Vom Un-Glück – Gibt es Glück im Leid?: Leidfaden 2022, Heft 4 [1 ed.] 9783666806209, 9783525560662, 9783525806203


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Vom Un-Glück – Gibt es Glück im Leid?: Leidfaden 2022, Heft 4 [1 ed.]
 9783666806209, 9783525560662, 9783525806203

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11. Jahrgang  4 | 2022 | ISSN 2192-1202

faden Leid

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

VOM

UNGLÜCK

GIBT ES GLÜCK IM LEID? Melanie Kunig Diagnose: unheilbar krank – und

glücklich  Erich Schützendorf Demenz – eine Reise in das (Un-)Glück?  Sonja Thalinger Würde ist Maßstab – Glück und Unglück im Kontext des assistierten Suizids  Michael-M. Lippka-Zotti Trauer sucht Rausch? Vom kurzen, fragwürdigen Glück in unglücklichen Zeiten

Der Tod widerfährt uns in unserer Leiblichkeit, die aber trägt eine geschlechtliche Signatur

Angela Berlis / Magdalene L. Frettlöh / Isabelle Noth / Silvia Schroer (Hg.)

Die Geschlechter des Todes

Theologische Perspektiven auf Tod und Gender 2022. 484 Seiten mit 35 Abb., gebunden € 140,00 D ISBN 978-3-525-56066-2 Auch als OA erhältlich.

Der Tod widerfährt uns in unserer Leiblichkeit, die aber trägt eine geschlechtliche Signatur. Wussten Sie, dass in der Bibel keine einzige Frau Suizid begeht, dass aber heute mehr Frauen als Männer aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen? Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, ob sich über den Tod Jesu genderspezifische Aussagen machen lassen und ob das (Nicht-)Trauern-Können mit der je eigenen geschlechtlichen Identität zu tun hat? Würden Sie für Ihre Beerdigung eher einen Bestatter oder eine Bestatterin wählen? Fragen wie diesen und vielen anderen rund um den Zusammenhang von Tod und Gender in Geschichte und Gegenwart gehen die Beiträge dieses Bandes nach, die aus allen theologischen Disziplinen sowie aus Philosophie, Religionsund Kulturwissenschaften stammen. Sie zielen auf eine neue Wahrnehmung von gender diversity im Umgang mit Sterben und Tod und damit zugleich auf die Befreiung aus normativen Männer- und Frauenbildern im Horizont einer realistischen Anthropologie.

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EDITORIAL

Vom Un-Glück – Gibt es Glück im Leid? Bei Vroni wurde Brustkrebs diagnostiziert. Nach der Operation und einer Zeit von Bestrahlungen kehrt sie wieder ins Lehrer*innenzimmer zurück. Sie wird herzlich von ihrem Kollegium empfangen. »Ja, da habe ich schon mal Glück gehabt, dass ich wieder hier bei euch sein darf!« Eine Kollegin schaut sie erstaunt an: »Glück? Glück wäre gewesen, wenn du gar nie an Krebs erkrankt wärst!« Was nennen wir Glück und wie können wir es erkennen?

.marqs / photocase.de

Sprichwörtlich liegen sie oft nah beisammen, das Glück und das Unglück. Wenn das Leben in den ruhigen Bahnen verläuft, so scheint das Unglück weit weg zu sein. Doch ist Unglück immer das Gegenteil von Glück oder gibt es so etwas wie Glück im Leid? Oder sogar Leid im Glück? Und wovon hängt es ab, (un-)glücklich zu sein? Ist es Schicksal? Sind wir unser eigenes (Un-)Glückes

Schmied oder sind es sogar nicht direkt beeinflussbare Gründe? In diesem Leidfaden-Themenheft versuchen wir, aus vielen Perspektiven heraus das Thema »Unglück und Glück« zu beleuchten und Möglichkeiten aufzuzeigen, mit Krisen umzugehen. Und Sie, liebe Leser*innen, erhalten Anregungen, wie Sie Menschen in Krisen, im Leid und in Zeiten der Trauer begleiten können. Wir haben einige Menschen, Klientinnen, Kolleginnen und Trauernde gebeten zu formulieren, was für sie Glück im Leid ist. Diese Gedanken sind als Zitate im ganzen Heft zu finden.

Sylvia Brathuhn

Erika Schärer-Santschi

Rainer Simader

Glück im Leid ist für mich … ‘ weinen und schreien zu dürfen! auch vorübergehen werden. ‘ zu wissen, dass der Schmerz und das Leid ‘ liebe Menschen um mich zu haben. ‘ Musik hören zu können. ich trotzdem noch lebe. ‘ wenn ich durch den Schmerz fühle, dass ‘ das TROTZDEM! ‘ meine Katze schnurren zu hören! ‘ – im Leid gibt es kein Glück! ‘ in meinem Garten zu sitzen. hen. ‘ duschen zu können, um das Leid abzuwasc en. ‘ beten zu könn ‘ da sein zu dürfen. ‘ stricken zu können. ‘ Lyrik lesen!

Inhalt Editorial 1

4 Melanie Kunig

Diagnose: unheilbar krank – und glücklich

8 Stefan Klein

Was ist Glück? Und wie kann man es erreichen?

22 Marlis Lamers | Es steht dir ins Gesicht geschrieben

13 Detlef Kowalski

Bedürftigkeit – Unglück oder letzte Schönheit?

14 Verena Vondrak

Die Leichtigkeit des Augenblicks

18 Erich Schützendorf

Demenz – eine Reise in das (Un-)Glück?

22 Marlis Lamers

Es steht dir ins Gesicht geschrieben – Die Emotionserkennung als Schlüssel zum Glück für Menschen mit Demenz

26 Eduard Zwierlein

Das Streben nach Glück

30 Franz Greif

Glück als Kategorie der Sozial- und Entwicklungspolitik – am Beispiel Bhutan

48 Esther Pauchard | Jenseits des Glücks

36 Isa Sellin

Die Flutkatastrophe an der Ahr und die kleinen Glücksmomente

38 Klaus Wegleitner

Momente des Glücks im Sterben – einge­bettet in sorgende Gemeinschaften

44 Julia Edlinger

Glück – Was ist es? Woher kommt es? Was können wir selbst zum Glücklichsein beitragen?

58 Madlaina Zindel und Anna Margareta Neff | Wenn der Anfang auch das Ende ist – Umgang mit perinatalem Kindstod aus Hebammensicht

65  Sylvia Brathuhn | Trauer ist ein langer Weg

48 Esther Pauchard

Jenseits des Glücks – Warum Glück weniger mit Umständen und mehr mit dem Innenleben zu tun hat

81  Michael-M. Lippka-Zotti | Trauer sucht Rausch?

52 Corinna Hansen-Krewer im Gespräch mit Sylvia Brathuhn von Leidfaden

Die (un-)glückliche Begleitung »Kleiner Geburten«

56 Christina Paul

Psalm einer Trauernden

58 Madlaina Zindel und Anna Margareta Neff

Wenn der Anfang auch das Ende ist – Umgang mit perinatalem Kindstod aus Hebammensicht

62 Gabriela Postl

Was einst als Glück begann – Wenn Paar­ beziehungen zu Ende gehen

65 Sylvia Brathuhn

Trauer ist ein langer Weg – Die drei Felder der Trauer

71 Regula Lütscher

Abschied von meiner Mutter

85 Martina Kern im Gespräch mit Rainer Simader von Leidfaden

»Wie (un-)glücklich sind Palliativteams heute?«

89 Fortbildung: Angehörige zu hilfreichen Abschiedsritualen anleiten – ein Beitrag zum

74 Sonja Thalinger

Würde ist Maßstab – Glück und Unglück im Kontext des assistierten Suizids

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92 Eva Katharina Masel und Andrea Praschinger Glück und Unglück – Medical Comics als Möglichkeit zur Reflexion

Lisa Wiesinger und Michaela Scherzer … auf dem Rücken der Pferde liegt das Glück der Erde – Pferdegestützte Palliative Care in der Pädiatrie

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Glücksgefühl?

Michael-M. Lippka-Zotti Trauer sucht Rausch? Vom kurzen, fragwürdigen Glück in unglücklichen Zeiten

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Rezensionen

99 Verbandsnachrichten 103 Vorschau 104 Impressum

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Diagnose: unheilbar krank – und glücklich Melanie Kunig Ich heiße Melanie Kunig und wurde 1972 in einer schwäbischen Kleinstadt geboren. Ich bin verheiratet, habe einen Sohn und zwei Stieftöchter. Seit 2008 lebe ich mit einer Erkrankung namens »Friedreich-Ataxie«, einer seltenen, fortschreitenden, genetisch bedingten Degeneration der spinozerebellären Bahnen des Kleinhirns und des Rückenmarks. Die Erkrankung ist unheilbar, die Lebenserwartung ist eingeschränkt, wobei die Symptome und der Verlauf sehr individuell sind. Wie es begann … Die ersten Symptome traten vor etwa 14 Jahren auf. Vor allem an anstrengenden Tagen hatte ich leichte Koordinationsschwierigkeiten. Ich bin an Türrahmen hängen geblieben, gestolpert oder hatte hier und da mal einen Ausfallschritt. Im Laufe der nächsten zwei Jahre häufte sich die Symptomatik und ich begab mich das erste Mal auf An-

raten meines Hausarztes zu einem Neurologen. Die ersten Untersuchungen wurden durchgeführt, die Ergebnisse waren unauffällig. Ich wurde dann erstmalig eine Woche stationär auf eine neurologische Abteilung in unserem ortsnahen Krankenhaus aufgenommen. Damals hatte ich große Angst vor den Untersuchungen und der Diagnose. Ich habe mir die schlimmsten Krankheiten ausgemalt. Alle tödlich! Ich hatte Angst zu sterben und meinen Sohn nicht aufwachsen zu sehen. Ich hatte mich so in diese Angst hineinmanövriert, dass ich am Ende der Woche psychisch sehr belastet war. Ich wurde nach einer Woche mit MRT von Schädel und Rücken, Nervenwasseruntersuchung, unzähligen Blutentnahmen und sämtlichen fiesen neurologischen Untersuchungen ohne Befund entlassen. Der Oberarzt sagte noch mit aufmunternder Miene: »Bei Ihnen ist alles in Ordnung!«

Melanie Kunig

»Reiß dich doch zusammen!« Prima! Und was nun?! Die Symptome waren nach wie vor da. Die ersten Stimmen in meinem Umfeld wurden laut, dass ich es eventuell mit der Psyche hätte … Sätze wie: »Jetzt geh mal ordentlich!«, »Reiß dich doch zusammen!«, »Lass dich nicht so hängen!« und »Du hast ja nichts!« wurden oft und gerne ausgesprochen. Irgendwann habe ich das geglaubt und danach gehandelt. Mir selbst war klar, dass die Symptome nicht psychisch bedingt sind. Also entschied ich, wie mir geheißen, mich zusammenzureißen. Ich habe mich in meinem Beruf fortgebildet. Habe meinen Nebenerwerb mit Hingabe vorangetrieben, mich um meinen Sohn gekümmert und mich ehrenamtlich bei uns in der Gemeinde engagiert.

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Nebenher habe ich noch mit meiner endlich gefundenen einzig wahren großen Liebe unsere Wohnung umfangreich renoviert. Ich tat alles, um eine gute Leistungserbringerin zu sein. Meine Symptome haben sich weiter schleichend verschlechtert und ich habe sie bewusst ignoriert. Ich war der festen Meinung, je mehr ich leiste und je besser ich sie ignoriere, desto schneller wird die Krankheit, welche auch immer, verschwinden. Wenn mich jemand auf meine Symptome, wie den schwankenden Gang oder auch die etwas verlangsamte Sprache angesprochen hat, habe ich es durch ein Augenzwinkern und einen Scherz einfach weggelacht. Das war für mich und meine Mitmenschen eine ausreichende Erklärung. Wirklich getroffen haben mich nur die Vermutungen, dass ich alkohol-, tabletten- oder drogenabhängig sei. Diesen unglaublichen Kraftakt und letzten Endes auch den Betrug an mir selbst habe ich viele Jahre betrieben. Und damals war ich – so grotesk es klingen mag – glücklich mit meinem Leben. Etwas erschöpft vielleicht. Ohne Befund

endlich wissen, was ich habe!«, brüllte ich ihn an. Ich war einem Nervenzusammenbruch nahe. Nach weiteren drei Tagen wurde ich ohne Befund entlassen. In meinem Entlassungsbericht steht »(…) am ehesten eine heredo-degenerative Erkrankung des Nervensystems« und »eine Abklärung in einer genetischen Praxis wird empfohlen«. Diese Formulierung war mir damals nicht klar und auch die Worte im Entlassungsgespräch drangen nicht zu mir durch. Ich war psychisch am Ende. Um erste genetische Übereinstimmungen festzustellen, wurde meine Mutter vor Ort untersucht. Ohne Befund! Ich kehrte in mein sicheres, wenn mittlerweile auch sehr anstrengendes Leben zurück. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Kraft mehr, mich weiteren Untersuchungen und Arztbesuchen zu stellen. Ich lebte mein Leben einfach weiter und es wurde immer anstrengender. Das »Glück« verblasste immer mehr. Die Wende: Innere und äußere Erlaubnis zum Kranksein auch ohne Diagnose Auch auf Drängen meines Hausarztes absolvierte ich 2018 meine erste neurologische Reha. Als mir dort klar wurde, dass ich krank bin und wahr-

Melanie Kunig

Als mich mein Hausarzt 2018 wegen der immer auffälliger werdenden Symptomatik an eine Uniklinik empfahl, war ich trotz meines konstruierten Lebens froh und voller Hoffnung, vielleicht doch eine Diagnose zu erhalten. Ich wurde stationär in einer neurologischen Uniklinik aufgenommen. Erneut wuchs die Angst, an einer unheilbaren, tödlichen Krankheit zu leiden, fast im gleichen Tempo wie die Hoffnung auf eine Diagnose, um die Ungewissheit und die bisher nicht erhaltene Anerkennung des »Krankseins« endlich zu beenden. Als der Oberarzt auch am fünften Tag freudestrahlend in mein Zimmer kam und mir sagte, dass auch die neueste Untersuchung ohne Befund ist und »alles in Ordnung sei«, brach ich vor Wut und Enttäuschung in Tränen aus! »Mit mir stimmt was nicht und ich will jetzt

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Melanie Kunig

6    M ehatte lanie Kunig Endlich! Ich eine Diagnose. In allem Unglück war ich glücklich!

scheinlich auch nicht mehr gesund werde, bin ich in ein tiefes, dunkles Loch gefallen. Ich wusste, mein ganzes Leben wird sich ändern. Ich hatte Angst. Ich war verzweifelt. Erst später spürte ich die Erleichterung, mich nicht mehr verstellen zu müssen und unter Menschen zu sein, die ähnliche Handicaps hatten wie ich. Ich wurde nicht mehr auf mein »Anderssein« reduziert, sondern als Melanie wahrgenommen und man hat mir endlich meine Beschwerden geglaubt, obwohl ich bis dahin immer noch keine Diagnose hatte. Als die Reha zu Ende war musste ich diesen für mich sicheren Ort verlassen und mich meinem Alltag stellen. Nächste Schritte • Ich habe mich geoutet als kranker Mensch. Ohne Diagnose. Das war schwer. • Ich habe nicht mehr gearbeitet, sondern einen Rentenantrag und einen Antrag auf Schwerbehinderung gestellt. • Ich habe mir einen wöchentlichen Therapieplan aus Physio- und Ergotherapie, Logopädiesitzungen, Krafttraining, Reha-Sport, Qi Gong und einer Psychotherapie erstellt, den ich bis heute in etwas abgeänderter Form diszipliniert verfolge. • Ich habe geackert und gearbeitet, dass mein Körper und meine Seele in Einklang kommen. • Dienstags nehme ich mir meinen »freien Tag«.

Ich war nicht mehr nur Opfer, sondern fühlte mich auch schon ab und zu als Königin. Endlich eine Diagnose: Friedreich-Ataxie Ich hatte auch wieder die Kraft, meine Diagnostik voranzutreiben, und stellte mich in einem weiteren Uniklinikum zur Blutentnahme in der genetischen Abteilung vor. Nach intensiven Untersuchungen meines Blutes und vielen Monaten des Wartens bekam ich meine Diagnose »FriedreichAtaxie« im Oktober 2020! Als ich die Diagnosenachricht der Uniklinik in Händen hielt, habe ich vor lauter Erleichterung geweint. Endlich! Ich hatte eine Diagnose. In allem Unglück war ich glücklich! Begleitend durch eine erneute neurologischen Reha und einen Termin in einer AtaxieSprech­stunde einer weiteren Uniklinik habe ich mich über die Erkrankung informiert und erste Ideen bekommen, wie ich damit umgehe. Trotz der zunehmenden Einschränkungen lebe ich heute gut und glücklich mit der Diagnose »Friedreich-Ataxie«. Mein Weg bis hierhin war lehrreich, spannend, hart, manchmal lustig und auf jeden Fall erfüllend. Heute bin ich kein Opfer mehr, sondern Königin! Ich verneige mich vor »meiner Friedreich« – sie hat mein Leben um so vieles reicher und wahrer gemacht. Ich plante die Veröffentlichung meines Weges zu einem guten, glücklichen Leben mit »meiner Friedreich« in Form von Kunstkarten1. Ich möchte Menschen Mut machen, die ebenfalls mit einer chronischen Erkrankung leben. Menschen, die in einer Lebenskrise stecken, oder Menschen, die et-

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was Mut, aus welchen Gründen auch immer, benötigen. Mir ist es wichtig, anderen einen Einblick in die Gedanken, die Gefühle und die Seele eines chronisch kranken Menschen zu ermöglichen und die damit verbundenen Herausforderungen aufzuzeigen. Ich hoffe dadurch auf ein liebevolleres Miteinander. Auf mehr Verständnis füreinander. Ein wichtiges Werkzeug für einen guten Umgang mit der Erkrankung sind meine (Über-)Lebenssätze. Wie Mantras habe ich sie verinnerlicht und lebe nach ihnen. Auch meine Kunst ist mir auf diesem Weg zentrales Werkzeug. Ich kreiere Seelenbilder mit der acryl-pouring-Technik. Beides vereint ergeben einzigartige, aussagekräftige Kunstwerke. Meine täglichen Herausforderungen mit der Erkrankung veröffentliche ich in einem Blog auf Facebook und Instagram. Heute kann ich sagen: »Diagnose: unheilbar krank – und glücklich!«

Glück im Leid ist: ist für mich, dass ich »Das Glück im Leid r eine zu leben! Es gibt nu Glück gehabt habe die, lic g im Leben: näm h einzige Verpflichtun s.« au hließe ich Suizid zu leben. Deshalb sc am ultimorbid erkrankt (Herr S., 89 Jahre, m stehend) Ende seines Lebens

»Mein Glücksmoment im Strudel des Leids … Melanie Kunig ist 1972 geboren und wohnt mit ihrer Familie in einer kleinen Gemeinde in Baden-Württemberg. Sie war Mitarbeiterin des Kundenservice­ centers einer Bausparkasse und ist heute berentet, da sie seit 2008 mit der genetisch bedingten Erkrankung Friedreich-Ataxie lebt. Die Erkrankung ist fortschreitend, unheilbar und lebenseinschränkend. Zum Jahresbeginn 2022 hat sie sich entschieden, ihren Weg im Umgang mit ihrer Erkrankung zu veröffentlichen. Kontakt: [email protected] Websites: http://www.artaxie-by-melanie-kunig. jimdofree.com http://www.friedreichataxie.de (Friedreich Ataxie Förderverein e. V., Verein zur Förderung der Erfor­ schung und Behandlung der Friedreich-Ataxie) http://www.ataxie.de (Deutsche Heredo-AtaxieGesellschaft e. V., Selbsthilfeorganisation AtaxieKrankheiten für Betroffene und Angehörige) http://www.ataxie.org (Austauschplattform für Betroffene und Angehörige einer Ataxie-Krankheit)

geschah an Silvester 2021. Ich verbrachte ­Silvester ›wie immer‹ mit meiner Clique. Der Abend war gut. Dann näherte sich Mitter­ nacht. Ich wollte mich zurückziehen, um den anderen – alles Paare – die Gelegenheit zu geben, sich zu umarmen und eine Neues Jahr zu wünschen. Doch es kam anders. Ein Freund zog mich am Arm in die Mitte. Alle stellten sich im Kreis auf, hielten sich an den Händen und ich war wie selbstver­ ständlich Teil dieses Kreises. Gemeinsam be­ grüßten wir das neue Jahr. Ein tiefes Gefühl von Geborgenheit, Dankbarkeit und Glück durchströmte mich.« (Andi, 57 Jahre, sechs Monate nach dem Tod ihres Mannes)

Anmerkung 1

Bestellbar auf meiner Homepage https://artaxie-by-melanie-kunig.jimdofree.com. 16 (Über-)Lebenssätze mit meiner persönlichen Interpretation auf der Rückseite. Im Buchformat zum Ausschneiden und Verwenden der einzelnen Kunstkarten (DIN-A5-Format).

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Was ist Glück? Und wie kann man es erreichen? Stefan Klein Seit Menschen denken können, zerbrechen sie sich darüber die Köpfe. Aber wer Rat sucht, findet eher Verwirrung. Fast alles, was sich über kluge Lebensführung und den Umgang mit Gefühlen sagen lässt, wurde von einem weisen Menschen irgendwann auch gesagt; leider behauptete meistens bald darauf ein anderer das genaue Gegenteil. Nach zwei Jahrtausenden Philosophie, mehr als einem Jahrhundert Psychologie und einer Flut von Ratgeberbüchern, Talkshows und Zeitschriften sind wir in Sachen Glück so wenig klug wie zuvor.

gannen, ihr Interesse auf die guten Gefühle zu richten. In kürzester Zeit haben sie beeindruckende Fortschritte gemacht. Vieles, was vor kurzem noch Science-Fiction war, ist heute in den Labors Wirklichkeit. Neue Abbildungstechniken erlauben es, das Gehirn beim Denken und Fühlen zu beobachten. Sie machen sichtbar, wie im

Glück lässt sich erforschen So haben wir uns zu unserem Schaden an den Mythos gewöhnt, auf unser Glück hätten wir wenig Einfluss; man könne nicht einmal genau sagen, was das Glück ist. Doch in den letzten Jahren hat sich die Spirale des Wissens weitergedreht. Die Gefühle sind ein Gegenstand der Naturwissenschaft geworden. Diese Forschung verspricht Wege aufzuzeigen, auf denen jeder sein Glück finden kann. Eine Glücksformel kristallisiert sich heraus. Es mag erstaunen, dass man Glück, dieses komplexe, scheinbar überirdische Gefühl, wissenschaftlich erforschen kann. Dabei ist es uns vertraut, dass Menschen das Unglück studieren. Die klinische Psychologie befasst sich mit Depressionen und Phobien, und seit ungefähr zwei Jahrzehnten finden auch Hirnforscher immer mehr darüber heraus, wie Wut, Furcht und Niedergeschlagenheit entstehen. Für das Glück aber fühlte sich lange niemand so recht zuständig. Das hat sich erst in den letzten Jahren geändert: Hirnforscherinnen und Hirnforscher be-

In unseren Köpfen sind eigene Schaltungen für Freude, Lust und Euphorie eingerichtet – wir haben ein Glückssystem. So, wie wir mit der Fähigkeit zu sprechen auf die Welt kom­ men, sind wir auch für die guten Gefühle programmiert.

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glücklich? Können wir ein Leben lang in denselben Menschen verliebt sein? Und was ist das höchste Glück? Es gibt ein Glückssystem im Gehirn Auf der Suche nach den Antworten bringen uns ziemlich junge Einsichten der Hirnforschung weiter. Die eine betrifft die Teile des Gehirns, die Wohlbefinden erzeugen: In unseren Köpfen sind eigene Schaltungen für Freude, Lust und Euphorie eingerichtet – wir haben ein Glückssystem. So, wie wir mit der Fähigkeit zu sprechen auf die Welt kommen, sind wir auch für die guten Gefühle

Emmy / Pixabay

Kopf zum Beispiel Freude aufkommt, wenn wir an einen geliebten Menschen denken. Und mit den Methoden der Molekularbiologie wird offenbar, was dabei im Inneren unserer zehn Billionen Hirnzellen geschieht. Psychologische Versuche wiederum weisen nach, wie diese Veränderungen der Innenwelt unser Verhalten bestimmen. So fügt sich das Wissen darüber, wie die guten Gefühle entstehen, zusammen. Mit diesen Werkzeugen werden die Fragen nach dem Glück Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung: Ist Glück erblich? Vergeht Ärger, wenn man ihn herauslässt? Kann man die Augenblicke der Euphorie verlängern? Macht Geld

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programmiert. Diese Entdeckung wird unser Bild vom Menschen so prägen, wie es Freuds Theorien vom abgründigen Unbewussten im vergangenen Jahrhundert getan haben. Die andere, noch überraschendere Erkenntnis war, dass sich auch das Gehirn eines erwachsenen Menschen noch verändert. Bis in die späten 1990er Jahre glaubte die Wissenschaft, dass das Gehirn, ähnlich wie die Knochen, spätestens am Ende der Pubertät ausgewachsen sei. Doch das genaue Gegenteil trifft zu: Wann immer wir etwas lernen, verändern sich die Schaltkreise in unserem Gehirn, neue Maschen im Geflecht der Nervenzellen werden geknüpft. Mit geeigneten Mi­kro­skopen kann man diese Verwandlungen unter der Schädeldecke sogar sichtbar machen. Wenn Sie diesen Artikel gelesen haben, wird es in Ihrem Kopf anders aussehen als vorher! Nicht nur Gedanken, sondern erst recht Emotionen bringen diese Umbauten in Gang. Das heißt: Mit den richtigen Übungen kann man seine Glücksfähigkeit steigern. Wir können unsere natürliche Anlage für die guten Gefühle trainieren, so, wie wir uns eine Fremdsprache aneignen.

Glück im Leid ist für mich … »nach Monaten wieder erstmalig zur Chor­ probe zu gehen, mich willkommen und als Teil eines Ganzen zu spüren. Alles Schwere für einen Moment loszulassen und einfach zu singen und zu sein.« (Ave, 64 Jahre, 13 Monate nach dem Tod ihres Mannes)

Dabei heißt es Abschied zu nehmen von einem vertrauten Bild der Emotionen, das aus dem vorletzten Jahrhundert stammt und das inzwischen so überholt ist wie der Glaube, die Erde sei eine Scheibe. Es sieht das Gehirn als Dampfkessel, in dem sich negative Gefühle als eine Art Druck aufstauen können und abgelassen werden müssen, um eine gefährliche Überreaktion, ein wortwörtliches »Platzen vor Zorn« zu vermeiden. »Wein dich aus!«, empfehlen wohlmeinende Freundinnen und Freunde ihren Bekannten. Natürlich tut es oft gut, seine Empfindungen einem nahen Menschen anzuvertrauen. Aber es nützt wenig, sich dabei in einen Ausbruch negativer Emotionen hineinzusteigern. Tränen und Wut sind keine entlastenden Sicherheitsventile. Die heutige Neurobiologie sieht diese Affekte viel eher als Teil von Mechanismen, die sich selbst verstärken können: Wutanfälle steigern die Wut eher noch, und Tränen treiben uns tiefer in den Trübsinn. Als Antwort auf ein Lebensereignis wie den Tod eines Angehörigen oder auch nur eine Enttäuschung ist Trauer eine natürliche Reaktion,

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Alphavector / Shutterstock.com

Positive Emotionen lassen die Nervenverbindungen im Gehirn wachsen. Die Freude geht mit neuen Verknüpfungen in unseren Köpfen einher.

die normalerweise in dem Maß abklingt, in dem das auslösende Ereignis verarbeitet wird. Gelingt eine solche Verarbeitung nicht, kann die Niedergeschlagenheit ein Eigenleben annehmen, das sich von der äußeren Wirklichkeit abkoppelt: Wir überzeugen uns immer wieder selbst davon, unglücklich sein zu müssen – eine Übung, die ein jüdischer Witz mit unvergleichlicher Selbstironie auf den Punkt bringt. Telegrafiert der sparsame ­Moshe in New York an seinen Freund in Jerusalem: »Mach Dir schon einmal Sorgen. Näheres später.« Die Abhilfe ist, seine Gedanken und Gefühle bewusst steuern zu lernen. Auf diese Weise ist es möglich, Niedergeschlagenheit und sogar Depressionen zu entgehen. Das ist die optimistische Zusammenfassung von mehreren Untersuchungen mit tausenden Menschen in den USA – einige der größten klinischen Studien, die je durchgeführt worden sind. Hat sich eine natürliche Trauer als Depression verfestigt, besteht der Königsweg gegen das zwanghafte Unglücklichsein darin, Gefühle wie Wut und Trauer nicht zu unterdrücken, aber sich auch nicht länger mit ihnen zu beschäftigen als nötig. Die Natur hat Gefühle als Signale

erfunden. Sobald wir nach einem Ärgernis oder einer Enttäuschung unsere Emotion wahrgenommen haben, ist die Botschaft überbracht, der Bote kann schweigen. Wer in diesem Augenblick zur Tagesordnung übergeht, erspart seinem Körper nicht nur eine Stressreaktion – er trainiert auch sein Gehirn zur immer besseren Beherrschung seiner Emotionen, wie Messungen der Hirnaktivität gezeigt haben. Die Anatomie der Leidenschaften Aber Glück ist, auch neurobiologisch gesehen, weit mehr als nur das Gegenteil von Unglück. Um es zu erreichen, ist es darum hilfreich, die Anatomie seiner Leidenschaften zu kennen. Genießerisches Schwelgen und Freude an der Entdeckung, Liebe und die Lust am Sex haben vieles gemeinsam, und doch kommen sie auf unterschiedlichen Wegen zustande – und dienen verschiedenen Zwecken. Diese elementaren Regungen sind uns angeboren, sie haben sich im Laufe von Jahrmillionen entwickelt; manche von ihnen sind schon bei vergleichsweise simplen Geschöp-

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fen wie Mäusen oder sogar Bienen zu beobachten. Die Leidenschaften sind so tief in Menschen und Tier verwurzelt, dass es sinnlos ist, sie loswerden oder auch nur ändern zu wollen. Vielmehr kommt es darauf an, mit ihnen umgehen zu lernen: Wir können unser Leben so einrichten, dass wir aus diesen Programmen der Evolution möglichst viel Freude und wenig Verdruss ziehen. Am wohl verbreitetsten ist der Irrglaube, Glück habe etwas mit träger Entspannung zu tun. Aber die Natur hat uns nicht eingerichtet, träge zu sein, und bestraft uns dafür mit unangenehmen Gefühlen. Glück findet in der Gegenwart statt: Bewegung, Sex, genaue Wahrnehmung, Tätigkeit, Vielfalt im Leben haben den nachweisbar stärksten Einfluss darauf. Diese Faktoren heben das Wohlbefinden weit mehr als jeder äußere Umstand wie Geld, Status oder Annehmlichkeiten. Damit ist Glück viel weniger eine Frage der Lebenssituation als eine Folge bestimmter Gewohnheiten, die sich jeder aneignen kann. Glück als ein Weg zum besseren Leben »Freude ist der Übergang des Geistes in einen perfekteren Zustand«, schrieb der niederländische Philosoph Baruch Spinoza. »Schmerz dagegen ist der Übergang in einen niedrigeren Zustand.« Die Neurobiologie gibt ihm recht: Negative Stimmungen schränken den Menschen ein, gute Gefühle dagegen erweitern seine Möglichkeiten. Dabei wirkt Freude nicht nur auf den Geist, sondern zuallererst auf den Körper. Neue Forschungsarbeiten werfen ein Licht auf Verbindungen zwischen Leib und Seele, die Wissenschaftler lange übersehen haben. Andauernde Angst und Niedergeschlagenheit bergen eine Gefahr für die Gesundheit, weil sie Stress bedeuten. Gute Gefühle dagegen wirken Stress und dessen gesundheitlichen Folgen entgegen. Sie regen sogar das Immunsystem an. Erst recht fördern sie die Leistungen des Geistes. Denn im Gehirn sind Gedanken und Gefühle zwei Seiten derselben Medaille: Glückliche Men-

schen sind kreativer. Wie viele Studien zeigen, lösen sie Probleme besser und schneller. Glück macht klug, und zwar nicht nur für einen Augenblick, sondern auf Dauer. Positive Emotionen lassen die Nervenverbindungen im Gehirn wachsen. Die Freude geht mit neuen Verknüpfungen in unseren Köpfen einher – ein Vorgang, der inzwischen sogar molekularbiologisch untersucht ist und dessen Verständnis weitreichende Folgen für die Organisation von Schulen und Unternehmen haben wird. Das Gehirn werde von Spaß angetrieben, sagen die Amerikaner zu Recht: »The brain runs on fun.« Und schließlich sind glückliche Menschen auch nettere Menschen, wie Experimente zeigen, die zuerst die amerikanische Psychologin Alice Isen durchgeführt hat. Schon in leicht gehobener Stimmung etwa nach dem Empfang eines Kompliments sind Menschen aufmerksamer und eher bereit, das Gute in anderen zu sehen. Sie setzen sich mehr für das Gemeinwohl ein und schaffen es bei Verhandlungen besser, allen Beteiligten zu ihrem Recht zu verhelfen. Glück ist also ein Lebensziel und zugleich ein Weg zum besseren Leben. Dass es möglich ist, das Glück der Menschen zu vermehren, haben die Weisen schon vor mehr als zweitausend Jahren geahnt. Heute besteht im Licht der Neurowissenschaften, denen wir so tiefe Einsichten in unser Fühlen und Erleben verdanken, wie man sie in der Antike allenfalls den Göttern zugeschrieben hätte, kein Zweifel mehr: Glück kann man lernen. Dr. Stefan Klein ist Physiker, Philosoph und seit seinem Bestseller »Die Glücksformel« (2002) ein international bekannter Wissenschaftsautor. Er lebt in Berlin. www.stefanklein.info Literatur Elkin, I.; et  al. (1989). National Institute of Mental Health treatment of depression collaborative research program: General effectiveness of treatments. In: Archives of General Psychiatry, 46, S. 971–982.

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W. E. Hill, My Wife and My Mother-in-Law, 1915 / https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16926542

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Bedürftigkeit – Unglück oder letzte Schönheit? Detlef Kowalski Selbstständigkeit und Unabhängigkeit »Als du jünger warst, hast du dich selber ge­ gürtet und bist gegangen, wohin du wolltest. Wenn du aber älter wirst, wirst du deine ­Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst.« (Johannesevangelium, Kapitel 21, Vers 18) Die letzte Lebensleistung, die Menschen abverlangt wird, ist es, zu lernen, mit der eigenen Bedürftigkeit zurechtzukommen, zu lernen, Hilfe anzunehmen, weil ihnen Dinge zugemutet werden und sie in Situationen hinein müssen, die sie sich nicht selbst ausgesucht haben. Wer bis vor kurzem noch durch die Welt gereist ist, als rüstiger »Silver-Ager« umworben und umschmeichelt und weithin einen Stolz darauf entwickelte, unabhängig zu sein und niemanden um etwas bitten zu müssen, kann manchmal lange nicht akzeptieren, dass das alles »plötzlich« nicht mehr gehen soll. Dann geht es um früher, um heute, um alles; es geht um die Haltung zum Sterben und zum Leben. Wem Selbstständigkeit und Unabhängigkeit das größte Glück im Leben sind, dem sind Angewiesenheit und Bedürftigkeit das größte Unglück. Angewiesenheit und Bedürftigkeit Wer noch gesund, selbstständig und relativ stark ist, vermutet diese Stärke auch in die Zeit der Bedürftigkeit hinein und kann sich in Zeiten der Schwäche und der Niederlagen nicht damit abfinden, gegürtet und geführt zu werden, angewiesen zu sein auf die Hilfe anderer.

Vexierbild junge Frau /alte Frau: eine Frage der Perspektive

An den Alten lernen die Jüngeren, was Vergangenheit ist. Die Alten lehren die Jungen, was Vergänglichkeit ist. Wenn die Alten gebrechlich werden, lernen die Jungen, dass das Leben endlich ist. Welche Illusion ist es, wenn Menschen nur die Welt der Schönen, Starken, Jungen erleben? Ein Gefühl für die Endlichkeit des Lebens entsteht erst, wo endliches Leben wahrgenommen wird und wo das illusionäre Gefühl verschwindet, das Normale sei nur das Leben in seiner Stärke. Die Bedürftigkeit und Hinfälligkeit der Alten sind die letzte Lehre, die sie den Nachgeborenen mitgeben. Das ist keine leichte Lehre. Die Bedürftigkeit und Angewiesenheit des Alters sind die letzte Lebensleistung, die Menschen abverlangt wird. Aber die Zustimmung in die eigene Endlichkeit, und nicht der Kampf gegen sie, ist vielleicht auch die letzte große Schönheit, die Menschen gelingen kann. Die Fragen, die sich uns an dieser Stelle aufdrängen, sind: Wie können wir einen Menschen in Richtung dieser Akzeptanz begleiten? Und im Umkehrschluss: Was bedeutet es, wenn jemand damit hadert, dass er Hilfe braucht? Ist das dann wirklich ein unglückliches Sterben?  Detlef Kowalski ist seit über zwanzig Jahren evangelischer Pfarrer in Neuwied am Rhein. Er ist Superintendent im Evangelischen Kirchenkreis Wied. Kontakt: [email protected]

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Die Leichtigkeit des Augenblicks Verena Vondrak »Beruf?« »Ich bin Clownin!« Ein kurzer fragender Blick von der Beamtin, die sich nach meiner beruflichen Tätigkeit erkundigt hatte. Ich füge hinzu: »CliniClownin!« Da kommt ein kurzes Nicken. Da merkt man, dass vielleicht ein konkreteres Bild auftaucht … ah, das sind die Clowns, die in Krankenhäusern gehen … Ja, und das ist ja auch so …

Der Begriff »Clown«, oder noch besser »Clownin«, löst jedes Mal, wenn er ausgesprochen wird, interessante Assoziationen aus: Zirkus, grelle Schminke, lautes Getue, Ohrfeigen austeilen, Publikumsanimation … Clownin? Als Beruf? … Will sie vielleicht jetzt etwas »Lustiges«, »Überraschendes« machen? Muss ich da vielleicht mitspielen? Eine Clownin in Zivil? … So lustig ist die gar nicht …

Verena Vondrak

CliniClownin – da kommen Bilder hoch – schwerkranke Kinder, die von Clowns besucht werden! Ja, das sind die wahren, guten, warmherzigen »Spaßmacher*nnen!« Von ihnen hat man eventuell schon gehört, gelesen und vielleicht sie schon selbst mal erlebt. Mein Beruf ist also Clownin. Es ist schön, das sagen zu können, das wollte ich schon immer sein, und ich bin es auch geworden, schon vor recht langer Zeit. »Salto? Nein, Salto kann ich keinen! Jonglieren? Nicht berauschend! Auf einem Seil balancieren? Einrad fahren? Auf den Händen gehen? In Gedanken vielleicht …« »Gut, dann erzählen Sie, was Sie als Clownin besonders auszeichnet! Da sind wir ja gespannt!« »Ich begegne Menschen – auf meine ganz spezielle clowneske Weise!«

Und von diesen speziellen Begegnungen möchte ich Ihnen gerne erzählen!

