Gebrauch der Resultate der Wissenschaften wäre die theoretische Vernunft mit der praktischen in Einheit.689

686

687 688

689

Dieter Henrich zeigt die Einheit und die Unterschiede der systematischen Einheit der Philosophie, der Vernunft und der Gegenstände, an die die systematische Einheit aller Erkenntnisse anzufügen wäre: "Immer ist dabei ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes in irgendeinem Sachbereich gemeint. Zwischen dem System, auf das die Philosophie als Wissenschaft ausgreift, und Systemen, in die Objekte organisiert sind, könnte man nun aber, als einem dritten Applikationsfall der Rede von .System', das System positionieren, in dem unsere rationalen Kapazitäten samt ihrer Ursprünge innerhalb eines Ganzen wechselseitig aufeinander bezogen sind."(Systemform und Abschlußgedanke: Methode und Metaphysik als Problem in Kants Denken, 107). KrV, 607, Β 673. "Das System >dient< also auch ausdrücklich einem Zweck; und der liegt allein im >iichtigen Gebrauch der einzelnen Erkenntnisse zu den Zwecken des Menschen, die selbst wieder nur durch Vernunft bestimmt werden können."(VoIker Gerhardt: Selbstüberschreitung und Selbstdisziplin. Zur Aktualität des Systembegriffs nach Kant, 250). Vgl. Peter Bulthaup: Naturwissenschaftliche Bildung, 24.

5 Zu den Bedingungen der Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft Kant hat es sich nicht zur Aufgabe gemacht, nach den Bedingungen der Möglichkeit von Gesellschaftswissenschaft zu fragen. Doch "erweitert [Kant, T.S.] in der "Kritik der Urteilskraft" abermals den Kreis der Betrachtung, indem er nach den Grundbegriffen fragt, die eine Erkenntnis der Lebenserscheinungen ermöglichen."690 In der Tradition Kants sind nicht wenige Schriften entstanden, die sich der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Gesellschaftswissenschaft, von Sozialphilosophie, Soziologie oder der nach einer transzendentalen Begründung der Gesellschaft angenommen haben. Aufzuzählen wären, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Autoren wie Hermann Cohen, Max Adler, Karl Vorländer, Rudolf Stammler, Paul Natorp, Georg Simmel, Max Weber, Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert und ebenso Helmut Schelsky, Rene König, Ralf Dahrendorf und andere mehr. Keine der Schriften dieser Autoren wird in dieser Arbeit ausführlich dargestellt.691 Um die Idee der folgenden Untersuchung anzugeben und damit einzugrenzen, sei deshalb ihre These vorangestellt. Die These der folgenden Untersuchung ist erstens die, daß es eine Theorie der Gesellschaft gibt, deren erkenntnistheoretische Bedingungen der Möglichkeit aus der theoretischen Philosophie Kants zu entwickeln sind.692 Dabei handelt es sich keineswegs um eine Neuauflage der theoretischen Philosophie Kants unter der Fragestellung, wie Gesellschaftswissenschaften zu begründen seien, sondern darum, sie vorauszusetzen und nachzuweisen, daß in Analogie zu den Begriffen Zweck, letzter Zweck und Endzweck eine Voraussetzung der Ob690 691

692

Emst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, 16. Eine knappe Zusammenfassung einiger Autoren ist bei Johannes Weiß zu fmden, vgl. Ist eine .Kantische' Begründung der Soziologie möglich?, S31-S46. Insbesondere zu Helmut Schelsky vgl. Volker Gerhardt in Transzendentale Theorie der Gesellschaft: Philosophische Anmerkung zu einem soziologischen Programm, 129-144. Zu Rudolf Stammler vgl. die Zusammenfassung und zustimmende Darstellung der Argumentation durch Otto Gerlach. Dessen Vortrag trägt den vielversprechenden Titel Kant's Einfluss auf die Sozialwissenschaften in ihrer neuesten Entwickelung, 644-663, doch beschäftigt er sich nur mit Rudolf Stammlers Schrift. Vgl. "Sicher und für die Frage nach einer Theorie der Gesellschaft von größter Wichtigkeit ist, daß die transzendentale Analyse nur auf das zielt, "was da ist", und nicht auf das, "was da sein .το//"[nachgewiesen durch: Kant: KrV, Akad.-Ausg., Bd. IV, 543]."(Volker Gerhardt: Transzendentale Theorie der Gesellschaft: Philosophische Anmerkung zu einem soziologischen Programm, 133).

Zu Bedingungen einer kritischen Theorie der Gesellschaft

153

jektivität von Gesellschaftswissenschaft begründet werden kann. Zweitens, daß durch die kantische Unterscheidung der theoretischen von der praktischen Philosophie zu der erkenntnistheoretischen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit einer Theorie der Gesellschaft ein Kriterium gegeben ist, das eine moralische Beurteilung dessen, was erkannt wird, zuläßt.693 Drittens, daß eine Theorie der Gesellschaft, in die sowohl das Bewußtsein ihrer erkenntnistheoretischen Bedingungen eingegangen ist als auch das Bewußtsein der Möglichkeit, das, was in ihr erkannt ist, moralisch beurteilen zu können, eine kritische Theorie der Gesellschaft genannt werden kann. Die theoretische und praktische Philosophie Kants voraussetzend, könnte eine solche Theorie den Anspruch erheben, "dem Vorbild der erfolgreichen Naturwissenschaften nachzufolgen"694, zugleich das Erkannte moralisch beurteilen zu können und sich so als kritisch erweisen. Das erkennende Subjekt einer Theorie der Gesellschaft ist "selbst Teil des untersuchten Realitätszusammenhangs (,..)."695 Da diese Realität auch Resultat seines Verhaltens ist, könne, Horkheimer zufolge, das erkennende Subjekt seine von ihm erkannte oder zu erkennende Realität selbst verändern. Das ist nicht falsch, doch setzt die Forderung eines "kritischen Verhaltens"696, die Erkenntnis dessen, zu dem sich kritisch verhalten werden soll, voraus. Deshalb ist nicht das kritische Verhalten das Spezifische einer kritischen Theorie der Gesellschaft,

693

694 695

6%

"Entsprechendes [wie bei dem Begriff des Menschen, T.S.] gilt für den Begriff der Gesellschaft, der nur dann als angemessen bezeichnet werden darf, wenn er den Freiheitsanspruch des vergesellschafieten Menschen [Hervorhebung von mir, T.S.] in seine Bedeutung aufnimmt. Nach den Bedingungen der Möglichkeit eines solchen Begriffs von Gesellschaft hätte eine transzendentale Gesellschaftstheorie zu fragen."(Volker Gerhardt: Transzendentale Theorie der Gesellschaft: Philosophische Anmerkung zu einem soziologischen Programm, 138). Reinhart Maurer unterscheidet in der Frage nach einer Begründung der Gesellschaft ebenfalls die theoretische von der praktischen Philosophie. "Im Bereich der letzteren reflektiert es [das reflektierende Subjekt, T.S.] zugleich mit seiner Freiheit deren vernünftige Selbstbeschränkung durch Gegenseitigkeit und Generalisierbarkeit (der "kategorische Imperativ" als Prüfstein zunächst partikular subjektiver Maximen). Es ist naheliegend, hier den Ansatzpunkt einer transzendentalen Begründung von Gesellschaft zu finden, zumindest von vernünftiger Gesellschaft."(Die Unmöglichkeit einer transzendentalen Begründung der Gesellschaft, 524). Den Unterschied von theoretischer und praktischer Philosophie diskutierend stellt Johannes Weiß richtig fest: "Apriorische (d. h.: schlechthin notwendige und allgemeingültige) Gesetze des Sollens oder Freiheit (...) können unter keinen Umständen in apriorische Prinzipien der Erkenntnis des realen gesellschaftlichen Handelns in Raum und Zeit umgedeutet, die "Gesetze der Freiheit" unmöglich als "Gesetze der Natur" beansprucht werden. Wo dies geschieht, hegt nach Kant eine unzweideutige und ganz unzulässige metabasis vor."(Ist eine .Kantische' Begründung der Soziologie möglich?, 539). Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, 164. Axel Honneth: Kritik der Macht, 22. Axel Honneth erläutert damit Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, 203. Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, 183. Vgl. 180 Fa 14.

154

Zu den Bedingungen einer kritischen Theorie der Gesellschaft

sondern die Erkenntnis, auf deren Grundlage die Forderung eines kritischen Verhaltens zu erheben sei.

5.1 Identität und Differenz der analogen Begründung der zweiten Natur nach der ersten Natur697 In der Wissenschaft der Gesellschaft sind wie in jeder Wissenschaft Wissenschaft und Gegenstand der Wissenschaft notwendig sowohl unterschieden als auch identisch. Der Begriff der Einheit dieser Identität und dieses Unterschieds ist die Objektivität der Wissenschaft. Im Begriff der Objektivität sind die Wissenschaft und der Gegenstand der Wissenschaft als Unterschiedene aufeinander bezogen. Der ersten Fassung der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe zufolge ist das, was die Beziehung auf einen Gegenstand leiste, der transzendentale Gegenstand. Doch ist dieser von der transzendentalen Einheit der Apperzeption nicht unterschieden.698 Sind im Begriff der Objektivität Wissenschaft und Gegenstand der Wissenschaft aufeinander bezogen, ist der Begriff der Objektivität der Begriff, in dem Idealität und Realität oder die Reflexivität der Wissenschaft und die Irreflexivität der Gegenstände der Wissenschaft in Einheit sich befänden. Darin, daß die Einheit dieser entgegengesetzten Momente ein Begriff ist, schiene die Objektivität asymmetrisch zur Reflexion hin entscheidbar, doch wäre die Objektivität wissenschaftlicher Urteile nur zu garantieren, wenn die Gegenstände der Wissenschaft, die mit der Wissenschaft übereinstimmen sollen, Resultate der produktiven Einbildungskraft wären. Objektivität schiene dann nur den Erkenntnissen garantiert, deren Gegenstände als Resultate der produktiven Einbildungskraft durch Handlungen produziert wären. Damit gäbe es eine Differenz zwischen dem Begriff der Objektivität der Naturwissenschaften, deren Gegenstände nicht produziert werden können, und dem der Wissenschaft der Gesellschaft, deren Gegenstände Handlungen und die Resultate der Handlungen sind. Dieser Gedanke ist schon bei Vico699 zu finden. Ihm 697

698 699

Die Unterscheidung dessen, was Natur sei, von dem, was nicht Natur sei, aber wie Natur erscheine, ist in weiten Teilen der philosophischen Tradition thematisch. Norbert Rath hat dies sehr detailliert in seinem Artikel nachgewiesen, vgl. Historisches Wörteibuch der Philosophie: Natur, zweite, 484-494. Vgl. KrV, 159a, A 109. Vgl. Kapitel 1.1.2 dieser Arbeit. "Doch in solch dichter Nacht voller Finsternis, mit der die erste von uns so weit entfernte Urzeit bedeckt ist, erscheint dieses ewige Licht, das nicht untergeht, folgender Wahrheit, die auf keine Weise in Zweifel gezogen werden kann: daß die politische Welt sicherlich von den Menschen gemacht worden ist; deswegen können (denn sie müssen) ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden. Folgendes muß bei jedem, der darüber reflektiert, Staunen erregen-wie nämlich alle Philosophen sich emsthaft darum bemüht haben, Wissen zu erlangen von der Welt der Natur, von der doch, weil Gott sie schuf, er allein Wissen haben kann, und wie sie vernachlässigt haben, diese Welt der Völker oder politische Welt zu erforschen, von der, weil die Menschen sie geschaffen hatten, die Menschen

Identität und Differenz der analogen Begründung der zweiten Natur nach der ersten Natur ] 5 5

zufolge könne "die Kulturwissenschaft einen Wahrheitsanspruch erheben, der den Naturwissenschaften versagt sei."700 Der Gegenstand der Wissenschaft der Gesellschaft ist weder unabhängig, das heißt frei von Natur geschaffen noch ist er ein Naturgegenstand wie die Gegenstände der ersten Natur. "Der gesellschaftliche Prozeß ist weder bloß Gesellschaft noch bloß Natur, sondern Stoffwechsel der Menschen mit dieser, die permanente Vermittlung beider Momente."701 Die zweite Natur, die der Gegenstand der Wissenschaft der Gesellschaft ist, ist Resultat der Auseinandersetzung der Menschen mit der ersten Natur. Sie ist nach den Entwürfen, die grenzenlos702 seien, der produktiven Einbildungskraft geschaffen, doch vermag diese nicht, das gegenständliche Material ihrer Entwürfe und die Mittel ihrer Realisierung zu produzieren, so daß die erste Natur die materielle Grundlage der zweiten Natur bleibt. Wie die Resultate von Zwecksetzungen sind die der produktiven Einbildungskraft abhängig und unabhängig von der ersten Natur.703 Den Willen, der die Entwürfe der produktiven Einbildungskraft oder die gesetzten Zwecke realisiert, hat Kant als "eine [Hervorhebung von mir, T.S.] von den mancherlei Naturursachen in der Welt (.,.)"704 bestimmt. Als eine von den mancherlei Naturursachen sind seine Wirkungen nicht unterschieden von denen anderer Naturursachen. Weil die Mittel, das Material und der Ort705 der Realisierung der Erscheinungen der zweiten Natur erste Natur sind, die durchgängig nach den Kategorien Kausalität und Wechselwirkung organisiert ist, sind diese als Erscheinungen der zweiten Natur nicht von den Erscheinungen der ersten Natur unterscheidbar: "so sind doch die Erscheinungen desselben [Willens, T.S.] die menschlichen Handlungen, eben so wohl als jede andere Naturbegebenheit nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt."706 Die Realisierung der an sich grenzenlosen Entwürfe der produktiven Einbildungskraft ist damit auf die erste Natur restringiert. Als realisierte Entwürfe sind sie wie jede andere Naturbegebenheit nach den Kategorien Kausalität und Wechselwirkung organisiert.

100

701 702 703 704 705 706

auch Wissen erlangen konnten."(Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, 142 f.). Vgl. "Denn als oberste Regel der Erkenntnis gilt für Vico der Satz, dass jegliches Wesen nur das wahrhaft begreift und durchdiingt, was es selbst h e r v o r b r i n g t . Der Kreis unseres Wissens reicht nicht weiter als der Kreis unseres Schaffens."(Ernst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, 9). Diese richtige Konsequenz ist von Vittorio Hösle in seiner Einleitung formuliert worden, die Vicos Werk vorangestellt ist. Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, CV. Theodor W. Adorno: Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien, 221. Vgl. In weltbürgerlicher Absicht, 18 f. Vgl. Kapitel 3.2.1 dieser Arbeit. KU, 172, XIII. Vgl. Marx: Das Kapital, MEW 23, 195. In weltbürgerlicher Absicht, 17.

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Unterscheidbar sind die Erscheinungen der ersten und die der zweiten Natur nur durch die Bestimmung ihrer unterschiedenen Ursachen. Das wußte auch Vico, der jedoch daraus, daß "Wissen zu erlangen von der Welt der Natur, von der doch, weil Gott sie schuf, er allein Wissen haben kann (,..)"707, schwerlich möglich sei, die Konsequenz zog, nur von dem wissen zu können, dessen Ursache das erkennende Subjekt selbst sei. Diese Konsequenz ist als der spätere Gedanke Kants zu lesen, "daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt (...)."708 Doch für Kant stand mit der Existenz wahrer Naturwissenschaft in Gestalt der Physik die Erkennbarkeit der Natur ebenso außer frage wie deren Unabhängigkeit von dem erkennenden empirischen Subjekt. Sind die Erscheinungen der zweiten Natur als Erscheinungen nicht von den Erscheinungen der ersten Natur unterscheidbar, so ist der Begriff der Objektivität der Wissenschaft nicht zu unterscheiden in einen, der die Erscheinungen der zweiten Natur, und einen, der die Erscheinungen der ersten Natur zum Gegenstand hat.709 Der Begriff der Objektivität ist ein Begriff der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit wahrer Wissenschaft, doch ist die Objektivität nicht allein durch Reflexion zu garantieren und damit asymmetrisch zur Reflexion entscheidbar. So bleibt der Begriff der Objektivität der Begriff des Gegensatzes oder der Begriff der Dualität von Reflexivität und Irreflexivität oder von Vernunft, Verstand und Sinnlichkeit. An der Einheit von Reflexivität und Irreflexivität ist der Begriff der Objektivität damit nicht nach dem Unterschied zwischen der Wissenschaft der ersten und der der zweiten Natur auseinander zu legen. Mit Adorno aus dieser NichtUnterscheidbarkeit zu schließen, daß die "Objektivität des geschichtlichen Lebens (...) die von Naturgeschichte"710 sei, läßt die Absicht erkennen, der Wissenschaft der Gesellschaft keinen anderen Begriff der Objektivität als den der Naturwissenschaften zu zusprechen.711 Richtig daran 707

708 709

710 711

Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, 143. KrV, 18, Β XIII. Vgl. dagegen "Was die gesellschaftliche Wirklichkeit betrifft, so entfallt die Parallele zur kantischen Erkenntnistheorie."(Riidiger Bubner: Ist eine transzendentale Begründung der Gesellschaft möglich?, 498). Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, 347. Ebensowenig haben die Gesetze der Gesellschaftswissenschaften einen von dem der Gesetze der Naturwissenschaften unterschiedenen .Charakter'. "Wenn es in der Wirtschaft objektive Gesetze gibt, dann haben diese »Gesetze« einen anderen Charakter als in der Naturwissenschaft."(KarlHeinz Brodbeck: Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie, 11). Falsch ist diese These, richtig ist jedoch die Idee, weshalb es einen unterschiedenen .Charakter' geben solle, die darin bestehe, daß die Ursache der Erscheinungen der Gegenstände der Gesellschaftswissenschaften Freiheit sei. "Zugleich ist nicht zu Ubersehen, daß Menschen frei entscheiden und handeln. »Ökonomische Gesetze beruhen auf der willentlichen Handlung des Menschen« [nachgewiesen durch: J.B. Clark: The Philosophy of Wealth, Boston 1887, 32, T.S.]."(Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie, 50).

