Vom Sein und Erkennen geschichtlicher Dinge: Band 3 Gestaltungen des Entwicklungsgedankens [Reprint 2019 ed.] 9783111468273, 9783111101316

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Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
ERSTES BUCH. GLAUBENSFORMER ALS GESCHICHTSDENKER
Erster Abschnitt: Ursagen der Sumerer
Zweiter Abschnitt: Entwicklungslehren der Väter
Dritter Abschnitt: Bossuet
ZWEITES BUCH. PHILOSOPHEN ALS GESCHICHTSDENKER
Erster Abschnitt. Kants Idee zu einer Allgemeinen Geschichte
Zweiter Abschnitt. Hegels Philosophie der Geschichte
DRITTES BUCH. GESELLSCHAFTSFORMER ALS GESCHICHTSDENKER
Erster Abschnitt. Saint-Simon
Zweiter Abschnitt: Comtes geschichtliche Soziologie
Dritter Abschnitt : Marx' ökonomischer Kollektivismus, eine Widerlegung seiner Geschichtslehre
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Vom Sein und Erkennen geschichtlicher Dinge: Band 3 Gestaltungen des Entwicklungsgedankens [Reprint 2019 ed.]
 9783111468273, 9783111101316

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GESTALTUNGEN DES ENTWICRLUNGSGED ANKENS VON

KURT

BREYSIG

P R O F E S S O R AN D E R UNIVERSITÄT B E R L I N

19 4 0 WALTER DE GRUYTER & CO /

BERLIN

Druck Ton O. Sóbala« & Co., GmbH., Grftfeohalnioben

JULIUS SCHULTZ DEM

PHILOSOPHEN, DEM DICHTER, DEM NATURUND GESCHICHTSFORSCHER

VORWORT. Der hier vorgelegte Band, in sich völlig selbständig, erweitert die Untersuchungen über den geschichtlichen Entwicklungsgedanken, dessen Gestaltungen im antiken und neuzeitlichen Geschichtsbilde der Gegenstand des Bandes »Die Meister der entwickelnden Geschichtsforschung« waren. Es hat sich die Notwendigkeit herausgestellt, vor das Griechentum jene Spuren von Geschichtlichkeit zu stellen, die aus den Überlieferungen des vorderen Orients die hervorstechenden sind. Sie sind ausgezeichnet durch ihr graues Altertum, das in das dritte, ja in das vierte Jahrtausend vor Beginn unserer Zeitrechnung zurückreicht; sie stellen die bei weitem ältesten unter den Gedanken geschauter Geachichtslehre dar. Und eine so schöpferische und schließlich bis auf den heutigen Tag unerschüttert gebliebene Vorstellung wie der Kreislaufgedanke gehört zu ihnen. Und ist auch die Idee einer Verschmelzung von Natur- und Menschheitsgeschichte mehr als Ahnung zu bewerten, so ist doch die Verbindung der beiden Hälften aller Wissenschaft, die heute noch um ihr Recht auf Dasein ringt, an den Anfängen alles Wissens äußerst denkwürdig. Es ist als ob die originärsten aller Gedanken über Wie und Weg des Denkens über Natur- und Menschheitsgeschichte zugleich auch die ältesten gewesen seien. Ganz locker ist die Verkettung zwischen dem sumerischen Geschichtsdenken, vermittelt durch das babylonische, und dem spät-jüdischen. Es ist gleichwohl nicht völlig von jenem durch eine Kluft geschieden; doch es kennzeichnet sich durch einen sehr viel geringeren Umfang — das spätjüdische Geschichtsdenken verhält sich zu dem sumerischen wie ein schmaler Spalt-Ausschnitt zu einem Vollkreis. Sehr viel enger ist die Verbindung der altorientalischen, sumerisch-babylonischen Geschichtslehren mit denen der

VI

Vorwort.

Väter. Ganz besonders hebt sich hier heraus, daß die Gesamtheit der Geschichte als Einheit aufgefaßt wird. Aber die spätjüdische Überlieferung wird doch auch aufgenommen in Gestalt der Schöpfungstage. Augustinus fügt den neuen Gedanken des Zwiespaltes zwischen Welt- und Gottesreich hinzu, eine mehr wie fragwürdige Bereicherung. Als ein Wiederschein der religiösen Lichter auf die Geschichte mag die Lehre Bossuets gelten, sie freilich die am wenigsten originäre der Geschichtsauffassungen. Wenn die Gruppe der Glaubensformer sich als eine dem Inhalt nach zusammengehörige darstellt, so nimmt die Darstellung, nach der Unterbrechung von antiker und neuzeitlicher Entwicklung, die Schilderung wieder auf, indem sie wie in einem Gegensatz dazu die Geschichtsdenker, die Geschichtslehrer, die von der Philosophie ausgingen: Kant und Hegel aufsucht. Das Seltsamste ist bei dieser Zusammenstellung, daß Kant im Grunde der Empiriker ist, daß bei ihm erfahrungswissenschaftliche Betrachtung überwiegt, während durch Hegels Lehre eine Kluft geht: sie zerfallt in eine metaphysische und in eine erfahrungswissenschaftliche Hälfte, die zwar auch von Grund aus bauend ist, sich aber doch nur ganz wenige Freiheiten gönnt, die der reinen Erfahrungswissenschaft nicht verstattet sind. Die Gesellschaftsformer machen den Beschluß: SaintSimon, Comte und Marx, der eine vielleicht der reichste, der andere der nüchternste, der letzte der radikalste und revolutionärste, der Mann der Unmöglichkeiten. — Der Forscher, mit dessen Namen ich diesen Band schmücken durfte, ist vor der Zeit seinem Werk entrissen worden. Er war noch Zeuge der Widmung, die ihm galt. Rehbrücke, März 1940. KURT BREYSIG.

INHALTSVERZEICHNIS ERSTES BUCH GLAUBENSFORMER ALS GESCHICHTSDENKER

Erster Abschnitt: Ursagen der Sumerer . . . Erstes Stück: Geschichte und Sagen der Sumerer

1—14 1—6

Rückblick auf die Ursprünge des Entwicklungsgedankens; die Auswahl der wirksamen Ursachenreihen 1 — Königsgeschichte der Sumerer 2 — Vorsintflutliche Königsgeschlechter 3 — U n t e r g a n g der Sumerer 4 — Vorzeitiges E n d e 5.

Zweites Stück: Die Geschichtsweisheit der Sumerer

6—14

Größe der geistigen Leistung 6 — Das W e l t e n j a h r der Sumerer; die Kreisläufe a m H i m m e l u n d im Menschheitsgeschehen 7 — Erkennen der Weltwirklichkeit u n d F o r m des Schauens 8 — V e r k n ü p f u n g von Mythos u n d Sternenkunde 9 — Der Kreislaufgedanke der Sumerer u n d ihre F r e u d e a n der stets sich erneuernden Wiederkehr des Lebens; Vergleich mit Ägypten 10 — Der Geschichtssinn der Sumerer mit d e m der Ägypter verglichen 11 — Heilbringererwartung 12 — N a t u r - u n d Menschheitsgeschichte zu einer Sichteinheit zusammengeschlossen 13.

Zweiter Abschnitt: Entwicklungslehren Väter

der

Erstes Hauptstück: Lactantius B e f r u c h t u n g des Zeitalters der Väter durch die altorientalischen Vorstellungen von W e l t a l t e r n 15 — Die Stufenalter des Lactantius als Schöpfungst a g e u n d J a h r t a u s e n d e ; Vergleich mit den Lebensa l t e r n des römischen Volkes 16 — Senecas Vergleich d e r Zeitalter R o m s mit Lebensaltern 17 — Ann a h m e eines Rückfalls der Entwicklung 18 — Pro-

14—45 14—22

vm

Inhaltsverzeichnis. phezeiung des Untergangs von Rom 19 — Das Ganze der Geschichte als Geschehenseinheit gesehen 20 — Die Geschichte als Wachstum 21.

Zweites Hauptstück: Augustinus Erstes Stück: Allgemeine Lehren

22—40 22—29

Augustinus' Abhängigkeit von Seneca und Lactantius; theologisch-christliche Polemik 22 — Verdunkelung des Lebens durch des Augustinus Werk 23 — Unbefangenheit auch gegen Augustinus geboten 24 — Seelische Einheit der Geschichtssicht des Augustinus 25 — Bekämpfung der Lehre von den ewigen Kreisläufen des Weltgeschehens und der ewigen Wiederkehr 26 — Die Sünde der ersten Menschen; Teilung des Menschengeschlechts in zwei Hälften 27 — Die Erbsünde und die Verdüsterung des Lebens der Menschheit 28 — Wert der Vereinheitlichung des Verhältnisses zwischen Gott und der Menschheit für den Geschichtsgedanken 29.

Zweites Stück: Die Geschichte der Menschheit als Kampf des Gottesstaates mit dem Weltstaat

30—40

Die Geschichte des Gottesstaates; Lenkung durch besondere Fügungen 30 — Die Geschichte des jüdischen Volkes und die Geschichte des Weltstaates 31 — Weltreiche der Assyrer u n d der Börner 32 — Stärke der Bewirkung des geschichtlichen Lebens durch den Glauben 33 — Große Geschichtssichten; Synchronisierungen 34 — Geschichte des römischen Reiches 35 — Kritische Einstellung 36 — Die Frage nach dem Ende der Zeiten 37 — Politische Hemmungen in der Schilderung der letztvergangenen Zeiten; Voraussagungen 38 — Nachwirkungen der Lehre; Lob des Friedens 39.

Dritter Abschnitt: B o s s u e t Der Discours sur Vhistoire universelle 40 — Einfluß der Väter 41 — Epochenteilung; Geschichte der Religion, Geschichte der Imperien 42 — Die Reiche 43 — Zugeständnis an die entwickelnde Geschichtslehre 44 —• Gegner jeder gesetzhaften Auffassung des Weltgeschehens 45.

40—45

IX

Inhaltsverzeichnis.

ZWEITES BUCH PHILOSOPHEN ALS GESCHICHTSDENKER Erster Abschnitt: K a n t s Idee zu einer Allgemeinen Geschichte

46—62

Erstes Stück: Zweckmäßigkeit und Auswicklung

46—54

D i e zwei F r o n t e n v o n K a n t s Geistigkeit 46 — W i d e r s p r u c h zwischen der F r e i h e i t des Willens u n d d e r R e g e l m ä ß i g k e i t der M a s s e n v o r g ä n g e 47 — N a t u r a n l a g e n zur A u s w i c k l u n g b e s t i m m t 48 — Die Begriffe der Vollständigkeit u n d der Zweckmäßigk e i t 49 — Die N a t u r a n l a g e n u n d der G e b r a u c h der V e r n u n f t 60 — Grenzen der K r ä f t e e n t f a l t u n g 51 —• V e r n ü n f t i g e E n t s c h e i d u n g e n ; U r t e i l der Geschichte 52 —• F ü l l e der I r r t ü m e r ; spezifische F e h l e r der V e r s t a n d e s m ä ß i g k e i t 53.

Zweites Stück: Fehlerquellen und Zukunftspläne

54—62

D i e Fehlerquelle der Eingleisigkeit; I r r t ü m e r a u s Ü b e r s c h ä t z u n g des Geltungsbereiches der V e r n u n f t 54 — B e r u f s f e h l e r der philosophierenden W e l t b e t r a c h t u n g 55 — Sieg des E m p i r i s m u s in K a n t ; A u t a r k i e der Auswicklung der menschlichen F ä h i g k e i t e n 56 — D e r A n t a g o n i s m u s als Mittel des m e n s c h lichen F o r t s c h r i t t s 57 — Die E r r e i c h u n g einer allgemein d a s R e c h t v e r w a l t e n d e n menschlichen Gesellschaft 58 —• F o r d e r u n g e n : eine gerechte Verf a s s u n g , ein gerechter H e r r 59 — V o r a u s s a g u n g des V ö l k e r b u n d s ; Einzelvollzug des E n t w i c k l u n g s g a n g e s bis z u m V ö l k e r b u n d e 60 — Z w e c k m ä ß i g k e i t oder Zufall i m W e l t g e s c h e h e n h e r r s c h e n d ? 61.

Zweiter Abschnitt: Geschichte

Hegels Philosophie

der

Erstes Stück: Metaphysik und Erfahrungswissenschaft in Hegels Lehre D i e E i n z i g a r t i g k e i t v o n Hegels U n t e r n e h m e n ; die Z u s a m m e n s c h m i e d u n g v o n Begriff u n d Geschichte 62 — V e r w a n d t s c h a f t m i t Vico 63 — D e r Zwist zwischen Zeit u n d Begriff 64 — E i n w i r k u n g e n auf

62—101

62—71

X

Inhaltsverzeichnis. die besonderen Fragen werktätiger Geschichtslehre 65 — Geschichtslehre u n d Geschichtsphilosophie: Begriffsumgrenzungen 66 — Scheidung zwischen beiden 67 — Der Ausschluß aller metaphysischen Bestandteile aus der Geschichtslehre; Rückwirkung Hegels auf die Geschichtsschreibung seiner Zeit 68 —• F o r t d a u e r der Gegenwirkung bis heute 69 — Wissenschaftsgeschichtliche Nachwirkungen, wissenschaftstheoretische Möglichkeiten; Mißdeutungen 70 — Notwendigkeit einer Sonderung der metaphysischen u n d der erfahrungswissenschaftlichen Bestandteile von Hegels Lehre 71.

Zweites Stück: Der erfahrungswissenschaftlich ergreifbare Kern der Lehre

72—85

Kein rein erfahrungsmäßiger, eigentlich geschichtlicher K e r n in Hegels Lehre; die Vernunft der Geschichte 72 — Mittelbezirk des auch erfahrungsmäßig erfaßbaren Tatsachenkerns; Spuren des Entwicklungsgedankens 73 — Auffindung und Bedeutung des Begriffs Entwicklung; Entwicklung, Wachstum, Kampf 74 — Stufenordnung; ihre Lücken u n d Mängel 75 — Hegels I r r t u m : das Nebeneinander gleicher Völkerzustände 76 — Überlegenheit der Hegeischen Anordnung über die Rankes; Einheit der Weltgeschichte, Zerlegung in Teileinheiten, Verbindung chronologischer mit innerer Abfolge 77 — Umdeutungen 78 — Hegels Kritik an der Kritik der Geschichtsforscher in Sachen der livianischen Königsgeschichte 79 — L ü c k e : Gleichgültigkeit gegen die Geschichte des geistigen Lebens 80 — Geschichte nur das Reich der T a t ; Fortschritte Hegels über R a n k e hinaus 81 — L ü c k e n : Kulturvölker, Urzeit Völker; Hegels Verhältnis zu Vico 82 — Verwerfung der alten Schulteilung; halb chronologische, halb sachgeschichtliche Teilung 83 — Geographische Teilung: China, Indien; der vordere Orient als Eingangstor zur Weltgeschichte 84.

Drittes Stück: Die Vermischung der beiden Substanzen von Hegels Geschichtsbetrachtung Der halb metaphysische, halb erfahrungswissenschaftliche Begriff der Freiheit 85 — Keine Ein-

85—101

Inhaltsverzeichnis.

XI

Wirkung Hegels auf die zünftige Geschichtsforschung; Versagen gegenüber dem eigentlichen Stufengedanken 86 — Die Lehre von den Übergängen: Ägypten und Griechenland 87 — Der griechische Geist als Beispiel der autogenen, eigenwüchsigen Entwicklung eines Volksgeistes 88 — Das Beispiel Griechenlands artvertretend ? 89 — Die Reihe der Übergänge, d. h . der Gliederverkettungen 90 — Die dritte Gestalt: das Römerreich; sind die Begrifflich keiten der Übergangslehre dem Wirklichkeitsbild einzuverleiben ? 91 — Ist die Begriffsreihe der Übergänge fest geschmiedet ? 92 — Bedingter, jedoch bedeutender Wert der Reihe der Übergänge; überwiegende Mängel 93 — Vergleich der Hegeischen Übergangslehre mit dem Stufenbau der Weltgeschichte 94 — Die Lehre von der Bewußtwerdung vorbereit e t durch die von den Übergängen 95 — Die seelische Wirkung der Bewußtwerdung des Urgedankens; innerer Widerspruch zwischen dem großen Leitgedanken von Hegels Begriffsbau und der auflösenden Wirkung der Bewußtwerdung 96 —• Die Selbstzerstörung der Spekulation; Verwechslung von Stufe und Volk 97 — Die falsche Begründung des Zusammenfalles von Stufe u n d Volk 98 — Unmöglichkeit des Weiterbauens einer erfahrungswissenschaftlichen Geschichtslehre auf der Grundlage von Hegels halbmetaphysischer Geschichtsphilosophie 99 — Geistige Gesamtwirkung 100.

DRITTES BUCH GESELLSCHAFTSFORMER

ALS

GESCHICHTSDENKER

Erster Abschnitt: S a i n t - S i m o n

102—150

Erstes Stück: Die zwei neuen geschichtlichen Systeme 102—114 Lebensdaten 102 — Forderungen f ü r die Geschichtsschreibung 103 — Saint-Simons Lebensplanung 104 — Entstehung des alten Systems vom 3./4. J a h r hundert a b ; Christentum und Nordvölker 105 — Geistliches und weltliches Geschehen 106 — Zeitenwende: Kommune 107 — Zukunftsbilder 108 —

XII

Inhaltsverzeichnis. K ä m p f e mit der geistlichen u n d der weltlichen Macht 109 — Notwendigkeit u n d Versagen der französischen R e v o l u t i o n ; W i e d e r a u f n a h m e des Entwicklungsgedankens f ü r die Herstellung einer Gesamtübersicht 110 — E n t s t e h u n g u n d E n t f a l t u n g des Neuen Systems: zwei Gegensatzpaare 111 — F ü g u n g von Ereignisreihen durch Menschenwollen u n d durch V e r k e t t u n g 112 — Voraussagungen u n d F o r d e r u n g e n 113.

Zweites Stück: Die Politischen Meinungen zum Gebrauch des 19. Jahrhunderts 114—130 E i n P r o g r a m m der besten Gesellschaftsordnung; vier Forderungen 114 — Vergleichung zwischen altu n d neueuropäischer Geschichte; die Sklaverei in beiden Entwicklungsreihen 115 — Soziale Stellung der herrschenden Klassen 116 — Klerus u n d P l e b e j e r t u m im Mittelalter 117 — D a s Verhalten der Antike u n d des Mittelalters in der B e h a n d l u n g f r e m d e r Völker 118 — Vergleich der geistigen u n d politischen Fähigkeiten 119 — Vorzüge des neuen, des germanischen Systems 120 — Fortschreiten v o n d e m von der A n t i k e erreichten S t a n d p u n k t aus in Moral u n d Politik 121 — Ausbildung der gesellschaftlichen O r d n u n g 122 — Höchste W e r t u n g des 16. J a h r h u n d e r t s 123 — Die Charakterisierung v o n J a h r h u n d e r t e n 124 — Auflösung des päpstlichen Glaubens; Beihilfe der Forscher u n d Künstler 126 — Versuche zur Beorganisation der Gesellschaft 1789 bis 1793; Kritik 127 — Die Heilige Allianz u n d ihre Segnungen 128 — Die Notwendigkeit einer neuen Enzyklopädie 129.

Drittes Stück: Die Denkschrift über die Wissenschaft vom Menschen 130—139 Gepräge der Denkschrift 130 — Der Fortschrittsgedanke u n d die neue chronologische Teilung 131 — Die f ü h r e n d e n Völker; Vergleich mit Hegel u n d B ä n k e ; der große Vergleich zwischen den Lebensaltern der Menschheit u n d denen der Einzelmenschen; f r ü h e u n d reife K i n d h e i t : Primitive u n d Ägypter 132 — P u b e r t ä t u n d Griechen, junges Mannesalter u n d Börner, Mannesalter u n d Araber 133

Inhalts Verzeichnis.

XIII

— Grundfehler: reiner Chronologismus 134 — Das Insgesamt der Geschichte als Ganzheit gedacht; Saint-Simon und Hegel 135 — Geschichtlicher Zusammenhang statt Blutzusammenhang der Generationenreihen 136 — Mängel der rein chronologischen und der Lebensalter-Teilung 137 — Die Möglichkeit einer Parallelisierung von Einzel- und Volkslebensverläufen 138.

Viertes Stück: Die Wissenschaft vom Menschen: Einzelbetrachtungen zur Geschichte . . . . 139—150 Der Fortschritt der Griechen über die Ägypter hinaus: der Glaube an unsichtbare Ursachen des Geschehens 139 — Theorie und Praxis der Staatslehre bei den Griechen 140 — Der Tempel von Delphi als Band der Staatseinheit des griechischen Volkes; Sokrates und der Monotheismus 141 — Übergang vom Theismus zur Lehre vom Weltgeist; Gedanken über Sokrates' Erkenntnislehre 142 — Saint-Simons eigene große Gedanken: Verhüllung in einer seltsamen Traumchronologie 143 — Die einzige Ursache der W e l t ; die Welt als Zahl 144 — Saint-Simons positives System; geohistorische Zusammenhänge 145 — Die Stärke der Führervölker: die zwei Großtaten der Römer 146 — Das römische Recht, der römische Monotheismus; vier Gründe für das Führertum des englischen Volkes 147 — Glaubensgegensatz zwischen England und dem Festland 148 — Die große Anklage Saint-Simons gegen die Geschichtsforschung seiner Gegenwart 149 — Forderung einer Geschichte der menschlichen Gattung statt der Nationalgeschichten 150.

Zweiter Abschnitt: Soziologie

Comtes

geschichtliche 151—200

Erstes Stück: Aufriß der Gesellschaftslehre . . 151—157 Unterschiede und Verbindungen zwischen Hegel und Comte 151 •—• Hegels deutsche, Comtes französische Geistigkeit 152 — Metaphysische Grundneigung Hegels, positivistische Comtes; Verbindungen in den Geschichtslehren beider Denker 153 — Comtes Ablehnung des Veränderungsdranges

XIV

Inhaltsverzeichnis. als verbindendes Glied zwischen Biologie und Soziologie 154 — Heutige Begriffsumgrenzungen für Geschichts- und Gesellschaftslehre 155 — Gesellschaftslehre: ihre empirischen Grundlagen 156.

Zweites Stück: Statik und Dynamik der Sozio158—163 logie Comtes Gesellschaftslehre im engeren Sinn; Familie, Arbeitsteilung, Wirkensvereinigung 158 — Forscherliche Grundgesinnung 159 — Die Verbindung zwischen Statik und Dynamik 160 — Die Größe von Comtes Vorstellung vom Ewig-Gleichen im Wechsel der Erscheinungen 161 — Begriffsumgrenzung der Dynamik; Fortbildung des Entwicklungsgedankens zum Stufengedanken 162 — Aufrechterhaltung der Autogenie und der Beharrung der Geschichtskraft 163.

Drittes Stück: Das theologische Stadium der 163—170 Weltgeschichte Die Vorbereitung des Dreistadiengesetzes 163 — Grundzüge von Comtes Dreistadienlehre: Intellektualismus 164 — Religion als Grundzug des ersten Stadiums 165 — Kritik an Comtes Theorie des Fetischismus 166 — Der Vielgötterglauben als zweites Stadium; Unterschiede zwischen Comtes und heutiger Teilung 167 — Unterstufen des Stadiums des Polytheismus; theokratischer Polytheismus und Kastenwesen 169.

Viertes Stück: Besondere Schlußfolgerungen

. 170—183

Comtes Geschichtsschreibung als Übergang von der Theorie zur Praxis der universalen Entwicklungsgeschichte 170 — Geist und innerhalb des Geistes die Religion einseitig bevorzugt 172 — Die Reihenfolge der Stadien als Zeitfolge und als Wertfolge 173 — Verkettung der Zustände, der Handlungsweisen; Beispiel: Abschwächung des theologischen Dranges im Übergang vom Fetischismus zum Vielgötterglauben 174 — Feinfühligkeit Comtes 175 — Wertimg des Vielgötterglaubens 176 — Förderung des allgemeinen Geistesbesitzes durch die Trennung von Körpern und Glaubensgewalten 177 —

Inhaltsverzeichnis.

XV

Würdigung des Wertes von Comtes Entdeckung 178 — Die Gottheit des Schicksals; segensreiche Einwirkungen des Vielgötterglaubens 179 — Der Vielgötterglauben u n d die K ü n s t e 180 — Staatliche Wirkungen der Priesterschaften 181 —• Der Krieg als Friedensbringer 182.

Fünftes Stück: Allgemeine Schlußfolgerungen . 183—187 E r s t e Versuche zur Lehre von der Geschwindigkeit der Entwicklung; die Erschaffung einer Gesellschaftsseelenkunde 183 — Comtes Annahme einer autogenen u n d a u t a r k e n E n t f a l t u n g der Grundgebilde der Gesellschaftsordnung 184—Vermischung von induktiven u n d deduktiven Neigungen in Comtes Geistigkeit 185 — Der Vergesellschaftungstrieb 186 — Übergewicht der gefühlsmäßigen über die verstandesmäßigen Betätigungsantriebe 187.

Sechstes Stück : Das metaphysische und das positive Stadium 187—200 Das religiöse Stadium in seiner letzten Ausformung, dem Ein-Gottes-Glauben 187 — Würdigung des Katholizismus als Förderer der menschlichen Vergesellschaftung 188 — Förderung des Fortschritts der Naturforschung u n d der Künste 189 — Angriff auf die geistigen Wirkungen des Protestantismus 190 — Kritik an der auflösenden politischen Wirkung des Protestantismus 191 — Wert der Organisation der katholischen Kirche 192 — Die Unterbrechung der geschichtlichen Reihe der katholischen Entwicklung ; Gegensatz zwischen Germanen u n d Romanen 193 — Innere Schädigung des Katholizismus durch das Aufkommen des Protestantismus 194 — Stellungnahme Comtes zum geistigen Geschehen seiner Gegenwart 195 — F ü r Mathematik u n d Geschichte 196 — Höchstwert : die gesellschaftliche Ordnung 197 — Verdammung Napoleons 198 — Gegenwart und Z u k u n f t 199 — Zielsetzungen 200.

Dritter Abschnitt : Marx' ökonomischer Kollekt i v i s m u s , eine Widerlegung seiner Geschichtslehre 200—223 Erstes Stück: Ideologie und Materialismus. . . 200—211

XVI

Inhaltsverzeichnis. Marx' Abhängigkeit von Hegel 200 •— Tragischer Widerspruch zwischen Marx u n d Hegel; Loslösung von Hegel in der Deutschen Ideologie 201 — Marx' B e h a u p t u n g : Geschichte, die einzige Wissenschaft 202 — Ablehnung Hegels, der Althegelianer, der Junghegelianer 203 — Geistige Mechanik dieses schroffen Überganges; Allgemeines zur Mechanik u n d Psychologie der Gegensatzentschlüsse 204 — W e n d u n g zu einer neuen W e r t u n g des materiellen Lebens; Grundstein u n d Grundfehler von Marx' Gesellschafts- u n d Geschichtslehre; unbewiesene u n d unbeweisbare Behauptungen 205 — Die Streitfrage nach dem Gesamtgepräge des Urzeitalters 206 — Der geringe Anteil der Wirtschaft a n dem Insgesamt der Urzeitkultur; die Urzeitverkündung von Marx das Gegenteil der geschichtlichen Wahrheit 207 — Möglichkeit urzeitgeschichtlicher Wissenschaft ; die Lehre von den Produktionskräften halb wirtschafts- u n d halb geschichtswissenschaftlich; das Emporsteigen alles geschichtlichen Lebens aus den Wurzelschichten der Wirtschaft 209 — Der Pyramidenbau der menschlichen Gesellschaft 210

Zweites Stück: Die Geschichtslehre des Kommunistischen Manifestes 212—223 Beste metaphysisch-hegelischer Gesinnung bei Marx: das Dreischrittgesetz; das Gesetz vom Verhältnis der P r o d u k t i v k r ä f t e zu den Produktionsverhältnissen 212 — Ü b e r p r ü f u n g : Bestätigungen, aber auch Nichtbestätigungen des Gesetzes 213 — Das Kommunistische Manifest u n d der Entwicklungsgedanke; das Manifest u n d die Geschichtswissenschaft 214 — Entwickelnde Geschichtswissenschaft; Revolution u n d Evolution 215 — Die Lücken in Marx' Geschichtsauffassung: Persönlichkeit, Machttrieb 216 — Mängel von Marx' Kollektivismus 217 — Die bisherige Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen 218 — Die geschichtlichen Fehler der Klassenkampf reihe 219 — Freie u n d Sklaven, Barone u n d Leibeigene 220 — Adel u n d B ü r g e r t u m 221 — Schmähung der Schaffenden im Geist 222 — Bourgeoisie und Proletariat 223.

E R S T E S BUCH. GLAUBENSFORMER ALS Erster

GESCHICHTSDENKER.

Abschnitt.

Ursagen der Sumerer. Erstes Stück. G e s c h i c h t e u n d S a g e n der

Sumerer.

Es ist das stets sich wiederholende Schicksal des Geschichtsforschers, immer von neuem weiter in die Zeiten zurückgeworfen zu werden, die denen voraufgehen, mit denen er sich gerade beschäftigt. Und wenn auch hier ursprünglich nicht die Absicht vorlag, die Gedankenzusammenhänge, die bis zur Ausbildung fachmäßiger Entwicklungsgeschichte geführt haben, so weit als nur denkbar rückwärts zu verfolgen, so erscheint es doch zweckmäßig, ihrer auch schon in jenen Keimformen zu gedenken, die gewiß nicht als ausgebildete Entwicklungsgedanken angesprochen werden können, wohl aber als Vorbereitungen auf diese hin. Gewiß gerade dann, wenn die Verfolgung von Tatbestandsverkettungen weiten Maßes, sei es des Geistes, sei es der Tat, zu allerältesten Ursprüngen leitet, steigt ein Zweifelgedanke auf, ob denn eigentlich die Ursachenreihen, die wir zu verfolgen gewohnt sind, diejenigen sind, die im Gesamtbesitz der Menschheit die wertvollsten sind, ob nicht daneben andere Tatbestandsverkettungen sich abgesponnen haben, die zu verfolgen vielleicht dringlicher und nutzbringender gewesen wäre. Doch steht solchen Bezweiflungen entscheidend die andere Erwägung entgegen, daß die UrsachenB r e 7 B 1 g , Gestaltungen dea gesohiohtliohen Entwioklangsgedankena.

1

Glaubensformer: Sumerer: Geschichte und Sagen.

2

reihen, die nach der überlieferten Wahl verfolgt werden, doch in der Tat sich als wirksame geltend gemacht haben. Und daß es deshalb geraten ist, sich auch ferner an diese bisher erzielten Ergebnisse zu halten, von zukünftiger Forschung aber zu erwarten, daß sie zu weiteren Erträgen gelangt. Das Erstaunlichste an den Ursprüngen der großen Entwicklungspläne, die das Denken einer großen archaischen Kultur erzeugt hat, ist, daß nicht in den späteren — wie man sagen möchte reiferen — Zeiten der babylonischen Geistesgeschichte diese, die tiefgründigsten Gedanken über eine Stadienteilung der Geschichte gedacht worden sind, sondern daß sie in den ältesten Zeiten, aus denen es eine geschichtliche Überlieferung gibt, entstanden sind. Es sind nicht erst die semitischen Babylonier, sondern die nichtsemitischen, wie man vermutet arischen Sumerer, die Vorbewohner und Vorherrscher des babylonischen Landes, die die entscheidenden Vorstellungen für eine große Zeitenteilung, angewandt auf die Vergangenheit und also die Geschichte der Menschheit, ausgebildet haben. Die Entstehung der sumerischen Kultur wird tief in das vierte Jahrtausend zurückverlegt1. Die Überlieferung weist Staaten von klaren Umrissen und fester Bildung nach; um 3100 treten priesterliche Könige — Patesi — auf, deren erfolgreichster der Priesterkönig Gudea von Lagasch war; Urnina, einer der ersten von ihnen, macht sich von der Oberherrschaft der Könige von Ur frei. Sein Enkel Eannatum führt mehrere erfolgreiche Kriege und besiegt auch den König von Kisch. Der letzte der großen Sumerer-Herrscher, Lugalzaggisi, wird König von ganz Sumer. Er verlegt seine Hauptstadt nach Uruk, er nennt sich König der Länder; er ) Vgl. hierzu Kittel, Geschichte des Volkes Israel I (• 1923) dazu vornehmlich Woolley, Vor 5000 Jahren, Geschichte Leben der Sumerer ( M o. J . 1935) 26ff.; dazu ferner Woolley, Hacke und Spaten (1932) 70ff.; King, A history of Sumer Akkad (1910) 145ff. l

45f.. und Mit and

Königsgeschichte; vorsintflutliche Königsgeschleohter.

3

rühmt von sich, daß seine Kriegszüge ihn vom unteren bis zum oberen Meer geführt haben, d. h. vom Persischen Golf bis zum Mittelmeer. Aber seine Regierung dauert nur fünfundzwanzig Jahre; die semitischen Herren von Südbabylonien, die schon lange Zeit das nordbabylonische Reich Akkad besessen hatten, besiegen ihn; die Herrschaft der Sumerer stürzt zusammen und Sargon I., der kriegerische König der semitischen Akkader, wird der Gründer eines großen, Akkad und Sumer umfassenden Reiches. Er erweitert dessen Grenze noch um vieles: er kommt bis zum Libanon und in seiner 55 Jahre, bis 2472, währenden Regierung hat er sich als Herrscher über Babylonien, Elam, Subartu und Amurru der »König der vier Weltteile« genannt. Die Königs- und Kriegsgeschichte der Sumerer würde als solche nicht allzuviel mit dem Gegenstand zu schaffen haben, der dem hier verfolgten Gedankengang vorschwebt. Dennoch war nötig, von ihr hier Rechenschaft zu geben, um dem Bericht von den Ursagen der Sumerer und von den fast unergründlich tiefen Gedanken, zu denen dies früheste der großen Kulturvölker vorgedrungen ist, in nächster Nähe seine wirkliche Geschichte voraufzuschicken, damit man erkennt, in welchem Verhältnis hier die nüchterne Wirklichkeit der harten Alltagsarbeit der Könige und Feldherren zu den Wundern und Träumen, aber auch den tiefen Gedanken der Priester und Forscher stehe. Als das Königtum vom Himmel herabkam, so berichtet die Sage der Sumerer, da war in Eridu, d. h. an dem heiligen Ort der Mündung der Ströme, das Königtum. In Eridu war Alulim König; acht Sar, das sind 28800 Jahre regierte er. Dann kam Alagar: er regierte zehn Sar, das sind 36000 Jahre. Dann aber wurde Eridu überwältigt; das Königtum ging an Bad-tibira über. Andere Könige folgen, unter ihnen der göttliche Dumuzi, der Hirte. Von Bad-tibira ging das Königtum an Larak über, von Larak an Sippar, dann an Suruppak. Dort haben noch acht 1*

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Glaubensformer: Sumerer: Qeschichte und Sagen-

Könige regiert, die zusammen 241200 Jahre herrschten. Dann aber brach die Sintflut herein1. Als ihre Fluten sich verlaufen hatten, begann ein neues Weltjahr, es ist der gegenwärtige Aeon. In ihm aber haben nur drei Königsgeschlechter geherrscht, zuletzt die Dynastie von Ur, von der nur vier Könige verzeichnet sind und bei der die Summierung wie die Aufzählung selbst abbricht. So ist die Möglichkeit gegeben, daß mit diesen letzten Königen der Reihe der Übergang zu menschlich geschichtlichen Zeiten vollzogen sein soll. Die Geschichte der Sumerer endet mit einem überaus trüben Geschehen. Die Anfänge zwar nicht ihrer sicher überlieferten Staatsgeschichte, wohl aber des Schauens der Sumerer, reichen sehr weit in das vierte Jahrtausend vor Beginn unserer Zeitrechnung zurück; und rechnet man ferner die Zeiten hinzu, die nötig waren, um die großen Gedanken der Weltsicht erst wachsen und keimen und sich vorbereiten zu lassen, so mag eine weitere Jahrhundertereihe dazu gehört haben, um die Sumerer von dem Abschluß ihrer Urzeit auf diese Höhe einer zuerst geistigen Altertumskultur gelangen zu lassen. Aber diese tiefe Wurzelsenkung ihrer Geschichte hat ihnen nicht, wie mehr als einem Kulturvolk des vorderorientalischen Völkerkreises, eine entsprechende Verlängerung ihrer reifen Zeiten eingebracht, wie den Ägyptern oder den großen Völkern des mittleren und östlichen Asiens, den Indern, den Chinesen; sondern der Lauf ihres Schicksals hat ihnen im Gegenteil ein nur allzu frühes Ende bereitet. Von allen Tragödien, von denen uns die Geschichte der Menschheit erzählt, ist die der Sumerer die trauervollste. Es ist, als ob diesem frühesten und geistig vielleicht stärksten aller Kulturvölker das härteste Schicksal bereitet werden sollte. Wenn man von den augenblicklich gültigen Annahmen der Wissenschaft ausgeht, so mag der Anfang geordneter staat!) Vgl. Woolley, Ur und die Sintflut (' 1930) löff.

Untergang der Sumerer; vorzeitiges Ende.

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lieher Verhältnisse unter den Patesi, den Priesterkönigen, vor 3100 zu setzen sein; der großen Niederlage der Sumerer durch die Elamier um 2300 folgte der endgültige Sturz durch Hammurapi um das Jahr 20001. Zwischen diesen Daten aber ergibt sich eine Dauer des sumerischen Reiches von etwa elf hundert Jahren: was aber will eine so kurze Spanne zwischen den ungeheuren Zeiträumen bedeuten, die sich ringsum in diesem Völkerkreis für die Dauer der Reiche ergeben. Doch ist anzunehmen, daß das Alter ihrer Kultur viel höher in die Zeiten hinaufreicht: nicht nur das dritte, nein auch die Hälfte des vierten Jahrtausends vor Jesus Christus ist dem Bestehen dieser erlauchtesten unter den frühen Kulturen der Menschheit zuzurechnen. Denn Gräber auf dem Friedhof in Ur, die auf 3500 angesetzt werden können, sind schon sumerischen Gepräges2. Es ist wohl eines der schwersten Schicksale, das über dies unvergleichlich hochbegabte Volk hereingebrochen ist. Unter den Völkertoden und Völkermorden, von denen die Geschichte der Menschheit leider zu erzählen hat, ist dieser wohl der beweinenswerteste, tragischer noch als der der Griechen. Denn die Griechen hatten den besten Teil ihres natürlichen Lebens zu Ende gelebt, als ihnen die Römer ihre staatliche Selbständigkeit und für die Zukunft daher auch die Lebensfähigkeit raubten. Den Sumerern aber ist, als sie nur eben erst ihre junge Kraft geregt hatten, von den ihnen an staatlicher und kriegerischer Stärke überlegenen Babyloniern auf das ruchloseste das Dasein genommen worden, von einem Volke, das ihnen zum mindesten an geistiger Kraft eher unter- als überlegen war. Als Ersatz für die Tragik dieses Geschehens aber hat zu gelten, daß die Nachwirkung ihrer Kultur innerhalb ihres Völkerkreises die denkbar mächtigste war. Nicht allein die babylonische, nein auch die assyrische Geistesbildung ist völlig von der 1 ) Vgl. Jeremias, Handbuch der altorientalischen Geisteskultur («1929) 12f. a ) Woolley, Vor 5000 Jahren 15.

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GlaubenBformer: Sumerer: Geschichtsweisheit.

sumerischen Kultur abhängig, kann nur als ein Derivat von dieser betrachtet werden1. Und das nur darum, weil ihre geistige Kraft derjenigen ihrer beiden Folgervölker weit überlegen war. In der Geschichte der Menschheit aber ist weder ihr Gedächtnis vergangen, noch sind, was sehr viel mehr bedeutet, die Wirkungen ihres Tuns auf Erden erloschen. Zuerst sind ihre schlimmsten Feinde, die Mörder ihres Lebens, die Babylonier, ihre Erben geworden. Von ihnen aber sind unendliche Strahlen ihrer Kraft ausgegangen und haben altund neueuropäische Völker mit Segnungen ohne Zahl bedacht. Zweites Stück. D i e Geschichtsweisheit

der

Sumerer.

Aus allen den leider nur bruchstückhaften Mitteilungen über die äußere Geschichte der Sumerer, wie sie hier allein gegeben werden konnten, geht an sich schon zur Sicherheit hervor, daß die staatlichen Schicksale es nicht sein konnten, die diesem Volk seinen Ruhm verschafft haben. Um so größer war die geistige Leistung, die es vollbrachte, und die Überlieferung von ihr ist im Unterschied von der zu ihrer Staatsgeschichte so reich und sicher, daß sich von ihr ein im hohen Maße vollständiges Bild entwerfen läßt. Erstaunlicher noch als diese Vollständigkeit des Gesamtbildes ist der Umstand, daß ein so tief in innerste Geistigkeit greifender Vorstellungszusammenhang, wie der Umkreis, der sich um den Entwicklungsgedanken schließt, in einer so frühen Zeit schon entfaltet ist. Man denke, es handelt sich um die Jahrhundertreihe, die von der Mitte des vierten bis zum Ende des dritten Jahrtausends reicht. Es mag die früheste Zeit sein, aus der geistige Leistungen hohen Ranges *) So ist das Urteil der hierin entscheidenden Autorität von Woolley (Vor 5000 Jahren 112).

Größe der geistigen Leistung; das Weltenjahr.

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überliefert sind, mit Einschluß der ägyptischen und chinesischen Vorzeit. Es ist höchst bezeichnender Weise ein Erzeugnis wissenschaftlicher Zeitrechnung, das sich da in den Vordergrund stellt. Das Weltenjahr ist die Zentralidee, die der ganze Vorstellungskreis der Sumerer zur Mitte hat, den späterhin die Babylonier zu einem großen Teil beibehalten haben. Sie stammt schon aus dem vierten Jahrtausend vor Jesus Christus und sie gehört unablöslich zu dem damals schon zu einem einheitlichen Weltbild geschlossenen Insgesamt einer Weltanschauung. Diese Weltanschauung, die nach unseren Begriffen ebensowohl metaphysisch wie religiös ist, reicht über die Vergangenheit der Menschheit hinaus, denn sie umfaßt außer der Menschheitsgeschichte die Geschichte der Stoffwerdung der Gottheit: Genien haben sich in gradweise fortschreitender Verdichtung zu Menschen, zu Tieren, zu Pflanzen, zu Steinen entwickelt. Eine Stufenfolge der Wandlungen, die, wie man bemerkt, sich in der umgekehrten Richtung bewegt, wie die ist, die eine an heutiger Naturwissenschaft orientierte Entwicklungsgeschichte und deshalb auch die auf diesen Blättern vertretene einschlagen würde, der nicht die Losung gilt »Es ist der Geist, der sich den Körper bauet«. Durch Muchzeiten und durch Segönszeiten hindurch vollzieht sich das Geschehen der Welt, das sich in Kreisläufen vorwärts bewegt. Die Schöpfung und das Ziel der Weltbewegung sind nicht getrennt zu denken. An den Kreisläufen, die sich in Gewinden — also Spiralen — bewegen, bewährt sich das Zusammentreffen von Baum und Zeit, da sie sich zwar im Baum abspielen, aber Zeit zur Vollendung ihrer Wegleistung bedürfen. Die Lehre verweist auf die Wiederkehr gleicher Vorgänge — mit Nietzsche zu sprechen also die Wiederkehr des Gleichen —, die sich an dem Wechsel der Tages- und der Jahreszeiten, dem von Frost und Hitze, dem von Saat und Ernte zunächst, demnach aber an mannigfachen Himmelsvorgängen beobachten läßt. Über diesen

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Glaubensformer: Sumerer: Gesohiohtsweisheit.

Gleichläufigkeiten aber baut sich zu oberst eine höchste und allgemeinste auf, die zwischen himmlischen und irdischen Vorgängen eine zuinnerst begründete Gleichläufigkeit fordert. Diese Vorstellung geht so weit und ist so greifbar angeschaut, daß nicht nur der Mensch als ein Bild der Gottheit und zugleich der Welt, als ein Mikrokosmos angesehen wird — was uns Europäern schon seit Jahrhunderten geläufig ist —, sondern der Himmel, als Bild der Gottheit, wird auch als Makroanthropos, als Großmensch, als ein Himmelsmensch gedacht. Von diesen Gedankenkreisen, die das Insgesamt der Welt umfassen und insbesondere es zur Einheit zusammenschließen wollen, die also eine Weltseinslehre darstellen, muß für unsere Erkenntnis die Lehre vom Schauen der Welt streng geschieden werden, obwohl diese wahrlich auf das Nächste mit ihr verbunden ist, denn sie ist nur eine Ausgeburt eines Denkens über das Denken oder vielmehr eines Schauens auf das Schauen. Der Unterschied liegt aber nicht nur in dem Wie des Sehens — das Wort Wie in das Allgemeine gezogen — sondern in dem Maß von Freiheit, das sich diese ältesten, und fast ist man versucht zu sagen, auch tiefsten Denker der Menschheit gegönnt haben. Denn ihr Denken über die Welt wünschte die Wirklichkeit der Welt zu erfassen, doch der Weg, auf dem sie zu dieser Wirklichkeit gelangen wollten, war ganz gewiß nicht der unserer beschreibenden und ordnenden Wissenschaft, sondern der eines frühen Schauens. Eines Schauens, das zugleich Glauben ist. Denn das ist die Grundabsicht alles Schauens der Sumerer, die Urweisheit und den göttlichen Willen zu erkennen. Dies aber geschieht auf die Weise, daß dies Trachten nach Erkenntnis des Göttlichen ein Streben bewirkt nach der Erkenntnis des Kosmos, der geordneten Welt, und des Weltgeschehens, der ebenso geordneten Kreisläufe. Die Sterne sind »die Schrift des Himmels«. Aber nur ein »zweiter Sinn«, das »geöffnete Ohr« und die Geistesaugen machen fähig, in

Weltwirklichkeit und Schauen; Mythos und Sternenkunde.

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«das Geheimnis von Himmel und Erde« einzudringen. Nur priesterliche Schulung führt zu diesem Schauen, das man ein mystisches nennen mag, so wenig auch der Glauben der geformten Mystik, wie ihn erst die Mittelalter hervorgebracht, sich in dieser ganz und gar der Altertumsstufe angehörenden Religiosität findet. Und wenn ein feinsinniger Forscher von heute sagt, daß den Sumerern der Himmel noch nicht ein Rechenbuch, sondern ein Bilderbuch gewesen sei, so ist auch damit in einem Einzelstück gesagt, was von der Weltanschauung der Sumerer im ganzen gilt: daß ihr Schauen von einem sinnlich starken Ergreifen der sinnlich zugänglichen Wirklichkeiten ausging, ohne freilich bei ihnen stehen zu bleiben. Denn nicht nur in der Fülle ihrer mythologischen Gestalten erweist sich an dem geschauten Weltenbild der Sumerer ein beständiges Übergreifen in das Überwirkliche, sondern auch der — wenn man so sagen darf — philosophische Teil ihrer Lehre ist metaphysisch und insofern überwirklich. In diesen Stücken aber ist ihr Glauben doch wieder eigens wirklichkeitsnah und fast von einer wissenschaftlichen Denkweise genährt. Die Stellung nämlich, die dem Kosmos in ihrem Weltbild eingeräumt ist, hat man in einem analogen Fall als einen latenten Monotheismus gedeutet1, der dann allerdings über der bunten und gestaltenreichen Fülle ihrer Vielgötterwelt schwebend gedacht werden muß. Erinnert man sich aber des Ranges und der Kräftebetätigung, die etwa in Comtes Darstellung dem Schicksal über den Einzelgestalten eines Vielgötterhimmels angewiesen werden, so ist da eine ähnliche Überordnimg von einer einzigen höheren Gewalt über sehr zahlreiche niedere Gewalten angenommen. Selbst die eigentümliche Verknüpfung von Mythos, Kultus, Ritus und selbst von Zukunftsdeutung mit der Himmelskunde, die den späteren babylonischen Geistesbesitz kennzeichnet, war ebenfalls schon Erzeugnis und ge*) Comte, Cours de Philosophie Positive V 148.

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Glaubensformer: Sumerer: Gesohichtsweisheit.

festigter Besitz der Sumerer. Man wird fragen, inwiefern alle diese Lehr- und Glaubensmeinungen die Geschichtslehre angehen. Doch ist mit zwei Worten dargelegt; daß diese Gebilde einer ebenso kühnen wie umsichtigen Geistigkeit die notwendige Voraussetzung für die der Geschichtslehre engsten Sinnes angehörigen Setzungen sind, von denen sogleich die Rede sein soll. Und dabei ist noch nicht einmal angemerkt, wie einzelne dieser Lehrmeinungen an sich schon von Formen des Werdens und des Weltgeschehens handeln und deshalb schon an sich Kernstücke einer Geschichtslehre darstellen. Dies gilt an sich vornehmlich von den Kreisläufen und des weiteren von den Gewinden, den Spiralen, die eine eigentümliche und zwar durchaus nicht primitive Form zurückgelegter Bewegungsbahnen darstellen und insofern eine sehr gesteigerte Elementarform von Werdenswegen und mithin, da sie ja im Hinblick auf menschheitliches Geschehen erdacht sind, auch von Geschichtsbahnen darstellen. Und wenn endlich von der Schöpfung und von Bahnzielen die Rede ist, so sind auch dies Formen des geschichtlichen Geschehens, die keiner weiteren Deutung bedürftig sind. Besonders erstaunlich ist das starke Hervortreten der Kreislauf- und noch mehr der Spiral-, der Gewindeform. Man hat sehr glücklich die Bevorzugung dieser Bewegungsform mit der tiefsten Seelenbeschaffenheit der Sumerer in Beziehung gesetzt. Man hat gefunden, daß sich in einem schroffen Gegensatz zu den Ägyptern, dem gleich alten Brudervolk des nordostafrikanisch-westasiatischen Kulturkreises, in dieser Vorliebe der Sumerer die Freude an dem Gedanken einer immer wiederkehrenden Erneuerung des Lebens ausdrückt, während die Ägypter mit ihrem tiefen Kultus von Tod und Vergangenheit zwar nicht in Trübsal sinken wollen, wohl aber die möglichst unvergängliche Fortdauer der Vergangenheit — die eben gar nicht sterben soll — sich und ihrem Volk sichern wollen. Voll von einem tiefen Optimismus sind beide Gesinnungen, sie sind beide gesättigt

Der Kreislaufgedanke; Vergleich mit Ägypten.

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von einem starken Lebensgefühl: aber während die Ägypter das Leben stärken wollen dadurch, daß sie den Tod durch die Pflege der Toten überwinden, daß sie den Tod leugnen, daß sie die Toten lebend erhalten, geht das Streben der Sumerer darauf, durch den Gedanken der ewigen Wiederkehr dem Leben eine stets sich erneuernde und eine nie endende Dauer zu verschaffen. Dem unserer Wissenschaft viel zu früh entrissenen Jeremias ist dieser wahrhaft universalgeschichtliche Gedanke zu verdanken. Wer diese beiden höchsten Kulturen der frühesten Zeiten der Menschheit, die ein reichstes und schönstes Blühen in ihrer Morgendämmerung darstellen, in sich aufnimmt, muß in einen Taumel der Freude geraten, daß diese nur eben aus der Nacht eines Noch-nicht-Seins auftauchenden Völker in ihren ersten Anfängen so viel gewaltige Kraft und eine so unsagbare Schönheit erzeugt haben. Die einen, die Ägypter, haben die herrlichste Kunst hervorgebracht, die überhaupt je von Menschenhänden geschaffen worden ist; die anderen, die Sumerer, haben in ihrer ersten Jugend die tiefste Weltweisheit erzeugt, die Menschenhirne erdacht haben. Welche von beiden Geistigkeiten die geschichtlichere war, kann keinen Augenblick zweifelhaft sein. Wohl liegt ein Zug zur Geschichtlichkeit auch in dem Geist der Ägypter, denn indem sie dem Tod gewissermaßen mit Gewalt eine lebensähnliche Fortdauer für jeden Einzelmenschen abzwingen wollten, war es, als ob sie eine über alles Menschenmaß hinaus verlängerte Geschichtlichkeit verkündigen und durchsetzen wollten; die Sumerer aber haben eine Lehre vom Werden und von den Kreisbahnen des sich immer wieder erneuernden Werdens erdacht, die den innersten Kern aller Geschichtsanschauung enthüllte, eben den Gedanken des Werdens. Und dieser bleibt wahrlich der geschichtlichste von allen Geschichtsgedanken, sobald man nur unter dem deskriptiven Wortverstand die tiefere Schicht einer Wissenschaft vom Werden ahnt.

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Glaubensformer: Snmerer: Geschiohtsweisheit.

Die allgemeine Verkettung, die das Götterwesen, die obere Welt, mit allem Menschentum, mit der unteren Welt verbindet, ist für den sumerischen Glauben keineswegs das einzige Band, das Götter mit Menschen verknüpft. Eine Fülle von Einzelbeziehungen stellt zwischen beiden Welten die mannigfachsten Verklammerungen her. Die wichtigste unter ihnen mag die sein, die unsere heutige Forschung die Heilbringererwartung genannt und die man selbst zu einem Erlösungsglauben hat steigern wollen — vielleicht nicht ganz mit Recht, wenigstens dann, wenn man, wofür sehr starke Gründe sprechen, die Erlösungsreligionen der Mittelalterstufe vorbehält. Dafür spricht mehr als jeder andere Unterschied zwischen der Altertums- und der Mittelalterstufe die sehr starke Steigerung der seelischen Bewegtheit und Bewegtheitsmöglichkeit, die zwischen beiden stattfindet. Dieses Bedenken bezieht sich selbstverständlich nicht auf die Vorstellung vom Heilbringer, die ja Urzeitgut ist, deren seelische Beschaffenheit also nicht vorwärts über die Altertumsstufe der Sumerer hinaus, sondern in ihre Urzeitvergangenheit zurückweist. Für diese Rückbeziehung, die von der vergleichenden Glaubensgeschichte schon bei ihren ersten Bemühungen um die von ihr neuentdeckte Heilbringergestalt für den damals als babylonisch angesprochenen, heute längst als sumerisch umgedeuteten Marduk in Anspruch genommen worden ist 1 , sprechen, wie schon damals aufgezeigt wurde, die beiden kennzeichnenden Merkmale: die Abstammung vom Tier und der Drachenkampf. Inzwischen ist noch eine Anzahl anderer Kennzeichen an seiner Gestalt bekannt geworden. Hier möchte die Frage aufgeworfen werden, wieso diese Dinge, die zunächst mehr Sache des Glaubens zu sein scheinen, dem Geschichtsgedanken dienen oder gar ihn fördern. Dennoch ist dies bis zur Unwiderlegbarkeit nachzuweisen. Alle die Vorstellungen, die eine Verkettung der 1 ) Ich darf hier auf meine Forschungen verweisen, die in der Schrift Die Entstehung des Grottesgedankens und der Heilbringer (1905) vereinigt sind und die sich auch mit Marduk befassen (104ff.).

Heilbringererwartung; Ineinssehen von Natur and Menschheit. 13

Himmels- mit der Erdenwelt zum Gegenstand haben, schließen ein sachliches Aus-, ein zeitliches Nacheinander ein und sind schon insofern Geschichte, Geschichte freilich nicht im Sinne einer unendlich fortgehenden Verkettung, wenn man will, eines beständig laufenden Bandes. Wohl aber wird beständig insofern ein geschichtliches Geschehen beobachtet, als immerdar die einzelnen Geschehensstücke, Geschehensstrecken als aufeinander folgend und auseinander sich ergebend aufgefaßt werden. Ich kann nicht sagen, ob dies Auseinander je als ein durch sich Bedingtes, ein aus sich Werdendes, also ein Autogenes begriffen wird. Aber soviel darf behauptet werden, daß dadurch, daß dieses früheste der Geistvölker beständig alles in Natur wie Menschheit in Geschehensreihen sah, es also in Verkettungen ordnete, die erste und allerwichtigste Voraussetzung für geschichtliches Sehen geschaffen war. Autogenie, Eigenwerdigkeit war als Erkenntnisgut noch nicht errungen, aber im wesentlichen vorbereitet. Noch tiefer in den Kern geschichtlichen Geschehens ragt eine andere von den Wurzelerkenntnissen, die die Sumerer sich erobert haben, obwohl sie doch wahrlich mit den ersten Fragen des Natur- und des Menschheitserkennens ihre Kämpfe auszufechten hatten, Kämpfe, in denen Ausgang und Sieg oft zusammenfielen. Das Erstaunlichste von allen diesen Versuchen, dem Geheimnis des Werdens auf die Spur zu kommen, war doch das Elementarste, daß sie Naturund Menschheitsgeschehen und insofern auch Natur- und Menschheitsgeschichte von vornherein zu einer Sichteinheit zusammenschließen konnten. D. h. sie haben im vierten Jahrtausend vor Jesus Christus Sehweisen gefunden, zu denen die Geschichtswissenschaft erst in unseren Tagen den Weg gefunden hat. Denn auch bei den großen Geschichtsdenkern sind nur äußerst selten in rasch aufflammenden, ebenso schnell aber wieder erlöschenden Gedankenblitzen Vorstellungen dieser Art aufgetaucht. Hegel etwa hat in dem Satze von der Entwicklungslinie, die

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Glaubensformer: Lehren der Väter: Lactantius.

vom Licht bis zum Menschen führt, eine solche Verbindung in zwei Worten ausgesprochen; aber weder Ibn Chaldun noch Vico sind zu einer solchen Sehweise emporgestiegen. Comte hat wohl den Zusammenhang von Biologie und Soziologie gewünscht, auf das Nachdrücklichste geltend gemacht, niemals aber ist er zu Gedankenreihen vorgedrungen, die das Natur- und Menschheitsgeschehen in einer Weise parallelisiert hätten, wie es seinen Vorgängern fünftausend Jahre vor ihm gelungen ist, ganz davon zu schweigen, daß ihm irgendwelches Zusammensehen des menschheitlichen mit dem anorganischen Naturgeschehen in den Sinn gekommen wäre. Wohl sind die ersten Umrißlinien, die einer ersten ernsthaften Vergleichung zwischen diesen beiden Formen des Weltgeschehens gegeben werden konnten, noch leise und weit genug. Doch steht zu hoffen, daß diese ersten Grundlagen noch mannigfach erweitert und vertieft werden können1.

Zweiter Abschnitt. Entwicklungslehren der Täter. Erstes Hauptstück, Lactantius. Ein sehr bedeutender Nachhall der ursprünglich arischsumerischen, in späterer Wandlung semitisch-babylonischen Weltalterlehre hat sich in der spätjüdischen Legende erhalten, die auch ihrerseits eine Zeitrechnung von Weltaltern aufgebaut hat, von der freilich dahingestellt bleiben muß, wieviel davon jüdischen Ursprungs und wieviel babylonisches Erbe ist. Diese Zeitrechnung stellt sich in den alttestamentlichen Schriften, die sie teils in vollem, teils in andeutendem Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte (1933) 9, 27ff., 286f., 296; vorbereitet in einem zwar nicht gedruckten, wohl aber geschriebenen Halbband »Die Ursprünge der Menschheit«.

Das Zeitalter der Väter und die Weltalterlehren.

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Umfang überliefern, durchaus als ein künstliches Gebilde dar, von dem völlig unsicher bleibt, wieviel von ihm das Werk von priesterlichen Redaktoren gewesen ist und wieviel davon sich allenfalls auf Zahlen der Überlieferung zurückführen läßt, die man aushelfend etwas zurechtgeschoben hat. Die ersten Weltalterzahlen sind schon mit den Lebenszeiten der ältesten Stammväter des Volkes verbunden. Neben dieser dreieinhalb Weltalter umfassenden Zeitrechnung, von der einige Autoren der alttestamentlichen Schriften nichts wissen wollen, hat die Priesterschaft dieser Zeiten eine andere Abfolge von Zeitaltern aufgestellt, die nicht astronomisch wie die der dreieinhalb Jahrtausende anmutet, sondern geschichtlich. Sie unterscheidet sieben Zeitalter, nämlich das Zeitalter der Schöpfung, das Zeitalter Adams, Noahs nach der Flut, Abrahams, des Moses, Davids und Esras, der vermutlich der Redaktor dieser Zeitrechnung war. Diese Zeitrechnung ist wichtig wegen der Nachahmungen, die ihr gefolgt sind1. Der eigentliche Ausgangspunkt für eine Lehre von den Weltaltern der Geschichte aber darf nicht, so gewiß hier auch die Ursprünge dieses Vorstellungskreises gesucht werden müssen, bei den Lehren der babylonischen Zeitrechnung und ihrem spätjüdischen Nachhall angesetzt werden, sondern im Zeitalter der Väter, das die alten Anschauungen zwar irgendwie auf sich hat wirken lassen, ihnen aber eine völlig neue und insoweit ursprüngliche Form gegeben hat. Und von dieser Ausformung müssen alle Nachweisungen einer Zeitrechnung nach Entwicklungsaitern und somit auch beginnender Entwicklungsgeschichte ausgehen. Denn von hier ab setzt der nie wieder abreißende Faden entwickelnder Geschichtsauffassung ein. Daß dieser neue oder aus altem Besitz wieder erneuerte Geistesbesitz im Zeitalter der Väter seinen Ursprung genommen hat, ist nicht im mindesten verwunderlich. Denn Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des alten Orients 126.

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Glaubensformer: Lehren der Väter: Lactantius.

ein so großer Gedanke, den das heilige oder doch wenigstens theologische Schrifttum dieser Jahrhunderte, eines der geistig reichsten aller Glaubensgeschichte, lebenskräftig genug war zu schaffen, mag eines seiner stärksten Erzeugnisse darstellen, steht aber in der Fülle seiner geistigen Produktion keineswegs vereinzelt da. Als der erste Urheber dieses Gedankenkreises wird Lactantius angesehen, dessen Werk: Sieben Bücher von den Einrichtungen Gottes — Divinarum institutionum libri VII — den Jahren 300 bis 310 zugewiesen wird. Er ist vorzüglich darauf bedacht, das Insgesamt der Menschheitsgeschichte zu einer Einheit zusammenzuschmieden. Er unterstellt die Einheit dieses Gesamtgeschehens dem Gedanken der göttlichen Erlösung des Menschengeschlechts. Für die zeitliche Dauer dieses Erlösungsprozesses gewinnt er einen Anhalt dadurch, daß er eine Entsprechung, eine Gleichläufigkeit, eine Analogie zwischen den sechs Schöpfungstagen und den sechs Jahrtausenden annimmt, die er für die Geschichte der Menschheit ansetzt. Gottes Religion und Gottes Wahrheit leiden in diesen Zeiten, da die Bosheit überwiegt und herrscht. Wie aber zur Zeit der Schöpfung der sterbliche und unvollkommene Mensch entstanden ist, damit er tausend Jahre lebe, so wird jetzt aus dieser irdischen Zeitlichkeit — ex hoc terrestri seculo — der vollkommene Mensch gebildet und von Gott lebendig gemacht, in dieser selben Welt tausend Jahre über die Welt zu herrschen. Aber neben den Vergleich zwischen den sechs Schöpfungstagen und den sechs Millenien des Lebens der Menschheit, der doch nur ein chronologisches und insofern ein Erzeugnis anorganischer Maßstäbe bleibt, stellt Lactantius noch einen zweiten, der biischer, ja selbst menschheitlicher Herkunft ist und insofern dem verglichenen Gegenstand näherrückt. Er gelangt, hier einer heidnischen, von Seneca entwickelten Lehre folgend, zu einem Vergleich der Zeitalter mit den Lebensaltern der Einzelmenschen. Und da diese Lehre in vollem Umfang von Lactantius in sein Werk übernommen

Schöpfungstage und Jahrtausende; Lebensalter.

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worden ist, und da sie andrerseits von völlig außerchristlichem Ursprung ist, so sei sie als Urbild kurz wiedergegeben. Wenn schon in der Geschichte der griechischen Geschichtsschreibung hin und wieder der Entwicklungsgedanke aufspringt, so ist man doch noch sehr viel mehr erstaunt, ihn auch bei den Römern zu finden, und noch dazu in einer völlig ursprünglichen, auch von der letzten griechischen Vertretung, der bei Polybius, völlig unabhängigen Gestalt. Bei Seneca, einem Denker, der seiner geistigen Grundrichtung nach ganz anderen Gegenständen, vornehmlich der Sittenlehre, zugewandt war, findet sich an einem auch innerhalb seines Gesamtwerkes versprengten Ort eine Äußerung, die nicht anders als einer rein theoretischen Geschichtswissenschaft zugehörig angesprochen werden kann. Annaeus Seneca hat kurze Äußerungen zur römischen Geschichte hinterlassen, die bei dem Beginn des Bürgerkriegs ihren Anfang nehmen; eine von ihnen ist zu Lactantius geraten und von ihm angerufen worden. Seneca, so heißt die Stelle bei Lactantius, wird gerühmt, weil er die rörüische Geschichte in Lebensalter aufgeteilt habe: die Kindheit habe sich unter dem Könige Romulus abgespielt. Von ihm sei Rom erzeugt und in seiner Kindheit erzogen worden. Das Knabenalter wird den späteren Königen zugeteilt, in dem Rom zu wahrer Zucht und neuen Lebensformen erzogen wurde. Als Tarquinius regierte, sei es erwachsen geworden und habe nun das Joch der harten Herrschaft abgeworfen und lieber den Gesetzen als den Königen gehorchen wollen. Das damals begonnene Jünglingsalter Roms habe mit dem Ende der punischen Kriege seinen Abschluß gehabt, und es habe dann nach Erstarkung seiner Kräfte sein Jung-Mannesalter begonnen — iuventus. Und nachdem es dann von Karthago, seinem Nebenbuhler im Imperium, befreit gewesen sei, habe es seine Hände zur See und zu Lande hin nach der Herrschaft über den Erdkreis ausgestreckt und habe, nachdem es schon alle Könige B r e 7 a i g , Gestaltungen des geschichtlichen Entwicklungsged&nkens.