D i e L e i c h t i g k e i t d e s A u g e n b l i c k s    1 5

Ich bin mit einem Familienmythos aufgewachsen, der besagte, dass meine Urgroßmutter – bevor sie starb – noch einen Witz erzählte. Oder der Mythos meiner Mutter, die kurz vor meiner Geburt sehr gelacht habe. Und nach der Geburt gleich wieder. Ich weiß nicht, ob diese Erzählungen wahr sind, aber durch das wiederholte Erzählen wurden sie irgendwie wirklich. Wirksam. Den Tod, den Schmerz »verlachen«? Geht denn das? Dem Tod, dem Schmerz mit Leichtigkeit und Offenheit begegnen? Kann das gelingen? Passt das zusammen? Ich bin Clownin geworden, weil es mich schon immer gereizt hat, Menschen zum Lachen, zum Lächeln, zum Amüsement zu bringen. Das hat mich jedes Mal sehr zufrieden gemacht. Es ist Montag. Montag ist mein Clownvisiten­ tag. Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs, wie immer. Im Gepäckträger mein Clownzubehör. Tasche mit Clownsnase, bunten Luftballons, Seifenblasen, bunten Schaumgumminasen, Visitenkarten, wo mein Konterfei und mein Name darauf stehen: »Dr. Tupfen-Topfen«. So heiß ich dann, wenn’s losgeht. Ja, mein rosagetupftes Kleid, meine rosa Schuhe und mein weißer, rundum bunt verzierter CliniClownmantel. Wie an jedem Montag werden wir, immer zu zweit, schwerkranke Kinder bzw. Jugendliche besuchen. Ihre Diagnosen sind Leukämie, Knochenkrebs oder sie machen eine Stammzellentransplantation durch. Manche treffen wir zum ersten Mal, manche kennen wir vom vergangenen Montag, und manche treffen wir nach langer Zeit wieder. Ich bin keine Medizinerin, ich kenn mich mit Fachausdrücken gar nicht aus, aber den Begriff »Rezidiv« mag ich nicht!

für uns, aber sie kennt uns aus ihren Kindertagen. Jetzt ist sie schon schwach, trotzdem bittet sie uns herein, als wir anklopfen. Wir bleiben nur kurz, weil es ihr nicht mehr gut geht. Aber sie lächelt ein wenig. Und in diesem Moment bin ich froh, meine Clownin zur Seite zu haben. Meine Clownin hat diesen Funken an Leichtigkeit, meine Clownin sieht einfach nur den Menschen, der sich über unseren Besuch freut, meine Clownin kann für kurze Zeit die Schwere, die Aussichtslosigkeit, die Sorgen ausblenden, den Patient*innen und auch den Angehörigen gegenüber. Einige Wochen danach, da war sie schon in einer »anderen Welt«, trafen wir ihre Mutter und wir haben uns innig umarmt, auch das kann meine Clownin sehr gut. Bei jeder Todesnachricht bin ich jedes Mal von neuem verstört, wenn ich

Verena Vondrak

Ein Mädchen, circa 16 Jahre alt. Wir kennen sie, sie war als Kind bereits im Krankenhaus. Auch besuchten wir sie zu Hause, an ihrem Geburtstag. Sie galt als gesund, nun ist der Krebs zurückgekommen. Jugendliche als Gegenüber sind immer eine besondere Herausforderung

Vo m U n - G l ü c k – G i b t e s G l ü c k i m L e i d ?

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nach der Clownvisite nach Hause radle, stelle ich mir immer die gleiche Frage: So jung, so unversehens, so unschuldig dem Endlichen ausgesetzt … darf das sein? Ein zweijähriger Bub – die Eltern wünschten sich, dass ich ihn zu Hause besuche. Da saß er im Bett, umringt von seinen Liebsten. Er spielte »Verstecken« mit mir, das war »unser« Spiel. Er machte einfach die Augen zu und war »versteckt«. Ich musste ihn suchen. Die Augen wieder offen, er suchte mich und dann hatten wir beide und auch die Anwesenden eine »leichte« Zeit. Die Pflegerin vor Ort schrieb mir nach meinem Besuch eine SMS. Für die Eltern war es sehr schön, ihren Sohn nochmals so »lebendig« zu erleben, er trank Kakao, schaute sich mit seinem Vater einen Film an. Nach einigen Tagen kam wieder eine SMS – da hat er diese Welt verlassen. Mich hat auch jemand in meinen jungen Jahren verlassen. Meinen Eltern ging es nicht gut miteinander, und mein Vater nahm sich, als ich 21 Jahre alt war, das Leben. Hier meine lebenslustige, freiheitsliebende Mutter, die viele Schicksalsschläge erlebt hatte und diese gut mit ihrem Frohsinn verdrängen konnte, da mein Vater, Choleriker, schwermütig und offenbar keine Ressourcen zur Verfügung, mit Problemen fertig zu werden. So liegt das wohl oft nah beisammen: eine ungebrochene Fröhlichkeit und ein schleppendes Unverständnis gegenüber der Welt. Wofür entscheidet man sich? Mein Vater ist »freiwillig« – was man auch immer darunter versteht – aus dem Leben geschieden. Und wir, die »Überlebenden«, bleiben in einem tiefen, dunklen Loch zurück. Da war mir das Lachen sehr fremd. Nach der Beerdigung fuhr ich wieder nach Paris, wo ich damals wohnte. Ich war nach Abschluss der Pädagogischen Akademie noch nicht bereit gewesen, Volksschullehrerin zu sein. Paris – diese pulsierende, lebendige Stadt. Ganz im Gegensatz zum grauen Wien in

den achtziger Jahren. Meine ältere Schwester, bereits Schauspielerin, schickte mir einen Zeitungsausschnitt »Ich werde Clownin!«. Und so habe ich mich an einer Theater- Clownschule angemeldet. Trauerarbeit und Clownunterricht, geht das zusammen? Ja, das geht. Im Nachhinein war das für mich die beste Bewältigung meines Traumas. Sich mit der eigenen Komik zu konfrontieren, sich auf die Suche nach der eigenen Clownin zu begeben. Wie ist diese Figur? Welche Werkzeuge hat sie, um Menschen zum Lachen zu bringen? Ein junger Mann im Krankenhaus. Er war als Jugendlicher krank, dann einige Jahre »unbelastet«, dann ein Rückfall. »Rezidiv«. Dann »austherapiert«. Ich besuche ihn mit meinem jungen Kollegen oder auch allein, zu Hause, in Zivil. Da baut sich Vertrauen auf. Dann Palliativstation. Sein trockener Humor entspricht mir sehr. Da gibt es Schnittmengen. Er verteilt »Noten« auf der Humorskala und schätzt so den Wert meiner Witze ein. Manchmal ist er sehr streng, aber das passt schon so. »Leben bis zuletzt!« Das ist ein Ausspruch, den ich bei einem meiner Besuche in einem Hospiz mitgenommen habe und der mir gefallen hat. Eine ältere Dame, ich weiß, dass sie Tänzerin war, bittet mich herein. Ich habe mich vorbereitet, habe mir ein Tutu angezogen, ein rosa Tutu, und ich tanze nach klassischer Musik. Und dann sagt sie: »Können Sie fliegen? Da aus dem Fenster?« Das waren schöne Assoziationen – tanzen, fliegen, schweben – leben bis zuletzt. Mein großartiger Mann ist auch Clown und ein wunderbarer Clownlehrer. Gemeinsam geben wir Clownworkshops. Clown und kindliches Verhalten, das ist unser Ansatz. Die Welt mit naiven Augen betrachten, ganz nah an Emotionen sein und diese mit Hilfe des Körpers ausdrücken, so wie Kinder. Den großen Themen des Lebens »verspielt, aber auch mit großem Ernst« begegnen.

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Mein Kollege und ich besuchen einen fünfjährigen Jungen zu Hause. Er ist »austherapiert« und wir sind seit dem Krankenhaus gute Freunde. Ihm geht es nicht mehr gut, trotzdem überrascht er uns mit einer unbändigen Energie. Es gelingt, das Kind in seiner Lebendigkeit, Neugier und Spiellust »abzuholen«, die Krankheit für einige Zeit auszublenden und dem Kind das Recht auf Spaß und Unterhaltung zuzubilligen. Seine Mutter erzählte uns, dass er zwei Vögel, die oft vor seinem Fenster saßen, unsere Clownnamen gegeben hatte: Fi­ lou und Tupfen-Topfen. Il y a toujours un ange, qui passe – das ist ein Satz, den ein Clownlehrer in Paris einmal gesagt hatte. Ja, es gibt immer einen Engel, der vorbeikommt, und vielleicht haben Clowns und Engel etwas gemeinsam? Engel sind einfach da und fragen nicht nach dem Warum. So wie Clowns. Engel wollen die Welt ein bisschen schöner machen, die Welt auf ihre Weise ein bisschen »retten«. So wie Clowns. 2008 war ich Mitbegründerin des »erstbesten Clowntheaters Wiens« – des »Theater Olé«. Auf meiner persönlichen Clownreise war das neu und erfrischend. 2022 veranstalten wir unser 2. Internationales Clownfestival – »Die Welt retten« ist das Motto!

Probenzeit für die Premiere: »Drei Schwestern – freimütig nach Tschechow«. Wir sind mittendrin, meine Kollegin und ich, und mein Mann führt Regie. Im Mittelpunkt: eine Urne. Die dritte Kollegin hat sich sozusagen in »Staub aufgelöst«. Natürlich passieren Katastrophen mit dieser Urne. Katastrophen gehören zu jeder Clownszenerie dazu. Katastrophen – und was nun? Ich war einmal auf dem Begräbnis eines Kindes. Die Mutter bat mich zu kommen. Ich kam in »Zivil«. Beim Abschiednehmen vor dem Grab setzte ich mir meine Clownsnase auf und schickte dem Jungen Seifenblasen. Da standen sie da und blickten mich an, die Verwandten, Bekannten, die das Unfassbare nicht glauben konnten, so wie ich. Ich spürte hilfesuchende Blicke. »Komm, mach es ein bisschen leichter!« Ich umarmte einige Menschen, hinterließ Seifenblasen und vergoss innerlich Tränen – ­alles kann ich nicht gutmachen, tut mir leid, nur ein bisschen, vielleicht … Verena Vondrak ist Absolventin der Theaterschule J. Lecoq, Schauspielerin vor allem im Kinder- und Jugendtheater, Künstlerische Leiterin der CliniClowns Austria, Mitbegründerin des »erstbesten Clowntheaters Wien« – Theater Olé. Kontakt: v erena-hubertus.zorell@ chello.at

Glück im Leid ist: »ein Mittel, um zu überleben. Durch die Konzentration auf die Frage ›Was ist das Gute daran?‹ hindere ich mich am Suhlen im eigenen Unglück. Das ständige Bewusstsein zu leiden macht jede Situation nur schwerer, während das Erkennen vielleicht nur kleiner, aber guter Dinge zu einem positiveren Blick verhilft.«

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Demenz – eine Reise in das (Un-)Glück? Erich Schützendorf Als vernünftiger Erwachsener lebt und funktioniert man. Auf den Verstand ist bis auf kleine Missgeschicke Verlass. Es kommt vor, dass man im Supermarkt nicht mehr weiß, was man auf der zu Hause liegengelassenen Einkaufsliste notiert hat. Man begegnet einem Bekannten und begrüßt ihn mit einem »Hallo«, weil der Name partout nicht einfallen will. Man verspricht sich, sagt »in fünf Jahren«, statt »in fünf Tagen«. In jungen Jahren passieren diese Missgeschicke selten und sind schnell vergessen. Mit zunehmendem Alter häufen sie sich, man nimmt sie ernster und beginnt seine geistigen Fähigkeiten zu überprüfen. Meistens besteht man die Prüfung und freut sich, dass noch alle Sinne beisammen sind. Aber was ist, wenn man merkt, dass man nicht weiß, wie man Alltagsverrichtungen durchführt? Kommt zuerst der Kaffee oder das Filterpapier in die Kaffeemaschine? Dann wird es ernst. Irgendwas stimmt im Kopf nicht, irgendwas ist »durcheinander« geraten. Man hat eine Ahnung, dass das, was man gerade tut, nicht ganz richtig ist, aber auch eine Ahnung, dass es nicht ganz falsch ist. Mit diesem »Konfetti im Kopf«1 ist man ziemlich alleingelassen. Spricht man seine Bedenken an: »Mit mir stimmt was nicht«, heißt es: »Das ist mir auch schon passiert.« Allerdings will man auch nicht vorschnell die Kontrolle verlieren und vertuscht kleinere Aussetzer. Wird man darauf angesprochen, redet man sich gern heraus: »Das kann doch jedem mal passieren.« Irgendwann sind die Missgeschicke so auffällig, dass sie nicht mehr verborgen oder erklärt werden können. Der Arzt diagnostiziert eine Demenz. Jetzt ist es amtlich: Die kognitiven Fähigkeiten, die es erlauben, Rückschlüsse und Schlussfolgerungen zu ziehen, Zusammenhänge zu erkennen,

logisch und abstrakt zu denken, funktionieren nicht mehr einwandfrei. Eine Wiederherstellung des alten Zustands ist nicht möglich. Die Fähigkeit, dies einzusehen, bleibt zunächst erhalten – auch wenn man die Diagnose nicht wahrhaben will. Man »weiß« also, was auf einen zukommt. Der Verstand ist nicht alles Ronald Regan, der ehemalige Präsident der USA, wandte sich am 5. November 1994 zum letzten Mal mit einem Brief an die Öffentlichkeit und teilte mit, dass er an der Alzheimer-Krankheit leide. Er schrieb: »Ich beginne nun die Reise, die mich zum Sonnenuntergang meines Lebens führt«. Er wusste, dass er bald eine »schwere Bürde« für seine Familie werden würde, akzeptierte jedoch die Veränderung seiner kognitiven Fähigkeiten und hielt sich eine Lebensperspektive offen: »Im Moment fühle ich mich sehr gut. Ich beab­ sichtige, in den Jahren, die mir Gott auf dieser Erde noch schenkt, das zu tun, was ich bisher getan habe. Ich werde weiterhin mit meiner geliebten Nancy und meiner Familie zusam­ menleben, viel Zeit in der freien Natur ver­ bringen und mit meinen Freunden und An­ hängern in Kontakt bleiben.«2 Offensichtlich hatte Herr Reagan gute Ratgeber*innen und Begleiter*innen, die wussten, dass er nach der Diagnose die Person und Persönlichkeit bleiben würde, die er war, und die wussten, dass das Leben noch viele sinnliche Freuden bereithält. Eine weniger prominente Lehrerin mit einer großen Vorliebe für Literatur stellte eines Tages

Georges Rouault, Black Pierrot, 1935 / akg-images / VG Bild-Kunst, Bonn 2022

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fest, dass sie, wie sie sagte, »schräg« las. Sie konnte sich das Geschriebene nicht mehr erschließen. Als die Diagnose feststand, entwarf sie einen Plan für die neue Lebenssituation. »Ich werde mich in einem Literaturgesprächs­ kreis anmelden, in dem Bücher, die ich nicht mehr lesen kann, besprochen werden. Und ich habe begonnen, Vogelstimmen zu erkennen. An dem Gesang werde ich mich auch noch er­ freuen können, wenn mich der Verstand ganz im Stich gelassen hat.« Die Diagnose, das zeigen diese beiden Beispiele, muss also nicht das Ende eines lebenswerten und in Teilen selbstbestimmten Lebens sein. Die Würde geht nicht verloren Die Vorstellung, ohne Verstand ein lebenswertes Leben führen zu können, wird sich kurz nach der Diagnose nicht jedem erschließen. Natürlich ist

der Gedanke, die Autonomie irgendwann aufgeben und sich auf andere Menschen verlassen zu müssen, beklemmend. Aber Demenz ist keine grausame Krankheit und kein quälend langer Weg in die letzte Phase des Dämmerns, wie es Tilman Jens (2009) am Beispiel seines berühmten Vaters, Walter Jens, beschrieben hat. Die Diagnose wäre dann der unglückselige Verfall eines Menschen mit dem Verlust seiner Würde. Natürlich war Walter Jens ein großartiger Geist, aber wie er verliert niemand seine Würde, wenn er sich wie ein Kind an Blumen erfreut und zu großartigen Gedanken nicht mehr fähig ist. Rationalität und funktionale Autonomie, das sind zwar die zentralen Werte unserer Gesellschaft, aber sie sind nicht der alleinige Maßstab, um einen Menschen zu achten und zu beachten. Als ich Mitte der 1970er Jahre anfing, mich mit Menschen mit Demenz zu beschäftigen, bat mich eine Tochter, sie und ihre Mutter zu Hause zu besuchen. Die alte Dame nahm am Frühstückstisch eine Scheibe Wurst und putzte damit

Leid: eutet Glück im Für mich bed oment e spüren im M äh N e, eb Li e, »Wärm lein sein auf ngst. Nicht al nem liegt. der größten A eg, der vor ei W en st er hw ichter.« dem sc d alles wird le un d an H ne ei Halte m

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mit großer Konzentration ihre Brille. Ich fand das toll und ich bewunderte sie. Sie schenkte mir ein Lächeln. Die Tochter erschrak sich, nahm der Mutter die Brille und die Scheibe Wurst aus der Hand, putzte die Brille und setzte sie ihr mit den Worten »Jetzt kannst du wieder richtig sehen!« auf die Nase. Könnten wir nicht freund­ licher, liebevoller, zärtlicher und verwöhnender mit dem zweckfreien und spielerischen Eigensinn der Menschen umgehen, wenn wir unsere Vorstellung von Würde nicht an dem festmachen würden, was ein Mensch wollte, als er noch bei klarem Verstand war, sondern was er jetzt in seiner neuen Lebenssituation will? Wenn ja, dann bliebe ein Mensch, der die Suppe in der Pfanne kocht, der neue Wortschöpfungen (»Feuer­ drache«! statt »Feuerzeug«) kreiert, der im Herbst das Laub auf dem Gehweg mit dem Staubsauger entfernt, der wildfremden Menschen Handküsse zuwirft, der eine Puppe liebkost, der mit den Fingern isst, der eine Vorliebe für »ungehörige« Worte entwickelt oder der sich an der Metzgertheke über eine Scheibe Wurst freut, eine achtbare Person. Die Reise erfordert nachsichtige Reisebegleiter*innen Wenn wir bei dem Bild der Reise bleiben, dann kann man sich Menschen mit Demenz als Reisende vorstellen. Sie verlassen das vertraute »Normalien«, das Land der Vernunft und der Funktionalität, und sie begeben sich in das »Anderland«, das Land der Gefühle, der Sinne und des zweckfreien Spiels. Bei dieser Reise sind sie auf Reisebegleiter*innen angewiesen, die ihnen Raum lassen, sich die im »Anderland« geltenden Sitten und Gebräuche ohne Belehrung und Reglementierung anzueignen, sie aber vor Gefährdungen schützen. Der Reisebegleiter nimmt nicht das Heft des Handelns in die Hand, er reagiert, statt zu agieren. Er orientiert sich nicht an der chronologischen Uhrzeit, sondern stellt sich auf Eigenzeiten um. Er fragt nicht nach dem Nutzen, sondern

nach dem Sinn. Er betrachtet die Sprache nicht als das einzige Kommunikationsmittel, sondern vertraut auf die Körpersprache, auf Blicke, Gesten und Berührungen. Er erwartet nicht, dass Gefühle wie Angst, Freude, Verzweiflung, Lust und Wut beherrscht werden, sondern achtet sie als legitime Ausdrucksmöglichkeit des Fühlens und Befindens. Darüber hinaus ist er in der Lage, seine eigenen Gefühle wie Rat- und Hilflosigkeit, Zerrissenheit und Ohnmacht zu zeigen. Er freut sich, wenn ein Mensch ein Glas Wasser auf den Tisch schüttet und es mit dem Finger verreibt, denn er stellt sich vor, dass dieser Mensch gerade seine großartige Karriere als Maler, die er wie die meisten nach der Schulzeit beendet hat, fortsetzt. »Anderland« ist eben auch das Land des Traumhaften, des Fantastischen und das Land der Poesie, ein Land in dem man nicht uneingeschränkt, aber doch öfter als gedacht glücklich sein kann. Erich Schützendorf, Studium der Pä­da­ gogik, Psychologie und Soziologie, war bis zu seiner Pensionierung VHS-Direk­ tor und Fachbereichsleiter für Fragen des Älterwerdens an der Volkshochschule des Kreises Viersen, Lehrbeauftragter für Soziale Gerontologie an der Hochschule Niederrhein, Dozent an Fachseminaren für Altenpflege und Mitglied in der DGGG. Kontakt: [email protected] Literatur Jens, T. (2009). Demenz: Abschied von meinem Vater. Gütersloh. Schützendorf, E. (1996). In Ruhe ver-rückt werden dürfen. Für ein anderes Denken in der Altenpflege. Frankfurt a. M. Schützendorf, E. (2020). Kommunikation mit Menschen mit Demenz. Worte, Gesten und Blicke, die berühren. Heidelberg. Schützendorf, E.; Datum, J. (2019). Anderland entdecken, erleben, begreifen. Ein Reiseführer in die Welt von Menschen mit Demenz. München. Anmerkungen 1 Michael Hagedorn eröffnete 2007 eine Kampagne mit dem Titel »Konfetti im Kopf«, um möglichst viele Menschen für das Thema »Demenz« zu öffnen. 2 Der gesamte Text des offenen Briefes von Ronald Reagan ist im Internet leicht zu finden.

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Es steht dir ins Gesicht geschrieben Die Emotionserkennung als Schlüssel zum Glück für Menschen mit Demenz

Marlis Lamers Die Diagnose »Demenz« löst bei vielen Betroffenen und Zugehörigen die Sorge aus, dass die erschwerte Kommunikation zur Isolation führt. Der bisher klare Umgang miteinander wird vielleicht erschwert und die Lebensqualität eingeschränkt. Es wird befürchtet, dass die Momente von Glück oder Unglück nicht mehr klar erkennbar sein werden, da sie verbal nicht verständlich ausgedrückt werden. Glücksgefühle gehen mit der Empfindung von Freude, mit Leichtigkeit und einem Lächeln einher und sind eher leicht zu erkennende Emotio-

nen. Ganz anders als das Gefühl von Unglück, von Traurigsein. In dem Fall braucht es eine genauere Beobachtung, denn die Zeichen sind auch aufgrund der Demenz und der körperlichen Veränderung versteckter. Der verbale Kontakt ist sicherlich erschwert und unterschiedliche Reaktionen oder auf den ersten Blick nicht unmittelbar verständliche Antworten lassen Begleiter*innen oft ratlos zurück. In diesem Artikel wird eine Methode vorgestellt, mit Hilfe derer die Emotionen bei Menschen mit Demenz lange mimisch erkannt werden können.

Empathie entsteht durch das Mitschwingen der Gefühle. Diese beidseitige Verbindung führt zu mehr Lebensqualität und Zufriedenheit auf beiden Seiten. Die Emotionserkennung durch die Mimikresonanz® wirkt damit auch dem Gefühl der Trauer, des Unglücks entgegen.

E s s t e h t d i r i n s G e s i c h t g e s c h r i e b e n    2 3

Die »Sprache ohne Worte« ist eine Fähigkeit, die wir seit Geburt beherrschen, nur mit zunehmender verbaler Qualifikation vernachlässigen.

jarts / photocase.de

Veränderung auf zwei Ebenen Es gibt eine Vielzahl von Demenzformen, primär und sekundär, wobei die Alzheimer-Demenz mit einem Anteil von rund 60 Prozent die häufigste Ausprägung der Krankheit darstellt (Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. 2020). Dieser Krankheit gemein ist, dass es zu kognitiven Einschränkungen der Patient*innen kommt. Die Veränderung findet auf zwei Ebenen statt: Allmählich versagen das Denken, Verstehen und das Gedächtnis. Durch den Abbau von Hirnstrukturen arbeitet das Gehirn weniger effizient und ganze Areale fallen mit der Zeit aus. Die neurologische Veränderung geht mit einer sozialpsychologischen einher. Die Muster von Beziehungen und Interaktionen unterliegen einem unaufhaltsamen Wandel. Moralische und gesellschaftliche Regeln, die das Zusammenleben erleichtern, geraten in Vergessenheit. Der an Demenz erkrankte Mensch reagiert hauptsächlich aus seinem Emotionszentrum heraus. Er lebt seine Gefühle aus, ungeachtet dessen, ob es gesellschaftlich opportun ist oder nicht. Menschen mit einer dementiellen Erkrankung sind oft sehr direkt in ihren Reaktionen, solange sie sich verbal äußern können. Sprachlosigkeit Mit dem Fortschreiten der Krankheit verlieren Menschen mit Demenz immer mehr ihre verbale Ausdrucksmöglichkeit bis sie schließlich vollkommen verstummen. Davor sind sie oft nicht mehr in der Lage, Worte adäquat zu nutzen. Die Verständigung zwischen ihnen und den Betreuenden wird immer schwieriger. Oftmals ist es mehr ein Ausprobieren als ein direktes Verstehen. Wenn die Worte fehlen, wird die genaue Beobachtung der Körpersprache und der Mimik im Besonderen essenziell, oder, wie es der deut-

sche Aphoristiker Wilhelm Vogel ausdrückte: »Das Auge wird zum Verräter, wenn der Mund schweigt.« Unter anderem an den Augen erkennen wir, wie sich unser Gegenüber fühlt und welche Emotion sich gerade mimisch ausdrückt. Codierungssystem der Mimik Einer der ersten Wissenschaftler*innen, der sich mit der Mimik des Menschen und den entstehenden Emotionen beschäftigte, war Charles Darwin. In seinem 1872 erschienenen Buch »Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren« stellte er die Universalitätshypothese auf, nach der die mimischen Ausdrücke der Menschen kulturübergreifend gleich seien. Das bedeutet, dass zum Beispiel die Emotion Angst bei jedem Menschen der Erde den gleichen mimischen Ausdruck hat. Bis in die 1960er Jahre nahm man an, dass die Mimik eines Menschen kulturell und sozial erlernt sei und nicht etwa angeboren. Zwei amerikanische Wissenschaftler, Paul Ekman und Wallace Friesen, fanden in den folgenden Jahren durch vielfältige Untersuchungen heraus, dass die von Darwin aufgestellte Hypothese richtig war: Die Mimik des Menschen ist kulturübergreifend gleich und wird von seinem Inneren gesteuert. Das bedeutet, dass der mimische Ausdruck eines jeden Menschen vergleichbar ist und angeboren, nicht etwa kulturell geprägt. Für die Verständigung der Menschen untereinander ein großer Vorteil, da die mimischen Signale identisch sind, egal welcher Ethnie ein Mensch angehört. 1978 veröffentlichten die beiden das Facial Ac­ tion Coding System (FACS), den Atlas der Emotionen. Sie nummerierten jede Gesichtsbewegung von einzelnen Muskeln oder Muskelgruppen und ordneten sie einer Emotion zu. Sie entdeckten 44 unterschiedliche sogenannte Action Units, die über 10.000 verschiedene emotionale Ausdrücke darstellen können. Dieses Codierungssystem wird heute in der Psychologie genutzt. Daraus folgt, dass die Mimik bei Gesunden und bei

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2011 entwickelte der Berliner Wirtschaftspsycho­ loge und Körperspracheexperte Dirk W. Eilert die Mimikresonanz -Methode, ein Konzept, Emotionen sicher zu erkennen und zu interpretieren und angemessen die Gefühle des Gegenübers wahrzunehmen (Eilert 2020). In der Welt von Menschen mit Demenz treten die Emotionen immer weiter in den Vordergrund, je mehr sich die verbale Sprache verliert. Pflegende sollen erkennen können, welches Bedürfnis hinter der gezeigten Emotion steht und wo Betroffene Unterstützung brauchen. 2014 entwickelte die Diplom-Pfle­ gewirtin und Mimikresonanztrainerin Margarete Stöcker aus dem bestehenden Konzept die Mimikreso­ nanz für Menschen mit Demenz.

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Mimikresonanz® Das Konzept umfasst die Bereiche Mimikscouting (auch der Stimme und Körpersprache), den Mimikcode und das Resonanz- und Kommunikationstraining. Die Methode ermöglicht, das Gesehene auch wahrzunehmen. Genau hinzuhören, die Unterschiede der Stimmhöhe zu erfassen und die nonverbalen Signale des Körpers zu erkennen. Was machen die Hände, wie ist das interpersonelle Raumverhalten, was macht die Kopfhaltung? Aus allen Hinweisen ergibt sich die Interpretation, um welche Emotion und welches dahinterliegende Bedürfnis es sich handeln kann. Den Mittelpunkt der Methode bildet eine wertschätzende und empathische Kommunikation.

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Glück als Freude oder Unglück als Trauer Die Emotion Freude zeigt sich als Kernbewegung ausschließlich im Gesicht und ist erkennbar an den »lachenden Augen«. Hierbei senkt sich die Augendeckfalte und die Augen strahlen. Gleichzeitig werden die Mundwinkel beidseitig nach oben gezogen. Die Kopfhaltung ist nach vorne gerichtet und die Körperhaltung eher aufrecht. Snapshotz, Petra Fischer

Emotionserkennung

Entscheidend bei der Wahrnehmung der Emo­tionen ist, dass sie unwillentlich und nicht steuerbar gezeigt werden. Die sogenannten Mikroexpressionen, Bewegungen zwischen 40 und 500 Millisekunden, sind emotional ausgelöste Gesichtsausdrücke, die signalisieren, dass ein Gefühl verheimlicht werden soll oder es der Person nicht bewusst ist. Makroexpressionen dauern länger als 500 Millisekunden und zeigen an, dass die Emotion weder unterdrückt noch verborgen wird.

Snapshotz, Petra Fischer

Menschen mit Demenz identisch ist, solange es keine muskulären Einschränkungen gibt wie zum Beispiel »Maskenbildung« (Erstarrung der Mimik) am Ende der Erkrankung oder Lähmungen.

Die Emotion Trauer ist ebenfalls hauptsächlich in der Mimik zu erkennen. In diesem Fall ziehen sich die Augenbrauen-Innenseiten schräg nach oben, ein zuverlässiges Merkmal. Daneben werden die Mundwinkel nach unten gezogen und der Kinnbuckel kann angehoben werden. Die Kopfhaltung ist gesenkt und die Körperhaltung zeigt wenig Muskelspannung.

Beide Emotionen sind durch ihre eindeutigen und zuverlässigen Merkmale klar zu unterscheiden, auch bei Menschen mit Demenz. Glücksmomente können dann entstehen, wenn der Mensch in seinem Personsein anerkannt wird. Das können Momente der Nähe sein, Berührungen, ein Eis in der Sonne oder der direkte Blickkontakt. Augenblicke, in denen die Individualität des Einzelnen gesehen wird. In

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denen es in erster Linie um den Menschen geht und nicht um die Demenz. Ein Perspektivwechsel vom Defizit hin zur Ressource. An dieser Stelle entsteht Glück, denn die Patient*innen spüren wieder ihren Selbstwert. Der englische Gerontologe Tom Kitwood entwickelte aus seiner Beschäftigung mit dem Thema Demenz die »Bedürfnisblume«. Dort manifestierte er, dass die wichtigsten psychischen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz die Bindung, die Einbeziehung, der Trost, die Beschäftigung und die Identität sind, miteinander verbunden durch eine bedingungslose Liebe. Gerade die eigene Identität zu spüren, trägt zu einem Glücksgefühl bei, denn es zeigt die Verbindung in der Gesellschaft an. Jeder Mensch möchte Teil eines Netzwerks, eines Verbunds oder einer Gruppe sein und nicht isoliert leben müssen. Dieses Bedürfnis braucht den Austausch untereinander, auch nonverbal. Menschen mit einer Demenz verlieren durch die erschwerte Kommunikation leicht die Verbindung zum Gegenüber, was unweigerlich zu einem Gefühl des Unglücks führt. Erkennt der Betreuende die Bedürfnisse und Wünsche des Patienten oder der Patientin, entsteht eine Verbindung, die trägt und befriedigt. Gleichzeitig spüren Patienten*innen auch den Verlust von Fähigkeiten und erleben dadurch das unangenehme Gefühl des Unglücks, das sich durch die Expression Trauer ausdrückt. Wird diese Emotion übersehen oder nicht erkannt, wird bei ihnen die Empfindung des Leidens immer größer. Fehlendes Mitfühlen kann den Selbstwert einschränken und bis zu einem Zustand der Depression führen. Empathie entsteht durch das Mitschwingen der Gefühle. Diese beidseitige Verbindung führt zu mehr Lebensqualität und Zufriedenheit auf beiden Seiten. Die Emotionserkennung durch die Mimikresonanz wirkt damit auch dem Gefühl der Trauer, des Unglücks entgegen. Die Hilflosigkeit aufgrund von Nicht-Verstehen oder Missverständnissen kann minimiert werden. Es wird damit eine neue Basis der Kommunikation gefunden.

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Die Bewegungen um die Augen und die der Augenbrauen funktionieren mit am längsten in der Mimik. So lässt sich auch in einem fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung immer noch ein bestimmtes Gefühl erkennen. Die Mehrzahl der mimischen Ausdrücke findet übrigens in der oberen Gesichtshälfte statt, und da besonders im Bereich der Augen und Augenbrauen. Wir sind mit dem Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes also nicht mimisch blind. Dazu kommen noch die Signale der übrigen Wirkkanäle wie die Körperhaltung, die Stimme, das Fuß- und Beinverhalten und andere, die hilfreich sind, eine Emotion zu klassifizieren. Das Axiom des österreichischen Psychotherapeuten und Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick, »Man kann nicht nicht kommunizieren« (Watzlawick, Beavin und Jackson 1969), trifft auch für die Mimik von Menschen mit Demenz zu. Schauen Sie hin und nehmen Sie wahr!

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Marlis Lamers ist u. a. Mimikresonanz Trainerin und Dozentin für Palliative Care. Ihr liegt besonders die Kommunikation am Herzen, wobei der Schwerpunkt die Emotionserkennung bei verbal eingeschränkten Menschen im pflegerischen Bereich ist. Kontakt: [email protected] Website: w  ww.kommunikation-wortlos.de Literatur Darwin, C. (1872). Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. Stuttgart. Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. Berlin. www.deutsche-alzheimer.de Eilert, D. W. (2020). Körpersprache entschlüsseln & verstehen. Die Mimikresonanz-Profibox. Paderborn. Eilert, D. W. (2022). Was dein Gesicht verrät. Wie wir unsere Mimik und verborgenen Körpersignale entschlüsseln. München. Ekman, F.; Friesen, W. V. (1978). Facial Action Coding System. Investigator’s Guide. California. Helsper, H. (2021). Glücksmomente für Menschen mit Demenz. Wie Fachkräfte unterstützen können. München. Kitwood, T. (2016). Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. 7., überarb. und ergänzte Auflage. Bern. Watzlawick, P.; Beavin, J. H.; Jackson, D. D. (1969). Menschliche Kommunikation – Formen, Störungen, Paradoxien. Bern.

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Das Streben nach Glück Eduard Zwierlein Im Alltag verwenden und hören wir solche Sätze: »Viel Glück!«, »Das wird dir kein Glück bringen!«, »Da hast du aber großes Glück gehabt!«. Dass die Menschen nach Glück suchen und stre­ ben, wird von allen großen Philosophien und Religionen gesehen und anerkannt. Man könnte sagen, es handelt sich hierbei um eine Tatsache. Die Menschen sind von Natur aus Glücksjäger. Darin sind sich alle einig. Aber dann beginnen doch sogleich die Uneinigkeiten. Eine Uneinigkeit besteht darin, ob Menschen auch Erfolg darin haben können, (wirklich) glücklich zu werden. Kann es ihnen mit dem Glück glücken? Einige, wie etwa Schopenhauer oder Freud, sind der Meinung, dass es in der Natur nicht vorgesehen ist, dass Menschen glücklich werden können. Sie bleiben entweder ewig Suchende oder durchschauen die Sinnlosigkeit des Versuchs. Andere, wie zum Beispiel Camus, wollen Glück und Sinn gleich von Anfang an als Illusionen des Absurden durchschauen, um dann aber doch, etwas absurd, zu behaupten, dass wir uns den armen Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen. Neben diese pessimistischen Stimmen treten die eher optimistischen Varianten, wie etwa bei Aristoteles oder Descartes, Leibniz oder J. St. Mill. Auch sie zeigen eine große Vielfalt. Einige glauben zum Beispiel, dass wir das Glück finden können (oder dass das Glück uns findet): aber nur punktuell, für einen Augenblick. Auf Dauer stellt es sich nicht ein. Andere behaupten, dass wir nicht an das große Glück denken müssten, sondern eher an die kleine Münze des Glücks, die Zufriedenheit, und diese könnten wir doch erreichen. Manche sagen, dass das Glück in unserer eigenen Hand liege, dass wir unseres Glückes

Schmied seien. Wieder andere meinen, dass es sich (wie von selbst) einstellt oder uns geschenkt werden muss. Wo in diesem vielfältigen Spektrum würden Sie sich selbst sehen? Glücks-Arten Die Sprache unterscheidet verschiedene Arten von Glück. In den Worten, die die Menschen verwenden, speichern sie ihre unterschiedlichen Erfahrungen ab. So auch ihre unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Glück. Da gibt es den alten Unterschied von happy und lucky, beatitudo und fortuna, bonheur und bonne chance. In der modernen Glücksforschung findet sich die Unterscheidung von state und trait. Was steckt dahinter? Die Menschen spüren, dass Glück erleben (state) und glücklich leben (trait) nicht dasselbe sind. Auf der einen Seite gibt es das Zufallsglück. Ein besonderer Moment, der uns überrascht und beglückt. Ein kurzer, intensiver, ekstatischer, berauschender Augenblick, der uns beseligt. Wir sind überwältigt, hingerissen und erfüllt von starken Gefühlen und Empfindungen. Dieses Glück ist nicht machbar oder erzwingbar. Es ist indi­ rekt und flüchtig. Ein scheues Glück. Doch, wie Aristoteles sagt: eine Schwalbe macht noch keinen Sommer und ein schöner Nachmittag ist noch kein gelungenes Leben. Daher gibt es auf der anderen Seite die Sorge um ein gutes, gelungenes Leben. Nicht das große, besondere Glücksgefühl. Eher das kleine Stre­ bens-Glück, eher langfristig und auf Dauer, eher vernünftig und geplant, sozusagen die kleinere, aber auf Dauer angelegte Ausgabe des Glücks: die Zufriedenheit.

Tizian, Sisyphus, 1548/49

Andere, wie zum Beispiel Camus, wollen Glück und Sinn gleich von Anfang an als Illusionen des Absurden durchschauen, um dann aber doch, etwas absurd, zu behaupten, dass wir uns den armen Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen.

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Glück erleben ist also nicht dasselbe wie glücklich leben, Glück haben ist nicht dasselbe wie glücklich sein. Müssen wir also wählen zwischen diesen Glücksarten, zwischen Moment und Dauer, Leidenschaft und Vernunft, Vergessen und Erwachen? Ist es unser Unglück, zwischen diesen Typen des Glücks hin- und hergerissen zu sein? Gibt es einen glücklichen Ausweg aus diesem Dilemma oder dieser Tragik? Eine Integration und Versöhnung?