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ist die Absicht, falsch jedoch deren Begründung: Erstens ist der Begriff der Objektivität der Relationsbegriff der Relata Denken und Gegenstand des Denkens. Deshalb kann er nicht in einem der Relata aufgehen. Das, was Adorno mit der Objektivität des geschichtlichen Lebens meint, ist nach Kant die empirische Affinität der Gegenstände. Diese ist sowohl als Folge der transzendentalen Affinität712, so daß die "Begriffe (...) den objektiven Grund der Möglichkeit der Erfahrung abgeben"713 als auch als deren Grund714 bestimmt, so daß der Einheit der Assoziation der Vorstellungen ein objektiver Grund vorausgesetzt715 ist. Beide Bestimmungen der objektiven Gründe der Möglichkeit wahrer Naturwissenschaft sind notwendig. Der Versuch, die Objektivität von Wissenschaft nach einem der beiden objektiven Gründe aufzulösen, führte auf die Alternative von Epigenesis oder generatio aequivoca.716 Beide Seiten der Alternative verwickeln sich jedoch in Aporien. Weder ist nur kategorial noch ist ontologisch die Übereinstimmung von Denken und Gegenstand des Denkens zu garantieren. Das relationale Verhältnis der Objektivität einseitig zum gegenständlichen Grund aufzulösen, ist damit - gegen Adorno - sowohl für die Naturgeschichte als auch das geschichtliche Leben nicht haltbar. Wäre zweitens die Objektivität zum gegenständlichen Grund auflösbar und böte in Folge dessen die Naturgeschichte das Modell der Objektivität des geschichtlichen Lebens, wäre der Verlauf des geschichtlichen Lebens determiniert wie die Naturgeschichte. Sein Verlauf wäre notwendig nach dem Verhältnis von Ursache und Wirkung bestimmt. Die daraus resultierende Negation der Freiheit zur Veränderung des geschichtlichen Lebens würde zur Voraussetzung der Objektivität der Wissenschaft der Gesellschaft und diese Wissenschaft wäre nach dem Modell des mechanischen Materialismus d'Holbachs konzipiert. Mit der Negation des Unterschieds der Ursachen von Erscheinungen der ersten und der zweiten Natur wäre jedoch der Unterschied zwischen erster und zweiter Natur eingezogen, der in der Frage Adornos nach der Objektivität der Wissenschaft der zweiten Natur vorausgesetzt ist. Das Extrem, daß die Wissenschaft der Gesellschaft einen Wahrheitsanspruch erheben könnte, der den Naturwissenschaften versagt bleibe717, steht damit dem entgegen, die Objektivität der Wissenschaft der Gesellschaft dadurch zu begründen, daß die Objektivität des gesellschaftlichen Lebens die von Naturgeschichte sei. Beide Extreme treffen Argumente in der Begründung der 712 713 714 713 716 717

Vgl. KrV, 166a, A 114. KrV, 134, Β 126. Vgl. KrV, 165a, A 113, vgl. 145a, A 100. Vgl. KrV, 178a f., A 121 f. Vgl. KrV, 188b, Β 167. Vgl. in der Einleitung von Vittorio Hösle in Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, CV.

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Objektivität von Wissenschaft; je für sich genommen verwickeln beide sich in unauflösbare Widersprüche. Die erste Natur ist die materielle Grundlage der zweiten Natur. Die zweite Natur ist Resultat der Auseinandersetzung der Menschen mit der ersten Natur, deren Zweck neben den Künsten im wesentlichen darin besteht, die materielle Reproduktion zu gewährleisten. Die Erscheinungen der zweiten Natur sind als Erscheinungen nicht von denen der ersten Natur unterscheidbar, unterscheidbar sind sie nur anhand der Ursachen der Erscheinungen. Daraus, daß die Erscheinungen der zweiten Natur nicht von denen der ersten Natur unterscheidbar sind, ist auf einen Unterscheidungsgrund zu schließen, der in den unterschiedenen Ursache liegt. In diesem Schluß wird der Grund der Unterscheidung der zweiten Natur von der ersten Natur erschlossen. Der durch den Unterscheidungsgrund bestimmte Begriff der zweiten Natur ist damit, wie der Begriff der ersten Natur auch, ein Begriff der Reflexion. Dieser Unterscheidungsgrund der Erscheinungen ist nicht aus den Erscheinungen selbst zu erschließen. Darin ist der Versuch, aus den Erscheinungen auf den Unterscheidungsgrund der Erscheinungen zu schließen, dem analog, aus den Handlungen des empirischen Charakters auf die Moralität, und damit den Unterscheidungsgrund zu schließen, wie viel an einer Handlung "reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (,merito fortunae) zuzuschreiben sei (,..)."718 Ist aus den Erscheinungen nicht auf deren Unterscheidungsgrund zu schließen, sind der Unterscheidung der Erscheinungen, und damit der Unterscheidung der Naturwissenschaft von der Gesellschaftswissenschaft, die unterschiedenen Ursachen a priori vorauszusetzen. Die Ursache der Erscheinungen der ersten Natur ist nach Kant das Ding an sich. Die Unbekanntheit dieser Ursache wird zum einen dadurch begründet, daß das Ding an sich selbst kein Gegenstand möglicher Erfahrung sei, zum anderen durch eine Aporie im Schluß auf das Ding an sich als Ursache der Erscheinungen: Kant zufolge sind Erscheinungen ens a se. Da die Erscheinungen als Vorstellungen nicht in sich subsistieren, müsse ein Existenzgrund dieser Erscheinungen angenommen werden, der unabhängig von den Erscheinungen ist. Daraus, daß die Erscheinungen nicht in sich subsistieren, wird auf die Notwendigkeit eines Existenzgrundes der Erscheinungen geschlossen. Da dieser Schluß, der das schließende Subjekt und das erschlossene Subjekt, das Ding an sich als Existenzgrund der Erscheinungen, einschließt, ein Schluß des schließenden Subjekts ist, wäre auch die Ursache der Erscheinungen nur im und für das schließende Subjekt.719 Die Erscheinungen samt ihrer Ursachen blieben in 718 719

KrV, 536 f. Fn, Β 579. Vgl. Myriam Gerhard: Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie, Kapitel I. Α. 1. Kant zur Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft, und Kapitel Π. Α. 1. Kants Bestimmungen des Begriffs der Materie in der Kritik der reinen Vernunft.

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der Immanenz des Vorstellungsvermögens. Das Resultat dieses Schlusses widerspräche der Prämisse des Schlusses, daß die Erscheinungen als Vorstellungen des Subjektes nicht in sich subsistierten. Diese Aporie löst Kant nicht und kann sie auch nicht lösen. Sie ist jedoch der Grund dafür, daß Kant an der Unabhängigkeit der Ursache der Erscheinungen gegenüber dem schließenden Subjekt festhält. Hält Kant an der Unabhängigkeit der Ursache der Erscheinungen gegenüber dem schließenden Subjekt fest, kann über die Ursache nicht mehr ausgesagt werden, als daß es sie geben müsse. Als unabhängig vom schließenden Subjekt erschlossen, bezieht dieses sich auch negativ auf den Schluß. Die unbekannte Ursache der Erscheinungen wird so negativ als unabhängiger Existenzgrund erschlossen und es ist nur konsequent, dann von einer unbekannten, unerforschlichen Ursache™ zu sprechen. Damit ist die Ursache der Erscheinungen oder der Existenzgrund der Erscheinungen bestimmt als etwas, das weder Antezedends noch Konsequenz eines Schlusses sein kann. Vom Existenzgrund der Erscheinungen kann ihr Bestimmungsgrund, der transzendentale Gegenstand, unterschieden werden.721 Der transzendentale Gegenstand ist Resultat des Schlusses von der transzendentalen Einheit der Apperzeption auf einen ihr korrespondierenden Gegenstand. Er ist einerseits die erschlossene Reflexionsbestimmung der widerspruchsfreien Einheit aller Urteile der Wissenschaften, andererseits ist er als die eine Welt der Gegenstände möglicher Erfahrung auch objektiv. In ihrer Objektivität, die auf der Unabhängigkeit vom schließenden empirischen Subjekt beruht, sind der transzendentale Gegenstand und das Ding an sich identisch. Im Unterschied zum Ding an sich, über das Kant als Existenzgrund der Erscheinungen nicht mehr sagt, daß es sein müsse, jedoch darüber hinaus vollkommen unbekannt sei, kann über den transzendentalen Gegenstand in seiner Funktion als Bestimmungsgrund der Objektivität der Erscheinungen mehr ausgesagt werden, als daß er wie der Existenzgrund nur sein müsse: Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist die Form der Gesetzmäßigkeit aller Gegenstände möglicher Erfahrung.722 Dieser Form muß ein ihr kompatibler Inhalt entsprechen. Wäre der Inhalt der transzendentalen Einheit der Apperzeption nicht an sich dieser Form kompatibel bestimmt, könnte die Objektivität der Erkenntnisse nicht begründet werden. Die Begründung der Objektivität setzt deshalb Prinzipien der gesetzmäßigen Organisation aller Gegenstände möglicher Erfahrung voraus. Diese Prinzipien der

720 721

722

Vgl. KrV, 184 b, Β 164, vgl. 321, Β 332 f. Dies wäre der Ort, die Differenz von transzendentalem Gegenstand und Ding an sich, die dazu fuhrt, daß beide wie Form und Inhalt der transzendentalen Reflexion auseinanderfallen, zu erörtern. Zur Bestimmung des transzendentalen Gegenstandes als transzendentes Ding an sich und die Notwendigkeit der Differenz zwischen transzendentalem Gegenstand und Ding an sich vgl. Emst Adickes: Kant und das Ding an sich, 99 f. KrV, 184a-188a, A 126-A 128.

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gesetzmäßigen Organisation aller Gegenstände möglicher Erfahrung sind nach Kant das transzendentale Ideal, das dieselbe Funktion wie der transzendentale Gegenstand erfüllt, und zudem die Idee der Zweckmäßigkeit der Natur. An der Warnung, daß diese Bestimmungsgründe der Erscheinungen nicht hypostasiert oder zu konstitutiven Prinzipien erklärt würden, und so behauptet würde, daß die Naturerscheinungen an sich diesen Prinzipien gemäß organisiert seien, fallen Bestimmungsgrund und Existenzgrund der Erscheinungen auseinander. Immer wieder betont Kant, daß die Prinzipien der Organisation der Gegenstände nur regulative Prinzipien der Reflexion über Erscheinungen der Natur seien, von der nicht zu sagen sei, ob deren Gegenstände tatsächlich nach den Prinzipien der Reflexion über diese organisiert seien. Um die Objektivität der Wissenschaft zu begründen, muß jedoch die Hypostasierung des Bestimmungsgrundes in Gestalt des transzendentalen Ideals und der Konstitutivität der Idee der Zweckmäßigkeit ebenso angenommen werden. Diese Konsequenz, in die sich die kantische Argumentation zwangsläufig verwickelt, hätte zur Folge, daß die Unbekanntheit und Unerforschlichkeit des Existenzgrundes der Erscheinungen durch den Bestimmungsgrund derselben aufgehoben wäre. Die Ursache der Erscheinungen der zweiten Natur, wenngleich sie nicht aus den Erscheinungen zu erschließen ist, ist der Wille. Seine durch einen Begriff bestimmte723 Kausalität ist der Existenzgrund der Erscheinungen. Die Bestimmtheit durch einen Begriff unterscheidet den Willen als Begehrungsvermögen von dem pathologisch nezessitierten Begehrungsvermögen.724 Der Wille selbst ist wieder unterschieden in den Willen, der nach Naturbegriffen handelt, und den, der nach dem Freiheitsbegriff handelt. Da "ohne alle Zweckbeziehung (...) gar keine Willensbestimmung im Menschen statt finden (,..)"725 könne, sei der Zweck der "Bestimmungsgrund der Willkür (...)."726 Dem nach Naturbegriffen handelnden Willen ist sein Zweck, den er in seinen Handlungen realisiert, vorausgesetzt. Der nach dem Freiheitsbegriff handelnde Wille sei dagegen "ohne vorhergehende Bezugnehmung auf Zwecke und Absichten (...)"727 bestimmt. Sein Bestimmungsgrund sei das moralische Gesetz, das selbst nicht durch einen Zweck bestimmt ist: "So bedarf es zwar für die Moral zum Rechthandeln keines Zwecks, sondern das Gesetz, welches die formale Bedingung des Gebrauchs der Freiheit überhaupt enthält, ist ihr genug. Aber aus der Moral geht doch ein Zweck hervor; (...) das ist,

723 724

725 726 727

Vgl. KU, 172, x m . Diese Unterscheidung von technisch- und moralisch-praktisch ist bei Kant nicht immer eindeutig durchgehalten. Vgl. KU, 172, ΧΙΠ f. Religion, 4. Ebda. KU, 173, XV f.

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die Idee eines höchsten Guts in der Welt, zu dessen Möglichkeit wir ein höheres, moralisches, heiligstes und allvermögendes Wesen annehmen müssen (...)·"728 Die moralischen Handlungen sind nach Kant nicht durch einen Zweck, sondern durch das Sittengesetz bestimmt. Die Folge der moralisch bestimmten Handlungen sei dagegen ein Zweck, der die Realisierung der Idee eines höchsten Guts in der Welt zum Inhalt habe. An dem Unterschied des Zwecks als Grund und Folge ist der nach Naturbegriffen handelnde Wille von dem nach dem Freiheitsbegriff handelnden Willen zu unterscheiden. Für den nach Naturbegriffen handelnden Willen ist der Zweck sowohl Existenz- als auch Bestimmungsgrund der durch ihn hervorgebrachten Erscheinungen. Für den nach dem Freiheitsbegriff handelnden Willen ist dagegen die Freiheit der Existenzgrund des Sittengesetzes, das seinen Bestimmungsgrund - der kein Zweck sei - darstellt. Dieser Bestimmungsgrund hat als Sittengesetz die Form der Gesetzmäßigkeit aller Maximen des Willens zum Prinzip.729 Das Sittengesetz ist damit als Prinzip der Organisation aller nach dem Freiheitsbegriff handelnden Willen ein Begriff der Totalität. Das Sittengesetz enthält die Idee eines Ganzen, der Zweck als Bestimmungsgrund des nach dem Naturbegriff handelnden Willens dagegen nicht.730 Der Zweck als Bestimmungsgrund des nach dem Naturbegriff handelnden Willens ist ein partikularer Zweck. Können partikulare Zwecke sowohl miteinander verträglich sein als auch einander entgegenstehen, ist aus ihnen keine Einheit abzuleiten, die alle partikularen Zwecke unter sich befaßt. Gleichwohl gibt es in der Kritik der Urteilskraft ein System der Naturzwecke. Die Totalität als Bestimmung der Einheit aller partikularen Zwecke bedürfte demnach eines weiteren Prinzips in Gestalt eines Zweckes, dem alle partikularen Zwecke untergeordnet wären. Dieser übergeordnete Zweck wäre das Prinzip der Organisation aller nach partikularen Zwecken handelnden Willen.

5.2 Zum Prinzip der Organisation der Totalität der Individuen Die Begründung der Objektivität wissenschaftlicher Urteile setzt Prinzipien der gesetzmäßigen Organisation aller Gegenstände möglicher Erfahrung voraus. Für die Gegenstände der ersten Natur sind das der transzendentale Gegenstand, das transzendentale Ideal und der Begriff der Zweckmäßigkeit. Das transzendentale Ideal ist als Inbegriff aller Realität die intensionale Bestimmung der Totalität aller Gegenstände möglicher Erfahrung, dessen Prinzip der Ordnung 728 729 730

Religion, 4 f. Vgl. KpV, 30 f., 54. Vgl. MdS, 230 f. Diese Differenz ist bei Hegel in der Bestimmung des Willens, der sich selbst will, eingegangen. Vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts, insbes. 62 ff., § 10 ff., 74 ff., § 23.

