Erkennen und Leben [Reprint 2019 ed.] 9783111455501, 9783111088099


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German Pages 127 [136] Year 1923

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Vorwort
Inhalt
Einleitung
I. Kritischer Teil
II. Begründender Teil
III. Ausführender Teil
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Erkennen und Leben [Reprint 2019 ed.]
 9783111455501, 9783111088099

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Erkennen und Leben von

Rudolf Eucken

Berlin und Leipzig 1923

Walter de Gruyter & Co. vormals G.J. Göschen'sche Verlagshandlang / J. Guttenlag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer / Karl J. Trübner / Veit 81 Comp.

Druck von Walter de Gruyier S Co., Berlin W. 10.

Vorwort.

E

s geht durch die Gegenwart ein starker Zug, wie die übrigen Gebiete, so auch die Erkenntnisarbeit in eine engere Beziehung zum Leben zu setzen, man hofft davon ein Wachstum von Kraft, Frische, Wahrheit. A b e r zugleich gerät man leicht in die Verwicklungen, welche dem mehrdeutigen Begriff des Lebens innewohnen, eine Auseinandersetzung mit jenen ist unerläßlich, um den richtigen Weg zu ergreifen. Unserem Streben ist wesentlich eine deutliche Scheidung von Naturleben und Geistesleben mit all ihren Konsequenzen, sowie eine Verbindung des Erkenntnisstrebens mit den weltgeschichtlichen Bewegungen und Erfahrungen der Menschheit. Freilich bedürfen diese einer Beleuchtung durch ein selbständiges Denken, um der Gefahr eines Relativismus zu entrinnen. Die erste A u f l a g e erschien 1 9 1 2 ; es ist begreiflich, daß ich in der neuen A u f l a g e vieles umzuwandeln hatte, namentlich der positive Teil ist erheblich umgestaltet. Auch das sei bemerkt, daß die Schrift durch gütliche Vereinbarung der Herren Verleger aus dem Besitze des früheren Verlages in den der Herren de Gruyter & Co. (Vereinigung wissenschaftlicher Verleger) gelangt ist. J e n a , Ende Juli.

Rudolf Eucken.

Inhalt. Seite

Einleitung

i

I. Kritischer Teil. 1. D i e Grenze der positiven Wissenschaft 2. D i e H a u p t w e g e der philosophischen Spekulation Ü b e r g a n g zum Lebensproblem

7 10 21

3. D i e empirischen Fassungen des L e b e n s

24

A . D e r Pragmatismus

25

B . Der Biologismus

39

4. R ü c k b l i c k und Ausblick

51

II. Begründender Teil. D a s Zusammenwirken von Erkennen und L e b e n

55

A . D a s Wirken des Erkennens auf das L e b e n

55

B . D a s W i r k e n des L e b e n s auf das Erkennen

68

C . D i e Anerkennung einer selbständigen Geistigkeit

73

D . D i e Forderung einer Kritik unseres geistigen Besitzes

82

III. Ausführender Teil. A . F o l g e r u n g e n und Ausführungen 1. Folgerungen für die Stellung der P h i l o s o p h i e 2. F o l g e r u n g e n für die Erkenntnisarbeit B . K a n t und die g e g e n w ä r t i g e L a g e

87 87 93 107

C . D i e geistige L a g e der G e g e n w a r t und die Notwendigkeit einer g e i s t i g e n Erneuerung

Rucken,

E r k e n n e n und L e b e n .

116

9. Aufl.

Einleitung. Z u m Erkenntnisproblem treibt den Menschen der Gegenw a r t ein völliges Unsicherwerden über seine Stellung im A l l und über den Sinn seines Lebens. Eine alte und eine neue A r t stehen hier unversöhnlich gegeneinander. Die alte A r t steckte dem Menschen hohe Ziele und ließ ihn groß v o n sich selbst u n d seiner Stellung im All denken, aber sie ist im Bew u ß t s e i n der Zeit schwer erschüttert, und sie verliert zugleich ihre treibende K r a f t ; die neue liefert A u f g a b e n und Leistungen in Hülle und Fülle, aber diese fassen sich nicht in ein Ganzes zusammen, das den Menschen steigern, seinem T u n einen Selbstwert geben, sein Wesen befriedigen könnte. Unter solchem unsichern Schwanken zwischen A l t e m und N e u e m droht der innere Stand des Lebens arg zu sinken. Früher gab dem Menschen eine Größe die Überzeugung v o n einem inneren Zusammenhange mit dem A l l und v o n einer B e d e u t u n g seines T u n s dafür. Das A l l erschien als v o n einem Gesamtleben beherrscht, der Mensch aber teilte nicht nur dieses Leben, er hatte eine besondere Stellung in ihm und schien unentbehrlich zu seiner Vollendung. So geschah es in der v o n der Religion beherrschten Lebensführung, indem hier das Verhältnis zu G o t t den Menschen über alle sinnliche U m g e b u n g hinaushob und sein T u n die Geschicke des Weltalls bestimmen ließ; so geschah es aber auch in einer Idealkultur, welche die Wirklichkeit in ein Vernunftreich verwandelte, sei es logischer, sei es künstlerischer A r t . Denn auch in dieser wurde das Ganze der Welt dem Menschen zu innerer Gegenwart, erst sein T u n schien das A l l auf die Stufe voller B e w u ß t h e i t zu heben und es zu sich selbst zu führen. Eucken,

Erkennen und L e b e n .

2. Aufl.

I

2

Einleitung.

Hier wie da beruhte alle Größe auf der Selbständigkeit und Überlegenheit einer Innenwelt über die Außenwelt. Diese Selbständigkeit einer Innenwelt und zugleich das innere Verhältnis des Menschen zum All ist durch die letzten J a h r h u n d e r t e immer mehr erschüttert worden. Immer mehr h a t sich der innere Zusammenhang der Dinge aufgelöst, und die Welt sich in ein sinnloses Nebeneinander einzelner Elemente verwandelt, in ein Gewebe gegenseitiger Beziehungen der Elemente. Dies Gewebe h a t auch den Menschen immer mehr an sich gezogen und in sich aufgenommen, sein Leben verwandelt sich damit ganz und gar in ein Verhältnis zu seiner sinnlichen Umgebung, es erschöpft sich in Wirkung und Gegenwirkung mit der Außenwelt; was im Innern der Seele vorgeht, wird zu einer Nebenerscheinung, zu einem gleichgültigen Niederschlag dessen, was draußen vorgeht. Damit wird der Mensch nur ein P u n k t einer ins Endlose fortlaufenden Kette, er kann weder etwas Besonderes bedeuten noch mit seinem Tun das Ganze fördern. Damit sinkt auch der Gedanke eines inneren Verhältnisses zum Ganzen, eines Miterlebens des Ganzen, eines Wertes für das Ganze, zu einer Einbildung. Eine Sonderstellung des Menschen scheint endgültig aufgegeben, und zugleich ausgemacht, daß was innerlich aus ihm wird, für niemanden, auch für ihn selbst, keinerlei Wert h a t : sein Tun dient keinem anderen Ziele als der Verbesserung seiner Stellung zur Umgebung. Wie Wertvolles in dieser Richtung geleistet ist, sowohl durch den Bund von Naturwissenschaft und Technik als durch die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenseins, das steht uns allen deutlich vor Augen; so scheint für den Verlust einer unsichtbaren Welt das Wachstum der sichtbaren einen vollen Ersatz zu bieten und die unermeßliche Kraftaufbietung an der Umgebung den Verlust einer Innerlichkeit vollauf aufzuwiegen. So umwogt es uns, und so reißt es uns fort, nicht nur die Erfolge, sondern auch die Probleme des neuen Lebens schmieden den Menschen an die Umgebung, immer mehr wird jenes Leben sein ganzes Leben, immer mehr beherrscht es alle Wünsche, alle Hoffnungen, allen Glauben.

Einleitung.

3

Und doch ist und bleibt es ein ungeheurer Widerspruch, den Menschen ganz und gar in ein S t ü c k eines Nebeneinander zu verwandeln und ihn damit sich selbst völlig undurchsichtig, auch völlig gleichgültig zu machen. Befriedigen könnte das nur unter Vertreibung aller Einheit aus unserem Leben und bei Einstellung aller Beziehung des T u n s und Geschehens auf eine solche E i n h e i t ; unser Leben m ü ß t e sich in ein Neben- und Nacheinander nach außen gerichteter Leistungen verwandeln, und die Tatsächlichkeit dieser Leistungen müßte uns so erfüllen, daß alle Frage darüber hinaus verschwände, im besonderen die Frage nach einem Sinn wegfiele. Unleugbar h a t eine solche Gestaltung des Lebens auf modernem Boden eine gewisse Wirklichkeit gewonnen, eben die sogenannte Höhe der Kultur zeigt viel Leben ohne Seele, sie zeigt in hastiger Geschäftigkeit viele verkümmerte und erloschene Seelen. Aber bis zum Grunde und dauernd ist die Seele nicht aus unserem Leben zu vertreiben. Denn wir sind nun einmal denkende Wesen und müssen als solche überdenken, was wir tun und was uns bewegt, wir leben nicht nur, wir erleben auch, wir bilden einen eigenen Kreis gegenüber aller Umgebung, und wir können nicht umhin, zu scheiden zwischen dem, was diesem Kreise angehört, und dem, was ihn nur von außen her berührt; das S u b j e k t mit seiner Innerlichkeit läßt sich wohl zurückstellen und übersehen, nicht aber vertreiben; beharrt es aber, so kann es nicht mit der Welt zusammenfließen, sondern so verwandelt diese sich ihm in eine bloße Umgebung, und es wird zugleich ein unerträglicher Widerspruch, in die Leistung dafür das Leben zu erschöpfen. Denn vom S u b j e k t aus angesehen, kann alles Vordringen gegen die Umgebung, alle Entwicklung der K r a f t an ihr, nicht als der Kern des Lebens, sondern nur als eine Hilfe gelten, nur als ein Gewinn von Mitteln, nur als eine Herstellung von Bedingungen für die H a u p t s a c h e ; mit der Sorge um diese Bedingungen und Mittel abschließen, das heißt sich zum Leben wohl bereiten, aber es stets nur in Aussicht behalten, nie wirklich zu ihm gelangen, das führt die unsägliche Arbeit schließlich ins Leere; diese Leere muß aber um

4

Einleitung.

so empfindlicher werden, einen je stärkeren Durst nach Leben die moderne Aufrufung der Kräfte erzeugt. In Wahrheit verbindet die Gegenwart nicht selten stürmisches Wirken nach außen hin mit schmerzlicher Empfindung innerer Leere. Eine solche Lage erzeugt ein Verlangen nach stärkerer Entfaltung des Subjekts und nach reicherer Entfaltung der Innerlichkeit. Aber diese Forderung ist leichter gestellt als erfüllt. Denn abgelöst von der Welt kann das Subjekt sich keinen Inhalt geben, es überschreitet aus eignem Vermögen nicht ein Wogen und Wallen, nicht eine aufgeregte Stimmung; das macht es aber der Welt, die übermächtig auf uns eindringt, nicht gewachsen. So kommen die Arbeit an den Dingen und das Befinden der Seele nicht zusammen, und es bleibt das Leben zwischen seelenloser Arbeit und leerer Stimmung gespalten; als Ganzes erlangt es so gespalten keine volle Kraft und Wirklichkeit, und droht es bei aller Rührigkeit der einzelnen Stellen und Seiten im Gesamtertrage schattenhaft zu werden, alles ursprüngliche Schaffen, alle echte Freudigkeit einzubüßen. Am Ende dieses Weges steht der Pessimismus und die Verzweiflung. Dem können wir uns nicht ergeben, wir müssen einen Kampf dagegen aufnehmen und unserem Leben mit innerer Einheit zugleich eine Größe und einen Wert geben. Dieses Verlangen aber treibt notwendig zum Erkenntnisproblem. Die Spaltung und das Kleinwerden überwinden können wir nur, wenn es gelingt, die Vereinsamung abzulegen, einen seelischen Zusammenhang mit der Welt neu zu gewinnen und sie als Ganzes mitzuerleben; das aber kann nur geschehen bei Erreichung eines Erkennens in einem eigentümlichen und auszeichnenden Sinne, das die Dinge, die uns zunächst nur von außen berühren und uns wie fremd gegenüberstehen, in unser eignes Leben hineinzieht und sie in unsern eignen Besitz verwandelt. Eine solche innere Aneignung der Wirklichkeit erstreben auch andere Gebiete, auch die Kunst und die Religion möchten die Welt dem Menschen geistig naherücken. Aber so gewiß ihr Unternehmen eine Selbständigkeit neben der philosophischen Arbeit besitzt, diese hat jene Wendung für

Einleitung.

5

das Ganze der Überzeugung zu rechtfertigen, ohne das sind Unsicherheit und Zweifel nie zu vertreiben. Ein Erkennen in jenem Sinne ist unentbehrlich für den Gewinn eines inneren Verhältnisses zur Wirklichkeit und zugleich einer inneren Größe des Menschen. So betrifft jene Frage nicht bloß den Gelehrten, sondern alle, welche die geistige Bewegung teilen und dabei selbständig mitwirken möchten. Schließlich ist es das Verlangen nach geistiger Selbsterhaltung, es ist das Bestehen auf einem Sinn und Wert unseres Lebens als eines Ganzen, dessen Zwang uns heute zum Erkenntnisproblem treibt. Die heutige Menschheit steht bei aller Regsamkeit und bei allen äußeren Erfolgen unter dem peinlichen Eindruck eines inneren Klein- und Nichtigwerdens des Menschen, einer Geringfügigkeit alles dessen, was bei unsund von uns geschieht. Ein solcher Druck kann allen Lebensmut ertöten und alle Lebenslust ersticken. So wird es zur Frage der Fragen, ob nicht solchem inneren Sinken, solchem Gleichgültigwerden des ganzen Menschengeschlechts, zu widerstehen und der wankende Lebensglaube wieder zu befestigen sei. Hier stehen wir vor einem schroffen Entweder— Oder, dem sich niemand entziehen kann, der nicht hinter der inneren Bewegung der Menschheit zurückbleibt. Dies Entweder—Oder aber führt notwendig auf das Erkenntnisproblem. Diese Lage muß das Erkenntnisstreben gegen den Beginn der Neuzeit wesentlich umwandeln. Damals bedrückte die Menschheit das Gefühl unerträglicher Verworrenheit, und es ward zum Hauptverlangen eine gründliche Klärung, eine Zerstreuung des vorgefundenen Chaos, die Ausbildung einer gleichartigen Gedankenwelt. Auch heute fehlt es an arger Verworrenheit nicht, trotzdem sehen wir nicht in ihr das Hauptproblem, sondern wir sehen es in der Verflüchtigung alles geistigen Lebensbestandes, in dem Verlust eines beherrschenden Mittelpunktes und damit eines Lebenskernes, wir sehen es in der inneren Leere, in die wir bei fieberhafter Bewegung und bei unermeßlichem Reichtum von Anregungen und Leistungen zu geraten drohen. Im 17. Jahrhundert klagte Comenius über den Mangel an Licht in dem so erleuchteten Jahrhundert

6

Einleitung.

(in tarn illuminato seculo, uti quidem appellari gaudet, luminis penuria), so daß wie Tantalus Wasser im Wasser, so die Zeit Licht im Licht vermisse. Heute wäre zu sagen, daß wir in aller Fülle des Lebens rechtes Leben vermissen, daß uns bei aller sinnlichen Eindringlichkeit das Leben sich innerlich auflöst und schattenhaft wird. Solcher Durst nach echtem Bestände muß auch die Erkenntnisarbeit anders gestalten als in der Aufklärungszeit, die erste Frage wird nun nicht die nach Klarheit, sondern die nach Wahrheit und Wesensgehalt.

I. Kritischer Teil. 1. Die Grenze der positiven Wissenschaft. Eine eingewurzelte Meinung, die heute sich oft wie selbstverständlich gibt, geht dahin, die strenge Wissenschaft allein habe dem Menschen Erkenntnis zu liefern, von keinem anderen Lebensgebiet als von ihr sei solches zu erwarten. Nun kann kein Zweifel sein, daß, wenn Erkennen im weitesten Sinne als Aufklärung über den Befund der Wirklichkeit genommen wird, die Wissenschaft hier im Vordergrunde steht; anders aber stellt sich die Sache, wenn der Begriff den besonderen Sinn erhält, der uns hier beschäftigt. Denn dann ist leicht zu ersehen, daß nur eine unpräzise Fassung der Wissenschaft, im besondern der neueren Wissenschaft, ihr die Aufgabe eines philosophischen Erkennens in jenem Sinne zuweisen kann. Denn es h a t die neuere Wissenschaft vornehmlich dadurch ihre Größe erlangt, ja sie ist dadurch erst Wissenschaft im vollen Sinne, exakte Wissenschaft, geworden, daß sie die überkommene Hineintragung menschlicher Vorstellungen, Affekte und Zwecke in das All als eine unerträgliche Vermengung durchschaute, sie mit höchstem Eifer bekämpfte und die Dinge in ihrem eignen Bestände, unabhängig vom Menschen, sehen lehrte. Das ist vor allem gegenüber der Außenwelt geschehen, aber auch die Geschichte, ja das Seelenleben h a t der Mensch ohne Hineintragung eigner Deutung und Schätzung in ihrem reinen Tatbestand zu erfassen unternommen, durchgängig ward alles Eigne als eine ungebührliche Zutat, ja als eine Verfälschung angegriffen und ausgetrieben und eine übersubjektive Betrachtung der Dinge erstrebt. So erst konnten sie ihre eigne Art

8

Kritischer T e i l .

entfalten und sich zu einem selbständigen Reiche zusammenschließen. Daß so der Mensch seine Besonderheit zurückstellen und etwas Außermenschliches sich vergegenwärtigen kann, das ist eine Tatsache höchst bemerkenswerter Art, das bekundet eine eigentümliche Größe, das ist im Gesamtbild des Menschen sorgfältig zu würdigen. Aber es bezeichnet zugleich eine der Wissenschaft unübersteigbare Schranke. Ihr Erfolg und ihre Größe hängt daran, daß jener Abstand vom Menschen, jener Gegensatz zum menschlichen Befinden, sich in keiner Weise verdunkle; die von ihr erstrebte Tatsächlichkeit darf nicht durch eine Umbiegung zum Menschen und eine Deutung vom Menschen her gestört werden. J e weiter die Wissenschaft vordringt, desto mehr wird sie ihre Größen aller menschlichen Zutat entkleiden und die Dinge dem Menschen innerlich ferner rücken. Mit besonderer Deutlichkeit bestätigt das die Erfahrung der Gegenwart. Namentlich die Naturwissenschaft entfernt immer strenger aus ihren Gebilden alle Beziehung zu den menschlichen Sinnen und sucht allen Zusammenhang wie alle Vereinfachung lediglich im eignen Gebiet; so dient z. B . der Physik nicht mehr wie früher die Verschiedenheit unserer Sinne als Prinzip der Einteilung (Optik, Akustik). Wenn dabei eifrig danach gestrebt wird, alle Mannigfaltigkeit des Geschehens auf möglichst wenige einfache Größen, j a schließlich auf eine einzige zurückzuführen, so heißt das nicht das Ganze uns innerlich näherzuführen; jene Bewegung muß vielmehr die Größen von unserer unmittelbaren Wahrnehmung und Empfindung immer weiter entfernen; auch wenn sie zu einer einzigen gelangte, so bliebe uns diese innerlich unzugänglich und der Sinn des Ganzen dunkel. Wir beschäftigen uns mit den Beziehungen, aber wir wissen nicht, was hinter ihnen liegt. Auch bei der Geschichte nimmt die moderne Forschung den Ereignissen die seelische Nähe und die scheinbare Durchsichtigkeit früherer Zeiten. Gegenwart und Vergangenheit flössen früher unmittelbarer zusammen, so gab das J e t z t den Schlüssel für frühere Zeiten, und was irgendwo an Großem erwachsen war, das schien für alle Zeiten zu bleiben und ihnen

Die Grenze der positiven

Wissenschaft.

9

allen zugute zu kommen. Nun kam die exakte Forschung mit ihrer Kritik und trieb die Zeiten unbarmherzig auseinander; eben indem sie die Epochen genauer sehen ließ, zeigte sie ihre unvergleichliche Eigentümlichkeit, zeigte sie auch den Abstand von uns und hemmte sie damit ein leichtes Überfließen von der einen Epoche zur anderen. Die erschütternde Kraft dieser Wendung hat vornehmlich die Religion erfahren. Denn ihr war es wesentlich, eine einzige Erscheinung für den beherrschenden Höhepunkt zu erklären und an sie alle Zeiten zu ketten, sie durfte nicht die Färbung einer besonderen Epoche tragen, sie mußte allen Zeiten gleich nahe, gleich vertraut und durchsichtig sein. Die wissenschaftliche Forschung aber kann dies Bild nicht präzis erfassen, ohne auch eine zeitliche Gebundenheit aufzudecken; damit aber rückt es uns bei allem Gewinn an Einsicht innerlich in die Ferne, wir können unser Leben nicht mehr unmittelbar ihm verknüpfen und im eignen Wesen verstehen. So rückt auch hier die Wissenschaft uns die Gegenstände innerlich fern, indem sie uns ihre eigenen Zusammenhänge zeigt. Die verschiedenen Zeiten scheinen mit ihrer Eigentümlichkeit sich einander mehr abzustoßen als freundschaftlich zu verbinden. Da sich zugleich das geschichtliche Werden ins Unübersehbare ausgedehnt hat, so fällt alle Möglichkeit eines Gesamtbildes und eines Sinnes des Ganzen; immer schärfer scheidet sich damit die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte von aller Geschichtsphilosophie. Alles Ermitteln letzter Gründe scheitert an der unermeßlichen Fülle der Tatsächlichkeit, die sich vor unseren Augen auftut. Es ist klar, daß, wenn die einzelnen Wissenschaften in ihrem Fortgang sich immer weiter vom philosophischen Erkennen entfernen, auch ihre Verbindung, auch die Zusammenstellung ihrer Ergebnisse kein solches Erkennen liefert. Wohl entstehen hier schätzbare Aufgaben aus der Vergleichung und Zusammenstellung der einzelnen Wissenschaften, aus der Aufweisung dessen, was sie verbindet und was sie trennt, neben den einzelnen Wissenschaften ist Platz für eine Wissenschaftslehre. Aber Wissenschaftslehre in diesem Sinne ist nun und

10

Kritischer Teil.

nimmer schon Philosophie; wesentlich Neues, eine Erhöhung des Gesamtstandes, bringt diese Buchführung über die Gebiete der Wissenschaften keineswegs. Die heute oft erhobene Forderung, von der Wissenschaft aus eine Weltanschauung zu entwickeln, kann, wenn Weltanschauung so viel wie Durchleuchtung der Wirklichkeit bedeutet, nur aus einer verworrenen Denkart entspringen, sie wird nur möglich durch Vermischung von Philosophie und Wissenschaft, namentlich Naturwissenschaft. Bis vor kurzem war es namentlich der Monismus, der eine Weltanschauung von der Naturwissenschaft her bilden wollte. In Wahrheit ist, was an seinen Lehren Wissenschaft, nicht Weltanschauung, und was Weltanschauung, nicht Wissenschaft. Die Verwandlung von Wissenschaft in Weltanschauung ist nur möglich, wenn das Subjekt und der geistige Prozeß, der die Arbeit der Wissenschaft trägt, übersehen wird, und wenn zugleich unbeachtet bleibt, was dieser Prozeß im weltgeschichtlichen Leben der Menschheit außer und neben der Wissenschaft an Gehalten und Zielen erzeugt hat und fortwährend erzeugt; so wird augenscheinlich mit einem viel zu begrenzten Gedankenkreis abgeschlossen, und es genügt nicht das Weltbild, das daraus entsteht. Die Vermengung von Wissenschaft und Philosophie ergibt unvermeidlich eine Verflachung und Veräußerlichung der Gedankenwelt. Wenn die Vertreter einer »wissenschaftlichen Weltanschauung« den Widerspruch nicht gewahren und ihre unmögliche Lösung als die einzig mögliche ausrufen, so übertragen sie die Sicherheit, welche innerhalb der Wissenschaft, namentlich der Naturwissenschaft, erreichbar ist, unbedenklich auf die Behauptung vom Weltganzen; augenscheinlich gewahren sie nicht, daß sie mit der Wendung dahin ein anderes Gebiet betreten, das neue Forderungen stellt. Demnach bleibt es dabei, daß strenge Wissenschaft kein Erkennen in unserem Sinne gewährt und den Menschen nicht mit der Welt innerlich verbindet.