Zu einer vernünftigen Glücksreise gehört es, immer wieder die bunte Vielfalt der Glücksideen auf ihre Einheit hin zu befragen. Gibt es vielleicht doch ein geheimes Band, das alle Glückserfahrungen miteinander verbindet? Was wollen wir eigentlich, zuletzt und im tiefsten Grunde? Was ist es, was uns glücklich sein lässt? Glücks-Wege ins Unglück

Es gibt zwei Wege zum Glück, die eine gewisse Berechtigung haben. Werden sie aber als KönigsGlücks-Quellen wege empfohlen, führen sie wohl geradewegs ins Vielleicht finden wir hierauf eine Antwort, wenn Unglück. Auch hier, so scheint es, macht die Dosis wir fragen, was es denn ist, das die Menschen das Gift! Es handelt sich um zwei alte Wege, die in glücklich macht? Kann man das überhaupt sa- der Antike empfohlen wurden und die miteinangen? Ganz allgemein: Die Menschen streben zu der konkurrieren. Sie führen in die Irre, wenn sie dem, was sie als gut ansehen. Was ihnen gut tut. uns einseitig machen. Es handelt sich zum einen Dieses Gute sind die Werte, die sie wollen. Das, um den Weg der Luststeigerung und zum andewas sie schätzen, wert-schätzen, was ihnen wert- ren um den der Leidensvermeidung. voll ist. Davon erwarten sie ihr Glück. Der Weg der Luststeigerung ist der Weg des Im Alltag gibt es 1000 Namen für das Glück. Mehrs, des Anwachsens, des Habenwollens: eher Die Menschen verstehen sehr Verschiedenes dar- der progressive, experimentelle Weg, mehr state. unter. Glück ist ein ziemlich buntes Wort mit vie- Es handelt sich um die hedonistische Variante des len Facetten, und alles scheint sehr kontrovers und Glücks, sozusagen das Glück des Schlaraffenlanrelativ zu sein. Die einen streben nach Macht und des. Hier sucht sich der Mensch seine GlücksgüReichtum, die anderen nach guten Beziehungen ter vor allem im Reich der Machbarkeit, im Feld und Gesundheit. Die einen schwören auf Sport der sinnlichen Lust, der Befriedigung durch mögoder Erleuchtung, die anderen auf Lust und sinnli- lichst viele Güter und Genüsse. che Befriedigung. Manche meinen, es liege im LeDer Weg der Leidensvermeidung ist der der sen, Reisen, in Bildung und Kultur, andere sagen in Ruhe, der Zurückhaltung, des Weniger: eher der Altruismus und Wohltun, Fürsorge und Nächsten- konservative, vorsichtige Weg, mehr trait. Hier liebe, wieder andere behaupten, es gehe um Ruhm, begibt man sich in einer asketischen Variante auf Ehre und Karriere, Prestige und Zerstreuungen. die sichere Seite des Lebens. Weniger ist mehr! Es Angesichts dieser etwas verwirrenden Lage geht um das sparsame Glück, nicht um Lebenssollten wir sehen, dass die Suche nach Glück eine steigerung, sondern um Lebenserhaltung, Freipersönliche Angelegenheit ist. Was dem einen sei- heit von Leiden und Schmerz, Abwesenheit von ne Eule, ist dem anderen seine Nachtigall, heißt es. Leidenschaften, Begierden und Sorgen, um Ruhe Andere Menschen können uns beraten und inspi- des Geistes. Glücklich ist derjenige, der zufrierieren, imitieren können wir sie nicht: den ist und schließlich keine Wünsche mehr hat. Glück entgeht uns aber, wenn wir uns auf die eine oder andere Seite »Glücklichsein ist ein Maßanzug. Unglückliche Menschen sind jene, die den Maßanzug eines anderen tragen wollen.« schlagen. Denn die Menschen sind weder Superhedonisten noch Super(Karl Böhm, österreich-deutscher Dirigent)

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D a s S t r e b e n n a c h G l ü c k    2 9

stoiker. Das Glück der Menschen liegt in einer hu­ manen Mitte, die beide Seiten in sich aufnimmt und versöhnt. Superstoiker werden schnell bitter und zynisch, Superhedonisten gierig und fanatisch. In der goldenen Mitte zwischen Fanatismus und Zynismus liegt das Glück der engagierten Gelassenheit. Deswegen braucht der Glückliche eine Kunst des maßvollen Genießens ebenso wie eine Kunst der dankbaren Bescheidenheit. Glück und Glücks-Wege Hängen Glück und Sinn miteinander zusammen? »Sinnan« bedeutet unter anderem fahren, eine Reise machen, um erfahren zu werden, einen Weg machen, um durch den Weg belehrt zu werden. Wonach steht mir der Sinn? Worauf sinnst du? Wer durch Reisen und Fahrten, durch seine Lebens-Wege das Leben immer besser kennen und sehen lernt, wird lebens-erfahren und entwickelt einen Sinn für das Glück. Er weiß schließlich, worauf es ankommt und was eigentlich und im Grunde wichtig ist und zählt. Dafür muss ich auf­ geschlossen leben und mich durch das Leben ver­ wandeln lassen. Wahres Wissen ist verwandelndes Wissen, durch das ich neue, gute Gewohnheiten und Bahnen meines Lebens aufbaue. Das Glück ist nicht nur Gabe, sondern auch Aufgabe. Der Sinn für das Glück zeigt mir, dass Glück im Sinn wohnt. Nur wenn ich die Welt als sinnvoll ansehe und wertschätze, werden ihre Schönheit und Gutheit zu mir sprechen und mich berühren. Je mehr ich einen schönen und guten Charak­ ter, eine lebensfreundliche Lebensform entwickle, umso mehr schaffe ich Raum und Wachheit dafür, dass sich sowohl das kleine als auch das große Glück einstellen können. Ich kann also etwas dafür tun, dass es sich zeigt. Ich kann es mehr und deutlicher spüren und erleben, wenn es kommt. Ich kann es sogar sehen, selbst wenn es sich verbirgt. Kann man also Glück lernen? Etwas, das wir jedenfalls vermeiden sollten, ist das sogenannte eudaimonistische Paradox. Was damit gemeint

ist, ist leicht zu verstehen: Wir können das Glück nicht herbeizwingen. Im Gegenteil. Das direkte Streben nach Glück führt in der Regel direkt ins Unglück. Können wir dennoch irgendetwas für den Einfall, Zufall, das Bleiben und Berührtwerden durch das Glück tun? Etwa im Sinne von Goethes Wort: »Jeder hat sein eigen Glück unter den Händen, wie der Künstler eine rohe Materie, die er zu einer Gestalt umbilden will. Aber es ist mit dieser Kunst wie mit allen; nur die Fähigkeit wird uns angeboren, sie will gelernt und sorgfältig ausgeübt sein.« Dazu noch einmal diese Glücks-Impulse: • Glück ist Frucht einer wählbaren Lebensform, einer Art zu leben, die man lernen muss. • Glück ist Sehenlernen und Aufmerksamkeit schärfen für die Schönheiten, die überall da sind. • Glück ist Präsenz: gelassene Anwesenheit, hier und jetzt gegenwärtig, selbstvergessen, hingegeben und offen. • Glück ist in der Einfachheit, ein Einfach-Sein: einigen, einstimmen, einswerden, weniger ist mehr, loslassen, der Gier des Haben-, Beherrschen- und Bewundert-werden-Wollens zunehmend entsagen. • Glück ist dankbarer und intensiver Genuss dessen, was man maßvoll haben darf. • Glück ist kein Kippschalter, sondern Wachs­ tum durch Mikro-Habits, die sich allmählich in eine Lebensform mit mehr Balance, Inte­ gra­tion und Stimmigkeit verwandeln. • Glück ist nicht vollkommen, wenn wir es nicht teilen. Vollkommen glücklich werden wir erst, wenn uns etwas hilfreich entgegenkommt, das größer ist als wir und sein Glück mit uns teilt. Dr. phil. habil. Eduard Zwierlein, M. A., Studium der Philosophie, Psychologie und Theologie, ist apl. Professor für Phi­ lo­sophie an der Universität Koblenz-­ Landau sowie als Unternehmensberater tätig. Kontakt: [email protected]

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Glück als Kategorie der Sozial- und Entwicklungspolitik – am Beispiel Bhutan Franz Greif Auf die Frage »Was ist Glück?« bietet das Internet bis zu 534 Millionen Ergebnisse. Ein solch gigantischer Berg von Texten und Äußerungen kann quantitativ dafür stehen, wie sehr diese Frage viele Menschen beschäftigt. Diese Zahl lässt auch erahnen, wie vielfältig das »Wesen des Glücks« dargestellt wird, wie Ansichten vom und Erwartungen an das Glück aussehen, und nicht zuletzt, wie viele Ratgeber unterwegs sind, um Stiefkinder des Schicksals auf der Suche nach einem besseren Leben zu begleiten. Wie lässt sich Glück definieren? Vom »Glück« hat wohl jeder Mensch seine eigene Vorstellung, je nach den verschiedenen Aspekten oder Werten, die er damit verbindet. Existenzielle Werte wie Lebensqualität oder Daseinszufriedenheit anzustreben, begleitet die Menschen seit jeher, schon Philosophen des Altertums sahen in einer »edlen und der Gerechtigkeit verpflichteten Lebensführung« ein »vollkommenes Gut menschlichen Handelns«. Diese Formulierung fasst Gedanken Platons über Gerechtigkeit als Gemeinschaft stiftende Haltung des Einzelnen (in »Politeia«, »Der Staat«) und von Aristoteles über Glückseligkeit als Endziel menschlichen Handelns (in »Eudaimonia«, »Die Glückseligkeit«) zusammen. Der einfache Mensch aber wähnte sich wohl zu jeder Zeit der Menschheitsgeschichte dann glücklich, wenn er gesund, zu Leistungen fähig, möglichst wenig Zwang ausgesetzt und in einer Gemeinschaft geborgen leben konnte. In einer

Systematik hat Max Weber (1921) alles das gültig formuliert, woran ein Mensch als Mitglied einer Gemeinschaft (Familie, Stamm, Gemeinde) teilhaben können muss, um sein Leben in vollem Umfang zu führen: Wohnen, Partnerschaft, Arbeit, Entfaltung, Politik und Kultur. Wir können demnach Glück als eine Qualität dieser Sozialfunktionen verstehen. Glück – keine ökonomische Kategorie – und doch in ihrem Fokus? Seit den Veröffentlichungen des Club of Rome in den 1970er Jahren zum Thema »Grenzen des Wachstums« hat die Kritik an der wirtschaftspolitischen Wachstumsmaxime nicht aufgehört.

Foto: Claus Walter, Österreichische Bhutan-Gesellschaft

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Devotionalbild in Bhutan, eine Darstellung nahe dem Kloster Tango nördlich der Hauptstadt Punakha

Dennoch ist Wachstum ein Hauptziel der Wirtschaftspolitik geblieben, und angesichts der Bevölkerungszunahmen insbesondere in wirtschaftlich schwachen Ländern gibt es wohl kaum Alternativen dazu. Kritik verdient aber die kaum Kontrollen unterworfene Entwicklung von Produktionsmonopolen und agrarindustriellen Riesenkonzernen, neben denen traditionelle Strukturen und damit Millionen von Kleinexistenzen verschwinden. Das Unbehagen daraus hat Wissenschaftler*innen (auch Ökonom*innen), Medien, internationale Organisationen und Regierungen veranlasst, nach alternativen Indizes für eine zumindest partielle Abbildung von »Wohlstand« oder »Wohlergehen« zu suchen. Hier eine knappe Auswahl:

Alternative Indizes von »Wohlstand« oder »Wohlergehen« • Seit 100 Jahren gibt es den GINI-Index (1921), der die (gleiche oder ungleiche) Verteilung der Einkommen und Vermögen in einem Land ermittelt. • Der Human Development Index (1990) der UN kombiniert die Faktoren Bildung, Einkommen und Lebenserwartung zu einem Wohlstandsindikator. • Der Good Country Index (2000) ermittelt mit 35 Indikatoren in Relation zum Bruttoinlandsprodukt einen »Beitrag der Länder zu weltweitem Wohl«; dieser Beitrag kann auch negativ sein. • Der Genuine Progress Indicator (2003) wertet jene Kosten, die auf Ressourcenabbau, Verbrechen, Zerfall von Familien, Verschmutzung der Umwelt, Verluste an Agrarland und Feuchtgebieten zurückgehen, als potenzielle Lasten der Wirtschaft. • Mit dem Happy Planet Index (2006) wird ein Maß für die ökologische Effizienz des Wohlbefindens einer Nation erstellt. Die Grundannahme ist, dass für viele Menschen nicht Reichtum, sondern Glück und Gesundheit oberstes Ziel sind. Die Indikatoren dafür sind Lebensverhältnisse, Lebenszufriedenheit, Lebenserwartung, der ökologische Fußabdruck und Nachhaltigkeit. • Der Deutsche Bundestag verwendet die W3Indikatoren (2011) materielle Lage, Soziales, Teilhabe sowie Ökologie als alternatives Maß für Wohlstand und Fortschritt. • Der World Happiness Report (2012), jährlich herausgegeben vom Sustainable Development Solutions Network der UN, erstellt länderweise Ranglisten zur Lebenszufriedenheit, die auf Daten über Lebenszufriedenheit, psychische Gesundheit, Wirkungen von Lebensglück und Zufriedenheit sowie auf Wertvorstellungen basieren.

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3 2   Fr a n z G r e i f

Wo Glückspolitik verwirklicht ist – oder es versucht wurde Es gibt nun mehrere Länder, die – aus unterschiedlichen Motiven – einen Wohlfahrtsgewinn ihrer Gesellschaften anstrebten, der über die (potenzielle) ökonomische Ebene hinausreichen sollte. Als Idee formuliert wurde dies zuerst in den 1970er Jahren im Königtum Bhutan, politisch manifest erst um 2000. (Wenig später auch in Ecuador und Bolivien.) Beispielhaft soll hier das Königtum Bhutan dargestellt werden. Bhutan ist seit einem halben Jahrhundert auf dem Weg in eine wirtschaftlich-technische Moderne. Am Beginn beschloss der Regent mehr aus Zufall, den Lebensstandard ganzheitlich zu definieren und statt auf Wachstum auf ein Bruttona­ tionalglück zu setzen. Daraus entstand die Idee einer Entwicklungspolitik als »Mandat des Staates zur Schaffung einer Umgebung, in der die Bürger mentaler Gelassenheit nachgehen können«. Diese Formulierung fasst seit 1998 folgende Ziele als Ordnungsrahmen zusammen: 1. Nachhaltige und gerechte sozialwirtschaftliche Entwicklung 2. Bewahrung der Umwelt 3. Schutz und Förderung der Kultur 4. Förderung eines guten Verwaltungs­systems Mit der Umsetzung dieser Ziele ist das Gross Na­ tional Happiness Center in Thimphu beauftragt, wo diese Staatsdoktrin »erlernt und erlebt« werden soll. Ihre Inhalte wurden empirisch beziehungsweise durch Befragung der Bevölkerung ermittelt, daraus eine »Systematik des Bruttonationalglücks« erarbeitet und so neun Glücksindikatoren definiert. Diese sind: Glücksindikatoren • psychisches Wohlbefinden: Welche Bedeutung haben Mitgefühl, Gebet, Meditation, aber auch Eifersucht, Neid und Frustration?

• Zeitverwendung: Was können Menschen in 24 Stunden erledigen, und ist das, was sie tun, dem Glück zuträglich? • Gemeinschaftsleben: Wie sehen die Beziehungen in der Gemeinschaft aus? • kulturelle Vielfalt: Werden Gruppen und ihre Dialekte respektiert und Brauchtum, Feste oder Sportarten ausreichend gewürdigt? • Gesundheit: Wie oft sind die Menschen krank? Wie weit haben sie es bis zum nächsten Arzt? • Bildung: Werden Kenntnisse, humane und traditionelle Werte und Kreativität gefördert? • ökologische Vielfalt: Wie ernst werden Themen wie Umweltschutz, Artenschutz oder Aufforstung genommen? • Lebensstandard: Gibt es genug Wohnraum, Lebensmittel und Infrastruktur? • gute Regierungsführung: Wie ist es um die Stärke der Verfassung und Qualität der Gesetze bestellt? Herrschen Ehrlichkeit in der Politik und Effizienz der Verwaltung? Ergebnisse Eine Politik des Bruttonationalglücks als explizite Glücksförderung kann es natürlich nirgends geben. Was sie aber Bhutan gebracht hat, sind entwicklungs- und sozialpolitische Fortschritte, die auch noch nicht zu Ende sind. Im Königreich Bhutan gehen folgende Neuerungen auf Glückspolitik zurück: • Im Bereich der Gesundheits- und Bildungspolitik gelang zwischen 1960 und 2016 durch die Kombination beider eine Erhöhung der Lebenserwartung von 37 auf 70 (!) Jahre. Der Bildungspolitik des Landes wird »unglaublicher Fortschritt« bescheinigt, zwei Drittel der Bevölkerung über sechs Jahren können lesen und schreiben, Schulen sind bis zur Hochschule kostenlos – und alle wollen dorthin. Das Ergebnis sind (leider) zu viele

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Colourbox

Unter dem Eindruck des Schlagworts »Bruttonationalglück«, das weltweit bekannt wurde, entstanden auch in westlichen Ländern Bestrebungen, Glückspolitik zu betreiben

Akademiker*innen, dafür fehlen Handwerker*innen. • Die Richtlinien zum Umweltschutz setzten schon vor 50 Jahren den Waldanteil mit mindestens 60 Prozent der Landesfläche fest. Mit der Forcierung erneuerbarer Energie setzte das Land auf Wasserkraftnutzung als größten Industriezweig und wurde Stromexporteur. • Mit Tourismus (ab 1974) entstanden Einnahmequellen für Staat und Bevölkerung, jedoch limitiert und ohne eine verfehlte Tourismuspolitik (wie etwa jene in Nepal) zu wiederholen. Umweltzerstörung, Nahrungsmittelknappheit und anderes mehr wurden so verhindert. • Kultur und nationale Identität werden besonders gefördert, um Bhutans Souveränität als Zwergstaat zwischen Indien und China zu behaupten, was zum Beispiel Ladakh, Tibet oder Sikkim nicht gelang.

Macht Glückspolitik auch in Industrie- und Wohlfahrtsstaaten Sinn? Unter dem Eindruck des Schlagworts »Bruttonationalglück«, das weltweit bekannt wurde, entstanden auch in westlichen Ländern Bestrebungen, Glückspolitik zu betreiben, zum Beispiel in Frankreich, UK, Neuseeland oder Österreich, auch bei der OECD und UN. In den Vereinigten Arabischen Emiraten ist eine »Glücksministerin« aktiv und sogar in der VR China und Nordkorea bekundet die Politik Interesse am »Glück der Menschen«, wie immer dieses dort auch aussehen mag. 2016 fragte Angela Merkel im Rahmen der Regierungsstrategie »Gut leben in Deutschland« online und in über 200 Dialogforen die Deutschen, was sie darunter verstünden. Der Ergebnisse daraus hat sich die Regierungspolitik noch nicht angenommen, wohl aber folgten Plädoyers von Medien und Organisationen für »Glück als Staatsziel Nr. 1« in Deutschland.1 Prominente

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Ideen dazu sind etwa das Bildungsziel »Glück als Kompetenz«, der 6-Stunden-Arbeitstag, mehr sozialstaatliche Umverteilung und eine »intakte Umwelt als Grundlage für unser Wohlbefinden«. Die Ansichten über die Sinnhaftigkeit solcher Forderungen gehen weit auseinander. So sieht etwa Bruno S. Frey2, ein energischer Kritiker gesellschaftlicher Missstände aus ökonomischer Sicht, derlei Pläne auf Regierungsebene sehr kritisch. Der Staat ist für ihn kein Glücksbringer, sondern hat einen liberalen und gerechten Rahmen zu sichern, den alle brauchen, um erfülltes, zufriedenstellendes Dasein erreichen zu können. In diesem Rahmen gebührt jedermann die Chance, »seines eigenen Glückes Schmied« zu sein, doch verletzt ein »von oben dekretiertes Glück (Frey 2019) die Selbstbestimmung der Bevölkerung«. Markt- und Kommunikationsforschung geben sich damit freilich nicht zufrieden, sondern suchen explizit nach einem Indikator für den Einsatz oder die Ausrichtung einer Glückspolitik. Das kritische Moment dabei ist, dass es ein »einheitliches, allen Menschen gemeinsames Verständnis von Glück« eigentlich nicht gibt, wie beispielsweise Philipp Schaumann (2014) in seiner Doktorarbeit erkennt. Er sammelte von 1000 Personen einer strukturierten Bevölkerungsstichprobe für ein Set von neun »Indikatoren des Glücks« (Familie, Gesundheit, wirtschaftliche Absicherung, persönliche Selbstbestimmung und Freiheit, erfülltes Arbeitsleben, angemessener Lebensstandard, intakte Natur, soziale Kontakte, soziale Gerechtigkeit) deren Bewertungen nach den zwei Dimensionen »Wichtigkeit« und »Zufriedenheit«. Ein grobes quantifiziertes Ergebnis daraus ist ein »für die Deutschen dominanter Glücksbegriff«, wonach weit über 80 Prozent ihr Leben dann als glücklich empfinden, wenn es »sorgenfrei«, »zufrieden« oder »erfüllt« ist. »Gehobene« oder »aufregende« Lebensumstände oder »schnelles Glück« (durch Sport und Spiel, Gewinne, unerwartete Chancen etc.) erwartet sich nur eine Minderheit.

Im Anschluss an Frey möchte man sagen, die Politik hat als Diener des Volkes diesem Freiheit und Chancengleichheit zu garantieren und Brüderlichkeit zu fördern. Vor allem die Brüderlichkeit ist gleichermaßen Aufgabe für alle Staatsbürger*innen, allerdings für die Politiker*innen in besonderem Maße durch Verzicht auf Machtstreben und Eitelkeit. Bürger*innen haben schlicht ein Recht darauf, dass Politiker*innen nach sittlichen Leitprinzipien handeln. Dies ist allein schon deshalb nur billig, weil es ja auch für Staat und Regierung unabdingbar ist, dass das Volk den Gesetzen und Sitten des Staates folgt, also moralisch handelt. Für Glück ist jedoch der Frieden eine unbedingte Voraussetzung – und wie erreicht man die Politiker*innen, die das nicht wollen? Wenn wir nun anhand der erfassbaren glückspolitischen Ansätze – manifest in einigen Entwicklungsländern, eventuell sozialwissenschaftlich in Deutschland oder Österreich – überlegen, was sich daraus ergeben hat, so sind das • in Bhutan ein entwicklungspolitisches Konzept mit interessanter Gewichtung vor buddhistischem Hintergrund, • in Lateinamerika (kleine) strukturpolitische Verbesserungen und Erfolge in der Armutsbekämpfung, • in Deutschland die Fortsetzung der vor Jahrzehnten schon gepflogenen Lebensqualitätsforschung mit moderneren Mitteln. Dies führt uns doch noch zur Überlegung, ob westliche Sozialpolitik, statt unbedingt eigene Glücksparameter zu finden, nicht auch von bisherigen Versuchen einer Glückspolitik lernen kann, auch wenn es nichteuropäische sind. Freilich sind es Entwicklungsländer, mit weitgehend anderen Strukturen, anderen Sorgen, und doch lehrt uns ihr Weg zu einem besseren Leben etwas ganz Wesentliches: Es ist die Rückbesinnung auf sehr wertvolle Traditionen, die auch in Europa überall gelebt wurden, die im Lauf einiger Generationen der Betonung materieller Ziele und einem

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G l ü c k a l s K a t e g o r i e d e r S o z i a l - u n d E n t w i c k l u n g s p o l i t i k   – a m B e i s p i e l B h u t a n    3 5

zunehmenden Egoismus gewichen sind und die doch der wahre Schlüssel zu einem erfüllten Leben sind: gute Nachbarschaft, solidarisches Miteinander, gemeinsame Vorsorge, Bereitschaft zum Teilen, Hilfe in der Not. Ohne diese traditionellen Werte, die ja auch bei uns einen guten Klang haben, ist eine nachhaltig glückliche Lebensführung nicht wirklich denkbar. In diesem Zusammenhang sollte der ständige Ruf nach Veränderung in allen Lebensbereichen durch die Forderung nach Erhaltung des Guten und über Generationen Bewährten ersetzt werden. Denn Bewahrung des Guten ist nicht Stillstand, sondern Vernunft. Der Gedanke aus der nichteuropäischen Glücks­­politik, dass nicht zwingend das eigene Glück Lebensziel ist, sondern das Miteinander, die Solidarität, das Bei-Leiden mit anderen, sollte in Begleitung, Beratung und Behandlung als Leitgedanke vorherrschend sein.

Die Langfassung dieses Themas wurde 2020 in der Internet-Enzyklopädie »AUSTRIA FORUM« der TU Graz (https://austriaforum.org) unter dem Titel »Lebensfreude als Staatsziel: Auf zu Bruttosozialglück und Buen Vivir« online veröffentlicht. Die dortige E-Book-Sammlung im Format der »Net Interactive Documents« (NID) erlaubt eine interaktive Teilnahme der Leserschaft in Form von Kommentaren, Ergänzungen oder Korrekturvorschlägen.

Dr. phil. Franz Greif, Sozialgeograph und Geologe, war unter anderem an den Universitäten Wien und Klagenfurt sowie an der Bundesanstalt für Agrarwirtschaft in Wien tätig. Er war Mitglied der OECD-Arbeitsgruppe »East-West relations in agriculture« in Paris und leitet die Österreichisch-Mongolische Gesellschaft »OTSCHIR«.  Kontakt: [email protected]

»Bitte lassen Sie die Gardine auf, ich sehe so gerne die ziehenden Wolken und würde mich so gerne mitnehmen lassen.«

Literatur Frey, B. S. (2019). Verordnetes Glück. Das Glück als Staatsziel. »Kolumne Frey« im Schweizer Monat, Ausgabe 1072, Dez. 2019. Nissel, H. (o. J., ca. 1990). Bhutan. Schwerpunktland der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit. Austria Deve­lop­ment Cooperation, Wien. Schaumann, P. (2014). Auf dem Weg zur Glückspolitik. Erarbeitung der Grundlagen zur Erstellung eines »Glücksindex« für Industrienationen. Dissertation an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover. Sutor, B. (o. J.). Politische Ethik. In: Staatslexikon online. https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Politische_ Ethik. Weber, M. (1921). Wirtschaft und Gesellschaft. München. Anmerkungen 1 Siehe z. B.: »Warum Politik nach Glück statt Wachstum streben sollte«. Podcast Y Politik 11, April 09, 2018. 2 Ständiger Gastprofessor an der Universität Basel und Forschungsdirektor des Center for Research in Economics, Management, and the Arts (CREMA) in Zürich.

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Die Flutkatastrophe an der Ahr und die kleinen Glücksmomente Isa Sellin In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 ereignet sich die schreckliche Flutkatastrophe in unserer Region. Unbeschreibliches Unglück bricht über unzählige Menschen ein. Wir vom Hospizverein Rhein-Ahr wollen helfen, wollen etwas tun, wollen nicht untätig herumsitzen. Wir gehen stundenlang durch die Straßen, nur um mit den Menschen zu sprechen. Begegnung und Kontakt als Halt und Trost. Meine Koordinatorin Julia bittet mich, das Ehepaar K. in Bad Neuenahr-Ahrweiler zu besuchen, das seit Tagen im vierten Stock

ihrer Wohnung festsitzt. Sie sind ohne Strom, es fährt kein Aufzug, es ist dunkel … Beide sind um die 90 Jahre alt, beide haben den Krieg erlebt. Viele dunkle Erinnerungen kommen hoch. Vor allem Frau K. ist unglücklich, sorgt sich, hat Angst und fürchtet sich insbesondere davor, evakuiert zu werden. Die Flutnacht selbst haben beide verschlafen, der Schock kam erst am nächsten Morgen. Was ist passiert? Was passiert? Wie geht es weiter? Die Sicht von ihrem Balkon ist sehr eingeschränkt

Im Kurpark blüht eine überschlammte Rose weiter, durch den Schlamm hindurch hat sie neue Blüten geöffnet. Die Lieblingsbäume von Frau K. fotografiere ich durch Zufall.

D i e F l u t k a t a s t r o p h e a n d e r A h r u n d d i e k l e i n e n G l ü c k s m o m e n t e    3 7

und sie haben – ohne Fernsehen oder Smartphone – keine Informationen. Tagelang sind nur Sirenen, Hubschrauberknattern und schwere Dieselfahrzeuge/-motoren von draußen zu hören. Bei meinem Besuch bitten sie mich darum, ihre bekannte Welt – die Kurgartenbrücke, die Poststraße, den Kurgarten … – zu fotografieren. So ziehe ich los, doch ich merke schnell, dass ich dieses verschlammte, verstörende Desaster nicht fotografieren möchte, zu sehr sieht es nach Kriegszerstörung aus. Ich halte Ausschau und finde Motive, die zwar immer auch die schrecklichen Auswirkungen der Flut zeigen, jedoch auch Spuren der Schönheit offenbaren, die hier war und noch immer ist: viel blauer Himmel über Schuttbergen in der Straße, deren sich ein THW-Bagger gerade annimmt, ein grüner Straßenbaum ist mit im Bild oder die eine übriggebliebene Blumenampel. So bringe ich

bei jedem Besuch Bilder mit, die auch die Verwüstung zeigen, gleichzeitig Hoffnung und Zuversicht in sich tragen und zeigen, wie die Aufräumarbeiten vorangehen. Beim letzten Besuch fotografiere ich auch sauber entkernte Erdgeschosse und Straßenfluchten, denn bald wird es wieder Strom geben und Herr K. wird die Stadt mit eigenen Augen wiedersehen. Es sind schöne, beruhigende Besuche mit Bildergeschichten und Mineralwasser, die tatsächlich auch mir – die ich täglich durch die stinkenden, staubigen, zerstörten Straßen gehe – gut tun und mich beruhigen. Isa Sellin ist Hospizbegleiterin des Hospizvereins Rhein-Ahr, handwerkliche Buchbinderin, Förderschullehrerin. Kontakt: [email protected]

Ich entdecke einen Graureiher in einem Fleckchen Grün in der Uferwüstenei.

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Momente des Glücks im Sterben – einge­ bettet in sorgende Gemeinschaften Klaus Wegleitner Schöne Lebensmomente – trotz schwerer Krankheit, Verlust und Leid – bis zuletzt zu ermöglichen, war und ist eines der Grundanliegen der Hospizbewegung und Palliative Care. Inwieweit dazu ein Zusammenspiel von mitmenschlicher Haltung mit der Aufmerksamkeit für die Lebensund Sorgebedingungen in den Organisationen, lokalen Netzwerken und den Communities sowie für die politischen Verhältnisse erforderlich ist, möchte ich in diesem kleinen essayistischen Beitrag entlang von ein paar Gedankenspuren sichtbar machen: den Spuren des modernen Präventionsdiktats, des Glücks, der Hospizphilosophie und von Caring Communities. Fallstricke des Präventions- und Planungsdiktats »Er ist so gestorben, wie er gelebt hat.« »Man ist schon selbst dafür verantwortlich, seine/ihre Beziehungen zu pflegen, die dann auch im Sterben tragen.« »Die Leute müssten sich einfach früher mit dem Sterben beschäftigen und darüber reden. Dann würden sie auch leichter gehen und los­ lassen können.« Diese oder ähnliche Aussagen begegnen mir häufig, im privaten Umfeld, aber vor allem auch im Hospiz- und im Palliative-Care-Bereich. Erfahrene ehrenamtliche Hospizbegleiter:innen und gestandene Palliative-Care-Profis haben viel gesehen und erlebt. Der Zusammenhang der Le-

bensweisen mit den Bedingungen des Sterbens ist evident und lässt sich erfahrungsgesättigt zeichnen und nachvollziehen. Das Anliegen, frühzeitig über Verlust, Sterben, Tod und Trauer ins Gespräch zu kommen, die Sorge am Lebensende vorausschauend zu planen und das Bewusstsein der bedeutungtragenden Sorgebeziehungen für ein würdevolles Sterben zu stärken, sind wichtige Eckpfeiler eines präventiven und gesundheitsförderlichen Verständnisses von Palliative Care. Gleichzeitig schlummert in diesem Zugang jedoch auch eine normative, moralisch aufgeladene Erwartungshaltung dem einzelnen Menschen gegenüber, in der sich bestimmte Grundmuster spätmoderner, kapitalistischer Gesellschaften widerspiegeln. Erstens schimmert hier das neoliberale Versprechen durch: »Jeder Mensch ist seines Glückes

Caspar David Friedrich, Abend, 1824 / akg-images

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Schmied!« Die Verantwortung »würdevoll« und »gut« zu sterben, wird ein Stück weit an die Einzelperson delegiert. Jede(r) Einzelne ist ja auch selbstverantwortlich für ihren/seinen ökonomisch »erfolgreichen« Lebensentwurf sowie für die Förderung von Gesundheit und den Umgang mit Krankheit. Letztlich ist es dann nur folgerichtig, dass auch das eigene Sterben vorausschauend geplant zu geschehen hat. Zweitens werden damit die gesellschaftlichen Ungerechtigkeitsmuster und Schieflagen weitestgehend ausgeblendet. Denn wie wir sterben, hängt auch vom – ungleich verteilten – sozialen Kapital ab. Es hängt davon ab, über welche sozioökonomischen Möglichkeiten man verfügt, welche (Zusatz-)Sorge man sich leisten kann. Über welches Wissen (hier zeigt sich der Zusammenhang von Bildung und Gesundheitskompetenz) zu den Hilfe- und Sorgemög-

lichkeiten verfügt man? Wie sieht die informelle und professionelle »Sorgelandschaft« in meiner Region aus? Wie sehen die stadtplanerischen und baulich-architektonischen Umwelten aus, sind sie kommunikations- und beziehungsfördernd oder -verhindernd? Es hängt davon ab, ob ich Mann bin, dann werde ich gepflegt, oder ob ich eine Frau bin; dann pflege ich, lebe im Alter eher allein und werde in einem Pflegeheim sterben. Und drittens findet damit auch eine Form kultureller Kolonialisierung des guten Sterbens statt: »Wir wissen, was für dich gut ist.« So waren die letzten Jahrzehnte geprägt von der auf dem Versorgungsverständnis der westlichen Industriegesellschaften beruhenden kolonialisierenden Ausbreitung der spezialisierten Palliative Care auf der ganzen Welt. Diese Erfolgsgeschichte der Förderung guter Sorge am Lebensende geht auch mit

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der Dominanz eines universalistischen (westlichen) Bildes des guten Sterbens einher. Shahaduz Zaman und Kolleg:innen (2017) weisen darauf hin, dass es hinsichtlich der globalen Entwicklungen nicht darum gehen kann, »einem Modell des guten Sterbens« zur Durchsetzung zu verhelfen. Es geht vielmehr um das Ermöglichen von vielfältigen Sorgeweisen am Lebensende, die an den historisch gewachsenen Sorgepraktiken und sozialen Umgängen anknüpfen, in den alltäglichen Lebenszusammenhängen der Menschen, in ihren Communities. Über die verworrene Beziehung von Sterben und Glück Was haben in diesem Zusammenhang nun aber Glück und Sterben miteinander zu tun? In der üblichen gesellschaftlichen Lesart wenig. Meist werden sie einander unversöhnlich, sich wechselseitig ausschließend, gegenübergestellt. Bei genauerer Betrachtung wird ihr Verhältnis jedoch von Ähnlichkeiten ihrer gesellschaftlichen Konstruktion und auch von einer facettenreichen Wechselbeziehung geprägt. Vom Geschehen zur Planungsorientierung Historisch betrachtet waren dem Glück und dem Sterben in vormodernen Zeiten gemein, dass sie sich ereigneten. Sie sind über das Leben der Menschen hereingebrochen, schicksalhaft, sich Gestaltungs- und Planungszugriffen entziehend. Das Glück fällt einem in den Schoß und der Gevatter Tod holt sie alle ab; ob klein oder groß, ob jung oder alt, ob arm oder reich, jede und jeder sind vor dem Tode gleich (was natürlich in keinster Weise die realen gesellschaftlichen Ungleichheiten im Leben und Sterben widerspiegelte). In der Moderne rückte zunehmend ein anderes Weltverhältnis der Menschen in den Vordergrund. Die Dinge, die Natur und das Leben werden Objekte unserer Gestaltungskraft. Die Ingenieurskunst, die Technikentwicklung und

die Naturwissenschaften transformieren gesellschaftliche Lebenszusammenhänge. Der Mensch als Körpermaschine wird von der Medizin seziert, beforscht und nun auch höchst effizient repariert. Auch die Definitionsmacht über das Sterben und den Tod kommt nun allein der Medizin zu. Ein bis dahin in komplexe soziale, kulturelle und spirituelle Zusammenhänge eingebettetes existenzielles und vor allem soziales Geschehen wird auf physiologische Abläufe und Diagnosen reduziert, (scheinbar) handhabbar gemacht und kontrolliert. Das autonome Ich als modernes Projekt, das Verletzlichkeiten im Leben nicht vorsieht und wohl auch noch im Sterben diesem Idealbild folgt. Und was passierte mit dem Glück in der Moderne? Das Glück wurde gerade in den letzten Jahrzehnten von der Positiven Psychologie entdeckt als etwas, das es individuell zu erringen und herzustellen gilt. Mit den richtigen sozialen und psychologischen Techniken, ausreichend Durchhalte- und Durchsetzungsvermögen kann jede und jeder von uns glücklich werden, persönliches Wachstum vorantreiben und schließlich der Selbstverwirklichung ein Stück weit näherkommen. Zudem: Den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Widrigkeiten lernt man zu trotzen, in seiner/ihrer Resilienzfähigkeit. Nicht Systemveränderung und/oder Transformation sind das Ziel, sondern die dem Eingeständnis der Unabänderlichkeit von gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen (Diktat des Marktes im Kapitalismus, anthropozentrische Weltgestaltungen usw.) folgende An- und Einpassung und die (Selbst-) Optimierung im Bestehenden. So schlimm und ungerecht können die Umstände gar nicht sein, dass man nicht in der Lage sein sollte, selbstbestimmt »ressourcenorientierte« Umgänge zu finden. Soweit die mit dem »Glücksdiktat« (Cabanas und Illouz 2021) der Positiven Psychologie und naiven Lebensberatung verbundenen Heilsversprechungen. Herstellung, Planung und Kontrolle; all das verbindet die gesellschaftliche Konstruktion des

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Glücks und auch des Sterbens in der Moderne. Stellten die Hospizbewegung und Palliative Care hier lange Zeit ein Korrektiv zu den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen dar, so halten im Zuge ihrer Etablierung in das Regelversorgungssystem zunehmend ähnliche Dynamiken (»das drohende qualitätskontrollierte, zertifizierte und DRG-abgerechnete Sterben«) Einzug. Über die Glücksmomente im Sterben Nach Cottrell und Duggleby (2016) wird das Sterben heute gesellschaftlich primär als negativer Prozess gerahmt, in dem positive Aspekte, oder Momente des Glücks, keinen Platz finden. Gerade auch die Palliative-Care-Profis tendieren oftmals dazu, die problemzentrierte Symptombekämpfung und -linderung in den Vordergrund ihres kompetenten Tuns zu stellen und die – auch ihnen selbst – Kraft gebenden, über die Tragik des Leids hinausweisenden und das Leben in seiner existenziellen Tiefe spürbar werden lassenden Dimensionen weniger stark wahrzunehmen. Demgegenüber arbeitet Allan Kellehear in »The inner life of the dying person« (2014) die vielfach ausgeblendeten positiven Erfahrungen, besonderen Lebensmomente und schönen Beziehungserlebnisse heraus, die die letzte Lebensphase und die Sorge am Lebensende für die Betroffenen und ihr soziales Umfeld mit sich bringen. »Sterben scheint stets einen überraschenderweise positiven Sinn zu haben; es ist für gewöhnlich lebensbejahend, lebenserhaltend und lebenserweiternd. Das ist keine New-Age-Behauptung oder Wunschdenken, sondern vielmehr die vernünftige Interpretation der Stimmen Sterbender selbst« (Kellehear 2014, S. 13). Und liegt nicht gerade in diesen im Sterben so vitalisierenden Dimensionen und den sich daraus ableitenden anderen, weisen Blicken auf das Leben an sich das große Geschenk für die Sorgenden selbst? Auch im Projekt »Sterbewelten«, in dem Katharina Heimerl und Kolleg:innen (2022) in Österreich die Perspektiven Betroffener

auf »gutes Sterben« in persönlichen Gesprächen erhoben haben, wurden einerseits das Leid, die Tragik und das Schreckliche im Sterben deutlich. Andererseits wurden in den Gesprächen immer wieder schöne, erhebende und genussvolle Momente im Sterben beschrieben. Transzendente Beziehungsbilder zu den Lieben über den Tod hinaus, intensive und beglückende Naturerlebnisse oder aber einfach der Genuss eines guten Essens oder eines Glases Bier. Anton Riegler1 gibt Einblicke in ein besonderes Gespräch mit seiner Frau kurz vor ihrem Tod: »Darf ich Ihnen, darf ich Ihnen … von mei­ ner Frau was sagen? Das Schöne war, dass sie sich, wie sie noch nicht im Hospiz war, hat sie sich im Bett aufgerichtet, das war so ein schö­ ner Herbsttag. Und (es) ist (ja) traurig, wis­ sen’s, wenn man weiß: Es … sie wird gehen. Und draußen ist die Natur in allen Farben … Und da hat sie sich aufg’richtet und hat g’sagt: Du, … wir wissen ja nicht, wer von uns als Erster geht. Hab ich g’sagt: ›Nein, Anna, das wissen wir nicht.‹ Hat sie g’sagt: ›Aber soll­ te ich vor dir gehen … und du kommst nach‹ und nachher haben die Augen geleuchtet und so: ›Dann lauf ich dir entgegen.‹ Ist das nicht schön?« (Heimerl und Egger 2021, S. 214 f.). Rudolf Haas beschreibt schillernd, wie sehr ihn die Pracht des Frühlings das Leben im Sterben genießen lassen: »Ich bereite mich nicht so intensiv darauf vor (…) Ich genieße das Leben. (…) Der Frühling, ja und das Wetter. Also das gibt Kraft, unvor­ stellbar viel Kraft. (…) Heute war ein wunder­ schöner Tag, also das ist … da kann man gar nicht sterben. Geht gar nicht« (Heimerl und Egger 2021, S. 216). Für ein gutes Sterben sind also diese erhebenden Momente des Glückes im Leid besonders bedeutsam.

