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German Pages 245 [248] Year 1944
VOM SEIN UND ERKENNEN G E S C H I C H T L I C H E R DINGE B A N D IV
KURT BREYSIG
DAS NEUE GESCHICHTSBILD IM SINN DER ENTWICKELNDEN GESCHICHTSFORSCHUNG
1944
VERLAG WALTER DE GRUYTER & CO . BERLIN
Archiv-Nr. 3+ 6+ 43 • Gedruckt bei Walter de Gruyter & Co. Berlin W 35, vormals G. I. Göscbeii'sche Verlagshandlung J. Guttrnteg, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl }. Trübner • Veit & Comp • Printed in German;
INHALT
Erstes Buch D I E PRAXIS D E R G E G E N W Ä R T I G E N ENTWICKLUNGSGESCHICHTE Erster Abschnitt Jacob Burckhardt Erstes Stück Geschichte der Architektur: Protorenaissance und Gotik
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Aufsuchung yon Mustern f ü r die heutige Praxis 5 — Vorbildlichkeit der Kunstgeschichte 4 — Geschichte der Renaissance: Forderung einer systematischen neben der erzählenden Kunstgeschichte 5 — Längsschnittbehandlung der ersten Hälfte 7 — Einleitung: Baugesinnung des 15. und 16. Jahrhunderts 8 — Verhältnis der Protorenaissance zur Antike 9 — Parteinahme gegen Gotik und Barock 10 — Kein Eingehen auf die seelischen Ursachen der Wendung zur Renaissance 13.
Zweites Stück Die Kennzeichnung der Renaissancebaukunst
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Renaissance und Antike 13 — Formenunterscheidung 16 — Behandlung der einzelnen Bauteile 18 — Äußeres Schicksal des Werkes 19 — Innere Anordnung 21 — Längsschnitt- und Querschnittsichten 23 — Verfolgen der Stilübergänge 25.
Drittes Stück Die Entwicklungsgedanken des Cicerone: Gotik und Renaissance
27
v
Entwicklungsgeschichtliche Anlage des Cicerone 27 — Parteilichkeit aller Kunstbetrachtung 28 — Burckhardts Kunstgesinnung 30 — Darstellung von Übergängen 53 — Gotik 34 — Frühe und hohe Renaissance 36. Viertes Stück W e r t u n g e n des Cicerone: Spätrenaissance und Barock Tief eindringende Würdigung der Renaissancebaukunst 37 — Verurteilung des. Barock 38 — Geschichtliches Recht des Urteils über vergangene Zeitalter, Pflicht des Eindringens in tiefere seelische Schichten 39 — Abwegige EinzelverurteQungen 41. Zweiter Abschnitt
Gneist
Erstes Stück D i e älteste englische Verfassungsgeschichte Der Entwicklungsgedanke in der äußeren und inneren Staatsgeschichte 45 — Thieiry 47 — Entwicklungsgeschichte und Systemwissenschaften 48 — Querschnitteilung der englischen Verfassungsgeschichte 49. Zweites Stück Sinn und Absicht des geschichtlichen Entwicklungsgedankens. . Recht und Grenzen der Anwendung des Entwicklungsbegrifis auf die menschliche Geschichte 51 — Ursprung des Gedankens in der Lebenslehre 52 — Geschichte der Einzelentwicklungslehre 53 — Zurückbleiben der Erkenntnis der Artenentwicklung 55 — Wachstumseigenschaften: Teildasselbigkeit; Beispiele: Entwicklung des Kanzleistils und der Behördenordnungen 57. Drittes Stück Das achtzehnte Jahrhundert a b der letzte Entwicklungsabschnitt der englischen Verfassungsgeschichte . . . Eingliederung der Revolution in den Gesamtzug der englischen Staatsentwicklung 60 — Verwaltungsund Behördenaufbau, Adels- und Mittelstandsein-
fluß 62 —Vorbildliche Selbstverwaltung —Adelsleistungen 67 — Aufsuchen der Besonderheiten englischer Staatspraxis und Staatsgesinnung 68.
Dritter Abschnitt Gustav Schmoller . . . Erstes Stück Stellungnahme zur Entwick lungsgeschichte
69 69
Vereinigung yon Volkswirtschaftslehre und Ge schichtsforschung 69 — Förderung der Gesell schaftslehre 72 — Schmoller und Comte 74.
Zweites Stück Umrissene und geformte Geschichtseinheiten
76
Einzeluntersuchungen in universalgeschichtlichem Geist 76 — Geschichte der Berufe, der Klassenbildung, der Unternehmung 78 — Geschichte der Straßburger Tucher- und Webenunft 80 — Untersuchungen zur brandenburgisch-preußischen Geschichte 81.
Vierter Abschnitt
Heinrich Holtzmann . . .
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Weltliche und geistliche Geschichte 84 — Die Verwissenschaftlichung des Glaubens im 19. Jahrhundert 85 — Einleitung in das Neue Testament und Neutestamentliche Theologie 88 — Unterbauung der Darstellung der Lehre von Jesus 90 — Zeitgenössische Glaubenslehren 91 — Charakterisierung von Jesus' Verkündigung 92 — Entwicklungsabschnitte der Lehre 93 — Wert und Rang •on Holtzmanns Werk 95 — Entwickelnde und beschreibende Geschichtsforschung: Unterscheidung, nicht Wertung; Ranke 96 — Sybel 98 — Treitschke, Mareks, Meinecke, Brackmann 99.
Zweites Buch DIE THEORIE DER ENTWICKELNDEN GESCHICHTSFORSCHUNG Erster Abschnitt Die Forschungsweise der Entwicklungsgeschichte .
103 vn
Beschreibende und entwickelnde Geschichtsforschung: Begriffsumgrenzungen 103 — Die Mittel der entwickelnden Geschichtsforschung: der Vergleich 104 — Die Urbestandteile des Gesamtgeschehens Entwicklung: Beharrung, Veränderung, Selbstgenügsamkeit 106 — Vergleichungen des Nebeneinander, Zusammenordnung in Gruppen 108 — Aufsuchen von Menschenformen und Handlungsweisen 109 — Vergleichungen im Nacheineinander, Herstellung von Entwicklungsreihen 110 — Vereinigung der Beobachtungen von Nebenund Nacheinander 111 — Aufsuchung der inneren Verursachtheit der Ereignisfolgen 112 — Einbezogenheit der Einzelentwicklung in die Gesamtentwicklung der Menschheit 114. Zweiter Abschnitt Ordnungsformen des geschichtlichen Geschehens Erstes Stück Unterschiede der entwickelnden und der beschreibenden Geschichtsforschung Begriffsfremdheit der ursprünglichen erzählenden Geschichtsschreibung; Fortbestehen des Mangels an BegrifFsschärfe: in der Geschichtsforschung 118 — In der Völkerkunde 120— Begriffsfeindlichkeit, Besorgnis um Verluste an Lebensnähe und Anschaulichkeit 122 — Geschichte der bildenden Kunst: Winckelmann 124 — Dehio, Herman Grimm 127. Zweites Stück Die begrifflichen Ordnungen des Nebeneinander Schrifttumsgeschichte: Scherer 129 — Geschichte des handelnden Lebens 131 — Glaubensgeschichte 133 — Forschungsgeschichte 135 — Geschichte der Philosophie 138 — Geschichte der äußeren Staatskunst 139. Drittes Stück Persönlichkeits- und Massengeschehen Massen und Einzelne: in Wirtschafts- und Rechtsgeschichte 140 — In der Glaubensgeschichte 141 VIII
117
117
129
140
— In Forschung®- und Kunstgeschichte 142 — Massen- und Persönlichkeitsgeschichte 144 — Begriffsumgrenzungen; werktätige Behandlung: der Massengeschehensformen 145 — Der Persönlichkeitsgeschehensformen: Michelangelo 147 — Geschichte des Beamtentums 151 — Geschichte des Fürsten 152 — Staats- und Kriegsgeschichte 153 — Äußeres Staatsgeschehen und Führertum 155.
Viertes Stück Die Entwicklungsreihen als die begrifflichen Ordnungen des Nacheinander
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Kernaufgabe der Geschichtsforschung: die Herstellung von Geschehnisfolgen 157 — Anordnung; Zeitfolgeordnung als Hemmnis der begrifflichen Ordnung 158 — Gesetz der Anwendung der Ordnungen des Nebeneinander auf das Nacheinander bestimmter Zeitstrecken 160 — Bevorzugung des Zeitfolgeberichts in der Staatsgeschichte 161 — Erkenntnis des Werdens als Ziel der Geschichtsforschung 162 — Verflochtenheit der Geschehensketten: im Leben eines Forschers 163 — Im Leben ganzer Völker 165 — Notwendigkeit immer neuer Anlegung des gleichen Ordnungsgradnetzes 166 — Der Entwicklungsquerschnitt; das Nacheinander der Geschehensformen in der äußeren Staatengeschichte 168 — In der Kriegsgeschichte 172 — In der Geschichte von Verfassungszuständen und zwischenstaatlichem Verkehr 173 — Verwandtschaft der entwicklungsgeschichtlichen Gesinnung mit der der systematischen Wissenschaften 174.
Dritter Abschnitt Die Grundformen der entwicklungsgeschichtlichen Zusammenfassung Erstes Stück Vereinfachung und Beschreibung
176 176
Begrifflichkeit der Querschnitteilungen 176 — Möglichkeit einer Begriffsgewinnung aus den Lebensgegebenheiten 177 — Recht und Grenzen der IX
Sammelschilderung 178 — Unterscheidende, nicht unterschiedslose Persönlichkeitsbetonung 179 — Gefahren der Sammelbeobachtung 182 — Die Kunst des Fortlassens 185 — Verwandtschaft zwischen beschreibender Geschichtsforschung und realistischer Kunst 185. Zweites Stück Die Zusammenfassung und der artvertretende Fall
187
Formen der Vereinfachung: Zusammenfassung von Handlungen zu Handlungsweisen 187 — Zahlenmäßige Zusammenfassung 188 — Notwendigkeit einer Staffelung der Zusammenfassung 192 — Die Stichprobe 193 — Der artvertretende Fall 194. Drittes Stück Zustandsgeschichte und Handlungsgeschichte. Abwegige Teilungen: Zustands- und Handlnngs-, Staats- und Kulturgeschichte 196 — Kein Gebiet reiner Zustandsgeschichte zuzuweisen 200 — Nicht die Einzelhandlung Gegenstand der Geschichte 201 — Zwischenstufen zwischen Einzelhandlung und Handlungsweise 203 — Fließende Zustandsgeschichte: Begrii&umgrenzung 204. Vierter Abschnitt schungsformen
z
Forschungsgrade und
196
For205
Erstes Stück Genauigkeit und Ausführlichkeit, Ichmäßigkeit und Zeitbedingtheit der Forschung
205
Aufsuchen der Ursachenzusammenhänge 205 — Ordnungsgebote 207 — Allgemeine und Einzelforschung; Ordnungsbedttrfnisse: der allgemeinen Forschung 208 — Der Einzelforschung 210 — Wertung der Einzeltatsachen 211—Wählenwollen und Wählenkönnen 212—Wahllosigkeit und Sachlichkeit; die Zeitstimmung in der Geschichtsforschung 213 — Ichmäßigkeiten Rankes 215 — Zeitbedingtheit auch der Einzelforschung 216. Zweites Stück Das äußere und das innere Bild der Geschichte
219
Rankes W e r k als höchstes Beispiel beschreihender Geschichtsforschung- 219 — Wertvergleiche: zwischen Stil- und Stoffkunst 221 — Zwischen bauender und beschreibender Forschung 223 — Das Künstlertum des Geschichtsschreibers 224 — Forderungen: Verschmelzung beider Formen geschichtlichen Anschauens, innere W a h r h e i t des Geschichtsbildes 226 — Wirkung der Geschichte auf das Leben 227 — Die Sendung des Geschichtsforschers 228.
VORWORT
Mit der Abfassung des Schlußbandes dieser Reihe1 verband ich die Hoffnung, daß die Verteidiger einer nur gründenden Geschichtsforschung, der ich doch auch mit diesem Werk zu dienen hoffte, ihm um deswillen eine günstigere Meinung schenken möchten, weil hier für weite Strecken der Geschichte der Geschichtsforschung eine breitere und sichrere Grundlage geschaffen worden ist. Denn wenn ich von den wenigen Einzelbearbeitungen absehe, die auf meine Veranlassung und mit meiner Unterstützung unternommen sind, so fehlen eingehende Würdigungen der hier gewerteten Geschichtsforscher gänzlich, und in den Gesamtdarstellungen, sei es deutscher, sei es sonstiger europäischer Geschichtsforschung, sind sie viel zu kurz und summarisch behandelt, als daß sie irgend den notwendig intensiveren Zwecken dienen könnten, wie ich sie hier verfolgen möchte. Ich habe ja nicht, wie es wohl in der Richtung meines Forschens gelegen haben würde, die breiten Gemälde »Vom Sein und Erkennen geschichtlicher Dinge«. Vgl. die früheren Bände: Psychologie der Geschichte (1935), Die Meister der entwickelnden Geschichtsforschung (1936), Gestaltungen des Entwicklungsgedankens (1940). 1
im
geistigen Geschehens entworfen, die den Einzelbildnissen, die ich ausgewählt habe, als Hintergründe dienen könnten ; ja, ich habe, was vielleicht die letzte Pflicht eines Unternehmens wie des meinigen sein würde, nicht einmal die Gedankenverkettungen aufgesucht, die so oft von einem dieser Träger gleicher oder ähnlicher Gedanken zum anderen fuhren. Es schien mir genug, diese Bildnisse von immer nach denselben Zielen Strebenden in eine Reihe zu stellen, in der es leicht war, sie zu vergleichen. Wenn ich aber auch vornehmlich die Hoffnung hege, daß man diese meine Beiträge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft um ihres objektiven Gehaltes willen aufnehmen möge, so räume ich doch gern ein, daß ich auch — um mit Immermann vom Fürsten Pückler-Muskau zu reden — die arrière-pensée hege, es möchte diese Auswahl von Geschichtsforschern, denen meine Liebe gehört, den Historikern, die diese Neigung gerade nicht teilen, vor Augen führen, wie diese allgemeinen — sie werden sagen allzu allgemeinen — Geschichtsauffassungen doch, wenn sie von Rang sind, nach allen Seiten befruchtende Wirkungen ausströmen. Auch dann, wenn ihre Gedankengänge längst verschollen sind, und noch wenn wir gegen ihre Einzelaussagen berechtigte Einwände erheben können; denn selbst der Streit gegen derartige »Fehler« pflegt nützliche Erwägungen im Gefolge zu haben. Meine Meinung von den beiden sich heute leider befehdenden Geschichtsauffassungen ist nämlich diese, daß sie beide, die allgemeine wie die besondere, die bauende wie die beschreibende, in Kraft fortbestehen sollten, daß sie sich aber ebenso beständig gegenseitig fordern sollten. Denn so gewiß auch nie weniger als XIV
neun Zehntel aller geschichtswissenschaftlichen Arbeit der gesichertsten Einzelforschung vorbehalten bleiben muß, so gewiß ist nötig, daß ein Zehntel doch auch allgemeinen und vergleichenden Studien gewidmet sein muß. Denn, um hier immer wieder das Gleiche zur Begründung dieser Auffassung zu sagen: allgemeine, vornehmlich vergleichende Forschung ist nicht nur um ihrer selbst willen erwünscht, ja notwendig, nein, auch um der Einzelforschimg willen, die beständig der Befruchtimg und Förderung durch die allgemeine Forschung bedarf. In wie hohem Maße dies der Fall ist, dafür legen die Großen, deren Äußerungen ich auf diesen Blättern zusammengestellt habe, unwiderlegliche Zeugnisse ab. Rehbrücke bei Berlin, 1940 Kurt Breysig
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ERSTES BUCH DIE PRAXIS DER GEGENWÄRTIGEN ENTWICKLUNGSGESCHICHTE
ERSTER ABSCHNITT JACOB BURCKHARDT
E R S T E S STÜCK GESCHICHTE DER
ARCHITEKTUR:
P R O T O R E N A I S S A N C E UND GOTIK Die langen Reihen von Darstellungen und Darlegungen, die in den Bänden »Die Meister der entwickelnden Geschichtsforschung« und »Gestaltungen des Entwicklungsgedankens« entfaltet wurden, können der Theorie der entwicklungsgeschichtlichen Forschung gewiß dienen, die einen, indem sie die Werke l1
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großer Meister vor Augen stellen und nach ihrer forscherlichen Gesinnung durchleuchten, die anderen, indem sie Sinn und Absicht der Forschungsweise und ihrer einzelnen Gattungen untersuchen. Aber beiden Formen der Geschichtsforschungslehre haftet noch ein Mangel an, den sie beide nicht beseitigen können: sie haben es eigentlich nicht mit der Ausübimg der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsgedanken zu tun, sie dienen nicht ihrer Praxis. Diese Lücke soll nun die hier folgende dritte Reihe von Hilfsbetrachtungen ausfüllen. Auch sie sollen Werk und Weise von Meistern oder Bewährten vorführen; aber sie sollen von dem Gesichtspunkt aus ausgewählt werden, daß sie dem Bedürfnis der Heutigen noch völlig nah sind, so daß sie der Praxis von heute wenigstens dann als Muster dienen können, wenn Zweck und Ausdehnung ihres forscherlichen Tuns gleich oder nahe verwandt sind. Einige von ihnen zählen allerdings auch zur Gruppe der Großen der Vergangenheit. Aber sie gehören der Schicht jener Erlesenen an, die, schon als sie erschienen, Vorbilder sein konnten und, wenn sie von ihrem Schauplatz abtraten, noch so jung waren, daß sie immer noch ihrer Zunft vorangehen konnten. Und die Höchsten von ihnen haben diese Jugend noch heute, ein Menschenalter nach ihrem Tode, nicht verloren. So Jacob Burckhardt. Und von ihm zu sprechen, gibt es einen doppelten Anlaß: er ist nicht allein ein durch seine persönliche Leistung Ausgezeichneter, nein auch die Forschungsgattung, die er vertritt, gewährt ihm ein Anrecht auf Bevorzugung. Es ist nicht von ungefähr, daß ein Kunstgeschichtsforscher es war, dessen Praxis noch heute als Vorbild wirken kann — für sei-
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nen eigenen Wissenschaftszweig, aber auch für mehr als einen anderen. Wenn unter den Meistern des achtzehnten Jahrhunderts Winckelmann als Erster die Reihe der Pioniere des Entwicklungsgedankens eröffnet, so muß der Grund ein ähnlicher, im tiefsten Kern des Wesens der Kunst* geschichte wurzelnder sein: das Zusammenkommen der zwei in jedem lebendigen geistigen Schaffen eigens wirksamen Antriebe, erstens der Kraft der Mitte, jeder Mitte, nicht nur der im Ich — ich meine die jede einzelne Fähigkeit des Einzelnen treibende Kraft — und sodann der tragenden Hilfe, die Erbgang und Vorbild der Wirkensgenossen geben. Man könnte mir einwenden, daß diese selbe Verbindung ja für jede Form geistigen Schaffens herzustellen wäre. Das ist wohl richtig bis zu einem gewissen Grade; aber es scheint so, als ob das Glühen der schaffenden Kraft der Einzelnen in der Kunst eigens stark lodere und daß auch die haltende und zur Nachahmung reizende Gewalt der Überlieferung ebenfalls sich an der Kunst besonders stark bewähre. Und was sich an der Kunst selbst zeigt, also am Gegenstand der kunstgeschichtlichen Forschung, das mag sich wohl an dieser selbst als dem Spiegelbild jener ähnlich wiederholen. Jacob Burckhardt hat verhältnismäßig spät im Jahrhundert und im Laufe seiner eigenen Leistensbahn das Werk geschaffen, von dem hier die Rede sein soll. Sein Cicerone wie seine Kultur der Renaissance sind voraufgegangen, und beide waren ihrer großen Anlage nach wie nach ihrer forscherlichen Gesinnung durchaus dem entwicklungsgeschichtlichen Gedanken dienstbar gemacht. Aber erst in dem Buch von 1867, das Geschichte der Renaissance in Italien betitelt ist, mit
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einer weit engeren Abgrenzung aber nur die Geschichte der italienischen Baukunst im Zeitalter der Renaissance behandelt, hat er das Werk geschaffen, in dem er ohne jeden Vorgänger ein Musterbild entwicklungsgeschichtlicher Forschungsweise aufgestellt hat. Höchst bezeichnend ist schon, daß Burckhardt sich nicht nur der von aller sonstigen Kunstgeschichte abweichenden Art seiner Arbeit bewußt ist, sondern auch im Vorwort diesen Gegensatz aufs klarste feststellt. Er unterscheidet zwar nicht, wie es auf diesen Blättern geschieht, zwischen beschreibender und entwickelnder Geschichtsforschung; aber wenn er diese beiden Formen in dem Vorwort von 1863 chronologisch erzählende Künstlergeschichte und Darstellung nach Sachen nennt1, so ist das Zusammenfallen beider Scheidungsarten nicht zu verkennen. Die Einteilung ist es, auf die Burckhardt alles ankommt: der Verfasser glaubt, es sei wünschbar — so sagt er in dem Vorwort zur zweiten Auflage von 1878 —, daß neben die erzählende Kunstgeschichte auch eine Darstellung der Sachen und Gattungen trete, gleichsam ein zweiter, systematischer Teil, wie dies seit Winckelmann mit der Kunst des klassischen Altertums geschehen sei. Denkwürdig ist, daß Burckhardt sich auf Winckelmann als seinen Vorgänger beruft. Und scharfsinnig ist die kurze Umschreibung, mit der er die Eigenschaften der beiden Geschichtsgattungen umreißt: er weist der systematischen Weise die parallele Behandlung des Zusammengehörenden zu. Die Triebkräfte, so erklärt er des ferneren, welche das Ganze derKunst beherrschten, die Präzedentien, von welchen der ein1 Geschichte der Renaissance in Italien (' 1891) S. XIX, Vorwort zur 1. tmd 2. Auflage.
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reine Meister bei seinem Schaffen bestimmt war, treten hier in den Vordergrund, während die Künstlergeschichte den großen Vorzug behaupten werde, die Individualitäten in ihrer Macht und Fülle schildern zu dürfen. Man könnte den Unterschied der beiden Forschungen nicht feinsinniger, aber zugleich auch nicht milder festlegen. Wer den Aufbau des Werkes prüft, auf den es ja hie r vornehmlich ankommt, wird zunächst die Feststellung machen — ohne darüber von Burckhardt, dem diese Gedanken fremd waren, unterrichtet zu werden —, daß von den beiden Baumöglichkeiten, die sich für jede kunstgeschichtliche Aufgabe ergeben, nämlich von der im wesentlichen dem Längsschnitt folgenden Weise und der Querschnittbehandlung, nicht durchgängig die eine oder die andere gewählt ist, sondern daß die eine, die erste Hälfte überwiegend der Längsschnitt-Teilung, die zweite aber der des Querschnittes gefolgt ist. Die Längsschnittbehandlung der ersten Hälfte kündigt sich so an, daß der gesamte Zeitraum, der in dem Buch bearbeitet werden soll, d. h. die Zeit vom zwölften bis zum sechzehnten Jahrhundert, als Renaissance bezeichnet, in eine Anzahl von Teilzeitaltern geteilt wird; es werden nacheinander geschieden Protorenaissance und Gotik, Frührenaissance und sechzehntes Jahrhundert. Die Zahl dieser Zeitabschnitte wird durch das frühe Ansetzen des Anfangs um zwei vermehrt. Es wäre sicher richtiger, weil einfacher, gewesen, dies Zeitalter erst nach dem Abschluß des Wirkens der Gotik, mit dem Beginn der Frührenaissance, etwa von 1421 ein, beginnen zu lassen, da wir zwar gewohnt sind, mit dieser das Zeitalter der Renaissance
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anheben zu lassen, nicht aber mit der Gotik, die wir als ein Zeitalter von dominierender Eigengestalt anzusehen pflegen. Doch sieht man leicht, daß für die Erwägungen über Wie und Weg der kunstgeschichtlichen Forschung, wie sie hier angestellt werden sollen, diese Fragen der allgemeinsten Abgrenzung von verhältnismäßig geringer Bedeutung sind. Burckhardt hat sich für diesen so frühen Ansatz des Zeitalters der Renaissance entschieden, weil er jene halbromanische Yorbewegung der Renaissance, die er Protorenaissance genannt hat, gern in den Hauptzeitraum einbezogen sehen wollte. Allerdings hoben sich die Werke dieser Bauweise — San Miniato von 1207 und das Battistero von um 1150 — durchaus sicher von dem allgemeinen mitteleuropäisch-romanischen Stil ab und verlockten dadurch dazu, sie der Baugesinnung der Renaissance zuzurechnen. Und da er von Florenz als der gegebenen Kunsthauptstadt Italiens ausging, so war diese Versuchung eigens groß, da schon diese beiden Bauwerke für sich genug Bedeutung haben, um eine Grenzziehimg an sie anzulehnen. Es hätte dem großen Kulturhistoriker schlecht angestanden, wenn er nicht auch der seelischen Grundlagen gedacht hätte, auf denen die Kunst der von ihm erlesenen Jahrhunderte sich erhoben hat. Und so schickt er den eigentlichen Kunstabschnitten zwei einleitende Kapitel voran, in deren erstem er die Baugesinnung der beiden Gemeinwesen, die in der damaligen Zeit im künstlerischen Italien die führenden waren — Florenz und Siena — auf das markanteste schildert. In einem zweiten schildert er die Kenntnisse der, sei es kunstgelehrten, sei es dilettierenden Bauherren, die die Auftraggeber der Künstler waren.
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Er gedenkt der Behörden und er sammelt eine Summe von Nachrichten über das Leben der Künstler. Sind in ihnen auch nur die allgemeinsten Notizen über ihre Herkunft und über den Ort ihrer Beschäftigung zusammengestellt, so wird doch auch so eine ausreichende Anschauung von diesen Dingen vermittelt. Die beiden Hälften der hier beschriebenen Einleitung sind ihrer Natur nach Querschnitte, da in ihnen ein Gesamtüberblick über den ganzen Zeitraum gegeben werden soll. Immerhin sind einzelne Trakte des Geschehens doch noch in zwei Zeithälften zerlegt, in das fünfzehnte und das sechzehnte Jahrhundert. Zum scharfen Ausdruck des Querschnittes als einer Teilungsform kommt es in dem ersten der Abschnitte, die der eigentlichen Darstellung gewidmet sind. Auch er ist in zwei Hälften geschieden: die erste behandelt die von Burckhardt so benannte Protorenaissance, als deren Träger freilich nur jene zwei Florentiner Bauten zu gelten haben: San Miniato und das Battistero. Zunächst macht Burckhardt, tief zurückgreifend, eine Beobachtung, die einem Längsschnitt dient und die allerdings von weitgespannter Bedeutung ist. Wie zur Rechtfertigung der von ihm gewählten Bezeichnung Protorenaissance weist er darauf hin, daß es sich hier um eine wahrhafte Wiedergeburt antiker Baugedanken, nicht aber, wie man vermuten sollte, um eine Fortführung der romanischen Bauweise handelt. Er geht aus von einer analogen Umwandlung an den römischen Basiliken, die damals die bisher üblichen Rundbogen durch waagerechtes Gebälk ersetzen, und hebt als eigene Hinwendung des Baptisteriums zur Antike die Abhängigkeit seiner Formen von dem Pantheon zu Rom hervor. Und er entnimmt dem späteren
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Schrifttum, daß man — so Vasari — den Bau für einen antiken Tempel gehalten habe, von dem man sogar annahm, daß er wie das Pantheon ursprünglich oben offen gewesen sei. Für San Miniato hat Burckhardt diese Beweisführung nicht durchgeführt: die von der Antike übernommenen Bruchstücke — die Säulen etwa — vermögen sie nicht zu tragen. Die nun folgenden, der Gotik gewidmeten Abschnitte, können nicht einmal a b Querschnitte bezeichnet werden, da sie gemäß der Grundstimmung Burckhardts der Gotik so abgeneigt, ja feindlich gegenüberstehen, daß sie weit mehr nur als Episöden, denn als eigentliche Hauptabschnitte bezeichnet werden können. Jacob Burckhardt war so sehr Stimmungs- und Temperamentsmensch, daß er sogar den Grundton reiner Entwicklungsgeschichte nicht ganz festgehalten hat, obwohl er ihm im Insgesamt seiner geschichtlichen Haltung ganz zu eigen war. Burckhardt war, wie es Männern seiner leidenschaftlichen Art leicht zustoßen konnte, im Grunde zu heftig in seinem Parteinehmen im Für und Wider, u m dem Entwicklungsgedanken, ja, man wird sagen dürfen, der Geschichte mit all der reinen Unbefangenheit dienen zu können, die sie beide fordern. Man kennt Burckhardts Parteinahme gegen das Barock. Sie ging aus nicht eigentlich von diesem Wider selbst, sondern von einem Für, von einer grenzenlosen Vorliebe f ü r die Renaissance. Es muß eine tief bis in den Quellbereich des Unterbewußtseins hinabreichende Einwurzelung seiner Grundanlagen in der Neigung zu Ebenmaß und Gleichklang im Bezirk aller künstlerischen Sinnlichkeit gewesen sein, die ihn hierin beherrscht hat. Und da er ein Mensch von sehr heftigem IO
Empfinden war, so wurde er besonders in seinen Gegnerschaften zu Ausbrüchen des Temperaments getrieben, die bis an die Grenzen reiner Drolligkeit reichen. Nun ist seine Abneigung gegen die Gotik nicht so weit gegangen, wie die gegen das Barock; aber da die Grundwurzel seines Empfindens für beide Kunstweisen die gleiche war: die Abneigung gegen alle Heftigkeit der sinnlichen und seelischen Bewegtheit, so konnten sich auch die Wirkungen nicht allzuweit unterscheiden. In dem Cicerone von 1855, der noch mehr Bekenntnisbuch ist als die Geschichte der Renaissance — d. h. ihrer Baukunst in Italien — von 1867, hat Burckhardt die Abneigung gegen die Gotik, deren Eindringen in Italien er ein Schicksal, ein Unglück nennt 1 , ganz unverhohlen geäußert; aber er hat zugleich mit so wunderbarem Spürsinn die Veränderungen, die das südliche Grundgefühl nicht nur der Italiener, nein auch der von Norden her zugewanderten Künstler an dem von Frankreich und Deutschland übernommenen Leihgut vorgenommen hat, ausgesondert, daß hier keine falschen Vermischungen aufgekommen sind. Immerhin ist nicht zu verkennen, mit wie geringer Freude Burckhardt von diesen Werken der Zeit zwischen 1232 und 1422 spricht. Er drängt die Kennzeichnung der gotischen Bauweise zu an sich bewundernswerter, aber doch auch kärglicher Kürze zusammen, und für die größten Werke dieser Bauweise, wie für den Dom von Mailand, dem er selbst im Cicerone kaum mehr ab abträgliche Bemerkungen gönnt, findet er kein Wort auch nur der flüchtigsten 1
Der Cicerone (Gesamtausgabe III [1933] 113). II
Erwähnung. Und so karg die Gotik selbst mit Raum und Text bedacht ist, mit um so genauerer Ausführlichkeit ist der Haß auf die Gotik verzeichnet, mit dem die späteren Geschlechter der italienischen Künstler und Kunstgelehrten die längst dahingegangene Bauweise bedacht haben, bis zu den Äußerungen Vasaris, der den Gotenstil — eine völlig sinn- und grundlose Bezeichnung des Stils — mit einer Flut von höhnischem und gehässigem Schimpf überhäuft und von solchen unter seinen Zeitgenossen, die er eigens schmähen will, sagt, ihre Werke seien schlechter als die der Deutschen1. Von dem Einzüge des neuen Zeitalters ab, das man beizeiten eines der Wiedergeburt genannt hat, verspürt der Leser dieses Werkes schon, wie dem Verfasser sein Herz von Lust erfüllt ist, wenn es sich dem Gegenstand seiner wahrsten und im Grunde seiner einzigen Liebe nähert. Und wahrlich ist es auch kein Wunder, wenn von diesem Punkt ab seine Darstellung in demselben Maß stark bewegt und deshalb reicher und gefüllter wird als bisher. Burckhardt läßt, noch bevor er sich der neuen Kunst selbst zuwendet, eine literargeschichtliche Einleitung vorangehen. Erschließt sich der gegen die Gotik gerichteten Äußerung Albertis an, dem es, wie er von sich sagt, während seiner langen Verbannung so vorgekommen war, als sei die Natur alt und müde geworden und habe keine großen Geister mehr hervorbringen können. Als er aber nach Florenz zurückgekommen sei und hier nun zuerst die Werke von Donatello, Ghiberti und Masaccio gesehen habe, sei er froh erstaunt gewesen, eine neue Kraft Vgl. die Zusammenstellung bei Burckhardt, Die Kunst der Renaissance in Italien (Gesamtausgabe VI [1932] 50ff.). 1
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zu finden, die der der erlauchtesten alten Meister nichts nachgebe. Man wird dem Verehrer der Renaissance nicht gern einräumen mögen, daß die Gotik als solche zur Verdammnis verurteilt gewesen war; aber er hatte das beste Recht, den gewaltigen Einschnitt auf das stärkste zu empfinden, der die neue von der alten Kunst trennte, und er hatte ingleichen Recht, wenn er die starke Welle von neuer Kraft, die mit der jungen Kunst ging, als der alten, von dem Geschehen selbst so brüsk beiseite gestoßenen Kunst so vollkommen überlegen fühlte. Man würde im Zuge der Darstellung Burckhardts eine begrifflich-geschichtliche Durcharbeitung des großen Problems, das hier die Geschichte der Forschung zur Aufgabe stellt — was denn eigentlich die seelischgeistige Ursache der ungeheuren Umwälzung, die um 1422 eintrat, gewesen ist — wünschen, aber so weit ist er in seiner Forschung nicht gedrungen. Davon hielt ihn seine Konzentration auf Italien und noch mehr vielleicht seine Vorliebe für die genaue Einzelforschung ab, die ihn verhinderte, allzu allgemeine Betrachtungen mehr seelenkundlicher als geschichtlicher Art anzustellen.
ZWEITES
STÜCK
DIE KENNZEICHNUNG
DER
RENAISSANCEBAUKUNST Burckhardt hat zunächst die literarische Renaissance dieser ersten Jahrzehnte geschildert, die an die Lehre des Vitruvius anknüpft, dann die der lebenden Theo*3
retiker, vor allem die des Alberti und des Serlio, um dann endlich zu der Praxis der Baumeister der Frührenaissance überzugehen. Und hier, da der erste wirklich ganz ausgeführte seiner Querschnitte sich darstellt, wird auch Wie und Weise seines Verfahrens ganz deutlich. Er geht hier so vor, ab sei es dieses Zeitalter allein, das ihn beschäftige. Er stellt ein System der Bauformen der Frührenaissance auf. Er schickt zwei allgemeine Abschnitte voraus, in denen er sich mit dem starken Einfluß der von den Römern ererbten Details beschäftigt, stellt aber mit dem ihn auszeichnenden Scharfblick fest, daß den Meistern dieses Zeitalters nie in den Sinn kam, nun etwa auch Anlage, Hauptformen und die großen Verhältnisse, die Konstruktion selbst von der Antike zu übernehmen. Soweit hier von einer Entwicklungsgeschichte im Hinblick auf die Antike die Rede sein kann, ist die Grenze auch insofern auf das Schärfste gezogen, als auch das Nein, die Unabhängigkeit der Renaissance gegenüber der Antike, auf das nachdrücklichste betont ist. Denn die Fruchtbarkeit des Entwicklungsgedankens für die Geschichtschreibimg des Meisters Burckhardt tritt vielleicht an keinem Ort so deutlich hervor, als da, wo er sagt: »Die Renaissance kennt beinahe gar keine Nachahmungen bestimmter einzelner Römerbauten, sie hat bei aller Bewunderung keinen einzigen Römertempel repetiert, und überhaupt das Antike nur im Sinne der freiesten Kombination verwertet« 1 . Man wird dieses Zeugnis für Nein und Grenze der Renaissance gegenüber der Antike seinem Werte nach nicht hoch genug anschlagen können. Dies ist ja einer der häufigsten und zugleich der schädlichsten Mängel, die i Kirnst der Renaissance in Italien (Sämtl. Werke VI [1932] 47).
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die Begriffsbauten der Wissenschaften, zum mindesten der Geisteswissenschaften, aufzuweisen pflegen, daß, wenn sie auch allenfalls ihre Begriffsnetze vollständig über ihre Wissensbestände auswerfen, soweit deren habender Besitz in Betracht kommt, sie jeder Vollständigkeit, ja schon jeder Ausgiebigkeit bar zu sein pflegen, wenn es darauf ankommt, Grenzen und Mängel dieser Systeme erkennen zu lassen. Wem es darum zu tun sein sollte, Beispiele f ü r den Nachweis dieser Untugend zu finden, der möge sich n u r an den Fall der Geschichte der Philosophie halten. Sie pflegt dann, wenn sie von einem zum anderen Denker übergeht, sich u m die Erbmasse des letzten Vorgängers ebensowenig zu kümmern, wie sie sich verpflichtet fühlt, genau kenntlich zu machen, was unbedingte, d. h. unererbte Neuerung des neuen Statthalters im Reich der Philosophie oder einer seiner Provinzen ist. Die Denkschärfe Jacob Burckhardts wird durch solche Leistung seines Kunst- und Spürsinnes gekennzeichnet. Aber sie ist wahrlich nicht der einzige Beweis von ihr. Es würde nötig sein, aus dem Netz der Gedankenteilung, das er über den Gesamtbestand derjenigen Kunstwerke und Kunstübungen spannt, die er seiner Beachtung für wert hält, alle Gradgevierte herauszuheben, in die er das Wirrsal der geschehenen Dinge einfängt. Alle diese Überlegungen bieten sich dem Leser u m so eher dar, als dies Werk von der Handschrift ab von Burckhardt in einer eigentümlich knappen, kargen Form niedergeschrieben worden ist, fast als hätte es noch gar nicht einen völlig ausgestalteten Text dargestellt, sondern die zur Bequemlichkeit des Verfassers gekürzte Vorform eines solchen. Immer wieder stößt
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der Leser auf einzelne Strecken des heute als fertig sich darstellenden Werkes, die sich ausnehmen, als hätten sie durch eine weitere, oft gar nicht einmal sehr zeitraubende Schlußredaktion erst ihre letzte Reife empfangen müssen. Immer wieder wird der heute dies Werk Empfangende von dem Bedauern überkommen, daß Burckhardt nicht doch noch diese letzte Hand an sein Werk gelegt hat. Er wäre überall bei weitem der uns Erwünschteste und Fähigste zu solcher Endbearbeitimg gewesen. Man benutze als Probestück nur die Erörterung über jenen phantastisch-mythologischen Roman des weitgereisten Dominikaners Polifilo — ein nicht nur sehr verwunderliches, sondern auch für die kulturelle Grundstimmung seiner Entstehungszeit höchst kennzeichnendes Werk. Wir würden von Burckhardts Hand vermutlich eine höchst reizvolle Wiedergabe seines Inhaltes und eine endgültige literar- und kunstgeschichtliche Würdigung erhalten haben. Ingleichen ist nicht genug zu bedauern, daß er die Darstellung des Zeitalters der Gotik in dieser Gerippform behandelt hat; man wäre heute dankbar für jede ausgeführte Schilderung auch dieser Zeit 1 , selbst auf die Gefahr hin, daß sich Wiederholungen aus dem Cicerone finden sollten. In den Abschnitten über die Formenbehandlung der Frührenaissance und die des sechzehnten Jahrhunderts gipfelt die wissenschaftliche Leistung Burckhardts. 1 Ebenso möchte man wünschen, daß auch die Malerei, über der noch das Damoklesschwert der Ausscheidung aus dem Werk schwebt, in allen den noch im Nachlaß vorhandenen Stücken erhalten bleiben möchte. Doch läßt sich von der höchst verdienstvollen Redaktion Wölfflins erhoffen, daß diese sehr wünschenswerte Ergänzung erfolgen wird.
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Es sind beides Querschnitte im Sinne des darstellerischen Aufbaues. Jedesmal ist ein Zeitalter als Ganzes zusammengefaßt und jedesmal ist es im Sinne eines Systems behandelt. Gerade in dieser Systematik aber ist der in Sachen des Begriffsbaues wertvollste Teil des ganzen Werkes zu suchen. In den Händen eines der früheren und schwächeren Kunstgeschichtsforscher, eines Schnaase, Kugler oder gar des düntzermäßig langweiligen Lübke wäre hier eine der herkömmlichen Schilderungen entstanden, die, ebenso wie sie in der Flut der üblichen Darstellungen ihrer Zeit verschwanden, auch weder in der Geschichte der Forschung noch durch die Nachwirkung auf die folgenden Jahrzehnte sich einen Rang von Burckhardts Graden hätten erringen können. Diese Abschnitte, die die Mitte des Werkes einnehmen, stellen sich als der Gipfel von dessen geschichtsforscherlicher Leistung dar; denn wenngleich in der knappsten und oft der Skizze angenäherten Form, ist hier nun das volle Bild eines Insgesamt] von baukünstlerischem Schaffen aufgerichtet. Von den Zierformen, von denen zuerst die Rede ist, wird wiederum in rühmlicher Festsetzung von Grenze und Norm hervorgehoben, daß die italienische oder wenigstens die florentinische Baukunst, obwohl sie sich mit aller Entschiedenheit von der Gotik fort und den römischen Schmuckformen zugewandt habe, sich von diesen doch nicht etwa völlig habe überwältigen lassen. Auch hier, und zwar an einem sehr delikaten Punkt der Darlegung, bewährt Burckhardt wieder die beste, weil schwierigste Eigenschaft des Entwicklungshistorikers, daß er mit Schärfe ein an sich Nicht-Vorhandenes erkennt: er spürt heraus, wie anders die von dem römischen Vorbild an sich so ungemein aba Br*r«ig
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hängige Kunst der Zierformen hätte werden können, hätte werden müssen, hätte sie sich ihm voll und wahllos unterworfen. Dann aber geht die Darstellung die Reihe der Bauformen durch und beginnt damit, Säule, Bogen und gerades Gebälk zu durchmustern. Es wird sich für den Außenstehenden nur schwer ermessen lassen, wieviel Fleiß, wieviel Gedächtniskraft, die eine nach Hunderten von Werken zählende Bauweise zu umfassen hatte, sich hier haben bewähren müssen, um oft nur eine einzige Zeile dieser allgemeinsten Behauptungen aufzustellen. Schon hier beim ersten Eintritt in den inneren Bau des Werkes wird offenbar, daß Burckhardt die wertvollsten Eigenschaften des großen Forschers besaß, nämlich den weiten Blick des umfassenden Zusammensehens und den eindringenden Blick für die Einzelheit, beide unterstützt von einem unermüdbaren Fleiße. Die Säule erscheint als nie ganz verdrängt, mit ihr verbunden der Bogen, als nunmehr wieder zur Herrschaft gekommene und bei weitem am häufigsten angewandte Schmuckform, während vom geraden Gebälk festgestellt wird, daß es nur bisweilen und als Kontrast gegen den Bogen angewandt worden «ei1. Im selben Sinne wird eine zum Teil doch auch statistische Formenlehre der Kapitale, der Pilaster, der Gesimse abgehandelt. Der Rustikafassade widerfährt eine eigens eingehende Bearbeitung, sie wird für einzelne Bezirke, für Siena, Florenz und das Land außerhalb Toskanas untersucht. Die besondere Rolle, die die Inkrustation in Venedig, der Backsteinbau in Oberitalien 1
Die Kunst der Renaissance in Italien (Sämtl. Werke VI 48 f.).
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spielt, wird gewürdigt; Kirchenfassaden, der Aufbau des Inneren und insbesondere der Gewölbe machen den Abschluß. Eine zweite Reihe wiederholt diese Abfolge für das sechzehnte Jahrhundert. Zwei ganz allgemeine Abschnitte sind der Komposition von Kirchen, Klöstern und Palästen gewidmet. Stadtanlagen, Villen und Gärten machen den Beschluß. Alle diese weiteren Teile der Darstellung brauchen hier ebensowenig wie die ausführliche Schilderung der Dekoration oder die nur skizzierten Bücher über Skulptur und Malerei im einzelnen besprochen zu werden. Der Sinn und die Absicht des Werkes sind schon aus den hier angedeuteten Stücken zur Genüge ersichtlich. Die Seelen- und zugleich die Geistesbeschaffenheit Jacob Burckhardts werden im tiefsten an diesem Werke offenbar. Schon hatte er die Aufzeichnungen, die er für es gemacht hatte, jahrelang im Schrein verborgen; wie er sie nur in einer der Skizze nahekommenden Form niedergeschrieben hatte, schienen sie ihm nicht einmal wichtig genug, um sie in strenge Form zu fassen und als fertiges Buch herauszugeben. Wohl hatte Burckhardt diesen Block seiner Gedanken dazu bestimmt, ihm als ein letztes Schlußstück seines Hauptwerkes, der Kultur der Renaissance, zu dienen und hierdurch eine Zusammenfassung der Geschichte aller bildenden Künste Italiens herzustellen; aber er hatte über ihn noch keineswegs zu diesem Zweck eitle eigene Verfugimg getroffen. Noch ehe im Jahre 1860 das größere Werk abgeschlossen und veröffentlicht war, hatte Burckhardt — 1858 — aus dem großen Sammelbecken seiner Auszüge und Notizen den Stoff für diesen Schlußteil zusammengebracht. Von 1862 ab hat er die 2
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Niederschrift dieses Teilwerkes begonnen und sie über Architektur, Dekoration und Bildnerei bis zur Mitte der Malerei geführt und damit nach seiner eigenen Berechnung 7/g des Insgesamts seines Plans vollendet. Doch noch vor Abschluß von zwei Jahren hat Burckhardt die Arbeit abgebrochen und Wölfflin, der Herausgeber der letzten Gestalt des Werkes, ist der Meinung, daß Burckhardt kaum an eine Vollendung dieses Bruchstückes zum eigenen Zweck gedacht haben würde 1 . Erst ein Anstoß von außen hat Burckhardt späterhin dazu bewogen, das Buch als Torso zu veröffentlichen: die inzwischen aufgekommene Absicht, die Geschichte der Baukunst, die Kugler unvollendet hinterlassen hatte, zu ergänzen, also ein denkbar äußerlicher Grund: der Wunsch eines fremden Verlegers, das Werk eines fremden Verfassers vollendet zu sehen. Burckhardt hat diesem Anstoß nachgegeben, aber es bleibt doch ein denkwürdiges Schauspiel, daß er dieses Werk, von dem zu gelten hat, daß es in dem Werdegang der kunstgeschichtlichen Forschung den denkbar stärksten Einschnitt im Sinne einer Förderung des Entwicklungsgedankens bedeutet und das seit Winckelmann überhaupt das erste grundlegende Erzeugnis der kunstgeschichtlichen Forschung war, mit so geringer Liebe und gar nicht wie ein echtes Kind seines Geistes behandelt hat. Es hätte ja wenig gefehlt, und er hätte es überhaupt nicht in die Welt gehen lassen. Das spricht einmal für die große Bescheidenheit Burckhardts, für die es freilich auch sonst nicht an sehr lebendigen Bezeugungen fehlt, aber über dies Persönliche hinaus ist es auch ein neuer Beweis dafür, wie Die Kunst der Renaissance in Italien (Samt!. Werke VI, S. XVI).