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dem disjunktiven Vernunftschluß entspricht.731 Das traditionelle Modell dieser Ordnung ist die ,abor porphyriana'. Die durch die Anwendung der Begriffe Genus proximum und Differentia specifica geordnete Totalität von Gegenständen ist durch die oberste Substanz in Einheit. Die Ordnung der extensionalen Totalität wird durch das dem disjunktiven Vernunftschluß analoge Prinzip der Ordnung auf die intensionale Bestimmung der Totalität zurückgeführt, da die intensionale Bestimmung Voraussetzung der Anwendung des Prinzips der Ordnung der Extensionalität ist: Der Inbegriff ist dem, was durch ihn begriffen wird, vorausgesetzt. Ebenso ist jedoch dem Inbegriff das, was durch ihn begriffen wird, als Vieles vorausgesetzt. Intensionalität und Extensionalität sind so einander wechselseitig voraussetzende Begriffe. Diese Wechselseitigkeit beider Bestimmungen der Totalität ist in der doppelten Bestimmung des transzendentalen Gegenstands, sowohl intensionaler als auch als extensionaler Begriff der Totalität zu sein, enthalten. Ein intensionaler Begriff ist der transzendentale Gegenstand als "Gegenstande einer sinnlichen Anschauung überhaupt, der also für alle Erscheinungen einerlei ist."732 Als jeder Erfahrung transzendenter Gegenstand könne er durch "keine Kategorien"733 gedacht werden, da diese auf die Erkenntnis von Gegenständen möglicher Erfahrung restringiert sind. Kann der transzendentale Gegenstand durch keine Kategorien bestimmt werden, ist über ihn nicht mehr auszusagen, als daß er der eine identische Grund aller Erscheinungen sei. Als intensionaler Begriff der Totalität ist der transzendentale Gegenstand damit wie das transzendentale Ideal der Begriff der Einheit aller Erfahrung. Im Unterschied zum transzendentalen Ideal hat der transzendentale Gegenstand in dieser Bestimmung kein weiteres Prinzip, das die Ordnung der Totalität der Gegenstände dieser Einheit leistete. Dagegen734 ist der transzendentale Gegenstand in seiner Bestimmung als extensionaler Begriff das näher bestimmte gegenständliche Korrelat zur transzendentalen Einheit der Apperzeption, "das zur Einheit des Mannigfaltigen in der sinnlichen Anschauung dienen (...)"735 könne. Als dieses Korrelat hat der transzendentale Gegenstand die

731

732 733 734

735

Obzwar in einem anderen Zusammenhang, weist Georg Picht die Notwendigkeit des transzendentalen Ideals nach: "Erkenntnis stellt sich erst ein, wenn wir ein gegliedertes Ganzes vor uns haben, das so gebaut ist, daß wir jeder einzelnen Aussage ihren richtigen Platz zuweisen können. Die Gliederung läßt sich aus dem Postulat der Widerspruchsfreiheit nicht ableiten."(Der Begriff der Natur und seine Geschichte, 67). Vgl. Volker Gerhardt: "Denn Widerspruchsfreiheit kann zwar die Vereinbarkeit von Aussagen garantieren (...), aber sie kann nicht den Abschluß eines Erkenntniszusammenhangs zu einem Ganzen gewährleisten."(Selbstiiberschreitung und Selbstdisziplin. Zur Aktualität des Systembegriffs nach Kant, 250). KrV, 301, A 253. Ebda. Vgl. Myriam Gerhard: Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie, Kapitel II. A. 2. a) Die Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena. KrV, 299, A 250.

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Funktion, die objektive Realität der Erkenntnisse zu garantieren.736 Die Begriffe der Ordnung der Realität als Gegenstände möglicher Erfahrung sind die Kategorien Substanz737, Kausalität und Wechselwirkung. Die durch sie geordnete Extensionalität ist jedoch keine Ordnung nach einem Prinzip, durch dessen Anwendung die Totalität aller Gegenstände wie im transzendentalen Ideal zuverlässig in Gegenstandsbereiche eingeteilt wäre. Ohne solch ein dem disjunktiven Vernunftschluß analoges Prinzip müßte die durch die Begriffe Kausalität und Wechselwirkung geordnete Totalität im Ganzen erkannt werden, um die hinreichende Ursache einer Wirkung zu bestimmen. Weil die Kategorien nur potentielle Totalitätsbegriffe, deren Restriktion auf partikulare Systeme zwar notwendig für die Möglichkeit von Erkenntnissen, doch der Idee der systematischen Einheit aller Erkenntnisse, der transzendentalen Einheit der Apperzeption damit aber entgegengesetzt ist, bedürfen sie eines koordinierenden Prinzips, nach dem sowohl die Totalität aller Erkenntnisse als auch die Totalität aller Gegenstände a priori geordnet sei. Dieses sowohl die Einheit aller Erkenntnisse als auch die einheitliche Ordnung aller nach den Kategorien geordneten Gegenstände möglicher Erfahrung garantierende Prinzip ist das Prinzip der Zweckmäßigkeit. Unangesehen dessen, ob das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur bloß regulativ, konstitutiv oder ontologisch fundiert sei, wird dessen Notwendigkeit von Kant dadurch begründet, daß "die specifische Verschiedenheit der empirischen Gesetze der Natur, sammt ihren Wirkungen, dennoch so groß sein könnte, daß es für unseren Verstand [mit den Kategorien als seinen Begriffen, T.S.] unmöglich wäre, in ihr eine faßliche Ordnung zu entdecken (...)."738 Die Natur werde so nach "einer neuen gesetzlichen Ordnimg (...)"739 betrachtet, die zu der durch die regressive Synthesis erzeugten Totalität noch die durch die progressive Synthesis erzeugte ergänze. Das "Prinzip der systematischen Einheit der Natur (,..)"740 ist notwendig. Die systematische Einheit der Natur ist die von der Einheit der Vernunft auf die Natur "projektierte Einheit (...)."741 Die Einheit der Vernunft ist die "Einheit des Systems (...)."742 Sowohl das Argument für die Einheit der Vernunft als auch das für die Notwendigkeit, die Einheit der Vernunft und damit deren Systematik auf die Natur zu projizieren, ist apagogisch: Erstens, die Einheit der Vernunft ist notwendig, weil ohne diese es "keinen zusammenhängenden Verstandesgebrauch, und in dessen Ermanglung kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit 736 737

738 739 740 741 742

Vgl. KrV, 158a ff., A 109 ff. Zu zeigen wäre, daß die Kategorie Substanz bei Kant äquivok ist, sie gibt die Subjekte der Ordnung und die Ordnung dieser Subjekte, das heißt ihre Relationen in der,arbor poiphyriana*. KU, 185, XXXVI. KU, 379, 301, § 67. KrV, 643, Β 721. KrV, 608, Β 675. KrV, 633, Β 708.

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C·.)"743 gäbe. Zweitens, die Projektion der Einheit der Vernunft auf die Natur ist notwendig, weil sonst unbestimmt bliebe, ob das Merkmal der Wahrheit auf die empirischen Gegenstände anwendbar wäre. Ohne die Forderung, daß dieses Merkmal auf die empirischen Gegenstände anwendbar sein müsse, wäre der Begriff der Wahrheit, dessen traditionelle Bestimmung die der Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand ist, auf die logische Konsistenz, das heißt die widerspruchsfreie Einheit von Urteilen, reduziert. Durch die Projektibilität der Einheit der Vernunft auf die Natur wäre das, was die "Vernunft (...) zustande zu bringen sucht, das Systematische der Erkenntnis (...), d. i. der Zusammenhang aus einem Prinzip"744, auch von den Gegenständen der Natur ausgesagt. Dieser Zusammenhang der Totalität aller Gegenstände der Natur aus einem Prinzip ist durch das transzendentale Ideal bestimmt. Im Unterschied dazu liefern die beiden Bestimmungen des transzendentalen Gegenstands kein Prinzip des Zusammenhangs von Lntensionalität und Extensionalität. Weder ist vom transzendentalen Gegenstand als Gegenstand überhaupt dessen Verhältnis zu den einzelnen Gegenständen durch ein Prinzip bestimmt noch ist von ihm als dem, was die Einheit des Mannigfaltigen in der sinnlichen Anschauung herstellen soll, zu sagen, wie diese Einheit durch die Kategorien zu garantieren sei, da die Kategorien als Begriffe der Ordnung der Totalität immer auf partikulare Gegenstände restringiert sind. Deshalb bedarf diese Ordnung der Totalität der Vernunft, die "in Beziehung auf die Totalität der Reihen, als auf welche der Verstand gar nicht sieht (...)"745, Einheit schafft. "Diese höchste formale Einheit, welche allein auf Vernunftbegriffen beruht, ist die zweckmäßige Einheit der Dinge (...)."746 Die Idee einer "obersten Intelligenz (,..)"747, die die Dinge in Gestalt einer zweckmäßige Einheit auf das Erkenntnisvermögen hin ordne, stellt damit den Zusammenhang zwischen den Bestimmungen des transzendentalen Gegenstands und dem Begriff des Zwecks her. Auffallend ist, daß das, was sowohl die zweckmäßige Einheit als auch die Ordnung der Gegenstände möglicher Erfahrung durch das transzendentale Ideal bewirke, beides von Kant als oberste Intelligenz oder höchster Urheber748 bezeichnet wird. Mit der Ergänzung der kategorialen Ordnung der Totalität durch den Begriff der Zweckmäßigkeit, die in der Kritik der reinen Vernunft enthalten und in der Kritik der Urteilskraft ausgeführt wird, und dem transzendentalen Ideal sind damit zwei Prinzipien der Organisation der Totalität parallel entwickelt. Sachlich begründen beide Prinzipien die "kollektive Einheit (...) der 743 744 745 746 747 748

KrV, 611, Β 679. KrV, 607, Β 673. KrV, 605, Β 671. KrV, 638, Β 714. KrV, 638, Β 715. Vgl. KrV, 648, Β 729.

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Verstandeshandlungen (...)"749, die der "distributiven Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes (...)"7S0 vorausgesetzt ist. In der Erklärung des transzendentalen Ideals ist jedoch weder von Kategorien noch deren Restriktion auf partikulare Gegenstände die Rede, sondern die Begriffe der Bestimmung der Gegenstände, die entsprechend dem disjunktiven Vernunftschluß einem Gegenstand zu- oder abgesprochen werden, bezeichnet Kant als Prädikate.751 Ebensowenig ist am transzendentalen Ideal der Zweckbegriff zu finden. Der Zweckbegriff wird erst im Abschnitt über den regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft eingeführt. Erst hier ist im Unterschied zum transzendentalen Ideal, das zwar sachlich auch die kollektive Einheit der Verstandeshandlungen zum Ziel hat, die Erörterung des Verhältnisses von distributiver Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes und kollektiver Einheit der Verstandeshandlungen Gegenstand. In dem unmittelbar folgenden Abschnitt über die Endabsicht der natürlichen Dialektik wird die zweckmäßige Ordnung der Gegenstände wie die Ordnung durch das transzendentale Ideal von einem höchsten Urheber hervorgebracht ausgegeben. Demnach müßten beide von Kant angegebenen Prinzipien der Organisation der Totalität in der einen Idee des höchsten Urhebers dieser Ordnungen koinzidieren. In der Kritik der Urteilskraft findet dagegen das transzendentale Ideal als Prinzip der Ordnung keine Erwähnung mehr, sondern nur die kategoriale Ordnung, die mit der teleologischen als vereinbar erwiesen werden soll. Ein Argument für die Verschiebung des Akzents der Argumentation von zwei parallel entwickelten Prinzipien der Organisation der Totalität, die in der Idee des höchsten Urhebers koinzidierten, zu dem Prinzip der Zweckmäßigkeit mag sein, daß des letzteren Prinzips höchster Urheber in der Kritik der Urteilskraft nach Kant der Mensch als Zweck der Natur sei. Er sei der Natur ihr transzendenter Zweck, dem die "ganze Natur teleologisch untergeordnet ist."752 In der Kritik der reinen Vernunft am transzendentalen Ideal ist von einer Identifizierung des höchsten Urhebers mit dem Menschen, die zwar in jedem Gottesbeweis gedacht ist, weder die Rede noch hätte Kant dieser zustimmen können. Ist der Begriff der Objektivität nicht zu unterscheiden in einen naturwissenschaftlichen und einen gesellschaftswissenschaftlichen, muß für die Begründung der Objektivität wissenschaftlicher Urteile der zweiten Natur ebenso ein Prinzip der gesetzmäßigen Organisation der Totalität ihrer Gegenstände bestimmbar sein. Die Totalität der Gegenstände der zweiten Natur ist Resultat Zwecke realisierender Handlungen. Im Unterschied zu den nach dem Freiheitsbegriff handelnden Willen, deren Einheit durch das Sittengesetz garantiert ist, sind die 749 750 751 752

KrV, 606, Β 672. KrV, 560, Β 610. Vgl. KrV, 551, Β 599 ff. KU, 436,399, § 84.

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nach Naturbegriffen handelnden Willen nicht a priori in Einheit, wenn diese Natur, und seit durch uns akzidentiell, veränderbar ist. Die Bestimmungsgründe dieser Handlungen sind partikulare Zwecke. Die extensionale Bestimmung der Totalität dieser partikularen Zwecke bedarf eines die Einheit herstellenden Prinzips, durch welches die extensionale Bestimmung mit der intensionalen zusammengeschlossen wird. Dieser Zusammenhang von Extensionalität und Intensionalität aus einem Prinzip begründet die systematische Einheit der zweiten Natur. Analog der Argumentation aus der Kritik der Urteilskraft15*, in der die partikularen Naturzwecke zu dem System der Naturzwecke durch den letzten Zweck der Natur oder den Endzweck, der selbst kein Naturzweck, sondern ein der Natur transzendenter Zweck ist, zusammengeschlossen werden, bedürfen die partikularen Zwecke des ihre Einheit herstellenden übergeordneten Zwecks. Dieser übergeordnete Zweck der zweiten Natur ist, wie der Zweck der ersten Natur, kein partikularer Zweck, sondern den partikularen Zwecken transzendent. Als transzendenter Zweck ist er weder von einzelnen Individuen zu setzender noch von diesen einzeln zu realisierender Zweck. Er ist erschlossen als Bedingung der Möglichkeit der Organisation der Totalität aller partikularen Zwecke. In dieser Funktion, als Idee, nach der alle partikularen Zwecke zur Totalität organisiert seien, wäre dieser Zweck nach Kant als ein regulativer Begriff aufzufassen. Da ohne diesen Zweckbegriff eine organisierte Totalität aller partikularen Zwecke und ohne diese organisierte Totalität die Objektivität wissenschaftlicher Urteile nicht zu begründen wäre, müßte dieser Zweck auch konstitutiv für die Möglichkeit wissenschaftlicher Urteile über die zweite Natur sein. Der Rechtsphilosoph und Neukantianer Rudolf Stammler, der zu beantworten suchte, inwieweit die "Übertragung oder parallele Anwendung naturwissenschaftlicher Begriffe und Methoden auf soziale Erkenntnis, insbesondere auf die Rechtswissenschaft, begründet und gerechtfertigt"754 sei, hat die Analogie zu der Bestimmung des Endzwecks aus der Kritik der Urteilskraft aufgegriffen. Stammler zufolge sei die Form der Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen des sozialen Lebens durch den Endzweck begründet: "In diesem Endzwecke der Regelung des gesellschaftlichen Daseins der Menschen liegt die Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens beschlossen"755, alle partikularen Zwecke seien dagegen, analog zur Bestimmung der relativen Zweckmäßigkeit aus der Kritik der Urteilskraft, nur "endlich und von relativer Bedeutung (...)."756 In der 753

734 755 756

Volker Gerhardt weist auf die Bedeutung der Argumentation der Kritik der teleologischen Urteilskraft für die Begründung einer Theorie der Gesellschaft hin. Vgl. Transzendentale Theorie der Gesellschaft: Philosophische Anmerkung zu einem soziologischen Programm, 134 ff. Rudolf Stammler: Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, 5. Rudolf Stammler: Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, 437. Rudolf Stammler: Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, 442.