2. Die Hauptwege der philosophischen Spekulation. Wenn die strenge Wissenschaft nicht zum Erkennen f ü h r t , so kann die Philosophie das Problem nur festhalten, wenn

Die H a u p t w e g e der philosophischen

Spekulation.

sie eigne Wege v e r s u c h t ; einen solchen W e g glaubte sie von alters her und durch die Jahrtausende hindurch in der Spekulation zu finden, d. h. in einer Denkarbeit, die sich aus dem übrigen Leben frei heraushebt und eigne W e g e eröffnet. Ein solches souveränes Denken schien stark genug, um zu den Tiefen der Wirklichkeit durchzudringen und sie dem denkenden Wesen in eignen Besitz zu verwandeln. Das Denken hat Eigenschaften, die ihm eine besondere Stellung und Bedeutung verleihen; v o n vornherein kann kein Zweifel darüber walten, daß, wenn es ü b e r h a u p t Erkennen gibt, das Denken sein Organ sein muß. Im besondern ist es zweierlei, w a s das Denken zu hohen Leistungen fähig m a c h t : einmal verm a g es sich v o n der menschlichen Zuständlichkeit, v o n den Wünschen und Zwecken des Menschen abzulösen, es erzeugt den Begriff einer sachlichen N o t w e n d i g k e i t und f ü h l t sich in seiner E n t w i c k l u n g aller Störung v o n außen überlegen; zugleich aber möchte es alle Mannigfaltigkeit aus der vorgefundenen Zerstreuung herausführen und in den Zusammenhang eines Systems verwandeln; es t u t das bejahend durch eine feste V e r k e t t u n g aller einzelnen Sätze, verneinend durch Austreibung aller Widersprüche. Im Besitz solcher Eigenschaften scheint das Denken dem Menschen das Ganze der Welt in innere Gegenwart umsetzen zu können. Die Spekulation aber überschreitet solche Schätzung des Denkens, indem sie diesem zutraut, uns aus eignem Vermögen das Weltall zu erschließen und mitzuteilen; d a ß die F r a g e nicht einfach liegt, das zeigt jeder B l i c k auf die geschichtlichen Erfahrungen jenes Unternehmens. Denn er zeigt ein hartes Mühen und K ä m p f e n , ein Versuchen immer neuer Wege, ein Weitergetriebenwerden v o n einem Versuche zum anderen, er zeigt auch ein immer neues E r w a c h e n v o n Zweifeln an der Möglichkeit des Ganzen. Namentlich erheben sich immer v o n neuem zwei F r a g e n : i . findet das Denken aus eignem Vermögen eine innere Einigung mit dem Ganzen der Wirklichkeit ? und 2. erschöpft es bei solcher Selbstherrlichkeit ihren ganzen Reichtum ? Die weltgeschichtliche

Arbeit

stellt

die

Frage

des

Zu-

12

Kritischer T e i l .

sammenkommens von Denken und Sein voran. Drei Möglichkeiten b o t e n sich hier dar, sowohl das Altertum als die Neuzeit haben sie nacheinander durchlaufen, sie aber dabei sehr verschieden behandelt und den Schwerpunkt der Leistung an verschiedenen Stellen gesucht. Die erste Stufe glaubt an einen natürlichen Zusammenhang von Mensch und Welt, von Denken und Sein, ihr bedeuten sie Seiten ein und derselben Wirklichkeit, die zueinander gehören und freundlich zueinander streben; kraft solcher Wesensverwandtschaft ist ganz wohl von der einen Seite zur andern zu gelangen; wie das Licht der Sonne uns dadurch sichtbar wird, daß unser Auge sonnenartig ist, so vermag sich auch unserem Denken der Grundbestand der Wirklichkeit zu erschließen, weil es selbst seine Elemente in sich trägt. Die Denkarbeit verbindet hier nur, was von Haus aus zusammengehört. — Die zweite Stufe scheidet schärfer menschliches Leben und Umgebung. Seele und Welt sind hier viel zu weit auseinander getreten, um sich unmittelbar zu berühren; so wird die Verbindung in der Weise gesucht, daß, was auf der einen Seite vorgeht, auf der anderen ein entsprechendes Gegenstück h a t ; dem natürlichen Zusammenhang von Denken und Sein folgt hier ein Parallelismus. — Die dritte Stufe steht zu der Überzeugung, daß das Denken ein Sein nie erreichen könne, das ihm fremd gegenüberliegt, daß daher ein Erkennen nur möglich sei, sofern das Sein sich gänzlich innerhalb des Denkens befinde und von ihm hervorgebracht werde; das Erkennen würde damit zu einem Denken des Denkens, einem Sichselbsterkennen, Sichselbsterfassen eines schaffenden Denkens, das Subjekt und Objekt umspannt. Die Theorie eines unmittelbaren Zusammenhanges von Denken und Sein entspricht der naiven Denkart und wird in veredelter Form von der künstlerischen festgehalten. Ihre Blütezeit war das klassische Altertum, aber das Mittelalter hat sie erneuert, und auch der Neuzeit ist sie nicht f r e m d ; sie wirkt im Grunde überall fort, wo vom Denken unmittelbar auf das Sein geschlossen wird. Diese Denkweise verknüpft den Mikrokosmos möglichst

Die Hauptwege der philosophischen Spekulation.

13

eng mit dem Makrokosmos, sie entdeckt überall Berührungen zwischen dem Menschen und' dem Weltall und hebt durch ihre Entwicklung sein Leben ins Weite und Große, ihre Stärke liegt im Zusammenschauen, ihre Höhe in der künstlerischen Intuition, die allen Abstand von Subjekt und Objekt aufhebt; dem Leben aber gibt sie ein starkes Gefühl von Ruhe und Sicherheit, da es hier in einem festen Boden zu wurzeln scheint. E s hat diese Denkweise ihren Höhepunkt nach der künstlerischen und allgemeinmenschlichen Seite bei Plato, nach der wissenschaftlichen bei Aristoteles; hält jener der Menschheit große Ziele und Bilder vor, so hat bei diesem das Zusammenwirken von Denken und Welt eine Gliederung des Lebens und ein durchgebildetes Begriffssystem erzeugt, das Jahrtausende beherrscht hat und auch heute noch fortwirkt. Aber schon im Altertum erhoben sich starke Zweifel gegen einen so unmittelbaren Zusammenhang, und es traten den Stoikern wie den Skeptikern Mensch und Welt weit auseinander; diese Scheidung ging um so tiefer, je mehr eingreifende Erschütterungen und Erneuerungen das Leben immer mehr hinter die Berührungsfläche mit der Umgebung verlegten und schließlich in der Religion ein Reich reiner Innerlichkeit schufen. Diese Innerlichkeit brauchte nur ein volles Selbstbewußtsein zu gewinnen und auch die Arbeit der Wissenschaft zu beherrschen, um den antiken Zusammenschluß von Innen- und Außenwelt zu einem unerträglichen Mißstand zu machen; die dort versuchte Einigung erschien nun als ein Hineintragen bloßmenschlicher Größen ins All, als eine unstatthafte Vermenschlichung; der Mensch, so schien es, hatte in der Wendung zur Welt nur den eignen Kreis weiter ausgedehnt, nicht aber ihn überschritten. Unhaltbar wird jetzt die enge Zusammenbringung, j a Verschmelzung von Sinnlichem und Geistigem, wie sie von der Höhe des antiken Denkens durch die J a h r hunderte und Jahrtausende geht und auch in den Begriffen vom Erkennen, z. B . dem der Intuition, ersichtlich ist. Bedenklicher noch war die Versetzung logisch formaler Begriffe in den eignen Bestand der Dinge, z. B . die Behandlung der modalen Begriffe der Möglichkeit und Notwendigkeit als den

14

Kritischer Teil.

Dingen innewohnender Kräfte, wie eine solche Vermengung von Logik und Metaphysik schon die Prinzipienlehre des Aristoteles durchdringt und in der Scholastik eine schulmäßige Ausführung findet. Der modernen Denkweise schien damit die Welt in versteckter und verblaßter, aber damit besonders gefährlicher Weise in menschliche Größen gekleidet, die Zerstörung dieses Durcheinander von logischen und realen Größen wurde dem Beginn der Neuzeit zu einer dringenden Aufgabe, ja einer geistigen Befreiung. Auch wurde der abstrakte, formale, schematische Charakter deutlich empfunden, den das Bild der Wirklichkeit annahm, seit Aristoteles zum Kern des Erkenntnisstrebens die Forderung machte, die hinter den besonderen Eigenschaften liegende Beschaffenheit des Seins, das Sein als Sein (TÖ ÖV FJ öv) zu erkennen; denn damit wurde ein Gerüst abstrakt-ontologischer Begriffe zum Grundstock der Wirklichkeit, ihre reiche und bunte Lebensfülle dünkte nur eine Ausführung und Anwendung. Namentlich die großen inneren Erfahrungen und Erschütterungen der Menschheit fanden keine genügende Würdigung im Gesamtbild der Wirklichkeit. Auch die Stufe der Scheidung von Denken und Sein ist dem Altertum keineswegs fremd, auch an dieser Stelle hat die klassische Höhe keineswegs seinen Gesamtlauf beherrscht. Aber so gewiß die hellenistische Zeit vorwiegend unter dem Eindruck des Gegensatzes von Subjekt und Weltall steht, ihre weltgeschichtliche Höhe hat die dualistische Denkart erst in der Neuzeit erreicht; in ihr erst gewann das Subjekt das Vermögen und das Selbstbewußtsein, um den Ausgangspunkt des Lebens und Denkens zu bilden und in unbegrenztem Lebensdrange der ganzen Welt entgegenzutreten; mehr als je zuvor wurde hier das Leben ein Ringen des Menschen mit dem All. Die Bewegung ging namentlich deshalb so tief und beherrschte die Geister so sehr, weil zugleich eine weite K l u f t zwischen Mensch und Welt vor Augen gerückt war und ein glühender Lebensdrang auf einer Einheit des Ganzen und einer Verwandlung beider Seiten in eignen Besitz bestand. Ohne eine eingreifende Umwandlung des ersten Anblicks von Mensch

Die Hauptwege der philosophischen Spekulation.

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und Welt war dieser Widerspruch nicht zu überwinden; so haben Denker ersten Ranges dieser Aufgabe ihre beste K r a f t gewidmet. Descartes, der zuerst das Denken von der Welt losriß und auf sich selber stellte, empfand schon vollauf die Schwierigkeit, von ihm zur Welt zurückzufinden. Er h a t sie von Grund aus zu überwinden gesucht, indem er die menschliche Vernunft in einer göttlichen verankerte und durch den Glauben an diese Vertrauen zum menschlichen Wahrheitsvermögen gewann, er h a t für die nähere Durchführung einen Prüfstein zur Unterscheidung von Wahrem und Falschem zu entdecken gesucht und ihn in der vollen Klarheit und Deutlichkeit zu finden geglaubt. Mögen seine Ausführungen technisch unfertig und angreifbar sein, es bleibt sein überragendes Verdienst, den Schwerpunkt des Lebens in den Menschen verlegt und der Bewegung statt der Richtung von der Welt zur Seele die von der Seele zur Welt gegeben zu haben. Spinoza führte das Erkenntnisproblem weiter und brachte es zu einer Höhe, die selbst Leibniz kaum überbieten konnte. Auf dieser Höhe stehen Denken und Sein selbständig gegeneinander, aber sie gehören zu einem Allleben, das sie trägt und umfaßt, und sie verlaufen als seine Erscheinungsformen parallel miteinander; indem die eine Seite sich selbst und gemäß ihrer eignen Art entwickelt, stimmt sie genau zur andern; »die Ordnung und Verbindung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verbindung der Dinge«. Leibniz teilt den Gedanken des Parallelismus, aber er wendet ihn dahin, daß nicht sowohl Denken und Ausdehnung einander entsprechen als Einzelwesen und All, Mikrokosmos und Makrokosmos; jede einzelne Seele erlebt unmittelbar bei sich selbst und ohne irgendwelchen Einfluß von außen die ganze Unendlichkeit, den Einklang begründet die »prästabilierte Harmonie«, das Werk weltbeherrschender Intelligenz. Diese Theorie des Parallelismus enthält einen starken Antrieb, jede der beiden Seiten in ihrer Besonderheit zu fassen und gegen die andere deutlich abzugrenzen, jeder Vermengung wird hier energisch widerstanden. Damit erst

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Kritischer T e i l .

wird es möglich, jedes einzelne der Gebiete in einen fortlaufenden Zusammenhang zu verwandeln und es unvergleichlich enger und fester als zuvor zusammenzuschließen. Die Forschung hat hier ihre Größe vornehmlich in eindringender Analyse, ein Hauptstreben der modernen Welt, Natur und Seelenleben als selbständige Reiche zu behandeln, ohne darüber die Einheit des Weltalls preiszugeben, findet hier eine philosophische Rechtfertigung. So entspricht auch hier die Denkarbeit einer Forderung der weltgeschichtlichen Lage, ihre Zurückziehung von der bunten Fülle der Dinge macht sie keineswegs einsam. Aber die Schwierigkeiten der hier versuchten Ausgleichung von Gedankenwelt und Sinneswelt blieben nicht lange verborgen. Vor allem fehlte dem Hauptgedanken einer allesumfassenden Einheit eine genügende Sicherheit, er war eine kühne Hypothese der Spekulation, die der nüchternen Klarheit der modernen Denkweise schroff widersprach, und die weniger im modernen Boden als in der überkommenen religiösen Gedankenwelt wurzelte; jedes Unsicherwerden dieses Hauptgedankens lockerte aber den Zusammenhang, und bei seinem Verschwinden drohte das Denken zu bloßsubjektiver Reflexion, die Natur aber zu einem seelenlosen Mechanismus zu sinken, zugleich aber alle Möglichkeit eines wahrhaften Erkennens zu verschwinden. Neben solcher Unsicherheit mußte auch die innere Verarmung Bedenken und Widerspruch erwecken, welche das Menschenleben bei aller äußeren Ausdehnung hier erfährt. Denn diese Theorie des Parallelismus kann den Menschen nur insoweit mit der Welt in Einklang bringen, als alles Charakteristische und Unterscheidende an ihm aufgegeben und als wesentlich nur das festgehalten wird, was ein Gegenstück zum äußeren Weltlauf bildet. Als solches bleibt aber nur das Denken mit seinen Formen und Ketten, der Mensch wird hier ein bloßer Vorstellungsmechanismus, bei dem völlig rätselhaft bleibt, wie er ein Ganzes bilden und sich selbst als ein Ganzes erleben kann. Wenn hier das Leben trotzdem eine seelische Tiefe und Wärme gewinnt, so geschieht das nicht in Weiterführung jener Begriffe, sondern in Widerspruch

Die

Hauptwege

der p h i l o s o p h i s c h e n

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Spekulation.

dazu und im Anschluß an die mystische Spekulation und Intuition. Das aber ist ein durchgängiges Schicksal aller Parallelismuslehre, d a ß sie das erstrebte Gleichgewicht beider Seiten wohl im allgemeinen Gedanken behaupten, nicht aber näher ausführen kann. Denn sobald sie das unternimmt, erhält entweder das Äußere oder das Innere das Übergewicht, und es v e r l ä u f t das Ganze entweder in Naturalismus oder in Spiritualismus, es wird entweder der Geist eine Begleiterscheinung, ein R e f l e x der Natur, oder die N a t u r eine Darstellung und Erscheinung des Geisteslebens. Das Mißlingen der beiden Versuche des Zusammenhanges und des Parallelismus treibt notwendig zu weiterem Suchen; hängen die beiden Seiten nicht unmittelbar zusammen, und lassen sie sich auch, wenn einmal geschieden, nicht wieder zusammenbringen, so scheint nur noch eine Möglichkeit offen: die Verneinung alles außerhalb des Denkens gelegenen Seins und die Verlegung aller Wirklichkeit in das Denken mit seiner Bewegung. Wenn das Denken nicht mit fremdem, sondern nur mit eigenem Erzeugnis zu tun hat, wenn das Erkennen damit zum Sichselbsterfassen des Denkens wird, so scheint nichts einer vollen Durchleuchtung Widerstand zu leisten, so scheint die Erkenntnisarbeit eines vollen Sieges gewiß. Natürlich ist dann das Denken über die individuelle Reflexion zu erheben und mit eigner T r i e b k r a f t auszustatten, es muß, um jenes leisten zu können, zu einem absoluten Denken werden und alle Wirklichkeit umfassen. Danach ist in Wahrheit an Höhe- und Wendepunkten mit allem Eifer gestrebt. Diesen W e g betrat nicht erst die Neuzeit, sondern schon das A l t e r t u m , und zwar unter der Führung Plotins, dem auch die mittelalterliche M y s t i k folgte. A b e r zwischen alter und neuer A r t liegt ein beträchtlicher A b s t a n d . Wie die alte Denkweise überhaupt das Beharren, die neue dagegen das Werden voranstellt, so bedeutet dort die W e n d u n g zu einem absoluten Denken das A u f n e h m e n aller Mannigfaltigkeit in eine unwandelbare Einheit und ihr Verstehen v o n daher; wie alles aus jener Einheit als seiner Wurzel sein L e b e n zieht, so strebt es unablässig zu ihr zurück, u m in ihr ein Beisichselbstsein Eucken,

Erkennen und Leben,

2. Aufl.

2

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Kritischer Teil.

und ewige R u h e zu finden. Damit erst gewinnt das All eine allesdurchdringende Einheit und eine reine Innerlichkeit, erst hier entsteht eine selbständige Innenwelt. Hierbeherrschtdurchgängig die Einheit die Vielheit, das Innere das Außere, das Beharren die Bewegung; wie hier die ganze Wirklichkeit im Leben der Unendlichkeit flüssig wird, so verschwinden auch alle bestimmten und begrenzten Begriffe in jene Unendlichkeit, sie können die Grundwahrheit nur im Gleichnis darstellen. Volle Erkenntnis verleiht hier nur die mystische Intuition, die sich von der künstlerischen der klassischen Zeit deutlich genug unterscheidet, indem jene alle Besonderheit auslöscht, diese die Einheit nur in und mit der Mannigfaltigkeit sucht. Von hier aus vornehmlich hat der Gedanke der allgegenwärtigen Einheit und der in sich ruhenden Ewigkeit (praesentia stans) seine hinreißende Macht über die Gemüter gewonnen und dem Leben mit durchgreifender Verinnerlichung zugleich den Zug ins Große und Kosmische gegeben; aber was hier an Erkennen geboten wird, ist mehr ein unfaßbares Gefühl, ein stilles Schweben der Seele in der Unendlichkeit, als eine intellektuelle Durchdringung der Wirklichkeit, es entdeckt wohl eine ursprüngliche Tiefe, aber es zeigt keinen Weg, um von dieser zur Lebensarbeit zu gelangen. So hat es wohl das Ganze des Lebens, aber von den einzelnen Gebieten mehr die Religion und die Kunst als die Philosophie gefördert. Tiefer ergriff den Erkenntnisstand die moderne Wendung des Hauptgedankens, welche das Denken nicht als ein Sichanschauen eines ewigen Seins, sondern als ein kosmisches Werden, als ein Sichselbstsuchen versteht; der Weltprozeß ist dann nichts anderes als eine Selbstverwirklichung des Denkens. Die Emanation weicht der Evolution, die Intuition der Begriffskonstruktion. Den leitenden Grundgedanken h a t namentlich Hegel großartig ausgeführt. Indem hier der Prozeß durch selbsterzeugte Widersprüche weiter und weiter getrieben wird, und er sich durch These, Antithese, Synthese hindurch zu immer reicherem Gehalt emporarbeitet, immer mehr von allgemeinen Umrissen zu konkreten Gestaltungen vordringt, indem er alles ihm Gegenüberliegende an sich zieht

D i e Hauptwege der philosophischen Spekulation.

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und sein eignes Werk darin erkennt, gerät das ganze Dasein in Fluß, wird alle Mannigfaltigkeit in gegenseitige Beziehung und Durchdringung gebracht, und überall ein Gedankengehalt als der Kern und die Kraft der Dinge aufgedeckt. Das Denken verläßt sein Schattenreich, indem es die engste Berührung mit dem geschichtlich-gesellschaftlichen Leben der Menschheit gewinnt, das selbst damit in einem großen Zusammenhange gesehen und aufgehellt wird. Hier ist der Blick nicht zu den ewigen Ursprüngen rückwärts, sondern vorwärts auf das Ziel einer völligen Selbstverwirklichung des Geisteslebens gerichtet, hier ist es der Kampf und das gegenseitige Sichweitertreiben, was im Bilde der Welt voransteht, mag schließlich die Ruhe einer philosophischen Betrachtung alle Bewegung umspannen. Wir wissen, wie mächtig der hier aufquellende Lebensstrom die Geister fortriß, und wie sehr er die geistige Arbeit und die moderne Kultur befruchtet hat; wir wissen aber auch, wie bald ein Rückschlag darauf erfolgte, und wieviel Widerspruch er fand. Vor allem enthält der Begriff des absoluten Denkprozesses einen inneren Widerspruch: das Denken kann kein Prozeß, der Prozeß kein Denken sein. Für das Denken ist unentbehrlich ein Heraustreten aus der Zeit, ein Erfassen der Dinge »unter der Form der Ewigkeit«, der Prozeß aber eilt weiter und weiter, er kennt weder Ruhe noch Abschluß. Hegel hat in seiner Person und zu seiner Zeit das Auseinanderstrebende zusammenzuhalten verstanden, aber der Widerspruch lag in der Sache, und er mußte daher nach Ablösung der Bewegung von der überragenden Persönlichkeit hervortreten und die Menschheit auf entgegengesetzte Bahnen treiben. Wo das Denken voransteht, da muß der Prozeß sich übersehen lassen, das aber kann er nicht, wenn er nicht zum Abschluß gebracht ist; so fällt die Bewegung allein in die Vergangenheit, die Gegenwart erscheint als fertig, der Zukunft bleibt nichts zu tun; wo aber der Prozeß voransteht, da treibt es weiter und weiter ins Unbestimmte hinein, da verlieren die Zeiten alles innere Band, da wird die Philosophie nur eine Spiegelung der jeweiligen Lage, ein kulturgeschichtlicher Durchblick der Wirk2*

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Kritischer Teil.

lichkeit, da weicht alle absolute Wahrheit dem Relativismus, da fällt eine innere Durchdringung und Aneignung der Welt, da gibt es kein Erkennen. Die Kämpfe und Zweifel, die daraus hervorgehen, müssen die Stellung des Denkens und seinen Anspruch auf die Beherrschung der Welt aufs schwerste erschüttern. Denn mag innerhalb unseres Bereiches ein Gedankengewebe entstehen und einen dem übrigen Seelenleben überlegenen Daseinskreis bilden, es bleibt ein Denken des Menschen, und daß dieses der Quell aller Wirklichkeit sei, daß es das Weltall in sich trage und aus seiner Bewegung entwickle, das ist schwerlich zu erweisen. Viel zu rasch und unvermittelt ist hier menschliches Denken zu absolutem erhoben und seine Art der Bewegung in ein Weltgeschehen verwandelt. Nahe liegt hier der Zweifel, ob nicht das Ganze nur neben der Wirklichkeit stehe, deren Kern es zu sein behauptet. Auch die nähere Beschaffenheit der hier gebotenen Welt muß solchen Zweifel verstärken. Indem das Denken alle Wirklichkeit an sich zieht, verwandelt es sie in ein Reich von Beziehungen und Formen, eine Welt der Umrisse und Schatten, ein Gemälde von grau in grau. Wenn in Wahrheit Hegel mehr bietet und seine Gedankenwelt mit lebensvoller Anschaulichkeit zu uns wirkt, so stammt das nicht aus seiner Theorie, sondern aus seiner persönlichen Art, die einen offnen Sinn für alles Große hatte und alle Mannigfaltigkeit in ein farbenreiches Bild zusammenschaute. Von der belebenden Kraft der Persönlichkeit abgelöst, mußte das Ganze rasch seinen schattenhaften Charakter enthüllen und eine Leere schmerzlich dartun. So erklärt sich der rasche Umschlag, den wir kennen, das Vordringen des Empirismus und Positivismus, das Zurücktreten des Menschen von dem Weltproblem, der Verzicht auf alles Erkennen in unserem Sinne und zugleich auf innere Größe. So hat die geschichtliche Betrachtung dem Zweifel recht gegeben, ob das Denken aus eigner Kraft Erkennen zu erreichen vermöge; es stellte sich ein Dilemma heraus, daß bei Anerkennung einer draußen befindlichen Welt das Denken keinen sichern Weg zu ihr zu finden vermag, daß es aber im Versuche, alles Sein aus sich hervorzubringen, seine

Die H a u p t w e g e der philosophischen

Spekulation.