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sehr auch im Kraftbereich sehr starker schöpferischer Menschen und wohl gerade bei ihnen das natürliche, pflanzenmäßige Wachstum überwiegt: sie sind wie Bäume und wissen es selber kaum, wie reif und süß die Früchte sind, die sie tragen. Und dies ist in dem Falle Burckhardts und seines Werkes um so auffalliger, als es sich hier um ein geistiges Tun handelt, das in so hohem Maße die Ziele begriffsmäßiger, also absichtsvoller Forschung verfolgt. Aber daraus ergibt sich des weiteren, daß der Unterschied zwischen geprägter und gewachsener Forschung, auf den bei aller Ordnung der Wissenschaftsformen sehr viel, ja das Entscheidende ankommt, nur aus dem Kern des Geschehens, nicht aber aus den äußeren Anlässen, und mögen sie noch so seelische Wirkungen im Gefolge haben, abgeleitet werden darf. Mit anderen Worten, es ist alles daran gelegen, daß ermittelt wird, ob ein Wissenschafts werk aus dem Begriff heraus und zu Begriffszwecken geschaffen ist, oder ob es in freier Hingabe an den Stoff des Wissens erzeugt worden ist. Jenes wird der geprägten, dieses der gewachsenen Forschung zuzurechnen sein. Nicht dagegen kommt es darauf an, ob ein Erzeugnis wissenschaftlicher Arbeit aus irgendwelchen Zwecken des Lebens, sei es des Einzellebens oder der öffentlichen Absichten, hervorgegangen ist. Der Begriff der Absichtlichkeit oder, wenn man lieber will, der geistigen Geformtheit soll allerdings der herrschende für alle Werke geprägter Wissenschaft sein; aber er soll sich nur auf die Mittel und den inneren Sinn ihres geistigen Wollens, nicht aber auf den Kreisrand ihrer nach außen gerichteten Bewirkungen beziehen. Entscheidend also bleibt für dieses Werk seine innere Anordnung, und sie ist dann freilich ebenso vollkom-
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men dem Begriff und abo der Geprägtheit verschrieben, wie es dem Entwicklungsgedanken dienstbar gemacht worden ist. Ja man kann aus seiner Anlage — wie es schließlich die Nebenwirkung jeder Schöpfung von höchstem Rang werktätigen Tuns ist — geradezu die Grundregeln der entwicklungsgeschichtlichen Forschung ableiten. Querschnitt und Längsschnitt sind die beiden Grundformen entwickelnder Geschichtsforschung. Beiden hat Burckhardt in hohem Maße ein Genüge getan: in höherem vielleicht den Anforderungen des Querschnitts. Denn hier ist verfahren, als ob es sich um ein Werk nicht geschichtlich schildernder, sondern rein bauender, rein begriffswissenschaftlicjier Anlage, ein System der Kunstwissenschaft im kleinen handle, bezogen freilich nur auf Italien und zuerst das fünfzehnte und darauf das sechzehnte Jahrhundert, aber doch ebensosehr den Zwecken bauender und ordnender Forschung, als denen geschichtlicher Erkenntnis dienend. Die eigentümliche Doppelnatur dieser Art wissenschaftlicher Tätigkeit geht so weit, daß mein sich ebensogut vorstellen könnte, daß die Einzelstücke dieser Erkenntnis ab Bausteine für ein Werk der angewandten Ästhetik verwandt würden, wie für den von Burckhardt verfolgten geschichtlichen Zweck. Es würde dann nur die Anordnung und mehr noch die Verwertung eine andere sein. Aber man könnte sich sehr wohl denken, daß eine umfassende Kunstwissenschaft in der Weise aufzubauen wäre, daß Zeitalter auf Zeitalter nach dem Muster dieses von Burckhardt gegebenen Vorbildes getürmt würde, und daß dann eine Reihe von Säulen alle diese Querschichten zu Längsschnitteinheiten verbände. Auf diese Art würde ein vollendetes System zustande kommen. Ein
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Forscher von der Sinnesart Burckhardts würde nie einen solchen Bau aufgerichtet haben; noch bis auf den heutigen Tag ist niemand auf einen derartigen Gedanken gekommen, aber es ist genug, daß die Möglichkeit besteht, so zu verfahren. Diese Systematik des Querschnitts ist gewiß nicht bis aufs Letzte getrieben; es wäre möglich, die Vermannigfaltigung, die Differenzierung dieser Verästelung und ihres Netzes noch weiter zu treiben, ihr noch weitere Verfeinerungen zu geben. Aber im Grundsatz ist die Querschnittbildung vollkommen durchgeführt: der Wissenschaft war ein vollkommenes Genüge geschehen. Etwas anders steht es u m die Durchführung der Längsschnittsicht. Kein Zweifel, wenn es darauf ankommt, Sinn und Absicht des Entwicklungsgedankens zu ermitteln, so ist noch wichtiger, das Wie des Längsschnittes zu erkunden, als das des Querschnittes; denn die Entwicklung als solche vollzieht sich im Nacheinander der Zeiten, und die Weisungen des Querschnittes haben n u r die Fragen der Ordnung der Längsschnittreihen zum Gegenstand. Und ist auch alle Sicherheit der Fügung der Längsschnittordnungen und alle haftende Kraft ihrer Zusammenhänge abhängig von der zweckmäßigen Anordnung ihrer Querschnitte, die Entscheidung über das eigentliche Geschehen im Rahmen der geschichtlichen Tatsachen fällt doch je nach dem Tempo, dem Rhythmus des Tempowechsels jeder Längsschnittreihe, nach dem Maß ihrer Unabhängigkeit oder ihrer Beeinflußtheit von anderen Geschehensreihen und schließlich von der Abfolge aller Formen und Gehalte innerhalb der einzelnen Geschehensreihe. Man wird nicht sagen dürfen, daß Jacob Burckhardt in die Theorie dieser Entwicklungsfragen eingedrungen
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sei; derlei Erwägungen lagen ihm ganz fern. Auffällig ist eher, daß auch aus seine* in die Tat umgesetzten Auffassung sich für seine Längsschnittsichten sehr viel weniger Erträge ergeben, als für alles, was er für die Querschnitt-Teilungen seiner Sehweise getan hat. Nicht als ob er die Längsschnitt-Teilungen vernachlässigt hätte: wenn man die Strecke der italienischen Baukunstentwicklung übersieht, die auf den letzten Blättern hier wiedergegeben wurde, so sind die von Burckhardt angenommenen Teilungen sämtlich solche des Längsschnitts. Eine von ihnen, die der Protorenaissance, konnte sich nur dem ästhetischen Scharfblick eines Burckhardt offenbaren; die anderen beiden Einschnitte, der zur Gotik hin und der von der Gotik fort, waren gewiß auch für minder scharfe Augen erkennbar. Was aber Burckhardts eigentümlichster Besitz war, das war, daß er diese allgemeinen Umrisse der Kunstalter mit einer kaum zu übersehenden Menge von Einzelbesonderheiten anfüllte, durch die sie selbst erst Farben und Formen erhielten, und die zugleich den Anhalt für die Beobachtimg sehr vieler Änderungen gab, aus deren Summe sich erst der Fortschritt von Stil zu Stil zusammensetzte. Gewiß würden die Urteiler irren, die, den Liebhabern der reinen Deskription nahestehend, den Wert von Burckhardts Forschung in dem nicht zu ermattenden Fleiß und der Sehschärfe sehen würden, die diese Hunderte von Beobachtungen hervorgebracht haben; aber ebenso gewiß ist, daß die Summe von Burckhardts Erfolgen erst dadurch erzeugt worden ist, daß er seine ganz weiten Sichten durch diese Grundlagen der treuesten Einzelforschung zu stützen vermochte. Die eineTugend wie 24
die andere hat ihn weit erhoben über Forscher von dem so viel tieferen Range Lübkes, die ihren Stilbildern nur eine saft- und marklose Allgemeinheit, ihren Einzelheiten aber nur eine kaum minder blasse Unfarbigkeit, ihren Linien nur eine kaum minder unscharfe Verwaschenheit zu geben wußten. Jacob Burckhardt, der größte Forscher im Reich der Kunstgeschichte, ist auch ihr größter Gelehrter gewesen. Burckhardt kam bei der Sorgfalt seines Sehens auf so gewissenhafte Gedanken, daß er den Fortgang der Stile auch dann beobachtet, wenn sie in der Hauptsache unterlegen waren, in einem Rest von Fortleben aber, vornehmlich um großer angefangener Bauten willen, an bestimmtem Ort sich noch forterhielten und bedeutende Bauten in der alten Weise ausführten, obwohl sie rings umgeben von Werken der neuen Weise waren. In das sechzehnte Jahrhundert hinein verfolgt Burckhardt das Fortleben der sonst so völlig im Absterben begriffenen Gotik, die doch immerhin noch ein so gewaltiges Werk, wie die Kuppel auf dem Dom zu Mailand, zustande brachte, ein Bauteil, der noch genug gotische Bestandteile an sich hatte, um ihii der alten Bauweise zuzuschreiben. Im Übrigen war dieses Werk freilich auch im selben Sinne ein Erbstück der frühen Renaissance, vermacht an das nun folgende Zeitalter der vollerblühten Renaissance. Denn ohne das Vorbild von Brunellescos Florentiner Domkuppel wäre auch dieses Werk kaum zustande gekommen. Burckhardt hat mit eigener Liebe dem Übergang von der frühen zur reifen Renaissance, vom fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert nachgespürt, obwohl es sich gerade bei dieser Grenzüberschreitung um einen eigens stillen und wenig augenfälligen Stilwechsel 25
handelte. Er ist so feinen Veränderungen wie der, die vornehmlich in Rom und Toskana zur Anwendung der dorischen Säulenordnung führte, mit spitzfingerigem Feinsinn nachgegangen, und er hat ähnlich zartsinnig das neue Emporkommen der Halbsäulen an Stelle der zuvor zur Herrschaft gelangten Pilaster verfolgt. Und so bleibt er, gleichviel ob es sich um gewaltige Umwälzungen oder stille feine Wandlungen handelt, ein stets getreuer Diener der Entwicklungsgeschichte. Die Zierkunst hat Burckhardt der Baukunst folgen lassen; dann bricht das ursprüngliche Werk ab. Diese Endsetzung bedeutet dem inneren Wollen nach ebensowohl der Querschnitt- als der Längsschnittforschung gegenüber einen gewissen Widerspruch, denn beide führen ihrem innersten Wesen nach durchaus über diese Grenzen hinaus, wie denn dieses Abbrechen in Wahrheit ja nur durch ein so äußerliches Eingreifen, wie das einer Verlagseinrichtung, herbeigeführt worden ist. Wie sehr Burckhardt selbst das gleiche Empfinden teilte, geht daraus hervor, daß das von ihm wenigstens beabsichtigte endgültige Werk auch Malerei und Skulptur umfassen sollte. Und daß ihm auch das Allgemeingefühl eines zur Ganzheit strebenden Geschichtssinnes am allerwenigsten fehlte, geht daraus hervor, daß er auch dieses als Kunst der Renaissance gedachte weitere Werk dem Urwerk, der Kultur der Renaissance von 1860, anzugliedern vorhatte; dann wäre das Ganze eine Kultur- und Kunstgeschichte geworden, d. h. es hätte das Insgesamt der von Burckhardts Liebe und Begabung umfaßten Geschichtsformen in sich begriffen.
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D R I T T E S STÜCK DIE ENTWICKLUNGSGEDANKEN CICERONE:
GOTIK
UND
DES
RENAISSANCE
Um mehr als ein Jahrzehnt früher erschienen als die Architektur der Renaissance — 1854 1 und schon auf Reisen von 1846 ab vorbereitet — stellt sich der Cicerone doch wie eine Fortsetzung dieses viel späteren Werkes dar. I h m soll hier auch nicht einmal die gleiche flüchtige Analyse, wie der Architektur der Renaissance, gewidmet werden; will man aber einen Eindruck der Gesamtsicht gewinnen, die Burckhardt von der italienischen Kunstentwicklung von ihrem Beginn bis zum Ausgang des Barock in der Seele trug, so ist nötig, auch dieses Werk zu Rate zu ziehen. Daß es auch völlig von Entwicklungsgedanken beherrscht ist, wen dürfte es verwundern? Denn war auch der Zweck, den es verfolgte und den es Tausenden von Wallfahrern im Lande der Schönheit geleistet hat, ein recht eigentlich lebensmäßiger, »eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens« zu geben, so war einem Meister wie Jacob Burckhardt doch die Anlage eines solchen Werkes gar nicht anders möglich als aus einer forscherlichen Gesinnung, und für diese wieder war kein anderer Weg denkbar als ein entwicklungsgeschichtlicher. Aus dieser Auffassimg heraus geriet Burckhardt von vornherein, wie auf eine naturgebotene Anordnung, auf eine geschichtliche Aneinanderreihung der beobachteten Tatsachen, da doch eine geographische die zunächst gegebene gewesen wäre. 1
Auf dem Titelblatt 1855 (vgl. Gesamtausgabe III [1933] XI).
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Das Nebeneinander von Querschnitt- undLängsschnittteilung macht sich schon hier geltend: die drei großen Kunstgattungen sind völlig getrennt nebeneinander gestellt, die Zierkunst ist in besonderen Anhängen den Zeitaltern der Baukunst zugeordnet. Und worauf es in dem hier verfolgten Gedankengang am meisten ankommt, das zeitliche Nacheinander und damit die im tiefsten entwicklungsgeschichtliche Anordnung ist zunächst insofern gewahrt, als die einzelnen Kunstalter in rein zeitlicher Folge gruppiert sind: nach der Antike sind in der Reihe der Baukunst acht Zeitabschnitte voneinander getrennt, und jeder von ihnen ist seinerseits ab Entwicklung behandelt. Für das Gesamtbild gibt die Querschnitt-Teilung doch eine Dominante her, obwohl eine Zeitalter-, also eine Längsschnitt-Teilung den Rahmen für sie bietet. Das Wesen der Entwicklung bedingt im Grunde ein gleichmäßiges Ebenmaß doch nicht nur der Verteilung von Rücksicht und Darstellung, nein auch von Gunst und Urteil. Der Zentralgedanke der Entwicklung ist ein gleichmäßiges Dahinströmen des geschichtlichen Geschehens, und so ist Bevorzugung erstlich einer ästhetischen Grundanschauung — im Querschnitt — und vollends der Kunstrichtung eines bestimmten Zeitalters nicht eigentlich entwicklungsgeschichtlich gedacht. Eine Gewichtsverteilung, die normalerweise auf Gleichheit und Ebenmaß beruhen sollte, zeigt sich in einer Weise verschoben, die man, wenn man den Gesichtswinkel in das Moralische umschieben wollte, leicht als ungerecht umstempeln könnte. Aber jede universalgeschichtliche Ubersicht über Kunst und Kunstbetrachtung lehrt erkennen, daß, wie die Kunst selbst, so auch die Kunstbetrachtung auch ein
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Gegenstand sehr starker, einmal liebender, dann aber auch verwerfender, ja geradezu hassender Bewegungen der Seele sein kann, wenn nicht sein muß. Wie könnte es auch anders sein: da ja die Kunst selbst immer wieder Liebe erwecken will und nach Menschenweise bei solchem Bewirken vollen Erfolg, aber auch gänzlichen Mißerfolg ernten kann. Wohl gibt es einen sehr starken Gegendrang im Forscher, der von ihm eine ganz andere Gesinnung fordert; aber die Fähigkeit, ihn voll auszuüben, ist nur bestimmten und nicht allzu häufigen Zeiten zuteil geworden. Aber diese Fähigkeit auszuüben war vielleicht im Zeitalter Burckhardts mehr Möglichkeit gegeben als in früheren. Denn wenn man jene Zeit auch völlig unbefangen beurteilen wollte, so müßte man ihr eine Eigenschaft in vollem Umfang zubilligen, nämlich die Fähigkeit, in einem Maße sachlich über die Kunst früherer Zeiten zu urteilen, das diesen Zeiten selbst nicht innewohnte. Das bedeutet im Sinne allgemeiner Geistigkeit nicht an sich einen Ruhm: verhält es sich doch fraglos so, daß alle Zeitalter von starkem Kunstvermögen sowohl in ihrem Lieben wie in ihrem Verwerfen alter Kunstweisen heftig und leidenschaftlich waren ; das Rokoko war der Gotik denkbar abgeneigt, und wiederum dachte das Empire denkbar abschätzig über das Rokoko. Und man wird auch kaum in Abrede stellen können: wenn das damalige Kunsturteil so bereit zu einer gleichmäßig über alle Zeiten sich hinbreitenden Unparteilichkeit war, so geht diese doch unzweifelhaft mit einem Mangel an künstlerischer Leidenschaft Hand in Hand; der Kühle des Kimsturteils entspricht die Leidenschaftslosigkeit des Künstlertums. Wesentlich anders wird man die Stellungnahme des
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größten der Kunstrichter, Winckelmanns, beurteilen müssen. Er hat da, wo es höchst bestimmte Werturteile zu fällen galt, bei Verteilung der Preise zwischen dön Kunstaltern der Griechen, sehr entschiedene Belobungen und ebenso entschlossene Ablehnungen ausgesprochen. In dieser Stufenleiter aber, die von den stärksten Zeiten der Griechenkunst bis zu ihrem Verfall abwäTts reicht, hat man doch beständig den Eindruck, als wenn ein hoher Richter nach unverbrüchlichem Gesetz sein Ja und sein Nein verteile. Wenn es sich aber um die höchste der Entscheidungen handelt, die Winckelmann auszusprechen hatte: um die Frage nach der einzigartigen Überlegenheit der griechischen Kunst über die aller anderen Völker, so ist sein Verdikt immer ein unbedingtes gewesen, eingegeben von einer Begeisterung, die stark genug war, ein ganzes Zeitalter mit sich zu reißen. Und sie legte die stärkste Probe ab, die einer hohen Geistigkeit auferlegt werden konnte: sie verleugnete sich selbst, als von irgendeiner Parteinahme eingegeben und erklärte sich für absolut, für unabhängig von irgendeiner nationalen Überlegenheit. Und damit wird die Kunst der Griechen für die Kunst schlechthin, für den nicht zu übertreffenden Gipfel aller menschlichen Kunst überhaupt erklärt. Nicht ganz so weit ist Burckhardt gegangen; aber für seine eigene Überzeugung war doch wenigstens innerhalb der von ihm zur Darstellung ins Auge gefaßten Zeitstrecke der italienischen Kunst, für die Zeit von den Anfängen der romanischen bis zu den Ausgängen der Barockkunst, die Renaissance die unvergleichlich vorzüglichste, und zu der von Winckelmann ausgegebenen Losung von der Absolutheit der Griechenkunst
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war doch in Burckhardts Auffassung von der Überlegenheit der Renaissance über ihre Vorgänger und ihre Nachfolger ein Seitenstück gegeben. Denn wenn die Renaissance zwar keine universale Absolutheit für sich forderte, so beanspruchte sie doch für sich, innerhalb einer nationalen, ja einer europäischen Entwicklung eine Aufgipfelung zu sein selbst für die Folgezeit, ja noch für die Zukunft — von Burckhardts Gegenwart aus gerechnet — eine Klassik, die zwar dem Erbe der Hellenen nicht den Rang streitig machte, ihm aber in Hinsicht auf die Wertordnung nicht allzuviel nachgab. Burckhaxdt hat sich, was auch für den entwicklungsgeschichtlichen Ort, den er seiner Lehre gab, bezeichnend ist, der von der Renaissance selbst überlieferten Stellungnahme im Grunde völlig angeschlossen. Für die Renaissance war der Rang, den sie der Antike anwies, ein Glaube, der Glaube an eine einmalige höchste Leistung der irdischen Kunst. Aber — und dies festgestellt zu haben, ist nicht die geringste von den Leistungen Burckhardts zur Entwicklungsgeschichte— dieser Glaube wirkte sich nicht bis zu dem Grade der Verehrung aus, daß eine wirkliche Nachahmung antiker Bauten stattgefunden hätte. Eine Wiedergeburt der Antike im engen Wortverstande ist nie Wahrheit geworden, sondern nur eine BeWirkung der Bauweise durch die allgemeine Baugesinnung und zugleich durch zahlreiche Einzelheiten, wie Burckhardt in dem Werk Die Baukunst der Renaissance aufs feinste nachgewiesen hat. Diese Stellungnahme der Italiener von 1500 ist es gerade, die in Burckhardts Kunstgesinnung sich wiederholt hat. Und zwar hat er nicht nur die grenzenlose Verehrung der Antike etwa im Winckel31
mannschen Sinne sich zu eigen gemacht, sondern auch seine innere Haltung der italienischen Renaissance gegenüber nimmt sich wie eine leise modifizierte Wiederholung der Liebe und Verehrung aus, die die Italiener der Renaissance der Antike entgegengebracht haben. Etwas von der abgöttischen Zuneigung, die die Italiener der Zeiten zwischen 1422 und 1540 oder 1580 der Antike 1 widmeten, hat Burckhardt seinerseits Zeit seines Lebens der Renaissance zugewandt. Dieses Verhältnis, das nicht nur ein geistiges, nein auch ein seelisches und man möchte sagen auch ein sinnliches Verhältnis war, wurzelte so tief in seinem Wesen, daß alle seine Urteile über die anderen Kunstalter, frühere wie spätere, durch diese eine Grundbeziehung bestimmt sind. Seine freundlichsachliche Stimmung der Kunst gegenüber, die er selbst die Protorenaissance getauft hat, seine sachlich ferne und fremde Haltung gegen die Gotik, seine bei aller Gegenbemühung unverstehende, ja feindliche Abneigung gegen das Barock, sie alle sind hervorgebracht durch seine Parteilichkeit für die Renaissance. Wenn hier gesagt wurde, daß gerade diese Parteinahme Burckhardts nicht eigentlich entwicklungsgeschichtlich gedacht sei, so läßt sich unter einem anderen Gesichtswinkel doch auch das Gegenteil behaupten, wenn nämlich nicht die zugrunde liegende Gesinnung, sondern die Wirkung in Betracht gezogen wird. Die aber kann doch insofern den stärksten Beweisgrund für Entwicklung, d. h. für sehr engen Zusammenhang zwischen den aufeinanderfolgenden Geschehensabschnitten darbieten, als ein sich gleich1
Zur Abgrenzung Tgl. Cicerone ron 1855 (Gesamtausgabe VI [1935] 322).
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bleibender Antrieb einmal im Ja und dann wieder im Nein des Geschehens wirksam wird. Wenn während der Blüte der Renaissance bis 1540 oder 1580 Ebenmaß und Ruhe vorherrscht, und in der Reaktion des Barock gegen dies stille Gleichmaß stürmische Bewegtheit, so bedeutet das doch eine Verbundenheit der beiden Kunstbewegungen, die wiederum nur als eine sehr starke Äußerung dessen gedeutet werden kann, was wir Entwicklung nennen. Der Cicerone, von dem hier nur die Rede ist, nimmt sich, wenn man ihn nur um seines entwicklungsgeschichtlichen Baues willen in Betracht zieht, aus wie eine ununterbrochene Perlenschnur von Übergängen — von einer Bauweise zur anderen — und insofern von stärksten Äußerungen des Entwicklungsgedankens. Eine der denkwürdigsten Beobachtungen dieser Art eröffnet die Reihe; es ist der Hervorgang der frühesten christlichen Kathedralenform aus der spätrömischen Versammlungshalle, der Basilika. Dieser Übergang, kulturgeschichtlich vielleicht der wichtigste von allen, ist gewiß nicht als geistiges Gut ein ursprünglicher Besitz von Burckhardt: die Reihe von acht mehr oder minder bedeutenden Übergangswirkungen ist gleichwohl ein Zeugnis seines sehr scharfen Zusehens. Von dem von ihm erst geschaffenen Begriff der Protorenaissance war schon die Rede; doch ist Burckhardt noch nicht im Cicerone, sondern erst in der Baukunst der Renaissance dazu vorgeschritten, ein Beweis dafür, wie er nicht müde geworden ist, am Entwicklungsgedanken fortzubauen. Der romanischen Bauweise hat Burckhardt nicht eine so einläßliche Umschreibung gegönnt, wie man erwarten sollte. Um so bedeutender ist der hier mit S
Breyiif
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seltenem Nachdruck auftauchende Hinweis auf den Unterschied der italienischen von der nordischen Entwicklung1, der in sehr starken und doch auch wieder ganz feinen Grundzügen zum Ausdruck gebracht wird. Der Gotik gegenüber hat Burckhardt ein seltsam geteiltes Grundgefuhl; in Wahrheit liebt er sie nicht, aber er hat von der großen Baukunst des Nordens her zu viel Respekt vor dem Geschehen einer großen und ursprünglichen Neuerung, um dieses Mißgefühl irgend stark zum Ausdruck zu bringen. Wo er tadelt, geschieht es mit sehr starken Vorbehalten, so wenn er von dem Übermaß des organischen Gerüstbaus der Gotik spricht. Es ist, als ob er hiermit schon die Verteidigung vorbereiten wolle, mit der er etwas weiterhin in seiner Darstellung die starken Abweichungen der italienischen von der nordischen Gotik begründen will. Er meint eben, durch dieses Übermaß von Gerüstbau sei die Nichtvollendung so manchen großen Kirchenbaus verschuldet worden. Und an einer etwas späteren Stelle begründet Burckhardt die augenfälligsten Abweichungen der italienischen Gotik von der deutsch-französischen damit, daß die südländischen Baumeister sich vor den außerordentlichen Kosten gescheut hätten, die die Strebepfeiler im Norden verursachten. Aber sogleich dringt er über dies Materielle zu 1 einem rein Kunstmäßigen vor und macht, ab auf den tiefsten Unterschied zwischen der italienischen und der nordischen Weise, aufmerksam auf das Ausbleiben des stärksten Wesenszuges in der nordeuropäischen Gotik: des nordischen Verhältnisses zwi* Der Cicerone I (Sämtl. Werke HI) 92. * Der Cicerone I (Sämtl. Werke III) 115.
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sehen Breite und Höhe und der strengen Entwicklung der Form nach oben 1 . Dazu fügt Burckhardt noch eine Anzahl minder umfassender, doch eher mit noch feinerer Spürkraft ermittelter Unterschiede der Formensprache. Man könnte versucht sein, die Beziehimg zwischen nord- und südländischer Gotik dem Querschnittverhältnis zuzuweisen; doch wird gerade an diesem Beispiel ersichtlich, wie sich Querschnitt- und Längsschnittbe Wirkungen untereinander mischen. Ganze Stöße nordischer Einwirkungen haben stattgefunden und haben dann ganz ähnlich wie neue Wandlungen des eigenen heimatlichen Stiles gewirkt. Die Renaissance erhält im Cicerone wie in dem Werk, das den Namen Die Baukunst der Renaissance trägt, gleichmäßig den Stempel einer Gipfelkunst; im Cicerone sogar mit dem Zusatz, daß auch für die Zukunft die Herrschaft dieser Bauweise zu erwarten sei: »Es läßt sich voraussehen, daß die Renaissance noch lange in der Architektur eine große Rolle spielen wird.« Man sieht, die Ähnlichkeit, die zwischen der inneren Herrschaft der Antike in den älteren Zeiten und der der Renaissance in unseren Zeiten besteht, reicht ganz außerordentlich weit. In einem Punkt sieht Burckhardt in der Gotik sogar eine Vorbereitung auf die Bauweise der Renaissance. Daß die Gotik verbunden war mit dem Pfeiler- und 1
Wie sehr dieses Grundverhältnis sich in den Maßen zahlreicher und gerade der wichtigsten Kunstbauten in Frankreich und in Deutschland im Vergleich zu den früheren und den gleichzeitigen Kirchenbauten Italiens auswirkt, dazu vergleicht man vielleicht die Abhandlung: Die Grundmaße kirchlicher Innenräume (Zeitschrift für Aesthetik u. Kunstwissenschaft X [1915] 48).
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Gewölbebau, erscheint ihm wie eine unvergleichliche Schulung 1 . Nicht eigentlich bei dem Übergang zur Renaissance erhebt sich Burckhardt zu einer Gesamtcharakteristik der Bauweise: er hebt am fünfzehnten Jahrhundert weit mehr die Buntheit seiner Einzelwirkungen hervor und verliert sich auch in seiner Darstellving in das Vielerlei ihrer baukünstlerischen Leistungen. Man ist eher erstaunt darüber, daß es hier nicht zu einer großen Sicht über dies doch wahrlich bedeutende Zeitalter kommt; er nennt es eine Zeit des Suchens. Einen gewaltigen Aufschwung seines Sehens erreicht er, wie freilich nicht verwundern kann, im Angesicht der hohen Renaissance, der er den Zeitraum von 1500 bis 1540 zuspricht, und hier gelangt er zur Zeichnung großer Charakterzüge. Er gfeht aus von einem Gegensatz zu dem voraufgehenden, dem fünfzehnten Jahrhundert: von dessen spielender Zierlust, von dessen reichem Detail, das oft gar keine Beziehung zu den großen Bauzwecken mehr aufzuweisen gehabt habe, habe sich dieses ernstere Zeitalter abgewandt 2 . Die zahlreichen Gliederungen des Äußeren würden so — wie Burckhardt sagt — auf einen »keineswegs trockenen und dürftigen, wohl aber einfachen Ausdruck zurückgeführt«. Ein Fortschritt in das Organische wurde gemacht, die Funktion der einzelnen Bauglieder wird ganz anders betont, fast erst entdeckt. Die Stellung zur Antike wird so umschrieben: »man latinisierte noch einmal die Bauformen«. Ab den bedeutendsten der Baugedanken der peuen 1
Oer Cicerone I (Sämtl. Werke III) 152. * Ebda. 265.
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Weise bezeichnet Burckhardt die neue Verteilung der baulichen Massen; jetzt erst habe sich — von Brunellesco immerhin schon »verfrüht« vorbereitet — die Kunst der Verhältnisse im Großen entwickelt.
VIERTES STÜCK W E R T U N G E N D E S C I C E R O N E : SPÄTR E N A I S S A N C E UND BAROCK Auch der verhältnismäßig kurze Zeitabschnitt zwischen 1540 und 1580, die Zeit Vignolas und Palladios, erfährt eine bis zum Innersten vordringende Würdigung. Nach Burckhardts Urteil sei die Absicht dieser Baumeister nach wie vor die einer allgemeinen Reproduktion der Antike gewesen, ihre Ausdrucksweise aber sei schärfer geworden; Halbsäulen und Säulensysteme seien an die Stelle der Pilaster und Wandbänder getreten ; die Ausbildung der Fenster und Portale sei eine derbere geworden. Andererseits aber sei das Detail kälter geworden; an Stelle des reichen der frühen, des einfach harmonischen Details der hohen Renaissance sei ein zwar noch reines, aber kaltes und gleichgültiges Detail getreten. Man wird einen Ausdruck wie diesen vom kalten Detail sehr hoch bewerten müssen. Aus ihm geht hervor, wie sehr Burckhardt für seinen Gegensatz, für das Detail der blühenden Renaissance, die Eigenschaft der Wärme, d. h. einer tiefen Gefühlsbedingtheit, in Anspruch nimmt, wie er denn für eine allgemeine Kennzeichnung dieses Zeitabschnittes den Ausspruch wagt, daß es im Vergleich mit dem früheren Zeitalter eine Zeit des rechnenden und kombinieren-
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den Verstandes, gleichwohl aber voll Geist und Originalität gewesen sei 1 . Aber ihre Art war eine im Großen rechnende, und von den heutigen Beurteilern, die ihr gerecht werden wollten, verlangt er, daß sie den Gesamtkompositionen und Dispositionen nachgingen, ihren Säulenordnungen aber nicht mehr Gewicht beimäßen, als ihnen zukomme, nämlich die Bedeutung einer konventionellen Bekleidungsweise. Der Einschnitt, den in Burckhardts Darstellung die Grenze zwischen Renaissance und Barock in der Entwicklung hervorbringt, ist der schärfste und man möchte sagen verletzendste, der überhaupt in der ganzen Strecke dieser Entwicklung sich geltend macht. Burckhardt läßt hier nicht etwa nur ein neues Entwicklungsalter eintreten, so wie zwischen Gotik und Renaissance, sondern er zieht eine Grenze, die einer Kluft, fast einem Abgrund gleicht. Es ist nicht ein Übergang von einer Kunstweise zur anderen, sondern von einer hohen zu einer niederen Kunst, fast möchte man sagen von Kunst zu Nichtkunst, der hier gekennzeichnet werden soll. Burckhardt entschuldigt sich nahezu, daß er den von ihm zum Kunstverständnis Italiens Geleiteten überhaupt eine weitgehende Kenntnisnahme von der Kunst des Barock zumutet. Er läßt es auch sonst nicht an abschätzigen, ja geradezu herabwürdigenden Urteilen über das Barock fehlen. Er spricht von dem meist verdorbenen und konventionellen Ausdruck, den das Einzelne in dieser Bauweise gefunden habe und von den ausgearteten Formen dieser Kunstsprache, über welche die neuere Welt schon längst den Stab gebrochen habe. Und er rechnet es 1
Der Cicerone I (Sämtl. Werke III) 300.
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sich als einen Beweis seiner Unbefangenheit an, wenn er sagt, daß man auch diesem Stil, an den man seine Zeit nicht überflüssig verschwenden solle, einige Aufmerksamkeit schenken möge. An diesem Urteil fällt nichts so sehr auf, als die Grundmeinung, die ihm und damit in Wahrheit jeder Beurteilung einer Kunst zugrunde liegt. Denn dieser äußerste Radikalismus in der Verwerfung einer Kunstweise erhebt doch den allgemeinsten und grundsätzlichen Rechtsanspruch darauf, daß ein Zeitalter, eben das des Urteilenden, sich zum Maßstab des beurteilten und damit jedes anderen macht. Und man wird gerade von dieser Grundauffassung nicht behaupten dürfen, daß sie geschichtlich, geschweige denn entwicklungsgeschichtlich im strengsten Sinne des Wortes gedacht sei. Denn welche Instanz soll denn darüber entscheiden, ob die Kunstauffassung von 1855 der von 1585 durchaus überlegen sei und somit zu einem unbedingt verwerfenden Urteil berechtigt sei. Geschichte kann hier letzten Endes nur so denken, daß sie Urteil gegen Urteil setzt. Es geht ebensowenig an, das Lob wie den Tadel zu häufen; man wird weder die Renaissance zum Maß allen Ruhmes, noch das Barock zum Quell jeder Verwerfung machen dürfen. Denn wohl läßt sich von der Renaissance sagen, daß ihre künstlerischen Leistungen an Reizen die überlegenen gewesen seien; aber niemand wird behaupten dürfen, daß die Kunstgesinnung des Barock, verglichen mit der der Renaissance, die untergeordnete gewesen sei. Die dargebotenen Kunstwerke stellen für eine solche Schätzung zuletzt doch nur die Oberfläche dar, auf die es zwar in Hinsicht auf die Kulturleistung am meisten ankommt, nicht aber in Hinsicht auf die Kultur-
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gesinnung, auf die seelische Beschaffenheit eines Zeitalters. Steigt man zu diesen Wurzelschichten des Seins und des Schaffens herab, so gerät man auf Geschehensformen, die zu tief gelagerte sind, als daß nicht die Entscheidungen bei ihnen, nicht aber bei jenen Werken der Kunst an und für sich und ihren selbständigen Regungen gesucht werden müßten. Die Renaissance war das Erzeugnis einer geistigen Verfassung von hoher Spannung und zugleich einer seelischen Haltung von getragener Würde; das Barock aber erfloß aus einer Stimmung von starker, fast übermäßiger Bewegtheit. Das Temperament der Renaissance war das gehaltener Strenge, äußerster Gefaßtheit und daraus entstehend hoher Geistigkeit, straffen Künstlertums; das Temperament des Barock aber war das einer fast fessellosen Lebendigkeit, eines stürmischen Darauflosgehens, eines nach allen Seiten hinausschießenden Überschwanges von leidenschaftlichem und gerade darum nicht voll beherrschtem Schaffensdrang. Es ist aber zur völligen Evidenz nachzuweisen, wie ein Hineindringen der Betrachtung in diese tieferen und, wenn man will, rein seelischen Geschehensschichten doch auch jene Beurteilungen, wie sie Burckhardt aus einer freilich sehr persönlichen und allzu ichmäßigen Grundstimmung zu Ungunsten des Barock ausgesprochen hat, verhindert oder wenigstens stark modifiziert hätte. Denn warum sollte man ein leidenschaftliches Temperament — sei es bei Völkern oder Zeitaltern, wie schließlich auch bei Einzelmenschen — für an sich minderwertig und geringer als ein ruhevolles ansehen, oder, noch objektiver gesprochen, warum sollte ein rascheres, heftigeres Tempo des Lebens an sich schlechteren Wert haben, als ein gehalten langsames.
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Je weiter hier die Betrachtung zum nackten Geschehen als solchem vordringt, desto ersichtlicher wird für sie die Wertlosigkeit von Werturteilen. Würde die Kunstgeschichte immer so verfahren, wie Burckhardt in diesem Falle tat, so würde sie sich dadurch in dieselbe ungünstige Lage versetzen, wie die, in der sich Verfassungs- und Klassengeschichte schon seit langer Zeit befinden; denn bei gleich heißblütiger Art des Aburteilens hat etwa die Verfassungsgeschichte schon lange etwa für das Zeitalter des Barock mit Eifer entweder den Absolutismus auf das leidenschaftlichste verworfen oder aber ihn mit Wärme verteidigt. Zweifellos würde aber auch hier der geschichtlich und erst recht entwicklungsgeschichtlich gewiesene Weg sein, von den Oberschichten des lauten und freilich n u r allzu deutlichen und nur allzu leicht zur Parteinahme verführenden Geschehens tiefer herabzudringen zu den Wurzelscliichten einer n u r seelenkundlichen und eben deswegen sachlich unparteiischen Deutung. Es war nicht Burckhardts Sache, solche Erwägungen einer ganz seelenkundlichen Geschichtserkenntnis anzustellen, und er hat auch einen anderen Weg zur Erkenntnis des Wesenskernes nicht eingeschlagen, nämlich den der Heranziehung der anderen, oder wenigstens einiger anderer Kreisausschnitte aus dem Insgesamt des geschichtlichen Geschehens. Man sollte meinen, dem Verfasser der Kultur der Renaissance hätte dieser Ausweg besonders nahegelegen. Aber sei es, daß er hier nicht die damals eingehaltene Zeitgrenze überschreiten wollte, sei es, daß ihn hier andere Gründe bestimmten, er hat von diesem Auskunftsmittel nicht Gebrauch gemacht. Auch von so allgemeinen Erwägungen abgesehen, 41
wird ein an heutigem Kunstempfinden geschultes Urteil den Ablehnungen, mit denen Burckhardt gerade die am schärfsten ausgeprägten Schöpfungen des Barock bedenkt, ganz und gar nicht zustimmen können. Es ist äußerst auffällig, daß Burckhardt nicht einen viel stärkeren Wertunterschied zwischen den beiden führenden Meistern des sechzehnten Jahrhunderts, zwischen Bernini und Borromini, macht. Gewiß, wer möchte nicht den Ungeschmack der gewundenen Säulen und des ganz Sankt Peter schädigenden Größenverhältnisses am Baldachin über der Vierung tadeln, die Burckhardt entsetzlich nennt; aber unbegreiflich bleibt, daß Burckhardt nicht die Vorzüge, die Borromini vor seinem so viel glücklicheren, d. h. nur erfolgreicheren Nebenbuhler auszeichnen, herausgehoben hat. Am wenigsten wird man ihm in seinem Urteil über das kleine, aber unmäßig köstliche Gotteshaus San Carlo alle Quattro Fontane folgen können. Dies ist vorzüglich in seiner Fassade ein Juwel an lauterer Schönheit, und es zeichnet sich nicht nur ab Einzelschöpfung aus, als die sich dies Werk über mehr als ein Jahrhundert hinaushebt, sondern vielleicht noch mehr als eine der Ursprungsleistungen derjenigen römischen Barockkunst, die als eine der Urwur^eln des europäischen, insbesondere des deutschen Rokoko angesehen werden muß. Jede universalgeschichtliche, d. h. in weitem Ausmaß vergleichende Kunstgeschichte wird bei dem Ergebnis ausmünden, daß, auch gemessen an den höchsten Leistungen der Renaissance, hier ein Gipfelwerk vollbracht worden war. Und doch wird Burckhardt gerade hier zu Ausdrücken hingerissen, wie »verrufene Biegung« der Fassaden, wie »Fassaden, die er-
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scheinen, als seien sie auf dem Ofen getrocknet« und wie »der berüchtigte Name des Bemini«. Diese Schwingungen ganzer Stirnwände, diese Biegungen von Giebeln nach außen und nach oben, diese »ganz irrationellen Kurven« werden getadelt, als sei es schon genug, wenn man sie nur erwähne1. Man wird hier doch die Frage aufwerfen können, wo in aller Welt denn ein ästhetisches Grundgesetz gebiete, daß alle Mauern gerade Linien und gerade Ebenen zu bilden hätten und daß alle in Kurven geschwungenen Ebenen ein Greuel an sich seien. Es bleibt doch die Tatsache bestehen, daß eine in ihrem Grundgedanken so gewaltige Baukunst, wie die des deutschen Rokoko, gerade diese selben Kunstvorstellungen zu Leitgedanken ihres künstlerischen Tuns erhoben hat. Man wird nicht zu Gunsten auch noch der höchsten forscherlichen Autorität die gewirkten Werke ganzer Jahrzehntereihen, die an sich in höchstem Ansehen stehen, ab unbedeutend beiseite schieben dürfen. Was ganze Zeitalter als stärksten künstlerischen Ausdruck ihrer Wesenheit aus sich heraus gesetzt haben, muß als eine Möglichkeit — und zwar durchaus nicht die geringste — von künstlerischem Schaffen anerkannt werden. Es ist nicht statthaft, etwa zu erklären: die romanische Bauweise und ihr Rundbogen ist mir recht, die Gotik aber nicht, weil ich ihren Spitzbogen mißbillige. Dem sei jiun aber wie ihm wolle, man wird auch diese Willkür Burckhardts hinnehmen müssen, denn es ist die Willkür eines Großen der Forschung. Und will man, was nicht mehr als billig ist, die Gebote des Entwicklungsgedankens bis in seine letzten Folgerungen auch auf die Geschichte der Forschung selbst über*> Der Cicerone I (Sämtl. Werke III) 328.
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tragen, so wird zu sagen sein, daß solchen Großen gegenüber die Kritik auch da zu schweigen hat, wo sie nachweisbarerweise irren. Neben allen ihren unumstößlichen und wahrlich glückhaften Leistungen können dann diese Anfechtbarkeiten überhaupt nicht in Betracht kommen.
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ZWEITER ABSCHNITT GNEIST
ERSTES
STÜCK
DIE Ä L T E S T E ENGLISCHE VERFASSUNGSGESCHICHTE Wenn es heißt, sich von der stärksten Bewährung forscherlicher Kraft im Bezirk der Entwicklungsgeschichte des Geistes zu dem Gebiet des handelnden Lebens zu wenden, so wird aus mehr als einem Grunde sich der Blick zunächst der Verfassungsgeschichte zukehren. An sich müßte nicht allein der Verteilung des wirklichen Geschehens nach, sondern mehr noch gemäß
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der Anteilnahme der Geschichtsforschung zuerst von der Geschichte der äußeren Staatsverhältnisse die Rede sein t hier aber stellt sich als ein Hindernis der Umstand entgegen, der, an sich verwunderlich genug, ja schlechthin unvernünftig, doch nicht wohl übersehen werden kann, daO die tatsächlich aufgezeichnete Geschichtsschreibung von entwickelnder Gesinnung sich gerade um diesen Gegenstand denkbar wenig gekümmert hat. Man wird ohne die leiseste Übertreibung sagen können, daß von aller Geschichtsschreibung, die sich mit der äußeren Staatsgeschichte befaßt hat, nicht nur 95, sondern eher 99 Hundertstel es im Sinne beschreibender Geschichtsforschung getan haben. Und zieht man noch weiter in Betracht, daß von aller Geschichte fast in demselben Übergewicht des Zahlenverhältnisses etwa'95 Hundertstel der auswärtigen Staatsgeschichte gegolten haben, so wird offenbar, welche äußerste Bevorzugung von je her, von Thukydides bis zu Ranke, dieser Form von Geschichte, demMachtund Kraftspiel der Staaten unter sich, im ausgesprochenen Sinn beschreibender Geschichtsforschung zuteil geworden ist. Und es würden nur ganz außerordentlich zerstreute Splitterstücke sein, die man zusammenbringen könnte, um eine Beispielsammlung für die Ausführung äußerer Staatsgeschichte im entwickelnden Sinn aufzustellen, von ganzen Werken dieser Gattung ganz zu geschweigen. Die nächste Möglichkeit, die sich auf der Stufenleiter der Geschichtsgattungen finden läßt, muß die der Verfassungs- oder, etwas weiter gefaßt, die der inneren Staatsgeschichte sein. Denn wenn auch Verfassungsgeschichte besonders früh und besonders häufig, früher und häufiger als irgend eine Einzelgeschichte des
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handelnden Lebens, ausgebildet worden ist, so ist sie doch noch bei weitem nicht bis zu der Weite der Ausdehnung auch nur, noch auch bis zu der Feinheit der Ausgliederung gediehen wie die Kunstgeschichte von Winckelmanns Zeit ab. Immerhin kann doch von ihr gerühmt werden, daß Aristoteles die Verfassungsgeschichte eines erlauchten Staatswesens geschaffen hat und ihr eine lange Reihe von ähnlichen Werken zu Seitenstücken hat geben wollen, und daß dies Alles durchaus im Sinn entwickelnder Geschichtsforschung geschehen oder geplant ist. Immerhin sind doch erst Schöpfungen der Geschichtsforschung des neunzehnten Jahrhunderts so weit gedrungen, daß sie als klassische Erzeugnisse rein entwickelnder Geschichtsforschung innerhalb dieses Bezirks gelten können. Augustin Thierry und seine Geschichte des dritten Standes, die 1853 veröffentlicht worden ist, zeigen unter den Arbeiten zur Verfassungsgeschichte schon einen Stand voller Reife: Thierry hat immer Entwicklungsgeschichte geschrieben, ob man seine farbige Schilderung der Kämpfe der Commune von Amiens genießt — die sie keineswegs allein durchfocht als Vorkämpferin der Rechte des Bürgertums, sondern verbündet mit dem Bischof ab dem Vertreter der geistlichen, dem Könige als dem Inhaber der weltlichen Gewalt gegen den Grafen, der die Herrschaft über die Stadt behauptete 1 — oder ob man den etwas leiseren Umrissen folgt, in denen er die endgültige Durchsetzung der königlichen Macht gegenüber dem 1
Thierry, E t u i sur l'histoire de la formation et des progris du Tien-Etat (1853). Second fragment: Monographie de la oooatitution d'Amiens 554 ff.
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Bürgertum unter Ludwig XIV. zeichnet*. Auf dem Grunde sorgfältiger Sonderforschungen hat er überall auf das Glücklichste einzelne artvertretende Ereignisse und allgemein zusammenfassende Linien dargestellt. Zweifelsohne ist aber der deutsche Geschichtsforscher, der, um weniges jünger, als reiner Spezialist für Verfassungsgeschichte ein etwas weitergespanntes Werk dieser Art unternahm, Rudolf Gneist, noch wesentlich tiefer in diese Forschungsweise eingedrungen. Allerdings — und dies ist für allen Fortschritt in der Methode nicht nur der Verfassungsgeschichte, sondern aller Geschichtsschreibung und nicht nur in diesem Fall wichtig geworden — Gneist ist ausgegangen von der nächst benachbarten Begriffswissenschaft, und es kann kaum ganz ermessen werden, wie groß die Förderung war, die der Entwicklungsgedanke durch eine solche halb äußere und halb innere Bewirkung erfahren hat. Der methodische Grund dieser Bewirkung ist allerdings leicht zu erschließen: die überwiegend begrifflich geordneten Systemwissenschaften sind insofern Querschnittswissenschaften und helfen eben darum den an sich zur reinen Beschreibung geneigten Geschichtswissenschaften zu einer entwickelnden Auffassung. Denn insofern Entwicklungsgeschichte als eine solche Geschichtsform aufgefaßt werden kann, die ihren an sich nur beschreibend erfaßten Stoff den Begriffsnetzen von Querschnitten unterwirft, so muß ihr durch eine Personal-, oder richtiger gesagt durch eine Personalund Realunion mit einem Systematiker die allerwirksamste Förderung werden; liegt doch dann, wenn ein * Thierry, Tien-Etat 306 ff.
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Begriffsbau der eigentliche Zweck des forscherlichen Tuns ist, nichts näher als in Entfernungen von zwanzig oder hundert oder wie viel immer Jahren die Anlegung solchen Querschnitts zu wiederholen und aus dem Vergleich zwischen zwei aufeinander folgenden Querschnittnetzen den Ertrag des inzwischen zurückgelegten Entwicklungsabschnitts zu gewinnen. Und dies ist denn auch in der Tat der Weg gewesen, den Gneist eingeschlagen hat. Schon in dem ersten seiner großen Werke zur Erforschung des öffentlichen Rechts von England »Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht«, das er von 1857 ab veröffentlichte, war die Grundabsicht, eine systematische Darstellung des heutigen Rechts zu geben; aber diese Schilderung erhielt sogleich einen geschichtlichen Unterbau, der bis in das Mittelalter zurückreichte; Geschichte des englischen Verwaltungsrechts folgte von 1867 ab, und die Englische Verfassungsgeschichte von 1882 krönte das Werk. An ihr läßt sich am deutlichsten Sinn und Erfolg von Gneists Forschung nachweisen. Eine Ähnlichkeit besteht, so weit auch die Gegenstände beider Werke auseinander liegen mögen, zwischen Gneists Verfassungs- und Burckhardts Architekturgeschichte : das ist die äußerste Gewissenhaftigkeit der Fundamentierung, während doch beide Schriften ihre letzten Folgerungen in die Ebene ganz hoher, allerallgemeinster Geschichtssichten hinaufzutreiben bestrebt sind. Gneist zerteilt den Gegenstand, den er behandeln will, in sechs Abschnitte: er zerlegt die Getamtgeschichte Englands von den Anfängen der angelsächsischen Zeit bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts in sechs Perioden. Schon damit aber ist der Grundplan des Werkes gegeben. Jeden dieser sechs 4
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Zeiträume aber behandelt er als eine selbständige Einheit, und damit ist die Querschnitt-Teilung, von der er ausgeht, gegeben. Doch macht sein Trachten zum Begriffsbau bei diesen Zeiteinheiten noch durchaus nicht Halt, sondern er schreitet sogleich zu einer weiteren Zerlegung dieser Sachbezirke fort: er spricht in dem ersten der von ihm unterschiedenen Zeitabschnitte zuerst vom Königtum, von den nebeneinander bestehenden Einzelreichen, dann von den von diesen abgeleiteten Reichsteilen, von den Grafschaften, Hundertschaften und Gemeinden, er umgrenzt die Befugnisse der örtlichen Beamten, der Ealdormen und Shirgirefa, er untersucht die Kirchen- und Ständeverhältnisse, die Landesversammlungen, und er endet mit dem Verfall und Fall der angelsächsischen Herrschaft. Für die Behandlung des Stoffes bei Gneist ist bezeichnend, daß er die von außen herzudringenden Ereignisse der englischen Geschichte, auch dann wenn sie die schwersten und folgenreichsten Umwälzungen des inneren Geschehens nach sich gezogen haben, nur kurz abfertigt: so schon bei der Eroberung Britanniens durch die Angelsachsen und ebenso auch bei der durch die Noi mannen. Namentlich in diesem zweiten Fall ist denkwürdig, daß er an dem Zusammenhang zwischen dem angelsächsischen und normannischen Zeitabschnitt dasjenige Verbindungsglied hervorhebt, das nach der offiziellen, aber an sich sehr fragwürdigen Auffassung der ersten normannischen Staatsregierung einen keineswegs gewalttätigen, sondern rein bürgerlichen, d. h. familienrechtlichen Zusammenhang der beiden an sich wahrlich schroff genug gespaltenen Zeiträume der englischen Reichsgeschichte behauptete: den testamentarisch festgelegten Erbgang,
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durch den Wilhelm I. in den Besitz des Königreichs gelangt sei. Des weiteren aber verfahrt Gneist so, daß er die nun folgenden Zeiträume immer von neuem nach den Sachteilungen, in die jeder von ihnen aus Gründen des Staatsrechts zerfallt, in Sachbezirke zerspaltet. So ist der Abschnitt vom normannischen Lehnstaat — von 1066 bis 1272 — nach der Grafschaftsverfassung, nach Kriegs-, Gerichts-, Polizei-, Finanz- und Kirchenhoheit eingeteilt. Nach besonders tief einschneidenden Umänderungen ist die Einrichtung der reisenden Richter, der Erlaß der Magna Charta, die Anfänge parlamentarischer und außerparlamentarischer Ständeverhältnisse geordnet. Es kann nicht in der Absicht des hier versuchten Umrisses liegen, die Abfolge der verschiedenen Abschnitte, in die Gneist den Entwicklungsgang der englischen Verfassung zerlegt hat, im Einzelnen zu verfolgen; wohl aber soll an einem Beispiel dargelegt werden, wie weit er auf diesem Forschungswege vorgedrungen ist.