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ßlanbensformer: Lehren der Väter: Lactantiug.

und alle Völker unterjocht hatte und als ihm schon der Stoff für neue Kriege ausging, seine Kraft übel angewandt und gegen sich selbst gewandt. Damals, als es sich in Bürgerkriegen zerfleischte, begann sein Greisenalter, und als es so von inneren Übeln heimgesucht wurde, habe es sich wiederum zur Einzelherrschaft wie zu einer neuen Kindheit zurückgewandt. An dieser Stufenfolge ist am denkwürdigsten der leitende Gedanke, daß Stufenalter mit Lebensaltern verglichen werden — eine Vorstellung, die darum von so eigens entwicklungsgeschichtlichem Gepräge ist, weil die biologische Einheit eines einzelnen Menschenlebens den inneren Zusammenhang einer Volksgeschichte und damit ihre Entwicklungseinheit viel sinnlicher und damit auch wissenschaftlich viel nachdrücklicher hervortreten läßt, als jeder allgemeinere, deshalb aber auch blassere Vergleich. Im einzelnen würde man wohl wünschen, dies Gleichnis etwas eingehender begründet zu sehen. Es folgt, wie immer aus Parallelen dieser Art, daß die ersten Glieder dieser Vergleichskette anschaulich und einleuchtend sind, daß aber schon die mittleren wesentlich undeutlicher werden. Von eigentümlicher Nachdrücklichkeit ist zuletzt der Vergleich zwischen dem Greisenalter und dem Zeitalter seit Beginn der Bürgerkriege. Für dieses letzte Glied der Kette wird nämlich nicht nur ein biologischer Vergleich, sondern auch ein geschichtlich wertendes Urteil ausgesprochen. Die Ausdrücke, deren sich Seneca hier bedient, sind nicht nur die eines überzeugten Republikaners, der dem Caesarentum sehr wenig hold ist, sondern auch herabwürdigend an sich. Recidit, d. h. also ein Rückfall war es, wenn das römische Gemeinwesen zur Einzelherrschaft überging, und eine Rückwälzung in eine zweite Kindheit, unter Verlust der Freiheit, derselben Freiheit, die unter Führung des Brutus, also Caesars Mörder, erworben worden war. An sich ist entwicklungstheoretisch höchst denkwürdig, daß Seneca hier einen Rückfall der Entwicklung als

Seneca; Annahme eineB Entwicklungsrückfalls.

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möglich annimmt. Es geschieht durchaus erinnernd an Vicos corsi e ricorsi; die Parallele des ersten Entwicklungsgliedes einer zweiten Geschehensreihe mit dem ersten Entwicklungsgliede einer ersten Entwicklungsreihe ist im großen und ganzen gesehen die gleiche. Aber wenn man, was öfter getan ist, den Kommunismus unserer Tage, etwa den russischen, mit dem Urzeitkommunismus und Urzeitdemokratismus vergleicht, so wird dieselbe Sicht eröffnet. Ob auf Seneca irgendwelche Anregungen früherer Zeit eingewirkt haben, muß dahingestellt bleiben. Ist es nicht der Fall, so muß seine Äußerung als sein Eigentum und zugleich als ein Beleg dafür bestehen bleiben, daß doch auch auf dem Wege eines einzelnen genialen Einfalls die Wissenschaft gefördert werden kann, nur daß dann die Gefahr besteht, wie sie sich auch in diesem Fall geltend gemacht hat, daß ein solcher Fund auf Jahrhunderte hin unentdeckt und ungenutzt bleibt. Auch bei Lactantius umfaßt dieser Vergleich zwar nicht clie Geschichte der Menschheit, aber die eines einzelnen Volkes. Aber insofern ja dieses eine Volk — das der Römer — als ein Typus, als ein Beispiel für manche anderen Völker aufgefaßt werden kann, kommt dieser Vergleich der geschichtlichen Wirklichkeit wesentlich näher, als wenn auch hier die Geschichte des Menschengeschlechtes herangezogen wäre. Eine Prophezeiung schließt sich an, sie ist aber dem Römertum denkbar ungünstig: die ganze Erde wird, so lautet die trübe Weissagung, von Erschütterungen heimgesucht werden und überall werden Kriege toben. Das Reich wird von seinem Lande fortgenommen werden und nach Asien zurückkehren. Der Osten wird wieder herrschen und der Westen wird dienstbar gemacht werden. !:? Lactantius stützt diese schlimme Voraussagung auf die bisherigen Erfahrungen der Geschichte. Er gibt zu bedenken, daß Ägypter, Assyrer, Perser, Griechen alle ein so übles Schicksal erlebt haben. Sie alle haben das Reich gehabt, 2*

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Glaubensformer: Lehren der Väter: Lactantius.

bei ihnen allen ist es zerstört worden. Aber Rom, so erhebt er seine Prophetenstimme, wird tiefer stürzen. Und man bemerke wohl, diese Worte wurden niedergeschrieben zur Zeit des mächtigsten und erfolgreichsten unter den späteren Kaisern, des glückhaftesten Erneuerers aller alten Caesarenmacht, des besten Herstellers von Ordnung und sicherem Frieden im Reich, unter der Regierung des Diocletian. Aber freilich auch in der Zeit einer der härtesten und grausamsten von allen Christenverfolgungen. Kein Zweifel, daß das Ressentiment der Unterdrückten dem Verkündiger so schlimmer Weissagungen seine Unheilsbotschaft eingegeben hat. Was an der Lehre des Lactantius, gesehen vom Standpunkt der Entfaltung einer allgemeinen Geschichtssicht, wesentlich ist, wird man vielleicht am wenigsten in der Einteilung der Gesamtgeschichte in sechs Jahrtausende zu sehen haben, obwohl sich in ihr ein — freilich durchweg verwandeltes — Erbstück spätjüdischer Gläubigkeit und durch sie hindurch sumerisch-babylonischer Geschichtsweisheit darstellt. Wesentücher sind vielmehr die allgemeinen Gedanken, die sich über dieser etwas allzu handgreiflichen und dabei nicht allzu sicher empirisch begründeten Zeitrechnung erheben und die wertvoller sind als diese selbst. Es war doch ein Großes, daß hier und hier zum erstenmal in der alteuropäischen Welt der Gedanke hervortritt, daß das Ganze der von der Erinnerung des europäisch-orientalischen Völkerkreises umspannten Geschichte eine Geschehenseinheit sei. Und noch weiter führte der Gedanke, der sich freilich nicht dem Ganzen der Geschichte, sondern einer der Volksgeschichten, aus denen sich diese zusammensetzte, und zwar der wichtigsten von allen, der römischen, als Rahmen für ihr Insgesamt, aber auch als Grundsatz für ihre Teilungen anbot, der Gedanke nämlich, daß das Leben dieses — und somit jedes reifgewordenen — Volkes sein gleichläufiges Seitenstück im Leben eines Einzelmenschen finde. Dieser

Das Geschichtsganze als Geschehenseinheit; Wachstumsgleichnis. 21

Gedanke war für seine Anwendung auf die Bedürfnisse der Geschichte nützlicher, weil lebensnäher. Die Verwendung der sechs Schöpfungstage für die Teilung der Weltgeschichte ergab doch im Grunde nur ein Bild, ein Gleichnis, ohne eine sie eigentlich tragende Wahrheit. Die Angleichung eines Volkslebens an ein Einzelleben aber bedeutete sehr viel mehr: die Hinüberziehung eines sehr eigentümlichen Entwicklungsgedankens eines lebendigen Wachstums auf ein anderes. Dieser Vergleich leitete, sollte er mit Ernst durchgeführt werden, zu Folgerungen, die sehr viel mehr und sehr viel innerlichere Bedeutungen hatten, als jene Teilung nach Schöpfungstagen. Denn indem hier zwei Wachstümer miteinander verglichen wurden, wurden auf das zu vergleichende Volksgeschehen sehr viel mehr und zugleich sehr viel gewichtigere Eigenschaften des verglichenen Einzelgeschehens übertragen, als bei jenem ersten Vergleich möglich war. Es wurden die Tatbestände zuerst eines keimhaften Anfangs, demnächst eines sich in mehreren Stadien vollziehenden Wachstums, weiterhin einer vollen Reife und endlich doch wohl auch eines immer schwächer werdenden Alterns, wenn nicht schließlich auch eines endlichen Todes, eines Völkersterbens mit in den Vergleich gezogen. Und man sieht leicht, wie hier Folgerungen gezogen werden sollten, die an Ernst und Gewicht sehr viel weiter, aber auch in ganz andere Formen des Geschehens hinüber leiteten. Es mag um dieser Vergleichseigenschaften willen geschehen sein, daß die Parallele, die von diesem Gleichnis gefordert wurde, in den späteren Zeiten mit weit geringerem Nachdruck, ja geradezu weit weniger oft gezogen worden ist, als man erwarten sollte. Soll man die Wahrheit sagen, so hat man aus diesem Vergleich im Grunde von den Zeiten des Lactantius noch bis auf den heutigen Tag nicht die Folgerungen gezogen, die er fordert. Ja man darf sagen, daß man namentlich vor seiner Ausdehnung auf das Sterben der Völker, will sagen unserer Völker, völlig zurückscheut.

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Glaubensformer: Väter: Augustinus: Allgemeine Lehren.

Sieht man von Spenglers geistreicher Torheit ab, die den Untergang des Abendlandes zum Gegenstand hat, so hat wohl noch kein ernsthafter Forscher überhaupt das Ende von Völkern, die noch heute in voller Kraft und gutem Gedeihen blühen, in Betracht gezogen. Für Lactantius selbst aber mögen die Parousie- und Weltgerichtsverkündungen, deren Erinnerung zu seinen Zeiten vielleicht noch durchaus nicht ganz verblaßt war, noch ihre Kraft bewährt haben.

Zweites Hauptstück. Augustinus. Erstes Stück. Allgemeine Lehren. Vornehmlich in der Zeit von 400 bis 426 hat Augustinus gewirkt, und da er die ganze Wucht seines großen Geistes auch in seine Geschichtsanschauung zu werfen vermochte, so ist nicht zu verwundern, daß seine Lehre für die doch zumeist geistliche Geschichtsschreibung des Mittelalters maßgebend geworden ist, soweit diese sich überhaupt mit so weiten Würfen befaßt hat. Die natürlichste Verkettung, durch die des Augustinus Werk mit der früheren Geschichtslehre verbunden war, war die Abhängigkeit, in die er sich zu Lactantius begab. Er übernahm, äußerlich gesehen, den Vorstellungskreis der sechs Weltalter von ihm und er mag, was mehr besagt, den großen Gedanken der Einheit alles weltgeschichtlichen Geschehens von ihm geerbt haben. Darüber hinaus aber hat er eine völlig eigentümliche Geschichtslehre ausgebildet. Sie ist in hohem Maße bestimmt durch die in Wahrheit völlig theologische, im besonderen nicht nur apologetische, fremde Angriffe abwehrende, sondern selbst angreifende, das Heidentum befehdende Grundabsicht seines großen Werkes

Theologisch-ohristliche Polemik; Verdunkelung des Lebens.

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über den Gottesstaat. Augustinus wollte das Römertum, dessen Staat er für das verderblichste Werk hielt, das Menschenwitz je erdacht habe, auch im Geist bis zum völligen Auslöschen bekämpfen. So ist die sehr umfangreiche Schrift, die er über den Gottesstaat verfaßt hat und die halb eine Universalgeschichte, halb ein Werk theologischer, doch auch politischer Ethik war, vor allem ein Versuch geworden, die Verworfenheit alles außerchristlichen Menschentums an der Verderbnis ihres geschichtlichen Verhaltens nachzuweisen. Um diesen Zweck zu erleichtern, teilte Augustinus alles geschichtliche Geschehen in zwei Teile, so wie er die Taten des Menschengeschlechts in zwei Hälften spaltete. Er schied alle menschliche Ordnung in zwei Erzeugnisse: in den Staat Gottes, die civitas Dei, und in den Staat der Welt, die civitas seculi. Schon wer in wenigen Worten sich diese Grundabsicht von Augustinus' Geschichtsschreibung vergegenwärtigt, wird gewahr, daß dies Unternehmen nur aus einem Gegenteil von wissenschaftlichem Tun hervorgehen konnte. Denn wenn nun alles, was das ausgewählte Volk Gottes, was die Juden und, als sie versagt hatten, ihre priesterlich-christlichen Nachfolger getan hatten, als löblich gerühmt, alles aber, was die Völker sonst vollbracht, als sündhaft und abscheulich verworfen wurde, so war damit alles andere als ein gerechtes oder auch nur nicht gehässiges Urteil über alle Geschichte gewährleistet. An den Namen und das Wirken des Augustinus knüpft sich die Erinnerung an eine der seltsamsten Verdüsterungen des Lebens, die je durch priesterliches Eifern über das Menschengeschlecht gebracht ward. Es ist kaum zu ermessen, wieviel Sonne und Heiterkeit und damit auch wie viel kraftvolles Gedeihen und Schaffen dieser Mann der Verdunkelung getötet hat. Ein beträchtlicher Anteil von diesem lebenlähmenden und lebentötenden Tun fällt auf seine Geschichtsdarstellung. Alles, was stark und groß an Tat und Geist von der Menschheit vollbracht war, wurde von diesem Erzeuger von Dunkel und Finsternis

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Glaubensformer: Väter: Augustinus: Allgemeine Lehren.

als Sünde und Greuel geschmäht und verurteilt. Es ist nicht abzusehen, wie jammervoll das Schicksal unseres Geschlechts geworden wäre, hätte es sich in demselben Maß den Geboten dieses seines Gottes- und Sittenlehrers unterworfen, wie es sich ihnen in Wahrheit widersetzt hat. So geht denn jeder unbefangene Beurteiler der Geschichte der Geschichtswissenschaft nur mit dem ungünstigsten Vorurteil, ja mit Widerwillen an das Werk dieses Verächters von starker Tat, heiterer Kunst und tiefer Wissenschaft. Wollte er an dieser Schrift so handeln, wie Augustinus seinen Anhängern rät, mit seinen Gegnern zu verfahren, er würde sie nach kurzer Kenntnisnahme beiseite stoßen und nie wieder einen Blick an sie wenden. Doch so ist ja die Weise unbefangener Forschung nicht. Sie kann nur so tun, wie sie wünscht, daß auch die Verteidiger der Wahrheitsgebote ihres Glaubens hätten tun sollen, in des Augustinus und in manchem anderen Falle aber leider gar nicht getan haben. Augustinus verleugnet nicht, daß er sein Werk unternommen hat aus dem Wunsch, einen Angriff der Anhänger des Heidentums auf den neuen Glauben zurückzuweisen. Die Jahre, in denen Augustinus schrieb, waren die Zeiten, in denen das Christentum zwar schon zur herrschenden Glaubensform des römischen Reiches erhoben worden war, in denen aber doch ein erbitterter geistiger Kampf zwischen den Anhängern des Alten und des Neuen ausgefochten wurde. Augustinus aber hat alle Macht seines großen Geistes darangesetzt, um der christlichen Sache zum Siege zu verhelfen, und sein furchtbar leidenschaftliches Temperament führte ihn dazu, aus dem Werk, dem er das Ansehen einer Universalgeschichte gab, eine in die heftigste Polemik umgefärbte Streitschrift für das Christentum und als seinen Vorgänger für das Judentum und gegen alle heidnischen Völker; d. h. also gegen die ganze außerjüdische und außerchristliche Menschheit zu machen. Es entstand so eine Schrift, die von der Geschichte, von Wissenschaft über-

Seelische Einheit der Geschichtssicht des Augustinus.

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haupt nur die Maske entlieh, im übrigen aber die ärgste Mißhandlung von aller Sachlichkeit und aller Wahrheitsliebe war, die zu denken war. Und das bedeutete um so mehr, als in diesem Buch alle Geschichte und alle Überlieferung des Römertums in den Schmutz gezogen wurde, desselben Römertums, in dessen Reich der Verfasser lebte, dessen Schutz er sein Leben lang genoß und dem er doch die schlimmste Verunglimpfung, die sich ein Staat je von einem seiner Untertanen hat gefallen lassen, ins Angesicht warf. Wenn nun aber für die Entstehung eines wissenschaftlichen, d. h. wahrhaftigen Werkes die Voraussetzungen in der Seele des Verfassers die denkbar schlechtesten waren, wenn von vornherein vielmehr alle Vorbedingungen für ein Erzeugnis der parteiischsten Umdeutung und Mißhandlung der Wahrheit gegeben waren, so hat doch seltsamerweise dieser Umstand dem Gepräge des Werkes als Erzeugnis entwicklungsgeschichtlicher Forschung keinen Abbruch getan. Aus einem sehr einfachen Grunde forscherlicher Seelenkunde. Ob ein Geschichtswerk zu einer seelischen Einheit zusammengerafft wird, um dadurch dem Heidentum zu dienen, oder ob das gleiche geschieht, um ihm zu schaden, so ist insofern der Unterschied um deswillen nicht so groß, weil in jedem der beiden Fälle die ganz subjektive, ganz parteimäßige Gesinnung die gleiche Wirkung hervorbringen kann, wenn sie nur den Dingen übermäßig Gewalt antut. Mit anderen Worten, es war nicht eine Sache des sachlichen Parteiergreifens, ob nach rechts oder links, sondern eine Sache der Leidenschaft, d. h. ob Parteiergreifen, ob Stürmen, Schelten, Toben überhaupt oder nicht. Nicht, ob sich Augustinus für Heidentum oder Christentum entschied, war wichtig, sondern ob seine Leidenschaft so stark war, den Bogen einer seelischen Einheit über das Insgesamt der Geschichte zu schlagen oder nicht. Dies aber ist durchaus geschehen. Wo Augustinus, wie in den zehn ersten Büchern seiner Schrift, sich mit dem Heidentum als Glauben auseinandersetzt, muß ihm, wie sich

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Glanbensformer: Väter: Augustinus: Allgemeine Lehren.

von selbst versteht, jede erdenkliche Freiheit gegönnt werden, und man wird ihm noch zum Lobe anrechnen müssen, daß er den Kampf gegen Piaton und kleinere Verteidiger des Heidentums nicht in allzu groben Formen führt. Wenn er die Geschichte der Menschheit, die er vom elften Buch ab schildert, mit der Geschichte der Engelwelt beginnen läßt, so wird man dies dem mythologischen Teil der christlichen Metaphysik zurechnen müssen. Daß er schon in der vormenschlichen Geschichte die Zweiteilung beginnen läßt, die er später der Geschichte der Menschheit mit so starkem Nachdruck als Ordnungsgesetz aufprägt, ist bezeichnend für die Folgerichtigkeit, mit der er seinen Gedankengängen nachgeht, vielleicht aber auch für einen tieferen, halb seelischen, halb erkenntnistechnischen Grund. Die Geschichtslehre des Augustinus bleibt, weit jenseits seiner Stellungnahme in Glaubenssachen, immer eins der bedeutendsten Beispiele für das Vorhandensein der Zweiheitsordnungen, die in unserem Denkapparat eine eigentümliche Vorbereitung voraussetzen, eine Vorbereitung, die sich im Seelischen als Vorliebe auswirkt. Man wird sagen dürfen, Augustinus hat seine Geschichtsauffassung auf eine von Anbeginn bis zum Schluß durchgeführte Zweiheitslehre aufgebaut, weil sein Denken zweiheitlich eingerichtet war1. Er fand aber in der um diese Zeit schon weitläufig ausgebildeten Engellehre und ihrem — minder gepflegten — Seitenstück, der Lehre von den Teufeln schon recht weit vorbereitete Werkstücke für seine Arbeit. Augustinus wäre nicht der tiefe Geschichtsdenker, als welcher er sich schon in den Anfängen seiner eigentlichen Geschichtslehre — von Buch XI ab — offenbart, gewesen, wenn er sich nicht schon Gedanken über die Aeonen von Zeit, die in x

) Zu dem Allgemeinen dieser Auffassung muß ich auf die in meiner zwar in diesem Teil vollendeten, aber noch nicht veröffentlichten Gesellschaftslehre enthaltenen Abschnitte verweisen. Vgl. vorläufig die Abhandlung Einheit als Geschehen (Jahrbuch für Soziologie I [1925] 115—136).

Zweiheitsordnungen; Bekämpfung der Kreislauflehre.

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der Ewigkeit verflossen sein müssen, bevor die Geschichte der Menschheit begann, gemacht hätte. Er sieht die denkmäßige Schwierigkeit, die sich ergibt, wenn die Frage — von Theologen — aufgeworfen wird, warum denn Gott so lange Zeiten müßig habe vergehen lassen, ehe er das Menschengeschlecht erschaffen habe, hilft sich aber vernünftiger Weise mit dem Bescheid, daß es hierauf keine Antwort gebe, wie es auch dem Menschen nicht gezieme, in diese Dinge einzudringen, die Geheimnisse Gottes bleiben müßten. Wichtiger ist, daß Augustinus sich mit den Anhängern jener Lehre auseinandersetzt, die, um die Ewigkeit auszufüllen, die Meinung vertreten, daß die Welt sich schon unzählige Male in stets sich wiederholendem Kreislauf erneuert habe. Augustinus zieht aus dieser Lehre noch die weitere Schlußfolgerung, daß damit der autogene, der eigenwerdige Ursprung der Welt behauptet werde. Unzweifelhaft ist diese Annahme, die Augustinus bei den Stoikern vorfindet, babylonischen Ursprungs, nur nach diesem ihrem Ursprung längst vergessen. Daß Augustinus diese Lehre — uns geheiligt durch Nietzsches starkes Wort und überdies uns als höchst wahrscheinlich tief genehm — verwarf, ist selbstverständlich, schon um jener Schlußfolgerung von einer selbständigen Entstehung der Welt willen, die er ohne weiteres als unrechtgläubig verwerfen mußte. Immerhin ist für seine Sinnesweise bezeichnend der Grund, der ihm die ewige Wiederkehr der Dinge an sich anstößig macht: er sagt, einmal nur könne Christus in der Welt erschienen sein und nur einmal die Menschheit erlöst haben1. Ihm ist schon anstößig, wenn gelehrt wird, daß Gott nach einem plötzlichen Ratschluß geschaffen habe. Er wünscht vielmehr, festzusetzen, daß dies nur nach einem ewigen Plan Gottes geschehen sein könne. Dem Verlauf der Geschichte folgt Augustinus, wie begreiflich, nach Vorgang und Weisung der heiligen Schriften. Ihm im einzelnen zu folgen, ist nicht vonnöten; freilich, die Civitas Dei XII 12—15.

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Glaubensformer: Väter: Augustinus: Allgemeine Lehren.

grundsätzliche Entscheidung über die Teilung der Menschheit, nach der sich erstlich die Geschichte der Menschheit im Sinne der res gestae, zum Zweiten aber auch des Augustinus Geschichtsdarstellung im Sinne von historia richtet, soll sich schon in den ersten Anfängen von allen menschlichen Schicksalen zugetragen haben. Zwei Formen des Todes werden unterschieden, die Gott schon über die Nachkommenschaft Adams verhängt hat: die eine Hälfte, die Gott schwer straft, soll den ewigen Tod erleiden, die andere, der er nur eine leichte Buße auferlegt, lediglich den Tod im Fleisch. Das Unrecht, das das erste Menschenpaar begangen hat, als es dem Gebot Gottes ungehorsam war, ist als ein so schweres anzusehen, daß dadurch die allerschwerste Folge über das Menschengeschlecht heraufbeschworen ist: durch dieses Unrecht war die Sünde über die Menschen gekommen, eben das, was die spätere Sittenlehre der Gottesgelehrten Erbsünde genannt hat. Es ist eine ethische Metaphysik, die erdnahem Menschentum so fern ist, daß sie ihm schlechthin unverständlich ist, aber ganz gewiß wird schon durch diese, dem allmächtigen Gott zugeschriebene Entscheidung jener Bogen über die Geschichte gespannt, von dem schon die Rede war und der sie zu einer einzigen großen Einheit zwingt. Schon dieses eine Urteil Gottes bedeutet im Grunde eine Verklammerung allen Menschheitsgeschehens zu einer großen einheitlichen Handlungsfolge. Die Geschichte wird so zu einem Drama: der innersten Gesinnung nach metaphysisch, der formalen Haltung nach ein Mythus. Gott, der von Ewigkeit her stets Erzürnte, die Menschheit als die immer und in jedem Fall, vom neugeborenen Kinde an, schuldige, ja überhaupt durch keine Macht ihres Tuns, auch nicht des gerechtesten Lebens freizusprechende Angeklagte. Eine bis in den letzten Grund der Seele hinein düstere, aller Erdenfreude, allem starken und schönen Tun abholde Gesinnung ist es, die hier Gebote erläßt — Gebote, die vielen

Erbsünde; Lebensverdüsterung 1 ; Einheit der Geschichtssicht.

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Millionen von Menschen das Leben grau und finster gemacht haben. Die Gemütsfolgen waren schlimm genug, und keine erdfrohe, keine weltfromme Gesinnung wird sich je mit der hier zum Bekenntnis erhobenen Daseinsfärbung versöhnen können. Für den geschichtlichen Gedanken aber war gerade diese dramatisch-mythische Vereinheitlichung des Verhältnisses zwischen Gott und Menschheit denkbar streng und folgerichtig. Alle Geschichte wächst durch dieses Sehen zu einem Geschehen zusammen, und erinnert man sich noch gar jener Sätze, in denen Augustinus sich dagegen verwahrt, daß man den göttlichen Geist, »den durchaus unwandelbaren, der jegliche Unbegrenztheit umfaßt und unendliche Zahlenreihen zählt ohne Wanderung des Gedankens vom einen zum andern«, an dem wandelbaren menschlichen Geiste messe1, und sagt 2 : »in seiner Ewigkeit und in eben seinem mit ihm gleich ewigen Worte stand bereits durch Vorherbestimmung fest, was zu seiner Zeit geschehen sollte«, so wird hier schon die Höhe der Hegeischen Sicht erreicht, die die Überzeitlichkeit über den Zeiten als das »Ewige Jetzt« bezeichnet und Zeit und Nicht-Zeit in Eines setzt. Es bleibt bei dem alten naiven Spruch des schlichten Dichters »Spät und früh sind Menschenzeichen, die an Gottes Thron nicht reichen«. Doch war der nicht metaphysisch — wie hier —, sondern irdisch und konkret denkende Augustin viel zu geschichtlich gesonnen, um nicht doch die Geschichte der Menschheit durch alle Folge der Zeiten hin als einen langen Geschehenszug zu empfinden. Gerade ihn aber zwingt er, oder vielmehr schon die Gotteslehre des Jahvisten, durch den schlechthin mythischen Gedanken von der Erbsünde zu einer Einheit. 2

De civitate Dei X I I 18. ) Ebenda 17.

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Glaubensformer: Augustinus: Gottesstaat und Weltstaat.

Zweites Stück. Die

Geschichte der Menschheit als Kampf G o t t e s s t a a t s mit dem W e l t s t a a t .

des

Die Teilung der Menschheit, die durch jenes Urteil Gottes herbeigeführt wurde, setzt ein mit der Spaltung zwischen Kain und Abel, an dessen Stelle Seth als Stammvater tritt. Sie aber sind die Begründer der beiden Staaten, des Gottesstaates, als dessen Urheber Seth, der nachgeborene Bruder Abels, gilt, und des Weltstaates, den Kain gründet. Es würde überflüssig sein, die Paraphrase der biblischen Überlieferung, durch die Augustinus die Geschichte des Gottesstaates mit derjenigen des Volkes Israel gleichsetzt, wiederzugeben; es ist eine im wesentlichen deskriptive, in Wahrheit also überwiegend beschreibende Wiedergabe der Schicksale des jüdischen, des nach kirchlicher Lehre auserwählten Volkes. Eine Umklammerung aber zu einer Geschichtseinheit findet auch hier und gerade hier statt: die einzelnen Schicksale des jüdischen Volkes werden als eigens von Gott, als seinem Lenker, geschickt und gelenkt dargestellt. Einzelne Wendungen in der Geschichte des jüdischen Volkes werden als besondere Fügungen Gottes geschildert. Die großen und glücklichen Könige Saul, David und Salomo stehen unter seiner Obhut; die Spaltung des jüdischen Staates wird moralisch erklärt, und zwar so, als ob sich in ihr jene ältere Spaltung wiederholte. Das Reich Israel fällt in Nachahmung Kains von Gott ab und wird nur durch die Propheten, die Gott ihm erweckt, zur Hälfte bei der Sache des Guten zurückgehalten. Die Könige von Juda haben bessere Gesinnung. Zuletzt aber haben beide Reiche das Schicksal, daß Gott ihre Bewohner in die Gefangenschaft nach Babylon abführte: auch dies auf Seiten Gottes eine Tat des erzieherischen Zornes. Wenn Gott die Juden wieder in ihre alten Sitze zurückgeführt hat, so offenbart sich

Geschichte des Gottesstaates und Gesohichte des Weltstaates.

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hierin seine nun wieder segensreiche Gewalt. Doch läßt er sie zuletzt, schon zu Jesus' Zeiten, unter die Herrschaft der Römer geraten, und es sind nur wenige Propheten, von denen nachher in ihrer Geschichte die Rede ist. In einem eigens zu nachträglicher Zusammenfassung angebrachten Rückblick wird von neuem erhärtet, daß Augustinus die Geschichte des Gottesstaates, wie er sich ihm in dem Gesamtschicksal des Volkes Israel darstellt, wie eine Einheit ansieht. Uns will eine solche vereinigende Gesamtsicht, angewandt auf die Geschichte eines Volkes, nicht verwunderlich erscheinen: wenigstens die Völker hoher Entwicklungsstufen, die Griechen von ihrer neueren, die Römer von ihrer neuesten Zeit ab, haben ihre eigene Geschichte als Einheit gesehen; für die Juden war vollends die Geschichte ihres eigenen Volkes nicht nur eine staatliche, sondern eine Glaubensurkunde. Eine zweite Wirkung schloß sich aber an diese erste an. Lediglich als logische Folgerung aus der Teilung der Menschheit in zwei Hälften, in die der Welt und die Gott anhängende, hätte vielleicht die Zusammenfassung aller der vielen Völker, die sich nun als Gegnerschaft gegen den Gottesstaat darstellten, sich doch nicht allzu leicht ableiten lassen. So aber wie Augustinus das Insgesamt aller Geschichte sah, stellte sich die ganz und gar als Einheit aufgefaßte Gottesstaates- und jüdische Geschichte wie die selbstverständliche innere Forderung nach einer einheitlichen Geschichte des Weltstaates als Gegenstück dar. Selbst des Augustinus' starke geschichtsdenkerische Kraft wäre ohne diese geistige Hilfe doch vielleicht an der Aufgabe erlahmt, die Staaten, die außerhalb des jüdischen Gottesreiches erwachsen waren und deren Zahl er schon zur Zeit des Turmbaus von Babel auf 72 veranschlagte, zu einer Einheit zusammenzufassen. Wohl war ihm die tatsächliche Geschichte zu Hilfe gekommen; das Siegesschwert der Römer hatte im Laufe eines halben Jahrtausends diese Einheit als eine den damaligen Erdkreis umspannende zu einem Reich zusammengeschmiedet. Aber alle die Jahr-

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Glaubensformer: Augustinus: Gottesstaat und Weltstaat-

hunderte vor dem Römerreich mußten doch auch noch umfaßt werden, und für dieses wenigstens im Gedanken zu vollendende Werk mag ihm doch jene Kontrapunktik: Weltstaat gegen Gottesstaat besser als irgendeine andere Erwägung geholfen haben. Im übrigen ist denkwürdig, wie Augustinus bei dieser geistigen Vereinigung verfahren ist. Er legt auch an die früheren, die vorrömischen Zeiten, den Maßstab des kaiserlichen Roms an und sieht sich beim Suchen nach konzentriertem Staats-, konzentrierendem Geschichtsgeschehen auf das, wie er es nennt, Weltreich der Assyrer hingewiesen1. Es habe sich die Genossenschaft der Staaten, die er, wie er sagt, zusammenfassend den Staat dieser Welt nennt, zwar in viele Reiche zerspalten, zwei aber seien zu größerer Berühmtheit emporgestiegen: die Reiche der Assyrer und der Römer. Diese Bevorzugung mögen die Assyrer am meisten ihrem Eingreifen in das Schicksal der Juden zu danken haben. Daß sie als Seitenstück der Römer gelten können, begründet Augustinus so, daß er das eine Reich dem Morgenland, das andere dem Abendland zuteilt, das eine, das Reich der Assyrer, als das frühere, das Reich der Römer als das spätere bezeichnet, und geltend macht, daß die Herrschaft des römischen Reiches dann begonnen habe, als die der Assyrer zu Ende gegangen war. Man wird beobachten, wie Augustinus bei der Herstellung des Gesamtrahmens für seine Universalgeschichte — denn um eine solche handelt es sich doch für das geohistorische Blickfeld der Römer seiner Zeit — bemerkenswert energisch, ja fast gewalttätig zu Werke geht. Jedenfalls energischer, als es selbst bei der Anlage einer Weltgeschichte in heutiger Zeit geschehen würde. Denn die doch recht zahlreichen Staaten, die namentlich in vorrömischer Zeit bestanden haben, räumt er mit einer entschlossenen Handbewegung beiseite, indem er sagt: die übrigen Reiche und Könige er!) Civitas Dei XVIII 2.

Weltreiche; Einwirkung des Glaubens auf die Geschichtssicht.

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scheinen neben ihnen — neben seinen beiden Weltreichen — wie Anhängsel. Ein solches Verfahren war geistig möglich doch nur unter Voraussetzung jener merkwürdig starken, auch im geschichtlichen Sinne starken Fähigkeit des Zusammensehens, wie es für Augustinus durch seinen glaubensgeschichtlichen Blickwinkel gegeben war. Durch diesen geistigen Zusammenhang aber wurde, und das ist methodengeschichtlich so ungemein wichtig, eine Zusammenziehung des Anblicks der Universalgeschichte bewirkt, die ohne ihn nicht denkbar gewesen wäre. Aus dieser Erwägung ergibt sich, daß aus der Seele aufsteigende Bewirkungen, wie die des Glaubens, eine sehr viel größere Macht auch auf rein wissenschaftstechnische Entscheidungen ausüben können, als irgendwelche Überlegungen rein wissenschaftlicher, ja selbst methodischer Natur. Man überlege doch, wie viele geschichtswissenschaftliche Errungenschaften im Laufe des seit des Augustinus' Wirken verstrichenen Jahrtausends aufgesammelt worden sind. Und sie boten wahrlich Anlaß genug, um Verkürzungen, Vereinfachungen, Zusammendrängungen, kurz also Vereinheitlichungen vorzunehmen. Aber man wird zugeben, daß derlei Werke noch bis auf die jüngste Zeit nicht entstanden sind. Die Entwicklung hat eher die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen: man hat auch für universalgeschichtliche Werke eher die Details gehäuft als gemindert. Man hat insbesondere Sammelwerke begründet, die schon dadurch, daß sie ihre einzelnen Abschnitte an Einzelforscher verteilt haben, ihre Ausdehnung beträchtlich vermehrt haben. Der Grund für diese Entwicklung mag vornehmlich darin zu suchen sein, daß in diesen Sammelwerken, in denen sich der Fortschritt der Einzelforschung am stärksten geltend macht, sich sehr schwer eine geistige, am wenigsten aber eine seelische Richtung durchsetzen kann, so wie sie in einem Manne von des Augustinus' Weise mächtig war. Man wird nicht leugnen können, daß die Einseitigkeit und oft auch die Voreingenommenheit, aus der heraus Augustinus Breyslg,

Gestaltungen des gesohiolitlicliäc E u t w i c k l a n g s g e d a n k e a s .

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Glaubensformer: Augustinus: Gottesstaat und Weltstaat.

schrieb, der konzentrischen, eben darum aber auch konzentrierten Art seines universalgeschichtlichen Denkens zugute kam. Immer sind es große Sichten, die er eröffnet, folgerichtige, weil leidenschaftlich verfolgte Gedankenreihen, die er vor den Leser stellt. Dann wieder benutzt er nicht eigentlich innerliche, sondern eher äußerliche Mittel der Vereinheitlichung, die ein wenig gewaltsam, wenn nicht geradezu irrtümlich sind. So, wenn er, um einen Synchronismus für seine Darstellung zu schaffen, feststellt, als Abraham im Lande der Chaldäer geboren wurde, habe in Assyrien der König Ninus, der Nachfolger des Belus, regiert, der der erste König dieses Reiches gewesen sei. Zur selben Zeit habe das Reich der Sikyonier bestanden, kleiner, aber dadurch bedeutend, daß es das Stammreich der Römer wurde. Das Reich der Athener wird ebenfalls in diese graue Vorzeit zurückgeleitet, ebenso das der Argiver. Lange Herrscherreihen mit fabelhaften Namen schließen sich an 1 . Unter dem Argiverkönig Apis, der nach Ägypten fährt, spielt das Geschehen auch nach Ägypten hinüber, zum Teil mit völlig aberwitzigen Ausschmückungen. Auch zur athenischen Geschichte werden fabelhafte Geschichten erzählt, die er denn auch älteren römischen Autoren entnimmt. Er liebt es, dem Götterkult der Griechen Übles nachzusagen. Bis zur Komik wunderlich sind seine Bemühungen, die europäischen Völkergeschichten mit den Daten der jüdischen Geschichte in Beziehungen der Zeitrechnung zu setzen: etwa den Auszug der Juden unter des Moses Führung, der mit der Regierung des athenischen Königs Kekrops gleichzeitig angesetzt wird. Immer wieder werden derartige Gleichzeitigkeiten angenommen. Daß es ohne allen Anhalt an eine feste Zeitrechnung geschieht, ist ebenso bezeichnend für die Wissenschaftsferne des Augustinus, wie für seine Neigung, auf irgendwelche, wenn auch noch so gewaltsame Art eine Einheit für die jüdische und griechische Geschichte !) Civitas Dei XVIII 2, 3.

Synchronisierungen; Geschichte Roms.

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herzustellen. Er möchte immerdar bauender Forscher sein, wenn auch diese Versuche ebenso fehlerhaft ausfallen wie die Nachrichten deskriptiver, beschreibender Geschichte, mit denen er jenen etwas kühn zusammengeschlagenen Rahmen füllt. Sittlich am bedenklichsten mag sein, wie er auf seltsam gewundene Weise den Heiden ihren Götterkult und ihre Göttersagen zum Unrecht auslegt 1 . Der Gedanke, daß die Vorfahren jener Generation einer ganz anderen Geschichts- und deshalb auch Kulturstufe angehören, kommt ihm gar nicht. Aus dem unbeschreiblich engen Gesichtskreis einer starren Rechtgläubigkeit urteilend, trachtet Augustinus nach nichts so sehr, als dem Heidentum und insbesondere seiner Götterverehrung so viel üblen Leumund, wie er nur vermochte, zu machen. Andererseits geht seine Schilderung völlig auf die Fabelwelt antiker Götter und Heldensagen ein und macht sich in einem vollen Kapitel Gedanken darüber, was man eigentlich von den Verwandlungen halten solle, die sich durch die Kraft der Dämonen an Menschen scheinbar vollzogen hatten. Als dann seine Darstellung auf die Geschichte der Römer übergeht, ändert sich ihre Haltung nicht. Augustinus stellt für den Rahmen der Zeitrechnung zunächst fest, daß die Gründung Roms, die er, wie selbstverständlich, auf Aeneas zurückführt, mit der Zeit des Untergangs des Reiches der Assyrer, »die fast ganz Asien ihrer Herrschaft unterworfen hatten«, zusammenfällt und mit der Regierung des Königs Ahas. Diese Daten stimmen zwar gewiß nicht mit den für die römische Überlieferung unserer Geschichtswissenschaft gültigen zusammen: 753 Gründung Roms, 606 Ende des Ein kennzeichnendes Beispiel stellt die folgende Stelle dar: »quos tarnen illi religiosi tamquam deos colunt, et cum de illis haec negant, ab omni eos crimine purgare non possunt, quoniam ludos eis poscentibus exhibent, ubi turpiter aguntur, quae velut sapienter negantur, et his falsis ac turpibus dii placantur, ubi etsi fabula cantat crimen numinum falsum, delectari tarnen falso crimine crimen est verum.« De civitate Dei L. XVIII. C. 12. 3*

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Glaubensformer: Augustinus: Gottesstaat und Weltstaat.

assyrischen Reiches, 736 bis 728 Regierung des Königs Ahas in Juda. Immerhin sind diese Abweichungen nicht ärger, als man sie allenfalls vermutet. Mit Wohlwollen vermerkt Augustinus die auf Jesus Christus bezüglichen Weissagungen der erythräischen Sibylle. Doch ist ihm von den ältesten Zeiten der römischen Geschichte nur dies bemerkenswert, daß nach Beendigung der siebzig Jahre der babylonischen Gefangenschaft des jüdischen Volkes auch die Zeit der Tyrannei der römischen Könige zu Ende gegangen sei — wobei dann die Datierungen des Augustinus: nach dem Regierungsantritt des Darius, also 521, Abschaffung des Königtums, 510, viel besser zusammenstimmen. Mit der Zeit vor Jesus aber schließt die Geschichte des Gottesstaates, soweit er dem jüdischen Volk anvertraut war; doch behandelt Augustinus diese doch wahrlich für die Geschichte des Christentums wichtige Wendung mit bemerkenswerter Kühle und Gleichgültigkeit, allerdings auch ohne alle gehässige Abwendung von dem jüdischen Volk, zu der bei dieser Veränderung doch Anlaß genug gewesen wäre. Als den Grund für den Ratschluß Gottes, der die Zerstreuung des Volkes Israel über alle Länder herbeiführte, bezeichnet er lediglich die Absicht, daß die Juden als die Inhaber der alttestamentlichen Weissagungen überall als Zeugen für die Wahrheit des Evangeliums auftreten sollten1. Indem Augustinus zur Geschichte des römischen Reiches, als des Trägers der Sendung des Weltstaates, übergeht, setzt er sogleich mit der Schärfe seiner Kritik ein: er sucht in einer Beurteilung von Ciceros Buch über den Staat darzutun, daß das römische Reich in Ciceros Sinne gar nicht ein Staat sei. Es fehlte ihm von jeher die Eigenschaft der Gerechtigkeit. Doch denkt Augustinus nicht daran, dies in irgendeiner Form zu erweisen, sondern er begründet seinen Ausspruch damit, daß den Heiden ja die wahre Erkenntnis Gottes fehle. Daß er damit nur sein völliges Unvermögen, über J) De civitate Dei X V I I I 47.

Kritische Einstellung'; die Frage nach dem Ende der Zeiten. 37

diese Dinge etwas objektiv Gültiges zu sagen, eingesteht, diese Einsicht kommt ihm nicht. Daß Cicero zu einer Zeit schrieb, in der es noch keinerlei Verkündigung der christlichen Lehre gab, dieser Umstand, der ihn wenigstens hätte von derlei leeren Widerlegungen abhalten sollen, kam ihm gar nicht zum Bewußtsein. Außerdem aber unterließ es Augustinus, auf Wesen und Wert des römischen Reiches einzugehen; das Eisen mochte ihm zu heiß sein, an das er bei einem solchen Unternehmen hätte fassen müssen. Er versenkt sich am Schluß seines Werkes in langen Abschnittreihen in theologische Streitfragen, die mit dem Gegenstand der Geschichtslehre nichts zu schaffen haben. Nur in einem Punkt rührt er an die Angelegenheit der heiligen Zeitrechnung, der, wie einst Sumerern und Babyloniern, so auch jetzt den Christen — und zwar nicht nur den Gottesgelehrten, nein auch den Laien — viel zu denken gab. Es ist die Frage nach dem Ende der Zeiten. Daß er sie im Sinne des alten Jahrtausendgedankens löst, ist nicht verwunderlich; es ist, als ob dies alte Maß religiöser Zeitrechnung wieder aus der Tiefe der Zeiten das Haupt erhebt, wie es denn auch bis zur Regierungszeit des deutschen Kaisers Otto III. seine seelische Wirkung beibehalten hat. Augustinus mißt auch diesem, zu seiner Zeit noch währenden Jahrtausend, berechnet von Jesus* Ankunft ab, eine eigene Wirkung bei. Ein seltsames Theologumenon stellt er hier auf, indem er verkündet1: da der Teufel während der tausend Jahre der jetzigen Zeit, der Weltzeit, wie er es ausdrückt, durch den Willen Gottes gefesselt ist, so herrschen die Heiligen des Herrn mit Jesus an ihrer Spitze. Und zwar darf dieses Jahrtausend nicht etwa mit dem verwechselt werden, das nach der Wiederkunft des Herrn auf der Erde heranbrechen wird. Sondern es ist eine Zeit der Vorbereitung, in der den Anhängern des ') Interea dum mille anins ligatus est diabolus heißt es De eivitate X X 9.

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Glaubensformer: Augustinus: Gottesstaat und Weltstaat.

Gottesstaates doch schon viel Macht auf Erden verliehen ist. Man wird nicht leugnen dürfen, auch bei sehr unparteiischer Beurteilung von des Augustinus schriftstellerischer und forscherlicher Begabung, daß das von ihm entworfene Bild vom Kampf zwischen Gottes- und Weltstaat vornehmlich für die letzten sieben oder acht Jahrhunderte der Klarheit durchaus ermangelt. Doch wird man Augustinus daraus keinen eigentlich geistigen Vorwurf machen dürfen. Die politischen Gründe, die ihn verhindern mußten, ein Zeitalter zu schildern, das zu seinen Lebzeiten zwar schon den vollen Sieg des Christentums erlebt hatte, das aber fast während seines ganzen Verlaufes das Heidentum im Besitz der staatlichen Macht gesehen hatte, waren zu mächtig. Wie hätte er die politische Geschichte eines überwiegend heidnischen Zeitalters bei seinen Gesinnungen schildern oder gar beurteilen können. Wenn ihm dies aber nicht möglich war, so war der Schrift, wie er sie eigentlich geplant hatte, die Spitze abgebrochen. Der Kampf, der den Gegenstand seines Werkes bilden sollte, hatte, so wie er es mit ganzer Seele ersehnt und erwünscht hatte, mit einem vollen Siege seiner, der christlichen, Sache geendet. Aber es ging nicht an, diesen Sieg in aller Offenheit zu feiern. Ja Augustinus muß nicht völlig gewiß geT wesen sein, daß die christliche Sache bis zum letzten Ende, d. h. also bis zum Beginn des himmlischen Reiches nach dem Ablauf auch des letzten Weltalters siegreich bleiben würde. Wenigstens vertritt er auf Grund aller Weissagungen die Meinung, daß der Satan noch eben vor dem Eintritt des himmlischen Reiches seiner Fesseln entledigt werden wird und dann freilich schlimm genug toben wird. Zuletzt aber, nach Ablauf dieser Frist, wird das Reich kommen, und alle, denen nicht das Mal auf die Stirn geprägt ist, werden dann in die Seligkeit eingehen. Alle die Zutaten, die vom Schicksal der Freigesprochenen und der Verdammten handeln, sind religiöser Natur und

Voraassagungen; Nachwirkungen der Lehre; Lob des Friedens. 39

haben mit des Augustinus Geschichtslehre nichts zu schaffen. Ja man möchte erklären, daß auch das Schicksal der Menschheit selbst, so wie es hier seinem Werk entnommen ist, durch solche Absonderung in etwas vergewaltigt ist. Denn immer ist es so nur eine Szenenfolge, die aus dem Drama, das sich zwischen Gott und der Menschheit abspielt, herausgerissen ist. Gleichwohl wird man auch einem so beschaffenen Bruchstück, das mehr aus dem Gottes- als aus dem Menschheitsgeschehen herausgeschnitten erscheint, seinen Platz in der Reihe der Geschichtslehren durchaus nicht verweigern dürfen. Im Gegenteil, es muß in ihr um deswillen einen eigens hohen Rang eingeräumt erhalten, weil es, obwohl es gewiß nicht ad hoc, ganz und gar nicht zum Zweck einer Geschichtslehre abgefaßt ist, den Fortschritt dieser Wissenschaft auch in einem rein weltlichen Sinne wesentlich gefördert hat. Man wird kaum Spuren einer deutlichen Fortsetzung der Gedankengänge des Augustinus in einer weltlichen Geschichtslehre — die es ja als einen Erkenntnisbezirk innerhalb der Geschichtswissenschaft noch gar nicht gab — nachweisen können. Aber eine Nachwirkung seines geistigen Tuns, insofern die Geschichte als Insgesamt gesehen wurde, wird sich nicht verkennen lassen. An Einwirkungen der Lehren des Augustinus, die zwar nicht die geschichtlichen Dinge, wohl aber solche Angelegenheiten betreffen, die für die Geschichte wichtig sind, fehlt es nicht. So hat sich Augustinus mit großer Entschiedenheit für die Sache des Friedens ausgesprochen. Gemäß seiner großen Sicht auf menschliche Dinge faßt er den Frieden im weitesten Sinne, nicht nur als den zwischen Staaten bestehenden, sondern auch den der Familie, ja der Seele. Ihn schätzt er ungemein hoch: so hoch, daß er die Meinung vertritt, er sei das höchste Gut. Er sei erreichbar erst im Jenseits und dann gleichbedeutend mit dem ewigen Leben1. Er tritt aber für ihn ein in jeder, auch irdischer Gestalt, ») De Civitate Dei X I X 9—14.

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Glaubensformer: Bossuet.

Der Gottesstaat will alle Ordnungen der Gemeinschaft dem Grundgesetz des Friedens unterordnen.

Vierter Abschnitt. Bossuet. Die vereinheitlichende Kraft des Eingottesgedankens und der christlichen Glaubenslehre hat in sehr viel späteren Zeiten noch einmal vermocht, das Bild der Geschichte zu dem einer Universalgeschichte zusammenzufassen. Als sich im französischen Denken des siebzehnten Jahrhunderts sehr bald nach Vicos Auftreten ein erster Drang zur Geschichtsphilosophie regte, da war es, als hätte die Verbindung dieses neuen Geschehens mit den alten religiösen Gedankengängen aufrecht erhalten werden sollen, insofern das erste Werk über geschichtliches Denken, das der Feder eines französischen Autors entflossen ist, christlich-religiös gefärbt war. Daß in den Jahren 1679 bis 1681 Bossuet seinen

Discours aur Vhiatoire universelle niederschrieb, hat zwar

nicht die umfassende Bedeutung gehabt, die die weitgespannte Aufschrift erhoffen läßt; aber wenn es der Gesinnung Montesquieus und noch mehr der Voltaires schlechthin entgegengesetzt war, so lassen doch die Absicht und einige Hindeutungen dieses Werkes immerhin erkennen, daß sich im französischen Geiste doch Regungen als lebendig erwiesen, die einem Drang zu universaler Geschichtsbetrachtung entstammten. Und mit solcher Universalität war, wenn auch nur im Rahmen, die erste Voraussetzung für eine entwickelnde Sicht auf die Geschichte gegeben. Und man vergesse doch auch nicht, daß es der Eingottesgedanke, der feste Glaube an die Regierung der Welt durch Gott war, der diesen Zusammenschluß der geschichtlichen Gesamtsicht zu einer sicheren, festgeschmiedeten Einheit

Vorträge über Universalgeschichte; Einfluß der Väter.

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herbeigeführt hat. Monotheismus ist der straffste Monismus, den man sich denken kann — die einheitliche Weltlenkung durch einen persönlichen Gott ist geschichtlicher Monismus und also strenger Universalismus der geschichtlichen Geaamtsicht. Und diese Einheit ist erst recht die erste, wenn auch nur elementare Regung des Entwicklungsgedankens. Bossuet war Priester und seine berühmten Leichenpredigten waren vielleicht das ausgezeichnetste Erzeugnis seiner genialischen Beherrschung des Wortes. Er hat sogar sein großes geschichtliche Werk im Dienst seines geistlichen Lehramts geschrieben, denn diese Rede — wie er seine Darstellung nennt — war gerichtet an den Dauphin, dem sie vorgetragen werden sollte. Bossuets Universalgeschichte war angelegt nach dem immer wieder durch die Jahrhunderte nachgeahmten Vorbild der Väter. Und Augustinus selbst hat ihm insofern zum Muster gedient, als die Geschichte Israels, als des auserwählten Volkes Gottes, wie ein völlig ebenbürtiges, ja sogar an Wert weit überlegenes Seitenstück zu aller Profangeschichte auftritt. Ja die Vereinheitlichung beider Geschichtssubstanzen, der heiligen und der weltlichen Geschichte, wird dadurch noch weitergetrieben, daß beide Bestandteile ganz und gar in Eines geschmolzen sind. Die vier ersten Zeitalter reichen innerhalb der Geschichte Israels bis zum Lebenswerk des Moses. Dann aber schiebt sich die Eroberung Trojas zwischen die Gesetzgebung auf dem Sinai und die Regierung Salomos sowie die Vollendung des Tempels. Und auf Romulus folgt in erster Verknüpfung von heiliger und weltlicher Geschichte das Leben des Cyrus und die Wiederherstellung des jüdischen Reiches. Der Zerstörung Karthagos folgt das Zeitalter der Geburt von Jesus Christus. Aber schon auf die Regierung Konstantins und den Abschluß des Bundes zwischen Staat und Kirche folgt als der Schluß des Werkes die Zeit Karls des Großen und die Begründung des neuen Imperiums. Daß Bossuet gerade hier abbrach, ist von dem starken Grunde der gallikanischen

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Glaubensformer: Bossuet.

Kirchenfreiheit, die bei strengster Gläubigkeit doch dem Papsttum nicht geringen Abbruch tat, nicht zu verwundern. Es ist im Grunde auch eine äußerst kurze Zeittafel, die Bossuet hier gibt. Er teilt das Insgesamt der Zeiten in zwölf Epochen und sieben Weltalter ein, und durch die Schnelligkeit, mit der er die Jahrhunderte durcheilt, schimmert sehr deutlich das Bestreben dieses Priesters, der doch auch ein Hofmann war, hindurch, das Gedächtnis des Thronerben, für dessen Ohren diese Vorträge bestimmt waren, mit möglichst wenig Daten zu beschweren. Doch diesem ersten, zur Einheit von heiliger und weltlicher Geschichte verschlungenen Teile folgen noch zwei weitere Abteilungen, Geschichte der Religion und Geschichte der Imperien zubenannt. Die erste Abteilung ist vom Standpunkt der Entwicklungsgeschichte angesehen sehr wenig ergiebig. Selbst die Rahmenidee der Universalgeschichte erweist sich als nicht sehr fruchtbar. Es ist der alte Schultrakt von der altjüdischen zur persischen und demnächst zur griechischen und römischen Geschichte, dem Bossuet hier folgt: also die uralte, lediglich chronologische Anordnung, die schon hunderte von deskriptiven Darstellungen angewandt haben. Und wenn man ihm deswegen den Vorwurf gemacht hat, daß er in merkwürdiger Einseitigkeit die Geschichte der Kulturvölker des alten Orients und des fernen Ostens vernachlässige, so ist dagegen einzuwenden, daß dies ja dieselbe Einseitigkeit ist, deren sich noch zweihundert Jahre später Ranke schuldig gemacht hat 1 . Und Bossuet mag, wenn er in der dritten Abteilung seines Werkes, der Geschichte der Reiche, die Grenzen seiner Darstellung immerhin bis zu Skythen, Äthiopiern und Ägyptern hinausrückte, doch glauben, in dieser Hinsicht genug getan zu haben, wenn es auch nur Schattenbilder von Geschichte sind, die er in diesem überaus kurzen Abschnitte seines Werkes überliefert2. Gleichwohl geht aus diesen Zufügungen seines ') Lotheißen Geschichte der französischen Literatur II (1890) 2301 Bossuet, Oeuvres (o. J. O. 1860) 381 ff.

Geschichte der Religion; Geschichte der Imperien; Die Reiche. 4 3

Werkes hervor, daß er eine geistige Nötigung verspürte, es nicht bei dem herkömmlichen Verlauf der sogenannten Weltgeschichte sein Bewenden haben zu lassen, sondern immerhin an einzelnen Stellen des bisher eingehaltenen Grenzzuges über ihn hinauszugreifen, um das Ziel möglichster universalgeschichtlicher Vollständigkeit zu erreichen. Die Geschichte der Religion gipfelt, wie bislang, in der Person von Jesus Christus. Seine Geschichte wird erzählt in der Form einer korrekten Überlieferung des Inhalts der heiligen Schrift; aber es findet sich nicht die leiseste Spur des Versuches der Herstellung einer zuerst hinleitenden, demnächst abgeleiteten Geschichte seiner Wirksamkeit1. Zu etwas weiteren Spannungen im Sinne entwicklungsgeschichtlicher Deutung gelangt Bossuet in jener dritten Abteilung seines Werkes, der er die Überschrift »Die Reiche« gegeben hat. Allerdings wirkt der große Grundsatz, den er aus einer Gesamtanschauung der Geschichte ableitet, auch wie eine Leugnung zum mindesten autogener, eigenwerdiger Entwicklung. Denn Bossuet sieht den Sinn aller Geschichte darin, daß die Umwälzungen der Reiche von der Vorsehung eigens um deswillen veranlaßt werden, um die Herrscher zu demütigen, und er sammelt zahlreiche Beispiele aus der Geschichte des vorderen Orients und des alten Europa, um an ihnen zu zeigen, wie Gott die einen benutzt hat, um die andern zu schlagen und zu erniedern, wie er dann aber auch die schon einmal geschlagenen Völker wieder hat emporsteigen lassen. Und da er gegen die Anhänger des Deismus zu Felde zieht oder, wie er sich ausdrückt, gegen die Philosophen, die eine göttliche Einwirkung nur insofern gelten lassen wollen, als sie feste Gesetze des Weltgeschehens annehmen, die Gott ein für allemal gegeben habe, nach welchen sich die Entwicklung der Welt vollziehen muß, wenn Bossuet also lehrt, daß die Regierung der Welt durch Gott gelenkt und bis in die kleinsten Einzelheiten von ihm beBossuet, Oeuvres 181—200.

Glaubensformer: Bossuet.

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stimmt sei, so sieht man, daß es sich hierbei um eine grundsätzliche Befehdung jeder determinierten, jeder gesetzhaften Geschichtssicht handelt. Es ist offenbar, daß es sich in solchen Lehrmeinungen um das schlichte Gegenteil jeder entwickelnden Geschichtsauffassung handelt, eine Folgerung, die sich denn auch durch viele dogmatische Doktrinen der herrschenden Kirche gestützt findet. Dennoch wird man nicht sagen dürfen, daß Bossuet in dieser Hinsicht ganz folgerichtig geblieben ist, noch auch, daß er im einzelnen immer die entwicklungsgeschichtlichen Auffassungen verworfen hat. Er vertritt an einer Stelle seiner Darlegung über die Geschichte der Reiche die Meinung, daß sie doch auch durch lokale Ursachen bedingt sei und daß Sitten und Staatseinrichtungen auch das Schicksal der Reiche — gemeint ist hier wohl das außenpolitische Geschehen — bestimmten. Immerhin ist also hier wenigstens ein Trakt, wenn man will, ein autogener Trakt der Geschichte, ein entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhang mithin, als für ihren Gang bestimmend angenommen. Gegenüber der sonst so individualistisch-theistischen Auffassung Bossuets bedeutet diese Lehre nur ein verhältnismäßig partielles Zugeständnis an die entwickelnde Geschichtslehre; doch ist sie an dieser Stelle immerhin dem Entwicklungsgedanken entgegengekommen. Und noch wenn er erklärt, die großen Menschen seien Schauspiele in den Völkern, die Gott schaffe, so fügt er zwar hinzu, daß ihre seltenen Gaben von Gott nach Willkür verliehen seien, aber er schließt damit, daß er sagt, Gott habe diese Schauspiele wie die Sonne erschaffen1, ein Zusatz, der diesem Geschehen doch wieder einen Hauch von Gesetzmäßigkeit verleiht. Zu völlig zweifelsfreier Klarheit ist Bossuet nicht vorgedrungen. Denn wenn er, vermutlich unter Einwirkung des von ihm sehr geliebten Polybios und seines Pragmatismus, die Meinung geltend macht, daß doch auch mensch1

) Comme il a fait le soleil (Oeuvres 550).

Gegner jeder gesetzhaften Auffassung des Weltgeschehens.

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liehe Beweggründe in das geschichtliche Geschehen eingreifen, so bewegt sich seine Anschauung auch in dieser Auffassung fort von der etwas allzu anthropomorphen Anschauung der göttlichen Weltregierung und läßt eigenmenschliche Zusammenhänge als Ursachen der Geschichte zu. Dann freilich läßt er die Gottheit wie einen recht willkürlich eingreifenden Deus ex machina über diesen irdischen Geschehnissen schweben, von dem stets sehr plötzliche Eingriffe drohen1. Und diese coups de providence, von denen Bossuet hier spricht, erinnern bedenklich an die coups de théâtre, die den Gang der Handlung in der damaligen Tragödie unterbrachen2. Der eine Eindruck bleibt doch der überwiegende : Bossuet stellt sich wie ein letzter Vorkämpfer für eine sehr menschennahe Subjektivität der göttlichen Weltregierung und ihrer einzelnen Maßnahmen dar, ein Kämpfer doch auch gegen jede gesetzhafte oder gar vorbestimmte Auffassung des Weltgeschehens. 1

) C'est lui qui prépare les effets dans les causes les plus éloignées et qui frappe ces grands coups dont le contrecoup porte si loin (Oeuvres 382). 2 ) Nicht ganz ohne Ursache in Erinnerung gebracht von Suchier und Birch-Hirschfeld, Geschichte der französischen Literatur (1900) 438.

ZWEITES BUCH. PHILOSOPHEN ALS GESCHICHTSDENKER. Erster

Abschnitt.

Kants Idee zu einer Allgemeinen Geschichte. Erstes Stück. Zweckmäßigkeit und

Auswicklung.

Man wird immer von neuem erstaunt sein, sich genötigt zu sehen, eine Schrift von Kant in die Reihe der bewegenden, ja der zumeist bewegenden Werke der Geschichtslehre zu versetzen. Kant muß seiner Grundhaltung nach unter den deutschen Denkern zu den stärksten Gegnern einer rein empirischen und also auch einer rein geschichtlichen Betrachtung der Welt gerechnet werden. Am wenigsten aber vermutet man mit einer Schrift des Jahres 1784 Kant in. diesem von ihm so selten aufgesuchten Lager anzutreffen, ein Jahr nach dem Erscheinen der zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft, drei Jahre vor dem der Kritik der praktischen Vernunft, als Kant also recht eigentlich auf dem Gipfel seiner Bahn sich befand, die ihn bis zur Leugnung jeder Gewißheit des Weltbildes, soweit sie sich auf die Erfahrung der Sinne stützt, führte. Aber Kant war recht eigentlich ein Denker von zwei Fronten: eben in diesem Jahr 1784 hat er die Schrift, von der hier die Rede sein soll, geschrieben, die Schrift, in der er nicht nur die empirischste unter allen möglichen Sichten eröffnete, sondern sie wie die selbstverständlichste von der Welt zur Grundlage seines Sehens machte. Er hätte gemäß der gigantischen Kraft seines Geistes das Sehen dieser erst

Widerspruch zwischen Willensfreiheit nnd Massenvorgängen.