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K r a f t überspannt und sich in eine Welt der Schatten verliert. So versagt auch dieser Weg der Spekulation. Wie Kant über die Verwicklung hinausführen möchte, das haben wir später zu erörtern. Übergang zum Lebensproblem. Spekulation und Wissenschaft pflegen sich gegenseitig gering zu schätzen: der Wissenschaft gilt die Spekulation leicht als phantastische Schwärmerei, der Spekulation das Unternehmen der Wissenschaft, von sich aus die Welt zu deuten, als Überhebung und Eindringen in ein fremdes Gebiet. Aber trotz solchen Zwiespalts sind sie einander verwandt und wirken sie nach ähnlicher Richtung. Beide berufen den Intellekt zum Beherrscher des gesamten Lebens und pressen alle Wirklichkeit in die Maße des Denkens. Dieses steckt ihnen den Lebensraum ab, in den sich alles zu fügen hat, es weist dem Handeln seine Richtung, es versteht das Handeln überhaupt als ein Schließen, als die Anwendung allgemeiner Sätze auf besondere Fälle. Solcher Denkweise hat aber die Neuzeit immer stärker und heftiger widersprochen. Die unablässig wachsende Ausbreitung des Lebens ins Große wie ins Kleine zeigte es als viel zu reich und buntfarbig, als viel zu beweglich und wandelbar, als daß es in die Formen und Formeln des Denkens aufgehen könnte; so durchbrach sein Strom die Bahnen, die ihn fassen sollten, und ergoß sich schrankenlos ins Freie und Weite. Zugleich erwuchs ein Widerwille gegen alle Vermittlungen, durch die das Denken uns Leben zuführt, stärker und stärker wurde das Verlangen nach mehr Unmittelbarkeit, mehr Anschaulichkeit, mehr Ursprünglichkeit, statt der Dinge schienen uns dort bloße Zeichen und Bilder geboten, in der Begriffsarbeit, in ihrer unablässigen Reflexion und Diskussion, schien das Leben sich zu verflüchtigen und ins Schattenhafte zu geraten; das Bewußtwerden dessen mußte bald einen leidenschaftlichen Durst nach voller Wirklichkeit erzeugen. Auch h a t die Denkarbeit so viel Verwicklung gezeigt, und ist sie im eignen Bereich so weit auseinandergegangen,

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Kritischer Teil.

ist sie so voll des Suchens und Zweifeins, des Widersprechens und Verneinens, daß es ganz unmöglich scheint, auf einen so schwankenden Grund unser Leben zu bauen. So steht das Leben der Gegenwart unter der Macht des Verlangens, die Alleinherrschaft des Intellekts zu brechen und das Joch des Intellektualismus abzuschütteln. Aber was wir zunächst als eine Forderung der Gegenwart empfinden, das wirft auch sein Licht auf die Vergangenheit zurück und läßt uns deutlich erkennen, daß jederzeit die Denkarbeit ihre Erfolge nicht in eigenwilliger Absonderung, sondern in engem Zusammenhange mit dem jeweiligen Stande und den Problemen des gesamten Lebens erreicht h a t . N u n und nimmer h ä t t e die Höhe der griechischen Philosophie Denken und Sein einander so nahe bringen und in so fruchtbaren Austausch versetzen können, wäre sie nicht von einer künstlerischen Lebensgestaltung umgeben gewesen, welche Innen- und Außenwelt mit Einem Kosmos umspannte und aus der Berührung beider förderliches Schaffen erzeugte; nur in einer Zeit, wo eine kulturmüde Menschheit dringender als alles übrige Ruhe und Frieden ersehnte und ihren Gewinn allein von der Flucht zu einer überlegenen Ordnung erhoffte, konnte die Gedankenwelt eines Plotin entstehen und Macht gewinnen; nur das moderne Verlangen, Natur und Seele von unerträglich gewordener Vermengung durch eine gründliche Scheidung zu befreien, ohne sie doch aus einer umfassenden Gesamtwelt herausfallen zu lassen, gab den Systemen des Parallelismus eine solche Durchbildung und eine solche Wirkung. Und sind die kühnen Systeme der deutschen Spekulation verständlich ohne den Hintergrund einer geistig hochgespannten und vom menschlichen Vermögen aufs Größte denkenden Zeit? J a , so verschieden diese Epochen sind, und so weit ihre Leistungen auseinandergehen, alles das rückt zusammen und erweist eine nahe Verwandtschaft, sobald wir unseren ganzen westlichen Kulturkreis mit dem ostasiatischen, im besondern dem indischen, vergleichen. Denn wir gewahren dann leicht, daß ein positiverer Lebensaffekt uns die Widerstände der Welt stärker empfinden und härter mit ihnen ringen, eben deswegen aber auf festen

D i e H a u p t w e g e der p h i l o s o p h i s c h e n S p e k u l a t i o n .

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Begriffen und gleichmäßiger Durchbildung bestehen läßt, während dort eine weichere Art die Welteindrücke in breite Stimmungen umsetzt, in aller Besonderheit vornehmlich das Ganze sucht und daher ihre Uberzeugungen besonders gern symbolisch durch Beispiele und Gleichnisse ausdrückt. So entscheidet über die Art des Denkens und Erkennens durchgängig die Art des Lebens. Ja, noch darüber hinaus zeigt die Geschichte, daß eben da, wo der Intellektualismus seine höchsten Gipfel erreichte, wo das Denken lediglich aus eigner Kraft das ganze Leben tragen wollte, es selbst weit über die bloß intellektuelle Leistung hinauswuchs, daß es eine Bewegung des ganzen Lebens zu einer neuen Stufe, zur Stufe der Selbsttätigkeit wurde. Wenn Plato alle echte Tugend auf die wissenschaftliche Einsicht gründet, da nur diese sie zur eignen Tat des Menschen mache, wenn Clemens und Origenes erst im Erkennen die christliche Wahrheit das Innere vollauf gewinnen lassen, wenn Leibniz in ähnlicher Denkart nur die auf Erkennen gegründete Liebe zu Gott für eine echte erachtet, wenn Spinoza wie Hegel im Denken das echte Wesen des Menschen sehen, so ist ihnen allen das Denken unvergleichlich mehr als bloßes Denken, es bedeutet eine Tat des ganzen Wesens, eine Wendung des gesamten Lebens. Wenn so hinter dem Denken überall als treibende und richtende Kraft ein eigentümliches Leben steht, so war der Kampf um das Denken letzthin ein Kampf um das Leben; die Denker entzweiten sich nicht sowohl, weil sie einen gemeinsamen Tatbestand verschieden deuteten, sondern eine verschiedene Art des Lebens zeigte ihnen anderes in den Dingen, einen verschiedenen Tatbestand. Aber so unbestreitbar solcher Zusammenhang des Denkens mit dem Leben ist, er wurde früher nicht deutlich herausgearbeitet, daher aber der geistige Kampf nicht an der entscheidenden Stelle aufgenommen; statt den Schlüssel der Stellung anzugreifen, begnügte man sich meist mit Vorpostengefechten. Wenn heute sowohl das eigne Verlangen der Gegenwart als eine klarere Einsicht in die bewegenden Mächte der Vergangenheit den Vorrang des Lebens

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Kritischer Teil.

anzuerkennen zwingen, sollten wir da nicht gründlich mit dem Intellektualismus aufräumen und das Leben nicht auf das Denken, sondern das Denken auf das Leben gründen ? Sicherlich steht das Erkenntnisproblem weit günstiger, wenn die Frage nicht auf ein Sein, sondern auf ein Leben gerichtet wird. Denn jenes steht uns starr und undurchdringlich entgegen, nur in Wirkungen könnte es uns berühren, in Wirkungen, die immer unklar lassen, wieviel Wesen sie übermitteln; in ein Leben aber könnte das Denken sich ganz wohl versetzen und, indem es aus ihm schöpfte, zugleich zu seiner Erhöhung wirken; so muß das Erkennen nicht auf Fremdes, sondern auf Eigenes gehen und sich zu einem Selbsterkennen, einem Sichselbsterkennen des Lebens gestalten. Daß es aber überhaupt in Selbsterkennen verwandelt werde, das ist eine unabweisbare Forderung. Denn es ist ein innerer Widerspruch, Fremdes erkennen, Fremdes durchschauen zu wollen. Wenn wir in Wahrheit nur Eignes erkennen, so muß vor der Erkenntnis die Aneignung stehen oder doch ihr verbunden sein; dazu aber scheint einen Weg nur die Wendung zum Leben zu bieten. So wirkt mannigfachstes zur Unterstützung des Verlangens zusammen, das Erkennen auf Leben zu gründen; in mächtigen Wogen durchdringt dies Verlangen das Streben der Gegenwart.

3. Die empirischen Fassungen des Lebens. Unsere Untersuchung vertritt vor allem anderen die Uberzeugung, d a ß das Leben zwei H a u p t a r t e n h a t : ein gebundenes und ein selbsttätiges. Bei jenem bildet es nur ein Nebeneinander einzelner Punkte, die nur in zeiträumlichen Beziehungen stehen, aber kein inneres Verhältnis zueinander haben, das Streben h a t hier den Hauptantrieb, das Dasein jener P u n k t e gegenüber der Umgebung zu behaupten; das selbsttätige Leben dagegen steht in einer Verbindung mit einem Gesamtleben und wird von ihm u m f a ß t ; das ergibt ein neues Lebensgefüge, in dem das Einzelwesen eine innere Erhöhung durch

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Die empirischen Fassungen des Lebens.

jenes Gesamtleben erlangen kann. Das muß alle Bestrebungen und Leistungen der beiden Arten wesentlich voneinander unterscheiden. Die deutliche Festhaltung des Abstandes ist der leitende Gedanke unserer Untersuchung, sie hält sich zunächst an die Tatsache, daß heute der Begriff des Lebens vornehmlich durch das sinnliche Dasein bestimmt wird, sie behauptet aber demgegenüber, daß nur ein selbsttätiges Leben irgendwelches Erkennen hervorbringen kann. Wie das näher zu verstehen sei, das hat der nähere Verlauf der Untersuchung zu zeigen 1 ). Was immer in der Zeit solcher Wendung günstig ist — wir sahen gleich zu Beginn, wie viel das ist —, das muß auch eine eigentümliche Fassung des Erkennens unterstützen und den Zeitgenossen empfehlen. Es wird diese Wendung im besondern die Bewegung gegen den Intellektualismus, das Verlangen nach Nähe, Anschaulichkeit, Greifbarkeit in ihre Bahn zu ziehen suchen; hier scheint am leichtesten und am sichersten seine Erfüllung zu finden, was jene Bewegung an Forderungen stellt. Es spaltet sich aber jene empirische Strömung in zwei Hauptarme, je nachdem das menschliche Dasein oder die Natur die Maße liefert, es erwachsen damit zwei Arten der Erkenntnislehre: eine pragmatische und eine biologische. Es gilt beide etwas genauer zu untersuchen, da nur eine Auseinandersetzung mit diesen Zeitbewegungen das Recht unseres eignen Unternehmens erweisen und seine Eigentümlichkeit begründen kann. A. Der Pragmatismus. Der Pragmatismus verfolgt eine Strömung, die von alters her in der englischen Welt vielen Einfluß hatte, aber die Formulierung, welche der Grundgedanke neuerdings in Amerika fand, gab ihm eine präzisere Gestalt und steigerte seine Wirkung. Die Richtung auf die Erfahrung und die Lebenspraxis hat hier einen eigentümlichen Wahrheitsbegriff erzeugt, der ') Die

ausgezeichnete

Schrift von Rickert,

der wir

uns in

wichtigen

Punkten nahefühlen, verwendet einen besonderen Begriff einer Philosophie des Lebens.

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Kritischer Teil.

alle Erkenntnisarbeit neu beleuchtet. Es scheint hier völlig verfehlt und aussichtslos, beim Erkennen ein eigenes Wesen der Dinge zu ermitteln oder eine Übereinstimmung mit ihm zu erreichen, überhaupt zu einer unabhängig von uns vorhandenen Welt zu gelangen. Denn zu ihr f ü h r t kein gangbarer Weg, und es gibt hier keine Möglichkeit, etwaige Versuche nachzuprüfen; mit dem Streben danach verlieren wir uns in aussichtslose Grübeleien, die wertlos für unser Befinden sind. Das weite Auseinandergehen und der unablässige Zank der Sekten und Parteien scheint die Verfehltheit dieses Strebens zu bestätigen. Was wir kennen und was allein f ü r uns Bedeutung hat, das ist unser eignes Befinden; nur sofern die Dinge darauf wirken, kennen wir sie und haben wir Interesse an ihnen; da diese Wirkungen aber entweder fördernder oder hemmender Art sind, so ergibt sich sofort ein Maßstab und zugleich ein Wahrheitsbegriff. Als wahr hat nunmehr zu gelten, was lebenerhöhend wirkt, was der Entfaltung und dem Gelingen des Lebens dient, was nützlich ist im weitesten Sinne des Wortes, als falsch dagegen, was schädigt und niederdrückt. Das Verfahren, das aus solcher Zielsetzung entsteht, h a t manche Vorteile: von unzugänglichen Ursachen versetzt es uns in greifbare Wirkungen, die Erkenntnisarbeit ist hier wie dem Ganzen des Lebens so auch der unmittelbaren Empfindung und Anschauung nahegerückt, nirgends scheint sie unnütz, sondern an jeder Stelle verspricht sie wertvolle Frucht. Zugleich erfolgt eine energische Konzentration und Kondensation der Erkenntnisarbeit, indem alle Probleme als gleichgültig und unlösbar ausscheiden, welche den Stand unseres Lebens nicht verändern, wie z. B. die ontologischen Fragen der alten Metaphysik; zugleich wird alles, was verbleibt, durch die Beziehung auf den einen beherrschenden Mittelpunkt einander näher geführt und miteinander enger verwoben. Zu diesen Vorzügen kommt die Beweglichkeit, welche die Erkenntnisarbeit hier gewinnt, sie entspricht dem modernen Verlangen nach freierer Bewegung. Denn das Leben ist heute in unaufhörlichem Fluß, mit ihm verändert sich auch Nutzen

Die empirischen F a s s u n g e n des L e b e n s .

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und Schaden; so muß auch das Erkennen ein enges Verhältnis zu den Zeiten gewinnen und sich ihren Forderungen anpassen. In dem allen wird es nicht als durch eigene Notwendigkeit geleitet, sondern es erscheint als ein Werkzeug des Lebens, ein Weg, auf dem dieses seine Höhe sucht; so hat es nicht einen autonomen und absoluten, sondern einen relativen und werkzeuglichen Charakter. Wie sehr die Erkenntnisarbeit sich bei solcher Fassung umgestaltet, das zeigen einige Beispiele deutlicher als breite Erörterungen. Wenn früher Materialismus und Spiritualismus miteinander stritten, so suchte jeder die Wirklichkeit auf die von ihm verfochtenen Größen zurückzuführen; er betrat damit das Gebiet der Metaphysik, das nun einmal der Menschheit verschlossen ist. Die Folge war ein unablässiger Kampf, der nicht das mindeste nützte, und der sich nie endgültig entscheiden läßt. Ganz anders erscheint die Sache, wenn gefragt wird — wir folgen hier den Ausführungen des leitenden Geistes der ganzen Bewegung, des hervorragenden William James —, ob eine Erklärung der höheren Phänomene aus den niederen und eine Zurückführung auf diese, oder ob eine Anerkennung einer Selbständigkeit und einer leitenden Stellung der höheren Phänomene dem menschlichen Leben förderlicher sei. Damit verlegt sich die Frage in unseren eignen Gesichtsund Erfahrungskreis, und hier scheint die Antwort sicher zugunsten des Spiritualismus auszufallen, da dieser mehr aufrüttelnde Kraft besitzt und höhere Ziele vorhält. »Der Glaube an geistige Wesen in all seinen Formen hat es immer mit einer Welt der Verheißung zu tun, während die Sonne des Materialismus in einem Meer der Enttäuschung untergeht« (W. James). — Ähnlich steht es bei der Religion. Hinge ihre Wahrheit an spekulativer Einsicht, so müßten uns die tiefsten Gründe zugänglich sein, so wäre eine Gewißheit nie erreichbar, dazu könnte eine derartige Begründung immer nur zu wenigen sprechen; prüfen wir aber die Religion darauf, was sie dem menschlichen Leben leistet, wie sie auf den Menschen wirkt, so scheint ein Weg gewonnen, der sicher zum Ziele führt und den alle teilen können. »Nach pragmatischen Grundsätzen

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Kritischer Teil.

ist die Hypothese von Gott wahr, weil sie im weitesten Sinne des Wortes befriedigend wirkt« (W. James). Mit solcher Wendung zur Wirkung scheint der Pragmatismus eine alte Erfahrung aufzunehmen und ins Prinzip zu erheben, die Erfahrung, daß nichts den Gedankenmässen einen leichteren Eingang bei den Menschen gab als das, was sie bei sich selbst an Wirkung davon verspüren; z. B. h a t die Beruhigung und die Hoffnungsfülle, welche die Religion den Gemütern brachte, sicherlich zu ihrem Erfolge mehr beigetragen als alles Mühen der Theologen und Philosophen, sie wissenschaftlich zu begründen. Weiter empfiehlt sich der Pragmatismus dem modernen Menschen durch die energische Abweisung wie alles Intellektualismus, so namentlich der spekulativen Metaphysik, auch durch die reiche Fülle von anschaulicher Erfahrung, die er der Erkenntnisarbeit zuführt. Am meisten aber wirkte zu seinen Gunsten die überragende Stellung, welche die menschliche Gesellschaft im Lebensbilde der Neuzeit gewonnen hat, die Tatsache, daß ihre Wohlfahrt mehr und mehr zum allbeherrschenden Ziel des Strebens geworden ist. Konnte nicht mehr wie früher das menschliche Zusammensein seine Aufgabe wie seinen Wert aus überlegenen Ordnungen schöpfen, so mußte es um so mehr in seinem unmittelbaren Befinden alle Sorge, alle Arbeit, alle Hoffnung an sich ziehen. Damit schien alle Abhängigkeit von fremden Gewalten abgeschüttelt, der Mensch lediglich auf sich selbst gestellt, ein sicherer Boden für Wirken und Schaffen gewonnen. So schien die engere Verbindung der Menschen überreich ersetzen zu können, was an Religion und Metaphysik verloren ging. In Wahrheit hat die geistige Bewegung der Neuzeit den Weg von Gott zur Vernunft und von dieser zur Menschheit genommen und in ihr den endgültigen Abschluß zu finden geglaubt. Es war nur eine individuelle Fassung dieser Bewegung, wenn Ludwig Feuerbach sagte: »Gott war mein erster, Vernunft mein zweiter, der Mensch mein dritter und letzter Gedanke.« So verlegten sich auch die Ideale in die menschliche Gesellschaft: die Ethik fand ihre Hauptaufgabe in dem Wirken

Die empirischen Fassungen des Lebens.

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für die menschliche Umgebung und gestaltete sich d a m i t zur Sozialethik, die Religion wurde zur Verehrung der Menschheit (le grand etre nach Comtes Ausdruck), und der Glaube ging s t a t t auf ein unsichtbares Gottesreich auf den u n a b lässigen Fortschritt der Menschheit. Demnach f a n d auch die Erkenntnisarbeit ihren Hauptvorwurf nicht mehr in der Ergründung der Tiefen der Gottheit oder des Alls, sondern in dem Durchleuchten und Fördern der Lage des Menschen. Der menschliche Kreis empfängt nicht mehr sein Licht aus einer jenseitigen Welt, sondern ihr Dunkel scheint sich nur so weit aufzuhellen, als sie uns Menschen b e r ü h r t . So h a t der Pragmatismus weite Kreise an sich gezogen. Aber dem Eindruck, den der Pragmatismus eine Zeitlang machte, ist schon wieder ein Rückschlag gefolgt, u n d es erheben sich mehr und mehr Bedenken wider ihn. Diese Bedenken dringen über einzelne P u n k t e hinaus zum K e r n der Behauptung vor und verwandeln schließlich die Stärke des Pragmatismus in eine Schwäche. Zunächst ist es nicht leicht, die Wirkung auf den Menschen abzuschätzen und zu entscheiden, was nützlich oder schädlich ist; die Urteile darüber gehen weit auseinander, denn die Gedankenmassen pflegen verschiedene Seiten zu haben, und der eigentümliche S t a n d p u n k t des Beobachters rückt bald diese, bald jene in den Vordergrund. So ist es dem Gegner der Religion keineswegs gewiß, daß sie das menschliche Wohlsein fördert, er wird den b e h a u p t e t e n Vorzügen den Aberglauben, die innere Spaltung der Menschheit, die Verfolgungssucht der Parteien usw. entgegenhalten und überzeugt sein, daß sich die Wage nach dieser Seite neige. Das Ganze des menschlichen Daseins zeigt gute und schlechte Wirkungen in wirrem Durcheinander; wer will entscheiden, was die Oberhand h a t ? Ferner wird nun und nimmer der Materialist anerkennen, daß der Spiritualismus günstiger auf die menschliche Seele wirkt. E r wird einwenden, d a ß dies Urteil den Standpunkt des Spiritualismus schon voraussetzt, und daß seine Überzeugung die Sache ganz anders darstellt. So f ü h r t der Streit um die Wirkung unvermeidlich

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auf dieselben Prinzipienfragen zurück, denen m a n ausweichen wollte. Auch die Beweglichkeit der pragmatischen Lehren ist keineswegs ein reiner Gewinn. Der Freund der Bewegung sieht an ihr nur die Freiheit, die Fülle, den Fortschritt, er übersieht das Auseinandergehen, die Zersplitterung, die Verflüchtigung. Werden die menschlichen Wünsche und Bedürfnisse zum Maßstab der Wahrheit, so entstehen soviel Wahrheiten, als es Zeiten, Seelenlagen, ja Individuen gibt. Denn die einen werden sich durch diese, die anderen durch jene in ihrem Wohlsein gefördert finden, das kann bis zu schroffem Gegensatz auseinandergehen. So würden z. B. Zeiten einer geistigen E r m a t t u n g und einer angstvollen Stimmung völlig andere religiöse Gedankenwelten verlangen als solche freudigen Schaffens und aufsteigenden Lebensgefühls; dort würde die Idee des Gegensatzes, hier die der Harmonie vorwalten, dort Transzendenz und Dualismus ebenso selbstverständlich dünken wie hier Immanenz und Monismus. Der Gegensatz des ausgehenden Altertums und der beginnenden Neuzeit stellt das deutlich vor Augen. So aber reicht es in alle Mannigfaltigkeit hinein, jeder P u n k t und jeder Augenblick h a t sein eignes Bedürfnis, er würde damit auch seine besondere Wahrheit besitzen. Müßte in einem solchen unermeßlichen Meer von lauter einzelnen Wahrheiten nicht der Begriff der Wahrheit ertrinken ? Diese Zerstörung des Wahrheitsbegriffs würde aber nicht n u r einem, der von außen her das Ganze der Bewegung überschaut, sie würde auch dem innerhalb ihrer Befindlichen schließlich bemerklich werden. Denn so ist niemand in seinen Sonderkreis eingeschlossen, daß er alles Beobachten anderer und alles Vergleichen einstellen könnte. Und wenn er nun Abweichungen, Abweichungen nicht nur hier und da, sondern überall und durchgängig entdeckt, so wird das unvermeidlich seine eigene Überzeugung erschüttern; je weiter daher einer blicken und je unbefangener er sich in die Lage anderer versetzen könnte, desto sicherer wäre er einer völligen Skepsis verfallen. Tiefer noch greift das Bedenken, ob in geistigen Dingen

Die empirischen Fassungen des Lebens.