Z W E I T E S STÜCK S I N N U N D A B S I C H T DES G E S C H I C H T LICHEN ENTWICKLUNGSGEDANKENS Doch bevor ein solches Beispiel beleuchtet werden kann, ist nötig, im Allgemeinen darzulegen, wie weit der Zweck des Entwicklungsgedankens an Gegenständen der menschlichen Geschichte zu erreichen möglich ist, oder mit anderen Worten, was in dieser Forschungsrichtung überhaupt erstrebt werden darf und, viel-
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leicht noch wichtiger, was zumindest heutigem wissenschaftlichen Können durch die Beschaffenheit geschichtlicher Dinge und menschlicher Erkenntnis zu erfassen überhaupt verwehrt ist. Der Gedanke der Entwicklung ist, wie es nicht anders sein konnte, auf dem Boden naturwissenschaftlicher und, wie ebenfalls naturgegeben war, auf dem Felde der Lebenslehre oder, wie es später und noch heutigen Tages heißt, der Biologie emporgesprossen. Diese Wissenschaft, die heute als eine höhere Einheit von Pflanzen- und Tierkunde angesehen wird, eine Einheit, die deren Beider Erträge summiert, insofern sie der Erkenntnis der Lebensvorgänge dienen, gab es um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts noch nicht einmal nach ihrer allgemeinsten Fragstellung nach Inhalt und Grenzen ihres Amtes. Aber wie es nicht selten in der Geschichte der Wissenschaft geschehen ist, man hat zuerst solche obersten letzten Begriffe zu erforschen gesucht, von denen man hätte denken sollen, daß sie sich erst am Schluß oder zum wenigsten im Lauf eines längeren Fortschreitens auf der Bahn einer ganz neuen Forschungsgattung ergeben haben würden. Der Begriff der Entwicklung oder, wie man von Anfang an wird sagen müssen, der Entwicklungsgeschichte — denn immer handelt es sich um die geschichtliche Auswertung von Geschehensreihen — hat eine doppelte Entstehungsgeschichte als Wurzelgeflecht. Es ist einmal eine — phylogenetische — Reihe von Lehren zur Entstehung der Arten, also die Vorgängerin der Anschauungen vom Stammbaum der Arten, und sodann die — ontogenetische — Geschichte der Auffassungen von der Entstehung des Einzelwesens. Beide haben auf ganze Jahrzehntereihen
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hin nicht das mindeste von Berührungen mit der Geschichte des Menschengeschlechtes hervorgebracht: ja man kann sagen, daß bis auf den heutigen Tag nur sehr wenige Versuche stattgefunden haben, um aus der Entwicklungsgeschichte der organischen Welt Parallelen oder Analogien — Gleichläufigkeiten oder Ähnlichkeiten — für die Menschheitsgeschichte zu gewinnen, obwohl, wie an einem anderen Ort des Baus dieser Geschichtslehre dargetan werden soll, beide Formen der Ausnützung sich dem Vergleich geradezu in die Hand drängen. Mit aller Bestimmtheit aber läßt sich sagen, daß von den zwei Arten naturgeschichtlicher Entwicklungsdeutung sich die ontogenetische, dem Einzelwesen geltende, unvergleichlich viel eher für die Menschheitsgeschichte nutzbar machen läßt. Und wenn dies heute noch der Fall ist, so traf es um so viel mehr um 1750 zu, da alle diese Forschung noch in den Kinderschuhen stak. So hat denn Leibniz* platonisierender Gedanke von dem Aufstieg der Wesen von den einfachsten zu den zusammengesetztesten wohl anregend gewirkt, aber noch nicht eigentlich ein Schema heraufgeführt. Die ebenfalls von Leibniz stammende Vorstellung von der aus der Involution sich entfaltenden Evolution aber hat sich umso fruchtbarer erwiesen: die Abfolge der Blüte aus der Knospe, des Huhns aus dem Ei führte zwangsläufig zu der Folgerung, daß das Wachstum des Menschen aus dem Kinde ihr entsprechen müsse. Doch hat auch die Lehre von der Einzelentwicklung mehr als einen in die Irre führenden Umweg zurücklegen müssen. Am erstaunlichsten ist, daß die erste zu starken Kräften gekommene Einzelentwicklungslehre in schroffem Gegensatz gegen jede zum Artenstammbaum
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hinstrebende, also phylogenetische Auffassung aufgetreten ist. Die ontogenetische Evolutionslehre des Physiologen Haller bedeutete in Wahrheit Gegensatz und Widerspruch zu aller Entwicklung der Arten: denn wenn Haller in seiner Berechnung der immer wiederholten Einschachtelung von einem Keim in den anderen zuletzt zu dem Ergebnis kam, daß im Mutterschoß der Stammutter Eva die Keime von 200000 Millionen Menschen geschlummert haben müßten, so bedeutete das in Wahrheit die Leugnung der Annahme, daß je eine Art auf die andere gefolgt sei. Allmählich ist man dann doch zu möglicheren und klareren Auffassungen gekommen. Die neuen und wesentlich tiefer bohreilden Anwendungen und Umgrenzungen des Begriffs Entwicklung, die er durch Lamarck, durch Geoffroy de St. Hilaire und zuletzt durch Darwin erhielt, sind im Grunde nicht zu einer Behandlung dieser Dinge gekommen, die man als endgültige Lösung dieses Fragenkreises ansehen kann. Auch Hegel, der in seiner großen Darlegung von der einen großen Linie, die vom Licht bis zum Menschentun führt, diesen Gedankengängen am nächsten gekommen ist und dessen Forschung wahrlich dem Entwicklungsgedanken im höchsten Maße dienstbar geworden ist, hat die Besonderheiten des Entwicklungsgeschehens nicht beachtet oder beschrieben. Die Beziehungen zwischen natur- und menschheitsgeschichtlicher Entwicklung oder zum wenigsten ihre Ähnlichkeiten zu untersuchen, wäre niemand so wohl berufen gewesen wie Hegel. Aber für ihn hatte diese Stunde noch nicht geschlagen. Comte wäre seinen Grundabsichten nach fast gleichermaßen dazu berufen gewesen. Denn man kann sagen,
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daß das Großteil seines forscherlichen Ruhmes auf der Annahme beruht, daß er einen der wesentlichsten der Grundgedanken seines Begriffsgebäudes der Forderung gewidmet hat, daß die Biologie auch die Wissenschaft des Grundgeschehens für alle Menschheitsgeschichte darstellen müsse. Die wichtigsten Geschehensregeln für diese müßten, so lehrt er, den Regeln des biologischen Geschehens entsprechen. Auch wird man nicht in Abrede stellen können, daß nicht wenige und vielleicht die gewichtigsten unter den großen Baugedanken seiner Geschichtslehre den Grundgesetzen entwickelnder Geschichtsauffassung entsprechen 1 . Sucht man aber nach einer Nachweisung der Verwandtschaft zwischen den eigentlichen, gewachsenen, den konkreten Entwicklungsvorgängen im biischen Geschehen hier und im geschichtlichen Reich dort, so findet sich freilich nur eine Anzahl von klaffenden Lücken. Doch darf dies nach Lage der Entwicklungschronologie in der Wissenschaftsgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts durchaus nicht Wunder nehmen: noch nicht einmal die Erkenntnis der Wachstumsvorgänge in ihrem Grundgeschehen war gegen 1842, als Comte sein großes Hauptwerk dem Abschluß entgegenführte, trotz Lamarck und Bär irgendwie zu dem Kern der Dinge vorgedrungen, ganz zu geschweigen von den Forschungen zur Menschheitsgeschichte, die weder von Comte selbst, noch von irgend einem Andern auch nur bis zu der Fragestellung, was denn Entwicklung im wirklichen Geschehen sei, vorwärtsgetrieben worden war. Und um im Bezirk dieser letzten und tiefsten Frage aller Geschichtslehre ein notwendiges Eingeständnis 1
Vgl. Gestaltungen des Entwicfclungsgedankens (1940) 159f.
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schon hier vorauszuschicken: die letzte und volle Wahrheit in dieser Sache ist doch, daß bis auf den heutigen Tag die Problematik dieses Fragenkreises zwar angerührt, aber nicht im mindesten geklärt ist. Das Wesen des Wachstums ist, wenn auch weit gefördert, bei weitem nicht völlig aufgeklärt; die umfassende, zugleich aber auch noch viel tiefer in die Gründe alles Seins hinabreichende Aufgabe, die der Enträtselung des Stammbaums der Arten gilt, ist in Wahrheit noch kaum in Angriff genommen, seitdem das Trugbild der Haeckelschen Scheinlösungen wieder dahingeschwunden ist. Die Erforschung des Wesens der Entwicklung im Bereich der Menschheitsgeschichte bleibt noch immer so weit zurück hinter den Erfolgen der pflanzen* und tierkundlichen Wachstumslehre, daß sie es schon mit einiger Genugtuung verzeichnet, wenn sie von sich auszusagen vermag, daß sie die hauptsächlichsten Fragestellungen der geschichtlichen Entwicklungslehre ins Auge gefaßt hat; aber die Antwort auf sie zu finden, mag noch manches Jahrzehnt in Anspruch nehmen. Man mag seufzend feststellen, daß der Fortschritt wissenschaftlichen Erkennens sich so erstaunlich langsam vollzieht; doch wird man zugeben müssen, daß seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts sich die Geschwindigkeit dieses Fortschreitens, gemessen an der der voraufgegangenen zwei Jahrtausende, ganz außerordentlich gesteigert hat. Und diese Beschleunigung wird noch auf lange hinaus genügen, vorausgesetzt, daß die spannende und treibende Kraft, die hier am Werke ist, die gleiche bleibt. Ganz unzweifelhaft ist der Fortschritt der Forschung, die sich auf die Entwicklung des Einzelnen gerichtet
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hat; von Anbeginn war ihre Arbeit unter glücklicheren Voraussetzungen unternommen. Sie hat im Wachstum der einzelnen Pflanze, des einzelnen Tieres einen tausendfach sich wiederholenden, d. h. also willkürlich — im Experiment — hervorzurufenden Vorgang vor sich. Trotzdem und trotz wahrlich unverächtlicher Erfolge ist der Ertrag dieser Forschungen nicht zu solcher Höhe gesteigert, daß man das Einzelgeschehen eines natürlichen Entwicklungsganges, eines Wachstums also, ab Vorbild für ähnliches Einzelgeschehen, das sich aus menschheitlichen Urbestandteilen zusammensetzt, benutzen könnte. Und so wird denn fürs Erste die einzige Verwendimg dieselbe bleiben, wie sie auch vor den letzten Fortschritten möglich war: die, die nur die allgemeinsten Ähnlichkeiten beider Vorgangsarten ins Auge faßt. Das Wachstum einer Pflanze ganz ebenso wie das eines Tieres läßt vornehmlich eine der unentbehrlichen Eigenschaften, die in jeder Entwicklung auf das Deutlichste hervortreten, erkennen: es ist die der Teildasselbigkeit, der partiellen Identität, ohne die der Begriff der Entwicklung jeder festen Begründung entbehren würde. Der Gesamtbegriff des Wachstums beruht aber so vollständig auf dieser Vorstellung, daß man wird sagen können, daß der Gedanke menschheitlichen Wachstums ebenfalls ohne ihn nicht gefaßt werden könnte. Und gewiß fehlt es in keinem Kreisausschnitt des vollen Runds der Gesamtgeschichte an schlagenden Beispielen für die Geltung dieser wirksamsten Ähnlichkeit nicht allein zwischen natürlichem und menschheitlichem Wachstum, sondern zwischen allem naturgeschichtlichen und allem menschheitsgeschichtlichen
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Werden überhaupt. Die schlagkräftigste von ihnen läßt sich vielleicht an einem Geschichtszweige nachweisen, der zu den bescheidensten zählt und an den man vielleicht am letzten denkt, wenn von den Fortschritten des geschichtlichen Denkens die Rede ist. Ich meine die Lehre vom Kanzlei- und Urkundenwesen; sie wird als Hilfswissenschaft bezeichnet und ihr mithin nicht eben eine führende Rolle zugewiesen. Und doch, wer etwa die Schreibweise, den stilus curiat einer gebietenden Kanzlei, etwa der päpstlichen, durch eine Jahrzehntereihe hindurch verfolgen und zu diesem Behufe die Schriftstücke eines bestimmten Sachbezirkes miteinander vergleichen wollte, er würde immer wieder auf bedeutende, wenn nicht überwiegende Stücke eines wörtlich, ja buchstäblich gleichen Wortlauts stoßen. Und wollte man einen nächst benachbarten Bezirk vergleichen, für den zwar auch Ähnlichkeiten der Form, außerdem aber auch tiefgreifende Gleichmäßigkeiten der von ihnen verfolgten Sachzwecke in Betracht kommen — den Bereich der Verwaltungs-, insbesondere der Behördenordnungsgeschichte — , so würde sich die gleiche Erscheinung nachweisen lassen. In den Dokumenten einer Behörde, deren fortgehende Gestaltung etwa im Lauf eines halben oder eines ganzen Jahrhunderts verfolgt werden sollte, würden sich in den formalen, aber auch in den sachlich wichtigen Teilen etwa ihrer Gesamtinstruktionen, die sich alle fünf oder zehn Jahre wiederholen, bedeutende Strekken bis zum wörtlich gleichen Wortlaut wiederfinden. Und in solchen sich wiederholenden Textstücken würden sich die genauen Spiegelbilder der Urbestandteile von Pflanzen- oder Tierkörpem nachweisen lassen: in
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beiden Iföllen findet sich jene Teildasselbigkeit, neben der sich dann in der anderen Hälfte der Urbestandteile das Schauspiel des Anderswerdens abspielt. Auch in der außerordentlich gruppen-, zahl- und fallereichen Mannigfaltigkeit der Art der Mischung beider Seinsund Geschehensformen finden Natur-und Menschheitsgeschehen hier ihr genaues Gegenspiel. Die Formenlehre in den zahlreichen Arten und Gattungen dieses Nebeneinanders von beiden Grundformen des Geschehenswechsels sei für eine etwas spätere Gruppe dieser Darlegungen aufgespart. Endlich sei im Vorübergehen daran erinnert, daß auch die dritte Grundeigenschaft des sich entwickelnden Geschehens, die Eigenwüchsigkeit, für das Werden und Wachsen von selbständigen Geschehenseinheiten menschheitlicher Zusammensetzung ganz im selben Sinn wie für das Natürwachstum von Pflanzen und Tieren nachzuweisen ist. Wohl schafft die Wirklichkeit des Menschheits- wie des Naturgeschehens eine unendliche Anzahl von Varianten der Grenz- und Mischverhältnisse, in denen von außen herzudringende Einwirkungen in großen oder kleinen Bruchteilen diese Eigenwüchsigkeit aufheben oder mindern. Aber gerade diese unsägliche Menge von Möglichkeiten der halben oder Viertels oder zehnteis Abhängigkeit findet sich im Reich des Naturwachstums wie der menschheitlichen Entwicklung gleichermaßen.
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D R I T T E S STÜCK DAS A C H T Z E H N T E J A H R H U N D E R T ALS D E R L E T Z T E E N T W I C K L U N G S ABSCHNITT DER ENGLISCHEN VERFASSUNGSGESCHICHTE Gneist hat die Zeit von der normannischen Eroberung bis zur Revolution von 1689, die er als das Portal zur Eröffnung des letzten Zeitraums der Neuen Zeit ansieht, in drei Abschnitte zerlegt: in die reichsständische Zeit, das Zeitalter der Tudors und das der Stuarts. Hier soll aber nur das achtzehnte Jahrhundert als ein Beispiel seines Verfahrens gekennzeichnet werden: es hat mit den ersten beiden von den hier genannten Zeiträumen gemein, daß in ihm der Gang der englischen Geschichte in ruhigem Lauf und ohne Erschütterungen dahinfloß, während das Zeitalter der Stuarts durch zwei oder, wenn man will, drei Staatsumwälzungen dermaßen verstört worden ist, daß sein Verlauf eben nicht der eines ruhigen Entwicklungsflusses ist. Die Revolution von 1689 mußte — das forderte ihre Natur — zwar als einmaliges Geschehen gebucht und somit schlechthin in ihrer Einzigkeit beschrieben werden. Doch ist die Schilderung darauf bedacht, auch an ihr diejenigen Eigenschaften hervortreten zu lassen, die sie als Glied in der Kette der voraufgehenden und gleichsam über sie fort oder genauer zu sprechen durch sie hindurch gehenden Zusammenhänge erkenntlich machen. Dies ist aber für sie umso leichter, als es recht eigentlich die Grundeigentümlichkeit des englischen Staatslebens, und zwar nicht allein seiner Verfassung
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ist, solche Zusammenhänge nicht nur nach Möglichkeit festzuhalten, sondern ihnen auch im formalen Ausdruck der staatlichen Einrichtungen Geltung zu •erschaffen. Man wird sagen dürfen, die Weise des englischen Staatslebens, vielleicht sogar alles englischen Lebens, ist recht eigentlich entwicklungsgeschichtlich : es wird durch seine longue haieine, durch seinen langen Atemzug vor allem um deswillen gekennzeichnet, weil der Engländer den schroffen Bruch mit langererbtem Gesittungsbesitz ebenso wenig liebt wie die Heraufführung von nie dagewesenen Neuerungen. Das wichtigste Ergebnis aller vergleichenden europäischen Verfassungsgeschichte mag doch sein, daß das Übergewicht des englischen Staatsgeistes über den aller festländischen Völker aus diesem seelischen Grund einer tiefen Geschichtlichkeit zu erklären ist. So ist denn nicht verwunderlich, daß Gneist — Wahlengländer der Idee, der er ist — von dem Ereignis von 1689 vor allem denkwürdig findet, wie — sozusagen gegen den offenbaren Augenschein der großen geschichtlichen Tatsachen — diejenigen Umstände hervorgehoben werden, die einen quasi-legalen Verlauf dieses doch wahrlich gewaltsamen Vorgangs vortäuschen: so die Rechtsfiktion, als habe Jakob II. der Krone entsagt, so der Übergang der Krone auf die Erbtochter Jakobs II. und durch sie auf ihren Gatten Wilhelm III., so die an sich freilich höchst unrechtmäßige Behauptung, daß der schon geborene Leibeserbe Jadeobs II., der Prinz Eduard, illegitim sei, so späterhin der Übergang der Krone auf die hannoversche Dynastie ab Erbin Jakobs I., so aber auch der gesetzliche Ausschluß jedes Nichtprotestanten von der Thronfolge. Im selben Grad vorsichtig zeigt sich Gneist bemüht, 6l
das so sehr verwickelte Gebäude des neuen englischen Staatsrechts auf die Geschichte und die staatsrechtlichen Erfahrungen des Stuart-Zeitalters zurückzuführen. Die Sorge, es könne dem englischen Parlament und damit der englischen Freiheit von dem stehenden Heer Gefahr drohen, hat — so wird in dieser Schilderung dargelegt — bewirkt, daß schon das Dasein dieses Heeres im Gesetz als an sich ungesetzlich bezeichnet und die Krone verpflichtet wurde, durch eine jährlich zu wiederholende Versicherung feierlich anzuerkennen, daß das Heer nicht zum Zweck der Aufrechterhaltung der bestehenden Staatsordnung, sondern lediglich aus Gründen der auswärtigen Staatskunst — zur Aufrechterhaltung des Reiches — Verwendung finden dürfe. Gneist verfolgt mit Sorgfalt eine Fülle der Sonderzweige der Verwaltung und vornehmlich der Behördenorganisation, wie sie im Einzelnen zahlreiche Änderungen erfahren haben. Sein Augenmerk ist dabei vornehmlich auf das stets fortschreitende Wachstum der Macht des regierenden Adels gerichtet: er vermerkt genau die nach Hunderten zählenden Neukreierungen von Herzögen, Marquis, Grafen und Baronen und die noch zahlreicheren Ernennungen von Baronets, von Mitgliedern der Gentry. Die Sicherung und Vermehrung der Macht des regierenden Standes im Ober- wie im Unterhaus wird dadurch in ihrem Verlauf kontrolliert. Mit demselben Nachdruck wird das Zurücktreten des Mittelstandes hervorgehoben, die augenfällig geringe Zahl der zum Geschworenendienst und zu den Unterhauswahlen Berechtigten, die im Wesentlichen die Beteiligung des Mittelstandes an den öffentlichen Angelegenheiten abgrenzen und bestim-
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men, werden gebucht. Sicher umschrieben ist auch Umfang und Abgrenzung der staatlich rechtlosen Teile der Bevölkerung, d. h. der vom Wahlrecht ausgeschlossenen freeholders von kleinstem Besitzstand, der bloßen copyholders, der Pächter und endlich der nicht besitzenden arbeitenden Klasse. Die tumultuarischen Bewegungen von 1780 und die von der WhigOpposition vorgebrachten Vorschläge zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts werden ab die ersten Vorboten der demokratischen Reformen des neunzehnten Jahrhunderts vermerkt. Schon die richtige Bewertung der gesellschaftlichen Zusammensetzung und der Gestalt des politischen Einflusses des Parlaments auf die Regierung des Staates war wohl nur möglich in der Hand eines Mannes wie Gneist, der nicht allein über die formale Bildung eines Rechtsgelehrten, sondern auch über die weitgehendste Kenntnis des praktischen Verwaltungslebens verfügte; ganz kümmerlich wäre eine Behandlung dieser Dinge durch die damals und leider noch eine lange Reihe von Jahrzehnten so genannte eigentliche Geschichte ausgefallen. Selbst die Spitzen der Geschichtswissenschaft mit Ausnahme von Niebuhr, aber mit Einschluß von Ranke wären einer sachgemäßen Behandlung der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte nicht im mindesten gewachsen gewesen; die Durchschnittsbehandlung der allgemeinen Geschichte hatte nur eine Fülle von Lücken aufgewiesen. Obwohl sie sich eigens viel auf ihr enges Verhältnis zur politischen Geschichte zu Gute tat, pflegte sie sich so zu verhalten, als ob die innere Staatsgeschichte, die in der praktischen Politik für den Kern des geschichtlichen Lebens gehalten wurde, entweder gar nicht oder nur in der Form der
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oberflächlichen Nebenbehandlung ein Gegenstand der Geschichtswissenschaft sei. Nur wer die wahrhaft klägliche Beschaffenheit dieser Zustände im Auge behält, kann ermessen, ein wie starker Einstrom von Anregung und Bereicherung für dies Segment der Geschichte von dem zuständigen systematischen Wissenszweig, von Rechts- und Staatswissenschaft ausging. Ein besonderes Glück für diesen Vorgang war es dann freilich, daß der Mann, der sich dieses Amtes annahm, durch seine in langer werktätiger Teilnahme an den Staatsgeschäften erworbene praktische Kenntnis im Stande war, diese Dinge bis ins Einzelne zu meistern und sie vor allem vom Standpunkt des Lebens aus zu beurteilen. Gneist war so zwei Einseitigkeiten, die beide gute Geschichtskenner ebensowohl fördern, wie gleichzeitig schädigen können, dem philologischen wie dem juristischen Formalismus, gewachsen. Ja, man wird sagen dürfen, daß er auch noch einen dritten Formalismus in sich nicht aufkommen ließ, von dem er vielleicht am meisten bedroht war: den des praktischen Politikers, des Parteimanns. Vielleicht hätte sich unter den Händen von Geschichtsforschern, die sich von der Politik her diesen Dingen genähert hätten, etwa von Männern wie Leo oder Dahlmann, die Behandlung der inneren Staatskunst noch am ehesten zu einer Geschichte der Parteien gestaltet; aber auch solcher Einseitigkeit unterlag Gneist nicht im mindesten, die Geschichte der Parteien nimmt keinen breiteren als den ihr gebührenden Platz im Gesamtbild des englischen Staatslebens ein. Wenn er sich dem Anteil des Parlamentes an der Leitung des Gemeinwesens zuwendet, geht er — was für dieses sein Verhältnis zur Gesamtpolitik vielleicht am
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tiefsten bezeichnend ist — von der für England freilich charakteristischen Bildung des Staatslebens, von der Selbstverwaltung aus, die in den Städten wie auch auf dem flachen Lande von gleicher Bedeutung war und dort die Grundlage für die gesellschaftliche und staatliche Macht der bürgerlichen Gemeinwesen, hier für die des hohen wie des niederen Adels bildete. Auch dies ein eigenes, schlechthin persönliches Verdienst von Gneist, denn hier leitete ihn nicht nur sein wissenschaftliches, ja nicht einmal nur sein praktisches Kennen und Können, sondern mehr noch der ebenso ideelle wie praktisch-politische Drang, der ihn sein Leben lang mit der Absicht erfüllte, für sein Preußen und Deutschland diese englischen Einrichtungen zu einem Vorbild und zum Quell neuer politischer Kraft zu machen. Gneist, dessen Energie es vermochte, auch das derlei geistigen Einwirkungen zumeist nicht eben leicht zugängliche Beamtentum seinem Einfluß zu unterwerfen, ist so der Reformator unserer Verwaltung geworden, und er hat damit eine Wirkung ausgeübt, die umso höher zu schätzen ist, als sie unsere Staatslehre nicht vermittelst der oft so billigen politischen Phrasen des Parteimannes, sondern in der Wurzelschicht der Verwaltung und selbst der noch tieferen der gesellschaftlichen Ordnung angriff und auf das glücklichste gebessert und gekräftigt hat. Der Rang, der ihm als werktätigem Former und Umformer in der Geschichte unseres Staatslebens zukommt, ist vollkommen dem des Freiherrn von Stein ebenbürtig. Man ermißt nun leicht, welch ein Glück es für die entwicklungsgeschichtliche Forschung bedeutete, daß ein Mann von diesem geistigen und politischen Rang sich der Verwaltungsgeschichte annahm. Seine Englische 5
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Verfassungsgeschichte, wie die ihr voraufgehenden und sie begründenden Arbeiten zur Geschichte und zur Gegenwart des englischen Verwaltungsrechts haben keine swegs nur das von ihnen bearbeitete Forschungsgebiet, sondern durchVorbild und Muster alle innere Staats- und Verwaltungsgeschichte auf das wirksamste gefördert. Wenn Gneist sich anschickt, die Verfassung des englischen Parlaments zu zeichnen, so beginnt er ganz anschaulich mit einer Herzählung der Mitgliederzahlen der einzelnen Gruppen, aus denen sich das Unterhaus zusammensetzt: 80 Mitglieder aus den 40 Grafschaften von England und 12 aus den 12 Grafschaften von Wales, 339 aus den 272 Landstädten und Flecken, 16 aus den 8 Seehäfen, 4 von 2 Universitäten, 45 Schöffen und 100 Iren treten nacheinander auf. Die Verteilung der Sitze ist aufgebaut auf den Bau der Kommunalsteuern, und diese sind nicht auf Personen, sondern auf Steuerobjekte gegründet, eine Verteilung, durch die ebenso wie durch die durch die Zeiten dauernde Gleichmäßigkeit der Steuerquoten für die Gemeinden ein hohes und sehr heilsames Maß von Beständigkeit für die aufzubringenden Beträge hervorgebracht wird. Die Wahrnehmung der öffentlichen Tätigkeiten durch Beauftragte im Ehrenamt festigt von neuem den Einfluß der besitzenden Klassen auf alle öffentlichen Angelegenheiten, stellt aber auch einen sehr wirksamen Ausgleich für alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, kirchlichen und parteimäßigen Gegensätze dar. Eine starke Unregelmäßigkeit wurde, worauf Gneist mit eigens starkem Nachdruck hinweist, durch die große Zahl der sehr kleinen Wahlflecken, der rotten boroughs, in die Zusammensetzung des Unterhauses gebracht, was zur Folge hatte, daß eine unverhältnis-
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mäßig starke Zahl von Unterhaussitzen in die Hand des Hochadels gerieten, der durch seinen übermächtigen Grundbesitz sehr häufig diese Flecken wirtschaftlich und gesellschaftlich beherrschte. Man rechnete gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts aus, daß 356 Mitglieder durch 154 Patrone ernannt würden. Allerdings wurde dies Mißverhältnis in etwas durch die ungefähr zehnfach zu hoch gegriffene Vertretung der Städte ausgeglichen; doch war der eine Fehler dadurch; daß man einen andern bestehen ließ, doch nur sehr mangelhaft ausgebessert. Für das Bestehen des Oberhauses, das bei großer Vermehrung der in ihm vorhandenen Sitze doch nicht wesentlich den Charakter veränderte — es gab um 1800 außer dem Bestand von 166 Pairs zu Anfang des Jahrhunderts noch über 500 neue Herzoge und Marquis, Grafen, Viscounts und Barone, die im Laufe dieses Zeitraums noch zu jener Zahl hinzugetreten waren — tritt Gneist mit Wärme und Weisheit ein; er macht geltend, daß gegenüber dem schwankenden Verhalten eines von Parteien und Mehrheiten abhängigen Unterhauses das Gegen- und Geichgewicht eines adligen Oberhauses große Vorzüge besitze. Er hebt hervor, daß die Mitglieder des englischen Oberhauses durch die Vereinigung von Amt und Besitz einen nicht geringen Vorrang gegenüber den nur aus Beamten bestehenden Amtskörperschaften Frankreichs behaupteten, und er rühmt die werktätigen Leistungen des englischen Adels, des hohen wie des niederen, für den Staat. Die ardua negotia regni, die schweren und sehr verantwortlichen Geschäfte der Staatslenkung, die doch ebenso wohl eine Bürde und eine Pflicht wie die Wahrnehmung von Rechten und Vorrechten war, s»
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habe der Adel auf sich genommen, ganz ebenso wie er die steuerlichen Lasten des Untertanentums in vollem allgemeinen Umfang trug. Die vergleichende Verfassungsgeschichte hat dieses Verdienst des englischen Adels, das ihm einen sittlichen Vorrang vor allen europäischen Adelsständen verleiht, noch stärker hervorheben können; das hohe Verdienst Gneists, zuerst die Augen der Geschichtsforscher, aber, was für das Leben unseres Volkes noch wichtiger war, auch die der Staatsmänner auf diesen Vorzug Englands hingelenkt zu haben, bleibt ungemindert1. Am tiefsten aber reicht die Erkenntnis der Gründe des geschichtlichen Geschehens in Gneists Darstellung dort, wo er auf die allgemeinsten Eigenschaften des englischen Gemeinwesens zu sprechen kommt. Da findet er sich nicht, wie es in den Schilderungen der gleichzeitigen und leider auch sehr vieler späterer allgemeiner, d. h. so genannter politischer, Geschichtswerke der Fall sein würde, mit einigen weitmaschigen und im Grunde nichtssagenden Redensarten ab, sondern weiß die wirklich allen Zweigen der englischen Staatslenkung und Staatsverwaltung gemeinsamen Wesenszüge kenntlich zu machen und die für sie bezeichnendsten Begriffe zu prägen. Die Kohärenz, d. h. also der Zusammenhang und die innere Wesensgemeinschaft der Funktionen des englischen Staats oder in Wahrheit der regierenden Schichten des englischen Volks: das ist vielleicht der glücklichste Fund unter den von Gneist bei diesem Bestreben herausgefundenen Besonderheiten der englischen Staatspraxis und der ihr zu Grunde liegenden Staatsgesinnung. Vgl. Die soziale Entwicklung der fuhrenden Völker Europa» (Schmollen Jahrbuch Bd. 21 [1897] 57f.). 1
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DRITTER ABSCHNITT GUSTAV SCHMOLLER
E R S T E S STÜCK S T E L L U N G N A H M E ZUR E N T W I C K L U N G S GESCHICHTE Die Männer, die, gegen 1840 geboren, als eine zweite Reihe von Forschern hinter Ranke und Niebuhr aufgetreten sind, sind eigens stark an der Gründung und Förderung der entwickelnden Geschichtsforschung beteiligt. Auch dies das Ergebnis einer allgemeinen Strömung in der geschichtlichen Wissenschaft und zugleich freilich auch das Erzeugnis einer neuenWand-
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lung der Volkswirtschaftslehre. Dies war ja an sich die wesentlichste Auszeichnung von Schmollers Anteil an der Geschichte der Geisteswissenschaften seiner Zeit, daß er an zwei Wissenschaftsentwicklungen beteiligt war und beide grundstürzend beeinflußt hat. Doch wenn er sich seinen Namen auch vorzugsweise als Volkswirtschaftslehrer erworben hat, wenn seine bedeutendsten Werke auch dieser Wissenschaft angehören, so war doch in seinem forscher liehen Wesensbild das Schwergewicht seiner Neigungen und seiner Fähigkeiten der Geschichte zugewandt. Im gemeinen Sinne des Lebenserfolges war diese Doppeltheit wie immer eine Erschwerung; da Schmoller aber zugleich ein starker Könner der Menschenbehandlung und der Lebenskunst war, so überwand er sie und errang sich — worauf so viel mehr ankam — alle Früchte seiner Herrschaft über die Wissensgebiete zweier Forschungsgattungen. Schmoller hat von Seiten der Volkswirtschaftslehrer, vornehmlich der Gruppen, die der begrifflichen Auffassung ihrer Wissenschaft zugeneigt waren, harte Angriffe erfahren; sein heftiger Kampf gegen Menger und die Anhänger einer begriffswissenschaftlichen Richtung war Ergebnis, aber auch Ursache dieser Zwistigkeiten. Und in der Tat lagen die Schwächen seiner Geistigkeit wohl nach dieser Seite; die Vorwürfe, die sich gegen den Mangel an Systematik und Begriffsschärfe in seinem Schaffen richteten, waren nicht ganz unbegründet. Es ist, als hätte er von Roscher, der in so vielem Betracht sein Vorgänger und ein wenig auch sein Vorbild war, auch in dieser Richtung Einwirkungen erfahren, die nicht zu seinen Gunsten ausschlugen. Immer wieder wird ja von dem Aufeinanderwirken der einzelnen Wissen70
schaftsgattungen behauptet, daß geschichtlicher und begriffswissenschaftlicher Sinn einander entgegengesetzt sind und sich nicht gegenseitig fördern, sondern einander hassen und geradezu sich gegenseitig in dem Seelen- und Geisteshaushalt der bedeutenden Forscher bekämpfen. Dennoch läßt sich an dem Beispiel Schmollers mit eindeutiger Sicherheit nachweisen, daß dies nicht eine ausnahmslose Regel ist. Wohl wird sich gegen Schmoller, den Volkswirtschaftslehrer, sagen lassen, daß er weder in seinen Begriffsbestimmungen und Begriffsabgrenzungen, noch in seiner Gesamthaltung, in seiner Fragenwahl so hinlänglich Begrifisliebhaber und Begriffsförderer gewesen ist, wie es ein starkes Bedürfnis dieser Wissenschaft, die zuerst und zuletzt Begriffswissenschaft sein soll, fordert; aber für Schmoller, den Geschichtsforscher, hat diese Doppelfront seiner Tätigkeit nichts als Begünstigungen eingetragen. Denn wenn Schmoller auch gewiß nicht in dem hohen Grade Begriffsforscher war, daß er innerhalb nicht nur der wirtschaftswissenschaftlichen, sondern auch der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung in seinen geschichtlichen Bestrebungen nun allzu weit nach der Seite der Begrifflichkeit getrieben worden wäre, so war er doch, gemessen an der Grundrichtung der allgemeinen Richtung der zu seiner Zeit herrschenden Geschichtsauffassung, ein Forscher, der innerhalb der Geschichtswissenschaft gar nicht anders wirken konnte und wirken mußte, denn als ein befruchtender und in jedem Betracht wirksamer Förderer aller begrifflichen Absichten und aller begrifflichen Sehweisen der Geschichtsschreibung.
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Das große Werk 1 , in dem Schmoller, schon auf der Höhe seines Lebens stehend, alle seine Erkenntnis und sein Wissen zusammengefaßt hat, läßt am deutlichsten ersehen, wie sehr er all seiner Geschichtlichkeit zum Trotz doch ein Mann der systematischen Teilungen und Scheidungen war. Wenn er dem Hauptkörper seines Werkes eine Einleitung zur Seelenkunde, zur Sittlichkeitslehre voranschickt, so geht er hier, weniger scharfsichtig und durchgreifend als sonst, doch immerhin in einem allgemeinen Sinn auf die geistigen Grundlagen ein und gibt in einem weiteren einleitenden Abschnitt mit Einsatz sehr viel reicheren Wissens eine Übersicht über die Geschichte des Wies und des Weges der Volkswirtschaftslehre. Seine eigentliche Wissenschaftsgesinnung aber wird am ehesten kund in dem Hauptteil seiner Darstellung, in dem er die gesellschaftlichen Wesenszüge der Volkswirtschaft zu untersuchen unternimmt. Wollte man Schmollers Geistigkeit in ihrem vollen Umfang gerecht werden, so müßte man sagen, daß er nicht zwei, sondern in Wahrheit drei Wissenschaften gedient hat und sie alle gleichmäßig gefördert hat: außer Geschichte und Volkswirtschaftslehre nämlich auch die Gesellschaftslehre. Wohl ist er auch hier so wenig wie im Gesamtbezirk der Volkswirtschaftslehre zu einer systematischen Umfassung und Durchdringung des Insgesamts dieser noch so sehr neuen Wissenschaft vorgedrungen. Hier nun etwa einen völlig ursprünglichen Gedankenbau der Gesellschaftslehre, die ja seit Comte und Spencer nicht eben beträchtliche Schmoller, Grundriß der ellgemeinen Volkswirtschaftslehre (1900).
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Fortschritte gemacht hatte, aufzurichten, war seine Sache am allerwenigsten; aber mit umso reicherem Wissen und umso sichererem Können teilzunehmen an einer große Teile umfassenden Unterbauung dieses Lehrbaus, das war recht eigentlich seine Sendung. Sie war ihm umso mehr gelegen, als Schmoller eine ebenso starke Scheu vor jeder systematischen Vereinfachung einer Lehre, wie eine liebende Neigung zu einer tief in die Einzelheiten gehenden Illustrierung der Grundtatsachen hatte. Comtes Lehrweise die sich ja eigentlich nicht auf das begriffliche Gerippe der von ihm erstrebten Gesellschaftslehre beschränkte, sondern immerhin die an sich schon wohlgegliederten Rahmengefüge seines Werkes mit dem Fleisch und Blut lebendiger Geschichtsdarstellung wenigstens in ihren Grundzügen zu erfüllen trachtete, hätte Schmollers forscherlichem Streben nie ein Genüge getan; Spencers erfahrungsmäßig-geschichtlicher Unterbau ist, wo er überhaupt einsetzt, auf die Darstellung der Urzeit beschränkt und läßt auf sie in wunderlicher Einseitigkeit eine recht summarische Schilderung der Gegenwart etwa in Gestalt einer eingängigen Berücksichtigung englischer Dinersitten folgen. Schmoller hatte dagegen eine umfassende, wenn auch ihren Absichten nach enzyklopädisch angeordnete Übersicht über sehr große Teile der Geschichte einzusetzen. Er ging geyriß auch darin nicht bis zu den Grenzen gegenwärtiger Universalgeschichte; aber er ließ es doch im mindesten nicht bei den Herkömmlichkeiten der Weltgeschichte Rankescher Prägung bewenden. Er hielt, vor allem unter dem starken Einfluß Vgl. Die Gestaltungen des Entwicklungsgedankens (1940) 151 ff.
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Morgans, den die übrige Geschichtsschreibung — damals wie noch heute — völlig ignorierte, für nötig auszugehen von einer Skizzierung der Urzeitgeschichte, vor allem also der lebenden Primitiven. Aber dann kommt ihm ebenso wenig in den Sinn, die großen Völker des alten und des neuen Orients zu überspringen, wie er die Verhältnisse der Griechen und Römer schweigend übergehen würde. Daß er das Mittelalter und die Neuere Zeit der germanisch-romanischen Völker mit derselben Sorglichkeit berücksichtigt wie die Neueste Zeit ist für ihn selbstverständlich. Wollte man Schmoller in dem großen Zuge der Entwicklung einer geschichtlichen Wirtschafts- und Gesellschaftslehre den rechten Platz anweisen, man müßte von ihm sagen, daß er zwar im Ganzen die von Comte eingeschlagene Richtung einhalten wollte, daß er aber die erfahrungsmäßig-geschichtlichen Grundlagen, die dieser geschichtlichen Gesellschaftslehre — richtiger gesellschaftswissenschaftlichen Geschichtslehre — gegeben werden sollten, ganz außerordentlich viel breiter und vielfach doch auch tiefer angelegt hat. Man wird von der ersten Seite an gewahr, daß Comte von der Absicht ausging, eine gesellschafts- und geschichtswissenschaftliche Lehre aufzustellen, Schmoller aber einen mächtigen Unterbau der Gesellschaftsgeschichte herstellen wollte, an dessen theoretischer Krönung ihm eigentlich nicht so viel gelegen war. Es ist nicht von ungefähr, daß 1832 ein Franzose, 1900 aber ein Deutscher das Wort ergriff: dem Deutschen war unvergleichlich viel mehr an dem geschichtlichen Wissen, dem Franzosen aber mehr an der theoretischen Systematik gelegen. Und noch ein anderer Unterschied reckt sich hier der Betrachtung entwickelnder Wissen-
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schaftsgeschichte entgegen. Es ist noch so sehr viel mehr Geist des achtzehnten Jahrhunderts in der Art Gimtes und Sehweise des empirisch-geschichtlichen Jahrhunderts in der Weise Schmollers. Es ist wirklich die Kluft von mehr als einem halben Jahrhundert zwischen beiden Forschungsgesinnungen und mehr noch Geistigkeiten. Man wird sagen dürfen, daß man einige der Abweichungen Schmollers von Comte als Verluste Ein Geistigkeit buchen möchte, daß man geneigt ist zu bedauern, daß so viel Instinkte der Begrifflichkeit und der Systematik auf diesem Weg von sieben Jahrzehnten verlorengegangen sind. Für den weiteren Zeitraum des vollen Jahrhunderts aber, der beide Forscherpersönlichkeiten und beide Geistigkeiten umfaßt, findet auch im Nacheinander der Strömungen ein Ausgleich statt, den man von einer höheren Warte der Zeiten aus gar nicht als einen Gegensatz, sondern weit eher wie ein notwendiges Sich-Zusammenbiegen der auseinander strebenden Kurven auf einer etwas höheren Ebene ansehen sollte. Auch die Periode von 1832 bis 1900 kann ein Recht der Zusammengehörigkeit für sich beanspruchen, während allerdings die Zeiten 1832 und 1900, jede für sich betrachtet, weit auseinander streben. Man wird hier durchaus den Grundsatz der Überklammerung gelten lassen müssen: die etwas größeren Zeiträume umfassen auf einer höheren Ebene die kürzeren Entwicklungsstrecken, und ebenso wohl die großen wie die kurzen Zeitabschnitte müssen als Geschichtseinheiten angesehen werden. Wenn die beiden Formen der Geschichtsbetrachtung, die in Gimte dort, in Schmoller hier ihre Vertreter gefunden haben, miteinander verglichen werden, so wird man, wie gesagt, zweifelsohne eine etwas höhere
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Geistigkeit bei Comte verkörpert sehen; ebenso gewiß aber wird man eine sehr viel echtere und sicherere Gründlichkeit der wissenschaftlichen Vorbereitung und der sachlichen Ausgliederung bei Schmoller finden. Man kann nun gewiß die eine Wissenschaftsform gegen die andere abwägen, der einen den höheren Wert als der anderen beimessen; am gerechtesten und im tieferen Sinn am geschichtlichsten mag es doch sein, wenn man auf dem hier soeben angedeuteten Wege einer Überklammerung die beiden Wissenschaftsformen als zu einem großen Zeitraum gehörig in eine größere Einheit zieht und dann nicht ohne Freude vermerkt, daß das neunzehnte Jahrhundert, das heute so oft und über alles Maß geschmähte, stark genug war, die Tugenden beider Geistigkeiten in sich zu vereinigen.
ZWEITES STÜCK UMRISSENE
UND
GEFORMTE
GESCHICHTSEINHEITEN In dem großen Werk, zu dem Schmoller auf der Höhe seines Lebens die Summe aller seiner wirtschafts- und gesellschaftlichen Forschungen zu einer großen Einheit zusammengeschlossen hat, drückt sich der stärkste Wert der darin enthaltenen Leistung in den weiten Sichten aus, die von der Entwicklung ganzer Lebensbezirke gegeben sind. Sie erfüllen ganze Quadrate in dem Ausschnittgefüge, in die Schmoller mit Sorgfalt und Folgerichtigkeit die einzelnen Zeitalter geteilt hat; aber ihr größter Wert beruht in den Längsschnitten,
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ab die sich nun diese Übersichten, wie partielle Universalgeschichten, die ganze Strecke ihrer Länge durch die Zeiten umfassend, darstellen. Wie sehr Schmoller diese Abschnitte als Einheiten geschichtlicher Sicht empfand, ersieht man daraus, daß er sie wieder und wieder in eigener Gestalt als selbständige Aufsätze veröffentlichte. Und mein kann sagen, Schmoller hat in diesen Arbeiten seine Meisterstücke gegeben. In dem weiten Umkreis des großen Werkes verlieren sich diese Einzelforschungen ein wenig, und daß neben ihnen andere Abschnitte von einer mehr gelehrten als forscherlichen Wertigkeit wie ebenbürtige Seitenstücke stehen, setzt sie ein wenig in ihrem Wert herab. Die von ihnen geleistete Arbeit aber hebt sie später noch aus der Reihe der sie umgebenden Kapitel: es sind vor allem die kleinen Werke über Arbeitsteilung und Klassenbildung, die zu diesen Gipfelleistungen gehören; höchstens wird man noch die Aufsatzreihe über das Unternehmertum mit ihnen auf die gleiche Ebene stellen. Alle diese kleinen Werke zeichnen sich nun dadurch aus, daß sie ganz und gar aus universalgeschichtlichem Geiste geboren sind, insofern sie zwar nicht eigentlich zu geschichtlichen Zwecken entworfen sind, sondern zu denen einer allgemeinen Gesellschafts- und Wirtschaftslehre, aber so ganz mit dem tragenden Gedanken, daß nur ein ganz allgemeingeschichtliches Wissen solchen Abschnitten der Lehre zur Grundlage dienen könnte. Der Divanspruch — Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben —, den Schmoller als Motto seinem Werk vorangeschickt hat, klingt an dieser Stelle etwas treuherzig, und man
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möchte sich als Leitspruch für eine universale Wirtschaftslehre tiefer gründende Worte wünschen; aber nach Ausmaß wie Grenze von Schmollers Begabung sind sie ebenso kennzeichnend wie die innere Haltung dieser Abschnitte. Ihm war besonders viel daran gelegen, den ganzen Zeitraum zu umspannen, der etwa vom Jahr 1000 ab bis zur Gegenwart verflossen ist; aber es war seine Sache nicht, nun etwa diese weiten Sichten eigens zu vertiefen. In diesem Betracht bleibt er weit hinter Comte zurück. Die geschichtswissenschaftlichen Werte, die Schmoller so geschaffen hat, waren dennoch außerordentlich große und bedeuteten immer wieder völlig ursprüngliche Neuerungen. So gleich zu Anfang, wenn er auf die Anfange der Arbeitsteilung eingehend vom Krieger, vom Priester, aber auch vom Händler großen Stiles spricht. Jede Geschichtsbetrachtung herkömmlicher Art hätte diese Berufe vermutlich ganz unberücksichtigt bei Seite gelassen. Es ist wie so oft, daß das Auge der geschichtlichen Betrachtung über allzu gewohnte Tatsachenbestände achtlos hinweggleitet; aber gerade sie unbeachtet zu lassen, kann die schwersten Schädigungen für eine Geschichtsforschung hervorbringen, deren schlimmster Feind in solchen Fällen die angebliche Selbstverständlichkeit ist. Man erkennt dann große Geschehenszüge nicht, n u r weil sie sich als längst gewohnte dem Auge des Beobachters völlig entziehen. Schmollers Verdienst war die gerade entgegengesetzte Tugend, die Fähigkeit, etwa die Tatsache Priestertum in vollem Umfange zu begreifen, an die die beschreibende Geschichtsforschung nie gedacht haben würde, auch wenn sie noch Jahrzehnte lang sich mit der Darstellung von immer neuen Priesterkämp-
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fen eingehend befaßt hätte. Es geschah dann, was die Rede des Volks nicht etwa einfach und oberflächlich, sondern aus einem tiefen Sinn heraus, als die Handlungsweise bezeichnet hat, die den Wald vor Bäumen nicht sieht. Man war seit überlanger Zeit sehr wohl im Stande, ein Einzelgeschehen sehr genau und in Linien und Farben zutreffend wiederzugeben; aber man war durchaus nicht fähig, das Gesamtgeschehen eines halben Jahrhunderts oder eines Jahrzehnts als Geschichtseinheit zu erkennen. Am wenigsten aber war man im Stande, das große Fließen der umfassendsten Bewegungen, derer, die durch ganze Reihen von Jahrhunderten fortgehen, zu erkennen. Eben an einem Beispiel wie dem Werk Schmollers ist eigens deutlich zu erkennen, wie förderlich die Personalunion zwischen einem Geschichtsforscher und dem Mann einer begrifflich geordneten, einer systematischen Wissenschaft sein konnte. Für einen Forscher der Volkswirtschaftslehre, auch wenn er wie Schmoller keineswegs einer eigens auf Begriff und denkhafte Auflösung gestellten Richtung dieser Wissenschaft zugehörte, war es unvergleichlich viel leichter, zu so weit gespannten Sichten zu gelangen. Jede, auch die lockerste Volkswirtschaftslehre muß schon dadurch, daß sie so viel Querschnitt-Teilungen schaffen muß, dazu kommen auch Längsschnittreihen anzulegen oder ihr Dasein wenigstens anzuerkennen. Denn wenn man etwa einzelne Berufe oder Klassen gegen einander abgrenzt, so wird dann zum mindesten ein so geschichtlich gestimmter Forscher wie Schmoller eigens leicht zu einer Sehweise gedrängt, die die Querschnittgevierte zu Längsschnitten umarbeitet und damit unmerklich von einer systematischen zu einer ge-
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schichtlichen, will sagen entwicklungsgeschichtlichen Sicht übergeht. So hat Schmoller in seinem großen Lehrbuch immer wieder Mittelgebilde geschaffen, die zu dem Zweck entstanden waren, die Gevierte eines begrifflich angeordneten Querschnitts anzufüllen, die aber dadurch, daß sie grundsätzlich in der Ordnung der Zeiten die aufeinander folgenden Zeitalter im Bilde sich aufreihen ließen, gleichzeitig und wie von ungefähr entwicklungsmäßig angeordnete Geschichtsreihen entstehen ließen. So sind ganz große Bilder, wie der Arbeitsteilung so auch der Klassenbildung und der Unternehmung entstanden, sie alle gleichmäßig die geschichtliche Volkswirtschaftslehre wie die Wirtschafts- und Klassengeschichte großen Stiles fördernd. Diese Werke hat Schmoller auf der Höhe seines Lebens und Wirkens geschaffen, als er dem sechzigsten Jahr sich näherte. Ein volles Bild seines Werkes aber erhält man erst, wenn man der tief in die Einzelheit der Geschichte eingewurzelten gründenden Arbeiten gedenkt, in denen er im ersten und zweiten Viertel und viel entschiedener a b in den späteren allgemeinen Schriften seiner Laufbahn sich als Geschichtsforscher bezeugte. Die Geschichte der Straßburger Tucher- und Weberzunft bezeichnet eine erste von diesen beiden Schichten seines Lebenswerkes, und wenn jene Arbeiten der allgemeinen Wirtschaftsgeschichte in ihrer Art vollendete Proben weitgespannter Allgemeingeschichte waren, so stellt dieses Buch, das 1881 veröffentlicht worden ist, also zu einer Zeit, in der Schmoller im blühenden Mannesalter stand, vollends ein Meisterstück dar,
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das mit einer Sorgfalt und einer Genauigkeit der Einzelarbeit abgefaßt ist, die es auch den gründlichsten Schriften der beschreibenden Geschichtsforschung völlig ebenbürtig macht an Sicherheit und Zuverlässigkeit der Forschungsweise, und das zugleich in mehr als einem Betracht die Trefflichkeiten der besten entwickelnden Geschichtsforschungen in sich vereinigt. Das Buch stellt sich dar wie ein Baum, der nach allen Seiten seine saugenden Wurzeln in das Erdreich des deutschen mittelalterlichen Geschehens senkt, den Wipfel seiner weit ausgebreiteten Darstellung aber hoch in den Luftraum des neuen Jahrhunderts streckt. Die Wurzeln der mittelalterlichen Untersuchung erstrecken sich in Hinsicht auf die Geschichte der Webetechnik rückwärts bis in prähistorische und indogermanische Zeiten; sie schildern dann die Anfänge der deutschen Weberei bis in das dreizehnte Jahrhundert und schließen daran die Geschichte der Straßburger Weberei und der Tucherzunft bis zum Einbruch der französischen Herrschaft am Ende des siebzehnten Jahrhunderts. Überall verschmelzen sich die Geschichte der Technik des Gewerbes und des Handels mit der politischen und rechtlichen Entwicklung. Die sicherste Begründung der Darstellung auf den Urkunden und Akten vereinigt sich mit einer ganz weitsichtigen klassen- und wirtschaftsgeschichtlichen Schilderung zu einem Meisterwerk innengeschichtlicher Gesamtdarstellung. Ein Urkundenwerk der sorglichsten Art läßt erkennen, auf wie fester Grundlage dieser Bau aufgerichtet ist. Diesem Werk, das im Wesentlichen der Geschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit galt, hat Schmoller in der zweiten, der Berliner Hälfte seines Lebens eine 8
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breite Front von Untersuchungen und Darstellungen zur Verwaltungs-, Verfassungs-, Wirtschaftsgeschichte Brandenburg-Preußens in der späteren Neuzeit folgen lassen, das seine Fähigkeiten eher noch weiter und breiter entfaltet aufzeigt. Es sind von immer neuen Seiten herzudringende Arbeiten zur Finanz- und Behördengeschichte dieser Zeiten. Ganz tief ins Einzelne dringende Untersuchungen, wie die Epochen der brandenburgischen und preußischen Finanzpolitik oder zur Geschichte des preußischen Städtewesens lassen erkennen, wie tief Schmoller in die Aktenbestände des Berliner Geheimen Staatsarchivs eingedrungen ist, u m hier widerstandsfähige Grundlagen einer Darstellung zu schaffen, die trotz so genauer Gründung im Einzelnen doch in weite und allgemeine Sichten auslief, wie sie nur einem Arbeiter von weitestem Blick und einem ins Allgemeine vordringenden forscherlichen Ehrgeiz möglich waren. Die Stärke von Schmollers Anlage beruhte auf dieser ganz ungewöhnlichen Verbindung von Gewissenhaftigkeit der Einzelforschung mit der Absicht und dem Vermögen immer von neuem die Maßstäbe einer gesamtdeutschen, oft einer europäischen Überschau anzulegen. Die am breitesten angelegte unter den Arbeiten Schmollers in dieser zweiten Periode seines Wirkens ist die große Einleitung zur Verwaltungs-, vornehmlich zur Behördengeschichte des sechzehnten, siebzehnten und des anfangenden achtzehnten Jahrhunderts, mit der er die lange Reihe seiner Aktenpublikationen zur Geschichte der preußischen Zentralbehörde von 1713 eröffnete. Denn auch dieser Seite von Schmollers Arbeit muß noch gedacht werden; er verwandte die sehr genaue Kenntnis der Aktenbestände,
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die die obersten Behörden des brandenburgischen und preußischen Staates hinterlassen hätten, auch dazu, große Sammlungen der erlesensten Aktenstücke zu veranstalten, die ermöglichten, das Studium dieser Zweige der Verwaltungsgeschichte bis in die Urkunden und Aktenstücke hinein auszudehnen, so daß auch noch die untersten Schichten seiner Darstellung durch völlig authentische Zeugnisse der Überlieferung untermauert wurden. Die forscherliche Überlegenheit Schmollers selbst über Männer vom Range Sybels und Treitschkes wird durch alle diese Werke, denen andere von nicht geringem, aber nicht ebenso vollem Wert folgten, zur Genüge erhärtet. Daß alle diese Schriften aber Zeugnisse und Erzeugnisse der besten entwicklungsgeschichtlichen Forschung darstellen, davon wissen sie auf jedem Blatt ihrer Einzelerkenntnisse und noch mehr durch jeden Trakt ihrer weiten Sichten und Übersichten Kunde zu geben.