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Politik der Sorge zur Stärkung von Hospizphilosophie und Caring Communities Auf die Frage des Soziologen Tony Walter, was für die Zukunft der Hospizbewegung besonders wichtig ist und was es zu bewahren gilt, antwortete Cicely Saunders einst: »We have helped people to listen to dying people and to hear what they’re saying, and the challenge for the future is to keep on listening« (Saunders, in Walter 1994, S. 67). Diese Philosophie des Zuhörens weiter zu kultivieren und damit vielfältige »Listening Communities« – in den lokalen Lebens- und Sorgezusammenhängen, in den Quartieren und Grätzeln – zu fördern, stellt eine zentrale Zukunftsaufgabe für Hospizarbeit und Palliative Care dar. Ehrenamt-

liche Hospizbegleiter:innen haben immer auch schon die Community, die Bürger:innenperspektive, in Palliative Care repräsentiert, als Brückenbauer:innen und Botschafter:innen. Diese Rolle zu stärken und darüber hinaus weitere Formen der gesellschaftlichen Bezugnahme und Beteiligung der Bürger:innen und der anderen Bereiche der Community wie Vereine, Unternehmen, Schulen, Universitäten, Kunst und Kultur in der Auseinandersetzung mit Verlust, Sterben, Tod und Trauer zu fördern, steht daher auch im Zen­ trum internationaler Compassionate und Car­ ing-Communities-Bewegungen (Kellehear 2013; Wegleitner et al. 2015; Wegleitner und Schuchter 2018). Damit werden auch das Verständnis und die Organisation des Ehrenamtes in Hospizarbeit diverser, offener, jünger und bunter. Neben dem

Der Frühling, ja und das Wetter. Also das gibt Kraft, unvorstellbar viel Kraft. Heute war ein wunderschöner Tag, … da kann man gar nicht sterben.

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Kern, der Begleitung Sterbender und Trauernder, stehen präventive Sensibilisierung, Bewusstseinsbildung und Wissensvermittlung in der Breite der Bevölkerung im Zentrum, denn »Sorge am Lebensende ist die Verantwortung jedes Einzelnen!« (Kellehear 2013). Wie wir bereits kritisch beleuchtet haben, tendieren neoliberal, kapitalistisch ausgeformte Gesellschaften jedoch dazu, sowohl das »gute Sterben« als auch das Glück ausschließlich an die Einzelne/den Einzelnen zu delegieren und einer lebensoptimierenden Planungslogik zu unterwerfen. Gelebte Solidarität erfordert jedoch zweierlei: eine lebendige Zivilgesellschaft und einen gerechten gesetzlichen Rahmen; also alltägliche Sorgekultur und sozialstaatlich gesicherte Sorgeleistungen. Gefordert wäre daher eine Sorgepolitik, die

Care-Berufe und Care-Kontexte (ökonomisch) insgesamt und nicht »nur« im Palliative-CareBereich aufwertet, die Kommunikation als Kern der Sorge überall mitfinanziert und die grund­ sätzlich sozialräumlich orientiert ist. Eine das gute Sterben und Momente des Glücks ermög­ lichende Care-Politik erfordert die Dialektik von Sicherheit gebender Rahmung (Recht auf Care in allen Lebensphasen, ausreichende Finanzierung aller Care-Kontexte) und der Öffnung von Ermöglichungs-, Denk- und Handlungsräumen, die dem Innewohnenden (Sorgen, Hoffnungen, bestehenden Kulturen und Praktiken der Sorge) zur Entfaltung verhelfen. Hospizkultur und Caring Communities gehörten schon immer zusammen. Im Sinne der Förderung einer solidarischen Gesellschaft, einer Caring Society, wäre eine Intensivierung des Zusammenspiels von Hospizkultur-Initiativen und Caring Communities wünschenswert: für die existenzielle Vertiefung lokaler Sorgebeziehungen, die Lebensintegration des Sterbens, die Stärkung demokratiepolitisch sorgender Lebensweisen und damit für die Eröffnung von Räumen, in denen sich Momente des Glücks im Sterben – eher – ereignen. Assoz. Prof. Mag. Dr. Klaus Wegleitner ist Leiter der Abteilung Public Care am Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie sowie stellvertretender Leiter des Zentrums für Interdisziplinäre Alterns- und Care-Forschung (CIRAC) © Christoph Franke an der Universität Graz. Er ist Vorstand des Vereins Sorgenetz (www.sorgenetz.at) zur Förderung gesellschaftlicher Sorgekultur in Wien. Kontakt: [email protected] Die Literaturliste kann beim Verfasser angefragt werden.

Ulrike Rastin

Anmerkung 1 Die Gesprächsausschnitte mit den sterbenden Menschen beziehen sich auf folgende Literatur: Heimerl, K.; Egger, B. (2021). Sterben ist schön und auch nicht schön. Erzählungen der Betroffenen zum Guten Sterben. In: Heimerl, K.; Egger, B.; Schuchter, P.; Wegleitner, K. (Hrsg.): Sterbewelten. Die Perspektive der Betroffenen auf ›Gutes Sterben‹ (S. 209–227). Esslingen. Die Namen der Interviewpartner:innen sind entsprechend der anonymisierten Auswertung der Studie Pseudonyme.

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Glück – Was ist es? Woher kommt es? Was können wir selbst zum Glücklichsein beitragen? Julia Edlinger Die innere Lebenskraft unserer äußeren Einflüsse »Wer ein Warum zum Leben hat, findet auch das Wie«, lässt sich Viktor Frankl in seinen Ausführungen in »… trotzdem Ja zum Leben sagen« (1946/2010) zitieren. Vor allem in unsicheren Zeiten, in Zeiten der Veränderung, in denen die Welt nicht mehr so ist, wie wir sie kennen, sind es die haltgebenden Elemente und der Wunsch nach Zufriedenheit, die uns Kraft und Zuversicht geben. Speziell in diesen Abschnitten suchen wir verstärkt unseren Platz, unser Glück und letztlich auch den Sinn im Leben, der uns die notwendige Stabilität gibt. Im Rahmen einer wissenschaftlichen Abschlussarbeit im Fach Angewandte Ethik untersuchte ich den Zusammenhang zwischen Glück und Würde in Bezug auf die vulnerable Gesellschaftsgruppe von Menschen mit Demenz. Glück und Würde sind auf den ersten Blick zwei Termini, die selten zueinander in Beziehung gesetzt werden. Es sind zwei Begriffe, denen viel Raum im gesellschaftlichen Kontext geschenkt wird, unabhängig voneinander. Vulnerable Gesellschaftsgruppen werden zumeist aus der Perspektive der Würde betrachtet. Dass Glück und der Zustand einer inneren Zufriedenheit dafür wesentlich sind, wird zumindest nicht offensichtlich thematisiert. Was ist Glück? Ist es ein bereits im Menschen vorhandenes Gut oder braucht es ein Zutun von außen? Glück ist ein intrinsischer Wert, der laut Wissenschaft erlernbar ist Die Wortbedeutung von Glück stammt aus dem Mittelhochdeutschen g­ elücke

oder (ge)lücke. Die ursprüngliche Bedeutung ist dabei auf den guten Ausgang eines Ereignisses oder einer von außen bestimmten Situation zurückzuführen. Dem Duden zufolge sei Glück eine »angenehme und freudige Gemütsverfassung, in der man sich befindet, wenn man in den Besitz oder Genuss von etwas kommt, was man sich ge­ wünscht hat; Zustand der inneren Befriedigung und Hochstimmung«. Die Vereinten Nationen (United Nations, UN), die das Glück als Konzept ganz­heitlicher menschlicher Entwicklung wahrnehmen, widmen dem Glück seit dem Jahr 2012 einen eigenen Glückstag. In den letzten Jahren wurden in der Wissenschaft umfangreichere und detailorientierte Untersuchungen zum Thema »Glück« durchgeführt. Esch (2012) nimmt in seinen Ausführungen an, dass Glück zu etwa 50 Prozent angeboren sei und der Mensch von Geburt an einen gewissen Glücks-Setpoint besitzt. Ihm zufolge werden lediglich 10 Prozent des persönlichen Glücks von der Umwelt bestimmt (vgl. Esch 2012, S. 100). Ähnliche Ergebnisse zeigen diverse Untersuchungen im Bereich der Zwillingsforschung: Aus den Minnessota-Zwillingsstudien von Lykken und Tellegen (1996) konnte geschlussfolgert werden, dass die Glücksrichtwerte zu einem erheblichen Teil durch unsere Gene beeinflusst sind. Jedoch sind diese Richtwerte nicht als starr anzusehen. Auf der einen Seite fungieren schlechte Gewohnheiten als »Glückskiller« (Stress, Überarbeitung, mangelnde Freizeitgestaltung, fehlende soziale Beziehungen), durch die Menschen unter ihren möglichen Glückswert fallen können. Auf der anderen Seite ist es möglich, durch gezielte Verhaltensänderungen die persönliche Glücksvarianz

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Dass Glück auf vielfältige Weise entstehen kann und aus einer inneren und äußeren Perspektive entsteht, zeigen die Thesen des Dalai Lama.

sich auch in den Ausführungen von Lykken und Tellegen (1996). Der Charakter und längerfristige positive Lebenseinstellungen sowie gezielte Verhaltensänderungen wirken auf das Glücksempfinden ein, der Zufall ist demgegenüber nur eine zeitweilige Erscheinung. Auch Lykken und Tellegen (1996) sprechen von so etwas wie einem angeborenen Happiness Setpoint. Dieser legt das Ausmaß des persönlichen Glücks bereits von Geburt an fest. Dabei soll sich dieser ähnlich auswirken, wie es zum Beispiel beim Körpergewicht der Fall ist. Auch trotz zahlreicher Diäten etc. pendelt sich der Mensch stets auf seinem biologischen Körpergewichts-­Setpoint ein. So ist das auch mit guten und schlechten Erlebnissen. Auch sie haben positive oder negative Auswirkungen auf das persönliche Befinden. Lykken und Tellegen (1996) zufolge ist dieser Zustand aber stets aus kurzfristiger Perspektive zu betrachten, da sich das Glück immer wieder auf seinen Normalzustand einpendelt (vgl. ARD-alpha 2021). Einen spannenden Vergleich positi-

Artemas Liu, 14th Dalai Lama, 2017 / Wikimedia Commons

zu steigern (vgl. Bucher 2018, S. 50). Lykken und Tellegen (1996) zufolge sind es die kleinen Freuden des Lebens, die glücklich machen und die in den Alltag integriert werden sollten, wie gutes Essen, im Garten arbeiten, Freizeit oder Zeit mit Freunden verbringen. Das eigene Glück kann »gepflegt« werden. Diese persönlichen »Glücklichmacher« sollten in kleinen Dosen regelmäßig »konsumiert« werden. In der Verbindung zwischen äußerem Einfluss auf den inneren Glücks-Setpoint bezieht sich Esch (2012) vor allem auf den Zufall. Es geht dabei zum Beispiel um Lebensumstände, in denen sich eine Person befindet, oder um Erfahrungen, die im bisherigen Leben gemacht wurden. Das kann etwa eine positiv bestandene Prüfung oder eine Beförderung sein. Diese Erkenntnis findet

Vo m U n - G l ü c k – G i b t e s G l ü c k i m L e i d ?

Das Modell des Flourishing beschreibt einen Prozess des Aufblühens, der ­Entfaltung des eigenen Potenzials und dient auch als Anregung zu einem Sinn­ findungsprozess bei der Suche nach dem persönlichen Glück.

Ulrike Rastin

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ver Glückselemente zeigt die Gegenüberstellung der Grundbedingungen der UN und jener diverser Glücksforscher*innen. Während sich die UN stark am Menschenrechtskontext orientiert, zeigen die Glücksforscher vor allem soziale Komponenten des Glücks auf, wie in der Tabelle (ARDalpha 2021) ersichtlich ist. United-Nations-Grundbedingungen für Glück

Glücksbedingungen der Glücksforscher

mindestens 2.500 Kalorien pro Tag

eine stabile Beziehung – H­ eiraten bringe noch ein Quäntchen mehr Glück

einen Wasserverbrauch von 100 Litern am Tag mindestens sechs Quadrat­ meter Wohnraum einen Platz zum Kochen eine sechsjährige Schulbildung

Freundschaft Geselligkeit Gesundheit einen den eigenen Fähig­ keiten entsprechenden Beruf auszuüben ausreichend Geld zur Er­ füllung der Grundbedürfnisse Kinder

Positive Psychologie, Buddhismus und die Thesen von Viktor Frankl Die Wichtigkeit sozialer Beziehungen und einer stabilen gesellschaftlichen Einbettung zeigt sich in Thesen der Positiven Psychologie und vor allem im Buddhismus. Wissenschaftler wie Ed Die-

ner (1994) oder auch Paul Wong (2010, 2021) bezeichnen das Glück als subjektives Wohlbefinden. Diener (1994) sieht das Glück/das subjektive Wohlbefinden sowohl auf einer globalen als auch einer persönlichen, individuellen Ebene angesiedelt, die die Lebensbereiche Familie/ Beziehungen, das Selbst, die Arbeit und die Gesundheit enthalten. Dass Glück auf vielfältige Weise entstehen kann und aus einer inneren und äußeren Perspektive entsteht, zeigen die Thesen des Dalai Lama (vgl. Cutler 2008; Dalai Lama und Cutler 2011). Soziale Beziehungen und stabile Wurzeln stellen einen wesentlichen Nährboden für das innere Wohlbefinden dar. Soziale Beziehungen und ein gesellschaftliches Miteinander sind es, die auch stürmische Zeiten überstehen lassen. Durch sie wird inneres Glück erschaffen, das sich negativen äußeren Einflüssen entgegensetzen kann. An dieser Stelle kann auf das Konzept der Resilienz verwiesen werden. Schwierige Lebenssituationen, die mit Leid und Schmerz in Verbindung stehen, können dem Dalai Lama und auch Viktor Frankl zufolge einen Prozess der Sinnfindung entstehen lassen. Einen Prozess, wie er auf andere Weise wohl nicht möglich wäre. Frankl (1946/2010) spricht in diesem Zusammenhang vom Willen zum Sinn. Er selbst, der einen Lebensabschnitt im Konzentrationslager verbrachte, zeigt auf, dass Glück auch unter widrigen Umständen erreicht und gefunden werden kann. Positive Emotionen und ein wohlwollendes Miteinander sind Schlüsselfaktoren, die sich auf die persönliche Lebenszufriedenheit auswirken. Auch hier wird die innere und äußere Komponente des subjektiven Wohlbefindens, des Glücks, angesprochen. Betrachten wir die thematisierten Richtungen noch einmal, lässt sich Folgendes erkennen:

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  4  /  2 0 2 2

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Glück entsteht aus einem Zusammenspiel von äußeren Komponenten und innerer Prägung. Beide Perspektiven sind unweigerlich miteinander verbunden. Es braucht Offenheit, Vertrauen in andere, um stabile soziale Beziehungen führen und aus diesen neues Wohlbefinden erlangen zu können. Positive Gefühle und tragfähige soziale Beziehungen sind wohl die wichtigsten Komponenten des persönlichen Aufblühpozentials. Hier ist auch das Modell des Flourishing zu nennen. Es beschreibt einen Prozess des Aufblühens, der Entfaltung des eigenen Potenzials und dient auch als Anregung zu einem Sinnfindungsprozess bei der Suche nach dem persönlichen Glück. Unser inneres Glück hat Aufblühpotenzial. Der Theorie zufolge braucht das Aufblühen drei Kerneigenschaften und mindestens drei zusätzliche Eigenschaften. Und auch hier sind es positive soziale Beziehungen, ein Eigeninteresse und die persönliche Sinnsuche, die die Kernelemente der Entfaltungstätigkeit darstellen.

Suche nach Sinn eine Richtung zu geben. Den Thesen Viktor Frankls (1946/2010) und des Dalai Lama (vgl. Cutler 2008; Dalai Lama und Cutler 2011) zufolge besteht das Leben aus einem wertebasierten Sinnfindungsprozess, der auch in widrigen Situationen von Krise, Leid, Trauer und empfundenem Unglück ein Glücksgefühl hervorbringen oder neu aufleben lassen kann. Laut Frankl braucht es letztlich »nur« den Willen zum Sinn, um auch in schlechten Zeiten neue Kraft zu schöpfen und Glück empfinden zu können.

Schlussendlich – was verstehe ich unter Glück?

ARD-alpha (2021). Glücksforschung. Was uns wirklich ­glück­lich macht. https://www.br.de/wissen/glueck-gluecksforschung-gluecklich-weltglueckstag-tag-des-gluecks-106. html (Zugriff am 02.09.2021). Bucher, A. A. (2018). Psychologie des Glücks. Weinheim. Cutler, H. C. (2008). Dalai Lama. Die Regeln des Glücks. Bergisch Gladbach. Dalai Lama; Cutler, H. C. (2011). Glücksregeln für eine verunsicherte Welt. Freiburg, Basel, Wien. Diener, E. (1994). Assessing subjective well-being: Progress and opportunities. In: Social Indicators Research, 2, 31, 2. Edlinger, J. (2021). »Glückliche Würde« oder »Würde voller Glück«. Glück und Würde von Menschen mit Demenz. Masterarbeit, Universität Graz. Esch, T. (2012). Neurobiologie des Glücks. Wie die Positive Psychologie die Medizin verändert. Stuttgart, New York. Frankl, V. (1946/2010).  … trotzdem ja zum Leben sagen. München. Glücksinstitut Berlin (o. J.). Was ist Glück? https://www. gluecksinstitut.eu/ (Zugriff am 08.09.2021). Lykken, D.; Tellegen, A. (1996). Happiness is a stochastic phenomenon. Research report. In: American Psychological Society, 7, 3, S. 186–189. Wong, P. T. (2010). The PURE strategy to create lean and excellent organizations. http://www.drpaulwong.com/thepure-strategy-for-organizational-excellence/ (Zugriff am 31.08.2021). Wong, P. T. (2021). The Positive Psychology of Meaning in Life and Well-Being. http://www.drpaulwong.com/thepositive-psychology-of-meaning-in-life-and-well-being/. (Zugriff am 31.08.2021).

Julia Edlinger, BA Bakk.phil. MA MA MA, ist Sozialpädagogin im Kinder- und Jugendbereich, Ethikerin, Absolventin der Global Studies mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung, Glücks- und Mentaltrainerin, Marte Meo Practitioner und Mediatorin in Ausbildung. Kontakt: [email protected]

Literatur

Die Begrifflichkeit und das Verständnis von Glück werden als Form des subjektiven Wohlbefindens definiert, als ein Zustand, der durch Sinnfindung und positive Lebensgestaltung gefunden und gehalten werden kann. Das Glück beinhaltet zahlreiche Faktoren, die von außen zugeführt, die durch innere Einstellungen positiv internalisiert werden und so das persönliche Glück bereichern. Ihre Kraft lässt sich auch unter widrigen Lebensumständen neu definieren. Inneres Glück ist mehr als ein Tautropfen, der nach kurzer Zeit wieder verschwindet. Es ist ein dauerhafter Nährboden, der dem Menschen dazu verhilft, aus sich selbst wie ein Samenkorn heraus- und heranzuwachsen. Glück stärkt die eigenen Fähigkeiten, seinen Lebensalltag aktiv und bewusst wahrzunehmen und diesen zu gestalten. Innere Widerstandskraft und ein guter (annehmender) Umgang mit persönlichen Krisen sind ein Weg, der

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Jenseits des Glücks Warum Glück weniger mit Umständen und mehr mit dem Innenleben zu tun hat

Esther Pauchard Glücklich, so die landläufige Überzeugung, ist der, der am meisten Glück hat. Am meisten Geld, am meisten Erfolg, blendendes Aussehen, strotzende Gesundheit, eine strahlende Familie, einflussreiche Freunde. Glück, das ist die Summe von glücklichen Umständen. Oder? – Oder nicht? Wir kennen sie alle, die Reichen und Berühmten, die trotz Vermögen und jubelnden Fans ins Bodenlose fallen, süchtig und depressiv werden. Die Schönen und Gesunden, die missmutig und vorwurfsvoll durchs Leben stapfen, die Erfolgreichen und Geachteten, die sich erschöpfen, weil Macht und Erfolg unersättlich sind, weil es nie genügt. Die Mäkler, die Kritiker, die ewig Suchenden. Und wir kennen auch die anderen. Die vom Schicksal Geschlagenen, die immer das Gute sehen, diejenigen, die Misserfolge lachend abschütteln, solche, die noch im Sterbebett die Schönheit eines Sommerhimmels genießen können. Die unbegreiflich, unerschütterlich Zufriedenen. Mich selbst gibt es in unterschiedlichen Versionen, je nach Stimmung. An schlechten Tagen schlurfe ich bedrückt und gebeugt umher, in banger Erwartung dessen, was der Alltag mir anzutun gedenkt. Unzufrieden richte ich mein Augenmerk auf die zahlreichen unerledigten Angelegenheiten, Belastungen und Ärgernisse, die meinen Weg säumen. Mit pingeliger Präzision finde ich das Haar in der Suppe – mehr noch, ich spanne es auf und rahme es ein, leuchte es optimal aus, mache es zum Mittelpunkt meines Lebensgefühls. An guten Tagen jedoch ist mein Schritt leicht, meine Miene heiter, der Rücken schnurgera-

de. Beschwingt streift mein Blick umher, findet Schönheit überall, und was nicht schön ist, ist zumindest amüsant. Die Menschen, denen ich begegne, sind alle liebenswürdig, mein Herz ist weit offen. Mein Alltag, was er auch bringt, ist ein Spiel, das ich nur gewinnen kann. Unnötig zu erwähnen, in welcher Version ich mich wohler fühle. Wetter versus Klima Launen und Stimmungen sind wie das Wetter – unberechenbar und wechselhaft, überraschend, chaotisch. Es lohnt sich nicht, sich über das Wetter aufzuregen, man muss es nehmen, wie es kommt. Anders indes ist es mit dem Klima – der Langzeitperspektive, dem tiefgründigen Boden, auf dem das Wetter entsteht. Das Klima hält sich dezent zurück, ist nicht direkt messbar, nur über lange Zeit statistisch erfassbar. Aber es hat einen machtvollen Einfluss. Warum komme ich Ihnen mit meteorologischen Spitzfindigkeiten? Weil es mit der menschlichen Psyche ganz ähnlich ist. Unsere Haltungen und Grundüberzeugungen sind es, die den Nährboden unserer täglich wechselnden Gemütslagen, also unseres psychischen Wetters bilden. Und diese Haltungen sind ebenso schlecht fassbar wie das Klima. Und hier beginnt es bereits, schwierig zu werden. Habe ich Haltungen und Grundüberzeugungen? Wo in meiner Psyche, in welcher versteckten, unzugänglichen Schublade finde ich die?

Schöne Begeg­gespürt … haft erleben konnte. sc ich ein be m ha Ge id e wi Le s im wa k Glüc in Kontakt mit mir eder so et ließen mich wieder nnes in einer Reha wi en Ma nk es tri ls ein tai m d ck To Co d m undschaften … gehen un »als ich nach de gen entstanden Fre te Gespräche, Essen un gu gn e, ge ng Be gä n ier de az s Sp Au , it. nungen, Lachen wieder frei und befre es) fühlte mich erstmals dem Tod ihres Mann ch na te na Mo selbst kommen. Ich 14 e, hr Ja 77 di, or barkeit.« (S Glück für mich. Dank

Unbewusst Wenn wir vom »Unbewussten« sprechen, denken wir vielleicht an Sigmund Freud, an die geheimnisvollen, ein wenig bedrohlichen Unterwelten unserer Psyche. Man kann dieses Unbewusste allerdings auch pragmatisch sehen – als Stromsparmodus. Unser Gehirn, das keine zwei Kilogramm wiegt, verbraucht immerhin satte zwanzig Prozent unserer Körperenergie. Kein Wunder also, dass es dem Körper ein Anliegen ist, im Bereich des Zentralnervensystems energiesparende Prozesse zu bevorzugen – Prozesse, die kein aktives Bewusstsein erfordern. Sie kennen das – man beherrscht das Zehnfingersystem, hat aber bei genauerem Nachdenken keine Ahnung, wo auf der Tastatur sich die einzelnen Buchstaben befinden. Man ist mit dem Auto unterwegs und muss nach einer Weile feststellen, dass man eine ganze Strecke gefahren ist, an die man sich nicht erinnert. Und häufig genug muss ich abends prüfen, ob meine Zahnbürste nass ist, um zu wissen, ob ich mir schon die Zähne geputzt habe. Weil all das automatisch läuft. Und damit energiesparend. Allerdings, und das ist die Krux am Ganzen, werden nicht nur simple, alltägliche Tätigkeiten zu unbewussten Gewohnheiten gemacht. Sondern auch unsere Haltungen und Grundüberzeugungen. Und wenn wir denen auf die Spur kommen, wenn wir die im Maximalfall sogar verändern wollen, dann ist es so, wie wenn wir einen stockdunklen Keller betreten, um etwas zu reparieren. Damit unsere Reparatur gelingen kann, brauchen wir Licht, den hellen Strahl einer starken Taschenlampe. Und dieses Licht ist unser aktives Bewusstsein, unsere Aufmerksamkeit. Es kann ganz schön schwierig werden, an unser Innenleben heranzukommen, zu ergründen, wie denn diese Grundgedanken über das Leben in uns aussehen. Ist uns Leistung besonders wichtig? Oder Freundlichkeit und Anstand? Den-

ken wir, wir müssten alles allein schaffen? Sind wir Optimisten oder Pessimisten, sehen wir die Welt als freundlich oder als bedrohlich an? Was ist der Sinn und Inhalt unseres Lebens, unserer Existenz? Solche Fragen sind es, die unser Binnenklima prägen. Die mit darüber entscheiden, wie unsere Stimmungen aussehen, ob unser Glas halb voll oder halb leer ist, ob unser Auge eher die Schönheit sieht oder die Gefahr. Worauf wir unser Augenmerk richten, was wir wie bewerten. Und im Endeffekt, wie glücklich wir sind. Halt, halt!, mögen Sie hier einwerfen. Das ist ja gut und recht für unbedeutende Alltagsdinge, für unsere Stimmungen und Launen. Aber wenn es um die wirklich großen, gewichtigen Dinge im Leben geht, dann spielt die Haltung keine Rolle mehr, nicht wahr? Die Dinge sind einfach, wie sie sind, objektive Realität. Wer krank ist, dem geht es schlecht, das ist ein Fakt, daran ist nicht zu rütteln. Aber ist dem wirklich so? Placebo und Nocebo Bedenken Sie, dass alle großen medizinischen Studien heute Placebo-kontrolliert sind. Das heißt, dass man die Wirksamkeit eines neuen, zu prüfenden Wirkstoffs nicht nur mit einer Patientengruppe vergleicht, die gar kein Medikament bekommt, sondern auch mit Patienten und Patientinnen, die ohne ihr Wissen ein Placebopräparat einnehmen, also ein Scheinmedikament, das keinen Wirkstoff enthält. Würde man den Placeboeffekt nicht beachten, dann würde er die Studienresultate verfälschen. Das Wissen um den Placeboeffekt gehört zu unserem Alltag, unserer medizinischen Realität. Und Placebo bedeutet vor allem eines: positive Erwartungen. Eine Patientin, die sich wohlgemut und furchtlos einer Operation unterzieht, hat eine bessere Prognose als ein Patient, der von Zweifel

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Paul Klee, Was ein Mädchen unwissend mit sich bringt, 1915 / akg-images

Es kann ganz schön schwierig werden, an unser Innen­ leben heranzukommen, zu ergründen, wie denn diese Grundgedanken über das Leben in uns aussehen.

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und Ängsten geplagt ist. Wer einem neuen Medikament misstraut und sich innerlich gegen die Einnahme auflehnt, wird mehr Nebenwirkungen erleben als jemand, der absolut überzeugt ist, dass das Mittel ihm helfen wird. Eine einschneidende Diagnose trägt sich leichter mit einer optimistischen Grundhaltung, eine belastende Behandlung wird besser wirken und weniger Probleme bereiten, wenn der Patient zuversichtlich ist. Placebo ist ein machtvolles Werkzeug. Aber wir dürfen nicht vergessen: Nocebo, der Einfluss von negativen Erwartungen und Angst, ist es auch. Deshalb lohnt es sich, unseren Erwartungen auf die Finger zu schauen, uns unserem Innen­ leben zu widmen, uns mit unseren Haltungen und Grundüberzeugungen vertraut zu machen und im Bedarfsfall eine neue Wahl zu treffen. Nur – wie machen wir das? Wie verändern wir Automatismen? Sie mit der Taschenlampe zu beleuchten, sie uns bewusst zu machen, ist das eine – aber wie revidieren wir sie? Haltungen verändern in drei Schritten Darf ich Ihnen dazu ein Vorgehen in drei Schritten empfehlen? Schritt eins – nehmen Sie Ihre Gefühle, Gedanken, Haltungen und Erinnerungen, wie sie sind. Zensurfrei, ungeschönt, unverfälscht von dem ständigen »Aber ich sollte doch« oder »es müsste«. Machen Sie eine ehrliche Auslegeordnung. Akzeptieren Sie das, was ist, und legen Sie es vor sich auf den Tisch. Schritt zwei – seien Sie freundlich zu sich selbst. Legen sie die Peitsche weg, hören Sie auf, sich fertigzumachen, weil Sie wider Erwarten »nicht einfach drüberstehen« oder »es endlich in den Griff bekommen«. Behandeln Sie sich selbst wie einen guten Freund, geben Sie sich Zeit, gestehen Sie sich zu, nicht perfekt zu sein. Schritt drei – treten Sie ein Stück zurück, nehmen Sie Abstand. Schauen Sie sich Ihre Auslegeordnung einmal an und wählen Sie: Was will ich

ändern? Wie soll mein Ziel aussehen? Wo will ich hin? Und wenn Sie diese Wahl getroffen haben, richten Sie sich auf Ihr Ziel aus. Starren Sie nicht mehr auf die Probleme, die ungeliebte Haltung, sondern schauen Sie in Richtung Ziel. Malen Sie sich aus, wie es sein wird, wenn Sie es erreicht haben. Und jetzt die unschöne Nachricht: Eine Haltungsänderung klappt nicht nach einem einzigen Durchlauf. Auch nicht nach fünf oder zehn. Denken Sie daran: Wir reden hier von Gewohnheiten, und wir wissen alle, wie »leicht« sich Gewohnheiten ändern lassen – es ist harte Arbeit. Machen Sie diesen Prozess immer wieder, unbeirrt, unaufgeregt: Auslegeordnung, freundlich sein, sich aufs Ziel ausrichten. Schon wieder ins alte Muster zurückgefallen? Auslegeordnung, freundlich sein, aufs Ziel ausrichten. Immer und immer wieder. Und dann, nach 88 oder 127 Durchgängen, werden Sie merken: Etwas hat sich verändert. Und dort beginnt die Magie. Glücklich ist nicht der, der in den besten Umständen lebt. Glücklich ist der, dessen innere Haltung auf Glück ausgerichtet ist. Die Optimistin, die das halbvolle Glas feiert. Der Entschlossene, der sich stur auf sein Ziel ausrichtet statt auf Hindernisse und Probleme. Die Neugierige, die das Leben in all seinen Facetten und Farben genießt und auskostet – nicht nur das Sonnengelb und Grasgrün und Himmelblau, sondern auch das Anthrazitgrau und das Schlammbraun. Investieren Sie in Ihr Innenleben. Sie selbst sind Ihre wichtigste Ressource, die unverzichtbarste Zutat zum Glück. Dr. med. Esther Pauchard ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und arbeitet als leitende Ärztin an einer ambulanten Suchtfachstelle in Thun/ Schweiz. Außerdem schreibt sie Kriminalromane, die allesamt im psychiatrischen und medizinischen Milieu spielen (ihr aktuelles Buch ist »Jenseits der Gier«). Kontakt: [email protected] Website: www.esther-pauchard.ch

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Die (un-)glückliche Begleitung »Kleiner Geburten« Corinna Hansen-Krewer im Gespräch mit Sylvia Brathuhn von Leidfaden Wie fühlt es sich an, wenn das Kennenlernen des eigenen Kindes gleichzeitig auch den endgültigen Abschied bedeutet? In einem Interview erzählt Co­ rinna Hansen-Krewer, wie sie es geschafft hat, den Tod ihrer Kinder zu überleben und in allem Un­ glück Kraft, neuen Mut und auch Glück zu fin­ den, um anderen Frauen in der gleichen Situa­ tion zu helfen. Sylvia Brathuhn: Liebe Corinna, vielleicht stel­ len Sie sich zunächst vor? Corinna Hansen-Krewer: Ich heiße Corinna Hansen-Krewer, bin 38 Jahre alt und wohne in einem kleinen Dorf an der Mosel in der Nähe von Trier, wo ich als Doula1, Autorin und Fotografin arbeite. Ich bin Mama zweier Kinder an der Hand und mehrfache Sternenmama. In meinem Buch »Stille Geburten sind auch Geburten und Sterneneltern sind auch Eltern« habe ich ausführlich beschrieben, was der Tod unserer Kinder mit mir gemacht hat und warum ich meinen verstorbenen Kindern auch ein Stück weit dankbar bin. Heute begleite ich als Doula Frauen bei ihren Kleinen Geburten und versuche über Missstände im Bereich Kleine und Stille Geburten aufzuklären, um betroffenen Frauen bessere Begleitbedingungen zu ermöglichen. Sylvia Brathuhn: Laut gesetzlicher Regelung wird von einer »Fehlgeburt« gesprochen, wenn das Baby vor der 24. Schwangerschaftswoche tot gebo­ ren wird und/oder das Geburtsgewicht des Kindes 1

Eine Doula (griechisch »Dienerin«) ist eine nichtmedizinische Geburtsbegleiterin. Sie konzentriert sich auf die Bedürfnisse der Mutter, gibt Halt und unterstützt sie in Richtung selbstbestimmter Geburt.

unter 500 Gramm liegt. Bei einer Totgeburt wiegt das Kind mindestens 500 Gramm und ist im Mut­ terleib oder während der Geburt verstorben. Was bedeuten diese Zahlen hinsichtlich des Verlustemp­ findens der Mutter bzw. der Eltern? Corinna H.-K.: Ich persönlich empfinde, dass der erlittene Verlust und die damit einhergehende Trauer nicht an Schwangerschaftswochen und Grammzahlen gemessen werden können. Das impliziert unterschwellig, dass es Bedeutungsunterschiede im Verlust gibt, was ja auch dadurch gekennzeichnet ist, dass es keine Statistiken über den frühen Schwangerschaftsverlust gibt. So gibt es erst eine Bestattungspflicht ab der 24. Schwangerschaftswoche und ab 500 Gramm Körpergewicht. Nach der Kleinen Geburt gibt es zwar ein Bestattungsrecht, jedoch keine verbindlichen ethischen Regeln und so landen noch immer im Grunde viel zu früh gestorbene Babys im Klinikmüll. Das darf nicht sein. Auch ein früher Kindverlust ist ein Unglück für die betroffene Frau und muss ernst genommen werden. Sylvia Brathuhn: Wann stand für Sie fest, dass die Notwendigkeit geboten war, den Frauen Optio­ nen und vor allen Dingen Zeit zum Verabschieden und Trauern anzubieten? Corinna H.-K.: Sehr schnell. Ich empfand und empfinde es als Katastrophe, dass betroffenen Frauen erst die Schockdiagnose des Schwangerschaftsverlustes mitgeteilt wird und sie dann wenig Zeit bekommen, das Geschehene zu realisieren sowie zu verstehen. Ich höre immer wieder von Frauen, dass ihnen emphatische Begleitung gefehlt habe, dass ihnen signalisiert wurde, die Ausschabung sei ein kleiner Rou­tine­eingriff,

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Corinna Hansen-Krewer

Es wichtig, dass die Angst nicht überhandnimmt, und das passiert oft, wenn das Ungewisse zu groß ist. Zu wissen, was sie vorbereiten müssen, wie der ungefähre Ablauf sein würde, macht den Frauen Mut, gibt ihnen Halt und Sicherheit.

den sie schnell hinter sich bringen könnten. Natürlich werden die Frauen auch darüber aufgeklärt, dass bei diesem Eingriff auch weitere gesundheitliche Konsequenzen entstehen können, jedoch kommen diese Worte kaum bei den Betroffenen an. Sie befinden sich im Ausnahme­ zustand. Sylvia Brathuhn: Als Doula sind Sie nichtmedi­ zinische Geburtsbegleiterin. Wenn nun die Schock­ diagnose gestellt wurde, wie wichtig ist dann me­ dizinische Unterstützung?