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die Wirkung sich überhaupt gesondert betrachten lasse, ob sie nicht an eine Uberzeugung von der Ursache gebunden bleibe. In der Außenwelt läßt sich die Wirkung für sich messen, die Leistung der Elektrizität hängt nicht an der Art, wie der Forscher sie erklärt; was aber in unserer Seele vorgeht und durch das Denken vermittelt wird, das kann sich nicht von der Begründung ablösen, das empfängt seinen eigentümlichen Charakter eben durch die Art der Begründung. Diese wird nicht nachträglich hinzugedacht, sondern sie gehört zum Kern der Sache. So übte nur deswegen die Religion eine so tiefe Wirkung auf das menschliche Gemüt, weil sie eine dem Menschen überlegene Macht an ihn zu bringen, ihn dieser innerlich zu verbinden, ja ihn in ihr eigenes Leben zu versetzen versprach; eben weil sie keine bloße Lehre von göttlichen Dingen, sondern die Eröffnung eines neuen Lebens war, duldete ihr die Gegenwart eines göttlichen Seins in der menschlichen Seele keinen Zweifel; als bloßes Erzeugnis dieser wäre sie nur ein Wahnbild und Hirngespinst; daß und was sie in dem Menschen wirkt, hängt davon ab, daß etwas über dem Menschen als Tatsache ergriffen und gegenwärtig gehalten wird. Wie aber hier, so enthält überhaupt in geistigen Dingen die Wirkung eine Behauptung über die Ursache. Bis zu einem gewissen Grade mag das bloße Vorstellungsbild dasselbe leisten wie die Wirklichkeit, aber es kann das nur so lange, als es als Wahrheit gilt; alle Unsicherheit lähmt alsbald das Wirken. Nur so lange wirken die Bilder eines Traumes, als der Schlaf verbleibt. Daß Denken aber ein Erwachen aus dem Schlummerzustand des Alltagslebens ist, das hat schon Plato gezeigt. Zur pragmatischen Denkweise gehört auch die „Philosophie des Als ob", sie hat neuerdings viele Bewegung erzeugt und manche Anhänger gewonnen. Sie gründet sich auf den Begriff der Fiktion, den sie mit Recht von der Hypothese deutlich unterscheidet. Dieser Begriff hat von alters her in der Jurisprudenz eine nicht unerhebliche Rolle gespielt, und auch darüber hinaus kann er manche Anregung bringen; wird er aber als ein Grundstein einer ganzen Weltanschauung aus-

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gegeben, so muß er auf starke Widerstände stoßen, im besondern ist sein Streben, alle geistigen Gebilde, welche das menschliche Wohlbefinden überschreiten, als bloße Fiktionen, d. h. als Einbildungen zu erklären, entschieden abzulehnen. Fiktionen wären die idealen Größen nur, wenn unser Leben ganz und gar in das sinnliche und das gesellschaftliche Dasein aufginge, in Wahrheit erscheint in der Menschheit ein selbsttätiges Leben und bringt neue Größen und neue Zusammenhänge, wie z. B. den Begriff des Guten gegenüber dem Nützlichen. Religion und Ethik sind nicht Erzeugnisse einer leeren Vorstellung, sondern sie sind Schöpfungen eines überlegenen Lebens; an diese Schöpfungen kann sich viel Irrtum und auch viel Schein knüpfen, aber sie können unmöglich aus einem freischwebenden Verstände hervorgehen; wie könnte ein solcher die gewaltigen Erneuerungen und Umgestaltungen herbeiführen, welche das ethische und religiöse Leben erzeugt. Zweckdienliche Einbildung und schaffende Phantasie sind grundverschiedene Dinge. Wer die Ideen für bloße Fiktionen erklärt, der muß sie im Interesse der Wahrheit möglichst gründlich als eine Verirrung ausrotten; unbegreiflich ist, wie manche Denker glauben, den Fiktionscharakter mit einer Schätzung der Ideale verbinden zu können, d. h. zugleich zu verwerfen und anzuerkennen; es ist das eine Halbheit, welche die Zerrissenheit des heutigen Lebensstandes mit besonderer Grellheit beleuchtet. Entscheidend bleibt immer die Frage, ob das Nützliche oder das Gute unser Streben zu beherrschen h a t ; die Fiktionslehre überschreitet den Bann des Nützlichen nicht. Jener Fiktionslehre ist im Grundgedanken nahe verwandt die alte Neigung, alle religiösen Ideale, als menschliche Projektionen in das All zu verstehen und sie damit zu Irrtümern herabzusetzen; so dachten schon angesehene Sophisten des Altertums. Im 19. Jahrhundert hat diese Denkweise namentlich durch Ludwig Feuerbach einen glänzenden Ausdruck erhalten. Ihm galt alles Höhere, Übermenschliche usw. als ein bloßes Produkt der Phantasie, in welchem der Mensch sein eigenes Wesen wie in einem Spiegelbilde außer

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D i e empirischen Fassungen des L e b e n s .

sich setzt. Hier heißt es: »Erst schafft der Mensch Gott nach seinem Bilde, und dann erst schafft wieder dieser Gott den Menschen nach seinem Bilde.« Daß auch geschichtlich die Sache anders steht, das hat neuerdings die Religionsgeschichte, z. B. Söderblom, überzeugend erwiesen: die Menschen suchten in den Göttern nicht den bloßen Menschen, sondern etwas Höheres, Unnahbares, Heiliges; sie sind dabei oft ins Wunderliche und Abenteuerliche verfallen, wie z. B. in einen Tierkult, aber so bequem hat sich die Sache nicht gemacht wie Feuerbach und andere Denker meinten; nur in einer Zeitlage, wo die Religion ihre Strenge und Übermenschlichkeit aufgegeben hatte, konnte in gewissen Kreisen, wie in den homerischen Dichtungen, Göttliches und Menschliches unmittelbar zusammengehen. Wo die Religion ihren vollen Ernst besaß und ihre volle Gewalt über die Seele ausübte, da mochten freilich die Bilder eine anthropomorphe Gestalt behalten, aber das Grundgefühl der Religion ging immer auf das Übermenschliche, das Erhabene, das Erschütternde; von hier kam eine große Sorge und Angst über die Menschen, behaglich war ihnen die Sache nicht,, das zeigt schon die Gewalt, welche der Opfergedanke über sie ausübte. Was aber die Fiktionslehre betrifft, so sind wir gern bereit, ihr schätzbare Anregungen zu entnehmen, aber im Grundgedanken erblicken wir nur eine geistreiche und gelehrte Flachheit. Hinter jenem Betrachten der Dinge von den Wirkungen her steht eine Fassung des Denkens und Erkennens, die zu entschiedenem Widerspruch reizt. E s sieht hier aus, als sei erst ein Lebensbestand, eine Lebensbewegung fertig gegeben, und das Denken werde nur nachträglich zur Erklärung herangerufen; so verhält es sich aber nur, solange die Welt als eine Außenwelt neben uns steht und als solche behandelt wird, nicht aber gilt es für die Innenwelt. Denn hier hilft das Denken von vornherein zur Bildung des Lebens und fließt in seine Gestaltung ein, es ist ein wesentliches Stück, nicht ein gefälliger Dienstbote des Lebens. Auch wenn das philosophische Streben das Denken freier aus dem Lebensgefüge heraushebt und es zu selbständiger Wirkung beE u c k c n , E r k e n n e n und L e b e n .

2. A u f l .

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r u f t , so reißt das Denken sich dabei nicht völlig vom Lebensprozesse los, sondern es möchte ihn weiterbilden, ja es möchte in ihm eine Umwälzung dahin vollziehen, daß der Mensch von seinem Befinden und der Besonderheit eines Punktes befreit und in ein Leben mit dem All und aus dem eignen Gehalt der Wirklichkeit gehoben wird; es arbeitet daran, den Schwerpunkt seines Lebens vom kleinen, engen, dumpfen Ich in die reinere Atmosphäre eines Alllebens zu verlegen, von gebundener Gegebenheit in Selbsttätigkeit, von abgeleitetem und abhängigem in ein ursprüngliches und freies Leben. Neue Ausblicke erheben sich damit, neue Bewegungen erwachen, mächtig erhebt sich die Hoffnung auf Befreiung, auf Erweiterung, auf Lebensgehalt. So war es die Sehnsucht und Hoffnung aller führender Denker, ihnen war das Erkennen ein Aufstieg zu einem neuen Leben, eine R e t t u n g und Erlösung aus unerträglich gewordener Enge und Leere. Wohl heftet sich an die Fersen solches Strebens der Zweifel und fragt, ob der Mensch mit ihm nicht unmögliches unternehme, aber selbst der Zweifel zerstört nicht die innere Erhebung über den Anfangsstand, den Stand der bloßen Menschlichkeit; schon die Frage h a t den Anblick der Sache verändert, und da sie unmöglich wieder verschwinden kann, so ist es uns zwingend verwehrt, in den naiven Stand zurückzukehren und in dem menschlichen Kreise unser Genügen zu finden. Das Zufriedensein damit ist endgültig zerstört; können wir also nicht weiterkommen, so bleibt in unserem Leben ein klaffender Spalt, damit aber Resignation, Verzicht und Verzweiflung. Bei solchem Stande der Dinge kann das Unternehmen des Pragmatismus, das Erkennen beim menschlichen Wohlsein festzuhaltn und es immer wieder zu ihm zurückzulenken, nur als ein Zurückbleiben hinter der weltgeschichtlichen Bewegung gelten; wir sind den Maßen des menschlichen Wohlseins und Behagens entwachsen, und alle hier erreichbaren Güter verbergen uns nicht ihre Enge und Leere. F ü r den Menschen ist wohl nichts so charakteristisch, als daß er ein Wesen ist, das über sich selbst hinausstrebt; ein solcher Charakterzug läßt sich zeitweilig vergessen, n u n und

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nimmer aber unterdrücken. Wenn der Pragmatismus viel Eindruck machte und manche vortreffliche Persönlichkeit gewann, so hat er das Bild von Mensch und Menschheit von vornherein idealisiert und in es Eigenschaften eingeschlossen, die nicht aus dem menschlichen Kreise entspringen können, und deren Gewinn viel Mühe kostet. Namentlich der moderne Begriff der Gesellschaft führt hier oft ins Irre; er versteht die Ausdehnung des menschlichen Lebenskreises als eine innere Erhöhung, als eine Veredelung und Umwandlung der Ziele, er neigt dazu, für die Qualität die Quantität, für das Gute das Nützliche einzusetzen. Die Gesellschaft vollzieht allerdings eine Summierung, aber die Erfahrung der Geschichte zeigt, daß diese Summierung sich nicht auf das Gute beschränkt, sondern auch das Böse umfaßt, im Gesamtstande wächst eher die Verworrenheit als die Klärung. Der Zusammenschluß zur Gesellschaft kann etwas wesentlich Neues und Höheres nur aus der Kraft eines Geisteslebens erzeugen, für das er die Bedingungen herstellt, und das sich in ihm eröffnet. Dann aber ist es nicht sowohl der Mensch — als Masse* ebensowenig wie als Individuum —, den wir zu achten und zu ehren haben, sondern jene neue Stufe des Lebens, die bei ihm erscheint und die neues aus ihm macht. Die Verherrlichung der leeren Menschheit hängt eng zusammen mit dem Kultus des Allgemeinen, der schon im Altertum beginnt, den aber namentlich die Aufklärung zur Entwicklung gebracht hat, und den auch manche unserer Denker nicht genügend abgeschüttelt haben. Brechen wir mit diesem Kultus, so wird es unmöglich, auf den Erfahrungsstand der Menschheit echtes Erkennen zu begründen. So verneinen wir die Möglichkeit, auf dem Wege des Pragmatismus Erkennen zu gewinnen, Erkennen wie es dem Verlangen der Menschheit entspricht. Aber wir können wertvolle Anregungen von ihm empfangen. Das aber namentlich in zwiefacher Richtung: in seinem Ausgehen von der Menschheit und in seiner Forderung einer lebenerhöhenden Wirkung des Erkennens. So wenig uns die Menschheit zum 3*

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Endpunkt des Strebens werden darf, sie bleibt mit ihren Erfahrungen der Ausgangspunkt auch für die Erkenntnisarbeit; das kräftig betont zu haben ist ein Verdienst des Pragmatismus. Er enthält eine Verneinung des Ausgehens von der Außenwelt, die nur in Wirkungen zu uns spricht, und eines Ausgehens von ontologischen Begriffen, wie Einheit und Vielheit, Beharren und Veränderung, die aus sich nie eine gehaltvolle Wirklichkeit ergeben und aus eigner Kraft nie auf den Punkt einer Entscheidung kommen. Die tiefste Erschließung des Alls bietet für uns unbestreitbar der Mensch, der Mensch nicht in seinem privaten Dasein und in seinem Nebeneinander, sondern in seinem Zusammenschluß und seinen geistigen Zusammenhängen. Wenn irgend, so läßt sich von hier aus ein inneres Verhältnis zum All gewinnen, wie es das Erkennen erstrebt. Nur ist dann nicht jenes weltgeschichtliche Leben hinzunehmen, wie es vorliegt, und es in bloßer Schilderung nachzubilden, sondern es ist aus ihm erst etwas hervorzuheben und herauszustellen, was der Besonderheit des Menschen überlegen ist; darauf beruht alle Hoffnung eines Gelingens, daß in ihm etwas angelegt ist, was eine Selbständigkeit gegen ihn zu erlangen und aus ihm etwas Neues zu bereiten vermag. Auch teilen wir seine Verwerfung einer Erkenntnisarbeit, die sich vom Ganzen des Lebens ablöst, ein Sondergespinst bildet, jenes nicht wesentlich fördert, daher ohne erheblichen Schaden verschwinden könnte. Wer vom Denken eine Lebensförderung verlangt, der bekennt sich damit keineswegs zu einem Utilitarismus. Denn jene Förderung läßt sich zwiefach verstehen, einmal so, daß dabei der Zustand, das subjektive Befinden, die Wohlfahrt des Menschen und des menschlichen Zusammenseins in Frage steht, dann aber so, daß der innere Gehalt des Lebens zur Hauptsache wird. Dort wird das menschliche Dasein als eine gegebene Größe behandelt, deren Stand alles teilen muß, was in seinen Dienst gezogen und als Mittel für sein Gedeihen behandelt wird; hier gilt der Mensch als etwas, das einer Erhöhung fähig und einer solchen sehr bedürftig ist, so wird alles, was dazu dient, in eine aufsteigende Bewegung hineingezogen und bei sich selber weitergebildet.

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Dort ist der Mensch ein Datum, hier ein Problem; dort handelt es sich um die Aufmachung einer alten, hier um das Erringen einer neuen Welt. Die Betrachtungsweise, die sich von jener Art aus entwickelt, klärt nur darüber auf, welche Beziehungen die Dinge und Vorgänge zum Menschen, d. h. zum gegebenen Befinden des Menschen, haben; was sie über jene Beziehung hinaus bedeuten, und was sie bei sich selber sind, das bleibt dunkel und gleichgültig. Geht dagegen die Frage darauf, was neu aus dem Menschen wird, ob und inwiefern sein Leben weitergebildet und umgewandelt wird, so eröffnet sich etwas, das die landläufige Vorstellungsweise und die gewöhnlichen Ziele des Menschen überschreitet; dann erscheint etwas, das ihm gegenüber selbständig ist und den Umfang der Wirklichkeit erweitert, ja allererst eine echte Wirklichkeit einführt. So entspringt hier aus dem Leben selbst ein Wahrheitsproblem und eine Bewegung zur Wahrheit. Bei allen Gebieten des Geisteslebens, die das Erkennen ergreifen mag, ist dieser Unterschied und zugleich eine Uberschreitung des Utilitarismus augenscheinlich. Die Religion z. B. hat ein verschiedenes Ansehen und einen verschiedenen Erkenntniswert, je nachdem sie als ein Mittel gilt, das Befinden des Menschen, sei es der Individuen, sei es der gesellschaftlichen Zusammenhänge, zu fördern, ihn in seinen Wünschen und Hoffnungen zu bestärken, oder ob sie seinen Lebensstand weiterbildet, neue Aufgaben und Kräfte in ihm erweckt, schwere Erschütterungen hervorruft, den Lebensstandort verlegt, mit dem allen eine solche Umwälzung des Lebens vollzieht, daß alle bisherigen Ziele und Maße, alles vorgefundene Dasein dem Menschen unzulänglich, ja unerträglich werden. Die erstere Fassung führt innerlich nicht über uns selbst hinaus, und sie kann den Zweifel nicht abweisen, ob das ganze Gebiet der Religion nicht nur ein Ausspinnen menschlicher Wünsche und Vorstellungen sei, ob nicht der Mensch in ihm sich nur eine Phantasiewelt erbaue, die keinen Anspruch auf Wahrheit hat. Wenn aber die Religion Bewegungen hervorruft, die dem natürlichen Behagen des

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Menschen direkt widerstreben, die schwere Verwicklungen erzeugen und ihn in stürmische Unruhe stürzen, ihm aber durch die Erschütterung und Verneinung hindurch neue Lebensgehalte, neue Triebkräfte, neue Ziele eröffnen, so ist hier eine weitere Eröffnung der Wirklichkeit anzuerkennen, die in sich selbst ihre Bewährung trägt. Sollte es nicht möglich sein, daß wir diese Wirklichkeit, sofern sie zu unserem eignen Tun und Leben wird, durchschauen und in erkennendes Schaffen verwandeln ? Der Gegensatz, der sich damit eröffnet, durchdringt die ganze Weite des Lebens, überall stehen unversöhnlich Pflege des Menschen und innere Erhöhung des Menschen gegeneinander. So Moral und Recht einerseits nur ein Mittel, ein Zusammenleben der Menschen erträglich und angenehm zu machen, andererseits die Eröffnung einer neuen Welt der Freiheit und der Werte; so die Kunst einerseits ein Mittel des Genusses, eine angenehme Reizung der Sinne, andererseits eine innere Überwindung der Gegensätze unseres Lebens, eine Veredlung der Wirklichkeit; so die Wissenschaft einerseits nur ein Mittel zur Beherrschung der Umgebung, andererseits eine Erhebung des Lebens über die Wirren des Alltags und eine selbstlose Versenkung in den eignen Bestand der Dinge. So bilden durchgängig Nützliches und Gutes zwei verschiedene Stufen, ja zwei verschiedene Welten. So wenig die Förderung der ersten Art irgendwelchen Wert für das Erkenntnisproblem besitzt, um so mehr hat ihn die andere; das Erkennen selbst erweist sein Vermögen und sein Recht, indem es jene innere Erhöhung des Menschen nicht bloß vorbereitet, sondern in ihr stets gegenwärtig bleibt, es ist kein bloßer Durchgangspunkt, sondern es bildet einen wesentlichen Bestandteil jenes neuen Lebens, es steht nicht neben, sondern in dem Leben, es kann daher auch der Gedankenarbeit enthüllen, was in jenem vorgeht. Eine Wirklichkeit, die innerhalb des Lebensprozesses aufsteigt, braucht uns nicht fremd und undurchsichtig zu bleiben. So erheben sich hoffnungsvolle Ansatzpunkte, Ausblicke, Aufgaben für die Erkenntnisarbeit. Dem Pragmatismus müssen wir zum Vorwurf machen,

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daß er Lebenspflege und Lebenserhöhung, Ausschmückung einer gegebenen und Erringung einer neuen Welt, Nützliches und Gutes nicht genügend scheidet. Wo aber das Neue nicht zur Selbständigkeit gelangt, da kann es sich nicht zusammenschließen, seine Eigentümlichkeit nicht rein herausarbeiten, seine bewegende Kraft nicht entfalten, da gewährt es keinen Standort für eine Durchleuchtung der Wirklichkeit, für ein Erkennen in unserem Sinne, da verbleiben wir bei einem trüben Gemenge, während Klärung und Scheidung unentbehrlich sind. Das Verbleiben des Pragmatismus bei jenem Gemenge wurzelt schließlich in einer falschen Idealisierung des Durchschnittsstands des menschlichen Daseins; es wird diesem unvermerkt, namentlich aus einer ethisch-religiösen Überzeugung, ein tieferer Hintergrund und ein reicherer geistiger Gehalt gegeben, als es aus eignem Vermögen hervorbringen kann; der Mensch sieht in sich mehr als in Wahrheit bei ihm vorhanden ist, aber auch das Mehr wird nicht als überlegen und selbständig anerkannt, sondern so behandelt, als ob es ganz und gar eine Frucht des bloßmenschlichen Daseins wäre; dieses scheint aus eignem Vermögen hervorgebracht zu haben, was es nur kraft des in ihm wirkenden Geisteslebens erreichte. Der Anhäufung und Aufspeicherung der einzelnen Kräfte wird zugeschrieben, was eine innere Wandlung des Ganzen besagt. Das Menschheitsleben kann demnach den Ausgangspunkt für das Erkennen nur bilden, wenn in ihm mehr vorgeht als Erhaltung und Pflege des Menschen; da dies Ziel nun und nimmer einen Lebensinhalt ergibt, sondern eben im Gelingen den Menschen mehr und mehr einer inneren Leere überliefert, so heißt das Erkennen ihm unterwerfen nicht es umgestalten, sondern es zerstören. Auch hier gilt das kantische Wort: »Alles, auch das Erhabenste, verkleinert sich unter den Händen der Menschen, wenn sie die Idee desselben zu ihrem Gebrauch verwenden.« B. Der Biologismus. Wurzelt der Pragmatismus im menschlichen und gesellschaftlichen Leben, wie die moderne Erfahrung es darstellt,