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VIERTER ABSCHNITT HEINRICH HOLTZMANN
Sobald man sich in der hier aufgebauten Reihe der großen Vertreter der gegenwärtigen Entwicklungsgeschichte der der Gottesgelehrtheit zugewandten Geschichtsschreibung nähert, entsinnt man sich nicht ohne eine Anwandlung von Wehmut jener älteren Zeiten, in denen es als ein selbstverständlicher Zwang galt, neben alle weltliche Geschichte als eine zweite, ebenbürtige Hälfte eine geistliche Geschichte zu stellen, die ihren Lesern, wie dort eine Geschichte des Verhältnisses des Menschengeschlechtes zur Welt, hier
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eine Geschichte des Verhältnisses der Menschheit zur Gottheit vor Augen stellen sollte. Ganz gewiß ist nicht mehr unsere Weise, wie die des Augustinus, diese beiden Bücher der Geschichte als einander mit gleichem Gewicht die Waage haltend zu einander zu ordnen; dazu ist alle »Weltgeschichte« zu einer viel zu reich gegliederten Fülle eigener und selbständiger Sondergeschichten emporgewachsen. Aber ein alter Vorzug ist der Glaubensgeschichte geblieben: sie ist reiner Geist und vermag darum ihre Anziehungskraft heut noch ebenso wie vor tausend Jahren zu behaupten und zwar auf die Gläubigen ganz ebenso wie auf die, die längst sich d e m Christentum ganz oder halb entfremdet haben. Der Geschichtsforscher, der dem Zwang seiner Aufgabe folgend lange Zeiten hindurch sich mit den Dingen der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichten oder gar mit den Nüchternheiten der Wirtschaftsgeschichte hat befassen müssen, atmet doch auf, wenn er den Umkreis der Glaubensgeschichte betritt; denn hier umfängt ihn die klarere und dünnere L u f t einer reinen Geistigkeit, und, gleichviel wie er sich zu den Bekenntnissen des Glaubens verhält, ihm m u ß das höhere und feinere Geschehen eine weit größere Befriedigung des Geistes verschaffen. Das neunzehnte Jahrhundert steht in einem seltsam doppeldeutigen Verhältnis zu Christentum und Glauben. Kein Zweifel, die Entfremdung von beiden, wie sie die Aufklärung in so hohem Maß gefördert hatte, ist durch die Romantik doch nicht ebenso stark unterbrochen, nicht etwa zum Stillstand gebracht; sondern sie ist in zwar nicht heftigem, wohl aber stetem Wachst u m fortgegangen. Und so ist auch die stark u m sich greifende Intellektualisierung und Verwissenschaft-
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lichung in den Fortschritten der Glaubenslehre weit eher in langsamen Umbildungen wie in heftigen und revolutionären Umsturzbewegungen vollzogen. Niemals ist es zu durchgesetzten Glaubensspaltungen gekommen, wohl aber zu sehr beträchtlichen Neubildungen der Gotteslehre. Bei weitem den stärksten Anteil an diesen Neuerungen hat Deutschland. Von Baur und Strauß zu Harnack und Holtzmann zieht sich durch das Jahrhundert eine Reihe geistig wie wissenschaftlich sehr bedeutender Neubildungen, die recht eigentlich die mittlere Linie erkennen lassen, in der sich diese Bewegung vollzog. Nur der Franzose Renan gehört von Nicht-Deutschen dieser Reihe noch an. Innerhalb der Gläubigenwelt selbst hat sich gegen die Männer dieser Bewegung eine Fülle von Vorwürfen erhoben, die alle sich dagegen richteten, daß auf diesem Wege bedeutende Stücke der überlieferten Gläubigkeit verlorengegangen seien. Wichtiger aber als diese Einzeländerungen war, daß die seelische Haltung der Glaubenslehre sich wesentlich änderte. Der von alters überlieferte Glauben, auch noch der von Luther umgewandelte, war in Wahrheit weit mehr eine Sache des Gemütes als des Verstandes. Wohl hat schon das alte Christentum, etwa das des Paulus, noch mehr das der Väter, sehr viele Substanzen der Verstandesmäßigkeit in das immerfort: sich wandelnde Erbgut des Glaubens gegossen — beträchtlich viel mehr als irgend eine der außereuropäischen Religionen —; doch hat der Glauben von 1800 noch immer ein Übergewicht der rein seelischen Gewalten gegenüber den Verstandesmäßigkeiten der Lehre behauptet. Dies aber wurde beträchtlich verringert: der Glaube wurde um vieles mehr Wissenschaft.
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Vielleicht ist den Trägern dieser gottesgelehrten Bewegung selbst der seelische Sinn der Wandlung, die sich an ihnen vollzog, gar nicht bewußt geworden. In Wahrheit aber kam es auf sie mehr an als auf irgend eine der einzelnen wissenschaftlichen Entdeckungen, die hier von mehreren Generationen der bestgeschulten Gottesgelehrten gemacht wurden. Und man wird in diesem Umstände auch den tieferen Grund für die so schroffen und heftigen Gegenbewegungen finden, die diese neue Glaubenswissenschaft hervorrief. Wenn sich die rechtgläubigen Richtungen innerhalb der Kirche gegen sie mit einer Erregtheit wandten, die der offenen Feindseligkeit nahekam, so muß dies so verstanden werden. Den Gläubigen ist die sichere und in sich unantastbare Gestalt des überlieferten Kirchenglaubens der Kern ihres besten Seelengutes, und sie sehen ihn deshalb nicht als Erbe sehr wandelbarer Wissenschaftsergebnisse, sondern als eine Offenbarung der Gottheit selbst an, an die zu rühren schon wie ein Vergehen oder gar Verbrechen des Glaubens gilt. Aber auch dies leuchtet ein, daß auch die sachlichste, die objektivste Beurteilung dieses Zwiespaltes nicht zu einer gültigen »Entscheidung« führen kann. Denn zwar ist es sehr wohl möglich, über die Stärke oder Schwäche einer wissenschaftlichen, auch einer glaubenswissenschaftlichen Beweisführung ein Urteil zu fällen; aber über Recht oder Unrecht einer Glaubenslehre eine Meinung zu äußern, würde jeder seelenkundlichen Begründung entbehren: eine solche ist eine Tatsache des Seelenlebens, nicht aber ein Gegenstand wissenschaftlicher Debatte. So kann auch, was Heinrich Holtzmann zu diesen Dingen gesagt hat, zwar im Zuge einer wissenschaftlichen
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Entwicklung betrachtet werden; seine Stellung zum Glauben aber wird nur der Gläubige und auch er nur nach seiner Stellung beurteilen können, ohne damit doch die Andersgesinnten verpflichten zu können. Eine der geschichtswissenschaftlich wertvollsten Schriften Holtzmanns ist seine Einleitung in das Neue Testament, denn es ist ein Meisterstück von geschichtlichphilologischer Durchleuchtung eines über alles Maß verwickelten und verdunkeltet! Sachverhalts von schriftlichen Überlieferungen. Daß diese Durchleuchtung mit den Mitteln und zu den Zwecken entwicklungsgeschichtlicher Forschung stattgefunden hat, ist eine nahezu selbstverständliche Voraussetzung bei dieser wie jeder andern wissenschaftlichen Unternehmung Holtzmanns. Schon die ersten und elementarsten Feststellungen, die hier zu machen waren, wie die über das zeitliche und im Quellenwert zu bemessende Vorweggehen des Markus- oder Matthäus-Evangeliums sind Fragen rein entwicklungsgeschichtlicher Forschung, von allem Späteren und Einzelnen ganz zu geschweigen. Doch so hohen Wert dieses Werk in der Geschichte der protestantischen Glaubensgeschichte auch beanspruchen mag, es soll hier nicht besprochen werden, weil es allzu tief in die Einzelheiten der neutestamentlichen Schriftgeschichte eingebettet ist. Ganz anders ist Holtzmanns Neutestamentliche Theologie zu bewerten: es ist nicht nur nach Umfang und innerer Durcharbeitung die Hauptschrift Holtzmanns, sondern es ist das gründende Werk dieser Wissenschaft in der Gegenwart geworden und hat als die Gipfelleistung der protestantischen Glaubensgeschichte zu gelten.
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Dies Buch Holtzmantis ist mehr noch als alle seine Werke ein wundervolles Doppelgebilde von äußerst tief grabender Einzeluntersuchung und von großen Baugedanken, die wie ein doch nicht nur gottesgelehrtes, nein auch geistig-seelisches Grundgerüst das Ganze tragen. Holtzmann gehört zu jenem Typus des deutschen Gelehrten, der sich gar nicht genugtun kann in seinem Streben nach Vollständigkeit. Das heißt, sein Mühen ist nicht darauf gerichtet, wie er seinen Stoff in möglichster Kürze bezwingen kann, sondern seine Augen schweifen umher, um zu suchen, wie viel er von den rückwärts in die Zeiten führenden Geschehensreihen, die als Wurzeln angesehen werden möchten, und von den zur Rechten und zur Linken sich abspielenden Seitenstücken, die als Parallelen und helfende Vergleiche zu nutzen sind, mit erfassen kann. So läßt Holtzmann seinem Werke eine Einleitung vorangehen, die zuerst eine Geschichte der Teilwissenschaft der allgemeinen Theologie, der es dienen soll, dann eine begriffliche Umgrenzung und Einteilung ihres Stoffes darbietet. Wie hier schon die Querschnittsichten der Teilung und die Längsschnitte der Geschichte der Disziplinen einander kreuzen, so ist erkennbar, wie von vornherein die wesentlichen Forderungen der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise aufgestellt und erfüllt werden sollen. Eigens kennzeichnend ist auch, daß der geschichtliche Abschnitt Entwicklungsgeschichte der Disziplin benannt ist. Und es ist nicht nur Name und Begriff, die ganz im selben Sinn wie sie auf den Blättern des hier und heut vorgelegten Werkes vertreten werden, auf den Namen Entwicklungsgeschichte angewandt sind, sondern es wird eine sehr tief ins Wurzelhafte greifende Ge-
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schichte der Neutestamentlichen Theologie gegeben, die ganz nach den Grundsätzen entwicklungsgeschichtlicher Forschungsweise das Nacheinander der einzelnen Leistungen und Werke ihres Schrifttums a b ein Auseinander darstellt. Ähnlich weit nach allen Seiten ausgreifend und zugleich denkbar gründlich zu Werke gehend sind die ersten Abschnitte angelegt, die die eigentliche Darstellung von Jesus' Verkündigung unterbauen sollen. Die letzten Ausgänge des Spätjudentums werden in Kürze gekennzeichnet und doch schon hier eine Entwicklung erkennbar gemacht, die von der letzten Periode der alttestamentlichen Glaubensgeschichte, von der noch sprungkräftigen, freien und schöpferischen Prophetie zu einem immer starrer und knöcherner werdenden Gesetzeskult, den die Wissenschaft Nomismus genannt hat, übergeht. Die neuen Bewegungen des Sadduzäer- und des Pharisäertums treten auf; die zeitgenössische Gottes- und Glaubenslehre der Schriftgelehrten, der Synagoge, die beide der Überlieferung dienen, sind des Genaueren beleuchtet. Es sind auch Nebenlehren, wie die von der Engelwelt, in den Gesichtskreis einbezogen. Mit eigens eingehender Betrachtung ist der Glaubensteil, der recht eigentlich Mitte und Kern der letzten jüdischen Gläubigkeit ausmachte, in das Blickfeld gerückt: das Messiasbild früherer Jahrhunderte wandelt sich in die Vorstellung eines Gottes, der als Weltrichter auf der Erde erscheint und die Feinde Israels niederwirft. Es war in diesen apokalyptischen Gedanken, den Gedanken also einer prophetischen Enthüllung, die eine volle Lehre von den letzten Tagen der Vollendung, eine Eschatologie also, darstellten, immer90
hin noch viel von der alten Kraft der Zukunftshoffnung lebendig, die ehemals das Volk Israels bei allen Verlusten politischer Selbständigkeit aufrecht erhalten hatte. Und sie waren, worauf Holtzmann mit seinem feinen Spürsinne für psychopolitische Werte eigens aufmerksam macht, eher noch erstarkt, weil jetzt ein allmächtiger Gott an die Stelle eines Gottesboten treten sollte. Und wenn sich neben dieser Zukunftslehre noch andere bildeten, solche etwa, in denen wieder ein echter Messias in den Vordergrund trat, so waren auch diese tröstlich. Eigens wertvoll in der Entfaltung der Glaubenslehren, die als die mit Jesus' Leben zeitgenössischen zu gelten haben, erscheinen die des alexandrinischen Judentums. Dies war als die bedeutendste Kolonie der außerpalästinensischen Israeliten auch geistig von hoher Bedeutung. Und Philo, der, ein älterer Zeitgenosse von Jesus, als der schöpferischste von allen jüdischen Alexandrinern zu gelten hat, ist der Urheber von so bedeutenden Glaubenslehren, daß schon er allein Anspruch auf den Rang eines Glaubensschöpfers hat. Auch ihm nun und seinen weitgegliederten Einzellehren weist die in jedem Betracht methodisch feste entwickelnde Forschungsweise Holtzmanns eine ebenso reich ausgebildete Rolle in dem Verhältnis zwischen den alten israelitischen Glaubenslehren und der später emporgekommenen Doktrin der frühchristlichen, insbesondere der paulinischen und johanneischen Verkündungen an. Das stärkste Beweisstück f ü r die Wichtigkeit dieser entwicklungschronologischen Untersuchungen ist vielleicht die Festlegung des Logosbegriffes bei Philo, der sich als ein denkbar wichtiger Vorläufer und Wege-
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bereiter für den johamieischen Lehrbegriff dieses Namens und Gehalts erweist. Mitte und Kern der neutestamentlichen Glaubenslehre, so wie sie Holtzmann geformt hat, ist selbstverständlich Jesus' eigene Verkündung. Für deren Deutung ist vielleicht die allgemeinste, die Holtzmann ihr gegeben hat, die wichtigste. Führt wohl irgend eine Umschreibung tiefer in die Eigentümlichkeit von Jesus* Verkündung ein, als die in den folgenden Sätzen enthaltene: Wenn von einer Lehre Jesu gesprochen werden dürfe, so müsse hier von vornherein der Vorbehalt gemacht werden, daß dieser Ausdruck an sich mißverständlich sei, »sofern dadurch die Verkündigung Jesu auf das Niveau schulmäßig überlieferbarer Weisheit gerückt scheint. Und doch ist bei ihm aus den nachgewiesenen Gründen von angelernter Methodik, von abstrakten Schulbegriffen, von doktrinärer Reflexion und Systematik nie und nirgends die Rede. Nicht einmal mit den apostolischen Lehrbegriffen läßt sich seine Art, die Wahrheit mitzuteilen, vergleichen. Denn Paulus und Johannes sind schon mehr oder weniger Theologen. Hätte dagegen Jesus seine Sache auf einen Zusammenhang jüdischrabbinischer oder hellenistisch- metaphysischer, supernaturalistischer oder rationalistischer Lehrstücke gründen wollen, so wäre sein Auftreten, wie es die Evangelisten erkennen lassen, einfach zweckwidrig gewesen. Während beispielsweise der erste Teil vom Römerbriefe oder der Prolog von Johannes es auf eine zusammenhängende Entwicklung von Vorstellungsreihen abgesehen haben, die sich zu einer Weltanschauung zusammenschließen, will jede seiner Reden nach der besonderen Veranlassung oder Beziehung,
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welche die Umstände darbieten, bemessen sein, und so kann er in verschiedenen Situationen buchstäblich Widersprechendes sagen, wie Matthäus 12^ und Lukas und Lukas 9 M . Nie ist es ihm 11M oder Markus überhaupt um Befriedigung des Wissenstriebes, um Ordnung und Sichtung einer Gedankenwelt, immer nur um Lösung praktischer Aufgaben vermittelst des Glaubens an eine Welt göttlicher Wahrheit zu tun 1 .« Hier ist in eine kurze Reihe von Sätzen das Ureigentümliche von Jesus' Verlautbarungen, die immer nur Predigt, niemals aber Darlegung und Bewertung waren, zusammengedrängt. Mit vollem Recht aber verwahrt sich Holtzmann gegen eine Deutung von Jesus' Verkündung, die nun wieder in das Gegenteil verfallen und beweisen will, daß man aus den Worten, so wie sie überliefert seien, nur zusammenhanglose Bruchstücke, nicht aber Äußerungen großen Stiles gewinnen könne. Für das Verhältnis von Jesus zum entwicklungsgeschichtlichen Gedanken oder vielmehr für Holtzmanns Auffassung von ihm ist entscheidend die Vorstellung, die er von der Entwicklung in Jesus' Lehre hat. Er unterscheidet in ihr drei Abschnitte 2 : der erste ist das Hindurchringen zu dem Gedanken der Messianität, der zweite führt zu einer Erweiterung des messianischen Programms, in Folge deren, wenn nicht die Heidenwelt, so doch einzelne Heiden in den Umfang derer, denen Jesus seine frohe Verkündigung zu bringen gedenkt, einbezogen werden, und endlich die Aufnahme des Leidensgedankens in Jesus' Lebensplan, 1 Holtzmann, Neutestamentliche Theologie I 124. « Ebd. 235.
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d. h. also die Erkenntnis, daß nur das Opfer von Jesus* eigenem Leben sein Werk vollenden könne. Man sieht, es ist eine großartige Stufenfolge von immer höheren Gedanken in dieser Auffassung: die beiden großen Steigerungen führen dies Leben, das von höherem Rang als das aller andern sterblichen Menschen ist, zuerst aus der Enge eines national-jüdischen Messiastums zu dem weltweiten Gedanken einer an das Menschengeschlecht gerichteten Heilsbotschaft, sodann zu dem größten, dem letzten, tragenden Plan eines Opfertodes für die zu bekehrende Menschheit. Auch hier muß die Lehre von den letzten Tagen, die Eschatologie, die Krönung des Ganzen bilden. Holtzmann geht hier wieder systematisch vor: er behandelt neben einander die Lehren vom Menschensohn, vom Gottessohn, vom Messias und vom Gekreuzigten, und er schließt mit der Geschichte der Auferstehung und Wiederkunft von Jesus, von der Eschatologie und ihren Zusammenhängen mit der religiösen und sittlichen Verkündung von Jesus. Wie Holtzmanns Verfahren ist, geht aus diesen Stükken seiner Darstellung zur Genüge hervor; wie das Urchristentum der ersten Zeiten, wie die Bildung der ersten geschichtlichen Überlieferung von Jesus* Lehre und Leben durch die Synoptiker und wie schließlich der Kanon des Neuen Testaments zu Stande kommt, das bildet den Abschluß der ersten Hälfte von Holtzmanns Werk; doch sollen diese Teile ebenso wenig wie die Darstellung des paulinischen und des johanneischen Christentums im einzelnen beleuchtet werden. Eine Änderung findet weder im großen Bau noch im einzelnen Verfahren statt; Fähigkeit des zergliedernden
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Verstandes, bauende Kraft der Wiedergabe, Inspiration der Seelenkunde bleiben. Wenn es darauf ankam, ein Beispiel hoher glaubenswissenschaftlicher Fähigkeit aufzustellen, so ist Holtzmann dafür eigens gut gewählt. Nicht vielleicht insofern, als wenn von ihm ihr höchstes Maß erreicht wäre, wohl aber weil hier auf dem Wege einer äußerst glücklichen Vereinigung von wissenschaftlicher Arbeitskraft mit spürender Seelenkunde ein, wenn nicht geniales, so doch höchst wertvolles Erzeugnis bauender Wissenschaft geschaffen worden war. Holtzmann hat auf manche Wirkungen höchsten Ranges wie mit Absicht verzichtet. Er war noch nicht einmal darauf bedacht, seinem Werk das Gewand völlig ausgeschliffener Prosa zu geben. Ihm lag mehr daran, eine Fülle von Zitaten aus dem Neuen Testament und aus dem zeitgenössischen Schrifttum zu versammeln, als mit seinen gelehrten Darlegungen eine literarische Wirkung zu verbinden. Er nahm es sich nicht übel, seine Schriften, mit denen er doch sehr wohl auch die Seele seiner Leser beeindruckte, so formlos wie etwa eigene Notizen stehen zu lassen, alle Teile des Neuen Testaments nur durch Siglen zu bezeichnen, kurz, die äußere Form seines Werkes eigens lässig zu behandeln. Der innere Wert des Buches ist dadurch kaum gemindert worden; für das seelische Verhältnis des Verfassers zu seinem Werk ist dieser Tatbestand doch kennzeichnend. Man wird Wert und Rang von Holtzmanns Werk so hoch bemessen müssen, daß ihre Bedeutung noch nicht einmal mit den Grenzen seines Gebiets zusammenfällt. Wollte man auch unter den Standardwerken der Nachbarbezirke im Reich der geschichtlichen Wissenschaf-
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ten Umschau halten, so würde man vergeblich nach Schriften suchen, die als Leistungen der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise als dem Werk Holtzmanns oder dem Gneists oder gar Jacob Burckhardts ebenbürtig angesehen werden dürften. Am erstaunlichsten ist die Lücke wohl dort, wo die eigentliche Schwester der Kunstgeschichte, die Schrifttumsgeschichte in Betracht kommt. Scherers Deutsche Literaturgeschichte reicht wohl in keiner Geschichtslinie über die Grenzen der beschreibenden Geschichte fort, und wenn hier und da auch Schriften aufgetreten sind, die wie Casparys Italienische Literaturgeschichte oder Hayms Geschichte der Romantik eine mittlere Linie zwischen beiden Forschungsrichtungen einhalten, so ist doch weder die Ebene Holtzmanns, noch gar die Jacob Burckhardts erreicht. Und ähnlich ist es um die Wissenschaftsgeschichte bestellt mit Ausnahme allenfalls von Zellers Griechischer und Windelbands Allgemeiner Philosophiegeschichte, von denen namentlich Windelbands Werk als ein Erzeugnis echter Entwicklungsgeschichte anzusehen ist. — Sucht man von allen diesen hier aneinander gereihten Feststellungen und Erwägungen die Summe zu ziehen, so ist zuerst Vorkehr zu treffen, daß sich hier nicht Mißverständnisse einschleichen, die wohl, wo so entgegengesetzte Meinungen sich gegenüber stehen, aufkommen können. Vor allem ist festzuhalten, daß die Unterscheidungen, die hier gemacht werden sollten, nicht Wertungen in sich schließen sollten. Daß Ranke, der hier grundsätzlich als oberster Vertreter der beschreibenden Geschichtsforschung angesehen wurde, unter allen deutschen Geschichtsforschern, die im neunzehnten Jahr-
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hundert aufgetreten sind, als bei weitem der Glänzendste und der Geistesstärkste anzusehen ist, wird schwerlich irgend welcher Anzweifelung ausgesetzt sein. Wohl hat er, und zwar auch an den geistig wertvollsten Stellen seiner Werke, Äußerungen getan, die den Stempel ausgesprochen entwicklungsgeschichtlicher Forschungsweise an sich tragen. Von allen die wesentlichste mag jene sein, an der er die drei größten Ereignisse der mittelalterlichen Geschichte — die Völkerwanderung, die Kreuzzüge und die Besiedlung Amerikas — zusammenfaßt und sie in einem schönen Gleichnis die drei Atemzüge der europäischen Völkergesellschaft nennt. Kein Zweifel, daß hier das große Geschichtsgeschehen der Völkergemeinschaft als eine Lebenseinheit, eine Geschichtseinheit angeschaut wird und somit auch im innersten Kern eine entwicklungsgeschichtliche Idee zur Dominante für zwei Jahrtausende europäischer Geschichte erhoben wird. Aber das ist ein hingeworfener Gedanke, der im mindesten nicht zur tragenden Idee, zum Rückgrat f ü r ein Knochengerüst der Geschichte dieses Zeitalters erhoben wird. Alle tiefste Leidenschaft Rankes galt der möglichst getreuen Wiedergabe der herrschenden Menschen und ihrer einzelnen Beweggründe. Daß er dieser Aufgabe mit so großer Meisterschaft gerecht wurde, war genug für Werk und Leistung auch des größten Geschichtsforschers der Deutschen. Dieser an sich unanfechtbare Tatbestand entbindet aber die Verfechter der entwikkelnden Geschichtsforschung nicht im mindesten von ihrer natürlichen Verpflichtung, da, wo es nottut, die Abweichungen ihrer Lehrmeinung auch von der Weise dieses hohen Meisters ruhevoll und ohne Eifer geltend zu machen. 7 Brcyalg
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In sehr viel minderem Maße, aber immer noch bedenklich genug, erwächst die Sorge, daß die hier vertretene Lehre ohne Not den Anschein erweckt, als wolle sie anderen Geschichtsschreibern von Rang und Wert nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen, was ihre Absicht doch im mindesten nicht sein darf. Die wesentlichste Schwierigkeit, um die es hier geht, ist die immer von neuem wiederkehrende Vermischung beider Gattungen der Geschichtsforschung, die hier in die Augen fallt. Sybel, der zwar gewiß nicht in irgend einem starken Sinn das von Ranke begonnene Werk gefordert hat, ist doch durchaus nicht rein beschreibender Geschichtsforscher. Sein Buch über den Geschlechterstaat der Germanen, das mit so viel Scharfsinn und so viel Recht die einzig richtige Auffassung vom frühen Staatswesen der Germanen vertreten hat, ist seiner ganzen Haltung nach durchaus entwicklungsgeschichtlich. Auch das sehr kostbare Buch vom Ersten Kreuzzug zeigt in seinen Gesamtcharakteristiken weit mehr Neigung zu entwickelnder als zu rein beschreibender Auffassung. Nur die umfassenden Werke von Sybels Hand: die Revolutionszeit und vollends die Gründung des Deutschen Reiches sind ihrer überwiegenden Auffassung nach weit mehr beschreibender als entwickelnder Natur. Wenn dabei ein Urteiler wie Bismarck von dem ihn selbst angehenden Werk eine so ungünstige Meinung hegte, so war dies sicher zu einem nicht geringen Teil das Erzeugnis der allzu dürren, weder feurigen noch gedankenreichen Einzeldarstellung in Sybels Buch; diese hätte aber doch auch durch eine Zusammenfassung der Einzelgeschehnisse zu den großen Zügen einer Längsschnittentwicklung wieder wettgemacht werden können.
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In hohem Grade Mischung beider Gattungen ist Treitschkes Darstellungsweise. Seiner Grundneigung und sicher auch seiner Grundanlage gemäß, war er ein Mann und ein Meister der beschreibenden Geschichtsforschung. Denn er konnte so seine besten Gaben, die eines leidenschaftlichen Nachfühlens menschlicher Regungen und Bewegungen und die einer feurigen Farbengebung für alle Bildniskunst und für die Wiedergabe aller Einzeltat, bei weitem am häufigsten und am unmittelbarsten anwenden. Dennoch wird man vornehmlich der breiten Schilderung der Zustandskapitel und noch weniger dem breiten Strom der einleitenden Bücher seiner Werke das Hineinragen entwicklungsgeschichtlicher Bestrebungen absprechen können. Im Ganzen aber war eine solche Neigung so wenig seine Sache, daß man Treitschkes doch in Wahrheit nicht eigentlich auf irgend welche Förderung der forscherlichen Aufgaben der Geschichte gestellteWeise doch im Wesentlichen darauf zurückführen muß, daß ihm an der Aufdeckung großer entwicklungsmäßiger Zusammenhänge so gut wie nichts lag. Derlei Längsschnitterscheinungen waren ungefähr das Gegenteil von all dem, was ihm an der Geschichte Teilnahme einflößte. Die Männer der jüngeren, erst auf Treitschke folgenden Generation, so namentlich Mareks und Meinecke, haben auf das glücklichste beschreibende und entwickelnde Forschung miteinander verbunden. Mareks' unendlich feine Psychologenkunst hat seine Bildnisse überwiegend im Sinne beschreibender Forschung abgefaßt, sie doch mit der subtilsten Einzelzeichnung bis ins letzte hinein verfeinernd; zugleich aber hat er vornehmlich in den Übersichten und Einleitungen seiner
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kleineren, oft biographischen Werke Meisterstücke entwickelnder Geschichtsforschung aufgebaut. Meinecke aber hat in den beiden Stadien seiner Forschungsentwicklung zuerst ein bedeutendes Werk von im wesentlichen beschreibender Grundrichtung, später mehrere Schriften meisterlicher Entwicklungsgeschichte geschrieben. Weit in den Vordergrund treten die Arbeiten Brackmanns,die, wie etwa in den Forschungen zur Geschichte des Papstes Gregor, auf dem Grund exaktester Beschreibung Meisterstücke entwickelnder Lebensgeschichte aufgebaut haben.
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ZWEITES BUCH DIE THEORIE DER ENTWICKELNDEN GESCHICHTSFORSCHUNG
ERSTER
ABSCHNITT
DIE FORSCHUNGSWEISE DER ENTWICKLUNGSGESCHICHTE
Unter beschreibender Geschichtsschreibung soll nichts Anderes verstanden werden, als diejenige Geschichtswissenschaft, die von der Einzeltatsache, soweit sie überliefert ist, ausgeht und die in der gewissenhaften und genauen Zusammensetzung der Mosaikstücke des überlieferten Bildes die eigentliche und endgültige Aufgabe ihres Amtes sieht. Entwickelnde Geschichtsschreibung aber soll in einigem Gegensatz zur beschreibenden diejenige genannt werden, die in der Aufdeckung der Zusammenhänge 103
und somit der in zeitlicher Abfolge miteinander verkettetes Längsreihen der geschichtlichen Ereignisse ihre Hauptaufgabe sieht. Damit das geschehe, werden freilich dem Begriff der Entwicklung die betontesten und stärksten Folgerungen für den Sinn der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise gegeben werden müssen. Und fast alle diese Folgerungen laufen auf die Handhabung eines und desselben Werkzeuges hinaus: auf die Anwendung des Vergleichs. Die nimmer müde, sich nie an Schärfe, nie an Häufigkeit, nie an Tragweite des Sehens genugtuende Vergleichung: auf sie kommt fast alles an in dieser Forschungsweise. Nur durch Vergleich sind schon die Begriffsabgrenzungen zu gewinnen, die an erster Stelle zu fordern sind, sie zunächst durch Vergleich im Querschnitt, im begrifflichen und räumlichen Nebeneinander, demnächst im Längsschnitt, im zeitlichen Nacheinander. Durch Vergleich ist ebenso die erste Forderung, die das Nebeneinander, den Querschnitt durch die Zeit angeht, zu erfüllen, wie die zweite, die die Zusammenordnung aller begrifflich gleichartigen Bruchstücke des Stoffes im Längsschnitt der Zeitfolge verlangt. Die Teilung und Schlichtung des an sich wirren Gemenges der durch die Zufalle der Überlieferung und das Ineinandergreifen des Lebens schlimm durcheinandergeworfenen Einzeltatsachen führt zunächst zu einer wesentlichen Vereinfachung des Bildes der Überlieferung. Die von ihr hergestellten Ordnungen verringern dann die von der Überlieferung übergebene, oft unabsehbare, meist an sich ermüdende Menge der Einzeltatsachen, indem sie erlauben, ja gebieten, die endlosen Wiederholtheiten des Geschehens 104
auf Sammelbeobachtungen zurückzuführen, auf allgemeine Zusammenfassungen und artvertretende Einzelbeispiele, und an die Stelle endloser, wenig oder gar nicht voneinander abweichender Einzeltatsachen die abgekürzten Bilder von Handlungsweisen oder Persönlichkeitsformen zu setzen. Die hier genannten Forderungen beziehen sich auf beide Möglichkeiten der Anordnung des historischen Stoffes: auf die im Querschnitt jeglichen Nebeneinanders, wie auf die im Längsschnitt jedes Nacheina n d e r . Obwohl der Gesamtbegriff der Entwicklungsgeschichte in seinem Namen lediglich das Nacheinander von Längsschnitten der Zeitfolge hervortreten läßt, muß die Anwendung des obersten und grundsätzlichen Gebotes der Begrifflichkeit zunächst auf die Vergleiche im Querschnitt angewandt gedacht werden, weil hier nur die eine Schwierigkeit zu überwinden ist, nämlich die auf der einen Ebene der Gleichzeitigkeit sich vollziehende Ordnungs- und Schlichtungsarbeit. Dagegen erfordert die Anwendung des Grundsatzes der Entwicklungsgeschichte auf die im Längsschnitt der Zeitfolge, von der sie ihren Namen entlehnt, durchzuführenden Ordnungen erstens die weitere Verwendung der zweckmäßig schon f ü r die Behandlung des zeitlichen Nebeneinanders gefundenen Begriffe und Teilungen und zweitens stellt sie mit der neuen Forderung der Ermittlung der in Längsschnitt und Zeitfolge entstehenden Änderungen eine weitere und noch schwierigere Aufgabe. Ganz gewiß aber beruhen diese Feststellungen ganz ebenso wie die Untersuchungen des Querschnittes auf der unermüdlichen und folgerichtigen Handhabung des Vergleichs: die erste Absicht, die in dieser 105
Richtung zu verfolgen ist, bezieht sich auf die Herstellung von Entwicklungsreihen, d. h. die begrifflich richtige, tatsächlich gegründete Zusammenordnung der auseinander folgenden Einzeltatsachen. Die zweite aber will diese Entwicklungsreihen a b Ursachen sehen und deuten. Sie wird sie so weit rückwärts zu verfolgen trachten, als nur irgend denkbar und möglich ist. Immer werden diese Teilbegriffe des Insgesamt der entwicklungsgeschichtlichen Forschungslehre auf die Teilbegriffe des Gesamtbegriffs der Entwicklung zurückgeführt werden können. Man gewahrt sogleich, daß der hier als namengebend gewählte Begriff Entwicklungsgeschichte nicht ohne einige Willkür gesetzt worden ist. Es wäre durchaus möglich, die Form der Geschichtsforschung, deren Weg und Weise abschließend betrachtet werden soll, Begriffsgeschichte zu nennen oder von ihr a b Kausalgeschichte zu reden. Der Name Entwicklungsgeschichte aber verdient vielleicht u m deswillen den Vorzug, weil hier, wenngleich nach der Losung pars pro toto nur ein Teil des Gesamtgeschehens als namengebender herausgehoben wird, doch eben dasjenige Teilgeschehen auf diese Weise ausgezeichnet wird, das in der Tat a b das bezeichnendste auf diesen Vorrang den meisten Anspruch hat. Der Gesamtbegriff, oder wie auf diesen Blättern immer aus guten Gründen sehr viel lieber gesagt werden möchte, das Gesamtgeschehen Entwicklung läßt sich, wie des genaueren dargelegt worden ist 1 , in drei Urbestandteile auflösen: in Dasselbigkeit — * Geschichte der Menschheit I (1907) 52ff.
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Beharrung — Veränderung und Selbstgenügsamkeit — Autarkie —. Damit das Anderswerden und das Verharren recht erkannt werden, wird eine noch elementarere, ganz tief gründende Vorarbeit 1 notwendig sein: die Einzeltatsachen hinlänglich sicher festzulegen, und das kann nur geschehen zunächst — das ist die selbstverständliche Voraussetzung der hier noch folgenden, der eigentlich entwicklungsgeschichtlichen Forderungen — durch getreue Wiedergabe des überlieferten Tatbestandes, zum zweiten aber vermittels sehr genauer begrifflicher Abgrenzung auch schon der Einzeltatsachen: die Anwendung unverbrüchlich festgehaltener und sehr scharf umrissener Bedeutungen für alle zur Beschreibung von Menschen und Dingen angewandten Worte ist die erste Voraussetzung entwickelnder Geschichtsschreibung. Ehe eine Verfassungseinrichtung als Königtum, eine Standesteilung als Adel gekennzeichnet wird, muß mit begrifflicher Schärfe festgestellt werden, was unter Königtum, was unter Adel zu verstehen ist. Dieser ersten entspricht für die im engeren Sinn entwicklungsgeschichtliche Forschung die weitere Forderung, daß ein Begriffsnetz geschaffen werde, das allen in der Folge der Zeiten verglichenen oder doch Wirklichkeit gewordenen Abweichungen und Mannigfaltigkeiten von vornherein gerecht wird. Und die dritte Forderung ist anzuschließen, daß, wo die Begriffe und die sie deckenden Worte Wandlungen 1
Die Bearbeitung des Kausalitätsproblems, auf die es hierbei am meisten ankommt, soll dem IV. und letzten Band (Der Sinn der Geschichte) der noch nicht abgeschlossenen Reihe, die mit dem Bande Natur- und Menschheitsgeschichte anhebt, vorbehalten werden.
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im Laufe der Zeiten erleiden, Maßstäbe hergestellt werden müssen, die in den Stand setzen, an einer Stufenleiter alle diese Abwandlungen abzulesen. Daß dies sehr oft erst das Ergebnis eindringlicher einzel-, d. h. tatsachengeschichtlicher Forschung sein kann, ist selbstverständlich; aber es ist ein anderes, ob die Beschaffung dieses notwendigsten Hilfsmittels bei solcher Arbeit immerfort als Nebenziel im Auge behalten wird, oder ob man sich ohne Bedenken und nach Gefallen mit der gerade in den Quellen sich darbietenden Ausdrucksweise behilft. Der Vergleich im Nebeneinander geht unmittelbar, wie leicht verständlich ist, den Begriff der Entwicklung nicht an, die ja ein Nacheinander, das Nacheinander schlechthin, bedeutet. Immerhin aber schafft nur er die Voraussetzungen für die Herstellung dieses Nacheinander. Es handelt sich hierbei um die Einordnung des Rohstoffs in die für die geschichtliche, genauer gesagt entwicklungsgeschichtliche Erkenntnis notwendigen Zusammenhänge. Man sieht sogleich, wie tief damit alle Grundfragen und Gegensätze der verallgemeinernden und absondernden — generalisierenden und differenzierenden — Forschung, der massen- und einzelgeschichtlichen Auffassung, der Wertung der Masse und des Einzelnen berührt werden. Hier tritt der innere Zusammenhang der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise mit allen Kollektivismen zutage, von dem schon einmal im Lauf meiner Untersuchungen die Rede war1. Und doch kann auch hier und gerade hier der schein1 Vom geschichtlichen Werden I (Persönlichkeit und Entwicklung 1925) 131 f.
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bar unversöhnliche Gegensatz zu einer höheren Einheit aufgelöst werden. Alle diese Vergleichung des Nebeneinander der Einzeltatsachen zum Zweck der Zusammenordnung in Gruppen der gleich oder ähnlich gearteten Dinge ist notwendig zuerst freilich u m der zusammenfassenden und demnächst verallgemeinernden Bewältigung des Rohstoffes willen; aber ebenso sehr ist sie die unentbehrliche Voraussetzung f ü r die Ausfindigmachung jeder Einzelnheit, Einzigkeit, von der leisesten Schattierung halber Wiederholung bis zum stärksten Überragen über den Durchschnitt. Erst wenn erwiesen ist, daß der Einzelne oder die Einzeltatsache wirklich einzeln sind, dann haben sie ein echtes Recht darauf, daß die Geschichte ihrer gedenke: alle übrigen Menschen wie Dinge verfallen mit dem gleichen Recht einer die Massen, die Wiederholtheiten sammelnden, in irgendeinem Grade also kollektivistischen Darstellung. Deren Hilfsmittel sind vornehmlich zwei, erstlich die—farbenstärkere, lebensnähere — Herausstellung artvertretender Einzelfälle und zweitens die—blassere, in vielen Fällen dennoch unentbehrliche — Summierung verallgemeinernder, formelhafter, in der letzten Folgerung zahlenmäßiger, statistischer oder gar kurvenhaft-zeichnerischer Darbietung. Aber auch die andere, an sich höhere Art der Bearbeitung, die Darstellung der Einzigkeiten von Einzelmenschen und Einzeltatsachen, wird der Anwendung von ähnlich scharfen Hilfsbegriffen, wie sie f ü r jene Sammelbeobachtungen notwendig sind, nicht entraten können: möglichst scharf kennzeichnende, möglichst weitgreifende, niemals aussetzende Vergleichung kann auch hier n u r die Losung sein. 109
So werden die Menschen, die Einzelhandlungen der niederen und Durchschnittsgrade, soweit es ihre Gleichheit oder Ähnlichkeit zuläßt, zu Menschenformen, Handlungsweisen zusammengefaßt werden, die Einzelmenschen, Einzelhandlungen aber, die als einzige erkannt sind, scharf herausgehoben und um ihrer selbst willen dargestellt werden können. Daß hier die Begriffe der Gleichheit, der Ähnlichkeit, der Wiederholtheit, der Masse, des Durchschnitts und die verwandten Begriffe, die als maßgebend in Betracht kommen, immer nur graduell verstanden werden wollen und müssen, ist selbstverständlich. Man wird bei der Zusammengesetztheit und Mannigfaltigkeit der menschlichen Handlungen fürs Erste und noch lange Zeit nicht dahin kommen, sichere Teil- und Grenzbegriffe für die Art und Stärke der menschlichen Handlungen zu gewinnen. Und so wird auch lange genug ein weiter Spielraum für die diskretionäre Gewalt, die scheidenden und unterscheidenden Befugnisse des Geschichtsforschers verbleiben. Die dritte Forderung der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise, die den Vergleich im Nacheinander, die Herstellung der Entwicklungsreihen des Längsschnitts der Zeitenfolge will, die entwicklungsgeschichtliche Forschung im engeren Sinn, kann in der Handhabung ihrer Mittel sich nicht wesentlich von den ordnenden Arbeiten des Querschnitts unterscheiden. Ihre Arbeitsweise ist ohne weiteres aus den beiden Teilbegriffen des Gesamtbegriffs Entwicklung abzuleiten: das Anderswerden wie das Fortbestehen sind nur durch sie und durch die Handhabung des Werkzeugs der Vergleichung zu ermitteln. Die Vergleichung, die mit möglichst scharf abgegrenzten HilfsIIO
begriffen möglichst leise und feine Abwandlungen feststellt, wird auch in dem Nacheinander der Menschen und der Dinge einen Teil ihres Amtes darin sehen, ordnend, zuteilend, d. h. Gruppen bildend, vorzugehen. Oft sind selbst die Namen der grenzbildenden Begriffe die gleichen für das Nach- wie das Nebeneinander: unter den Schulen der Forscher, der Künstler, den Methoden der Forscher, den Stilen der Künstler versteht man Gemeinschaften dort, Handlungsweisen hier, die sich ebensowohl in das Nach- wie in das Nebeneinander der Zeit erstrecken. Die letzte und sicherlich schwierigste Aufgabe des Geschichtsforschers in diesem Bereich — wenn nicht überhaupt — muß die Beobachtung von Nach- und Nebeneinander vereinigen: wer die Verläufe von zwei Verfassungs- oder zwei Glaubensentwicklungen nebeneinander zu stellen unternimmt, muß beide Formen des Vergleichs in enger Verknüpfung vereinigen. Man wird mit einem leicht faßlichen geometrischen Bild etwa folgende Aufgaben-Formulierung aufstellen können. Das Nebeneinander, d. h. das Bild von gleichzeitigen Zuständen, kann am ehesten auf die Weise begrifflich beherrscht und durchdrungen werden, daß über den Wirrwarr der an sich ordnungslosen Einzeltatsachen ein Netz von möglichst nah an die Wirklichkeit angenäherten und doch in sich geschlossenen Teilbegriffen gebreitet wird. Soll nun aber das Nacheinander einer Zeitfolge solcher Zustände, d. h. also die eigentlich entwicklungsgeschichtliche Aufgabe dieser Wissenschaftsform gelöst werden, so muß in gewissen Zeitabständen, etwa alle 25 oder 30 Jahre, das gleiche BegrifTsnetz über einen Tatsachenbereich gebreitet werden, der dem zuletzt bearbeiteten konIII
form ist. Aus der Vergleichung von zwei aufeinander folgenden, in diesen Begriffsnetzen aufgefangenen Tatbeständen muß sich ergeben, was man Entwicklung zu nennen berechtigt ist. Die Gleichmäßigkeit der immer wieder im selben Sinn ausgebreiteten Netze von Teilbegriffen gewährleistet die Richtigkeit der nun abzulesenden Summe von Veränderungen hier, von Dasselbigkeiten dort; auch der dritten hier aufgestellten Forderung, auch die Eigenwüchsigkeit, die Autarkie der Entwicklungsreihen festzustellen, wird eben durch die Konformität der Begriffsnetze selbst genügt. Die letzte Gruppe von Forderungen, die die entwicklungsgeschichtliche Forschungsweise an sich zu stellen hat, die aus diesem dritten der Teilbegriffe herzuleiten ist, entstammt dem Gedanken der Selbständigkeit, der Eigenwüchsigkeit, der Autarkie, der zum mindesten überwiegenden inneren Verursachtheit einer Ereignisfolge. Hier aber kommt alles auf die Wucht, fast sollte man sagen die Leidenschaft an, mit der dem Begriff der Verursachtheit werktätige Folge gegeben wird. Denn eine lockere ursächliche Verkettung der nach, auf und auseinander folgenden Einzelgeschehnisse war von jeher auch der ganz beschreibenden Geschichtsforschung Bedürfnis. In scharfem Unterschiede, oft in schroffem Gegensatz zu solcher mehr gelegentlicher und läßlicher, mit den kürzesten Entwicklungsstrecken sich begnügender Ursachenaufsuchung wird der Einsicht in das Wesen der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung als die notwendigste Forderung erscheinen, grundsätzlich möglichst weite Strecken der Bahn rückwärts ins Auge zu fassen, um die Ursachen eines Geschehens zu erkunden. 112
Das Wieweit dieses Rückwärts wird von der Besonderheit des Falles abhängen; aber als ein allgemeines Gebot wird sich die Regel aufstellen lassen, daß dieses Rückgreifen immer erst dort ein natürliches Ende findet, wo die Spuren des Entwicklungszusammenhanges, in den das Geschehen gehört und der zugleich seine natürliche Ursachenkette bildet, aufhören: wo der gleiche Faserstrich im Stammholz des Geschehens aufhört, wo andere, weiter nach der Wurzel zu gelegene Verflechtungen einsetzen, wo also, um bei diesem Gleichnis zu bleiben, ein anderer Balken beginnt, da muß eine neue Ursachenverkettung angenommen werden. Für die werktätige Ausführung mag dieses Gebot an sich nicht allein umständlich, sondern fast bis zur Unmöglichkeit schwierig erscheinen. In Wahrheit lösen sich von diesen Schwierigkeiten aber sehr viele dann ohne jede besondere Bemühung, wenn die Arbeit eines Geschichtsforschers oder, gar ganzer Schulen grundsätzlich auf die Herstellung langer Entwicklungsreihen und also auf lange Ursachenverkettungen gerichtet ist — wie es zum Glück schon in ganzen Sonderbezirken der Geschichtsforschung, in der Rechtsgeschichte wohl am folgerichtigsten, aber auch in der Wirtschafts-, in der Verfassungs-, in der Verwaltungsgeschichte, am längsten in der Geschieht« der bildenden Kunst von Winckelmann bis zu Wölfflin der Fall ist. Eine weitere natürliche Schranke findet die Befolgung dieses Gebotes in dem willkürlichen Recht jedes Forschers, seiner Arbeit die zeitlichen Grenzen zu ziehen: er muß einen Anfangspunkt, einen terminus a quo haben, über den hinaus rückwärts zu gehen er von 8
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vornherein ablehnt. Und man wird leicht begreifen, daß es ein anderes ist, ob eine Entwicklung wie ein Fließendes, schon längst im Fluß Befindliches von einem bestimmten Anfangspunkt an dargestellt wird, und sei dieser auch noch so willkürlich gewählt, oder ob sie ohne viel Sorge um ihr Vorher in das Bild einer Untersuchung eintritt. Die nächste Begründung findet die Forderung, daß alle Verursachung so weit ab möglich nach rückwärts verfolgt werden möge, in dem Wesen des Gedankens der Verursachimg selbst: er fordert immer von neuem, für die Wirkung die Ursache zu finden und diese Ursache selbst als Wirkung einer anderen Ursache anzusehen. Die letzte Stütze aber hat diese Zielsetzung in jener Anschauung von dem Ganzen der Menschheitsgeschichte, wie sie in den der hier vorgelegten Beweisführung voraufgegangenen Büchern begründet wurde 1 . Gelangt man zu der Überzeugung, daß auch die Gestaltung der einzelnen Entwicklungsstrecke zwar nicht ganz, aber mutmaßlich immer zu einem Teil durch den Bahnenbau des Insgesamt der Menschheitsentwicklung bestimmt wird, so wird jedes Weiterrückwärts-Verfolgen einer Geschehensreihe, einer Ursachenkette zum grundsätzlichen Gebot. Als letzte Folgerung für die werktätige Einrichtung der Forschungsarbeit ergibt sich hieraus die Forderung, daß das Ganze der Menschheitsentwicklung immerdar im Auge behalten werden muß, soll auch die letzte, entlegenste Einzelforschung im rechten Geist und in der rechten Richtung geführt werden. Die Allgemeingeschichte der Menschheit hat in dieser Erwä1
Vgl. Vom geschichtliches Werden III (1928) 9.
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gung ihre beste Begründung; ab ein Sonderzweig, man möchte sagen als eine Spezialwissenschaft unter allen anderen muß sie in jedem Zeitalter betrieben werden, mag sie auch noch so wenige von ihren Zielen erreichen können. Denn hierin ist sie nicht allein an ihre eigenen Unzulänglichkeiten, sondern ebenso sehr an die Mängel der übrigen, der eigentlichen Sonderwissenschaften der Menschheitsgeschichte gebunden. Insbesondere heut ist die Lage dieser Allgemeingeschichte schwierig, da sie trotz mancher im Wollen verdienstreicher Anläufe im achtzehnten Jahrhundert, trotz des großen Versuchs von Herder, auch heut, wenn sie sich nicht auf den begrenzt europäischen Standpunkt stellt, ihr Werk völlig neu beginnen muß. Die seltsame und ein wenig kleinliche Eifersucht der Einzelforscher, die sich gebärdet, als würden ihre Ergebnisse entwertet, wenn sie einem größeren Ganzen einverleibt werden, wird sie in diesem Werke nicht hindern können, ebenso wenig der Einwand, es dürfe keine Geschichtsforschung geben, die nicht immer und überall auf die ersten und auf alle erreichbaren Quellen zurückgehe. Denn es ist ja offensichtlich, daß dann niemals eine Allgemeingeschichte der Menschheit geschrieben werden dürfte, vielmehr jeder Versuch dazu in den ersten Anfangen, in den ersten von ihr in Angriff genommenen Sondergebieten haften bleiben müßte. Und es wird ebenso wenig geleugnet werden können, daß sich eine vergleichende Weltgeschichtsforschung gewissenhafter Weise sehr wohl auf die Ergebnisse der Einzelforschung stützen darf, wenn anders sie nur dabei mit der gleichen Sorgfalt diese Erzeugnisse zweiter Hand benutzt, wie die Einzelforschung die Quellen erster Hand. Würde
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doch sonst die Einzelforschung ihre eigene Sicherheit in Frage stellen wollen. Wenn bei solchem Verfahren tausend Mängel der Erkenntnis und ebenso viele Irrwege der Einzelforschung und der Einzelforschungsweise zutage kommen, so wird dies nicht einen Grund gegen, sondern für das Daseinsrecht der vergleichenden Menschheitsgeschichte bedeuten. Nur aus dem ehrlichen und freundlichen Zusammenwirken der Einzelforschung mit der Allgemeinforschung, die ja immer nur auf einen kleinen Bruchteil der Gesamtarbeit und der Gesamtzahl der Geschichtsforscher wird Anspruch machen dürfen, kann hier der Nutzen entstehen, dessen die Gesamtwissenschaft der Geschichte durchaus bedarf. Der wunderliche, fast fanatische Haß, mit dem häufig die Allgemeinforschung von den Einzelforschern betrachtet wird, ist ebenso ungegründet wie unklug. Die ehrlichen Maklerdienste, die nur die von Sondergebiet zu Sondergebiet schweifende Allgemeinforschung leisten kann, sind den Einzelwissenschaften ebenso nützlich, ja unentbehrlich, wie der universalen Geschichtsforschung selbst.