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eben von ihm ergriffenen Forschungsgattung so viel weiter und schärfer gemacht, daß er mit einer Schrift von wenigen Seiten alle Möglichkeiten dieser Wissenschaft auf das erstaunlichste vermehrt haben würde, hätte er nur in den Reihen der werktätigen Geschichtsforschung Männer gefunden, die durch die Weite ihres Blickes und die Stärke ihrer Einsicht in den Stand gesetzt worden wären, seinem weisenden Finger zu folgen. So kurz auch der Aufsatz ist, der hier besprochen werden soll, so wird sich in jedem Sinne verlohnen, ihn im einzelnen auszulegen. Wohl könnte eingewandt werden, daß eine so knappe Verlautbarung, geschrieben von der lichtvollsten Feder, die sich in diesem Jahrhundert in den Dienst deutschen Denkens stellte, keiner Auslegung bedürfe; doch wird der Wortlaut der hier vorzulegenden Deutung, so hoffe ich, beweisen, daß ein solches Unternehmen keineswegs überflüssig ist, und zwar vor allem darum, weil Kant, so gewiß er der Geschichte und zum zweiten auch dem großen Gedanken eines Plans der gesellschaftlichen Ordnung der Menschheit dienen wollte, doch ganz sicher nicht die gleichen Gedankengänge verfolgte, denen wir Heutigen zustreben. Kant stellt einen Gedanken an die Spitze seiner Betrachtungen, der merkwürdig genug ist. Es ist der Widerspruch zwischen der Freiheit des Willens — jenem Trugbild, von dem auch er sich nicht hat freimachen können — und der Beobachtung, daß die großen, die Massenvorgänge, sich in völliger Regelmäßigkeit vollziehen. Er zieht daraus den unumstößlich richtigen Schluß, daß wir — Menschen wie Völker — ohne es zu wissen großen Naturabsichten folgen. Wir verfolgen dann Zwecke, an denen uns sehr wenig gelegen sein würde. Ein spezieller Fall von Wundts schönem Satz von der Heterogonie der Zwecke. Für die offensichtlichen Torheiten so vieler menschlicher Handlungen gibt es einen Trost, an dem sich der Philosoph aufrichten kann: die Überlegung, ob die Naturabsichten, zu denen man die Einzelhandlungen zusammenlegen kann,

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Philosophen: Kant: Zweckmäßigkeit und Auswicklung.

nicht einen besseren Sinn ergeben. Kant selbst will sich so großer Dinge nicht unterfangen, hofft aber auf einen Kepler oder Newton, der sie wird erkennen können. Dies sind allgemeine Beobachtungen, die dem großen Gedanken einer Entwicklung durchaus dienen; wenn Kant dann aber dazu übergeht, eine Reihe von ineinander zusammenhängenden Sätzen aufzustellen, so wird recht eigen-lieh eine Entwicklungslehre aufgestellt, an der man freilich von einer zeitlich bestimmten Stellungnahme des Sehens aus Kritik üben, über die aber schwerlich ein absolutes Urteil gefällt werden kann. Der Satz, der in dieser Reihe der erste und zugleich der umfassendste ist, heißt: »Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln.« Vom Standpunkt der nicht nur sehr schnell nach Kant von Cuvier im Jahre 1795 und Lamarck 1809 vertretenen, sondern später von Baer, Darwin und Haeckel in immer neuen Formen mit verstärkter Energie verfochtenen Entwicklungslehre ist gegen diesen Satz nicht das mindeste einzuwenden. Ja man wird sagen können, daß eine allgemeine Auffassung dieses Sinnes auch dort noch besteht, wo man, wenn nicht an Baer, so doch an Darwin, am meisten aber an Haeckel Anstoß genommen hat. Der Entwicklungsgedanke besteht in seinem Kern, angewandt auf den Stammbaum der Arten im Tier- wie im Pflanzenreich, nach wie vor fort, ja es besteht die stärkste Neigung, ihn auch auf die Bildungsgeschichte der Steine wie der anorganischen Welt auszudehnen. Doch was den als Vermutungen hingestellten Bauten einer zwar auf erfahrungswissenschaftlichen Grundlagen aufgerichteten, niemals aber doch mit dem Anspruch auf Gewißheit ausgesprochenen Unterstellung erlaubt ist, wird einem Denker von so strengen Maßstäben, die er an sich doch nicht nachsichtiger als an andere anlegen dürfte, nicht einzuräumen sein. Aus dieser von Kant selbst diktierten Strenge wird man nun zu dem Urteil über seinen ersten Satz

Die Bestimmung der Naturanlagen.

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gelangen, daß er, an seinen eigenen Maßstäben gemessen, auf einem Apriori aufgebaut ist. Denn wenn es da heißt, alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln, so wird ein erkenntnistheoretisch korrektes Urteil an dieser Formelgebung auszusetzen haben, daß schon das Wort »bestimmt« eine Setzung-im-Voraus enthält, die auf keine, wenn auch noch so schwache erfahrungsmäßige Grundlage gestützt werden kann. Die Naturanlagen, die wir beobachten, sind Gegebenheiten einer Gegenwart, der unseren. Wir mögen ihnen nach Analogie des Wachstums eine Zukunft weiterer Entwicklung zutrauen; erfahrungsmäßig sichere Stützen aber haben wir für eine solche Annahme nicht. Es bleibt bei Vermutungen. Und was ist vollständig und zweckmäßig? Vollständig ist eigens anfechtbar: denn wenn man sich des Begriffes der Perfektibilität erinnert, der bei Condorcet und Saint-Simon eine so wichtige Rolle spielt, so wird man sich auch der Frage entsinnen müssen, welche Perfectionsweise hier eigentlich gemeint sei oder, wenn man lieber will, an welchen Punkt der fortlaufenden Reihe, als die doch jede Entwicklung zu denken ist, nun dieser Zustand der Vollständigkeit richtig verlegt zu denken ist. Und was soll zum zweiten zweckmäßig heißen ? Zweck — ganz objektiv gesprochen — kann in jeder fortlaufenden Reihe von Geschehensformen und von Endzuständen nur das bedeuten, daß, wenn eine Reihe von Zuständen im Lauf befindlich ist und die sich bewegende Masse den Zustand A zu verlassen im Begriff ist und dem Zustand B entgegenstrebt, der Zustand B, der gegen den Zustand A eine Veränderung darstellt, als der Zweck des Zustands A bezeichnet werden kann. Die Voraussetzungen, die für dieses Gleichnis gemacht werden, sind lediglich die, daß als Subjekt, als Inhaber der geschichtlichen Bewegung, ein Zustand, d. h. eine bestimmte Menschengemeinschaft, die eine bestimmte Anzahl von Geschehensformen ausübt, angenommen wird, als Inhalt der B r e 7 b 1 g, Gestaltungen des geschichtlichen Kntwlcklutigagedankena.

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Philosophen: Kant: Z wecfem äöigkeit und AusWicklung.

geschichtlichen Bewegung eine Anzahl von Veränderungen dieser Geschehensformen und als Ziel dieser Bewegung ein neuer Zustand. Soll nun aber der Begriff Zweckmäßigkeit eingeführt werden, so sieht man leicht, wie er entweder gar keinen Sinn haben kann, oder nur einen unendlich indifferenten, in seiner Bedeutung unendlich eingeschränkten. Gar keinen Sinn insofern, als von einer im Gang befindlichen Bewegung wirklich ausgesagt werden kann doch eben nur, daß sie im Gang befindlich ist; einen Inhalt des neuen, der Bewegung als Ziel winkenden Zustandes zu umschreiben, liegt nicht eigentlich im Begriff Zweckmäßigkeit. Will man aber doch einen Inhalt von einer Bewegung aussagen, wenn man von ihr als einer zweckmäßigen spricht, so wird nichts anderes übrig bleiben, als daß von ihr erklärt wird, daß sie dem Zustand B, bei dem sie enden wird, stracks entgegengeht: der Begriff Zweckmäßigkeit deckt sich dann mit dem von dem großen Biologen Karl Ernst von Baer eingeführten Begriff »Zielstrebigkeit«. Baer verstand darunter ganz gewiß einen allgemeinen Begriff, d. h. das fortwährende, fortlaufende Sichvorwärtsbewegen zu Zielen überhaupt hin. Kant hat sich sicher auch etwas allgemeineres unter seiner Zweckmäßigkeit gedacht, vermutlich aber etwas sehr Vages und Unbestimmtes — am wahrscheinlichsten mag ihm die alte, in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts herrschend gewordene Idee des Fortschrittes vorgeschwebt haben. Und ihm mag dann Zweckmäßig als soviel wie den Fortschritt fördernd gegolten haben. Doch hat er weder diese, noch eine andere begriffliche Erklärung abgegeben. In gewissem Sinne gibt dann der zweite Satz eine Art von Erklärung, insofern hier von der Entwicklung derjenigen unter den Naturanlagen des Menschen die Rede ist, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abzielen. Hieraus könnte man allenfalls folgern, daß für Kant zweckmäßig gleich vernünftig ist. Es wird auch der weitere Zusatz gemacht, daß dieser Gebrauch der Vernunft die Einsicht von Stufe zu

Die Naturanlagen und der Gebrauch der Vernunft.

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Stufe weiterführe. Auch wird ausdrücklich der Instinkt als einzig förderndes Werkzeug abgelehnt, sondern über ihn hinaus wird gefordert, die Vernunft bedürfe Versuche, Übung und Unterricht. Hiergegen aber wird doch einzuwenden sein, daß weder der Gebrauch der Vernunft, noch die übrigen angegebenen Mittel irgendeine eindeutige Richtweisung für das zweckmäßige Verhalten des Menschen darbieten. Könnte unsere sogenannte Vernunft auf einem untrüglichen Weg vorwärts führen — oh ihr ewigen Götter, wie völlig anders wäre die Entwicklung der Menschheit verlaufen, als es ihr wirklich gelang. Zuletzt wird kein Zeitpunkt des Endes, keine Grenze dieser vom Menschen selbst zu bewirkenden Entfaltung seiner Kräfte bestimmt. Daß der Mensch als einzelner eine solche Entfaltung vollständig zu Ende bringen könne, diese Möglichkeit wird abgelehnt; dazu würde seine Lebensdauer nicht hinreichen. Ja die Natur bedürfe vielleicht einer unabsehlichen Reihe von Zeugungen, um dies Werk zu vollbringen. Das Ende dieser Reihe, also die Vollendung dieser Entfaltung, müsse zum mindesten in der Idee dem Menschen vorschweben als das Ziel seiner Bestrebungen. Als Grund dafür führt Kant — äußerst bedenklicher Weise — an: weil sonst die Naturanlagen als größtenteils vergeblich und zwecklos angesehen werden müßten. Dadurch aber würden dann alle praktischen Prinzipien aufgehoben und die Natur, deren Weisheit sonst »der Beurteilung aller Veranstaltungen« zugrunde gelegt werde, allein beim Menschen eines kindischen Spieles verdächtig gemacht werden. Man ist doch erstaunt, bei einem Denker, dem man nur Gipfelleistungen zuzutrauen geneigt ist, so viel unmögliche Schlußfolgerungen in Hinsicht auf die geschichtliche Wirklichkeit und die zukünftigen Möglichkeiten zu hören. Zunächst muß hier in Wiederholung der noch eben geltend gemachten Einwände erklärt werden: zweckmäßige Auswicklung wird als die natur- und vernunftgemäße Richt4*

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Philosophen: Kant: Zweckmäßigkeit und Auswicklung.

Weisung für alles menschliche Fortschreiten angesehen. Welche Auswicklung als zweckmäßig anzusehen sei, darüber wurde entschieden, daß dies nur allenfalls in bezug auf die nächste Entwicklungsstrecke auszusagen sei, und man wird sogar darüber beständig im Zweifel sein müssen, denn selbst die Entscheidungen über die nächste Zukunft einer äußeren oder inneren Staatskunst werden immer mindestens zwiespältig ausfallen, und von jeder Form handelnden oder geistigen Geschehens gilt dasselbe. Immer also liegen für jede Entscheidung auch über die nächste Zukunft zwei-, drei- und mehrfache Entwicklungsbahnen als möglich vor. Und wahrlich schon die elementarste Betrachtung des handelnden oder geistigen Lebens läßt erkennen, daß der ewige Widerstreit, von dem unser Dasein aller Orten erfüllt ist, den entgegengesetzten Entscheidungen über das, was zweckmäßig selbst im Sinne der Entscheidung über die nächste Streckenwahl sei, entstammt. Gerade daß man über sie uneins ist, macht fast den Inhalt alles Lebens aus. Und nun erwäge man des ferneren, daß durch eine Ausdeutung des Zweckmäßigen als des Vernünftigen dem Menschen in Hinsicht über seine Zukunftsentscheidungen nicht einen Deut vorwärts geholfen wird. Immer wieder reckt sich als ein neues Gorgonenhaupt die Frage auf: was denn das Vernünftige sei. Gibt es denn eine strittige Angelegenheit in irgendwelchen menschlichen Dingen, in der nicht mindestens zwei Entscheidungen über die Vernunft des einen oder des anderen Weges einander gegenüberstehen. Und weiter, wenn der um Rat Verlegene sich an die Geschichte als eine Richterin in menschlichen Dingen wendet, was kann sie denn redlicherweise für andere Auskunft erteilen als die, daß, seit Menschen leben, sie sich immerdar darum gestritten haben, was vernünftig sei, ob Ein- oder Vielehe, ob Adels-, Volks- oder Einzelherrschaft, ob Gemein- oder Einzeleigentum, ob Geister- oder Götterglauben, fast ist man versucht zu sagen, ob Schwarz oder Weiß.

Vernunftentscheidungen; Urteil der Geschichte; Irrtümer.

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Und wollte sich hier advokatische Debattierkunst dadurch aus der Verlegenheit helfen, daß sie erklärt, es könne ja Kants Meinung sein, daß er nur an den Endausgang solcher Widerstreite gedacht habe, so würde man dagegen einwenden können, daß er ja dann eine seltsam gewundene und verbergende Ausdrucksweise für einen verhältnismäßig einfachen Gedanken gewählt habe. Vor allem aber könnte man doch darauf verweisen, daß eine unendlich zahlreiche Fülle von Ergebnissen der »vernünftigen« Berechnungen, Deutungen, Erklärungen, Entschlüsse, die Menschen, und zwar Führer und führende Geister obenan, gefaßt und gegeben haben, später — und unendlich oft dicht nachdem sie zum erstenmal geäußert waren — wieder umgestoßen worden sind. Wie steht es mit ihnen? Könnte man sich entschließen, wozu in Wahrheit die allerdringendste Ursache wäre, alle Ergebnisse des Philosophierens in ein quadriertes Netz von sehr vielen Fächern einzutragen und in den einzelnen Fächern alle richtigen, d. h. später aufrechterhaltenen Behauptungen in blauen, alle sogenannten Irrtümer, d. h. alle fallengelassenen Deutungen in roten Lettern einzutragen, so würden die roten Irrtümer zum mindesten die gleiche Zahl von Fächern einnehmen wie die blauen, aufrechterhaltenen Ergebnisse. Und wollte man alle erst aufgestellten, später fallengelassenen Behauptungen in Längsschnittsäulen anordnen, so würde der Eindruck der sein, daß immer wieder Meinungen aufgegeben, zuweilen wohl auch später wieder aufgenommen sind, im ganzen aber auch in dieser Anordnung die aufgegebenen Behauptungen überwiegen. Wo also, frage ich, hat in diesem Kreisausschnitt des schärfsten Denkens, der spezifischen Verstandesanwendung die Vernunft unser Geschlecht in einer nicht nur sehr häufigen, sondern vielleicht überwiegenden Zahl von Fällen vor Irrtum bewahrt. Ja, mehr als das, die sogenannte Vernunft, d. h. eine Handhabung der Seelenkräfte, bei der der Verstand die Ober-

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Philosophen: Kant: Fehlerquellen und Zukunftspläne.

herrschaft behält, kann sozusagen berufsmäßig, der Regel nach, zu Fehlern nicht etwa des Handelns, sondern erst recht des Denkens führen. Kant selbst ist ein lebendiges Beispiel dafür, freilich nicht so sehr er als geistige Persönlichkeit, sondern er als Angehöriger und auch als Unterworfener eines Zeitalters. Wenn er den Fehler begeht, der ihm hier soeben nachgerechnet wurde, daß er glaubt, die Vernunft als solche könne dem Menschen eine untrügliche Richtweisung in allen Wechsel- und Streitfällen des Lebens gewähren, so ist gerade das ein Irrtum, der sehr viele andere erzeugen mußte und in einem Zeitalter wie dem der Aufklärung und also der Verstandesmäßigkeit auch erzeugt hat.

Zweites Stück. F e h l e r q u e l l e n und Zukunftspläne. Und soll man die Fehlerquelle, aus der diese Irrtümer zumeist sprudelten, mit einem Worte bezeichnen, so wird man sie in der Sprache unseres Jahrzehnts die Eigenschaft der Eingleisigkeit nennen dürfen. Der Verstand begeht nämlich in diesem Zeitalter den Fehler, daß er alle Formen zunächst des Denkens, dann des Handelns auf zu einfache, zu einfädige oder wirklich zu einspurige Beweggrundreihen zurückführen will. Indem Kants Zeitalter in den uralten Fehler des Sokrates zurückfällt, der Vernunft die einzig entscheidende Stimme in dem Konzilium, in dem Ratskörper der Seelenkräfte zu übergeben, werden in Wahrheit immer wieder die unvernünftigsten Schlüsse und Folgerungen von der Welt gezogen. Die Stierhaftigkeiten des Willens, die Weichheiten, die Schwächen, aber auch die Stärken des Gemüts, die Gaukelfahrten, aber auch die Märchenträume, die Schöpfertaten der Vorstellungskraft, werden alle mit Stillschweigen übergangen und an ihrer Stelle werden allein die oft sehr nüch-

Eingleisigkeit; Überschätzung des Bereichs der Vernunft.

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ternen, sehr armen Schlußfolgerungen des Verstandes zu Rate gezogen. Wieviel falsche Entscheidungen des Denkens, dazu aber auch des Lebens in allen seinen Formen allein durch diese Einspurigkeit zustande kommen, ist nicht zu sagen. Ja zuletzt gerät man in Versuchung, den armen unglücklichen Verstand in Schutz zu nehmen, weil ihm bei solchem Verfahren sehr zahlreiche Irrtümer zugeschoben werden, an welchen nicht eigentlich er selbst, sondern weit mehr die Überschätzung seines Tätigkeits- und Fähigkeitsbereichs schuld ist. Dazu kommen dann freilich noch die sehr zahlreichen Formen der eigentlichen Verstandesfehler, der Fehlschlüsse aller Arten und Gattungen. Und wenn hier eine allgemeinste Ursache dieser Fehlleitungen von Kants Gedankengang angegeben werden soll, so wird doch von den Berufsfehlern philosophierender Weltbetrachtung die Rede sein müssen, zum mindesten derjenigen Philosophie, die nach einer mehr als zweitausendjährigen Herrschaft noch immer in Geltung war, einer Philosophie, in der Metaphysik und Erkenntnistheorie im Grunde allein das Reich sich unterworfen hatten. Es sei ferne, diesen beiden Hauptzweigen des berufsmäßigen Denkens ihr Übergewicht streitig zu machen; aber dies eine wird man ihnen nachsagen müssen, daß dies ihr Übergewicht Folgen gehabt hat, die der Gesamterkenntnis menschlicher Dinge mehr Eintrag als Nutzen gebracht haben. Und zu ihnen gehören die soeben besprochenen Berufsfehler, die ungefähr alle auf ein zu starkes Überwiegen der Abstraktion, der abgezogenen Begriffe zurückzuführen sind. Denn indem diese alle Lebensfülle der gewachsenen Dinge verdrängen, lassen sie vom Bild der Welt allzu oft nur ein Gerippe übrig, während sie zugleich fort und fort von Aprioris, von Setzungenim-Voraus beherrscht sind, nach denen ihre Beobachtungen erlaubt oder unerlaubt umzumodeln sie immerfort in Versuchung sind. Beide Veranlagungen kommen sich entgegen und wirken beide vereint dahin, das Bild der Wirklichkeit zu verfälschen.

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Philosophen: Kant: Fehlerquellen und Zukunftspläne.

Man mißverstehe mich nicht: was hier Kant zum Vorwurf gemacht werden soll, ist nicht seine sachliche Stellungnahme; ihr ist vielmehr im ganzen beizutreten, insofern alle Vermutungen heutiger erfahrungswissenschaftlich gerichteter Forschung sicher denselben Weg verfolgen, den Kant hier eingeschlagen haben will. Und die Wissenschaft, die wie die auf diesen Blättern verfolgte rein erfahrungsmäßig verfährt, bekennt sich auch zu dieser Weise. Kant tut es in gewissem Maße in der Abhandlung, deren Kerngedanken hier beurteilt werden sollen, auch; aber einmal spricht er dies nirgends weder unumwunden noch auch nur andeutend aus, und sodann würde dem Kant von 1784 jede Abwendung vom Apriorismus doch wunderlich zu Gesicht stehen. Die Summe aller dieser Feststellungen kann nur die sein: daß wirklich, wie schon am Eingang dieser Darlegung gesagt wurde, Kants allgemeine wissenschaftliche Stellungnahme einen Zweifrontenkrieg bedeutet. In der hier vorliegenden Abhandlung aber hat der Empirismus in Kant gesiegt, der Apriorismus aber ist unterlegen. Nicht allzu viel Gewicht wird man darauf zu legen haben, daß Kant in seinem dritten Satz, wo er auf das Wie der Auswicklung menschlicher Fähigkeiten zu sprechen kommt, den Ton dieser Darlegung darauf legt, daß der Mensch nach dem Willen der Natur alles, was über die Anordnung seines tierischen Daseins hinausgehe, aus sich selbst herausbringe. Er solle keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit teilhaftig werden, als derjenigen, die er sich frei vom Instinkt und aus eigener Vernunft erwerbe. Denn der Begriff Vernunft ist hier so wenig spezialisiert und so sehr in der Form des pars pro toto gebraucht, daß man ihm ohne allzu große Mißdeutung diesen weiteren Begriff aus eigenen Kräften unterschieben kann. Von um so größerer Wichtigkeit ist die Forderung dieses Satzes selbst und man wird gegen sie nicht das mindeste einzuwenden haben. Wird aber solche Autarkie, solche Selbstgenügsamkeit von der menschlichen, genauer gesagt

Autarkie der Auswioklnng; Antagonismus und Fortschritt.

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von der menschheifclichen Entwicklung als notwendige Eigenschaft ausgesagt, so ist damit zugleich der wichtigste der drei Teilbegriffe für den Gesamtbegriff Entwicklung — Beharrung, Veränderung, Selbstgenügsamkeit — gegeben 1 . Hätte eine Einzelforderung für den Begriff Entwicklung aufgestellt werden sollen, es hätte nicht korrekter verfahren werden können. Und ein denkwürdiger sittlicher Optimismus wird von Kant dieser obersten Forderung angefügt. Er führt nämlich nicht nur mit treuherzig sorglicher Genauigkeit alle die Güter des Leibes und der Seele auf, die der Mensch sich langsam durch Selbstausbildung erwerben oder anerziehen könne, sondern er ist auch der Meinung, daß die Natur es auf die Erlangung einer vernünftigen Selbstschätzung angelegt habe. Doch bleiben die Gedankenverbindungen, die Kant an diese Deutung des »Verhaltens der Natur« knüpft, besser unbesprochen; diese Lehren von der Selbstschätzung und vom Sich-Herausarbeiten des Menschen zu einem Zustand, in dem er sich des Lebens und des Wohlbefindens würdig mache, möchten uns in einem durchaus ungünstigen Sinne als überflüssig, moralistisch und für unsere Maßstäbe fast unverständlich vergriffen erscheinen. Zu einer sehr eigentümlichen Gedankenbildung schreitet Kant in dem vierten Satz seiner Abhandlung vor: er stellt die Behauptung auf, daß das Mittel, dessen sich die Natur bediene, um die Entwicklung aller ihrer Anlagen zustande zu bringen, der Antagonismus sei, also der Widerstreit innerhalb der menschlichen Gesellschaft. Denn auf diesen engeren Kreis zieht sich nunmehr das Beobachtungsfeld der Darlegung zusammen, ohne daß Kant übrigens dieser Verengerung des Blickkreises Erwähnung tut. Nur eine Einschränkung schickt er noch voran: es solle von solchem Widerstreit als Förderungsmittel nur insofern die Rede sein, als dieser am Ende die Ursache für die Herstellung aller gesellschaftlichen Ordnung darstelle. *) Vergleiche Die Geschichte der Menschheit I (1907) 52 f.

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Philosophen: Kant: Fehlerquellen und Zukanftspläne.

Gegen diese Aufstellung als einzelne Setzung wird keine ernsthafte Gesellschaftsseelenkunde etwas einzuwenden haben; wohl aber wird der Einwand dagegen zu erheben sein, daß der Hang zum Widerstreit als das einzige Mittel der Natur zur Beförderung des menschlichen Fortschritts ausgegeben wird. Denn wenn auch Kants Preislieder auf Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht unwiderlegt bleiben müssen, wenn sogar seine Versicherung, daß die Menschen, wenn sie die Friedfertigkeit der Schafe erreichen würden, auch deren Unfähigkeit würden teilen müssen, unwidersprochen bleiben muß, so ist doch auch diese Erklärung viel zu einspurig. Auf die Neigung der Menschen, einander im bösen Sinne Wettbewerb zu machen, wird man wirklich nicht alles Streben der Menschen zur Vervollkommnung zurückführen dürfen. Unter anderem wird man doch auch alles Hinstreben der Menschen nach Erhöhung ihrer Leistungen oder, spezialisierter und deshalb reicher und vervielfältigter ausgedrückt, ihr Streben nach der Kraft, der Schönheit, der Eindrucksfähigkeit der hervorgebrachten Erzeugnisse in das Blickfeld rücken müssen. Auch dem Urvater Kant mag hier ein reines Vergessen untergelaufen sein. Doch darf, so klein der Anlaß ist, nicht unbemerkt bleiben, daß der Grund des Entgleisens auch hier die übermäßige Neigung zur Einspurigkeit ist. Es ist, als hätten die Menschen jener Zeit zäh die Denkweise festgehalten, daß ihr Tun und Denken nur von einem einzigen Antrieb seine Bewegung erhalten könne. Einen Schritt sehr viel weiter auf der Bahn allgemeiner Gesellschaftsseelenkunde tut Kant, wenn er im fünften Satz verkündet, das größte Problem für die Menschengattung sei die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft. Hier ist mehr wie auffällig, wie viele Zwischenstufen seine Darlegung überspringt. Alle seitdem gültig gewordene Staats- und Wirtschafts-, Klassenund Rechtsgeschichte hätte hier eine ganze Stufenleiter von Zwischenzuständen unterscheiden müssen, hätte auch diesen

Forderung: eine Rechtsgeaellschaít, eine Verfassung, ein Herr 59

so vielfach verwickelten Vorgang aufs mannigfachste differenziert darstellen müssen. Nichts davon geschieht: auch hier stößt die immer zum letzten Ziel vorwärtsdrängende Folgerungsweise Kants unaufhaltsam vor, ihr Lauf aber ist denkbar eingleisig. Noch auffälliger ist vielleicht, daß Kant sogleich zu einer Aufgabe der Gesellschaftsordnung vordringt, die allerdings, vom Standpunkt der reinen Gesellschaftslehre aus gesehen, völlig elementar ist, dem geschichtlichen Gang der Entwicklung nach aber einer sehr späten Stufe dieser Entwicklung angehört, nach der auf diesen Blättern festgehaltenen Zeitenteilung der Neuesten Zeit: denn erst die französische Revolution hat diese letzte Frage heutiger Gesellschaftswirren klar aufgeworfen. Nur eine Gesellschaftsordnung, meint Kant, die Freiheit unter äußeren Gesetzen gewährleiste, Gesetzen, hinter denen eine unwiderstehliche Gewalt stehe, könne die Entwicklung aller Anlagen des Einzelmenschen bewirken. So allein werde eine vollkommen gerechte Verfassung zustande kommen. Und er erklärt von neuem, daß so zwar die Triebe nach wilder Freiheit vorhanden blieben, daß sie sich aber gegenseitig disziplinierten. Sodaß die beste gesellschaftliche Ordnung, ja alle Kunst und Kultur eine Frucht der Ungeselligkeit sei, die durch sich selbst genötigt werde, sich zu erziehen. Im sechsten Satz wird von Kant, ohne daß der Zeitpunkt in der Entwicklung des Menschengeschlechts für sie angegeben sei, die Forderung aufgestellt: der Mensch ist ein Tier, das einen Herrn nötig hat — ein Postulat der Gesellschaftslehre, das wenigstens für alle die bisher verflossenen Zeitalter nicht angefochten werden kann. Wenn für den Herrn gefordert wird, daß er gerecht sei und ein Mensch sei, so begibt sich Kant hier auf das Gebiet der vorschreibenden, der gesetzgebenden Wissenschaft, auf das ihm die hier vorgelegte Wiedergabe nicht folgen soll. Sie geht die Zukunft, nicht die Geschichte an.

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Philosophen: Kant: Fehlerquellen und Zukunftspläne.

Gleichwohl muß als ein denkwürdiges Vorausahnen der Entwicklung, die die europäische Staatengesellschaft anderthalb Jahrhundert später durchlaufen sollte, die Formierung unserer Staatenwelt erwähnt werden, wie sie sich K a n t immerhin schon vor der französischen Revolution, wenngleich nach Rousseau, dachte; er dachte sich nach Analogie des Amphiktyonen-Bündnisses einen großen Völkerbund, das ist sein Ausdruck. Und für den hier verfolgten Gedankengang ist wichtig, wie Kant sich den Verlauf der Entwicklung denkt, die hier endlich zu der dauernden friedlichen Regelung führen sollte, wie sie sich Kant wünscht und träumt. Sie würde, so meint er, aus demselben Grundgeschehen erwachsen, aus dem die Menschen, sehr gegen ihre Neigung, sich dazu entschlossen haben, die Genossenschaften der Staaten zu festen und dauernden Verfassungen zusammenzuschließen. Und es ist wieder ein Zeugnis für die Einsicht Kants in staatlich-gesellschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten, wie er einen Fortschritt der Dinge annimmt, der keineswegs in stetiger oder gar ruhiger Fortbildung sich vollziehen würde, sondern unterbrochen von Zerstörungen oder wenigstens Zerstückelungen, und wie erst zuletzt durch Ordnung teils der inneren und teils der äußeren Staatsverhältnisse für die Völker einung ein Zustand erreicht sein würde, der einem bürgerlichen Gemeinwesen ähnlich sich automatisch regeln würde. Am tiefsten bohrt dabei die Bemerkung, daß dieser Vorgang sich ganz gewiß nicht nach Absicht der Menschen, wohl aber nach der der Natur, so wie die Geschichte es zeigen würde, vollziehen Verde. Gewiß ist der Ausdruck »Absicht der Natur« mit starken begrifflichen Schwierigkeiten verbunden, ja im wörtlichen Sinne kaum ohne Einspruch zu übernehmen. Dennoch wird man ihn nach den notwendigen Einschränkungen aufrechterhalten können. Wenn hier nämlich statt des allzu persönlichen und fast anthropomorphen Wortes Natur der sachliche, ganz gegenständliche, oder, wie unsere Schulsprache sagt, ganz objektive Begriff Geschehen eingesetzt wird, so

Voraussagung eines Völkerbundes;: die Absichten der Natur. 61

wird etwas unanfechtbar Richtiges erklärt, ohne daß der Verdacht unnützer Verpersönlichungen und Vermenschlichungen entsteht. Das tiefste unserer Welträtsel, daß das völlig außermenschliche, rein sachliche Weltgeschehen so viel Ähnlichkeiten mit unsrem Menschentun aufweist, daß dieses wie seine völlig folgerichtige Fortsetzung erscheint, ist darin freilich inbegriffen. Auch Kant gerät hier auf die naheliegende Frage: ob das Zusammentreffen der kleinsten Stäubchen des Stoffes durch Zufall schließlich dauernden Zusammenhalt gewonnen habe, oder ob die Natur hier einen — dem Menschen nur durch ihren Zwang abgedrungenen — Gang von der untersten zur obersten Ordnungsform verfolge. Kant entscheidet sich um der Zweckmäßigkeit willen gegen den Zufall. Doch wird man ihm auch hier entgegenhalten dürfen, daß man es in dieser Frage bei dem reinen Geschehen sein Bewenden habe lassen sollen, ohne sich über den Mangel an einem eigenen Zwecke zu beklagen. Kant verläßt sich immerhin auf die Aufklärung als auf ein Hilfsmittel, das die Menschen auch gegen den Willen ihrer Regierenden, auf den er — um ihrer überflüssigen Kriegs- und Eroberungsabsichten willen — nicht viel Vertrauen setzt, leiten werde und hofft, daß es zu einem allgemeinen weltbürgerlichen Zustand kommen werde. Einem philosophischen Versuch, die Weltgeschichte nach dem Plan der Natur, der auf diesen glücklichen Endzustand abzielt, zu bearbeiten, sieht Kant hoffnungsvoll entgegen. Die ersten Umrisse eines solchen sind elementar und weisen genug Fehler auf: wie den, daß das erste Blatt des Thukyidides den Anfang aller Geschichte bedeute, oder daß alle Geschichte der Völker, die außerhalb des Bereiches gelehrter Geschichte gelebt hätten, erst dann begonnen hätte, als sie in ihn eingetreten seien — so etwa die der Juden erst von der Zeit der griechischen Bibelübersetzung ab. Man sieht, das Unterscheidungsvermögen dieses großen Aprioristen ist für die Fragen der angewandten, geschichtlichen Empirie

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Philosophen: Hegel: Metaphysik und Erfahrung.

ebensowenig stark, wie in Sachen einer allgemeinen, lediglich denkerischen Erfahrungswissenschaft. Kant war auch in diesem Grenzbezirk seiner Forschung ein Apriorist mit allen Mängeln eines solchen.

Zweiter Abschnitt. Hegels Philosophie der Geschichte. Erstes Stück. Metaphysik und Erfahrungswissenschaft in Hegels Lehre. Es gab Jahrzehnte in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, in denen jeder Gedanke an denkende und begrifflich-geordnete Geschichtsforschung ohne weiteres nur mit dem Namen eines Mannes verbunden und durch sein Werk allein erklärt gedacht worden wäre, durch den Hegels. Und doch ist sowohl Mann wie Werk durch eine Einzigartigkeit ausgezeichnet, die verhindern sollte, sie als mit irgend einem Zweig der Wissenschaft oder überhaupt mit irgend einer außer ihnen selbst bestehenden Sachlichkeit sich deckend anzusehen. Vor Hegel gibt es keine Philosophie der Geschichte und nach ihm und allenfalls in seinem Sinne auch nicht. Daß Hegel eine Philosophie der Geschichte geschaffen hat, ist an sich ein außerordentliches Geschehen in der Geschichte des forscherlichen Geistes und zwar um deswillen, weil hier die Zusammenschmiedung von zwei Denkgebilden durchgeführt wurde, die erstlich überhaupt in einem inneren Gegensatz zueinander stehen, sodann aber in dem Geist, in dem sie hier aufeinander prallten, eigens widersprüchlich sich begegneten. Begriff und Geschichte standen sich vielleicht in keinem Denker der neueuropäischen Neuzeit — wenn von Husserl abgesehen wird — so feindlich

Verachmiedung- von Begriff und Geschiohte.

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und fast unversöhnlich einander gegenüber, wie in Hegel. Noch in dem Werk seiner mittleren Jahre, in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften von 1817, ist zwar ein Abriß der Geschichte gegeben, aber er ist nicht nur auf den kürzesten Raum, auf wenige Druckseiten zusammengedrängt, sondern auch im Schematismus der Disposition des Werks denkbar nebensächlich behandelt. Wenn Hegel aber von 1822 ab seine Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte zu halten begann, so bedeutete dies nach seiner leidenschaftlichen und wuchtigen, immer aus den tiefsten Tiefen seines Wesens schöpfenden Weise einen übermächtig starken Gesinnungswandel. Man weiß, wie nun die Geschichte der Menschheit eine Krönung wurde in dem Gesamtbau des Hegeischen Weltbildes, gewiß nicht eigentlich im Rhythmus zu dem Ganzen passend, aber gerade um dieses Gegensatzes willen sich um so tiefer in die Seele des Empfangenden einprägend. Von vornherein aber macht sich bei dem nun eintretenden inneren Bauverhältnis jene Beziehung zwischen Begriff und Geschichte geltend, die recht eigentlich die Besonderheit dieses von Grund auf neuen Versuchs einer Verschmelzung beider darstellte. Vico hat aus seinem freilich ganz anders gearteten und an sich viel radikaleren Bedürfnis Begrifflichkeit und Geschichte auf seine Weise verschmelzen wollen; aber da er es mit dem — wie uns Heutige dünkt — weit über das Ziel hinausschießenden Bestreben tat, seine Neue Wissenschaft, die eine Wissenschaft begrifflicher Geschichte war, zu einem die Philosophie verdrängenden Ersatz von halb begrifflichem, halb geschichtlichem Zweck zu machen, so mußte er scheitern. Den Grund der Gesinnung Vicos aber hat Hegel mit ihm geteilt; wenn er seiner innersten Anlage nach auf ein durchaus einebniges Verfahren in allem Sehen der Welt, d. h. auf eine Schau im Querschnitt des sozusagen nur einmal vor sich gehenden Geschehens gewiesen war, so mußte für das neue Unternehmen einer Philosophie der Geschichte das eigentliche Problem dort liegen, wo nun die alte Sehweise sich

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Philosophen: Hegel: Metaphysik und Erfahrung.

mit einer wirklich geschichtlichen, d. h. also im Längsschnitt langer Zeitfolgen sich vollziehenden Sicht vereinigen sollte. Man entsinnt sich, wie unter dem Gebot dieses inneren, an sich durchaus metaphysischen Zwanges das sehr seltsame Denkgebilde entstanden ist, das in Hegels Sprache sich als die Auffassung der Geschichte als einer Rückkehr des Geistes zu sich selber, die Selbstverwirklichung des Geistes als Tat darstellt1. Es ist eine der Lehren in Hegels Philosophie der Geschichte, die dazu berechtigen, sie als einen Mythos des Geistes, den letzten vielleicht der geschaffen ist, zu bezeichnen. Und alle Schwierigkeit, die für diese philosophische Problematik entstanden ist, wird erst dann offenbar, wenn man dem inneren Zwist zwischen Zeit und Begriff ins Auge sieht, der sich in Hegels Geist abspielen mußte2. Aber so gewiß beide Denkgebilde als Ordnungsformen des geschichtlichen Geschehens angesehen werden müssen, die insofern auch tief in die erfahrungswissenschaftlichen Kernbezirke dieser Fragenkreise eindringen, so gewiß sind dies doch Angelegenheiten der Metaphysik, die in den hier verfolgten Gedankengang nur von außen her eingreifen. Nur dies geht das Hauptproblem des Verhältnisses zwischen Begriff und Geschichte an, daß Hegel, in dem doch wahrlich jenes einebnig-begriffliche Sehen des Menschheitsgeschehens in allen seinen frühen Zeiten überwogen haben muß, von 1823 zu einer Sehweise übergegangen ist, in der die nach Zeiten geordnete Abfolge der Geschehensformen die Oberhand gewonnen hat. Und das hieß doch nichts anderes, als daß über diesen Giganten unter den Verfechtern eines rein begrifflichen Weltbildes die Möglichkeit des geschichtlichen Sehens von der Gegenwart her in die Tiefe der Zeiten den Sieg davon getragen hatte. Nicht in dem Sinn, *) Vgl. Vom geschichtlichen Werden I I (Die Macht des Gedankens in der Geschichte in Auseinandersetzung mit Marx und mit Hegel [1926] 176f.). 2 ) Vgl. Zeit und Begriff als Ordnungsformen des geschichtlichen Geschehens (Philosoph. Anzeiger I 2 [1926] 427ff.).

Zeit und Begriff; Einwirkung anf die Geschichtslehre.

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daß diese Sehweise nun die in Hegels Denken vorherrschende geworden wäre; im Gegenteil, dies blieb die alte, überwiegend begriffliche; aber sie wurde doch als eine nahezu ebenbürtige neben jener geduldet. Für die Zwecke der hier verfolgten Gedankengänge wird nun auf dem Grunde der allgemeinen Voraussetzung dieses halb überwundenen Gegensatzes die Frage brennend, inwieweit für Hegels werktätige Geschichtslehre jener Gegensatz doch noch bestimmend blieb. Zunächst ist festzustellen, was für eine Art von geistigem Gebilde überhaupt das war, was Hegel völlig erstmalig Philosophie der Geschichte nannte. Ganz gewiß nicht in Vicos Sinne eine hybride Bildung, die durch ein in der Zeitfolge geordnetes Menschheitsbild das begrifflich geordnete aller herkömmlichen Philosophie zu ersetzen bestimmt war. Wohl aber eine, wenn man will, in Gedanken und Begriffe umgearbeitete Geschichte, die dadurch, daß sie einer solchen Umformung unterzogen wurde, in hohem Maße ihrer alten Natur als der eines getreuen Wirklichkeitsbildes entfremdet wurde und in die Gestalt eines, wenn nicht reinen, so doch angenäherten Begriffsgeschehens hinübergeleitet wurde. Mit anderen Worten, dadurch, daß das an sich völlig wirklich Geschehene der überlieferten Geschichte in das Gewand einer annähernd vollkommenen Begrifflichkeit gekleidet wurde, sollte diesem Geschehen der Anblick eines eigentlich begrifflichen Vorganges verliehen werden. Dennoch ist diese Umformung von Hegel doch nie bis ins Äußerste vollzogen worden, daß durch das neue, begriffliche und wenn nicht unwirkliche, so doch überwirkliche Geschehen das von ihm umkleidete alte, noch wirkliche Geschichtsbild h ä t t e ganz verdrängt oder auch nur völlig verdeckt werden sollen, sondern unter diesem Gewand sollte der aus dem Fleisch und Blut wirklichen Geschehens bestehende Körper doch noch erhalten bleiben. Das Verhältnis war dieses, daß Hegel immerhin noch dieses von der eigentlichen Geschichtswissenschaft erhaltene und gepflegte Wirklichkeitsbild als gut begründet bestehen lassen wollte. E r B r e 7 s i g , Gestaltungen des geschichtlichen Entwlcklangsgedankens.

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Philosophen: Hegel: Metaphysik und Erfahrung.

hat oft genug im Verlauf seiner Darstellung, die ja freilich nun weit eher eine Darlegung und fast eine Beweisführung wurde, Bezug genommen auf jenen durch das Begriffsgewand noch immer hindurchschimmernden Körper der geschichtlichen Wirklichkeit. Hätte man ihn aber gefragt, wie er denn das Verhältnis von Gewißheit einschätze, daß diesen beiden Geschichtsbildern zukomme, so hätte er vielleicht am ehesten mit Vicos Terminologie antworten und das alte Wirklichkeitsbild als ein certum, sein neues Begriffsbild aber als ein verum bezeichnen können. So gewiß nun das so entstehende Denkgebilde eben in seiner Doppeldeutigkeit ein Werk von großer Feinheit darstellte, so gewiß ist es für die reine Erfahrungswissenschaft nicht ein Grund geworden, auf dem sie einen neuen, sicheren Oberbau hätte errichten können. Im Gegenteil, hier schieden sich die Wege: eine Philosophie der Geschichte ist wohl hier entstanden, aber nicht eine Geschichtslehre, wie sie in der hier vorgelegten Werkereihe von Schriften zur theoretischen Geschichtswissenschaft vertreten wird. Unter der Geschichtslehre dieses Sinnes soll der allgemeine Teil der Geschichtswissenschaft verstanden werden, der losgelöst von der Schilderung einzelner zeitlich, räumlich oder sachlich geordneter Geschehenszusammenhänge der Menschheitsgeschichte, aber auf dem Grunde der schon vollzogenen Schilderung solcher Zusammenhänge das Wesen des geschichtlichen Werdens und seine Formen darstellt. Diese, wie man sieht höchst schlicht gehaltene Begriffsumgrenzung, die dennoch auch jeder Erstreckung ihres Geltungsbereichs bis in die Anfänge der Wissenschaftsgeschichte und noch über die Großen der älteren theoretischen Geschichtsforschung hinweg fähig ist, bedeutet eine Grenzziehung, die Ibn Chaldun und Herder, Winckelmann und Moser, was das Schwergewicht ihrer Lehren angeht, durchaus in den Bereich dieser Geltung einbezieht, die es aber zur Unmöglichkeit macht, Hegel der gleichen Behandlung zu unterwerfen. Wie er den Begriff und das Geschehen Philo-

Geschichtslehre und Gesohichtsphilosophie: Begriifsumgrenzungen. 67

sophie der Geschichte geschaffen hat, muß von ihm als für einen Wissenschaftsbereich dieser Zuständigkeit auch der eigene Name einer solchen Disziplin eingeführt werden. Es muß auf das strengste daran festgehalten werden, Geschichtslehre und Philosophie der Geschichte voneinander zu trennen. Und man wird unter Philosophie der Geschichte mit einem allerdings nun sehr viel weitmaschiger gezogenen Begriffsgeflecht allenfalls das Folgende verstehen können: Philosophie der Geschichte ist eine allgemeine Geschichtswissenschaft, die auf der Grundlage einer erfahrungsmäßig zu ermittelnden Wiedergabe der Geschichte aufgebaut, die Absicht verfolgt, den begrifflichen Kern dieser Wiedergabe herauszustellen und die sich bei diesem Vorhaben nicht an die Nähe zur geschichtlichen Wirklichkeit, sondern nur an die denkmäßige Richtigkeit ihrer begrifflichen Wiedergabe gebunden hält. Diese Begriffsumgrenzung wird als eine solche gelten können, die der Geschichtsphilosophie Hegels und der Vicos gerecht wird und vielleicht auch späteren und zukünftigen Gebilden dieser Art ein Genüge tut. Für die den hier verfolgten Gedankengängen obschwebenden Zwecke wird als wichtigste Eigenschaft dieser Begriffsumgrenzung zu gelten haben, wie die scheidende Grenzlinie zwischen den beiden Formen allgemeiner Geschichtswissenschaft gezogen wird. Kein Zweifel, es muß für sie einige Spannweite möglicher Verschiedenheiten gegeben werden: Vico hatte trotz seiner wahrlich weitreichenden und im Sinne des Geistes ehrgeizigen Ziele in wesentlich höherem Maße als Hegel die Absicht, der Wirklichkeit des überlieferten Geschichtsbildes nahe zu bleiben. Vollends heutige Unternehmungen dieser Art werden diese Absicht in noch stärkerer Betonung verfolgen, wobei sie dann doch ebensowohl in den erkenntniswissenschaftlichen Grundlagen, wie in den allgemein-geschichtlichen Folgerungen, die sie den von ihnen »stehen gelassenen« Sachgehalten des geschichtlichen Weltbildes geben, sich jeweils selbst rein metaphysische Freiheiten zubilligen werden. 5*

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Philosophen: Hegel: Metaphysik and Erfahrung.

Andererseits wird man sagen dürfen, daß keine noch so erfahrungswissenschaftlich sich gebärdende allgemeine Geschichtswissenschaft als Geschichtslehre wird anerkannt werden dürfen, die sich metaphysischer Erkenntnisweisen bedient oder metaphysische Sachgehalte in ihr Verfahren aufnimmt. Jedoch wird rätlich sein, hier nur die Bestandteile allgemeiner Geschichtswissenschaft in Betracht zu ziehen, die bewußt als metaphysische auftreten; die unbewußt metaphysischen einzubeziehen, widerrät sich schon um deswillen, weil über ihre Zugehörigkeit zu dem Bereich rein-begrifflicher, insonderheit aprioristischer, oder zu dem erfahrender Geschichtswissenschaft unendlich viel Streitigkeit entstehen würde. Was Hegel angeht, so kann seine Zugehörigkeit zu der nicht-erfahrungswissenschaftlichen Partei allgemeiner Geschichtswissenschaft am allerwenigsten in Zweifel gezogen werden. Seine Lehre stellt in diesem Lager einen Grenzfall dar: seine Erkenntnismittel sind voll von Apriorismen und zum mindesten die höchsten der von ihm anerkannten Sachgehalte der Geschichte sind von denkbar unverhohlen metaphysischer Beschaffenheit. Mustert man Hegels Lehren vom Geist und seinem Verhältnis zur Geschichte, von der Substanz der Vernunft, vom Weltgeist als Substanz, aber auch die von der Selbstverwirklichung des Geistes als Tat und von der Selbstbefreiung des Geistes, so hat ein erfahrungswissenschaftlich und erst recht ein geschichtlich denkender Beurteiler dieser Denkgebilde den Eindruck, daß sie dergestalt aprioristisch in den Mitteln, dergestalt metaphysisch in den Ergebnissen ihres Untersuchens und ihres Darstellens sind, daß sich alle auf Erfahrung gegründete Geschichtsforschung von ihnen wie durch einen Abgrund geschieden fühlt. Es wird keinen Erforscher der deutschen Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts wundernehmen dürfen, daß die doch wahrlich im geistigen wie im wissenschaftlichen Sinn höchst erfolgreiche Geschichtsforschung Niebuhrs und Rankes und noch ihrer nächsten Folger von Hegel so gar nicht beeinflußt worden ist. Die Rankegeneration ist zu-

Ausschluß aller Metaphysik aus der Geschichtslehre; Gegnertum. 69

erst neben dem lebenden, demnächst noch Jahrzehnte hindurch neben dem toten, jedoch immer noch wirkensmächtigen Hegel hergegangen ohne irgendwelche sichtbare Einwirkung von ihm zu erfahren. Ja es hat, wenn nicht öffentlich, so doch insgeheim um so stärker eine Rückstoßbewegung stattgefunden, die von einer schlechthin feindseligen Gesinnung eingegeben war. In privaten Briefen aus der Zeit vor Hegels Tod hat sich Ranke auf das Bitterste über das geäußert, was den Lebenden wie eine Art geistiger Gewaltherrschaft über die deutsche Wissenschaft erscheinen mochte. Man ist in ganz Deutschland, so schreibt er 1827 an Heinrich Ritter, über den Einfluß der sophistischen, in sich selbst nichtigen und nur durch den Bannspruch seltsamer Formeln wirksamen Philosophie, die unsere Universität regiert oder regieren will, einer Meinung und voll Furcht. Und noch 1853, da Ranke selbst dafür hielt, daß das Hegeische Wesen zwar zu praktischer Entwicklung gediehen, aber schon abgespielt sei, waren ihm noch Schönredner und Hegelianer ungefähr Gleiches bedeutende Begriffe 1 . Dieses gegnerische Geschehen ist nicht ohne die schwersten Folgen geblieben, denn wenn es nicht verwunderlich war, daß die fremdesten und fernsten Bestandteile in Hegels Lehre von der werktätigen Geschichtsforschung abgewiesen wurden, so wäre doch als geistige Möglichkeit durchaus denkbar geblieben, daß die Geschichtsforscher sich zwar im mindesten nicht zu Hegels Geschichtsphilosophie hätten bekehren, daß sie aber von ihr hätten Einwirkungen empfangen sollen. In Wahrheit aber geschah das Gegenteil: die werktätige Geschichtsforschung erfüllte sich mit einer solchen an Haß grenzen len Abneigung gegen Hegel und alle irgendwie begriffliche Auffassung der Geschichtsforschung, daß, wie es so oft die Art sterblicher Menschen ist, nicht nur für damals, sondern auch für die Folgezeit und bis in unsere Tage hinein Briefe an den Philosophen Heinrich Ritter vom 28. Okt. 1827 und 20. Nov. 1853 (Ranke, Zur eigenen Lebensgeschichte, Werke LIII/LIY [1890] 174, 359).

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Philosophen: Hegel: Metaphysik und Erfahrung.

ein Höchstmaß von Abwendung von jeder durch Begriffe bestimmten Behandlung geschichtlicher Stoffe die Herrschaft ergriff. Und auf diese Weise ist nicht nur, was ja die Absicht war, wozu aber die Geschichtsforscher an sich gar nicht zuständig waren, der philosophischen und jeder rein denkerischen Behandlung des Weltbildes, sondern noch mehr aller denkenden und somit auch aller entwickelnden Geschichtsbetrachtung Abbruch getan. Geistiger Schaden wurde jedenfalls nach beiden Seiten angerichtet. Für die geistige Würdigung von Hegels Lehre haben diese wissenschaftsgeschichtlichen Nachwirkungen an sich nichts zu bedeuten; wohl aber stimmen ihre Forderungen mit den Maßstäben überein, die an das innere geistige Geschehen der Geschichtswissenschaft zu legen sind. Nach beiden Seiten aber läßt sich folgendes erklären: wenn von der Hegeischen Lehre hätte auf die werktätige Geschichtsforschung eine wohltätige, sie korrigierende Wirkung ausgehen sollen, so hätten allerdings nicht ihre metaphysischen Bestandteile dazu beitragen können; wohl aber hätte sie von den um den metaphysischen Kern am Kreisrand der Lehre herumgelagerten Gürtelerkenntnissen ausgehen können, die an sich den Wirklichkeiten des Geschichtsgeschehens weit entschiedener zugewandt waren und den Erkenntnismöglichkeiten empirisch gesonnener Forscher näher lagen. Der Geschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts hätte etwas mehr Hegel und etwas weniger Ranke genug geistigen Nutzen gebracht. Allerdings durften dabei nicht so grobe Mißdeutungen von Hegels Lehre unterlaufen, wie sie zuweilen nicht nur ausgesprochen, sondern sogar mit dem Ansehen wissenschaftlicher Erkenntnisse ausgestattet verbreitet und geglaubt worden sind. So ist, ein in der Wissenschaftsgeschichte vielleicht einzig dastehendes Beispiel grober Entstellung von klar ausgesprochenen philosophischen Erkenntnissen, die Meinung aufgestellt und verbreitet worden, Hegel habe in der Abfolge einer an sich völlig chronologisch aufgebauten Zeit-

Nachwirkungen, Mißdeutungen; Sonderungen.

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alter-Summierung, in die er den Inhalt der von ihm unterschiedenen Akte des menschheitsgeschichtlichen Dramas wie zu Formeln zusammenzudrängen suchte, eine zugleich auch nach Art einer Kette von Schlußfolgerungen zu benutzende Reihe von Beweisgliedern geben wollen, die dann zu einem Ganzen zusammengefügt, diesem Ganzen, das als ein Gefüge von chronologisch geordneten Zeitaltern gedacht war, das Gepräge und die Bedeutung einer logischen Kette, einer Reihe von begriffsnotwendig aus sich zu folgernden Denkbildern geben würde. In Wahrheit hat Hegel nie ein solches Mischgebilde von halb geschichtlichen Feststellungen, halb begrifflichen Setzungen schaffen wollen. Aber die törichte Unterstellung eines solchen Unternehmens mag des weiteren dazu beigetragen haben, der Lehre Hegels neue Abneigung auf Seiten der erfahrungswissenschaftlich Gesonnenen zu bereiten. Und dies ganz ohne Not, denn wenn auch die hier fälschlich bezichtigte Zusammenschmiedung logischer Setzungen mit geschichtlichen Feststellungen nicht zu Recht besteht, so ist doch das stets sich erneuernde Problem in Hegels Geschichtsphilosophie dieses, daß Geschichte und Begriff miteinander verbunden auftreten. Wenn nun, wie hier dargetan wurde, von allen rein metaphysischen Bestandteilen in Hegels Lehre abgesehen werden muß, weil sie in den Bereich einer überwiegend oder doch zum Teil erfahrungswissenschaftlichen Geschichtslehre nicht einbezogen werden können, so kann der mögliche Wert von Hegels Geschichtsphilosophie für eine solche Geschichtslehre nur dadurch ermittelt werden, daß ihr in irgendeinem Sinn erfahrungswissenschaftlicher Kern herausgeschält und von den ganz oder überwiegend metaphysischen Bestandteilen abgelöst wird.

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Philosophen: Hegel: erfahrnngswissenschaitlicher Kern.

Zweites Stück. Der erfahrungswiBsenschaftlich der Lehre.

ergreifbare

Kern

Wenn als die Absicht der für die Geschichte des Entwicklungsgedankens dienlichen Erörterung von Hegels Philosophie der Geschichte bezeichnet wurde, ihren erfahrungswissenschaftlichen Kern herauszuschälen, so muß zuvörderst dem Mißverständnis gewehrt werden, als habe sich in Hegels Plan für sein Werk ein, wenn auch so kleiner Keimbezirk, ein rmcle.ua befunden, der das Gepräge einer Menschheitsgeschichte in begrenztem Umfang tragen sollte. Eine solche Absicht wäre dem Denken Hegels im innersten fremd gewesen. Es ist der eigentlich tiefste Grundgedanke von Hegels Geschichtsanschauung, der sich der Möglichkeit einer Trennung von rein erfahrbarer und erfahrener Geschichte einerseits und einem nur begriffsmäßig zu erfassenden Geistkern in ihr andererseits entgegenstellt. Das ist die Vorstellung, die der des Vico ähnlich, Geist und Geschichte in Eines schmilzt, die Vorstellung, die Hegel vielleicht am kürzesten und sichersten mit den Worten ausgedrückt hat: Es hat sich also aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst zu ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen sei, daß sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen ist, des Geistes, dessen Natur zwar immer eine und dieselbe ist, aber in dem Weltdasein diese seine eine Natur expliziert. Aus diesem Satze geht zur Genüge hervor, daß Hegel irgendeine geistige — und also auch wirkliche — Trennung zwischen einer lediglich erfahrungsmäßig zu begreifenden geschichtliche Wirklichkeit und einem ihr innewohnenden lediglich im Begriff zu erfassenden Geistkern nimmermehr zugeben kann. Sie ist unmöglich, weil Geist und Geschichte eines und dasselbe, weil sie identisch sind. Weil die Geschichte selbst

Vernunft der Geschichte; Spuren des Entwicklungsgedankens.

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einen Teil des Schicksals des Geistes ausmacht, so kann sie nur selbst Fleisch gewordene Vernunft sein. Aus diesem logischen Sachverhalt würde sich als Folgerung ergeben, daß, wie noch eben erklärt, die sachliche Abtrennung eines Bezirks der Tatsachen, die sich ohne weiteres als erfahrungsmäßig zugänglich erweisen, nicht vorgenommen werden kann und die für die Zwecke erfahrender Geschichtsforschung erwünschte Maßnahme also völlig aufgegeben werden müßte. Dem ist jedoch nicht so, es kann vielmehr eine Ersatzmaßnahme eintreten, die an sich völlig genügt. Es können nämlich aus dem Insgesamt der durch die Lehre Hegels umfaßten Tatsachenkreise diejenigen ausgesondert werden, die zwar nicht nach ihren eigenen Vorschriften, wohl aber nach unserer, der Erfahrungswissenschaftler Meinung, als auch erfahrungsmäßig erfaßbare angesehen werden können und müssen. Damit scheiden dann alle nach ihrem Sachgehalt metaphysischen, alle nach den für ihre Erkundung aufgewandten Erkenntnismitteln aprioristisch gefundenen Erscheinungen aus. Da es sich vornehmlich um den Dienst am Entwicklungsgedanken handelt, so wird von ihm, zunächst in seiner Allgemeinheit, zuerst gehandelt werden müssen. Davon, daß Hegel selbst im Kern seiner Daseinslehre zur Geschichtlichkeit übergegangen war, ist schon die Rede gewesen: die Übersiedlung nach Berlin macht in dieser Umwandlung, der tiefstgreifenden, die Hegels Geist in seinen späteren Jahren erfuhr, Epoche. Ihr, die sich 1818 vollzog, folgte von 1822 die Abhaltung seiner Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, in denen Hegel von nun ab dauernd seinem Weltbild zum wenigsten für seine menschheitliche Hälfte eine geschichtliche Form gab. Schon diese Wandlung bedeutete in seinem Schaffen einen ersten und zugleich den grundsätzlichsten Sieg des Entwicklungsgedankens. Denn daß sich Hegel, wenn er sich der Geschichtsforschung zuwandte, nur ihrer entwickelnden Form verschreiben konnte, ist selbstverständlich. Wenn er — wie er nicht anders konnte —

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Philosophen: Hegel: erfahrungswissensohaftlicher Kern.

die Geschichte als eine Geschichte des Geistes auffaßte, so war damit schon die Notwendigkeit ihrer Auffassung als eines Werdeganges gegeben. Hegel faßt im Eingang zu seinen Vorlesungen auch den Begriff Entwicklung selbst ins Auge, ein geistiges Geschehen, das an sich von großer Bedeutung ist, da weder Winckelmann noch Moser, noch auch Herder diesen Begriff angewandt oder erklärt hatten. Hegel wünscht nicht verengernde Auslegungen des Begriffes Entwicklung: so nicht den der Perfektibilität, die er als zu bestimmungslos beiseite schiebt. Wohl aber findet er den Begriff Wachstum hilfreich und will ihn nur durch die Bestimmung eines Ziels ergänzt sehen. Die Bestimmung eines Ziels muß für jede erfahrungswissenschaftliche Ausnutzung außer Acht und Benutzung bleiben, als für sie selbst unbenutzbar, übrigens auch für die Verwendung im Lehrbau Hegels nur um der Selbstverwirklichung des Gesetzes willen in sie eingefügt und darum außer jeder Beziehung zur Entwicklung als einem eigenwerdigen, einem autogenen Geschehen. Um so wertvoller vom Standpunkt des Entwicklungsgedankens ist die Heranziehung des Begriffs — wir würden lieber sagen des Geschehens — Wachstum. Seine Durchleuchtung, insbesondere die Auffindung des Begriffs Differenzierung — Ausgliederung — für den zwar noch nicht der Name wohl aber das Wesen gefunden ist, zeigen Hegel als einen der Wissenschaft um ein Jahrhundert voraufeilenden Denker. Zu seiner Zeit hat es noch keine Möglichkeit gegeben, diese Funde zu verwerten, weder für die Erkenntnis natürlicher, noch die menschheitlicher Entwicklungen; es kam wie so oft, daß sehr frühe Entdeckungen zu früh gemacht werden, um ausgenutzt werden zu können. Der geistigen Bedeutimg des Geschehens aber geschieht durch solche Verfrühung aus Überfluß kein Eintrag; es soll seinem Urheber nicht vergessen werden. Von gleichem Rang, jedoch minder ausgeschlossen von baldiger Benutzbarkeit, war die Beobachtung Hegels, die als auf einen wesentlichen Unter-

Auffindung und Bedeutung des Begriffs Entwicklung; Stufung'. 75

schied zwischen der Entwicklung im Bezirk der Geschichte u n d der Entwicklung im Wachstum auf die Kampflosigkeit hier und die Kampfesfülle dort aufmerksam macht, beides mit dem besten Recht. Sobald Hegel sich der Lehre vom Aufbau der Geschichte zuwendet, setzt sein scharfblickendes Erkennen von ganz wesentlichen und tief gelagerten Eigentümlichkeiten des Gesamtvorganges der Geschichte ein. Es ist der Begriff der Stufe, oder wenn man lieber will, der Phase, zu dem Hegel unzweifelh a f t vordringt, wenngleich er ihn seiner Terminologie noch nicht einverleibt, ihn auch gewiß nicht zum obersten und entscheidenden Teilungsgrundsatz für den Aufbau der Geschichte erhebt. Immerhin verwendet Hegel schon für eine allgemeinste Teilung der Menschheitsgeschichte eine Vorstellungsfolge, die man nicht anders denn als Stufung wird bezeichnen können. Es geschieht an dem Ort seiner Lehre, an dem er die vier Akte seines Weltdramas drei Verfassungszuständen zuteilt: Einer frei — Orientalen, Wenige frei — Griechen und Römer, Alle frei — christlich-germanische Völker 1 . Doch erfährt der Wert dieser Einzellehre insofern eine Minderung, als sie zwar an sich die Bedeutung einer inneren Wesensverschiedenheit und damit einer Rangordnung in sich schließt, aber sie nicht zum obersten Teilungsgrundsatz für das Insgesamt der Geschichte, wenigstens nicht für die Dauer erhoben, vielmehr bald wieder fallen gelassen hat. Wohl besagt es viel, daß Hegel die alt überkommene und in unserem Zunftbereich noch heute nicht überwundene Einteilung der Gesamtgeschichte nach Altertum, Mittelalter und Neuzeit mit gutem Grunde beiseite schiebt. Dagegen ist entscheidend, daß die große Gruppenteilung, die Hegel dem geschichtlichen Stoff zuteil werden läßt, eben nicht eine stufenmäßige, sondern eine chronologische ist. *) Hegel, Philosophie der Weltgeschichte hrsg. von Lasson I (1917) 135—137; vgl. Vom geschichtlichen Werden I I 247.

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Philosophen: Hegel: erfahrungswisBenschattlicher Kern.

Darum macht sich geltend, daß Hegel auch dort hinaus, wo er zwar nicht den Namen, aber das Wesen der Stufe anstrebt, in mehrerlei Irrtümer verfällt. So, wo er sich bei der Erläuterung des Verhältnisses zwischen Stufung und Zeitfolge auf eine Aufhellung der Möglichkeiten einläßt, die sich aus dem Nach- und dem Nebeneinander von Geschichtszuständen als Erzeugnissen verschiedener Stufen ergeben. Hegel hat hier einen doppelten Fehlschluß begangen: er war einmal der Meinung, daß im Naturgeschehen das Nebeneinander von höheren und niederen Entwicklungszuständen das vorherrschende Merkmal darstelle, und er übersah dabei, daß dieses Nebeneinander ja das Erzeugnis eines zeitlichen Nach- und Auseinanders dieser Entwicklungszustände ist, wie allerdings nur die in unserer heutigen Wissenschaft angenommene Lehrmeinung ist. Hegel vertrat aber auch auf der anderen Seite die Ansicht, daß in der zeitlichen Abfolge, die er für die menschheitliche Entwicklung annahm, die niederen Gestaltungen immer in der höheren aufgehen: auch dies ein entschiedener Tatsachenfehler. Als die Inhaber der Stufen in Hegels Geschichtsbau, der als ein sehr dickbalkiger nach Völkern als Baueinheiten zählt, galten diese, die Völker, und nun hat hier wohl zuweilen eine Abfolge in völlig sich ablösender Reihe stattgefunden, so wenn etwa die Römer das Griechentum gänzlich in sich aufgenommen haben, oder wenn der römische Staat und der Geist des Römertums völlig von den germanischen Völkern aufgesogen worden sind. Aber wenn ein solches Geschehen auch an den Zeitpunkten gewaltsamer Wende sich so vollzogen hat, so war dies keineswegs eine allgemeine Regel der Menschheitsgeschichte. Deren Aufbau weist vielmehr in dem frühesten Lebensalter der Menschheit, in der Urzeit, hunderte von Fällen eines Nebeneinanders von gleichgeordneten Völkerzuständen auf; in den mittleren Lebensaltern steht immerhin noch eine große Anzahl gleich geordneter Völkergeschichten nebeneinander und in den höchsten immerhin noch ein Bündel.

Einheit der Weltgeschichte; zeitliche und innere Abfolge.