Zum Prinzip der Organisation der Totalität der Individuen

167

Bestimmung des Endzwecks verläßt die Argumentation von Stammler jedoch die Analogie zur Kritik der Urteilskraft. "Die Erreichung einzelner bestimmter Ziele an und fur sich kann niemals das allgemeingültige Gesetz für die menschliche Gesellschaft abgeben. Denn jeder Zweck, der durch soziales Zusammenwirken verfolgt und erfüllt werden soll, besteht immer nur durch und fur Menschen. Das Ziel, als eigenes Ding für sich genommen, ist nur eine Abstraktion, existiert aber für sich in eigener Selbständigkeit gar nicht: Es gibt immer nur Zwecke von Menschen, durch sie gesetzt, für sie verfolgt. Also kann auch ein einheitliches Ziel für das soziale Zusammenwirken nur in der allgemeingültigen Art der Regelung desselben liegen C··)" 7 5 7

Die Abkehr von der Analogie zur Kritik der Urteilskraft besteht darin, daß der Endzweck der partikularen Zwecke nur eine Abstraktion, ohne selbständige Existenz sei, weshalb es nur partikulare Zwecke geben könne. Durch den Regreß, um wessen Zweckes willen die partikularen Zwecke seien, hat Kant mit der Bestimmung des Endzwecks auf den Grund der systematischen Einheit aller Zwecke geschlossen. Dieser erschlossene Zweck ist ein spekulativer Begriff 758 , er ist den partikularen Zwecken transzendent, jedoch keine Abstraktion. Kant hat den Endzweck als "objectiven Grunde" 759 bestimmt. Dieser objektive Grund des Systems von Zwecken sei im Dasein des Menschen als "Subjecte der Moralität (...)"760 begründet. Die systematische Einheit aller partikularen Naturzwecke, die Organismen, und die der technisch-praktisch freien Zwecke, die in der Kultur realisiert seien, werde so durch den Endzweck als moralisch-praktischem Zweck begründet. Durch die Annahme, daß es nur partikulare, technisch-praktisch freie Zwecke gebe, verläßt Stammler die Analogie zur Kritik der Urteilskraft. Weil es keinen objektiven Endzweck geben könne, sondern nur partikulare Zwecke, sei die Möglichkeit der systematischen Einheit dieser Zwecke als Voraussetzung ihrer Gesetzmäßigkeit nicht durch diesen Endzweck, sondern nur durch die "allg e m e i n g ü l t i g e ( n ) Art der Regelung" 7 6 1 dieser partikularen Zwecke, die im Recht bestehe, zu begründen.762 757 758

759 760 761 762

Rudolf Stammler: Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, 441. "Der Begriff des Endzwecks des Daseins der Welt ist also ein übersinnlicher und metaphysischer Begriff."(Klaus Düsing: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 230). KU, 435, 397, § 84. KU, 435, 399, § 84. Rudolf Stammler: Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, 441. Rudolf Stammler wird so das Recht zum Prinzip der Ordnung aller partikularen Zwecke. Vgl. Rudolf Stammler: Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, 8 ff., 442. Die Daxstellung und Diskussion dessen ginge über den gesetzten Rahmen dieser Arbeit hinaus, doch sei darauf hingewiesen, daß im Privatrecht bzw. in Regelungen von Schadensersatz eine nicht-rechtliche, ökonomische Bestimmung erscheint: "Der Inhalt der Verträge, die Relation der Leistungen, die zu erbringen sind, wird der Fiktion des Rechts nach frei ausgehandelt. Werden jedoch Verträge gebrochen, so muß das Gericht, um den Anspruch auf Schadensersatz dem Inhalt nach zu bestimmen, aus dem Parteienvorgang den gewöhnlichen Lauf der Dinge konstruieren und

168

Zu den Bedingungen einer kritischen Theorie der Gesellschaft

Entgegen Stammlers Schluß sind aus der Analogie zu Kants Bestimmung des objektiven Grundes der Einheit aller partikularen Zwecke zwei Forderungen zu entwickeln, denen der Zweck, der die partikularen Zwecke innerhalb der Gesellschaft zur Einheit organisiere, genügen müßte. Zum einen müßte dieser Zweck das Potential haben, sich alle partikularen Zwecke unterzuordnen. Ohne dieses Vermögen wäre keine Einheit aller partikularen Zwecke zu garantieren. Zum anderen müßte eine Konstanz dieses Potentials angenommen werden. Nur wenn dieser Zweck es vermöchte, dauerhaft alle partikularen Zwecke sich unterzuordnen, wäre die Erfüllbarkeit des einen Kriteriums wissenschaftlicher Aussagen, das in deren Reproduzierbarkeit besteht, gegeben. Die Notwendigkeit dieser Konstanz für die Möglichkeit von Gesellschaftstheorie einerseits, die andererseits jedoch die Möglichkeit, diese Konstanz zu durchbrechen, nicht ausschließen soll, ist bei Horkheimer und Adorno thematisch: "Die Festigkeit der Theorie rührt daher, daß bei allem Wandel der Gesellschaft doch ihre ökonomisch grundlegende Struktur, das Klassenverhältnis in seiner einfachsten Gestalt, und damit auch die Idee seiner Aufhebung identisch bleibt."763 "Nur wenn es anders hätte werden können; wenn die Totalität, gesellschaftlich notwendiger Schein als Hypostasis des aus Einzelmenschen herausgepreßten Allgemeinen, im Anspruch ihrer Absolutheit gebrochen wird, wahrt sich das kritische gesellschaftliche Bewußtsein die Freiheit des Gedankens, einmal könne es anders werden."764

Zwei Momente für die Möglichkeit von Gesellschaftstheorie sind festzuhalten: Erstens, das Potential des Zwecks, alle partikularen Zwecke sich unterzuordnen. Zweitens, die Konstanz dieses Zwecks. Die Reflexion des Verhältnisses beider Momente zu der Möglichkeit der Veränderbarkeit des Gegenstands der Theorie durch Freiheit ist das zentrale Thema der kritischen Theorie. Zum Totalitätsbegriff der kritischen Theorie schreibt Hans-Jürgen Krahl:

763 764

aus dem Inhalt des Vertrages den möglichen Gewinn, den seine Erfüllung gebracht hätte, der aber nicht zum Inhalt des Vertrages gehört, beziffern. Etwas, das nur der Möglichkeit nach ist, nicht wirklich existiert, läßt nur dann sich quantitativ bestimmen, wenn die Realisierung dieser Möglichkeit einem Gesetz folgt. Folgt die Realisierung eines möglichen Gewinns einem Gesetz, dann müssen von diesem Gesetz auch die Realisationen der Leistungen im Vertrag festgelegt sein; diese sind nur dem Schein nach frei ausgehandelt, der Sache nach aber durch das Wertgesetz bestimmt. (...) Das Recht garantiert das Netz von Verträgen unabhängig von deren Inhalt, als Rechtsprechung, Wiederherstellung des lädierten Rechts, verweist es auf eine objektive ökonomische Basis, ohne auf die zurückzugreifen die Rechtsprechung das lädierte Recht nicht wiederherstellen kann. Innerhalb der Sphäre des Rechts erscheint die ökonomische Basis nur durch Rechtsbruch."(Peter Bulthaup: Rechtspragmatik oder von der Zwangsläufigkeit des sittlichen Verfalls der Justiz, 83). Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, 208. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, 317.

Zum Prinzip der Organisation der Totalität der Individuen

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"Sie [die kritische Theorie, T.S.] konnte einen Totalitätsbegriff - und zwar in Reflexion auf die Kritik der politischen Ökonomie einen nichtmetaphysischen Totalitätsbegriff - erkennen, aber sie hat gleichwohl diese Totalität nicht in ihrer klassenantagonistischen Dualität wirklich begreifen können. Beim früheren Horkheimer schon ist die Zurechnung zur proletarischen Klasse mehr eine subjektiv-moralische Dezision, als daß sie wirklich konstitutiv in seine Theorie eingeht. Das bedeutet, mit der bürgerlichen Tradition des Deutschen Idealismus teilt die kritische Theorie die Einsicht in den Totalitätsbegriff. Mit der proletarischen Tradition teilt sie die Materialisierung dieses Totalitätsbegriffs im Hinblick auf Warenproduktion und Tauschverkehr."

Hans-Jürgen Krahl erkennt zwei Elemente des Totalitätsbegriffs der kritischen Theorie, denen ihre Herkunft aus der Tradition des Deutschen Idealismus und der marxschen Kritik der politischen Ökonomie nachweisbar sei. Die Einsicht in den Totalitätsbegriff (...)"766 des Deutschen Idealismus und die "Materialisierung dieses Totalitätsbegriffes (...)"767 durch Marx verbindet die Notwendigkeit des Totalitätsbegriffs für eine Theorie der Gesellschaft mit der Bestimmung des Zwecks, der in Gestalt des ökonomischen Zwecks der Verwertung des Werts alle partikularen Zwecke zur Einheit organisiere. Implizit ist damit die These aufgestellt, daß eine Theorie der Gesellschaft zu der Entwicklung der erkenntnistheoretischen Reflexion, die durch Philosophen des Deutschen Idealismus geleistet wurde, noch der ökonomischen Bestimmung des Zwecks der Produktion in der Gesellschaft bedürfe. Was an dem Totalitätsbegriff der Kritik der politischen Ökonomie, auf den sich der der kritischen Theorie gründe, "nichtmetaphysisch"768 sein soll, bleibt unausgeführt, doch ist jedem Versuch, einen nichtmetaphysischen Begriff der Totalität begründen zu wollen, zu entgegnen, daß die Totalität kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist. Sie ist nicht physisch erfahrbar, sondern ein spekulativer Begriff oder nach Kant eine Idee.

765 766 767 768

Hans-Jürgen Krahl: Kritische Theorie und Praxis, 289. Ebda. Ebda. Ebda.

170

Zu den Bedingungen einer kritischen Theorie der Gesellschaft

5.3 Zur Verkehrung der Freiheit 5.3.1 Zweck und Freiheit, Freiheit und Gesellschaft

Adorno zufolge sei "ohne allen Gedanken an Freiheit (...) organisierte Gesellschaft theoretisch kaum zu begründen."769 Die Aussage, daß ohne den Begriff von Freiheit die theoretische Begründung organisierter Gesellschaft nicht möglich sei, ist mehrdeutig. Die Mehrdeutigkeit dieser Aussage ist aufzuklären durch die Bestimmung der Verhältnisse 1.) von Freiheit und partikularen Zwecken und 2.) von Freiheit und dem die partikularen Zwecke zur Einheit organisierenden Zweck. 1.) Jeder Zweck ist durch die in ihm enthaltene Verkehrung der Zeitordnung von Ursache und Wirkung unabhängig von der durchgängigen Bestimmung nach den Kategorien Kausalität und Wechselwirkung. Diese Unabhängigkeit, die Kant dazu bewogen hat, den Zweck als Ursache eine ideale Ursache770 zu nennen und von der realen Ursache zu unterscheiden, ist als Freiheit im kosmologischen Verstände zu interpretieren. Jeder partikulare Zweck ist aus Freiheit und das, was in seiner Realisierung hervorgebracht wird, eine Erscheinung der Freiheit. 2.) Der die partikularen Zwecke zur Einheit organisierende Zweck ist folglich gleichermaßen aus Freiheit und das, was in seiner Realisierung hervorgebracht wird, ebenso eine Erscheinung der Freiheit. Weil die Erscheinungen der Freiheit im kosmologischen Verstände, Kant zufolge, wie jede andere Naturerscheinung, nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt seien, sind sie von diesen Naturerscheinungen nur durch die Idealität ihrer Ursachen zu unterscheiden. In den Erscheinungen der Freiheit im kosmologischen Verstände koinzidieren damit die Form der Gesetzmäßigkeit und die Gesetzlosigkeit, die Kant in der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft als einander ausschließend bestimmt hat. Diese Koinzidenz von gesetzmäßiger Form der Erscheinungen und nicht a priori durch ein Gesetz zu bestimmender Ursachen dieser Erscheinungen ist das zentrale Problem in der Begründung der Möglichkeit von Gesellschaftswissenschaft.771 Entweder wären die Erscheinungen der zweiten Natur wie die Erscheinungen der ersten Natur zu bestimmen, womit die Freiheit, der Antithesis der dritten Antinomie entsprechend, ausgeschlossen und die zweite Natur zur ersten Natur erklärt würde, oder die nicht a priori durch ein Gesetz organisierten freien Ursachen dieser Erscheinungen destruierten die Einheit der Erfahrung der zweiten Natur und mit ihr den objektiven Grund ihrer Wissenschaft. Die Alternative, entweder 769

770 771

Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, 217. "Ohne Rekurs auf den Freiheitsbegriff läßt sich über Gesellschaft und gesellschaftliches Handeln gar nicht sprechen."(Volker Geihardt: Vernunft und Interesse, 11). Vgl. KU, 372 f., 290, § 65. Vgl. Karl-Heinz Brodbeck: Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie, 50.

Zur Veikehrung der Freiheit

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die Objektivität der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse oder die Freiheit als Ursache der gesellschaftlichen Erscheinungen aufgeben zu müssen, schiene dahingehend entscheidbar zu sein, daß die Negation der Freiheit zur Voraussetzung der Objektivität von Gesellschaftswissenschaften erklärt würde. Die mechanische Erklärungsart nach den Kategorien Kausalität und Wechselwirkung würde so durch die Negation der Freiheit zur Voraussetzung der Objektivität.772 Die Negation der Freiheit aber steht der Freiheit, die jedem Zweck immanent ist, entgegen. An dieser Inkompatibilität von der Negation der Freiheit als Voraussetzung der Objektivität und der jeder Zwecksetzung immanenten Freiheit scheitern alle Versuche, die gesellschaftliche Wirklichkeit mechanisch zu erklären, gleichwohl diese Versuche in ihren Anfängen historisch eine aufklärerische Funktion hatten.773 Den Endzweck hat Kant explizit als unbedingten, freien Zweck bestimmt, der als moralisch-praktisch bestimmter Zweck nicht durch das Zusammenwirken aller Naturzwecke hervorzubringen sei.774 Der letzte Zweck ist dagegen widersprüchlich bestimmt, einerseits als bedingt durch die subordinierten Naturzwecke, die ihn hervorbrächten, andererseits sei er unabhängig von der Natur und könne, als betitelter Herr der Natur, sich und ihr technisch-praktisch frei Zwecke setzen.775 Die nicht widersprüchlich bestimmte Unbedingtheit des Endzwecks zeichnete diesen vor der Bestimmung des letzten Zweck als objektiven Grund des Systems aller Zwecke aus, doch stimmen der Endzweck und der letzte Zweck dadurch, daß der letzte Zweck auch unbedingt sei, überein. Diese Unbedingtheit und Möglichkeit der freien Zwecksetzung hat Kant als objektiven Grund der Einheit des teleologischen Systems bestimmt. Analog zu dieser Bestimmung wäre der die partikularen Zwecke zur Einheit organisierende Zweck als aus Freiheit und zugleich als der objektive Grund der Einheit dieser partikularen Zwecke zu bestimmen. Wie der Endzweck wäre dieser Zweck von allen partikularen Zwecken dadurch unterschieden, daß er durch ihr Zusammenwirken als Glieder

772

773

774 775

Vgl. "Der Kern ist damit ein Streit um die Berechtigung mechanischer Analogien in der Gesellschaft, die kurzerhand als »natürlich« interpretiert werden, während Keynes subjektive (menschliche) Bestimmungsgriinde in den Mittelpunkt seiner Theorie gestellt hat. Der Gedanke eines »natürlichen Gleichgewichts« in der menschlichen Gesellschaft setzt eine Naturkraft voraus, die jeweils die Freiheit als bloßen Schein ausweist und mechanisch beschreibt."(Karl-Heinz Brodbeck: Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie, 49). Vgl. 255 f. Vgl. Franz Boikenau: Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes, 311 ff. Vgl. "Der physische Mensch, der durch den Antrieb von Ursachen handelt, die unsere Sinne uns erkennen lassen, der moralische Mensch ist der Mensch, der nach physischen Ursachen handelt, die zu erkennen unsere Vorurteile uns hindem."(Paul Thiry d'Holbach: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt, 19). "Aus mangelnder Kenntnis seiner eigenen Natur, seiner eigenen Bestimmung, seiner Bedürfnisse und seiner Rechte ist der Mensch als gesellschaftliches Wesen aus Freiheit in die Sklaverei geraten (,..)."(21). Vgl. KU, 435, 397, § 84. Vgl. KU, 431, 390, § 83.

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Zu den Bedingungen einer kritischen Theorie der Gesellschaft

einer Kette von Zwecken nicht hervorzubringen, und damit ihnen transzendent wäre. Dieser Zweck aller partikularen Zwecke wäre so allen partikularen Zwecken teleologisch vorausgesetzt. Die von Adorno nicht ausgeführte Mehrdeutigkeit der Aussage, daß ohne den Begriff der Freiheit Gesellschaft theoretisch nicht zu begründen sei, besteht darin, daß sowohl die partikularen Zwecke der Handlungen der Individuen als auch der diese partikularen Zwecke organisierende Zweck aus Freiheit sind, und diese Freiheit in dem die partikularen Zwecke organisierenden Zweck zum objektiven Grund der Einheit aller partikularen Zwecke wird. Die Negation der Freiheit zur Bedingung der Möglichkeit der Objektivität gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse zu erklären, ist deshalb falsch. In der Begründung der Möglichkeit von Gesellschaftstheorie stehen sich die partikularen Zwecke und der ihre Einheit begründende Zweck gegenüber. Die Freiheit der partikularen Zwecke steht damit der Freiheit des ihre Einheit begründenden Zwecks gegenüber. Dieses Verhältnis ist analog der doppelten Bestimmung des objektiven Grundes des teleologischen Systems, A. als Endzweck und B. als letzter Zweck, doppelt zu bestimmen. Aus der doppelten Bestimmung des Verhältnisses der Freiheit der partikularen Zwecke zu der ihre Einheit begründenden Freiheit ergeben sich zwei Möglichkeiten, die Einheit aller partikularen Zwecke zu begründen.

A. Kants Bestimmung der Idee des Endzwecks "als der Mensch (...) unter moralischen Gesetzen (,..)"776 entsprechend wäre der die partikularen Zwecke organisierende Zweck als moralisch bestimmter denkbar. Das Sittengesetz, das vom Endzweck zu unterscheiden ist, würde so zum Prinzip der Gesetzmäßigkeit des Gebrauchs der Freiheit im kosmologischen Verstände, die technisch-praktischen Zwecke stimmten so mit der Form des Sittengesetzes überein. Dieser Gedanke, daß die Möglichkeit der Objektivität gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse in der moralisch-praktisch vernünftigen Bestimmung der Willen begründet sei, ist in Horkheimers Aufsatz, der über das Problem der Voraussage in den Sozialwissenschaften handelt, thematisch: "Je mehr das gesellschaftliche Leben den Charakter des blinden Naturgeschehens verliert und die Gesellschaft Anstalten trifft, sich als vernünftiges Subjekt zu konstituieren, desto mehr sind auch die gesellschaftlichen Vorgänge mit Bestimmtheit vorauszusagen." 777

776 777

KU, 448,421 f., § 87. Max Horkheimer: Zum Problem der Voraussage in den Sozialwissenschaften, 156.