Corinna H.-K.: Medizinische Unterstützung ist wichtig. Ich ermutige und empfehle den Mamas, immer in Kontakt mit ihrem Frauenarzt zu stehen und sich eine Hebamme zu suchen, die sie adäquat begleiten kann. Hier gibt es leider auch ernüchternde Erfahrungen für die Frauen: Sie treffen Frauenärzte, die sie nicht weiterbehandeln wollen, oder Hebammen, denen es beispielsweise an dem Wissen fehlt, dass sie keine zusätzliche Versicherung benötigen, um Kleine Geburten begleiten zu können. Hier gibt es noch viel an Aufklärungsarbeit zu leisten.

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sich die Frauen nicht überlasten, ihrer Seele und auch ihrem Körper Ruhe gönnen. Schließlich hat der Verlust des eigenen Kindes eine Verletzung im Herzen und die Plazenta eine kleine Wunde in der Gebärmutter hinterlassen. Sylvia Brathuhn: Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie aus Ihren eigenen Erfahrungen Erkennt­ nisse gesammelt, die Sie nun als Doula unterstüt­ zend an andere Frauen weitergeben? Corinna H.-K.: Mit der Zeit habe ich festgestellt, dass die Frauen, die von mir vorbereitet, aufgeklärt und begleitet wurden, immer gewisse Phasen durchlaufen. Ich nenne sie »Hinleitungsphasen der Kleinen Geburt«:

Corinna Hansen-Krewer

Sylvia Brathuhn: Nach einer Geburt wird vom Wochenbett gesprochen. Wird dieses auch nach Kleinen Geburten von den Frauen erlebt? Corinna H.-K.: Ja. Auch nach Kleiner Geburt durchlaufen die Frauen das Wochenbett. Es ist ein Trugschluss, davon auszugehen, dass nur Frauen mit einem lebendigen Kind ein Wochenbett haben. Ganz im Gegenteil, gerade in der Frühschwangerschaft erreicht das HCG (Schwangerschaftshormon) seinen Höhepunkt. Durch den Schwangerschaftsverlust wird die Produktion dieses Hormons umgehend eingestellt. Die Rückbildung dauert jedoch einige Zeit, was die Frauen natürlich zu spüren bekommen, körperlich sowie seelisch. Es ist hier wichtig zu wissen, dass

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U Schock – Diagnose des fehlenden Herzschlags U Verdrängung U Wut U Akzeptanz U Aktive Suche nach möglichen Wegen U Frustration U Angst U Zurück in die Kraft U Kleine Geburt U Wochenbett Diese Schritte dienen mir und den betroffenen Frauen als Orientierungshilfe. Ich habe diese zehn Phasen ausgearbeitet, beschreibe die damit einhergehenden Emotionen und den jeweiligen körperlichen Zustand, in dem sich die Frauen in den unterschiedlichen Phasen befindet. Ich zeige ihnen Fotos von der Blutmenge, die sie erwartet, Fotos von Fruchthöhlen und Embryos. Mir ist es wichtig, dass die Angst nicht überhandnimmt, und das passiert oft, wenn das Ungewisse zu groß ist. Zu wissen, was sie vorbereiten müssen, wie der ungefähre Ablauf sein würde, macht den Frauen Mut, gibt ihnen Halt und Sicherheit. Es ist unterschiedlich, wie lange es dauern wird, bis die Kleine Geburt stattfindet. Wenn sie (auch) emotional gut begleitet werden, können die Frauen während dieser Zeit in Kontakt mit dem eigenen Körper gehen, Kontakt zum Kind aufnehmen und sich auf diese Weise nochmal intensiv mit ihrem Kind verbinden. In meiner Tätigkeit als Doula erlebe ich, dass der Moment, in dem Frauen aussprechen können, dass sie es geschafft haben, dass sie unter Wehen ihr Kind geboren und aufgefangen haben, ein besonderer ist. Sylvia Brathuhn: Sie bieten auch unter dem Ti­ tel »Emotionale Begleitung Kleiner Geburten« Fort­ bildungen für Fachpersonal an. Wie dürfen wir uns das vorstellen und wird es auch angenommen? Corinna H.-K.: Durch viel Austausch und Gespräch, vor allen Dingen mit jungen, werdenden Hebammen und Krankenschwestern, wurde mir

bewusst, dass ich da ansetzen möchte, wo Defizite liegen. Daher arbeitete ich eine Fortbildung für Fachpersonal über die »Emotionale Begleitung Kleiner Geburten« aus, in der ich meine Arbeit mit Frauen über ihre Kleinen Geburten präsentiere, erläutere, wie die Frauen auf meine emotionale Unterstützung reagieren und was es eben für gravierende Unterschiede macht, wenn eine Frau gehalten und selbstbestimmt – auch wenn es viel zu früh ist – gebären darf. Gerade bei jungem Personal ist das Interesse tatsächlich groß, was mich wirklich von Herzen freut, weil genau dieses Personal die Welt für Sterneneltern verändern wird. Sylvia Brathuhn: Ihr Schlusswort, liebe Corinna? Corinna H.-K.: Ich wünsche mir, dass es bei Kleinen Geburten selbstverständlich wird, dass die jeweilige Frau Ruhe und Zeit braucht, damit sie in Verbindung mit ihrer inneren Kraft treten kann. Diese Zeit wird benötigt, um loszulassen und zu trauern. Erhält die Frau diese Ankommens- und Realisierungszeit, dann kann es ihr gelingen – wenn auch langsam –, wieder Vertrauen in ihren Körper aufzubauen. Fühlen und Verstehen sind Bedingungen, den erlittenen Verlust in das eigene Leben zu integrieren sowie Kraft und Zuversicht für das weitere Leben zu entwickeln. Sylvia Brathuhn: Herzlichen Dank für das Ge­ spräch, liebe Corinna, und viel Gutes für Sie und alle betroffenen Frauen und Familien! Corinna Hansen-Krewer ist Doula, Fo­ to­grafin, Autorin. Kontakt: [email protected] Website: www.soul-feelings.de

Literatur Hansen-Krewer, C. (2021). Stille Geburten sind auch Geburten und Sterneneltern sind auch Eltern. Norderstedt.

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Psalm einer Trauernden Christina Paul Mir ist so schwer, Herr. Herr, siehe meinen Schmerz. Lass Gnade walten über meine Ungeduld, meine Unvollkommenheit, meine Klage, meine Unehrlichkeit, mein Verzagen, meine Lieblosigkeit, mein Fehlen zu Zeiten, wo ich gebraucht worden wäre. Oh Herr, mein Herz zerreißt, mein Schmerz findet keinen Ort, möchte ruhen bei Dir. Wo finde ich Halt, ein Ohr? Alles zerrinnt. Mein Körper schmerzt und weiß nicht wohin. Mir ist so schwer, Herr. Herr, schenke mir eine Antwort. Wo ist der Sinn? Lass Gnade walten über meine Fragen, meine Zweifel und Ängste. Herr, schenke mir Trost. Ich suche ihn durch Gebet und Natur, suche ihn, den Trost, den Du mir versprachst. Der Tod, er ist mächtig, endgültig und stark. Herr, siehe meinen Schmerz. Mir ist so schwer, Herr.

Glück im Leid ist für mich: »die Glocken eines Kirchturmes zu hören: Die Ge­ wissheit der Wiederholung gibt mir Halt; der Klang erhebt meine Seele, mein Blick richtet sich auf und der Rhythmus spiegelt das Vertrauen ins Leben.«

Überall Wolken, Groll, Dunkel und Neid in mir. Herr, Du bist mächtig. Nimm mir meinen Schmerz, zeige Deine Güte. Lass Gnade walten über mein Leid. Ich bitte um Erbarmen, mach mich heil, rette mich Herr, vor dem Untergang. Mir ist so schwer, Herr. Herr, ich preise Deine Werke: die Sonne, die Bienen, die Blumen, den Wind. Nahrung sollen sie sein, für mich. Ich möchte Dich loben und preisen, mein Herr, für Deine Werke, meinen Verlust. Mir ist so schwer, Herr. Du sollst meine Quelle sein, schenke mir Wasser, stille meinen Durst. Mir ist so schwer, Herr! Unsere Zeit steht in Deinen Händen. Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste, wie es war am Anfang, so auch jetzt und allezeit und in Ewigkeit. Amen. Christina Paul, Trauerbegleiterin (BVT), ist Koordinatorin der Ökumenischen Hospizgruppe Kaiserswerth e. V., Düsseldorf.

The Lord gave … / Photo © Hilary Morgan / Bridgeman Images

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Wenn der Anfang auch das Ende ist Umgang mit perinatalem Kindstod aus Hebammensicht

Madlaina Zindel und Anna Margareta Neff Wie nach jeder Geburt machte ich gemeinsam mit Familie M. Fußabdrücke ihres neugeborenen Kindes. Die junge Mutter hielt ihre kleine Tochter in den Armen und ich stempelte beide Füßchen auf das Willkommenskärtchen. Daneben notierte ich ihr Gewicht und ihre Länge. 2980 Gramm schwer und 48 cm lang. Gemeinsam staunten wir über die zwei langen großen Zehen von Luisa. »Genau wie die meinen!«, meinte der Vater. Und dann kullerten wieder die Tränen. Luisa kam tot auf die Welt – ihr kleines Herz hatte kurz vor dem Geburtstermin im Bauch ihrer Mutter aufgehört zu schlagen. Perinataler Kindstod Familie M. war eine von 549 Familien in der Schweiz, die ihr Kind im Jahr 2020 am Lebensanfang verloren haben (Bundesamt für Statistik BAG)1. Mit perinatalem Kindstod sind Kinder gemeint, die während der zweiten Schwangerschaftshälfte bis 7 Tage nach der Geburt versterben (Bundesamt für Statistik  BAG)2. Die Gründe sind vielschichtig: Eltern erfahren vor der Geburt, dass ihr Kind nicht lebensfähig ist, das Kind kommt zu früh auf die Welt, so dass es nicht überleben kann, oder es verstirbt im Mutterleib, wie bei Familie M. Das erste Mal traf ich Frau M. bei einer Schwan­gerschaftskontrolle im neunten Monat. Zu Hause war alles vorbereitet für das neue Familienmitglied und die Vorfreude groß. Da sie ihr ungeborenes Kind seit letzter Nacht nicht mehr spürte, meldete sich Frau M. auf der Ge-

burtsabteilung. Beim Abtasten des schwangeren Bauches von Frau M. konnte ich keine Kindsbewegungen wahrnehmen. Der Ultraschall bestätigte, was die Schwangere bereits ahnte: Das Herz ihres ungeborenen Kindes hatte aufgehört zu schlagen. Ihr Baby war verstorben. Die Welt von Familie M. brach zusammen. Was ist passiert? Wie geht es nun weiter? So viele Fragen waren im Raum. Mehrmals fragte der werdende Vater, ob nicht doch noch Hoffnung bestehe, dass sein Kind lebe, und es ein technischer Fehler im Ultraschall sei. Frau M. verlangte, dass sofort ein Kaiserschnitt durchgeführt werde, um das tote Kind aus ihr herauszuholen. Der Gedanke an ein verstorbenes Kind im Bauch war für sie unerträglich. Es war nun die Aufgabe von uns Hebammen und Ärztinnen, Frau M. und ihren Partner nach dieser Schocknachricht aufzufangen und mit ihnen zu schauen, wie es weitergeht. Innehalten und da sein Als Erstes rief ich mir in Erinnerung: Für das ungeborene Kind können wir medizinisch nichts mehr tun. Ich habe nun ein Paar vor mir, das gerade erfahren hat, dass ihr Kind gestorben ist. Zwei Menschen im Schock, die noch gar nicht realisieren, was geschehen ist. Es folgten Stunden tiefer Trauer, Wut, Hilflosigkeit, Fragen. Es war nicht einfach, die Wucht dieser Gefühle mitauszuhalten und gleichzeitig das Paar so behutsam wie möglich immer wieder zu ihrem Kind zu führen. Ihr Kind, das noch nicht sichtbar und trotzdem ihr Kind war und bald auf die Welt kommen würde. Schließ-

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Oft erleben Fachpersonen in der Begleitung betroffener Familien eine große eigene Hilf- und Machtlosigkeit. Alle Beteiligten suchen einen Weg aus dieser großen Notlage. Nicht selten ergibt sich daraus ein Aktionismus. Wie bei Frau M. ist es häufig die erste Reaktion von betroffenen Frauen, dass sie ihr Kind so rasch als möglich »weghaben« wollen. Lange Zeit wurde diesem mitten im großen Schock geäußerten »Wunsch« entsprochen und die schwangere Frau so schnell wie möglich entbunden. Das Kind wurde danach »wegge-

bracht«, ohne Namen, ohne noch ein Wort über das Kind zu verlieren. Die Idee war, dass dies für die verwaiste Mutter am schonendsten war und jeder weitere Kontakt oder Hinweis zum Kind eine Traumatisierung bedeuten würde. Heute wissen wir, dass solche medizinischen Beschleunigungen oder Tabuisierungen schädlich sein können. Der folgende Trauerprozess wie auch die körperliche und psychische Gesundheit können so zusätzlich schwer belastet werden. Aushalten und Bindung zumuten Auch die Fachperson muss aushalten: Ein Kind ist gestorben. Da kann nichts mehr behandelt oder geheilt werden. Der perinatale Kindstod bedeutet in der Regel eine große psychische Krise für die Betroffenen, ist jedoch im Allgemeinen kein medizinischer Notfall. Es ist hilfreich, wenn sich Be-

Nathalie Mäusli

lich fühlte sich Familie M. bereit, nochmals nach Hause zu gehen, mit ihrer ungeborenen, verstorbenen Tochter. Eine auf Trauerbegleitung spezialisierte Hebamme wurde organisiert, die zum Paar nach Hause ging und das Paar bis zur Geburt und im Wochenbett danach begleiten würde.

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gleitende wieder am Kontinuum von Schwangerschaft – Geburt – Wochenbett orientieren. Was wäre vorgesehen, wenn das Kind noch leben würde? Wo im Kontinuum befindet sich die werdende Mutter?

Durch den unerwarteten Tod ihres Kindes erfahren die werdenden Eltern zwei existenzielle

Momente gleichzeitig: geboren werden und sterben. Es stirbt ein Mensch, den man noch kaum gekannt hat. So ist es von Bedeutung, das verstorbene Kind zuerst willkommen zu heißen und kennenzulernen, bevor es verabschiedet werden kann. Diese gemeinsamen Erinnerungen sind für den weiteren Weg der Eltern zentral. So kann eine Bindung zum verstorbenen Kind entstehen. Wesentlich ist, dass Eltern nicht im Schock Entscheidungen treffen, und auch, dass sie nicht allein gelassen werden.

Acht Tage nachdem das Herz von Luisa zu schlagen aufgehört hatte, fühlte sich das Paar bereit für die nächsten Schritte. Sie kamen für die Geburtseinleitung ins Spital. Es war viel geschehen in der Zwischenzeit. Die werdenden Eltern haben einen für sie gangbaren Weg gefunden, wie sie ihre Tochter auf dieser Welt willkommen heißen und die erste – und ein-

zige – Zeit mit ihrem Kind verbringen wollten. Nach viel Ringen, langen Gesprächen, gemeinsamen Spaziergängen und mit der Begleitung einer erfahrenen Hebamme und Trauerbegleiterin. Trotz großer Trauer schien das Paar wieder etwas Vertrauen gefunden zu haben. Schließlich wurde ihre Tochter Luisa geboren. »Sie schreit wirklich nicht, sie ist wirklich

Daniela Friedli

Erinnerungen schaffen für den weiteren Weg

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  4  /  2 0 2 2

We n n d e r A n f a n g a u c h d a s E n d e i s t    6 1

tot«, bemerkte der Vater. Es schien, als konnte er erst jetzt wirklich glauben, dass seine Tochter verstorben war. Frau M. nahm ihre Tochter in die Arme, weinte und lächelte gleichzeitig. »Wie wunderschön du bist, meine geliebte kleine Luisa.« Sie setzte ihr eine Mütze auf, die sie in dieser so schwierigen und kräftezehrenden Woche für ihre Tochter gestrickt hatte. »Mit jeder Masche floss eine Träne der Liebe«, sagte die junge Mutter. Auch mir lief eine Träne über die Wange. Es sind Momente wie diese, die man als Hebamme nie vergisst.

Auch Fachpersonen müssen nicht allein durch diese herausfordernden Situationen. Die Fachstelle kindsverlust.ch bietet nebst fundierten Aus- und Weiterbildungen für Fachpersonen auch kostenlose Beratungen für begleitende Fachpersonen und betroffene Eltern an. Neben Coaching oder Antworten zu fachlichen Fragen stellt kindsverlust.ch auch kostenlose Arbeitshilfen und verschiedene Informationsbroschüren zum Thema »Kindsverlust« zur Verfügung – damit Fachpersonen gestärkt und mit Freude ihrer so wichtigen Arbeit nachgehen können.

Selbstwirksamkeit und Fürsorge fördern Im ersten Moment scheint es unvorstellbar, ein verstorbenes Kind auf natürlichem Wege gebären zu müssen. Dies ist für die Selbstwirksamkeit der Frau jedoch sehr wertvoll. Sie erfährt so auf körperlicher Ebene das Mutterwerden und -sein, unabhängig davon, ob das Kind lebt oder gestorben ist. Eine natürliche Geburt, wie auch der innige Kontakt zum Kind, setzt große Mengen an Hormonen frei, die wichtige Prozesse unterstützen wie die Bindung zum Kind oder die körperliche Rückbildung nach der Geburt. Alles, was die Eltern aus eigener Kraft für ihr Kind tun können, stärkt die Bindung und macht ihre tiefe Liebe sichtbar. Dafür braucht es Zeit, Ruhe und eine Begleitung. Die große Fürsorge verwaister Eltern zu ihrem Kind ist immer wieder zutiefst berührend und eindrücklich. Dies wird möglich, wenn ihnen die Bindung zu ihrem sterbenden oder verstorbenen Kind zugemutet wird. So können sie einen Weg finden, als Eltern eines verstorbenen Kindes weiterzuleben.

Madlaina Zindel ist Hebamme FH.

Anna Margareta Neff ist Hebamme FH und Leiterin Fachstelle kindsverlust.ch. Kontakt: [email protected]

Fachstelle Kindsverlust während ­Schwangerschaft, Geburt und erster L ­ ebenszeit (Bern/Schweiz) www.kindsverlust.ch Kostenlose Beratung für betroffene Eltern und begleitende Fachpersonen unter: 0041 31 333 33 60 oder [email protected] 

Anmerkungen

Unterstützung für Fachpersonen Nicht immer gelingt es Fachpersonen, Eltern in diesen herausfordernden Situationen adäquat zu begleiten. Dies kann aufgrund mangelnden Wissens, fehlender Erfahrung oder von Berührungsängsten gegenüber dem verstorbenen Kind sein.

1 Anzahl Todesfälle und Rate der perinatalen, Säuglingsund Kindersterblichkeit: https://www.bfs.admin.ch/bfs/ de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/ sterblichkeit-todesursachen/saeuglings-totgeburten.assetdetail.18744335.html. 2 Sterblichkeitsdefinition vor und bei der Geburt sowie im ersten Lebensjahr: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/ home/statistiken/bevoelkerung.html.

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Was einst als Glück begann Wenn Paarbeziehungen zu Ende gehen

Gabriela Postl Zu solchen Stunden gehn wir also hin und gehen jahrelang zu solchen Stunden, auf einmal ist ein Horchender gefunden – und alle Worte haben Sinn. Dann kommt das Schweigen, das wir lang er­ warten, kommt wie die Nacht, von großen Sternen breit: zwei Menschen wachsen wie im selben Garten, und dieser Garten ist nicht in der Zeit. Und wenn die beiden gleich darauf sich trennen, beim ersten Wort ist jeder schon allein. Sie werden lächeln und sich kaum erkennen, aber sie werden beide größer sein … Rainer Maria Rilke

Das Entstehen und Beenden von Partnerschaften gehört zu den bedeutsamen Themen des Lebens, die mit großer Aufmerksamkeit von Menschen verfolgt werden. Die Sehnsucht nach Zweisamkeit durchdringt die Geschichte. Unser heutiger Bezug zum Sehnen ist vielleicht geringer als früher, wird oftmals als kitschig empfunden, anders als in den früheren Jahrhunderten, in denen Dichter*innen, bildende Künstler*innen und Musiker*innen das Liebessehnen als alldurchdringende Kraft und Inspiration verstanden und ebenso ausdrückten. Liebessehnen steht dem Leitbild des autonomen, selbstständigen modernen Menschen von heute eher im Wege. Die Erfüllung der tiefsten Sehnsucht nach Liebe findet in Momenten des höchsten Glücks statt. Meist sind dies die ersten Phasen der berauschenden Verliebtheit zweier Menschen, die sich noch kaum kennen. Die Enttäuschung darüber, dass die Momente des vollkommenen Glücks vergänglich sind und sich nicht bewahren lassen, stellt

vielleicht eine der schmerzlichsten Erfahrungen des Lebens dar. Liebe ist wie ein Traum, in dem man sich in der Gemeinsamkeit gern verliert trotz der Gefahr, sich selbst zu verlieren. Liebe ist das Bedürfnis danach, etwas bedingungslos zu tun, das Gefühl, mit dem Anderen verschmelzen zu wollen, sich durch und mit ihm vollständiger zu fühlen als getrennt oder allein. Der Begriff der Abgrenzung fühlt sich gerade am Anfang noch fremd und toxisch an. »Die Sehnsucht nach dem tiefsten Aufgehobensein in einem Du« (Willi 1991) bringt jedoch elementare Gefahren mit sich. Mögliche Trennung oder der Verlust des Partners (durch Tod) können dazu führen, dass sich beim Zurückgebliebenen die Angst ausbreitet, das Verlassenwerden nicht überleben zu können. Die mit dem Verlassenwerden einhergehende innere Verletzung kann so tief sitzen, dass manche Menschen ihre alte oder auch neu aufkeimende Liebessehnsucht vollkommen abwehren und sich in »eingeredete« Autonomie flüchten, um nie wieder einen solchen Schmerz erfahren zu müssen. Auch der hohe Wert von Unabhängigkeit in unserer Gesellschaft bestärkt Menschen mit solchen Erfahrungen in dem Glauben, kein Gegenüber zu brauchen und sich ab sofort nur noch selbst zu genügen. Können sich die Partner jedoch nicht mehr mit der Beziehung identifizieren, können sie an den Punkt gelangen, an dem es nur noch um das ganz persönliche Überleben geht. Eines Tages kann es passieren, dass eine scheinbare Kleinigkeit zu dem Entschluss führt, eine Trennung als unumgängliche Lösung zu sehen. Die zusammen geschaffene Welt zerbirst. Zeugen des gemeinsa-

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men Lebens (die Wohnung, Gebrauchsgegenstände, Einrichtung und Erinnerungen an gemeinsam Erlebtes wie Reisen oder Fotos) bleiben wie schmerzhafte Tattoos zurück. Der damit verbundene Trennungsprozess kann sich über viele Jahre hinziehen. Aber nicht nur die gemeinsame äußere Welt wird durch Scheidung zerstört, ebenso die innere, die von beiden konstruierte. Gemeinsame Visionen, Zukunftspläne, ja auch die banalen alltäglichen Abläufe, wie gewisse Zeitstrukturen (Mahlzeiten, Zubettgehen) oder beispielsweise dem Partner abends von der Arbeit des Tages zu erzählen, werden durch die Trennung aufgehoben. Das Alleinsein wird durch diese nun fehlenden, sonst täglichen Abläufe und Strukturen besonders deutlich. Willi beschreibt es so: »Man hängt im leeren Raum, unbeantwortet, unstrukturiert und ungebraucht« (Willi 1991, S. 130). Besonders wenn die Trennung für einen der Partner unerwartet kommt, will dieser die Realität in dieser Phase noch nicht wahrhaben oder kann sich nicht mit ihr befassen. Oft spricht die betroffene Person noch nicht darüber, denn damit würde es sich greifbar und realer anfühlen. Hat sie sich erst einmal eingestanden, dass die Beziehung beendet ist, dann türmen sich gleichzeitig Hilflosigkeit, Verzweiflung, Schmerz, Wut und innere Leere auf. Manchmal kann nach einiger Zeit eine langsame Besserung erlebt werden. Der betroffene Mensch beginnt dann Schritt für Schritt sich an ein Leben ohne den oder die Expartner*in zu gewöhnen und die neue Situation anzunehmen: Er oder sie kann sich wieder eine Zukunft allein oder mit jemand anderem vorstellen, sich neue Ziele setzen oder Wünsche für das eigene Leben entwickeln. Wenn Menschen die vergangene Beziehung loslassen und die Trennung in ihr Leben integrieren konnten, dann können sich emotionale Räume mit einem neuen Lebensgefühl und mit neuen Zukunftsvisionen öffnen. Es scheint möglich zu sein, dass Paare nach erfolgter Trennung beste Freunde bleiben. Oft werden Scheidungsrituale durchgeführt (zum Bei-

spiel Feiern mit Freunden). Wer gut Abschied von einem bisherigen Partner nehmen kann, ist vielleicht eher offen für eine nachfolgende Freundschaft. Wenn die Trennung weniger dramatisch war, können die Beteiligten gelassener mit der Situation umgehen. Nach einer leid- und schmerzvollen Trennung jedoch scheint der völlige Kontaktabbruch wahrscheinlicher. Wurden viele Jahre miteinander verbracht, wurde zusammengewohnt oder gab es sogar Kinder, dann ist eine Trennung mitunter sehr einschneidend. Vor allem hier ist die Voraussetzung für eine Freundschaft »danach« eine gründliche Auseinandersetzung mit der Beziehung und mit der Trennung. Da spielen die vorangegangene Beziehungsgeschichte, die impliziten Verträge (die im Stillen und unausgesprochen blieben), die eigene Biografie (was man sich im späteren Leben von seinem Partner im Stillen erhofft hat) eine wichtige Rolle. Falls die Partnerschaft als Heilungschance vergangener Verletzungen angesehen und der Partner teilweise als Projektionsfläche genutzt wurde, dann bilden Enttäuschungen und unerfüllte Erwartungen schwierigere Voraussetzungskonstellationen für den späteren Umgang miteinander. Ein Übergang ist daher sehr wichtig: nach der Trennung für sich zu sein, wieder allein Fuß zu fassen und einen guten Umgang mit der Trennung zu finden. Die in diesem Prozess erlittenen Verlusterfahrungen rufen ein Gefühl der Trauer hervor, auf das nahezu immer mit Trauerarbeit geantwortet wird. Selbst wenn eine Freundschaft nicht von beiden Seiten aus möglich und gewünscht ist, ist diese Auseinandersetzung und das Abschließen – im Sinne einer guten Integration – für kommende, neue Beziehungen sehr wichtig. Versuchen die sich Trennenden aus einer Liebesbeziehung eine Freundschaft zu entwickeln, werden viele Unterschiede bewusst, die Zeit zur Umstellung brauchen: Da stehen andere Motivationen im Vordergrund, es bestehen unterschiedliche Erwartungen, die Freundschaft ist weniger störungsanfällig, es wird leichter verziehen, es

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Auguste Rodin, Der Kuss / INTERFOTO / SuperStock

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sind andere Gefühle da. Es ist durchaus möglich, dass die gemeinsame Geschichte und ihre positiven Aspekte förderlich für die Freundschaft sind. Ehrliche Gespräche über die gemeinsame Zeit, über die – möglicherweise – noch offenen Konflikte, unerfüllte Erwartungen oder Verletzungen sind Voraussetzung für die Heilung der Seele und somit für eine gesunde Freundschaft. Geht einer der ehemaligen Partner eine neue Beziehung ein, ist das mit Sicherheit ein Prüfstein für die neue Freundschaft mit der/dem Expartner*in. Ob dann die Versuche, eine Freundschaft zu etablieren, doch scheitern, hängt vor allem davon ab, wie groß der Leidensdruck bei einem oder bei beiden ist, egal ob aus der Trennung oder der Beziehungsgeschichte. Wenn die emotionale Entwicklung in den vergangenen Monaten anerkannt und die verschiedenen Gefühle, die noch auftreten können, akzeptiert werden, dann können die Lektionen, die durch die Trennung gelernt wurden, als wertvolle

Erkenntnisse integriert werden: über die eigene tiefe Sehnsucht, Verletzlichkeit und Stärke, über die Kraft zu verzeihen und über die Fähigkeit, die Chance hinter der Krise erkannt zu haben. … Sie werden lächeln und sich kaum erkennen, aber sie werden beide größer sein … Mag. Gabriela Postl ist Klinische und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin (systemische Familientherapie), systemischer Coach und Trainerin, Supervisorin in Wien. Kontakt: [email protected] Website: www.gabriela-postl.at Literatur Revenstorf, D. (2018). Die geheimen Mechanismen der Liebe. 7 Regeln für eine glückliche Beziehung. 6.  Auflage. Stuttgart. Schwäbisch, L.; Siems, M. (1974). Anleitung zum sozialen lernen für Paare, Gruppen und Erzieher. Kommunikations- u. Verhaltenstraining. Reinbek. Willi, J. (1991). Was hält Paare zusammen? Der Prozess des Zusammenlebens in psycho-ökologischer Sicht. Reinbek.

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Trauer ist ein langer Weg Die drei Felder der Trauer

Sylvia Brathuhn Wir Menschen leben unser Leben mit dem Wissen, dass sowohl unser eigenes als auch das Leben unserer Liebsten irgendwann einmal enden wird. Und dennoch sind wir regelhaft in der Lage, so zu leben, als gäbe es das Sterben, als gäbe es den Tod nicht. Wir sind – um es mit den Worten von Sigmund Freud auszudrücken – »unbewusste Unsterblichkeitsillusionisten«. Hierdurch versetzen wir uns – wenn auch nicht wissentlich – in die Lage, Dinge auf »später« zu verschieben, auf »irgendwann«, auf »wenn ich in Rente bin« oder »wenn die Kinder aus dem Haus sind«. Als »unbewusste Unsterblichkeitsillusionisten« können wir Urlaube buchen, Pläne schmieden, Zukunft planen. Natürlich nehmen wir wahr, dass überall auf der Welt Menschen sterben. Und doch scheint es immer, als sterben sie zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort und vor allem sind es nicht die Menschen, die wir lieben. Das Undenkbare, das Unvorstellbare geschieht. Ein Mensch, den wir lieben, bekommt die Diagnose »unheilbar erkrankt«. Mit einem Mal zerplatzt die unbewusste Unsterblichkeitsillusion. Der Tod ist nicht länger (un-)sichtbar als kleiner schwarzer Punkt am entfernten Horizont, sondern er kommt näher, überschattet und verdunkelt das Dasein des betroffenen Menschen sowie seiner An- und Zugehörigen. Gedanken wie »später«, »irgendwann«, »wenn die Kinder aus dem Haus sind« gehören plötzlich der Vergangenheit an. Sind nicht mehr gegenwartsrelevant. Sind nicht mehr gültig. Tragen nicht mehr. Sie haben sich mit Einbruch der Diagnose verflüchtigt. Die Zukunft scheint keine Form mehr zu haben und keine Versprechen mehr bereitzuhalten. Das Verlust(er)Leben nimmt seinen

Lauf. Neben Hoffnung und Zuversicht hält Trauer ihren Einzug. Mit der Diagnose »unheilbar erkrankt« betreten sowohl der erkrankte Mensch als auch seine Angehörigen das erste Trauerfeld. Beide sind durch das Band der Liebe zu einer dritten Gesamtperson, einem Wir verbunden. Alles, was die Erkrankte betrifft, »trifft« auch den angehörigen Menschen. Das Leben wird immer enger, die Möglichkeiten und Kräfte nehmen ab. Leben spitzt sich zu auf den Todeszeitpunkt. Beide erleben und erleiden auf dem Weg durch die Erkrankung mannigfaltige Verluste, die schon im Vorfeld des Todes ein Gefühl von Trauer hervorrufen. Mit dem Versterben des geliebten Menschen betritt der Zurückbleibende das zweite Trauer­ feld. Der, den er liebte, ist tot: Er lebt nicht mehr. Er lacht nicht mehr. Er weint nicht mehr. Er liebt nicht mehr. Unvorstellbar und doch wahr. Der Tod ist von einem Moment zum anderen eine für unmöglich gehaltene Realität geworden. Das Leben steht still. Der angehörige Mensch wird vom Tod berührt. Während im ersten Trauerfeld zwei lebende Personen den Trauerweg beschreiten, sind es im zweiten Trauerfeld der Zurückbleibende und der Verstorbene. Das dritte Trauerfeld ist vom zeitlichen Anbeginn nicht ganz klar definiert. Es wird in etwa nach der Beisetzung betreten. Dann, wenn der verstorbene Mensch beigesetzt wurde. Wenn er auch nicht mehr als Leichnam greifbar ist. Der Zurückbleibende muss seinen Weg nun allein weitergehen, geprägt durch das Wissen um das Niewieder. Um das Aus-und-vorbei. Während sich im ersten Trauerfeld das Leben verengt, im zweiten Trauerfeld alles stillzustehen scheint, verlangt

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das dritte Trauerfeld, dass der trauernde Mensch sich seine Welt wieder schrittweise erobert. Die im palliativen und hospizlichen Feld Tätigen, die ja grundsätzlich wissen, dass es aktuell immer um Sterben und Tod und Trauer geht, geraten im Mitgehen durch die Trauerfelder – unabhängig von bisherigen Erfahrungen – jedes Mal aufs Neue in den Zwiespalt von Hinschauen und Wegschauen, von Annehmen und Verweigern,

müssen sie doch die erkrankten Menschen und deren Liebsten in ihrer Trauer und auf dem Weg aus dem Leben hinaus bis an die Pforte des unbekannten Todeslandes begleiten und dem zurückbleibenden nahestehenden Angehörigen ebenfalls zur Seite stehen. Die Darstellung der drei Felder der Trauer soll Orientierung und Kompass für die in diesem Feld Tätigen sein. Trauer ist ein Weg, der mit der Diagnose beginnt und dessen Ende nicht festlegbar ist. Trauernde berichten oft, dass die Trauer nicht aufhört, sondern dass sie ihre Gestalt wandelt. Während sie am Anfang fast eine zerstörerische Kraft besitze, werde sie mit den Jahren milder und gehöre dazu.

Ulrike Rastin

Diagnose »unheilbar erkrankt« – das Betreten des ersten Trauerfeldes

Der Tod ist von einem Moment zum anderen eine für unmöglich gehaltene Realität geworden. Das Leben steht still.