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Doch mag auch Hegel in der Erkenntnis dieser Stufungsverhältnisse irren — bei ihm überwog offensichtlich die einmal von ihm gewählte und von ihm für richtig befundene Ordnung nach chronologisch sich ablösenden Völkern und Völkerkreisen — schwerer wiegt doch das Gewicht der von ihm — nach Vico zuerst —• erkannten Geringfügigkeit einer chronologischen Ordnung, so wie sie Ranke aufrecht erhielt, und in der im Grunde selbst die heute noch gültige Weltgeschichtsdarstellung befangen ist. Denn wenn auch Hegel, wie so oft sehr konservativ festhaltend an den von ihm benutzten Ergebnissen der einzelnen Wissenschaften, sehr viel von der bisherigen Gestaltung des geschichtlichen Stoffes beibehielt, so bedeutet doch die von ihm völlig neu geformte Anordnimg, die er ihm gab, keinen geringen Fortschritt. Denn indem er das Insgesamt der Menschheitsgeschichte als eine Handlungseinheit begriff, ließ er zwar die Abfolge der einzelnen Geschehensreihen in ihrer zeitlichen Folge unangetastet, aber er gestaltete sie mit der ihm eigentümlichen Fähigkeit der Deutung zu einer Anzahl von Teileinheiten um, die er nicht anders als wie die Akte eines Dramas behandelte, und aus denen er dergestalt einmal eine Abfolge von chronologisch aufeinander folgenden, sodann aber auch eine Reihe von innerlich zusammenhängenden und also auseinander hervorgehenden Teilkörpern der Weltgeschichte machte. Würdigt man, wie es doch die Pflicht einer Großes groß sehenden Geschichtsauffassung ist, die Ganzheit des Hegelschen Geschichtswerkes als ein Erzeugnis seines schöpferischen Geistes, so wird man, was immer man auch im einzelnen auszusetzen haben mag, doch die hier zustande gekommene Verbindung von äußerer — nämlich chronologischer — Zusammenfügung mit einer inneren — nämlich sach- und seelengeschichtlichen — Verkettung bewundern müssen. Es war in Hegel ein sehr starker Drang nach Erhaltung des ihm von den Einzelwissenschaften überlieferten Stoffes. Diesen Drang hat er im Großen wie im einzelnen mit denkwürdiger

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Philosophen: Hegel: erfahrungswissenschaftlicher Kern.

Beständigkeit bewährt. Im Großen: dafür liefert in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften die Behandlung des naturwissenschaftlichen Stoffes zahlreiche denkwürdige Belege. Der Leser hat hier immer von neuem den Eindruck, daß der Denker schonend und mit äußerst zarter Hand die schon überlieferten Tatsachenmassen eigentlich nur in den von ihm vorbereiteten Fächerbau einordnen will. Obwohl ihn sicher oft genug die Versuchung ankam, hier auch im einzelnen umschreibend und umformend einzugreifen, versagt er sich gleichwohl eine derartige Freiheit gänzlich, während er doch, wie jedem aufmerksamen Leser seiner Darlegungen wohl bekannt ist, sich in der Deutung die erstaunlichsten Befugnisse des Geistes beimißt. Ihm ist ein Leichtes, einen chemischen Vorgang in eine metaphysische Gedankenverkettung umzudeuten, aber er würde sich ein Gewissen daraus machen, an dem ihm von der Chemie überlieferter Tatbestand auch nur das Leiseste zu ändern. Als ein Beispiel seiner rücksichtslosen Umdeutung lese man in dem physikalischen Band der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften nach, was er in dem Kapitel über den chemischen Prozeß sagt, und zwar wohlgemerkt ohne daß irgendwelche erklärende Worte vorangehen. »Die Individualität in ihrer entwickelten Totalität ist, daß ihre Momente so bestimmt sind, selbst individuelle Totalitäten, ganz besondere Körper zu sein, die zugleich nur als gegeneinander differente Momente in Beziehimg sind. Diese Beziehung, als die Identität nicht identischer, selbständiger Körper, ist der Widerspruch, — somit wesentlich Prozeß, der dem Begriffe gemäß die Bestimmung hat, das Unterschiedene identisch zu setzen, es zu indifferenzieren, und das Identische zu differenzieren, es zu begeisten und zu scheiden.« Und kaum minder unverständlich fährt Hegel nach einigen Zwischensätzen fort: »Wenn die Gestalt die Einheit des Begriffs und der Realität, so ist der Magnetismus, als nur erst abstrakte Tätigkeit, der Begriff der Gestalt: das zweite, die Besonderung der Gestalt in sich und gegen

Umdeutungen; Kritik an der Kritik der Geschichtsforscher.

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anderes, ist die Elektrizität; die sich realisierende Unruhe ist drittens der chemische Prozeß, als die wahrhafte Realität des Begriffs in dieser Sphäre1.« Kein Physiker aber auch kein Philosoph wird zugeben, daß diese Sätze nutzbringende Wissenschaft enthalten. Hegel ist hier unzweifelhaft einen Irrweg gegangen, indem er in allzu eiliger Übersetzung den physikalisch-chemischen in einen metaphysischen Prozeß umwandeln wollte und doch beiden nur einen unerträglichen und völlig unfruchtbaren Zwang antat. Wem es auf einen tief in das Einzelgeschehen eingebetteten Vorgang ankommt, der entsinne sich jenes denkwürdigen Tadels, mit dem er in der Philosophie der Geschichte jene Forscher angreift, die an der Königsgeschichte des Livius eine so eindringliche und freilich die überkommene Überlieferung mit rauher Hand störende und zerstörende Kritik geübt hatten. Von solcher Kritik will er nichts wissen, er macht nicht so sehr den Geschichtsforscher, als den mit alter Geschichte befaßten Philologen und Juristen Vorwürfe. Sie kombinieren Einzelheiten, die auf mancherlei Weisen gedeutet werden. Diese Kombinationen gelten zuerst als Hypothesen, bald aber als Tatsachen. Das Ergebnis war, daß die älteste römische Geschichte für Fabel erklärt wurde, »wodurch dieses Gebiet nun durchaus der Gelehrsamkeit anheimfiel, die da immer am breitesten sich ausdehnt, wo am wenigsten zu holen ist«. Man habe erklärt, daß dem geschichtlichen Bericht Epopöen zugrunde liegen. Und Hegel erklärt wie in Erbitterung, daß während man die Dichtungen und Mythen der Griechen als Geschichte gedeutet habe, man die Römer zwinge Mythen und poetische Anschauungen zu haben2. Als die Hegel eigentümliche geistige Haltung stellt sich in beiden Fällen seines Verfahrens mit dem ihm überkommenen Wissenschaftsstoff die Regel heraus : er nimmt für den Philosophen jedes Recht der geistigen Deutung und Umdeutung 1 ) Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften [Werke VII 1 [1842] 360f.). 2 ) Hegel, Philosophie der Geschichte (Werke I X [ 3 1848] 341).

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Philosophen: Hegel: erfahrungswissenschaftlicher Kern.

der großen Züge in Anspruch, aber er liebt an dem Verhalten der Einzelforscher ein derartiges Verfahren nicht im mindesten, verbietet es ihnen vielmehr auf das schroffste. Doch will er auch den Philosophen verpflichten, die Einzelzüge zu sehen. Prüft man nun den Hauptteil von Hegels Philosophie der Geschichte, der geradezu eine Wiedergabe des Verlaufes der Geschichte und des von ihm überlieferten Bildes darstellt, so ist man erstaunt, zunächst auf eine Lücke zu stoßen, die zwar ganz gewiß nicht vom Standpunkt damaliger, noch kaum heutiger Geschichtschreibung gesehen, sich ergibt, die aber aus Gründen objektiver Wissenschaftsteilung durchaus als Mangel angesehen werden muß. Hegels Anschauung von Geschichte ist eine ausschließlich das handelnde, insbesondere das staatliche Leben angehende. Fast alle Werke des Geistes sind geradezu an den Kreisrand des Insgesamts der Geschichte verbannt. Wohl wird ihm in dem Einzelbezirk des Glaubens dieser selbst — doch auch nur in den Zeiten äußerster religiöser Erregung — zum Gegenstand seiner Aufmerksamkeit. Aber auch sie hält sich in bestimmten gedanklichen Schranken; das Christentum selbst und die Reformation sind ihm Ereignisse des Geschehens zwischen dem Einzelnen und dem Weltgeist. Nie sind ihm die Werke des Glaubens Werke des bildenden Geistes1. Von einem Glaubensgeschehen vom höchsten Range, wie es die Mystik darstellt, schweigt er völlig. Noch kärglicher sind die beiden anderen Formen des geistigen Schaffens bedacht: alle Gotik wird Hegel wesentlich nur zu einer Bezeugung bürgerlichstädtischen Lebens; Renaissance und Humanismus treten nur zeilenweise auf. Am erstaunlichsten ist die geringe Rolle, die dem forscherlichen Denken, auch dem philosophischen zugewiesen ist. Descartes und die Aufklärung sind nur gestreift; Kant ist nur wegen seiner Nähe zu dem Freiheits278f.

Die Macht des Gedankens (Vom geschichtlichen Werden II)

Keine Geschichte des geistigen Lebens, nur der Tat-

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gedanken der Revolution vorübergehend in den Vordergrund gerückt. So hat man denn ungemindert den Eindruck, als habe Hegel für Geschichte lediglich das Reich der Tat gehalten, da doch bei Voltaire schon längst die Verwirklichung des Gedankens einer Einverleibung der Geistesgeschichte als gefordert vorlag. Unter den Geschichtsschreibern Deutschlands hätte Herder auf Hegel einen noch wesentlicheren Einfluß in der gleichen Richtung wie Voltaire ausüben können; aber davon läßt sich nicht die leiseste Spur bemerken. Und die Geschichtsforscher von sorgfältigerer Gelehrsamkeit, aber geringerem geistigem Range, die immerhin weitgehende Vorstöße von einer eng politischen zu einer universaleren — auch wirtschaftlichen, auch geistigen — Geschichte machten, wie Johann Gottfried Eichhorn und Gatterer, haben noch weniger vermocht, auf Hegel einzuwirken. Daß Hegel nicht aus eigener Überlegung zu einer Geschichtsauffassung von breiterem Querschnitt, von universalerem Ganzheitsbestreben vorzudringen vermochte, mag sich daraus erklären, daß ihm die Tat als der echte Gegensatz zu dem Gedanken, dem er allein sein Tim gewidmet hatte, auch als der einzig starke, einzig würdige Gegenstand der Geschichte erscheinen mochte. Es war eine kontrapunktische Gegensatz-Neigung, die hier wie so oft im Leben temperamentvoller und reizbarer Menschen des Geistes die Entscheidung herbeiführte. Wo aber die Gegebenheiten der geschichtlichen Überlieferung sich einstellen, führen sie den Scharfsinn Hegels um so untrüglicher vorwärts. Ranke hat den Umkreis der Weltgeschichte nach einem Kriterium bestimmt, das ihm von vornherein Zwang antat: ihm schwebte ein Kontinuum der Weltgeschichte vor, das erlaubte, von Ramses I. von Ägypten bis zu Alexander I. von Rußland in nie abbrechender Zeitfolge fortzuschreiten. Dieses Kontinuum der Zeit nötigte ihm aber ein Kontinuum des Raums auf, da als Träger jener zeitlichen Geschichtseinheit nur ein Völkerkreis zu denken war. So war ihm mit dem europäisch-westasiatisch-nordostBreisig,

Gestaltungen des geaohiohtliehen EntwiokiaDgsged&okens.

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Philosophen: Hegel: erfahrungßwisßenschaftlicher Kern.

afrikanischen Völkerkreis der für seine Geschichtsbetrachtung unüberschreitbare Gegenstand gegeben; schon Indien lag jenseits seiner Grenzen, von allen mittel- und ostasiatischen Kulturkreisen zu geschweigen. Diese Einschränkung, die sich Ranke auferlegte, ist auch ihm schon überliefert worden. Aber für Hegel hat sie nicht existiert: mit einer Unbefangenheit, die noch eine ganze Reihe von Historikergenerationen beschämen sollte, setzte er sich weit über die alte Grenze fort und begann seine Geschichtsvorlesung damit, daß er acht Wochen lang über die Geschichte Chinas sprach, was in dieser Ausführlichkeit selbst die Wagnisse Gatterers und Eichhorns weit überschritt. Doch freilich, für eine Geschichtsanschauung, wie sie der vergleichenden Universalgeschichte von heute vorschwebt, klafft auch dann noch mehr als eine Lücke. Weder ist die Reihe der asiatischen Kulturvölker geschlossen — Japan und die hinterindischen Reiche fehlen — noch ist der amerikanischen Völker höherer Stufe gedacht, die doch schon Vico wenigstens in seinen Aufgabenplan einbezog. Vollends übersehen ist die kaum übersehbare Zahl der Völker niederster Stufe, der so benannten Natur-, besser der Urzeitvölker. In der geographischen Übersicht, die Hegel seiner Universalgeschichte voranschickt, sind die Völker der Eingeborenen noch nicht einmal bei Namen genannt1; diese unterste Schicht der Bevölkerung unseres Sterns hat für Hegel nicht mehr Bedeutimg als etwa eine Fauna oder Flora, und dies obwohl schon seit dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert ein reiches Schrifttum bestand über die politischen, die wirtschaftlichen, die geistigen Zustände dieser Völker, in denen man die Anfänge der Menschheitsgeschichte, und zwar ihre volle Kindheit umfassend, zu sehen hat. Daß Hegel so verfuhr, ist vor allem dadurch bewirkt worden, daß ihm einer der wesentlichsten Fortschritte, der dem geistig stärksten unter seinen europäischen Vorgängern gePhilosophie der Geschichte (3 1848) lOOff.

Lücken; Hegels Verhältnis zu Yioo.

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hingen war, völlig unbekannt geblieben war. Vico muß — wenn von Ibn Chaldun in diesem Zusammenhang ganz abgesehen werden darf — als der erste Entdecker des Stufengedankens doch auch heute noch gerühmt werden, da dieser Ordnungsgedanke nach fast zwei Jahrhunderte langer Vergessenheit wieder von neuem entdeckt werden mußte. Daß Hegel zu diesem Gedanken so wenig wie zu Vico selbst den Weg fand, ist nicht verwunderlich. Der Name Vicos, den doch Goethe als den Ältervater des italienischen Volkes in dankbarem Gedächtnis um seiner unergründlichen Tiefe willen rühmt, hatte nicht so starken Klang, um das Ohr Hegels, den er wahrlich unter allen damals Lebenden am meisten anging, zu erreichen. So unklar Vicos Stufenteilungen auch umrissen sein mögen, sie würden genügt haben, in Hegel diesen Formgedanken aufsteigen zu lassen. Da es nicht geschah, war Hegel darauf angewiesen, durch einen eigenen Ordnungsversuch neue Sichten über das Insgesamt der Weltgeschichte zu schaffen. Denn daß er zu solchen Ordnungen vordringen würde, war nach der Grundrichtung seiner Geistigkeit ohne weiteres zu erwarten. In welchem Sinn es geschehen würde, war wenigstens in der Richtung eines Neins angedeutet: die alte Schulteilung der Weltgeschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit hat er stillschweigend abgelehnt. Daß er dies vermochte, war an sich eine ihn auszeichnende Tat, denn es war eine Absage an die älteste, ehrwürdigste und doch auch wieder stumpfste Ordnungsform der Geschichte, an die der reinen Chronologie. Sie hat der Geschichte, als dem Wissensstoff, den sie ordnen sollte, Unendliches genützt, aber sie hat der Aufgabe des Ordnens nach inneren Gesichtspunkten, die ihr doch auch gestellt war, sehr großen Schaden getan. Hegel war hier in eine schwierige geistige Lage gestellt: sein Blick reichte zu weit, um sich der überlieferten Zunftregel zu fügen, aber er war nicht unkonservativ genug, hatte nicht soviel Gelüste nach Neuerung und nach Selbständigkeit, um für sich selbst den Weg Vicos und der heutigen Stufen6*

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Philosophen: Hegel: erfahrungswissenschaftlicher Kern.

lehre zu finden. Und so hat er wie so oft einen mittleren Weg eingeschlagen, er behielt innerhalb der großen Geschichtsgruppen, in die er den Stoff teilte, die reine Zeitrechnung bei und er hat sie auch — wenngleich nicht ganz ohne Ausnahmen — für das Insgesamt der Weltgeschichte respektiert. Aber der in ihm waltende Drang nach geistiger Bezwingung der a/jii&oöoi $Arj, als welche er doch den nur durch Zeitrechnung geordneten Stoff der Geschichte empfand, war zu groß, um nicht wenigstens erstlich andere äußere und sodann innere Ordnungen zu Hilfe zu nehmen. Die herbeigerufenen äußeren Ordnungen waren geographische : schon die Benennung des ersten der großen Abschnitte, in die Hegel die Weltgeschichte teilt, ist eine geographische: Orientalische Welt. Es ist nicht von ungefähr, daß China den Gegenstand des ersten der Kapitel bildet, in die wiederum dieser erste Abschnitt zerlegt ist. China nämlich ist, als durch ganz Asien getrennt von dem westasiatisch-europäischen Völkerkreis, der ja in Wahrheit den Hauptgegenstand der weltgeschichtlichen Darstellung Hegels bildet, wirklich aus geographischen Gründen zu einer Sondergruppe bestimmt. Nur bleibt diese Absonderung vereinzelt; Indien nimmt eine Mittelstellung ein, es ist im wesentlichen abgesondert, zum Teil doch mit Europa verbunden. China aber ist der einzige Fall geographischer Abgesondertheit, der nicht durch eine halb geschichtliche Überleitung wieder zum Teil in sein Gegenteil verkehrt ist. Anders der Hauptblock der orientalischen Welt, dessen auch geographische Bezeichnung sich sehr bald als eine maskiert geschichtliche enthüllt. Denn in Wahrheit soll mit dem vorderen Orient das große chronologische Kontinuum, als das alle andere Geschichte behandelt ist, eröffnet werden. Und von hier ab setzt nun das eigentümliche Gemisch reiner Zeitfolge mit einer Verkettung innerer Zustände ein, die recht eigentlich der Hegeischen Weise entsprach. Seiner unendlich wendigen Art sachlicher Deutung war es gerade recht, ein im Grunde äußerlich Gegebenes, eben das chrono-

Geographische Teilung; der Begriff der Freiheit.

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logische Nacheinander in ein sachlich Auszulegendes, in die Kette einer inneren begrifflich verbundenen Abfolge umzudeuten. Drittes Stück. Die Vermischung der beiden Substanzen von Hegels Geschichtsbetrachtung. Für die innere Verkettung nun, auf die sich notwendig die Blicke jedes Beurteilers der Hegeischen Geschichtsauffassung zuerst hinlenken, weil er in ihr sich völlig von der für seine geistige Ebene doch subalternen Chronologie losmacht, hat Hegel selbst eine Schwierigkeit geschaffen, die jede erfahrungswissenschaftliche Deutung von ihr schwer, wenn nicht unmöglich macht. Dies ist die doppeldeutige Verwendung des Begriffs Freiheit: einmal als Bezeichnung für eine Erlebnisfolge des Geistes als Herrschers der Welt, sodann als eine Abfolge von Zuständen des Verhältnisses zwischen dem Einzelmenschen und dem Staat. Jene erste Beziehung kommt als rein metaphysisch für den hier verfolgten Gedankengang gar nicht in Betracht; die zweite aber hat zwar für Hegels Geschichtslehre volle Geltung, zeigt ihn aber gerade hier, wo er die volle Freiheit einer unabhängigen und selbständigen Gedankengebung nicht nur beanspruchen, nein auch erweisen kann, seltsam abhängig von der Staatsgesinnung seiner Zeit. Die Staffelfolge, die er aufstellt: Einer frei im Orient des Despotismus, Viele frei in der griechischen Demokratie, Wenige frei in der römischen Adelsherrschaft, Alle frei im christlich-germanischen Gesellschaftszustand, kann im einzelnen an mehr als einem Punkte bemängelt werden; am entschiedensten aber darf kritisiert werden, daß der Besitz der Freiheit, der auf alle verteilt ist, am höchsten gerühmt wird. Ein solcher Satz darf doch wohl schwerlich ohne die mannigfachsten Bedingungen und Beschränkungen ausgesprochen werden. Er mag in Hegel gänzlich unter dem

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Philosophen: Hegel: Vermischung der Betrachtungsweisen.

auch sonst in ihm dominierenden Einfluß der französischen Revolution emporgewachsen sein1. Man vermißt hier zunächst an der ersten Darlegung die sichere Schlüssigkeit, doch sie wird, wie sogleich dargetan werden soll, später nachgeholt8. Und den Eindruck eines vollen Denkfehlers macht der Bücksprung, der sich zwischen Griechen und Römern vollzogen findet. Dem Erfordernis einer begrifflichen Kettenfolge würde nur die umgekehrte Folge entsprechen. Die Kritik des Beurteilers wird aber gerade bei Gelegenheit dieser Beweisführung wachgerufen, für die Hegel in nahezu einzigartiger Zuspitzung seiner Gedankenverbindung die höchste Geltung mit den Worten in Anspruch nimmt: »Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte, dem die Erfahrung entsprechen muß3.« Ein Satz von nahezu vichianischem Klang. Erwägt man nun, wie weit denn Hegel mit seinen allgemeinsten, aber gewiß auch peremptorischsten Deutungen gegenüber der Erfahrungswissenschaft der Geschichte Erfolg gehabt hat, so wird man freilich den eigentlich wissenschaftsgeschichtlichen Verlauf nicht in Betracht ziehen dürfen. Fragt man nach der Aufnahme, die der von Hegel aufgerichtete Geschichtsbau bei den Geschichtsforschern erfahren hat, so stellt sich heraus, daß sie eine ablehnende oder richtiger gesagt, eine der Ablehnung nahekommende, gleichgültige gewesen ist; man wird schwerlich in den geschichtlichen Darstellungen aller der Jahrzehnte dicht vor und längere Zeit nach Hegels Tode irgendwelchen Spuren einer Einwirkung von diesen seinen allgemeinsten Lehren her begegnen. Das geistig Entscheidende mag doch sein, daß Hegel so gar nicht auf den Stufengedanken gekommen ist, der im Grunde den Namen allein in Wahrheit verdient haben würde, den l)

Vgl. Vom geschichtlichen Werden II: Die Macht des Gedankens in der Geschichte 296ff. l ) Ebenda 332, vgl. weiter unten S. 96. a ) Hegel, Philosophie der Weltgeschichte I (1917) 137.

Versagen gegenüber dem Stufengedanken; Übergängelehre.

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Gedanken nämlich, daß die Völkerentwicklungen doch Abfolgen von Entwicklungszuständen aufweisen, die unabhängig von Synchronismen der Jahresrechnung, ja oft im starken Widerspruch zu ihnen, eine innere, eine Entwicklungschronologie aufweisen, die nur in der biologischen Erscheinung der Lebensalter ihr volles Seitenstück hat. Hier aber versagte er. Doch Hegels Geist, der sich an den begrifflichen Durchdringungen, die seiner Sehweise genehm waren nicht leicht ein Genüge tat, suchte, wie um einen Ersatz besorgt, nach Einzelbeobachtungen an dem Gliederbau der Geschichte, die zwar nicht einem allgemeinen Ordnungsgedanken, wie dem des Stufenbaus, unterzuordnen waren, die aber einmal von völliger Folgerichtigkeit ihres begrifflichen Baus zeugten und die auch in der Regelmäßigkeit ihrer Wiederholung fast die Form allgemeiner Gesetzlichkeit erreichten. Es ist die Lehre von den Übergängen, um die es sich hier handelt. Hegel hat sie zwar nicht selbst an einem Ort seines Begriffsgebäudes versammelt oder sie gar zu einem System verarbeitet, aber er hat sie an besonders hervorragenden Stellen seiner Darlegung und jedesmal mit starkem Nachdruck behandelt. Was noch mehr sagen will, er hat je zuweilen die ersten Feststellungen, die er vom Verlauf und Wesen der einzelnen Übergänge von Kultur zu Kultur gibt, auf die höhere Ebene einer begrifflichen Wertung dieser Einschätzungen erster Hand gehoben. Ein köstlichstes, wenngleich vielleicht in ein allzu dichteriches Gewand gekleidetes Beispiel für diese an sich durchaus dem Gedanken dienenden Abbreviaturen des Verhältnisses zwischen zwei aufeinander folgenden Kulturen bietet die ganz nahe Aneinanderrückung zweier wesentlicher Kultverkündungen, die mit bestem Recht als Bild und Zeichen der sie tragenden Volkskulturen angesehen werden. Es ist einmal die Inschrift des Allerheiligsten der Göttin Neith zu Sais: »Ich bin was da ist, was war und was sein wird; niemand hat meine Hülle gelüftet.« Hegel deutet diesen Spruch

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Philosophen: Hegel: Vermischung der Betrachtungsweisen.

so, daß diese Schrift besage, was der ägyptische Geist sei: die Wahrheit, die er ausspreche, sei in ihm noch verschlossen. Der griechische Apollo aber verkünde die Mahnung: Mensch erkenne dich selbst. Dieser Spruch richte sich nicht an den besonderen Einzelmenschen, sondern an die Menschheit selbst. Im griechischen Geist stelle sich das Menschliche in seiner Klarheit, in seiner Herausbildung dar. Der Spruch aber sei das Gebot, das den Griechen gegeben sei. Der orientalische Geist, so schmilzt Hegel die Bedeutung beider Losungen zusammen, habe sich in Ägypten zur Aufgabe gesteigert. In Griechenland aber habe der orientalische Geist die Lösung und Befreiung gefunden1. Die dunkle Schönheit dieser Sätze erweist, wie der Geist ganzer Völker sich Hegel zu einem großen Satz zusammendrängt und wie ihm der Sinn all ihrer Kultur in der Wucht und Kraft solcher Sprüche höchster Weisheit gipfelt. Indem Hegels Darstellung zur Geschichte des griechischen Geistes übergeht, entfaltet er sogleich eine neue und tiefere Umschreibung des inneren Geschehens in einem Volksgeist, das doch auch das Schicksal seines Lebens nach sich zieht, auch dann, wenn es zum Untergang führt. Hat das Volk eine Voraussetzimg, d. h. ein ihm von der Geschichte gegebenes Muster und Beispiel, so wie die Griechen an den Ägyptern, so hat es eine doppelte Bildung. Und die eine, das fremde Vorbild, mit dem eigenen Werden zu einer Einheit zusammenzuschmelzen, dies bildet die Aufgabe seiner Erziehung: eine reale eigentümliche Kräftigkeit entsteht, die sich gegen ihr eigenes Vorbild wendet. Diese erste Periode ist die des Anfangs und der inneren Vollendung. Die zweite ist die des Sieges und des Glückes; das Volk wendet seine Kraft nach außen; es läßt zugleich seine Bestimmungen im Inneren los. Und wenn die Spannungen nach außen aufhören, bildet sich Zwietracht im Inneren. Auch in Kunst und Wissenschaft zeigt sich dies an der Trennung des Idealen vom Realen. *) Philosophie der Geschichte ( 8 1848) 269f.

Autogene Entwicklung des griechischen Volksgeistes.

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Hier ist der Punkt des Sinkens. Die dritte Periode ist die des Unterganges durch die Berührung mit dem Volke, aus welchem der höhere Geist hervorgeht1. Das ist hier, so seltsam es klingt, das römische Volk. »Demselben Gang, wir können es ein für allemal sagen, werden wir überhaupt in dem Leben eines jeden weltgeschichtlichen Volkes begegnen.« Das Beispiel Griechenlands kann hier vorzüglich in Hinsicht auf die Verkettimg des griechischen Schicksals mit seinem Vorgänger, den Ägyptern und mit seinem Nachfolger, den Römern, als artvertretend angesehen werden. Hegels Lehre ist, ohne daß sie an den späteren Gliedern der Kette im einzelnen als gültig nachgewiesen wird, daß Aufstieg, Aufgipfelung, Niedergang sich an jedem Volk oder jedem Völkerkreise wiederholen. Man sieht, er drängt sehr eilig von einem Geschehen, das er zunächst doch nur an einem Beispiel aufzeigt, dahin, aus diesem einen Geschehen eine Regel zu machen. Dieses Tun ist sicher übereilt, denn weder ist der Zusammenhang zwischen dem vorderorientalischen Geschehen — für das ohnehin als artvertretend das Einzelbeispiel Ägypten eingesetzt wird — und dem griechischen als ein den Hauptregeln entsprechender nachgewiesen, noch kann für die jenseits des römischen Beispiels, das man als regelhaft in seiner Wiederholung zugeben mag, in den in späteren Zeiten der Weltgeschichte sich vollziehenden Geschichtsverläufen ohne weiteres die immerhin vorschwebende Annahme als erwiesen gelten, als würden nun auch diese Volksgeschichten den Verlauf der beiden abgelebten Geschichtsbeispiele aufweisen. Wohl finden sich auch in diesen spätesten Gliedern der geschichtlichen Kette Beweisstücke dafür, daß die Glieder sich durchaus in der von Hegel als Regel aufgefundenen Abfolge an- und auseinander schließen; aber man wird ebensoviel oder noch mehr Beispiele dafür nachweisen können, daß sie in einem durchaus regelwidrigen Verhalten aufeinander folgen. Philosophie der Geschichte (3 1848) 274f.

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Philosophen: Hegel: Vermischung der Betrachtungsweisen.

Für beide Verhaltensweisen seien hier einige Beispiele angegeben, für die dann freilich, jetzt jedoch in ausführlicherer Darlegung, auf die kurz schon angezogene Staffelfolge der Freiheitsgrade zurückgegriffen werden muß. Zwischen dem Orient und dem Griechentum wird von Hegel die folgende Verkettung angenommen. Die orientalische Gesellschaftsform zeigt sich beherrscht von dem Leitgedanken einer nur erst naturhaften Freiheit, die aber nur dem Staatsoberhaupt, dem Despoten, zugestanden ist und zwar in der Form von maßloser Willkür. Sie geht noch nicht zur Freiheit des Einzel-Ichs jedes Einzelnen über, zur subjektiven Freiheit, wie Hegel es ausdrückt. Der ägyptische Zustand besitzt den allgemeinen Zweck des Staates nur in der Abgezogenheit des Begriffs und dringt nur bis zum Widerspruch der Zielgedanken vor, dem Widerspruch zwischen seinem eigenen und dem heraufkommenden Gedanken. Das Griechentum löst diese, ihm schon von seinem Vorgänger gestellte Aufgabe, indem es die schöne, gewachsene Freiheit des Einzel-Ichs findet, das nunmehr in unbefangener Einheit mit dem allgemeinen Zweck von Staat, Recht und Sitte lebt. Die beiden im Orient noch unversöhnten Gegensätze: der Naturhaftigkeit —• Substantialität —- einerseits und der Freiheit des Ichs — Subjektivität, doch nur des Herrschers —> verschmelzen sich nunmehr zu der naturhaften Freiheit des Einzelnen, die Hegel die schöne Freiheit nennt. Sie aber ist noch nicht geprüft, noch nicht bewußt. Allein, so wendet Hegel sich und dem Weltgeschehen ein, diese Verschmelzung kann nicht bestehen, denn die Bewußtwerdung, die Bespiegelung der Gegensätze führt den Untergang dieses zweiten, des griechischen Reiches herbei. Denn sie schafft das Reich eines allgemeinen, des Staatszweckes —• wobei ungewiß bleibt, ob dieses Reich sich noch innerhalb des Zeitalters der Griechen oder erst — was dann allein übrigbleiben würde — unter der Herrschaft des Römertums bildete.

Reihe der Glieder Verkettungen; das Römerreich.

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»Die dritte Gestalt, das Römerreich, setzt diesen allgemeinen Zweck — des Staates —• mit höchster Folgerichtigkeit durch: der Einzelne, für seine Unterordnung —• unter den Staat — nicht voll durch die ihm verliehene Rechtspersönlichkeit entschädigt, dringt über sich und den Staatszweck hinaus, sei es zu weltlicher Gewalt •— im Kaisertum —• sei es zu einer überweltlichen höchsten und allgemeinen Persönlichkeit des Gottes — im Christentum. Der Urgedanke des Geistes, der das Ich des Einzelnen zur Allgemeinheit erhebt, das Reich der sich wissenden Ichmäßigkeit, tritt — im Christentum — in Erscheinung. Dies ist das vierte Reich: in roher und nicht ganz zulänglicher Form von den mohammedanischen, in reiner Gestalt von den germanischen Völkern verwirklicht. Der neue höchste Urgedanke, eben der Gedanke der sich wissenden Ichmäßigkeit, erfährt im Christentum noch mehrfache Wandlungen und Läuterungen1. Übersieht man diese drei Übergänge, die in der Geschichte unseres Völkerkreises stattgefunden haben, so ergibt sich folgender Sachverhalt. Dreimal tritt —> nachdem zuerst der Völkerkreis des vorderen Orients sich zur Grundlage alles weiteren geschichtlichen Geschehens geschaffen hat —• ein Übergang zur Entstehung eines neuen Reiches ein; jedesmal tritt mit dem neuen Reich ein neuer Gedanke auf die Bühne: sei er nun vorausgeahnt, sei er schon vorgeschaffen beim Ausgang des vorangehenden Reiches. Voll entfaltet sich das neue Reich erst mit der Durchsetzung des neuen Urgedankens. Es erhebt sich, vor allem im Hinblick auf den Drang zu äußerster Begrifflichkeit, die Frage: sind die Vernietungen, oder wenn man lieber will, die Gelenke von einem zum anderen Glied in dieser Zeitalterkette im begriffswissenschaftlichen Sinne so sicher verschmiedet, daß hier ein Äußer1 ) Zum Teil wiederholt aus Die Macht des Gedankens (Vom geschichtlichen Werden I I ) 327 ff.

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Philosophen: Hegel: Vermischung der Betrachtungsweisen.

stes von Festigkeit des Zusammenhanges erreicht ist, etwa in dem Sinne, daß hier nicht eine geschichtliche, sondern eine begriffliche, eine logisch fest verbundene Reihe von Kettengliedern gegeben ist. Diese Frage, richtiger gesagt, dieser Fragenkreis könnte allerdings schon an der Schwelle der hier begonnenen Untersuchimg abgewiesen werden als zu metaphysisch, besser gesagt, zu erkenntnistheoretisch; aber man wird zugeben, daß hier ein Grenzgebiet zwischen denkender und erfahrender Wissenschaft berührt ist, das dann, wenn ein volles Bild der hier obwaltenden und noch immer für erfahrungswissenschaftliche Betrachtungsweise zugänglichen Verhältnisse gegeben werden soll, nicht außer acht bleiben darf. Erwägt man, wozu hier allerdings mehr Anlaß als sonst gegeben ist, überhaupt das innere Verhältnis zwischen rein begrifflichen und erfahrungswissenschaftlich faßbaren Gregebenheiten des Weltbildes, so wird auch der leidenschaftlichste Feind allzu grauer Erkenntnistheorie zugeben müssen, daß jede, auch die abgezogenste, die entfärbteste Begriffsbildung doch immer noch wirkliche Wirklichkeiten unter sich hat, die sie decken und umfassen will. Daraus ergibt sich, daß jede innere Beziehung zwischen begrifflich-entwirklichter und ganz mit Gewachsenheit, ganz mit Erfahrung gesättigter Wirklichkeitsbetrachtung nur die einer gradmäßigen, nicht aber die einer wesenhaften Unterschiedenheit ist. Wo nun jedoch wie im hier vorliegenden Fall die begriffliche Formelgebung eine — in Sonderheit nach Hegeischen Maßstäben — eigens nahe an die Wirklichkeit herangerückte ist, wird richtig sein, auch von diesen Begriffsbildern Notiz zu nehmen und ihre Erträge, soweit tunlich, dem Wirklichkeitsbild einzuverleiben. Die Frage, um die es sich hier handelt, ist mm die: wird durch die begriffliche Folgerichtigkeit und Stichhaltigkeit dieser Übergangsfeststellungen eine Zwangsläufigkeit des Verlaufs der Geschichte gewährleistet oder nicht. Die Antwort kann nun, nachdem die in Frage kommenden Schwierigkeiten an anderem Ort auf das Genaueste und umständlicher,

Bedingter doch bedeutender Wert der Übergängereihe.

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als es hier hätte geschehen können, untersucht worden sind, nur so lauten: das Ergebnis ist ein für die einzelnen Fragestellungen verschiedenes. Ganz unzweifelhaft entsprechen in einzelnen Fällen, so namentlich für den Übergang vom Römertum zu dem christlich-germanischen Völkerkreis, in etwas, doch nicht mit der gleichen Vollkommenheit auch für den Übergang vom Griechen- zum Römertum, die geschichtliche Tatsachen der zuvor —• oder doch angeblich zuvor — von Hegel aufgestellten Begriffsforderung. Ganz schlaff hängen nur die Fäden, die das orientalische, genauer gesagt, das ägyptische Wesen mit dem griechischen verbinden sollen: hier ist nur eine Vorahnung behauptet und auch diese nur für den Fall, daß die beiden zur Ausdeutung herangezogenen Sinnsprüche wirklich die Funktion der für eine ganze Kultur ausreichenden Symbolik erfüllen können. Gleichwohl, das wird doch der Schluß sein müssen, wird man all diesen Bemängelungen zum Trotz die von Hegel aufgestellte Begriffsreihe als solche nicht anzufechten brauchen. Es ist in jedem Falle eine der geistreichsten Geschichtsdeutungen, die sich denken lassen und man mag die Lücken und Mängel, die sich ergeben, um dieses ihres geistigen Allgemeinwertes willen, übersehen. Ein anderes aber bedeutet die Frage, die auch nach einer solchen Bejahung aufgeworfen werden muß: wie hoch ist der erfahrungswissenschaftliche Wert auch dann anzuschlagen, wenn man Hegel und allen seinen Forderungen Recht gibt. Auch die höchste Verehrung seiner geistigen Möglichkeiten wird hier nur zu dem Schluß kommen, eine höchst geistreiche Deutung des geschichtlichen Verlaufes sei hier wohl gegeben, aber nicht eine das innere Getriebe dieses Verlaufs erklärende, die behauptete Abfolge der Zustände erhärtende Regelhaftigkeit. Die von Hegel in Betracht gezogenen Abfolgen haben an sich den Mangel, daß sie dreimal von einer Volksgeschichte zur anderen hinüberwechseln, daß diese Volkgeschichten an sich durch inneres Wachstum zusammengehaltene Geschichtseinheiten sind und daß in einem, und

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Philosophen: Hegel: Vermischung der Betrachtungsweisen.

zwar dem bedeutendsten Fall — dem des Übergangs zwischen Römertum und Germanentum — eine von außen her in das an sich gegebene Wachstum eindringende Durchkreuzung, durch das Christentum, das ursprünglich gegebene Bild ganz außerordentlich verschiebt. Ebenso ist die Umwandlung, die der Übergang vom Griechen- zum Römertum darstellt, doch auch durch einen gewaltsamen, von außen her eindringenden Eingriff herbeigeführt, nicht aber durch irgend ein autogenes, ein eigenwüchsiges Geschehen. Ein solches aber war doch eigentlich in der Natur der begrifflichen Forderung, um die es sich hier handelt, einbegriffen. Wenn es erlaubt ist, heutige Versuche zu einem Aufbau der Menschheitsgeschichte hier zum Vergleich mit Hegels Baugedanken heranzuziehen, so ergibt sich folgender doppelter Unterschied: erstens eine Lehre wie die vom Verfasser dieser Blätter vertretene vom Stufenbau der Weltgeschichte breitet in Pyramidenform eine nach unten hin beständig sich verbreiternde Anzahl von Phalanxschichfcen aus, die zu unterst viele Hunderte von Volksgeschichten aufweist, die aber auch in ihrer Spitze noch immerhin eine nach Dutzenden zählende Menge von parallelen Volksentwicklungen darbietet. In allen Schichten dieses Baus ist hier also der Vorzug eines mannigfaltigen Nebeneinanders von im wesentlichen gleichläufigen Entwicklungsreihen gegeben, die in jeder Schicht eine Wiederholtheit von gesetzesnaher Gleichmäßigkeit darbieten. Zu dieser Querschnittwiederholung aber gesellt sich im Längsschnitt des Stufenbaus auch noch die der Stufenphalangen: eine Wiederholtheit von Wiederholtheiten, die den ganzen Bau nach zwei Richtungen hin dem Gesetze nähert. Die zweite den Stufenbau auszeichnende Eigenschaft aber ist die hier zuletzt berührte, vielleicht noch höher zu bewertende: daß die Werdegänge, deren Richtung, Tempo und Rhythmus hier nach so vielen Seiten hin zum Gegenstand des Vergleichs gemacht werden, durchweg völlig eigenwüchsige sind. Und nur solche

Hegels Übergängelehre verglichen mit der Stufenb&ulehre.

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können eigentlich billigerweise für Vergleiche in Betracht gezogen werden, die ein Wachstum kennzeichnen sollen. Es kann hier nicht ohne ein gewisses Maß von Genugtuung behauptet werden, daß in Hegel ein Streben zum Begriff, zur Regel, zum Gesetz — als der höchsten Ausgipfelung von begrifflicher Sehweise — mächtig war, daß von ihm aber noch kaum ein Viertel, vielleicht nur ein Zehntel des Weges bewältigt worden ist, der mit Comtischer Folgerichtigkeit damals schon hätte überwunden werden können und den heute zurückzulegen immerhin möglich war. Doch wenn Hegel von dem Erreichen wahrer Gesetzlichkeit außerordentlich weit entfernt blieb, so sind doch alle die Einzelbeobachtungen, die er in der Richtung auf die begriffliche Durchdringung angestellt hat, höchster Beachtung wert. So seine Lehre von der Bewußtwerdung, durch die ein Volk zwar zur Klarheit über sich selbst und damit zu einer hohen Ausbildung seiner Verstandskräfte kommt, durch die ihm aber eine Minderung seiner übrigen Seelenkräfte widerfährt, die seinem Schicksal verderblich wird. Diese neue Gedankenkette ist mit der alten verbunden. Daß ein neues Zeitalter der Menschheitsgeschichte eintritt, wird auf ein innerliches Geschehen zurückgeführt: es ist das Auftreten eines neuen Urgedankens — in Hegels Sprache Prinzips. Dieser Urgedanke soll der von Hegel aufgestellten Regel nach noch innerhalb des im Gang befindlichen Zeitalters auftreten. Doch wird diese Regel im Falle des Übergangs vom Griechen- zum Römertum nicht als gültig, oder wenigstens nur in einer Vorform gültig, nachgewiesen; in ihr tritt vielmehr der neue Urgedanke in ausgeprägter Form nur bei den Römern selbst auf, während er bei den Griechen nur als Reflexion vorhanden ist. Bei den Griechen war, um den Gehalt der Überleitung voll wiederzugeben, die besinnende Innerlichkeit, die Reflexion überhaupt als ein Moment vorhanden: d. i. der Gedanke, die Wirksamkeit des Gedankens drängt hervor. Trotz diesem leisen Schwanken darf der

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Philosophen: Regel: Vermischung der Betrachtungsweisen.

Gedanke als leitend festgehalten werden, zumal er im Falle des letzten Überganges, dem zwischen Römer- und Germanentum, als buchstäblich und noch innerhalb des Römertums sich erfüllend nachgewiesen ist. Als das Auftreten des neuen Zeitalters begründend wird der Satz aufgestellt, daß innerhalb eines Volkes nicht zwei Urgedanken nebeneinander bestehen können; schon deshalb also sei das Volk zum Abtreten von der Bühne der Weltgeschichte reif. Der seelische Vorgang aber, der recht eigentlich dies Ende seiner Rolle herbeiführe, sei die Bewußtwerdung des eigenen Wesens. In seltsamem Widerspruch zu der Darlegung der ersten geschichtlichen Abschnitte seines Werkes, in denen er recht eigentlich als die Aufgabe eines weltgeschichtlichen Volkes bezeichnet hat, daß es seinen Gedanken, den geistigen Kern seines Wesens und Wirkens, sein Prinzip herausstelle, erklärt Hegel, und zwar noch ehe er zu der Darlegung der Lehre von den Übergängen gelangt, daß die Herausstellung seines Gedankens zwar einem Volk ein hohes Maß von Befriedigung gewähre, daß sie aber zugleich seiner sittlichen Beständigkeit schweren Eintrag tue. Hegel geht hier offenbar von der Erwägung aus, daß durch eine solche Bewußtwerdung eine Spaltung zwischen dem Denkbild des Lebens und dem Leben selbst entstehe und das Leben selbst durch das Obsiegen des Verstandes in dieser Spiegelung Schaden leiden müsse. Das Volk, wenn es an der Spiegelung seines sittlichen Tuns in dem bewußten Sein mehr Gefallen finde, als am sittlichen Tun selbst, könne hiervon nicht unberührt bleiben. Es ist ein seltsamer Gedanke, der hier eingeführt wird, und zwar nicht bei der Buchung eines Nebengeschehens, sondern in der Rolle des katastrophalen Einbruchs in den großen Gang der Völkerschicksale. Seltsam und in mehr als einem Betracht durchaus anfechtbar. Denn es macht sich so eine Geschichtsanschauung geltend, der zufolge Sokrates, Piaton und Aristoteles die Mörder des Daseins und Blühens

Die Bewufltwerdung des Ungedankens; ihre zerstörende Wirkung.

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von ihrem eigenen Volkstum gewesen sind, und der Geschichtsforscher, der gewohnt ist, seine Blicke über das Ganze der Menschheitsgeschichte schweifen zu lassen, wird geneigt sein, dieser Vorstellung Hegels entgegenzuhalten, warum denn das germanische Mittelalter, die Reformation, das achtzehnte Jahrhundert nicht diese furchtbaren Folgen an dem sie tragenden Völkerkreise gezeitigt hätten1. Schlechthin abenteuerlich aber ist wohl der Gegensatz, in den sich Hegel durch seine Lehre von der Bewußtwerdung der Völker und der durch sie herbeigeführten Selbstauflösung zu dem obersten seiner Geschichtsgedanken setzt, zu der letzten seiner Setzungen, durch die er behauptet, daß die eigentliche Aufgabe des Weltgeistes gewesen sei, in der Geschichte der Menschheit seiner selbst bewußt zu werden. Wie durfte nun, was als letztes Ziel des Ganzen der Weltgeschichte gelten sollte, für die Teile zum Zeichen einer Selbstzersetzung, einer Selbstauflösung gemacht werden. Hier ist einer der Punkte gegeben, an denen die Lehre Hegels in einen reinen und auf keine Weise lösbaren, ja kaum erklärbaren Widerspruch ausmündet. Zuletzt erweist sich auch in dieser Gedankenreihe die Spekulation über Geschichte, die Hegel hier bietet, als allzu spekulativ, als allzu hoch über den festen Boden der Wirklichkeit hinausfliegend. Es ist derselbe Mangel an sicherem Forschertum, der schon die frühere, hier bereits erörterte Einteilung der Weltgeschichte in große universale Zeitalter im wesentlichen um jeden Erfolg gebracht hat, die Stufenalter, die Hegel an mehr als einer Stelle mit diesem Namen belegt. Daran aber, daß er niemals zu dem eigentlich tiefsten Sinn einer Stufenteilung vorgedrungen ist, dem nämlich, der nur eine wachstumsähnliche Reihe, also eine biologische Reihe als echte und berechtigte Trägerin einer Abfolge von Stufen, d. h. von sich selbst erzeugenden EntwicklungszuJ ) Über andere Bedenken der Widerlegung vgl. Vom geschichtlichen Werden I I 317ff.

B r e y b i g , Gestaltungen des gesohiohtllohen Entwicklungsgedankens.

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Philosophen: Hegel: Vermischung der Betrachtungsweisen.

ständen anerkennt, ist auch jene seine große Stufenteilung gescheitert1. Er hat den Namen nie für die Querteilung der Volksgeschichten angewandt, hat sich dadurch den Weg zur Zusammenordnung ganzer Bündel oder gar universaler Phalangen von Volksgeschichten verlegt und ist so auf den Ausweg, den vor ihm schon Vico und nach ihm Comte fand, nicht gekommen, d. h. er hat gerade die Auskunft nicht gefunden, die seinen inneren Drang nach Regel und Gesetz hätte stillen können, ohne ihn zu zwingen zu spekulativen und in Wahrheit völlig untauglichen Hilfsmitteln seine Zuflucht zu nehmen. Da er doch jenen Drang in sich spürte, ist er darauf verfallen, daß er, in unmöglicher Gleichung Volk oder Völkerkreis gleich Stufenalter setzend, eine Abstufung einführen wollte, die außer einer nicht völlig tauglichen Begriffsverkettung keine innere Autogenie noch Autarkie aufwies, keine echte Eigenwerdigkeit oder Selbstgenügsamkeit des zur Behandlung kommenden Entwicklungszuges bedeutete, sondern eine Umdeutung des an sich gegebenen chronologischen Verlaufes. Was soll man dazu sagen, daß immer, wenn eine Volksgeschichte für beendet erklärt wird, schon eine andere bereit steht 2 , die an ihre Stelle zutreten bestimmt ist. Die chronologische Folge wird in Wahrheit auch nicht der inneren Entwicklungsfolge völlig angepaßt, denn die Zeitpunkte, in denen sie ihrer inneren Beschaffenheit nach sich mit ihrer Vorgängerin verketten sollten, entsprechen durchaus nicht denen, an denen das wirkliche äußere Geschehen die erforderte Ablösung des einen weltgeschichtlichen *) Es möge hier nachträglich zur Erläuterung und auch zur Verbesserung der ausführlichen Hegelkritik in diesem Punkte (Vom geschichtlichen Werden I I 245ff.) erklärt werden, daß man, da Hegel den Ausdruck Stufenalter nur zuweilen, jedoch bei weitem nicht immer, noch auch nur mit dem Akzent desterminus technicus benutzt hat, ihn lieber vermeiden und etwa durch das Wort Zeitalter ersetzen sollte. 2 ) Vom geschichtlichen Werden II 319f.

Stufe und Volk; kein Weiterbauen auf Hegels Lehre möglich.

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Protagonisten durch einen anderen eintreten läßt. Die Ausbildung des römischen Staatsgedankens hat viel früher eingesetzt, als sie nach dem Schema Hegels den griechischen Urgedanken der freien Individualität abgelöst hat, d. h. als die um Jahrhunderte später einsetzende Vergewaltigung durch das römische Schwert. Und ebenso haben Christentum wie Germanentum ihr zum Teil oder ganz innerliches und äußerliches Obsiegen über das Römertum autogen und ohne jeden inneren Zusammenhang mit dem Römertum vorbereitet. Überall macht sich die begriffliche Unhaltbarkeit der Zusammenschweißung der verschiedenen Volksgeschichten zu einer Geschichtseinheit des Gesamtverlaufs der nur chronologisch zusammenzuzwängenden, in Wahrheit westasiatisch -nordostafrikanisch - europäischen sogenannten Weltgeschichte geltend. Nicht die ägyptische Geschichte hat mit der griechischen, noch diese mit der römischen, noch endlich diese mit der christlich-germanischen Geschichte den inneren Zusammenhang, der eine Stufenfolge nach Art der von Hegel aufgestellten allein rechtfertigen würde. Aber sollte man aus allen diesen Gründen, um aller dieser Mängel willen, die Bedeutung des Hegeischen Werkes für die Geschichte des Entwicklungsgedankens leugnen oder auch nur herabmindern dürfen ? Ich glaube nicht. Gewiß, insofern es sich darum handeln sollte, auf der Grundlage von Hegels Geschichtsphilosophie eine im strengen Sinne erfahrungswissenschaftliche Geschichtslehre aufzubauen. Das wäre auch dann unmöglich gewesen, wenn ein Folgertum sich mit der größten Gewissenhaftigkeit gemüht haben würde, alle metaphysischen und alle allzu begriffstheoretischen Bestandteile aus Hegels Lehrbau zu entfernen. Er würde einmal diese seine Beimischung in keinem einzelnen Teile verleugnet haben und er würde auch nirgends im erfahrungswissenschaftlichen Sinne haltbare Unterlagen als Stützen für ein solches Unternehmen dargeboten haben. Und dennoch: keinem, der es gut meint mit dem Schicksal des deutschen Geistes, dürfte es in den Sinn kommen 7«

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Philosophen: Hegel: Vermischung der Betrachtungsweisen.

zu wünschen, daß Hegels Werk aus der Geschichte der deutschen Geschichtsforschung fortgeblieben wäre. Es wäre damit ihr der stärkste, in seinem Antrieb bis heute noch wirksame Anreger zu einer denkenden, einer allgemeinen Betrachtung genommen worden. Wer will sagen, wie vieles Streben zu Nüchternheit und Ideenlosigkeit, die beide im neunzehnten Jahrhundert hinlänglich starke Mächte im Gebiete der deutschen Geschichtsschreibung waren, vollends die Oberhand gewonnen hätte, hätte dieser stete Mahner zum Geist nicht dem Zuge unserer Geschichtsforschung angehört. Die schlechthin gehässige Feindseligkeit, mit der Ranke und seine Schüler die möglichen Wirkungen von Hegel und seiner Geistigkeit bis auf die letzte Spur auszutilgen bestrebt waren, läßt deutlich erkennen, wie stark die Gegenwirkung hier war. Aber nicht einmal die ganz lebendige, färben- und wirklichkeitsnahe Geschichtsschreibung wird Hegels vergessen dürfen. Bei welchem Geschichtsschreiber vom Fach wird man denn eine Folge von Sätzen finden, denen an geistiger Macht und sinnlicher Kraft überlegen, die Hegel dem attischen Geist gewidmet hat und die, weil sie viel zu schön sind, um anders als durch sich selber zu sprechen, in ihrem vollen Umfang hierhergesetzt sein mögen. »Es muß noch hinzugefügt werden, daß, indem der griechische Geist dieser umbildende Bildner ist, er sich in seinen Bildungen frei weiß; denn er ist ihr Schöpfer, und sie sind sogenanntes Menschenwerk. Sie sind aber nicht nur dies, sondern die ewige Wahrheit und die Mächte des Geistes an und für sich, und ebenso vom Menschen nicht geschaffen, als geschaffen. Er hat Achtung und Verehrimg vor diesen Anschauungen und Bildern, vor diesem Zeus zu Olympia und dieser Pallas auf der Burg, ebenso vor diesen Gesetzen des Staates und der Sitte; aber Er, der Mensch, ist der Mutterleib, der sie konzipiert, er die Brust, die sie gesäugt, er das Geistige, das sie groß und rein gezogen hat. So ist er heiter in ihnen und nicht nur an sich frei, sondern mit dem Bewußtsein seiner Freiheit; so ist die Ehre des

Geistige Gesamtwirkung Hegels.

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Menschlichen verschlungen in die Ehre des Göttlichen. Die Menschen ehren das Göttliche an und für sich, aber zugleich als ihre Tat, ihr Erzeugnis und ihr Dasein: so erhält das Göttliche seine Ehre vermittelst der Ehre des Menschlichen und das Menschliche vermittelst der Ehre des Göttlichen.« So sprach der eine, der aller schönen Sinnlichkeit, allem Blühen und Wachsen lebendiger Geschichte gewachsene Hegel. Aber der andere Hegel, der große Metaphysiker, der Schöpfer der Phänomenologie des Geistes, des erhabensten Werkes deutscher Denkerkraft, nicht geringer zu achten als der zweite Faust, war der gleiche große Mensch, der ebensowenig je in Vergessenheit wird geraten dürfen. Er, der sein Werk mit den unvergänglich tiefen, unvergänglich schönen Zeilen schloß1: »Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit.« Wahrlich, der Mann, der diese beiden Geister in sich vereinigte, darf aus der Geschichte der deutschen Geschichtsforschung nicht fortgedeutet werden bis an das Ende der Tage. 1

) Phänomenologie des Geistes (Werke II 612).

DRITTES BUCH. GESELLSCHAFTSFORMER ALS GESCHICHTSDENKER. Erster

Abschnitt.

Saint-Simon. Erstes Stück. Die zwei n e u e n g e s c h i c h t l i c h e n

Systeme.

Saint-Simon, der Feuerkopf, so müßte als Überschrift über jeder Schrift stehen, die von diesem Manne der edelsten Sittlichkeit und der zerrissensten Leidenschaft handelt, diesem Sprößling eines Geschlechts von ältestem Adel, der die Abschaffung allen Adels mit Inbrunst und Feuer betrieb, diesem Erben großer Besitztümer, diesem Erwerber neuer, kaum kleinerer Kapitalien, der doch eine große Expropriation des Besitzes herbeiführen, das Erbrecht abschaffen wollte und der lieber den Tod von 30000 Prinzen, Großen und Reichen gesehen hätte, als den von 3000 der besten Forscher, Künstler und Handwerker; der sich scheiden ließ, um die geistreichste Frau seiner Zeit und seines Volkes zur Gattin zu gewinnen, eine Frau, die ihn doch verschmähte, der mehrere große Vermögen verschwendet hat, der aber Jahre und Jahre gehungert hat, ohne je auch nur einen Schritt von seinem Idealistenwege abzuweichen. Mit diesen wenigsten Daten aus seinem Leben ist auch die Geistigkeit Saint-Simons kennzeichnend umschrieben; er war ein Denker von leidenschaftlich bewegter Schöpferkraft, er hat wie ein Vulkan immer neue Massen von geistigem Magma emporgeworfen, aber er war nicht der Mann von wissen-

Lebensdaten; Forderungen an die Geschichtsschreibung.

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schaftlicher Systematik, geschweige denn von über ein Leben lang festgehaltenen Gedankenbauten, und doch ein Saemann von Gedanken von höchster Wurfkraft, der Anreger und Befruchter von Comte und Augustin Thierry, d. h. des geistvollsten Soziologen und des ersten Geschichtsforschers seiner Zeit. Saint-Simon hat nicht das Glück, noch auch die geistige Möglichkeit gehabt, in die Geschichte einzugehen als der Schöpfer eines fest umrissenen Gedankenbaues der Geschichtslehre oder der Gesellschaftswissenschaft, und hat doch beide Wissenschaften und durch sie das werktätige Leben auf das wirksamste befruchtet. Comte, dem weit glücklichere Lose fielen, ist weder als Gesellschafts- noch als Geschichtslehrer ohne die Anregungen Saint-Simons zu denken, und auch der Sozialismus, dem Saint-Simon am wenigsten hold war, hat ihm vieles zu verdanken. An sehr früher Stelle schon stellt Saint-Simon Forderungen für die Form von Geschichtsschreibung auf, die ihm als die wünschenswerteste erscheint. Ist er auch hierin wie in den Einzelheiten seines Geschichtsbildes in mehr als einem Betracht von Condorcet beeinflußt, so ist er doch viel zu reich an Geist in den besonderen Schlaglichtern, die er auf die Geschichte fallen läßt, und auch zu stark an bauender Kraft in seinen allgemeinen Vorstellungen, als daß nicht sein Gedankenwerk als ein unentbehrliches Glied der Kette von Geschichtslehren der entwickelnden Richtung eingereiht werden müßte. Schon das allgemeine Programm, das er nicht weit vom Beginn seiner Darlegung für die Geschichtsforschung aufstellt, läßt dies erkennen. Er stellt fest, daß die Geschichte bisher noch durchaus nicht das sei, was sie sein solle: eine einfache Reihe von Beobachtungen über Gang und Entwicklung — développement — der Zivilisation. Sie würde dann nur zu treiben sein von Männern, die fähig wären, den sozialen Zustand in allen seinen Gesichten und Gestalten — faces — zu beobachten, und die wissenschaftlich geschult

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Gesellschaftsformer: Saint-Simon: Zwei Geschichtssysteme.

wären, Tatsachen zusammenzuordnen — coordonner —, um aus ihnen allgemeine Gesetze abzuleiten. Er macht der bisherigen Geschichtsforschung, d. h. der bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts betriebenen, zum Vorwurf, daß in ihr die Völker keinen anderen Anteil gehabt, als den, Werkzeuge und Opfer zu sein. Und er sagt von ihr, sie handle nur von den Werken der Schlauheit und der Gewalt. Und er nennt die Geschichte nicht unfein eine Biographie der Gewalt. Saint-Simon spricht ohne Neigung, soweit er von den Dynastien und ihren Ordnungen erzählt; er verspottet die Forscher, die Geschichte so schreiben, als handelte es sich um die Biographien der Herrscherhäuser1. Saint-Simons eigentliche und ihn stets vorwärts treibende Lebensgedanken galten der Planung und wenn möglich der Durchsetzung von neuen Ordnungen der Gesellschaft. Von ihnen darf hier nicht die Bede sein, da sie erstlich in lebendiger, vielfach sich wandelnder Entwicklung begriffen waren und zum zweiten recht nur dann begriffen werden könnten, wenn sie in ihrer sehr gliederreichen Einzelausführung wiedergegeben würden. In Saint-Simon aber war doch auch ein zweiter Drang fast ebenso mächtig: der nach der geschichtlichen Erklärung aller der gesellschaftlichen Ordnungen, deren Bau und Zukunft ihn beschäftigten. Und mit ihm sich zu befassen und auch die Geschichtslehre zu ergründen, die Kern und Ziel von Saint-Simons werktätiger Geschichtsforschung bildet, das ist eher, wenigstens in den Umrissen, die Aufgabe der hier zu gebenden Darstellung. Gerade weil Saint-Simon ein so feuriger und schaffensfreudiger Geist war, ist um so denkwürdiger, daß er und er wohl allein in der ganzen Reihe der hier in Betracht gezogenen schöpferischen französischen Geschichtslehrer2 sich *) L'Organisateur (Oeuvres de Saint-Simon et d'Enfantin X X [1869] 70ff.). 2 ) Die Meister der entwickelnden Geschichtsforschung (1935) 60-137.

Lebensplanung; Entstehung' des alten Systems.

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auf einen Vorgänger als sein Vorbild beruft : auf Condorcet, und dies, obwohl zwischen beiden, dem nüchternen Ordner dort, dem sprudelnden, stets neue Gedanken schaffenden Feuerkopf hier, ein außerordentlicher Unterschied der geistigen und mehr noch der seelischen Anlage bestand. In Condorcets Sinne fordert er, gewiß mehr noch von sich als von anderen, eine Fortführung der von ihm begonnenen großen Réihe der «progrès successifs» des menschlichen Geistes. Die Absicht, die ihn dabei führt, ist zunächst eine rein geistige; er möchte der Geschichte allgemeine Beobachtungen abgewinnen, die sie, wie die Wissenschaften überhaupt, zum Bang von positiven Kenntnissen erheben. Aber es ist doch auch das werktätige Leben selbst; für das er tätig sein will ; die Beobachtungen, die er auf dem Wege der Wissenschaft erringen will, sollen der Staatskunst zur Grundlage dienen. Und der Name, den er seinem in Lieferungen erscheinenden Werke mitgab — l'Organisateur — betonte eigentlich nur diesen werktätigen Zweck, ja sprach von seinem wissenschaftlichen, geschichtlichen garnicht. Gleichwohl ist es zum Hauptteil geschichtswissenschaftlichen Darlegungen gewidmet. Für Saint-Simon, schon dies ist für ihn kennzeichnend, war nur die neueuropäische Geschichte wichtig, und er beginnt in der Übersicht, mit der er nach einer längeren gesellschaftswissenschaftlichen Einleitung sein Werk eröffnet, mit dem dritten und vierten Jahrhundert. Er befolgt damit die Einteilung, die schon für Voltaire maßgebend gewesen ist und die doch auch Turgot und Condorcet eingehalten hatten. Der entscheidende Gesichtspunkt für diese Abgrenzung ist nicht so sehr die Abscheidung der alteuropäischen Geschichte, sondern die Überzeugung, daß der eigentliche durchgehende Trakt der noch heute fortlaufenden Geschichte erst vom Umsichgreifen des Christentums zu rechnen ist. Saint-Simon hat im übrigen aber für das letzte Zeitalter eine ganz eigentümlich zwiegespaltene Sicht. Er unterscheidet zwei Systeme, als die er aber Zeiträume versteht. Das alte System datiert er vom dritten und vierten Jahr-

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Gesellschaftsformer: Saint-Simon: Zwei Geschichtssysteme.

hundert, welche Zeitgrenze er für das Schicksal der geistlichen Macht bestimmt. Es ist das Eindringen des Christentums, das diese Wendung herbeiführt und gleichzeitig mit ihm wird auch eine Umwälzung für die weltliche Macht herbeigeführt durch das Eindringen der Nordvölker in den Süden und durch die erste Erschütterung des römischen Reiches, die dadurch heraufbeschworen wird. Im 11. und 12. Jahrhundert verbinden sich die zwei eindringenden Mächte: die Nationalmacht und der heilige Stuhl; um diese Zeit ist das Lehnswesen durchgeführt und die Autorität des Papsttums ist fest begründet. An diesen Feststellungen ist mehr als ein Gesichtspunkt sehr denkwürdig. Zunächst ist an der Geschichte der weltlichen Macht auffällig, daß nicht so augenfällige Umwälzungen des äußeren Staatenschicksals wie das Emporwachsen des römischen Reiches deutscher Nation oder der Kampf um die Staatseinheit Frankreichs hervorgehoben werden, sondern eine Tatsache der langsamen inneren Entwicklung, wie die Durchführung des Lehnswesens. Und daß ferner, in Anknüpfung an das Werk des Papstes Gregors VII., ein ebenso langsames und organisches Geschehen wie die Durchsetzung der Oberherrschaft des Papsttums als die wesentlichste Tatsache in der Entwicklung der geistlichen Macht hervorgehoben wird. Saint-Simon aber steigt von dieser Ebene einer großen Umwälzung im Bezirk der weltlichen wie der geistlichen Macht zu einem noch höheren Grade geschichtlichen Geschehens auf. Aus dem Tatbestande, daß beide Umwälzungen sich ungefähr zur gleichen Zeit vollzogen haben, schließt er zuvörderst auf ihren inneren Zusammenhang, selbst ohne die rein rationale Erwägung, daß sich beide Mächte aufeinander gestützt haben; demnächst aber auch des weiteren darauf, daß, da sie zusammen emporgekommen seien, auch von vornherein die Wahrscheinlichkeit gegeben war, daß sie auch zusammen dahinschwinden würden1. Diese !) L'Organisateur (Oeuvres XX) 80.