Zur Verkehrung der Freiheit

173

"Diese Voraussagen [über die gegenwärtige Gesellschaft, T.S.] sind vielmehr deswegen so unvollkommen, weil die gesellschaftlichen Vorgänge noch keineswegs die Produkte der menschlichen Freiheit, sondern natürliche Resultanten des blinden Wirkens antagonistischer Kräfte sind. Die Art, wie unsere Gesellschaft ihr Leben erhält und erneuert, gleicht mehr dem Ablauf eines Naturmechanismus als einem zielvollen Handeln."778

Horkheimer hat recht damit, die Freiheit als Voraussetzung der Voraussage in den Sozialwissenschaften zu bestimmen, doch unterscheidet er nicht zwischen der Freiheit im kosmologischen und der Freiheit im praktischen Verstände. Die These, daß die gegenwärtige Gesellschaft nicht aus Freiheit sei, sondern eher einem Naturmechanismus gleiche, hätte zur Konsequenz, daß eine Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft nicht möglich wäre. Deren Möglichkeit hinge folglich von der Konstituierung der Gesellschaft als vernünftigem Subjekt ab. Diese Konsequenz ist aus den beiden Zitaten zu ziehen, doch hätte Horkheimer ihr wohl kaum zugestimmt. Horkheimer versucht vielmehr, den Begriff der Voraussage graduell zu bestimmen, je vernünftiger die Gesellschaft, desto bestimmter seien die wissenschaftlichen Urteile über diese. Diese graduelle Bestimmung ist mit den erkenntnistheoretischen Bestimmungen der Möglichkeit von Wissenschaft, wie Kant sie in der Kritik der reinen Vernunft entwickelt hat, inkompatibel. Die Intention dieser graduellen Bestimmung ist es, einerseits die Möglichkeit wissenschaftlicher Aussagen über die gegenwärtige Gesellschaft, die allerdings "unvollkommen"779 seien, nicht preis zu geben, andererseits deutlich zu machen, daß die Erscheinungen der gegenwärtigen Gesellschaft nicht aus Freiheit seien. Die erkenntnistheoretisch nicht zu rechtfertigende graduelle Bestimmung des Begriffs der Voraussage wäre zu vermeiden, wenn zwischen der Freiheit im kosmologischen und der Freiheit im praktischen Verstände, dem letzten Zweck und dem Endzweck unterschieden würde.780

B. Kants Bestimmung der Idee des letzten Zwecks entsprechend wäre der die partikularen Zwecke zur Einheit organisierende Zweck nicht moralisch bestimmt, weil er aber auch wie der Endzweck als unbedingt bestimmt ist, ein Zweck aus Freiheit. Dieser Zweck aus Freiheit im kosmologischen Verstände wäre die Be778 779 780

Max Horkheimer: Zum Problem der Voraussage in den Sozialwissenschaften, 155. Ebda. Selbst in Max Horkheimers Habilitationsschrift über die Kritik der Urteilskraft wird weder zwischen der Freiheit im kosmologischen und der Freiheit im praktischen Verstände noch zwischen der technisch-praktischen und moralisch-praktischen Bestimmung des Willens unterschieden. Vgl. Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, 73-146.

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Zu den Bedingungen einer kritischen Theorie der Gesellschaft

dingung der Möglichkeit gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse, die unabhängig von dem moralischen Urteil über die Gesellschaft schienen. Die Möglichkeit solcher Erkenntnisse hat Horkheimer, ebenfalls in dem Aufsatz über das Problem der Voraussage in den Sozialwissenschaften, eingeräumt, da er nicht zu folgern vermöchte, daß "konkrete Voraussagen für die Zukunft, wie sie etwa Marx versucht hat, nahezu unmöglich, jedenfalls von geringer Wissenschaftlichkeit sein müßten."781 Der Gedanke, daß die Form der Gesetzmäßigkeit aller partikularen Zwecke ein Prinzip der Organisation voraussetze, das nicht in der moralisch vernünftigen Bestimmung aller dieser Zwecke begründet sei, ist in dem Aufsatz zum Problem der Wahrheit enthalten: "Daß die Menschen ihre eigene Arbeit nicht nach ihrem gemeinsamen Willen gestalten können, sondern unter einem Prinzip [Hervorhebung von mir, T.S.], das sie einzeln und in Gruppen einander gegenüberstellt, (...) das kommt in der Form logischer Notwendigkeit zu Ausdruck, die der wahren Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft eigen ist."782

Mit der Bestimmung des ökonomischen Zwecks der Produktionsweise der gegenwärtigen Gesellschaft, den Horkheimer als Prinzip bezeichnet, hat Marx einen Zweck bestimmt, von dem sich zeigen läßt, daß er die Objektivität der Einheit aller partikularen Zwecke begründe und mit ihr die Voraussetzung einer, im Vergleich zu den Naturwissenschaften nicht als geringer aufzufassenden, Wissenschaftlichkeit schaffe.

5.3.2 Zur Bestimmung des ökonomischen Zwecks durch Marx Marx' Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses im Kapital ist die einer Einzelwissenschaft. In ihr wird nicht nach den erkenntnistheoretischen Bedingungen ihrer Möglichkeit gefragt. Marx' erklärtes Ziel der Untersuchung im Kapital ist es, "das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen (..,)."783 Mit dem Anspruch, "den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion (...)", die "mit eherner Notwendigkeit (...)"784 wirkten, auf die Spur 781 782 783 784

Max Horkheimer: Zum Problem der Voraussage in den Sozialwissenschaften, 1S2. Max Horkheimer: Zum Problem der Wahiheit, 312. Marx: Das Kapital, MEW 23, 15 f. Vgl. Rüdiger Bubner: Was ist Kritische Theorie?, 176,199. Marx: Das Kapital, MEW 23, 15. Vgl. "Die Überzeugung, daß es auch in der Wirtschaft Natur und damit Naturgesetze geben soll, zieht sich wie ein roter Faden von den Physiokraten über Adam Smith zu Karl Marx und zur neoklassischen Schule."(Karl-Heinz Brodbeck: Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie, 49). Daß Marx das "Gesetz der kapitalistischen Akkumulation" als "in ein Naturgesetz mystifizierte(s) Gesetz"(Das Kapital, MEW 23, 649) bezeichnet hat, ist Ausdruck des Bewußtseins des Unterschieds von erster und zweiter Natur. Die Aussagen über die geschichtliche Tendenz der sich "mit der Notwendigkeit eines Natuiprozesses"(791) ergebenden Negation der kapitalistischen Produktion, konterkarieren dagegen dieses Bewußtsein.

Zur Verkehrung der Freiheit

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gekommen zu sein, scheint Marx die Negation der Freiheit implizit zur erkenntnistheoretischen Voraussetzung seiner Theorie zu erklären. Diese scheinbare Voraussetzung wäre jedoch zurückzuweisen, da jedem Arbeitsprozeß die Fähigkeit, sich Zwecke zu setzen, und mit ihr die Freiheit im kosmologischen Verstände vorausgesetzt ist. Im Unterschied zum Stoffwechsel beliebiger Naturwesen sei der Arbeitsprozeß bestimmt durch die zweckmäßige Tätigkeit, die von Marx bestimmt ist als "ein Resultat (...), das beim Beginn [des Arbeitsprozesses, T.S.] schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war."785 In jedem gesellschaftlichen Arbeitsprozeß sind die partikularen Zwecke durch die Teilung der Arbeit von dem durch sie herzustellenden Endprodukt als Zweck unterschieden und zugleich durch die Kooperation im Endprodukt, das den Zweck des Arbeitsprozesses darstellt, vereinigt.786 Diese Scheidung von partikularen Zwecken und dem diese partikularen Zwecke zur Einheit organisierenden Zweck sah Marx mit der einfachen Kooperation begonnen und mit der auf in Technologie transformierten naturwissenschaftlichen Resultaten basierenden industriellen Produktion vollendet.787 Erst durch die Erfindung und Anwendung wissenschaftlicher Resultate werde die individuelle Schranke, Zwecke zu realisieren, die im arbeitsteilig und kooperativ bestimmten Arbeitsprozeß bloß graduell, nun "dem Wesen nach (...)"788 überwunden. In der großen Industrie haben die Resultate der Wissenschaft gegenständliche Gestalt angenommen. Diese gegenständliche Gestalt als Produktionsmittel beruht nicht auf der Erfahrung und dem Geschick Einzelner, sondern auf der Wissenschaft. In den Produktionsmitteln und den mit ihnen hergestellten Produkten, die selbst wieder als Produktionsmittel fungieren können, ist damit das Wissen der Gattung objektiviert. Diese Objektivation ist eine Erscheinung der Kausalität aus Freiheit, gleichwohl sie nicht durch partikulare Kausalitäten hervorzubringen, nicht durch partikulare Zwecke zu realisieren ist. Der Zweck der gesellschaftlichen Produktion, der alle partikularen Zwecke innerhalb dieser Produktion zur Einheit organisiere, bestehe nach Marx in der Produktion von akkumulierbarem Mehrwert in Gestalt von Produktionsmitteln: "Die Schöpfung von Mehrwert findet, die nötigen Produktionsmittel, d. h. Akkumulation von Kapital vorausgesetzt, keine andere Schranke als die Arbeiterbevölkerung, wenn die Rate des Mehrwerts, also der Exploitationsgrad der 785

786 787 788

Marx: Das Kapital, MEW 23, 193. Nachweisbar ist, daß der Begriff der Arbeit als zweckmäßige Tätigkeit die Differenz von Arbeit und Mehrarbeit voraussetzt: "Jede Interpretation, die das nicht zur Kenntnis nimmt, unterstellt Marx damit einen Arbeitsbegriff, der nichts wäre als bloßer Stoffwechsel Mensch - Natur."(Hans-Georg Bensch: Vom Reichtum der Gesellschaften, 25). Vgl. Marx: Das Kapital, MEW 23, 351. Vgl. Marx: Das Kapital, MEW 23,382. Marx: Das Kapital, MEW 23, 404. Vgl. "Die Entfaltung der Wesenskräfte der Gattung ist nicht mehr identisch mit der Entfaltung der Wesenskräfte einzelner Menschen."(Peter Bulthaup: Arbeit und Wissenschaft, 44).

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Zu den Bedingungen einer kritischen Theorie der Gesellschaft Arbeit, und keine andere Schranke als den Exploitationsgrad der Arbeit, wenn die Arbeiterbevölkerung gegeben ist. Und der kapitalistische Produktionsprozeß besteht wesentlich in der Produktion von Mehrwert, dargestellt in dem Mehrprodukt oder dem aliquoten Teil der produzierten Waren, worin unbezahlte Arbeit vergegenständlicht ist. Man muß das nie vergessen, daß die Produktion dieses Mehrwerts - und die Rückverwandlung eines Teils desselben in Kapital oder die Akkumulation, bildet einen integrierenden Teil dieser Produktion des Mehrwerts - der unmittelbare Zweck und das bestimmende Motiv der kapitalistischen Produktion ist. Man darf sie daher nie darstellen als das, was sie nicht ist, nämlich auf den Genuß oder die Produktion von Genußmitteln für den Kapitalisten. Man sieht dabei ganz von ihrem spezifischen Charakter ab, der sich in ihrer ganzen inneren Kerngestalt darstellt."789

Sei der Zweck der Produktion die Produktion von Mehrwert, der selbst zum größten Teil wieder in die dann erweiterte Produktion von Mehrwert eingehe, hat dieser Zweck die Form eines Selbstzwecks, die Verwertung des Werts sei "also Selbstverwertung."790 Darin, Selbstzweck zu sein und alle partikularen Zwecke zur Einheit zu organisieren, stimmte die Bestimmung des Kapitals mit der kantischen Bestimmung des letzten Zwecks oder Endzwecks aus der Kritik der Urteilskraft überein. Wie der letzte Zweck als unbedingter Zweck und wie der Endzweck wäre das Kapital als "automatisches Subjekt"791 unbedingt, nicht durch die partikularen Zwecke hervorzubringen, damit ihnen transzendent bestimmt.792 Als "Prinzip"793 der Bestimmung aller partikularen Willen wäre es der objektive Grund der Einheit aller partikularen Zwecke und so der Grund der Objektivität des ökonomischen Bewegungsgesetzes der Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrschte.794 Die implizit im Kapital vorgenommene Bestimmung der Gesellschaft nach dem Verhältnis von partikularen Zwecken zu dem diese partikularen Zwecke zur Einheit bestimmenden Zweck erwiese sich so als avancierter gegenüber der Bestimmung aus den Grundrissen, daß die Gesellschaft nicht aus Individuen bestehe, "sondern die (...) Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus[drücke, T.S.], worin diese In-

789 790 791 792

793 794

Marx: Das Kapital, MEW 25,253 f. Marx: Das Kapital, MEW 23,169. Marx: Das Kapital, MEW 23,169. Vgl. "Die gesellschaftliche Objektivität stellt sich nicht mehr als Resultat subjektiv vernünftigen Handelns dar, sondern tritt dem Subjekt als quasi naturhafter, äußerer Zwang gegenttber."(Wolfgang Bonß, Norbert Schindler: Kritische Theorie als interdisziplinärer Materialismus, 37). Max Horkheimer: Zum Problem der Wahrheit, 312. Karl-Heinz Brodbecks richtige Einsicht, daB eine mechanische Erklärungsart der Gesellschaft die Negation der Freiheit zur Voraussetzung habe (vgl. Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie, 53 f.), bringt ihn dazu, auch das automatische Subjekt als mechanisch zu erklärendes Subjekt zu bestimmen. Diese Interpretation scheint nahegelegt durch die marxsche Bezeichnung, doch ginge mit ihr die Bestimmung des Kapitals als Selbstzweck verloren. Vgl. Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie, 57.

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dividuen zueinander stehn."795 Die kritische Theorie der Gesellschaft hat Marx' Bestimmung des ökonomischen Zwecks zur Voraussetzung. Einerseits sei der Prozeß der Gesellschaft "in letzter Instanz durch Gesetzmäßigkeiten des ökonomischen Apparats der Gesellschaft bestimmt (...)", andererseits lasse "sich doch die Handlungsweise der Menschen (...) nicht allein aus ökonomischen Vorgängen erklären (...)."796 Ließe sich jede Handlung von Menschen allein aus ökonomischen Vorgängen erklären, wäre jeder partikulare Zweck durch den ökonomischen Zweck bestimmt, Gesellschaftstheorie und Kritik der politischen Ökonomie wären kongruent. Daß in die Entwicklung der kritischen Theorie neben der Bestimmung des ökonomischen Zwecks auch Elemente der Psychoanalyse und die Idee einer Theorie der Kultur eingingen797, ist Ausdruck des Versuchs, der Differenz von Gesellschaftstheorie und Kritik der politischen Ökonomie Rechnung zu tragen.798 In der Bestimmung aller partikularen Zwecke durch den Zweck der Selbstverwertung des Kapitals wird nicht die Voraussetzung dieser Zwecke, die technisch-praktische Freiheit, negiert, sondern eingeschränkt darauf, den Zweck der Selbstverwertung zu realisieren. Würde die Freiheit als negiert behauptet, wäre die Produktion von Mehrwert nicht zu erklären. Weder die Negation der Freiheit durch den Zweck der Selbstverwertung noch der Gedanke, daß durch die Gesamtheit oder Summe aller partikularen Zwecke dieser Zweck zu erreichen sei, beschreibt das Verhältnis aller Zwecke zu dem sie zur Einheit organisierenden Zweck adäquat. "Der Witz besteht nicht darin, daß, indem jeder sein Privatinteresse verfolgt, die Gesamtheit der Privatinteressen, also das allgemeine Interesse erreicht wird. (...) Die Pointe liegt vielmehr darin, daß das Privatinteresse selbst schon ein gesellschaftlich bestimmtes Interesse ist und nur innerhalb der von der Gesellschaft gesetzten Bedingungen und mit den von ihr 795 796 797

798

Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 189. Max Horkheimer: Autorität und Familie, 343. Vgl. "Nicht bloß innerhalb der Sozialphilosophie im engeren Sinne, sondern ebenso in den Kreisen der Soziologie wie in denen der allgemeinen Philosophie haben sich die Diskussionen über die Gesellschaft allmählich immer deutlicher um eine Frage kristallisiert, die nicht bloß gegenwärtig wirksam, sondern zugleich die aktuelle Fassung ältester und wichtigster philosophischer Probleme ist, nämlich um die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten [Hervorhebung von mir, T.S.] im engeren Sinn (...)."(Max Horkheimer: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung, 31 f.). "Zum Verständnis des Problems, warum eine Gesellschaft in einer bestimmten Weise funktioniert, warum sie stabil ist oder sich auflöst, gehört daher die Erkenntnis der jeweiligen psychischen Verfassung der Menschen in den verschiedenen sozialen Gruppen, das Wissen darum, wie sich ihr Charakter im Zusammenhang mit allen kulturellen Bildungsmächten [Hervorhebung von mir, T.S.] der Zeit gestaltet hat."(Max Horkheimer: Autorität und Familie, 343). Die Diskussion der psychoanalytischen Elemente und der Idee einer Theorie der Kultur sind nicht Gegenstand dieser Arbeit. Vgl. dazu Axel Honneth: Kritik der Macht, 27-42. Vgl. zu einer Theorie der Kultur Helmut Dubiel: Die Aufhebung des Überbaus, 456-481.