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ZWEITER ABSCHNITT ORDNUNGSFORMEN DES GESCHICHTLICHEN GESCHEHENS
ERSTES STÜCK UNTERSCHIEDE DER UND DER
ENTWICKELNDEN
BESCHREIBENDEN
GESCHICHTSFORSCHUNG Alle Erwägungen über den Unterschied zwischen beschreibender und entwickelnder Geschichtsforschung, auf den es bei allen den Untersuchungen, die auf diesen Blättern angestellt werden sollen, zuerst und zuletzt ankommt, lassen sich auf eine einzige, letzte, wenn auch grundsätzlichste Äußerung der hier aufgestellten Grundregeln einer entwickelnden Ge-
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schichtsforschung zurückführen. Um die Sicherheit und Anwendbarkeit dieser Regeln selbst erweislich zu machen, ist noch nötig, sie mit ihrem begrifflichen Gegensatz, den Regeln oder doch Gewohnheiten der beschreibenden Geschichtsforschung, zu vergleichen; erst indem sie gegen sie abgesetzt und ihnen entgegengestellt werden, kommt ihre Grundabsicht völlig zutage. Noch einmal soll hier durchprüft werden, was denn eigentlich unter Entwicklungsgeschichte zu verstehen sei, um so die Abgrenzung dieses Regriffs festzulegen. Schon die ersten nach Ausbildung und demnächst folgerichtiger Anwendung deutlich umrissenen und dauernd festgelegten Rezeichnungen und Regriffe lassen einen weit klaffenden Gegensatz zwischen entwicklungsgeschichtlicher und beschreibender Forschungsweise erkennen. Der Geschichtsschreibung, wie sie vor Jahrtausenden aus dem Zwielicht von Sage und Dichtung der Urzeit hervorwuchs, war solche Begrifflichkeit innerlich fremd. Aber diese Fremdheit ist der beschreibenden Geschichtserzählung als kennzeichnendes Merkmal geblieben von der Urzeitsage zum Heldengedicht, zur Chronik, zur ausführlichen Darstellung hoher Stufen und schließlich noch bis zu den höchsten Erzeugnissen dieser Forschungsweise. Noch heute leidet die Geschichtsforschung an diesem Mangel: man ist nach den straffen Regeln der Genauigkeit zwar sehr geneigt, etwa die Ausdrücke, die dem behandelten Zeitalter selbst entstammen, beizubehalten; aber an einer sicheren Auslegung und Umgrenzung ihres Begriffes läßt mein es unendlich oft gänzlich fehlen. Man überprüfe nur die der Verfassung, der Wirtschaft, der Familie namentlich der frühen Stufen
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gewidmeten Abschnitte in den Büchern der eigentlichen Geschichtsforschung, oder auch die Schilderungen der Verwaltung, des Rechts und wieder der Volkswirtschaft in den Zeitaltern höherer Reife, so finden sich bei zahlreichen und oft in ihrem Sonderbezirk hoch angesehenen Forschern Berichte, die von der völlig harmlosen bunten Zusammenstellung schlichter Notizen — nach Art herodotischer Kuriositätenschilderung — aufsteigen bis zu Anläufen wirklicher Darstellung, ohne doch auch nur die ersten Anforderungen der benachbarten Begriffs Wissenschaften, der Gesellschafts-, Staats-, Rechts- und Wirtschaftslehre zu kennen, geschweige denn ihnen gerecht zu werden. Ein Mindestmaß begrifflicher Genauigkeit findet sich immer erst dann, wenn die eigentliche und ursprünglich einzige Geschichtsforschung sich in uneigentliche verwandelt, d. h. in Zweigwissenschaften der Geschichtsforschung, die, der Einwirkung jener benachbarten Begriffswissenschaften nachgebend, durch sie beeinflußt und geschult, jene hergebrachte Gleichgültigkeit überwunden und an ihre Stelle eine in allen Graden bis zur letzten Sicherheit und Stetheit der Begriffsabgrenzung aufsteigende Genauigkeit gesetzt haben. Ein stets von neuem verwunderliches Schauspiel aber gibt das Durch- und Gegeneinander der Forschungsweisen ab. Die gleichen Forscher, die um ein ausgefallenes Komma den Zornruf erheben, hier sei alle Methode mit Füßen getreten, sehen sich die gröbste Lässigkeit nach bei Handhabung der notwendigsten Hilfsbegriffe ihres Gebietes, während denn freilich wohl Volkswirtschaftslehrer, obwohl sie aus der schärfsten Begriffsschule, etwa der hegelschen kommen, "9
über mittelalterliche Wirtschaftsgeschichte reden, gleich a b gelte es, hierüber einen lockeren und nicht im mindesten geschichtlich verantwortlichen Bericht zu schreiben. Hier stoßen zwei Formen wissenschaftlicher Schulung aufeinander: die eine, von der Philologie und Schrifttumsgeschichte her kommend, auf nichts so sehr bedacht, als auf das Festhalten am Wort des Berichts, die andere, von logisch-philosophischer oder rechtswissenschaftlicher Forschungsweise beeinflußt, einzig beeifert, die Strenge begrifflicher Scheidung zu wahren. Die oft sehr seltsamen Zwiespältigkeiten, die dadurch einzelnen Werken, ja ganzen Zweigen der Geschichte aufgeprägt werden, sind doch nur Übergangserscheinungen, die schließlich zu einer — bis auf weiteres — endgültigen Verschmelzung beider Forschungslehren und ihrer Leistungen führen werden. Die Völkerkunde, die für die noch lebenden Urzeitvölker das Amt der Geschichtsforschung übernommen hat, leidet an mehr als einer Stelle offenkundig an den gleichen Mängeln. Es ist nicht zu sagen, was für Wirrwarr und Schaden allein dadurch angerichtet worden ist, daß man die Namen für eine Dorfschaft, eine Völkerschaft, einen Stamm nicht auseinander hält, sondern je nach Belieben durcheinander anwendet; daß die Engländer ihrerseits nur ein Wort für alle drei Bauformen des Urzeitstaates — tribe — zur Verfügung haben; daß die wesentlichsten Begriffe für den so schwierigen und verwickelten Bau der Blutsverbände, für Geschlecht — Sippe —, Großgeschlecht, Bruderschaft, Familie, Sonderfamilie, Teilgeschlecht nicht im mindesten festgesetzt und folgerichtig angewandt werden; daß die ebenso notwendigen Bezeichnungen für ISO
die Urformen des Geschlechtsverkehrs der Urzeit, Mischverkehr, Promiskuität, Horde, Gruppenehe bei weitem nicht einheitlich und stetig benutzt werden. Das Gleiche gilt von den notwendigsten und alltäglich gebrauchten Begriffen der Glaubensgeschichte: Geist, Dämon, Seele — im Sinn von Totenseele oder Seele als Bewohnerin des lebenden Menschen —, Heilbringer, Gott — hier herrscht die äußerste Verwirrung. Ein begrifflich scharf geschulter Völkerkundiger hat einmal festgestellt, daß dem einen Wort Totem sieben verschiedene Bedeutungen untergeschoben sind. Und wenn die vergleichende Forschung, die diese Schäden zuerst am eigenen Leibe verspürt, pflichtgemäß hierauf aufmerksam macht, so erweist sich — nach allen Regeln der angewandten Seelenkunde des Gelehrten, freilich wird man sagen dürfen, des Menschen überhaupt — der Einzelforscher als unangenehm berührt, wenn nicht beleidigt, greift aus irgend einem anderen Grunde den Störenfried an und fährt mit umso eifervollerer Hartnäckigkeit fort, jeder nach seiner Willkür, diesen oder diesen oder einen dritten Ausdruck für die gleiche Sache zu benutzen. Dabei ist denkwürdig, wie auch hier die Strenge der einen sich mit vollkommener Lässigkeit der anderen Forschungsvorschrift in einem Forscher, einem Werk paart: eine der gründlichsten Darstellungen der gesellschaftlichen und geistigen Bildung eines frühen Volkes, die von deutschen Gelehrten geschrieben sind, geht in der sprachwissenschaftlichen Genauigkeit so weit, daß sie nicht nur die überlieferten Sagen und Erzählungen, sondern sogar die eigene Schilderung außer in der deutschen Urschrift auch in der Sprache des geschilderten Volkes mitteilt. Dasselbe Werk aber 121
verwechselt die notwendigsten Grundbegriffe für die Kennzeichnung des Baus und der Verfassung der Blutsund der staatlichen Verbände. Und es entsteht daraus ein so offensichtliches Wirrsal, daß der aufmerksame Leser nur mit einiger Mühe die begangenen Irrtümer herausfinden und richtigstellen kann. Die in vielen Gebieten der Völkerkunde herrschende Richtung auf die Erforschung der Leibesbeschaffenheit und des äußeren Bildungsbesitzes — Waffen, Werkzeuge, Trommeln und so fort — weicht dem übermächtigen Einfluß der Philosophie; aber da ihre eigene Neigung der Erforschung der geistigen oder gar der gesellschaftlich-staatlichen Kultur nicht gilt, so läßt sie nach dieser Seite sich auch die gröbste Fahrlässigkeit zu. Auch hier wird, wenn auch gewiß nicht sogleich, eine Zusammenschließung der beiden Schlachtordnungen stattfinden. Der gleiche eigentümliche Misch- und Übergangszustand ist in Hinsicht auf die zweite Forderung der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise an der heutigen werktätigen Geschichtsschreibung nachzuweisen: in Hinsicht auf die Vergleichung zuerst im Nebeneinander zum Behuf der begrifflichen Ordnung und Zusammenfassung der gleichzeitigen Tatsachenmassen. Es handelt sich hier um die erste der Entscheidungsschlachten, die die Entwicklungsgeschichte wider ihren elementaren Feind, die ungeordnete Stoffmasse der Überlieferung zu schlagen hat. Aber gerade hier schon beweist der Zustand der werktätigen Geschichtsforschung, daß die ältere, die beschreibende Forschungsweise noch vielfach fortbesteht. Der beschreibenden Forschungsweise liegt ihrem innersten Wesen nach nichts an einem begrifflichen Zer-
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spalten des von ihr vorgefundenen Rohstoffes. I m Gegenteil, sie wird es, so lange sie unbewußt bleibt, vermeiden. Und schon hier kommt man dem Wesen der beschreibenden Geschichtsforschung ganz nahe: sie ist, wie sie durch Jahrtausende die einzige, natürlich gewachsene war und blieb, wie sie von Herodot bis zu Thukydides, von Livius bis zu Tacitus, von Helmolt und Otto von Preising bis zu Ranke undTreitschke, von den einfachsten Anfängen zur geistigsten Entfaltung emporwuchs, immer dem Leben ganz nahe geblieben und hat die Überlieferung in der Form und Ordnung, wie das Leben selbst sie ihr aufgeprägt hatte, fortgeben mögen. Sie hat die allerlängste Zeit unbewußt, heute aber im Gegensatz zu der immer weiter u m sich greifenden entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise auch wohl bewußt, des Glaubens gelebt, daß das Bild des Lebens, das sie zu geben gedenkt, an Kraft verliere, wenn es sich von den Zusammenhängen, den Verknüpfungen und Gespinsten, die das Leben selbst webt, entferne. Dieser Gedanke aber ist in Wahrheit mehr künstlerisch als forscherlich gedacht. Das Leitziel der Wissenschaft, aller Wissenschaft muß sein, das Bild der Welt, das sie allerdings zu geben vorhat, so übersichtlich, so einfach wie möglich, d. h. in anderen, gewollteren Anordnungen zu geben, als das Leben selbst sie liebt. Von dieser im Urstoff dargebotenen Ordnung aber eine annähernde Nachahmung zu geben, würde weder möglich noch nützlich sein. Die Kunst ihrerseits ist zwar ebenso wenig berufen, ein nachahmerisches Bild der Welt zu geben, sie hat das Recht und die Pflicht, ihr Bild ebenfalls eigenen Regeln gewollten Zwanges, gewollter Schönheit zu unterwerfen; aber 123
da es ihr auf die Form und nicht auf den Begriff ankommt, und da die Form den gewachsenen Dingen anhaftet, so liebt sie es, die gegebenen Zusammenhänge des Lebens und der Welt ebenso zu erhalten, wie die Wissenschaft genötigt ist, sie zu zerspalten und zu zerstören. Hier liegt die Wurzel der Kraft, die alle beschreibende oder vornehmlich beschreibende Geschichtsforschung so lange genährt hat und noch lange nähren wird. Was Niebuhr die Anschaulichkeit nannte, das leitet zur möglichsten Näherung an die Wirklichkeit; das zu verlieren, ist wohl die Sorge manches Geschichtsforschers, der auf diesem Wege verharrt. Daß in Wahrheit diese Sorge gegenstandslos ist, davon wird später die Rede sein. Hier sei zunächst an einem erlauchten Beispiel erläutert, mit welchem Recht und auf welchem Wege die begrifflich ordnende Tätigkeit der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise den Querschnitt des Nebeneinander schafft. Die Geschichte der Kuust bietet sich hier am ehesten als Beispiel dar: da sie so voll von Zeugnissen der Persönlichkeit ist wie nur irgend ein Bezirk der Geschichte, so war hier die Versuchung stärker als überall sonst, sich an die Zusammenhänge des Lebens, und zwar die stärksten, die es schafft, die Schicksals- und Leistungseinheiten der Lebensgänge des schöpferischen Einzelnen ganz hinzugeben und sich völlig an sie zu verlieren. Dieser Versuchung ist denn die Geschichte der redenden Kunst fast völlig erlegen, die der bildenden aber hat sich ihrer fast ebenso durchgängig erwehrt. Es ist das Seltsame eingetreten, daß fast alle bedeutenden Leistungen der Dichtungsgeschichte der beschreibenden, fast alle bedeutenden Werke der Kunst-
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geschichte der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise gefolgt sind. D i e Ursache für diese höchst a u f f a l l i g e Tatsache der neuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte ist vielleicht nur darin zu erblicken, daß Winckelmann, der Begründer der Kunstgeschichte, durch zwei sehr verschiedene Ursachen von der Persönlichkeit der Schaffenden, der Künstler, zur Sache des Kunstwerks geleitet wurde: die erste, gänzlich gewollte, war seine i m tiefsten ungeschichtliche Auffassung von der Endgültigkeit und Überzeitlichkeit aller griechischen Kunst 1 ; die zweite, gänzlich unge1
Justi (Winckelmann und seine Zeitgenossen III [* 1898] 105) erklärt mit wohlwollendem Seitenblick, der vermutlich in Sonderheit meinem Aufsatz: Die Historiker der Aufklärung (Zukunft XV (1896) 353 f.) gilt: »Winckelmann, der neuerdings wohl als der geniale Schöpfer der kulturgeschichtlichen und evolutionistischen Auflassung der Geschichte gefeiert worden ist, hatte in der Tat eine etwas geringe Ansicht vom Wert der Geschichte.« Diese Belehrung trifft mich wenigstens nicht, denn in meinem Aufsatz (S. 353 f.) ist von nichts so nachdrücklich die Rede als von der Ungeschichtlichkeit, ja Unwissenschaftlichkeit des oben bezeichneten Grundgedankens bei Winckelmann. Ebenso falsch ist denn freilich auch Justis Wertung von Winckelmanns Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte. Er sagt selbst, wenige Zeilen weiter, von Winckelmann: nach ihm beherrsche die Geschichte der Begriff des Werdens; die Stilformen seien stufenweise Selbstverwirklichungen jenes Einen Begriffs (des Schönen). Welche Welt von Einsicht in das Wesen der Entwicklung tut sich hier auf — nur freilich nicht vor den Augen von Winckelmanns Lebensbeschreiber, der — in auffällig geringer Wahlverwandtschaft mit seinem Helden — erklärt, daß es kein historisches Prinzip gebe, in dessen Namen so viel leeres Stroh gedroschen worden sei, als das von Winckelmanns Auffassung (* III 129) und bei dem dann freilich Winckelmanns größte Tat, seine Auffindung des Stils als geschichtlicher Schicht, zu einem geringfügigen Nebenzug zusammenschrumpft, von dem er 125
wollte, war die Namen- und Urheberlosigkeit der allermeisten Kunstwerke, die vom Altertum überkommen war. Der erste Umstand drängte ihn ebenso wie der zweite zur Zerlegung seines Stoffes nach begrifflichen, nicht nach gegebenen Lebens-Zusammenhängen. Die entscheidenden Bücher seines Werkes, die der Kunst der Griechen gewidmet sind, das fünfte, sechste und siebente, sind demgemäß im Sinne eines Begriffsgebäudes eingeteilt, das freilich, wie es in der Hand der Erfahrungswissenschaft immer geschehen wird, seine Ordnungsgrundsätze mehr dem Bedürfnis der werktätigen Anwendung, als irgend welchen Anforderungen einer begrifflichen Kunstwissenschaft, noch weniger aber einer noch unerschaffenen Wissenschaftslehre verdankt. Zusammenordnungen nach den Gestalten und Gestaltenkreisen der heiligen Sage mischen sich mit solchen der kunstwissenschaftlichen Seelenkunde — so wenn vom Ausdruck der Leidenschaften gehandelt wird —, der reinen Empfindungslehre (Ästhetik) — wenn von den Verhältnissen oder von den Schönheiten der Gliedmaßen des Leibes die Rede ist — oder der Kunstwissenschaft — wenn •erwundert herablassend mitteilt, Winckelmann habe ihn als eine neue Entdeckung betrachtet (* III 126). Man sollte meinen, Justi hätte sich durch diese Bemerkung seines Helden, der doch eigentlich auch in seinen Augen einen kleinen Anspruch auf Autorität in Rücksicht auf die geschichtliche Stellung seines Werkes hätte haben sollen, dazu bewegen lassen, eine Feststellung darüber zu geben, inwiefern nun wirklich dieser Gipfel des Leistens von Winckelmann weit über die Flachheit früherer Zeiten hinausrage. Aber davon ist er vreit entfeint: der ganze Gegensatz zwischen der Denkweise des Geschilderten und der des Schildernden, des 18. und des 19. Jahrhunderts wird hier oifenbar.
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von den Beziehungen zwischen Rohstoff und Form in der Bildnerei gesprochen wird 1 . Die Voraussetzungen, unter denen Winckelmann so verfuhr, schwanden oft genug; sein Erbe aber blieb der Geschichte der bildenden Kunst. An Jacob Burckhardts Geschichte der italienischen Baukunst im Zeitalter der Renaissance läßt sich in wesentlich tieferer und folgerichtigerer Durcharbeitung erkennen, wie weit bei sehr eingehender Einzelforschung eine so begriffsmäßige Ordnung des Stoffes gehen kann. Dies Werk, das 1867 vollendet und veröffentlicht wurde, ist, wie an anderem Ort schon des genaueren dargetan wurde, freilich auch noch weit entfernt von einer völligen Unterwerfung seiner Teilungen unter das Begriffsnetz einer wirklich reinen Kunstwissenschaft.die festgestellte Ordnung, in deren Rahmengefüge der aufgefundene Nachrichtenstoff eingebracht werden soll, ist das freie Gebild der bald zu diesem — etwa kulturgeschichtlichen —, bald zu jenem — etwa formgeschichtlichen — Zweck strebenden Absicht des Verfassers. Kein Zweifel, es ist möglich in diesem Sinne noch weiter fortzuschreiten, ab es selbst Jacob Burckhardt getan hat. Dehios Werk über die kirchliche Baukunst des Abendlandes zu den Zeiten der frühchristlichen, der romanischen, der gotischen Bauweise, das von einem viel nüchterneren, aber eben darum vielleicht noch begrifflicheren Sinn getragen ist, hat ein Vierteljahrhundert später — 1892 — ein noch wesentlich mehr 1
Winckelmann, Geschichte der Kunst de« Altertums 1763 bis 1768. (Sämtliche Werke IV [1825] 191ff., 226ff., 245ff.; V [1825] 7 ff.) Vgl. Die Meister der entwickelnden Geichichtsfonchung (1936) 138ff., 156ff.
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ins Einzelne gegliedertes, engmaschigeres Netz begrifflicher Teilungen über seinen weiten und wahrlich wirren Stoff geworfen. So wenn etwa die Ordnung des zweiten Buches, das der romanischen Bauweise gewidmet ist, den Gewölbebau zuerst in einem allgemeinen Abschnitt erörtert, in dem nacheinander Bogenform, Gewölbetechnik, Gewölbeformen und Gewölbesysteme behandelt sind, in Einzelstücken, die ihrerseits wieder noch von begrifflichen Gesichtspunkten aus in Unterabschnitte geteilt sind. Und es ist denkbar, daß auf diesem Wege noch immer weitere Schritte getan werden. Vergleicht man mit der Strenge dieser Teilungen die Lockerheit des Aufbaus wesentlich beschreibender Kunstgeschichtswerke, etwa von Herman Grimms Michelangelo, so wird der ganze Unterschied der Forschungsweise offenbar. Die zeitliche Abfolge des Lebenslaufes wird hier der Faden, an dem sich in buntem Wechsel Bruchstücke einer Lebensgeschichte, Episoden florentinischer Verfassungs- oder päpstlicher Regierungsgeschichte aufreihen. Über diese alle sind eigentlich kunstgeschichtliche Betrachtungen weithin verstreut: aber auch sie ohne alle Bindung an kunstwissenschaftliche Vollständigkeit. Von Michelangelos Baukunst an Sankt Peter ist in diesem Buch, das doch an Farbigkeit der Schilderung, an Nachdrücklichkeit des Linienzugs einen reichen Besitz unseres ganzen wissenschaftlichen Schrifttums darstellt, nichts mehr mitgeteilt als einige Impressionen — zur Hälfte, in großer Schönheit, den Gang einer Nachmittagsstunde schildernd — und ein kurzer Vergleich mit San Gallos geringerer Leistung: kein Wunder, wenn werktätige Baumeister, wenn sie zu dem Werk griffen, sich und ihre Kunst gering geschätzt und fast übergangen fanden. 128
Mail wird vielleicht einwenden, daß für Dehios Werk ähnlich wie einst für das Winckelmanns der Mangel aller oder fast aller Kenntnis von Namen und Wesen der Urheber dieser Kunstwerke maßgebend gewesen sei und von den Lebenszusammenhängen der Künstler ab und zu den Sachzusammenhängen einer begrifflichen Ordnung hin gezogen habe. Man könnte auf das Überwiegen von Zeit- und Lebenszusammenhängen in so vielen Büchern zur Geschichte der Malerei, etwa bei Woltmann, hinweisen. Aber schon für Jacob Burckhardts Geschichte der italienischen Baukunst im Zeitalter der Renaissance trifft dieser Beweggrund nicht zu, und Wölfflins Plan, die gesamte neuere Kunstentwicklung unter sehr scharfe und reine BegriffsteHungen zu stellen, beweist hier für die werktätige Möglichkeit nur, was für Lehre und Anschauung der Forschungsweise ohnehin begrifflich erweisbar, ja notwendig erscheint.
ZWEITES
STÜCK
DIE BEGRIFFLICHEN DES
ORDNUNGEN
NEBENEINANDER
Schlechthin im Gegensatz zu diesem Verhalten der Geschichte der bildenden Kunst ist die der redenden Kunst verfahren: sie hat sich überwiegend der beschreibenden Weise zugewandt. Scherer, der die stärkste Kraft der Farbengebung und der Zeichnung an die Aufgabe zu setzen hatte, läßt sich bei der Ordnung seiner Geschichte des deutschen Schrifttums nur für die ganz lockeren und wenig eindringenden Teilungen 9
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zweiter Schicht von begrifflichen Maßstäben leiten. Er zerlegt wohl die notwendiger Weise dem Zuge deT Zeitalter folgenden Hauptabschnitte oberster Ordnung in der nächst tieferen Ebene von sachlichen Gesichtspunkten aus; aber es geschieht nur nach der umrißhaftesten Weise nach Dichtungsgattungen: er stellt etwa die Leistungen eines Zeitalters in Gedicht, Erzählung, Schauspiel zusammen; aber jede andere Zerlegung und Zusammenlegung des Stoffes nach begrifflichen Ordnungen bleibt ihm unbekannt. Die feurige Glut der inbrünstigen Annäherung an das Leben verbannt alle dergleichen Verstandesmäßigkeiten. Und so erfährt man nie oder nur wie durch Zufall, durch Gelegenheit hier oder hier den wirkenden Zusammenhang der Form- und Gebildreihen, das Fortstrahlen der Muster aus dem Werk der Stärksten, was alles, wie vieles Gleichgeordnete oder Verwandte zu verfolgen entwicklungsgeschichtlicher Forschungsweise als das wesentlichste Amt erscheinen würde. Die wichtigsten Entwicklungsreihen — etwa die der Form des dramatischen Aufbaus, oder der Metrik des Sonnetts, oder die des Wachstums der realistischen Mittel im Roman—gehen unter in dem bunten Wechsel chronologisch geordneter Dichterreihen. Aber es bleibt denkwürdig, daß der gleiche Mann, der als Schilderer der deutschen Dichtungsgeschichte so entschieden sich der beschreibenden Weise zuwandte, als Sprachgeschichtsforscher völlig entwicklungsgeschichtlich verfuhr und in der Widmung seiner gesammelten Abhandlungen zur deutschen Sprachgeschichte von 1868 eines der folgerichtigsten und begeistertsten Bekenntnisse zu den allgemeinen Zielen einer systematisch verfahrenden Geschichtsforschung ausgespro130
chen hat. Er richtet sich leidenschaftlich gegen die »bloße gedankenlose Anhäufung wohlgesicherten Materials«, und er fordert die Gründung, ja Verschmelzung, der an ihrer Statt erstrebten allgemeinen und vergleichenden Geschichtswissenschaft auf eine Mechanik der Gesellschaft1, womit denn wiederum diejenige Festigkeit des Triebes der Geschichtsforschung zu begrifflicher Ordnung herbeigewünscht wird, die sich von jeher auch für die werktätige Ausführung als die wirksamste erweisen wird. Sie wird ersichtlich vielleicht am stärksten innerhalb der Rechtsgeschichte. Denn, seltsam genug, was für die Rechtswissenschaft selbst von den Tagen der historischen Schule an bis auf die Gegenwart ein Quell der Schwächung ihrer begrifflichen — wie ihrer befehlenden — Triebe wurde, ihre Hinneigung zu geschichtlicher Begründung und Ableitung ihrer Regeln und schließlich zu Unterordnung ihrer begrifflich-bauenden Tätigkeit unter die Gegebenheiten des bestimmten in einem Zeitalter vorhandenen Zustandes der Rechtsüberlieferung, das wurde für die rechtsgeschichtliche Forschung der Ausgangspunkt einer im betonten Sinne des Wortes begrifEsstarken Entwicklung, und man wird von Karl Friedrich Eichhorn zu Brunner, Heusler und Schröder eine Linie ziehen können, die mit Einschluß ihrer Anfänge bei Moser und Pütter der von Winckelmann zu Burckhardt, Dehio und Wölfflin führenden in etwas gleichläufig wäre. Man möchte hier einwenden, daß Rechtsgeschichte gar nicht einer anderen, einer nicht begrifflichen Behandlungsweise fähig wäre, und würde doch 1
Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache (* 1878)
s. xi—xni. 9»
irren: ältere Werke, so etwa die Geschichte des englischen Rechts von Reeves in ihrer weiten, unförmlichen, ungegliedertenMasse, sind Zeugnisse dafür, daß auch dieser Gegenstand einer völlig beschreibenden Erforschungs- und Darstellungsweise zugänglich ist. Ähnliches gilt von der Verfassungs-, der Verwaltungs-, der Wirtschaftsgeschichte: auch sie sind am öftesten dürch Rechts-, Staats-, Volkswirtschaftslehrer in die Bahn schärferer, begrifflicherer Stoffgliederung und Gruppenteilung gelenkt worden, als sie je dem eigentlichen Geschichtsforscher erlangbar gewesen wäre. Es ist sehr lehrreich, in diesem Betracht Rankes Spanische Monarchie mit Gneists Englischer Verfassungsgeschichte zu vergleichen. Ranke hat sich in diesem Werk entwicklungsgeschichtlich-begrifflichen Teilungen des Stoffes mehr genähert als irgendwo sonst; aber auch hier bleibt er noch weit entfernt von einem eigentlichen Begriffsgebäude als Ordnungsgefüge: ein Blick der Vergleichung auf Gneists Verfassungsgeschichte, die ihrerseits bei weitem noch nicht die letzten Folgerungen zieht, lehrt den Unterschied ganz erkennen. Daß Die Fürsten und Völker von Südeuropa, deren einen Teil Rankes Spanische Monarchie bildet, schon 1827 erschienen, Gneists früheste Schrift über die innere Entwicklung Englands, die über Adel und Ritterschaft, erst 1853, das diese Reihe krönende Werk der Verfassungsgeschichte aber erst 1882, bedeutet deshalb nicht so viel, weil weder Ranke später in dieser Richtung fortgeschritten ist — Die spanische Monarchie stellt sich in der Reihe seiner Werke eher wie ein Versuch, ein Vorstoß nach einer Seite hin dar, nach der sich seine Forschung später nie wieder bewegte —, noch Gneist im Laufe seiner Entwicklung 132
seine grundsätzliche Stellungnahme allzu wesentlich verändert hat. Zuweilen finden sich auch in dieser Hälfte der Geschichtsschreibung in der Person, in dem Werk bedeutender Forscher auffällige Gegensätze vereinigt: Mommsen schuf als Gereifter von 1871 ab — vermutlich auch nur, weil er zunächst und zuerst Rechtsgelehrter gewesen war, — in seinem Staatsrecht ein von der ersten Anlage bis in die letzten Folgerungen hinein begrifflich geordnetes, schlechthin entwicklungsgeschichtliches Werk; seine Römische Geschichte aber, die er als Siebenunddreißigjähriger 1854 erscheinen zu lassen begann, ist ihrem Schwergewicht nach völlig von den Grundsätzen beschreibender Forschungsweise beherrscht. Denn in den langen Abschnittsfolgen, die ihrem eigentlichen Gegenstand, der äußeren und inneren Staatskunst der Römer gewidmet sind, überwiegt durchaus die lockere Ordnung des zeitlichen Nacheinanders, die die strafferen Gefüge des begrifflichen Nebeneinanders fort und fort sprengt oder sie vielmehr je nach Gelegenheit der sachlichen Zusammenhänge, nach Gefallen des persönlichen Geschmacks des Verfassers nur sprungweise und nach Willkür anwenden läßt. Bezeichnend aber ist, daß alle die Abschnitte, die den Fortgang der geistigen, der geselligen Bildung schildern, oft auch die Strecken der »eigentlich« geschichtlichen Darstellung, die die Abwandlung der Verfassung und Verwaltung, der Wirtschaft und des Rechts zum Gegenstand haben, weit begrifflicher gegliedert, weit entwicklungsgeschichtlicher gehalten sind. Die Geschichte des Glaubens steht, so ganz sie Geist ist, in manchem Betracht mitten inne zwischen Schau-
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en und Handeln: eben für sie aber zählt die Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung ruhmvolle Namen auf, deren Werke gänzlich von den begrifflichen Ordnungen der entwicklungsgeschichtlichen Weise durchsetzt und durchgegliedert sind. Harnack und Holtzmann haben in diesem Sinn geforscht. Auch hier ist der gleiche Umstand wie in der Kunst-, in der Rechtsgeschichte förderlich gewesen: der enge Zusammenhang mit einer nächstverwandten Begriffswissenschaft. Vielleicht ist auf die entwicklungsgeschichtliche Richtungnahme der Glaubensgeschichte auch die Tatsache nicht ohne Einfluß geblieben, daß der Werdegang des Glaubenslebens sich zu großen Teilen und auf weiten Strecken in den Massen, den Gemeinschaften der Gläubigen vollzieht. Und, wie schon des öfteren betont wurde, alle Massengeschichte führt leichter zu entwicklungsgeschichtlicher Formung des Gegenstandes — so wenig beide gleichgesetzt werden dürfen. Aber eben in dieser selben Glaubensgeschichte kommt es letztlich mehr noch als irgendwo sonst auf die schöpferischen Einzelnen, ja man wird sagen dürfen, sagen müssen auf die schöpferischsten an: Traum und Tat der drei Größten in aller Menschheitsgeschichte des Glaubens, des Buddha, des Christus, des Propheten, stellt eine Summe von Wirkung dar, an der gemessen die Menge des Handelns aller anderen Glaubensformer zu Zwergenmaß herabsinkt. So lag hier nicht weniger, sondern eher noch fast mehr Veranlassung vor, die runden Einheiten des Lebens, die der Rahmen des Einzeldaseins umspannt, festzuhalten und so, ähnlich wie die Schrifttums geschieh te tat, bei reiner Beschreibung zu verharren. Die eigene Zweig-
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Wissenschaft, die man unter dem Namen Leben Jesu gegründet hat, hat dies auch wohl getan: aber da eben die benachbarte Zweigwissenschaft der neutestamentlichen Theologie das Werk von Jesus völlig im Sinn entwicklungsgeschichtlicher Forschungsweise behandelt, so ist der Schaden n u r ein halber. Das Richtige würde freilich auch hier eine vollkommene Verschmelzung beider Forschungsweisen sein. Denn m a n sieht leicht, wie hier die Gefahr entstehen kann, daß die ganz auf Sachgeschehen und Entwicklungsgeschichte gestellte Wissenschaft der Neutestamentlichen Theologie die Einwirkungen des Lebens von Jesus und seines fließenden Dahinströmens wie seiner zackigen Einzelereignisse nicht zur Gänze erfahrt, während die Geschichte des Lebens Jesu nicht stark genug durch die Teilungen und die Einschnitte der Ideengeschichte von Jesus und ihrer Abschnitte beeinflußt wird. Am wesentlichsten wäre eigentlich die Forschungsgeschichte an der Durchführung begrifflicher Gliederung beteiligt; aber gerade sie ist, abgesehen von glänzenden Ausnahmen zur Geschichte der Naturwissenschaften, wie etwa Ridls Geschichte der biologischen Theorien, zumeist in unbegreiflicher Verkennung ihrer Aufgaben bei chronikartiger Beschreibung stehengeblieben, die ihre Ordnungen lediglich von dem wirren Durcheinander zeitlicher und persönlicher Zusammenhänge leiht. Bücher wie Wegeies Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung oder Busians Geschichte der Altertumswissenschaften stellen sich wie biographisch-katalogisierende Vorarbeiten für entwickelnde Geschichtswerke ihres Stoffgebietes dar, und dieser Eindruck wird vorzüglich dadurch hervor-
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gebracht, daß sie jeder Gliederung im Querschnitt des begrifflichen Nebeneinanders entbehren. Ein Anlauf, den Wegele zu solcher Teilung macht, erweist sich schon durch sein Ordnungsmerkmal, das als einziges völlig unzureichend ist — er teilt nach Welt-, Deutscher-, Landesgeschichte ein — als lahm und ungenügend. Am erstaunlichsten ist, wie selten erst die Geschichte der Philosophie, die ihrem Stoff nach am stärksten zu begrifflicher Scheidung drängt, zu ihr übergegangen ist. Alle die Werke von Namen in dieser obersten der Zweigwissenschaften der Forschungsgeschichten sind letzten Endes beschreibend noch insofern, als sie die begriffliche Durchgliederung ihres Stoffes gar nicht oder nur anlaufweise in Angriff nehmen. Zellers Geschichte der griechischen Philosophie ist ein Wunderwerk des besten deutschen Gelehrtenfleißes, ist aber gleichwohl ein Erzeugnis überwiegend beschreibender Schilderung und entbehrt vor allem durchgehender Übersichten über die Geschichte der einzelnen Gedankenkreise und Probleme, ohne die doch eine wahrhaft entwickelnde Geschichte der Philosophie nicht zu denken ist. Windelband ist in dieser Richtung einige Schritte weiter gegangen: er hat innerhalb der einzelnen Abschnitte, in die er nach Zeiten-und Stoffgruppen seinen Stoff zerteilt hat, die einzelnen Ideenverkettungen folgerichtiger zu Einheiten verflochten. Aber schon für die größeren Zeiträume, in die sein Werk zerteilt ist, versagt diese Verpflichtung, ganz zu geschweigen von der Ganzheit seines Werkes, für die ihm ein solcher Formgedanke gar nicht gekommen ist, obwohl er gerade für sie eigens stark gefordert wäre. Gerade dieser Gegenstand hätte zur Herausbildung der Forschungsweise am ersten führen können, da hier
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der Gegenstand schon der begrifflich ordnenden Teilung vorarbeitet. Hier hätte der oberste Grundsatz begrifflicher Durchgliederung eines geschichtlichen Stoffes bis in seine letzten Folgerungen auf das exakteste durchgeführt werden können: ein Netz von begrifflichen Gevierten — womöglich mehrfacher Ordnung, solcher von weiterem, mittlerem, engem Maschenumfang, die sich wie Gattung, Art und Spielart übergreifen müßten — über den Wirrwarr der Einzelheiten zu werfen. Dabei wäre es dann möglich gewesen, einer im innersten geschichtlichen Forderung an ein derartiges Begriffsnetz gerecht zu werden, deren Nichtberücksichtigung noch heute jede Philosophiegeschichtsschreibung so sehr lähmt. Dieses Begriffsnetz müßte nämlich seiner innersten Natur nach auch alle die Gevierte enthalten, die auf den Philosophen oder gar auf die Philosophie seines ganzen Zeitalters gar keinen Bezug haben, von ihm unerfüllt bleiben. Ein volles Bild der Entwicklung der Daseinswissenschaft auf allen ihren Stufen wäre erst gewährleistet, wenn der Darstellung der Herakleitischen Gedanken schon die volle Ganzheit des Aristotelischen Denkgebäudes vorschwebte, und eine rechte Erkenntnis Piatons wäre nur zu ermöglichen, wenn die Darstellung schon beeinflußt wäre durch die Kenntnis Nietzschescher Fragestellungen. Nicht alle die leerbleibenden Fächer könnten in jedem Einzelfall aufgezählt werden, aber ihr Vorhandensein, ihr nicht Ausgefülltsein müßten sehr oft erwähnt, öfter noch berücksichtigt und immer durchgefühlt werden; nur so würde möglich sein, an jedem Punkte ihres Weges die Heerordnung der jeweils aufgeworfenen oder verteidigten philosophischen Gedanken in derjenigen Auf-
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Stellung zu überblicken, die dem Gesamtergebnis aller bisherigen Philosophie bis auf den heutigen Tag entspricht. Nur so würde vermieden werden, daß jede im Laufe der Geschichte neu auftretende Philosophie wie ein willkürlich Neues, nach kurzer Zeit wieder wie ein völlig unnützes Fallengelassenes erscheint. Nur so würde jeder Teil der Entwicklung des philosophischen Gedankengebäudes als ein zu allen anderen Teilen dieses Gebäudes in begrifflicher Beziehung Stehendes erkannt werden. Nur so würde gewährleistet werden, daß das begriffliche Nebeneinander aller, auch der von einander entferntesten Philosophien als ein gegliedertes Ganzes, a b ein auf eine Ebenfe geworfenes, zwar viel geteiltes, aber dennoch einheitliches Bild empfunden würde. Nur so würde die wildwachsene Willkür des zeitlichen Nacheinanders dieser Lehrnetze ausgeglichen werden durch das zwar auch vielgestaltige und unregelmäßig genug hier stark und weit wuchernde, dort verkümmernde oder ganz unausgebildet bleibende Gesamtnetz dieses allumfassenden Philosophiengefiiges. Nur so würde der höchste Zweck aller Geschichte von diesem ihrem forschungsgeschichtlichen Teil ganz erfüllt werden, jeden Teil in Beziehung zum Ganzen und das stets sich wandelnde Ganze in Beziehung zu jedem Teil zu sehen. Nur so würde endlich der größte Dienst, den die Geschichte des Denkens der werktätigen Philosophie leisten kann, in letzter Ganzheit geleistet, nämlich die Nachweisung alles bisher vollbrachten und, was vielleicht noch wichtiger ist, alles bisher halb oder gar nicht gedachten Denkens. Es versteht sich von selbst, daß, was der Geschichte der Philosophie recht ist, der Geschichte aller Einzel-
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Wissenschaften billig sein müßte, und daß hier zugleich ein um der Bildbarkeit dieses fügsamsten, weil ganz gedankenmäßigen Stoffes willen vorbildliches Beispiel gegeben ist für die Herstellung der Begriffsnetze, die der Entwicklungsgeschichte aller anderen Formen menschlichen Handelns und Schauens dienen müßten. Und es ist leicht ersichtlich, daß eine vollkommene Formenlehre für die Gestaltung dieser Begriffsnetze nur in stetigem Zusammenhange mit der Lehre von der Herstellung der Längsschnitte des geschichtlichen Nacheinanders, der Entwicklungsreihen, und in fortwährendem Hinblick auf sie gegeben werden könnte. Den zähesten Widerstand gegen die Durchsetzung dieser begrifflich gruppierenden Gliederung des geschichtlichen Stoffes hat immer geleistet und wird noch lange in Zukunft leisten die sogenannte eigentliche Geschichte, d. h. die Geschichte der äußeren und der sinnfälligsten Ereignisse der inneren Staatskunst. Sie, als der Urbestandteil, der Kern und der jahrtausendelang einzige Stoff der Geschichte, ist von ihrem Ursprung aus der halb sagen-, halb dichtungshaften Keimzeit her so tief verstrickt in die ganz anders gearteten Ordnungsgesetze der zeitlich-chronikalischen Schilderungsweise und andererseits der gewachsenen Zusammenhänge der vom Leben selbst geformten persönlichen und Sacheinheiten, d. h. der Einzelpersönlichkeiten und der gesellschaftlichen, in diesem Bezirk fast nur der staatlichen Verbände, daß sie gemäß ihrem innersten Wesen jeder Zerspaltung ihres Stoffes nach begriffsmäßigen Teilungsgrundsätzen abgewandt sein muß. Dennoch ist die begriffsmäßige Lehrmöglichkeit solcher Zerspaltung ebenso gegeben,
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wie es an Versuchen, sie zum wenigsten für Gesamtübersichten der europäischen Staatengeschichte werktätig durchzuführen, nicht fehlt.