Geistliche und weltliche Macht; Zeitenwende: Kommune.

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Schlußfolgerung ist ein wenig a priori gefaßt, für SaintSimons Sehen aber sicher gegeben. Während aber dies alte, das mittelalterliche System zur Rüste ging, hat sich das neue System schon vorbereitet, das bereits im späten Mittelalter aufkam. Diese Zeitenwende datiert Saint-Simon vom Aufkommen der städtischen Kommune, während er den geistigen Umschwung, der sich zur selben Zeit vollzogen habe, mit dem Eindringen der positiven Wissenschaften der Araber zusammenfallen läßt. Das neue System, das sich zu dieser Zeit zwar gewiß noch nicht durchsetzte, aber vorbereitete, ist es nun, auf das SaintSimon den stärksten Nachdruck legt, vor allem insofern, als er von ihm auch meint, daß mit den Neuerungen, die damals aufkamen, die Tatbestände sich anmeldeten, von denen aus die Staatskunst seiner — von Saint-Simons — Gegenwart beleuchtet werden müsse. Damals habe die Zeit begonnen, in der sich die industrielle Tätigkeit, die der Künste und Gewerbe — la capacité industrielle ou des arts et métiers — schließlich an die Stelle der feudalen und der militärischen Gewalt setzen würde1. Der Zeitpunkt ist etwas früh und sicher zu früh angesetzt. Doch versteht man leicht, in welchem Sinne nun die beiden Systeme, das mittelalterliche und das der neueren, im Grunde der neuesten Zeit, des neunzehnten Jahrhunderts verglichen werden. Zwei Epochen unterscheidet Saint-Simon, eine, in der der Krieg als das beste Mittel des Gedeihens der Völker galt. Damals war es das Natürliche, daß die weltlichen Angelegenheiten sich in den Händen einer militärischen Gewalt befanden und daß die Industrie, die man als eine subalterne Tätigkeit ansah, nur als Werkzeug behandelt wurde. Andererseits, als die Gesellschaft sich davon überzeugte, daß das einzige Mittel, zu Reichtum zu gelangen, eine friedfertige Staatskunst sei, sei die Leitung der weltlichen Angelegenheiten in die Hände der Industrie über1

) L'Organisateur (Oeuvres X X ) 81.

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Gesellschaftsformer: Saint-Simon: Zwei Geschichtssysteme.

gegangen und die militärische Gewalt sei als subalterne angesehen, die vielleicht in Zukunft noch einmal ganz überflüssig werden würde. Dieser Zukunftstraum mag auch in der Zeit Saint-Simons weit mehr ein Wunschbild, denn ein in der nächsten Zukunft zu verwirklichendes Ziel gewesen sein; gleichwohl geht aus ihm hervor, was Saint-Simon für eine geträumte späte, vom Leben aber unverwirklichte Zukunft der Völker erstrebte. Es war ein Zielbild, das freilich wesentlich anders aussah, als das auch heute noch Saint-Simons Gesinnungsgenossen vorschwebende. Die Vorstellungen, die Saint-Simon mit der Zukunft seiner Zeit verband, haben sich als Träume erwiesen. In Hinsicht auf die geistliche Macht war SaintSimons Zukunftsplan ganz so, wie ihn zuvor Condorcet und später Comte entworfen haben, gestaltet, daß die bisher geistlich-kirchliche Leitung der geistigen Angelegenheiten von dem Zeitpunkt ab eine wissenschaftliche werden müBse, an dem alle unsere Kenntnisse sich allein auf Beobachtung gründen würden. Saint Simon hat in einer völlig originären und wahrhaft geistvollen Weise das Nach- und Ineinander der beiden Systeme — wie er seine Zeiträume nennt — geschildert. Er geht aus von dem Gedanken, daß das neue System, wie er den spätmittelalterlichen, aber auch neuzeitlichen Zeitraum nennt, zwar eigentlich erst im sechzehnten Jahrhundert deutlich hervorgetreten sei, aber schon vom 11./12. Jahrhundert, d. h. von dem Emporsteigen der Kommunen vorbereitet worden sei, wie denn auch die Kennzeichnung dieser Zeiträume als der militärisch-theologischen dieser Abgrenzung schon entspricht. Das Mittelalter, wenn nicht nur in den sichtbarsten Ausdrücken seine Weisen erforscht, wie es bisher Brauch war, weist deutliche Zeichen allmählich fortschreitender Vorbereitung des Neuen Systems auf. Luther kann als Umstürzer der geistlichen Macht angesehen werden; die Buchdruckerkunst war eine neue Waffe im Kampfe gegen das alte System; im sechzehnten Jahrhundert

Zukunftsbilder; Kämpfe beider Mächte; Spaltung und Ende. 109

fanden starke Erschütterungen der geistlichen, im siebzehnten solche der weltlichen Macht statt. Schon damals hätte man das Herannahen weiterer Erschütterungen voraussehen können1. Ganz so stark, wie es später Comte in seine Darlegungen aufgenommen hat, hebt Saint-Simon hervor, daß die Reformation auch das Verhältnis der Kirche zu der weltlichen Macht in den katholischen Ländern umwälzend bewirkt habe, die Kirche habe sich in den Dienst der Königsgewalt begeben, die sie doch zuvor beherrscht habe. Sie hat davon, so urteilt Saint-Simon, freilich den Gewinn gehabt, daß ihre Herrschaft noch für geraume Zeit verlängert wurde. Unmittelbar darauf, so fährt Saint-Simon in einer ungewissen Zeitberechnung fort, habe durch die Gemeinen in Frankreich und in England ein Angriff auf die weltliche Macht stattgefunden, zu dem sich die Gemeinen das eine Mal mit dem Adel gegen das Königtum — in England —, das andere Mal mit dem Königtum gegen den Adel verbunden hätten. Die »Gemeinen« seien der eigentliche Träger des Geschehens gewesen, da man doch zuvor Päpste, Könige und Adel als die Ausführer der Geschichte zu sehen gewöhnt gewesen sei. So seien weltliche und geistliche Macht ganz verschiedene Wege gegangen. Spaltung aber sagt ein Sinken zum Ende voraus, in diesem Fall also den endgültigen Verfall sowohl der geistlichen wie der weltlichen Macht — eine Weissagung, die freilich in beiden Stücken nicht in Erfüllung gegangen ist 2 . Die »Gemeinen« halten ihrer eigenen Schwäche wegen zu der ihren Interessen geneigteren Partei. Saint-Simon setzt hinzu, daß sie diesem bewunderungswürdigen Instinkte nicht zufällig, sondern einer lang erworbenen Gewohnheit gemäß folgten. In jedem Falle waren sie nun nicht mehr, wie in dem voraufgegangenen Zeitraum, die Werkzeuge, sondern die Angreifer des alten Systems3. L'Organisateur (Oeuvres XX) 89 f., 98 f. ) Ebenda 94. 3 ) Ebenda 95 f. a

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Gesellsohaftsformer: Saint-Simon: Zwei GeBchichtssysteme.

Es war, so meint Saint-Simon, ein großer politischer Irrtum Ludwigs XIV., sich mit dem Adel zu verbinden. Dieser ließ sich durch Ehren und Geld gewinnen und begnügte sich mit einer untergeordneten Stellung. Er schien ganz vergessen zu haben, daß er ehemals als ein ebenbürtiger Verbündeter neben der Krone hergeschritten war. Das Richtige wäre gewesen, wenn sich das Königtum mit den Gemeinen, mit den Kommunen wie ehemals verbündet hätte. Es hätte damit Ludwig XVI. ein trauervolles Schicksal ersparen können. Die geistig Großen dieses Zeitalters von Galilei und Newton bis zu Franklin und Voltaire wurden die Vollender des Sturzes des alten Systems1. Es war eine Notwendigkeit, daß die französische Revolution ausbrach; aber sie hat von Anfang an eine falsche Richtung eingeschlagen, als sie das Königtum stürzte, obwohl doch ein neues System noch nicht geformt war, das als Ersatz hätte an seine Stelle treten können; denn sie zerstörte die Königsherrschaft, ohne für sie einen rechten Ersatz zu haben. Dies ist ein Gedanke, der sehr einleuchtet, weil der Rückprall Napoleons — in den Cäsarismus, aber damit doch auch in die Einzelherrschaft — durch diesen »voreiligen Irrtum« der Revolution eigens verständlich wird. Günstig sieht Saint-Simon die Vernichtung der geistlichen und der Adelsmacht durch die Abschaffung der Adelsprivilegien und die Verleihung der vollen Gewissensfreiheit. Er billigt die Einführung der neuen Verfassung in vielen Staaten, er sieht mit Freuden die Fortsetzung der Zerstörung des alten Systems und die Schaffung eines Übergangs. Die Schlußfolgerung, die er wie einen Summenstrich unter das ganze Geschehen der Revolution zieht, ist: es ist nun Zeit für das neue System 2 . Wie stark in Saint-Simon der Entwicklungsgedanke mächtig war, wird an dieser Stelle seiner Darlegungen eigens sichtbar. Die zum kürzesten Umfang zusammengedrängte J J

) L'Organisateur (Oeuvres X X ) 103 ff. ) Ebenda 106f., 109f.

Notwendigkeit und Versagen der Revolution; Entwicklung.

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Übersicht, die er über die Zeit zwischen der Einführung des Christentums und der Revolution eröffnet hat, ist wahrlich so ganz von dem Leitgedanken der Entwicklungsgeschichte eingegeben, so ganz von dem Willen zur Herstellung von Längsschnitten bestimmt, in denen alle Einzelheiten zugunsten weniger Gesamtsichten zusammengepreßt werden sollen, daß von diesem Gesichtswinkel aus alles Wünschbare erreicht erscheint. Trotzdem empfindet Saint-Simon, da er bei der ersten Staffel des Gesamtzuges der europäischen Zivilisation in dem bisher zurückgelegten Zeitraum angelangt ist, die Nötigung, noch einmal den Blick rückwärts zu wenden und noch einmal zwingende Zusammendrängungen herzustellen. Er erklärt für notwendig, die Entwicklung dessen, was er das neue System nennt, zu überschauen und geht dabei wieder auf das elfte Jahrhundert als den Anfangspunkt, wenn nicht schon der Entwicklung selbst, so doch ihrer Vorbereitung zurück. Er sieht in diesem Zeitpunkt den Aufschwung der Fähigkeit zu industriellem und zu wissenschaftlichem Schaffen. Und er sieht von hier ab zwei Gegensatzpaare: das industrielle Vermögen — capacité —, das der militärischen Macht, und das wissenschaftliche Vermögen, das der geistlichen Macht entgegenwirkt. Beide neue Gewalten erwachsen außerhalb des alten Systems, von besonderen, also neuen Klassen getragen und insofern unabhängig von geistlicher und weltlicher Macht. Daher tragen sie das Gepräge der Opposition von Anbeginn1. Und um die entwicklungsgeschichtlich-chronologische Stellung des gegenwärtigen Geschehens einmal im ganzen recht zu kennzeichnen, setzt er als Rahmen und Grenzvorstellung fest, man möge sich den russischen Zustand von heute als den früheren Zustand unserer Völker vorstellen. Dieser Vergleich erscheint uns eigens zutreffend, weil wir ihn auf den Staat beziehen und bei ihm an die archaische Staatsx

) L'Organisateur (Oeuvres XX) 114.

112 Gesellsehaftslormer: Saint-Simon: Zwei Geschichtssysteme; kultur denken, wie sie damals noch für ein Jahrhundert unangetastet bestehen sollte und wie sie in der Geschichte unserer Völker in den Grundzügen etwa der Verfassung des merowingisch-karolingischen Königtums entsprach. Doch geht der Gedanke Saint-Simons nicht nach dieser Seite hin, sondern er erinnert daran, wie auch im heutigen Rußland, ganz wie im mittelalterlichen Europa, Handwerk und Künste noch der militärischen, die Wissenschaften aber der geistlichen Gewalt untergeordnet seien. Dieser Gegensatz zwischen Feudalstaat und Gewerbe, zwischen beobachtender Forschung und Theologie habe von Anbeginn bestanden. Es war kein vorbedachter Kampf, und überhaupt sei die Zivilisation nie von einem Genie konzipiert, auch nicht von der Masse angenommen worden. Das, meint Saint-Simon, sei nach der Natur der Dinge unmöglich. Die Menschen seien vielmehr nur Werkzeuge des obersten Gesetzes, des Gesetzes vom Fortschritt des menschlichen Geistes, das alles mitreiße und beherrsche. Dies Gesetz sei unsere wahre Vorsehung; wir können nichts tun als ihr gehorchen, uns den Weg klar machen, den sie uns vorschreibt, statt ihr blind zu folgen1. Selbst wenn eine Reihe von Ereignissen sich so aneinander schließt, daß es den Anschein hat, als sei es so von Menschen geplant worden, so ist doch solche Annahme keineswegs verstattet; es soll vielmehr nur das Augenmerk gerichtet werden auf jene Verkettung, jenes enchaînement der Ereignisse. Das ist eine Bemerkung, die zwar gewiß nicht den vollen Umfang menschlichen Geschehens umfaßt, aber sicherlich eine der gescheitesten Beobachtungen ist, die sich überhaupt über diese Dinge machen lassen — eine Kategorie von Äußerungen, die recht häufig bei Saint-Simon wiederkehrt. Das fortschreitende Geschehen der Geschichte sieht SaintSimon nur dann befördert, wenn man die Natur bewirke, damit sie dann ihrerseits, günstig für das Menschengeschlecht 1

) L'Organisateur (Oeuvres XX) 110.

Fügung durch Menschenwollen und Verkettung; Forderungen. 113

beeinflußt, diesem auf seinem Wege weiterhelfe. Darüber hinaus aber sei an dem ganzen Geschehen nichts zu ändern. Das Geschehen im Fortschreiten von Technik und Wissenschaft habe sich nie anders vollzogen und sei vollkommen gut so. Das aus der Gegenwart in die Zukunft hineinreichende Geschehen sieht Saint-Simon schon sehr weit fortgeschritten; wir können heute, da uns schon fünf Viertel eines Jahrhunderts von Saint-Simons chronologischem Standpunkt trennen, mit Bestimmtheit erklären, er sieht es um Vieles zu weit gediehen. Denn in der Tat ist die Staffel der Entwicklung, die er als bereits zurückgelegt ansieht, noch heute nicht erreicht. So wenn er sagt, selbst die kriegerische Macht sei jetzt in Händen der Technik — was doch für das Jahr 1820 etwas verfrüht erscheint —; ja er spricht von einem durch bürgerlichen Fortschritt erworbenen politischen Fortschritt, was auch den Eindruck eines Voraneilens vor dem erreichten Standpunkt der Tatsachen macht. Immer wieder sieht er aber auch den entscheidenden Antrieb für den gesellschaftlichen Fortschritt im geistigen Vorwärtsarbeiten. Wie triumphierend sagt er im Rückblick, die Geburt der Naturwissenschaften habe sich unter den Händen von Bacon, Galilei, Descartes vollzogen. Zuerst die Astronomie, dann Physik, Chemie, Physiologie seien zu positiven Wissenschaften geworden. Nun müßten Philosophie, Moral und Politik den Zug schüeßen. Das sei das Einzige, was zum neuen Gesellschaftssystem noch fehle. Wer von heute her die Entwicklung übersieht, möchte sagen, daß so, wie Saint-Simon hier den Summenstrich zieht, im Grunde das Programm Comtes, wie er es schon in diesen selben Jahren — von 1819 ab, während Saint-Simons Organisateur 1820 erschienen ist — entworfen hat, vorweggenommen ist. Wie beider Werke sich teils überschneiden, teils überdecken, teils unberührt nebeneinander herlaufen, das festzustellen, wird erst die Aufgabe späterer wissenschaftsgeschichtlicher Einzelforschung sein. B r 6 7 > i g , Gestaltungen des geschichtlichen Entwioklungsgedankens.

§

114

Gesellschaitsformer: Saint-Simon: Politische Meinungen.

Saint-Simon sieht den beginnenden Kampf zwischen Geist und Macht. Aber seine ganze Seele ist auf Seiten des Geistes oder, wie er die Dinge sieht, auf Seiten der Wissenschaft: mit trotzigem Stolz proklamiert er die europäische Wissenschaft als die Heilige Allianz und unauflösliche Liga, stärker als der Bund der europäischen Bajonette 1 . Und er erklärt, daß die Einschränkung der Staatsmacht unerläßlich sei, um die Unterwerfung unter die gemeinsame Arbeit herbeizuführen. Zweites Stück. Die Politischen Meinungen zum Gebrauch neunzehnten Jahrhunderts.

des

Einmal hat Saint-Simon in einer sehr kurzen, aber inhaltlich sehr umfassenden Schrift, die er »Einige politische Meinungen zum Gebrauch des neunzehnten Jahrhunderts« genannt hat und die einer sehr späten Zeit seines Lebens, dem Jahre 1825, also dem Jahre seines Todes entstammt, einen Plan für die Form der menschlichen Gesellschaft, wie er sie wünschte, entworfen, ein Programm also der besten Gesellschaftsordnung. Zum ersten fordert er darin das größtmögliche Glück für den größten Teil der Gesellschaft durch Befriedigung ihrer wichtigsten Bedürfnisse. Zum zweiten die größtmögliche Aufstiegserleichterung für die Verdientesten und Wertvollsten, gleichviel in welcher Stellung sie geboren sind. Drittens: jedes Volk solle danach streben, in sich eine möglichst zahlreiche Bevölkerung und zugleich die besten Mittel, etwaigen äußeren Angriffen zu widerstehen, zu schaffen. Viertens: die Gesellschaftsform solle als die beste gelten, die als Ergebnis der von ihr geförderten Arbeiten die wichtigsten Entdeckungen und die größten Fortschritte in Zivilisation und Aufklärung hervorbringt. l

) L'Organisateur (Oeuvres X X ) 141.

Programm der besten Gesellschaftsordnung: Alt- und Neueuropa. 115

Man wird in diesem Zukunftsplan nicht wenig Banalitäten finden und einen Eudämonismus, der die wichtigste Frage, nach welchem Äusleseprinzip und auf welchen besten Wegen die Wertvollsten ausfindig gemacht werden sollen, ungelöst läßt und der — noch wichtiger — sich nicht mit Entschiedenheit dafür einsetzt, daß nicht das persönliche Glück, sondern das Höchstmaß des Wirkens die Entscheidung über die Wegewahl des Einzelnen zu treffen hat. Aber die Absicht der Aufstellung dieser vier Punkte ist nicht eigentlich eine programmatische, die Zukunft angehende, sondern die, einen Rahmen herzustellen für eine Vergleichung zwischen alt- und neueuropäischer Geschichte, oder, wie es in Saint-Simons eigener Sprache heißt, zwischen den griechisch-römischen und den mittelalterlichen Gesellschaftszuständen. Man begreift sogleich, daß dieser über lange JahrhunderteReihen fortreichende Vergleich als Versuch entwickelnder Forschung ein wissenschaftsgeschichtliches Ereignis höchsten Ranges ist. Erstlich werden hier über einen sehr weiten Zeitraum fort zwei große Geschehenszusammenhänge miteinander verglichen, zum zweiten aber handelt es sich um einen Vergleich zwischen alt- und neueuropäischer Geschichte, wie er sicher nach und zunächst Vico damals zum ersten Male durchgeführt worden ist, wie er aber auch — was sehr viel mehr sagen will — in allen den Zeiten, die seit Saint-Simon verflossen sind, niemals wieder mit Ernst und Einzelkenntnis angestellt worden ist. Der Schreiber dieser Zeilen darf vielleicht darauf aufmerksam machen, daß es außer seinen eignen in dieser Richtung weit ausgebreiteten Versuchen zu einer ins Einzelne getriebenen vergleichenden Untersuchung nur ein einziges Mal bei Gelegenheit einer Nebeneinanderstellung des römischen und des germanischen Privatrechts gekommen ist, die zu dem Zweck unternommen war, den zur Zeit der Rezeption teils geschichtlichen, teils damals gegenwärtigen Stand beider Rechte zu vergleichen und dabei die einzelnen Rechtsinstitute bis in die Details hin8*

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Gesellschaftsformer : Saint-Simon: Politische Meinungen.

ein aneinander zu messen1. Was aber an Forschungszielen heute allenfalls zu erreichen ist, bedeutete für Saint-Simon ein weit in die Zukunft vorwegeilendes Ausgreifen des Erkennens. Saint-Simon läßt seine Parallele bei der Stellung der Sklaven einsetzen. Er geht davon aus, daß sie bei Griechen und Römern völlig rechtlos gewesen seien, er erinnert an Tatsachen von ausschweifender Übertreibung dieser Rechtlosigkeit, wie die Helotenjagden, die die jungen Spartaner lediglich zu ihrem Vergnügen anstellten. Im Mittelalter, oder wie Saint-Simon es nennt, im Zeitalter der theologischen und feudalen Herrschaft, war wenigstens, so fährt Saint-Simon fort, der Herr eines Leibeigenen, den er an seinem Leibe gestraft hatte, gesetzlich gehalten, dessen Kinder nach den Sätzen eines Tarifs, der auch das Leben ihres Vaters umfaßte, zu entschädigen. Außerdem aber schützten die Vorschriften der Sittlichkeit und der Religion den Leibeigenen und den Hörigen, insofern sie festsetzten, daß vor Gott alle Menschen gleich seien. Auch waren bei Griechen und Römern die Herren in ihren Städten, wo sie allein Waffen trugen, vor Angriffen der Sklaven sicher, während im Mittelalter die Herren, die auf dem Lande allein auf ihren Sitzen saßen, einigermaßen durch die Furcht vor etwaigen Rachetaten zurückgehalten wurden. Der Schluß, den Saint-Simon aus diesen Tatbeständen zieht, ist, wie begreiflich, der, daß die Lage, in der sich die große Mehrheit der Menschheit befand, wesentlich weniger unglücklich unter der theologisch-feudalen Herrschaft als unter der der Griechen und Römer war2. Saint-Simon fährt fort, indem er einen Vergleich zwischen der sozialen Schicht anstellt, der die herrschenden Klassen x

) Vergleiche die Abhandlung: Recht und Gericht im Jahre 1500. Eine vergleichende sozialgeschichtliche Skizze (Zeitschrift f. Sozialu. Wirtschaftsgeschichte, hrsg. v. Bauer u. Hartmann, Jg. 6 [1898] S. 239-278 u. Jg. 7 [1900; H. 1—3 ausgeg. 1899] S. 131—182. *) Quelques Opinions Philosophiques (Oeuvres X X X I X ) 59.

Die herrschenden Klassen; Klerus nnd Plebejertum.

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in den beiden Geschichtsreihen angehörten. Bei den Alten, so sagt er, waren es fast ausschließlich Patrizier, denen die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten zufiel; er stellt dem die Lage der Plebejer gegenüber. Man findet ihn hier freilich ganz außerordentlich nachlässig in der chronologischen Behandlung dieses doch wahrlich wichtigen Gegenstandes. Er schildert einen Zustand, der allenfalls dem zwischen beiden Ständen obwaltenden Rechtsverhältnis in den ersten Zeiten ihrer Kämpfe, also etwa im sechsten Jahrhundert, nicht aber mehr dem Zustand des fünften und gar nicht dem des vierten Jahrhunderts entspricht. Doch wird man diesem Kunstfehler um so weniger entscheidendes Gewicht beilegen, als Saint-Simon doch wenigstens in Hinsicht auf die Anfangszeiten des ständischen Gegensatzes das Richtige trifft. Die Regierenden waren die Alten; ihr Einfluß wurde vermehrt durch Erbrücksicht. Hierin mag man ihn gewähren lassen; völlig falsch aber wird sein Sehen, wenn er sagt, daß die Plebejer keine Aufstiegsmöglichkeiten gehabt hätten, da das Geschehen zwischen beiden Ständen doch dieses war, daß nicht nur sehr viel einzelne Plebejer, sondern sogar der ganze Stand zu dem Patriziat aufrückte und zu einem Teil geradezu einen Stand mit ihm bildete. Unumstößlich dagegen ist, was er von der geistigen Macht sagt: daß sie eine demütige Hilfskraft der weltlichen gewesen wäre. Zu einem schroffen Gegensatz steigert Saint-Simon auch hier das Verhältnis zwischen Antike und Mittelalter: er untersucht das Verhältnis der Geistlichkeit zu den Ständen. Er findet, daß im Mittelalter die geistlichen Ämter vornehmlich in den Händen von Plebejern gewesen seien, daß die Geistlichkeit einen großen Einfluß auf die Aufhebung der Leibeigenschaft gehabt habe. Und er betont mit unzweifelhaftem Recht, daß dieser plebejische Klerus bei der Verbreitung der Bildung, bei der Erhaltung aller Wissenschaft die entscheidende Rolle gespielt habe, ja in der Zeit von Gregor VII. bis zu Luther der einzige Pfleger der Wissenschaft gewesen sei. So wenig dies zutrifft angesichts

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Gesellschaftsform er: Saint-Simon: Politische Meinungen.

der außerordentlichen Förderung, die Wissenschaften und Künste durch die wesentlich dem Adel angehörende hohe Geistlichkeit erfahren haben, so wichtig ist doch die Betonung dieses Zusammenhanges zwischen ständischen und geistigen Dingen1. Einen dritten Vergleich zieht Saint-Simon zwischen dem seelisch-politischen Verhalten von Antike und Mittelalter in Hinsicht auf die Behandlung fremder Völker. Er hebt hervor, wie hart und grausam das Verhalten der Römer zu allen Völkern außerhalb ihres Reiches war und vergißt auch nicht, daran zu erinnern, daß die Griechen Namen und Begriff des Barbarentums geschaffen hätten. Er wirft den beiden Völkern vor, daß sie sich als Feinde des Menschengeschlechts angesehen hatten. Saint-Simon geht aus von den Verhältnissen der Bevölkerungszahl und macht darauf aufmerksam — es sei dahingestellt mit welchem Recht — daß die Volkszahl der Römer zwar sehr viel größer als die der Griechen gewesen sei, doch niemals mehr als eine halbe Million Seelen betragen habe. Da die Losung der Römer für ihr Verhalten zu allen Nichtrömern nur »Ketten oder Tod« gewesen sei, so sei der Haß der Völker gegen sie immer mehr gewachsen und sei, je mehr sie eroberten, stets größer geworden. Dadurch aber sei ihr Untergang um so sicherer geworden. Diese Darlegung ist voll von geschichtlichen Fehlern: denn welche Volksgeschichte weist sonst noch einen Kreis so mannigfaltiger und verschiedener Volkstümer auf, der mehr als ein halbes Jahrtausend lang ohne alle Unterbrechung eine Zeit so stillen Friedens durchlebt hätte. Und auch der Untergang des römischen Reiches ist nicht durch den Rückstoß lang geplagter Rajahvölker, sondern durch den Vorstoß einer ganz jungen und völlig unverbrauchten Rasse zustande gekommen. Dagegen aber sei unter der Herrschaft des theologischfeudalen Systems und unter der Losung, daß alle Menschen x

) Quelques Opinions Philosophiques (Oeuvres X X X I X ) 62 ff.

Behandlang fremder Völker; geistige und politische Kräfte. 119

Brüder seien, ein schlechthin gegenteiliges Geschichtsgeschehen das Ergebnis gewesen. Saint-Simon berechnet — hier wohl in den entgegengesetzten Fehler verfallend — daß der in diesem System zusammengefaßte Völkerkreis sechzig Millionen Seelen betragen habe, während für ihn schwerlich mehr als zwanzig Millionen werden angesetzt werden dürfen1. Um so richtiger aber ist seine Behauptung, daß dieses in den mittelalterlichen Jahrhunderten herrschende theologisch-feudale System durch seine Losung des Bekehrens und des Einfügens sich aufs beste erhielt. Unter der Verkündung, daß alle Menschen Brüder seien, sei es nach außen wie im Innern gewachsen. Der von außen drohenden Angriffe habe es sich zu erwehren vermocht, habe die Sachsen sich einzugliedern, die Sarrazenen aber in langen Kriegen zu besiegen vermocht. Schon seit dem fünfzehnten Jahrhundert habe es keinen von außen kommenden Angriff mehr zu befürchten gehabt. Und noch eine vierte Betrachtung fügt Saint-Simon hinzu, die die geistigen, aber auch die politischen Fähigkeiten der Antike mit denen des mittelalterlichen Völkerkreises vergleichen soll. Wenn Saint-Simon sich daran begibt, die besonderen Fähigkeiten der Antike aufzuzählen, so ist man einigermaßen erstaunt, auch ihr technisches Vermögen in vorderster Reihe gerühmt zu sehen. Die alten Völker seien die ersten gewesen, die die Werkzeuge erfunden hätten, vermittelst welcher das Menschengeschlecht imstande gewesen sei, große technische Arbeiten auszuführen. Sie hätten, so legt er dar, die Sprachen, die Schrift und die Zahlen erfunden, eine geschichtliche Meinung, die eine sehr viel lokaler begrenzte Bedeutung hatte, als Saint-Simon — allerdings doch schon nach den ägyptischen Entdeckungen — l

) Das Reich Karls des Großen wird von einem guten Sachkenner auf 20 Millionen Seelen veranschlagt. (Albrecht Wirth, Volkstum und Weltmacht [1901] 162f.). Doch soll all diesen ungefähren Schätzungen durchaus keine endgültige Bedeutung zugeschrieben werden.

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Gesellsohaftsformer: Saint-Simon: Politische Meinungen.

Bich träumen lassen konnte. Doch gelangt er mit den nächsten Sätzen zu einer höheren Ebene und zu weiteren Sichten seines geschichtlichen Sehens. Er erklärt mit knappen, aber siegreichen Worten, daß die Völker der Antike die schönen Künste erfunden und dann zu einem nie sonst erreichten Grad der Vollendung entwickelt hätten. Er rühmt die antiken Völker, daß ihre Bildnerkraft, soweit sie unmittelbar auf die Sinne wirke, die höchste Meisterschaft erreicht habe. Und man müsse, so fährt er fort, zugestehen, daß auch alle späteren Völker den Grad der Vollkommenheit der Antike nie erreicht hätten 1 . Aber, und dies ist nun die entgegengesetzte Aufstellung, die Saint-Simon zu vertreten gedachte: auch den mittelalterlichen — wir würden hier lieber sagen germanischen — Völkern fehlt es nicht an Gegengewichten, die einzelne ihrer Überlegenheiten hervortreten lassen. Wenn Saint-Simon gegen die Antike die Fähigkeiten des neuen, d. h. des germanischen Systems setzen will, so ist er doch auch hier von dessen Vorzügen erfüllt. Für vertiefte Beobachtungen, für weit ausgebreitete Berechnungen, für abgezogene, abstrakte Gedanken, für die Erkenntnis der Gesetze, die die Naturerscheinungen regieren, sind die Völker der Antike in ihrer Kindheit geblieben. Die physikalischen und mathematischen Wissenszweige sind ihnen fast ganz unbekannt geblieben. Daß die Sonne größer sein könnte als der Peloponnes, erschien ihnen als ein ausschweifender und absurder Gedanke. Und etwas verwunderlich, wenn nicht geradezu unbillig, sind die Vorwürfe, die er ihnen im Moralischen macht: die Grundsätze ihrer Sittenlehre hätten nur theoretischen Wert gehabt; sie hätten sich nie die Mittel ausgedacht, diese Sätze auf die werktätige Staatskunst anzuwenden2. Die Stäatskunst der antiken Völker beschränkt sich darauf, sich gegenseitig zu hassen, sich anzusehen als geborene und *•) Quelques Opinions Politiques (Oeuvres X X X I X ) 68. 2 ) Ebenda 69.

Vorzüge des neuen Systems, Fortschreiten in Politik und Moral. 121

unversöhnliche Feinde. Es hat ihnen viel Mühe gekostet, bis die Staaten einsahen, daß es fiir keinen von ihnen möglich sei, alle anderen zu beherrschen. Gar nicht aber kamen sie auf den Gedanken, daß sie den Anderen die Vorstellung einflößen könnten, daß es ein gemeinsames Interesse für sie gäbe, sich zu vereinigen und ihr Glück gegenseitig zu befördern. Die Kriegerklasse ist den antiken Völkern — so fährt Saint-Simon fort — immer als die erschienen, die für alle Zeit zu herrschen habe. Die wirtschaftlichen Tätigkeiten galten ihnen als erniedrigend, und schon aus diesem Grunde war eine zahlreiche Sklavenklasse unentbehrlich, nicht ohne daß doch auch politische Gründe dafür bestanden. Sie hatten keine andere gesellschaftliche Ordnung als die der aristokratischen Gewalt, nur nach dem Recht der Geburt. Saint-Simon unterscheidet drei Klassen: Herren, die Sklaven hatten; Herren, die keine Sklaven hatten, und Sklaven. Da aber die Arbeit, die doch getan sein mußte, als erniedrigend galt, so wurden die Herren ohne Sklaven abhängig von den Sklaven haltenden. Die geistige Macht wurde als abhängig von der weltlichen angesehen. Eine geistige Gewalt, die der weltlichen übergeordnet gewesen war und die das beste Mittel gewesen wäre, um den Fortschritt der Zivilisation zu beschleunigen, war ihnen völlig unbekannt. Die Europäer des Mittelalters haben sich auf den zuletzt von der Antike erreichten Standpunkt gestellt und sind von da aus weiter fortgeschritten. Nur von den schönen Künsten waren sie der Meinung, daß ihre Vorgänger sie genügend weit getrieben hätten und haben sich nicht damit beschäftigt, sie weiter zu vervollkommnen; sie haben vielmehr alle ihre Kräfte auf das System ihrer Moral und ihrer Politik gerichtet. Die Antike hat zuletzt wohl das Christentum geschaffen, aber sie hat seine Vorschriften durchaus nicht auf die Politik angewandt; gerade umgekehrt, so ist SaintSimons Meinung, habe das Mittelalter seine gesellschaft-

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Gesellschaftsformer: Saint-Simon: Politische Meinungen.

liehe Ordnung auf die Grundsätze des Christentums aufgebaut1. Drei Formen hätten, so nimmt Saint-Simon an, die höchstbefähigten Europäer in diesem Zeitalter ausgebildet; in der Zeit vom Beginn des neunten bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts hätten sie sich lediglich mit der Ausbildung der gesellschaftlichen Ordnung befaßt. Sie sollte das Los der Leibeigenen erleichtern und die völlige Abschaffung der Leibeigenschaft vorbereiten. Um diese Zeit war der Klerus, insbesondere das Papsttum, im Besitz großer Reichtümer: auch dies aber war nötig, um die geistige Macht der Geistlichkeit aufrechtzuerhalten. Andere Umwälzungen traten hinzu: das Bürgertum — oder wie Saint-Simon es in diesem Zusammenhang nennt, das Plebejertum — schlug zwei Wege ein, um sich weltliche Macht zu verschaffen: den einen, indem es neue und verschiedene Zweige der Industrie in Angriff nahm, den anderen, insofern es dem Klerus angehörte, indem es die mathematischen und physikalischen Wissenschaften betrieb, aus denen allmählich ein wirtschaftlicher Gewinn erwachsen konnte. Daraus geht hervor, daß aus dem Dasein und der Tätigkeit des Klerus der Gesellschaft bis zum fünfzehnten Jahrhundert noch gewaltiger Nutzen entstand. Für Saint-Simon ist Roger Bacon der Vertreter dieser Konstellation: er sagt, Roger Bacon ist der größte Physiker dieses Zeitalters und Roger Bacon war Mönch2. Saint-Simon ironisiert die Literaten von heute, die vom Klerus behaupten, daß er das Haupthindernis der heraufkommenden Zivilisation gewesen sei, während er in Wahrheit ihr Vorwärtsschreiten so sehr gefördert hat, wie kein anderer Faktor im Volk. Als auf ein sohlagendes Beispiel beruft sich Saint-Simon auf die Erfindung des Kompasses, durch den die Entdeckung Amerikas möglich geworden sei. Sie aber, und für diese Bemerkung möchte man ihm tausendfältig danken, sieht er nicht allein unter dem ') Quelques Opinions Politiquea (Oeuvres X X X I X ) 72. ') Ebenda 77.

Entdeckungen, Erfindungen; Wertung des 15. Jahrhunderts. 123

Gesichtswinkel geographischer oder geopolitischer Nützlichkeiten, sondern er sieht sogleich um vieles weiter, indem er sagt, diese Entdeckung habe auf das System der Ideen den glücklichsten Einfluß gehabt. Und er belegt diese Äußerung mit dem Hinweis darauf, daß durch diese Entdeckung den Menschen der Glauben genommen sei, daß das Weltall um des Menschen willen und für den Menschen geschaffen worden sei. Er spricht dann von den ersten technischen Verbesserungen am Kupferstich, durch die man zur Erfindung der Buchdruckerkunst gelangt sei. Saint-Simon spricht mit schöner, warmer Begeisterimg von dem bewunderungswürdigen fünfzehnten Jahrhundert, das alle diese Vorbereitungen traf1. Kein fühlender Verehrer unserer höchsten deutschen Kunst, der Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts, wird ohne die tiefste Bewegung vernehmen, daß Saint-Simon — nicht zuletzt um der Kunst willen — gerade dieses Jahrhundert auf das höchste preist. Zuerst rühmt er von ihm, daß es das Jahrhundert der generellen Menschen sei, der »hommes généraux«, der ersten, die je gewesen seien. Dieses Jahrhundert habe die schönen Künste neu belebt und zugleich die hohe Moral der christlichen Lehre von Alexandria — unter der er wohl die Gesamtheit der Väter versteht. Denn das neue Christentum habe diese Moral von allen den Herabminderungen befreit, die ihr der Katholizismus zugefügt habe, und sie zugleich von allen den Schlacken des Aberglaubens gereinigt, durch die man sie verunstaltet hätte. Man habe aber auch alle die Überzeugungen beseitigt, die im Widerspruch ständen zu den inzwischen gemachten naturwissenschaftlichen Entdeckungen. Die Größe der Leistung dieses zum Glück auch noch in der einsichtigen heutigen Meinung hohen Jahrhunderts sieht er vornehmlich darin, daß es alle diese Fähigkeiten in sich vereinigt hätte: die zum generellen Leben, die zu hoher Kunst, die zu einer von 1

) Quelques Opinions Politiques (Oeuvres XXXIX) 79 f.

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Gesellschaftsform er: Saint-Simon: Politische Meinungen.

Schlacken gereinigten Moral und endlich die zur Ausübung der Naturwissenschaften. Er macht als einen besonderen Ruhm geltend, daß die Obersten im Volk seine wahren Führer gewesen seien. Die Mediceer, diesen Trumpf spielt er aus, seien alle Kaufleute und Industrielle gewesen. Er faßt seine Meinung dahin zusammen, daß er sagt, im fünfzehnten Jahrhundert sei das Szepter der Welt übergegangen an den gesunden Menschenverstand und den Gemeinsinn — dans les mains du ben sens et du sens commun. Und in schöner Steigerung seiner Bewunderung sagt er, das fünfzehnte Jahrhundert sei das ruhmwürdigste von allen Zeitaltern der Vergangenheit des menschlichen Geistes gewesen; alle Werke, die dieser Geist früher vollbracht habe, erschienen nur wie Vorbereitungen und Vorläufer für diese größte der Zeiten. Man habe den Eindruck, als wären alle großen Menschen, die je dagewesen sind, aus ihren Gräbern aufgestanden und hätten sich zu einer Körperschaft zusammengeschlossen, um darüber zu beratschlagen, wie man alle Fähigkeiten des menschlichen Geistes vereinigen könne, um den Weg zum Glück des Menschengeschlechts ausfindig zu machen. Man wird den Wert dieser Einstellung zum fünfzehnten Jahrhundert kaum überschätzen können. Einmal nämlich ist für die Weglehre der Entwicklungsgeschichte an sich von hoher Bedeutung, daß Saint-Simon überhaupt die Kennzeichnung des Ranges für ein Jahrhundert so bestimmt ausspricht. Wollte man, was hier gewiß nicht geschehen soll, eine Übersicht eröffnen über die Charakterisierungen ganzer Jahrhunderte, so würde man vor allem feststellen müssen, daß eine solche Keimzeichnung erst außerordentlich spät eingetreten ist. Sie ist bis auf den heutigen Tag noch keineswegs weithin durchgeführt: am ersten ist wohl das achtzehnte Jahrhundert zu einer solchen Auszeichnung emporgestiegen, viel später erst das neunzehnte, das heute schon in Ehre und Schande stark abgestempelt ist. Die ungefähr ähnlichen »Zeitalter« der Reformation, der Gegenreformation,

Die Charakterisierung von Jahrhunderten.

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der Aufklärung sind nachgefolgt. Aber über diese Reihe fort hat sich noch heute nicht eine solche Namengebung durchgesetzt. Zum zweiten ist nun aber die besondere Heraushebung dieses, des fünfzehnten Jahrhunderts schlechthin als eine wissenschaftliche Tat ersten Ranges zu bewerten. Ein nächstliegender Maßstab, die heutige Durchschnittsmeinung der Geschichtswissenschaft, versagt hier ganz. Man wird wohl sagen dürfen, es ist noch nie einem Forscher der Gedanke gekommen, dieses Jahrhundert überhaupt als ein charakterisiertes anzuerkennen. Wer aber, wie der Schreiber dieser Zeilen, voll von dem Gedanken ist, daß in der deutschen nicht nur, nein auch in der europäischen, d. h. also auch in der italienischen Kunst das fünfzehnte Jahrhundert einen höchsten Gipfel darstellt, muß Saint-Simons Wertung als eine aus der Tiefe geschichtlichen Verstehens emporgedrungene Einsicht anschauen. Viele der Gedankengänge, die Saint-Simon zum Ziele dieses Ergebnisses führen, sind von großer Feinheit. Schon war davon die Rede, wie Saint-Simon, wenn er der technischen Erfindungen und unter ihnen derjenigen des Kompasses gedenkt, weit entfernt bleibt von allen utilitaristischen Begründungen, und wie er nicht von den hier nächstliegenden Erweiterungen des Erdbildes spricht, sondern von dem rein geistigen Geschehen der Überwindung der Einbildung, daß Erde und Menschheit die Mitte der Welt darstellten. Wann wäre wohl im neunzehnten Jahrhundert ein Geschichtsschreiber zuerst auf diese Vorstellung verfallen ? Und wie hoch muß man Saint-Simon anrechnen, daß er mit stärkster Betonung eben dieselbe Geistlichkeit, die ihm als Aufrechterhalter des Glaubens sehr unwert ist, gegen alle Feindseligkeit der herkömmlich freisinnigen Geschichtsanschauung in Schutz nimmt, weil sie an sich alle Fortschritte des Geistes befördert habe. Geistig fein ist er noch, wenn er die Technik der Buchdruckerkunst auf den Kupferstich, als auf ihr Ursprungsgebiet, zurück-

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Gesellschaf tsformer: Saint-Simon: Politische Meinungen.

führt: mit wie stiller, sorglicher Hand ist gerade diese Wahl getroffen. Kopernikus und Luther werden gepriesen als die Auflöser des päpstlichen Glaubens. Aber sogleich geht Saint-Simon in dem eigentümlichen System des Wechsels zwischen Geist und Tat zu den Dingen des Staates über. Er rühmt den Bund, den das handel- und gewerbetreibende Bürgertum mit dem Königtum schließt. Durch diesen Bund, so lobt er, habe das Königtum die Möglichkeit erlangt, sich der politischen Gewalt zu bemächtigen, die sich bisher in der Hand des Adels befunden habe1) — eine Beobachtung, die, so gewiß sie einen bekannten Tatbestand umschreibt, doch eine Schlußfolgerung zieht, die uns fremd ist und die uns deshalb bereichert. Er nennt aber auch unter den Mitteln, mit denen das Bürgertum dem Königtum zu Hilfe gekommen sei, die Hilfeleistungen der Forscher und der Künstler, die durch ihre Beweisführungen — der Wissenschaft — und ihre Vorführungen — der Künste — den Glauben der Völker an die abergläubischen Vorstellungen erschüttert hätten, die Vorstellungen, auf die die Päpste ihre Allgewalt gegründet hatten. Im Austausch gegen diese Dienste hatten die Könige den Forschern und Künstlern ihren Schutz gewährt auf eine ganz neue Weise: durch ihre Organisierung in Akademien für die Wissenschaften und für die Künste. Auch dies eine Beobachtung von neuem und hohem Wert, die noch bereichert wird durch die Bemerkung, daß bei diesem Geschehen die Mitwirkung der Geistlichkeit durchaus ausgeschlossen blieb und daß, wie Saint-Simon — nun freilich wieder etwas utilitarisch — erklärt, die öffentliche Geltung völlig auf die der Gesellschaft nützlichsten Werke sich konzentriert hätte. Einen letzten Abschnitt widmet Saint-Simon dann den Jahren 1789 bis 1793 mit der Überschrift: Über die Ver*) Quelques Opinions Politiques (Oeuvres X X X I X ) 88.

Forscher, Künstler; Reorganisation der Gesellschaft.

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suche zur Reorganisation der Gesellschaft; schon die Überschrift läßt erkennen, daß er nicht aus einer Geschichtsgesinnung heraus geschrieben ist, die in der Revolution den Abschluß oder den Beginn eines ganzen Zeitalters, ja nur einen ganz tiefen Einschnitt sah. Und ähnlich zum Nachdenken stimmt die Wahl des Schlußjahres, die als nicht völlig einschneidend auffällig genug ist. Der 9. Thermidor des Jahres 1794, der Sturz Robespierres, würde viel mehr einleuchten. Saint-Simon beginnt seine Schilderung der Revolutionszeit mit einem scharfen Tadel, den er gegen einen ihrer Leitgedanken ausspricht: gegen den Versuch, die Sitten und Einrichtungen der Griechen und der Römer auf unsere Zeit zu übertragen. Von seiner Kritik Kenntnis zu nehmen, verlohnt sich vor allem um deswillen, weil aus ihr sich die Grundmeinung Saint-Simons über das Verhältnis zwischen dem neu- und alteuropäischen Weltalter erkennen läßt, und sie ist der Geschichte der Alten nicht allzu günstig. Er sagt, wohl mehr spöttisch als ernst gemeint, man hätte dann, wenn man diesen Versuch hätte durchführen wollen, neunzehn Zwanzigstel der Bevölkerung wieder in die Sklaverei zurückführen müssen; man hätte aus allen Herzen die hohen Grundsätze reißen müssen, die das Christentum ihnen eingegeben hatte, und man hätte die Bevölkerungszahl aller europäischen Völker auf einen Umfang zurückführen müssen, der ihnen erlaubt haben würde, sich in ihrer Gesamtheit auf dem Marktplatz einer einzigen Stadt zu versammeln. Das Unterfangen würde zu einer ähnlichen Narrheit geführt haben, wie wenn man versucht hätte, einem erwachsenen Mann Kinderkleider anzulegen — ein krebsgängiger und somit ein falscher Versuch1. Der zweite verkehrte Versuch war der Napoleon Bonapartes, das Jahrhundert Karls des Großen wieder zu bel

) Quelques Opinions Politiques (Oeuvres X X X I X ) 93.

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Gesellschaftsformer: Saint-Simon: Politische Meinungen.

leben, ein Versuch, der nur insoweit ein etwas weniger verkehrter war, als diese Rückschraubung — la retrogradatkm, — etwas weniger stark war. Was im Fall Karls die Konzeption eines Genies war, war in dem seines Nachahmers Napoleon Bonaparte die philosophische Unfähigkeit, aufrechterhalten durch ein großes Talent und einen festen Willen. Der dritte Versuch war die Einführung der englischen Verfassung auf dem Festland. Der Fehler, der damit begangen wurde, war geringer als die ersten beiden, aber er war doch ein Fehler. Denn dieser Versuch, der schon ein Jahrhundert im Gange war, war seit langem, so meint Saint-Simon, überholt durch die Verfassungsänderungen der Franzosen. Und auch einen inneren Fehler hatte die englische Verfassung: sie verschaffte dem Königtum durch Vermittlung des Adels die Herrschaft; dies aber sei dem Entwicklungsgang der Zivilisation — wie Saint-Simon ihn dargelegt hatte — entgegengesetzt gewesen. Der vierte Versuch aber, der ins Werk gesetzt wurde, war nicht — wie alle anderen, bisher besprochenen — ein mißlungener, sondern ein höchst glücklicher und gerechter. Es war — man höre und staune — der Versuch der Heiligen Allianz. In dieser Meinung zeigt sich auf das unverhüllteste die starke, ja eigentlich großartige Vorurteilslosigkeit SaintSimons. Keine liberale, keine demokratische Staatsauffassung hat je vermocht, die Heilige Allianz unbefangen und deshalb richtig zu beurteilen. Sie sind nie über die Verwerfung dieses Bundes, der in Wahrheit der großartigste und der völlig neuartige Zusammenschluß der europäischen Staaten zu einem Staatenbund gewesen ist, fortgekommen, nur deswegen, weil Metternich und die anderen Stützen der alten Staatenordnung seine Stifter und Aufrechterhalter waren. Daß hier der Grundfehler begangen wurde, einen großen Tatbestand der auswärtigen Staatskunst nur deshalb zu verwerfen, weil seine Begründer und Verteidiger eine innere Staatskunst vertraten, die den Beuxteilern um ihrer

Heilige Allianz; Notwendigkeit einer neuen Enzyklopädie.

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eigenen Staatsauffassung willen verhaßt war, das hieß doch nur, daß man noch nicht zu einer Höhe politischer Einsicht vorgedrungen war, die etwa die englische Staatskunst schon seit mehr als einem Jahrhundert erreicht hatte. Im stärksten, ja man möchte sagen schöpferischen Gegensatz zu solchen lahmen Konventionalitäten geht Saint-Simon in seiner Würdigung der Heiligen Allianz so weit, daß er von ihr rühmt, sie habe für Europa das wertvollste seiner sozialen Güter errungen; ihre Begründung sei die natürliche Folge von allen bisher gewesenen Vorstufen der Zivilisation und — aus Saint-Simons eigenstem Gesichtskreis gesehen und in einer jedenfalls den marktgängigen Kritiken der Heiligen Allianz denkbar entgegengesetzten Urteilsweise — zugleich das wirksamste Mittel zur Überwindung des feudalen und zur Herbeiführung des industriellen Systems 1 gewesen. Den Beschluß aller dieser Abschnitte, die ja dem handelnden geschichtlichen Geschehen gewidmet sind, macht eine Darlegung, die wiederum dem Geist zugewandt ist, dies allerdings auch in dem Sinne, daß von ihm als einem Helfer und Vorbereiter für das zu wirkende Werk in Staat und Tat die Rede ist. Eine neue Enzyklopädie, so ruft Saint-Simon aus, müsse erstehen, um eine soziale Reorganisation herbeizuführen. Saint-Simon preist die alte Enzyklopädie auf das höchste: sie sei es eigentlich gewesen, durch die die große Revolution vorbereitet und möglich gemacht worden sei. Und damit nun der gegenwärtigen Staatskunst die gleiche Förderung durch ein ähnliches Werk des Geistes zuteil werde, will er ein Seitenstück zu jener alten Enzyklopädie schaffen, und er beruft sich sehr weltklugerweise auf den mächtigsten unter den drei führenden Monarchen der Heiligen Allianz, auf den Zaren Alexander I. Er habe im Polnischen Reichstage erklärt, daß zwar keinerlei gewaltsame Versuche zur Heri) Quelques Opinions Politiques (Oeuvres XXXIX) 99. B r e y s i g , Gestaltungen des gesoblchtliohen Entwioklangagedankens.

9

130 Gesellschaftsformer: Saint-Simon: Wissenschaft vom Menschen.

Stellung eines neuen sozialen Zustandes in Europa gemacht werden dürften, daß seine Regierung aber alle neuen Pläne zur Schaffung eines solchen Zustandes sorgfältig prüfen solle. Auf diesen Appell an die Philosophen von Europa müsse von ihnen eine Antwort erteilt werden. Und Saint-Simon schließt mit einem solchen Bescheid an den Zaren wie an alle Könige von Europa. Seine Darlegung klingt aus in eine Huldigung an den europäischen Monarchismus, in mancherlei, wenn auch gewiß nicht in völligem Widerspruch zu früheren Einzeläußerungen Saint-Simons.

Drittes Stück. D i e D e n k s c h r i f t Über die W i s s e n s c h a f t vom Menschen. Die Denkschrift, die Saint-Simon über die Wissenschaft vom Menschen entworfen hat, ist voll von eigens wertvollen Bemerkungen, obwohl Saint-Simon in dieser Niederschrift von 1814 wirklich nicht ein Buch, sondern eine Denkschrift vorlegen wollte, durch die er den von ihm besonders hochgeschätzten Forschern, denen er sie überreichen wollte, die von ihm gefaßten sehr allgemeinen Gedanken ans Herz zu legen wünschte. Saint-Simon geht aus von einem wertenden Vergleich der geistig führenden Völker in Europa. Für ihn kommen lediglich in Betracht Engländer und Franzosen, von deren Rivalität er ausgeht, ohne irgendeines anderen Volkes, auch der Italiener und der Deutschen nicht, zu gedenken. Wie frei von allen Vorurteilen er aber dabei zu Werke geht, ergibt sich aus der von ihm sofort getroffenen Entscheidung über den Wettstreit zwischen diesen beiden Führervölkern: er reicht ohne alles Bedenken nicht dem eigenen, sondern dem fremden Volk die Palme. Bacon, Newton und Locke

Der Fortschrittsgedanke; Einheit der Universalgeschichte.

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sind in seinen Augen so sehr die Begründer aller modernen Geistigkeit, daß alle Franzosen, die nach ihnen aufgetreten seien, nur als ihre Kommentatoren angesehen werden könnten. Und selbst wenn man von der Ebene dieser höchsten Meister abwärts stiege zu den Forschern zweiter und dritter Ordnung, so finde man »diese Teufel von Engländern«, wie er gutmütig-spottend sagt, auch da in der Überlegenheit. Man weiß nicht, was hier die bewegende Ursache für ein so hohes Maß von Unparteilichkeit gewesen ist: die völlige nationale Unbefangenheit oder das Übergewicht einer Kulturpartei, der sich Saint-Simon zugeordnet gefühlt hat. Im ganzen ist Saint-Simon noch der Ansicht verschrieben, die die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts so ganz beherrschte: dem Fortschrittsgedanken. Aus diesem Grunde greift er die Lehren von d'Alembert und Condorcet an, die das Mittelalter als einen Zeitabschnitt des Rückschritts abstempeln. Er versucht sie dadurch zu widerlegen, daß er auf die Araber verweist, die bis zum fünfzehnten Jahrhundert die Träger dieses Fortschritts gewesen seien. Indem er so die Araber zu remplayants der neueuropäischen Kulturvölker für die Zeitstrecke von deren Versagen macht, übersieht er doch, daß er dadurch den Zug der von ihm verfolgten Geschichtsdarstellung verläßt und ein völlig anderes Volk in die von ihm bis dahin behandelte Völkergruppe hinüberwechseln läßt. Er gibt hier offenbar die Einheit des Blut- und Blutgruppenzusammenhangs preis für den Gedanken der Einheit einer Universalgeschichte, wie immer sie auch volksmäßig zusammengesetzt sein möge. Dennoch ist im Geist sehr fein, auf welche Leistung der Araber SaintSimons Wahl trifft, um ihr Anrecht auf solche Bevorzugung im Gesamtbild der Universalgeschichte zu begründen: er rühmt ihnen nach, daß sie zu der Vorstellung gelangten, daß es Gesetze gebe, die die Welt regierten, indem sie dabei doch von dem Gedanken abließen, daß es eine lebendige Ursache sei, die dieses Geschehen bewirke. 9*

132 Gesellschaftsformer: Saint-Simon: Wissenschaft vom Menschen.

Eine andere Gedankenfolge, übrigens an einen ganz anderen Ort seiner Denkschrift gestellt, nimmt sich aus wie die Unterstützung dieses Gedankenganges: er ist der Meinung, daß zur selben Zeit immer nur ein Volk die Führung in der Geschichte gehabt habe. Er beginnt mit den Ägyptern, geht von ihnen zu Griechen und Römern über, um über die Sarazenen zu den modernen Europäern zu gelangen. Der Gedanke der geschichtlichen Führung durch ein Volk, aber auch — mit Ausnahme der Araber — die Abfolge der führenden Völker ist dem Geschichtsgang, den Hegel eintreten läßt — hier wieder mit Ausnahme der Chinesen, die noch ganz außerhalb von Saint-Simons Blickfeld lagen und die Hegel mit so erstaunlicher Vorliebe in sein Geschichtsbild einbezogen hat — aufs nächste verwandt. Der von Bänke zwar erst 1881 eingeschlagene, aber sicher schon um 1820 geplante Weg stimmt vollends durchweg mit dem von Saint-Simon gewählten überein. Es soll nicht untersucht werden, wer als Erster gerade diesen Weg gewiesen hat; denkwürdig ist dennoch, daß so verschiedene Geister die gleiche Wahl und die gleiche Folge getroffen haben. Nicht gelungen als Ganzes, doch bemerkenswert als ein vielleicht erster Versuch ist der Nachweis einer Gleichläufigkeit, die Saint-Simon zwischen den Zeitaltern der Menschheit oder wenigstens der europäischen Menschheit und den Lebensaltern eines Einzelmenschen beobachten will. Nach der von ihm aufgestellten Psychologie ist es natürlich, wenn das Menschengeschlecht in seiner Kindheit vornehmlich auf die Ernährung erpicht ist. Dieser Stufe mag er, ohne dies im übrigen ausdrücklich zu sagen, die primitiven Völker zurechnen. Die zweite Stufe der etwas gereiften Kindheit findet er bei den Ägyptern wieder: denn, so schließt er durchaus nicht unfein, immer, wenn man einem Kinde dieser Stufe Hammer oder Säge, Nagel oder Hobel in die Hand geben würde, so würde es sie jedem anderen Spielzeug vorziehen. Und es wird über alles gern Haufen von Steinen errichten, Kanäle ziehen, Deiche erbauen. Dieselben In-

Führende Völker; Berührung mit Hegel und Ranke; Lebensalter. 133

stinkte aber, so zieht er seine Schlußfolgerung, haben die Ägypter im Großen betätigt. Und er erklärt dies bei aller schuldigen Ehrfurcht vor den großen Bauten der Ägypter: er meint, mit dem besten Recht, daß, verglichen mit den Pyramiden, alle Bauten, die seitdem errichtet worden seien, sich wie Schnurrpfeifereien ausnähmen1. Mit den Griechen vergleicht er das Lebensalter der Pubertät, mißt ihm die Vorliebe für die Künste, für Dichtung, für Tonkunst und für Malerei bei und findet, da die Griechen die Meister aller schönen Künste waren, seine Parallele auch hier vollauf bestätigt. Ganz ebenso sichtbar offenbart sie sich an dem Jünglingsalter, nach seinem Vergleich also an dem Römertum, dem Jünglingsalter als der Zeit der Stärke und der Neigung zur Gewalt, das immerfort seine Kräfte zu zeigen strebe und das in deren Überschwellen keine Grenzen für ihre Betätigung finde. Es tritt in Streit und Kampf mit aller Natur: es fühlt die Sendung des Kriegers in sich. Als Krieger aber haben sich die Römer ausgezeichnet. Den Arabern oder, wie Saint-Simon sie nennt, den Sarazenen, weist er, wie es die Natur am Mannesalter zeigt, eine Doppelrolle zu. Die Araber haben, so führt er aus, nach den Römern als Krieger die herrlichsten Lorbeeren errungen und nach ihrem Auftreten ist nie wieder ein Volk von ähnlicher stürmischer Eroberungskraft noch von einer gleichen Ausdauer in der Leidenschaft des Krieges erschienen. Zugleich sind sie die Begründer der Wissenschaften der Beobachtung. Ihre Geschichte stellt den Schluß der kriegerischen Laufbahn des Menschengeschlechts dar, aber zugleich haben sie die Tätigkeit des reifen Mannesalters begonnen, des Lebensalters, in dem die Tatkraft langsamer, aber zugleich besser geregelt wird, in dem die Einbildungskraft weniger kühn, zugleich die Fähigkeit des Schließens besser entwickelt ist. Mémoire sur la Science de l'Homme (Oeuvres XL) 138.

1 3 4 Gesellschaftsiormer: Saint-Simon: Wissenschaft vom Menschen.

Saint-Simon verzichtet darauf, diese Parallele noch über die Geschichte der Araber fort zu verfolgen. Ihm ist aber daran gelegen, durch die Wiederaufnahme der Mittelstrecke der von ihm verfolgten Laufbahn des Menschengeschlechts wenigstens für diesen Teil der von ihm überschauten Menschheitsgeschichte eine etwas eindrucksvollere Anschauung zu überliefern: für die Griechen. Über seine große Sicht ist auszusagen, daß sie allerdings an einem Grundfehler leidet, den sie aber immerhin mit Hegels großer Geschichtssicht teilt. Saint-Simon ist, wie Hegel, der Ansicht, daß das Insgesamt der Geschichte in seinem Längsschnitt eine Einheit bildet. Der zweite Schritt, den er auf dieser Bahn weiter tut — und er ist unzweifelhaft der wichtigere, wie er ihn denn ebenfalls mit Hegel teilt — ist die Vorstellung, daß diese Längsschnitteinheit eine Lebensganzheit bildet. Man überschreitet das Maß sinngemäßer Deutung nicht, wenn man erklärt, es sei hier zum mindesten von dem einen von beiden Geschichtsdenkern der Fortschritt zu einer biologischen Geschichtsauffassung vollzogen worden. Denn wenn SaintSimon die Geschichte der Menschheit als die Ganzheit einer Lebensdauer deutet, so ist damit die Menschheit selbst zu einem Lebewesen gestempelt, zu einer engeren Einheit sogar, als wenn man von ihr als dem Menschengeschlecht in dem buchstäblichen Sinne einer langen Abfolge von Generationen reden wollte. Hegels Teilung geht noch nicht so weit: seine Zerlegung der Menschheitsgeschichte in vier große Zeiträume wird am ehesten noch mit einem Drama in vier Aufzügen zu vergleichen sein. Das Eine aber haben die beiden Auffassungen gemein, daß sie die Längsläufe der Geschichte als Einheiten ansehen, und zwar als solche, die man, und das ist ihre zweite gemeinsame Eigentümlichkeit, in ihrer Beschaffenheit nach konforme und in der Zeit geordnete Teile zerlegen kann. Man wird nicht sagen dürfen, daß diese beiden Einteilungsversuche gelungen sind: der Grundfehler, an dem

Das Insgesamt der Geschichte als Einheit; Chronologismus. 135

Beider Teilung leidet, ist der reine Chronologismus, d. h. die Auffassung, daß man, der reinen Jahrhundertfolge nachgehend, dieses zeitliche Nacheinander mit gutem Erfolg in Stücke zerlegen könne: die eine, Saint-Simons, in Lebensabschnitte, denen eines Einzellebens entsprechend, die andere in Abschnitte sachlicher Zusammengehörigkeit, ungefähr den Aufzügen eines Dramas vergleichbar. Die Voraussetzung für beide Gliederungen aber war, daß die Einzelteile, aus denen sich diese Längsschnittganzheiten zusammensetzen sollten, gleichartig wären, damit sich wirklich konforme Teilstrecken bilden konnten. Denn sonst war nicht denkbar, daß sie sich aneinander wie Glieder einer Kette fügen konnten oder — mehr als das — daß sich aus diesen Kettengliedern das Auseinander einer langen, kausal geschlossenen Reihe ergibt. Denn nur eine solche ließe sich zu der von Saint-Simon doch begrifflich geforderten Ganzheit formen. Ohne solche Verkettung war diese Art Ganzheit nicht zu denken. Gleichwohl liegt für die Durchsetzung eines solchen Ganzheitsgedankens sowohl für die von Saint-Simon, wie für die von Hegel gewählte Form ein sehr starkes Hindernis vor: eine wirkliche innere Einheit war nur für ein einzelnes Volk zu denken oder, wenn es sich um eine Völkergruppe handeln sollte, für ein Völkerbündel. Aber gerade zu diesem, dem einzigen alle Schwierigkeiten lösenden, dem einzigen auch wahrhaft biologischen Gedanken, demselben, der auf diesen Blättern seit vierzig Jahren vertreten worden ist, haben sich auch diese beiden Geschichtsdenker, die wirklich die Pioniere ihrer Generation waren, nicht durchringen können. Auch der Jüngere von ihnen beiden, auch Hegel, der erst 1770 geboren war, nicht. Dieses Geburtsdatum — zehn Jahre nach Saint-Simon — erscheint vornehmlich deswegen denkwürdig, weil trotz dieser Zeitbeziehung nach dem inneren Verhältnis, entwicklungsgeschichtlich gesehen, Hegel als der sehr viel ältere, Saint-Simon als der sehr viel modernere, also jüngere erscheint. Denn so wie Hegel mit all seinen

1 3 6 Gesellschaftsformen Saint-Simon: Wissenschaft vom Menschen.