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gegebenen Mitteln erreicht werden kann, also an die Reproduktion dieser Bedingungen und Mittel gebunden ist."799 Die Bestimmung des ökonomischen Zwecks ist als Grund der Objektivität der Erkenntnis der kapitalistischen Produktionsweise aufzufassen. Entgegen der marxschen Absicht, nur das Bewegungsgesetz der kapitalistisch produzierenden Gesellschaften zu bestimmen, transformierte der Schluß auf den Zweck der Selbstverwertung des Kapitals als Grund der Objektivität der Erkenntnisse die einzelwissenschaftliche Untersuchung des Kapitals in eine Erkenntnistheorie der gesellschaftlichen Verhältnisse, der zweiten Natur. Implizit hat Marx mit dem Zweckbegriff die erkenntnistheoretische Voraussetzung der Objektivität von Gesellschaftswissenschaften, wie sie aus der Kritik der Urteilskraft zu extrapolieren ist, aufgegriffen. Als Grund der Objektivität wäre der ökonomische Zweck erschlossen wie der letzte Zweck oder Endzweck.800 Der ökonomische Zweck habe jedoch in Gestalt des akkumulierbaren Mehrwerts, das heißt in Gestalt von Produktionsmitteln, eine materielle Existenz, die nicht statisch, sondern als ein Moment im Prozeß der Verwertung des Werts aufzufassen ist. Der Schluß auf den Grund der Objektivität und dessen materielle Existenz mag für Hans-Jürgen Krahl das Argument gewesen sein, der kritischen Theorie, wie bereits erwähnt, "in Reflexion auf die Kritik der politischen Ökonomie einen nichtmetaphysischen [Hervorhebung von mir, T.S.] Totalitätsbegriff (...)"801 zu unterstellen.

5.3.3 Die Verkehrung der Freiheit Der Mehrwert, dessen Grundlage die Produktion eines Mehrprodukts ist, ist eine Erscheinung der Kausalität aus Freiheit im kosmologischen Verstände. Mit der Bestimmung des Mehrwerts, Kapital zu sein, erhält diese Freiheit eine Bestimmung, die sie gegenüber den partikularen Zwecken als transzendent erweist, zugleich erhält diese Freiheit die Bestimmung, die partikularen Zwecke einzuschränken. Im Verhältnis des Kapitals als Selbstzweck und den Zwecken der Mehrwert produzierenden Individuen schränkte die Freiheit demnach sich selbst ein. Sie wäre Freiheit in verkehrter Form. Dieser Widerspruch der Freiheit, die selbst zum Grund ihrer Einschränkung würde, ist nicht dadurch aufzulösen, daß die Mehrwert produzierenden Individuen durch den Zweck, dem sie dienen, zu Unfreien, Subjekten bar jeder Freiheit, erklärt würden. Mit der Negation der Freiheit wäre die Herkunft des Mehrprodukts bzw. des Mehrwerts nicht mehr zu erklären. Der Zweck der Selbstverwertung des Werts und dessen Resultat, "was 799 800 801

Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 90. Vgl. KU, 431, 391, § 83, vgl. 435, 398 f., § 84. Hans-Jürgen Krahl: Kritische Theorie und Praxis, 289.

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man gesellschaftlichen Reichtum, "Wealth of Nations" usw. nennt (...)"802, sind aus Freiheit. Sind die Erscheinungen der zweiten Natur aus Freiheit, sind sie ihrer Ursache nach unterschieden von den Erscheinungen der ersten Natur. Da diese Ursache aber auch als "eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt C..)"803 bestimmt ist, sind die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis der Erscheinungen der zweiten Natur nicht unterschieden von denen der ersten Natur.804 Als Theorie der Erscheinungen der zweiten Natur ist eine Gesellschaftswissenschaft darauf festgelegt, die Bestimmungen ihrer Gegenstände "naturwissenschaftlich treu"805 zu konstatieren. Weil die Erscheinungen der zweiten Natur im Unterschied zu denen der ersten Natur aus Freiheit sind, unterstehen sie jedoch auch der Freiheit, diese zu beurteilen. Diese Äquivokation im Begriff der Freiheit hat Kant durch die Unterscheidung des Begriffs der Freiheit in den der Freiheit im kosmologischen und praktischen Verstände aufgeklärt.806 Der theoretischen Vernunft sind die Erscheinungen der zweiten Natur kompatibel. Der praktischen Vernunft sind sie dagegen nicht kompatibel.807 Der Zweck, der der Erkenntnis der theoretischen Vernunft die Objektivität der Erscheinungen begründet, steht dem Zweck, der aus der reinen praktischen Vernunft begründet ist, entgegen. Der Zweck der Verwertung des Werts als Selbstzweck ist dem letzten Zweck als unbedingtem Zweck und dem Endzweck seiner Form nach analog, dem Inhalt nach fallen diese Zwecke jedoch auseinander: Als Subjekt des moralischen Gesetzes sei der Mensch Endzweck der Schöpfung, damit "Zweck an sich selbst." 808 Unter kapitalistischen 802 803 804

805 806

807 808

Marx: Das Kapital, MEW 23, 386. KU, 172, XII. Dadurch ist nicht der "Subjektcharakter" gesellschaftlicher Phänomene negiert. Vgl. "Gesellschaft läßt sich in diesem für die Transzendentalphilosophie unverrückbaren [von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt, T.S.] nur unterbringen um den Preis des wesentlichen Subjektcharakters gesellschaftlicher Phänomene. Erst nach einer grundsätzlichen Verdinglichung sozialer Beziehungen erscheint Gesellschaft wie ein Teil der Welt der Objekte."(Rüdiger Bubner: Ist eine transzendentale Begründung der Gesellschaft möglich?, SOS). Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, 9. Theodor W. Adorno schreibt zur kritischen Theorie: "Als dialektische muß Theorie - wie weithin die Marxische - immanent sein, auch wenn sie schließlich die gesamte Sphäre negiert, in der sie sich bewegt."(Negative Dialektik, 197). Rüdiger Bubner greift das Zitat auf und fragt: "Es ist in der Tat zu fragen, wie die Struktur einer solchen Theorie beschaffen sein muß, wie ihre Ansprüche und deren Erfüllung zusammengehen, welchen Standort sie endlich sich zuweist, wenn sie über die Dialektik von Theorie und Praxis spricht."(Was ist Kritische Theorie?, 163). Die Struktur einer solchen Theorie ist die der Naturwissenschaften, zu denen Kant die Bedingungen ihrer Möglichkeit in der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft dargestellt und begründet hat. Nur weil die Ursachen der Erscheinungen einer Theorie der Gesellschaft aus Freiheit gesetzt sind, kann eine Theorie der Gesellschaft kritisch werden, das, was sie erkannt hat, im Unterschied zu den Naturwissenschaften, ablehnen. Die kritische Theorie der Gesellschaft hat damit den Unterschied von theoretischer und praktischer Vernunft, den von Freiheit im kosmologischen und praktischen Verstände zur Voraussetzung. Vgl. Frank Kühne: Begriff und Zitat, 98 ff. KpV, 87,156.

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Produktionsverhältnissen erschienen die Individuen dagegen "als das, was sie in der kapitalistischen Produktion sind - bloße Produktionsmittel, nicht als Selbstzweck und nicht als Zweck der Produktion."809 Die der Form nach analogen Zwecke schließen dem Inhalt nach einander aus. Ist der Zweck, der als Grund der Objektivität der Erscheinungen der zweiten Natur Resultat eines Schlusses der theoretischen Vernunft ist, dem Inhalt nach mit praktischer Vernunft nicht kompatibel, ist dieser Zweck durch die praktische Vernunft abzulehnen. Die Verkehrung der Freiheit, die durch den Zweck, der analog dem letzten Zweck als unbedingtem oder dem Endzweck die Einheit aller Zwecke bestimmt, bewirkt ist, wird nicht zur Negation der Freiheit, sondern ist weiterhin Freiheit, die jedoch nicht mit der Freiheit im praktischen Verstände übereinstimmt. Die Verkehrung der Freiheit, die in dem Verhältnis des Selbstzwecks zu den partikularen Zwecken besteht, erhält durch die kantische Äquivokation im Begriff der Freiheit eine weitere Bedeutung: Nicht nur wird die Freiheit im kosmologischen Verstände verkehrt, sie ist in Gestalt des Selbstzwecks, der die Verkehrung bewirkt, auch falsch, weil sie nicht mit der Freiheit im praktischen Verstände übereinstimmt. Eine Theorie der Gesellschaft, die, Adorno zufolge, ohne den Begriff der Freiheit nicht zu begründen sei, kann es nicht bei der naturwissenschaftlich getreuen Konstatierung der Gegenstände der Theorie belassen, sondern muß, im Unterschied zu den Naturwissenschaften, gleichzeitig ein moralisches Urteil über die Gegenstände der Theorie fällen. Ist dieses moralische Urteil ein negatives Urteil, weil der Zweck der Organisation aller Gegenstände der Theorie dem Inhalt nach nicht mit reiner praktischer Vernunft kompatibel ist, ist einer Theorie der Gesellschaft nicht nur ein affirmatives Moment, sondern auch ein nichtaffirmatives, negatives Moment immanent. Tertium comparationis der Affirmation und der Negation ist die Kritik. Gesellschaftstheorie wäre damit auf der Grundlage der kantischen Unterscheidung der Vernunft in theoretische und praktische Vernunft als kritische Theorie zu bestimmen. Wäre diese Unterscheidung, den Vordenkern und Gründern der kritischen Theorie, die sich selbst in der Tradition des Deutschen Idealismus' und Marx' Kritik der politischen Ökonomie sahen, bewußt gewesen, wäre deren Theorie in bestem Sinne als kritisch zu bezeichnen. Bevor deren Bestimmung der kritischen Theorie, durch Unterscheidung von der sogenannten traditionellen, zum Gegenstand der Untersuchung wird, ist der Begriff der Kritik zu erläutern.

809

Marx: Theorien über den Mehrwert, MEW 26.2,549.

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5.4 Zum Begriff der Kritik 810 Aristoteles zufolge sei "die Seele der Lebewesen nach zwei Kräften bestimmt (...), durch die des Unterscheidens, der Leistung des Denkens und der Wahrnehmung, und ferner durch die Veranlassung der Ortsbewegung (...)." 8 U Die Kraft der Ortsbewegung unterscheide sich von der Kraft des Unterscheidens wie die praktische Vernunft "von der theoretischen durch den Zweck, wenn sich ja auch alles Streben auf einen Zweck richtet; denn das, worauf das Streben geht, ist der Ausgangspunkt der praktischen Vernunft." 812 Die Kraft des Unterscheidens, die Aristoteles als Kritik bezeichnet, sei in sich unterschieden, da "Wahrnehmen und Begreifen nicht dasselbe sind (...). Die Wahrnehmung der eigentümlichen Gegenstände ist immer wahr, und sie kommt auch allen Tieren zu, das Nachdenken kann auch falsch sein und kommt nur dem Wesen zu, das auch Verstand hat." 813 Kann das Unterscheiden der Wahrnehmung 814 , das die Wahrnehmung als Wahrnehmung einzelner Gegenstände aus der Totalität aller möglichen Gegenstände der Wahrnehmung erst ermöglicht, immer nur wahr sein, ist zu der Kritik der Wahrnehmung im Genitivus subiectivus kein Genitivus obiectivus denkbar. Darin ist die Kritik der Wahrnehmung von der Kritik des Denkens unterschieden. Die Kritik des Denkens ist im Genitivus obiectivus die Unterscheidung der Gedanken voneinander. Im Genitivus subiectivus ist es die Unterscheidung der wahren von den falschen Gedanken. Die Unterscheidung der wahren von den falschen Gedanken fällt in das Denken selbst. 815 Fällt die Unter810

811 812 813 814

815

Giorgio Tonelli hat in der Abhandlung "Critique" and Related Terms Prior to Kant: A Historical Survey, 119-148, wahrscheinlich die umfangreichste, allerdings selten kommentierende, Darstellung geliefert, wann und in welchem Zusammenhang von wem der Begriff der Kritik verwendet wurde. Aristoteles: Über die Seele, 63,432a 15 ff. Aristoteles: Über die Seele, 65,433a 8 ff. Aristoteles: Über die Seele, 54,427b 7 ff. "(...) da die die Wahrnehmung gleichsam die Mitte ist zwischen der Gegensätzlichkeit im Wahrnehmbaren. Infolgedessen unterscheidet sie das Wahrnehmbare. Denn das Mittlere hat die Fähigkeit zur Unterscheidung."(Aristoteles: Über die Seele, 46,424a 5 ff.). Konsequent schreibt James Marsh: "If the critique is not rational, in the sense of being able to give an account of itself and supply evidence for its assertions, then critique cannot be taken seriously ."(Critique, Action and Liberation, 59). Das Verhältnis von Rationalität und Kritik aufzumachen, ihm ein gesamtes Kapitel zu widmen und die Erörterung dieses Verhältnisses auf die kritische Theorie zu beziehen, ist selten nur anzutreffen und deshalb hervorzuheben. Allerdings ist die von James Marsh in diesem Verhältnis erkannte Dialektik auf einer .metabasis eis alio genos' gebaut. Dies ist zu erläutern. "On the other hand, if rationality cannot be critically reflective, then no rational transcendence of capitalist society is possible. Rationality is doomed to a mirroring of an irrational status quo. Rationality becomes irrational."(59). Vollkommen richtig wird das Argument von der, nicht ausgesprochenen, Prämisse der Einheit der Rationalität her geführt, die dann an dem Problem, die technisch-praktische Rationalität der kapitalistischen Produktionsweise mit deren moralisch-praktischen Rationalität nicht in Einklang bringen zu können, zum Widerspruch der irrationalen Rationalität wird. Richtig ist die Prämisse, die Einheit der

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Scheidung der Unterscheidung als Resultat der unterscheidenden, kritischen Kraft, in das Denken selbst, ist die Kritik des Denkens reflexiv und irreflexiv zugleich. Die Kritik des Denkens ist Denken und folglich sich selbst die Instanz der Unterscheidung der wahren von den falschen Gedanken. Als Instanz der Unterscheidung sei die Kritik das Mittlere zwischen wahr und falsch.816 Mit dem Argument des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten aus der Metaphysik, daß "ein solches Mittleres, wenn man nicht eben bloß um des Redens willen davon redet, neben allen Widersprüchen sich finden, woraus sich ergäbe, daß man auch weder die Wahrheit sagte, noch die Wahrheit nicht sagte"817, müßte die Kritik selbst alle Widersprüche in sich enthalten. Als Einheit von sich Widersprechendem widerspräche sie jedoch dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, wäre damit selbst nicht wahr. Die Kollision der Kritik mit dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch abzuwenden, nötige dazu, "ja wieder über das Mittlere zusammen mit der Bejahung und zusammen mit der Verneinung die Verneinung die Verneinung aussprechen (,..)."818 Der Versuch, die Wahrheit oder Falschheit der Kritik durch weitere Kritik zu bestimmen, begründete damit einen Regressus ad infinitum819, in dem zu dem Mittleren wieder ein Mittleres usf. anzugeben sein müßte. Die in den Regressus ad infinitum mündende Reflexivität der Kritik des Denkens suspendierte demnach die Möglichkeit der Kritik des Denkens, im Genitivus subiectivus, das sich selbst zum Gegenstand der Kritik machte. Soll die Möglichkeit der Kritik des Denkens erhalten bleiben, muß die Reflexivität der Kritik bezogen sein auf Gedanken, deren Inhalt nicht wieder Gedanken, deren Inhalt Gedanken sind usf., ist. Dieses apagogische Argument fordert die logische Unmöglichkeit, daß es Gedanken gäbe, die über den formalen Unterschied zwischen einzelnen Gedanken hinaus unterscheidbar wären. Der Versuch die Gedanken, die sich auf sich selbst beziehen, von den Gedanken, die sich auf Gegenstände beziehen, die nicht wieder Denken sind, zu unterscheiden, führte auf die

816 817 818 819

Rationalität, die gleichbedeutend mit der kantischen Einheit der Vernunft ist, problematisch bleibt jedoch der Mangel, die kantische Unterscheidung von technisch-praktisch und moralisch-praktisch nicht aufzunehmen. Dieser Mangel wird einige Seiten später in Marshs Argumentation deutlicher. Das, wenn Rationalität nicht kritisch werde, zunächst streng als Widerspruch formulierte Verhältnis von Rationalität und Kritik, wird in ein Verhältnis verwandelt, daß die Kritik die Rationalität ergänze: "Rationality and critique, then, are also mutually founding. Rationality grounds critique in that it supplies both the necessary and sufficient conditions for critique. Critique completes rationality insofar as it leads to the social change necessary for liberation."(68). Hinter dieser Verwandlung steckt die Akzentuierung, daß die Kritik an der-technischpraktischen - Rationalität immer eine moralisch fundierte sei. Das ist jedoch eine unsachgemäße Vereinfachung des Verhältnisses von Rationalität und Kritik. Vgl. Aristoteles: Über die Seele, 46,424a 5 ff. Aristoteles: Metaphysik, 89,1012a 4 ff. Aristoteles: Metaphysik, 89,1012a 12 ff. Vgl. Aristoteles: Metaphysik, 89,1012a 11 f.