Zur Veranschaulichung der drei Trauerfelder soll für diesen Artikel die Lupe auf den Trauerweg und das Trauererleben einer Mutter gelegt werden, deren Tochter im Erwachsenenalter unheilbar erkrankt und schließlich an den Folgen der fortschreitenden Erkrankung verstirbt. Die Trauer der Tochter und deren Verlusterleben wird nicht explizit aufgegriffen, sondern soll im Hintergrund mitgedacht werden. Corinna Castor1 (72 Jahre) ist mit Tim Castor (73 Jahre) verheiratet, beide sind nicht mehr berufstätig, sondern engagieren sich ehrenamtlich in verschiedenen Vereinen, Verbänden und in der Gemeinde. Sie leben in einem Einfamilienhaus und haben eine 32-jährige Tochter. Tochter Sa­ bri­na hat ein sehr gutes Verhältnis zu ihren Eltern, sie lebt 400 Kilometer von ihren Eltern entfernt in einer kleinen Wohnung. Wöchentlich telefoniert sie mit ihrer Mutter und fährt alle acht bis zehn Wochen nach Hause. Sabrina hat zwar immer mal wieder einen Freund, lebt jedoch nicht in einer festen Beziehung. Gerade hat sie ihren Master in Erziehungswissenschaften gemacht und ist im Promotionsstudiengang eingeschrieben. Als Hobbys hat sie Yoga, Drachenbootfahren, Lesen und Joggen. Anhaltende Rückenschmerzen füh-

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ren letztlich dazu, dass bei der jungen Frau eine Reihe von Untersuchungen eingeleitet werden, an deren Ende die Diagnose »metastasierter Brustkrebs« steht. Der Tumor hat schon in das gesamte Knochensystem gestreut. Endlich erklären sich die schrecklichen Rückenschmerzen der letzten Wochen bis Monate. Mit der Diagnosestellung muss und will sich Sabrina einer Reihe von kräftezehrenden und die Lebensqualität einschränkenden Therapien unterziehen. Nach sieben Jahren ist Sabrina nicht mehr in der Lage, allein zu leben, muss zurück zu ihren Eltern ziehen und einen großen Teil ihrer gewonnenen Autonomie aufgeben. Corinna und Sabrina – das erste Trauerfeld Corinna: Als meine Tochter mir am Telefon die Diagnose mitteilte, war es als würde mein Herz für einen Moment stillstehen. Das konnte nicht sein. Doch nicht Sabrina. Das muss ein Irrtum sein. Sie hat doch gerade erst begonnen mit ihrem Leben. Ich muss sie beschützen. Das ist doch meine Auf­ gabe als Mutter. (…) meine Tochter war ein sehr lebhafter und quirliger Mensch. Sie hatte zahlrei­ che Freundinnen und überall ihre Finger drin. Ich habe häufig zu ihr gesagt: Mach doch mal langsa­ mer. Du hast doch noch dein ganzes Leben vor dir. Ihre Antwort war immer die Gleiche: »Wer weiß. Was ich habe, das kann mir keiner mehr nehmen.« (…) Sabrina stellte eine »Bucket List« auf. Sie be­ endete ihr Masterstudium, promovierte, lief einen Marathon, machte eine Ausbildung zur systemi­ schen Familientherapeutin, war Botschafterin für Susan Comen, einer Brustkrebsorganisation in den USA, erhielt eine Juniorprofessur an einer christli­ chen Universität und hielt Vorträge in Hawaii, Ko­ rea und Japan. Sie war unglaublich. Als Sabrinas Kräfte im siebten Krankheitsjahr immer mehr nachließen und sie die Strapazen der Chemos und die Nebenwirkungen nicht mehr gut ausbalancieren konnte, zog sie wieder bei uns ein. Wir haben versucht, ihr so viel Freiheit und Auto­ nomie wie möglich zu lassen. Das war nicht im­

mer einfach. Sie ist permanent über ihre Grenzen gegangen und das hat mir einfach unendlich viel Angst gemacht. Ich wollte sie vor allem behüten und beschützen. Da war soviel Trauer in mir. Sa­ brina jedoch schaute immer nach vorne. Sie wollte nur das sehen, was sie sehen wollte (oder konnte), und ich blickte mit ihr in die gleiche Richtung. Sie wollte nur das sehen, was Hoffnung und Zuversicht zuließ. Wir haben so viel ignoriert. Haben unsere Augen verschlossen. Ich entwickelte mich zu einer Topschauspielerin. Zeigte selten, was in mir vorging. Die Erkrankung dauerte acht Jahre. In dieser Zeit gab es immer wieder Rückschläge. Immer wie­ der neue Therapieversuche. Immer wieder neue Hoffnung. Immer wieder das Gefühl von Trauer. Ich habe die Trauer heimlich »meine graue Bekann­ te« genannt. Ich konnte mich nicht mit ihr befreun­ den, aber ich kannte und erkannte sie. Manchmal stellte sie sich mir schon morgens in den Weg. Hin­ derte mich daran, in den Tag zu gehen. Ich brauch­ te dann ganz viel Kraft, um sie aus dem Weg zu schieben. Wenn sich Sabrinas Krankheit still ver­ hielt und es ihr verhältnismäßig gut ging, haben wir das als Fortschritt gewertet und schöpften wieder Hoffnung. Diese acht Jahre waren wie eine Achter­ bahn. Mal ging es bergauf, mal stand alles still, mal rasten wir durch einen neuen Progress in die Tiefe des Schmerzes, der Verluste und der Trauer. Was mich am meisten verrückt machte, war dieses im­ mer »weniger werden« an Möglichkeiten und Kräf­ ten. Meine Tochter versuchte noch bis zum Schluss ihre Aufgaben zu erfüllen. Ihre Physio-Übungen zu machen (ich glaube, uns zu liebe). Ihre Kontakte zu halten. Doch das Leben wurde immer enger, im­ mer unmöglicher und immer stiller. Die Stille ver­ suchten wir auszuhalten, indem wir (ich) über alles Mögliche redeten, nur nicht über ihren bevorstehen­ den Tod. Darüber zu sprechen war unmöglich. Das hätte in uns allen jegliche Hoffnung zerstört. Und Hoffnung brauchte ich, um das alles zu überleben. Als Sabrina sich gar nicht mehr aus dem Bett bewegen konnte, immer mehr Wasser einlager­ te, einen Dekubitus entwickelte, manchmal kaum mehr reagierte, weit weg schien, konnte ich es im­

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mer noch nicht akzeptieren. Nicht mein wunderba­ res Kind, die doch noch alles vor sich hatte. In der Nacht vor ihrem Tod sagte uns die Hospizschwes­ ter, die die Nacht bei uns verbrachte, dass es nun zu Ende gehen würde. Die Worte haben mich fast um den Verstand gebracht. Nein und Ja haben mitein­ ander gekämpft. Mein Mann sagte mir: »Wir müs­ sen sie gehen lassen. Sie kann nicht mehr.« Ab dem Moment habe ich drauf los geredet. Habe ihr noch so viel gesagt, wie ich konnte. Habe ihr sogar vom ersten Augenblick erzählt, als ich sie in den Armen hielt: »Du warst winzig, wunderschön, kostbar, ein großes Wunder, mein ganzes GLÜCK.« Bei diesem Satz ist sie gestorben, hörte einfach auf zu atmen. Lag ganz ruhig da und ihre Augen schauten bewe­ gungslos in die Ferne. Ich habe keine Ahnung, was sie dort sah. Mich hielt der Gedanke, dass Sabrina ein tiefgläubiger Mensch war. Heute bin ich sicher, sie wird es dort gut haben. Sabrina ist tot – das Betreten des zweiten Trauerfeldes Corinna: Ich werde diesen Moment des Todes nie vergessen. Eben war sie noch da, lebte noch und dann auf einmal leblos. Sie lag da still und starr, und nichts, aber auch gar nichts, bewegte sich. Ich hatte das Gefühl, dass sogar die Luft im Raum nicht mehr existent war. Ich spürte nichts. Saß nur da und schaute diese wunderbare junge Frau, mein Kind, an. Sie strahlte so viel Würde und Wahr­ haftigkeit aus. Vielleicht war das ein Moment in dem sich Unglück und Glück trafen. Da war das tief empfundene Unglück, dass Sabrina nicht mehr da war. Ihr Körper war zwar im Raum, doch sie – unsere wunderbare Sabrina – war nicht mehr da. Und da war gleichzeitig diese tiefe Ruhe, die sie ausstrahlte, die mich erfüllte. Ich weiß nicht, wie lange wir an ihrem Bett saßen. Erinnerungen, wirr und chaotisch, wechselten sich mit Zukunftsängs­ ten und Banalitätsfragen ab. Nach vier Stunden haben wir den Bestatter an­ gerufen. Bis heute ist mir seine erste Frage ein gro­ ßer Schmerz: »Wissen Sie, dass Sie den Leichnam

Ihrer Tochter noch bis übermorgen zu Hause behal­ ten können?« Es war wie ein Messerstich in mein Herz. »Leichnam und Tochter«. Diese beiden Wör­ ter gehörten einfach nicht zusammen. Es war, als ob er von einer ganz alltäglichen Sache sprechen würde. Doch für uns war es nicht alltäglich. Es war das Absurdeste und Furchtbarste, es war das, was wir uns nie hatten und hätten vorstellen kön­ nen. Sabrina ist erst 40 Jahre alt und schon tot. Ich habe irgendwo gelesen, dass mit dem Tod auch die Trauer eintritt. Bei mir war vorher schon ganz viel Trauer da. Als Sabrina dann tot da lag, weiß ich heute gar nicht mehr genau, was ich empfand. Ich glaube, dass ich in dieser Nacht immer wieder ver­ sucht habe zu funktionieren. Ich fühlte mich wie ein Roboter. Habe gemacht und geregelt, was er­ forderlich war. Nur der Moment, als der Bestatter zusammen mit meinem Mann meine Tochter in den Sarg legten, ist sehr gegenwärtig. Da war nur ein riesengroßes Nein in mir. Ich wollte sie halten, wollte sie küssen, wollte sie wärmen. Was, wenn sie nicht tot ist?, dachte ich immer wieder. Was, wenn sie gleich aufwacht und keine Luft mehr be­ kommt? Es war ein schreckliches Gefühl, das mir fast die Luft zum Atmen nahm. Die nächsten Tage waren wie in einem großen Nebel. Ich erinnere mich daran, dass ich den Müll wie jeden Donnerstag rausstellte. Ich zog die Roll­ läden morgens hoch und ließ sie abends wieder runter. Es erschien mir wichtig. Als wir die Trauer­ anzeige erstellten, stand das Unfassbare schwarz auf weiß. Sabrina Castor ist tot. Geboren am 14. Mai 1981. Gestorben am 23.12.2021. Sabrina hat irgendwann zu Beginn ihrer Erkrankung mal gesagt: »Sollte ich an dieser Erkrankung mal ster­ ben, will ich keine Trauerfeier, sondern eine Le­ bensfeier.« Damals konnten wir das Wort »Tod« aussprechen, weil wir fest daran glaubten, dass er nicht eintreten würde. Wir haben eine Lebensfeier gemacht. Ganz in Sabrinas Sinne. Doch es war ab­ surd. Wir haben versucht, alles ganz heiter und froh zu machen. Keiner kam in Schwarz. Heute kommt es mir wie eine Vorstellung vor. Als wir nach der »Lebensfeier« wieder nach Hause gingen, senkte

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sich der Vorhang und nachtschwarze Finsternis umgab mich. Sabrina war tot. Für immer. Für immer ohne Sabrina – das dritte Trauerfeld

Mein Trauerweg ist noch lange nicht zu Ende. Doch heute nach fast sechs Monaten gibt es hin und wieder eine kleine Atempause.

Claude Monet, The Sailing Boat, 1885 / Bridgeman Images

Ich habe versucht zu überleben. Nicht nur einmal habe ich mich gefragt: Warum überhaupt? Sabrina war immer da. Zu jedem Moment des Tages. Alles im Haus strömte ihre Anwesenheit aus. Sie war in jedem Glas, in jedem Teller, in allen Gegenständen vorhanden. Ihr Geruch war präsent und schmerz­ te mich. Ihre Anwesenheit verwirrte mich. In den Nächten hörte ich sie nach mir rufen. Ich bin im­ mer wieder in ihr Zimmer gegangen, nur um mich zu vergewissern, dass sie wirklich nicht da ist. Und immer wieder traf mich das leere Bett, wie ein Blitz. Gerade zu Beginn kamen viele Anrufe und viele

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Glück und Leid ist für 7 0   S y l v i a B r a t h u h n mich die Zahl 16 … »Mein Mann ist an einem 16. gestorben. Ich zählte an jedem 16. seine Todes­ monate: Jetzt ist er einen Monat tot. Jetzt, zwei, jetzt, drei und immer, immer war es furchtbar. Dann wurde fünf Monate später an einem 16. mein beziehungsweise unser erstes Enkelkind ge­ boren. Unser Sohn sagte mir: ›Das ist ein Zei­ chen von Papa, dass ab jetzt der 16. ein Glücks­ tag für dich ist.‹ Seit diesem Zeitpunkt vermisse ich zwar meinen Mann immer noch, doch ist der 16. kein schwarzer Unglückstag mehr für mich, sondern ein Tag der Dankbarkeit und des Glücks.« (Manu, 53 Jahre, sechs Monate nach dem Tod ihres Mannes)

Besuche. Es herrschte große Betroffenheit im Fa­ milien-, Freundes- und Kollegenkreis. Alle woll­ ten helfen, unterstützen, da sein. Eine Nachbarin tat mir sehr gut. Sie fuhr einfach den Mülleimer raus, wenn er dran war. Stellte mir mal einen Obst­ salat und mal eine Suppe vor die Tür. Sie war so unauffällig da. Das tat wirklich gut. Die Kondo­ lenzkarten konnte ich zunächst gar nicht lesen. Ich wollte nicht wissen, was da drin steht. Ich wusste es doch. Sabrina ist tot. Das wollte ich nicht wie­ der und wieder lesen. Außerdem hatte ich Angst vor Belanglosigkeiten und gleichzeitig verzehrte ich mich danach, dass die Menschen Anteil nahmen und auch schmerzlich betroffen waren von Sabri­ nas Tod. Kein Leben durfte einfach so weitergehen. Sie war doch weg. Das musste doch für alle spürbar sein. Es dauerte Monate, bis ich anfangen konnte, Sabrinas Anziehsachen wegzuräumen. Ich habe Freundinnen von ihr angerufen, sie gefragt, ob sie kommen wollen und sich was aussuchen. Das tat gut. Wir haben einen Tag zusammen verbracht, neun Freundinnen kamen. Sie brachten was zu essen mit, wir hörten Sabrinas Musik, sie erzähl­ ten Geschichten. Manche kannte ich gar nicht und ich lernte meine Tochter nochmal anders kennen. Von ihrer Bucket List hat sie zwei Sachen nicht mehr geschafft: die Passionsspiele in Bayreuth (we­ gen Covid) und einen Besuch des Shen-Yun-Tanz­ theaters. Zu den Festspielen fahren jetzt ihre beiden Tanten und nehmen sie sozusagen mit. Zu Shen

Yun sind wir mit meiner Schwägerin und meinem Bruder gegangen. Wir hatten Sachen von Sabri­ na an, so dass sie irgendwie dabei war. Das war traurig und schön zugleich. Unglück und Glück in einem. Jeder Tag ist eine Herausforderung. Und jeden Tag gehe ich etwas Kleines an, das für mich jedoch nicht selten riesengroß ist. Letzte Woche haben wir Sabrinas Auto verkauft. Es stand fünf Monate vor der Tür. Jetzt ist es weg. Ein weiterer schrecklicher Beweis dafür, dass sie nicht mehr da ist. Wenn ich ihre Sachen aufräume, muss ich mir alles anschauen. Was kann weg? Was soll weiterge­ geben werden? Was will ich behalten? Immer wie­ der komme ich mir auch vor wie ein Eindringling in Sabrinas private Welt. Mein Trauerweg ist noch lange nicht zu Ende. Doch heute nach fast sechs Monaten gibt es hin und wieder eine kleine Atempause. Mein Mann und ich können über Sabrina reden und manchmal auch zusammen weinen. Ich bin zutiefst unglück­ lich, dass Sabrina tot ist. Ich kann das Wort »tot« kaum aussprechen. Doch ich bin zugleich zutiefst dankbar und glücklich, dass wir vierzig Jahre eine wunderbare Tochter hatten. Sie wird immer unser Kind bleiben und irgendwann werden wir uns wie­ dersehen. Das weiß ich. Bis dahin versuche ich das zu tun, was ihr verwehrt wurde. Ich lebe! Mit mei­ ner Trauer und ohne Sabrina. Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Diplom-Pädagogin, ist Trainerin in Palliative Care sowie in den Bereichen Sterben, Tod, Trauerbegleitung; Resilienz-Coach; Mitglied der IWG (International Workgroup of Death, Dying and Bereavement); Landesvorsitzende der Frauenselbsthilfe Krebs Rheinland-Pfalz/Saarland e. V. Kontakt: [email protected] Anmerkung 1 Die Namen wurden geändert. Die Autorin hat mit der Familie eine Reihe von Begleitgesprächen geführt, die in Auszügen transkribiert wurden. In diesem Artikel wird der Fokus nur auf das Trauererleben der Mutter der verstorbenen Sabrina gelegt, um die Bedeutsamkeit der drei Trauerfelder zu schärfen. Jedes Familienmitglied geht auf seine eigene Art und Weise durch diese Felder.

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Abschied von meiner Mutter Regula Lütscher Andächtig, bewegt, gespannt sitzen wir alle im Familienkreis. Meine Mutter lebt nur noch knappe zwei Stunden, das wissen wir mit großer Wahrscheinlichkeit. Es ist ein kalter, aber schöner Februartag, die Sonne setzt helle Akzente in die gemütliche alte Wohnstube. Jedes Familienmitglied ist im Familienkreis eingeschlossen und doch mit den eigenen Gefühlen allein. »säuber« – »selber« Aber angefangen hat diese Geschichte viel, viel früher. Meine Mutter war bereits als kleines Kind eine sehr autonome Persönlichkeit. Ihr erstes Wort, so erzählte sie immer stolz, sei »säuber« gewesen, was so viel wie »selber« heißt. Für ihren strengen, korrekten Beamtenvater war sie als junge Frau eine Herausforderung. Entgegen seinen konservativen Werten von materieller Sicherheit, Regeln und Respekt vor der männlichen Autorität setzte sie sich vehement für die Gleichberechtigung der Frauen ein. Als sich das anspruchsvolle Berufsleben meiner Eltern seinem Ende zuneigte, freuten sie sich auf die ersehnte Freiheit. Sie fühlten sich gesund und unternehmungslustig … der Pläne waren viele. Aber es sollte anders kommen. Meine Mutter begann zu stolpern, ihr Gang wurde unsicher. Viel Zeit, die sie eigentlich für anderes gedacht hatte, ging nun auf das Konto Abklärungen. Die Diagnose lautete »degenerativer Prozess im Kleinhirn«. Jetzt begann meine Mutter zu kämpfen, versuchte mit unterschiedlichen Therapien eine Besserung zu erreichen, was aber nie gelang. Während 25 Jahren musste sie Schritt für Schritt neue Einschränkungen akzeptieren.

• Der erste Rollstuhl: ein Kampf. • Der Treppenlift: ein Verlust. • Der Umzug in den unteren Stock: ein Schmerz. • Externe Hilfe zuzulassen: fast nicht möglich. Und dann begann sie von ihrem Wunsch nach einem selbstbestimmten Ende zu sprechen. Als naturverbundene Frau waren für sie Sterben und Vergehen nichts Bedrohliches. Wir fuhren gemeinsam in die Ferien, sie sagte: Das werden meine letzten Familienferien sein. Wir machten einen Ausflug in die Berge, sie sagte: Das wird mein letztes Mal in Grindelwald sein. Wir gingen zusammen schwimmen, sie sagte: Das wird mein letztes Mal in der Aare sein. In unzähligen Momenten äußerte sie Gedanken an ihr Ende. Für uns wurde dieses Bewusstsein um die »letzten Male« zunehmend belastend. Ihrer Idee, uns im Prozess mitzunehmen, konnten wir damals nicht viel abgewinnen. Zu traurig machte uns diese andauernde Aufmerksamkeit auf das Lebensende hin. Die Waagschalen Die Einschränkungen meiner Mutter wurden immer gravierender. Mehr und mehr musste sie Hilfe annehmen und dies passte so gar nicht zu ihrem Wunsch des »Säubermachens«. Ich fragte mich, welche Kriterien sie wohl anwenden würde für die Entscheidung zum definitiven Abschied. In einer ruhigen Stunde erklärte sie mir ein Bild, das sie vor sich sehe: »Stelle dir zwei Waagschalen vor. In der einen liegt all das, was mir Mühe macht, was schwierig ist. In der anderen liegt all das, was mir trotz Einschränkungen noch Freude, was mich glücklich macht. Wenn die Mühe-

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Schale schwerer ist als die Freude-Schale, dann ist der Zeitpunkt da.« Die Einschränkungen nahmen zu. Hände und Füße konnten nur mehr schlecht koordiniert werden, der Rollstuhl war der ständige Begleiter. Kämpferisch, wie sie war, versuchte sie trotz allem immer wieder etwas »säuber« zu machen, was häufig in Stürzen, Verbrennungen, Verletzungen endete. Meiner Mutter war die Selbstständigkeit aber wichtiger als die Unversehrtheit. Dauernder Schwindel und Sprachstörungen machten sich immer mehr bemerkbar, das Leiden vergrößerte sich. Als ich sie auf das Waage-Bild ansprach, erklärte sie mir: »Weißt du, jetzt ist in der Freude-­ Schale etwas anderes drin. Jetzt ist dort all das drin, was ich deinem Vater noch sein kann.« Über viele Jahre hinweg hatten meine Eltern davon gesprochen, gemeinsam aus dem Leben zu gehen, so wie sie auch im Leben schon immer alles geteilt hatten: Tisch, Bett und Arbeit. Jetzt, da meine Mutter immer unselbstständiger und leidender wurde, stellte mein Vater fest, dass er dazu noch nicht bereit war. Der Countdown Als der Herbst einzog, schwand der Lebenswille meiner Mutter. Sie machte einen schriftlichen Entwurf für die Abdankung, schrieb ihren Lebenslauf und kontaktierte EXIT. Wir bestellten gemeinsam die passende Urne. Auch hier wieder das »säuber«. Diesmal war es jedoch für uns eine Entlastung. Und dann stellte sich die Frage: Wann soll der Termin sein? Dieser Moment bleibt mir als große Belastung in Erinnerung. Verschiedene Bedürfnisse standen, unterschiedlich ausformuliert, im Raum. Sollen wir noch in die lange erwarteten und gebuchten Ferien gehen? Ist dieser Wunsch im Angesicht der Tragweite eines assistierten Suizids angebracht? Welche Daten melden wir bei der Arbeit als Frei- oder Ferientage an? Der Wunsch, diesen Weg zusammen zu gehen, rief nach organisatorischer Klarheit. Aber mein Vater sagte dezidiert, dass er es nicht aus-

halte, den Termin vorgängig zu wissen. Ohne sein Wissen einen Termin festzulegen, funktionierte aber auch nicht. Die Lösung fand sich vorerst im Wunsch meiner Mutter, von ihrem Freundeskreis Abschied zu nehmen. In einem Brief informierte sie über ihren Beschluss und lud zu einem letzten Besuch ein. Einfühlsam versicherte sie, dass auch ein virtueller Abschied und ein Denken an die gemeinsame Wegstrecke wertvoll seien, falls ein Besuch als zu belastend empfunden werde. Und sie kamen! Viele Nahestehende aus früheren und aktuellen Zeiten meldeten sich. Allerdings erhielt ich diverse Anrufe, bei denen ich gefragt wurde, wie sich ein letzter Besuch gestalten könnte. Unsicherheit. Zum Glück stellten wir nach den ersten Besuchen fest, dass wir ganz auf die Souveränität meiner Mutter zählen konnten. Die erleichterten Rückmeldungen und das Erzählen über beglückende, beeindruckende Begegnungen erwärmten mein Herz. Ich erkannte, welch ein Privileg es ist, sich verabschieden zu können. An Weihnachten setzten wir den Sterbetermin auf den 15. Januar. Jetzt wurde es eng. Der Countdown begann. Was macht man in den letzten zwei Wochen? Nur noch zwei Dienstage, ein Donnerstag, drei Tage … wir alle schwebten in einem unwirklichen Zustand. Meine Tochter schrieb spontan einen berührenden Brief an mei-

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A b s c h i e d v o n m e i n e r M u t t e r    7 3

Für mich bedeutet Glück im Leid:

ne Mutter. Mein Bruder ließ sich inspirieren und irgendwann lagen alle unsere Briefe, in denen wir unsere Erinnerungen an die gemeinsame Zeit aufleben ließen, auf dem Tisch. Meine Eltern waren zutiefst gerührt. Die letzte Woche wurde für meinen Vater eine zu große Hürde. Die ganze Familie organisierte sich nun so, dass meine Eltern nie allein sein mussten. Diese Stunden und Tage des bewussten letzten Zusammenseins empfinden wir alle im Nachhinein als äußerst wertvoll, auch wenn sie in ihrer Durchführung dem ganz gewöhnlichen Alltag sehr ähnelten.

m.schröer

»Granny, hast du Angst?« Unweigerlich kommt der letzte Abend. Acht Personen, unsere ganze Familie, kommen zusammen. Was kocht man zu einem so denkwürdigen Moment? Wir lachen laut, als meine Mutter die Spaghettireste erwähnt, die aufgebraucht werden müssten. Schlussendlich steht ein reichhaltiges Käsebuffet und Gschwellti auf dem Tisch – ein Lieblingsessen meiner Mutter. Die Gespräche ranken um Erinnerungen und Zukunftspläne, wir weinen und lachen, wir sind zusammen und das ist im Moment gerade alles, was zählt. Das Frühstück schmeckt dann nicht mehr so. Alle sind angespannt. Meine Tochter fragt in ihrer direkten Art: »Granny, hast du Angst?« Die klar verneinende Antwort entlastet alle. Eine Stunde vor Eintreffen der Sterbebegleiterin schart meine Mutter alle um sich. Sie sitzt im Lehnstuhl, mein Vater nah an ihrer Seite. Eine feierliche Stille herrscht, ab und zu unterbrochen von einem Schluchzer. Meine Mutter resümiert ihr Leben. Sie erzählt vom Schönen, vom Schwierigen und dass es vom Ende her gesehen ein wunderbares Leben gewesen sei. Nacheinander werden wir von ihr zum Stuhl gebeten, vor welchem wir uns niederknien, wie dereinst als Kinder. Jedem gibt sie eine brennende Kerze, sie dankt für all das gemeinsam Erlebte. Die Tränen fließen in Strömen. Pünktlich kommt die Sterbebegleiterin und legt die Infusion. Meine Mutter wird noch zwei

»Die Gewissheit, dass wir als Pflegende nach dem Tod einer Bewohnerin maß­ geblich dazu beitragen konnten, dass sie so gehen konnte, wie sie es sich ge­ wünscht hat.« (Pflegefachkraft und Palliativkraft in einer Einrichtung der Behindertenhilfe)

Mal gefragt, ob sie wirklich jetzt gehen möchte. Das Infusionsrädchen klemmt ein wenig, unwillkürlich möchte ich helfen, wie immer, wenn etwas nicht geklappt hat. Aber jetzt schrecke ich zurück und realisiere, das darf ich nicht mehr. Der Tod kommt schnell und schmerzlos. Erleichtert und eigentlich auch überfordert, sitzen wir im Kreis und lassen die Ruhe einsinken, die sich über das Zimmer legt. Bis die Legalinspektion dagewesen ist, darf nichts berührt werden. Die beiden Polizisten und die Ärztin sind jung, sympathisch und in Zivilkleidung. Sie kommentieren die schöne Atmosphäre. Diese Wertschätzung tut uns allen gut. Nach der Inspektion übergibt uns die Ärztin das Häufchen sorgfältig gefalteter Kleider, obenauf liegt die Halskette. Diese Achtsamkeit berührt mich zutiefst. Meine Sinne sind so offen wie nie, meine ganze Verletzlichkeit ungeschützt. Und trotzdem glücklich Ich bin glücklich, dass wir unsere Mutter bis zum Ende so begleiten konnten, wie sie es sich wünschte, wie es ihrer Einstellung, ihrer Biografie entsprach. Ich fühle noch heute die geduldige Unterstützung meines Partners, die Offenheit meines Bruders, die warme Umarmung meines Schwagers, die Bereitschaft der jungen Generation, sich auf das Unbekannte einzulassen. Dankbar schaue ich auf die Zeit zurück, in welcher meine Mutter uns an der Hand nahm und in Unbekanntes führte. Regula Lütscher – »eine Tochter« aus der Schweiz.

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Würde ist Maßstab Glück und Unglück im Kontext des assistierten Suizids

Sonja Thalinger Die Hospizbewegung hat in den letzten Jahren gelernt, sehr gut zu argumentieren, warum die Sorge vor den Auswirkungen der straffreien Umsetzung der Assistenzleistung bei einem Suizid so groß ist. Jetzt ist es die Herausforderung, jenen Menschen, die die Selbsttötung durchführen wollen, konsequent in hospizlicher Haltung der absoluten Wertfreiheit zu begegnen. Mit 1.1.2022 wurde in Österreich durch Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes die Assistenzleistung zu einem Suizid unter bestimmten Bedingungen straffrei gestellt. Diese neue rechtliche Situation führt zu neuen Herausforderungen für betroffene Menschen, An- und Zugehörige, Mitarbeiter*innen und Rechtsträger verschiedener Einrichtungen. Das Timing ist denkbar ungünstig: Viele Mitarbeiter*innen aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich sind durch und nach der Pandemie erschöpft, in vielen Familien liegen die Nerven blank. Hinzu kommt, dass die Sorge vor Ressourcenknappheit aktuell einen neuen Höhepunkt erreicht. All das unterstützt das Ringen um einen guten Weg für Präzedenzfälle nicht. Trotzdem ist es dringender denn je, aus verschiedenen Blickwinkeln nach hilfreichen, gemeinsamen Wegen Ausschau zu halten.

dass es nun die Möglichkeit gibt, Menschen unter bestimmten Voraussetzungen dabei zu unterstützen, dass sie ihrem Leben bewusst und aktiv ein Ende setzen? Wer ist unglücklich darüber? Wie groß ist das Leid, dass dadurch verhindert wird? Wie groß ist das Leid, dass dadurch verursacht wird? Die Ambivalenz zwischen erhofftem Glück und spürbarem Unglück beschäftigt Menschen in unterschiedlichen Kontexten: schwerkranke betroffene Menschen, An- und Zugehörige, Mitarbeiter*innen im Gesundheits- und Sozialwesen, spirituelle Begleiter*innen, Hospizbegleiter*innen, letztendlich unsere ganze Gesellschaft. Was uns eint, sind der Wille und die Überzeugung, dass sterbenden Menschen immer zu helfen ist und unser Maßstab dafür die Würde ist. Die Anzahl der Bilder, wie würdevolles Leben und Sterben aussehen könnten und sollten, ist wohl größer als die Anzahl aller direkt und indirekt davon betroffenen Menschen – oft ein Dilemma. Hospizkultur als gute Basis

Dilemma zwischen Glück und Unglück Beim Thema assistierter Suizid erfahren Glück und Leid möglicherweise eine hochexplosive Gleichzeitigkeit, im besten Fall ein verständnisvolles Nebeneinander. Wer ist glücklich darüber,

Erfahrungen aus Hospiz- und Palliativbetreuungen zeigen, dass Sterbewünsche nur selten Suizidwünsche sind. Das eine vom anderen zu unterscheiden, braucht Kompetenz. Organisationsformen, die Hospizkultur als Grundhaltung

Min C. Chiu / Shutterstock.com

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in all ihr Tun integriert haben, finden in einer Dilemmasituation rund um den assistierten Suizid in einer agierenden Art und Weise zu Lösungen. Das mag begründet sein durch die intensive Auseinandersetzung aller Berufsgruppen einer Organisation bei Bildungsmaßnahmen, die so flexibel gestaltet sein müssen, dass das Thema assistierter Suizid jenen Raum bekommen kann, den die Mitarbeiter*innen zu genau diesem Zeitpunkt dafür brauchen. Erfolgreiche Prozesse, wie das österreichweite Konzept »Hospizkultur und Palliative Care in den Pflegeheimen – HPCPH«, haben neben der Schulung auch die Organisationsentwicklung im Blick. Nur wenn die Organisation, der Träger dafür sorgt, dass umfassende Vereinbarungen entwickelt, umgesetzt sowie verankert werden und nicht von Einzelpersonen im Unternehmen abhängig sind, kann jene Sicherheit gegeben werden, die Mitarbeiter*innen gerade in diesen Situationen so sehr bauchen. Je klarer ein Träger Rahmenbedingungen vorgibt und den Handlungsspielraum für Mitarbeiter*innen definiert hat, umso mehr Sicherheit bietet das. Es gibt bereits gute Beispiele und Handreichungen. Um Glück und Leid in Balance halten zu können, müssen unterschiedliche Ebenen berücksichtigt werden, wenn der assistierte Suizid in Institutionen thematisiert wird: Trägerebene,

Teamebene und Persönlichkeitsebene sowohl gegenüber den Mitarbeiter*innen als auch mit Blick auf die betroffenen Menschen und deren Umfeld. Es braucht umfangreiche Angebote auf allen Ebenen, die zum Ziel haben, so viel Sicherheit wie möglich zu bieten und größtmögliche Flexibilität zu geben, damit würdevolle, individuelle Entscheidungen getroffen werden können, die mit allen involvierten Personen klar und deutlich kommuniziert werden. »Unsicherheiten entstehen immer. Wir können ihnen auch im Sterben nicht entkommen. Wir können vielleicht Sicherheit gewinnen, indem wir unsere Unsicherheiten (emotional, rational, fachlich etc.) miteinander teilen und aushalten« (Heller und Schuchter 2022). Professionelle Begleitung bei Sterbewünschen und Suizidwünschen setzt Expertise voraus. Nur ein multiprofessionelles Team kann einen kontinuierlich reflektierten Prozess anbieten, um herausfordernde Situationen auch im Sinne von Shared Decision-Making meistern zu können. Strukturübergreifende Begleitung, wie in der Palliative Care üblich, ist dabei eine weitere wertvolle Ressource. Das Thema »Selbstfürsorge« soll hier ebenso kurz erwähnt werden, ohne näher darauf eingehen zu können. Um in schwierigen Situationen bestehen zu können, ist es entscheidend, gut für sich zu sorgen und die eigene Resilienz zu stärken: ob durch Supervision oder ausreichend Schlaf, Reflexion über eigene positive Erfahrungen mit Krisen und Leid oder Glückstagebücher oder die Freude darüber, selbst frei von existenziellen Nöten zu sein. Äußert jemand einen Sterbewunsch, so ist Begleitung im hospizlichen Sinne der richtige Weg: Es zählt das, was dem betroffenen Menschen gerade wichtig ist. Eigene Meinungen und Wünsche der Hospizbegleiter*innen sind hintanzustellen. In Begleitungssituationen, wo Sterbewünsche im Raum stehen, ist es bedeutsam, das Gegenüber zu bitten: »Hilf mir, dich zu verstehen, dann kann ich an dem mittragen, das dich belastet.« Die Bit-

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Und Glück im Leid ist: »... eine schnurrende Katze. ... Sonnenschein auf der Haut. ... in Ruhe ausschlafen. ... an einem heißen Tag ein Eis essen. ... einer Hummel zusehen, wie sie von Blüte zu Blüte bummelt.« (ohne Anspruch auf Vollständigkeit; Patientin mit Brustkrebs)

te um ein Gespräch zum assistierten Suizid kann ein großer Vertrauensbeweis sein, aber vielleicht auch eine große Bürde. Besonders herausfordernd können soziale und familiäre Verbindungen mit vielen unterschiedlichen Personen sein. Wie in jedem Lebensprozess stehen Menschen an unterschiedlichen Positionen: Nicht alle gehen den Weg gleich schnell. Während die eine Person eine Diagnose bereits gut integriert hat und sich freud- und lustvoll dem heutigen Tag widmet, verleugnet der Partner vielleicht die Diagnose, weil das die erlernte Bewältigungsstrategie ist. Menschen sind mit unterschiedlichen Grundkonstitutionen auf ihrem Lebensweg unterwegs, ausgerüstet mit unterschiedlichen Talenten und Erfahrungen. Weggefährten und richtungsweisende Lebenssequenzen beeinflussen, ob und wie Situationen als Glück oder Unglück eingestuft werden. Die Fähigkeit, in die Metaebene zu gehen, erleichtert die Orientierung und das Verstehen als Voraussetzung dafür, um die Entscheidung eines anderen Menschen mittragen zu können.

dass Argumente, warum Entscheidungen so und nicht anders getroffen worden sind, für alle Beteiligten sehr klar und unmissverständlich kommuniziert werden. Es ist entscheidend, dass sich die beteiligten Menschen auch Jahre später gut an diese Argumentation erinnern. Dies erleichtert es Hinterbliebenen, auf welche Art und Weise das Leben eines geliebten Menschen trotz ambivalenter Entscheidungen zu Ende ging, besser im eigenen Leben verankert zu bleiben. Es ist eine herausfordernde Aufgabe guter Begleitung, genau dafür Sorge zu tragen. Dieser Aspekt könnte entscheidend für den Trauerprozess nach assistiertem Suizid oder nach dessen Ablehnung sein, denn An- und Zugehörige müssen mit dem Tod des geliebten Menschen weiterleben. Wenn es in einer Begleitung gelingt, neue Sichtweisen und Wege zu eröffnen, und ein Perspektivenwechsel erlangt wird, dann ist die Wende hin zum Glück leicht nachvollziehbar. Gelingt es nicht, so ist es offen, ob Unglück oder Leid die Folge davon sind. Haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter*innen sind im Kontext von assistiertem Suizid immer auch als betroffene Menschen im Blick zu halten. Das gesamte Umfeld, die Gesellschaft sind Betroffene im Thema. Tragen wir gemeinsam Sorge füreinander und bleiben wir im Gespräch. Wie beim Glück und Unglück gibt es viele Schattierungen, nicht nur Schwarz und Weiß. Schön wäre es, wenn es uns gelingt, die vielen Farben und Schattierungen dazwischen zu erkunden, zu sehen, sichtbar zu machen. Dann bauen wir Brücken zueinander, anstatt sie abzureißen – das führt uns auf jeden Fall in Richtung Glück! Sonja Thalinger, MSc, ist Geschäftsführerin des Landesverbandes Hospiz Niederösterreich und designierte Geschäftsführerin des Dachverbands Hospiz Österreich.

Für klare Kommunikation sorgen Aus praktischen Erfahrungen anderer Bereiche, etwa der perinatalen Palliative Care, wissen wir, dass es wichtig ist, Menschen gut vorzubereiten auf das Leben nach einer schwierigen Entscheidung. Während des Prozesses ist darauf zu achten,

Kontakt: [email protected] Literatur Heller, A.; Schuchter, P. (2022). Profis wollen planen, Betroffene Beziehungen. In: Praxis Palliative Care, 55.

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… auf dem Rücken der Pferde liegt das Glück der Erde Pferdegestützte Palliative Care in der Pädiatrie

Lisa Wiesinger und Michaela Scherzer Superhelden können das. Und schließlich hat er ja Summer, das Pferd, auf dem er sitzt – und natür­ lich Michi, die das Pferd und seinen kleinen Reiter zu Fuß begleitet. Bis vor kurzem noch konnte man Summers Atem sehen, kleine Dampfwölkchen stieß sie aus, jetzt wird es von Minute zu Minute wär­ mer, der Frühling setzt sich durch. Eine gute Stun­ de sind sie schon unterwegs, Erik kennt den Weg bereits, die Kurven, die Felsen, die Stolpersteine. »Was sehen wir, was riechen wir, was hören wir?«, fragt Michi. »Den Urwald«, sagt Erik. Es duftet, wie es gestern geduftet hat, vielleicht sogar noch ein bisschen stärker, weil heute Eriks Mama mit dabei ist – und wunderbar einzigartig, das muss Mama unumwunden zugeben. Aber wo­ nach es hier duftet, da kommt sie nie drauf. »Weich­ spüler?«, vermutet sie vorsichtig, »oder Kaugum­ mi?« – »Blumeneistee!«, lacht Erik, es duftet nach Blumen und nach Eistee, macht zusammen Blu­ meneistee.