DRITTES PERSÖNLICHKEITS-
STÜCK UND
MASSEN-
GESCHEHEN Handelt es sich darum, Regeln für die Durchführung entwicklungsgeschichtlicher Grundsätze aufzustellen, so wird sich bald ergeben, daß unter den Kreisausschnitten, in die sich das Gesamtrund der Geschichte allenfalls aufteilen läßt, sich zwei Gruppen unterscheiden lassen: diejenigen, die mit großen Massenbewegungen zu rechnen haben, und diejenigen, die im Wesentlichen durch das Tun einzelner Persönlichkeiten bestimmt werden. Jene erste Form findet sich am stärksten vertreten durch die Wirtschafts- und die Rechtsgeschichte. Das Handeln, das sie zu decken haben, wird, zum wenigsten im heutigen Zustand der Welt, durch Millionen getragen. Die Zahl der Einzelhandlungen, deren Gesamtsumme das Wirtschaftsleben auch nur eines Volkes ausmacht, bemißt sich in den Grenzfällen sogar nach Milliarden. Immerhin setzt sich durch die ganze Fülle des wirtschaftlichen Geschehens dieses selben Volkes doch auch eine beständig nach oben sich zuspitzende Pyramide fort, die immer schmaler werdend zuerst noch Hunderttausende, demnächst Zehntausende, Tausende und zuletzt n u r einige Hundert von Einzelmenschen umfaßt. Wir sind seit langem gewohnt, diese Kreisausschnitte 140
im Gesamtrund einer Volksgeschichte als wesentlich durch Massen- und Kollektivgeschehen dargestellt aufzufassen, dürfen aber doch nicht übersehen, daß auch in diesen Bezirken des geschichtlichen Lebens ein dem Gewicht nach bedeutender, vielleicht in einzelnen Dingen wichtigster, ja einzig Ausschlag gebender Teil des Geschehens durch jene ganz Wenigen bestimmt wird. Auf die obersten Führer der Hauptzweige einer Volkswirtschaft und alle diejenigen, die dem wirtschaftlichen Handeln eines Volkes als Erste die Wege weisen, kommt es mehr an als auf die Hunderttausende, ja die Millionen der Geführten. Die nächst tiefere, an Zahl nur wenig geringere Schicht mag durch die Sphäre des Rechtslebens dargestellt werden. Immerhin wird die Zahl der Rechtshändel nicht diejenige der Wirtschaftsgeschäfte erreichen; dennoch wird sie immer noch die von Millionen übersteigen. Und auch hier werden die Zahlen derjenigen, die Rechtsgeschäfte von Wichtigkeit, sei es als Richter zu entscheiden, sei es als Parteien durchzuführen haben, in stets sich vermindernder Ziffer von den Millionen der untersten Schicht bis zu den wenigen Hunderten oder Dutzenden der Gipfelschicht abnehmen, zugleich aber an Maß ihrer persönlichen Bedeutung sowie an Gewicht ihrer Handlungen zunehmen. Im Reich des Geistes ist ein Bezirk vorhanden, der den Verhältnissen der Wirtschafts- und der Rechtsgeschichte nicht durchaus entspricht, ihnen aber doch einigermaßen nahe kommt. Es ist der der Glaubensgeschichte: denn so tief er mit seinen seelischen Wurzeln in einen Bereich des Menschentums reicht, der durch seine Feinheit und Zartheit den Zahlen- und Massenmäßigkeiten entrückt erscheint, so ist er durch 141
seine Allumfassendheit doch den Massenbewegungen ein für alle Mal verschrieben. Und wo er in die Schicht höchster Einzigkeit und Persönlichkeit hineinreicht, da geschieht es in ganz demselben Sinn völligen Ausnahmegeschehens wie in den Bereichen des brutalsten Wirtschafts- und Rechtsgeschehens. Den entgegengesetzten Pol zu dieser Schicht des umfassendsten Massengeschehens nimmt die Sphäre des geistigen, des forscherliehen und des künstlerischen Schaffens ein, von deren Eigenart schon die Rede war. Diese Formen menschlichen Tuns sind gewiß nicht allein durch den geringen Umfang der an ihnen beteiligten Menschenzahl ja so ausgezeichnet, sondern weit mehr dadurch, daß hier die weiten Umkreise, die sonst wie Gürtel den inneren Bereich der Zunächstbeteiligten umgeben, fortfallen oder wenigstens nicht mit berechnet werden. Man würde ja, wollte man den Bereich der Empfangenden im Bezirk der Forschung und der Kunst ähnlich berechnen wie in dem des Glaubens, kaum zu viel geringeren Zahlen gelangen wie dort. Denn die Menge derjenigen, die a b nur Beschenkte am Geschehen der beiden Formen geistigen Schaffens beteiligt sind, würde kaum kleiner sein als die der am Glauben Anteilnehmenden. Der Unterschied ist n u r der, daß die am Glauben Teilnehmenden bei weitem nicht im gleichen Sinn diese Beteiligung ausüben, wie die an Wissenschaft oder Kunst Interessierten : es ist nicht von ungefähr, daß wir von Gläubigen reden, nicht aber von Wissenden. Die Nachdrücklichkeit des Verhaltens der am Glauben Teilnehmenden ist eine unvergleichlich viel größere als die der auch von der Wissenschaft Begabten, obwohl auch sie doch wahrlich von diesem Beschenktsein er142
reicht werden. Und wenn man allenfalls von Wissenden reden kann, so würde man doch schon auf einen so sehr die Oberfläche des Lebensgeschehens angehenden Ausdruck wie die Kunst-Gemeinde oder die Kunstgenießer kommen, der doch wahrlich an Innigkeit und Seelenkraft weit hinter dem Wort Gläubige zurückbleibt. Man wird sagen müssen, daß diese Not des Ausdrucks mehr ein Erzeugnis des allzu beschränkten Wortvorrats als eines wirklichen Begriffszwanges ist; aber völlig läßt sie sich nicht auf diesen mehr äußerlichen Grund zurückführen. Sondern schon die a m Wissen Teilnehmenden werden nur mit einem geringeren Teil ihrer Seelenkraft in Anspruch genommen als die Gläubigen, die an der Kunst Teilnehmenden aber mit einem noch geringeren. Man bemerke nun wohl, daß das Zahlenverhältnis der eigentlich Schaffenden und Führenden in keinem dieser Bereiche sich ändert. Denn eben die nur Empfangenden bleiben in allen drei Bereichen die Gleichen und ebenso die wirklich Schöpferischen. Doch bevor das Grundverhältnis zwischen Massen- und Persönlichkeitsgeschichte, wie die Absicht ist, ausgemacht werden soll, ist nötig festzustellen, u m was es hier eigentlich geht. Es besteht hier nämlich die beständige Gefahr einer Verdunkelung dieser Verhältnisse, der von vornherein entgegengetreten werden muß. Man kann unter Massen- und Persönlichkeitsgeschichte namentlich dann, wenn es sich u m eine theoretische, eine lehrmäßige Beleuchtung beider handelt, einmal das Verhältnis verstehen, in dem beide als Formen des geschichtlichen Geschehens, also von Geschichte im Sinne von res gestae, von wirklichem, von wahrhaftem Vollzug der Geschichte zu einander steH3
hen; in diesem Sinn ist der Gegensatz in der bisherigen Darlegung angewandt worden. Aber außer dieser geschichtspraktischen Anwendung ist auch noch eine zweite, eine geschichtstheoretische Anwendung denkbar, die nicht Geschichte als res gestae, sondern als historia angeht, die also eigentlich die Massengeschichtsauffassung und die Persönlichkeitsgeschichtsauffassung bedeutet. Wäre es nicht ein Grundsatz des Schreibers, alle fremden Wörter nach jeder denkbaren Möglichkeit zu vermeiden, so müßte hier von individualistischer und kollektivistischer Geschichtsauffassung gesprochen werden. Nur das ist gleich an der Schwelle dieser Erörterungen abzuweisen, daß die beiden Gegensatzpaare, von denen hier die Rede ist, einander so nahe verwandt, ja sogar miteinander identisch sind, daß es ganz überflüssig sei, sie von einander zu trennen. Das ist nicht im mindesten der Fall; es ist gar nicht abzusehen, wie viel — um einen anderen, aber völlig entsprechenden Fall als Beispiel heranzuziehen — Verwirrung vermieden würde, wollte man sich gewöhnen, nicht immerdar psychisch und psychologisch gemischt und ab gleichbedeutend anzuwenden. In dem hier vorliegenden Gegensatz zwischen Massengeschichte und massengeschichtlicher Auffassung, Persönlichkeitsgeschichte und persönlichkeitsgeschichtlicher Auffassung ist aber die Sachlage noch viel bedrohlicher, weil beide Gegensatzpaare noch keineswegs durch Gebrauch so eingewöhnt und zu einem besonderen Sinn so eingeschärft sind, wie es die entsprechenden Fremdworte schon längst sind; noch ganz davon zu geschweigen, daß die hierzu Grunde liegenden Begriffe, gleichviel ob in fremder oder deutscher Form, an sich noch bei weitem nicht so scharf
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umgrenzt worden sind, daß ihre Anwendung eine sichere ist. Unter Massengeschichte wird mein diejenige Geschehensform zu verstehen haben, der die sehr große Zahl der Beteiligten, d. h. also sei es Betroffenen, sei es Teilnehmenden, das Gepräge gibt; Massengeschichtsauffassung ist also diejenige Geschichtssicht, die diese sehr große Zahl für ihre Betrachtung in den Vordergrund stellt. Unter Persönlichkeitsgeschichte aber wird man die Form des geschichtlichen Geschehens zu verstehen haben, die auf dem Handeln des Einzelnen, vorzugsweise des starken Einzelnen beruht, und unter persönlichkeitsgeschichtlicher Auffassung diejenige Geschichtssicht, die von solchem Handeln des Einzelnen ausgeht, es in den Vordergrund stellt und möglichst alle Entscheidungen des geschichtlichen Geschehens auf dieses Handeln des Einzelnen zurückzufuhren trachtet. Für die werktätige Behandlung der einzelnen Kreisausschnitte in dem Kreisrund der Geschichte ist nun offensichtlich die Forderung zu verteidigen, daß Wirtschafts-, Hechts- und bis zu einem gewissen Grade auch Glaubensgeschichte, wie sie ihrer Beschaffenheit nach überwiegend massengeschichtlich gefügt sind, auch nach den Gesichtswinkeln dieser Sichten gemessen werden sollen. Es wird durchaus gerechtfertigt sein, das wirtschaftliche Geschehen nach Ergebnissen anzusehen, die ein vornehmlich massenmäßiges, in den meisten Fällen statistisch zu erfassendes Handeln der Menschen ins Auge faßt. Kein Zweifel, dem Geschehen wird auf diese Weise zu einem nicht ganz geringen Teil Gewalt angetan, denn jedes, auch noch das geringfügigste wirtschaftliche Tun wird durch an sich einzig10 Hreysig
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artige Geschehenszusammenhänge bestimmt, gleichviel ob es seelische Beweggründe oder tatsächliche Bewirkungen sind. Wird also ein solches ein sich zwar völlig gleichgültiges, im strengsten Sinn des Wortes aber doch einziges und insofern persönlich bestimmtes Handeln — daß ein Pfund Mehl etwa über den Ladentisch verkauft wird — als ein nur in Tausenden oder gar nur in einer Million erfaßtes im Buch der Geschichte verzeichnet, so ist dies zwar ein Ausdruck massenmäßiger Behandlung; aber ein Schaden im geschichtlichen Sinn wird durch sie nicht angerichtet. Das entscheidende Merkmal für die Regelungen zwischen Massen- und Persönlichkeitsgeschichte ist nun aber, daß immer und ausnahmslos die eine in die andere übergehen muß. Es gibt kein Massengeschehen, das bis zum letzten Ausmaß seiner Tragweite Massengeschehen bliebe; immer muß sich aus Gründen der Führung die Zahl der Beteiligten zusammenziehen. Und andererseits findet auch das umgekehrte Verhältnis statt: eine neue Industrie entsteht, in einem einzigen Unternehmen, vielleicht nur unter einem einzigen Meister vollziehen sich die Anfänge, sie dehnen sich aus, und in unseren Tagen, in einem Zeitalter des gesteigerten Entwicklungstempos erweitert sich der Betrieb und mit ihm die neue Industrie zu einem weiten Umkreis. Und man glaube nicht, daß die Geschichte des Glaubens, aller ihrer so viel höheren Seelenfeinheit zum Trotz, anderen Gesetzen des Überganges folge. Das erlauchteste Beispiel von allen ihren Entwicklungen, das der Verkündung und Ausbreitung ihrer Lehre zuerst durch Jesus Christus selbst, dann durch die stets wachsende Anzahl seiner Folger, läßt die Zunahme einer
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Bewegung mit einer nahezu arithmetischen Regelhaftigkeit sehen: zuerst waren es die Vier, dann die Zwölf, dann zur Zeit von Jesus' Tode fünfzig Anhänger lind einige Zeit darauf fünfhundert. Und nun gedenke man der 650 Millionen, nach denen heut die Anhängerschaft des Christentums zählt. Es ist ja auch nicht allein die Zahl, die in beständiger Veränderung begriffen ist, es ist bis zu einem gewissen Grade auch eine Abnahme des Bewirktheitsgrades, die hier stattfindet: von der ungeheuersten Intensität des Einflusses von Jesus Christus selbst auf seine Jünger bis zu einer immer matter werdenden Einwirkung seiner Lehre auf die Millionen der Namenchristen in den Heeren seiner Anhänger. Beobachtungen ganz ähnlicher Art n u r mit dem umgekehrten Vorzeichen lassen sich an den Geschehensformen machen, in denen im Tatbestande das Merkmal der Persönlichkeitswirkung und in der Sehweise der Geschichtsschreibung der Drang zur Hervorhebung des Einzelnen und seiner Wirkung überwiegt. Die Geschichte der Kunst, mehr noch die der Forschung, sind voll von Zeugnissen für beide Beobachtungen. Man betrachte als eines der beweiskräftigsten Beispiele, wenn auch als einen Fall von ausnahmemäOiger, ja von äusserster Beweiskraft die Geschichte der Wirkung Michelangelos. An der Spitze dieses schlechthin ungeheuerlichen Geschehens steht der eine Mann, der doch auch einmal jung und ein unbekannter Anfänger war, am Ende aber dieses das Viertel eines vollen Jahrtausends umfassenden Vorgangs die breite, das Kunstschaffen eines ganzen Erdteils umfassende Schlachtordnung einer Zeitalterkunst. Denn wie zuerst die Zeitgenossen Michelangelos bis zu Rafael aufwärts von 10*
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der brausenden Kraft seiner seelisch-leiblichen Bewegtheit angefaßt und vorwärtsgerissen sind, so ist das halbe Jahrhundert Palladios, so die späte Renaissance, so das Barock und so selbst noch in abschwellender Macht das Rokoko von dem Impuls beherrscht worden, der von der Seelen- und Kunstmacht dieses einen Menschen ausging. Ohne auch nur im mindesten der Übertreibung bezichtigt werden zu können, wird man es aussprechen dürfen, daß dies Vierteljahrtausend europäischer Kunst ein völlig anderes, ja man wird behaupten können im seelischen Grundzug schlechthin entgegengesetztes Antlitz getragen haben würde, wenn dieser eine Mann aus dem Bild derKunstentwicklung fortgedacht würde. Das Erstaunliche an diesem Geschehen ist erstlich, daß sich hier die Macht des einen übergewaltigen Menschen der ganz breiten und ganz starken Schlachtordnung eines vollen Kunstzeitalters entgegengesetzt hat; denn einen größeren Gegensatz von leidenschaftlichem Sturm und still vornehmer und fast palasthaft geschwichtigter Harmonik hat es kaum je gegeben. Und dennoch hat in diesem Zusammentreffen, das einen der sehr stillen und doch im tiefsten heftigen Geisteskriege bedeutet, von denen das neueuropäische Weltalter weiß, der Sturm den Sieg über die Phalanx eines ganzen ruhevollen Zeitalters davongetragen. Zum Zweiten aber ist noch erstaunlicher das Mißverhältnis zwischen der Vereinzeltheit des Einen überstarken Führermenschen und der Breite eines ganzen Zeitalters, und seine Erstaunlichkeit wird noch dadurch vermehrt, daß zum mindesten die Gefolgsleute, über die dieser Einzige als seine Helfer verfügte, kei-
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neswegs von überragender oder auch n u r wesentlicher Bedeutung waren. Von Sebastiano del Piombo, also einem keineswegs sehr hohen Anfangspunkt, abwärts reicht die Reihe dieser Folger. Es ergibt sich also der immerhin beträchtliche Sachverhalt, daß sich zu Anfang gar keine Folger hohen Ranges in der neuen Heerschar u m den obersten Führer reihen, und daß eigentlich erst vom Todesjahr des hohen Meisters ab die Reihe der bedeutenden Maler und Baumeister der späten Renaissance auftritt: sie freilich eine ansehnliche Zahl von Meistern, die eine große Bewegung bilden und für eine lange Reihe von Jahrzehnten in Gang erhalten konnte. Im siebzehnten und in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts war es vollends so, daß nicht so sehr bedeutende oder gar große Meister die Bewegung trugen, sondern daß Spätrenaissance und Barock sich weit mehr wie große Heerscheuren von tüchtigen Kämpfern darstellen. Nur vom Rokoko kann man sagen, daß einzelne weit Überragende die Führer des Geschehens wurden. Im Ganzen ist es doch so, daß ein einzelner ganz Großer den Aufsprung einer gewaltigen und zugleich noch in Wahrheit gewaltsamen, auf Sturm und Leidenschaft der Seele und des Leibes gerichteten Kunst bewirkt und für das Viertel eines Jahrhunderts mit fester Hand gelenkt hat, daß dann aber eine Bewegung, ein Kunstheer, an seine Stelle getreten ist, die die Grundrichtung jenes ersten Führers zwar gewiß beibehielt, nicht im mindesten aber seine Kraft und Wucht beibehalten konnte. Man stelle sich ein Durchschnittserzeugnis eines Meisters der italienischen, aber auch der französischen Barockmalerei vor und vergleiche es mit einem Werk von Michelangelos Hand, so ist der Rang- und Wertunterschied zwischen
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beiden mit einem Blick umfaßt. Und so gewiß sich die Ebene des Rokoko der von 1550, 1600 und 1700 gegenüber beträchtlich hebt, noch immer ist Michelangelos Höhe nicht erreicht. Man wird sagen dürfen, alle die Spätrenaissancen, wie sie sich einander bis zum Rokoko gefolgt sind, stellen recht eigentlich artvertretende Fälle von Kunstkollektiven, von Künstlerheeren dar, im äußersten Gegensatz gegen den Einen, der mit seiner Kraft einen ganzen Erdteil und das Viertel eines Jahrtausends bewegt und beherrscht hat. Wohl ist das Selbstverständliche, daß auf der Stufenleiter, die doch auch zwischen Michelangelo und den in seiner Zeit besonders zahlreichen Meistern der zweiten und dritten Reihe besteht, diese je ihre Wert- und Ranggruppe bilden; niemals aber kommt es hier zu jenen genau abgegrenzten Stufungen, wie sie in den Bezirken des handelnden Lebens von je herkömmlich gewesen sind. Wohl besteht auch zwischen den Baumeistern des deutschen Rokoko, die als eine Gesamtheit eine so herrliche Kunst hervorgebracht haben, eine stufenreiche Gliederung: der Weg, der von Balthasar Neumann und Pöppelmann abwärts führt, ist lang, und die Rangunterschiede, die sich hier auftun, sind groß; aber die Anteilsbeteiligung, die zwischen den Gliedern eines großen Beamtenkörpers so reiche Verschiedenheiten schafft, ist zwischen Künstlern nicht vorhanden. Wohl unterscheiden sich die Baumeister des deutschen Barock, die von Josef Efiher, den Brüdern Thumb und Franz Beer bis zu Fischer von Erlach und Schlüter aufwärts steigen, nach dem Wert ihrer Werke und soweit auch nach dem Rang ihrer Kraft auf das mannigfaltigste; aber noch nie ist doch auch dem rangwütigsten Bürokraten der Gedanke gekom150
raen, daß der Künstlerwert einer solchen Schar sich nach irgend einem Platz, den ihnen die Hofrangordnung eines Fürsten anweise, bemessen könne. In einem Beamtentum können zwar auch die Wertstufungen ihres Leistens und die neben ihr hergehende Ordnung ihres Amtsranges nebeneinander bestehen; aber den überwiegenden Einfluß auf ihre gesellschaftliche Wertung wird doch der Stempel ausüben, den ihnen ihre Amtswürde aufprägt. So wird sich behaupten lassen, daß die Rangteilungen in den nach Gliederung und Anzahl oft so bedeutenden Beamtenheeren doch einer Ordnungsform entsprechen, die allgemeinen Wert, wenn auch nicht ausnahmslose Geltung hat. Und ebenso gewiß ist, daß diese Teilungen eine Übergangsform zwischen Persönlichkeits- und Massengestaltung darstellen. Bei dem Insgesamt auch eines sehr erlesenen Beamtenkörpers kann es nicht sein Bewenden haben. Wohl wird man das brandenburgische Beamtentum von 1690 auch in seiner Gesamtheit kennzeichnen können; aber es wird nicht genug sein, ihr den obersten Führer, Eberhard Danckelmann, und seine stärksten Helfer, Dodo von Knyphausen und von Grumbkow gegenüberzustellen; es wird vielmehr richtig sein, von jenen obersten Spitzen bis zum Gros der Gesamtheit herab einzelne Gruppen abzusondern, etwa die rein kurfürstlichen und die halb ständischen Beamten, oder auch die höheren, die mittleren Beamten — Subalterne gab es damals noch nicht — und die Unterbeamten. Es ist wichtig zu wissen, daß diese letztgenannten Gruppen durch ihre amtsmäßige Begrenzung zu sehr fest umschriebenen, aber auch zu innerlich fest zusammengeschlossenen Schichten vereinigt werden und daß die 151
so entstehenden Körperschaften mittlerer Ordnung eine sichere Grundlage f ü r die massen- oder besser gesagt körperschaftsgeschichtliche Betrachtungsweise abgeben. Die obersten Persönlichkeitsspitzen, die auf jeden Fall in ihrer Einzelheit und Einzigkeit untersucht werden müssen, bleiben ebenso für sich wie die Massenzusammenfassung der untersten, die Körperschaftszusammenfassung der mittleren Schichten. Selbst noch über den obersten Lenkern und Leitern ganzer Staaten werden sich Kollektivbilder erheben müssen, die auch diese Mächtigsten noch zu Gesamtheiten zusammenfassen. Es ist durchaus nötig, daß, wenn das erste halbe Jahrhundert nach der Reformation oder das erste halbe Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden geschildert werden sollen, auch für den ersten Zeitraum ein durchschnittliches Charakterbild des deutschen Fürsten gegeben werden muß und ebenso eines f ü r den zweiten. Und dabei wird für eine oberste Teilung, die stattzufinden hat, wohl zu unterscheiden sein zwischen den Fürsten, die ihrem Wesen nach etwa zur obersten Führerschicht gehören, und den anderen, die auf diese Würde nur durch ihren lediglich ererbten Rang Anspruch machen können. Immerhin wird sich in diesen Gebieten der inneren Staatskunst nicht von vornherein eine sachliche Schwierigkeit bei der Zuteilung der einzelnen Gruppen des Geschehens an Persönlichkeitsgeschichte hier und Massengeschichte dort erheben. Es wird vielmehr von vornherein zu erklären sein, daß die Geschichte des Behördenwesens oder der Finanzorganisation in einem Staat, etwa einem deutschen Einzelgebietsstaat des siebzehnten oder des achtzehnten Jahrhunderts dann, !52
wenn vielleicht im Lauf eines Vierteljahrhunderts keine Ereignisse von einschneidender Bedeutung vorgefallen sind, der Forschungsweise eben dahinfließender Kollektivgeschichte überwiesen werden können. Greift aber der Regierungsantritt eines neuen und sehr reformlustigen Herrschers oder die Ernennung eines neuen leitenden Ministers in dieses ruhige Fließen eih, dann wird mit der Beschleunigung des Tempos zugleich die Zuspitzung aus dem Kollektiv- in ein höchst persönliches Geschehen herbeigeführt. Auf diese Weise wird sehr leicht immer von neuem ein Wechsel zwischen beiden Geschichtsformen bewirkt werden. Den eigentlichen Grenzfall unter den nebeneinander gelagerten Kreisausschnitten des Gesamtrunds der Geschichte wird immer die Geschichte des äußeren Verhaltens der Staaten zu einander darstellen. Es ist nicht von ungefähr, daß man in allen bisherigen Zeitaltern der Geschichtsschreibung — wenn man nach der be uns beliebten Weise von der Geschichte des griechischen Geistes ab alle Geistesgeschichte überhaupt datiert, also seit zwei Jahrtausenden — alle Geschichte a b zumeist, wenn nicht geradezu allein, aus auswärtiger Geschichte bestehend angesehen hat. Die Schlachten der Könige, die Kämpfe zwischen den Völkern waren jedenfalls immer die lautesten und die augenfälligsten Tatsachen der Geschichte. Es ist nicht etwa eine Seltenheit, sonde n fast die Regel, daß neun Zehntel, wenn nicht geradezu fünfundneunzig Hundertstel aller berichteten Geschichte aus Krieg und Kriegsgeschrei bestanden hat. Und wenn, wie seit dem Beginn des sechzehnten Jahrhunderts, die Kriegsvorbereitungen oder, fast ebenso wichtig, die Kriegsver-
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hinderangen sich zu den Kriegsereignissen gesellten, dann befestigten sich auch für diese Friedenszeiten dieselben Zahlenverhältnisse noch mehr. Kriegführung und Diplomatie blieben bis auf den heutigen Tag die tragenden Säulen aller Geschichtsschreibung, auch der die neuen und neuesten Zeiten angehenden. Dennoch gibt es keine verkehrtere Sicht auf alle diese Dinge, als wenn man das Verhältnis zwischen der äußeren Staatsgeschichte und aller andern Geschichte unter einen einzigen Gesichtswinkel stellen will. So naiv, wie man noch in der Hauptstrecke des neunzehnten Jahrhunderts dieses Verhältnis angesehen und beurteilt hat, dies wichtigste Grundverhältnis in aller Geschichte anzusehen, ist ja heute keine Ursache mehr. Man hat um 1890 die Torheit so weit getrieben, daß man unter dem Losungswort der eigentlichen Geschichte im Grunde diese Dinge noch so wie seit zwei Jahrtausenden betrachtete. Wenn dagegen dann als die bessere Losung die Aufgabe der Kulturgeschichte geltend gemacht wurde, so war dies zwar vollkommen richtig, hatte nur allenfalls das Bedenken, daß unter der Losung Kulturgeschichte etwas allzu einseitig Kulturgeschichte mit dem Nebensinn Nicht-Staatsgeschichte verstanden wurde. Verständigte man sich aber dahin, daß Kultur- gerade auch Staats-Geschichte mit umfaßt, so war alles aufs beste geordnet. Es muß aufs Entschiedenste erklärt werden, daß die Verteilung der Gewichte zwischen äußerer Staats- und aller andern Geschichte erstlich in den einzelnen Zeitaltern unendlich verschieden ist,und daß sie vornehmlich einErzeugnis vonTempo und Temperament der Zeiten und der Völker ist. Immerhin ist nun nicht anzunehmen, daß für diese Frage ein vollkommenes Wirrsal als das Gesamtbild
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der Geschichte beherrschend anzusehen ist. Man kann ja doch mit den wenigsten Worten feststellen, daß zunächst alle früheren Zeiten eigens von Krieg beherrscht sind. Die Urzeit mit ihrem wild entbundenen Kriegswesen im kleinen Maßstab, die Altertumsstufe der archaischen Kulturen mit ihren Kriegen der großen Reiche und des größten Maßstabes, das Mittelalter mit seiner neuen Bindungslosigkeit und seiner Vorliebe für Lokal- und Territorialkriege, die Neue Zeit mit ihrer noch stärkeren Neigung zu organisierten Staatskriegen im wiederum größten Maßstab und letzter technischer Vollkommenheit — diese Entwicklungsalter sind alle überherrscht von Krieg und Kriegsgeschrei. Eine grundsätzliche Änderung hat sich erst im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts vollzogen. Nach dem Intermezzo der großen Explosionen des napoleonischen Zeitalters haben zwei lange Zeitstrecken — von 1815 bis 1858 und von 1871 bis 1914 — eingesetzt, jedes Mal dreiundvierzig Jahre umfassend, in denen innerhalb der Staatengesellschaft nicht nur tatsächlicher Frieden, sondern man wird sagen dürfen grundsätzlicher Frieden geherrscht hat. Für den hier verfolgten Gedankengang kommt auf die Entscheidung, ob lange und dauernde Friedenszeiten überhaupt möglich sind, u m deswillen so viel an, weil die Geschehensform des Krieges oder die einer beständig notwendigen Kriegsverhütung als eine überwiegende auch diese Wirkung im Gefolge hat, daß die Zuspitzung alles außenstaatlichen Geschehens zu persönlicher Lenkung und damit aller Sicht auf dieses Geschehen zu persönlichkeitsgeschichtlicher Abstempelung vollzogen ist. Und es sind auch noch besondere Eigentümlichkeiten dieses außenstaatlichen Geschehens, die zu dieser per-
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sönlichkeitsgeschichtlichen Prägung führen. Der Krieg selbst wie alles Kriegertum ist auf die entschiedenste Form alles Handelns und damit auf Einzellenkung und Führertum gestellt; aber selbst die sanfteren Formen des Geschehens in der auswärtigen Staatskunst bedürfen des Führertums so sehr wie keine andere Weise geschichtlichen Lebens. Und selbst noch eine verhältnismäßig untergeordnete Eigenschaft der Regelung dieser Angelegenheiten in unseren Staaten weist in derselben Richtung: es ist die verhältnismäßig geringe Anzahl der an der Wahrnehmung der auswärtigen Staatskunst Beteiligten. Es gibt keinen Zweig in der Staatsverwaltung und Staatslenkung, der von so wenigen Personen geleitet würde, wie die äußeren Angelegenheiten eines Gemeinwesens. Und daraus folgt dann wieder, daß es hier noch mehr wie sonst wohl auf den engsten Kreis der obersten Leitung eines Verwaltungszweiges, auf den äußeren Kreis der Hilfskräfte aber besonders wenig ankommt. Gerade aus diesem Verhältnis ergibt sich aber auch, daß die obersten Leiter einer noch so hohen Behörde oder eines obersten Behördenkreises nicht immer vollzählig zu der Auslese von Männern zu gehören brauchen, die alle nun als wichtige Träger des Geschehens in Betracht zu ziehen sind. Auch unter ihnen können sich solche befinden, auf die nicht alles ankommt. Sie werden dann ebenfalls einer Kollektivbetrachtung verfallen müssen; das Gleiche gilt von den immer noch nach Hunderten zählenden Helfern und Hilfskräften. Es wird also grundsätzlich immer auf das gleiche Hilfsmittel hinauslaufen: ein Zusammenwirken der Persönlichkeitsgeschichte auf der einen und der Genossenschafts-, der Gemeinschaftsgeschichte auf der anderen Seite.
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Allerdings ist dies Problem das allgemeine, das aller Geschichtsforschung immer von neuem, man möchte sagen täglich und stündlich als Aufgabe gestellt ist; hier aber macht es sich mehr als irgendwo sonst geltend.
V I E R T E S STÜCK DIE ENTWICKLUNGSREIHEN ALS DIE BEGRIFFLICHEN ORDNUNGEN DES NACHEINANDER Die entscheidenden Unterschiede der beschreibenden und der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise müssen an der dritten Forderung des entwicklungsgeschichtlichen Forschungsplanes besonders deutlich zutage treten; doch soll für diesen Fragenzusammenhang das Auseinandergehen beider Forschungsweisen nicht für alle einzelnen Bezirke der Geschichtswissenschaft dargelegt werden, sondern lediglich eine grundsätzliche Erörterung dieser Unterschiede angestellt werden. Ist der vom Leben bunt genug durcheinandergewürfelte Wirrwarr des geschichtlichen Stoffes oder vielmehr der tausend mal tausend Einzelgeschehnisse, aus denen sich dieser Stoff zusammensetzt, durch die Netze der begriffsmäßigen Ordnungen geschlichtet worden, so hat diese Aufbereitung dem Werke der Herstellung von Geschehnisfolgen, das als die eigentliche, als die Kernaufgabe der Geschichtsforschung anzusehen ist, schon zur Hälfte vorgearbeitet. Man würde, ginge man, wie an sich natürlich wäre, von diesem eigentlich geschichtlichen Tun der Geschichts157
Wissenschaft aus, den größten Teil der Forderungen, die an die begriffliche Gliederung des geschichtlichen Stoffes zu stellen sind, als Folgerungen aus dieser begrifflich erst späteren Regel ableiten müssen; denn das erste Einzelgebot, das für diese Herstellung der Geschehnisfolgen aus der inneren Grundrichtung der entwicklungsgeschichtlichen Forschung abgeleitet werden muß, würde die Forderung sein, daß die Einzelbestandteile der geschichtlichen Überlieferung vergleichbar geformt sein müssen, damit sie zu Entwicklungsreihen geordnet werden können, deren erste begriffliche Voraussetzung die Gleichartigkeit der im zeitlichen Nacheinander in sie einzuordnenden Einzelgeschehnisse ist. Mit anderen Worten: die zweckmäßige Anordnung des geschichtlichen Nacheinanders erfordert die begriffliche Ordnung des Nebeneinanders als Voraussetzung. Man wird sogleich gewahr: auch hier, da es sich nicht mehr um das Nebeneinander der begrifflichen Querschnitte durch gleichzeitiges Geschehen handelt, sondern um das Nacheinander der in der Zeit sich folgenden Geschehnisse, ist dennoch das wesentliche Grenzmerkmal, das die entwicklungsgeschichtliche von der beschreibenden Forschungsweise trennt, das gleiche: der Grundsatz begrifflicher Ordnung. Der Unterschied ist auch hier zunächst lediglich ein Unterschied der Einteilung, der Gruppierung, der Gliederung des Stoffes, noch nicht ein Unterschied der Beleuchtung, der Auslegung oder gar der Beurteilung dieses Stoffes. Es ist möglich sich vorzustellen, daß der gleiche Ausschnitt aus der Geschichte eines Lebensbezirks bei einem Volk in einem Zeitalter nach den Grundsätzen beschreibender und nach denen entwicklungsgeschicht158
licher Forschungsweise bearbeitet würde, und beide Darstellungen könnten genau zu den gleichen Ergebnissen der Gewichteverteilung, der Belichtung und Verschattung, der Rangordnung gelangen und könnten dennoch in Hinsicht auf die Anordnung bis in die letzte Zeile hinein verschieden sein. Das wesentliche Hemmnis ist hier die Einwirkung der Zeitfolge. Die begrifflichen Ordnungen des Nebeneinanders werden in den beschreibenden Geschichtswerken durch die Lebenszusammenhänge, die begrifflichen Ordnungen des Nacheinanders durch die Verkettungen der Zeitfolge unterdrückt. Im Grunde heißt beides das Gleiche; denn auch die Zeitfolge der Geschehnisse ist Lebenszusammenhang. Aber eben diese Form der Verkettung mußte für eine Wissenschaft, die ihrer obersten Aufgabe nach vom zeitlichen Nacheinander zu handeln hat, schicksalsvoll werden. Die Zeitfolge bot der Geschichte von ihren ersten Anfängen an einen natürlichen Leitfaden, ein natürliches Gesetz der Anordnung, das sicherlich auf die Erkenntnis des Geschehens zuerst in jedem Betracht fördernd, auf die Dauer aber auch lähmend wirken mußte. Ja, man wird sagen dürfen, daß sie zuletzt wie die Krücke den von ihr Gestützten zwar vorwärtsgebracht, aber zugleich auch für den selbständigen Gang — hier die selbständige Formung des Stoffes — minder fähig gemacht hat. Heut noch ist es möglich, daß ein Geschichtswerk, das etwa dem Leben eines Königs, Feldherm oder Staatsmanns oder dem eines ganzen Volkes gewidmet ist, in buntem Wechsel die Geschehnisse der verschiedensten Lebensbezirke durcheinander würfelt, wenn es sich nur an Zahl und Ziffer von Jahr, Monat und Tag des Kalenders hält. Und es
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ist ersichtlich, daß bei solchem Verfahren die natürlichen Ursachenverkettungen fort und fort zerrissen werden um einer zeitlichen Verknüpfung willen, die nur in den seltensten Fällen ihrerseits den ursächlichen Zusammenhang aufzuklären vermag. Es gilt als statthaft, Geschehnisse der auswärtigen Staatskunst in ihrer Berührung mit zwei, drei, vier Mächten, Maßnahmen der Gesetzgebung, höfische Intrigen, Familiennachrichten aus dem Leben des Herrschers, Charakteristiken neu ernannter hoher Beamter oder Heerführer, Neuerungen aus allen verschiedenen Gebieten der Verwaltung, Handelsverträge und Gewerbegesetze, Steuer- und Heeresreformen in unablässiger dicht gedrängter Folge hintereinander zu behandeln, dies edles in immer neuem rastlosem Wechsel vorzuführen, wenn es nur aktenmäßig gut belegt, quellenmäßig sicher überliefert ist. Der Gegensatz des entwicklungsgeschichtlichen Verfahrens, das hier nur seiner Grundrichtung nach angedeutet, nicht aber in der Fülle einer ganzen Formenlehre geschildert werden soll, ist gegeben durch das Gesetz der Anwendung der Ordnung des begrifflichen Nebeneinanders, wie es soeben als die zweite Gruppe der Regeln der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise geschildert wurde, auf das Nacheinander des geschichtlichen Geschehens in bestimmten Zeitstrecken, deren Länge und Grenzen zu bestimmen die Aufgabe der werktätigen Ausführung bleibt. Das heißt, erst innerhalb des Rahmengefüges der so aufgestellten Teilungen darf sich das Nacheinander des Geschehens entfalten: ein Strom, den die lenkende Hand des bauenden Geschichtsforschers in ein Delta vielfach sich teilender Arme geleitet hat,
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während dort der Strudel eines ungeordnet, ungezähmt dahin treibenden Gesamtstrebens die Geschehnisse aller Betätigungsformen des Lebens bunt und oft •wirr genug durcheinander wirbelt. Die werktätige Geschichtsschreibung, auf das mannigfaltigste beeinflußt durch die Verschiedenartigkeit der Überlieferung, der Aufgaben, der Neigungen und der Fähigkeiten der einzelnen Forscher, zeigt eine lange, vielfach gestaffelte Stufenleiter von Zwischenformen, die von der reinsten Ausprägung der beschreibenden Geschichte, von der Chronik ab zu der — heut f ü r Gesamtgeschichten noch nie, vielfach aber f ü r Teilgeschichten ausgeprägten — Form der rein begrifflich geordneten Entwicklungsgeschichte hinüberführt. In Sonderheit im Bereich der sogenannten eigentlichen, d . h . einer Staatsgeschichte, die die Geschichte der äusseren Staatskunst im Grunde als ihren einzigenPflichtgegenstand ansieht und ihn nur nach Neigung und Bedürfnis mit einigen Abschnitten aus der inneren Staatsgeschichte, etwa denen, die besonders sinnfällige, besonders dramatische Vorgänge — Staatsumwälzungen etwa — angehen, und einigen Übersichten über die Geschichte von Geist und Wirtschaft ihres Volkes, ihres Zeitalters auszustatten pflegt, ist die Annäherung an den reinen, nach rückwärts, zu den Ursprüngen aller Geschichtsschreibung weisenden Zeitfolgebericht noch vielfach bräuchlich. Die Bücher von Gardiner etwa über die englische Geschichte im siebzehnten Jahrhundert sind wohl angesehen und entfernen sich doch von der sorglos kalendarischen Anordnung der Chronik n u r wenig. Bezeichnend ist, wie wenig man bei den im übrigen wohlbegründeten Lobpreisungen der Chronisten großen alten Ruhms, des 11
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Livius etwa oder des Otto von Freising oder Samuel Pufendorf, den Abstand dieser Anordnungsform vom neueren Bedürfnis empfindet. Noch Droysen erklärte Die Taten Friedrich Wilhelms von Pufendorf für eines der Meisterwerke der Geschichtsschreibung aller Zeiten, da sie doch nichts anderes als eine mit nicht allzu viel verbindendem Text ausgestattete Urkundensammlung zur Geschichte der brandenburgischen Staatsund Kriegskunst dieser Tage darstellen, ein Werk, das nur durch seine in jenem Jahrhundert allerdings seltene Quellenmäßigkeit seinen insofern wohlverdienten Platz in der Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung festhalten kann, heut aber völlig unlesbar ist. Auch brauchbar ist es nur in demselben Sinn wie eine Brief- und Aktensammlung von locker aneinandergefügten Einzelstücken. Andere gehen in diesem fast atavistischen Archaismus so weit, daß sie des Atheners Thukydides Peloponnesischen Krieg für das bis an das Ende der Tage festzuhaltende Musterbild aller, aber auch aller Geschichtsschreibung hinstellen, dann freilich durch die eigene werktätige Stellungnahme — zu unserem Glück — eine weit abweichende Richtung einschlagen und Werke schaffen, deren Forschungsweise sich in mehr als einem Betracht sehr weit und ganz grundsätzlich von der des Thukydides unterscheidet. Auch hier wird man nun einwenden, das Leben selbst wolle ja die der reinen Zeitfolge nachgehende Ordnung der Geschehnisse; so also bleibe auch in diesem Stück die beschreibende Forschung dem Leben näher und sei ihm treuer. Dagegen ist zu sagen, daß die Geschichtswissenschaft, der es wie jeder Forschung nicht auf Wiedergabe, sondern auf erkennende Beherrl6s
schimg des rohen Stoffes ankommt, bei Ordnung des Nacheinander unausgesetzt ihren letzten Zweck im Auge behalten soll, der auf die Erkenntnis des Werdens ausgeht. Werden aber kann nur erforscht werden am Vergleichbaren, also an dem begrifflich Zueinandergehörigen. Das Leben selbst aber würfelt dies Zueinandergehörige, das Aufeinanderweisende, das Aufeinanderwirkende, das Einanderbedingende, das Einanderhervorbringende bunt durcheinander, so daß wie vor uns den Heindeinden im eigenen Leben, so auch vor uns den Schauenden im fremden Leben alles unklar und verworren wird. Wissenschaft aber soll dies Wirrsal ordnen und schlichten. Will die Geschichtsforschung das Werden erkennen, so muß es um aller drei Einzelformen dieses Erkennens willen so geordnet werden, daß diejenigen Bruchstücke des Geschehens nahe aneinander gerückt werden, aus deren Vergleich man das teilhafte Sobleiben und Sich wiederholen, das teilhafte Anderswerden und das Innerlichverursachtsein, das Aussichselbsterklärtsein der Ereignisketten, die sich aus beiden Geschehensweisen zusammensetzen, erkennen kann. Keiner dieser drei Teilaufgaben, keiner der aus ihnen erfließenden drei Tätigkeitsformen kann die Geschichtsforschung gerecht werden, wenn sie nicht — wie im Neben- so auch im Nacheinander — das Gleiche zum Gleichen, das Ähnliche zum Ähnlichen ordnet. Und wenn eingewandt wird, daß das Leben anders verfahre, so hält man sich auch damit mehr an das Scheinbare als an das wirkliche Geschehen. Der Forscher greife zum nächstliegenden Beispiel, zum eigenen Leben und prüfe es auf seinen inneren Ursachenbau. Ein Gelehrter führt etwa nebeneinander fünf Unii*
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tersuchungen, er erteilt Unterricht in drei, vier Gegenständen seiner Wissenschaft, er beteiligt sich als Gläubiger am kirchlichen, als Sammler am Kunst-, als Bürger am staatlichen und städtischen Leben; er ist Gatte, Vater, Bruder, Freund — nach drei, vier Seiten hin: kurz, sein Dichten und Trachten spaltet sich vielleicht in zwanzig oder dreißig verschiedene und deutlich von einander abtrennbare Geschehensketten. Einige von ihnen sind vielleicht wieder noch in eine Anzahl von Sonderreihen zu spalten: gesetzt etwa den Fall, eine seiner wissenschaftlichen Arbeiten ist ein vielfach gegliedertes Ganzes, dessen Teile er nebeneinander und gleichzeitig betreibt, so mehrt sich noch die Zahl der nebeneinander laufenden Werdegänge. Nun möchte hier eingewandt werden, daß diese Verkettungen sich alle zeitlich verschlingen und eben deswegen auch gegenseitig bedingen, so daß die wahre Ursachenfolge auch nur bei Einhaltung der reinen Zeitfolge aufgedeckt und erkannt werden könne. Hier aber liegt der Irrtum: denn man überlege doch nur, ob nicht jede einzelne der Teilreihen, der Tätigkeitszusammenhänge, die hier in Betracht kommen, zum überwiegenden Teil immer wieder ein sich selbst anknüpft, nicht aber an die Bruchstücke, die Glieder der anderen Handlungsketten, die die reine Zeitfolge in buntem Wechsel zwischen sie schiebt. Gleichviel ob es sich wie in dem vorliegenden Fall um ein Weiterschaffen im Geist, oder um die Fortsetzung oder Umwandlung einer ganz menschlichen Beziehung — zu einer Frau, einem Freunde, einem Kind — handelt, immer wird es sich zum überwiegenden Teil um ein Wiederaufnehmen der vor Tagen, Monden oder selbst Jahren fallengelassenen Fäden handeln, und das Wie
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ihrer Fortsetzung wird in der Regel weit mehr von dem Zuge seiner früheren Netze, als von irgend einem der im Lauf der Zwischenzeit eingesprengten Glieder der anderen Ketten abhängen. In der Regel und zum überwiegenden Teil, auf diesen einschränkenden, aber auch begründenden Bedingnissen ruht der Ton. Denn selbstverständlich kann das forscherliche Schaffen eines Mannes etwa durch ein tiefes Erleben mit einer Frau, etwa durch eine Erfahrung staatsbürgerlichen Wirkens, etwa durch eine Krafterweiterung durch auch künstlerisches Leisten, in seinem innersten Kern bedingt, bewirkt, verwandelt werden. Aber wenn es sich um Regeln handelt, kann durchaus nur der überwiegende Sachverhalt in Betracht gezogen werden. Und er beherrscht eine so erdrückende Mehrzahl der Fälle und Möglichkeiten, daß er das Gesetz abgeben muß. Keine umsichtige Ausführung dieses Gesetzes wird die Beobachtung der Ausnahmen, d. h. der gegenseitigen Durchkreuzungen und Beeinflussungen außer Acht lassen mögen oder dürfen. Und überträgt man, was hier dem engen Leben des Forschers abgesehen wurde, auf die größeren Maße eines Staatsmannes, eines Herrschers oder auf die noch weiteren Grenzen des Wirkens ganzer Gemeinschaften, ganzer Völker, so wird das Überwiegen der Sachzusammenhänge — die aber auch die eigentlichen Lebensverkettungen sind — nur immer sichtbarer, bis zu der Plumpheit und Grobheit, die sich hier nach dem Gesetz der großen Zahl vor allem in der Geschehensform der Wirtschaft und des Rechts herausstellen muß. Daß damit — um einem hier wieder naheliegenden Mißverständnis vorzubeugen — nicht die Kräftewege
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der persönlichen Ausstrahlungen der Einzelmenschen abgeleugnet oder nur in ihrer Bedeutung gemindert werden sollen, bedarf nur kurzer Betonung, nicht neuer Begründung. Denn alle die Macht dieser Strahlenwirkung ist ja, gebunden in die Form von Sacheinflüssen: die Kraft ist menschlich, persönlich, ihr Ziel, ihre Wirkung aber ist sachlich. Die werktätige Anwendung des hier aufgestellten Grundsatzes kann eigentlich nur in einer Verschmelzung der beiden begrifflichen Ordnungen des Nebenund des Nacheinander bestehen. Oder, um eigentlicher zu reden, es wird nötig sein, den Fluß des Geschehens immer von neuem in das immer gleiche Gradnetz der begrifflichen Ordnungen eines Nebeneinander einzufangen. Und eben die Reihe der im zeitlichen Nacheinander aufgestellten Ordnungsnetze des begrifflichen Nebeneinander ermöglicht so zweckmäßig, wie es dem — gewiß bedingten — Ermessen dessen nach, der hier schreibt, überhaupt möglich ist, das geschichtliche Werden zu beobachten, sein Anderswerden, sein Sobleiben, sein Aussichverursachtsein oder sein Vonaußenbestimmtsein zu erkennen. Wissenschaftliche Kontrollstationen sind es, die an jeder Windung des Flusses der sich wandelnden Menschendinge aufgestellt sind, um ihm Stärke und Richtung, Färbung und Schnelligkeit, physikalische Eigenschaften und chemische Zusammensetzung und jede andere Beschaffenheit, die des Wissens wert und dem Wissen zugänglich ist, abzufragen. Daß auf diese Weise nicht die ganze Summe des geschichtlichen Geschehens aufgefangen werden kann, ist leicht ersichtlich; eben die Bewegung auf den Wegen zwischen zwei Gradnetzen der Ordnungen bleibt
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unbeobachtet. Aber eben diese Regel erleidet eine wesentliche Durchbrechung schon durch eines der in diesem Abriß berührten Grundgesetze der Geschichtsforschungslehre: die Einzelhandlung, die vollen oder annähernden Einzigkeitswert hat, gehört dem Bild der Geschichte aus eigenem Recht an, ihr kommt in dem Kapitel der geschichtlichen Gestaltungen eine Viril-, nicht nur eine Kurialstimme zu: das eigene einzige Erleben Goethes oder Michelangelos, Caesars oder Napoleons wird zwar ebenfalls dieser Form der Feststellung des Werdens unterworfen werden müssen; aber wo immer die Einzelheiten der Sondervorgänge, die zu der so aufgenommenen Verändertheit hingeführt haben, ins Gewicht fallen, können sie zwanglos einbezogen werden. Immerhin wird ersichtlich, daß die hier geforderte Regel vornehmlich auf Vorgänge gestellt ist, die im gleichzeitigen Nebeneinander mehrfach — sei es als einige, viele oder Mengen — auftreten und die sich auch im zeitlichen Nacheinander öfters — sei es mehrfach, vielfach oder sehr häufig — wiederholen. Hierbei muß bemerkt werden, daß das wiederholte Nacheinander die unerläßliche Voraussetzung für diese Regel der Beobachtung ist, daß aber natürlich die Mehrfachoder Vielheit im Nebeneinander nicht unerläßliche Vorbedingung ist. Mein denke etwa beispielshalber an die Thronreden eines Herrschers, die nach Form wie Inhalt einem Wandel unterworfen sein mögen, den für jeden Einzelfall festzuhalten auch einem sorgfaltigen entwicklungsgeschichtlichen Verfahren überflüssig erscheinen könnte, den es aber f ü r einen Zeitraum von zehn oder zwanzig Jahren durch je zwei — an den Anfang und an das Ende gestellte — Entwick167
lungsquerschnitte einmalig ermessen möchte. Hier würde mithin nur eine im zeitlichen Nebeneinander im wiederholte Einzelhandlung in Betracht kommen: daß sie sich aber im zeitlichen Nacheinander öfters wiederholen muß — wenn auch nur ein Mal im Jahr, wie hier — , ist für das Wesen dieser Maßnahme der Forschungsweise eine unerläßliche Bedingung. Der Entwicklungsquerschnitt — so soll diese Form von Aufnahmen des Werdens, die durch quer in die Flucht des Geschehens geschobene Ordnungsnetze des begrifflichen Nebeneinander zu Stande kommen, für dauernd genannt werden—tut einer Anzahl halbwegs im Nacheinander wiederholter Einzelhandlungen aus demselben Grunde genug, wie die Zusammenfassung dem Nebeneinander von gleichen oder ähnlichen Handlungen genugtut. Der Entwicklungsquerschnitt hat im Hinblick auf das Nacheinander nicht ganz die gleiche Form des begrifflichen Aufbaus und Entstehens wie die Zusammenfassung, von welchen beiden Formen der Behandlung des geschichtlichen Stoffes sogleich noch die Rede sein soll; aber sein Zweck ist der gleiche der Vereinfachung des geschichtlichen Bildes. Näher ist seine Verwandtschaft mit dem artvertretenden Fall, von dem ebenso gesprochen werden soll: denn der Entwicklungsquerschnitt schneidet wie dieser aus der Gesamtheit einer Menge von Einzelvorgängen ein Stück heraus: der artvertretende Fall aus einer Gruppe — einem Nebeneinander — , der Entwicklungsquerschnitt aus einer Reihe — einem Nacheinander — von Einzelgeschehen, jedes Mal ein Glied aus einer Kette. Eine besondere Stelle in dem Bild der Formenlehre des Nacheinanders der Geschehensformen nimmt die Geschichte der auswärtigen Staatskunst oder urspriing-
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licher gesagt der äußeren Berührungen zwischen den Staaten ein. Und zwar um deswillen, weil einmal, rein wissenschaftsgeschichtlich gesprochen, gerade dieser erstlich älteste, zugleich aber auch konservativste, Überlieferungstreueste Zweig des Geschichtsbildes jeder neuernden Umgestaltung von Auffassung, Einteilung und Gliederung nicht nur in allen früheren Zeiten, sondern auch in den neueren und neuesten, bis auf den heutigen Tag den zähesten Widerstand entgegengesetzt hat. Mit anderen Worten: durch Zusammentreffen von mehreren besonderen Gegebenheiten wurde hier eine äußerste Neigung zu reiner Beschreibung geschaffen. Der stärkste Grund war der einfachste: diejenige Form menschlichen, staatlichen Geschehens, die die von jeher häufigste und zugleich den Augen und dem Gedächtnis sich am tiefsten einprägende war, war die gewaltsamste und kampfreichste des staatlichen Streitens. Von ihr zu reden war in jedem Sinne Anlaß gegeben: aus Gründen der sinnlich-seelischen Eindrucks tiefe der sich aufdrängenden Geschehensbilder, der Schmerzoder Lustfülle der zu buchenden Ereignisse und endlich einer inneren Wertungsskala zufolge, die immer den Menschen die Auffassung eingeflößt hat, als seien die Taten der Könige, die Siege der Krieger wie des höchsten Preises der Sänger, so auch der treuesten Aufzeichnung durch die Feder der Chronisten wert. Und da nun die Zahl der Ereignisse, die auch Wechselfälle des Schicksals darstellten, von jeher in der äußeren Geschichte der Staaten immer besonders hoch war, da ferner die Zahl der überhaupt eindrucksreichen Ereignisse auf diesem Feld immer eigens groß war, so hat dies Überwiegen der reinen Beschreibung auf ihm die
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schlechthin ausnahmslose Regel gebildet. Und von den Geschichtsschreibern selbst ist dieser Zustand immer wie eine Selbstverständlichkeit angesehen und befolgt worden. Die Folgen, die daraus für die Methode, für das Wie und den Weg der geschichtlichen Darstellung entstanden, waren in hohem Maße anti-entwicklungsgeschichtlich. Das staccato der Einzel-, man möchte fast sagen der Tages-, der Stundengeschehen wurde der herrschende, der vielmehr nie außer Acht gelassene Rhythmus der Geschichte. Was im Jahr, oft nur was im Monat geschah, wurde als Geschehenseinheit empfunden. Von ihr war zu berichten, und, was die Entscheidung im Punkt beschreibende oder entwickelnde Geschichte brachte, es war nicht der mindeste Anreiz gegeben, die Verkettungen des Geschehens über das Einzelereignis fort zu verfolgen. Sollte einmal, was an sich mehr wie wünschenswert wäre, die wissenschaftsgeschichtliche Forschung bis zu der Tiefe der Bearbeitung vordringen, daß sie im Stande wäre, dergleichen Einzelfeststellungen zu machen, so müßte sie, wozu etwa die Geschichtsschreibung des siebzehnten Jahrhunderts besonders reiche Gelegenheit böte, untersuchen, von wo ab, etwa bei Pufendorf, die Erkenntnis einsetzt, daß die einzelnen Verhandlungszüge einen Gegenstandszusammenhang darstellten, den zu verfolgen wichtiger ist, als sich der reinen Zeitfolge zu unterwerfen. Im Ganzen läßt sich sagen, daß selbst bei Droysen in der Seele des Verfassers ein stetes Ringen um diesen Vorrang stattfindet in der Frage danach, ob die Zeitfolge oder ein doch in etwas berücksichtigter Sachzusammenhang den Vorrang behaupten solle. Für beide Formen der äußeren Staatsgeschichte, für
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die der Kriege und die der Staatenverhandlungen hat dieser Sachverhalt die hemmendsten Wirkungen gehabt. Wohl haben hier und da kleine Zusammenfassungen stattgefunden: kurze Reihen von Schlachten sind zu Feldzügen, eine Anzahl von Konferenzen sind etwa zu einer Verhandlungsreihe zusammengefaßt worden. I m Allgemeinen aber hat diese Lagerung der Dinge für die Lagerung des Geschehens selbst wie für die Sehweise der Geschichtsforscher insofern die verhängnisvollste Wirkung gehabt, als f ü r beide jedes Geschehen gleichsam als n u r kurz umschlossene Geschehenseinheit ihren Abschluß fand. Diese Wirkung, soweit sie das Geschehen selbst anging — obwohl sie auch in diesem Betracht bedeutend genug war — soll hier nicht betrachtet werden; eine solche Untersuchung würde ganz außerhalb des Kreises des hier einzuhaltenden Fragenbereiches fallen; für jene Fragen der geschichtsforscherlichen Sehweise aber läßt sich sagen, daß nun — was schließlich für alle Verfahren das tötlichste ist — überhaupt keine Fragestellungen entstanden, die sich auf die Längsreihen dieser Form des Geschehens bezogen. Es ist von kennzeichnender Deutlichkeit, daß im Reich der Tat es weit eher möglich war, verfassungsrechtliche Angelegenheiten in Reihenform zu behandeln, daß es viel eher gelang, Verwaltungs-, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte f ü r ganze Zeiträume in lange Reihen zu ordnen und als lange Geschehensketten zu sehen, als das Gleiche in Hinsicht auf die Geschichte weiter Zusammenhänge der Kriegs- und äußeren Staatskunst zu wagen, ganz zu geschweigen von einzelnen bevorzugten Formen der Geistesgeschichte, so vor allem von der Kunstgeschichte, die um ein 171
volles Jahrhundert früher als alle Gattungen der handelnden Geschichte zum Entwicklungsgedanken überging. Und es war doch nicht etwa so bestellt, daß es sich hierbei n u r u m eine Verzögerung des wissenschaftlichen Fortschrittes gehandelt hätte, und sei es auch um Jahrzehntereihen. Sondern man hat noch bis auf den heutigen Tag mit keinem Handgriff diese Forschungsweisen in der Richtung auf den Entwicklungsgedanken weiter getrieben. Selbst ein Forscher, der wie Delbrück seiner ganzen Arbeitsrichtung nach sehr wohl sich nach dieser Seite hätte entwickeln können, lehnte jede Berührung mit entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweisen grundsätzlich ab. Er hat eine allgemeine Geschichte der Kriegskunst geschrieben, und schon seine Einzeluntersuchung, die einen Vergleich der Kriegsiührung der Perserkriege mit der der Burgunderkriege zum Ziel hatte, war der forscherlichen Absicht nach ganz unzweifelhaft Entwicklungsgeschichte, und trotzdem suchte er mit deren Gedankenreihen nicht n u r nicht die mindeste Berührung, sondern war in Fragen der Wissenschaftstechnik ein abgesagter Gegner aller Entwicklungsgedanken. Geschah dies n u n schon auf dem Gebiet der Kriegsgeschichte, so ist das Bild auf dem Felde des auswärtigen Verhaltens noch viel ungünstiger. Junge Forscher wie Elze haben in Sachen der Kriegsgeschichte schon ganz entschiedene Schwenkungen zu neuernden Forschungsweisen vollzogen; auf dem Gebiet der äußeren Staatsgeschichte bleibt alles wie tot und kalt. Am klarsten wird hier der wissenschaftsgeschichtliche Sachverhalt dann, wenn man ihn nicht im engsten Bezirk der Einzeluntersuchung prüft — was an sich möglich 172
wäre und sogar bestimmte Vorzüge haben würde —, sondern wenn man umgekehrt von den Fragen des weitesten Bereichs, also etwa von den Verfassungsverhältnissen der neueuropäischen Staatengesellschaft ausgeht. Hier aber steht es so, daß man den notwendigsten und zugleich elementarsten Schritt, mit dem man die erste eröffnende Staffel dieses Forschungsweges hätte in Angriff nehmen müssen, überhaupt noch nicht getan hat. Was hier zunächst Not tat, wäre die Erkenntnis gewesen, daß die Geschichte der auswärtigen Beziehungen zwischen den europäischen Staaten nicht das Konglomerat von Hunderten von Einzelhandlungen sein kann, als welches es letzten Endes so häufig noch immer angesehen wird, sondern daß sie aus dem Wachstum einer Anzahl von wenigen Verfassungszuständen, d. h. Verhaltensweisen, bestehen kann. Daß etwa das Verhalten der europäischen Staaten im 8. Jahrhundert von dem im 12. Jahrhundert sich in Sachen der Gesamtkonstitution wie sehr vieler einzelner Verhaltensweisen der Staaten zueinander unterscheidet, müßte zunächst klargestellt werden. Von dieser allgemeinsten Beschaffenheit müßte der Forschungswegabwärtszuden mittleren Verhaltensweisen, etwa zu den Abwandlungen der einzelnen Staatenverhältnisse, eingeschlagen werden, etwa des zwischen Papst und Kaisertum oder zwischen Deutschland und Frankreich. Und endlich könnte die unterste Stufe dieser äußeren Verhaltensweisen erreicht werden, wobei dann vor allem die Häufigkeit der kriegerischen und der friedlichen Berührungen, die Nähe und die Formen des zwischenstaatlichen Verkehrs in Betracht zu ziehen sein werden.