Apriorismen und seiner überstark metaphysischen Geistigkeit noch tief in. das achtzehnte Jahrhundert zurückzureichen scheint, so stellt sich Saint-Simon, der Antimetaphysiker und Empiriker, der so völlig in der Erfahrungswissenschaft wurzelt, ganz und gar als ein Wegebahner des neunzehnten Jahrhunderts dar. Näher sind freilich die Entstehungsjahre beider großen Geschichtslehren aneinander gerückt, ja sie erscheinen als völlige Zeitgenossen: der Organisateur von 1820 mag als Mitte und Gipfel von Saint-Simons Leistungslinie gelten, vom Jahre 1823 ab aber datiert die Vorlesungsarbeit Hegels an seiner Philosophie der Geschichte. Und doch bleibt auch dieser Nähe zum Trotz der Eindruck wirksam, daß hier Führer zweier Jahrhunderte aufeinanderstoßen, und man wird meinen, Hegel sei durch ein halbes Jahrhundert von Saint-Simon getrennt. Die beiden Beihungen aber, die Hegel dort, Saint-Simon hier vornimmt, haben dies miteinander gemein, daß sie einerseits auf den Blutszusammenhang verzichten, der die aufeinanderfolgenden Generationenreihen der Einzelvölker oder auch der Völkerbündel zu einer natürlichen Kette verbindet, daß sie an seine Stelle aber einen lediglich geschichtlichen Zusammenhang setzen, der durchaus nicht das gleiche Maß von Verkettung darstellt. Denn die Verbindungen, die sie beide für die universalgeschichtliche Ganzheit — und um diese allein handelt es sich ja — herstellen wollen, sind nicht nur nicht blutmäßiger Art, sondern eigentlich nur sinnbildhafter, nur symbolischer Beschaffenheit. Die Verkettung, die Saint-Simon in seinen vier Geschichtsaitern herstellt, ist eine rein chronologische, rein zeitrechnungsmäßige. Nur aus dem Umstand, daß etwa die Römer auf die Griechen gefolgt sind, d. h. daß sie, entwicklungsgeschichtlich gesprochen, um ein Vierteljahrtausend später in ihr spätes Mittelalter eingetreten sind oder, rein zeitrechnungsmäßig gesprochen, daß die Griechen um die volle Hälfte eines Jahrtausends früher als die Römer ihre staatliche Selbständigkeit verloren, wird hier eine Abfolge abgeleitet, die

Geschichte- statt Blutszus&mmenhang; Mängel der Teilungen. 137

im Grunde weder eine äußere noch eine innere Verkettung darstellt. Was aber, so wird hier immer von neuem die Frage lauten müssen, hat es für einen inneren Sinn, die Jahrhundertsumme, die die europäischen, nordostafrikanischen, und nordwestasiatischen Völkergruppen in den von uns als geschichtlich abgestempelten Zeiten durchlebt haben, durch vier zu teilen, diese Zeiträume nach führenden Völkern aufzuteilen und die so zustande gekommenen Völker- und Zeitgruppen zu Geschichtsaitern zu stempeln. Es wurde damit eine Geschichtsteilung durchgeführt, die zwar nicht mehr nur eine rein chronologische war, die aber nicht genug innere Kraft besaß, um ein in sich selbst beruhendes Teilungsprinzip darzustellen. Vielleicht hat Saint-Simon die Unzulänglichkeit dieser Teilungsweise empfunden oder ihn hat ein weiterer innerer Grund angetrieben; jedenfalls ist er auf den neuen Ausweg verfallen, daß er die Lebensalterteilung einführte. Aber auch dies war, so geistreich der Gedanke an sich ist, doch eine Geschichtsvorstellung, die in Wahrheit auf beiden Hüften lahmte. Auch hier lag die Hilfsvorstellung zugrunde, daß die Universalgeschichte eine Längsschnitt-, eine Lebenseinheit im Sinne eines inneren Zusammenhangs sei, während sie in Wahrheit nur als eine chronologische, eine Einheit der Zeitrechnung gesehen wurde; zum zweiten aber war die Grundvorstellung der Lebensalter, angewandt auf diese Längsschnitteinheiten der Gesamtgeschichte, in Wahrheit doch nur eine symbolisierende, eine sinnbildhafte. Denn nichts wäre stichhaltiger gewesen, als eine solche Parallelisierung zwischen Lebens- und Geschichtsaitern; die Voraussetzung für sie aber wäre eine wirkliche Lebenseinheit, ein wahrhafter Lebenslauf gewesen, den man dann nach der Analogie von Lebensaltern in Lebensabschnitte hätte teilen können. Dies aber will doch besagen, daß nur lebendige, wirkliche Völker und deren lebendige Geschichtsverläufe zum Vergleich herangezogen wären. Gerade dieser Weg

138 Gesellschaftsform er : Saint-Simon: Wissenschaft vom Menschen.

aber war es ja, welchen Saint-Simon sich verschlossen hatte. Es war doch wieder nur eine zweite Symbolisierung, auf die erste heraufgepfropft, wenn zu der Symbolik der Lebensalter des Einzelmenschen die Symbolik der Lebensalter der Menschheit oder vielmehr einer führenden Völkergruppe hinzugefügt wurde. Denn man könnte doch wahrlich billig fragen, aus welchem Grunde das griechische Volk zu einem Zeitalter des Jünglings umgestempelt werden soll. Die Griechen können doch unmöglich als ein Volk ewiger Jugend angesehen werden, und ihrem Jünglingsalter müßte doch ein Zeitalter ihrer Kindheit vorangehen. Und soll den Römern jedes Zeitalter des Jünglings und der Kunstblüte abgesprochen werden? Mit anderen Worten: jede Einteilung geschichtlicher Verläufe nach der Analogie von Lebensaltern ist vortrefflich und innerlich auf das beste begründet, aber nur wenn sie auf die an sich schon lebensartige Geschichte eines einzelnen Volkes beschränkt wird. Die Lebensabschnitte eines solchen Geschichtsverlaufes können ohne Zwang und ohne die Künstelei einer Symbolisierung den Lebensaltern eines Einzelmenschen angeglichen werden. Aber eben dieser natürlichste Weg eines solchen Vergleichs wurde nun gerade nicht eingeschlagen. Der Schreiber dieser Zeilen hat für seine Stufenalter-Teilung nicht den Ausgangspunkt eines Vergleichs zwischen Lebens- und Volksaitern gewählt; er hat wohl diese Möglichkeit frühzeitig ins Auge gefaßt1 und sie mit den notwendigen Vorbehalten geltend gemacht2, hat sie aber nicht zum grundsätzlich maßgebenden Aufriß machen mögen, obwohl sogar eine noch über unsere Gegenwart hinausleitende Sicht, eine neue Altersfolge also, die in die Zukunft führen würde, nicht völlig von der Hand zu weisen Stufenbau (HöOö) 121, (*1927) 189. *) Der Ort im Aufbau meiner Geschichtsgedanken, an dem ich, übrigens ohne von den Ausführungen Saint-Simons zu wissen, von diesem Geschehenszusammenhang gehandelt habe, ist zu finden in der Schrift Vom geschichtlichen Werden III (1928) 161 ff., 165ff.

Vergleichsmöglichkeit zwischen Einzel- und Volksleben.

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ist. Die Andeutung einer in manchem Betracht dazu Anlaß gebenden neuen Jugend, wie die Gegenwart des heutigen Rußlands mit ihrem Urzeitkommunismus und manchen Kindheitserscheinungen in Dingen der Kunst und der geistigen Kultur, kann auf solche Gedanken leiten und würde dann die beiden Formgedanken einer neuen Kindheit und eines aufs neue beginnenden Kreisgewindes miteinander verbinden. An sich sind sie einander nicht fremd: denn das Wiederbeginnen jedes neuen Jahreskreislaufes im Wachstums- und Lebensverlauf jeder Pflanze bildet ein vortreffliches Mittelglied beider Werdensformen. Vicos corsi e ricorsi haben diesen Weg gewiesen. Saint-Simon hat weder die Bedenken, die gegen seine eigene Lehre, noch auch die Möglichkeiten, die sich einer zukünftigen Entwicklung der Geschichtslehre darboten, gesehen. Dennoch wäre es ungerecht, wollte man ihm die Auffindung dieses Geschiohtsgedankens nicht zum höchsten Lobe anrechnen. Ja es ergibt sich bei dieser Gelegenheit wohl eine wissenschaftsgeschichtliche Beobachtung, deren Anwendungsbereich groß genug, wenn nicht ein allgemeiner ist: was Saint-Simon gelang, war das Hindringen zu einem Gedankenziel, das er zwar gewiß nicht erreichte; aber auf dem Wege zu ihm hin ist er doch ungefähr bis zur Mitte gekommen. Kein Zweifel, daß auch schon so viel in geistigem Vorwärtsschreiten erreicht zu haben, ein Großes ist. Auch den Ansprang für den Weg zu einem fernen Ziel gewagt zu haben, als Erster eine völlig neue Richtung eingeschlagen zu haben, bedeutet eine hohe Leistung.

Viertes Stück. Die Wissenschaft

v o m Menschen:

betrachtungen zur

Einzel-

Geschichte.

Saint-Simon, im steten Drängen danach, daß er seinen Gedanken den letzten, schärfsten, aber auch anschaulichsten

140

Gesellschaftsforcner: Saint-Simon: Einzelbetrachtungen.

Ausdruck verleihe, wendet sich einem einzelnen Beispiel von stufenmäßiger und, wenn man will, auch lebensaltermäßiger Beschaffenheit zu. Es sind, wen möchte es wundernehmen, die Griechen, auf die seine Wahl fällt. Mit einem geistgroßen Wort bahnt er sich zu ihnen den Weg. Er sagt, dies sei immer das Schicksal der Ideen gewesen: die Denker haben sie gefunden, die Gläubigen aber haben sie sich zu eigen gemacht — C'est un grand pas fait par l'esprit humain toutes les fois qu'une idée trouvée par les penseurs est adoptée par Us croyants1. Und er fährt fort: die ägyptischen Denker haben sich bis zu der Vorstellung von unsichtbaren Ursachen erhoben, das ägyptische Volk aber hat nie etwas anderes zu fassen vermocht, als sichtbare Ursachen. Die Gesamtheit des griechischen Volkes aber hat an unsichtbare Ursachen geglaubt. Die Glaubensformen aller seiner Teile, seine Vielgötterei in allen ihren Gestalten, eo nimmt er an, hat auf dieser Grundlage beruht. Allein, und das ist der zweite sehr weitgreifende Lobspruch, den er dem griechischen Geist wie der griechischen Seele zuweist, und auch er ist ein die Menschheit angehender: die Griechen sind das erste Volk gewesen, bei dem sich der menschliche Geist mit dem Wesen des Staates ernsthaft beschäftigt hat, und zwar in der Theorie sowohl wie in der Praxis. Sie haben große Gesetzgeber hervorgebracht, wie Lykurg, Drakon und Solon, und bei ihnen hat sich immer eine gewisse Zahl starker Geister mit der Wissenschaft vom Staat beschäftigt. Ja darüber hinaus war sie für Tausende von Staatsbürgern ein Gegenstand privater Unterhaltungen, und in den öffentlichen Versammlungen hat man die Grundsätze und die Anwendungen dieser Wissenschaft verhandelt. Die griechische Gesellschaft ist, so meint Saint-Simon, die erste in der Geschichte gewesen, die aus mehreren, ja aus zahlreichen Volkseinheiten zusammengesetzt, doch zusammenhielt, obwohl jede von ihnen eine eigene Regierung 1

) Mémoire sur la Science de l'Homme (Oeuvres XL) 140.

Staatslehre der Griechen; Delphi als Band der Staatseinheit.

141

hatte und oft genug eine sehr abweichende von den Regierungen aller anderen. Saint-Simon tut sich eigens viel auf eine Reihe von Beobachtungen zugute, auf die er seine Leser mit Nachdruck verweist. Die erste davon geht die religiöse Grundlage für die staatliche Verbundenheit der griechischen Staaten an. Er hebt hervor, daß das ganz Hellas überschattende Orakel von Delphi trotz seiner gänzlich religiösen Beschaffenheit einen ebenso ganz Griechenland umgreifenden staatlichen Einfluß ausgeübt hat, daß das politische Zusammenhalten der Einzelstaaten, ja noch ihr fester Widerstand gegen den übermächtigen Angriff der Perser dem Orakel zu Delphi zu danken sei. Er sucht selbst die Unterwerfung Griechenlands unter die Herrschaft zuerst der Mazedonier und demnächst der Römer mit dem Verfall des Orakels in ursächlichen Zusammenhang zu bringen 1 . Bis zur Organisation der Götterversammlung als einer republikanischen Ratsversammlung verfolgt er diese Zusammenhänge. Er findet, durchaus geistreich, daß die Überlegenheit der antiken Dichter und Künstler über die der modernen Zeiten, die er als gegeben annimmt, einen bewegenden Grund darin habe, daß die Männer dieser Berufe bei den Alten politisch einflußreich, Gesetzgeber, wie er sich ausdrückt, gewesen seien, während man sie in unseren Zeiten nur für Träger von Anmut und Vergnügen ansehe. Im Rate der »Weisen« nehmen sie nur den zweiten Rang ein. Einem griechischen Künstler hätten als die Vorbilder für seine Standbilder die Töchter der vornehmsten Familien zur Verfügung gestanden; ein Heutiger, auch der Ausgezeichnetste, würde nur Frauen aus der niedersten Schicht wählen können. Saint-Simon verfolgt schließlich den Entwicklungsgang des griechischen Glaubens und findet Ziel und Gipfel seiner Bahn in Sokrates' Wirken. Ihn verehrt er auf das Höchste: er hält ihn für den größten Menschen, der je auf Erden Mémoire sur la Science de l'Homme (Oeuvres XL) 142.

142

Gesellschaftsiormer: Saint-Simon: Einzelbetrachtangen.

wandelte. Er erinnert von neuem an die Ägypter und wie sich von ihnen zu den Griechen der Fortschritt so vollzogen habe, daß die ägyptischen Priester den Polytheismus erfunden hätten, daß aber die Griechen — als Volk einen Glauben bildend — die ersten Polytheisten geworden seien, d. h. eine Anzahl von unsichtbaren Ursachen angenommen hätten, die sie anbeteten. Sokrates aber war der Schöpfer des Theismus und, in Analogie jener Völkerfolge, fünfhundert Jahre nach ihm die Römer die ersten Theisten. Die Bezeichnung Theismus für die Gotteslehre des Sokrates geht sicher weiter in der Personifizierung des Begriffs, als erlaubt ist. Den vovg, den Weltgeist oder, wenn man lieber will, den Weltsinn, den Sokrates über die Vielheit der Götter setzt, denkt er zwar auch als Bildner und Beherrscher des Weltganzen; aber der Name vovg, der Weltgeist, ist sicher der in seiner Vorstellung überwiegende und er bedeutet — sehr viel näher an die Gedanken des Anaxagoras rückend — mehr eine der Welt innewohnende Weltgewalt als einen außerhalb der Welt stehenden persönlichen Leiter der Welt 1 . Mögen auch beide Vorstellungsreihen in Sokrates Gestalt gewonnen haben, nicht hat die eine, die persönliche überwogen. Und wie wenig die Auffassung Saint-Simons von Sokrates als dem »Erfinder« des Theismus zutrifft, mag man innewerden, wenn man sich der Jahvegestalt erinnert, der Moses auf dem Sinai begegnet. Wie ein Schatten zu einer Fleisch gewordenen Gestalt verhalten sich die beiden Gebilde zueinander. Saint-Simon kommt nicht mit einem Gedanken auf die Notwendigkeit dieses Vergleichs, zu der, wenn ihn sein Weg dahin geführt hätte, Comte vielleicht viel eher gelangt wäre. Saint-Simons Gedankenführung bei der Wiedergabe von Sokrates' Lehren schlägt dann, wenigstens in der Richtung, die richtigen Wege ein. Er hebt Errungenschaften seiner i) Vgl. Zeller, Grundriß der Geschichte der griechischen Philosophie [1883] 96 und Die Philosophie der Griechen I i i [51922] 17«.

Theismus und Lehre vom Weltgeist; Sokrates' Erkenntnislehre. 143

Erkenntnislehre hervor1: die Einsicht in den stufenmäßigen Aufbau eines Systems, eines Gedankenbaus, so ferner in die Unterscheidung von Denkbildern a posteriori und a priori, die Saint-Simon, vielleicht doch in Anlehnung an Kant, in seine Gedankenwelt einführt. Saint-Simon macht gute Unterscheidungen zwischen dem Aprioristen Piaton und dem Aposterioristen Aristoteles; er macht darauf aufmerksam, daß erst mit der Übersetzung der Schriften des Aristoteles in das Arabische seine Wirkung auf das Abendland eingesetzt habe und daß bis zu diesem Zeitpunkt ebenso elf Jahrhunderte vergangen seien, wie nach ihm, so daß die Zeitdauer der geistigen Herrschaft des Piaton die gleiche gewesen sei, wie die der Herrschaft des Aristoteles. Die Richtigkeit dieser Zeitberechnung ist zu einem Teil anzuzweifeln. Über die Wirkensweise von Sokrates ist SaintSimons Meinung die, daß sie eine zwiespältige gewesen sei, insofern seine Kritik eine aus dem a posteriori gewesen sei, sein Organisieren aber aus dem a priori — eine geistig nicht unfeine Äußerung, über deren geschichtlichen Wert man jedoch ein sehr abweichendes Urteil haben kann. So beständig aber Sokrates und seine Sätze im Mittelpunkt von Saint-Simons Lehrbau bleiben sollten, der Drang nach eigenem Wirken, eigenen Lehren war in ihm doch zu mächtig, als daß er nicht hätte vorschreiten und Gesetze des Erkennens, aus denen dann doch auch wieder Gesetze des Lebens hervorwachsen, aufstellen sollen. Allerdings er verhüllt diesen Sachverhalt, in unendlich feiner Nachahmung des Verhältnisses zwischen Piaton und Sokrates, in der Weise, daß er, was doch in Wahrheit seine Äußerung war, dem Meister selbst in den Mund legt. Die Verkündung, die er mit Nachdruck, ja in großer Feierlichkeit für das gewaltigste Wort erklärt, das zu sagen ist, wird vorgetragen als eine letzte und stärkste Forderung, die Sokrates an seine Schüler richtet. Doch bleibt jeder Gedanke an eine absichtl

) Mémoire sur la Science de l'Homme (Oeuvres XL) 145.

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Gesellschaftsform er: Saint-Simon: Einzelbetrachtangen.

liehe Vortäuschung fern: denn diese Rede des Sokrates an seine Schüler wird nicht einmal fingiert als eine wirklich von Sokrates gehaltene, sondern sie wird ausdrücklich bezeichnet als die zweite Hälfte von seiner, Saint-Simons Rede 1 . Und um sie noch weiter von einer vorgetäuschten geschichtlichen Wirklichkeit abzurücken, wird dem Leser als Zeitbestimmung die Angabe mitgegeben, daß er, Sokrates, in 2000 Jahren wieder erscheinen werde, es würden dann aber die gleichen moralischen Zustände herrschen wie jetzt. Von dem Inhalt der Verkündung aber wird gesagt, daß der menschliche Geist erst in 2000 bis 2500 Jahren reif genug sein werde, um in seinem Sinne zu arbeiten, wobei im Grunde nicht völlig klar wird, ob eigentlich zwei oder vier Jahrtausende als Vorbereitungszeit geweissagt werden. Die Sätze aber, zu denen die Sokrates-Verkündung sich zuspitzt, sind: ein erster — zur Vorbereitung —: die Welt wird regiert durch eine Ursache, die eine einzige, aber lebendige — animée — ist. Und ein zweiter, in dem SaintSimon offenbar den ganzen Inhalt seiner Weltweisheit hat zusammendrängen wollen: die Wissenschaft der Zahlen ist die einzige2. Da Saint-Simons Blicke bei Abfassung dieser Formel auf Pythagoras rückwärts gerichtet sind, so ist sie sicherlich nicht so mechanistisch gemeint, wie sie zuerst scheint. Aber große physikalische Gedanken sind es doch auch, die ihn bewegen, denn etwas weiterhin erklärt er: jedes Molekül — d. h. also die damals erst eben aufgefundene Bezeichnung für eine unterste Einheit der anorganischen Substanz — hat die Tendenz, sich in der Richtung, die ihm den geringsten Widerstand entgegensetzt, zu bewegen. Er findet ganz richtig die elementarsten Erkenntnisse der Physik, die damals keineswegs alt befestigte waren, die Grundunterscheidung zwischen organischem und anorganischem Stoff, zwischen adhärenten, also fest zusammenhaftenden, und flüssigen 1 ) Mémoire sur la Science de l'Homme (Oeuvres X L ) 253. ') Ebenda 268.

Einzige Ursache der Welt; die Welt als Zahl; Positives System. 146

Stoff-Formationen. Und er ringt sich bis zu dem größten Gedanken durch, nach dem man aufhören wird, die Welt in zwei Hälften zu zerspalten, die moralische und die physische. Vor einhundertzwanzig Jahren hat er diesen Gedanken vertreten. Wie weit ist man aber noch heute von der Ebene des Erkennens entfernt, auf der es erlaubt ist, einen solchen Grad von Vereinheitlichung des Weltgeschehens zu vertreten. Im ganzen hat wohl selbst die heutige Weltanschauung noch diesen Grad der Einsicht nicht erreicht1. Im positiven System — so ist der Schluß dieses Gedankenzusammenhangs, für den er schon den Ausdruck positives System benutzt hat, den sein Schüler Comte später zu Unrecht wie sein Eigentum für sich beanspruchte — soll nur ein Gesetz herrschen, und die Forscher werden sich genötigt sehen, zwischen dies oberste Gesetz und die Einzelwirkungen Zwischenideen — idées intermédiaires — zu schieben, ein sehr glücklicher Gedanke, der an die ebenso feine Forderung der Zwischenziele bei Schiller erinnert. In dem Streben nach möglichster Vereinheitlichung des von ihm errichteten oder doch wenigstens erstrebten Gedankenbaus steigert er sich so weit, daß er als letzte Möglichkeit die Vorstellung ausspricht, daß die Schwerkraft, die Gravitation, die höchste Vorstellung abgeben könne, ja daß sie als oberste Idee die Stelle des Gottesgedankens einnehmen könne. Gleichviel wie man diese Steigerung beurteilen möge, sie läßt erkennen, mit wie leidenschaftlichem Drängen Saint-Simon eine letzte Vereinigung physikalischer und moralischer Gedanken, wir würden sagen endophysischer und metaphysischer Gedanken erstrebte. Doch noch ehe Saint-Simon zu diesen Schlußbetrachtungen kommt, wenden sich seine dennoch dem Staat und der Gesellschaft bei weitem am meisten zugewandten Gedanken wieder dem Schicksal der Völker und ihrer Geschichte zu. l

) Vergleiche Vom geschichtlichen Werden III (1928) 10, ferner Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte (1933) 8f. B r e y Big,

Gestaltungen des geschichtlichen Entwicklangsgedankens.

10

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Gesellschaftsformer: Saint-Simon: Einzelbetrachtungen.

Er macht Vorstöße in das seit Jean Bodins Tagen gänzlich unbebaut gelassene Gebiet der geohistorischen Forschung; ja, er macht darauf aufmerksam, daß die nach seinem Maßstab führenden Völker im Insgesamt des Geschichtsbildes — die Ägypter, Griechen, Römer, Sarazenen und späterhin die Engländer — alle geographisch isolierte Völker gewesen seien. Er steht den früheren Lehren über klimatisch-geschichtliche Zusammenhänge durchaus nicht kritiklos gegenüber. Er macht gegen Montesquieus Lehre vom überwiegenden Einfluß des Klimas auf den Charakter der Völker — völlig mit Recht — geltend, daß an den erlauchtesten Orten großer geschichtlicher Taten, so etwa in Bagdad, völlig nichtssagende Völker sitzen1. Und wir Heutigen können hinzufügen, daß das Hinsterben der alten Völker, die zugrunde gegangen sind am selben Ort, an dem sie zuvor die Jahrhunderte ihrer Blüte erlebt haben, noch eine viel stärkere Widerlegung der Montesquieuschen Lehre bedeutet. Immer wieder kommt Saint-Simon zurück auf die großen Haupttatsachen der Geschichte und bewährt sich wahrlich auch an ihnen als ein Verfechter des Entwicklungsgedankens, denn es sind nie andere als die großen Linien der Geschichte, die ihm bei solchen Feststellungen vorschweben, und er erhebt sich weit über das Gewirr der kleinen Einzeltatsachen. Indem er dazu übergeht, die großen Stärken der Führervölker aufzuzählen, macht er zunächst die sehr treffende Beobachtung, daß die Römer ihren großen weltgeschichtlichen Ruhm doch letztlich nicht den fünf Jahrhunderten ihrer republikanischen Zeit verdanken, sondern den höchsten Hervorbringungen ihrer kaiserlichen Zeit, d. h. der Schaffung des bürgerlichen Rechts und der Durchsetzung des Eingottesglaubens. Erstaunlich ist dann freilich, daß er die Schaffung eines Weltreichs, wie sie doch schon den republikanischen Römern gelungen ist, nicht zu den Großtaten der römischen 1

) Mémoire sur la Science de l'Homme (Oeuvres XL) 153.

Führervölker; römisches Recht, römischer Monotheismus.

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Geschichte rechnet und andererseits die Durchsetzung des christlichen Eingottesglaubens, der doch an sich ein Geschenk des Orients an Westeuropa war, ganz allein den Römern zurechnet, was als weltgeschichtliche Grundtatsache doch nur in bedingtem Maße zuzugeben ist. Im hohen Sinne kulturgeschichtlich aber ist die Begründung, die er dieser seiner Behauptung gibt: er sagt, auf der Grundlage eines Vielgötterglaubens, wie er für die zahlreichen Völker dieses ausgedehnten Staatsgebildes zustande kam, hätte nie eine haltbare Staatseinheit zustande kommen können. Und so sieht er in der Durchführung des Eingottesgedankens eine halb religiöse, halb aber auch politische Ruhmestat der Römer1. Ein Ausdruck, wie der von ihm gebrauchte organisation du monothéisme ist bezeichnend genug, läßt aber auch für den aufmerksamen Ausleger seiner Gedankengänge eigens deutlich eines seiner höchsten Verdienste um großes geschichtliches Leben hervortreten: nämlich die Fähigkeit, die inneren Verbindungen zwischen soziologischem und geistigem, zwischen politischem und religiösem Geschehen zu erkennen. Dann leiten ihn die Ähnlichkeiten zwischen zwei an sich weit von einander entfernten Entwicklungen, wie die der Römer und die der Engländer, zu einem eingehenden Vergleich zwischen beiden, auch dies ein Unternehmen von hohem entwicklungsgeschichtlichem Range. Er geht aus von den hohen Eigenschaften der von ihm immer und überall sehr geschätzten Engländer. Er findet vier Gründe, die dafür sprechen, die Engländer als ein führendes — fast ist wohl seine Meinung als das führende — Volk anzusehen: der erste ist, daß Bacon, Newton, Locke, dazu auch Cavendish und Priestley — zwei große Chemiker des achtzehnten Jahrhunderts — aus ihren Reihen haben hervorgehen können; der zweite, daß sie das best behauste, best bekleidete, best ernährte Volk der Erde sind; der dritte, i) Mémoire surjla Science de l'Homme (Oeuvres XL) 166. 10*

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Gesellschaftsformer: Saint-Simon: Einzelbetrachtungen.

daß sie, im Hinblick auf die Zahl ihrer Bevölkerung, dasjenige Volk sind, das den stärksten Einfluß auf andere Völker ausübt; der vierte, daß sie diejenige Regierungsform gefunden haben, die mit der Zeit bei allen anderen Völkern das Feudalsystem verdrängen wird und daß sie sich als treue Bewahrer derjenigen Verfassung erwiesen haben, welche jedem Volksgenossen die größte persönliche Freiheit in einem Lande gewährt, das mit einer sehr hohen Volkszahl besetzt ist. Worauf es Saint-Simon aber am meisten ankommt, das ist der Vergleich zwischen Römern und Engländern. Derjenige Treffpunkt, an dem sich beide Entwicklungen am sichtbarsten schneiden, ist, wie begreiflich, das Höchstmaß an Herrschafts- und Ausdehnungsbedürfnis, das beide kennzeichnet. Minder glücklich ist der Vergleich, der zwischen der religiösen Haltung der Römer und der Engländer gegenüber ihren Nachbarn gezogen wird. Man wird den Versuch, den Saint-Simon hier macht, nur als ein Beispiel dafür ansehen dürfen, wie auch derlei an sich geistreiche Vorstöße mißlingen können. Denn Saint-Simon meint hier, daß die Engländer sich bis zum Beginn des sechzehnten Jahrhunderts nur darum zu den Völkern des Festlandes friedlich verhalten hätten, weil sie bis zu dieser Zeit noch ihren Glauben geteilt hätten; sie seien aber von da ab völlig durch die Religion von ihnen getrennt worden, insofern ihr Glaube von da, •also von der Zeit Heinrichs VHI. ab, ein völlig nationaler geworden sei. Und seitdem habe sich auch der Engländer das Bestreben bemächtigt, »de subalterniser« die große Masse der europäischen Bevölkerungen1. Und so weissagt er, dazu werde es auch noch heute kommen, wenn die festländischen Völker die Engländer nicht nötigen würden, sich mit ihnen in einer gemeinsamen Einrichtung zu verbinden. Es ist, als hätte Saint-Simon — was ihm übrigens auch durchaus zuzutrauen ist — eine prophetische Ahnung von jenen Kämpfen gehabt, in denen wir heute noch stehen. l

) Memoire sur la Scienee de l'Homme (Oeuvres XL) 169.

Glaubensgegensatz zwischen England and dem Festland.

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Aber man wird bei aller Vorliebe für Saint-Simon und sein so zartes geschichtliches Feingefühl ihm in dieser Beurteilung des Verhältnisses zwischen englischem und festländischem Glauben nicht Recht geben mögen. Unfehlbar aber ist das geschichtliche Urteil Saint-Simons in den großen Fragen der Universalgeschichte, aber auch der Geschichtsforschungslehre. Einen der Schlußabschnitte beginnt er mit einer großen Gesamtbeurteilung der Lage der Geschichtsforschung, und so ungünstig sie ist, wird man sie gewiß nicht ungerecht nennen dürfen. Freilich nur, wenn von der Geschichtsschreibung im ganzen und großen die Rede ist: die Werke der großen Geschichtslehrer — Vico, Herder — fallen ohnehin fort, von ihnen bis zu Saint-Simon war der Weg zu weit — und auch die ersten Versuche der werktätigen Geschichtsschreibung, die sich dem Entwicklungsgedanken zumindest teilweise zugänglich erwiesen hatten — Winckelmann und Möser — waren ihm als Ausländer nicht zugänglich; aber selbst Montesquieu stand für ihn nicht in dieser Blicklinie. Für alle Geschichtsschreibung im großen traf sein Urteil, daß sie die Kinderschuhe noch nicht abgestreift hätte, vollauf zu. Zur Begründung fügt er die bitteren Worte hinzu, daß dieser wichtige Zweig unserer Wissenschaft aus nichts anderem bestehe, als aus einer Ansammlung von mehr oder weniger gut festgestellten Tatsachen1. Diese Tatsachen sind nicht verbunden durch irgendeine Geschichtslehre, eine Theorie, sie sind nicht eingereiht in eine Ordnung von Schlußfolgerungen. Und wenn man gesagt habe, die Geschichte sei die Lehrerin der Könige, so müsse man erklären, daß sie dieses Führeramt an den Königen wie an ihren Untertanen nur sehr schlecht wahrnehme. Und er schleudert ihr das zornige Wort ins Angesicht, sie gebe weder den Königen noch den Untertanen die Mittel in die Hand, aus dem, was sich ereignet habe, Schlüsse zu ziehen auf das, was sich ereignen werde. 1

) Mémoire sur la Science de l'Homme (Oeuvres XL)J246.

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Gesellschaltsformer: Saint-Simon: Einzelbetrachtungen.

So hart dieses Gesamturteil ist, es ist das zutreffendste von der Welt, selbst die hervorragendsten Geschichtsschreiber, selbst Voltaire, Friedrich, Hume eingeschlossen; keiner von ihnen ist über diese Ebene hinausgedrungen. Seltsam immerhin, daß Saint-Simon selbst ja niemals Versuche gemacht hat, als Geschichtsschreiber aufzutreten. Daß er aber das Fehlen jeder Betätigung einer zusammenfassenden und deutenden Geschichtsforschung, ja noch jeden Ehrgeizes danach mit so durchdringendem Scharfsinn bemerkt hat, wird ihm zu hohem Ruhm gereichen. Und es ist auch denkwürdig, was Saint-Simon zur weiteren Begründung seiner Anklage hinzufügt. Er sagt, es gebe bisher nur Nationalgeschichten und keine Geschichte der menschlichen Gattung. Die Nationalgeschichten der Geschichtsschreiber aber hätten den Zweck, die Eigenschaften ihrer Landsleute zu rühmen und die der anderen Völker herabzusetzen. Keiner von ihnen aber denke daran, den Königen zu sagen: laßt euch zeigen, was aus dem folgen wird, was bisher geschehen ist, und wollet die Ordnung der Dinge erkennen, zu der die von uns angesteckten Lichter euch führen werden. Schaut an das Ziel, zu dem ihr die ungeheure Macht lenken könnt, die in eure Hände gelegt ist. Schon hier erhebt sich Saint-Simon zu der stolzen Höhe eines Forschers, der zu Königen spricht und sich getraut, ihnen die Wege zu weisen, die sie gehen sollen. Und noch eine höhere Ebene wagt er zu ersteigen: er hat dieselbe Darlegung, in der sich dieser Anruf an die Könige findet, als eine Ansprache an Napoleon aufgezeichnet. Und ist diese Ansprache auch in der uns erhaltenen Gestalt ein Trümmerstück geblieben, so ist sie als Ansprang zu einem so hohen Ziel denkwürdig genug. In der Reihe späterer Geschichtsforscher möchte man sich vergebens nach einem Mann umschauen, der sich so hoher Dinge unterfangen hätte.

Geschichte als Lehrmeister der Könige; Hegel und Comte. 151

Zweiter A b s c h n i t t . Comtes geschichtliche Soziologie. Erstes Stück. Aufriß der GesellschaftBlehre. Es mag keinen tieferen Unterschied der geistigen Grundanlage geben, als den zwischen Hegel und Comte bestehenden. Dennoch müssen sie in der Reihe der großen Geschichtslehrer des neunzehnten Jahrhunderts nahe bei einander stehen. Denn zum ersten einte sie ein großes Nein: sie sind beide in so tiefem Widerspruch gegen alle nur beschreibende Geschichtswissenschaft aufgetreten, daß sie für alle aus der Ferne schauende Sicht wie zu einer inneren Einheit zusammengeschlossen erscheinen müssen, so weit sie auch wissenschaftsgeschichtlich voneinander geschieden sind. Denn weder mag der Jüngere von ihnen, der fast um ein volles Menschenalter von Hegel geschiedene Comte, je von Hegels Hauch angeweht worden sein, noch haben sich auch nach beider Tod die Ströme ihrer Wirkung zusammengegossen. In dem Jahr, in dem Comte mit seinem Hauptwerk Cours de philosophie positive hervortrat, ein Jahr vor Hegels Tode, 1831, bereitete sich doch auch der Einfluß Hegels auf den deutschen Geist auf seine Verminderung und bald auf sein Erlöschen vor, ganz zu schweigen von dem immer nur bedingten Hinausstrahlen seiner Wirkung über die deutschen Grenzen fort. Comtes Hinüberwirken nach Deutschland aber mag erst zu einer Zeit eingesetzt haben, als Hegels geistige Herrschaft schon mehr als ein Menschenalter hindurch erloschen war, etwa nach 1871. Und selbst die Ströme der Gegnerschaften haben sich nicht eigentlich zusammengegossen. Der eigentliche Hauptgegner, der Comte und seiner Lehre in Deutschland erstanden ist, Dilthey, hat, so oft er sich als Philosoph mit Hegel beschäftigt hat, doch nicht für nötig gehalten, die Geschichtsphilosophie Hegels,

152 Gesellsohaftsformer: Comte: Aufriß der Gesellschaftslehre. die ihm, dem Geschichtslehrer Dilthey, doch am nächsten hätte liegen müssen, eigens zu widerlegen; wohl aber hat er — mit tiefem Ingrimm — sein Leben lang Comtes Geschichtslehre bestritten und sie wie einen noch lebenden, noch wirksamen Feind bekämpft. Auch an diesem posthumen Geschehen noch läßt sich der ehemals zwischen den Lebenden aufklaffende Unterschied zwischen den Generationen erkennen. Hegels metaphysischer Geistmythus lag zu weit zurück, um dem Realisten Dilthey noch der Bekämpfung bedürfend zu erscheinen, in Comte aber witterte er einen der Zeit und der geistigen Lage nach unvergleichlich viel näheren und deswegen viel gefährlicheren Gegner oder, wenn man lieber will, Rivalen. Zwischen Hegel und Comte tut sich aber auch noch eine andere Kluft auf: die der beiden Volkstümer, Volksgeister, denen sie angehören. Hegels Geistigkeit ist die im tiefsten, schwersten Sinn deutsche. Er kann Bich gar nicht genug tun in seinem Streben, die Wurzeln seines Wesens so tief als ihm möglich ist, in die Urgründe und Urfragen alles dem Denker erreichbaren Seins hinabzusenken; Comtes Weise dagegen wird gekennzeichnet durch sein Trachten, all Bein wahrlich auch ausgebreitetes Denken über die menschlichen Dinge möglichst leicht erkennbar, unschwierig durchschaubar darzustellen. Sollten beide als Stellvertreter und Worthalter deutschen und französischen Wesens gelten, so würde, nicht eben zum Vorteil des französischen Geistes, Comte — gemessen an Descartes und Calvin — etwas zu wenig Gewicht, Hegel aber das vollste Maß von ihm in die Waagschale zu werfen haben. Wobei freilich zu sagen ist, daß Comte in seiner Nähe zu, in seiner Überlegenheit über den wahrlich artvertretenden Voltaire doch nicht mit Unrecht als Repräsentant des^französischen Geistes angesehen werden darf. Die Lücken und Oberflächenneigungen, die in seinem Werk zutage getreten sind, entsprechen doch auch einigen Mängeln des französischen Geistes, die seinem Gesamtbild anhaften.

Gegensatz der Volkstümer; Grundneigungen; Gemeinsamkeiten. 163

Eine Unterschiedenheit der forscherlichen Grundanlage trennt Comte von Hegel, deren Tiefe und Schärfe von ihnen beiden selbst sicher am schnellsten empfunden worden wäre, das ist ihr Verhältnis zur frei denkenden und zur wirklichkeitsgebundenen Betrachtung der Welt. Indem Comte seine Lehre Positivismus nannte, gab er es mit programmatischer Entschiedenheit zu erkennen, daß er aller überwirklichen Ausdeutung der Welt abhold sei. Es war von großem Gewicht, daß er, um diesen Sinn auf das nachdrücklichste zu betonen, einen eigenen Namen für seine Lehre erfand, einen Namen, der sich als so erfolgreich gewählt zeigte, daß er ein Jahrhundert lang sich als stichfest erwies. Wenn er im Laufe dieser Zeit den Beiklang einer viel eher abschreckenden als anlockenden Bedeutung erhielt, so war ihm dies Schicksal weit mehr durch seine Gesinnungs- als seine Namenwahl zugewiesen. Gegen den wenn nicht radikalsten, so doch wirksamsten Metaphysiker im deutschen Gegnerlager war allerdings mit diesem Namen der denkbar schärfste Widerspruch angekündigt. Dennoch wird sich sagen lassen, daß auch die beide Geschichtsdenker vereinigenden Bindungen von tiefer Bedeutung sind und immerhin das zweite Menschenalter der Neuesten Zeit, die 33 Jahre also zwischen 1815 und 1848, im Gesamtzug der entwickelnden Geschichtsforschung zu einer geistigen Einheit zusammenschweißen. Beide Denker haben den stärksten Drang zur Verbindung von Natur- und Geisteswissenschaften verspürt: Comte so sehr, daß er derjenigen unter den Naturwissenschaften, der er das stärkste Gewicht beimaß — der Biologie — nicht nur in ihrem ursprünglichen Kreise die Mitte zuwies, sondern auch diejenige unter den Geisteswissenschaften, der er unter diesen das Übergewicht verschaffen wollte, mit ihr in die nächste Verbindung brachte: die Soziologie. Wer sich Comte, dem Geschichtstheoretiker nähert, würde nun gewiß auf die Vermutung geraten, daß er das verbindende Glied zwischen Biologie und Soziologie in der

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Gesellschaftsformer: Comte: Aufriß der Gesellschaftslehre.

Eigenschaft suche, die beiden eigentümlich ist, daß sie nämlich Wirklichkeitsbereiche umfassen, denen ein Hang zu beständiger Veränderung durch Anpassung an die Umwelt innewohne. Aber gerade dies ist nicht der Fall gewesen. Mit dieser Ähnlichkeit hätte leicht auch die andere verbunden werden können, daß in beiden Fällen der Veränderungsdrang auch als Verbesserungsdrang oder, wie Hegel es ausdrückte, als Perfektibilität zu deuten war. Comte aber hat diese Möglichkeiten für die Biologie zwar ins Auge gefaßt, sie auch als geistreiche Hypothesen bezeichnet, aber es abgelehnt, sie in seinen Lehrbau aufzunehmen. Er ging davon aus, daß für solche biologischen Umänderungen ganz außerordentlich lange Zeiträume notwendig sein würden, meinte aber, daß die weiteren Voraussetzungen für sie, nämlich einmal die innewohnenden Fähigkeiten zur Veränderung unter Anpassung an die Umwelt, ebensowenig wie die beständige Fähigkeit zur Verbesserung erweisbar seien1. Für die Gattung Mensch zog Comte aus dieser Annahme die Schlußfolgerung, daß ihre Gliederung eine von Anfang an bestehende gewesen sei, die sich nie geändert habe. Er ist also in all diesen Stücken gerade nicht, wie sonst wohl, ein Anwalt des geschichtlichen Werdens, sondern der Befürworter eines von jeher stationären Zustandes. Im ganzen aber liegt hier — in dem Unterschied zwischen beständigen Querschnitt- und langhin sich umgestaltenden Längsschnitterscheinungen — die eigentliche Problematik von Comtes Forschen. Es stellt sich nämlich für den ersten und oberflächlichen Eindruck seines forscherlichen Tuns das an sich erstaunliche Ergebnis heraus, daß Comte seiner Arbeit den Namen gegeben hat, den sie dem überwiegenden Teil ihres Stoffes nach nicht hätte tragen sollen — Soziologie — und den Namen vermieden hat, der ihr, wiederum zum größeren Teil, ihrem Stoffe und ihren allgemeinsten wie den 1 ) Cours de Philosophie Positive Auguste Comte (1894) 118.

III

(1908) 296; Waentig,

Geschichts- and Gesellschaftslehre: BegTiffsumgrenzung.

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meisten ihrer besonderen Zwecke nach zugekommen wäre, nämlich Geschichtsphilosophie. Doch wird sich ergeben, daß diese Beurteilung nur einen scheinbaren Befund betrifft und daß dann, wenn nicht vom Was, sondern vom Wie, nicht vom Stoff, sondern von der Forschungsweise beider Wissenschaften ausgegangen würde, sich das gegenteilige Ergebnis herausstellt. Um Comtes Stellungnahme zu beiden Wissenschaften mit genügender Schärfe ins Auge zu fassen, muß zunächst für beide eine klar und sicher gezogene Begriffsumgrenzung gegeben werden, und zwar so, wie sie sich heutiger Forschung ergibt. Unter Geschichtslehre soll hier wie überall sonst derjenige Teil der Geschichtswissenschaft verstanden werden, der eine Lehre vom Wesen und von den Formen des geschichtlichen Werdens gibt, und unter Gesellschaftslehre die Wissenschaft von dem Wesen und den Formen des tatsächlichen Verhaltens der Einzelnen und ihrer Einungen zueinander. Von diesen Begriffsumgrenzungen ist die erste, die Geschichtslehre angehende, ganz gewiß nicht eine, die Comte selbst festgelegt haben würde. Denn weder Werden noch Geschichte sind die Kategorien, von denen er auszugehen pflegte. Wohl aber würde der Gesamtstoff alles dessen, was Comte in seinen beiden Hauptwerken niedergelegt hat, soweit er Geschichte betrifft — und das ist fast alles, was sie enthalten — einer Geschichtslehre einverleibt werden können. Der Unterschied liegt in der Sehweise: die Geschichtslehre, wie sie hier und für unsere besonderen Zwecke umschrieben ist, will grundsätzlich eine Längsschnittwissenschaft sein, d. h. sie will den Gang der Veränderungen schildern, den menschliche Handlungsweisen durchlaufen. Comtes Anschauung faßt zwar ebenfalls beständig im Werden befindliche Zustände der Menschen ins Auge, aber es geschieht nicht um der Längsschnittsichten willen, die sich dabei ergeben, sondern zur Kennzeichnung der beständig in Gang befindlichen Gesellschaftsbewegung. Sollte korrekt verfahren

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Gesellschaftsformer: Comte: Aufriß der GeseUschaftslehre.

werden, so müßte die Comtesche Geschichtsphilosophie innerhalb des auf diesen Blättern angewandten Begriffsnetzes nicht im Bereich der Geschichtslehre untergebracht werden, sondern in dem der Gesellschaftslehre, und zwar in dem Sonderbezirk, der vom Werden handelt und den man Genetik nennen mag. Hierbei aber werden nicht die langen Abfolgen des Werdegangs zum Gegenstand der Betrachtung gemacht, sondern das Werden wird wie das Arbeiten einer beständig in Gang befindlichen Maschine beobachtet. Und es bedarf nicht eines eigenen Beweises dafür, daß beide Betrachtungsweisen, auch wenn sie vom selben Standpunkt aus und mit den gleichen forscherlichen Mitteln angestellt werden, einem verschiedenen Wie der Wissenschaft dienen. Eine solche Unterschiedenheit findet nur statt, soweit die Gesellschaftslehre als Sonderwissenschaft recht gewertet wird: sie ist nach richtiger Einteilung angepaßt an die Bedürfnisse der heutigen Zeit durchaus eine Querschnittwissenschaft. Wenn, wie gar nicht selten geschieht, ihr auch heute die Befugnisse einer Längsschnittwissenschaft zuerteilt werden oder wenn, was schließlich dasselbe besagt, eine über die Ebenen von Geschichte und Gesellschaftslehre hinausgehobene Gesamtwissenschaft gefordert wird, so wird man eine solche Vermengung ablehnen müssen, weil sie dort, wo scharfe Geschiedenheiten durchaus notwendig sind, eine höchst überflüssige Vermischung entstehen läßt. Wird hier die Gesellschaftslehre als Querschnittwissenschaft bezeichnet, so bedeutet dies eine einebnige Wissenschaft, d. h. eine solche, die, absehend von der Zeit und von zeitlichen Anordnungen, menschheitliches Geschehen als solches beobachtet. Allerdings steht bei einer solchen Zielsetzung jedem, der dieser Wissenschaft obliegt, frei, aus jedem beliebigen Zeitalter sich den Stoff seiner Bearbeitung zu wählen; die Praxis der Gesellschaftswissenschaft aber hat ergeben, daß die bei weitem überwiegende Mehrzahl der Forscher fast in schroffem Gegensatz zu einer solchen auch-geschicht-

Gesellschaftslehre: Zielsetzung, Grundlagen.

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liehen Haltung die Einebnigkeit der Gesellschaftslehre so verstanden haben, daß sie fast ausschließlich von ihrer Gegenwart ausgegangen sind und mithin die Geschichte nahezu völlig aus dem Umkreis ihrer erfahrungswissenschaftlichen Unterlagen verbannt haben. Andere, unter ihnen ein so Überragender wie Herbert Spencer, haben einen mittleren Weg eingeschlagen: Spencer redet eigentlich nur von zwei Zeitschichten als Unterlagen seiner Gesellschaftslehre: von der Urzeit und von der Gegenwart. Die theoretisch allein völlig haltbare Auffassung ist meines Wissens weder als Lehre ausgesprochen, noch werktätig verwirklicht worden, das ist die Forderung, daß jede Form und also auch jedes Zeitalter gesellschaftlichen Verhaltens den gleichen Anspruch auf Berücksichtigung habe und daß die Gesellschaftslehre sich also auf die gesellschaftsgeschichtlichen Tatbestände aller Zeiten wie Völker zu stützen habe. So war Comtes Meinung nicht in einem direkten Sinn: er hat nicht für die eigentlich soziologischen Bestandteile seiner Werke eine breite Grundlage der je gewesenen gesellschaftlichen Verhältnisse geschaffen, auf der er dann einen großen soziologischen Oberbau errichtet hätte — etwa so wie der Schreiber dieser Zeilen Grundriß und Aufriß seiner seit 1911 im Bau befindlichen, noch heute aber nicht ganz vollendeten Gesellschaftslehre teils schon ausgeführt, teils geplant hat. Comte aber hat einen anderen Weg eingeschlagen, von dem niemand wird leugnen dürfen, daß er auch auf diese Weise beiden Wissenschaften, der Gesellschafts- wie der Geschichtslehre, die reichsten Dienste geleistet hat. Er sah beide Wissenschaften als eine geistige Einheit; trennt man aber die Interessensphären beider voneinander, so findet sich, daß er jeder von ihnen auch auf eine einheitliche Weise gedient hat: auf die soziologische und jedenfalls nicht auf die geschichtswissenschaftliche Weise.

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Gesellsobaitsformer: Comte: Statik und Dynamik-

Zweites Stück. S t a t i k u n d D y n a m i k der

Soziologie.

Für die Untersuchung der gesellschaftswissenschaftlichen Bestandteile von Comtes Werken müßte immer neben das frühere, gründende Werk von 1830 bis 1842 — den Cours de Philosophie Positive — auch das spätere Werk von 1851 bis 1854 — das Système de Politique Positive — gestellt werden, obwohl es sein wie tiefe Schicksalswendung anmutender Nebentitel Traité de sociologie instituant la religion de l'humanité als zu einem Teil von außerwissenschaftlichen Beweggründen bestimmt erkennen läßt. Denn wenn von seinen religiösen Nebenzwecken und den durch sie bedingten Abweichungen von ausschließlich forscherlichen Gedanken abgesehen wird, so enthält sein zweites großes Hauptwerk wesentlich mehr Gedanken von seiner Gesellschaftslehre als der Cours de Philosophie. Sehr mit Recht hat man nun darauf aufmerksam gemacht, daß die von Comte —• in beiden Schriften — ausgebildete Soziallehre im engeren Sinne an mancherlei Mängeln leidet 1 . Man hat vor allem darauf hingewiesen, daß Comtes Lehre mit einseitigem Nachdruck die äußere Gliederung der Gesellschaft hervortreten läßt und daß er nicht von dem geistigen Zusammenhang der einzelnen Wirkungs- und Tätigkeitsformen der Gesellschaftskörper, nicht von dem geistigen Aufbau handele. Gleichwohl ist es eine Fülle der wichtigsten Beobachtungen, die Comtes Lehre allen solchen Schranken zum Trotz darbietet; und man wird sie um so höher schätzen müssen, als sie fast durchweg erstmalige und also für alle spätere Gesellschaftslehre gründende Erkenntnisse darstellen. Comte hat zur Lehre vom Bau der Familie, sodann zu der von ihm wesentlich höher geschätzten, der gesellschaftlichen Verbindung, der Assoziation, die wichtigsten Beiträge !) Waentig, Auguste Comte (1894) 344.

Comtes Soziologie; forscherliche Grundgesinnung.

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gegeben und mehr noch für die Erkenntnis des Wesens der Arbeitsteilung und der Wirkensvereinigung1 — der séparation des travaux und der coopération des efforts — wie er es ausdrückt. Er hat die Spezialisierung der Funktionen und die Differenzierung der Organe der Gesellschaft, er hat die Kombination der Einheit des Zieles mit der Verschiedenheit der Mittel untersucht, er hat in Annäherung an den Bau der lebendigen Wesen die wichtige Lehre vom Organismus der gesellschaftlichen Einzelkörper ausgebildet. Und wenn er gerade mit ihr in der Folge auf mannigfachen Widerspruch gestoßen ist, so wird dadurch sein Verdienst um die Ausbildung der allgemeinen Gesellschaftswissenschaft eher gemehrt als gemindert, denn die Gegenmeinungen, die Comte hervorrief, sind fast im selben Grade ihm als Verdienst anzurechnen, wie die ihm nachfolgenden Lehren. Doch soll über die hier nur angedeuteten und nicht im mindesten ausgeführten Umrißlinien von Comtes Gesellschaftslehre mit keinem Schritt hinausgegangen werden. Es soll vielmehr jetzt die forscherliche Grundgesinnung von Comtes Gesellschaftslehre im weiteren Sinne — soweit sie also eine Vereinigung von Gesellschafts- und Geschichtslehre darstellt —- erläutert werden. Für sie ist zunächst in Wiederholung der schon aufgestellten Grundansicht zu erklären, daß Comtes Gesamtlehre mit Einschluß ihrer geschichtlichen Bestandteile und gerade für sie entscheidend als Gesellschaftslehre anzusehen ist. Das wird durch nichts besser erhärtet, als durch die Zusammensetzung des Insgesamts seiner Lehre aus den von ihm geschaffenen und wie selbständige Teilwissenschaften behandelten beiden Lehrhälften, der soziologischen Statik und der soziologischen Dynamik. Diese beiden Grundbegriffe sind nicht nur, wie sogleich dargelegt werden soll, wissenschaftliche Entdeckungen vom höchsten Rang, insofern sie 1

) Cours de Philosophie Positive IV (1908) 310ff.

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Gesellschaftsformer: Comte: Statik und Dynamik.

zwei Betrachtungsweisen des Wesens und des Wirkens der Gesellschaft ins Leben gerufen haben, deren Unterscheidung wie deren Entgegensetzung die allerfruchtbarsten Folgen für die Gesellschaftslehre gehabt hat, sondern sie beleuchten auch, eben in ihrer Vereinigung, so hell und unmißdeutbar wie nur irgend denkbar die Lehrmeinung vom Wesen des Insgesamts der Gesellschaftslehre, die Comte aufgestellt und vertreten haben will. Denn indem er dieses Insgesamt als aus sozialer Statik und sozialer Dynamik zusammengesetzt betrachtet, gibt er zu erkennen, daß die diesen beiden Teilen des Gesellschaftslebens gemeinsamen Eigenschaften diejenigen sind, die das Wesen und Wirken der Gesellschaft als einer Ganzheit kennzeichnen. Und es bedarf keines Wortes der Begründung mehr dafür, daß es Soziologie, Gesellschaftslehre im engsten und eigentlichsten Sinne ist, um deren Bearbeitung es sich hier handelt. Wenn Statik in Comtes Sinne die »positive Theorie der Ordnung« des gesellschaftlichen Lebens ist und wenn er unter Ordnung »die dauernde Harmonie zwischen den verschiedenen Existenzbedingungen« verstanden wissen will 1 , so erkennt er in dieser Ordnung keineswegs einen starren, unveränderlichen Zustand, sondern vielmehr die Regelung der Bewegungen im gesellschaftlichen Leben. Ja er geht noch weiter und sieht in der Statik die Lehre von dem an dem Wechsel der Erscheinungen sichtbaren Ewig-Gleichen. Dieses Ewig-Gleiche aber ist ein »beharrendes Werden«, das freilich nur zu erkennen ist, wenn man die Phasen jenes Wechsels und ihren Kausalzusammenhang erforscht. Und diese Forschung, die er die Lehre vom Leben der sozialen Gebilde nennt, vergleicht Comte mit der Physiologie der biologischen Organismen. Man sieht sogleich, warum diesen wenigen Sätzen die höchste Bedeutung zukommt: die Deutung des Begriffs Statik ist zwar nicht bis zu der letzlich freilich wünschenswertesten Formulierung in eine Begriffsumgrenzung, eine Cours de Philosophie Positive IV 168.

Verbindung zwischen Statik und Dynamik; das Ewig-Gleiche.

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Definition vorgedrungen — man sucht vergeblich nach einer solchen in allen Vorlesungen dieser Reihe —, um so wichtiger aber ist der Gehalt dieser kurzen Äußerungen. Denn es ist nicht nur der Statik selbst die Aufgabe vorgeschrieben, die ihr Comte gestellt sehen will, sondern es wird vorgreifend der wurzelhafte Zusammenhang zwischen der Statik und der Dynamik, die als kontrapunktische Komplementärhälfte neben ihr stehen soll, enthüllt. Wenn hier von der Statik mit so starkem Nachdruck erklärt wird, daß man sich unter ihr nicht die Ordnung eines starren Seins vorstellen solle, sondern ein stets bewegliches Sich-Regen, so ist damit schon eine wahre Genetik, eine Werdenslehre als Unterlage dieser Statik gefordert, wenn man will auch eine Dynamik. Ja noch mehr, diese Genetik, diese Dynamik wird in einer Weise als auch die Geschichte umfassend erläutert, daß hier auf das deutlichste sichtbar wird, in welcher Sicht eine reine Geschichtslehre für Comte die Voraussetzung seiner Gesellschaftslehre im engeren Sinne werden konnte. Denn wenn von ihm so der Statik die Vorschrift erteilt wurde, in allem Wechsel der Erscheinungen und so auch in allen Phasen der Geschichte das Ewig-Gleiche aufzusuchen, so war damit schon die innerste und ganz wesenhafte Verbindung zwischen Statik und Dynamik hergestellt. Comte hat der Wissenschaft viele tiefe und reiche Gaben seines Geistes geschenkt, aber keine von ihnen ist wohl reicher und wertvoller, als der Gedanke, durch den er das Nacheinander einmal seiner Dynamik, sodann aber auch der Geschichte selbst mit dem Nebeneinander seiner soziologischen Statik zu einer höheren Einheit verbindet. Den Menschentum und Geschichte Fühlenden überkommt ein Schauer der Ehrfurcht, wenn er Zeuge wird, wie diesem Geist die Erfassung eines Gedankens gelingt, wie der vom EwigGleichen in allem Wechsel der geschichtlichen Erscheinungen. Sie reicht fast heran an die Höhe von Hegels größtem Geschichtsgedanken, in dem er die Unterschiedenheiten der Zeiten zu gunsten auch eines Ewig-Gleichen aufhebt und in Breyaig,

Gestaltungen des geschichtlichen Entwicklungsgedankens.

1}

162

Gesellschaftsformer: Comte: Statik and Dynamik.

dem er von dem großen Jtzt redet, in dem sich alle Verschiedenheiten der Zeiten ausgleichen1. So wichtig aber auch diese Einwurzelung von Comtes Statik in das Insgesamt seiner Soziologie ist, für die Geschichtslehre ist doch der Begriff seiner Dynamik um vieles wichtiger, ja im Grunde einzig ausschlaggebend. Unter Dynamik wünscht Comte die positive Theorie des sozialen Fortschrittes verstanden zu sehen2. Als den Gegenstand der Dynamik sieht er das Hauptgesetz und folglich die wesentlichen Grundlagen der wahren Geschichtsphilosophie an. Wenn hier der Ausdruck Geschichtsphilosophie benutzt wird, so wird man darunter, wie schon angedeutet wurde, nicht eine Geschichtslehre im weitesten und allgemeinsten Umfang zu verstehen haben, sondern, wie Comte sich an anderer Stelle ausdrückt, in dem besonderen der Erfassung der Aktualität des menschlichen Gemeinschaftslebens und, insofern sie das Wesen dieses Lebens in einem Wechsel der Erscheinungen erkennt, des Charakters dieses Wechsels und seiner Ursachen, des »ewigen Werden an sich selber«. Wenn sich in der werktätigen Arbeit Comtes dieses Streben noch in etwas spezialisierte und wenn es sich eigens auf die Ermittlung von Entwicklungsstufen richtete, so bedeutete dies nicht ein Verlassen, eine Umbiegung der noch eben eingeschlagenen Bahn, sondern eher eine Integrierung der gewollten Absicht. Statt der Durchforschung des Wesens der Dynamik, d. h. also einer Lehre vom Kräftespiel des Werdens in seiner Ganzheit, spitzt sich das Interesse Comtes auf das etwas engere, aber gewiß zentrale Problem der Einteilung der menschheitlichen Entwicklung in Stufenalter zu. Zugleich ist nicht mehr von aller, also unterschiedslos aller Entwicklung die Rede, sondern von der sozialen, der gesellschaftlichen Entwicklung, so daß, wenigstens nach der 1 ) Vgl. die Abhandlung Zeit u n d Begriff als Ordnungsformen des geschichtlichen Geschehens. (Philos. Anzeiger 1 1 1 [1926] 427 ff.) >) Cours de Philosophie Positive IV 168.

Entwicklungsstufen; Autog-enie und Beharrung1 der Kraft.

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von heutiger Geschichtslehre festgehaltenen Auffassung, vor allem die geistige Entwicklung ausgeschlossen erscheint. Von höchster Bedeutung bei dieser Erläuterung seines Entwicklungsgedankens ist nun, daß Comte festhält an der Vorstellung, daß die von seiner Dynamik angenommene Kraftentfaltung eine von Anbeginn gegebene Spannung, also eine Uranlage des Menschengeschlechts darstellt. Kein Zweifel, daß diese Annahme Comtes ein a priori in sich birgt, dessen a posienon-Beweisbarkeit schwer zu erhärten sein würde. Denn alle Gesellschaftsgeschichte der Menschheit ist voll von Beweisen dafür, daß sich ihre Kräftespannung beständig ihren Äußerungen nach differenziert und spezialisiert hat. Aus dieser Beobachtung ist aber eher die Möglichkeit abzuleiten, daß sie sich zeitenweise verstärkt oder allenfalls auch herabgemindert hat, nicht aber ist mit Comte aus ihr der Schluß zu ziehen, daß ihr Bestand beharrlich derselbe bleibt. Diese Folge würde die vermutlich unwahrscheinlichste sein. Wesentlich bleibt an dieser Beobachtung Comtes doch, daß er Autogenie und Autarkie, Eigenwerdigkeit, Selbstgenügsamkeit an diesem längsten und allgemeinsten aller Werdegänge der Menschheitsgeschichte, an ihrem Insgesamt oder wenigstens an ihrer gesellschaftlichen Hälfte als ihre eigengehörigen Eigenschaften feststellt. Gleichviel ob hiervon, wie hier geschah, Abzüge gemacht werden, oder ob, was geleugnet wurde, das Ganze dieser Behauptung aufrecht erhalten wird, schon die hier aufgestellte Theorie ist von höchstem Werte.

Drittes Stück. Das theologische

S t a d i u m der W e l t g e s c h i c h t e .

Der Weg, den Comte von der allgemeinen Entwicklungslehre zur Darstellung von Stufenaltern innerhalb des Bereiches seiner Dynamik einschlug, führte in seinem weiteren Verfolg zu dem Fund, in dem recht eigentlich diese Dynamik, 11*

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Gesellschaftsformer: Comte: Theologisohes Stadium.

ja Comtes Geschichtslehre in ihrer Gesamtheit, gipfelt: zu seinem Dreistadiengesetz. In dem zunächst erst halbbewußten Drang, zur Aufstellung einer Stufenfolge zu gelangen, hat Comte schon 1822, also bereits acht Jahre vor dem Beginn der Veröffentlichung seines Cours de Philosophie, in einer seiner den allgemeinen Plan seiner Arbeit vorbereitenden Schriften eine Dreiteilung der Stufenfolge zunächst zwar nicht der allgemeinen menschheitlichen, wohl aber der geistigen Entwicklung aufgestellt. In seinem in jenem Jahr erschienenen Plan der forscherlichen Arbeiten, die notwendig seien, um die menschliche Gesellschaft zu reorganisieren, erklärte er zum ersten Male, daß es drei große Zeitabschnitte seien, in die der Werdegang menschlicher Dinge zerlegt werden müsse: erstens der theologische, der der Fiktion, der Einbildungskraft, zweitens der metaphysische, der abstrakte, drittens der wissenschaftliche, der positive Entwicklungsabschnitt. Höchst kennzeichnend für Comtes Geistigkeit ist nun, in welchem Sinn er die von ihm gewählte Entwicklungsreihe versteht. Es ist eine ganze Gruppe von geistigen Funktionen, um die es ihm zu tun ist; die Umschreibung, die er ihr gibt, verschwimmt etwas ins Allgemeine — whacune de nos conceptions principales, chaqué brauche de nos connaissances, passe successivement par trois états théoriques: l'état théologique, ou fictif; l'état métaphysique, ou abstrait; l'état scientifique ou positif«1 — doch sind ihre entscheidenden Grundzüge unverkennbar. Vor allem ist es ein Intellektualist, der diese Worte ausgesprochen hat. Und wollte man Comte von der Wurzel her kritisieren, so müßte man schon bei dieser untersten Schicht seines Lehrbaues beginnen. Allerdings wird die Anfechtbarkeit dieser Schicht in etwas verhüllt dadurch, daß Comtes Auffassung nur in ihrer vordersten Front, in ihrer Fassade, rein verstandesmäßig ist. Denn das Grundwesen, das nach seiner Meinung dem ersten und anfänglichsten 1)

Cours de Philosophie Positive I (1934) 2.

Dreistadiengesetz; Vorbereitnng; das religiöse Stadium.