Der Geruch dieser Wiese, den er als wunderba­ ren Duft wahrnimmt – Erik soll ihn tief in sich auf­ nehmen. Schon bald wird er davon zehren müssen. Schon bald wird er wieder kämpfen müssen. Gegen schlechte Gerüche. Gegen Übelkeit. Die Kiste wird da sein und sie wird nach Blumeneistee duften. Er wird sich an den Wald erinnern, an die wunderbare Lichtung. Er wird in seinen Gedanken dem Weg fol­ gen, zwei enge Kehren weiter und dann etwas bergab dorthin, wo das Geäst besonders dicht ist, wo mit­ ten in den Büschen eine Eisenstange aus dem Bo­ den ragt, an der ein grüner Kanister mit einem ro­ ten Punkt befestigt ist – der Papagei. Er wird sich an all die spannenden Geschichten erinnern, die er hier erlebt hat. Er wird darauf vertrauen, dass er zurück­ kehren kann – an den Sterntalerhof, zu Michi und zu Summer. Und dann wird er kämpfen. Gegen die Übelkeit. Gegen den Tumor in seinem Kopf. Gegen die Tränen seiner Mama. Er wird kämpfen – und er wird siegen. Superhelden können das. Der Sterntaler

Der Sterntalerhof Der Sterntalerhof hat mit den Begründern Peter Kai und Regina Heimhilcher 1998 begonnen, pferdegestützte Palliative Care in der Pädiatrie anzubieten. Fast 25 Jahre später kümmert sich das stationäre Kinderhospiz mit psychosozialem Schwerpunkt jährlich um etwa hundert betroffene Familien mit schwer, chronisch und sterbenskranken Kindern. Neben Seelsorge, Psychologie, Psychotherapie, Sozialarbeit, Pflege, Pädagogik und verschiedenen Aktivtherapien ist das Rei-

ten hier nach wie vor ein zentraler Teil der ganzheitlichen Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleitung. Da die ganze Familie betroffen ist und bekannterweise der Palliativbereich eine umfassende Versorgung von Körper, Seele und Geist vorsieht, ist ein systemischer, interdisziplinärer und ganzheitlicher Ansatz unentbehrlich. Trotz Krankheit, Behinderung und Lebensbegrenzung will ein erfülltes Leben gelebt werden. Dies kann sowohl durch die verschiedenen

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pädagogisch-therapeutischen Angebote ermöglicht werden als auch im alltäglichen Leben mit Tier und Natur. Pferdegestützte Therapie

Lebensverkürzt erkrankte Kinder sind in ihren Bewegungserfahrungen oft beeinträchtigt, wodurch die sensomotorische Integration sowie die psychomotorische Entwicklung verändert sein können. In der pferdegestützten Therapie werden alle Sinne angesprochen: Sehen, Hören, Riechen, Tasten, Gleichgewicht, Eigenwahrnehmung. Egal ob beim Beobachten, Führen, Putzen, Versorgen der Pferde oder beim Reiten – es ist eine sinnliche Erfahrung. Beim Reiten selbst werden zudem auch Bewegungsgrundlagen wie Koordination, Reaktion, Rhythmusfähigkeit und Orientierung angesprochen. Die Reitenden müssen sich beim Getragenwerden mit dem ganzen Körper auf dreidimensionale Bewegungsimpulse einlassen, die vom Pferd in ständiger, aber nie gleichbleibender Form ausgehen. Verschiedene Tempi, Gangarten, verschiedene Untergründe und Biegungen – eine stetige Anpassungsreaktion ist gefordert. Diese basale Stimulation ermöglicht es auf neurophysiologischer Grundlage Stell- und Gleichgewichtsreaktionen zu bahnen, die Aufrichtung des Oberkörpers zu unterstützen sowie die Stärkung

Sterntalerhof

Der Einsatz des Pferdes in der palliativen Begleitung setzt darauf, die Ressourcen lebensbedrohlich erkrankter Kinder zu reaktivieren und zu stärken, um ihnen den Umgang mit den zahlreichen primären und sekundären Folgen der Erkrankung zu erleichtern. Die pferdegestützte Therapie ist eine sehr ganzheitliche und komplexe Therapiemethode, die im Rahmen dieses Artikels nur ansatzweise beschrieben werden kann. Im Kontext von Palliative Care in der Pädiatrie wird versucht, hier kurz die wichtigsten Wirkungsschwerpunkte zu skizzieren, die alle auf die Reduzierung von Stressoren und die Stärkung der Ressourcen abzielen: 1. Physiologie und Motorik 2. Psycho-emotionale Begleitung 3. Copingstrategien

Physiologie und Motorik

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Psycho-emotionale Begleitung Gerade durch lang andauernde oder lebensbedrohliche Erkrankungen und Erfahrungen von Schmerz und Angst kann das Vertrauen zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen, zur Umwelt oder etwa zu Gott massiv beeinträchtigt werden. Durch das freundliche Wesen des Pferdes, sein instinkthaftes Einfühlungsvermögen, seine Bereitschaft zu Anpassung und seine ständigen Beziehungsangebote wird eine Vertrauensbeziehung zwischen Kind und Pferd meist sehr schnell aufgebaut. Es kann auch vorkommen, dass erst die faszinierende und vertrauensvolle Begegnung zwischen Mensch und Tier eine hoffnungsvolle

Neuorientierung in der Begegnung mit anderen Menschen ermöglicht. Das Pferd erinnert zudem an die in der palliativen Begleitung geforderte Vermittlung von Hoffnung und Trost, welche nicht nur durch Menschen, nicht nur durch Worte, sondern in der konkreten ganzheitlichen Erfahrung des Gewiegt- und Geschaukeltwerdens erlebt werden kann – und das in jedem Alter. Es geht in unserer Arbeit sehr oft um ein Begleiten in den vielfältig erlebten Abschiedsprozessen, von dem, was tatsächlich nicht oder nicht mehr erlebt oder verwirklicht werden kann. Unzählige Verluste sind es, die von Betroffenen betrauert werden wollen, längst bevor der Tod tatsächlich eintritt. Vor allem dann ist die Erfahrung des Getragenwerdens wertvoll. Durch das Pferd erleben wir das Angenommensein im eigenen Schmerz, in der Depression, in der Wut oder Enttäuschung. Vom Pferd werden Trauernde ertragen und getragen in ihrem vollen Dasein und Sosein. Auf dem Rücken des Pferdes besteht die Möglichkeit nachzufühlen und nachzuspüren, zuzulassen, was da ist, und schließlich zu lernen, Gefühle anzunehmen und zu integrieren.

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der Kopf- und Rumpfkontrolle. Zusätzlich wird die Gleichgewichtsfindung der Reiter*innen auf ideale Weise durch die Selbstbalance des Pferdes unterstützt. Gerät der Mensch aus dem Gleichgewicht, ist das Pferd bestrebt, unter sein Gewicht zu treten. Zudem übertragen sich auch die etwas höhere Körpertemperatur sowie der langsamere Herz- und Atemrhythmus des Pferdes auf den Menschen, wodurch Verkrampfungen gelöst werden und Entspannung eintreten kann.

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Pferde reagieren nicht nur auf die von uns bewusst erlebten Beziehungsangebote, sondern auch auf unbewusste Gefühle und Intentionen. So können die Reaktionen des Pferdes wie ein Spiegel unbewusster Seelenzustände erlebt und gedeutet werden. Etwas vom Wesen der Pferde wirkt, wie es scheint, heilsam auf die Seele der Menschen – und so ist es kein Zufall, dass sie mehr und mehr dort an Bedeutung gewinnen, wo konventionelle Therapieansätze an ihre Grenzen stoßen. »Pferde sind meines Erachtens für diesen Prozess optimale Partner. Von Natur aus sind sie freundlich und dem Menschen zugewandt. Gleichzeitig aber sind sie autonom und seelisch vom Menschen nur bedingt abhängig« (Groth 2005). Durch verschiedene methodische Ansätze und die dem Menschen vertraute dreidimensionale Bewegung beim Reiten, die Körperwärme, die Größe und das liebevolle Wesen der Tiere können Entspannung, Geborgenheit und Zuversicht und damit auch so etwas wie Glück erlebt werden. Copingstrategien Alles, was Kinder und Jugendliche im Umgang mit ihrer Krankheit und deren Folgen unterstützt, sollte genutzt werden. Coping-förderliche Aspekte sind neben dem Gefühl der Zugehörigkeit auch konkrete Erfahrungen von Selbstbestimmtheit, Selbstwirksamkeit und Handlungskompetenz. Eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten durch Behinderung und Krankheit verhindern häufig neue Erfahrungen in Bezug auf eigene Fähigkeiten und Möglichkeiten. Die Beschäftigung mit dem Pferd und sein hoher Aufforderungscharakter helfen Betroffenen neue Handlungen zu wagen und sich weiterzuentwickeln. Rund um das Pferd werden erfahrungsgemäß sehr schnell Erfolgserlebnisse sichtbar, die das Vertrauen in sich selbst und eigene Fähigkeiten bestärken: Wenn ein so mächtiges, körperlich überlegenes Tier mit einem Kind selbstverständlich mitgeht, ihm Zuwendung und Nähe schenkt, wenn es gepflegt, versorgt, vielleicht so-

gar geschmückt oder bemalt werden darf, wenn es ihm die Beine borgt, um in Wald und Feld unterwegs zu sein, wenn es sein stiller Vertrauter wird, dem Sorgen erzählt werden können, der es nicht bemitleidet, nicht bewertet und einfach da ist … In der Nähe einer lebensbegrenzenden Situation geht es um ein selbstbestimmtes, gestaltbares und in seiner ganzen Fülle gelebtes Leben. Um Lebensqualität und ein Empfinden von Glücksmomenten im Hier und Jetzt. Fazit Die Arbeit mit und auf dem Pferd bietet in ihrer spannenden Gesamtheit viele Möglichkeiten für die pferdegestützte Palliative Care in der Pädiatrie. Pferde können Krankheiten und Behinderungen nicht heilen, aber sie können den Prozess des Umgangs mit der Erkrankung und auch den Sterbe- und Trauerprozess tröstend begleiten – sie ermöglichen so etwas wie Sternstunden: Momente des Glücks in einer schweren Zeit. Das Pferd überzeugt durch sein Wesen mit Empathie, Authentizität und bedingungsloser Akzeptanz. Den Grundhaltungen, die in der palliativen Begleitung unabdingbar sind. Mag.a Lisa Wiesinger ist Heil- und Sonderpädagogin, HTFP-Therapeutin (OKTR), Palliative Care in der Pädiatrie. Kontakt: [email protected]

Michaela Scherzer ist Diplom-Sonderkindergärtnerin, HTFP-Therapeutin (OKTR), Reitpädagogin, internationale Voltigiertrainerin (OEPS), Integrative Trauerbegleiterin; Palliative Care in der Pädiatrie. Kontakt: [email protected]

Quellen Groth, B. (2005). Vom Getragenwerden zum Dialog. In: FAPP/DKTHR (Hrsg.), Psychotherapie mit dem Pferd. Warendorf. www.dersterntaler.at – Eriks Papagei

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Trauer sucht Rausch? Vom kurzen, fragwürdigen Glück in unglücklichen Zeiten

Michael-M. Lippka-Zotti

Im Jahr 921 reist der junge Gelehrte Ahmad Ibn Fadlan als Mitglied einer arabischen Handels­ delegation die Wolga hinauf und berichtet minuziös von fremden Völkern und deren Sitten in einem bis heute erhaltenen Reisebericht – seiner Risala. Unterwegs begegnet er auch einer Gruppe von Wikinger*innen, die ebenfalls an der Wolga Handel treiben. Als einer der Häuptlinge verstirbt, wird Ibn Fadlan Zeuge seines außergewöhnlichen Begräbnisses. Fasziniert und schockiert zugleich, notiert er später in seiner Reisebeschreibung, dass im Rahmen der Trauerfeierlichkeiten ein Drittel des Vermögens des Verstorbenen für die Zubereitung eines Starkbieres verwendet wurde – mit dem sich die Trauergäste über Tage hinweg berauschten. Auch hörte er verwundert, dass einige Trauernde im Rahmen solcher Begräbnisse bereits an einer Alkoholvergiftung gestorben seien. Die Verbindung von Alkohol und Trauerkultur ist allerdings viel älter. Dem keltischen Fürsten von Hochdorf hatte man bereits um 550 vor

Um die gewünschte angstlösende Wirkung und den damit ver­ bundenen Rausch zu erzielen, müssen immer höhere Dosen zu sich genommen werden.

Lukas Radbruch

Seit Urzeiten versucht der Mensch sein Leid in Krisenzeiten durch den Gebrauch von Rauschmitteln zu lindern. In den Grabkammern der Antike zeugen Weingefäße, Metkessel und pflanzliche Drogen von einer langen Beziehung zwischen menschlicher Trauer und dem Einsatz psychotroper Substanzen. Und in den Lebensgeschichten derjenigen, die an einem Abhängigkeitssyndrom leiden, finden wir oftmals eine Anhäufung von Verlusten, mit denen sich nie richtig auseinandergesetzt werden konnte. Trauer, Rausch und Sucht bilden seit langer Zeit ein nicht immer leicht zu durchschauendes Netz, in dem sich viele Menschen verfangen.

Pablo Picasso, Two Women Sitting At Bar, 1902, INTERFOTO / SuperStock / Peter Willi © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2022

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Christus neun mächtige Trinkhörner ins Grab mitgegeben. Vom Altertum bis in unsere Tage hinein fließt beim »Leichenschmaus« oder der Zehrung der Alkohol, wenn nicht in Strömen, so doch als fixer Bestandteil der Feierlichkeiten – vielleicht auch um sprichwörtlich die Trauer »zu ertränken«. Auch größeren, kollektiven Krisen scheinen wir Menschen immer wieder mit Rausch zu begegnen: Während der Corona-Lockdowns stapelten sich vielerorts die Wein- und Cog­nacflaschen vor den übervollen Altglascontainern nicht ohne Grund. Warum aber bedienen sich Menschen immer wieder der merkwürdigen Magie des Alkohols?

Alkohol hat, wie die Wissenschaft längst erkannt hat, kurzfristig eine stimmungsaufhellende, beruhigende und angstlösende Wirkung, die auf einer gesteigerten Ausschüttung der Botenstoffe Dopamin und Serotonin beruht. Dopamin, landläufig neben dem ebenfalls bekannten Serotonin, als »Glückshormon« bekannt, ist in Wahrheit ein vitaler Bestandteil des internen Belohnungssystems des Menschen und bewirkt bei uns Empfindungen wie Freude und Zuversicht. Im Alkoholrausch lösen sich Ängste in Luft auf und Unsicherheiten werden plötzlich verschwindend klein. Zudem ist der Alkohol leicht verfügbar und in unseren Breiten eine wahre Kul-

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turdroge. Selbst bei freudigen Ereignissen wie Hochzeiten oder Firmenfeiern werden mit dem obligaten Bier oder Gläschen Sekt Nervositäten abgebaut, soziale Interaktionen gefördert und sie tragen allgemein zur Stimmungssteigerung bei. In Krisensituationen wie bei dem Verlust des Arbeitsplatzes, einer Trennung oder vielleicht dem Tod eines geliebten Menschen scheint es demnach nur noch verständlicher, dass man sich der aufhellenden Wirkung psychotroper Substanzen wie beispielsweise Alkohol bedient, die das individuelle Leiden zumindest vorübergehend lindern sollen. Auch in der professionellen Heilkunde ist diese Idee immer noch präsent: Zwar würden moderne Hausärzt*innen wahrscheinlich keinen Schnaps zur Beruhigung von trauernden Eltern beim Begräbnis ihres Kindes ausschenken, aber die Verschreibung von Beruhigungsmitteln bei zu erwartenden, großen psychischen Belastungen ist schon lange gängige Praxis. Und das hat seinen Grund: Trauer hat einen profunden Einfluss auf unser Nervensystem. Störungen in der Dopamin- und Serotoninausschüttung sowie andere hormonelle Schwankungen sind häufige Trauersymptome. Diese hormonellen Veränderungen bei trauernden oder dauerhaft leidenden Menschen sorgen für die mit der Trauer einhergehenden Gefühle von Antriebslosigkeit, Traurigkeit, Wut, Angst und weitere Symptome wie Schlaflosigkeit und Erschöpfung. Das ist für die Betroffenen nicht nur ermüdend, es kann auch zu gravierenden Konsequenzen wie etwa dem Verlust der Arbeit oder sozialer Isolation führen. Die Auszeit von den Anstrengungen der Trauer, die Alkohol und andere psychotrope Substanzen bieten, hat allerdings einen Haken: Alkohol und einige andere berauschende Substanzen wirken zeitlich nur sehr begrenzt und bringen einen Gewöhnungseffekt mit sich, der dazu führt, dass man bei regelmäßigem Konsum zu höheren Dosen greifen muss, um den gewünschten Rauscheffekt zu erzielen.

Unser Gehirn passt sich gewissermaßen daran an, in regelmäßigen Rauschsituationen mit Serotonin und Dopamin überflutet zu werden, und reagiert in Folge damit weniger sensibel auf diese Stoffe. Um die gewünschte angstlösende Wirkung und den damit verbundenen Rausch zu erzielen, müssen immer höhere Dosen zu sich genommen werden. Ferner ist das »böse Erwachen« nach dem Rausch biologisch vorprogrammiert. Während der Körper nämlich den Alkohol abbaut, entsteht das giftige Acetaldehyd, welches Übelkeit und Kopfschmerz verursacht. Zudem sind auch Trauer, Angst und Unsicherheit sofort wieder präsent, sobald die Rauschwirkung nachlässt – oft in Verbindung mit einem schlechten Gewissen, welches das Befinden noch weiter drückt. Trotz dieser äußerst unangenehmen Nebenwirkungen greifen viele Menschen immer wieder zur Flasche – oder zu anderen Formen des Konsums von Rauschmitteln – und entwickeln ein Abhängigkeitssyndrom. Die Frage nach dem Warum ist beim Abhängigkeitssyndrom nicht leicht zu beantworten, aber es gibt Hinweise: Neben dem bereits beschriebenen Gewöhnungseffekt beim Gebrauch von berauschenden Substanzen wie dem Alkohol hat die Wissenschaft viele weitere Faktoren entschlüsseln können, die dazu beitragen, dass Menschen abhängig werden. So gibt es anscheinend gewisse genetische Dispositionen, welche die Ausprägung von Abhängigkeiten begünstigen. Damit können allerdings die Häufungen von Suchterkrankungen in bestimmten Familien nur zur Hälfte erklärt werden. Neben der genetischen Veranlagung deuten nämlich viele Untersuchungen in Richtung der sozialen Prägung. Unsere Kinder lernen zunächst durch Nachahmung. Sehen sie also, dass Erwachsenen psychische Belastungen mit Alkoholkonsum »kurieren«, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Alkohol im späteren Leben selbst in das Repertoire ihrer Coping-Strategien aufnehmen, groß. Aber nicht nur die Sozialisation spielt eine große Rolle:

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Glück ist für mich … »eine neue Liebe gefunden zu haben. Vor zwei Jahren, als mein Mann starb, konnte ich mir dies nicht im Ansatz vorstellen. Es gab noch nicht mal einen Gedanken dahin. Dann lief mir dieser Mann über den Weg. Mein erster Gedanke: ›Ein gut aussehender Mann‹. Ich war erschrocken. Was für ein Gedanke. Doch dann entwickelte es sich. Es ist kein einfacher Weg. Doch wir gehen ihn, weil wir beide spüren: Das Glück ist uns begegnet.« (Susa, 60 Jahre, 13 Monate nach dem Tod ihres Mannes)

Es scheinen bestimmte soziale Faktoren zu sein, die dazu beitragen, ob Menschen süchtig werden oder nicht. In den 1970er Jahren sorgte das »Rat-Park«Experiment für Aufsehen in der Suchtforschung: Ratten, die in zwei Gruppen aufgeteilt waren, erhielten jeweils die Auswahl zwischen reinem Wasser und morphinhaltigem Wasser. Bei der ersten Gruppe handelte es sich um klassische Laborratten, die isoliert in Käfigen lebten, bei der zweiten Gruppe um Ratten, die gemeinsam den »Rat-Park«, eine Art Rattenparadies, bewohnten. Während die meisten Ratten der ersten Gruppe rasch süchtig nach dem Morphinwasser wurden und es oft überdosierten, zogen die Ratten der zweiten Gruppe es meist vor, dass reine Wasser zu trinken. Zudem nahmen sie wesentlich geringere Dosen des morphinhaltigen Wassers zu sich, wenn sie es doch einmal probierten. Man schloss also daraus, dass Sucht vor allem ein soziales Phänomen sei und die isolierten Laborratten aufgrund ihrer tristen Lebenssituation abhängig wurden. Seit der 1970er Jahren hat sich die Wissenschaft glücklicherweise weiterentwickelt und zu Recht ist in der Folgezeit der ursprüngliche Aufbau des »Rat-Park«-Experiments und die Schlussfolgerung, dass Menschen wie Ratten funktionieren, in Frage gestellt worden. Dennoch bestreitet kaum jemand heutzutage noch die Macht der sozialen Interaktion in der Suchtprävention. Natürlich können Menschen, die eng und konstruktiv sozial eingebunden sind, auf andere Ressourcen zurückgreifen als isolierte Personen. Auch Umarmungen oder Zärtlichkeiten, tiefsinnige Gespräche oder ein gutes gemeinsames Abendessen können angstlösend und stimmungsaufhellend wirken. Doch genau diese heilsame Nähe zu Mitmenschen bleibt Trauernden – oder generell Menschen in Krisenzeiten – leider allzu oft verwehrt.

Trauer macht oft einsam. So wie alles, was in unserer bunten, konsumorientierten Welt mit Tod oder Endlichkeit in Verbindung steht, marginalisiert wird, werden auch Trauernde gerne von der Gesellschaft übersehen. Es gibt ja Trauergruppen, Beratungsangebote oder – wenn es ganz schlimm kommt – die Psychotherapie. Ansonsten lässt man Trauernde gern »in Ruhe«, bis sie wieder fit genug sind, am Trubel des Alltagslebens teilzunehmen. Diese Isolation erschwert es den Betroffenen oftmals, das eigene soziale Umfeld für eine Auszeit von der Trauer zu nutzen. Alkohol ist dagegen leicht verfügbar. Ein Gang zum Supermarkt genügt. Dabei ist die besondere Magie des Rausches nicht zu verteufeln. Gerade in Zeiten der Trauer oder nach langen Belastungen kann es heilsam und befreiend sein, im Kreise lieber Menschen, von gutem Wein berauscht, zu tanzen und laut zu singen. Weniger heilsam erscheint es hingegen, allein die eigene Angst und Schlaflosigkeit mit einer Flasche Schnaps vor dem Fernseher zu bekämpfen. Und obwohl sie Alkoholvergiftungen in Kauf nahmen, wussten vielleicht bereits die alten Wikinger*innen zwei Dinge: dass Rauscherfahrungen in eine Gemeinschaft eingebettet werden sollten, um das Abrutschen in die Sucht zu verhindern, und dass Trauernde etwas Aufheiterung vertragen können. Lassen wir Trauernde also nicht allein mit ihrem Leid. Mag. Michael-M. Lippka-Zotti ist Kommunikationstrainer, Sozialarbeiter, Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleiter, externer Lehrbeauftragter für Kommunikation und Sozialkompetenztraining an der FHG OÖ, der FH Oberösterreich und anderen Bildungsinstituten, OÖ-Koordinator des Kinderhospizes Sterntalerhof. Er lebt und arbeitet in Linz/OÖ. Kontakt: [email protected]

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»Wie (un-)glücklich sind Palliativteams heute?« Martina Kern im Gespräch mit Rainer Simader von Leidfaden Im Jahr 2009 wurde durch das damalige Gesundheitsministeriums in Nordrhein-Westfalen (NRW) eine Untersuchung zu den Belastungsund Schutzfaktoren von Mitarbeiter*innen in Hospizen und Palliativstationen in Auftrag gegeben. Monika Müller, damals Leiterin von ALPHA Rheinland, der Ansprechstelle des Landes NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung, hat diese Untersuchung federführend begleitet. Die Untersuchung erzeugte viel Aufmerksamkeit, war sie doch die erste in Deutschland, die umfassend die Situation der Begleitenden in den Blick nahm. Über 900 Personen aus den unterschiedlichen Professionen wurden befragt. Pu­bli­ ziert wurden die Ergebnisse als Buch unter dem Titel »Wie viel Tod verträgt das Team?« (Müller und Pfister 2012). Im Jahr 2019, also 10 Jahre nach dieser Untersuchung, wurde diese ebenfalls durch finanzielle Förderung des Gesundheitsministeriums NRW wiederholt. Hauptverantwortlich ist dieses Mal Martina Kern unter wissenschaftlicher Mitarbeit von Dr.in Gülay Ateş und Dr.in Birgit Jaspers. Martina Kern ist Leiterin von ALPHA Rheinland und Leiterin des Zentrums für Palliativmedizin am Helios Klinikum Bonn/Rhein-Sieg. Seit 1989 ist sie in der Palliativversorgung und Hospizarbeit tätig. Rainer Simader, Mitherausgeber des Leidfaden, traf Martina Kern zum Gespräch, um herauszufinden, wie es heute um die Belastungen von Hospiz- und Palliativmitarbeiter*innen bestellt ist. Rainer Simader: Liebe Frau Kern, warum wur­ de es Zeit für eine Wiederholung der Untersuchung aus dem Jahr 2009?

Martina Kern: Nach zehn Jahren kontinuierlicher Weiterentwicklung erschien es uns notwendig, die Belastungen erneut abzufragen. 2009 wurden ausschließlich Mitarbeiter*innen von stationären Einrichtungen befragt. Nun sollten auch ambulante Strukturen der Palliativversorgung in den Blick genommen werden, ebenso die veränderten Rahmenbedingungen. Rainer Simader: Was waren im Jahr 2009 die wichtigsten Forschungsergebnisse? Martina Kern: Es wurde offen sichtlich, dass die Begleitung sterbender Menschen eine Aufgabe ist, die vielfältige Auswirkungen auf die Mitarbeitenden hat. So stellte der hohe Anspruch der Hospizund Palliatividee, Menschen ein gutes Sterben zu ermöglichen, den bedeutsamsten Belastungsfaktor dar. Ebenso die besonderen Beziehungen zu Patient*innen sowie die Häufung von Todesfällen. Wichtig war auch zu sehen, wie Teams auf zu viel Sterben und Tod reagieren. Als häufigstes Symptom wurde die Überredseligkeit genannt. Gemeint ist ein dysfunktionales Sprechen, ein Vielreden über Patient*innen, Kolleg*innen etc. Als zweithäufigstes Symptom wurde die erhöhte Reizbarkeit genannt, dicht gefolgt von Spannungen der Berufsgruppen untereinander. Demgegenüber wurde als wichtigster Schutzfaktor im Umgang mit Sterben und Tod das Team selbst genannt, an zweiter Stelle stand der Humor und an dritter Stelle das Privatleben. Rainer Simader: Gab es damals für Sie besonde­ re Erkenntnisse oder Überraschungen? Martina Kern: Die Bedeutsamkeit des eigenen Anspruchs war mir nicht in diesem Maße bewusst, sie ist aber letztlich nachvollziehbar. Wichtig war

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und ist, den eigenen Anspruch an die Arbeit immer wieder zu überprüfen und zu reflektieren, damit er nicht zur Überforderung wird. Unser Anspruch muss immer wieder mit der Wirklichkeit in Beziehung gesetzt werden. Wo ist er überhöht, vielleicht ist es nur meiner, aber nicht der des Patienten oder der Patientin? Hier nicht müde zu werden, dies immer wieder zu überprüfen ist meines Erachtens eine der großen Herausforderungen in der Begleitung schwerstkranker Menschen und ihrer Familien. Rainer Simader: Wenn ich Sie richtig verstehe, ist das Team Belastung und Ressource zugleich? Martina Kern: Ja, und da gilt es genau hinzusehen. Für mich war die Überredseligkeit ein neuer und wichtiger Gedanke. Ich habe dieses Phänomen auch in unserem Team beobachten können. Wie oft habe ich damals gedacht und es von manchen Kolleg*innen gehört: Wenn wir einfach arbeiten würden, statt immer nur zu reden. Dann würden wir auch fertig mit der Arbeit. Mit dem Verständnis, dass die Überredseligkeit ein Ausdruck von Belastung sein kann und eine Arbeitsoptimierung im Sinne weiterer Regelungen nicht zielführend ist, konnten wir neue Wege des Umgangs finden. Zum Beispiel machten wir im Team eine Supervisionspause und stattdessen ein Achtsamkeits- und Mitgefühlstraining, durch das wir Stress reduzieren und miteinander neu in Kontakt kommen konnten.

Pilot­studie 2019 der Fokus auf die Beantwortung durch Teams der Palliativversorgung gelegt. Es wurden nur Daten aus Teams ausgewertet, bei denen der Rücklauf mindestens 75 Prozent aller Teammitglieder betrug. Rainer Simader: Vergleichen wir die Ergebnisse aus dem Jahr 2009 mit den aktuellen Befunden: Wo ähneln sich die Ergebnisse? Martina Kern: Interessant ist, dass es kaum Abweichungen bei den Reaktionen auf »zu viel« Tod und zu den Schutzfaktoren gab. Bei den Belastungssymptomen wurde wieder die Überredseligkeit, gefolgt von erhöhter Reizbarkeit und Spannung der Teammitglieder untereinander, genannt. Bei den Schutzfaktoren sind das Team und der Humor als Ressource nach wie vor Spitzenreiter.

Rainer Simader: Ist das Studiendesign von da­ mals und heute vergleichbar? Martina Kern: Zunächst haben wir in einem multiprofessionellen Expert*innen-Workshop Belastungs- und Schutzfaktoren gesammelt, um zu überprüfen, ob neue oder veränderte Faktoren genannt werden. Diese wurden im neuen Fragebogen ergänzt. Darüber hinaus wurden auch ambulante Teams in die Befragung aufgenommen. Anders als in 2009, als alle Mitarbeitenden aus Hospizen und Palliativstationen an der Befragung teilnehmen konnten, wurde in der

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»W i e ( u n - ) g l ü c k l i c h s i n d Pa l l i a t i v t e a m s h e u t e ? «    8 7

Rainer Simader: Wo gibt es die größten Abwei­ chungen? MK: Gegenüber der Studie aus 2009, in der die Rahmenbedingungen (noch) kein Thema waren, ist der Zeitdruck auch in diesem Feld zum höchsten Belastungsfaktor geworden. Personalmangel, viele Begleitungsanfragen und ein hoher Dokumentationsaufwand sind Gründe, die dafür verantwortlich sind. Auch widersprüchliche Behandlungspläne im Netzwerk und die Fortführung von Therapien bei schlechter Prognose werden als häufiger Belastungsfaktor genannt. Die Zunahme an Anfragen, das Ringen um widersprüchliche Behandlungspläne können als Zeichen der In-

tegration in unser Gesundheitswesen und damit eigentlich als »Erfolgsfaktor« interpretiert werden. Mehr Patient*innen werden auch frühzeitiger aufgenommen, die Angebote sind selbstverständlicher geworden, das Netzwerk in der Hospiz- und Palliativversorgung größer – und damit auch das Konfliktpotenzial, die Komplexität und damit verbundene Belastungsfaktoren. Interessant ist auch, wie der Abbildung »Schutzfaktoren« (S. 88) zu entnehmen ist, dass sich circa die Hälfte der Befragten gemeinsame Aktivitäten wünscht, um einen hilfreichen Umgang mit dem Thema »Sterben und Tod« zu finden, die andere Hälfte findet dies nicht beziehungsweise weniger unterstützend. Um diese unterschiedlichen Copingstrategien zu wissen ist hilfreich für eine gelingende Teamkultur, denn oftmals werden ge-

Bianca Van Dijk / Pixabay

Auch der Anspruch als Belastungsfaktor ist geblieben, aber nicht mehr auf Platz 1.

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Aus: Ates, Jaspers und Kern, 2020

meinsame Teamaktivitäten, an denen alle teilnehmen, als Indikatoren für ein gutes und gesundes Team benannt. Rainer Simader: Was sind aus Ihrer Sicht heute die wichtigsten Erkenntnisse und mögliche nächs­ ten Schritte? Martina Kern: Eine wesentliche Erkenntnis ist, dass die berufliche Zufriedenheit nach wie vor hoch ist. Nahezu alle Befragten empfinden ihre Arbeit als sinnvoll und befriedigend. Zugleich zeigt sich, dass die Belastungen, die durch die Begleitung von Menschen, die sterben werden oder vom Sterben betroffen sind, ein Kontinuum sind, das im Thema begründet ist. Die Untersuchung zeigt deutlich: Sinnerleben und Überlastungen sind keine Widersprüche. Aufgabe wird es weiterhin sein, diese immer wieder in Beziehung zu setzen. Dazu gehören auch die kritische Auseinandersetzung, die Hospiz- und Palliatividee nicht zu idealisieren, sondern das Sterben als einen herausfordernden Prozess für alle Beteiligten anzuerkennen, der in den Teams zu reflektieren ist. Wichtig für die Zukunft ist, dass die Rahmenbedingungen an den wachsenden Bedarf und die Komplexität angepasst und neue und junge Mitarbeitende für das Feld rekrutiert werden. Zur Reduktion von Stressoren ist eine Erleichterung der Dokumentation sinnvoll. Die Dokumentation soll dem Prozess dienen, ihn nicht beherr-

schen. Die hohe Belastung, die im Rahmen der Angehörigenbegleitung insbesondere im ambulanten Bereich erlebt wird, deutet auf eine Überforderung begleiteter Familien hin. Dies erfordert die Implementierung passgenauer Interventionen, um die Belastung der Angehörigen zu reduzieren. Wesentlich ist es, die Selbstwirksamkeit der Palliativteams zu stärken und in Teamentwicklung zu investieren. Martina Kern, Pflegefachkraft, ist Leiterin des Zentrums für Palliativmedizin Helios Klinikum Bonn/Rhein-Sieg und Leiterin von ALPHA Rheinland in Bonn. Kontakt: [email protected]

© Christian Kaufmann

Rainer Simader ist Seminar- und Workshopleiter, Moderator, Dozent, Autor in Wien, Leiter des Bildungswesens des Dachverbandes Hospiz Österreich und in dieser Funktion auch im Leitungsteam des Universitätslehrgangs Palliative Care Salzburg. Kontakt: [email protected]

Literatur Ates, G.; Jaspers, B.; Kern, M. (2020). Belastungs- und Schutzfaktoren in Teams der Hospiz- und Palliativversorgung in NRW – eine Pilotstudie. https://alpha-nrw.de/wp-content/ uploads/2020/06/studie_belastungs-schutzfaktoren_alpha_2020.pdf Müller, M.; Pfister, D. (2012). Wie viel Tod verträgt das Team? Belastungs- und Schutzfaktoren in Hospizarbeit und Palliativmedizin. Göttingen.

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FORTBILDUNG

Angehörige zu hilfreichen Abschiedsritualen anleiten – ein Beitrag zum Glücksgefühl? Barbara Lehner Zielgruppe: Begleitende der ersten Stunden und Tage: haupt- und ehrenamtlich Tätige in den Bereichen Hospiz, Seelsorge, Bestattung und Trauerbegleitung. Ziel: Die Teilnehmenden reflektieren und erkennen, wo und wie sie zu einem gelingenden Abschied beitragen können. Zeitlicher Rahmen: 09:00–13:00 Uhr (fünf Unterrichtseinheiten und 20 Minuten Pause) Teilnehmendenzahl: 16 bis 20 Personen Seminarraum: genügend groß, auch für Kleingruppenarbeit Material: Flipchart, Pinnwand, Moderationskoffer

hxdbzxy / Shutterstock.com

Der Tod eines nahen Menschen schickt die Angehörigen auf einen intensiven Weg. Bis zur Bestattung erleben sie eine tiefgehende Zeit »außerhalb der Zeit«. Da die verstorbene Person meist noch physisch präsent ist, bieten sich besondere Möglichkeiten, die nur in dieser Zeit bestehen. Hospizmitarbeiter*innen, Trauerbegleiter*innen, Seelsorger*innen sowie Bestatter*innen können mit ihren Hinweisen und ihrer Begleitung wertvolle »Trittsteine«1 anbieten, damit die ersten Schritte im Abschiednehmen gelingen. Ebenso können verpasste Chancen, Unachtsamkeiten oder Fehlentscheidungen zu Stolpersteinen werden, die den weiteren Trauerprozess wesentlich beeinflussen.

9 0   Fo r t b i l d u n g

Ablauf 09:00

Begrüßung/Ankommen/Orientierung zum Tag

09:10

1. Schritt – zum Thema heranführen: Wie gelingt Abschiednehmen? Eigene Erfahrungen und Feedbacks von Hinterbliebenen zusammentragen

09:55

Zeit

(Mi­nuten)

10

Einzelarbeit: Vervollständigen Sie auf einem Blatt Papier die beiden Sätze aus Sicht der Angehörigen oder aus Ihrer eigenen Sicht als Betroffene. • »Wissen Sie, wir konnten so richtig schön Abschiednehmen. Ich bin so froh, dass wir …« • »Dieser Abschied beschäftigt mich immer noch. Ich bedaure im Nachhinein sehr, dass ich/ wir …«

10

Gruppenarbeit zu 3 bis 4 Personen: Zusammentragen von Stichworten auf zwei verschiedenen farbigen Blättern (nur je ein Stichwort/Gedanke auf ein Blatt schreiben): • Was macht es aus, dass Menschen (ich/die Hinterbliebenen) den Eindruck haben, »dieser Abschied ist geglückt!«? • Was fehlt, wenn er in den Augen der Hinterbliebenen nicht geglückt ist?

25

Kommentarloses Anpinnen der Stichworte an geteilte Pinnwand – Ähnliches zusammen anpinnen. • So glückt ein Abschied. • Hier fehlt Wesentliches zum geglückten Abschied.

5–7

2. Schritt – Thema erarbeiten: Tritt- und Stolpersteine erkennen Zwischenstand – Austausch im Plenum mit folgenden Fragen: Was fällt auf? Wo sind Kernthemen? Trittsteine? Wo sind Stolpersteine?

20–25

Zwischenergebnisse sammeln auf Flipchart 10:20

Pause

10:40 3. Schritt – Thema erweitern: Traueraufgaben/Kaleidoskop nach Worden/Chris Paul als Fokus und Raster miteinbeziehen Input: Traueraufgaben im Kaleidoskop nach Chris Paul kurz präsentieren.

10

5 Gruppen treffen sich zum Austausch mit je einer Traueraufgabe. Sie erhalten ein Blatt mit dem Titel der jeweiligen Traueraufgabe und dem Anfangssatz: »Wann und wie/wodurch helfen wir Angehörigen …?« • »im Augenblick zu funktionieren und die wichtigsten Aufgaben zu erledigen?« (Traueraufgabe Funktionieren/Überleben) • »die Wirklichkeit des Todes zu realisieren?« (Traueraufgabe Wirklichkeit) • »indem wir Zeit und Raum für Gefühle geben und deren Ausdruck ermöglichen« (Traueraufgabe Gefühle) • »dass sie durch aktives Handeln die Schritte des Abschieds und der Veränderung miterleben und mitgestalten können?« (Traueraufgabe Veränderung) • »…, dass sie der verstorbenen Person in dieser Schwellenzeit einen sicheren Platz geben und die Beziehung weiterleben können?« (Traueraufgabe verbunden bleiben) (Hinweis: Die Traueraufgabe des Einordnens schauen wir am Schluss in einer eigenen Übung an.) Aufgabe an die Gruppen: Wie und wann unterstützt ihr Hinterbliebene in diesem jeweiligen Aspekt des Trauerkaleidoskops? Sammelt eure Ideen, Hinweise oder Grundhaltungen, mit denen ihr Hinterbliebene begleitet. Ihr habt dazu 20 Minuten Zeit. Notiert eure Sammlung auf dem Papier und bringt dieses wieder ins Plenum. 11:10

Präsentation im Plenum – jede Gruppe hat 8 Minuten Zeit

40

Rückfragen und Ergänzungen der anderen am Schluss

10

12:00

Pause

12:05

4. Schritt – Thema bereichern anhand der Traueraufgabe »Einordnen«: Erkennen, dass kleine Gesten und passende Worte viel ermöglichen Aufgabe: Es sind Kärtchen ausgelegt, die auf der Vorderseite (Handlung) aufliegen. Je zwei Teilnehmende nehmen ein Kärtchen und tauschen sich aus, welche Bilder und Alltagserfahrungen durch die symbolische Deutung aufsteigt und was die andere Benennung bewirkt.

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10

Fo r t b i l d u n g   9 1

Ablauf 12:25

Zeit

(Mi­nuten)

Kurze Präsentation im Plenum (je 2 Minuten – insgesamt 20 Minuten)

20

Es wird nachgefragt, welche Erkenntnisse diese Übung brachte (3–4 Stimmen in 5 Minuten)

5

Karte Vorderseite: Handlung

Karte Hinterseite: Benennung, die die symbolische Bedeutung mit einschließt

Möchten Sie mithelfen?

Möchten Sie einen Liebesdienst für die Person tun?