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Ohne daß die Dinge hier bis ins Einzelne verfolgt zu werden brauchen, läßt sich wirksam genug andeuten, wie man von einer solchen Darstellung der mittleren Durchschnitte der zwischenstaatlichen Beziehungen leicht zu einer vollständig ausgeführten Formenlehre dieser Beziehungen gelangen kann. Man möge mich in dieser Sache nicht mißverstehen: mir ist keineswegs unbekannt, daß man in sehr vielen Fällen schon seit geraumer Zeit den Zustand einer folgerichtig deskriptiven Zerspaltung der Einzelfeststellungen überwunden hat und in hundert Fällen Zusammenfassungen über kleine Zusammenhänge, über kurze Strecken der Einzelgeschichte der europäischen Politik vorgenommen hat. Aber man wird schwerlich verkennen können, daß es wissenschafts-, ja nahezu erkenntnistheoretisch ein grundstürzender Unterschied ist, ob man derartige Seh weisen vom Standpunkt generalisierender oder individualisierender Wissenschaft macht. Am unmittelbarsten wird vielleicht der Sinn dessen, was hier gemeint ist, der folgenden Feststellung zu entnehmen sein: was hier als entwicklungsgeschichtliche Gesinnung abgestempelt und wie ihre Durchführung gekennzeichnet werden soll, ist die Weise der systematischen, der begriffsmäßig verfahrenden Wissenschaften. Was hier als Verfassungsund Verhaltensgeschichte der Staatengesellschaft vorschwebt, würde der Weise jeder nationalökonomischen oder gesellschaftswissenschaftlichen Bearbeitung des gleichen Gegenstandes entsprechen. Man wird dagegen erklären, die andere, die individualisierende Weise sei eben die geschichtliche, die im echtesten Sinn historische. Darauf aber ist zu erwidern, daß die gekennzeichneten Zusammenfassungen in je-
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dem Geschichtswerk größeren Umfanges nur, so wie sie hier abgegrenzt sind, etwa die Schlußabschnitte ausmachen können und daß, wo immer die Nötigung zum Eingehen in das Persönlich-Einmalige sich ergibt, dies ja nach allen Seiten freisteht.
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DRITTER ABSCHNITT DIE GRUNDFORMEN DER ENTWICKLUNGSGESCHICHTLICHEN ZUSAMMENFASSUNG
ERSTES VEREINFACHUNG
STÜCK
UND
BESCHREIBUNG
Einer ganz allgemeinen, für alle Bezirke des geschichtlichen Lebens gültigen Ergänzung bedürfen diese Erörterungen. Die Ordnungen des Nebeneinander, von denen zuerst die Rede war und die doch auch mit ihrem Rahmengefüge auf das Nachdrücklichste in die Längsschnitte des Nacheinander eingreifen, gehen eine innere Ordnung an, die bis zu einem gewissen Grade 176
eine rein begriffsmäßige, wenn auch gewiß nicht immer im voraus gegebene, sondern oft auch gerade erst nachträglich und erfahrungsmäßig zu gewinnende ist. Immerhin ist sie nüchtern, schematisch, lediglich ordnungsmäßig, und, so mannigfaltig sie sich dem wechselnden Bilde der Zeiten, der Völker anpassen mag, von einer begrifflichen Starrheit, die nicht die ganze Fülle der Fälle des färben- und linienreichen Leben > umfassen kann. Diese Teilungen, so weit sie auch ins Einzelne getrieben werden mögen, werden sich immer als das Endergebnis einer Kette von Schluß» folgerungen darstellen. Sie werden ihren Ursprung aus einem Begriffsnetz nie verleugnen. Man wird vor allem da, wo solche Begriffsnetze, von den benachbarten Begriffswissenschaften geschaffen, schon wie fertige Gebilde vorliegen, leicht ihr Stoffgebiet bis zu den kleinsten Gevierten, den kleinsten Lebensbezirken herab teilen können. Aber man wird da, wo dies wie etwa in der Geschichte der auswärtigen Staatskunst oder in der der Persönlichkeit nicht der Fall ist, wo vielmehr erst ein Ordnungsrahmen wird gebildet werden müssen, anders verfahren und wird dies Rahmenge füge nicht von oben her von den obschwebenden Begrifflichkeiten, sondern von unten her, von den gewachsenen Gegebenheiten des Lebens aufbauen. Das gleiche aber wird auch in jenen anderen Gebieten des Lebens immer dann eintreten, wo jene von oben her hangenden Begriffsteilungen nicht irgend tief oder — je nach dem Stande der Wissenschaft — nur noch nicht tief genug in das Leben fassen, um es recht durchgreifend zu teilen, oder wo es sich um Sammelerscheinungen handelt, die zu schmal oder zu schwankend, zu schnellen 12 Breysig
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Wandlungen unterworfen sind, ab daß man einem auch noch so wohlgegliederten Begriffsnetz zumuten könnte, für jede von ihnen ein eigenes Geviert zu schaffen. Damit aber wird die Erörterung zu einem weiteren Punkt, zu der dritten Forderung der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise hingeleitet, die eine ganz andere grundsätzliche Frage berührt: die nach dem Recht der Geschichtsforschung auf Gruppen-, auf Sammelschilderung überhaupt und nach seinen Grenzen. Schließlich beruht ja auch alle begriffliche Teilung auf der Nebenabsicht, daß die Erscheinungen zusammengefaßt werden. Der Grundgedanke ist zunächst Teilung, also Gliederung, also Bändigung, Schlichtung, also Beherrschung des Stoffes. Aber die Teilung ermöglicht zugleich die Vereinfachung der angestellten Beobachtungen, insofern in den durch sie hergestellten Teilgrenzen der Ereignisgruppen alle ähnlichen oder gar fast gleichen Einzelereignisse zu einander gestellt werden. Sie finden sich an diesen Sammelplätzen zusammen, während etwa das kennzeichnendste aller Merkmale der beschreibenden Geschichtsforschung ist, daß sie — in der Regel von der Zeitfolge geleitet — die Ereignisse in willkürlicher Lockerheit zusammenordnet, die in den folgerichtigsten Fällen eben um ihrer zeitlichen Gebundenheit willen bis zur völligen Sprengung aller Sachzusammenhänge reicht. Daß die werktätige Forschimg in der Regel eine der sehr vielen Zwischenstufen zwischen den beiden Polen innehat, ist selbstverständlich. Die entwicklungsgeschichtliche Weise dagegen bietet, indem sie grundsätzlich die Wiederholtheiten zusammenordnet, die unentbehrlichste Voraussetzung für 178
die Vereinfachung des Stoffes in ihrem Bild, die sie allerdings sich als ein ferneres Gesetz aufzuerlegen genötigt ist. Und man wende nicht ein, daß eine Darlegung, die wie die vorliegende so viele Kollektivismen bekämpfe, so nicht urteilen dürfe. Denn so oft auf diesen Blättern solche Kämpfe geführt wurden, so oft galten sie doch nur den Nichts-als-Kollektivisten, den sozialistischen und bürgerlichen Materialisten und Massenanwälten, die aus den Massenvorgängen alles geschichtliche Werden erklären wollen oder die den Massen zusprechen, was des Starken, des Schöpferischen, des Einzelnen ist. Die Zusammenordnung aller Einzelgeschehnisse zu Sammelerscheinungen, Sammelbeobachtungen aber ist in diesem Sinn nur in den Nebensachen massengeschichtlich, kollektivistisch, in der Hauptsache aber die Persönlichkeit nicht nur nicht herabmindernd, sondern eher sichernd, ja für den Anblick sie heraustreibend. Ein Vergleich der entwicklungsgeschichtlichen mit der beschreibenden Forschungsweise wird dies ersichtlich machen. Die wesentlichste Stütze, die seit langem alle beschreibende Forschungslehre für sich geltend gemacht hat, ist nächst ihrer Wirklichkeitsnähe ihr Persönlichkeitswert, ihr Individualismus. In einem sehr weiten und deshalb allzuweiten und schlaffen Sinne ist dies zuzugeben: vor allem deshalb, weil Persönlichkeit, Individualität — hier als gleichbedeutend angenommen — in der Tat bei der das Einzelne um seiner selbst willen schildernden Art der beschreibenden Forschungsweise zunächst mehr Berücksichtigung zu erfahren scheint. Ja man wird sagen dürfen, daß die persönlichkeitsbetonte, individualistische Auffassung und die be12*
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schreibende Auffassung der Geschichte bis zu einem gewissen Grade das Gleiche sind: denn Persönlichkeitsbetonung ist zuletzt Besonderheitsbeton\mg, Individualisierung nur in einem bestimmten Fall, dem des Einzelmenschen. Der altüberlieferte Schulausdruck Individualisierung dürfte ohne Schiefheit ebenso wohl auf Einzelhandlungen, wie auf Einzelmenschen angewandt werden. Aber solcher Folgerung läuft eine Gleichsetzung unter, die sie letztlich zum Fehlschluß stempelt: was nämlich die im höchsten Maße berechtigte Persönlichkeitsbetonung, der die zwei ersten Abschnittreihen der gegenwärtigen Untersuchung so eifrig das Wort redeten, erreichen will: die Heraushebung der wirksamsten Ursachenverkettungen, der von Starkem zu Starkem, von Schöpferischem zu Schöpferischem, sie wird durch die beschreibende Geschichtsauffassung eher in Frage gestellt als gefördert. Die beschreibende Geschichtsforschungslehre sowie ihre werktätige Ausführung sind nämlich bei ihrer Besonderheitsbetonung — ihrer Individualisierung — wie der Einzeltatsachen, so auch der Einzelmenschen, stets in Gefahr, allen irgendwie in der Überlieferung erscheinenden Einzelmenschen die gleiche liebevolle und hingebende Aufmerksamkeit zuzuwenden. Ja, wenn man ihre Losungen hört, wie: in der Wissenschaft ist nichts klein, und keine Zunftentwicklung gleicht der anderen, so müssen sie ihrer Natur nach in dieses Zuviel verfallen. Jede, tatsächlich jede Persönlichkeit ist verschieden von der anderen; wie sollte man bei irgend einem Punkte in der Rücksichtnahme auf diese Verschiedenheit innehalten. Kein Zweifel, die großen Meister beschreibender Geschichtsforschung — ihrer allererster, Ranke, an der
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Spitze — haben solche Unterscheidungen sehr wohl gemacht; aber ebenso gewiß haben Geschichtsforscher der beschreibenden Richtung tausend Mal eben die gleichgültigsten und untergeordnetsten Gestalten, nur weil sie Könige, Minister, Generalfeldmarschälle waren, mit einer Genauigkeit abgeschildert, die nicht allein ihnen selbst zu viel Ehre beimaß, sondern auch alle Maßstäbe des geschichtlichen Sehens und Wertens verwirrte. So werden in Wahrheit die Täler hoch, die Berge niedrig gemacht, und es entsteht eine Profillosigkeit, die im Grunde dem Persönlichkeitsgedanken mehr Abbruch tut, als Nutzen bringt. Daß auch für die zusammenfassende, vereinfachende Weise eine Gefahr der gleichen Ebene, nur entgegengesetzter Richtung besteht, soll nicht im mindesten verhehlt werden: sie besteht in der Zurückleitung aller persönlichen Wirkung auf Gesamterscheinungen, in der Auflösung des Anteils des starken Einzelnen in Strömungen, Gesamtbewegungen und dergleichen. Die Frage Mann oder Masse, der sich diese Untersuchung schon von mehr als einer Seite aus genähert hat, taucht hier wiederum unter einem neuen Gesichtswinkel auf. Mail bemerke wohl, sie ist hier weder in ihrem ganzen Umfang aufgerollt, noch auch eigentlich um ihres sachlichen Kemes willen berührt, sondern die gegenwärtige Erörterung nähert sich ihr jetzt nur von dem Standpunkt der Wissenschaftsform, der Forschungslehre. An sich braucht — das zu erweisen ist nicht eines der letzten Ziele dieser Blätter — Zusammenfassung und Vereinfachung des geschichtlichen Bildes zu Gesamtbeobachtungen nicht im mindesten das Grenzverhältnis zwischen dem Einzelnen und der Menge, zwischen
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Mann und Masse zu berühren; aber es ist eine der merkwürdigsten Tatsachen der Seelenkunde der Forschung oder vielmehr des Forschers, daß alle an sich nur die Form des wissenschaftlichen Sehens angehenden Absichten sogleich auch die sachlichen Anschauungen — und umgekehrt — beeinflussen. So hat unbemerkt sicher auch schon dort, wo Sammelbeobachtung — die Feststellung von Handlungsweisen — Brauch wurde, wie in der Kunst-, vornehmlich in der Baukunstgeschichte, aber auch in der Rechts-, in der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, die Abmessung des Anteils der Persönlichkeit zugunsten der Massenerscheinungen Schaden gelitten. Zur offenbarsten Auswirkung aber hat dieser Zusammenhang in der Wirtschafts- und Klassengeschichte geführt: bezeichnender Weise dort, wo die Massenhaftigkeit der Vorgänge am häufigsten und am stärksten zur Anwendung der vereinfachenden Form der Sammelbeobachtung leitet. Wer die bezeichnendsten Leistungen des eifervollsten und voreingenommensten Kollektivismus, des sozialistisch-marxistischen, etwa die geschichtlichen Abschnitte von Marx' Kapital, ins Auge faßt, der gewinnt den Eindruck, als sei hier dem Wirken des Einzelnen, des starken selbst und des stärksten Einzelnen kaum noch ein Anteil an dem Gesamtbild der Dinge gegönnt. Und auch der bürgerliche, betont wirtschaftsgeschichtliche Kollektivismus, etwa der Lamprechts, ist in dieser Richtung sehr weit gegangen. Allein — und dies soll hier lediglich von neuem betont werden — die notwendige Folge vereinfachender und sammelnder Beobachtung ist ein solches Irren durchaus nicht; falls nur — und diese Voraussetzung
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ist freilich unerläßlich — der Wille des Forschers, der eine Sammelbeobachtung anstellt, ebenso stark auf die Ausscheidimg und Wertung des Besonderen, in diesem Falle also des starken Einzelnen, wie auf die Zusammenfassung des vielen — sei es Handlungen, sei es, wie hier, Handelnden — Gemeinsamen gerichtet ist. Dann aber wird eher sich der starke Einzelmensch — wie auch die bedeutende Einzelhandlung — sichtbarer und eindrucksvoller dem Blicke darstellen. Je weiter sich der Wanderer von einem Gebirge entfernt, um so gewisser und um so bedeutender heben sich im Profilbild der ganzen Kette die höchsten Erhebungen. Andrerseits aber wird der Schaden, der durch die Zusammenziehung vieler unbedeutender Einzelhandlungen, Einzelnhandelnder zu den sie umfassenden Sammelbeobachtungen im Sinne des Persönlichkeitsgedankens entsteht, gering sein, da er ja nur die geringen und allenfalls die durchschnittlichen, die mittelmäßigen Leistungen und Leistenden eingeht. Ein letzter Rest von Wirklichkeitsverlust wird freilich auf Seiten dieser Forschungsweise immer übrig bleiben, der den Anwälten der rein beschreibenden Geschichtsforschung unumwunden zugegeben werden muß. Jede Zusammenfassung — man denke nur an das weitestgehende und deshalb faßbarste Beispiel der zahlenmäßigen, der statistischen Zusammenfassung — läßt eine große Fülle kleinerer Einzeleigenschaften, Einzelmerkmale, die im genauesten Sinne des Wortes die Besonderheiten niederer Ordnung an den so in ein Bündel verschnürten Einzelhandlungen und Einzelmenschen darstellen, verschwinden. Aber hier wird man von neuem einwenden dürfen: die Aufgabe der Forschung ist gar nicht, der Wirklich-
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keit um jeden Preis nahe zu bleiben. Sie muß, wenn sie bauend, d. h. stark sein will, ganz wie die stilstarke Malerei oder Bildnerei sich auf nichts so gut verstehen wie auf die Kunst des Fortlassens. Das Opfer, das nach der Seite der Einzelausmalung gebracht wird, d. h. gegen die Wirklichkeit hin, wird gebracht für den Preis unvergleichlich viel größerer Klarheit und Übersichtlichkeit, d. h. nach der Seite der Erkenntnis hin. Und wie sollte der Forschung die Wahl schwer werden zwischen einer subalternen Wirklichkeit dort und der höchsten, der sichtigsten Erkenntnismöglichkeit hier. Zudem —undauch dies soll nicht vergessen werden — : ein Forscher, der aus irgend welchen Gründen — etwa der Rücksicht auf spätere Erkenntniswünsche, die er selbst noch nicht hat und die doch mögücherweise einem späteren Forscher geschlecht kommen könnten, und dies wäre vielleicht der gerechtfertigste Grund, den es gäbe — doch jene des Ignorierens fähigen und würdigen Besonderheiten in sein Geschichtsbild aufnehmen wollte, würde dies auch auf dem hier angegebenen Wege entwicklungsgeschichtlicher Forschungsweise sehr wohl vermögen. Denn die starken Umrisse der zusammenfassenden, freskohaft vereinfachenden Linien können um der Ordnung willen ab Rahmengefüge festgehalten werden und dann immer noch mit der ganzen Menge jener kleinen und kleinsten Besonderheiten angefüllt werden. Sieht man näher zu, so würde freilich dem innerstenBedürfnis des mit Neigung und vorurteilsvoller, also übergroßer Vorliebe beschreibenden Geschichtsforschers auch so noch nicht gedient sein, und da gerät man auf einen neuen Unterschied der Forschungsgesinnung beider Weisen. Es ist nicht allein die Einzelheit, die der
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beschreibende Forscher liebt, da er ja um ihretwillen und nicht um allgemeinerer — von ihm blaß und leer gescholtener — Erkenntnisse willen Geschichte untersucht. Es ist auch die wirklichkeitsnahe, zufallsgegebene Ordnung dieser Einzelheiten, die er — vielleicht zu einem Teil unbewußt — liebt. Die beschreibungsmäßigste Form der Lebensgeschichte, die Gattung Lift and Letters, lehrt in diesem Betracht seine Instinkte, seine Neigungen — denn sie sind es noch mehr als klar bewußte, scharf umgrenzte Absichten. Sie muß ihrem innersten Wesen nach Kleines und Bedeutendes, Vorübergehendes und Dauerndes, Bezeichnendes und Alltägliches wie gleichgeordnet durcheinander mengen und hat in Wahrheit eben an diesem Durcheinander die größte Freude, an dem die Begriffsmäßigkeit der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise wiederum ihren Kerneigenschaften nach fort und fort Anstoß nehmen wird. Man pflegt diese Vorliebe für die vom Leben selbst dargebotene Ordnung der Dinge auf künstlerische Triebe und Neigungen zurückzuführen: völlig zu Unrecht, denn es handelt sich hier — wie noch einmal berührt werden wird — um die Wahlverwandtschaft, nicht mit der Kunst überhaupt, sondern nur mit einer Kunstrichtung: der Stoff- und wirklichkeitsnahen Kunstweise, dem Realismus aller Spielarten, während alle begriffsstarke Geschichtsforschung mit der stilstarken, form- und phantasiedurchtränkten, im selben Sinn wirklichkeitsfernen Kunstweise aller Idealismen ebenso wahlverwandt ist. Die wirklichkeitsnahe Stoffliebe ist der beschreibenden Forschung wie der schilderungslustigen Kunst völlig gemeinsam, wie die bauende Forschung und die bauende Kunst sich gleichen in ihrer 185
herrscherlichen Bemeisterung der Gegebenheiten und Gefüge der Wirklichkeit. Nein, es ist in Wahrheit die Lebensnähe, die der eigentliche Magnet ist f ü r alle beschreibende Forschung — geschichtliche wie jede andere sonst —; sie liebt es, die Gewächse, die sie aus dem Waldboden des wild wuchernden Lebens entnimmt, mit vielem Erdreich an ihren Wurzeln auszuheben und hat kein Arg dabei, daß sie ihren eigentlichen Zweck, die ordnende. Bestimmung der Pflanze, durch solch behagliche Naturalismen nicht eben fördert. Aber, so werden die Beschreibenden einwenden, ist denn nicht das Wiederaufstehenmachen des längst Gewesenen das eigentliche Amt der Geschichte, muß nicht eben die naturgetreueste Wiederbelebung dessen, was einmal war, die zweckdienlichste Art des Verfahrens sein? Darauf kann die Antwort nur sein: niemand wird undankbar sein für derlei Arbeit; aber ihr werdet auch nicht behaupten dürfen, daß damit mehr geschehen sei a b die erste Vorbereitung dessen, was wirklich die Sendung des Geschichtsforschers ist: der Ordnung und des Wiederaufbaus des Stoffes nach eigenen Einsichten. Die aus anderen Gründen unentbehrlichen Urkundensammlungen werden dem gleichen Zweck fast ebenso gut dienen, und die reine Chronik wird für die Zwecke der Denkwürdigkeiten — sei es einzelner Personen, sei es ganzer Lebensgemeinschaften wie Städte, Dörfer, Zünfte, Truppenteile, Vereine — ohnehin aufrechterhalten werden und ihrer Art nach die gleiche Lebensnähe anstreben müssen.
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ZWEITES STÜCK D I E ZUSAMMENFASSUNG UND D E R ARTVERTRETENDE
FALL
Und nun das Gegenspiel: die Formen der Vereinfachung und Zusammenfassung auf Seiten der bauenden, der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise. Gerade hier ist das Bedürfnis einer eingehenden, fallereichen Formenlehre vorhanden, das zu stillen doch hier auch nicht der leiseste Versuch gemacht werden kann. Nur auf die beiden Hauptzeugen dieser Formen sei verwiesen und auf ihre wesentlichsten Lebensbedingungen, auf die Zusammenfassung und den artvertretenden Einzelfall. Sie sind beide unentbehrlich, aber sie sind von ganz verschiedener Wertigkeit, wie sie denn auch ganz verschiedene, ja, man darf sagen entgegengesetzte Formen der Auswirkung aufweisen. Die Zusammenfassung, d. h. die Überdeckung zahlreicher Einzelhandlungen durch die sie alle umspannende Beobachtung einer Gesamthandlung, kann sich darstellen als die vereinigte Handlung einer Anzahl von Handelnden oder, wenn zugleich eine Wiederholtheit, eine Gewohnheitsmäßigkeit dieser bestimmten Form von Einzelhandlungen gekennzeichnet werden soll, als Handlungsweise. Diese ursprünglichste und kraftvollste Form der Vereinfachung ist es, die allen Formen der Massengeschichtsauffassung — allen Kollektivismen — recht eigentlich ihren üblen Ruf eingebracht hat: zum größeren Teil mit Recht, zum kleinen mit Unrecht. Im Namen dieser Forschungsregel sind tausend der gröbsten Irrtümer etwa der materialistisch-sozialistischen 187
Geschichtsanschauung begangen worden. Sie im Ganzen zu verdammen wäre dennoch eine der unmöglichsten und zweckwidrigsten Übertreibungen: Massenvorgänge wie die millionenfachen der Wirtschaft und des Rechts, die zehntausend- und tausendfachen der inneren Staatskunst können gar nicht anders bewältigt werden als auf diese Weise. Wirtschafts-, Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, aber auch Klassen* und Sitten-, ja selbst die Glaubens- und Kunstgeschichte bedienen sich ihrer täglich und stündlich, ohne den Schaden an ihrer Seele zu nehmen, den die lehrhaften oder werktätigen Anwälte der beschreibenden Geschichtsforschung so oft weissagen, wenn es sich um das angeblich gegen diesen Dämon gefeite Kerngebiet der eigentlichen Geschichte, die der auswärtigen Staatskunst und wohl auch die der großen Wendungen der inneren handelt. In Wahrheit müßten auch deren hundertfache Wiederholtheiten so gebändigt werden. Selbst die roheste und plumpste Form der Vereinfachung, die der Zahl — der statistischen Summierung — ist unentbehrlich für die rohesten und plumpsten Gattungen der geschichtlichen Handlungen, derer des wirtschafts-, des rechtsgeschichtlichen Alltags, ja sogar dann, wenn an sich sehr zusammengesetzte, sehr seelische und durchaus nicht plumpe Vorgänge in Betracht kommen, die aber massenmäßig auftreten: so in der Geschichte des Strafrechts die Zahl der Verbrechen oder in der Sittengeschichte die Zahl der Eheschließungen, der Ehescheidungen, die Zahl der Selbstmorde. An der zahlenmäßigen Zusammenfassung, etwa noch in ihrer letzten Ausgipfelung, der Tabelle und der
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zeichnerischen Kurve, kann man wie an einem Schulfall die üblen Eigenschaften, die der Zusammenfassung überhaupt anhaften, erkunden. Die Zahl als Beigabe einer Zusammenfassung verbürgt nämlich — in besonders scharfer Gewährleistung — die in der Tat immer vorhandene Einseitigkeit und Beschränktheit jeder zusammenfassenden Angabe. Gibt eine Zahlentafel an, wieviele Verbrechen im Jahre 1872 im Deutschen Reich begangen wurden, so verbirgt sich darin eine maßlos gewalttätige Zusammenwürfelung der mannigfachsten Verbrechen vom Mord bis zum betrügerischen Bankerott, eine Zusammenwürfelung noch im Sinn der gröbsten Statistik selbst. Aber wenn auch wieder nur die Totschläge ausgesondert sind, so bedeutet auch dieses noch die Zusammendrängung und Zusammenzwängung von Tausenden von Einzelhandlungen, von denen gewiß Hunderte auch im Sinne einer seelenkundigen Durchdringung zusammengehören, ebenso viel oder mehr Hunderte aber nach Umständen und Beweggründen weit auseinanderschießen. Und einigen Dutzenden unter ihnen würde vermutlich n u r eine die innersten Fasern des Geschehens bloßlegende Zerspaltung und Erklärung gerecht, die den zehn- oder zwanzigfachen Kaum der alle Strafrechtsfalle des ganzen Jahres umfassenden Zahlentafeln in Anspruch nehmen würde. Die Schäden solcher Zusammenpressung nach zwei, drei, vier Eigenschaften einer Handlung liegen mithin offen zutage. Aber eben in der Feststellung dieser Schäden liegt zugleich das beste Mittel ihrer Besiegung: sie gibt die Grenzen an, über die hinaus solchen Zusammenfassungen kein Recht, keine Wirkung mehr vergönnt werden darf. Sie haben dort ein Recht, wo es 189
wirklich darauf ankommt, diese zwei, drei, vier Eigenschaften an der Summe der Handlungen einer zahlreichen Menschengemeinschaft, an einem Volk etwa, festzustellen. Will man aber auch nur um Haaresbreite mehr aus dieser Summierung folgen, so begibt man sich freilich ins Unrecht. Und es hegt am Tage, daß hier die stärkste und folgenreichste Fehlerquelle für alle Massengeschichtsanschauung gegeben ist. Es liegt zu nahe, daß man mit jenen zwei, drei, vier Eigenschaften einer Form von sehr häufig vorkommenden Handlungen, die eben noch in Zahlen und Kurven sich ausdrücken lassen und die ja in der Regel die plumpsten und gröbsten zu sein pflegen, dennoch die ganze Fülle des Lebens, die durch diese Kreislinie umschlossen ist, zu erfassen wähnt, vergessend, daß dieser Kreisrand nur Rahmen und Grenze ist, nicht aber der Summe alles Geschehens in seinem Innern gleichwertig. Wollte etwa, um bei dem einen gewählten Gleichnis zu bleiben, ein Erforscher der Sittengeschichte, wie er an sich müßte, die in jenen Zahlentafeln über die begangenen Verbrechen zusammengefaßten Endsummen ausnützen, so würde er in Versuchung geführt, deren Feststellungen für das Wesentliche, ja das Einzige zu halten, was er der Geschichte des begangenen— oder doch wenigstens des entdeckten — Verbrechens entnehmen könnte. In Wahrheit aber möchte für ihn die genaue Geschichte von einigen wenigen Verbrechensfallen unvergleichlich ergiebiger sein. Denn da allerdings es von großem Gewicht für die Sittengeschichte Deutschlands sein würde, festzustellen, wie weit etwa in Hinsicht auf die rücksichtslose Forträumung fremden Lebens die Spannweite der — wie wir sagen verbrecherischen — Kraft des Einzelnen in ei-
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nem bestimmten Zeitraum reicht, so hat für sie die Geschichte einzelner Verbrechen eine weit mehr als kuriositätenhafte, pitavalmäßige Bedeutung. Und nicht einmal in dem einzelnen Unterlassen des Aufsuchens der geschichtlich bedeutenden Einzelhandlungen ist hier der schlimmste Schaden zu sehen, sondern weit mehr in der geistigen Umgewöhnung, die durch häufiges Verfahren nach dieser Regel in der Sehweise des Forschers vor sich geht. Es vollzieht sich eine Vergröberung seines feinsten und besten Besitztumes— des sechsten Sinnes, den der Geschichtsforscher f ü r alle Feinheit und allen Reichtum der Besonderheit des Lebens haben muß. Und da diese Mechanisierung des forscherlichen Sehens auf das verhängnisvollste übereinstimmt mit so viel anderen Maschinenhaftigkeiten unserer Zeit, die uns das Leben und, schlimmer noch, unser Ich täglich plumper und gröber machen, so muß jede erdenkliche Vorkehrung getroffen werden, daß dieses Irren vermieden werde. Nur war es ein ebenso ungefühltes wie hoffnungsloses Beginnen, gegen diese Vergröberung die uralten starren Lehren des individualistischen Deskriptivismus auszuspielen: beide Parteien redeten aneinander vorbei. Die Einen, die Reaktionäre, waren viel zu befangen in der Abwehr des neuen, notwendigen Heilsamen in aller Massengeschichtsforschung, gegen die sie nichts anderes zu setzen wußten als die immer wiederholte Beteuerung von der Einzigkeit jedes Einzelgeschehens. Sie aber ist eine bare Unmöglichkeit gegenüber der myriaden- und millionenfachen Wiederholtheit des Einzelgeschehens, in der Wirtschaftsgeschichte etwa, von der die Vertreter der Massengeschichtsanschauung ausgingen. Keinem der radikalen Kollektivisten kam 191
auch der Einfall, die Vertreter der Gegenanschauung, die sich Individualisten nannten, eigentlich aber Deskriptivisten waren, in ihrem eigenen Lager aufzusuchen, in dem von ihnen ab eigentliche Geschichte bezeichneten Kernbezirk der auswärtigen Staatskunst, und ihnen dort die Notwendigkeit einer Zusammenfassung werktätig nachzuweisen an den Wiederholtheiten, die dort zwar nicht millionen- oder tausendfach, wohl aber hundert- und dutzendfach auftreten. Die Wahrheit liegt zwar gewiß nicht in der Mitte, sondern über beiden Teilanschauungen, die beide gleich einseitig sind. Massenfeststellung, also Zusammenfassung ist für alle massenhaft häufig vorkommenden Einzelgeschehnisse notwendig, eine immer weiter sich verengende Gruppenzusammenfassung für die mittleren Schichten der immer noch halbwegs wiederholten Handlungen, endlich, zu oberst, als Krönung, die Einzelschilderung für die wirklich einzigen Handlungen oder Handelnden. Daß damit dem Persönlichkeitsgedanken mehr und besser gedient wird, als von einer pseudoindividualistischen Deskription, die jeden beliebigen einigermaßen dem Blick auffallenden einzelnen Handelnden für einzig nimmt und ihn ohne Abzug abschildert, wurde schon dargelegt. Denn so wird ja der wahrhaft Einzige wie die wahrhaft einzige Handlung wirklich herauserkannt und viel sicherer abgehoben gegen die Mittleren und Niedern, halb oder ganz Vertretbaren, ewig Gestrigen oder ewig Dutzendmäßigen. Dem Entwicklungsgedanken aber können die Forscher ebenso nur dann genug tun, wenn sie der Mause geben, was der Masse ist, dem Manne, was des Mannes ist, nicht aber der Masse alles, oder dem Manne alles. 192
Die Zusammenfassung aber als Forschungsform bedarf der mannigfachsten Abstufung und Abgrenzung, u m sich diesem Befunde des Lebens in aller Schmiegsamkeit anzupassen. Sie wird schon in ihrer breitesten untersten Ebene, auf der wirklich reine Wiederholtheiten mit allem Recht zu Sammelbeschreibungen zusammengedrängt werden dürfen, wohltun, sich zu ergänzen durch die Stichprobe, den illustrierenden artvertretenden Einzelfall. Sie muß immerfort im Auge behalten, wo die Kreise der Zusammenfaßbarkeiten sich verengen, sei es nach außen, der Menge der ihr zugehörigen Handelnden oder Handlungen nach, sei es nach innen, der Differenzierung der Beweggründe oder gar der Urbestandteile und Grundeigenschaften der Handelnden und der Handlungen nach. Und sie, die der Massenbeobachtung dient, soll keinen Augenblick vergessen, die Einzigkeit einer Tat oder eines Täters dadurch anzuerkennen, daß sie sie aus dem Bereich ihres Massenbildes ausscheidet. Daß es sich bei jenen Gruppen-, jenen Teilkreisbildungen wie hier bei den Einzigkeiten u m eine beträchtliche Zahl von Grenzstufen und Übergangsgraden handeln kann, ist selbstverständlich. Aber nirgends ist abzusehen, war u m nicht eine in Wahrheit entwicklungsmäßig, d. h. begriffsscharf verfahrende Forschungsweise nicht all diesen Geboten, die freilich öfter noch Gesetze des geschichtlichen Fühlens als des geschichtlichen Wissens und Verstandes sind, nachkommen kann, ohne ihre Hauptregel, die möglichste Vereinfachung, d. h . Übersichtlichmachung alles Rohstoffes irgendwo zu verletzen. Nur die eine Einschränkung muß von vornherein gelten, daß allerdings jede Gruppenbildung, jede Stufung, jede Gradbemessung eine Gewalttat bedeutet, die i m 13 Breisig
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feinsten Sinn des Geistes nicht minder brutal ist, wie die der Zahlentafeln; aber ohne diese Zwänge, ohne solche Gewalttaten ist überhaupt kein geordnetes Wissen möglich. Forschen heißt Herrschen, und Herrschen heißt Richten, Sichten, Schlichten über und an dem Stoff. Schon die Sprache, jede Wort-, jede Begriffsbildung ist solche Gewalttat, auf sie verzichten hieße auf jede bauende Erkenntnis verzichten, hieße auch im Reich der Wissenschaft die Photographie an die Stelle des Gemäldes setzen. Der artvertretende Fall, die zweite Form der Vereinfachung, hat einen sehr großen Vorzug vor aller Zusammenfassung: er braucht nicht des Reichtums der Farben und Formen zu entbehren, den allein das Einzelgeschehen gewährleistet. Nur muß er wirklich seine Einzelheit festhalten, was eine Ableitung von ihm, der Typus — der hier das Gattungsbild des Einzelfalb genannt werden soll — nicht tut. Der Typus ist ursprünglich wohl das gleiche wie der artvertretende Einzelfall — die Wendung typischer Fall will nichts anderes besagen, als was hier artvertretender Fall genannt wurde. Aber man versteht heute unter Typus etwas ganz anderes, nämlich das Bild nicht eines wirklichen, sondern nur eines gedachten Falls, der eben, um ihn, wie man meint, in noch höherem Grade artvertretend zu machen, gewisser allzu besonderer Eigenschaften entkleidet wird und dadurch allerdings allgemeiner, aber auch blasser, umrißhafter, von lebendigen Gegebenheiten entleerter wird. So nähert er sich in seinen Eigenschaften wieder der Zusammenfassung. Gerade damit aber verfehlt er seinen Zweck, der ihm den schlechthin entgegengesetzten Weg: den von der Allgemeinheit fort zur Besonderheit hin weist. 194
Der artvertretende Fall soll allerdings nicht u m seiner selbst willen, sondern u m der größeren Zahl ihm ähnlicher Einzelfälle seiner Art geschildert werden; aber es wird immer wirksamer geschehen, wenn dies Bild ganz bunt, ganz farbig, voll ausgestattet, mit allen wesentlichen Gewachsenheiten eben dieses besonderen Einzelgeschehens ausgefüllt ist, also auch denen, die dem Durchschnitt der anderen Glieder der gleichen Gattung nicht eigentümlich sind. So, aber auch nur so, kann die Buntheit des artvertretenden Falls der Umrißhaftigkeit und also auch Blässe der Zusammenfassimg zu Hilfe kommen. Und wie das Leben selbst, so wird auch die Forschung einen Bau von Pyramiden auftürmen, in deren Spitzen sich immer wieder der artvertretende Fall und die Zusammenfassung treffen werden. Je enger die Gruppen geschichtlicher Erscheinungen, die der Zusammenfassung unterhegen, werden, weil die Zahl der grenzsetzenden Merkmale immer größer wird, desto näher werden Zusammenfassung und artvertretender Fall aneinander rücken. Doch darf nicht außer Acht bleiben, daß auch dann noch, ja zuweilen dann erst recht, die Einzigkeit des einzelnen Falls aufrecht erhalten bleiben m u ß . In einer an Zahl nicht großen Gruppe von Einzelhandlungen oder von einzelnen Handelnden schwindet wohl die Anzahl der unterscheidenden Eigenschaften gröberer Mache und weiteren Geltungsbezirkes ; aber die Anzahl der unterscheidenden Eigenschaften feinerer Art und begrenzter Tragweite kann ebenso, ja mehr, steigen.
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DRITTES
STÜCK
ZUSTANDSGESCHICHTE
UND
HANDLUNGSGESCHICHTE Es darf an diesem Punkt der Erörterung von neuem, wie schon bei früheren Gelegenheiten geschah, daran erinnert werden, daß der so oft und von den besten Männern — namentlich von Heinrich von Treitschke — betonte Gegensatz von Zustands- und Handlungsgeschichte nicht irre zu machen braucht: der Begriff der fließenden Zustandsgeschichte hebt ihn in einer höheren Einheit auf, und zwar nicht nur soweit Massenhandlungen in Betracht kommen, sondern auch für die in Wahrheit einzigen Handlungen. Zunächst muß die seltsame Zusammenschweißung aufgelöst werden, in der man dies Begriffspaar der Zustands- und der Handlungsgeschichte mit dem anderen der Kulturund der politischen Geschichte verbunden hat. Es gibt keinen erdenklichen Grund zu einer Auseinanderreißung von Staats- und Kulturgeschichte; denn erstens: alle Geschichte ist Kulturgeschichte, und ein gut Teil aller Kultur verwirklicht sich in der Form des Staats; es gibt keine Staatsgeschichte, die nicht auch Kulturgeschichte wäre: das Wort Kultur in dem einzigen ihm wirklich zukommenden Sinn verstanden als Bildung des Menschen — also nicht Pflege irgend welcher Sachen, auch der geistigsten nicht, am wenigsten aber etwa der äußeren »des Antlitzes der Erde« oder was sonst für Mißbegriffe sich an dieses vieldeutigste der Worte gehängt haben. Zum Zweiten aber ist auch der äußer- und nichtstaatlichen Kulturgeschichte die Abtrennung von der in die
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Formen staatlichen Wirkens gebundenen Kulturgeschichte in keine Wege anzuraten: es gibt nur eine natürliche Scheidung der Bezirke der Geschichte wie des Lebens, die zwischen handelndem und schauendem Schaffen. Die Teilung von Staats- und Kulturgeschichte aber durchkreuzt noch den Bereich des handelnden Lebens und stellt alles werktätige Schaffen — das man als wirtschaftliches im Grunde viel zu einseitig gekennzeichnet hat, denn ein Grundherr ist nicht nur ein Getreide- und Viehproduzent — willkürlich in eine weite Entfernung von dem ihm nächstverwandten staatlichen Wirken. In der Tat ist das wirklich Grenzsetzende, das diese Trennung so schwer gemacht hat, wohl der Unterschied der Forschungsweise — Handlungsgeschichte hier, Zustandsgeschichte dort —, den man an sie geknüpft hat. Nun aber verhält es sich damit so, daß zwischen Zustand in dem hier gemeinten Sinn und Handlung nirgend innerhalb der Geschichte ein grundsätzlicher Gegensatz aufklafft,der erlauben könnte, die einen ihrer Bezirke einer zustands-, die anderen einer handlungsgeschichtlichen Forschungsweise zuzuweisen. Denn Zustand heißt ja nichts anderes als Handlungsweise, d. h. häufig oder massenhaft wiederholte Einzelhandlung. Der reine Zahl- und Mengenunterschied aber, auf den nunmehr der Gegensatz zurückgeführt erscheint, der Unterschied zwischen einzigen und wiederholten Einzelhandlungen, durchzieht — davon war auf diesen Blättern schon in anderem Zusammenhang die Rede — alle Bezirke der Geschichte gleichmäßig: nur ihr Vorkommen ist ungleich auf sie verteilt. Wirtschafts-, Rechts-, Klassen-, Sittengeschichte im Bereich des handelnden Lebens, Glaubens-, Erziehungs-, Mei197
nungsgeschichte in den Bezirken des geistigen Schaffens weisen die tausend-, oft millionenfache Wiederholtheit der Einzelvorgänge auf; bei dem Rest der besonderen Geschichtsformen schrumpft die Zahl der sie ausmachenden Handlungen außerordentlich zusammen, so vor allem in der Geschichte der Staats- und der Kriegskunst hier, der Forschungs- und der Kunstgeschichte dort. Aber von keinem dieser Einzelbezirke der Geschichte, auch von denen der massenmäßigsten Handlungsweise nicht, wird man behaupten dürfen, daß in ihnen der schöpferischen Gewalt der führenden Einzelnen und der entscheidenden Einzelhandlungen nicht der maßgebliche, der oberste Rang zuzusprechen sei. Im Gegenteil, dieser gröbste Irrtum aller radikalen, aller antiindividualistischen, aller persönlichkeitsfeindlichen Massengeschichtsauffassungen, der sozialistisch-materialistischen wie der bürgerlich-allzuwirtschaftlichen, läßt sich eben in den Bereichen der massenmäßigsten Handlungsweisen am ersichtlichsten widerlegen, wenigstens wenn mein die eigenen Maßstäbe dieser Gegner benutzen wollte. Nirgends nämlich ist die Tragweite der Einzelhandlung, der Wirkungsbereich des einzelnen Handelnden, mißt man sie an der Zahl der durch sie hervorgerufenen Nachahmungen, der von den Führern gelenkten Folgerscharen, weiter und ausgedehnter, als etwa in der Wirtschaftsgeschichte hier, als etwa in der Glaubensgeschichte dort. Dem Glaubensschöpfer kommt in einer einzigen Stunde abgrundtiefer, leidenschaftlicher und dennoch fruchtbarer Erregung der Gedankentraum einer neuen Erkenntnis, einer neuen Gestaltung des Glaubensbildes; und durch Reihen von Jahrhunderten in allen Völkern des Erdballs folgen Milliarden von Gläubigen
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bis ins Einzelne hinein, wenn die Überlieferung es hergibt wortwörtlich, ja buchstäblich den Eingebungen dieses einen Menschen in dieser einen Stunde. Das Gebet zu dem väterlichen Gott, das Jesus der Christus einmal gesprochen hat, wie viele Billionen von Malen mag es in allen Zungen des Menschengeschlechts von neuem gebetet, also dem Urbild nachgeformt worden sein. Und alle die Torheiten heutiger Massengelehrtenauffassung, die aus der Geschichte des Christentums seinen Urheber haben hinaustaschenspielern wollen, werden an der Gewalt zuschanden, die jedem letzten Buchstaben dieser schicksalssschweren Reihe von Bitten beikommt, die fast der Bewohnerschaft eines ganzen Sterns zum Glaubensgesetz geworden ist. Was will alles Gerede von den sozialen oder gar wirtschaftlichen Zeitnotwendigkeiten, die diesen Glauben eigentlich hervorgebracht hätten, ihn ohne die Beihilfe eines lebendigen Erzeugers wie in einer chemischen Retorte hätten entstehen lassen, besagen gegenüber dem zuletzt doch höchst persönlichen Gepräge dieser Bitten, das zu begreifen uns nur deshalb so schwer wird, weil •es als Gesetz für Völker, f ü r Jahrhunderte für unser Auge ganz zur Sache geworden ist. Man muß sehr weit herabsteigen auf der Stufenleiter der menschlichen Werte, u m aus den Höhen Glauben schaffender Leidenschaft zu den Niederungen wirtschaftlichen Schaffens zu gelangen. Aber immerhin, ein Drittes der Vergleichung findet sich hier: es ist die herrscherliche Macht der einen schöpferischen Handlung des Erfinders über die myriadenfachen Wiederholungen der nachgeahmten Handlungen. Wer zuerst den Pflug, das Beil oder den Webstuhl, das Fernrohr oder die Lokomotive, das Flugzeug schuf, bleibt Herr-
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scher über Tausende oder Millionen für Jahrhunderte oder Jahrtausende. Und so findet sich, daß im Kernbezirke desjenigen geschichtlichen Reiches, auf dessen Beobachtung die vielseitigste und schrankenloseste aller Massengeschichtsauffassungen, der materialistisch-sozialistische Kollektivismus wie freilich auch sein gemäßigteres Seitenstück, die allzu wirtschaftliche Geschichtslehre, der bürgerliche Ökonomismus sich vorzüglich zu stützen pflegen, die Herrengewalt der schöpferischen Einzelhandlung, des schaffenden Einzelnen über die Menge der Nachahmungen, der Nachahmer am unverkennbarsten sichtbar wird, wenigstens für die Sehweise dieser Gegner selbst: erwiesen durch Maß und Zahl, während freilich der in Wahrheit entscheidende Gradmesser, die Wucht und Stärke des inneren Geschehens, in solcher zeugerischen Stunde für ihre Blickweite ganz unerreichbar bleibt. Und nun halte man inne und überblicke das Ergebnis dieser Zwischendarlegung: es wurde wie zu Anfang behauptet, so jetzt dargetan, daß keines der Teilgebiete, in die das Gesamtreich der Geschichte zerlegt zu werden pflegt, der reinen Zustandsgeschichte in dem hier erklärten Sinn — einer Geschichte, die nur von Handlungsweisen, von wiederholten Handlungen zu berichten hat, zuzuweisen ist. Wenn dennoch die Forschungsweise die eineri Bezirke der Geschichte der Handlungs-, die anderen des Zustandsgeschichte überwiesen hat, so ist auch dies begreiflich: denn während es allerdings nirgends an den entscheidenden Anstößen der Einzelhandlungen fehlt, ist das Zahlenverhältnis zwischen ihnen und den durch sie beherrschten Nachahmungen und Wiederholungen allerdings derartig gestaltet, daß es nicht Wunder nehmen kann, wenn
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man über deren überwiegenden Massen oft die verschwindende Minderzahl jener vergaß. Die Glaubensgeschichte ist — wenigstens bis in die jüngste Vergangenheit — vor einer völligen Verkennung des wahren Sachverhalts bewahrt geblieben durch die übergroße Gewalt der schöpferischen Gründer und Neugründer der Glaubensformen: ist ihr doch nie in den Sinn gekommen , darum, weil die Gemeinden der Gläubigen nach Millionen zählten, die Leistung und Bedeutung der Glaubensstifter herabzusetzen und etwa zu erklären : weil so viele Bedürfnis nach einem Glauben ähnlich dem des Christentums hatten, mußte Jesus oder irgend ein Anderer das Christentum schaffen. In der Wirtschaftsgeschichte aber ist dieser Irrtum immer wieder und wieder begangen worden, und sie, die dort, wo von dem wirtschaftlichen Ergehen ganzer Völker und Klassen die Rede ist, mit allem Recht zur Massengeschichte wird, vergaß zu Unrecht oft genug der schöpferischen Leistung der starken Einzelnen, die neue Werkzeuge, neue Formen der Wirtschaft fanden, und sprach von Strömungen, Wandlungen, kurz Massenerscheinungen, wo sie das Werk von Einzelnen hätte umgrenzen müssen. Und so wurde sie, wie auch die Rechts-, die Klassen-, die Sitten-, zum Teil auch die Verfassungs- und die Verwaltungsgeschichte, zur Zustandsgeschichte. Dagegen — und dies ist die andere Seite der Frage — ist in denjenigen Teilgebieten der Geschichte, die man gewohnheitsmäßig als den eigentlichen Bereich der Handlungsgeschichte angesehen hat, allen Regeln der beschreibenden Geschichtsforschung gemäß, die Einzelhandlung dermaßen als das einzige Zeugnis der Geschichte bevorzugt worden, daß darüber die Zwecke
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und Ziele zustandsgeschichtlicher Richtung, die durchaus auch diesen Arbeitsbezirken der Geschichtsforschung zukommen, gänzlich in Vergessenheit gerieten. Dies nämlich ist als Grundsatz für alle geschichtliche Betrachtung, sie sei auch welcher Art und Gattung immer, aufzustellen und erweislich zu machen: daß der eigentliche Gegenstand der Geschichte nie die einzelne Handlung, das einzelne Geschehen selbst sein kann, sondern das dieses Geschehen erzeugende Leben. Mag es sich um eine geschichtliche Gemeinschaft — in dem früher umgrenzten Sinne, also ein Volk, eine Klasse, eine Kirche, eine Schule von Künstlern oder Forschern — handeln oder um einen geschichtlichen Einzelnen, es kommt nicht darauf an, ihre einzelnen Handlungen als solche, sondern als Zeugnisse ihres — freilich in stetem Wandel begriffenen — Gesamtseins zu erkennen. Dieser Geschichtsanschauung ist ein entscheidendes Wort, das Friedrich zu Voltaire sprach, nicht um dieses Wortes, um dieses Einzelgeschehens willen wichtig, sondern als Urkunde für die Geschichte des inneren Seins des Königs. Zur begrifflichen Begründung dieser Auffassung wird man sich immer nur auf den gleichen allgemeinen Antrieb berufen dürfen, der für alle Gesetze und Regeln der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise die begriffliche Grundlage abgibt: auf den Drang nach Ganzheit oder doch nach Weitgewurzeltheit aller Erkenntnis. Jedes Hindringen nach weiteren und immer weiteren Ursachenzusammenhängen führt von der Einzelheit fort zur nächst höheren Geschehensund Lebenseinheit hin. Es soll nicht halt- und grenzenlos sein, dies vom Einzelnen Fort- zum Weiteren Hindrängen: es wird an sich seine natürliche Sättigung,
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seine innere Schranke finden an den Grenzen der geschichtlichen Lebenseinheiten, an den Grenzen der Lebensgeschichten der starken Einzelnen, an den Grenzen der Zeitalter, der Völker, der Kirchen, der Schulen der Forscher und der Künstler, und so fort. Allerdings, eine unübersteigliche Schranke findet sich erst an den Grenzen der Menschheit selbst; aber die verschiedenen Maße der Kraft und der Neigung werden unendlich viel öfter stehen bleiben an den Zwischenpunkten dieser Grenzenstaffel, werden sich vom Einzelleben, vom Einzelvolkstum, von tausend Formen stark geprägter Lebenseinheit Halt gebieten lassen. Und mit dem Nein des Nichthaftensollens, Nichthaftenwollens an der Einzeltatsache wird sich dann das Ja dieser einmal gewählten Einheitszusammenhänge verbinden, um ebenfalls fortzuführen von dem Geschehensatom, dem Einzelereignis, zu den fließenden Lebenszusammenhängen eines geschichtlichen Einzelnen, einer geschichtlichen Gemeinschaft, die beide nicht zu denken sind ohne weitere zeitliche Ausdehnung und also auch nicht ohne den Zwang zu dem Hineinbeziehen jedes Einzelgeschehens in ganze Geschehensketten. Faßt man beide Erkenntnisreihen, die hier angedeutet wurden, ins Auge, so ergibt sich, daß in beiden Gruppen ein Gemisch von Zustands- und Handlungsgeschichte nachzuweisen ist. Diese an sich plumpe Teilung ist aber so zu verstehen, daß in Wahrheit viele Zwischenstufen von der Handlungsweise — dem Zustand — zur Einzelhandlung hinüberführen; die Mischung der beiden — hier nur einmal angenommenen — Gruppen aber hat sich herausgestellt nicht nur als ein Neben-, sondern auch als ein Ineinander: während die großen Massengeschichtsformen der Wirt203
schafts-, Rechts-, Klassengeschichte allerdings ein deutlich scheidbares Nebeneinander der tausend- und millionenfachen nachahmenden Handlungsweisen hier, der wenigen Einzelhandlungen dort aufweisen, stellen sich die an sich handlungsärmeren Geschichten der Staatskunst oder der Kunst oder der Forschung an sich auf die Seite der Handlungsgeschichte, aber das fließende, werdende, sich wandelnde Leben, das der Träger dieser Einzelhandlungen ist, kann im innersten Kern nur ab fließende Zustandsgeschichte recht aufgefaßt werden. Das Gleiche gilt von der Entwicklung des Einzelmenschen selbst, die allen Bezirken zugehört und in den Führergestalten auch in die eigentlichen Massengeschichtsformen hinübergreift. Unter fließender Zustandsgeschichte aber, die mithin als oberste, umfassendste Formel für die Entwicklungsformen beider Geschichtsgruppen gelten soll, wird nichts anderes zu verstehen sein, als was auf diesen Blättern sonst Entwicklungsgeschichte im engsten und betontesten Sinne dieses allzu proteischen Wortes genannt wurde: die im Zuge einer längeren Zeitspanne als Einheit gesehene Summe von Veränderungen, die sich an dem Wesen einer geschichtlichen Einheit, d. h. einer geschichtlichen Gemeinschaft oder eines geschichtlichen Einzelnen bemerken läßt.