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Spaltung des Denkens in ein reflexives und ein irreflexives Denken. Ist der Gedanke, der sich auf Gegenstände bezieht, die nicht wieder Denken sind, als Gedanke ebenso reflexiv, wie der Gedanke, der sich auf sich selbst bezieht, kann der durch das apagogische Argument geforderte Unterschied nicht zwischen den Gedanken, sondern muß zwischen den Vermögen der Beziehung des Denkens auf sich selbst und auf anderes sein. Das Vermögen der Beziehung des Denkens auf sich selbst ist das Denken, das Vermögen der Beziehung des Denkens auf NichtDenken ist dagegen die Wahrnehmung. Durch die Forderung des apagogischen Arguments ist die Äquivokation im Begriff der Kritik, sowohl die Kraft der Unterscheidung des wahrnehmenden als auch die des denkenden Vermögens mit Kritik zu bezeichnen, begründet. In ihr ist die reflexive Kritik des Denkens vermittelst der Wahrnehmung einzelner Gegenstände bezogen auf Gedanken, deren Inhalt die Vorstellungen oder Gedanken von Gegenständen sind. Gegenstand der Kritik ist demnach die Relation von Gedanke und Gegenstand, die entweder wahr oder falsch ist. In Anlehnung an die überlieferte Formulierung Parmenides'820 bestimmt Aristoteles das Prinzip der Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen: "Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-seiende sei nicht, ist wahr."821 Dieses logisch wahre Prinzip der Wissenschaft scheint die Wissenschaft auf die Affirmation des Seienden festzulegen. Weder könne demnach wahrhaft gesagt werden, Seiendes sei nicht noch Nicht-Seiendes sei, so daß es zwischen der Affirmation des Seienden und der Negation des Nicht-Seienden ein Drittes gäbe.822 Kritik des Seienden schiene nur möglich unter Aufgabe des Wahrheitsanspruchs der Kritik. Beide Axiome der Logik, der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten sind als Prinzipien der Einheit des Denkens erschlossen. Sie sind von dem, was nicht Denken ist, unterschieden, zugleich aber bestimmen sie die Beziehung des Denkens auf das, was nicht Denken ist. Das, was nicht Denken ist, den Prinzipien des Denkens zu unterstellen, enthält die Forderung, daß das Seiende mit den Prinzipien des Denkens übereinstimme. "Dasselbe Prinzip, das zunächst nur eine affirmative Beziehung der Wissenschaft auf das Seiende als möglich erscheinen ließ, begründet eine Forderung an das Seiende, ein Kriterium, nach dem das Seiende selbst wahr oder falsch sein kann. Die Wissenschaft wird auf Grund der ihr notwendig immanenten Forderung nach logischer Konsistenz zur Instanz der

820 821 822

Vgl. Die Vorsokratiker: Die Fragmente und Quellenberichte, 165, fr. 4. Aristoteles: Metaphysik, 88,1011b 26 ff. Dieses Problem hat Piaton dazu bewogen, im Dialog Sophistes eine positive Idee des NichtSeienden anzunehmen. Vgl. Piaton: Sophistes, 291 ff., 237a ff.

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Kritik am falschen Seienden."823 Beides, nicht nur die Relationen von Begriffen und Gegenständen, die Beziehung des Denkens auf das, was nicht Denken ist, sondern auch Seiendes selbst, das sich im folgenden als das Seiende der zweiten Natur erweist, wird damit zum Gegenstand der Kritik erklärt. Maßstab der Kritik sind die Prinzipien des Denkens. Die Kritik begründet zum einen ein Urteil über die Wahrheit der Relationen von Begriffen und Gegenständen, zum anderen darüber, ob Seiendes wahrhaft Seiendes oder falsches Seiendes ist. Weder kann die Kritik begründen, daß wahrhaft Seiendes sei, noch sind der Maßstab der Kritik, die Prinzipien des Denkens, selbst wieder durch Kritik als wahr oder falsch zu begründen. Wahrhaft Seiendes als Gegenstand der Wissenschaft und Prinzipien der Wissenschaft sind der Wissenschaft vorausgesetzt. Die Kritik des Denkens, das auf Gedanken, deren Inhalt ein wahrgenommener ist, bezogen sein muß, erfüllt als Verfahren, die Kriterien der Kritik der Wissenschaft auf diese anzuwenden, für die Wissenschaft eine negative Funktion. Die Negativität der Kritik und ihre Funktion für die Wissenschaft als System der reinen Vernunft ist in der Vorrede und Einleitung der Kritik der reinen Vernunft Gegenstand. Die Kritik der reinen Vernunft ist der Titel "einer besonderen Wissenschaft (...)"824, die "also zuletzt notwendig zur Wissenschaft (,..)"825 führe, das heißt zur Metaphysik als Wissenschaft. Das, was zur Wissenschaft führt, muß von dem, wozu es führt, das heißt der Wissenschaft selbst, unterscheidbar sein. Kant faßt die Wissenschaft, die das Verfahren zur Metaphysik als Wissenschaft darstellt, und das Verfahren selbst unter dem Titel der Kritik der reinen Vernunft zusammen. Sie sei die "Propädeutik zum System der reinen Vernunft (.,.)."826 Propädeutik und Metaphysik als Wissenschaft oder das System der reinen Vernunft als Transzendental-Philosophie827 sind wie Verfahren und Resultat des Verfahrens unterschieden. Beides, sowohl die Kritik als auch das Resultat der Kritik, seien Wissenschaften.828 Ist der Nutzen der Kritik "doch nur negativ (...), 123 124 125 126 127

Peter Bulthaup: Kritische Wissenschaft und Wissenschaftskritik, 20. KrV, 55*, Β 24. KrV, 53*, Β 22 f. KrV, 55*, Β 25. In der Einleitung nach der zweiten Auflage von 1787 sind Metaphysik, System der reinen Vernunft und Transzendental-Philosophie nicht explizit unterschieden. In der Architektonik unterscheidet Kant die Metaphysik in die der Natur und die der Sitten. Der in engerem Verstand als Metaphysik bezeichneten Metaphysik der Natur sei die Transzendental-Philosophie neben der Physiologie der reinen Vernunft untergeordnet. Vgl. KrV, 758, Β 873. "Zur Zeit der Entstehung der "Kritik der reinen Vernunft" lehnte Kant den Gedanken ab, die Kritik sei eine Wissenschaft. Im Zuge der progressiven Verselbständigung und Hypostasierung des Kritikbegriffs geht er stets weiter von dieser Vorsicht ab. Sehr offensichtlich wird dieser Unterschied eines Verfahrens- zu einem Systemgedanken aus einer kleinen Verbesserung der zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft"."(Kuit Röttgers: Kritik und Praxis, 41). Von der ersten zur zweiten Auflage der Einleitung wechselt die Modalität der Aussage vom Konjunktiv: "Aus diesem allen ergibt sich nun die Idee einer besonderen Wissenschaft, die zur Kritik der reinen Vernunft dienen könne"(KrV, 55, A 10 f.) zum Indikativ: "Aus diesem allen ergibt sich nun die

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uns nämlich mit der spekulativen Vernunft niemals über die Erfahrungsgrenze hinaus zu wagen (...)"829, besteht die Besonderheit dieser Wissenschaft darin, nicht affirmativ zu sein.830 Die Negativität der transzendentalen Kritik, "die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese α priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt"831, bestehe darin, die Philosophie der reinen Vernunft auf einen möglichen Erfahrungsgebrauch zu restringieren.832 In der Restriktion des spekulativen Denkens auf dessen Anwendung auf Seiendes taucht die in dem Prinzip der Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen, wahr sei es, zu sagen, Seiendes sei, nicht wahr dagegen sei es, zu sagen, es sei nicht, ausgedrückte Beziehung des Denkens auf Gegenstände möglicher Erfahrung wieder auf. Ohne diese sei "aller Begriff nur Idee, ohne Wahrheit (...)."833 Der doppelten Bedeutung des Genitivs der Kritik der reinen Vernunft gemäß ist die Vernunft selbst der Gegenstand der Kritik der reinen Vernunft und zugleich das kritisierende Subjekt derselben. Sind das kritisierende Subjekt und der Gegenstand der Kritik identisch, ist das Verhältnis von Kritisierendem und Kritisiertem zirkulär. Maßstab der Kritik des Kritisierenden an dem Kritisierten könne folglich nur "eine ganz eigene [Hervorhebung von mir, T.S.] und zwar negative Gesetzgebung (,..)"834 sein. In der Kritik der reinen Vernunft habe es diese so bloß "mit sich selbst (,..)"835 zu tun. Die eigene Gesetzgebung ist Ausweis der Autonomie des Denkens, das sich selbst zum Gegenstand der Kritik machen kann. Die Negativität dieser Gesetzgebung ist Ausdruck der Restriktion auf einen möglichen Erfahrungsgebrauch. Gäbe die Autonomie des Denkens sich selbst ein Gesetz als Maßstab der Kritik seiner selbst wären Kritisierendes, Kritisiertes und der Maßstab der Kritik nicht zu unterscheiden. Die Kritik der reinen Vernunft verliefe sich in einen immanenten Prozeß der Reflexion der Reflexion. Die Immanenz dieses Prozesses drohte diesen in reine Identität und damit Nichts zusammenfallen zu lassen. Den Schluß von der Immanenz des Pro-

829

831 832 833 834 835

idee einer besonderen Wissenschaft, die Kritik der reinen Vernunft heißen fewt."(KrV, 55*. Β 24). Vgl. Manfred Baum: Systemform und Selbsterkenntnis der Vernunft bei Kant, 30 f. KrV, 24, Β XXIV. Vgl. 55*, Β 25. Vgl. "(...) die Kritik ist keine Metaphysik, keine Erkenntnis des Uebersinnlichen und Unbedingten, sie übt nur eine negative, regulierende, keine positive, konstituierende Funktion aus (...)."(Richard Kroner: Von Kant bis Hegel, 134 f). Vgl. "Auch bei Kant, der ja bekanntlich die Rolle der Erfahrung für die Erkenntnis betonte, hat Kritik nichts damit [mit Empirie, T.S.] zu tun, und sie braucht es nicht, da Kritik gar keine Erkenntnis eines möglichen Objektes ist, sondern ein Ausmessen des Bereichs des Vemunftgebrauchs."(Kurt Röttgers: Kritik und Praxis, 160). KrV, 55* Β 25. Vgl. KrV, 24, Β XXIV f., vgl. 55*. Β 25, vgl. 656, Β 739. KrV, 490, Β 517. KrV, 656, Β 739. Vgl. KrV, 687, Β 779. KrV. 54*. Β 23.

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zesses der Kritik auf die Bedingtheit der Kritik durch das, was nicht Denken ist, die empirischen Gegenstände, lehnt Kant ab: "Es bedarf keiner Kritik der Vernunft im empirischen Gebrauche, weil ihre Grundsätze am Probierstein der Erfahrung [836, T.S.] einer kontinuierlichen Prüfung unterworfen werden (...)·" Die Kritik der Vernunft im empirischen Gebrauch ist die der Resultate in den Einzelwissenschaften. Diese sind jedoch nicht Gegenstand der Kritik der reinen Vernunft. Kein einzelwissenschaftliches Resultat ist Resultat der Kritik der reinen Vernunft. Dagegen sind einzelwissenschaftliche Resultate in Gestalt existierender Wissenschaften der die Kritik der reinen Vernunft leitenden Frage nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit vorausgesetzt. In der Notwendigkeit der Restriktion der reinen Vernunft auf einen möglichen Erfahrungsgebrauch sind die Kritik der reinen Vernunft als immanente Kritik der autonomen Vernunft und die Kritik der reinen Vernunft als Erkenntnistheorie miteinander verschränkt. In der Verschränkung von immanenter Kritik der autonomen Vernunft und der Kritik der reinen Vernunft als Erkenntnistheorie ist der Gehalt der Äquivokation im Begriff der Kritik, sowohl die Kraft der Unterscheidung des wahrnehmenden als auch die des denkenden Vermögens als Kritik zu bezeichnen, enthalten. In ihr wird die Reflexivität der autonomen Vernunft auf die Erkenntnis von empirischen Gegenständen, die der Reflexivität das Irreflexive sind, bezogen. Im Unterschied zur transzendentalen Kritik der reinen Vernunft sei die Kritik der praktischen Vernunft "nicht eine Kritik der reinen praktischen, sondern nur der praktischen Vernunft überhaupt (...). Denn reine Vernunft, wenn allererst dargetan worden, daß es eine solche gebe, bedarf keiner Kritik. Sie ist es, welche selbst die Richtschnur zur Kritik alles ihres Gebrauchs enthält. Die Kritik der praktischen Vernunft überhaupt hat also die Obliegenheit, die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhalten, ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben zu wollen. Der Gebrauch der reinen Vernunft, wenn, daß es eine solche gebe, ausgemacht ist, ist allein immanent; der empirisch-bedingte, der sich die Alleinherrschaft anmaßt, ist dagegen transcendent, und äußert sich in Zumutungen und Geboten, die ganz über ihr Gebiet hinausgehen (,..)."838 Die immanente Kritik der reinen Vernunft habe den Maßstab ihrer Kritik an sich selbst. Gegenstand der Kritik der praktischen Vernunft sei nicht die Restriktion der Vernunft auf einen möglichen Erfahrungsgebrauch, sondern zum einen "daß es reine praktische Vernunft gebe (...)."839 Gelinge der Beweis der Existenz reiner praktischer Vernunft, "so bedarf sie das reine Vermögen selbst nicht zu kritisieren, um zu sehen, ob sich die Ver836

837 838 839

Genauer müßte es wohl heißen "(...), weil ihre Grundsätze am Probierstein der Möglichkeit von Erfahrung einer kontinuierlichen Prüfung unterworfen werden (...)." KrV, 656, Β 738 f. KpV, 15 f., 30 f. KpV, 3, 3.

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nunft mit einem solchen, als einer bloßen Anmaßung, nicht ü b e r s t e i g e (wie es wohl mit der speculativen geschieht)."840 Über den bloßen Beweis der Existenz reiner praktischer Vernunft, ohne Kritik derselben, hinaus sei zum anderen die Kritik der empirisch restringierten Vernunft Gegenstand der Kritik der praktischen Vernunft.841 Das kritisierende Subjekt ist die Vernunft, der Gegenstand der Kritik die empirisch restringierte Vernunft und das Kriterium der Kritik an der empirisch restringierten Vernunft das Sittengesetz. Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch und das Sittengesetz stimmen darin überein, das Denken und die Maxime einer möglichen Handlung der Forderung nach logischer Konsistenz zu unterstellen. Darin, daß sowohl das Denken und die Maxime einer möglichen Handlung bezogen sind auf Gegenstände möglicher Erfahrung, ist die Reflexivität der Kritik, in der das kritisierende Subjekt sich das Kriterium seiner Kritik gibt, bezogen auf Irreflexives. Sowohl die theoretische, durch die eigene, negative Gesetzgebung, als auch die praktische Vernunft, durch die positive Gesetzgebung des Sittengesetzes, seien sich selbst das Kriterium ihrer Kritik. Die Projektion dieses Unterschieds von negativer und positiver Gesetzgebung auf den Unterschied von theoretischer und praktischer Vernunft ist in der Vorrede der Kritik der reinen Vernunft thematisch: "Dieser [der negative Nutzen der Kritik, T.S.] aber wird alsbald p o s i t i v , wenn man inne wird, daß die Grundsätze, mit denen sich spekulative Vernunft über ihre Grenzen hinauswagt, in der Tat nicht E r w e i t e r u n g , sondern, wenn man sie näher betrachtet, V e r e n g u n g unseres Vernunftgebrauchs zum unausbleiblichen Erfolg haben, indem sie wirklich die Grenzen der Sinnlichkeit, zu der sie eigentlich gehören, über alles zu erweitern und so den reinen (praktischen) Vernunftgebrauch gar zu verdrängen drohen. Daher ist eine Kritik, welche die erstere einschränkt, sofern zwar n e g a t i v , aber indem sie dadurch zugleich ein Hindernis, welches den letzteren Gebrauch einschränkt und zu vernichten droht, aufhebt, in der Tat von p o s i t i v e m und sehr wichtigem Nutzen, sobald man überzeugt wird, daß es einen schlechterdings notwendigen praktischen Gebrauch der reinen Vernunft (den moralischen) gebe, in welchem sie sich unvermeidlich über die Grenzen der Sinnlichkeit erweitert (,..)."842

Die widersprüchliche Formulierung, daß der Nutzen der Kritik sowohl negativ als auch positiv sei, scheint gelöst durch die Projektion des Unterschieds von Positivität und Negativität der Kritik auf den Unterschied von theoretischer und 840 841

842

Ebda. Richtig ist, daß der Kritikbegriff in der Kritik der praktischen Vernunft nicht in dem Maße wie in der Kritik der reinen Vernunft Gegenstand der Überlegungen dort ist, doch mißachtet die Interpretation von Kurt Röttgers die Kritik der empirisch bedingten Vernunft im Unterschied zur Kritik der reinen praktischen Vernunft: "Im Zusammenhang der praktischen Philosophie wird der Kritikbegriff viel weniger reflektiert als in der "Kritik der reinen Vernunft". Tatsächlich bedeutet Kants Ethik eine Einschränkung des Kritikbegriffs, weil er ausschließlich die Aufsuchung der Quelle meint - in der zentralen Frage: ob reine Vernunft an sich praktisch sein könne - und aller Einwürfe gegen das, was als Maß immer schon güt, beinhaltet."(Kritik und Praxis, 49). KrV, 24, Β XXIV f.