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Stadium der Menschheitsentwicklung zuzuschreiben ist, erhält seine Farbe nicht so sehr durch seine intellektuelle Richtung, als durch die positive, die bejahende Seite seines Wollens, durch den Glauben, d. h. die äußerste Bevorzugung der auf den Glauben gerichteten Einbildungskraft. Diese einseitige Bevorzugung des Glaubens ist wahrlich alles andere als intellektuell, als verstandesmäßig. Hier werden Verteidiger der Verstandesmäßigkeit sagen, daß es nicht auf das letzte Ergebnis seiner Forschung für dieses Stadium ankomme, sondern auf die Sehweise, die Sehrichtung. Diese aber ziele auf den Intellektualismus ab, wobei es wenig darauf ankomme, ob das Ergebnis der Untersuchung zu einem Ja oder einem Nein führe, ob sich herausstellt, daß ein Stadium dem Verstand unterworfen ist oder nicht. Hier, das ist das Schlußergebnis von Comtes Sehen, hat der Verstand nicht die Herrschaft gehabt. Wohl hält nun Comte das Überwiegen von Glauben und Gläubigkeit für alles andere als für ein Zeichen von Stärke; er ist vielmehr der Meinung, daß dies ein Beweis von Schwäche, genauer gesagt von noch geringer Kraft sei, denn die drei Stadien, in die er den Gesamtverlauf der Menschheitsgeschichte zerlegt, sind als in aufsteigender Linie aufeinanderfolgend gedacht. Aber immerhin ist dieses Stadium ein Anfang, es ist der Beginn einer Dreigliederreihe und somit auch ein Ansprung, die erste Äußerung einer sich spannenden Kraft. Daß der erste Anfang dieser Wegleistung den schwächsten Abschnitt dieser Kraftreihe bedeutet, mag ihm wie eine Selbstverständlichkeit erschienen sein. Sehr denkwürdig ist des weiteren, daß diese erste Wegstrecke des allgemeinen Geschichtsverlaufs in eine Anzahl von Teilstrecken zerlegt wird. Die erste von ihnen ist dem Fetischismus zugewiesen, unter dem Comte in sehr maßvoller Weise nicht irgendeine rohe Form grober Stein- oder Holzverehrung versteht, sondern die Vergöttlichung von Gegenständen. Die Annahme eines vorfetischistischen Zeitalters unter Berufung auf die Feuerländer, auf einzelne

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Gesellschaftsformer: Comte: Theologisches Stadium.

Gruppen der Ozeanier und auf die Nordwestamerikaner wird abgelehnt1. Doch geschieht dies keineswegs aus Gründen völkerkundlicher Erfahrungswissenschaft, der man allerdings nach dieser Probe von denkbar konfuser und völlig unwissenschaftlicher, richtiger zu sagen vorwissenschaftlicher Vorbereitung nur eine sehr schlechte Prognose stellen könnte, sondern mit einer allgemein-begrifflichen Begründung, die freilich auch seltsam genug ausfällt. Eine solche Unterstellung nämlich, so wendet Comte ein, würde in Widerspruch stehen zu einem Grundsatz, den die immerdar als Ur- und Vorbild zu betrachtende Biologie der Soziologie überliefern müsse und nach dem »der menschliche Organismus immer . . . die nämlichen wesentlichen Bedürfnisse hat zeigen müssen, die in keinem Fall anders als durch den Grad ihrer Entwicklung und die entsprechende Art ihrer Befriedigung allmählich sich voneinander haben unterscheiden können«. Diese Erklärung ist als ein a priori weder sehr überzeugend noch in ihrer Einzelbegründung allzu klar. Doch wundert man sich dann sehr wenig über eine so unzulängliche Schlußfolgerung, wenn kurz danach behauptet wird, daß die Glaubensform des Fetischismus nur eine den Einzelnen angehende, eine individualistische, nicht aber eine soziale, d. h. eine ganze Körperschaft, also etwa eine Völkerschaft oder einen Stamm ergreifende Macht über die Gemüter ausgeübt habe. Diese Auffassung widerspricht allen Tatbeständen, die sich von der Völkerkunde etwa der nordwestund nordostamerikanischen Völkergruppen ablesen läßt. Wenn der Tierdienst gerühmt wird, weil er die Erhaltung nützlicher Tiere gefördert habe, wird man vollends sehr wenig erfreulich berührt durch solchen nicht eben hochgestimmten Utilitarismus. Andere Beobachtungen über dieses Zeitalter des Fetischismus, das nach der auf diesen Blättern verwandten Einteilung dem Urzeitalter gleichzusetzen ist, graben tiefer und sind glücklicher, so, wenn dem 1

) Cours de Philosophie Positive V (1908) 18.

Fetischismus; Vielgötterglauben; zugeordnete Seelenkräfte.

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Allseelenglauben eine starke Förderung der Einbildungskraft nachgerühmt wird. Im ganzen aber leidet die empirische Unterbauung des begrifflich geordneten Bildes, das Comte gerade von diesem Entwicklungsstadium gibt, an dem gleichen Mangel an ernster oder gar wissenschaftlich vollständiger Kenntnis von den lebenden Urzeitvölkern, wie er sich ein halbes Menschenalter später in noch höherem Maße an Marx' Geschichtslehre gerächt hat. Als das zweite Stadium der Entwicklung oder vielmehr des Geistes der Menschheit setzt Comte das des Vielgötterglaubens an. In ihm sieht er das Zeitalter der reinen Herrschaft einer naiven Götterlehre, einer direkten Theologie. Den wesentlichen Unterschied zwischen dem Zeitalter des Fetischismus und dem des Vielgötterglaubens, der ausgezeichnet sei durch die lange Dauer seiner Herrschaft, sieht Comte darin, daß in diesem Stadium die Einbildungskraft die Vorherrschaft über die Vernunft an sich gezogen habe, während im Stadium des Fetischismus das Gefühl diese behauptet habe1. An dieser Unterscheidung fällt auf, daß ihr Urheber zu einem Ergebnis gekommen ist, das sehr weit von der auf diesen Blättern vertretenen Geschichtslehre abweicht. In dieser wurde eine allerdings von ganz anderen Voraussetzungen ausgehende Lehre zur Geschichte der Seele aufgestellt, nach der dem Urzeitalter die Einbildungskraft als herrschende, das Gefühl als helfende Seelenkraft zugeordnet ist; die Auffassung Comtes weist dagegen das Gefühl als allein leitende Kraft dem Fetischismus, also der Urzeit zu, während dem Polytheismus, d. h. nach unserer Teilung der Altertumsstufe, die Einbildungskraft zugeteilt wird2. Eine gewisse, wenn auch nicht die ganze Nähe l ) Cours de Philosophie Positive V (1908) 80. ') Die Geschichte der Seele (1931) 32, 41. Es soll nicht verabsäumt werden, eigens darauf aufmerksam zu machen, daß hier nicht das mindeste Abhängigkeitsverhältnis zwischen meiner Auffassung und der von Comte aufgestellten besteht, weder soweit

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Gesellschaftsform er: Comte: Theologisohes Stadium.

zwischen beiden Auffassungen hat sich hier immerhin für die Urzeit ergeben. Doch erkennt man leicht, daß die zweite, jüngere Lehre nichts mit der älteren — Comtes — zu schaffen hat, denn schon in Hinsicht auf das zweit höhere Stadium klaffen beide Deutungen weit auseinander, vornehmlich deswegen, weil der vom Schreiber dieser Zeilen vorgeschlagene Aufriß eines Stufenbaus das Insgesamt aller Sachentwicklungsreihen zur Grundlage nehmen und nicht nur die geistigen oder gar nur die wissenschaftlichen Entwicklungen umfassen will. Eine — an sich recht beträchtliche — Unterschiedenheit zwischen Comtes Teilung auch in Hinsicht auf die Unterteilungen des Stadiums Fetischismus-Urzeit und der in heutiger Geschichtslehre vertretenen ist die, daß Comte seinem von Anfang an als Grundsatz aufgestellten Entschluß, sich für seine Teilungen von den Bedürfnissen und Ergebnissen der geistigen, ja im Grunde nur der wissenschaftlichen, der philosophischen Entwicklung leiten zu lassen, in der Hauptsache treu geblieben ist, während für die Geschichtslehre dieser Blätter ein anderes Verfahren, als das hier eingeschlagene, d. h. ein alle Entwicklungen menschlichen Wesens gleichmäßig umfassendes, undenkbar wäre. Wenn also für die Altertumsstufe, der das Stadium des Polytheismus im wesentlichen entspricht, hier die Doppeltheit von Willen und Verstand als Kennzeichnung ihres Wesens gewählt ist, so wird allerdings die für die Urzeit benutzte Bezeichnung, die besondere Deutung des TJrzeitalters in Betracht kommt, noch soweit die Hinbeziehung von einzelnen Entwicklungsaitern auf Seelenkräfte als ein allgemeines Forschungsmittel benutzt wurde. Ich habe schon eine Reihe von Jahren die Lehre von den Seelenkräften ausgebildet, ehe ich (1932) diese Lehre Comtes keimen lernte. Selbst die von mir vertretene Teilung der Gesamtgeschichte im Längsschnitt nach Stadien ist nie von Comtes Vorbild beeinflußt worden, weil ich, als ich sie ausbildete (1806), die Details von Comtes Geschichtslehre gar nicht kannte. Ich habe sie nie für irgendwelche eigene Lehren als Grundlage oder auch nur als Anregung benutzt.

Unterschiede gegen heutige Teilung; empirische Grundlagen.

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die eigens als auf das geistige Geschehen gerichtet angesehen werden kann, mit einer Benennung vertauscht, die zwar auch nicht einseitig und ausschließlich, aber immerhin vorzugsweise das handelnde und nicht mehr das geistige Leben angeht. Das Stadium des Polytheismus ist von Comte mannigfach durchleuchtet und mit mehr als einer durchdringend klugen Beobachtung überstrahlt; am bedeutendsten für die Gesamtbehandlung dieses Gliedes in der Kette aber ist, daß dieses Entwicklungsalter, das wieder in Unterstufen zerlegt ist, nunmehr nicht des weiteren in Teilstrecken des geistigen Lebens zerteilt erscheint, sondern in solche der gesellschaftlichen Ordnung. Erinnert man sich, daß die auf diesen Blättern gewählte Namengebung auch den Weg der Benennung nach überwiegend gesellschaftlichen Gesichtspunkten wählt, so wird man sich des Gedankens nicht erwehren können, daß hier ungefähr gleiche wissenschaftliche Antriebe auch ungefähr gleiche Ergebnisse hervorgebracht haben. Nicht immer sind die empirischen Unterlagen, die den von Comte errichteten Oberbauten gegeben werden, sehr zuverlässig. So, wenn von der ersten Unterstufe dieses Stadiums, dem theokratischen Polytheismus, ausgesagt wird, daß er durch das Kastenwesen gekennzeichnet werde. Mag die andere Eigenschaft, die ihm zugeschrieben wird, daß er allzu stabil und deshalb fortschrittsfeindlich werde, nicht unrichtig gewählt sein, so trifft die erste, das Kastenwesen, doch nur in beschränktem Maße zu. Man wird die Charakterisierung der indischen Gesellschaftsordnung durch das Kastenwesen gewiß nur billigen können, auch alle Sklaverei der vorderorientalischen Völker so richtig gekennzeichnet finden. Aber schon die Sklaverei der Griechen und Römer, der Kelten und Slaven wird man nicht gern als einen Beweis von Kastenwesen betrachten wollen. Als eine nächste Unterstufe sieht Comte den militärischen Polytheismus an, von dem er aber vorbehält, daß der Über-

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Gesellschaftsformer : Comte: Theologisches Stadium.

gang zu ihm sich nur vollziehe »bei den Völkern . . . bei denen alle äußeren Bedingungen die Entwicklung zum Krieg begünstigten und deren Zivilisation durch die Gründung von Kolonien beschleunigt worden ist«. Eine Spaltung dieser Entfaltung des Polytheismus tritt ein: die beiden Zweige, in die er sich zerlegt, sind der intellektuelle militärische Polytheismus — seine krönende Form der griechische — und der soziale militärische Polytheismus — seine Ausgipfelung Born. Die Spartaner nähern sich den Römern. Der militärische Polytheismus läßt eine Klasse von Gelehrten emporkommen, die nicht mehr Priester sind. In der alexandrinischen Schule spaltet sich die Philosophie in Natur- und Moralphilosophie und geht aus der reinen Spekulation in eine Einwirkung auf das werktätige soziale Dasein über. In Born vermag die militärisch-senatorische Gewalt sich das Priestertum unterzuordnen. Die Fremden werden nicht, wie dies sonst auf dieser Stufe Brauch ist, abgestoßen, sondern einverleibt: eine Weltherrschaft bereitet sich vor. Geistig habe, so meint Comte, Bom das Werk der Griechen würdig fortgesetzt. Ebenso zweifelhaft ist seine Behauptung, daß das Kaisertum keine neuen Ordnungsgedanken aufgebracht habe. Die Moralphilosophie, von der Comte meint, sie sei metaphysisch geworden, ist nach seiner Ansicht wie jede Metaphysik unfähig gewesen, die Gesellschaft zu lenken. Sie habe so den Aufschwung des Eingottesgedankens erleichtert.

Viertes Stück. Besondere

Schlußfolgerungen.

Schweift das Auge, bei diesem ersten Buhepunkt von Comtes Weltgeschichte angekommen, rückwärts, um festzustellen, was denn nun die werktätige Ausführung des Entwicklungsgedankens durch Comte zuwege gebracht hat, so ist das Eine über jeden Zweifel erhaben, daß unter allen

Comte wie Vico Theoretiker der Geschichtsforschung.

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Erforschern der Universalgeschichte Comte derjenige ist, der zwar noch nicht den wirklichen und endgültigen Übergang von der Theorie zur Praxis der universalen Entwicklungsgeschichte vollzogen hat, aber der in der Richtung auf die Durchführung dieses Übergangs doch weiter vorgedrungen ist, als irgendeiner der Entwicklungshistoriker der Neueren und Neuesten Zeit. Wohl ist er noch, ganz wie Vico, nicht eigentlich über die Absicht hinausgegangen, lediglich einen Plan für die Ausführung universalgeschichtlicher Arbeit zu entwerfen. Ihm mag, so wird man sagen dürfen, ebensowenig wie Vico je der Gedanke gekommen sein, eine Weltgeschichte zu schreiben; er bleibt ein Planender, ein Lehrender, ein Theoretiker der Entwicklungsgeschichte. Es ist wahrlich nicht von ungefähr geschehen, daß beide Geschichtsdenker ihr Wirken als Philosophie bezeichnet haben, beide auch mit dem ehrgeizigen Hintergedanken, nicht das Werk der alten Philosophie in ihrem Sinne fortzusetzen, sondern entweder, wie Vico wollte, eine neue Wissenschaft auf den Thron der vertriebenen Philosophie zu setzen, oder, wie Comte, eine völlig neue Philosophie an die Stelle der überwundenen alten zu setzen. Beide waren mithin weit davon entfernt, sich Geschichtsforscher zu bedünken, geschweige denn sich solche zu nennen. Für Vico, dessen Neue Wissenschaft eine Kreuzung von Philosophie und Geschichte darstellen sollte, kam eine solche Benennung ohnehin nicht in Betracht, für Comte aber auch nicht, da er der Geschichte, wohl um ihres reinen Descriptivismus willen, ohnehin nicht hold gesonnen war. Er verstand unter Geschichte eine untergeordnete Gelehrsamkeit, die zu pflegen oder an der sich zu beteiligen ihm gar nicht in den Sinn kommen konnte. Was aber das Verhältnis zwischen Vico und Comte angeht, so wird nicht verkannt werden dürfen, daß Comte in den letzten beiden Büchern seines Coura sich der Weise einer geordneten geschichtlichen und nun allerdings weltgeschichtlichen Darstellung um vieles mehr genähert habe als Vico. Vico hat vornehmlich in der Anordnung seines Werkes nie

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Qesellsohaftsformer: Comte: Besondere Folgerungen.

den Geschichtslehrer vergessen lassen, Comte aber hat schon durch die Anordnung wenigstens des zweiten, des geschichtlichen Teils seines Hauptwerks nach einer rein zeitlichen Ordnung sich in diesem, dem Hauptpunkte, dem Bedürfnis der geschichtlichen Wissenschaft völlig unterworfen. In diesem wie in jedem anderen Stück hat Comte dem Entwicklungsgedanken im Bereiche seiner Forschung zum Siege verholfen. Zuerst und am entschiedensten in der großen Grundgliederung seiner geschichtlichen Darstellung. Er tat in ihr ein ebenso gewaltiges Werk forscherlichen Fortschrittes wie dereinst Vico in dem seinigen mit seinen zwei Bündelungen und seinen corsi e ricorsi. Denn er schuf hier zum erstenmal eine Gliederung, die zwar die altgewohnte Teilung nach der Zeitrechnung beizubehalten vermochte, ihr aber im Sinne des reinen Geschichtsdenkens eine höhere, völlig aus dem Gedanken heraus geborene Bedeutung gab. Indem Comte zum Maßstab seiner Teilung die geistige Leistung der Menschheit — oder vielmehr einiger zu diesem Zweck ausgelesener Führervölker — machte, entsprach er allerdings nur dem Grundzug seiner Veranlagung zum Geist, ja insbesondere zum Verstand hin. Aber die allerdings schädliche Einseitigkeit, die er damit seinem Geschichtsbilde gab, vermochte er doch durch eine andere Einseitigkeit von an sich noch engerem Wirkungsbereich zu einem großen Teil wieder aufzuheben: denn dadurch, daß er innerhalb der geistigen Tätigkeit des noch jungen Menschengeschlechts den religiösen Kreisausschnitt ihres Insgesamts heraushob und ihn völlig bevorzugte, wurde die allzu starke Betonung des Intellektuellen — wie Comte es meinte —, des Geistigen, wie wir es doch freier nennen müssen, in etwas wieder aufgehoben. Die Hervorhebimg des Glaubens innerhalb des geistigen Tuns bedeutete die Hereinnähme eines seelischen Gegengewichtes in die Analyse des geschichtlichen Subjektes der Menschheit. Gemeint freilich war, aus Comtes Sehweise heraus gesprochen, die Betonung des Glaubens alles andere als wohlwollend: sie sollte in die

Geist und Glauben bevorzugt; Zeit- und Wertiolge der Stadien. 173

Lebensgeschichte des Menschengeschlechts eine starke Betonung, man ist versucht zu sagen eine Überbetonung des Kindhaften, allzu Kindhaften einmischen. Comte übersieht nicht die Notwendigkeit, daß die Geschichte des Menschengeschlechts, eben als eine Lebensgeschichte, mit einer Kindheit anfangen müsse; aber er wünscht doch eigens deutlich zu machen, daß eben nur eine solche Kindhaftigkeit das theologische Stadium, wie er es nennt, habe erzeugen können. Man sieht leicht, daß diese mindere Schätzung des ersten Stadiums eine Verbindung von tatsächlicher und wertender Rangordnung bedeutet. Mit der an sich lediglich erfahrungsmäßigen, lediglich empirischen Ordnung wird eine geistige, nicht eben hochachtende Platzzuweisung verbunden, ohne daß übrigens diese Verbindung eigens betont wird. Nur darüber wird der Leser nicht einen Augenblick im Zweifel gelassen, daß die Abfolge der Darstellung, die, wie selbstverständlich, als Zeitfolge auftritt, eine aufsteigende, vom minder zum mehr Wertvollen fortschreitende Reihe ist. Comte ist noch viel zu sehr von den Fortschrittsgedanken des achtzehnten Jahrhunderts beherrscht, als daß er sich zu dem einzig richtigen Gedanken hätte erheben können, der dem Forscher versagt, vom Fortschritt der Menschheit zu reden, aus dem einfachen Grunde, weil die Kräfte der Seele unseres Geschlechtes viel zu mannigfach und zerteilt sind, um die Reihe ihrer Veränderungen auf einer Linie abzutragen, und weil keineswegs alle die einzelnen Reihen, in die sich ihre Entwicklung zerlegen läßt, sich in einer Richtung vorwärts bewegen, weil vielmehr unter ihnen die einen in Zunahme, die anderen aber in Abnahme begriffen sind. Solcher Einsicht kam Comte zwar nahe. Er sieht absteigende Linien neben der aufsteigenden, so die Verluste an Förderung der schöpferischen Einbildungskraft bei Überwindung des Vielgötterglaubens, die Verluste an Kraft der Durchdringung des Lebens mit Glaubens-, also geistigen Vorstellungen bei jedem Übergang in ein höheres Glaubensstadium. Aber sein

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Gesellschaftsformer: Comte: Besondere Polgerungen.

eigener Glaube an die Vervollkommnung des Menschengeschlechts durch die Entfaltung einer positiven Wissenschaft war zu mächtig, als daß er nicht jeden Schritt auf dieser alle anderen überwältigenden Hauptlinie als Fortschritt schlechthin gewertet hätte. Die nächst notwendige Erwägung, die von jeder Würdigung von Comtes Geschichtslehre zu fordern ist, ist die, wie sich innerhalb der Teilstrecken, in die Comte den gesamten Ablauf der Menschheitsgeschichte zerlegt, der Fortgang des Geschehens vollzieht. Es wirft sich hier zunächst die Frage auf: wie wird das Nacheinander, die Abfolge der sich vordrängenden Zustände — richtiger gesagt Handlungsweisen — so erklärt, daß dadurch eine Verkettung dieser Handlungsweisen erkennbar wird. In der Schulsprache älterer Zeit so ausgedrückt: daß aus einer empirisch festgestellten, eine kausal verkettete Geschehensreihe wird, d. h. daß jene in diese umgedeutet wird. Daß Comte einen starken Antrieb zu einer solchen deutenden Wandlung verspürte, ist von vornherein begreiflich. Und als die Geschehensreihen, die miteinander in Beziehung zu setzen sind, bieten sich ohne weiteres jene Teilstrecken dar, in die Comtes Lehre den Verlauf des ersten, des religiösen Stadiums zerlegt: also die Unterstadien des Fetischismus, des Polytheismus, des Monotheismus. Über deren Verhältnis zueinander hat Comte in der Tat eine Regel aufgestellt, deren Bedeutung ihm so beträchtlich erscheint, daß er sie als einen Hauptsatz der Geschichtsphilosophie bezeichnet. Der Satz, der als ein zu beweisender in den Vordergrund gestellt wird, ist dieser. Die Umbildung des religiösen Geistes aus dem Zustand des Fetischismus in den des Vielgötterglaubens bedeutet ein erstes Abnehmen dieses Geistes. Dieser Satz ist aufgestellt mit der Absicht, das wirkliche Geschehen konform mit dem von Comte a priori vertretenen früheren Satze zu erweisen, daß bei jedem weiteren Fortschritt des Geistes ein Abnehmen des religiösen Geistes

Verkettungen; Verluste beim Übergang zum Vielgötterglauben. 176

stattfindet. Comte mag selbst fühlen1, daß diese Setzung, indem er sie ausspricht, seine Leser in Verwunderung setzen wird. Denn wie sollte ein unbefangen Urteilender die reiche und so köstlich ausgestaltene Geister- und Götterwelt des Vielgötterglaubens als Verlust für den religiösen Geist betrachten. So erklärt Comte — teilweise sich widersprechend —, daß durch den Vielgötterglauben der menschlichen Einbildungskraft ein gewaltiger Aufschwung verliehen sei, daß durch ihn dem Glauben auch eine höhere soziale Wirksamkeit verschafft wurde. Diese Behauptung erscheint etwas doppeldeutig und mancher Leser wird geneigt sein, sie als widerspruchsvoll abzulehnen. Doch kommt ihr sicherlich ein gewisses Maß von Wahrheit zu, eine Wahrheit übrigens, zu der Comte mehr durch das Mittel wissenschaftlicher Ahnung als durch eine sichere Empirie gekommen ist, z. B. durch bestimmte Einzelentwicklungen des Glaubens, etwa bei hochgestiegenen Urzeitvölkern. Derlei Kenntnisse waren Comte ganz fern: zu seiner Zeit waren sie nur im Besitz von wenigen Fachkennern und auch bei ihnen nicht zu allgemeineren Zusammenfassungen verarbeitet. Doch wird man Comte, eben weil er so der sicheren erfahrungswissenschaftlichen Grundlagen entbehren mußte, seine Stellungnahme um so höher anrechnen müssen. Wenn er die allgemeine Religiosität des Urzeitmenschen als Äußerung des geistigen Gefühls höher einschätzte, als die so viel ausgeprägtere und so viel schärfer konturierte, an soviel bestimmter umrissene Gestalten gebundene Glaubenswelt des Vielgötterglaubens, so bedeutete dies eine eigens feinfühlige Schätzung für die Empfindungs- und Stimmungswelt des Glaubens. Comte muß bemerkt haben, wie die viel diffuser, viel allgemeiner sich nach allen Seiten verströmende Gläubigkeit eines fetischistischen Urzeitvolkes eine stärkere Gefühlsäußerung darstellte, als das an sich für das herkömmliche Sehen weit anziehendere und weit sichtbarere l)

Couis de Philosophie Positive V 63f.

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Gesellschaftsformer: Comte: Besondere Folgerungen.

Glaubens- und Gestaltenwerk des Vielgötterglaubens. Ja Comte findet auch noch das gleiche Verhältnis bei dem Übergang des Glaubens vom Vielgötterglauben zum EinGottes-Glauben : er findet bei dem einfachen frommen Polytheisten ein innigeres und ausgesprocheneres Übergewicht des religiösen Geistes als bei dem Bekenner des Ein-GottesGlaubens. Bei dieser Glaubensform nehmen die Visionen und Erscheinungen, die Orakel und Wunder ab. Comte schließt mit dem Verdikt über den Ein-Gottes-Glauben ab, daß unter ihm der förmliche und wachsende Verfall des religiösen Geistes begonnen habe1. Man kann nicht umhin, die Feinheit und Sicherheit des geschichtlichen Verständnisses oder, wenn man lieber will, der Gesellschaftsseelenkunde Comtes zu bewundern. Und dieser Eindruck wird nicht gemindert durch die weiteren Erörterungen, die Comte hier folgen läßt. Er macht sich selbst den Einwand, daß man daran Anstoß nehmen könnte, daß der Ein-Gottes-Glauben ein geringeres Maß Hingebung mit sich bringen solle, als der Vielgötterglauben. Aber Comte macht als Gegengrund geltend2, daß bei solcher Auslegung die intellektuelle Bedeutung der Glaubensinhalte mit der sozialen Bedeutung der Hingebung verwechselt wird, welch letzterer Comte, offenbar nicht mit Unrecht, die größere Bedeutung beimißt. Er macht ferner geltend, daß man vom Vielgötterglauben nicht das gleiche Maß von Fanatismus und Verfolgungssucht gegen fremde Religionen erwarten dürfe wie vom Ein-Gottes-Glauben. Die moralische und seelische Wirkung, die der Vielgötterglauben ausgeübt habe, könne man nur dann gerecht beurteilen, wenn man sie mit dem Hauptamt vergleiche, das ihr im Insgesamt der menschheitlichen Entwicklung zuteil geworden war3. Comte a !) Cours de Philosophie Positive V 64f. ) Ebenda 65. ) On ne peut sainement apprécier l'efficacité morale et sociale du polythéisme qu'en la comparant au principal office qui lui était destiné dans l'ensemble de l'évolution humaine. (Comte, Cours de philosophie V [1908] 66.) s

Wertung des Polytheismus; Trennung1 von Körpern und Gewalten. 177

meint hier offenbar die lebendige Förderung, die aller geistigen Tätigkeit durch die Theologie zugute gekommen sei. Er sieht in der Erschaffung der Göttergestalten den ersten Vorstoß des metaphysischen Geistes. Und wird man gegen diese Auffassung auch einzuwenden haben, daß sie, etwas allzu einseitig intellektuell, zu sehr den Geist, zu wenig die Einbildungskraft betone, die doch vorzugsweise diese Gestalten als sinnlich greifbare schuf, so wird die Feinheit dieses Gedankenganges nicht verkannt werden dürfen. Sie läßt vornehmlich das Eine deutlich erkennen, daß Comte, den man um seines übertriebenen Intellektualismus willen zu tadeln nur zu leicht bereit ist, hierin zu Unrecht beschuldigt wird. Am wenigsten haben diejenigen Denker des neunzehnten Jahrhunderts, die ihre eigene, etwas oberflächliche Nur-Verstandesmäßigkeit von Comte herzuleiten lieben, dazu ein Recht. Wer den seelischen Reichtum der Religiosität der Urzeitvölker, die Comte nur etwas allzu derb Fetischismus genannt, doch im mindesten nicht derb verstanden hat, so gut erkannt hat, ist gegen derartige Vorwürfe gesichert. Ein zweites Lob spendet Comte dem Vielgötterglauben, das zwar auch die Förderung eines allgemeinen Geistesbesitzes angeht, das aber noch besonderer, noch spezifischer theologie-, zugleich aber auch begriffsgeschichtlicher Art ist. Comte lenkt den Blick der allgemeinen Geistesgeschichte darauf, daß, solange fetischistische Anschauungen herrschten, der menschliche Geist Körper gar nicht sehen konnte, ohne sie zugleich mit seelischen, mit religiösen Vorstellungen untrennbar zu verknüpfen. Diese Verbindung aber wurde durch die Gestaltenfülle aufgehoben, in die der Vielgötterglaube sein religiöses Gefühl ergoß. Denn nun war es möglich, Körper —- auch wohl Wesen —• aufzufassen, ohne sie mit den ihnen bisher ausnahmslos zugeteilten Geistbewohnern zu verbinden —• wenn es erlaubt ist, hier einmal die Inua-Vorstellung 1 heranzuziehen, die Comte gewiß noch !) Die Geschichte der Menschheit II (1940) 28. B r e y Big,

G e s t a l t u n g e n des g e s c h i c h t l i c h e n

Entwicklangsgedankens.

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Gesellschalteformer: Comte: Besondere Polgerungen.

nicht kannte, die sich aber wie die schlechthin erstaunlich erfüllte Bewährung der von Comte geahnten Tatbestände ausnimmt —. Für Comtes tiefbohrenden Blick stellt sich dadurch ein ganz unerwartetes Ergebnis heraus: eine Emanzipation der Materie von dem Geist, mit dem ihn die fetischistische Gläubigkeit in eine unauflösbare Einheit verschmolz. Ein Ergebnis, das ganz gewiß so, wie Comte es auch sieht, eine Minderung der Spannweite des religiösen Gefühls in sich schloß, das aber außerdem, was man gerade gar nicht erwartet, dadurch eine Vorbereitung des metaphysischen; ja in fernerer Folge auch des wissenschaftlichen Geistes herbeigeführt hat. Kein Zweifel, was Comte hier in wenigen, ganz bescheiden sachlich und ohne jedes hier wahrlich gerechtfertigte Selbstbewußtsein auftretenden Sätzen verkündet, gehört zu den größten und tiefsten Entdeckungen, die je von der Universalgeschichte und der GeselLächaftsseelenkunde, den beiden Wissenschaften, die Comte zumeist gefördert hat, gemacht worden sind. Das Erstaunliche, was sie auszeichnet, ist einmal, daß Comte hier zur Erkenntnis eines seelisch-geistigen Tatbestandes vordrang, der gerade nicht in der Richtung lag, die sein großer Geschichtsgedanke von dem beständigen Vordringen der Menschheit durch die Förderung von Geist und Verstand lag. Man kann sagen, Comte ist hier schon zum mindesten ahnungsvoll zu der Auffassung gelangt, die liebende und eben deswegen tief in das Wesen eindringende Geschichtsanschauung immer als Losung verkünden wird: daß alle Gewinnste in die Zukunft hinein durch einen Verlust von der Vergangenheit her ausgeglichen werden. Zum Zweiten aber kommt er zu der besonders schwer erreichbaren Erkenntnis, daß der Wert eines geistigen Vordringens auch durch Errungenschaften bestimmt werden kann, die sich erst in fernerer Zukunft geltend machen und die einer Richtung angehören können, die der noch eben verfolgten entgegengesetzt ist. Es wird auch einer umfassenden Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte schwer sein,

Würdigung von Comtes Entdeckung; der Qott des Schicksals.

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ein ebenbürtiges Seitenstück zu einer Entdeckung dieses höchsten Ranges zu finden. Vielleicht nicht ganz so hoch zu stellen und doch von sehr hohem Wert ist eine Folgerung, die Comte noch über diese Deutungen hinaus zieht. Er weist darauf hin, daß der Vielgötterglaube, indem er die Gestalten seiner Götterwelt aufbaute, doch das Bedürfnis empfand, der Mannigfaltigkeit und — so werden wir hinzufügen — vielleicht auch der Willkür dieser zahlreichen eigenwilligen, Comte sagt undisziplinierbaren, Götter ein Korrelat, eine Korrektur, einen Ausgleich hinzuzufügen in der Idee des Schicksals — so würden wir sagen — in der Gestalt eines Gottes der Unveränderlichkeit, so drückt es Comte aus, dem die anderen Götter sich unterordnen müssen. Dieser Gott des Schicksals habe, so meint Comte, zuerst den Gedanken des Ein-GottGlaubens für die nächste Zukunft vorbereitet, über ihn hinaus aber auch dem Prinzip der Unveränderlichkeit der Naturgesetze einen ersten Zugang eröffnet 1 . Welche Weite des universalgeschichtlichen Blickes dehnt sich auch hier vor den Augen des staunenden Lesers. Bei weiterer Untersuchung der Wirkungen des Vielgötterglaubens findet Comte, daß durch ihn die philosophischen — wir würden lieber sagen die weltanschaulichen -— Betrachtungen die stärkste Förderung erfahren hätten, ja eine stärkere, als sie ihnen je früher oder später zuteil geworden sei. Niemals wieder sei es zu einer ähnlichen Einheit der Methode, niemals auch zu derselben Gleichartigkeit der Forschungs-, der Anschauungsweise gekommen. Trotz dem Überwiegen phantasiestarker Spekulation habe, so meint Comte, der Vielgötterglauben eine Disziplinierung des forscherlichen Geistes herbeigeführt, wie sie späterhin weder der Ein-Gottes-Glauben noch die sich so vielfach zerspaltende Philosophie habe zu Werke bringen können2. Vergegen-

2)

Cours de Philosophie Positive V 68. Ebenda 68. 12*

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Gesellschaf tsformer: Comte: Besondere Folgerungen.

wärtigt man sieh, was Comte noch nicht möglich war, uns aber in hohem Maße zuteil geworden ist, die unendliche Summe eines geschulten und oft schon exakten Forschens, die den Mühen der gelehrten Priesterschaften von Babylon gelungen ist, so ermißt man auf den ersten Blick, wie richtig Comte hier von seinem wahrlich aprioristischen, ja fast nur ahnenden Vermuten geführt worden ist. Die früheste und die erfolgreichste Wissenschaft ist vom gläubigen Vielgötterglauben inspiriert worden. Und so viel besser unser heutiges Wissen um Forschen und Glauben dieser Geistesstufe ausgestattet ist, das von Comte gesetzte a 'priori seiner Anschauung ist in keinem Stück widerlegt worden. Aus der schlechten Astrologie ist, wie schon Kepler sah, der Astronomie die beste Hilfe gekommen, die Untersuchung der Eingeweide bei der Opferbeschauung war die erste Anatomie, eine höchst mangelhafte Wettervoraussagung wird, so hofft Comte, die wissenschaftliche Meteorologie entstehen lassen1. Mit dem besten Recht, wenn auch seine bekannten und öfter beschrittenen Pfade verfolgend, hebt Comte den erstaunlich fördernden Einfluß hervor, den der Vielgötterglauben auf Dichtung und Musik, ebenso wie auf die bildenden Künste ausübte. Und er übermittelt sehr viel weniger geläufige Einsichten, wenn er darauf aufmerksam macht, wie der Vielgötterglaube, indem er die vom Fetischismus ererbte Kunde von den unbelebten und belebten Dingen aufrechterhielt, zu dem Hilfsmittel der Metamorphosen — der Verwandlungen — griff und damit die alte segensreiche Wirkung der Nähe zu den Dingen aufrecht erhielt2. Und Comte verwundert sich — nicht eigentlich vom Standpunkt unserer, der Phantasie so sehr viel mehr geneigten Anschauung, wohl aber von seinem Intellektualismus her mit Recht —, daß die außerordentliche Blüte der Künste, vornehmlich der !) Cours de Philosophie Positive V 71. ) Ebenda 75.

s

Förderungen von Wissen, Künsten und Staat; Priesterschaften. 181

Dichtung, in ein so frühes, noch wenig reifes Lebensalter der Menschheit gefallen sei, wie das des Vielgötterglaubens. Einen letzten Schritt vorwärts auf dieser Bahn tut Comte, indem er auch die politischen Wirkungen, d. h. Segnungen, des Vielgötterglaubens untersucht. Er räumt zwar ein, daß schon im frühesten Stadium, dem des Fetischismus, die kriegerische Fähigkeit, die Autorität starken Führertums, die Weisheit der Greise und die Milde und Klugheit der Frauen Quell und Ursprung für die Ausbildung politischer Einrichtungen geworden seien; doch er meint, daß alle von ihnen ausgehenden Wirkungen nicht zum Ziele geführt haben würden, wenn der Vielgötterdienst nicht durch seine gesellschaftlichen Ordnungen ihnen zu Hilfe gekommen wäre 1 . Comtes erfahrungswissenschaftliche, d. h. also urzeitgeschichtliche Unterlagen sind wahrlich nicht die besten. Was soll man etwa dazu sagen, wenn er erklärt, daß die staatlichen Wirkungen von geordneten Priesterschaften sich schon in dem letzten Entwicklungsabschnitt des Fetischglaubens geltend gemacht hätten: im Zeitalter des Sternendienstes. Die Glaubensgeschichte der Irokesen, des nicht nur staatlich, nein auch geistig höchst entwickelten unter allen Urzeit Völkern, weiß nichts von irgendwelchem Sternendienst; nach unseren Kenntnissen liegt hier also ein außerordentlich weit in Abwege führender Irrtum Comtes vor. Doch bleibt all solchen Fehlern Comtes gegenüber das Eine unerschütterlich bestehen: in den großen Entscheidungen der Geistesgeschichte führt ihn zumeist ein untrügliches Urteil. So kommt er auch hier zu dem Schluß, daß erst die Entstehung und der Zusammenschluß von geordneten Priesterschaften, die der Vielgötterglaube mit sich brachte, die Wirkung habe hervorbringen können, von der, wie er glaubt, eine tiefgreifende Förderung auf das staatliche Leben ausgegangen ist. Er vertritt die Überzeugung, daß ein PriesterJ)

Cours de Philosophie Positive V 90.

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Gesellschaftsform er: Comte: Besondere Folgerungen.

stand, der sich voll entfaltet hätte dadurch, daß seine Mitglieder von allen kriegerischen oder gewerblichen Verpflichtungen entbunden, Muße genug hatten, eine rein spekulative Klasse — so drückt sich Comte aus, wir würden sagen, eine nur dem Geist dienende Klasse — auszubilden, organisatorisch Außerordentliches zu leisten imstande war1. Dazu kam noch, daß auch die besondere Natur des Vielgötterglaubens einem solchen Geschehen günstig war. Solange der Allseelenglauben des Fetischismus geherrscht hatte, war ein beständiger Seelenverkehr zwischen jedem Gläubigen und jedem für anbetungswürdig und also heilig erklärten Ding, d. h. in Wahrheit jedem Ding möglich. Der Yielgötterglauben aber, der die Zerstreutheit der Verehrung über die Welt aufgegeben hat, um sie auf einzelne Göttergestalten zu vereinigen und sie von der Materie völlig unabhängig zu machen, machte aus der Verehrung eine Kunst, ein Gewerbe, indem er sie, so fügen wir hinzu, meist noch mit dem Schleier des Geheimnisses umgab — kurz, es wurde ein Beruf aus dieser Verehrung gemacht, der der Masse der Gläubigen an sich nicht zugänglich war. Comte rühmt dem entstehenden Priesterstand nach, wieviel Gewalt er in seiner Hand vereinigte: er verwaltete die einzige Philosophie, die es damals gab; er führte den Geist zuerst auf die Bahn wahrer Wissenschaft und er bildete zuerst eine Kunst hohen Banges aus. Des weiteren aber wurde der Priesterstand eine vortreffliche Schule für die Ausübung politischer Macht. Und so ist begreiflich, wenn in diesem Stadium des Vielgötterglaubens sich auch die kriegerischen Leistungen steigern, der Eroberungsgeist sich entwickelt. Indem aber die erobernden siegreichen Völker die unterworfenen besiegt zum Frieden zwingen, wird auch die Zucht des Friedens geübt und vorbereitet. Der Krieg ist auch andererseits Friedensbringer. Der Vielgötterdienst selbst wird zu Quell und Mittel friedfertiger Erweiterung der l

) Cours de Philosophie Positive V 89.

Entwicklungstempo; sozialpsychologische Setzungen.

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Staaten, die ja zugleich auch Kulturkreise sind. Und die Einverleibung der unterworfenen Völker führt zu einer friedlichen Angliederung der neu hinzutretenden Götterdienste zu den altgepflegten1.

Fünftes Stück. Allgemeine Schlußfolgerungen. Man kann nicht sagen, daß Comte die Lehre von den soziologischen Grundkräften bis zu einer Beobachtung zahlreicher besonderer Auswirkungen ausgebildet habe; um so rascher wendet sich seine Aufmerksamkeit der Ausbildung von allgemeinen Lehren zu. Sie setzen schon in unmittelbarer Schlußfolgerung aus der Darstellung des ersten Stadiums ein und sollen deshalb schon hier wiedergegeben und geprüft werden. Die wesentlichste Frage, die bei ganz allgemeiner Durchdenkung der Bedingungen des geschichtlichen Werdeganges sich herausstellen konnte, müßte, vom Standpunkt heutiger Geschichtslehre aus gesehen, wohl die nach dem Tempo der Entwicklung sein. Man wird Comte hoch anrechnen müssen, daß er diese Frage überhaupt gesehen und gestellt hat 2 . Aber viel weiter als bis zu diesem Fortschritt ist er nicht gekommen: Es lag nicht in seinem Blickfeld, Tempomessungen und Tempovergleichungen anzustellen. Es konnte nicht fehlen, daß Comte auch zu geschichtsdynamischen und damit zu sozialpsychologischen Setzungen gekommen ist. Daß es geschah, wird, auch wenn man von allen weiteren und einzelnen Begründungen absieht, an denen es zum großen Teil mangelt, zu den geistigen Großtaten Comtes gerechnet werden müssen, denn es war damit auf ) Cours de Philosophie Positive V 95. ) Cours de Philosophie Positive IV 332ff.

x a

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Gesellsohaftsiormer: Comte: Allgemeine Folgerungen.

jeden Fall allen zukünftigen Forschern auf diesem Feld in einer bestimmten Richtung ein Weg gewiesen, der zu den fruchtbarsten Ergebnissen der Geschichts- und der Gesellschaftslehre führen sollte. Noch das Jahrhundert Comtes sollte zu Forschungen vorwärts schreiten, die aus der Gesellschaftsseelenkunde eine Teil- und Hilfswissenschaft für beide Forschungszweige formte. Comte ist ganz gewiß weit entfernt davon geblieben, eine mannigfach gegliederte oder gar reich ausgebildete Formenlehre der Gesellschaftsseelenkunde auszubauen;, doch hat er nicht nur die obersten Lehrsätze aufgestellt, auf denen allein schon eine ganze neue Wissenschaft aufzurichten war, nein auch die nächst entsprossenen Hauptzweige entstehen lassen. Eine Comte eigentümliche Grundanschauung hat die Verzweigung dieser ersten Gedankenäste in ihrer tiefsten Wesenheit bedingt und bestimmt. Es war seine Setzung, daß, wenn einmal ein Grundgebilde der Gesellschaftsordnung vorhanden sei, seine Ausbildung und seine Fortschritte nur durch die Kraft des inneren Wachstums erfolgen könnten, nicht aber durch irgendwelche äußeren Einrichtungen. Man sieht sogleich, wie diese Behauptung ihren Ursprung in der Grundauffassung Comtes hat, daß die Biologie das Grundgeschehen auch für alles Menschheitsgeschehen darstelle und daß deshalb auch die wichtigsten Geschehensregeln der Menschheitsgeschichte den Geschehensregeln der Biologie entsprechen müßten. Kein Zweifel, der die schon gegebenen Geschehensformen umfassende Untersatz für den Bereich der Biologie ist ebenso gewiß eine Setzung-im-Voraus wie die auf ihnen als Obersatz aufgebaute zweite Lehre von dem Geschehensvollzug innerhalb der Menschheitsgeschichte. Und schließlich ist auch die Herleitung des geschichtlichen Oberbaus aus dem biologischen Unterbau selber eine a priori gestellte Forderung für die Formung des Weltbildes. Denn wodurch sollte wohl erfahrungswissenschaftlich, sollte

Entfaltung der Gesellschaftsgebilde; Geistigkeit Comtes.

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wohl empirisch bewiesen werden, daß sich menschheitliches Geschehen nach den Regeln des biischen Geschehens richten müsse oder gerichtet habe. Doch derartige Bedenken kamen Comte wohl niemals: in ihm war ein so hohes Maß von Aprioristik, von deduktivem, von ableitend-bauendem Geist lebendig, daß ihm diese nach erkenntnistheoretischen Begriffen nur allzu unklaren Misch gebilde von deduktiven und induktiven, von oben ableitenden und aufwärts bauenden Forschungsweisen als eine natürliche Äußerungsform seines Geistes erscheinen mochte. Dabei darf allerdings nicht außer acht gelassen werden, daß das Werk Mills, des Neubegründers der Lehre von der Induktion, erst 1843 zu erscheinen begann, also ein Jahr nach dem Schlußjahr der Veröffentlichung von Comtes Positiver Philosophie. Die durch Mill herbeigeführte Aufhellung dieses grundlegenden Unterschieds für alle wissenschaftliche Arbeit hatte also noch nicht stattgefunden. Eine wahre Setzung im Voraus, die Comte in dieser Folgerungsreihe unterlief, war die, daß er die Geschehensweisen des Wachstums vom individuellen auf das Gattungswachstum übertrug, ohne daran Anstoß zu nehmen1. Daß dies nicht geschah, wird freilich um so weniger wundernehmen dürfen, als dieses Ineinanderübergleiten des Individualwachstums in den Stammbaum der Arten bis auf unsere Tage wie eine natürliche Vereinigung angesehen zu werden pflegt. Doch werden auf der Waagschale geistiger Wertungen die Gewichte dieser allgemeinen Unklarheiten weit weniger schwer wiegen als die großen positiven Errungenschaften, die Comtes in Wahrheit tiefbohrendem Geist dort zuteil wurden, wo er sich von den Allgemeinheiten der höheren Begriffsebenen tiefer zu dem sicheren Boden der ErfahrbarSehr mit Recht wird hierauf aufmerksam gemacht von Marcuse (Die Geschichtsphilosophie Auguste Comtes. Forschungen zur Geschichts- und Gesellschaftslehre, hrsg. von Kurt Breysig VI [1932] 106).

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Gesellschaftsiormer: Comte: Allgemeine Folgerungen.

keiten unterer Schicht herabbegab. Das geschah allerdings nicht in dem Sinne, daß er sich irgend in die Feststellungen der beschreibenden Geschichtswissenschaft, in ihre gründenden Unterlageforschungen eingemischt oder sich gar an ihnen werktätig beteiligt hätte. Comte hat vielmehr bei diesem Vordringen in die Schichten des wissenschaftlichen Unterbaus dort Halt gemacht, wo er immer noch seine beste Fähigkeit, nämlich die des starken Ordnens und der großen Zusammenfassungen betätigen konnte. Gerade auf der Ebene, die er so erreichte und die seiner besten Kraft die gemäßeste sein mochte, ist ihm Außerordentliches gelungen. So vor allem das Erkennen des Vergesellschaftungstriebes als einer Grundkraft für die Ausbildung alles gesellschaftlichen Lebens und die Gliederung aller gesellschaftlichen Ordnung. Er redet da von dem für alle gesellschaftliche Ordnung zutiefst entscheidenden Gegensatz in den gesellschaftsseelischen Regungen. Gewiß nicht, um diesen Gegensatz zur eigentlich soziologischen, wenn man also will, gesellschaftsdenkerischen Grundlage seines ganzen Gedankenbaus zu machen, sondern eher im Vorübergehen verweilend bei einer immerhin wesentlichen Einzelfrage; aber diese Erwägung ist um ihrer grundsätzlichen Bedeutimg willen wichtig genug, um auch dieser Gedankengänge Comtes zu gedenken. Comte hält das Übergewicht der gefühlsmäßigen über die verstandesmäßigen Betätigungsantriebe für sicher. Er tadelt es, daß man den Kombinationen des Verstandes für die Führung des menschlichen Lebens ein chimärisches Übergewicht beilege; dazu hätte man dann noch den Einfluß der Bedürfnisse auf die angebliche Erschaffung der Fähigkeiten bis zur Lächerlichkeit übertrieben. Denn die Befriedigung der Bedürfnisse als oberste wenn nicht einzige Triebfeder menschlicher Handlungen anzusehen, sei schon um deswillen so überaus verkehrt, weil der Nutzen, den man so als vornehmsten Antrieb einsetze, erst nach einer langen Entwicklung der Gesellschaft seine Einwirkung hat be-

Vergesellachaftungstrieb; Gefühlsantriebe; Ichtrieb.

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tätigen können, nicht aber, wie hier angenommen werde, noch vor ihrer Entstehung. Die Tatsache des Vorhandenseins eines »fundamentalen« Hanges zur Vergesellschaftung erscheint Comte gesichert; er beruft sich hier zur Ausnahme auf eine schon bestehende Lehre. Aber unter den Gefühlsantrieben hält er das Überwiegen der unedleren, der selbstischen Instinkte — des instinct perscmnel, wie er es ausdrückt — über die edleren, unmittelbar die Vergesellschaftung betreffenden Triebe für ausgemacht. Und gerade dies erscheint ihm ebenso unentbehrlich wie unvermeidlich; denn ohne dieses Vorherrschen des Ichtriebes würde das Dasein der Gesellschaft — l'existence sociale -— nur einen vagen, unbestimmten Charakter tragen und keine Voraussicht einer Folge von menschlichen Handlungen würde möglich sein1. Eine Doppeldeutigkeit des Ichtriebs, die von Comte unzweifelhaft mit Recht behauptet wird. Doch wird man nicht leugnen dürfen, daß alle diese Andeutungen und zwar wo sie wie hier das Rechte treffen am meisten, einer wesentlich gliederreicheren und vielfacher motivierten Ausführung und Begründung bedürfen2.

Sechstes Stück. Das m e t a p h y s i s c h e und das p o s i t i v e Stadium. Die Übersicht über die halb aprioristische und halb beschreibende Reihe der Geschichtsstadien, die hier begonnen wurde, kehrt zu dem Punkt zurück, bei dem sie abgebrochen wurde: zu dem religiösen Stadium in seiner letzten Ausformung, dem Ein-Gottes-Glauben. !) Cours de Philosophie Positive IV 291f. 2 ) In welchem Sinne, dafür muß heute noch immer auf die Abhandlung: Die Liebe zum Ich und die Liebe zum Anderen (Zukunft X I [1897] 337ff., 377ff.) verwiesen werden.

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Qesellsohaîtsformer: Comte: Die späteren Stadien.

Für Comte ist der Katholizismus recht eigentlich die artvertretende Form des Eingottesgedankens. Und so kann nicht wundernehmen, daß es eine seiner zutiefst bohrenden Darlegungen ist, die er dem mittelalterlichen Kirchenglauben widmet, den er, wie er eigens hervorhebt, wesentlich lieber mit dem für jene Zeit im Grunde ungeschichtlichen Namen Katholizismus nennt, als mit dem an sich richtigeren Namen Christentum. Für die im tiefsten doch sachliche und unparteiische Urteilsweise Comtes ist es höchst bezeichnend, daß er, wie er auch von vornherein bekennt, als Mann seiner Schule, als Verkündiger des Positivismus, eigens gerecht den Katholizismus würdigt. Und zwar nicht aus irgendeinem glaubenswissenschaftlichen Grunde, einem Für oder Wider religiöser Gesinnung oder Strömung, sondern aus einem Grund echtester Wissenschaft, aus der Absicht, den Anteil des Katholizismus an der Gesamtentwicklung der Menschheit mit gerechtem Sinn sicherzustellen. Und es ist kein kleiner Gedanke, der ihn dazu leitet, ein Loblied auf die große geschichtliche Leistung des Katholizismus anzustimmen. Comte hebt hervor, daß die Moral bis dahin der Politik der Staaten gänzlich untergeordnet gewesen sei. Der Katholizismus aber habe alle seine Kraft darangesetzt, die Politik mit der Moral zu durchdringen. Kein Zweifel, man wird über dieses Geschehen sehr verschieden urteilen können, je nachdem man den Grundtenor der mittelalterlich-christlichen Moral billigt, oder halb oder ganz kritisiert; aber auch dies ist nicht eigentlich der Blickwinkel, den Comte hier angelegt zu sehen wünscht, sondern es ist ein allgemeinerer, ein schlechthin gesellschaftswissenschaftlicher. Er ist der Meinung, daß die Durchdringung der Politik mit Moral völlig der Grundtendenz des notwendigen menschheitlichen Fortschrittes entspreche; sie aber sieht Comte in dem Fortschritt der menschlichen Vergesellschaftung. Man wird zugeben, daß dies ein Beweggrund des Rühmens ist, der von denkbarer Sachlichkeit ist. Und Comte beruft sich noch

Förderung1 von Vergesellschaftung, Naturforschung, Kunst

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auf einen weiteren, völlig geschichtlichen Grund, der nach seiner Meinung dazu berechtigt, dieses Verdienst des Katholizismus zu preisen. E r ist der Meinung, daß durch dies Wirken ethischer Politisierung recht eigentlich die Überlegenheit der modernen — d. h. neueuropäischen — Zivilisation über diejenige des Altertums, d. h. des alteuropäischen Weltalters, begründet worden sei, eine Überlegenheit, an deren wachsende Energie er glaubt als ein grundsätzlicher Verteidiger des europäischen Optimismus. E r versäumt nicht, die besondere, an sich höchst gemäßigte Weise einer wiederum mehr moralischen als politischen Durchsetzung der neuen katholischen Gedanken zu rühmen. Denn, so sagt er, die katholische Kirche habe immer nur eine schon bestehende und völlig unabhängig bleibende Staatenwelt mit ihren sittlichen Gedanken zu durchdringen, nie aber in ihr die Gewalt an sich zu reißen gesucht 1 . Dann aber sieht Comte eine den Fortschritt der Naturforschung fördernde Wirkung vom mittelalterlichen und also katholischen Monotheismus ausgehen, insofern er die zahlreichen Hemmungen beseitigte, die von allen Seiten der wissenschaftlichen Erkenntnis vom Polytheismus bereitet wurden. Wenn die Vielgötterei durch die Annahme so vieler kleiner Gewalten eine Fülle von kleinlichen Gegenwirkungen gegen das Walten der Natur zuließ, so wurde durch die Konzentrierung der göttlichen Gewalt bei e i n e m Gotte diesen mannigfaltigen Durchkreuzungen ein Ende gemacht, und die wissenschaftliche Durchdringung der N a t u r h a t t e nun ein weit freieres Feld. Comte ist geneigt, die Förderungen, die der wissenschaftliche Geist durch den spätmittelalterlichen Katholizismus erhalten hat, den noch unbestreitbareren an die Seite zu stellen, die die Dichtung — in Dantes Person —, die Bau- und Tonkunst durch ihn erfahren habe. Und er leugnet — mit welchem Recht, sei dahingestellt —, daß die Vielgötterverehrung der Alten ähnl

) Cours de Philosophie Positive V 176.

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Gesellsehaftsformer: Comte: Die späteren Stadien.

liehe Wirkungen hätte hervorbringen können. Und er sieht hier, ganz ähnlich wie bei dem Ubergang vom Fetischismus zum Polytheismus, nun bei dem Hinüberschreiten des Geistes vom Polytheismus zum Monotheismus eine Herabminderung der religiösen Neigungen Hand in Hand mit einer Wandlung gehen, die auf den ersten Blick den entgegengesetzten Eindruck macht. Aus ähnlichen Beweggründen geht Comte geradezu zum Angriff auf den Protestantismus über: er macht ihm zum Vorwurf, daß er durch die halbe Befriedigung, die er dem geistigen Bedürfnis gewährte, zwar den Dünkel der Massen vermehrt, nicht aber ein weiteres Fortschreiten gefördert hätte. Und ebenso halb und lähmend hätten auch die politischen Fortschritte gewirkt, die der Protestantismus nur halb und zum Teil nur scheinbar hervorgebracht habe, ohne doch eine volle und grundsätzliche Befriedigung der längst bestehenden Bedürfnisse nach wissenschaftlichem Fortschritt herbeizuführen1. Was Comte hier sagt, ist geistreich und auch für unser heutiges Erkennen nützlich. Denn wir pflegen auch heute noch dergleichen Übereinkünfte wie die Auffassung von der geistigen Überlegenheit des Protestantismus über den Katholizismus mit etwas mehr Zähigkeit festzuhalten, als wünschenswert ist. Und keine Klasse von geistigen Menschen hat so viel Eigenschaften, Tim solchen eingerosteten Vorurteilen den Zwang einer Nachprüfung aufzuerlegen, wie Comte, der recht eigentlich immer seinen eigenen Weg geht und in Sachen der beiden christlichen Bekenntnisse eigens unabhängig urteilte. Ob man aber in dieser Sache seinem Urteil beistimmen darf, bleibt mehr als zweifelhaft. Die Summe dessen, was Leibniz und Kant, Hume und Locke dem Geist an neuen Erkenntnissen zugeführt haben, wiegt beträchtlich mehr, als was die Philosophie der katholischen Völker selbst mit *) Cours de Philosophie V 318.

Angriffe auf den Protestantismus.

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Einschluß Descartes' und Vicos dagegen aufzuweisen hat. Dazu kommt eine allgemeine Willigkeit zu wissenschaftlicher Kritik, die dem Fortgang des Geistes in Richtung auf den Positivismus, wie ihn Comte wünscht, höchst förderlich war. Und letztlich darf doch nicht in Vergessenheit geraten, daß der stärkste Geist unter den Führern des katholischdemokratischen und romanischen Europa, daß Rousseau aus dem Protestantismus hervorgegangen ist. Und Comte würde der letzte gewesen sein, der seinen fördernden Einfluß auf die ihm erwünschte Form europäischer Geistigkeit in Zweifel gezogen haben würde. Doch Comte begnügt sich nicht mit seinem Angriff auf die geistige Wirkung des Protestantismus; er fügt zu ihm noch einen weiteren, der die politischen Wirkungen der Kirchenspaltung bemängelt. Comte hält die dogmatischen Erfolge des Protestantismus für ungemein unbedeutend; um so größeres Gewicht legt er den Einwirkungen bei, die die kirchliche Revolution auf die politische Machtverteilung zwischen Staat und Kirche gehabt habe. Er klagt auf das beweglichste darüber, daß durch die Reformation der Kirche so viel Gewalt entzogen und dadurch so viel Macht dem Staat zugeschoben sei. Und da er in der Kirche eine Macht erstens der geistigen Zentralisierung, zum zweiten aber der Organisation, d. h. der Vereinheitlichung der Menschheit sieht und ihm an beiden Gütern der Kultur außerordentlich viel gelegen ist, so ist seine Abneigung gegen den Protestantismus eine sachliche und tief begründete. Auch hierüber sind die Gedanken, die Comte vorträgt, um deswillen von so hohem Wert, weil sie zwar heute gültigen Geschichtsurteilen schlechthin ins Gesicht schlagen, aber vielleicht gerade darum außerordentlich viel originärer sind, als die marktgängigen Meinungen. Comte spricht sehr feindselig gegen Luther. Er sagt von ihm, sein berühmtes Unternehmen habe sich trotz dem großen Lärm, der sich darum erhoben habe, darauf beschränkt, die schon be-

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Gesellschaitsformer: Comte: Die späteren Stadien.

gonnene Zersetzung der katholischen Verfassung zu sanktionieren. Luthers Reformation habe das Dogma nur sehr nebenher berührt, sie habe im wesentlichen sogar die Hierarchie unberührt gelassen und habe einzig die Kirchenzucht schwer geschädigt1. Die beiden wesentlichen Folgen der Reformation sieht er in der Abschaffung der Beichte und der Ehelosigkeit der Priester, Maßnahmen, von denen er meint, daß sie die schon voraufgegangenen Schädigungen der Macht des Priesterstandes nur bestätigt hätten. Seltsamerweise wird der Angriff, den Comte hier gegen den Protestantismus richtet, im Grunde von ihm selbst teilweise zurückgenommen. Er erklärt, daß die katholischen Staaten ihrerseits ganz Ahnliches vollzogen, und daß zu der Zeit, als Heinrich VHI. sich von Rom lossagte, Karl V. und Franz I. dem Ansehen des Papsttumes ganz ähnlichen Schaden zugefügt hätten2. Comte scheint dabei ganz zu übersehen, daß durch eine solche Feststellung die Kraft seiner Polemik gegen den Protestantismus nicht wenig herabgemindert wird. Denn es ist vor allem die einigende Kraft des Papsttums, deren Schwächung er beklagt, und ihr ist — wie Comte an einer anderen Stelle seines Werkes feststellt — schon vom Ausgang des Mittelalters an innerhalb der katholischen Kirche beträchtlicher Abbruch getan. Comte ist erfüllt von der Wichtigkeit der Organisation der katholischen Kirche. Man sieht bei Gelegenheit dieser Darlegung3, wie ungemein in all seinem menschheitlichen Denken überhaupt die Frage der Ordnimg, die im engeren Sinn gesellschaftswissenschaftliche Angelegenheit der Zusammen*) »La célèbre opération de Luther, malgré son fougueux éclat, se réduisit immédiatement à la consécration fondamentale de ce premier degré de décomposition de la constitution catholique, puisqu'elle n'atteignit d'abord le dogme que d'une manière fort accessoire, qu'elle respecta même essentiellement la hiérarchie, et qu'elle n'altéra gravement que la seule discipline.« Cours de Philosophie V 308 f. 2 ) Cours de Philosophie Positive V 308. 3 ) Ebenda 205f.

Würdigung der Organisation der Kirche; Germanen, Romanen.

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fassung und also auch der Zusammenbeherrschung der Menschen, die Oberhand behauptet. Hier wird deutlich: sie ist ihm wichtiger als irgendeine Sache des Geistes und so auch des Glaubens. Mit anderen Worten, er ist Soziologe par excellence, er mißt den Fragen der Gesellschaftsform bei weitem die meiste Bedeutung zu; auch ein geistiges Verhalten wie das des Glaubens ist ihm weit mehr wichtig um seiner Wirkungen auf die gesellschaftliche Ordnung willen, als um seiner selbst willen. Aus diesem Grunde setzt denn auch sein Interesse an dem Gegensatz zwischen Katholizismus und Protestantismus weit früher ein, als die Kirchenspaltung selbst eintrat. Die Gegenströmung macht sich schon etwa zwei Jahrhunderte vor dem Ausgang des Mittelalters geltend. Comte — und auch dies ist von eigener Wichtigkeit für seine Geschichtslehre — hält die zeitliche Länge einer geschichtlichen Wirkungsdauer für besonders wichtig. Zwei Gedankenreihen finden sich hier bei ihm verkoppelt, ohne daß er diese Verknüpfung ganz so scharf erkennen läßt, wie man es wünschen möchte. Was ihm an der Geschichte des Katholizismus — im Sinne von res gestae, also an der geschehenen Geschichte — Pein macht, das ist die Unterbrechung der ungestörten dogmatischen Entwicklung des Glaubens, d. h. vor allem der Kirchenordnung, durch die Kirchenspaltung. Aus demselben Grund aber wünscht er auch für die Geschichte als historia, als Geschichtsforschung, daß sie die unentbehrliche soziale Reihe — wichtiger vielleicht als die geschichtliche Reihe — unberührt erscheinen läßt. Und ihm drängt sich hier als störend eine Erwägung in die Gedanken, die ihm sonst zumeist ganz fern bleibt, das ist der Gegensatz zwischen Germanen und Romanen. Daß er sich dabei ganz und gar auf die Seite der Romanen stellt, ist nicht verwunderlich; weit mehr, daß dieser Gegensatz so selten in seinem Geschichtsbilde auftaucht. Der Grund ist nicht weit zu suchen: Comte war in dem Maße mehr Soziologe als Geschichtsforscher, daß ihm immer die Breisig,

Gestaltungen des geschichtlichen Entwiokltmgigedaiikens.

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Gesellschaftsformer: Comte: Die späteren Stadien.

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abgezogenere, die abstraktere Form gesellschaftswissenschaftlicher Betrachtung sehr viel näher lag, als jede auch nur vorübergehende Weise der konkreten, der geschichtlichen Forschung. Völkergruppen oder gar Rassenteile bilden gar keine Gegenstände, keine Kategorien wissenschaftlichen Sehens für ihn. Die Einfälle der Germanen sind ihm Zufalle der Geschichte; ohne daß er es mit einem Worte berührt, regt sich in ihm der Romane, und wie leicht er etwa noch heute bei deutschen Protestanten Anstoß erregen könnte, wird offenbar, wenn man sich dieser Verbindung von romanischem und katholischem Wesen in seiner Geistigkeit erinnert. So hält er die Wichtigkeit, die man dem Einfluß der Germanen auf die Geschichte dieser Jahrhunderte beimißt, für eine irrationelle Vorstellung, die man aus jeder gesunden Philosophie beseitigen sollte1. Aber er kann das wirkliche, das geschichtliche Geschehen freilich, so sehr er es wünschen möchte, nicht aus der Welt schaffen. Und so stellt er, ohne auch nur im mindesten Liberalismus und Parlamentarismus, Demokratie und Revolution dafür verantwortlich zu machen, einen Rückgang des Katholizismus fest, für den, als die allein Schuldigen, die wachsende Staatsmacht des Absolutismus und der Protestantismus übrigbleiben. Er ist der Ansicht, dem Katholizismus sei durch diese Entwicklung alle freie Entfaltung seiner Kräfte, so wie in seinen großen, seinen mittelalterlichen Zeiten, abgeschnitten worden. Der Katholizismus sei auf eine Position der Selbstverteidigung zurückgeworfen. Er habe auf jede fernere Ausbreitung, auch auf jedes innere Wachstum verzichten müssen. Er habe sich darauf beschränken müssen, seinen Bestand zu erhalten und zu verteidigen, gestützt vorzüglich auf den Jesuitenorden und auf die spanische Monarchie, diesen allein ganz vor ketzerischen Einflüssen bewahrten Staat. Schon von dem Gipfel der Gegenreformation, vom tridenl

) Cours de Philosophie Positive V 206.