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so hält der Biologismus sich an das Bild der Natur und entwirft aus ihm eine eigentümliche Erkenntnislehre. Gegenüber dem Pragmatismus hat er den Vorzug einer größeren Weite, einer Einfügung des Menschen in Zusammenhänge des Alls. Die Natur aber gilt ihm vornehmlich als ein Reich der Bewegung und des Werdens. Sie so zu verstehen, erstrebte von Anfang an die neuere Forschung. Denn das eben scheidet die neue Physik von der alten, ja das begründet erst eine neue Physik in Galilei und Descartes, daß die Bewegung hier nicht wie vorher dem an sich trägen Stoffe von der Seele erst eingeflößt wird, sondern daß sie ihm selbst innewohnt; der Stand der Bewegung gilt als der natürliche, einer Erklärung keineswegs bedürftige Stand. Allerdings hat erst nach und nach die Bewegung sich aller Naturgebilde und des Ganzen der Natur bemächtigt, es konnte das erst geschehen, nachdem die Starrheit des alten Mechanismus überwunden war und das Leben im Bilde der Natur einen breiteren Raum, ja den Vorrang gewonnen hatte. Die moderne Entwicklungslehre brachte das Streben danach zum Abschluß, nunmehr konnte die ganze Natur als ein Strom des Werdens erscheinen, und zwar eines Werdens, das nicht von vornherein eine vorgezeichnete Richtung verfolgte, sondern das seine nähere Gestaltung erst aus den Lagen fand, die der tatsächliche Verlauf des Prozesses mit sich brachte, welche daher nur die Erfahrung ermitteln konnte. Eben die neueste Zeit hat die Bewegung noch tiefer in die Elemente eingeführt und Werden und Vergehen, Jugend und Alter auch in solchem aufgedeckt, was früher als starr und unwandelbar galt. So scheint alle Festigkeit aufgehoben, vom Großen bis ins Kleine alles flüssig geworden. Es entsprach aber dies Beweglichwerden des Bildes der Natur dem Gesamtcharakter der Neuzeit. Denn kaum unterschied etwas sie so deutlich von früheren Epochen, als die Überzeugung, daß unser Lebenskreis nicht fertig und abgeschlossen ist, sondern sich noch im Werden befindet, daß er sich erweitern und umwandeln läßt. Solche Überzeugung schärfte nicht nur das Auge in der Richtung, überall Bewegung und Werden zu entdecken, sie ward auch ein Sporn, alle träge

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Ruhe auszutreiben, alles was in uns schlummert zu wecken, immer neue Möglichkeiten auszubilden. Als Ziel konnte nun nicht mehr gelten, das Leben möglichst auf einen Beharrungsstand zu bringen, es in ein ruhiges Anschauen seiner selbst zu verwandeln, sondern zur Aufgabe wurde, ins Endlose weiterzustreben, das eigene Vermögen nicht als begrenzt, sondern als einer unermeßlichen Steigerung fähig zu behandeln. Schon im 15. Jahrhundert meinte Nikolaus von Cues: »Immer mehr und mehr erkennen zu können ohne Ende, das ist das Ebenbild der ewigen Weisheit. Immer möchte der Mensch, was er erkennt, mehr erkennen, und was er liebt, mehr lieben, und die ganze Welt genügt ihm nicht, weil sie sein Erkenntnisverlangen nicht stillt.« Im Fortgang solcher Wandlung verschwindet immer mehr alles jenseits der Bewegung befindliche und sie beherrschende Ziel, und es wird die Steigerung der Bewegung selbst, das Wachsen und Weiterwachsen der K r a f t zum höchsten Ziel, aller Erfolg und alles Ergebnis hat hier namentlich dadurch Wert, daß es über sich selbst hinaus zu neuen Aufgaben treibt. Diesem rastlosen Strome des Werdens wird vom Biologismus auch das Erkennen angepaßt. Wo sich alles in Fluß und Wandel befindet, da kann es nicht mehr eine unwandelbare Wahrheit ermitteln, die Dinge sub specie aeternitatis betrachten, sondern da hat es ganz und gar den Bewegungen des Lebensstromes zu folgen, seinen Wandlungen sich anzupassen, möglichst genau sich dem Augenblick anzuschmiegen. E s hat dabei nicht sowohl zu erklären als zu ermitteln und zu beschreiben, es wird nicht aus einer Gesamtidee ableiten, sondern die Verkettungen des Neben- und Nacheinander zeigen. Es kann nun nicht mehr versuchen eine eigentümliche und selbständige A r t des Lebens auszubilden und dieser einen Selbstwert zu verleihen, sondern es bedeutet nur ein Mittel, den Lebensprozeß zu erhalten und zu steigern; es kann sich ihm nützlich erweisen, indem es die jeweiligen Lagen anzeigt und das Handeln dahin lenkt, die leichtesten Bahnen ermittelt, das Streben beschleunigt. Damit fällt nicht nur alle Metaphysik, so ndern auch alle Geschlossenheit einer Gedanken-

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weit; aber für diesen Verlust scheint der Gewinn an Offenheit für alle einzelnen E i n d r ü c k e und Anregungen vollauf E r s a t z zu bieten, der Gewinn einer unermeßlichen Fülle und freiesten Beweglichkeit; wenn die Erkenntnisarbeit eine Überlegenheit und Selbständigkeit aufgeben muß, so wird sie dafür um so inniger mit der Lebensarbeit verflochten und ihrer ganzen B r e i t e einverleibt. E s bedarf keiner näheren Darlegung, wie günstig dieser Denkweise im modernen Leben die Auflösung der überkommenen Gedankensysteme und das unablässige Anschwellen anschaulicher Erfahrung ist, die T a t sache, daß immer von neuem unvermutete B a h n e n eröffnet, überraschende Ausblicke gewonnen werden. Namentlich der Gesamteindruck der modernen T e c h n i k mit dem Siegeszug ihrer Erfindungen weist nach dieser Richtung. Wie oft wird hier das Unerwartete zum Ereignis, wie oft erweist erst die Wirklichkeit die Möglichkeit eines Geschehens! So liegt hier eine Lebens- und Gedankenentwicklung vor, der ein R e c h t nicht abzusprechen ist. Die Frage ist nur, ob dies R e c h t das entscheidende ist, und ob das E r kenntnisstreben der Menschheit mit der hier gebotenen Lösung abschließen kann. Die Beantwortung dieser Frage hängt namentlich daran, ob der Begriff des Lebens, den der Biologismus verwendet, die Gesamtheit des menschlichen Lebens in sich aufzunehmen vermag; sollte diese die von ihm gezogenen Grenzen überschreiten, so könnte auch das hier gebotene Erkennen unmöglich genügen. Nun schöpft der Biologismus offenbar seinen Lebensbegriff aus der Natur um uns, Leben ist hier nichts anderes als ein Entwickeln von K r a f t und Bewegung im Zusammensein der Elemente, es ist ein Sichbehaupten der einzelnen P u n k t e in dem Gewebe von Beziehungen, als welches sich hier die Wirklichkeit darstellt. Das Leben bildet hier nur ein Nebeneinander einzelner Vorgänge, aus dem wohl eine Verkettung, nie aber ein inneres Ganze hervorgehen kann, nicht ein Zusammenfassen und Uberschauen jener Vorgänge. Hinter ihnen steht nur ein dunkler Lebenstrieb, der sich in keiner Weise rechtfertigt und als wertvoll erweist, sondern der als eine bloße

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und blinde Tatsache wirkt. Von einem Sinn und Ziel der Bewegung ist hier keine Rede. So erscheint hier die Wirklichkeit ganz in einzelne Fäden aufgelöst, dies Getriebe in ein Ganzes fassen und wie ein Ganzes behandeln kann nur die menschliche Phantasie; sie kann die Natur personifizieren und ihr ein Streben und Wirken zuschreiben, aber sie darf nie vergessen, daß das wohl ein erlaubtes Gebilde der Kunst, nicht aber eine philosophische Aufhellung ist. Nun erstreckt sich dies Leben mit seinen dunklen Trieben, seiner maß- und sinnlosen Bewegung, seiner Auflösung aller Zusammenhänge in ein Nebeneinander der Elemente weit auch in das Gebiet des Menschen, viel weiter, als uns der Schein der Kultur oft vortäuscht. Aber es erschöpft dies Leben keineswegs den ganzen Bereich und alles Vermögen des Menschen, es ist nicht sein unabwendbares Schicksal. Schon die Tatsache verrät ein Mehr, daß es dem Menschen möglich ist, jenen natürlichen Lebensprozeß zu betrachten, sich ihm denkend entgegenzustellen, sein Verhältnis zu ihm zu erwägen, seinen Wert zu prüfen. Dabei bekundet die Erfahrung der Weltgeschichte mit unwidersprechlicher Deutlichkeit, daß solche P r ü f u n g keineswegs immer bejahend ausfiel, daß jenes Leben mit seinem sinnlosen Weiter- und Weiterhasten, seinem Sichbehaupten und Durchsetzen um jeden Preis, dem Menschen oft unzulänglich, ja unerträglich wurde; die Bindung an dieses Leben erschien als eine Erniedrigung, als eine unwürdige Fesselung, von der es sich mit aller K r a f t zu befreien gelte. Ein näheres Zusehen zeigt, daß ein derartiger Widerstand nicht nur an einzelnen Stellen auftaucht, sondern daß er die Geschichte durchdringt, und daß die geistige Bewegung keine selbständige Ausprägung erreichen konnte, ohne diesen Kampf zu teilen. Nicht dieses oder jenes an der Kultur, sondern das Ganze der Kultur sucht eine Erhebung über jenes Leben, sucht ihm gegenüber ein neues Leben. So ist der Grundgedanke des indischen Geisteslebens eine Erlösung des Menschen von dem dunklen und wilden Lebensdrang, der zunächst seine Seele einnimmt, eine Befreiung von dem »Durst, dem verächtlichen, der Macht hat über die Welt«.

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So hat in freudigerem Lebensgefühl die Höhe des Griechentums dem Jagen nach bloßem Leben das Streben nach einem inhaltlich erfüllten, in der Tätigkeit selber ruhenden, aus der Anschauung des Schönen Glückseligkeit schöpfenden Leben entgegengesetzt. Beim Christentum steht vor Augen, wie ihm die Sorge um die Rettung der Seele und um ein Erringen ewigen Lebens alles andere zur Nebensache machte, und auch in dem gewaltigen Lebenstriebe der Neuzeit ist es auf der Höhe nicht das bloße Anschwellen der Kraft, sondern das Erleben dieses Anschwellens im Ganzen, das Groß- und Starkwerden der Seele durch alle einzelne Betätigung hindurch, was die Gemüter bewegte und fortriß. Der unbefangenen Betrachtung und kritischen Würdigung der biologischen Denkart kann auch das nicht entgehen, daß die Wirkung jener auf die Gemüter zum guten Teil auf einer unberechtigten Idealisierung der Bewegung beruht. Es scheint oft, als sei das Leben durchgängig in sicherem Fortschritt, in ununterbrochenem Aufstieg begriffen; diese Annahme eines Weiterkommens mag dann einen gewissen Ersatz für den Wegfall anderer Ziele bieten, sie mag den Menschen mit dem stolzen Bewußtsein erfüllen, die Weiterbewegung des Alls zu fördern. Aber wie steht es mit der Wirklichkeit jenes Fortschritts? Wohl mag er für einzelne Perioden gelten und in einzelnen Gebieten einen besonders günstigen Boden finden, nicht aber gilt er deswegen schon für das Ganze. Ist die Welt letzthin bloße Natur, so folgt jedem Aufstieg ein Abstieg, jeder Flut eine Ebbe, jeder Bildung ein Zerfall, jedem Leben ein Tod, denn das ist das eherne Gesetz der Natur, das von den Weltsystemen bis zu den kleinsten Elementen waltet. Das mag die Wesen nicht schmerzen, die am Augenblick haften und sich in ihn erschöpfen; wer aber, wie der Mensch, das Ganze überdenkt und nach einem Ertrage des Ganzen fragt, dem muß jenes ergebnislose Auf- und Abwogen, jene Verwandlung der ganzen Wirklichkeit in ein blindes Spiel der Kräfte schwer auf die Seele fallen, der muß entweder gänzlich entsagen oder auf einem jenem Getriebe überlegenen Leben bestehen. Nur wer nicht bis zu Ende denkt, kann hier einen Mittelweg suchen.

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Daß aber ein Mehr des Lebens keine Einbildung ist, das erweist jene weltgeschichtliche Bewegung, selbst als bloßes Streben wäre sie unmöglich, ginge der Mensch ganz und gar in jenen blinden Lebensdrang auf. In Wahrheit treibt es ihn zwingend über jenes Dahinleben hinaus zum Verlangen eines Erlebens, eines Erringens irgendwelchen Lebensgehalts, irgendwelchen Seins in der Entfaltung der K r a f t ; soweit aber dies Verlangen reicht, soweit entsteht auch ein Streben nach einer inneren Durchleuchtung, nach einem Erkennen in einem höheren Sinne, als der Biologismus es gewährt. Ein solches Erkennen hat bestimmte Bedingungen, es stellt unabweisbare Forderungen, aber leicht ist zu zeigen, daß der Lebensprozeß diesen entgegenkommt und ihre Erfüllung anbahnt. So zeigt es die Gesamterfahrung des Menschenlebens. Erkennen ist nur möglich, wenn ein fester Punkt der Flucht der Erscheinungen Widerstand leistet und ihrem Wechsel und Wandel bleibende Wahrheiten abringt. Der Biologismus kann aber einen solchen nur in Widerspruch mit seiner eignen Behauptung bieten, da er das Denken ganz und gar dem Strome des Werdens unterwirft. Mit gutem Rechte erweist er im menschlichen Dasein überall Bewegung, aber indem er dieses sieht, übersieht er das andere, daß, soweit geistiges Leben aufkommt, der Bewegung etwas entgegengehalten, eine Bewegung gegen die Bewegung aufgenommen und durchgesetzt wird. Dies eben ist es, was von aller Naturgeschichte eine eigentümliche Menschengeschichte abhebt. So gewiß das geistige Leben zu seiner Entwicklung der Zeit bedarf, es erschöpft sich nicht in den Augenblick, ja nicht in die Kette der Zeiten, es möchte durchgängig etwas erreichen, was unabhängig von aller Zeit und darum für alle Zeiten Bestand und Geltung hat. Schon daß der Mensch die Zeiten in seiner Erinnerung festzuhalten und in eine fortlaufende Reihe zu verwandeln vermag, daß er, was äußerlich unterging, in seiner Gedankenarbeit aufzuerwecken vermag, zeigt ihn nicht als ein Kind, sondern als einen Herrn der Zeit. Dazu bleibt dem Menschen die Vergangenheit nicht nur ein Gegenstand der Betrachtung, sondern er verknüpft ihr sein Leben, er glaubt in den früheren

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Zeiten, namentlich auf ihren Gipfelpunkten, etwas zu entdecken, was ein dauerndes R e c h t und eine dauernde K r a f t besitzt, was uns deshalb immer wieder zu sich zurückzieht, weil hier besondere Bedingungen das Schaffen eine feurige Glut und eine Bildkraft erreichen ließen, die dem Alltage fehlen, und an denen sich immer von neuem eignes Schaffen entzündet. So kann innerhalb der Zeit etwas entstehen, was seinem Gehalt nach von aller Zeit sich ablöst, was im L a u f der J a h r t a u s e n d e nichts von seiner J u g e n d einbüßt, von dem es daher heißen k a n n : »Die unbegreiflich hohen Werke Sind herrlich wie am ersten T a g . «

(Goethe.)

So hebt sich aus der Arbeit der Geschichte ein Ewigkeitsgehalt heraus und wölbt sich wie ein erhabenes F i r m a m e n t über den Wirren und Sorgen des Alltags. Das Verlangen eines solchen Ewigkeitsgehalts ist der stärkste Antrieb der weltgeschichtlichen Bewegung, ohne jenes müßte sie allen inneren Zusammenhang aufgeben. Die Ermittelung jenes Ewigkeitsgehalts bietet aber der Erkenntnisarbeit ein hohes, nicht unerreichbares Ziel sie kann es nicht ergreifen, ohne sich selbst über Zeit und Bewegung hinauszuheben. Die Gegenwart steht unter einem starken Einfluß des Relativitätsgedankens; wie die Außenwelt diesem Gedanken immer mehr Macht verleiht, so erstreckt er sich auch in die geschichtlich-gesellschaftlichen Bildungen, er h a t auch hier manche schätzbare Aufklärung gebracht. Aber wenn er kein Gegengewicht in einer absoluten und bei sich selbst begründeten Denkweise erhält, so zerstört er alle Möglichkeit eines Erkennens, so verwandelt er das Erkennen in einen zusammenhangslosen Haufen wechselnder Vorstellungen. E i n e positive Antwort enthält alles geistige Schaffen, soweit es sich in das Grundgefüge des Lebens erstreckt. Wohl war es ein Gewinn, daß die Starrheit früherer Bildungen aufgegeben wurde, welche alle Lebensäußerung in eine unumstößliche F o r m kleidete, daß z. B . alle moralische Einrichtung für ewige Zeiten gelten sollte; aber wenn diese Flüssigkeit den Sinn erhält, daß gar

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kein ursprünglich moralischer Antrieb im Menschenwesen wirkt, so ist die Moral nicht sowohl beweglicher gemacht als innerlich zerstört, dann besteht überhaupt keine Moral. So gibt es auch kein Erkennen, wenn nicht im menschlichen Geiste eine ursprüngliche Bewegung angelegt ist, wirkt und treibt, ein a priori im Sinne Kants; ohne eine derartige Ursprünglichkeit wird selbst das Streben nach Erkennen unbegreiflich. Auch an einem weiteren Punkte treibt die Bewegung des Lebens über die Maße des Biologismus hinaus. So gewiß echtes Erkennen Selbsterkennen ist, ein Sichwiederfinden in den Dingen, so gewiß verlangt es ein Ganzes des Lebens, das die Mannigfaltigkeit umfaßt und zusammenhält, verlangt es einen Lebensraum, innerhalb dessen sich eine Beziehung von der einen Seite zur anderen zu bilden vermag. Einen solchen Lebensraum und ein solches Streben von Ganzem zu Ganzem vermochte der Biologismus nicht zu bieten, da ihm sich das Leben in lauter einzelne Elemente auseinanderlegt, die sich wohl gegenseitig verketten und verweben, nicht aber sich zu einem inneren Ganzen verbinden; folgerichtig kann er die Stufe der Assoziation nicht überschreiten, wer auf dieser Stufe Denken entstehen läßt, der führt im Wirken wieder ein, was er im Grunde verworfen hatte. Nun aber hat alle Kultur, hat ganz besonders die moderne Kultur Lebenszusammenhänge aufgebracht, welche aus einem Ganzen zu sehen und zu denken gestatten. Denn kaum ist für die moderne Welt etwas so bezeichnend als die Ablösung selbständiger Lebens- und Gedankenkomplexe vom Menschen und seinen Zwecken, sowie ihr Ausbilden eigner Methoden, eigner Inhalte, eigner Triebkräfte. So zunächst in der Wissenschaft, so im Staat, so auch in anderen Lebensgebieten. Eine bedeutende Verschiebung vollzieht sich schon nach der Seite der Form, indem die Idee des Systems mit ihrer Forderung durchgehender Anordnung, Abstufung, Gliederung eine vordem nie gekannte Macht gewinnt und die Grundgedanken tiefer in die ganze Weite des Stoffes einführt. Die neue Form aber wäre ein äußerliches Schema geblieben, hätte sie nicht der Herausarbeitung eines eigentümlichen Charakters der ver-

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schiedenen Lebensgebiete gedient. Eine solche Herausbildung ist aber in Wahrheit erfolgt, die verschiedenen Lebenskreise unterwerfen ihre Mannigfaltigkeit einer beherrschenden Gesamtidee, prägen sich damit schärfer aus und ergreifen unvergleichlich stärker das Ganze des Lebens und auch das Bild der Welt. Wie sehr der Zusammenschluß zu einem eignen Lebenskreise die Bedeutung einer Betätigung zu steigern vermag, das zeigt besonders anschaulich das wirtschaftliche Gebiet. Solange es der Gedankenwelt des Menschen nur in einzelnen Erscheinungen gegenwärtig war, blieb es im Dienste anderer Lebensgebiete, namentlich der Moral und der Religion, und kam es nicht zur Entfaltung einer eigentümlichen Art und Forderung. Erst der Zusammenschluß zu einem Ganzen, wie ihn die Neuzeit brachte, hat es dazu geführt, und deutlich gewahren wir nun, welche Steigerung der Macht es bedeutet, wenn statt einzelner sozialer Fragen von einer sozialen Frage gesprochen und in aller Mannigfaltigkeit ein Gesamtproblem anerkannt wurde. Demnach ist das Selbständigwerden der einzelnen Lebensgebiete und ihre Emanzipation von der unmittelbaren Lebensform des Menschen eine Grundtatsache der Neuzeit; unvergleichlich reicher und bewegter ist dadurch ihr Leben geworden. Das Erkennen aber findet eine neue Aufgabe darin, daß es sich kraft der Denkarbeit in jenes Ganze zu versetzen und was in ihm an Inhalten und Forderungen liegt, herauszuentwickeln vermag; es entsteht hier ein Denken aus der Sache heraus und gewinnt eine Überlegenheit gegen alle menschliche Meinung und Neigung. Freilich entstehen auch neue Verwicklungen. Je kräftiger und deutlicher die einzelnen Gebiete ihre Eigentümlichkeit entfalten, desto größer wird die Gefahr, daß sie auseinandergehen, ja sich gegenseitig widersprechen, desto notwendiger wird eine Lebenseinheit, um der Zerstreuung entgegenzuwirken, eine Verständigung anzubahnen und den Ertrag der einzelnen Gebiete in einen Gewinn für das Ganze zu verwandeln. Eine solche Einheit sucht der moderne Mensch in der Kulturidee, in einem Ganzen der Selbsttätigkeit.

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Daß sie eine präzise Fassung und eine überlegene Kraft erlange, das wird damit zur Frage der Fragen. Aber mag viel Unruhe und viel Unsicherheit aus dem Verhältnis der einzelnen Gebiete zu einem beherrschenden Lebensganzen hervorgehen, das Problem ist durch jenes Verhältnis von Lebenskomplexen zu Lebenskomplexen in eine dem natürlichen Lebenstriebe und der Kraftsteigerung überlegene Sphäre verlegt; so überschreitet, was hier an Erkennen erstrebt und geleistet wird, den Bereich des Biologismus. Es würde endlich das Denken nie zu einer inneren Durchdringung des Gegenstandes und damit zum Erkennen werden, wenn die Bewegung des Lebens lediglich auf der Seite des Subjekts verbliebe und nicht auch das Objekt in sich zu ziehen vermöchte; einen Weg zum Objekt könnte das Denken nun und nimmer finden, wenn nicht das Leben die Kluft zwischen Subjekt und Objekt zu überbrücken vermöchte. Dies aber vermag es in Wahrheit, es erreicht das in Fortbildung der äußeren Arbeit zur inneren. Ein Wirken am Gegenstande kennt auch die natürliche Lebensstufe und zugleich der biologische Lebensbegriff, aber der Gegenstand bleibt hier draußen liegen, und er bedeutet für uns nur etwas, soweit er unseren Zwecken dient, während seine eigne Beschaffenheit uns gleichgültig läßt. Auf dieser Stute verbleibt die Arbeit auch beim Menschen zum großen, ja zum größten Teil. Aber sie verbleibt bei ihr keineswegs gänzlich. Denn auf der Höhe geistigen Lebens wird der Gegenstand in den Lebensprozeß hineingezogen, ihm als eine wesentliche Seite einverleibt, hier umspannt das Leben die Kraft und den Gegenstand und bildet sie mit und durcheinander weiter; damit erst wird der ganze Umkreis des Lebens in Tätigkeit versetzt und die Tätigkeit zur Volltat erhoben, dann liegt die Scheidung innerhalb eines umfassenden Lebensraumes, dann läßt sie sich überbrücken, ohne darüber zu verschwinden. So zeigt es z. B. das künstlerische Schaffen, indem es den Gegenstand auf den Boden der Seele versetzt, ihn hier belebt und ihn zugleich einem umfassenden Leben durchsichtig macht; so erscheint es auch im Verhältnis von Mensch zum Mensch, indem wir uns unterE u c k e n , E r k e n n e n und L e b e n ,

s. Aufl.