Fenster öffnen, wenn jemand verstorben ist

Die Seele auf den Weg schicken

Jemanden waschen und herrichten

Jemanden für die letzte Reise bereit­ machen

Etwas in den Sarg oder ins Grab legen

Etwas auf die letzte Reise mitgeben

Den Sarg gestalten und bemalen

Das für Sie Wichtige benennen und Botschaften für die Reise mitgeben

Den Sarg mit den Schrauben verschließen

Den Sarg für die Reise startklar machen

Die Urne töpfern

Das Gefährt für die letzte Reise gestalten

Die Urne selbst zum Grab tragen

Den Vater tragen, so wie er Sie als Kleinkind getragen hat

Die Urne ins Grab hinablassen

Die Urne in die Erde betten

Das Grab schließen

Das Grab zudecken

Rosenblätter ins Grab streuen

Die Person auf Rosen betten

12:45

Was verändert die Sprache? Welche Bilder und Alltags­ erfahrungen steigen auf?

5. Schritt: Zusammenfassung und Ausklang Die Teilnehmenden benennen in einer Blitzlichtrunde Bestärkungen und Erkenntnisse

12:55

10

Abschluss mit dem Zitat »Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.« (Václav Havel) Wir ermöglichen Hinterbliebenen kleine Trittsteine im Abschied, die Sinn schaffen … • wenn wir Hinterbliebenen die Möglichkeit geben, mit dem Schwierigen umzugehen. • wenn sie Schönheit gestalten und die Schritte des Abschieds bewusst gehen können. • wenn sie ihrer Liebe und Fürsorge für die Verstorbenen Ausdruck geben können. Dann wird der schwierige Weg des Abschieds leichter. Weil Sinnsterne aufblitzen – im Tun, im Entscheiden, im Zeit-Haben, im Erinnerungen-Teilen und im Da-Sein.

Barbara Lehner begleitet als freischaffende Theologin Trauernde und leitet Abschiedsfeiern. Seit 2007 bildet sie zusammen mit Antoinette Brem Fachpersonen für Trauerbegleitung sowie für Abschiedsrituale und Trauerfeiern aus. Kontakt: [email protected] Website: www.lebensgrund.ch

Literatur Lehner, B. (2021). Praxisbuch Trauerfeiern und Bestattungen. Trauernde verstehen  – Abschiedsrituale gestalten. Ostfildern. Paul, C. (2021). Wir leben mit deiner Trauer. Das Kaleidoskop des Trauerns für Freunde und Angehörige von Trauernden. Gütersloh. Anmerkung 1 Der Begriff »Trittsteine in der Trauer« stammt von Ruthmarijke Smeding. Vgl. Smeding, R.; Heidkönig-Wilp, M. (Hrsg.) (2005). Trauer erschließen. Eine Tafel der Gezeiten. Wuppertal.

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Glück und Unglück Medical Comics als Möglichkeit zur Reflexion

Eva Katharina Masel und Andrea Praschinger »Medicine, if we’re doing it right, involves emotions. If it does not, there’s probably so­ mething wrong with how we’re practicing.« (Glazer, 2015)

Unter Medical Comics versteht man bildliche Darstellungen, die nicht vorrangig humorvoll sind. Die mittlerweile große Bandbreite an verfügbaren Beiträgen spricht unterschiedliche Altersgruppen, Berufsgruppen und Fachgebiete an. Das Feld der Graphic Medicine wurde 2012 von dem britischen Arzt und Comiczeichner Ian Williams geprägt. Damit werden Comics beschrieben, die sich mit Krankheit(en) und Leid, dem Ärzt*innen-Patient*innen-Verhältnis oder mit der Arbeit von Menschen in medizinischen und therapeutischen Berufen auseinandersetzen. 2015 erschien das Graphic Medicine Manifesto (­Myers und Goldenberg 2018), in dem deutlich gemacht wird, dass Graphic Medicine im Besonderen nonverbale Vorgänge darstellen, Sensibilität gegenüber den Patientinnen und Patienten fördern, die Komplexität der Ärzt*innen-Patient*innen-Kommunikation aufzeigen und soziale und politische Faktoren herausarbeiten kann (Myers und Goldenberg 2018). Beiträge werden mitunter hochrangig publiziert und im Alltag genutzt. Als Beispiel dient ein mit Medical Comics gestalteter Aufklärungs­ bogen zur Herzkatheteruntersuchung an der Charité Berlin. Im Vergleich mit textbasierten Informationsbögen waren Patient*innen besser über den Eingriff aufgeklärt und hatten während des Eingriffs weniger Angst (Brand et al. 2019). Medical Comics werden in Büchern, in wissenschaftlichen Journalen oder über Websites von

Künstler*innen publiziert. Anhand von Medical Comics kann man Problemfelder und Herausforderungen im medizinischen Alltag darstellen und einen Perspektivenwechsel umsetzen, etwa mit der Fragestellung »Wie erleben Patient*innen, An- und Zugehörige, medizinisches Personal oder Studierende diesen Moment?«. Nicht die Sprache, sondern eine visuelle Rhetorik steht im Mittelpunkt, um Unaussprechliches beziehungsweise Unausgesprochenes zu transportieren. Umgesetzt werden kann dies durch ein Bild, eine Bildfolge oder eine Bildgeschichte. Ein Blick hinter das Offensichtliche und ein Zulassen von unter Verschluss gehaltenen Emotionen und Fragen werden ermöglicht. Das Betrachten von Comics gleicht einem Dia­gno­se­prozess, man muss aus Informationseinheiten schlussfolgern, Lücken schließen und Fehlendes erarbeiten. Dadurch werden Erfahrungen auf eine Weise ausgetauscht, die einerseits ein Gemeinschaftsempfinden ermöglicht, andererseits auch das eigene Nachdenken fördert. Für den Hospiz- und Palliativbereich existieren eigene Comics, die Patient*innen sowie An- und Zugehörigen Sichtweisen zum Thema Krankheit und Sterben vermitteln (Czerwiec und Huang 2017). Medizinisches Personal muss sich in der täglichen klinischen Praxis mitunter schwierigen Herausforderungen stellen. Gefordert werden ein professioneller Umgang mit den Bedürfnissen der Patient*innen, der An- und Zugehörigen sowie mit Kolleg*innen, aber auch die Wahrnehmung von eigenen Bedürfnissen und ein adäquater Umgang damit. Um Situationen aus unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen, ermöglichen Medical Comics ein individuelles Reflektieren

G l ü c k u n d U n g l ü c k    9 3

sowie Lösungs- und Handlungsmechanismen. Neben Wissen sowie praktischen Fertigkeiten werden Themen wie Haltung, Professionalität, Reflexionsfähigkeit beziehungsweise -bereitschaft, Resilienz und anderes mehr angesprochen. An der MedUni Wien wurde ein dreijähriges Ausstellungsprojekt mit dem Titel Art Action Attitude ins Leben gerufen. Schwerpunkte sind KÖRPER (2020) – GRENZEN (2021) – SCHMERZ (2022). Details finden sich unter www.meduni� wien.ac.at/medical-comics. Als Teil des Pro�-

jekts wurden Medizinstudierende im fünften von sechs Studienjahren des Medizinstudiums dazu eingeladen, ein Comic zu den Themen »Breaking Bad News«, »Compliance« oder »Kommunikation« zu zeichnen. Die besten Einreichungen wurden von einer Jury ausgewählt und prämiert. Medical Comics werden seit Beginn dieser Initiative laufend in der Lehre an der MedUni Wien eingesetzt (Masel et al. 2020a, 2020b). Im Folgenden werden einige zum Hospiz- und Palliativ­ bereich passende Comics gezeigt.

Der amerikanische Künstler ­Brian Fies begleitete seine Mutter gemeinsam mit seinen beiden Schwestern durch ihre Krebserkrankung. Parallel dazu veröffentlichte er laufend in einem Blog (https://brianfies.blogspot.com) Erleb�nisse. Aufgrund der großen Resonanz wurden die Zeichnungen als Buch herausgegeben. »Mom’s Cancer« (deutsch: »Mutter hat Krebs«) gilt in der Graphic Medicine als eines der wegweisenden Werke. In dieser kurzen Serie wird sichtbar, wie viel Unausgesprochenes der medizinische Alltag birgt. Wie selbst eine äußerst geringe Chance auf Heilung einerseits Hoffnung wecken kann und andererseits stark in den Betroffenen nacharbeitet.

Brian Fies, Mutter hat Krebs. München: Knesebeck, 2006

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9 4   E v a K a t h a r i n a M a s e l u n d A n d r e a P r a s c h i n g e r

Aneurin Wrights Comic erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der zu seinem alten, lungenkranken Vater zieht, um ihn zu pflegen. Der Vater steckt nicht in einem menschlichen Körper, er ist ein Nashorn, während der pflegende Sohn als Minotaurus dargestellt wird. Erst am Sterbebett lüften sich die Masken.

David hat Kehlkopfkrebs. In Aquarellbildern erzählt die belgische Zeichnerin und Autorin Judith Vanistendael von einer Patchworkfamilie, die sich einem schweren Verlust stellen muss. Es wird deutlich, dass so manche Beschwichtigungsfloskel leichter von den Lippen geht, als Wut, Verzweiflung, gepaart mit Angst, Zuneigung und Liebe zu artikulieren. Über das Sterben zu sprechen ist schwer, aber wichtig.

Die Nutzung unterschiedlicher Medien mit dem Schwerpunkt von Medical Comics, jedoch auch von Filmen, Fotografien, Gedichten, Literatur, Musik, Narratives und Zeichnungen, ermöglicht Folgendes:

Aneurin Wright, Things To Do In A Retirement Home Trailer Park: When You’re 29 and Unemployed. PENN STATE UNIVERSITY PRESS; Reprint Edition, 2015.

• die Aufmerksamkeit auf herausfordernde Situationen im medizinischen Alltag zu lenken; • alltägliche Spannungsfelder in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität aufzuzeigen; • unterschiedliche Sichtweisen von Patient*­ innen, An- und Zugehörigen und medizinischem Personal zu beleuchten; • interkulturelle und diverse Blickwinkel darzustellen; • den Einsatz von Medical Humanities in Ausbildung und Lehre; • Get Active in Form einer Aufforderung zum Selberzeichnen (ohne dass dabei die Zeichenkunst im Vordergrund steht) und als mögliche Strategie, um Themen punktgenau anzusprechen, zu verarbeiten und/oder sich mitzuteilen.

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Judith Vanistendael, Als David seine Stimme verlor. Berlin: Reprodukt; 1. Edition, 2014

Univ. Prof.in PDin DDr.in Eva Katharina Masel, MSc hat die Professur für Palliativmedizin an der MedUni Wien inne. Sie leitet die Klinische Abteilung für Palliativmedizin an der Universitätsklinik für Innere Medizin I von MedUni Wien und AKH Wien. Kontakt: [email protected] Mag.a Dr.in Andrea Praschinger ist am Teaching Center im Curriculum-Management der MedUni Wien tätig. Kontakt: [email protected] Literatur Brand, A.; Gao, L.; Hamann, A.; Martineck, S.; Stangl, V. (2019). Annals Graphic Medicine  – Patient-Informed Consent. In: Annals of Internal Medicine, 170, W90– W106. https://doi.org/10.7326/G19-0008. Czerwiec, M. K.; Huang, M. N. (2017). Hospice comics: Representations of patient and family experience of illness

and death in graphic novels. In: Journal of Medical Humanities, 38, S. 95–113. https://doi.org/10.1007/s10912014-9303-7. Glazer, S. (2015). Graphic medicine: comics turn a critical eye on health care. In: Hastings Center Report, 45, S. 15– 19. https://doi.org/10.1002/hast.445. Green, M. J.; Myers, K. R. (2010). Graphic medicine: use of comics in medical education and patient care. In: BMJ – British Medical Journal, 340, c863. https://doi.org/10.11 36/bmj.c863. Masel, E. K., Adamidis, F., Kitta, A., Gruebl, A., Unseld, M., Pavelka, P., Watzke, H. H., Zlabinger, G., Praschinger, A., 2020a. Using medical comics to explore challenging everyday topics in medicine: lessons learned from teaching medical humanities. Annals of Palliative Medicine, 9, 1841–1846. https://doi.org/10.21037/apm-20-261. Masel, E. K.; Kitta, A.; Koblizek, R.; Praschinger, A. (2020b). Using medical comics to highlight medical humanities. In: Medical Education, 54, S. 1049–1050. https://doi. org/10.1111/medu.14308. Myers, K. R.; Goldenberg, M. D. F. (2018). Graphic pathographies and the ethical practice of person-centered medicine. In: AMA Journal of Ethics, 20, S. 158–166. https:// doi.org/10.1001/journalofethics.2018.20.2.medu2-1802.

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REZENSIONEN FORTBILDUNG

Unzertrennlich

Hermann Reigber

Irvin D. Yalom; Marilyn Yalom (2021). Unzertrennlich. Über den Tod und das Leben. München: btb, 313 Seiten

Zwischen dem ersten und zweiten Lesen dieses besonderen Buches liegen mehr als sechs Monate – es hat mich tief bewegt und ich habe es an Freunde und Verwandte verschenkt. Bei der zweiten Lektüre suche ich die bewegenden Momente, an die ich mich erinnere, erneut auf. Warum ist dieses Buch so beeindruckend? Zwei Ehepartner kurz vor ihrem 65. Hochzeitstag, beide haben auf dem Feld der Psychoanalyse und der Literatur- und Kulturwissenschaft viel Bedeutendes veröffentlicht, schreiben ihr erstes gemeinsames Buch. Kein behaglicher Rückblick auf gemeinsame Zeiten, sondern eine dramatische Melange aus Hoffnung, Angst, Klarheit, Vertrautheit … Marilyn Yalom erfährt von ihrer lebensbedrohlichen Tumorerkrankung und nimmt das zum Anlass, mit ihrem Mann ihre Gedanken festzuhalten, jeder für sich. Marilyns Klarheit erschreckt Irvin und sie ist irritiert von seinem egozentrischen Beharren, dass sie unbedingt weiterleben müsse. Schließlich sei er älter und schon länger krank – männliche Larmoyanz aus dem Herzen eines Analytikers, die die kranke Marilyn mit leisem, mitleidsvollem Humor kommentiert. Die Therapien belasten sie, sie kann nur wenig Nahrung zu sich nehmen und wird zusehends schwächer: »Für wen muss ich noch weiterleben, wenn ich mich mit 87 Jahren reif genug fühle, um zu sterben? (…) Ich fühle mich reif genug, zu sterben« – das sagt sie im erlebten und begleiteten Sterben von vielen Freund*innen und Kol-

leg*innen, im Blick auf das erfüllte Leben mit einer großen Familie. Sie verschenkt ihren Schmuck an Schwiegertöchter und Freundinnen, genießt Besuche, veranstaltet einen letzten literarischen Salon, feiert mit ihren Kindern und Enkeln ein letztes Fest. Unter Schmerzen und Übelkeit, mit dem Wissen, dass nur noch wenige Tage verbleiben. Und ihr Mann steht irgendwie daneben – in einer Mischung aus vorgezogener Trauer, die er vor ihr nicht verbergen kann, und der Angst, dass er ihren Tod nicht überleben werde. Was macht es so schwer, den anderen freizugeben? Das ist etwas anderes als die Aufforderung an den Sterbenden, loszulassen. Dieser Kampf, diese inneren Verhandlungen in Familien kennen wir, aber sie werden selten so ehrlich und klar offengelegt. Und in aller guten Begleitung (allein schon wie Irvin die gelungene Verbindung von Tumortherapie und Palliativbegleitung und die klare und behutsame Kommunikation beschreibt, macht das Buch besonders!) steht Marilyns klarer Wunsch nach ärztlich begleitetem Suizid. »Ich ertrage es jetzt, für euch, in Verbundenheit mit dem Leben so vieler Menschen … aber wenn ich es nicht mehr kann …?« Kein leichtfertiger Entschluss, mit der Familie besprochen. Irvin beschreibt die Begleitung des Hospizarztes bei der Einnahme der todbringenden Medizin, in Anwesenheit der Familie. Und den letzten Kuss, mit dem er sich von ihr verabschiedet, ihrem Zauber, der alle Veränderungen überdauert.

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Es ist eine beklemmende, zutiefst berührende Liebeserklärung – gerade weil er bis zuletzt zweifelt an ihrer Klarheit, an ihrem Humor, weil er spürt, dass eine 65 Jahre währende Beziehung nicht alle Individualität verschwinden lassen hat. Reif werden ist doch etwas zutiefst Individuelles und es sieht bei Frauen wohl sehr anders aus als bei (ihren) Männern. Und dann? Beschreibt ein erfahrener Therapeut die eigene Hilflosigkeit, die Unfähigkeit, Marilyns Porträt im Wohnzimmer anzuschauen (eine Ikone des Lebens und der Klarheit, die Erschrecken vor dem Heiligen, Vollkommenen, Schönen auslöst …), und daneben das Banale: Ihr Auto muss verkauft werden; wer sorgt bei den Familientreffen für eine gute Atmosphäre und das passende Essen? Kann ich, Irvin D. Yalom, den Früchten meiner eigenen Bücher, den Erfolgen mit meinen Klienten in vergleichbaren Situationen trauen? Bin ich darin dem Leben verpflichtet oder kann ich darauf vertrauen, dass Marilyn nicht meine einzige Lebensquelle war? Und mein erotisches Verlangen ist anscheinend nicht mitgestorben – wohin damit?

Männertrauer erschließen

Irvins Chronologie der Trauer umfasst 123 Tage. Am Schluss ein Liebesbrief an Marilyn – den werde ich sicher noch weitere Male lesen: Da gesteht sich ein liebender und verlassener Mann ein, dass er es nicht erträgt, an das Grab seiner Frau zu gehen, dass er ihr Bild, die Bilder lebendigen gelebten Lebens nicht erträgt … und er sagt ihr: »Du bist zur rechten Zeit, zu der für dich richtigen Zeit gestorben – und Du hast Dein Leben ganz gelebt. Und deshalb konntest Du in Klarheit gehen. Ich habe da noch einen weiten Weg hin …« Mir ist ein starkes Wort aus dem Alten Testament eingefallen: »Stark wie der Tod ist die Liebe, die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt. Ihre Gluten sind Feuergluten, / gewaltige Flammen. Auch mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen; / auch Ströme schwemmen sie nicht weg« – das sagt der Bräutigam zur Braut im Hohen Lied. Er sucht sie und findet sie und verliert sie und vergeht in Sehnsucht nach Schönheit und ewiger Dauer. Im Buch lassen die Fotos von Irvin und Marilyn aus der Brautzeit und im reifen Alter von dieser wunderbaren Suche und dieser verletzlichen Stärke viel erahnen.

Norbert Mucksch

Ferdi Schilles (2021). Männertrauer erschließen. Wie wir männliche Trauer besser verstehen und unterstützen können. Esslingen: Der Hospiz Verlag, 240 Seiten

In der Schriftenreihe »Trauer Praxis«, verlegt im Hospiz Verlag, ist im Herbst 2021 ein Buch zum Thema »Männertrauer« erschienen. Der Autor Ferdi Schilles hat diesem Buch den Titel gegeben: »Männertrauer erschließen – Wie wir männliche Trauer besser verstehen und unterstützen kön-

nen«. Das in seiner Struktur dreigeteilte Buch beginnt zunächst mit einem persönlichen Zugang des Autors. Schilles zeigt ausgehend von seinen persönlichen Erfahrungen seinen Weg in die Rolle als Begleiter von Männern in Trauer. Diesen Weg hat er selbst als trauernder Mann über ein

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Basisseminar bei Jorgos Canacakis gefunden, der als einer der Pioniere der Trauerbegleitung gilt. Im ersten Kapitel des Buches mit der Überschrift »Männertrauer erkennen« ist es dem Autor ein Anliegen, das Thema zunächst aus seiner Sicht gut zu verorten. Schilles greift hier sowohl das Genderthema auf als auch die Diskussion um die Begriffe »Mann« und »Männlichkeit«, wobei er diese Begriffe unmittelbar als soziale Konstrukte markiert. In diesem Kapitel erläutert der Autor sehr anschaulich seine Grundgedanken zur Verortung des Themas auch anhand einiger hilfreicher Theoriemodelle. Im zweiten und aus meiner Sicht zentralen Kapitel des Buches stellt Schilles konkrete Fallbeispiele für männliche Trauer vor. Dieses Kapitel trägt die Überschrift »Männertrauer verstehen« und lässt vier Männer mit ganz unterschiedlichen Verlusterfahrungen zu Wort kommen: einen Vater, der um die ungeborenen Zwillingssöhne trauert; einen Ehemann, der um seine an einem Karzinom verstorbene Frau trauert; einen Mann, der seinen Bruder nach Suizid betrauert, sowie einen Sohn, der um seinen hochbetagten Vater trauert. Schilles stellt damit ganz unterschiedliche Männer mit ganz verschiedenen Lebenskontexten und Trauersituationen in die eigene Reflexion als Trauerbegleiter und in den Fokus seiner Betrachtung. Im Anschluss an die Erläuterung dieser vier Trauererfahrungen stellt Schilles diese in das Licht des Traueraufgabenmodells nach William Worden. Dies geschieht einerseits in klarer Würdigung dieses anerkannten Modells und andererseits mit konstruktiver und sachlicher Kritik, die auch die Grenzen eines solchen Modells aufzeigt. Es schließt sich dann eine sehr hilfreiche Zusammenführung mit weiteren Erkenntnissen an,

die einen hohen Praxisbezug aufweist und damit schon einen ersten Blick auf das dritte Kapitel wirft. Hier geht es um praktische Ansätze, Modelle und Elemente für die Begleitung. Schilles macht in diesem Teil des Buches seinen Werkzeugkoffer auf. Zunächst erläutert er sein Konzept in der Begleitung von trauernden Männern. Ausgehend davon folgen konkrete Ansätze für die Begleitung sowohl einzelner Männer wie auch für die Begleitung von Männern in Gruppen. Darauf aufbauend liefert der Autor konkrete Modelle und Beispiele für die Arbeit in Gruppen. Ein Epilog mit einem zentralen Fazit des Autors »Den Männern ihre Art zu trauern lassen« sowie ein Anhang unter anderem mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis runden das Buch ab. Bücher zur genderspezifischen Trauer und insbesondere Bücher, die sich mit trauernden Männern befassen, tragen durchweg das Risiko in sich, klischeehaft zu sein oder sogar auch bewertend im Sinne einer Etikettierung von männlicher Trauer als defizitär. All das gilt für das Buch von Ferdi Schilles nicht. Der Buchtitel »Männertrauer erschließen« steht nicht für einen bewertenden Ansatz, sondern vielmehr für einen wertschätzenden, verstehenden Ansatz gegenüber Männern in Trauer. Auch wenn ich persönlich statt des vom Autor verwendeten Begriffs »Männertrauer« den Terminus »trauernde Männer« favorisiere und auch wenn ich einen Akzent gern noch deutlicher betont gesehen hätte, nämlich die Bedeutung der geschlechtsübergreifenden Sozialisation von Menschen und deren Bedeutung für die individuelle Trauer, so ist dieses »Männertrauer«-Buch doch ein wichtiger fachlicher Beitrag zum Verständnis und zur Begleitung von Männern in Trauer.

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VERBANDSNACHRICHTEN

Das Geheimnis der Toten Christoph Bevier und Marianne Bevier

Zwei Erfahrungen Eine Frau, um die 55 Jahre alt, kommt mit starken Rückenschmerzen ins Krankenhaus. Sie möchte keinen Besuch von Bekannten und Nachbarn, obgleich sie eine im Stadtteil bekannte Person ist und viel Besuch bekommen könnte. Bei den Untersuchungen wird Knochenkrebs festgestellt. Sie stirbt innerhalb von drei Wochen. Bei der Beerdigung wird die Verstorbene als Honoratiorin des Stadtteils und der Kirchengemeinde gewürdigt und zele­ briert. Sie erscheint als tatkräftige Frau, die viel Verantwortung getragen und immer im Dienst der Allgemeinheit gewirkt hat. Zwei Freundinnen sind anwesend, die die Zeremonie als fremd erleben; sie haben das Gefühl, die Frau, von der hier gesprochen wird, ist nicht die, die sie gekannt haben. Die Freundinnen hatten sich mit der Verstorbenen drei bis vier Mal im Jahr getroffen und sich vertrauensvoll ausgetauscht und einander Gedanken und Gefühle gezeigt, die sonst eher wenig oder keinen Raum fanden. Diese Seite der Verstorbenen hat bei der Beerdigung keinen Platz. Eine Frau stirbt im Alter von 89 Jahren einen stimmigen, lebenssatten Tod. Sie hat mehrere Kinder, die die Trauer eines ihrer Geschwister ausgrenzen. Bei der Beerdigung erscheint die

    

Verstorbene ausschließlich in der Perspektive der Mehrheit der trauernden Kinder. Es entsteht ein Bild der Toten, das mehr mit dem Bild, das die Kinder von ihr zeichnen, zu tun hat als mit der Person der Toten selbst. Selbst der Liturg reiht sich in diesen Vorgang von Entfremdung ein, indem er die Verstorbene anhand der Auferstehungserzählung aus dem 20. Kapitel des Johannesevangeliums mit Maria von Magdalena parallelisiert, obgleich die Verstorbene eher eine nüchterne, rationalistische und skeptische Haltung zum Glauben hatte. Anverwandlung der Verstorbenen durch die Lebenden Das Phänomen geht über zeremonielle, gestalterische und individuelle Fehler hinaus, weil es etwas Zeittypisches hat. In beiden Beispielen werden die Verstorbenen gänzlich von den Lebenden anverwandelt. Nicht nur scheinen Verstorbene in der Trauer der Hinterbliebenen und der Zeremonie der Beerdigung nicht in ihren verschiedenen Facetten, Seiten und Dimensionen auf, die Toten dürfen auch nicht sie selbst sein, was bedeuten würde, dass sie ein Geheimnis geworden sind, im Geheimnis bleiben und ihr Geheimnis gewahrt wird. Vielmehr werden sie von den Hinterbliebenen, den Lebenden, anverwandelt und

ter Wassily Kandinsky, Abstrakges  INTERFOTO / fine art ima

Ruhig«, 1927 / Expressionismus, »Scharf-

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angeeignet im Sinne einer Ermächtigung und Besitzergreifung. Die Trauernden – die Lebenden – definieren die Verstorbenen und die Verstorbenen werden der Perspektive einverleibt, die die Lebenden auf sie haben. Sie werden zu dem Bild, das die Trauernden von ihnen haben und den anderen zeigen wollen. Die Trauer inszeniert sich als eine Aneignung der Toten. Das Geheimnis der Toten Die Differenz zwischen der Persönlichkeit der Verstorbenen und dem Bild, das die Trauernden von ihnen haben, sollte im Blick behalten und – wenn sie verloren ist – zurückzugewonnen werden. Idealisierungen, die Trauernde in Bezug auf Verstorbene vornehmen, können ein Signal sein, dass diese Differenz aufgelöst wird. Zugleich gilt, dass Trauernde die Freiheit haben, Verstorbene zu idealisieren, weil Trauer grundsätzlich frei ist. Trauerbegleitung kann sensibel für Idealisierungen sein und sie behutsam ansprechen. Das Geheimnis der Toten ist aber nicht die Schwierigkeit und Unmöglichkeit, sie in der Gesamtheit und möglichst vielen Dimensionen ihrer Persönlichkeit zu erinnern, zu beschreiben und zu betrauern. Dies wäre das Geheimnis der Lebenden, die verstorben sind. Das Geheimnis der Toten

Es geht für die Trauernden um ein Abschiednehmen, ein Loslassen und Freigeben – nicht im psychoanalytischen Sinn, sondern im Sinn der Transzendenz.

beginnt mit ihrem Übergang in den Tod und in das Totsein. Was das Geheimnis der Toten ist, weiß niemand, da die Toten nicht von ihrem Geheimnis erzählen können, aber dass sie im Geheimnis sind, ist zumindest für Menschen, die Transzendenz nicht gänzlich verneinen, offenbar. Die Toten verschwinden nicht einfach. Sie lösen sich nicht einfach ins Nichts auf. Sie sind irgendwo und irgendwie. Religionen haben verschiedene Vorstellungen entwickelt, wo die Toten sind und wie sie dort sind. Der christliche Glaube spricht zum Beispiel davon, dass die Toten bei Gott sind oder dass sie am ewigen Leben teilhaben, und bleibt dabei angemessen vage und behutsam. Wichtig ist die Vorstellung, dass die Toten sind, weniger wie sie sind und welche Gestalt sie haben. Ganz sicher sind sie anders als die Lebenden, aber dieses Anderssein bleibt ein Geheimnis und bleibt im Geheimnis. Dieses Geheimnis kann bei Trauerzeremonien und in Trauerprozessen gewahrt werden, weil niemand die Wirklichkeit der Toten einholen kann. Verstorbene sind jetzt, da sie im Tod sind, ganz anders und das Faktum des Andersseins können Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleiter im Blick haben, wenn Trauernde es aus dem Blick verlieren. Sie können es in der Begleitung auch ansprechen.

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Transzendenz als Statthalterin der Freiheit der Toten Transzendenz ist eine Statthalterin und eine Stellvertreterin für die Freiheit der Toten, die in ihrem Geheimnis sind. Transzendenz wirkt nicht nur nicht zwangsläufig gegen die Vereinnahmung der Toten durch die Lebenden, sie kann sich auch in den Dienst von Vereinnahmung stellen und wird leider oft dazu gebraucht. (In der ersten Fallgeschichte benutzt der Liturg Transzendenz, um die Verstorbene fälschlich mit Maria Magdalena zu parallelisieren.) Aber als Begriff und in ihrem Wortsinn wendet Transzendenz sich gegen die Vereinnahmung der Toten, weil sie auf etwas hinweist, das größer als das Irdische ist und per se für das Nicht-Einsehbare und Geheimnisvolle steht, das man nur umschreiben, aber nicht so genau benennen kann wie die Dinge der Erde. Abschied und Freigeben als Begriffe der Trauertheorie Für die Trauertheorie bedeutet das Geheimnis der Toten, dass die systemische Perspektive durchbrochen wird, weil die Toten aus den Systemen herausgetreten sind, frei geworden von den Bindungen, die sie als Lebende geprägt haben. Tatsächlich geht es für die Trauernden um ein Abschiednehmen, ein Loslassen und Freigeben – nicht im psychoanalytischen Sinn, sondern im Sinn der Transzendenz. Es geht nicht nur für die Trauernden darum, im eigenen Leben einen neuen Platz für die Verstorbenen zu finden, sondern auch darum, sie in ihr Geheimnis freizugeben, sie loszulassen. Wobei loslassen nicht im Sinne der Psychoanalyse verstanden wird als Loslösung der Libidobindung an Verstorbene, um

frei zu werden für eine Bindung der Libido an ein anderes Objekt, sondern ein Loslassen Verstorbener an den neuen Zustand des Geheimnisses, das der Tod bedeutet. Ein Freigeben in diesen neuen Raum und dieses neue, veränderte Sein, zu dem es gehört, nicht mehr an die Erde gebunden zu sein. Ein Freigeben an den Raum und das Sein, das Transzendenz sinnvollerweise vage umschreibt. Dieses Verständnis von Loslassen kann man mit dem Loslassen in der Liebe von Eltern zu ihren Kindern und unter Erwachsenen, die sich lieben, vergleichen. Eltern können ihre Kinder ein Leben lang an sich binden und festhalten. Sie können ihre Kinder aber auch voller Vertrauen freigeben an das Geheimnis, das ihr Leben bedeutet, an die Entwicklung, die sie machen können, an das eigenständige Gelingen und Scheitern, die Möglichkeiten ihres Lebens sind. Liebespartner können den anderen freigeben an das Geheimnis, das er ist, und sein Geheimnis wahren und auf Vereinnahmung verzichten. So ist Liebe weniger ein Besitzen als ein Freigeben, dessen Grundlage Vertrauen ist. Christoph Bevier war als evangelischer Pfarrer in Gemeinde, Gefängnis und Gymnasium tätig und arbeitet derzeit als Klinikpfarrer in einer psychiatrischen Klinik. Er ist Supervisor im Bereich von Hospiz, Krankenhaus, Seelsorge. Kontakt: [email protected] Marianne Bevier, Diplom-Theologin, Studium der katholischen Theologie, war als Seelsorgerin in Gemeinde, Thoraxklinik und Psychiatrie tätig und arbeitet als Supervisorin und Kursleiterin in Klinischer Seelsorgeausbildung (KSA) und Trauerbegleitung. Kontakt: [email protected]

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Selbstvorstellung der vier neuen Vorstandsmitglieder des BVT

Stefanie Garbade Nach mehr als 25 Jahren Berufserfahrung auf Managementebene habe ich mein Ehrenamt als Trauerbegleiterin zu meinem Beruf gemacht. Heute bin ich mit »TrauerLeben« selbstständig. Mein Schwerpunkt liegt auf dem Thema »Trauer am Arbeitsplatz«, wo ich meine Berufserfahrungen und meine Erfahrungen rund um das Thema Tod, Sterben und Trauer wunderbar kombinieren kann. Diesen Themen mehr Präsenz verleihen – dafür steht auch der BVT, weshalb ich mich auf die zukünftige Vorstandsarbeit sehr freue.

Marianne Görnandt Ich bin Sterbe- und Trauerbegleiterin aus Hann. Münden, ausgebildete Prädikantin, Notfallseelsorgerin und blicke zurück auf verschiedene Vorstandsarbeiten. Für mich ist wichtig, Menschen auf der Suche nach Hilfe und Unterstützung beizustehen. Dies gilt besonders für Trauernde, die ich im Trauercafé begleite. Im Vorstand möchte ich mich für die Interessen der vielen Trauerbegleiter*innen einsetzen, damit ihr Tun in der Gesellschaft an Kraft und Öffentlichkeit gewinnt.

Detlef Eberhard Ich arbeite als Trauerbegleiter in Berlin. Lange war ich in der Kulturkommunikation tätig, dann starb mein Sohn und mein Leben nahm eine neue Richtung – »Trauerwege werden Lebenswege. Trauern heißt: das Leben neu lernen« (Heinrich Pera). Ich wurde Mediator, engagierte mich in der Hospizbewegung und wandte mich schließlich der Trauerbegleitung zu. Im Vorstand des BVT möchte ich meinen Beitrag dafür leisten, dass Trauer und ihre Begleitung in unserer Gesellschaft ihren angemessenen Stellenwert erhalten.

Christian Voigtmann Ich bin Pastor i. R., systemischer Therapeut und Supervisor (SG). Seit über 20 Jahren begleite ich Trauernde einzeln und in Gruppen. Ich habe Ehrenamtliche ausgebildet und war im Bundesvorstand der Telefonseelsorge. Seit über 15 Jahren leite ich Weiterbildungen in systemischer Trauerbegleitung. Seit 2013 bin ich im BVT als Qualifizierender und in der AG Qualifizierungsordnung und AG Prävention. Mein Interesse an der Mitarbeit im Vorstand ist, die Qualität unserer Arbeit im BVT auf allen Ebenen zu fördern und zu unterstützen.

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Trauern als ein Königsweg für Ange­ hörige in einem Leben mit Vergesslichkeit Die Körpersprache auf der Reise mit Demenz Warum ein Hospiz nicht immer der beste Ort sein kann Menschen mit Demenz im Hospiz

Innenleben der Demenz verstehbar vermitteln – Lebensqualität erhalten Noch besuchen mich schwimmende Worte Demenz und Kreatives Schreiben

Personzentrierte Pflege von Menschen mit Demenz Die Weisheit der Demenz Gibt es ein Recht auf unvernünftige Selbstbestimmung? u. a. m.

12. Jg. | 1 | 2023

Leid faden

Demenz

VERSTAND IST NICHT ALLES

Vorschau Heft 1 | 2023

12. Jahrgang

1 | 2023 | ISSN 2192-1202

Leidfaden

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

VERSTAND IST NICHT ALLES LEBEN MIT DEMENZ

Impressum Herausgeber/-innen: Monika Müller M. A., KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin, Von-Hompesch-Str. 1, D-53123 Bonn E-Mail: [email protected] Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Frauenselbsthilfe Krebs e. V., Landesverband Rheinland-Pfalz/Saarland e. V. Schweidnitzer Str. 17, D-56566 Neuwied E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Dipl.-Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dipl.-Päd. Petra Rechenberg-Winter M. A. (Hamburg), Dipl.-Pflegefachfrau Erika Schärer-Santschi (Thun, Schweiz), Dipl.-Psych. Margit Schröer (Düsseldorf), Rainer Simader (Wien), Prof. Dr. Reiner Sörries (Erlangen), Peggy Steinhauser (Hamburg) Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Margaret Stroebe (Niederlande), Prof. Robert A. Neimeyer (USA) Redaktion: Ulrike Rastin M. A. (V. i. S. d. P.), BRILL Deutschland GmbH Vandenhoeck & Ruprecht Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen Tel.: 0551-5084-423 E-Mail: [email protected] Bezugsbedingungen: Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich. Es gilt die gesetzliche Kündigungsfrist für Zeitschriften-Abonnements. Die Kündigung ist schriftlich zu richten an: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Leserservice, Holzwiesenstr. 2, D-72127 Kusterdingen, E-Mail: [email protected]. Unsere allgemeinen Geschäftsbedingungen, Preise sowie weitere Informationen finden Sie unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com. Verlag: BRILL Deutschland GmbH, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2192-1202 ISBN 978-3-525-80620-3 ISBN 978-3-666-80620-9 (E-Book) Umschlagabbildung: Anneka/Shutterstock.com Verantwortlich für die Anzeigen: Ulrike Vockenberg, Brill Deutschland GmbH, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, Kontakt: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2022 by Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen, Germany, an imprint of the Brill-Group (Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Germany; Brill Österreich GmbH, Vienna, Austria) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany

Was sind die buddhistischen Wurzeln der Achtsamkeit und wie kann sie heute praktiziert werden?

Gerald Weischede Achtsamkeit verstehen und leben Über den Ursprung und die Praxis 2022. 254 Seiten mit 11 Abb., kart. € 25,- D ISBN 978-3-525-40543-7 Auch als e-Book erhältlich.

Achtsamkeit steht hoch im Kurs und scheint so etwas wie ein Allerheilmittel für alle möglichen Anliegen zu sein: ein geschwächtes Ich zu stärken, Selbstoptimierung voranzutreiben, die Arbeit effizienter zu bewältigen, mehr zu verdienen und insgesamt ein besserer Mensch zu werden. Allmählich hat sich die ursprüngliche Idee eines achtsamen Lebens auf Funktionales reduziert. Der Mensch ist fast immer absichtsvoll in Bewegung, oft mit seinem Geist schon beim Ziel. Die Allerwenigsten realisieren noch das Jetzt-Hier. Den jeweiligen Augenblick klarer zu erfahren, ist gleichwohl ein lebenslanger Übungsprozess. Um dieses auch für den Alltag hilfreiche Verständnis zu verdeutlichen, führt Zen-Meister Gerald Weischede zurück zu den traditionellen Wurzeln von Achtsamkeit und leitet daraus die „rechte Praxis“ für unser Leben ab.

ISBN 978-3-525-80620-3

9 783525 806203