Schädigungen der Kirche; Stellungnahme zur Gegenwart.

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tinischen Konzil ab sieht Comte den Katholizismus zur Passivität und lediglich zur Abwehr verdammt. Man wird gegen diese Sicht vielerlei, auch rein Sachliches einzuwenden haben. Aber man wird zugeben müssen, daß auch sie der ernstesten Erwägung wert ist. Und wenn Comte diese ganze Erörterung mit dem Endurteil schließt, daß eine bessere Organisation für die Kulturmenschheit als Papsttum und Katholizismus sie geschaffen, auch der Positivismus nicht würden ersinnen können, so ersieht man hieraus, daß es Comte sehr ernst mit seinem für die Alte Kirche so überaus günstigen Urteil gemeint hat. Es ist gewiß nicht der Gehalt des Katholizismus und die Vorschriften des Glaubens, um die es sich hier handelt — von ihnen will Comte ganz gewiß nichts wissen —, wohl aber um den Zusammenhalt der Kirche, den er als Gefüge rückhaltlos bewundert und den er als gesellschaftliche Ordnung erhalten sehen möchte 1 . Und man wird aus dieser Äußerung noch eine andere, viel wichtigere Folgerung ziehen müssen. Die, daß die schon völlig vulgär gewordene Meinung, als habe der Sinneswandel, den Comte in der zweiten Hälfte seines Lebens durchgemacht, eine völlige Verleugnung der Uberzeugungen seiner ersten Lebenshälfte bedeutet. Aus der noch eben berufenen Äußerung Comtes geht vollkommen unwiderleglich hervor, daß seine Grundgesinnung in Hinsicht auf den Katholizismus in den beiden Hauptabschnitten seines Lebens in Wahrheit eine vielfach ähnliche gewesen ist. Die großen Ereignisse, die die eigene Lebenszeit Comtes erfüllt haben, beurteilt Comte aus einer nicht allzu bestimmten, vielmehr etwas schwankenden Gesinnung heraus. Am klarsten ist Comtes Stellungnahme zum geistigen Geschehen. Er findet, daß durch die in den Wissenschaften J ) »Une telle constitution convenablement reconstruite sur des bases intellectuelles à la fois plus étendues et plus stables, devra finalement présider à l'indispensable réorganisation spirituelle des sociétés modernes.» Cours Y 259.

13*

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GesellschaftBformer: Comte: Die späteren Stadien.

herrschend gewordene Spezialisierung jede Entwicklung auf das Ganze verhindert worden sei. Es sei die Aufgabe der positiven Philosophie, diese notwendige Zusammenfassung herzustellen. Dadurch müsse der Bewegung die systematische Richtung gegeben werden. Immer aber bleibt in Comte die alte geistige Grundstimmung mächtig: die Abneigung gegen die Metaphysik. Woran ihm liegt, ist offenbar eine empirische Universalwissenschaft, die sich aber aller metaphysischen Anlagen und Bestrebungen enthalten soll1. Er befindet sich in einem beständigen Abwehrzustand gegen die »verkehrten Inspirationen der theologisch-metaphysischen Philosophie«, gegen den »lichtscheuen Einfluß des metaphysischen und selbst noch des theologischen Geistes«. Die alte Geistigkeit sei der modernen Vernunft völlig zuwider geworden. Innerhalb des Kreises der Wissenschaften sei die Vorherrschaft der Mathematik jeder anderen vorzuziehen. Doch setzt er auch, was jeden Geschichte Liebenden hoch erfreuen wird, ein anderes Mittel forscherlicher Betrachtung ein: es ist die Geschichte. Er bahnt sich zu ihr auf eine geistig feine Weise den Weg: er fordert neben aller abstrakten Wissenschaft, deren »unerläßliche Priorität« Bacon so richtig vorweg gefühlt habe, eine »direkte Konstruktion der konkreten Wissenschaft« und ist der Ansicht, daß sie — worauf auch schon ihre üblichste Benennung hinweise — nur eine geschichtliche sein könne. Und er spricht von dem strahlenden Licht, das sie von selbst über die elementarsten Gesetze der verschiedenen Tätigkeitsformen ausgießen wird2. Nur ist für Comte kennzeichnend, daß der wertvollste Gewinn, den er sich von dieser Wissenschaft verspricht, die Erkenntnis der zukünftigen Dauer ist, die jeder der natürlichen Existenzen, aus denen die Menschheit besteht, zugemessen sei. Comte 1)

Ungefähr analoge Auffassungen habe ich ausgesprochen in der Abhandlung Die Zukunft der Soziologie (Dokumente des Fortschritts, hrsg. von Brodä, I [1908] 230—34). a ) Cours de Philosophie Positive VI 623.

Für Mathematik und Gesohiobte; Zukunftsaussichten.

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braucht immerhin die Vorsicht, zu erklären, daß für seine Gegenwart die Zeit für derartige Forschungen noch nicht gekommen sei. Aber man wird zugeben müssen, daß solche Erforschung der Zukunft eine menschlich zwar naheliegende, wissenschaftlich aber nicht zu rechtfertigende Aufgabe der Geschichtsforschung ist. Diese wird immer wohl tun, sich in der Erforschung der Vergangenheit Amt und Grenze zu setzen. Comte erwartet sich auch von einem solchen Verfahren im Geistigen einen Aufschwung des werktätigen Lebens, der bis jetzt durch abergläubische Skrupel mehr oder weniger unterdrückt, durch chimärische Hoffnungen abgelenkt sei. Jetzt aber würden durch den Einfluß einer rationellen Positivität alle herkömmlichen Arbeiten einer lichtvollen Würdigung unterzogen werden. Nicht ganz ohne Teilnahme gedenkt er der alten Zeit und spricht von den tiefen Überzeugungen, die die Theologie hat zerstören lassen und die die Metaphysik nicht habe wieder lebendig machen können. Und alle seine Überlegungen enden bei den Angelegenheiten der gesellschaftlichen Ordnung, an der ihm immer und immer doch das Meiste gelegen ist. Er leitet die Überlegenheit der positiven Philosophie über alle anderen Formen des Denkens von der Unterstützung her, die durch sie der natürliche Aufschwung der menschlichen Vergesellschaftung erlangen werde1. Nicht allzu eingehend ist die Beurteilung, die die letzten Zeiten durch Comte erfahren. In der großen Revolution sieht er eine »unvermeidliche letzte Krisis, die der ganzen großen europäischen Republik gemeinsam war, wie es seit dem Mittelalter die positive und negative Bewegung gewesen war«: d. h. also das Fortschreiten der geistigen Tätigkeit und die Auflösung der religiösen Stärke. Comte läßt dem politischen und vor allem dem moralischen Wert der Revolution, den er bei ihren Führern wie bei ihren Massen findet, ») Cours de Philosophie Positive VI 532.

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Gesellschaftsformer: Comte: Die späteren Stadien.

alles Lob zuteil werden. Ihr Versagen aber leitet er darauf zurück, daß sie sich nicht einer positiven, sondern nur einfer mangelhaften Philosophie habe bedienen können. Die Beurteilung und fast gänzliche Verdammung Napoleons ist in mehr als einem Betracht für Comte bezeichnend. Er, der sich sonst so gern an Abstraktionen und Prinzipien hingibt, geht zur Ausnahme in Hinsicht auf diese Gipfelerscheinung des geschichtlichen Lebens einmal ganz und gar auf ihre persönliche Beschaffenheit ein. Wohl gibt er zu, daß die Diktatur, die nun entstand, ebenso unentbehrlich wie unvermeidlich gewesen sei; er gesteht auch das hohe Feldherrentalent Napoleons ein, wenn auch mit dem herabmindernden Zusatz, daß die Gaben, auf die sich diese Fähigkeit gegründet habe, mehr solche des Willens als des Verstandes gewesen seien — ein Urteil, das mehr als einseitig erscheint —, aber im ganzen weiß er von mehr Mängeln als Stärken dieser Persönlichkeit zu reden. Sein Hauptvorwurf schließt ein entgegengesetztes J a in sich ein: Comte bedauert auf das tiefste, daß nicht Hoche, von dessen Gaben er die größte Meinung hat, der Leiter und Herrscher von Frankreich geworden sei, sondern ein Mann, der von Frankreich sehr wenig gewußt habe, der aus einem Volksstamm von rückständigem Geschichtsstand hervorgegangen sei und von abergläubischen Instinkten beherrscht war. Er wirft Napoleon vor, daß er eine unfreiwillige Bewunderung für die alte Königsherrschaft gehegt habe, und findet, daß seinem ungemessenen Ehrgeiz nur ein vielseitiger Charlatanismus, nicht aber irgendeine außerordentliche Überlegenheit entsprochen habe. Man wird von diesem, in mehr als einem Betracht anzuzweifelnden Charakterbild den Eindruck erhalten, daß es von dem für Comte so gänzlich bestimmenden Vorurteil eines übermäßigen Intellektualismus beherrscht und dadurch vielfach angreifbar gemacht wird. Comte aber bedenkt, hier vielleicht besser berechtigt, mit einem eigenen Bannfluch jene Publizisten oder Geschichtsschreiber der ganzen revolutionären Schule, die es versuchten, das zuerst

Verdammung Napoleons; Gegenwart und Zukunft.

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mit Recht verabscheute Andenken dieses Mannes zu rehabilitieren, der »auf die unglückseligste Weise den intensivsten Rückgang organisierte, unter dem die Menschheit leiden mußte«. Auch dieser Selbstherrschaft weist er, wie der Revolution, nach, daß sie ohne die Anleitung einer richtigen — nämlich der positiven — Philosophie nicht eine gute Gesellschaftsordnung habe zustande bringen können. Seiner eigenen Gegenwart und der ihr bevorstehenden Zukunft gegenüber spricht sich Comte nur in sehr allgemeinen Wendungen aus. Ganz erfüllt ist er von dem Gedanken, daß die Technik die ungeheure Überlegenheit der wahren Wissenschaft über die überflüssigen frühen Spekulationen erweise. Wohl werde es, so weissagt Comte, zu heftigen Stürmen kommen, verursacht vornehmlich durch den Gegensatz zwischen den praktischen Anforderungen und den theoretischen Befriedigungen. Aber diese Stürme würden vorübergehen. Denn die positive Philosophie werde, auf die Politik angewendet, notwendig die Menschheit zu dem ihrer Natur am besten angemessenen System führen, das alle früheren Zustände an Homogenität, an Abgewogenheit und Dauerbarkeit übertreffen werde. Die Moral, so hofft er, werde gleichermaßen die wissenschaftlichen Eingebungen und die politischen Entschließungen in die rechten Wege lenken. Der Leser, der Comtes Ausführungen bis zu ihrem Schluß folgt, wird zuletzt betroffen über die Unterbrechungen durch untiefe, ja fast seichte Allgemeinheiten, zu denen die Darlegung herabsteigt. Er wird aber darüber der so sehr feinen und alles andere als banalen Ausführungen nicht vergessen dürfen, die doch nicht nur die wertvollsten Strecken seiner Beweisführung, sondern ebenso auch fast alle Überleitungen zwischen ihnen darstellen. Er wird noch weniger des unendlichen Reichtums geistiger und doch auch wieder politisch-praktischer Pläne und Gedanken vergessen dürfen, die die zweite, die katholisierend gläubige Hälfte von Comtes Leben erfüllen.

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Gesellschaftsformer: Comte: Die späteren Stadien.

Und gegen den Schluß des Cours der Philosophie Positive hin erhebt sich auch diese Darstellung zu einer Zielsetzung, die nicht allein durch ihre eigen Höhe, sondern mehr noch durch die Größe ihrer Lebensforderung den Gipfel aller geistigen und menschlichen Leistung Comtes darstellt. Es ist jene Darlegung, in der Comte fordert, daß die Form der Regierung immer weniger eine politische und immer mehr eine sittliche werden müsse. Und dieser Gedankengang gipfelt schließlich in der Forderung, daß neben der höchsten politischen Gewalt eine andere geistige, ja Comte sagt eine geistliche Gewalt stehen müsse. Wer sich der Klagen erinnert, mit denen Comte des Verfalles der katholischen Organisation gedenkt, wer zugleich die Forderung heranzieht, mit der er die Ordnungen des Katholizismus auch dann zu erhalten strebt, wenn auf seinen Glaubensgehalt Verzicht geleistet werden muß, der wird inne, daß dem hochfliegenden Geist Comtes hier die Einsetzung eines weltlichen Papsttums vorschwebt. Und es war gewiß keine allzu hohe Anmaßung, wenn er einen Mann seines eigenen Banges sich als den geeigneten Inhaber eines solchen höchsten Stuhles dachte. Es ist doch wahrlich nicht eine Phantastik niederen Fluges, wenn Comte sich als den geistigen Lenker der Menschheit träumte, so wenig wie Hegel einen Mißgriff beging, wenn er in sich selbst den fleischgewordenen Weltgeist sah 1 . Dritter Abschnitt. Marx' ökonomischer Kollektivismus, eine Widerlegung seiner Geschichtslehre.

Erstes Stück. Ideologie und Materialismus. Karl Marx, gegen 1842 zu seinen Jahren kommend, ist der Vater einer sehr ökonomisch und sehr materiell ge*) Vgl. Vom geschichtlichen Werden I I : Die Macht des Gedankens in der Geschichte (1926) 398.

Zielsetzungen; Marx' Abhängigkeit von Hegel; Loslösung.

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richteten Wirtschafts- und Gesellschaftslehre geworden gerade als der geistige Sohn Hegels, des immateriellsten aller Denker, und zwar das nur, weil er, dessen denkerischen Formalismus in sich aufsaugend, nach einer doch nicht eben seltenen Mechanik des Geistes nach einigen Jahren überzeugter Anhängerschaft zwar in allen Gehalten seiner Lehre der schroffste Gegner seines Lehrers wurde, in der Form seines Denkens aber einer der erfolgreichsten Nachahmer von Hegels Formelhaftigkeit und Formelsinn blieb1. Es wird immer ein Ruhmestitel für die siegreiche Kraft des deutschen Geistes bleiben, daß eine so ganz auf das materielle Leben gerichtete und deshalb auch in ihrer Geistigkeit so materiell gefärbte Lehre ihren richtunggebenden Anstoß von einer halb philosophischen, halb geschichtlichen Wissenschaft erhielt, die nicht nur voll von metaphysischen Antrieben war, nein auch sich in ihrer Deutung der geschichtlichen Überlieferung denkbar hoch über die groben, insbesondere über die materiellen Wirklichkeiten erhob. Aber es ist eine tragische Verkettung schwerster Fügung, daß die Lehre, die so entstand, und die ja zugleich auch eine Umbildung und Formung, zuletzt eine völlige Revolutionierimg des Lebens und seiner gesellschaftlichen Ordnungen anstrebte, allem Idealismus und allen tiefsten Wollungen der väterlichen, der hegelschen Verkündung schlechthin mit der Faust ins Gesicht schlug. Ein härterer Gegensatz als der zwischen der feinsten und geistigsten Wissenschaft, die doch auch eine hohe Form des Lebens bedeutet, und der grobfädigsten und geistfremdesten Soziallehre konnte nicht erdacht werden. Gleichwohl ist von allem Anfang an das geistige Verhältnis, das zwischen Marx und Hegel bestand, ein seltsam gemischtes, in immer neuen Gegensätzen sich überschneidendes und doch wieder sich treffendes und deckendes gewesen. Allerdings 1

) Vgl. die durchgehend kritischen Besprechungen von Marx' Geschichtslehre in Vom geschichtlichen Werden I (1925) 252—291; ferner II (1926) Zweites Buch: Wirtschaftsgeschehen und Entwicklung 84—165.

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Gesellschaftsformer: Marx: Ideologie und Materialismus.

blieb dies Verhältnis auf lange Jahre, ja während der vollen Lebenszeit von Karl Marx ein nur inneres, das sich lediglich in der Stille und im Geheimnis der Schreibstube abspielte. Denn ein seltsames Spiel des Schicksals hat es gewollt, daß die Kampfschrift, durch die sich Marx von der herrschenden deutschen Philosophie und damit auch von Hegel loslösen wollte, die er zusammen mit seinem Lebensfreunde Friedrich Engels verfaßt hat und die schon in Druck gegangen war, unveröffentlicht blieb und erst 1926 herausgegeben worden ist, Jahrzehnte nachdem alle die geistigen und sozialen Kämpfe ausgefochten waren, die Marx in seiner Schrift vorbereiten und schon einleiten wollte. Für den geistigen Zusammenhang aber legt die »Deutsche Ideologie« ein auch heute noch vollgültiges Zeugnis ab. In den Jahren 1845/46 abgefaßt, gehört sie schon dem Lebensabschnitt des entschiedensten Sozialismus oder — wie Marx in allen diesen Zeiten bei weitem am liebsten sagt — Kommunismus an, ist aber ein Erzeugnis der Übergangszeit, in der Marx mit den härtesten Kampfschlägen sich von Hegel abtrennte. Die Deutsche Ideologie ist ein Kampftitel und will besagen »wider die deutsche Ideenphilosophie «. Eine Setzung ganz eigener Art eröffnet die Gedanken dieser anti-idealistischen Schrift, eine Setzung, die man weder in einer Schrift gegen den Verfasser der Philosophie der Geschichte, noch in einer Schrift gegen alle bürgerliche Wissenschaft noch auch in einer Schrift des systematischsten der Systematiker vermuten sollte: »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte.« Und man entschlägt sich ungern der Meinung, daß doch die Bewirkung des einen Systematikers durch den anderen dazu beigetragen hat, in Marx die, wie sich herausstellen sollte, sehr tiefgehende und sehr dauernde Hinneigung zur Geschichte zu fördern, nicht am wenigsten dadurch, daß er Zeuge davon geworden war, daß der Anwalt reiner Metaphysik die empirischste aller Wissenschaften, die Geschichte, zur Mitte alles seines Denkens gemacht hatte. Doch daß der Weg, den

Geschichte einzige Wissenschaft; Kampf gegen Philosophie.

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Marx einzuschlagen gedachte, ein weit anderer als der von Hegel zurückgelegte sein sollte, wurde von der ersten Stunde seines auch dem Gehalt seiner neuen Wissenschaftsbekenntnisse nach kämpferischen Tuns offenbar. Der Schluß des ersten Absatzes lautet: «Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste geschichtliche Akt dieser Individuen, wodurch sie sich von den Tieren unterscheiden, ist nicht, daß sie denken, sondern daß sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren1.« Aber sein Herkommen aus einem Land der Gedanken und Begriffe, d. h. aus dem Land Hegels und der von Hegel überschatteten Philosophie seiner Epigonen, vergaß Marx deshalb nicht im mindesten. Doch gemäß seiner auch im Geist höchst leidenschaftlichen Art, führte ihn seine Teilablösung von Hegel sofort zu einer völligen und diese wieder zur schärfsten Befehdung, gesteigert zu den heftigsten Bannflüchen, geschleudert auf den alten Meister selbst und demnächst auf die beiden Schulen seiner Nachahmer. Die Althegelianer wurden wie Hegel selbst verworfen, weil sie in leeren und schattenhaften Begriffen lebten, statt in wirklichen Dingen; aber auch den Junghegelianern, die mit Strauß sehr heftige Wandlungen durchgemacht hatten, konnte Marx keinerlei Gunst zuwenden: er fand, sie bekämpften wohl die Gehalte von Hegels Verkündung, die Begriffe aber, zu denen sie ihre Lehren verdichteten, seien ganz ebenso wie die des Meisters Schatten von Schatten. Niemals, so faßte er Klage und Anklage seiner Angriffsschrift zusammen, sei es dieser deutschen Philosophie in den Sinn gekommen, nach dem Zusammenhang ihrer Kritik mit ihrer eigenen materiellen Umgebung zu fragen. Das Ende dieses Systems nannte er in der knüttelharten Sprache seiner Art, Wissenschaft zu diskutieren, einen Verwesungsprozeß. x

) Marx, Deutsche Ideologie (Marx-Engels-Archiv hrsg. Razanoff I [1926] 2 3 3 - 3 0 8 ) 237.

von

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Gesellschaftsform er: Marx: Ideologie und Materialismus-

Selten ist bei dem Übergang des Denkens von einem Zeitalter zum nächsten so völlig deutlich geworden, wie sehr doch auch die unmechanischsten Dinge, mit denen wir auf Erden beiaßt sind, durch Mechanik beherrscht sind, eine Mechanik freilich des Geistes, die aber doch als mechanisch angesehen werden muß, weil es Widersprüche der allerhandgreiflichsten Art sind, die hier regieren, indem sie uns veranlassen, den vollkommenen Gegensatz aufzusuchen. Und wir nehmen uns das Recht, derlei Gegensätze mechanisch zu nennen, weil sie an Gegensätzlichkeit den grobschlächtigsten Wirklichkeiten, wie warm und kalt, hart und weich, hell und dunkel nicht das mindeste nachgeben. Und vielleicht wird man hinzufügen dürfen, daß es nicht nur die mechanischste Mechanik ist, die zu derlei schroffen Übergängen führt, sondern ebenso auch die psychologischste Psychologie: denn ganz unzweifelhaft steigert, wie jede Abweichung, so erst recht jeder Übergang zum allerschärfsten Gegensatz den Reiz für ein solches Tun. Es sei dazu ganz allgemein bemerkt, daß derartige Bewirkungen, sei es vom allgemeinen Natur-, sei es von dem allerbesondersten Seelengeschehen her, den freilich auch sonst vielfach bestätigten Eindruck verstärken, daß im Apparat der inneren Beschlußfassung Wirkungen am Werke sind, die seltsam wenig mit den Verursachungen zu tun haben, die den besonderen Anlässen und Zusammenhängen entstammen, von denen wir doch in der Regel wie selbstverständlich annehmen, daß sie die bewegenden Ursachen abgeben. Eben jene ganz allgemeinen, immer tätigen Mechanismen und Psychologismen im Seelenapparat sind weit öfter und weit tiefer am Werke und auf sie ist gerade darum mit um so größerer Aufmerksamkeit zu achten, als sie so gar nichts mit den moralisch ausgewerteten, konventionellerweise ungebührlich bevorzugten Ursachenverkettungen zu tun haben. Marx' Handeln mag von diesen sozusagen ganz neutralen Ursachenbewirkungen mehr als von irgendwelchen wirtschaftlichen, ja selbst erkenntniswissenschaftlichen Ursachenquellen beeinflußt worden sein.

Mechanik der Gegensatzentschlüsse; Grundfehler der Lehre.

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Zu den Ergebnissen dieses inneren Geschehens aber gehörte nicht nur die entschlossene Abwendung von jeder lediglich auf Begriffsbildung ausgehenden Philosophie, sondern ebensosehr auch eine völlige Umwandlung und Umwertung des Menschheitsbildes. Wenn es auf die geistigen Prozesse so wenig ankam, dann mußte ein Hinüberwechseln in die entgegengesetzte Auffassung von Menschenwollen und Menschentun dazu führen, ihr leiblich-irdisches, oder wie man damals sagte, ihr materielles Streben und Vollbringen als das erste und zugleich bei weitem wichtigere in den Vordergrund zu stellen. Und dies geschah und wurde der Grundstein zu aller von Marx verkündeten Wirtschafts-, Gesellschafts- und — für ihn an letzter, für uns an erster Stelle stehend — Geschichtslehre. Der Grundstein und der Grundfehler. Denn wie so oft, vorzüglich in dem Schließen systematisch, bauend vorgehender Denker: schon bei dem ersten Schritt auf ihrer Bahn schlagen sie die für alle späteren Abschnitte ihres Weges entscheidende, sei es richtige, sei es falsche Richtung ein. Es war Marx' Los und von unseligster Wirkung, daß es die falsche war. Mit der Miene eines, der das Selbstverständlichste und auch des Beweises am allerwenigsten Bedürftige ausspricht, sagte er in jenem schon berührten Satze: die erste Tat der Menschen sei nicht ihr Denken gewesen, sondern daß sie ihre Lebensmittel selbständig zu produzieren begannen. Dazu ist zu sagen, daß dies — wie alles, was Marx sowie der anfängliche Marxismus über die Anfänge der menschlichen Kultur gesagt haben — eine glatte Setzung, eine Setzung im voraus war. Hätte sich Marx an das Gesetz gehalten, das er für seine und alle andere Erkenntnis an die Schwelle aller Forschung stellte, daß es nur eine einzige Wissenschaft gebe, die Geschichte, dann hätte er nie einen so allgemeinen, an sich unbewiesenen, aber auch unbeweisbaren Satz an die Spitze aller seiner Untersuchungen stellen dürfen. Nach aller unserer heutigen Kenntnis, bei sehr viel weiteren Fortschritten der Völkerkunde, d. h. der Urgeschichte der Menschheit,

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GesellschaftsJormer: Marx: Ideologie und Materialismus.

wird man nicht berechtigt sein, auch nur ein Wort über die Entstehung etwa der ersten Werkzeugkunst oder erstenEssensbereitung auszusprechen, noch weniger über das — entwicklungsgeschichtliche — Zeitverhältnis zwischen diesen ersten »Erfindungen« und den ersten Erzeugnissen des Sprach- und Begriffeschaffens. Diese Frage reicht auch bei den Völkern niederster Kulturentwicklung, etwa den Kubu auf Sumatra oder den Wedda auf Ceylon, schon weit zurück hinter die ersten Nachrichten, die uns über die Entstehung menschlicher Gesittung und geistiger Bildung bei ihnen zugänglich sind und die durchweg nur zu Vermutungen Anlaß geben; sie bleibt für uns völlig in Dunkel gehüllt, und Wissenschaft kann sich hier, wie so oft, nur darin bewähren, daß sie zwischen ihr Wissen und das jenseits ihrer Grenze beginnende Nichtwissen eine sehr deutliche und unübersteigliche Schranke setzt. Aber die Verteidiger von Marx und des Marxismus werden hier einwenden, daß es gar nicht darauf ankomme, in welchen Zeitstreifen kleinsten Umfanges die erste gewollte und absichtsvolle Bereitung von Lebensmitteln falle; wohl aber werde behauptet werden können, daß das Urzeitalter der Menschheit die »Produktion« von Lebensmitteln erfunden und in den ersten Anfängen ausgebildet habe, daß mithin die gewünschte Zielbehauptung von Marx erwiesen sei, daß die Entwicklungsgeschichte der Menschheit nicht mit dem Denken, sondern mit der Zubereitung von Lebensmitteln und somit mit einem rein ökonomischen Tun ihren Anfang genommen habe. Dazu aber ist nun zu sagen: wenn die Debatte über das Geschehen dergestalt zu einer Streitfrage über das Grundgepräge des Urzeitalters als der Kindheit des Menschengeschlechts gemacht werden soll, dann verschiebt sich die Kampflage noch viel mehr zuungunsten von Marx und seiner ökonomischen Geschichtsauffassung. Der in seinen geistigen Mitteln nur allzu wenig wählerische Marxismus hat dreiviertel eines Jahrhunderts die Behauptung verteidigt, daß

Der Anteil der Wirtschaft am Insgesamt der Urzeitkultur. 207

die Frühzeit des Menschengeschlechts eigens einseitig ökonomistisch und, wenn man — in sehr unglücklicher Gleichsetzung dieser beiden an sich höchst verschiedenen Begriffe — will, materialistisch gesinnt gewesen sei. Das Gegenteil aber ist richtig: das kann nicht oft und nicht stark genug wiederholt werden. Gerade dieses Entwicklungsalter der Menschheit ist dadurch gekennzeichnet, daß es eigens wenig, man wird sagen dürfen, augenfällig wenig Teilnahme an allen materiellen, wirtschaftlichen Angelegenheiten des Menschengeschlechts bewiesen hat. Man mustere doch die Werke, die .das Insgesamt aller gesellschaftlichen Gesittung und aller geistigen Bildung der festländischen Australier mit wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit darstellen, und da findet sich, daß die an sich äußerst kümmerlichen Betätigungen, die der J a g d und dem Sammeln vonFrüchten gelten — sowohl Viehzucht wie Ackerbau sind noch nicht vorhanden — vielleicht den achtzigsten Teil aller der Schilderungen einnehmen, die der Ganzheit alles handelnden und geistigen Lebens gewidmet sind: von den 800 Druckseiten, die diese Ganzheit behandeln, befassen sich nur 10 mit dem wirtschaftlichen Tun, 790 aber, also neunundsiebzig Achtzigstel des Ganzen, behandeln alle übrigen Regungen des Lebens, an der Spitze die Ordnungen der Familie und die Erzeugnisse des Glaubens. Als der wirkliche Tatbestand stellt sich mithin genau das Gegenteil von dem Bild heraus, das Marx und der Marxismus von der Geschichte der Urzeit entworfen haben. Die Menschen dieser Stufe haben für die Angelegenheiten ihrer Ernährung und damit aller ihrer Wirtschaft überhaupt nicht viel, oder gar bei weitem das meiste, Interesse gehabt, sondern das allerwenigste. Alle Angelegenheiten der Ordnung des Familienlebens und des Glaubens waren ihnen unvergleichlich viel wichtiger als ihre Ernährung und Wirtschaft. Hätte Marx Ernst machen wollen mit der Verpflichtung seiner Lehre, die von Anbeginn doch auch die Verkündung einer völligen Umwälzung des Lebens sein sollte, und hätte

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Gesellschaftsformer: Marx: Ideologie und Materialismus.

er, wie er es — schwerlich mit Recht — wirklich tat, den Gesellschaftszustand der Urzeit zu Maßstab und Muster des gegenwärtigen und zukünftigen Lebens machen wollen, er hätte eine denkbar immaterielle, denkbar geist-durchtränkte Losung ausgeben müssen. Bedenkt man, wie großes Gewicht die Grundfrage des Materialismus in Geschichte und Leben in Marx' Lehre in Anspruch nahm, ein wie großer Teil der Wirkung in der Propaganda des Sozialismus dieser Verkündung zuzusprechen ist, so erstaunt man doch billig, zu finden, daß dies alles auf einen Irrtum der gröbsten Art aufgebaut ist. Man wird im mindesten nicht von beabsichtigter Täuschung reden können; aber daß hier ein gewaltiges Geschehen sich auf dem Grund der schwersten Selbsttäuschung vollzogen hat, das ist eine unerschütterliche geschichtliche Tatsache. Marx hat ganz gewiß nicht ein Bewußtsein davon gehabt, wie weit es sich bei diesen Behauptungen, die einen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Grundstein für das Insgesamt seines Lehrbaus darstellten, um eine rein willkürliche und irrtümliche Annahme handelte. Es bleibt doch auf dem Andenken seiner Geistigkeit der Makel haften, daß er, der als ein Verfechter der nüchternen und unangreifbaren Erfahrungswissenschaft auszog, um die idealistische Philosophie zu besiegen, einen denkbar groben Sachirrtum zum ersten Ausgangspunkt seiner Lehre machte. Und forscht man nach den bewegenden Ursachen, die seinen Geist in diese Verkehrung des Sachverhalts in sein Gegenteil hineingetrieben haben, so gab doch im Grunde derselbe Apriorismus, den er an Hegel so bitter befehdete, den Verführer ab, der ihn hier mißleitete. Es war doch in Wahrheit ein Apriori, dem er hier erlag: aus der Gegensatzstellung zur reinen Gedanken- und Begriffsmäßigkeit schuf er sich ein Gegenbild möglichster Realität und verfiel als auf das Äußerste aller Gegensätzlichkeit zum Gedanken auf die gröbste der Grobfädigkeiten alles irdischen Geschehens, auf Ernährung und Wirtschaft. Und er erklärte um dieses Apriori willen empirisch Ernährung und

Irrtum aus Selbsttäuschung; Forschungslage; Produktivkräfte. 209

Wirtschaft für den Ursprung und Anfang alles menschlichen Handelns. Sollte hier der -wissenschaftsgeschichtliche Einwand gemacht werden, daß um 1845 eine bessere Grundlegung für Völkerkunde und Urzeitgeschichte nicht möglich gewesen wäre, so ist dem entgegenzuhalten, daß die Anthropologie der Naturvölker, die Theodor Waitz wenige Jahre nach der Entstehungszeit der Deutschen Ideologie abfaßte, in ihren schier unermeßlichen Bibliographien das Gegenteil erweist. Aber es scheint, als habe man in Aufrechterhaltung der Tradition Rousseaus auch zu Marx' Zeiten, wenigstens im Dunstkreis wesentlich systematischer, begrifflicher Wissenschaft, von dem der empiristische Marx in Wahrheit doch noch ganz umfangen war, die Geschichte des Urzeitalters der Menschheit noch für einen Jagdbezirk ganz freier und sozusagen erfahrungsloser Wissenschaft gehalten, ein Irrtum, der zu der inneren Unwahrheit und Unhaltbarkeit der Marx'schen Lehre das Seine beigetragen hat. Ging man aber von solchen Fehlurteilen aus, so war auch jedem weiteren aprioristischen Irrtum Tür und Tor geöffnet. An die Kennzeichnung des Urzeitalters als eines Zeitalters der materialistischen Kultur, die doch nur in den Grundlinien gegeben wird, hat Marx schon in dem Anfangswerke der Deutschen Ideologie die Lehre von den Produktivkräften geknüpft, ein Gedankengebilde, das einmal so allgemeiner und auch so begrifflicher Natur ist, daß es nicht eigentlich zur Unterlage einer Geschichtslehre dienen konnte und, soweit es einer Wissenschaft diente, weit mehr der Wirtschaftslehre als der Geschichte zugewandt war. Wie denn Marx' Verhältnis zur Geschichte immer weit mehr das einer Zuhilfenahme ihrer Ergebnisse, als das einer Verfolgung ihrer eigenen Zwecke war. Doch wird man eben um der Allgemeinheit der geschichtsphilosophischen Darlegungen willen, die Marx in seine wirtschaftswissenschaftlichen Werke einstreute, geneigt sein, sie seiner Geschichtslehre einzuverleiben. So schon die erste B r e y s i g , Gestaltangen des geschichtlichen Kntwioklangsgedaukens. 14

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Gesellschafteformer i Marx: Ideologie und Materialismus.

Feststellung, mit der er weit mehr begrifflich-systematisch als geschichtlich die Entstehung der Produktivkräfte für ein Erzeugnis des rein wirtschaftlichen Handelns erklärt und damit allem anderen wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen Geschehen die Basis gibt. Sämtliche Äußerungen des handelnden Lebens werden damit als aus dem wirtschaftlichen Geschehen entsprießend als sekundäre Hervorbringungen für dieses in Anspruch genommen. Nach der auf diesen Blättern eingeführten Teilung gehört diese Feststellung einer Wissenschaft des Querschnitts an, insofern das hier umschriebene Abhängigkeitsverhältnis als in dem beständig tätigen Triebwerk des gesellschaftlichenLebens wirksam gekennzeichnet ist. Zugleich aber ist doch diese Abhängigkeit ein einmalig — in den Anfängen der Menschheitsentwicklung — Gewordenes und ist insofern eine Längsschnittfeststellung und einer der wichtigsten, wo nicht der allerwichtigste Bestandteil der Marxischen Geschichtslehre. Zuerst Ernährung, demnächst alles Wirtschaften als Wurzel, als Ursachenschicht alles menschlichen und somit alles geschichtlichen Geschehens: diese erste und grundsätzlichste Feststellung gibt allen anderen Bestandteilen des Weltund Geschichtsbildes die bestimmende Farbe. Die gleiche Doppeltheit wie von der untersten Schicht der Produktivkräfte gilt auch von dem Pyramidenbau, als welcher sich das Gesamtbild der menschlichen Gesellschaft darstellt und den die Einleitung zu der Politischen Ökonomie, Marx' Werk aus dem Jahre 1859, schildert. Auf der Schicht der lebendig wirkenden, teils materiellen, teils menschlichen Produktivkräfte baut sich die stabilere Schicht der durch das Wirken der Produktivkräfte gewordenen Produktionsverhältnisse auf und sie tragen wiederum den gesamten Oberbau der juristischen und politischen Ordnungen1. Alles geistige Leben bildet dann nur die leichte Krönung dieses sonst so viel massiveren und nach i) Zur Kritik der Politischen Ökonomie ( 3 1909) L V ; vgl. Vom geschichtlichen Werden I I (1926) lOOf.

Pyramidenbau der Schichten der menschlichen Gesellschaft.

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Marx' Schätzung unvergleichlich viel wichtigeren Hauptgebäudes. Es ist nicht nur eine Bau-, nein auch eine Rangordnung, die Marx hier errichtet; je tiefer die Schichten in diesem Bauwerk gelagert sind, desto höheres Gewicht und desto größerer Wert kommt ihnen zu. Daß für den Geist und sein Tun keine allzu hohe Würdigung übrig bleiben würde, war von vornherein zu erwarten. Wenn es auf einer der ersten Seiten der Deutschen Ideologie heißt: auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Supplemente ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses, so hat man von vornherein nichts Gutes zu erwarten. An diesen Maßstäben gemessen, ist der Erwerb eines halben Pfundes Schweizerkäse über den Ladentisch fort eine wichtige Tatsache des menschheitlichen Lebensprozesses, der erste Gedanke aber, mit dem Kant den kategorischen Imperativ in seinem Haupte formte, eine Nebelbildung des menschlichen Gehirns. Marx erklärt in diesem Zusammenhang, daß Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen somit nicht länger den Schein der Selbständigkeit behalten. Und es folgt die schlechthin ungeheuerliche Behauptung, daß diese Ideologien keine Geschichte hätten und keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr ändernden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens 1 . Der Gedanke, daß die Angelegenheiten des Geistes ihren eigenen, in vielen Stücken sehr unabhängigen Werdegang haben könnten, ist Marx nie in den Sinn gekommen, und er schließt mit den freilich ebenso irrigen wie einseitigen Worten: Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben das Bewußtsein. Als ob nicht das Denken ebenso oft dem Leben die Wege vorschriebe, als das Leben unseren Gedanken seinen Zwang auferlegt. *) Deutsche Ideologie (Marx-Engels-Archiv I) 240. 14*

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Gesellschaftsformer: Marx: Gesohichtslehre des Manifests.

Zweites Stück. Die Geschichtslehre

des K o m m u n i s t i s c h e n Manifestes.

Es bleibt denkwürdig, wie oft der große Antimetaphysiker Marx noch immer, und zwar in den innersten Kerngedanken seiner Geschichtslehre, in Gedankengänge verfallen ist, die nicht anders denn als metaphysische gekennzeichnet werden können. Es sind begreiflicherweise gerade diejenigen, in denen er sich dem von ihm so eifrig befehdeten Hegel am meisten angenähert hat. Er hat einmal alles geschichtliche Geschehen in eine Dreiheit von Satz, Gegensatz und Gegensatz des Gegensatzes aufteilen wollen. Engels hat diese Unterstellung zuerst angewandt und Marx hat sie nicht nur gebilligt, sondern auch selbst benutzt. Daß sie von Hegel herzuleiten ist, würde man ihr auf den ersten Blick auch dann ansehen, wenn sie nicht der von Hegel so oft und mit soviel Nachdruck angewandten Formel: Thesis, Antithesis, Synthesis wenigstens zum Teil nachgebildet wäre. Marx hat die von Engels umgemodelte Formel angewandt für die wirtschaftsgeschichtliche Reihe: zuerst individuelles, auf eigene Arbeit gegründetes Privateigentum, darauf kapitalistisches Privateigentum, zu dritt kooperativer Gemeinbesitz, Kommunismus. Inwieweit sie geschichtlich einerseits, begrifflich andererseits, anfechtbar ist, bleibe hier ununtersucht1. Die metaphysische Unterlage, die dem Gesetz für jede erfahrungswissenschaftliche Verwendung von vornherein Eintrag tut, findet sich nicht bei einem zweiten Gesetz, so umfassend auch die Tragweite ist, die ihm Marx geben will. Es ist das Gesetz, das dem Verhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen die Regel setzen will. Es lautet, daß alle Produktionsverhältnisse, d. h. alle Wirtl

) Vgl. die Kritik, die das Marxische Gesetz als unhaltbar nachweist: Vom geschichtlichen Werden II, 150—155.

Dreischritt; Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse.

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schaftsverfassung, wie sie von den Produktivkräften, d. h. vom Wirtschaftsgeist und von der Wirtschaftstechnik geschaffen sind, auch von ihnen wieder umgestürzt werden, sobald die Produktionsverhältnisse den stets sich wandelnden Produktivkräften nicht mehr entsprechen1. In eine korrekte Gesetzesform gebracht, muß diese Regel so gefaßt werden: wandeln sich die Produktivkräfte einer Wirtschaftsordnung so, daß die von ihnen geschaffenen Produktionsverhältnisse ihnen nicht mehr entsprechen, dann führt dies Auseinanderklaffen zu einem Zusammenbruch der Produktionsverhältnisse und zu ihrer Ersetzung durch neue. Eine Überprüfung der Auswirkungen dieses Gesetzes führt zu dem Ergebnis, daß einmal zahlreiche Vorgänge der Wirtschaftsgeschichte dem Gesetz entsprechen, daß es andererseits aber auch bedeutende Beispiele von wirtschaftsgeschichtlichen Umwälzungen der Produktionsverhältnisse von tiefgreifender Art gibt, denen man nicht wird nachweisen können, daß ihnen eine Umwandlung der Technik vorangegangen sei. So etwa wird man vergeblich danach trachten, für den Übergang vom Mittel- zum Großbetrieb, der sich in der nordostdeutschen Landwirtschaft des fünfzehnten, sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts vollzogen hat, eine ihm voraufgehende technische Umwälzung nachzuweisen; und auch vom Wirtschaftsgeist dieses Zeitalters wird man nicht behaupten dürfen, daß er sich aus einem nicht-kapitalistischen in einen grundsätzlich kapitalistischen verwandelt habe. Das wird man von dem nordostdeutschen Adel und Großgrundbesitz aller seiner Besitzerweiterung zum Trotz nicht behaupten dürfen2. Die eigentliche Entscheidung über Wert und Unwert aller Marxischen Geschichtslehre liegt unzweifelhaft bei dem Urteil, das die Wissenschaftsgeschichte über das Kommunistische Manifest fällen soll. Es wird hier von zwei Eigenschaften dieses in seiner Weise einzigartigen Schriftstückes die Rede Die Hauptstelle: Zur Kritik der Politischen Ökonomie (31909, ursprünglich 1859) S.LV, vgl.: Vom geschichtlichen Werden II, 108 f. 2 ) Vgl. Vom geschichtlichen Werden II, llOff.

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GeseUschaftsformer: Marx: Gesohiohtslehre des Manifests.

sein müssen: zunächst von seiner allgemeinen Beschaffenheit, seiner geistesgeschichtlichen Bedeutung, sodann von den einzelnen Folgerungen, die es aus seiner allgemeinen Stellungnahme zieht. Was jene anlangt, so wird eine rein geschichtswissenschaftliche Beurteilung von Marx' Schrift anerkennen müssen, daß hier außerordentlich umfassende Gedanken über das Wesen des geschichtlichen Werdens zum erstenmal gedacht worden sind und daß hier, den Zielen und dem Wollen dieser Gedankengänge nach, der Geschichtslehre ein sehr hohes Maß von Förderung zuteil geworden ist. Das Kommunistische Manifest ist eine politisch-soziale Streitschrift und zwar wahrlich von der heftigsten, der leidenschaftlichsten Art, und dennoch ist es möglich gewesen, daß es einer im tiefsten so ruhevollen Sache wie dem Entwicklungsgedanken die nachhaltigsten Dienste hat leisten können. Es geschah darum, weil es fort und fort von langhin über die Jahrhunderte hingedehnten Geschichtsvorgängen handelt. Schon die ersten programmatischen Sätze, die die Absicht der Erklärung offenbaren sollen, zeigen diesen Grundzug und allerdings auch den zweiten: den Kollektivismus, die Massenmäßigkeit dieser Geschichtsauffassung. Doch wird man, bevor diese beiden Bestrebungen beleuchtet sind, noch einer dritten gedenken müssen, die freilich die Voraussetzung von beiden ist und sie in jedem Betracht bedingt und bewirkt hat, die aber, weil sie so allgemein ist, übersehen worden ist und selbst bei Anhängern, wie bei Gregnern, in Vergessenheit geraten ist. Sie wird dargestellt durch den Umstand, daß dieser Revolutionär, dieser Neuerer bis aufs Messer, der doch allem Traditionalismus, aller Erhaltung bestehender Zustände und damit aller Geschichte ein abgesagter Feind war, daß dieser Mann ein Programm für eine doch wahrlich umstürzlerische Partei entwarf, das nicht nur auf Wissenschaft beruhte, was schon erstaunlich genug war, sondern gar auf geschichtlicher Wissenschaft beruhte. Man stelle sich vor, unter Leitung von Marat und Robespierre wäre ein revolutionäres Parteiprogramm auf dem Grund einer

Der Gedanke der Entwicklung; Revolution und Evolution.

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geschichtlichen Theorie entworfen worden — welcher Gipfel von Unwahrscheinlichkeit. Und mehr noch : es war nicht nur Geschichte, die hier als helfende Wissenschaft proklamiert wurde, sondern es war eine neue, stärkere, daß ich so sage zur Potenz erhobene Geschichtswissenschaft, die hier aufgerufen wurde, nämlich entwickelnde Geschichtsforschung, d. h. eine Geschichtsauffassung, die das große Strömen des geschichtlichen Werdens als ein autogenes, ein eigengeschaffenes Geschehen auffaßte, das, wie es von jeher das Erzeugnis eines Müssens, einer immerdar sich aus sich selber gebärenden Notwendigkeit gewesen war, so auch in Zukunft im gleichen Sinn sich fortsetzen werde. Damit war dann freilich der stärkste Antrieb gegeben, dieses geschichtliche Werden als eine stützende Macht zu erkennen und für sie als solche einzutreten. Es kam so weit, daß man schon die schlichte Entwicklung als hinlänglich starke Unterstützung anzusehen und Evolution der Revolution gleichzuachten begann. Man weiß, wie um das Jahr 1900 in Deutschland sich die demokratischen Sozialisten nach diesen Stichworten in Fraktionen schieden und den gemäßigten Evolutionisten die weit radikaleren Revolutionäre entgegentraten. Beide beriefen sich auf Marx und sein Manifest, doch nur die Revolutionäre mit Recht: Marx hat am Schluß des zweiten Abschnittes der Erklärung den Weg, den die Arbeiter-Revolution zu gehen habe und die höchst gewalttätigen Maßnahmen, mit denen sie sich selbst zur herrschenden Klasse machen, das Bürgertum aber entrechten würde1, viel zu genau umschrieben, als daß hieran auch nur der mindeste Zweifel erlaubt wäre. Ganz gewiß war nun der Entwicklungsgedanke, den die neue Partei auf ihre Fahnen schrieb, ein anderer als der, dem die entwicklungsgeschichtliche Forschung zu dienen bestrebt ist. Die Entwicklung, an die der Kommunismus von Marx Kommunistisches Manifest (1912) 44f.

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Gesellschaftsformer: Marx: Geschichtslehre des Manifests.

glaubte —'denn zuletzt war es mehr ein Glaube als eine Wissenschaft —• war einmal, was durchaus richtig war, die Annahme eines beständig in der Geschichte wirksamen Werdens und Strömens, sodann aber auch die Überzeugung, daß dieses Strömen ein besonderes Richtungsvorzeichen habe, und gerade von diesen Richtungsannahmen waren unter zehn vielleicht zwei richtig, acht aber falsch. Und selbst die zwei, die allenfalls richtig waren •— es waren die großen Massenentwicklungen einmal, die vorzüglich die Arbeiterklasse und ihre steigende Vermehrung angingen, die aber ebenso auch das weitere Umsichgreifen der Unternehmerklasse in sich begriff, wurden mit einer peremptorischen Sicherheit als gewiß in Zukunft eintretend prophezeit, die alles andere als wissenschaftlich war, und die durch den tatsächlichen Gang der nächsten Zukunft —• von damals aus gerechnet — in zwei führenden Völkern, in Italien und Deutschland vollständig widerlegt wurde. Was alles Marx' Geschichtsauffassung fehlerhafterweise nicht sah, ist nicht so kurz zu sagen. Was sich aber zeigen läßt, das ist Marx' schwerster Irrtum, die Verkennung der Bedeutung der Persönlichkeit in der Geschichte: sein Sehen war wie ein Schauen auf den Mond — er sah von allem geschichtlichen Geschehen nur die eine Hälfte. Im engsten Zusammenhang damit stand, —• war jedoch damit keineswegs identisch — daß er von allen seelischen Antrieben der Menschheit den Erwerbstrieb in maßloser einseitiger Übersteigerung seiner Wichtigkeit allein sah, eine andere Seelenkraft aber, die mindestens ebenso stark und so wichtig ist, den Machttrieb, völlig übersah, weil er alle die ihm verhaßten Gewalten, die seine Träger waren, in Staat, Fürstentum, Adel, Priesterschaft und zum Teil selbst im Unternehmertum, soweit es nicht vom Erwerbstrieb bewegt und bestimmt wurde, gleich als wären sie nicht vorhanden, aus seinem Gesellschaftsbild tilgte. Eine letzte und wahrlich nicht die unwichtigste Lücke in diesem Bild ging endlich alle Mächte des Geistes an: von ihrem Einfluß auf das handelnde Leben

Schöpfertum, Machttrieb ungesehen; Mängel des Kollektivismus. 217

wußte er nichts, vorzüglich deshalb, weil er von allem Geheimnis, allen Wonnen geistigen Schaffens und Genießens so wenig wußte. Was alles von Verkennung er auf die märchenfeine Kunst, auf die im tiefsten schöpferische Forschung seiner Gegenwart gehäuft hat, ist nicht zu sagen. In seiner Lehre herrscht etwas von der kleinbürgerlich verfangenen Luft eines proletarischen, beschränkten Dachstubendaseins. Daß ihm die Welt des Glaubens, die doch wahrlich auch noch nicht erstorben war, völlig in ihrer seelischen Bedeutung verschlossen war, ist selbstverständlich. Insofern es den Glauben anging, war dieser kommunistische Radikalismus nichts anderes als der seinem Vorgänger, dem liberalen und demokratischen Radikalismus, blindlings ergebene Nachfolger und Nachahmer. Soweit läßt sich Marx' Evolutionismus, läßt sich zugleich sein Ökonomismus durch die Geschichtslehre widerlegen. Auch die zweite seiner Lehren, sein Kollektivismus, läßt sich, so wie es hier schon mit den kürzesten Worten geschah, befehden. Wo immer die Macht der Persönlichkeit in Betracht kam, sei es im Bereich der äußeren Staatskunst wie der inneren Staatslenkung, sei es in dem an Zahl und Verbreitung noch viel weiteren Bereich des Unternehmertums, hatte Marx von deren Kraft und seelischer Funktion die Vorstellungen eines kleinen Angestellten. Und was sich von dieser Querschnittsrichtung sagen läßt, muß in verstärktem Maße von seiner Längsschnitt-, seiner geschichtlichen Beobachtimg ausgesagt werden. Auch da ist Marx völlig in seinem Sehen und Erkennen beengt und gelähmt durch seine klassenmäßig beschränkte Sicht. Keineswegs sind, wie er wähnt, die Klassen, d. h. eben die Kollektive, an die er immerdar wie an die einzig existierenden denkt, die allein herrschenden Faktoren im geschichtlichen Leben; den Völkern und ihrer nationalen Besonderheit und Bestimmtheit, aber auch noch den kleinen Gemeinschaften der Stämme oder der in Städten und Gemeinden zusammengeschlossenen Gruppen kommt ein höchst starkes Eigenleben zu. Über dessen Be-

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Gesellschaftsformer: Marz: Geschichtslehre des Manifests.

zeugungen fuhren Marx und sein Kommunismus mit ihrem schon vom Liberalismus ausgeblaßten Weltbürgertum achtlos her; auch von ihnen wußte er nichts, oder wollte er nichts wissen. Das Kommunistische Manifest erweist, wie die Fehler seines allgemeinen Sehens sich in sehr vielen Irrtümern auch seines geschichtlichen Einzelurteils auswirken. Schon der erste Grundbegriff ist fragwürdig: die Geschichte alles bisherigen Geschehens, so heißt es da, ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Darauf ist zu sagen, daß, wenn man unter Gesellschaft die Summe aller Beziehungen zwischen handelnden Menschen versteht, dieser Satz eine so hemmungslose petitio princijrii in sich schließt, wie sie nur erdacht werden kann. Wenn in diesen Beziehungen zwei Zehntel dem Klassenleben zugeschrieben werden können, so ist das viel. Das Außen- und das Innenleben der Staaten, die Geschichte des Rechts, die der Geselligkeit, mit Einschluß der Familie, würden auch dann acht Zehntel für sich in Anspruch nehmen, wenn man das gesamte Wirtschaftsleben als der Geschichte der Klassen einverleibt ansehen wollte. So wird man also unmöglich das Insgesamt allen handelnden Lebens mit diesem engen Kreisausschnitt gleichsetzen können. Man sieht sehr deutlich, dieser Fehlgriff ist nicht das Ergebnis eines wissenschaftlichen und also objektiven Irrens, sondern nur erflossen aus dem leidenschaftlichen Willen, dieser Erklärimg von vornherein den Stempel derjenigen politischen Gesinnung aufzuprägen, die durch sie erzeugt werden soll. Ganz im gleichen Sinn, nur noch deutlicher, ist denn auch jenem ersten Satz ein zweiter einverleibt, der aus demselben Grunde, nur noch weit schärfer angefochten werden muß. Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft, so lautete dieser erste einleitende Satz des Manifestes, ist die Geschichte von Klassenkämpfen, und gegen ihn ist einzuwenden, daß selbst für jenes Segment in dem Kreisrund der Gesamtgeschichte, das der Geschichte der Klassen zu

Die Klassenkämpfe; Fehler der Klassenkampfreihe.

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überweisen ist, das Ganze dieses Segments doch nicht ohne weiteres als eine Geschichte von Kämpfen anzusprechen ist. Klassen, wie alle Lebensgebilde, existieren in langen Strecken ihrer Geschichte in friedevollem Gedeihen ruhig fort, oder sie entwickeln sich in langsamem Wachstum. Es ist anzunehmen, daß diese Zeiten die fruchtbarsten ihrer Geschichte sind. Der eigentlich geschichtliche Teil des Kommunistischen Manifestes hebt an, für Marx' entwicklungsgeschichtliche Praxis bezeichnend, mit einer, um es so auszudrücken, geschichtstheoretischen Setzung, die zugleich allen Gehalt der nun folgenden Darstellung in eine Formel zusammenfassen und den Leitgedanken für gegenwärtiges und zukünftiges Geschehen abgeben sollte. Es sind jene bekannten Sätze, nach denen Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz Unterdrücker und Unterdrückter, immer einander gegenüber gestanden haben — eine Reihe, die, wie sich im weiteren Verlaufe ergibt, ihre Fortsetzung in den beiden letzten Klassenpaaren, Adlige und Bürger, Bourgeois und Proletarier, finden soll. Als das eigentliche Wesen des Klassenkampfes aber wird bezeichnet, daß die Klassenpaare einen ununterbrochenen, bald offenen, bald versteckten Kampf miteinander geführt hätten. Und von dem Verlauf dieser Kämpfe wird ausgesagt, daß er jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft oder mit dem gemeinsamen Untergang beider Klassen geendet habe. Die moralischen Schäden, die jede dieser Entstellungen der geschichtlichen Wahrheit zufügte, waren unermeßlich groß. Einen artvertretenden Fall dieser Fehlerhaftigkeit bietet das römische Beispiel der marxistischen Klassenreihe dar. Weder hat der Kampf zwischen Patriziern und Plebejern mit einer revolutionären Umgestaltung der römischen Gesellschaft, noch gar mit dem Untergang beider Klassen geendet. Er endete vielmehr mit der durchaus friedlichen Verschmelzung des alten patrizischen Geburtsadels mit der vor-

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Qesellsohaftsiormer: Marz: Geschichtslehre des Manifests.

nehmeren, d. h. reichen Oberschicht des plebejischen Bürgertums. Die neue Nobilität, die, beide umfassend, aus dem Friedensschluß hervorging, unterschied sich klassenmäßig von dem Patriziat nur wenig; von einem gemeinsamen Untergang beider Klassen zu sprechen, wäre vollends lächerlich. Man sieht, die Behauptung von Marx ist so falsch, wie nur irgend denkbar. Um den Gegensatz von Freien und Sklaven aber steht es in nichts besser. Selbst in Rom, wo es doch immerhin im Sklavenkrieg zu einem gewaltsamen und gewaltigen Ausbruch gekommen ist, hat dieser nicht das Geringste an der Stellving der unterdrückten Klasse geändert. In Griechenland ist es nur zu seltenen und wenig bedeutenden Aufruhrbewegungen gekommen. In beiden Ländern kann von einer durch diese Klassenkämpfe herbeigeführten Umgestaltung der Gesellschaft nicht die Rede sein, noch weniger aber vom Untergang einer der kämpfenden Klassen. Der Gegensatz von Baron und Leibeigenen im neueuropäischen Mittelalter mag seiner geschichtlichen Wahrheit nach den Vorstellungen, die Marx mit dem Gedanken des Klassenkampfes verband, noch am ehesten entsprochen haben. Immerhin ist ein tausendfältig zerspaltenes und gegliedertes Geschehen in diesen Sätzen ganz außerordentlich vereinfacht und vergröbert worden. Es hat auch in der Zeit des härtesten Bauerndrucks im fünfzehnten, sechzehnten, siebzehnten Jahrhundert noch immer hundert verschiedene Formen bäuerlicher Unabhängigkeit, halber und ganzer Abhängigkeit gegeben von der vollen Freiheit bis zur wirklichen Leibeigenschaft, die wohl die seltenste Form bäuerlicher Abhängigkeit darstellt. Wohl ist es in diesem Verhältnis zu einer Anzahl kleinerer und einem sehr großen Aufstand gekommen; ihnen und in Sonderheit dem Bauernkrieg kann Name und Begriff des Klassenkampfes gewiß nicht geweigert werden. Doch ist für Ausdehnung und Wucht dieses Kampfes kennzeichnend, daß von dem völlig bäuerlichen Deutschland höchstens drei Viertel von ihm ergriffen worden

Die Klassenkampfpaare.

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sind und daß alle übrigen Landesteile, vor allem in dem eigens unter Druck stehenden Nordosten, von diesen Zwisten überhaupt nicht ergriffen wurden. Und es mag auch zur Vollendung des Bildes wesentlich beitragen, daß eben in diesem deutschen Nordosten eine sehr wirksame Bauernbefreiung eingeleitet worden ist, die aber keineswegs von dem bedrückten Stand selbst, sondern von einer hilfreich einspringenden Gewalt, vom Königtum her ausging, das, wenn man es überhaupt einem Stande zuordnen soll, nach Blut und Erziehung dem Adel am ehesten zugehört. Am sichersten erwartet man von der Schilderung des vorletzten Klassenkampfes, desjenigen zwischen Adel und Bürgertum, eine eingängige Behandlung. Aber gerade sie tritt nicht ein. Man sollte meinen, dieser Klassenkampf, bei dem es zu einem so heftigen Ausbruch wie die Große Revolution kam und der als Empörung eines beherrschten Standes so viele Entsprechungen und Gleichläufigkeiten mit dem Kampf des Proletariats aufweist, möchte ausführlich geschildert werden. Sollten auch die glücklichen Aussichten der unterdrückten Klasse für den Ausgang eines solchen Kampfes eigens wahrscheinlich gemalt werden, dann lag die sehr starke Betonung gerade dieser Parallele näher als jede andere. Aber gerade sie ist ausgeblieben: nicht einmal die leiseste Andeutung findet sich über diesen, doch von einem nicht ganz geringen Erfolg getragenen Vorstoß des Bürgertums gegen Adel, Geistlichkeit und manche Regierungsgewalt, die sich halb oder ganz widersetzte. Es kann im Ganzen nicht geleugnet werden, daß unter Vorantritt Frankreichs auch in mehreren andren Staaten das Bürgertum mit einem vollen Siege den Adel aus dem Felde schlug. Daß Marx diesen Triumph nicht ein wenig würdigte, sondern nur wie ein nicht im mindesten beträchtliches Nebengeschehen abfertigte, kann nur so erklärt werden, daß es ihm aus einem Gefühl allgemeinen Klassenneides etwas Unerfreuliches war, dem Bürgertum den Ruhm seines Sieges zu gönnen. Wohl wäre ihm möglich gewesen, der mannigfachen Rückschläge

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Gesellsohaftsformer: Marz: Gesehichtslehre des Manifeste.

und Niederlagen zu gedenken, die das Bürgertum nach anfänglichen Siegen von 1849 ab und namentlich in den fünfziger Jahren erlitten hat; aber dies mochte ihm nicht genug sein, er läßt vielmehr aus seiner Darstellung von dem Kampf des Bürgertums mit dem Adel grundsätzlich alles aus, was dem Bürgertum auch nur zum leisesten Lobe gereichen könnte. Noch gehässiger und schlechthin wie eine absichtliche Entstellung der geschichtlichen Wahrheit wirkend, ist, was Marx von der politischen Stellungnahme der geistig Schaffenden im Bürgertum aussagt. Die Bourgeoisie hat, so erklärt er, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihren bezahlten Lohnarbeiter umgewandelt. Man stelle sich Jacob Grimm, Eichendorff, Schwind als Soldknechte des Kapitals vor. Es wäre ebenso wahr, als wenn man die Mondbewohner für Lohnarbeiter der irdischen Bourgeoisie erklären wollte. Zu rühmen findet er am Bürgertum nur dort etwas, wo wir Diener am Geist seine größte Schwäche finden. Das Bind die Leistungen der materiellen Kultur: wie völlig, so erklärt er, sind ägyptische Pyramiden und gotische Kathedralen durch sie in Schatten gestellt. Man denke die Herrlichkeit moderner Bahnhöfe, Banken und anderer Zweckbauten hoch erhoben über den Kölner Dom. Man sieht deutlich, gerade der Marx, der den Kapitalismus so hart tadelt, begegnet sich mit ihm in seiner schlimmsten Eigenschaft, seiner Kulturstumpfheit. Ja, dieses Unrecht, das hier den Geistigschaffenden im Bürgertum angetan wird, erstreckt sich im Grunde auf den ganzen Stand. Von Rousseau ab ist das Bürgertum zu einer Verbindung von Liebe und Ehe vorgeschritten, die es in dieser Allgemeinheit vorher nie gegeben hatte. Wenn Marx also dem Bürgertum den Vorwurf macht, daß es Ehe und Familie durch eine grob ökonomische Einstellung entheiligt habe, so kann man ihm dagegen einwenden, daß ungefähr das Gegenteil davon wahr ist. Für die aktuellen, die politischen Zwecke des Manifestes kommt es mehr als auf alles andere an auf das letzte, das

Schmähung der Geistigschaff enden; Selbstwiderlegung.

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noch bis vor kurzem im Streit liegende Kampfpaar: auf Proletariat und Bourgeoisie. Doch alle die sehr verflochtenen und zum größeren Teil anfechtbaren Darlegungen, die Marx hier vornehmlich über die Zukunft der von ihm geleiteten Bewegung entfaltet, sollen hier nicht besprochen oder nachgeprüft werden. Für das Wesen von Marx' Geschichtslehre brauchen sie nach allen bisherigen Beleuchtungen und Durchprüfungen nicht des Neueren herangezogen zu werden. Schlägt man alle Erwägungen über die Berechenbarkeit der Zukunft zu dem Zuständigkeitsbereich der Geschichtslehre, so würde aus den Vorhersagungen, die Marx seinem Manifest — zahlreicher als sie je früher ausgesprochen worden sind — einverleibt hat, doch nur das hervorgehen, daß diese Prophezeiungen zwar, was die Entwicklungsrichtung einer breiten Strömung im Werdegang unserer Zeit angeht, die Zukunft richtig vorausgesagt haben, daß sie aber — infolge des starken Gegenpralls der deutschen Revolution —• in der Hauptsache durch den Verlauf des letzten Jahrzehnts der deutschen Gesellschaftsentwicklung noch viel schlagkräftiger widerlegt worden sind. Im Ganzen aber wird man sagen können, daß der Marxismus, auch mit den objektivsten Mitteln des Geistes gesehen, sein eigenes Grab gegraben hat. Der Marxismus war ein totes Gleis der geistigen Entwicklung; von Nutzen war er nur, insofern er seine eigene Selbstwiderlegung gefördert hat.

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Die Geschichte der Seele im Werdegang der Menschheit Groß-Oktav. X X X V I I I , 526 Seiten. 1931. RM. 10.—, geb. 12.— Das unendliche Wirrsal der Einzcltatsachen, die die Geschichte zu bewältigen hat, muß durch große, zwingende Zusammenfassungen überwunden werden. Sie werden hier von einer neuen Psychologie der Geschichte dargeboten.

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