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einander durch Liebe, Mitleid, Humanität derart innerlich zu verbinden vermögen, daß das Ergehen des einen unmittelbar vom andern zu erleben ist, daß, was zunächst gänzlich draußen zu stehen schien, ein Bestandteil unseres eignen Lebens wird. Nicht minder erlangt auch im Rechtsgedanken der andere eine innere Gegenwart, und bildet sich ein beide Seiten umfassender Lebenskreis, für den die Natur nicht die mindesten Analogien bietet. Aus allem zusammen entsteht ein Lebensaufbau, eine Innenwelt, die unvergleichlich viel mehr besagt als ein Nachklingen des Geschehens in der Seele des Individuums; hier vollzieht sich innerhalb des Ganzen unsers Lebens eine Abstufung, indem unsere Arbeitswelt, d. h. der von echter Arbeit umspannte Lebenskreis, sich deutlich von allem scheidet, was draußen liegen bleibt und uns nur von außen berührt; wie diese Arbeitswelt uns eine Selbständigkeit und eine Festigkeit gegenüber dem wirren Treiben des Durchschnittslebens verleiht, so vermag sie auch unserem Streben deutliche Wege zu zeigen. Jene Arbeit, obschon in uns, ist zugleich auch über uns, sie trägt in sich Ziele und Kräfte, sie macht im Zusammentreffen mit ihrer Umgebung eigentümliche Erfahrungen und begründet damit eine geistige Erfahrung, die sich von der Erfahrung des einzelnen Menschen deutlich unterscheidet. Was irgend Großes geleistet wurde, das entsprang der Kraft und dem Zwang dieser inneren Arbeit; ohne einen Glauben an ihr Vermögen und ein Sichtragenlassen von ihrem Strom überwindet das Wirken nicht das Schwanken tastender Reflexion, findet es keine Sicherheit und Freudigkeit. Ein solches Denken aus der Notwendigkeit der Sache erfolgt in unverkennbarer Abhebung und Gegenwirkung gegen den gewöhnlichen Lebensstand, aber eben dabei ist der Mensch erst recht bei sich selbst, und es erscheint echtes Leben als ein hohes Ziel, keineswegs als ein gegebener Ausgangspunkt; was gewöhnlich Leben heißt, kann dem geistigen Wesen nur als ein Schein des Lebens oder als ein Haschen nach Leben gelten. Steckt soviel mehr im Leben, als die biologische Fassung anerkennt, so kann auch das hier gebotene Erkennen nicht

Rückblick und Ausblick.

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genügen; es wäre ohne Mühe zu zeigen, daß streng genommen hier überhaupt von Erkennen nicht die Rede sein kann, da alles und jedes Erkenntnisstreben, schon durch die Aufwerfung der Frage, über jenen Lebensstand hinaushebt. Gegenüber Fassungen, welche die Welt als ein starres System behandelten, bleibt es ein Verdienst des Biologismus, die überall vorhandene und überall wirksame Bewegung aufzuweisen und darauf zu dringen, daß dieser Bewegungscharakter unserer Welt auch in der Erkenntnisarbeit zu gebührender Anerkennung gelange; sie muß flüssig und schmiegsam genug verstanden werden, um den Wandlungen nachzugehen und sich an ihnen weiterzubilden. Aber damit das Leben dem Erkennen etwas werde, darf es nicht wie ein wilder Strom dahinbrausen und alles mit sich reißen, sondern muß es sich irgend fassen und eindämmen lassen, muß es aus bloßem Leben zu einem Erleben werden, muß es bei sich einen Inhalt entwickeln und durch alle Kraftentfaltung hindurch sich zu einem Beisichselbstsein bilden. Auch das ist eine Bewegung, aber eine Bewegung, die nicht bei sich selbst verbleibt, sondern die über alles Werden hinaus auf bleibende Ziele geht und diese Ziele gegenwärtig hält. Auch der Denker des »Alles fließt« stellte dem Flusse der Dinge eine Weltvernunft, »ein offenbares Geheimnis« entgegen; ohne eine Erhebung über den Fluß gibt es auch für uns kein Erkennen.

4. Rückblick und Ausblick. Biologismus und Pragmatismus teilen bei aller Verschiedenheit die Hauptrichtung; sie erwarten das Leben, das dem Erkennen mehr Nähe und Fülle bringen soll, von der Hingebung an das unmittelbare Dasein, sie verwerfen alle Erhebung darüber; so sind sie beide empiristischer Art. Nun aber sahen wir, daß dieser Weg nicht das leistet und leisten kann, was wir beim Erkennen suchen und von ihm verlangen müssen; ja es läßt sich hier von Erkennen überhaupt nur in Widerspruch mit der Hauptthese reden. Was über den Empirismus hinaustreibt, ist nicht der Eigensinn des Metaphysi4*

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Kritischer Teil.

kers und sein Schwelgen am Dunkeln, sondern das Leben selbst, da es weit reicher ist, als der Empirismus es darstellt. Denn dieser hält sich nur an die eine Seite der Sache, nur an den Vorwurf, den die Tätigkeit erfaßt und an dem sie sich zu schaffen macht; das Subjekt oder besser den Träger des Lebens behandelt er wie einen leeren Raum, in dem etwas Fremdes vorgeht, in dem Erscheinungen nur zusammentreffen und sich einander verketten, während doch eine Erfahrung mit ihrem Umspannen, Ordnen, Umbilden der Erscheinungen nicht entstehen kann, ohne daß der Träger eine Tätigkeit ausübt; diese Tätigkeit darf nicht nur einen Durchgangspunkt bilden, sondern sie muß beharren und allen Vorwurf über den ersten Befund hinaus gestalten. Dies Problem des Trägers aber führt unmittelbar zum Lebensproblem, und hier wird sofort ersichtlich, daß unser Leben nicht ein bloßes Stück eines gegebenen Daseins ist; es erschöpft sich nicht in das Verhältnis zur Umgebung, sondern es vermag aus den Verkettungen des Daseins herauszutreten, eine Selbständigkeit zu erreichen, eine Selbsttätigkeit zu entwickeln und eine Tatwelt aufzubringen. Solche Wendung ergibt einen völlig neuen Anblick der Wirklichkeit und stellt eine schwere Aufgabe. Zu einer Hauptfrage wird nun, wie sich das Dasein zur Tatwelt verhalte, ob jenes ihren Forderungen entspreche oder dahinter zurückbleibe, wohl gar ihnen schroff widerspreche. Daß hier Verwicklungen entstehen, daß die Welt, die von innen aufsteigt, und die Welt, welche wir um uns und auch in uns finden, in harte Konflikte miteinander geraten, das ist die gemeinsame Uberzeugung aller Religionen, aber auch aller hohen Kunst und aller selbständigen Philosophie. Sie alle bejahen nicht das gegebene Dasein, sondern das Ja, auf dem sie bestehen, finden sie nur im Bruch mit jenem Dasein, nur durch Erschütterung und Verneinung hindurch. Die Verneinung wird ihnen damit bei allem Schmerz ein wesentlicher Faktor des geistigen Lebens, ja sie erscheint als das Salz des Lebens, ohne das es schal und seelenlos wird. Erst die Verneinung führt das Leben zu rechter Bewegung, Kraft und Vertiefung; wer sich gegenwärtig hält und zur eignen Überzeugung macht.

Rückblick und Ausblick.

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was die weltgeschichtliche Arbeit der Menschheit in dieser Richtung erreicht, und welche Befreiung, Erweiterung und Umbildung sie damit erfahren hat, der wird die Beschränkung des Lebens auf das gegebene Dasein als eine unerträgliche Festlegung und Verengung, als eine Einschließung in einen Käfig verwerfen, er wird im besonderen dem widersprechen, daß jene dogmatische Festlegung sich als die selbstverständliche, als die einzig mögliche Lösung des Lebensproblemes gibt. Die Vertreter des Empirismus empfinden eine solche Unerträglichkeit deshalb nicht, weil sie unvermerkt zum Dasein eine höhere Welt hinzudenken, es in ihrem Licht betrachten, mit ihren Gütern ausstatten; so verklärt der soziale Empirist die menschliche Gesellschaft, indem er ein überlegenes Geistesleben in ihr findet und sie ihm dienen läßt, ja sie zum Mittel und Werkzeug seiner Entwicklung macht; so denkt der Naturalist zum Kraftgetriebe der Natur eine überlegene Persönlichkeit hinzu, die sich in ihm erlebt und ihres wachsenden Lebens erfreut. Diese Ergänzung aber wird gewöhnlich vergessen; so wird dem eignen Vermögen des Daseins beigelegt, was es nur durch die Gegenwart einer belebenden Tatwelt leistet. Sobald dieser Fehler durchschaut wird, müssen wir jene Welt auch grundsätzlich anerkennen und in ihr den Standort des Lebens nehmen; so treibt es über alle bloße Natur und alle bloße Menschlichkeit hinaus zu einer selbständigen Innerlichkeit, zu einem geistigen Leben. Wieviel aber das Dasein für uns bedeutet, und wie weit wir auf es angewiesen sind, das haben wir später zu erörtern. Demnach erfüllen die empirischen Gestaltungen des Lebens nicht die Forderungen des Erkennens; sie können diesem wohl Bedingungen und Umgebungen liefern, aber sie erreichen nicht den Kern der Sache. Immerhin ist auch jene Leistung keineswegs unbedeutend, und der Zusammenhang der Hauptrichtung gibt auch den einzelnen Punkten einen gewissen Wert. Weit schädlicher ist sowohl dem Lebens- als dem Erkenntnisproblem ein wurzelloses Leben, wie es die Oberfläche der Kultur, im besonderen die Gegenwart, bietet. Wie

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Kritischer T e i l .

dies Oberflächenleben aller festen Begründung entbehrt, ist es ganz und gar auf eine freischwebende T ä t i g k e i t des Menschen gestellt, es folgt sklavisch den Eindrücken, Stimmungen, Launen der Individuen, es folgt nicht minder sklavisch den wechselnden Strömungen der Masse, welche ihr eignes Belieben als eine ausgemachte Wahrheit g i b t ; hier besteht keine innere Notwendigkeit, welche die K r ä f t e zusammenhält und sie auf ein leitendes Ziel richtet. Hier f e h l t aller Maßstab v o n g u t und böse, v o n wesenhaft und scheinbar, v o n Haupt- und Nebensachen, hier führt die selbstgefällige Nichtigkeit das R u d e r ; diese Nichtigkeit liebt es, sich in gespreizte und geschraubte Formen zu kleiden und damit dem Unwissenden den Schein einer Größe v o r z u t ä u schen. Dieses freischwebende Leben scheut alle entschiedene Teilnahme an allen prinzipiellen F r a g e n ; es neigt im Grunde zum Naturalismus, aber es möchte sich nicht zu ihm ausdrücklich bekennen, es schlägt sich äußerlich auf die Seite des Idealismus, aber dieser Idealismus m u ß möglichst z a h m und folgenlos sein, u m j a keine Verpflichtungen aufzuerlegen; so vermischen sich dieser Denkweise J a und Nein, das J a enthält so viele Klauseln, d a ß es mit dem Nein zusammenfließt. So erwächst ein Stand der Mattheit, des Schwankens, der aufgezierten Leere; das aber ist der Stand, der die gegenwärtige Kulturkomödie beherrscht. Wie dieses wurzellose Leben kein erhöhendes Schaffen erzeugen kann, so findet es auch nicht den Mut eines echten Erkennens; demnach braucht unsere Untersuchung sich nicht näher mit diesem einer ursprünglichen K r a f t entbehrenden Leben zu befassen; sie wird immer auf den W e g des selbsttätigen Lebens hinweisen und v o n hier aus das Verhältnis von Leben und Erkennen zu klären suchen.

II. Begründender Teil. Das Zusammenwirken von Erkennen und Leben, a) Das Wirken des Erkennens auf das Leben. Beim Erkenntnisproblem suchten wir eine Erhöhung des Menschen durch die Ausbildung eines inneren Verhältnisses zur Welt. Nun sehen wir aber, daß weder das auf sich selbst gestellte Denken solches zu gewähren vermag, noch aus dem Boden des gegebenen Daseins eine Welt hervorgehen kann. Mensch und Welt kommen nicht zusammen. So scheint nur ein Weg zu verbleiben: der, daß im Bereich des Menschen ein Lebenszusammenhang entsteht, der ihn zugleich über das Daseinsleben hinaushebt und dabei sein eigener Besitz wird. Auf eine Welt verzichten können wir nicht, eine Außenwelt ist uns verschlossen, zum Schaffen einer eigenen Welt fehlt dem von allen Zusammenhängen abgelösten Menschen die K r a f t ; so muß, wenn nicht alle Hoffnung verschwinden soll, sich eine Welt in unserem Bereich eröffnen und zu unserem eigenen Besitz werden, es muß bei uns ein überlegenes Leben mit einem Weltcharakter entstehen, sonst ist kein Erkennen möglich. Nur eine Welt, die dem Menschen aus den Bewegungen seines eigenen Lebens zugeht und ihm daher gegenwärtig bleibt, kann zum Standort seines Denkens und zum Vorwurf seines Erkennens werden. Für die Bildung eines selbständigen Ganzen ist aber die Denkarbeit unentbehrlich. E r k a n n t e n wir darin doch das auszeichnende, einzigartige Vermögen des Denkens, sich von der Zufälligkeit der menschlichen Zustände abzulösen und ihnen gegenüber ein sachliches Geschehen zu entwickeln, es kann seinen Stoff in ein System bringen, d. h. es in ein abgestuftes und gegliedertes Ganze

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Begründender Teil.

verwandeln. So ist das Denken vornehmlich das Weltorgan des Geisteslebens, das Vermögen, wodurch es sich zu einer selbständigen Wirklichkeit emporarbeitet. Daß innerhalb der Menschheit etwas wesentlich Neues im Werden ist, daß hier gegenüber der Natur eine große Wendung im Gange ist, darauf beruht alle Hoffnung für ein echtes Erkennen. Denken und Leben stehen hier in einem eigentümlichen Verhältnis. Das Denken befindet sich einmal innerhalb des Lebens und wird von ihm als Teil und Glied u m s p a n n t ; aber zugleich vermag es sich genügend abzulösen, um eine selbständige Art zu entfalten und auf das übrige Leben fördernd und erhöhend zu wirken. Das Ganze des Lebens erscheint damit nicht als eine einfache Größe und als ein fertiges Datum, sondern als etwas, das sich selbst erst zu suchen hat, und das sich nicht ohne ein Auseinandertreten finden kann, das zu seiner eignen Höhe mit mühsamer Arbeit erst aufklimmt und das Widersprüche bei sich selbst zu überwinden hat. — Ein anschauliches Bild gewinnt dies Streben nach einer Selbständigkeit des Lebens aber von der weltgeschichtlichen Bewegung, welche ihre Arbeit in den Dienst jener Aufgabe stellt und damit zugleich ihr gutes Recht, ja ihre Notwendigkeit erweist. Die erste Bedingung eines Selbständigwerdens des Lebens ist dieses: es muß unter der Gunst besonderer Umstände, sei es bei kühnem Aufschwung, sei es gegenüber tiefer Erschütterung, die sonstige Zerstreuung überwinden, eine eigentümliche Hauptrichtung einschlagen, ein leitendes Ziel entdecken, eine umfassende Atmosphäre bilden, es muß mit dem allen eine charakteristische Art aufbringen. Aus dieser kann dann eine Anregung und Befruchtung des Denkens erfolgen, so daß es über die bloße Form, über die Entwerfung des Schemas einer Wirklichkeit hinaus zum Aufbau einer inhaltlich erfüllten Wirklichkeit getrieben wird und damit das Leben zur Selbständigkeit und zur Überlegenheit gegen den Daseinsmenschen führt. Das Denken wird die Umkehrung des Daseins, die in allem geistigen Leben steckt, erst zu voller Durchführung und zu klarem Ausdruck bringen, es wird zugleich dem vorgefundenen geistigen Stande gegenüber als eine

Das Zusammenwirken von Erkennen und Leben.

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Macht der Aufrüttelung, Kräftigung und Erhöhung wirken, immer freilich nur, weil hinter ihm das Ganze des Lebens steht und in ihm seine Vollendung sucht. Das Denken wird damit zum Erkennen, da eine Wirklichkeit, die aus seiner eignen Arbeit aufsteigt, sich ihm nicht verschließen kann, sondern eine volle Durchleuchtung gestattet. Es vollzieht sich diese Bewegung aber in drei Hauptstufen, den Stufen der Kritik, des Schaffens, der Arbeit. Indem das Denken seine eigentümliche Art zur Wirkung bringt, namentlich seine Forderung der Ursprünglichkeit und der Selbständigkeit des Lebens, empfindet es den vorhandenen geistigen Stand als einen Stand der Vermengung und Halbheit und sucht es den Menschen davon zu befreien. So strebte alle echte Philosophie danach, das Ungenügen der vorgefundenen Lage eindringlich zu zeigen, die Menschheit aus bequemer Selbstgefälligkeit und träger Ruhe aufzurütteln, die Geringfügigkeit, die Unsicherheit, die Scheinhaftigkeit ihres vermeintlichen Besitzes darzutun, auch die Unzulänglichkeit der landläufigen Mittel und Wege zu erweisen. Dabei sieht die Philosophie in den Mängeln und Schäden des besonderen geschichtlichen Standes bleibende Probleme der Menschheit und durch die besondere Not der Zeit hindurch eine Aufgabe aller Zeiten; so kann sie nicht von vergänglichen Leistungen in die Zeit hinein, von Augenblickshilfen, sondern nur von durchgreifenden und bleibenden Wandlungen Rettung und Heil erwarten. Von hier aus angesehen erscheint die Philosophie vornehmlich als eine Macht der Kritik und des Zweifels, ja der Auflösung und der Zerstörung; sie nimmt dem Menschen den Glauben an das, was ihm bis dahin genügte, sie entwertet die Werte, die bisher galten; so ist es kein Wunder, daß sie oft eine lästige Störung dünkt und auf viel Widerstand stößt, viel Abneigung und Ablehnung findet. Dieser Zusammenstoß der Philosophie mit dem geschichtlichen Stande der Menschheit ist besonders schroff und greifbar beim Erkenntnisprobleme selbst, hier war es vornehmlich die Unsicherheit, der Mangel an fester Begründung zusammen samt der Einbildung, im Besitz lauterer Wahrheit zu sein,

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Begründender Teil.

welche große Denker mit Zorn erfüllte und sie zu schroffem Widerspruch und härtestem K a m p f e trieb. Nur das Fegefeuer des Zweifels und der Verneinung führte sie auf einen Weg zur Wahrheit. So verwarf Plato alle Begründung der Überzeugung auf menschliche Meinung, so begann Descartes seine Arbeit mit einem radikalen Zweifel, so wurde einem Kant alle bisherige Leistung zu einem haltlosen Dogmatismus. Ihnen allen schien Wahrheit nicht erreichbar in Festhaltung und Fortführung eines überkommenen Besitzes, sondern nur in entschiedenem Bruch damit und durch Gewinn eines neuen Ausgangspunktes. Solcher Widerspruch der Philosophie beschränkt sich nicht auf das intellektuelle Gebiet, er ergreift auch die anderen Lebensgebiete. Kläglich erschien einem Plato und einem Kant, was die Menschen als Tugend feiern, unlauter die Motive, welche ihr Handeln zu beherrschen pflegen, energisch drängte die Philosophie auch beim Schönen und der Kunst über eine Fassung hinaus, welche sinnliche Lust und kleinmenschliche Zwecke die Arbeit beherrschen läßt, niedrig und scheinbar wurde befunden, was gewöhnlich als Glück erstrebt wird, mit niederen Trieben vermengt und oft weit von ihnen fortgerissen auch die Bewegung zur Religion. Gewiß bestand auch über die Philosophie hinaus ein Streben zur Uberwindung des verworrenen Durchschnitts, aber dies Streben über das Ganze des menschlichen Seins auszudehnen und den Kampf von Ganzem zu Ganzem zu führen, das blieb der Philosophie vorbehalten; ihre erste Aufgabe war, deutlich zu scheiden und auseinanderzuhalten. Die Kritik konnte freilich nur weiterführen, wo sie nicht als Abschluß, sondern nur als Anfang galt, das Nein mußte über sich selbst weitertreiben; es konnte das nur aus der K r a f t eines J a , das, wenn auch verborgen und unfertig, hinter ihm stand und anstachelnd in ihm wirkte; nur so verwandelte sich das vage Nein in ein präzises und damit in eine Frage, nur so kam das Suchen aus schwankendem Tasten in eine sichere Richtung. Aus reflektierender Kritik eines freischwe-

Das Zusammenwirken von Erkennen und Leben.

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benden Denkens ist viel Selbstgefühl des Menschen, nie aber etwas Großes entstanden. Demnach gilt es den fruchtbaren Keim, den alle echte Kritik enthält, zu entwickeln, und das kann n u r durch eine Wendung, nur durch Versetzung in ein Reich des Schaffens geschehen. Es muß eine Ablösung der Bewegung zur Geistigkeit von der Bindung an die menschliche Lage erfolgen, eine Erhebung über die Bedürfnisse und Zwecke des Menschen, ein Zusammenschluß zum Ganzen eines Beisichselbstseins, das eigne Kräfte entwickeln und eignen Gesetzen folgen kann. Nur so kann das geistige Leben dem Menschen überlegen werden und ihm ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit eröffnen. Dies neue Reich liegt nicht fertig da, so daß es mühelos anzueignen wäre, sondern es h a t sich bei uns erst zu bilden und es bedarf dazu unserer Arbeit und Hingebung; in der Wendung zu ihm und in der Festhaltung seiner liegt eine Tat, eine Tat, die nicht nur einen Ubergang bilden darf, sondern die fortdauern und alles Wirken tragen muß. Insofern darf dieses neue Reich eine Tatwelt heißen. Aber es wird dadurch kein Werk des bloßen Menschen, nicht etwas, das er ersinnt und ausspinnt. Sondern was hier im Menschen vorgeht, das liegt zugleich über ihm, und das hebt ihn in der Hingebung über sich selbst hinaus, es ist die E n t f a l t u n g eines selbständigen Geschehens, die Offenbarung einer neuen Welt, deren Ergreifung uns selbst erhöht und den Schwerpunkt unseres Wesens verlegt. Das verändert den Gesamtanblick der Wirklichkeit, Dasein und Tatwelt treten auseinander, ohne gänzlich auseinanderzufallen. Die Tatwelt kann ihre Ursprünglichkeit nicht entfalten, ohne die Herrschaft über das Dasein zu fordern, sie wird es in ihre Beleuchtung stellen, Berührungspunkte mit ihm suchen, verbindende Fäden ziehen, alles Verwandte herausheben und zugleich steigern, sie wird das Dasein nicht nur im Einzelnen klären, sondern es auch als Ganzes messen und würdigen. So t r i t t im eignen Bereich des Menschen Welt gegen Welt, sein Leben gewinnt eine unvergleichliche Spannung und Größe. Nun erst lassen sich deutliche Fragen an das Dasein stellen, nun erst wird eine Erfahrung nicht

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des bloßen Menschen, sondern des Geisteslebens gewonnen, eine Erfahrung, die auf das Ganze geht. So kommt eine gewaltige Bewegung in die Wirklichkeit; wie sie eine völlige Umkehrung und einen neuen Lebensstandort voraussetzt, so erscheint damit im Leben selbst eine Metaphysik. Eine solche Lebensmetaphysik unterliegt nicht den Bedenken, welche das gewöhnliche Bild der Metaphysik treifen: es ist hier nicht das Denken, dessen Forderung ein überkommenes Weltbild umdenkt, sondern es ist ein neues Leben, eine Tatsächlichkeit, die in unserem Bereich aufgeht und eine Versetzung aus dem gegebenen Sein in ein ursprüngliches Leben, aus der menschlichen Atmosphäre in eine übermenschliche Welt vollzieht. So wird hier nicht zu einer fertigen und geschlossenen Welt nur etwas hinzugedacht, was in Wahrheit ebenso überflüssig wie unmöglich wäre, sondern die nächste Welt erscheint von dem geistigen Lebenszuge aus als durchaus ungenügend und wie eines Beisichselbstseins, so eines echten Lebens bar; es ist das Verlangen nach echtem und wahrem Leben und einer daraus entspringenden Wirklichkeit, welches zu einer Umwälzung und zugleich zur Metaphysik treibt. Ohne eine solche Wendung und ein Selbständigwerden der Geistigkeit bleibt alle Bewegung zu ihr in der Mitte des Weges stecken, und endet das Streben des Menschen in Halbheit und Unwahrhaftigkeit. Den Erweis seiner Wahrheit kann das Neue unmöglich durch eine Übereinstimmung mit dem gegebenen Dasein suchen, will es doch dieses durchgängig erhöhen und neu beleuchten; sein Erweis liegt an erster Stelle darin, daß es alles, was im Geistesleben aufstrebt, alle einzelnen, sonst zerstreuten Züge miteinander zu verbinden, sie von aller Fremdheit zu befreien und das Ganze zu voller Selbständigkeit zu führen vermag. Aber so gewiß dabei ein Bilden von innen heraus das H a u p t werk tut, beim Menschen kommt dies Schaffen aus dem Entwurf nicht zu voller Durchbildung, ohne sich mit dem Dasein auseinanderzusetzen, erst durch seine Berührung und Überwindung erreicht es seine eigne Höhe. So blicken wir in eine Aufgabe voller Arbeit und voller Gefahr, aber in

Das Zusammenwirken von Erkennen und Leben.