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praktischer Vernunft: Kant schreibt, "sobald man überzeugt wird, daß es einen schlechterdings notwendigen praktischen Gebrauch der reinen Vernunft (den moralischen) gebe", werde der Nutzen der Kritik positiv. Da das moralische Gesetz ein "Gesetz der Causalität durch Freiheit, und also der Möglichkeit einer übersinnlichen Natur, so wie das metaphysische Gesetz der Begebenheiten in der Sinnenwelt ein Gesetz der Causalität der sinnlichen Natur (,..)"843 sei, bestimme die praktische Vernunft das, was die theoretische Vernunft unbestimmt habe lassen müssen. Die Positivität der Kritik bestehe demnach in dem Resultat, der "bloß negativ gedachten Causalität (,..)"844 als Resultat der Kritik der spekulativen Vernunft eine "positive Bestimmung, nämlich den Begriff einer den Willen unmittelbar (...) bestimmenden Vernunft (,..)"845 hinzuzufügen. Die Projektion des Unterschieds von negativer und positiver Kausalität auf den von theoretischer und praktischer Vernunft ist sowohl in der Kritik der reinen Vernunft als auch insbesondere in der Kritik der praktischen Vernunft anzutreffen, doch ist sie sachlich nicht durch die Argumentation begründet: Erstens ist die Kausalität aus Freiheit als transzendentale und praktische Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft explizit jeweils doppelt, sowohl negativ als auch positiv, bestimmt.846 Negativ sind die transzendentale und praktische Freiheit als Unabhängigkeit von der durchgängigen Naturkausalität und Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben bestimmt. Positiv sind sie als Spontaneität der Ursache und als vernünftige Bestimmung des Willens bestimmt. Zweitens ist die Verwendung des Begriffs negativ in den erörterten Passagen äquivok: Einerseits meint die negative Gesetzgebung die Restriktion auf einen möglichen Erfahrungsgebrauch, andererseits ist die negativ gedachte Kausalität, im Unterschied zur Bestimmung dieser als spontane Ursache, gerade die Unabhängigkeit von der Naturkausalität. Die Autonomie der theoretischen und praktischen Vernunft, sich selbst das Kriterium ihrer Kritik, die die theoretische und praktische Vernunft zum Gegenstand hat, zu geben, führt auf einen immanenten Prozeß der Reflexion, in dem das kritisierende Subjekt, der Gegenstand der Kritik und das Kriterium der Kritik nicht zu unterscheiden sind. Die durch die Immanenz dieses Prozesses drohende reine Identität, die vom Nichts nicht zu unterscheiden ist, nötigt dazu, die Kritik der reinen und der reinen praktischen Vernunft auf einen von ihnen unterschiedenen Gegenstand der Kritik zu beziehen.847 Gegenstand der Kritik der 843 844 845 846 847

KpV, 47, 82. KpV, 48, 83. Ebda. Vgl. Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit. Analog dazu wäre vermutlich die Kritik der kritischen Kritik von Marx in seiner Schrift Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, MEW 2, 3-223, zu erläutern. "So ζ. B. macht die kritische Kritik aus der Kritik als einem Prädikat und einer Tätigkeit des Menschen, ein apartes Subjekt, die sich auf sich selbst beziehende und darum k r i t i s c h e Kritik."(21). Vgl. Kurt Röttgeis' Erläuterung der marxschen Kritik an der kritischen Kritik: ""Positive Kritik" dagegen ist

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theoretischen Vernunft ist die Relation von Begriffen und Gegenständen der Natur. Gegenstand der Kritik der praktischen Vernunft ist dagegen die sinnliche Natur als zweite Natur. "Die sinnliche Natur vernünftiger Wesen überhaupt ist die Existenz derselben unter empirisch bedingten Gesetzen, mithin für die Vernunft Heteronomie." 8 4 8 Die von dem kritisierenden Subjekt unterschiedenen Subjekte der Kritik sind entweder in der Relation auf Natur bezogen oder sind unmittelbar die heteronome Natur. Kriterium der Kritik ist jeweils die univoke Form der Gesetzmäßigkeit. Dagegen ist der Gegenstand der Kritik, die Natur als Relatum und als heteronome Natur, durch die nachgewiesene849 Äquivokation im Begriff der Heteronomie in sich unterschieden. Soll die Form der Gesetzmäßigkeit der "Natur der Sinnenwelt als Typus einer intelligiblen Natur zu brauchen (,..)"850 sein, kann die Natur als Relatum in der erkenntnistheoretischen Reflexion nicht dieselbe Natur sein, die Gegenstand der Kritik der praktischen Vernunft ist, da die Form jener dieser erst noch zu verschaffen sei. Gegenstand der Kritik der theoretischen Vernunft ist demnach die Relation von Begriffen und Gegenständen der ersten Natur, die, nicht wie der Gegenstand der Kritik der praktischen Vernunft, die zweite Natur, selbst kritisierbar ist.851 An dem Unterschied zwischen der Identität des Kriteriums der Kritik, der Form der Gesetzmäßigkeit, die durch die Prinzipien des Denkens, den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch und dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten begründet ist, und der Nicht-Identität der Gegenstände der Kritik, der ersten Natur als Relatum und der zweiten Natur, wird bei Kant das kritisierende Subjekt in die theoretische und die praktische Vernunft gespalten, deren Wissenschaften die Philosophie der Natur und die Philosophie der Moral seien, die aber in einem einzigen philosophischen System in Einheit sein sollen. Terminus ad quem der Kritik des Denkens oder der Kritik der Vernunft im Genitivus obiectivus ist damit die Einheit des Denkens oder der Vernunft. Die Kritik des Denkens oder die Kritik der Vernunft im Genitivus subiectivus ist dagegen a quo in Einheit. Der Versuch, die Momente dieser Einheit, das Subjekt der Kritik und das Kriterium der Kritik, durch sich selbst zu kritisieren, das heißt,

m 849 850 851

ein Gegensatzbegriff zur reinen, kritischen Kritik. Die Reinheit der kritischen Kritik meinte vor allem die Reinheit von aller empirischen Bestimmtheit. Das ist der Hauptangriffspunkt, den der Begriff der positiven Kritik anvisiert, in ihm werden Feuerbachsche Elemente aktualisiert, und für "positive" steht auch "humanistische Kritik". Marx hält Kritik für eine "Wesenstätigkeit des wirklichen, darum in der gegenwärtigen Gesellschaft lebenden, leidenden, an ihren Qualen und Freuden teilnehmenden menschlichen Subjekts"[nachgewiesen durch: MEW 2, 169)]."(Kritik und Praxis, 265). KpV, 43,74. Vgl. Kapitel 2.3 dieser Arbeit. KpV, 70,124. Vgl. Peter Bulthaup: Kritische Wissenschaft und Wissenschaftskritik, 22.

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aus der Einheit einen Unterschied in der Einheit zu begründen, führt dagegen auf den Regressus ad infinitum, der die Möglichkeit der Kritik suspendiert. Über die Wahrheit oder Falschheit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch durch Kritik, deren Kriterium der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch wäre, kann kein wahres Urteil gefällt werden. Die Forderung danach, noch die ersten Prinzipien des Denkens beweisen zu müssen, hat Aristoteles zurecht als "Mangel an Bildung (...)"852 bezeichnet. In der Nicht-Beweisbarkeit der Kriterien ihrer Kritik sind die Kritik der reinen und die Kritik der reinen praktischen Vernunft analog. Nur die Notwendigkeit der Kriterien der Kritik kann bewiesen werden. Die Verschränkung der Freiheit als ratio essendi des moralischen Gesetzes und des moralischen Gesetzes als ratio cognoscendi der Freiheit erklärt die Freiheit zum Grund der Existenz des moralischen Gesetzes. Das, was den Existenzgrund des moralischen Gesetzes, die Freiheit des Willens, aus dem Erkenntnisgrund der Freiheit, dem moralischen Gesetz, erschließt, ist das Denken. Erschließt das Denken den Existenzgrund des moralischen Gesetzes, ist die Freiheit dem Denken das zu Begründende. So wäre das Denken Grund des Existenzgrundes und das, was den Schluß von dem Erkenntnis- auf den Existenzgrund leistete.853 Die Existenz der Freiheit fiele damit, wie auch das Sittengesetz als Erkenntnisgrund, in das Denken selbst: "Freiheit ist aber die einzige unter allen Ideen der speculativen Vernunft, wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen."854 Die Formulierung, daß etwas gewußt wird, ohne daß es eingesehen werden kann, beschreibt eine Offenbarung. Ist der Existenz- oder Beweisgrund des moralischen Gesetzes durch Offenbarung, damit selbst nicht bewiesen, ist auch das, worin er sich offenbart, das moralische Gesetz als Kriterium der Kritik der reinen praktischen Vernunft nicht beweisbar - es gilt vielmehr als ein "Factum der Vernunft (...)."85S

852 853 854 855

Aristoteles: Metaphysik, 74,1006a 6. Vgl. Kapitel 2.1.2 B. dieser Arbeit. KpV, 4, 5. KpV, 31, 56. Die Notwendigkeit des Faktums der Vernunft betont Henry Allison in der Schlußbemerkung seines Buches: "And since the deduction of freedom is itself based on the authentication of the moral law through the fact of reason, the defense of it remains tentative as well. Thus, in the end, the most that can be said for this deduction, which is still more than most are willing to claim, is that it follows from Kant's premises and that together with the appeal to the fact of reason it constitutes Kant's definitive attempt to ground morality and freedom."(Kant's theory of freedom, 249).

Die kritische Theorie als nicht-affirmative Theorie

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5.5 Die kritische Theorie als nicht-affirmative Theorie 5.5.1 Kritik und Selbstbewußtsein Gezeigt werden konnte, daß die Kritik des Denkens oder die Kritik der Vernunft in sich unterschieden ist, und daß die Kriterien der Kritik selbst nicht Gegenstand der Kritik oder Gegenstand eines Beweises sein können. Die Kritik des Denkens oder die Kritik der Vernunft ist analog der Synthesis des "Ich denke", die im § 16 der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe vorgetragen wird. Im Genitivus subiectivus ist sie reflexiv wie die Synthesis des "Ich denke", das als Vorstellung gleich jeder anderen Vorstellung vom "Ich denke" muß begleitet werden können. Im Genitivus obiectivus ist sie irreflexiv wie die Synthesis des "Ich denke", das alle seine Vorstellungen begleitet. Sowohl der Reflexivität der Synthesis des "Ich denke" als auch der der Kritik des Denkens ist nachweisbar, daß sie notwendig bezogen sind auf die Irreflexivität. Insofern sind die Synthesis des "Ich denke" und die Kritik des Denkens doppelt gespalten, zum einen in die irreflexive, die sich auf Anderes bezieht, und die reflexive, die sich auf sich selbst bezieht, zum anderen ist die reflexive Synthesis oder reflexive Kritik ihrerseits noch einmal gespalten dadurch, daß sie bezogen sein muß auf die irreflexive Synthesis oder irreflexive Kritik. Die Doppelung der Spaltung ist Ausdruck der Freiheit oder der Spekulativität des Denkens, der zugleich ihr heterogenes Moment in Gestalt der Natur als notwendig nachzuweisen ist. Die der Synthesis des "Ich denke" analoge Kritik des Denkens oder der Vernunft ist über die Analogie hinaus mit dieser verschränkt. Ist die Synthesis der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption nur konsistent vermöge ihrer Inkonsistenz, da sie bedingt ist durch ein heterogenes Moment in Gestalt der Natur, scheint die Haltung des "Ich denke" zu der Natur nicht anders als affirmativ sein zu können. Die explizite Ablehnung, daß die empirische Einheit der Apperzeption der transzendentalen vorausgesetzt sein könnte856, führt auf die Bestimmung der Natur als Reflexionsbegriff in Gestalt der Idee des transzendentalen Gegenstandes, der als Inbegriff der Erscheinungen der Natur die Funktion hat, a priori die Kompatibilität der Erscheinungen der Natur mit der durch die transzendentale Einheit der Apperzeption vorgeschriebenen Form der Gesetzmäßigkeit dieser Erscheinungen zu garantieren. Die konsistente Ordnung aller Erscheinungen der Natur entspräche der Forderung, daß die transzendentale Einheit der Apperzeption einen Gegenstand haben müsse und dieser Gegenstand durch dessen vernünftige Organisation ihr kompatibel sei. Gäbe es nur dieses wahrhaft Seiende, würde die Wissenschaft dieses Seienden zur getreuen 856

Vgl. KrV, 151b f., Β 139 f.

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Zu Bedingungen einer kritischen Theorie der Gesellschaft

Abbildung der Welt, zu deren Verdoppelung in ihren Urteilen über diese. "Jede Wissenschaft, deren Gegenstandsbereich nicht unter der idealistischen Bedingung der Identität von Denken und Seiendem steht, kann der Forderung nach logischer Konsistenz ihrer sachhaltigen Aussagen nur genügen, wenn sie zur Kritik an der Heteronomie ihrer Gegenstände wird."857 Die Durchgängigkeit der idealistischen Identifizierung von Denken und Seiendem hat Kant durch den Unterschied von theoretischer und praktischer Vernunft, deren Gegenstandsbereich von ihm als Heteronomie bezeichnet wird, abgelehnt. Ist die Kompatibilität von transzendentaler Einheit der Apperzeption und der ersten Natur in Gestalt des transzendentalen Gegenstands Resultat der Kritik der reinen Vernunft, steht ihr die Kritik der nicht mit dem Sittengesetz kompatiblen zweiten Natur durch die praktische Vernunft gegenüber. An der Heteronomie der zweiten Natur ist die Synthesis des "Ich denke" oder des Selbstbewußtseins gebrochen. In der Restitution der Einheit des Selbstbewußtseins ist die Synthesis bezogen auf die Kritik. Die Einheit der Kritik des Denkens oder der Vernunft im Genitivus obiectivus ist jedoch nicht nur Terminus ad quem, sondern auch Tertium comparationis, in das der Unterschied von theoretischer und praktischer Vernunft fällt.858 Es ist ein und dieselbe Vernunft, die durch den Unterschied zwischen dem, was da ist, und dem, was da sein soll, vor der bedingungslosen Affirmation der Realität bewahrt wird. Das, was da sein soll, ist das Kriterium der Kritik an der heteronom bestimmten zweiten Natur. Ist die heteronom bestimmte zweite Natur der Gegenstandsbereich der Gesellschaftstheorie, reproduziert sich in der Gesellschaftstheorie der Unterschied von Natur und Freiheit: Einerseits ist sie eine Theorie der zweiten Natur, deren Gegenstände eine empirische Affinität wie die der ersten Natur besitzen. Andererseits ist sie eine Theorie der Freiheit, da deren Gegenstände Resultat der Freiheit im kosmologischen Verstand sind, auf die deshalb das Kriterium, ob sie mit der Freiheit im praktischen Verstand übereinstimmen, angewandt werden kann. Auf der Reproduktion dieses Unterschieds in der Gesellschaftstheorie beruht die Eigenart einer Gesellschaftstheorie, die sich kritische Theorie nennen kann. Entgegen der These, daß die kritische Theorie nicht referierbar, sondern eine geistige Erfahrung sei859, soll im folgenden anhand einer Auswahl von Schriften

857 858 859

Peter Bulthaup: Kritische Wissenschaft und Wissenschaftskritik, 21. Vgl. Kapitel 4.3 dieser Arbeit. "Die kritische Theorie ist von ihrem Begründer niemals "an sich" dargeboten worden, sondern stets nur in der (häufig polemischen) Auseinandersetzung mit anderen Theorien, geistigen oder politischen Strömungen, die jeweils zurückverwiesen auf konkret-gesellschaftliche Veihältnisse. Es ist deshalb völlig unmöglich, Max Horkheimers Denken auf einen referierbaren, fertigen Lehrgehalt zu bringen, der sich in bündigen Thesen wiedergeben läßt. Die kritische Theorie ist eher eine - im Hegeischen Sinn - geistige "Erfahrung" der Wechselfälle dieses Jahrhunderts als daß sie doktrinal, gar "weltanschaulich" gekennzeichnet werden könnte."(Alfred Schmidt: Die

Die kritische Theorie als nicht-affirmative Theorie

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Horkheimers und Adornos die Eigenart860 dieser Theorie dargelegt werden.861 Besteht die Eigenart der kritischen Theorie darin, kritisch zu sein, ist die Forderung an diese Theorie zu stellen, daß die Reflexion des Verhältnisses von Affirmation und Negation des Gegenstands der Theorie in der Theorie selbst zu erfolgen habe.

5.5.2 Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie 'Theorie im traditionellen (...) Sinn, wie sie im Betrieb der Fachwissenschaften überall lebendig ist, organisiert die Erfahrung auf Grund von Fragestellungen, die sich mit der Reproduktion des Lebens innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft ergeben. (...) - Die kritische Theorie der Gesellschaft hat dagegen die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand."862 An der gesellschaftlichen Reproduktion der Individuen unterscheidet Horkheimer die Gegenstandsbereiche der traditionellen und kritischen Theorie. Die traditionelle Theorie habe, da sie sich mit der Reproduktion des Lebens innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft auseinandersetze, den Stoffwechsel der Menschen mit der ersten Natur zum Gegenstand. Die kritische Theorie dagegen betrachte die Subjekte des Stoffwechsels mit der ersten Natur, die Menschen, als Produzenten der gesamten historischen Formen des Lebens. Diese Formen des Lebens schließen die Formen der Organisation der Reproduktion des Lebens ein.

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ursprüngliche Konzeption der Kritischen Theorie im frühen und mittleren Werk Max Horkheimers, 89). Alfred Schmidt stellt die richtige Frage: "Was nun ist näher die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Position der >kritischen Theorie