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VIERTER ABSCHNITT FORSCHUNGSGRADE U N D FORSCHUNGSFORMEN
ERSTES GENAUIGKEIT U N D
STÜCK AUSFÜHRLICHKEIT,
ICHMÄSSIGKEIT UND Z E I T B E D I N G T H E I T DER
FORSCHUNG
Bei der erneuten Durchmusterung der Einzelforderungen des Begriffs der Entwicklungsgeschichte an die Forschungsweise, die auf den letzten Blättern angestellt wurde, ist nur die dritte von ihnen noch unerörtert geblieben, die die Aufsuchung der Ursachenzusammenhänge angeht. 205
Diese Forderung erscheint so selbstverständlich; aber eben an dem Maße ihrer Erfüllung läßt sich wie an einem Meßstabe der Grad der Sicherheit und Entschlossenheit ablesen, mit dem entwicklungsgeschichtliche Forschungsweise sich durchsetzt. Ja, man kann sagen, daß hier der Punkt gegeben ist, an dem sich die Geister scheiden. Aus dem sehr einfachen inneren Grunde, daß eben hier das Endziel erreicht ist, dem auch alle zuvor erwogenen Forderungen dieser Forschungsweise dienen. Scharfe Umgrenzung der Begriffe, ein klares Begriffsnetz des Nebeneinander, Vereinfachung, Auslese artvertretender Fälle, dies alles sind mittelbare Werkzeuge f ü r die Herausstellung klar zu übersehender Ursachenzusammenhänge; die Entwicklungsreihen sind diese selbst, und wenn nun letztlich doch die Forderung der Ursachenaufdeckung an sich erhoben wird, so kann es sich n u r noch u m eine insgemein gerichtete Gesamtwiederholungdieses Punktes handeln und u m einige Anwendungen dieser Hauptforderung, die bisher nicht berührt wurden. Alle letzten, ja noch die vorletzten Fragen, die sich in Hinsicht auf die Verursachung des menschlichen Geschehens und ihre Arten und Formen aufwerfen ließen, sollen dabei in Bescheidenheit unerörtert bleiben. Diese Fragen nach dem W a r u m des menschlichen Handelns und dem Inwiefern seiner Bedingtheit sind so tief verstrickt in die Erkenntnislehre und in die Sehwinkel und Sehweisen f ü r dies Warum und Inwiefern, daß Geschichtslehre und Geschichtsforschungslehre sich gleich gern von der Verantwortung für ihre Lösung — oder Nichtlösung — entbunden sehen werden. Jenes oberste Gebot der denkbar weitesten Zurückverfolgung, das aufgestellt wurde, erfahrt eine wesent206
liehe Bestätigung durch die Lehre von der Kraft, wie sie zuvor vertreten worden ist1. Denn eben die weitesten Ausstrahlungen von Kraft, die also die größten Wirkungsbereiche umgreifen, können auch die am weitesten zurückreichenden sein: die Beispiele der drei stärksten Glaubensgründer bieten sich zum Belege dar. Man könnte versucht sein, zu dem Nichtverlorengehen aller physikalischen Kraft ein Seitenstück in der Welt der Geschichte zu fordern, drängte sich nicht von allen Seiten die Beobachtung auf, daß alte oder müdgewordene Strahlungen der Kraft gegen Ende ihres Weges von anderen, neueren oder stärkeren Strahlen verdrängt werden und schließlich ruhmlos enden, da sie doch, wenn diese glückhafteren Nebenbuhler nicht aufgetreten wären, noch eine lange Strecke Weges weiter hätten wirken können. Immer von neuem drängt sich das Gleichnis auf, daß alle Geschichte einem aus tausend Fäden gesponnenen Seile gleicht: einzelne von ihnen ziehen sich Jahrhundert-, Jahrtausendstrecken entlang, die meisten aber dürfen nur eine kurze Spanne lang Teil haben am Gespinst der Zeit. Sinn aller Geschichtsforschung aber ist, dies Gewebe aufzudröseln, so weit das Menschenwitz vermag: das erste wie das letzte Gesetz dieses mühsamen und bei der Brüchigkeit unserer Einsicht vielleicht nie höheren ab halben Erfolg verheißenden Tuns. Dies Gleichnis aber wie jede ganz unbildhafte, ganz begriffliche Zerlegung der Aufgabe der Geschichte führt zu der Erkenntnis zurück, daß Richtung, Schicksal, Ergebnis aller Forschung abhängig ist von Vom geschichtlichen Werden I, Persönlichkeit und Entwicklung (1925). 1
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den Maßnahmen der Ordnung, die die Behandlung, die Ausnutzung des Rohstoffes vom ersten bis zum letzten Schritt bedingen und bestimmen. Was zu einander gehört, sei es im Querschnitt des örtlichen, zeitlichen, begrifflichen Nebeneinanders, sei es im Längsschnitt des Nacheinanders, d. h. in den Entwicklungsreihen, in den Ursachenketten, ist lediglich Ergebnis immer erneuter siebender, sondernder, sammelnder Tätigkeit, eines Ordnens also in jedem Falle. Wenn die Schwesterwissenschaft, die Erdkunde, längst erkannt hat, wie auf die wesentlichsten Hilfsmittel solcher ordnender Tätigkeit, auf die Abgrenzung scharfer Begriffe und den Aufbau einer auf sie gegründeten Formenlehre — scheinbar nur Voraussetzungen der wirklichen Forschertätigkeit — doch unendlich viel ankommt, so ist es das Schicksal der Geschichtsforschung, daß sie sich um dergleichen Ämter noch sehr selten und sehr wenig bekümmert hat, weil ihr die hierfür unerläßliche Grundneigung zu begriffsscharfer Folgerichtigkeit abgeht. Wunderlicher Weise aber hat man diesen inneren Gegensatz begrifflich-entwickelnder zu beschreibend-erzählender Forschungsweise mit einem ganz äußerlichen gleichgesetzt, der in Wahrheit gar nichts mit jenem zu schaffen hat: mit dem Gegensatz zwischen allgemeiner und Einzelforschung. Es ist verständlich, daß eine allgemeine Forschung, vornehmlich die allgemeinste, die überhaupt möglich ist,die weltgeschichtliche, ihrem innersten Wesen nach mit der stärksten Wucht auf alle Forderungen entwicklungsgeschichtlichen Ordnens verwiesen ist. Denn nach den eigentümlichen Voraussetzungen ihrer Tätigkeit hat sie mehr als jede andere, dem Stoffe näher gelagerte, d. h.
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als jede Einzelforschung, mit der Formung von Überlieferung statt mit dieser selbst und also mit deren Herstellung und Reinigung zu schaffen. Indem sie sich ihren natürlichen Arbeitsbedingungen nach sehr viel öfter auf die Behandlung der Überlieferung durch andere als auf eigene gründen muß, so überwiegt notwendig in ihrer Tätigkeit das begriffliche Reihen und Sichten, Scheiden und Sammeln, kurz das Ordnen. Die immer neu auftauchenden oder fortgeführten Versuche rein beschreibender, d. h. zusammentragender, kompilierender Weltgeschichten erschüttern nicht, sondern bestätigen diese Beobachtung. Die Schlaffheit des Gedankens, der man vergeblich durch irgend eine nationale, religiöse oder Prestige-Parteinahme aufzuhelfen trachtet, erweist sich hier greifbarer als irgendwo sonst in ihren Mängeln, weil die Forschung dort versagt, wo sie zuerst ihres Amtes walten sollte, ja wo sie fast allein die eigene gestaltende Kraft ihres Urhebers an dem bewältigten Stoff dartun kann. Denn Weltgeschichten haben, wenn sie solcher ordnenden und eben darum schon beleuchtenden Bearbeitung entbehren, keinen anderen als den bloßen Nützlichkeitswert eines populären Handbuches. Ähnlich wird die Bedeutung von zusammenfassenden Darstellungen der mittleren Schicht, von Geschichten ganzer Völker, ganzer Zeitalter oder doch wenigstens sehr umfassender einzelner Entwicklungsreihen, Geschichten etwa des Rechts oder der Wirtschaft, des Glaubens oder der Dichtung eines Volkes sich zum größeren Teil in der ordnenden Endbearbeitung des in der Regel erster Hand schon von Anderen behandelten Stoffes zeigen müssen. i*
Breyslf
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Aber man würde doch irren, wollte man annehmen, daß die Einzelforschung, und sei sie auf den engsten Stoffbezirk, den geringsten Bruchteil des Gesamtgehaltes der Geschichte beschränkt, der Vorschriften der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise entbehren oder auch n u r in irgend einem Teilsinne von ihnen geringeren Nutzen ziehen könnte als die allgemeine Geschichtsschreibung. I m Gegenteil, diese Regeln erweisen an ihr noch neue Vorzüge: die nichtsals-beschreibende Forschungsweise zeigt nämlich in der Einzelbearbeitung eine ihrer folgenreichsten Schwächen: ihr Mangel an Straffheit und Folgerichtigkeit der gedanklichen Durcharbeitung f ü h r t hier nicht allein zu ungenügender Ordnung des bearbeiteten Stoffes, sondern vor allem schon zu unzureichender Wahl und Lese unter den von der Überlieferung selbst dargebotenen Bruchstücken des noch rohen Stoffes der geschichtlichen Nachrichten. Ein verhängnisvoller I r r t u m hat eben in diesem Betracht unsäglich viel Schaden angerichtet: man hat die Fülle des Rohstoffes mit der Treffsicherheit der Forschung, man hat Detailliertheit mit Exaktheit verwechselt. Es war der notwendige Gang der Entwicklung, der die Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts dazu führte, von dem (jiccKpooKcmEU seines Vorgängers und dessen weitsichtiger, aber auch nicht hinlänglich eindringlicher Allgemeinforschung zu dem |iiKp00K0Tt£Ü einer das Sehfeld begrenzenden, aber sich um so tiefer einbohrenden Einzelforschung fortzuschreiten. Und die meisten — wenngleich nicht alle — Siege, die es davongetragen hat, sind in dieser Richtung erfochten worden. Bezeichnend ist freilich, daß die Bedeutend2IO
sten der Herauf führer der neuen Weise Forscher waren, die noch die weite Sicht der vom achtzehnten Jahrhundert ererbten Blickwinkel hatten: Wilhelm Humboldt, Savigny, Ranke und allen voran der an Leistung gewaltigste Jakob Grimm. Daß diese Generation von Forschern einmal Werkzeug und Weg fand f ü r die neue Einzelforschung, zugleich aber noch Haltung und Stärke genug behielt, über Völker, über Zeiten fort Ereignisketten, Ursachenverknüpfungen als Ganzes zu sehen, begründet die Überlegenheit des geistigen Gewichtes ihrer Leistung über das der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Aber eben die Verbindung beider Fähigkeiten mag sie bewahrt haben vor der Verkleinlichung des Einzelsehens und des Genausehens, die später so oft eintrat. Mit dem, was hier Verkleinlichung genannt ist, soll aber im mindesten nicht die Genauigkeit — die man in der heutigen Gelehrtenmundart Exaktheit zu nennen pflegt — getroffen oder auch nur berührt werden. Im Gegenteil: alle jene Teilforderungen, die hier aus dem Gesamtbegriff der Entwicklungsgeschichte abgeleitet wurden und die ihre Anwendung im völlig gleichen Maß auf Einzel- wie auf allgemeine Forschung finden, führen, noch auf die engste Sonderarbeit bezogen, zu Folgerungen, die fast immer ein Mehr, nicht ein Weniger gegenüber den Ergebnissen einer nur von den Richtlinien rein beschreibender Wissenschaft bestimmten Einzelforschung bedeuten. Sehr natürlich: da ja der wichtigste Unterschied zwischen entwickelnder und beschreibender Forschungsweise auch hier bestehen bleibt: die entwickelnde Geschichtsforschung stellt ihre Fragen an den Stoff, die beschreibende läßt sie sich von ihm diktieren. So kommt es, daß im Sinn 14*
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entwicklungsgeschichtlicher Forschungsweise unternommene Einzeluntersuchungen zwar vielleicht nicht mehr, aber mannigfaltigere und verborgenere Einzeltatsachen ans Licht zu ziehen genötigt sein werden. Der Unterschied wird immer darauf hinauskommen, daß der beschreibenden Einzelforschung die Einzeltatsache um ihrer selbst willen wertvoll erscheinen wird, während sie die entwickelnde Einzelforschung immer nur dann heranziehen wird, falls ihr eine über sie — die Einzeltatsache — selbst hinausreichende Bedeutung zukommt, sei es, daß sie das Glied einer Kette von Wirklingen und Ursachen ist, sei es, daß sie für sich selbst — aber erst im Vergleich mit allen anderen gleichgeordneten Einzeltatsachen — eine Wichtigkeit erhält, die dann ebenfalls über sie selbst hinausreicht, insofern sie die Gesamtkontur einer Gruppe geschichtlicher Tatsachen durch ihre — an sich ganz vereinzelte — Zackenlinie ändert. Ein solches Wählenwollen und Wählenkönnen, das zuletzt ein Wählenmüssen wird, bedingt und bedeutet aber eine Straffheit der geistigen Gesamthaltung, die wiederum im offenen Gegensatz zu der Art und Weise aller beschreibenden Forschung steht. Durchblättert man die örtlichen und landschaftlichen Zeitschriften der Geschichtsforschung, so zeigen sie neben bedeutenden Ausnahmen überwiegende Fälle von Abhandlungen, die auf das Naivste die Anhäufung von Einzeltatsachen mit Einzelforschung verwechseln und die im Grunde nur wieder Baustoffansammlungen darstellen, aus denen ein schärferes Auge mit neuer Mühe erst auslesen muß, was unter diesen Schutthaufen von Gleichgültigkeiten sich an nutzbaren Werksteinen verbirgt. 212
Man erklärt nun wohl, eben diese Wahllosigkeit bedeute nicht nur keinen Nachteil, sondern einen neuen Vorzug, insofern sie größere Sachlichkeit und geringere Ichmäßigkeit gewährleiste; aber auch diese Annahme leitet irre. Denn eben diejenige Form der Vorurteile, die die tiefste, primärste, elementarste, unbewußteste und eben darum die schädlichste ist, die Zeitbedingtheit des Forschers und seines Werkes, setzt schon in der Schicht der wissenschaftlichen Arbeit ein, die tiefer gelagert ist auch als die beschreibungslustigste Einzelforschung: bei der Auswahl des Stoffs innerhalb der Gesamtmenge der von der Überlieferung dargebotenen Einzelnachrichten. Während man nämlich — nicht heute gerade, aber vor einiger Zeit — ein großes Wesen von der Ichmäßigkeit — vulgo Subjektivität — der Geschichtsforschung machte und etwa die Sachlichkeit Rankes über die Ichmäßigkeit Treitschkes oder die Janssens setzte, übersah man, daß es eine viel reicher sprudelnde Quelle der Vorurteile gibt als die sehr deutliche — und deshalb vom Leser selbst vielleicht sehr schnell zu überwindende und zu bessernde — des Nationalismus Treitschkes oder des Konfessionalismus Janssens: das ist die Zeitgemäßheit, Zeitbedingtheit, Zeitbestimmtheit jeder Geschichtsforschung. Diese kann sich sehr stark, fast stärker noch als im Fall Treitschkes, auswirken in Urteil und Beleuchtung des Geschichtsforschers. Mommsen selbst, der doch die Losung der Voraussetzungslosigkeit aller Forschimg ausgab, bietet ein überdeutliches Beispiel dieser Form der Zeitgemäßheit dar. Seine Römische Geschichte ist für die Ausgänge der Republik bis zur Peinlichkeit durch die — an der Größe seines Stoffes gemessen — doch enge und kleine Erfahrung seiner 213
parlamentarischen Parteikämpfe in Urteil, Färbung und — in einem uns heut schon unmöglich dünkenden Maß — selbst im Ausdruck bestimmt. Wie seltsam schauen uns Wendungen wie General Sulla an, von vielen ähnlich zeitgemäß schillernden Glanzlichtern parteinehmender Übertreibung, sei es der Betonung hier, sei es der Inschattenstellung dort, mit denen der Zeitgenosse der Pilotyschule seine Darstellung aufhöhte, ganz zu geschweigen. I m unteren Bereich aber sind Werke der höchsten wie der mittelmäßigsten und niedersten Bedeutung abhängig von einer viel minder deutlichen Zeitstimmung, deren Anzeichen wir Heutigen zu einem Teil als selbst noch von ihr beherrscht gar nicht bemerken können. Diese Zeitstimmung — aus dem Inbegriff aller geistigen und gesellschaftlichen Urteile und Vorurteile, Eingenommenheiten und Voreingenommenheiten bestehend, setzt sich zusammen aus philosophischen Grundansichten so gut wie Staats- und Parteianschauungen, Glaubenssetzungen und -Schattierungen so gut wie den kleinsten Modemeinungen des Tages oder des Jahrzehnts. Die Macht dieser Zeitstimmung aber verhält sich zu den staatlichen Vorurteilen Treitschkes oder den kirchlichen Janssens — u m zwei Grenzfalle zu nennen — etwa wie der Balken im Auge des biblischen Sittenrichters zu dem Splitter in dem seines Nächsten. Oder glaubt man etwa, daß die Beurteilung der Großkönige des alten Ägyptens durch manche Gelehrte von 1870, 1880 auch n u r um eines Haares Breite an lächerlicher Kleinbürgerlichkeit und Ebershaftigkeit zurücksteht hinter den Romanen des geschätzten Ägyptologen ? 214
Die Unterscheidung von Ichmäßigkeit und Sachlichkeit, Parteilichkeit und »Voraussetzungslosigkeit« — eines der unhaltbarsten Schlagwörter, die überhaupt je in diese Kämpfe geworfen sind — geht hier — dies sei n u r im Vorübergehen bemerkt — ebenso weit in die Irre, wie wenn sie Rankes Sachlichkeit und Gegenständlichkeit rühmend in Gegensatz etwa zu Treitschkes Ichmäßigkeit bringt. Die Ichmäßigkeiten Rankes sind — wie wäre er denn sonst der Große, der er ist — in starkem Maße vorhanden, sie liegen n u r viel tiefer, sind wurzelhafter, feiner als die unvergleichlich derberen Treitschkes. Meint man, in der herrscherlichen Weise, mit der Ranke in seinem Päpstewerk dem einen höchsten Priester seine Gunst zuwendet, dem nächsten sie zur Hälfte, dem dritten sie ganz versagt, offenbare sich nicht ein überstarkes schauendes, urteilendes, richtendes Ich? Oder, u m diesem Gewaltigen, Vielgestaltigen von einer anderen Seite zu nahen: es gibt keinen unter den — bedeutenden — Geschichtsschreibern, dessen Schilderungsweise mehr zeichnerisch, weniger malerisch wäre; Macaulay, Carlyle, Treitschke als stärkste Farbenmaler unter den Meistern geschichtlicher Bildniskunst sind als Gegensätze gedacht. Zeichnen aber ist, sagt man, die Kunst des Fortlassens. Und sicherlich: wer die Darstellungskraft Rankes recht würdigen wollte, der müßte fast mehr noch von seinem Schweigen, dem Was und dem Wie seines Verschweigens, als von den sublimen Künsten seiner Rede sprechen. Was aber ist herrscherlicher, was ichmäßiger als das Versenken starker Tatsachen, ganzer Tatsachengruppen in den Abgrund der Vergessenheit durch den ersten Meister der Geschichte?
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Also wahrlich — um den Faden dieser Darlegung wieder weiterzuführen — eben das Aufnehmen oder Verwerfen noch des letzten Bruchstücks der Nachrichtenmasse ist im tiefsten ichmäßiger, zeit-, partei-, strömungs-, glaubensgefarbter als jedes Urteilen durch Beleuchtungsgunst oder grobes Schelten oder sonst starkes Herabmindern und Verkleinern. Und noch der niederste Kärrner der Wissenschaft teilt dieses Herrenrecht mit ihren Königen. Und man berufe sich auch nicht darauf, daß eben die hingegebene, wahllos »sachliche« Stofflichkeit beschreibender Einzelforschung diese Gefahr beseitige, daß, weil so unbeherrschte und ungesiebte Stoffmengen aus der Überlieferung aufgenommen würden, weit eher zu hoffen sei, daß nichts Wesentliches fortgelassen sei. Denn einmal wirkt eine Einzeltatsache, die mit hundert Gleichgültigkeiten auf einen Haufen geworfen ist und unter ihrem Wirrwarr verschwindet, fast nicht stärker, als wenn sie ganz übergangen wäre, und sodann leitet jener Inbegriff zeitgemäßer Bewegungen noch die Hand des Verfassers einer Einzelabhandlung stoffhächster und stoffgefülltester Ordnung dermaßen stark, daß keine noch so wahllose Stoffliebe ihn davor schützen kann, eine Einzeltatsache zu übersehen, die gerade der Zielsicherheit entwicklungsgeschichtlicher Forschungsweise wichtiger als alles ringsum erscheinen würde. In der Hand der Könige der Forschung kann eine letzte Einzelheit Wunder der Aufhellung wirken, während sie in der des Kärrners, dem sie eine von vielen Tausenden gleich wissenswürdiger Bruchstücke ist, tot bleibt — zuletzt freilich nur ebenso tot, wie die Gesamtlinie der Entwicklung, mit deren Einzelgliedern er sich abmüht.
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Will man über die Zeitbedingtheit auch der konzentriertesten Einzelforschung sich das rechte Urteil verschaffen, so ist nur nötig, in irgend einem Zuge der Geschichtsforschung u m 40, 50 Jahre zurückzugreifen und die besten der damaligen Einzelforschungen auf ihre heutige Haltbarkeit, ihren gemeinen Wert, u m gut steuertechnisch zu reden, zu prüfen. Da aber ergibt sich, daß sie fast ausnahmslos nur noch geteilte oder zuweilen auch wohl gar keine Gültigkeit haben, obwohl sie zur Zeit ihrer Entstehung das beste Recht auf Anerkennung hatten und sie sich auch in hohem Maße erworben haben. Und forscht man nach dem Grunde dieser Erscheinung, so findet sich wohl durchgehend, daß Weg und Wie der Forschung sich geändert haben; die tiefste Wandlung aber betrifft die Auswahl dessen, was der Beachtung und Beleuchtung wert befunden ist. Und wollte man einwenden, daß diese Auswahl sich seit einem Jahrhundert beständig in der einen Richtung auf Vermehrung und Vereinzelung des Stoffs, also auf steigende Mikroskopierung verändert habe, so würde man damit sehr oberflächlich urteilen. Denn wenn die Gesamtbeobachtung auch im Allgemeinen richtig sein mag, die entscheidende Färbung erhält jede Änderung der Forschungsweise durch die Wechsel der Interessenrichtung, wobei an sich gleichgültig ist, ob die neu beobachteten Tatbestände im Sinn der Vereinzelung und Genauigkeit oberhalb oder unterhalb der bisherigen Ebene der Beobachtung oder in ihr selbst gelagert sind. Für einen Vergleich zwischen Einzel- und Allgemeinforschung aber stellt sich mithin als Schlußergebnis heraus, daß die Zeitbedingtheit Einzel- wie allgemeine Forschung mindestens gleich stark betrifft und also 217
ihre Leistungen auch mindestens gleich schnell veraltern läßt. Ja, es ist fraglich, ob der stärkere Zusatz von allgemein-menschlicher Deutung, der dem zusammenfassenden Werk notwendig ist, nicht eher noch das Überdauern eines Zeitalters ermöglicht oder jene so häufig zu beobachtende Tatsache eines Wiederauftauchens im über- oder drittnächsten Wegabschnitt der geistigen Gesamtentwicklung, so wie uns Heutigen etwa die geschichtlichen Schriften des achtzehnten Jahrhunderts von neuem wert werden nach einer lange andauernden Verdunkelung, Verkleinerung, ja Beschimpfung durch das dazwischen liegende neunzehnte Jahrhundert, die dessen Gelehrtengeschlechtern zuletzt zu einem gewohnheitsmäßigen Bedürfnis wurden. Unnötig zu sagen, daß durch diese Feststellung aus solcher Zeitbedingtheit der Einzelforschung ebenso wenig ein Vorwurf gemacht werden soll wie etwa der allgemeinen, die ihr im selben, wenn nicht in höherem Maße unterliegt. Das dürfte in diesem Gedankenzusammenhang um so weniger geschehen, weil ja unzweifelhaft eben die Straffheit und Sicherheit des begrifflichen Gehabens, die hier als oberste Forderung aufgestellt wurde, diese Zeitbedingtheit durchaus nicht vermindern, sondern dem Wesen alles entschiedenen Tuns nach eher noch steigern wird. Hier sollte vielmehr n u r der Anspruch abgewiesen werden, als gewährleiste die wahllose Aufhäufung von Stoffen in einer schlechthin beschreibenden Einzelforschung eine Aufhebung dieser Zeitbedingtheit. In Wahrheit wird ein etwaiges Mehr von Beeinflußtheit durch die Gesamtgesinnung des Geistes und der Wissenschaft eines Zeitalters und die von ihm bewirkten Schädigungen
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aufgehoben durch das Mehr von begrifflicher Schlußkraft, von Sicherheit der Anordnung, von Unterscheidung des Wichtigen und Unwichtigen. Alles dies nämlich wird notwendig zusammenhängen: die Wertung bei Wahl und Auslese des Stoffes, die Herausarbeitimg der Schlußfolgerung und des Aufbaus einer Untersuchung, die Schärfe der Lichter und der Schatten bei Beurteilung — das Wort im sachlichen Sinne genommen — und Anordnung des Stoffes.
ZWEITES
STÜCK
DAS ÄUSSERE UND DAS I N N E R E B I L D DER
GESCHICHTE
Alle bisherigen Darlegungen, soweit sie den Gegensatz von entwicklungsgeschichtlicher und beschreibender Forschungsweise festzulegen suchen, sind von einer begrifflichen, nicht aber einer wissenschaftsgeschichtlichen oder gar wissenschaftsstatistischen Grundlage ausgegangen; sie konnten n u r und mußten so verfahren. Aber diese Untersuchung würde ihrer eigenen Sache schlecht dienen, wollte sie ihre Wertungen über die geistige Gewalt der werktätigen Geschichtsschreibung und ihrer bedeutendsten Einzelleistungen allein abhängig machen von dem Maßstab, den sie a b einen begrifflichen aufstellt und der wohl die Zukunft bewirken, nicht aber die Vergangenheit splitterrichterlich beurteilen soll. Was Ranke, den größten Geschichtsforscher nicht allein des deutschen, sondern aller Völker, angeht, so können die weiten Sichten, die ihm zuweilen aus der 219
Feder geflossen sind, nicht darüber täuschen, daß es mehr wie gelegentlich geschah und daß es nie und nirgends seine Absicht war, begriffsmäßig und folgerichtig die Längsschnitteinheiten der langen Ereignisketten, Entwicklungsreihen zum Gegenstand seiner Forschung und Darstellung zu machen. Ebenso wenig können Anläufe zu einer begriffsmäßigen Gliederung des Nebeneinanders von Staatseinrichtungen, wie in dem Werk über die Osmanen und die spanische Monarchie, darüber täuschen, daß es Ranke ganz fern lag, in solchem Betracht irgendwie grundsätzlich vorzugehen, etwa in der Art, wie es den Erforschern der Verwaltungsgeschichte, die von der begrifflich geordneten Staatsrechtslehre herkamen, wie es vor allem Gneist naturgemäß war. Ein Blick des Vergleichs auf Gneists Arbeiten zur englischen Verwaltungs- und Verfassungsgeschichte genügt, um den Abstand erkennen zu lassen. Kein Zweifel: es war Ranke zuerst und zuletzt darum zu tun, das Einzelgeschehen als solches aufzufassen und wiederzugeben. Seine wissenschaftsgeschichtliche Stellung bedingte es, daß er die großen und schweren Kämpfe um die Sicherheit und Reinigkeit der Tatsachenüberlieferung als solcher — die freilich die Voraussetzung für jede Erkenntnis der Geschichte bildet — auf sich nehmen mußte; seine übergroße Verstandeskraft ermöglichte ihm, dies Werk für den Bezirk der neuen Geschichte und für den Kreisausschnitt der äußeren Staatengeschichte auch fast allein ein für alle Mal zu Ende zu führen. Aber folgt man ohne Befangenheit dem Lauf eines der großen Werke aus der Zeit der reifsten Fülle seines Geistes, etwa dem der römischen Päpste, so wird man inne, wie überwiegend die Abfolge der Einzelbruchstücke
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der Darstellung bestimmt ist nicht durch irgend längere Ereignislinien umfassende Einheiten, sondern durch den Faden der Zeitfolge und den durch sie herbeigeführten schnellen und bunten Wechsel oder lockere und kurze Gedankenverbindungen, deren schöne Willkür und deren leichtes Wiederfallenlassen nicht den letzten Reiz dieser Darstellung ausmachen. Wenn ein König der Forschung so entschieden der einen von den beiden hier unterschiedenen Formen der Geschichtsschreibung zugeschworen hat, so ist überflüssig, die Beispiele von Geschichtsschreibern minder überragender, wenngleich noch immer hoher Bedeutung zu häufen, die dieser Partei ebenfalls zugehören. Es genügt aber unter Hinweis auf diesen Stärksten die Frage aufzuwerfen, welche Werte denn hier geschaffen sind, die die Wagschale dieser Geschichtsschreibung dennoch so sehr zu ihren Gunsten belasten. Es sei verstattet, einen Umweg durch einen fremden, doch immerhin benachbarten Bezirk geistigen Schaffens zu nehmen. Es ist vorlängst der Versuch gemacht worden, bauende Kunst und bauende Forschung hier, beschreibende Kunst und beschreibende Forschung dort miteinander zu vergleichen: das heißt, die wählende Willkür aller stilstarken, phantasiebeschwingten Kunstrichtungen — aller nicht eben glücklich so genannten Idealismen — mit der herrscherlichen Kraft wählender und konstruktiver Wissenschaft, alle Realismen und Naturalismen, alle stofffrohe und wirklichkeitsnahe Kunst aber mit den Deskriptivismen der Wissenschaft, mit den ebenso stoffbedingten und stoffbeherrschten, ebenso beschreibungslustigen und unwählerischen Forschungsweisen zusammenzufassen. 221
Jede Kunstbetrachtung aber und jedes Kunstgenießer-, Kunsturteilertum, die mit noch so viel Kraft, ja vielleicht Einseitigkeit, Vorliebe, Vorurteil für die Sache der Stil-, der Phantasie-, der wählenden und bauenden Kunst eintreten mag, wird an einem Punkt anlangen, wo sie gestehen muß, daß es unmöglich ist, nur nach dem Maßstab dieser Teilung, dieser Wert- und Rangordnung ihr Lob und ihren Tadel zu verteilen. Sie wird gewahr werden, daß gar nicht so selten Künstler der stilstrengen, phantasiestarken, kurz der bauenden Weise Werke von geringerem Wert geschaffen haben, als Anhänger einer Stoffkunst, die sich von ihr zwar nicht ganz haben übermannen lassen, die ihr aber ohne viel eigene Absicht dienen. Jener kleine schmutzige Dorfbube, der von Frans Hab in der Galerie zu Antwerpen als Strandlooper van Haarlem aufbewahrt wird, bedeutet an sinnlicher Kraft sicher mehr, als ein Dutzend der ebenso blutleeren wie anspruchsvollen Historiensymbole des Cornelius. Und so gewiß dies Bild auch nicht Abklatsch irgend welchen zufalligen Alltags ist, sondern eine herrscherlich erlesene und in den Hauptzügen ebenso herrscherlich herausgetriebene Wirklichkeit, so gewiß wird man dies Werk wie den Meister selbst der breiten Ausnahmegruppe von Stoffkunst und Stoffkünstlern zurechnen müssen, die die niederländische Malerei in dem Meer der europäischen Stilkunst des siebzehnten Jahrhunderts darstellt. Und dcnnoch wird ihm auch der voreingenommenste Anhänger aller Stilkunst einen sehr hohen Rang anweisen. Wird hier nicht eine Unfolgerichtigkeit begangen? Mit nichten, und zwar deshalb nicht, weil das sehr einzelne und an sich sehr zufällige Stück Leben, das
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der Strandlooper darstellt, mit so gewaltiger Kraft widergespiegelt ist, daß es u m deswillen Wirkungen ausstrahlt, die einem Werk der bestgemeinten Formenund Phantasiekunst, dem vielleicht nur ein Zehntel dieser Lebenskraft einverleibt ist, niemals entströmen können. Ohne Zweifel ist jene in dem Strandlooper van Haarlem aufgespeicherte Kraft zu einem Teil an die von der besonderen, sichtenden, fortlassenden, aufhöhenden Hand des Künstlers geschaffenen Werte verausgabt, die durchaus dem Reich der Form angehören; aber in der Wahl des Gesamtvorwurfs wie in der Einbeziehung vieler Einzelheiten drückt sich eine Kunstgesinnung aus, die durchaus dem Stoff den Vorzug vor Form und Phantasie einräumt. Und dennoch, was will der kleine Fischerknabe besagen neben der letzten Nebengestalt an der Decke der Sistina, die die gleiche strotzende Lebensgewalt ausströmt, aber einer geistigseelisch-sinnlichen Gesamtwirkung eingeordnet ist, mit der Michelangelo unvergleichlich viel höhere und weitere Ziele verfolgt, als sie Frans Hals je in den Sinn gekommen sind. Ein in vielfachem Betracht ähnliches Verhältnis wie zwischen bauender und beschreibender Kunst, zwischen Stil- und Stoffkunst, waltet in der Forschung zwischen bauender und beschreibender Weise ob. Und nun erklärt sich vielleicht eher, warum auch eine Forschung, die die letzte Ausformung zum Gedanken so wenig sich zum Ziel setzt, wie eine Kunst die Überordnung von Stil und Phantasie über Stoff und Wirklichkeit, dennoch an Wertigkeit, an Blut- und Saftfülle sehr wohl Werken der bestgemeinten Richtung auf begriffliche, auf bauende Weise überlegen sein kann. Rankes Art ist in den Büchern seiner ersten Jahrzehnte 223
nicht vielleicht im Sinne von Frans Hals — f ü r solche Gleichung hat Rankes Griffel zu viel Van-Dyckschen Adel—aber letztlich doch im Sinn aller Stoffkunst ganz lebengefüllt, ganz gesättigt von Einzelgeschehen. Und noch über den Vergleich hinaus stiehlt sich hier der Gedanke an die Nähe künstlerischer Auswirkungsformen am Schaffen des Geschichtsforschers ein. Je näher dieser an der bunten Farbigkeit des Einzelgeschehens bleibt, desto näher rückt er auch den Bedingungen künstlerischen, etwa dichterischen, allenfalls auch malerischen Bildens. Die Gebundenheit an den überlieferungsmäßig festzustellenden Tatsachenbestand engt den Geschichtsforscher außerordentlich viel mehr ein als den Künstler, auch den wirklichkeitstreuesten; aber wo dieser Bestand so reich ist, daß er mannigfach sichtende Lese und Wahl zuläßt, rücken die Voraussetzungen beider Tätigkeiten noch näher zusammen. Besonders von der erklärtesten, der naturalistischen Stoffkunst, die selbst schon fast wissenschaftlich in ihrer peinlich treuen Nachahmung des wirklichen Geschehens verfahrt, ist die Entfernung n u r noch gering. Und man wird Rankes Wirkungsweise nicht herabsetzen, wenn man sie eine annähernd künstlerische nennt. Niemand wird anstehen dürfen, das Künstlertum des Geschichtsschreibers dort, wo es erforderlich ist, nicht n u r nicht zu verwerfen, sondern hundertfach willkommen zu heißen: nämlich wo die Einzelschilderung den Rahmen des haltenden Gedankenmaßwerks als Bild zu füllen hat. Aber — und hier liegt die Entscheidung — niemals darf aus diesem Teilzugeständnis der Schluß gezogen werden, daß nun all jenes Rahmen werk der fest zusammenfassenden, der sicher 224
ordnenden Gedanken überflüssig sei und daß die Gesamtheit der geschichtlichen Darstellung in Bilder aufzulösen sei. Wie sollte auch eine so tief in ihrer Eigenheit verwurzelte Form geistiger Tätigkeit wie die Forschung im Stande sein, das Grundgesetz einer benachbarten, aber im tiefsten Grunde verschiedenen Form als für sich in überwiegendem Teile gültig anzuerkennen? Forschung, also auch Geschichtsforschung kann letzten Endes n u r dem Gedanken, nicht dem Bilde dienen. Und alle übergroße Kraft und Wirkung Rankes wollen wir ehren, seinen Namen als das höchste Besitztum der Geschichte deutscher Geschichtsforschung schätzen: aber wie seltsam ist doch der Gedanke, seine Forschungs weise müsse als unübertrefflich zum unabänderlichen Vorbild erhoben werden. Vergißt man denn ganz, was es heißen will, nach über hundert Jahren den Standpunkt, der 1824, wenn auch von einem noch so Starken,eingenommen wurde, für unverlaßbar zu erklären? Und wie ungeschichtlich solche Geschichtsforschungslehre ist? Ranke ist mit allen Wurzeln seiner geistigen Gesamtpersönlichkeit — ein Blick auf das Erleben, auf die Schreibweise seiner jungen Jahre lehrt es — tief eingebettet in den Nährboden der Romantik, in Sonderheit der romantischen Dichtung: deren Geist, deren Liebe zu dem fernen Schimmer aller Vergangenheit, der sich ihr n u r in Glanz und Farbe des künstlerisch faßbaren Einzelgeschehens offenbaren konnte, haben ihn bis in das feinste Geäder seines schöpferischen Hirns beeinflußt. Soll alles, was Guizot, Jacob Burckhardt, Nietzsche, Gneist, Schmoller, Wölfflin, Harnack, Holtzmann getan haben, vergeblich gewesen sein für 15 Breide
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die Fortbildung der Forschungsweise auch der »eigentlichen« Geschichte? Zu fordern ist vielmehr eine Verschmelzung, eine InEinssetzung — Synthese — der besten Stärken beider Formen des geschichtlichen Anschauens. Die klammernde Gewalt der begriffsmäßig zu erringenden Ordnungs- und Rahmengedanken und die bildhafte Kraft für die Schilderung von Einzeltat und Einzeltäter, diese beiden Mächte mögen im Bau des schaffenden Geistes auseinanderstreben: der Genius, der andere Ranke, den wir von der Zukunft erhoffen müssen, wird sie beide in seine Hand zwingen. Ein Ziel gibt es, das ohnehin den Wirkungsbahnen beider Kräfte gemeinsam ist. Noch wurde es in allen diesen Darlegungen nicht genannt, ob es gleich den stärksten Widerspruch wider alle nur beschreibende Geschichtsforschung bedeutet. Es ist die Herauserkennung, die An-den-Tag-Bringung des inneren Bildes der Geschichte. Alles Geschehen hat eine innere Wahrheit, die viel mehr bedeutet als die äußere Wirklichkeit: diese abzuspiegeln könnte einer beschreibenden Geschichtsforschung allenfalls gelingen; jene aber, die unter der Decke der Wirklichkeit verborgen liegt wie die vollkommene Gestalt, das Zielbild jedes Menschen, in der wirklich gewordenen unvollkommenen, die allein ihm zu werden, als die allein ihm zu leben durch die Mangelhaftigkeit unseres Wesens vergönnt war, sie zu entdecken kann nur einer Forschung gelingen, die mit der Schlußkraft bauender Gedanken die Bildnermacht der das gewachsene Leben schauenden Phantasie verbindet. Denn diese innere Wahrheit will mehr sagen, kann mehr sagen als eine noch so peinlich treue Überliefe-
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ruiig in Urkunde und Chronik dem Forscher darzureichen vermag, ja sie will mehr sagen, kann mehr sagen als die handelnden Zeitgenossen von ihrem eigenen Erleben, als der Täter von seiner Tat, der Schöpfer von seinem Gebild auszusagen, ja zu wissen imstande ist. Solche Behauptung mag dem, der sie zuerst hört, seltsam klingen. Sie schließt in der Tat eines der Rätsel des Lebens ein, das aber recht eigentlich uns, den Geschichtsforschern, zum Trost geschaffen scheint. Uns, die wir immerdar im Zuschauerraum der Schauburg des Lebens sitzen, u m als wenn auch gespannt Aufmerkende, so doch nicht als werktätig Teilnehmende den Vorgängen auf der Bühne droben zu folgen, wird durch diesen Sachverhalt dennoch ein Teil der Auswirkung des Lebens, des gelebten Lebens selbst, zugeschoben. Es mögen hundert, es mögen tausend Jahre verflossen sein, daß eine Tat getan, daß ein Gebild gewirkt wurde; dennoch ist möglich, daß das volle Bild jener Tat, jenes Gebilds sich erst in uns, den es zum zweiten Mal Ausformenden recht ründet. Alle Bescheidenheit zugleich und allen Stolz können wir Forscher von dieser Erkenntnis lernen. Nicht damit fünfzig oder hundert eifrige Gelehrte in jedem Land in ihren Stuben sitzen und ihr Leben mit der Durchforschung der Vergangenheit verbringen, nicht deshalb wird Geschichte erforscht. Nicht auch, um im rein Sachlichen zu bleiben, damit der Geist sich an diesem besonderen und unter besondere Regeln gestellten Spiele erletze — von solchen Spielen hat er sich zu einem wahrlich edlen Vergnügen so viele erfunden, und jedes von ihnen trägt den Namen einer Wissenschaft. In so weit also müssen sich Forscher und 15*
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Forschung bescheiden: sie müssen eingestehen, sie sind beide wirklich nicht um ihrer selbst willen da. So gewiß die Kunst mit Recht da, wo es sich um die Durchsetzung ihrer nur ihr eigentümlichen Tätigkeitsgesetze handelt, die Losung ausgegeben hat: die Kunst für die Kunst, so gewiß führt dies Wort in die Irre, wenn es das Verhältnis der Kunst zu dem Leben kennzeichnen soll; nur als Auswirkung und also als Dienerin des Lebens kann die Kunst Bestand haben. Das gleiche doppelseitige Gebot aber ist der Forschung auferlegt. Auch sie dürfte sagen: die Forschung für die Forschung, so weit es gilt, im Innern ihres Reiches Ordnung zu schaffen. Darüber hinaus aber wird auch sie nur als Magd des Lebens Lebensrecht haben. Dies nämlich will das Leben von uns, den Geschichtsforschern und von unserem Amt, der Geschichtsforschung : Wahrung seiner Macht und Wahrung seiner Freude. Macht des Geistes: insofern das Geschlecht der Menschen wünscht, sein eigenes Werden undWachsen zu erkennen, um sein Woher herrscherlich zu überschauen, um über sein Wohin besser und mit stärkerem Schwung Beschluß zu fassen. Wie die Sternkunde kein Dunkel im irgend erkennbaren Weltraum dulden möchte, so soll die Geschichte — im Auftrage der Menschheit — Licht über jede, auch die letzte Ursachenfügung ihres Werdegangs verbreiten. Und mehr: Freude will sich das Menschengeschlecht schaffen durch unser, der Geschichtsforscher Mühen. Die Vergangenheit, das von des Vater Chronos unersättlichem Rachen immer von neuem verschlungene Gestern, das Land seiner Kindheit, seiner Jugend und jedes inzwischen schon durchlebten Alters soll ihm nicht verloren gehen. Die Menschheit will sich den
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Spiegel ihrer Vergangenheit vor das Antlitz halten, u m ihrer selbst ganz gewahr zu werden, ihrer selbst ganz zu genießen. Uns, den Erforschern der Geschichte, ist das beneidenswerte Amt zugefallen, diesen Spiegel fleckenrein zu halten, auf daß seine Strahlen dem in Stärke eiteln, nach gerechter Freude gierigen Leben sein wahres Bild zurückwerfen. Diese Sendung aber ist u m so höher, als Wahrheit hier unvergleichlich viel mehr bedeutet als photographische Treue, als dem Abgespiegelten, dem Menschengeschlecht, hier nicht eine Verdoppelung seines Antlitzes, wie es selbst es kennt, sich darbieten soll, sondern ein gehöhtes, ein vertieftes Bildnis, das nicht nur Bildnis des Lebens, sondern recht eigentlich erst Lebensvollendung ist. Denn indem, wie hier behauptet wurde, das Bild Geschichte an seinem Gegenstand Geschehen erst alle letzten Folgerungen, alle tiefsten Gründe, alle höchsten Steigerungen aufdecken kann, so wird ein Leben, das vielleicht Jahrtausende zurückliegt, das u m den halben Erdgürtel von der Werkstatt seines Nachbildners entfernt sich abgespielt haben mag, das einem Volk angehören kann, dessen Blut längst erloschen ist, nicht abgebildet nur, nein, in einem seltsam bedingten und voraussetzungsvollen Sinn erst recht zu Ende gelebt. Zauber- und Traumspiel freilich ist dies zweite Leben, zu dem der Forscher das erste heraufbeschwören kann aus der Unterwelt der Vergangenheiten; aber wenn es wirklich zur äußersten Kraft getrieben wird, dann ist es nicht eine Nachahmimg nur, sondern eine höhere, tiefere, stärkere Auswirkung des Lebens, als die war, die den handelnden Zeitgenossen selbst vor Augen
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stand; schwächer nur insofern, als auch ein Bildnis Tizians oder Velasquez' schwächer ist als der Kaiser oder König, der noch im Lichte seines Lebenstages wandelte: wenngleich die im Geist empfangenen, vom Geist gezeugten Abbilder des Lebens mehr Glut, mehr Kraft, mehr Wirkung widerspiegeln, als je den Abgebildeten in einer Stunde ihres wirklichen Daseins gelang. Doch freilich: nur der Forscher kann den Schatten der Verstorbenen, die noch so gierig nach seinem belebenden Trank sich aus dem dunkeln Reich der Vergessenheit an ihn drängen, zu dieser ihr irdisches Sein erst ganz vollendenden Wiedergeburt im Geist verhelfen, der sie mit einem starken Safte tränkt, mit einem Saft, der stärker ist als die dürftigen chemischen Säuren, mit denen die Photographen des Deskriptivismus ihre Bilder erzeugen, mit dem Saft, nach dem allein die Schatten dürsten, mit dem Blut eigenen,starken, drängenden Lebens. Nur so wird Wahrheit, die mehr ist als Wirklichkeit; nur so wird ein Bild des Lebens, das nicht nur matte Nachahmung, nein Neugeburt ist; nur so erfüllt Geschichte die Sendung, die das Leben von ihr fordert: den Hall des Lebens nicht in ersterbend getreuem Widerhall, nein in einem lauteren, stärkeren, reineren Nachhall noch einmal erklingen zu lassen.
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Die Werke Kurt IM VERLAG
WALTER
Breisigs
DE GRUYTER
CO., BERLIN
¡V 35
DIE GESCHICHTE DER MENSCHHEIT. 1. Band: Die Anfinge der Menschheit. Urrassen — Nordasiaten — Australier — SQdamerikaner. XV, 440 Seiten. 1936. RM 16.—, geb. RM 18.— / 2. Band: Völker ewiger Urzeit. Nordländer —Nordwestamerikaner—Nordostamerikaner. XIII, 374 Seiten. 1939. RM 1 6 . - , geb. RM 18.— D I E GESCHICHTE DER SEELE IM WERDEGANG DER MENSCHHEIT. XXXVII, 526 Seiten. 1931. tlM 1 0 . - , geb. RM 12.— NATURGESCHICHTE UND MENSCHHEITSGESCHICHTE. XXXII, 475 Seiten. 1933. RM 10.—, geb. RM 12.— DER WERDEGANG DER MENSCHHEIT VOM NATURGESCHEHEN ZUM GEISTGESCHEHEN. XXVH, 444 S. 1935. RM 10.-, geb. RM 1 2 . • E R WILLE DER WELT an unserem Tun. VII, 231 Seiten. 1942. Geb. RM. 6.—
Vom Sein und Erkennen geschichtlicher Dinge: I. PSYCHOLOGIE DER GESCHICHTE. XX, 194 Seiten. 1935. Kartoniert RM 6.— II. DIE MEISTER DER ENTWICKELNDEN GESCHICHTSFORSCHUNG. XIX, 267 Seiten. 1936. Kartoniert RM 8 — III. GESTALTUNGEN DES ENTWICKLUNGSGEDANKENS. XVI, 223 Selten. 1940. Kartoniert RM 8.— IV. DAS
NEUE
GESCHICHTSBILD
IM
SINN
DER
ENT-
WICKELNDEN GESCHICHTSFORSCHUNG. 1943. Ferner: GEIST UND GESELLSCHAFT Kurt Breysig zu seinem sechzigsten Geburtstage. 494 Seiten. 1927. RM 1 6 . - , geb. RM 18 DAS WERDEN ALS GESCHICHTE Kort Breysig in seinem Werk. Von Emst Hering. 208 Seiten. 1939. Kartoniert RM 6.—
In gleicher
Ausstattung
und gleichem Format sind, erschienen : Junjru Kitayama WEST-ÖSTLICHE BEGEGNUNG. Japans Kultur und Tradition. 5. Auflage. VII, 252Seiten mit 4 Tafeln. 1942. RM 5.— Julius Schmidhauser DAS REICH DER SÖHNE. III, 176 Seiten. 1941. RM 4.— Vergriffen. Hans Jürgen Baden
DAS TRAGISCHE. Die Erkenntnisse der griechischen Tragödie. III, 239 Seiten. 1941. RM 6.—. V e r g r i f f e n . Kurt Brejrsig DER WILLE DER WELT an u n s e r e m T u n . VII, 231 Seiten. 1942. RM 6.—. V e r g r i f f e n . KitarS Nishida
DIE INTELLIGIBLE WELT. Drei Philosophische Abhandlungen. VIII, 216 Seiten mit 1 Tafel. 1943. RM 7.— Eduard Schwartz FÜNF VORTRÄGE ÜBER DEN GRIECHISCHEN ROMAN. Das Romanhafte in der erzählenden Literatur der Griechen. 2. Auflage. 1943.
W A L T E R D E G R U Y T E R & CO., R E R L I N W 35