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eine Aufgabe, an deren Lösung wie die geistige Selbsterhaltung des Menschen, so auch die Möglichkeit alles Erkennens liegt. Daß es sich hier nicht um subjektive Deutungen, sondern um innere Notwendigkeiten handelt, das bekundet deutlich die weltgeschichtliche Arbeit der Philosophie. Denn sie zeigt, daß jede große und fruchtbare Leistung ein Sichlosreißen des Lebens vom vorgefundenen Stande und ein Selbständigwerden des Schaffens enthielt. So z. B. bei Plato. Wohl umgab ihn ein künstlerisches Gestalten des Lebens in seinem Volke und in seiner Zeit, aber ihm war es vorbehalten, jenes Gestalten von der Enge und der Verworrenheit der menschlichen Lage abzulösen und zu einem selbständigen Reiche der Gestalten, zu einer in sich gegründeten Ideenwelt zusammenzuschließen, die damit zum Träger eines ursprünglichen Lebens wurde. Dieses Selbständigwerden der Gestalt war ein Klären, ein Ausscheiden alles Fremden und Niederen, womit das menschliche Dasein sie verquickte, eine strenge Herausarbeitung ihrer Eigenart; so konnte sie im eignen Bereich eine Anordnung der Mannigfaltigkeit vollziehen, aus Scheiden und Wiederverbinden, aus Ebenmaß und Abstufung entsprang ein plastisches Kunstwerk und gab sich als den Grundbestand aller Wirklichkeit. Das Dasein aber erfuhr von hier aus eine durchgreifende Scheidung: einmal konnte die Formenwelt sich in ihm wiederfinden und alles Verwandte an sich ziehen, andererseits blieb ein Gegensatz und damit ein tiefes Dunkel, das aller Aufhellung widerstand. Aber die stumpfe Gleichgültigkeit der anfänglichen Lage war ausgetrieben, Schaffen und Scheiden hatten einen neuen Weltanblick hervorgebracht, vom Ganzen her erstreckte sich in alle Weite eine Aufgabe und eine Frage, es wurde der ganze Bereich in Bewegung gebracht und zu einer Entscheidung gezwungen. Nun galt es, ein jedes auf seine Stellung und Leistung im Ganzen zu prüfen, Stufen und Reihen fügten sich zu einem allumfassenden Lebensgewebe. Eine andere Art der Umkehrung brachte die Wendung zur Religion gegen den Ausgang des Altertums. Auch hier schob der Durchschnitt des Lebens Niederes und Höheres ineinander: dort ein Verlangen des Menschen nach Befreiung

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von Schmerz und Not und nach Versetzung in volles Glück, wobei das Göttliche im Grunde nur zu dienen h a t t e ; hier das Ersehnen einer Erhebung über alle bloßmenschliche Art, das Verlangen einer inneren Gemeinschaft, ja eines Einswerdens mit Gott, das Gewinnen eines neuen Wesens aus solcher Einigung. Erst an der Hand der Philosophie h a t das Leben eine Befreiung von diesem verworrenen Stande vollzogen, in Männern wie Plotin, Origenes, Augustin die anthropozentrische Art des Lebens einer theozentrischen untergeordnet und zugleich dem neuen Leben einen unbedingten Wert verliehen. Das f ü h r t e auch das Erkenntnisproblem in eine neue Bahn. Die Wesenseinigung mit Gott machte es möglich, die ganze Wirklichkeit von Gott aus als dem tragenden Grunde und der alle Mannigfaltigkeit erzeugenden Einheit mitzuerleben und zu verstehen; von hier aus beleuchtet erschien das Dasein als eine absteigende Stufenfolge des Lebens, jede einzelne Stelle empfing einen Wert durch das Verhältnis zum Ganzen, und durch das, was sie dem Ganzen bedeutete, überall galt es, dieses allumfassende Ganze aufzusuchen und sich gänzlich darin zu versenken; alles Streben gab sich hier als ein Verlangen des Teiles zum Ganzen, des Sichtbaren zum Unsichtbaren, des Endlichen zum Unendlichen, des Zeitlichen zur Ewigkeit. Irrtum und Wahn aber schienen hier daraus zu entspringen, daß das besondere Sein aus eigenem Vermögen etwas leisten und bedeuten wollte. Auch in seiner inneren Art erfährt das Erkennen eine Umbildung, indem es aus einer künstlerischen Synthese der Mannigfaltigkeit zu einem Suchen und Ersehnen der Unendlichkeit an jeder einzelnen Stelle wird; die klaren Begriffe weichen einem mehr gefühlsmäßigen Schauen, hier gilt das Wort, daß alles Sichtbare nur ein Gleichnis ist. Die Neuzeit rühmt sich ihrer Überwindung der mittelalterlichen Spaltung der Welt durch eine Denkweise immanenter Art. Aber auch sie vollzieht eine Losreißung vom unmittelbaren Dasein und entwickelt einen ihm überlegenen Lebensprozeß. Das ist vornehmlich geschehen durch die Anerkennung und E n t f a l t u n g einer vom Menschen und seinem Lebensstande unabhängigen Vernunft. Sie wird nicht nur zur Grundlage

Das Zusammenwirken von Erkennen und Leben.

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des Erkennens, sondern auch zum Maße des Lebens, auch der das moderne Leben durchwaltende Drang nach durchgreifender Erhöhung des menschlichen Daseins und gründlicher Entfernung alles Dunkels und Elends zieht sein Recht und seine Triebkraft vornehmlich aus dem Glauben an eine solche dem Menschen überlegene, aber in ihm gegenwärtige Vernunft. So trat diese Vernunft an die Welt heran als eine Macht des Klärens und Richtens, aber auch des Belebens und Weiterbildens, sie duldete nichts, was ihren Forderungen widersprach; was sie aber anerkannte, das faßte sie straffer zusammen und verstärkte sie in seinem Wirken. Das Erkennen aber empfing daraus als Hauptaufgabe die, ein zusammenhängendes Gedankenreich auszubilden und von ihm aus das Dasein zu beleuchten; das logische Gefüge, was dort entstand, das Reich allgemeiner Gesetze und durchgehender Kausalordnung, suchte auch im Dasein durchgängig einfache Grundformen des Geschehens und feste Verkettungen aufzuweisen, es damit nicht nur durchsichtig zu machen, sondern es auch dem Machtbereich menschlichen Handelns zu unterwerfen. Auch hier ist es die Form, durch welche die Wirklichkeit sich dem Menschen eröffnet; daß aber die Form hier nicht künstlerischer, sondern logischer Art ist, das gestaltet das Verfahren wie die Leistung erheblich anders als im Altertum. Die einzelnen Denker zeigen ihre Eigentümlichkeit vornehmlich in der Weise, wie sie die dem Menschen überlegene Vernunft verstehen und behandeln; ein Fortgang ist namentlich darin ersichtlich, daß sich mehr und mehr die Betätigung der Vernunft aus einzelnen Vorgängen in ein Ganzes zusammenschließt. Verfocht Descartes den Grundgedanken einer Selbständigkeit der Vernunft in seiner Verteidigung der »eingebornen« Ideen — die Preisgebung dieser durch Locke war eine Preisgebung der Selbständigkeit der Denkarbeit —, so erhob Kant sowohl die theoretische als die praktische Vernunft zu einem zusammenhängenden Gewebe, und ließ endlich Hegel die Vernunft als schöpferisches Vermögen die gesamte Wirklichkeit erzeugen. So erlangt im Verlauf der Bewegung die Vernunft immer mehr Selbständigkeit und Einheit, so muß

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auch ihre Wirkung auf das Dasein, ihre umwandelnde K r a f t , immer stärker und durchdringender werden, aber zugleich hat sie mit immer größeren Widerständen zu kämpfen. So bildet überall das Entstehen eines selbständigen Lebens und Lebenskreises im Bereich des Menschen den entscheidenden Schritt zur Möglichkeit eines Erkennens; aus der gegebenen Lage heraus ist es unbegreiflich. Jene Wendung erst treibt das Chaos auseinander, das uns zunächst umfängt, und in dessen t r ü b e m Nebel alle Gestalten verschwimmen, sie erst stellt das Dasein vom Ganzen bis ins Einzelne vor eine Frage und zwingt es zu einer Antwort. Scheiden und Schaffen sind dabei, wie in der biblischen Schöpfungsgeschichte, eng miteinander verbunden und aufeinander angewiesen, ohne Scheiden kein Schaffen, ohne Schaffen kein Scheiden. Es eröffnet sich damit eine zwiefache Art der Erfahrung, eine Erfahrung aus der eignen E n t f a l t u n g der Tatwelt und eine Erfahrung aus ihrem Verhältnis zum Dasein. J e nach der Gestaltung der Tatwelt wird im Dasein verschiedenes gesucht und gefunden, auch die Art und der E r t r a g der Erfahrung wird danach auseinandergehen. Die Zufälligkeit individueller Meinung und Neigung ist dabei überwunden, da das Erscheinen eines neuen Lebens Licht in das Dunkel bringt und die Forschung auf klare Ziele richtet. Wohl bedarf dies Leben unserer fortwährenden Tat, aber sein Sachgehalt und sein innerer Zusammenhang, auch der Zwang, den es gegen uns übt, erweisen deutlich genug, daß es unserer Willkür überlegen ist. Durchgängig erscheint hier das Geistesleben nicht als ein Zurechtlegen und Aufstutzen der alten Welt, sondern als die Eröffnung einer neuen Welt; das Menschenleben verläuft nicht in einer Fläche, sondern es findet seinen Kern nur durch eine Wendung und Umwälzung hindurch. Aber so gewiß die Welt des Schaffens sich zunächst in einen Gegensatz stellen und eigne Wege gehen muß, sie kann, wenn sie das Ganze sein oder doch alles beherrschen will, nicht in starrem Gegensatze verbleiben, sie muß, ohne ihre Selbständigkeit aufzugeben, zu der Welt zurückkehren, der sie sich entwand, und sie zu gewinnen suchen; sie m u ß das v o r

Das Zusammenwirken von Erkennen und Leben.

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allem ihrer eignen Vollendung wegen, denn nur in Auseinandersetzung mit dem anderen, nur im R i n g e n mit seinen Widerständen, k a n n sie bei uns Menschen den W e g v o n den großen Zügen des E n t w u r f s zu voller Durchbildung finden. D a m i t gestaltet sich die Philosophie zur Arbeit, die, scheinbar zunächst nur nach außen gekehrt, v o r allem das Leben selbst weiterführt. Das Eingehen auf die Mannigfaltigkeit, das damit erfolgt, treibt die Gedankenarbeit zu einer Verzweigung und Verfeinerung; da diese innerhalb eines umfassenden Ganzen verbleiben muß, so entsteht die Idee und die Forderung eines Systems, einer Durchgliederung der gesamten Gedankenwelt. D a m i t erstreckt sich die B e w e g u n g über die ganze Breite und gewinnt sie eine engere Beziehung zur Mannigfaltigkeit. Es kann aber diese Arbeit ihren Stoff nur dann durchdringen und umgestalten, wenn sie jenes umwälzende und wegbahnende Schaffen hinter sich h a t ; ohne das erreicht sie nur ein Zurechtlegen von außen her und ein seelenloses Schema. So gibt es zwei T y p e n der großen D e n k e r : Helden der Umwälzung und schöpferischen Erneuerung und Helden energischer Arbeit und gleichmäßiger Durchbildung. Jene müssen vorangehen, da ihre T a t den Boden für das Wirken dieser erst herzustellen hat. Einem Plato folgt ein Aristoteles, einem Descartes ein Spinoza und ein Leibniz, einem K a n t ein H e g e l ; zum vollen Gelingen ihres Strebens bedarf die Gedankenbewegung beider Typen. A b e r so gewiß beides aufeinander angewiesen ist, Verwicklungen und Irrungen im gegenseitigen Verhältnis liegen nahe. Der Arbeit geschieht Unrecht, wenn sie nur als eine A n w e n d u n g und A u s f ü h r u n g betrachtet wird, da sie auch den inneren Bestand fortzuführen h a t ; andererseits aber darf das Schaffen nicht nur als eine Vorstufe der Arbeit gelten, da es immerfort den weltüberlegenen Standort und die Richtung des Suchens zu geben hat. Die A r b e i t berührt sich mit dem Dasein nicht unmittelbar, sondern nur durch die T a t w e l t hindurch; auch sie vollzieht sich ganz und g a r im Gebiet des Geisteslebens, wohin das Dasein erst zu versetzen ist, sie entsteht nicht aus einer Zusammensetzung v o n T a t w e l t und UmEucken,

E r k e n n e n und Leben.

2. A u f l .

c

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gebung. Daß selbst in der Annäherung an das Dasein immer eine K l u f t verbleibt, das haben auch große Helden der Gedankenarbeit, wie z. B. Aristoteles, nicht immer genügend gewürdigt und sich daher empiristischer gefühlt, als sie in Wirklichkeit waren. Auch in der Rückkehr zum Dasein verbleibt der Gegensatz, die Erhebung und Scheidung bedeutet nicht ein bloßes Mittel. Demnach durchläuft das Werk des Erkennens drei verschiedene Stufen: die der Kritik, des Schaffens, der Arbeit; ihre gleichmäßige Ausbildung und ihr fruchtbares Zusammenwirken bildet ein hohes Ideal, das immer nur annähernd erreicht wird. Jede Störung des Gleichgewichts ergibt Mißstände und Gefahren. Das Schaffen ist, wie wir sahen, die belebende Seele des Ganzen, ohne eine Verbindung mit ihm wird die Kritik leicht zu unfruchtbarer Reflexion, die Arbeit aber zu seelenloser Routine. Aber das Schaffen bedarf seinerseits auch der anderen Stufen: ohne scharfe Kritik fehlt ihm leicht die nötige Abhebung vom Durchschnittsstand und die volle Selbständigkeit, ohne den Fortgang zur Arbeit aber leicht die nötige Klärung bei sich selbst und das Durchdringen der Weite. Daher dienen die verschiedenen Aufgaben schließlich einer einzigen Gesamtaufgabe; die Frage aber, wo dabei der Kern der Leistung liegt, entscheidet vornehmlich über die Gesamtart der einzelnen Denker. So erscheint das Erkennen als ein unentbehrliches Mitarbeiten an der Vollendung des Lebens. Aber zugleich wurde ersichtlich, daß es nicht nur gibt, sondern auch empfängt, daß es durch die Verbindung mit dem Leben weit über das hinausgeführt wird, was es aus eigener K r a f t vermag und leistet. Denn aus ihr kann es nur Umrisse und Formen entwerfen, das heißt aber eine Aufgabe mehr stellen als sie lösen. Es fordert eine Allgemeinheit und es fordert eine Verkettung, an welcher Stelle aber das Allgemeine zu suchen, und in welcher Weise die Verkettung herzustellen sei, das bleibt zunächst ungewiß; erhält jener Gedanke keine nähere Bestimmung, jenes Streben keinen festen Angriffspunkt, so verliert die Arbeit sich leicht in gehaltlose Abstraktionen, in Formeln

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Das Zusammenwirken von Erkennen und Leben.

u n d Schemen; jene unerläßliche nähere Bestimmung aber empfängt das Erkennen aus dem selbständig gewordenen und zu charakteristischer Art erhobenen Leben, das sich durch seine eigne Arbeit hindurch entwickelt. Das zeigte schon der Gesamteindruck, indem die Eigentümlichkeit der Hauptepochen auch der Erkenntnisarbeit einen eigentümlichen Charakter verlieh, sie im Altertum künstlerisch, im Mittelalter religiös, in der Neuzeit logisch und naturwissenschaftlich gestaltete. Schon das zeigt, daß die Epochen nicht nur ein Mehr oder Minder unterscheidet, sondern daß sie das gemeinsame Ziel wesentlich anders fassen und daher auch andere Wege gehen; nicht erst die Antwort, schon die Frage treibt sie weit auseinander. Solche Verschiedenheit erstreckt sich tief in das Gefüge der Arbeit hinein und gestaltet auch die einzelnen Elemente und Funktionen eigentümlich; jede der Hauptepochen h a t ihre besondere Fassung des Begriffs wie des Urteils, der Substanz wie der Kausalität, jede entwickelt eine verschiedene Art der Anordnung, der Verbindung der Mannigfaltigkeit zu einem Zusammenhang. Erst eine solche Durchbildung, eine solche Wendung ins Konkrete, f ü h r t das Erkennen zu enger Berührung und Verflechtung mit den Dingen, macht es fähig, ihre N a t u r zu vollem Ausdruck zu bringen. Diese Wendung zur Konkretheit bedeutet aber nicht ein Unterliegen des Denkens unter die besondere Lage und Zeit, sondern auch in jener Wendung behauptet es eine Selbständigkeit und sucht es in ihr die eigne Vollendung; die besondere Art erscheint als die Weiterführung einer allgemeinen, als eine Erfüllung der Forderung, welche diese enthält. Damit die besondere Art dieses leiste, muß der Arbeit der Unterschied der beiden Stufen gegenwärtig bleiben, und es ist immer von neuem zu prüfen, ob in dem Speziellen das Generelle zugegen sei und es vor bloßer Zufälligkeit bewahre. So t r ä g t das Denken in sich selbst eine Bewegung von universaler zu charakteristischer Art, von einem entwerfenden und leitenden zu einem ausführenden und durchbildenden Wirken. Demnach h a t es seine H a u p t a u f g a b e nicht darin, die Wirklichkeit auf die Form der Allgemeinheit zu bringen, eine Fassung, welche die tiefste 5*

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Begründender Teil.

Wurzel des Intellektualismus bildet, und welche leicht die Welt lediglich grau in grau malt. In Wahrheit ist die Form der Allgemeinheit nur der Weg und das Mittel, die Positivität des Ganzen herauszuarbeiten, die Wendung dahin findet aber das Erkennen nicht abgelöst, sondern nur in Verbindung mit dem selbständig werdenden Leben. Insofern ist es auch seinem innersten Gefüge nach auf eine Erfahrung gestellt; alle Philosophie und Erkenntnislehre, welche eine solche verschmäht und sich lediglich auf eine freischwebende Erwägung stellt, gelangt nie aus dem Reich der Schatten in echte Wirklichkeit. b) Das Wirken des Lebens auf das Erkennen. Wenn demnach die Bedeutung des Erkennens für das Leben keinem Zweifel unterliegt, so sei zugleich keinen Augenblick vergessen, daß umgekehrt die eigentümliche Gestaltung des Lebens einen tiefen Einfluß auf das Erkennen ausübt, und daß dies Wirken nicht geringe Probleme mit sich bringt. Das geistige Leben verläuft nicht in einer vorgezeichneten Bahn, sondern es enthält eine Fülle von Antrieben und Bildungen; diese Bildungen eröffnen einerseits dem Erkennen scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten, andererseits bedrohen sie es mit einem schrankenlosen Relativismus. Wir werden uns mit dieser Gefahr gewissenhaft auseinandersetzen, zunächst aber sollen uns jene Bildungen beschäftigen, es gilt die reichen Anregungen zu verfolgen, welche sie auch dem erkennenden Denken liefern. Über die Zufälligkeit der einzelnen Individuen erheben sich gesellschaftliche und geschichtliche Zusammenhänge; der Einzelne ist ihnen keineswegs wehrlos überliefert, aber gewöhnlich empfängt er von ihnen starke Wirkungen, er empfängt sie auch dann, wenn sie sich seinem eigenen Bewußtsein verbergen. Solche Zusammenhänge erkennen wir in Völkern, Völkergruppen, Kulturen, Weltteilen, Weltlagen usw.; werfen wir einen raschen Blick auf diese scheinbar regellose Bewegung. Wie stammverwandte Völker unter der Wirkung ihres Zusammenlebens beim Erkenntnisproblem weit auseinandergehen können, das zeigt deutlich der Unterschied der

Das Zusammenwirken von Erkennen und Leben.

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deutschen und der englischen Art. Der Deutsche stellt den Gedanken voran, und er neigt dazu, das praktische Leben als eine Anwendung allgemeiner Sätze zu verstehen; er möchte alles, was seine Anerkennung fordert, prinzipiell erweisen, er verschließt sich damit leicht dem unmittelbaren Eindruck der Dinge. Seine Stärke liegt in der Entwerfung von Weltgedanken und in der Weite des geistigen Horizontes, seine Arbeit trägt einen systematischen und methodischen Charakter. Aus solcher Denkweise hat er Weltgebäude von genialer Kühnheit entworfen, dem erkennenden Denken eine trotzige Selbständigkeit verliehen, auf der Höhe ein mutiges Ringen mit der Unendlichkeit unternommen. Aber es konnte darunter leicht die Ermittelung des Tatbestandes leiden, noch gefährlicher war sein unbegrenzter Individualismus, der freilich einen großen Reichtum erzeugte, der aber alle Gemeinschaft widerwillig empfand und vornehmlich beflissen war, die Unterschiede und Gegensätze hervorzukehren; so eine arge Zersplitterung, so eine Absonderungslust auch im Bau der Gedanken. Ganz anders die englische Art. Sie ist besonders tüchtig in der Würdigung des praktischen Lebens, in dem offenen Sinn für die Eindrücke der Erfahrung, in dem Vermögen, die jeweilige Lage klar zu durchschauen und zweckmäßig zu verwerten. Das alles kommt namentlich dem politischen und sozialen Leben zugute, es vermag in freier Entschließung sich den Zwecken des Ganzen unterzuordnen und dadurch die Kräfte zu steigern. Die Philosophie behandelt namentlich hier psychologische und soziale Probleme, sie bringt der Spekulation über Weltprobleme wenig Neigung entgegen, auf dem Boden der Erfahrung dagegen wird Klarheit und Verständlichkeit erwiesen, mit einem ausgesprochenen Tatsachensinn verbindet sich oft ein. präzises logisches Denken. — Die eine Denkweise stellt das Weltproblem, die andere das Menschenproblem voran, die eine liebt ein deduktives, die andere ein induktives Verfahren; aus dem Erkennen wird damit beiden etwas Grundverschiedenes. Wie auch ganze Völkergruppen von dem ihnen eigentüm-

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Begründender Teil.

liehen Leben aus das Erkennen besonders fassen, das zeigt der Gegensatz der germanischen und der romanischen Völker; jene setzen mehr den Inhalt, diese dagegen mehr die Form in die Wage, sie gestalten damit auch die Erkenntnisarbeit anders. Derartige Betrachtungen beschränken sich nicht auf Europa, es ist ein Fehler, Europa als die Seele der ganzen Menschheit zu behandeln, die Philosophie h a t stets einen Welthorizont zu wahren; so ist ihr besonders bemerkenswert die Verschiedenheit von östlicher und westlicher, von asiatischer und europäischer Art. Die östliche Art strebt mehr nach einem Unbedingten und Unbegrenzten, hier beherrscht der Makrokosmos den Mikrokosmos, das Ganze den kleinen Menschen; hier wirken breite Lebenswogen, die den Einzelnen wie ein überlegenes Schicksal tragen, hier ist mehr unpersönliche Kontemplation und gelassene Hingebung als persönliches Emporstreben, zugleich ein starker Zug nach dem Einfachen, Schlichten, Ursprünglichen, kein Wunder, daß Asien die Wiege der großen Weltreligionen war; auf der anderen Seite ist mehr Verlangen nach Begrenzung, nach Gestaltung, nach systematischem Aufbau, wie namentlich die griechische Art dahin wirkt, ferner mehr Scheidung und Einsetzung der Selbsttätigkeit und Mannigfaltigkeit, ein eifriges Ringen des Mikrokosmos mit dem Makrokosmos, im weiteren Verlauf eine Uberspannung des Individualismus bis zur Gefährdung alles inneren Zusammenhanges. Innerhalb der asiatischen Art dabei große Unterschiede: bei den Indern mehr Verneinung, bei den Chinesen mehr Bejahung des Lebens; im Verhältnis von Gott und Welt bei den Ariern mehr Zusammenhang beider, bei den Semiten eine scharfe Scheidung; so ein entgegengesetztes Verhalten zur Mystik; im Christentum in der Verbindung asiatischer und europäischer Denkweise ein Streben nach Uberwindung dieses Gegensatzes. Alles das muß auch auf die Erkenntnisarbeit wirken. Dazu kommt der Einfluß der mannigfachen geschichtlichen Lagen. Wie Indien eine fortlaufende K e t t e von Lebensgestaltungen erzeugt hat, so hat es auch großartige Gedanken-

Das Zusammenwirken von Erkennen und Leben.

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weiten mit eigentümlichem Erkennen erzeugt. Während der Brahmanismus die tiefste Sehnsucht dem Eingehen des Menschen in die ewige Einheit zuwandte, hat der strenge Buddhismus allen Substanzbegriff aufgelöst und die Wirklichkeit gänzlich in ein substanzloses Werden verwandelt. Eine noch stärkere geschichtliche Bewegung enthält die europäische Welt und mit ihr auch auseinandergehende Erkenntnisformen. Indem die griechische Welt vier Hauptstufen durchlief: die Befassung mit der Welt und der Natur, die Schöpfung einer universalen Geisteswelt, eine Konzentration auf das ethische Leben, eine Wendung zur Religion, hat sich auch das Erkenntnisproblem durchweg verändert und eine Fülle von Möglichkeiten erzeugt, mehr und mehr wich dabei die sinnliche Welt einer unsinnlichen. Eine gerade entgegengesetzte Bewegung zeigt die Neuzeit, indem der Hauptstrom sich von der Religion zu einer Idealkultur, von dieser aber zu einer Realkultur wandte; das mußte alle Begriffe und Methoden umgestalten. Eine weitere Bewegung von tiefgehender Wirkung bringt das Entstehen von eigentümlichen Lebenssystemen, die wir zum Unterschied von bloßen Lehrsystemen als Syntagmen bezeichneten. Diese Lebenssysteme erstrecken ihre Macht in alle Verzweigung und beherrschen mit überlegenem Wirken die gemeinsamen Verhältnisse wie die Individuen, sie können nicht vordringen, ohne ein Hauptziel zu verfolgen und einen Hauptwert durchzusetzen; damit werden sie lebendige Mächte von höchster Wirksamkeit. Eine solche Macht war für das Altertum die Gestaltung, für die christliche Welt die Seelenvertiefung, für die Neuzeit der Kraftgedanke; ohne einen Anschluß an ein solches Lebenssystem konnte auch das Erkennen nicht zu voller Ausbildung gelangen und die Zufälligkeit der individuellen Ansichten überwinden. Heute lastet mit drückender Schwere wie auf allem geistigen Schaffen so auch auf dem Erkenntnisstreben die Wahrnehmung, daß uns ein fester Zusammenhang und eine deutliche Richtung des gemeinsamen Lebens fehlt; bei solcher Lage soll Klugheit und Scharfsinn ersetzen, was nur ein vordringendes Schaffen im

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Begründender Teil.

Zusammenhang mit den Erfahrungen der Menschheit gewähren kann. Die Neuzeit hing mit ganzer Seele an dem Kraftideal, von ihm hoffte sie eine Befreiung von aller Enge und Gebundenheit früherer Zeiten und den Gewinn einer unermeßlichen Weite, aber über jener Sorge um die Kraft hat sie die Seele schier vergessen, ungeheure Verwicklungen des Erfahrungsstandes treiben sie über die Kraft hinaus, um dem Leben eine festere Wurzel zu geben. Aber im Suchen eines allbeherrschenden Zieles geraten wir in eine peinliche Unsicherheit, diese Unsicherheit muß überwunden werden, und sie wird schließlich überwunden werden, einstweilen aber beherrschen Zweifel und Unglaube das Feld. Zugleich befällt uns ein starker Zweifel an der Zuverlässigkeit des ganzen Lebens- und Erkenntnisstandes. Die weltgeschichtliche Bewegung gibt unserem Streben in der Wendung zu Lebenskonzentrationen einen gewissen Halt, aber der Halt selbst genügt auf die Dauer nicht, statt endgültiger Antworten erhalten wir immer neue Fragen. Wir sahen, daß nicht nur Eine charakteristische Art des Lebens und des Erkennens entstand, sondern daß die verschiedenen Epochen verschiedene erzeugten, und daß das Werk wie der Glaube früherer Zeiten dem späterer weichen mußte. Ergibt das nicht einen zerstörenden Relativismus, wird die Wahrheit nicht zu einem bloßen Kinde der Zeit, die ganze Philosophie nicht zu einem Nacheinander kulturgeschichtlicher Durchblicke? Allerdings gewinnt der Beobachter damit ein buntes und fesselndes Bild, die Geistesgeschichte wird zu einer Zwiesprache des Lebens und Erkennens. Knotenpunkte heben sich aus dem sonstig gen Gewirr heraus, sie geben dem Streben eine deutliche Richtung und gestalten das Leben bis in alle Verzweigung eigentümlich. Aber es kommt eine Zeit, wo jene Leistung dem Menschen nicht genügt, neue Aufgaben und Verwicklungen entstehen, welche die menschliche Kraft überragen; schließlich versiegt der Mut und der Glaube, der bis dahin das Streben hob, der positiv schaffenden Epoche folgt eine kritische und läßt den Menschen seine Kleinheit schmerzlich empfinden. Freilich bedeutet das Versagen einer besonderen Zeit nicht ein Ver-

Das Zusammenwirken v o n Erkennen und L e b e n .

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sagen der ganzen Menschheit, eben aus den Hemmungen und N ö t e n sind oft Erneuerungen entstanden, sie haben die Menschheit zu neuen Aufstiegen geführt, v o m Grunde des Lebens sind ursprüngliche Bewegungen durchgebrochen und haben uns mit neuen Zielen auch frische K r ä f t e erweckt. Das kann sich aber nach menschlichem Ermessen wiederholen und weiter und weiter ins Unbegrenzte fortsetzen, immer wieder werden neue Wellenberge entstehen und uns an sich ziehen. W e n n nun der Blick nicht an einzelnen Höhen haftet und unbefangen die ganze B e w e g u n g überschaut, so kann er die R e l a t i v i t ä t aller dargebotenen Leistungen nicht verkennen. Je mehr wir an Fülle gewinnen, desto mehr verlieren wir den Glauben an eine absolute Wahrheit, nur eine solche aber kann unsere ganze K r a f t anspannen und unsere volle Gesinnung einnehmen, das Leben kann unmöglich letzthin in ein Nacheinander der Bildungen aufgehen. Zugleich wird das fortwährende Anwachsen des geschichtlichen Besitzes zu einer lastenden Bürde, immer mehr müßte die Ursprünglichkeit des Schaffen? versiegen, und müßte dem Menschen die Freiheit mehr und mehr beschnitten werden. Wie k o m m e n wir aus diesem Dilemma heraus, d a ß wir einmal auf das geschichtlich-gesellschaftliche Leben angewiesen sind, und d a ß sie zugleich das Wertvollste unseres Besitzes gefährdet; unsere Selbständigkeit ?

c) Die A n e r k e n n u n g einer selbständigen

Geistigkeit.

D a s 18. Jahrhundert nannte sich gern das philosophische Jahrhundert, im 19. überwog die geschichtliche Denkweise und die Neigung, allen Lebensbestand aus seinem Werden zu verstehen; heute fordern wir bei aller Schätzung der Geschichte eine übergeschichtliche Behandlung, wenn die Geschichte nicht einen Zusammenhang und einen vollen Wahrheitsgehalt verlieren soll; ein bloßes Ausbreiten historischer Bilder h a t kein R e c h t auf Wahrheit. Wir werden aber sehen, daß eine übergeschichtliche Betrachtung feste Bedingungen hat, und daß sie wichtige Konsequenzen mit sich bringt.

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Begründender Teil.

Die Fülle der geschichtlichen Bildungen kann sich innerlich nur verbinden, wenn sie von einer Gesamtbewegung umf a ß t und getragen wird; daß eine solche im Gange ist, das zeigt auch der eigene Boden der Geschichte. Denn jene Bildungen geben sich nicht als völlig getrennte Abschnitte, sondern das Spätere möchte sich mit dem Früheren verständigen, es möglichst an sich ziehen, ja es seinem eignen Bestände einverleiben; ohne eine solche Weite erreicht das Streben keine volle Gültigkeit und Sicherheit. Das Christentum konnte seine besondere Art nicht durchsetzen, ohne mit dem Altertum zunächst hart zusammenzustoßen; nach Erringung eines Sieges aber hat es viel Eifer und viel Geschick darauf verwandt, die beiden Welten auf dem Wege einer Abstufung zusammenzubringen, das war ein unverwerfliches Werk des Mittelalters; soweit die Neuzeit die Bahn der Aufklärung folgte, pflegte sie die Überlieferung, namentlich die religiöse, geringschätzig zu behandeln; nach Erreichung eines ruhigeren Gleichgewichts, wie wir das namentlich Leibniz verdanken, überwog das Streben, sowohl das Altertum als das Christentum nach bestem Vermögen zu würdigen; das moderne Streben nach Universalität wäre sonst nur eine Zusammenstellung geblieben. Ob das Verhältnis von Altertum und Christentum und das von Neuzeit und ihren Vorgängern nicht manche Verwicklungen enthält, und ob das Eigentümliche der Bildungen dabei sein volles Recht findet, das ist eine andere Frage, aber das Streben nach einem inneren Zusammenhange können wir nicht aufgeben. Innig verbunden dem Einheitsstreben ist das Verlangen, das Leben zu voller Freiheit und Ursprünglichkeit zu heben; das ist ein Hauptgewinn der geschichtlichen Bewegung, daß in ihrem Lauf manches der Natur und dem Schicksal entzogen und auf eigne Freiheit und Entscheidung gestellt wird. Nichts trennt deutlicher die Epochen als die Stelle, wo ihnen bisher Selbstverständliches zur Frage und bald zur Forderung wurde. Die klassische Höhe der griechischen Kultur hatte noch keine technischen Ausdrücke für Pflicht und für Gewissen; es war eine folgenreiche Verinnerlichung, daß die Stoa in jenen Be-

Das Zusammenwirken von Erkennen und Leben.

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griffen eine H a u p t s t ü t z e ihrer Überzeugung fand. Das Christentum, vor allem Augustin, vertrat die Überzeugung, daß die antike Moral bei aller Größe zu sehr an einer, wenn auch veredelten Naturanlage hafte, daß sie zu wenig eigne Entscheidung und seelische Hingebung enthalte; diese Forderung eröffnete für die Moral eine neue Epoche. Die Neuzeit fand den Menschen von einer gegebenen Welt fest und starr umschlossen, der Makrokosmos entschied in dieser über die Ziele und über den Stand des Mikrokosmos; sie selbst zerriß aus wachsendem Freiheitsdrang den Zusammenhang von Mensch und Welt, ihr wurde es zu einer unabweisbaren Aufgabe, eine zuverlässige Brücke zwischen beiden Seiten zu schlagen. Die größten Denker der Zeit haben an die Lösung dieses Problems ihre beste K r a f t gesetzt, auch heute ist es noch nicht abgeschlossen. Wohl fehlte es bei solchem Unternehmen nicht an Zweifeln und Verwicklungen, aber keine Macht konnte die denkende Menschheit wieder in den Stand der überkommenen Naivität zurückversetzen. Demnach entstand ein nicht geringer Gewinn von Einheit und Freiheit des Lebens. Aber immer wieder erhob sich die Frage, ob die Bewegung auf dem Boden der Geschichte tief genug geht, ob sie sich nicht nur auf eine Oberfläche beschränkt, ob ihre einzelnen Phasen nicht auseinanderfallen. Das Problem überschreitet diese besondere Aufgabe weit, es geht auf den Gesamtstand des Geisteslebens. Dies Leben brachte eine folgenreiche Wendung über das Dasein hinaus, es war das Erscheinen von Selbsttätigkeit, welches neue Ziele und Kräfte eröffnete und das menschliche Leben von dem tierischen schied. Aber was in dieser Richtung im gegebenen Dasein entsteht, das gibt sich mehr als eine Begleitung oder als eine Ergänzung einer anderen, naturgebundenen Art, es e n t b e h r t eines eignen Trägers, es f a ß t sich nicht in ein Ganzes zusammen, es treibt nicht über sich selbst hinaus. Eine genauere Betrachtung dieser Lage gewahrt einen schweren Widerspruch: Leistungen selbsttätiger Art sind vorhanden und bewegen das menschliche Streben, aber es fehlt ein selbständiges Leben, es fehlt eine wesenhafte Einheit, welche sie

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Begründender Teil.

tragen und begründen könnte; was an Erscheinungen an uns kommt, das entbehrt einer festen Wurzel, welche sie beleben und durchdringen könnte, immer wieder erhebt sich der Zweifel, ob jenes Unternehmen nicht eine bloßmenschliche Einbildung sei, es fehlt ein innerer Zwang, der Wahrheit und Irrung unterscheiden und die Bewegung auf sichere Bahnen führen könnte. So erwächst eine Lage des Nebeneinander und Durcheinander, der Zerstreuung und der Verwicklung; dieser Bereich erreicht mehr ein Halb leben als ein echtes Leben, meist verdrängt hier ein gleißender Schein die Wahrheit. Dies aber ist der Durchschnittsstand der üblichen Kultur, das moderne Leben hat sich besonders in ihn verstrickt; das ist ein Stand des Halbwollens und des Halbwirkens, der Vermengung von J a und Nein. Eine Rettung von diesem Widerspruch kann nur eine prinzipielle Wendung bringen, es gilt, sich von den Wirkungen in die Ursache zu versetzen und von der anhängenden Selbsttätigkeit ein überlegenes Reich der Selbständigkeit zu scheiden, ein Reich, welches dem verworrenen Dasein eine Tatwelt entgegensetzt und nur als eine Schöpfung eines Gesamtlebens sich verstehen läßt. Ohne diese Wendung schwebt alles in der Luft, was der Mensch und was die Menschheit an geistigen Zielen wagt; so gilt es, nicht das Geistesleben vom Menschen aus zu messen, sondern den Menschen aus dem Geistesleben; ohne ein kosmisches Beisichselbstsein, das sich auch uns zu eröffnen vermag, ist alles eitel und nichtig. K a n t stellte das Problem der Möglichkeit eines Erkennens an die Spitze, wir möchten darüber hinaus das Problem eines selbständigen, bei sich selbst befindlichen Lebens voranstellen. Das eben ist es, was wir Geistesleben nennen, die Möglichkeit eines solchen Geisteslebens entscheidet auch über die Möglichkeit eines philosophischen Erkennens. So ist diese Wahrheit das Axiom aller Axiome; gewiß läßt sie sich nicht von einem fremden Punkt her ableiten, sie kann nur erwiesen, nicht bewiesen werden; erwiesen aber einmal indirekt, indem ihre Preisgebung alles geistige Leben zu einem regellosen Haufen einzelner Eindrücke und Anregungen verwandeln müßte, in ihren Folgen aber

Das Zusammenwirken von Erkennen und Leben.

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durch die belebende, erhöhende, verbindende Macht, welche von ihr ausgeht und sich durch den ganzen Bereich der Wirklichkeit ergießt. Der Mensch erhält hier eine auszeichnende Stellung dadurch, daß er als geistige Energie das selbständige Gesamtleben unmittelbar zu teilen und als sein eignes Leben zu führen vermag; damit wird der Einzelpunkt der Natur zu einem allumfassenden Weltwesen. Es gilt an dieser Stelle eine unumwundene Entscheidung darüber zu treffen, ob ein kosmisches Beisichselbstsein in unserer Seele und im Weltall wirkt, oder ob die Wirklichkeit in lauter einzelne Elemente aufgeht, ob ein schaffender Weltwille durch das Leben geht und ihm Ziele steckt, oder ob eine blinde Tatsächlichkeit nirgends zu überwinden ist. Jenes kosmische Beisichselbstsein des Lebens kann aber nicht in einzelne Seelenvermögen aufgehen. So haben wir wenig Freude an dem Streit des Intellektualismus und Voluntarismus als weltbeherrschender Mächte, die Begriffe taugen nicht für das Gesamtbild des Alls. So gewiß das Teilhaben des Lebens an einem Gesamtleben ein Beisichselbstsein der Wirklichkeit bekundet, jede nähere Vorstellung von diesem Beisichselbstsein ist nicht mehr als ein Gleichnis; aber wir dürfen uns an die Tatsache halten, daß über die einzelnen Seelenvermögen hinaus eine geistige Bewegung bei uns im Gange ist und unserem Leben einen festen Kern verleiht; das aber gibt ihm eine unablässige Bewegung, daß wir das, was im Grunde unseres Wesens völlig gewiß und das Allernächste ist, nur recht unzulänglich in ein Gedankenbild fassen können; wir unterliegen bei solchem Versuch leicht der Gefahr, in die kleinmenschliche Denkweise zu fallen. Wenn wir demnach ein selbständiges Geistesleben als die Quelle der Wahrheit und Gewißheit anerkennen, so werden wir auch für das Erkennen darauf bestehen, daß es mit jenem Leben in Zusammenhang stehe und dadurch ein deutliches Ziel erhalte. So gewiß jenes Leben ursprünglicher Art ist, so gewiß wird es auch dem Erkennen Hauptrichtungen liefern, es kann seinen Inhalt nicht von außen aufnehmen; wenn nun jenes Leben eine Gesamtwirklichkeit erzeugt, so muß auch

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Begründender Teil.

das Erkennen auf ein Ganzes des Wirkens gehen. So h a t t e K a n t volles Recht, das Problem des a priori in den Vordergrund des Denkens zu stellen, es wird eine höchst wichtige Frage, dies a priori deutlich herauszuarbeiten; entbehrt das Erkennen einer Selbständigkeit, so wird es wehrlos gegen das Eindringen einer fremden und dunklen Welt. Es war ein großes Verdienst Kants, das a priori nicht auf einzelne P u n k t e zu beschränken, sondern es auf Gesamtleistungen wie auf die Bildung einer wissenschaftlichen Erkenntnis und auf das Schaffen einer Welt der Freiheit zu erstrecken. Aber jene Ursprünglichkeit bedeutet für uns Menschen keinen fertigen Besitz, wir müssen erst durch weltgeschichtliche Arbeit und durch die Erfahrung der Zeiten das Ziel erreichen, sonst wird die Bewegung verkannt, welche auch die Elemente umfaßt. Die einzelnen Wahrheiten liegen hier nicht in Einer Linie, an wichtigen Stellen, namentlich beim Problem der Religion, bedarf es einer Lebenserfahrung des Einzelnen und der Menschheit, um den P u n k t zu erreichen, an dem die Ursprünglichkeit des Denkens hei vorbricht. Insofern haben wir Bedenken gegen die Annahme eines religiösen a priori, sie nähert sich zu sehr der Aufklärung. Immer bleibt die Erreichung eines selbständigen Gesamtlebens auch für das Erkennen das Hauptziel. Das Erkennen hat namentlich die Aufgabe, die verschiedenen Seiten und Stufen deutlich herauszuarbeiten und damit den Gesamtstand zu klären. Freilich muß ihm immer eine beherrschende Einheit vorschweben, aber sie kann nur durch Scheiden errungen werden und damit eine innere Erhöhung vollziehen. Besonders bedeutend und folgenreich ist hier das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Daß überhaupt ein Auseinandertreten von Zustand und Gegenstand erfolgt, daß der Gegenstand uns innerlich gegenwärtig bleibt und uns zur Teilnahme reizt, das vornehmlich scheidet das menschliche Denken von dem tierischen Vorstellen. Aber die weltgeschichtliche Bewegung h a t es zu einem Entscheidungspunkt gemacht, ob der Schwerpunkt in das Objekt, oder ob er in das Subjekt zu verlegen sei; die ältere makrokosmische Denkweise hing am Objekt, die jüngere mi-

Das Zusammenwirken von Erkennen und Leben.

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krokosmische hat immer mehr das Subjekt zur Hauptsache gemacht; schließlich hat die Steigerung des Problems bei K a n t eine sehr folgenreiche Bewegung erzeugt. Eine nähere Erörterung dieser Frage fordert einen systematischen Aufbau, der sich uns an dieser Stelle verbietet, aber auf einer inneren Überwindung des Gegensatzes müssen wir bestehen, wenn die Wirklichkeit ein Ganzes bleiben soll; er läßt sich aber nur überwinden, wenn zunächst die Scheidung vollauf anerkannt, dann aber eine Zusammenfassung und Erhöhung gewonnen wird, diese hat einem Vordringen des Lebens zu dienen und seinen Bereich zu erweitern. Namentlich deutlich zeigt das das Schaffen der Kunst. Eine objektivistische und eine subjektivistischeArt kämpfen hier gegeneinander, jede von ihnen erzeugt eigentümliche Leistungen, aber die volle Höhe des Schaffens ist nur zu erreichen, wenn die beiden Seiten sich zu einer überlegenen Einheit verbinden und damit ein lebendiges Stück geistiger Wirklichkeit werden; daraus entspringt eine gegenseitige Erhöhung, die man ein reziprokes oder autonomes Verfahren nennen könnte. Dies reziproke Verfahren geht durch alle Gebiete, im besondern auch durch das ethische Gebiet, auch das Verhältnis von Mensch und Mensch bedarf sowohl einer deutlichen Scheidung als einer umfassenden Erhöhung. Jene Erhöhung mit ihrem Schaffen ist schließlich eine freie T a t des vordringenden Lebens, auch das Erkennen enthält einen Forttrieb über den vorgefundenen Stand. Letzthin entspringt es nicht aus einem psychologischen oder logischen, sondern aus einem Schaffen ethischer Art. Zeigt das Erkennen demnach eine innere Scheidung und Bewegung elementarer Art, so sind ferner im Gesamtbild verschiedene Stufen des Lebens anzuerkennen, die auch dem Erkennen verschiedene Aufgaben stellen. Wenn sich ein selbsttätiges Leben von dem gebundenen ablöst, so wird sein Wirken zunächst einen entwerfenden und grundlegenden Charakter tragen, es gilt die Hauptzüge deutlich herauszustellen und die Hauptbahnen zu ermitteln. Hier gilt es zunächst die selbsttätige Stufe des Lebens von jener naturgebundenen deutlich abzuheben, die Hauptverzweigungen des Schaffens zu ver-

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folgen, die Grundlagen und die Bedingungen des geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenseins zu ermitteln, für das alles die notwendigen Forderungen zu entwickeln; Analyse und Synthese müssen dabei zusammengehen, um einen eigentümlichen geistigen Bereich zu sichern und ihn gegen Angriffe zu schützen; hier liegt die Hauptstätte der wissenschaftlichen Arbeit, von hier aus rechtfertigt sich ein freudiger Lebensmut. Aber die weitere Verfolgung dieses Weges zeigt ungeheure Hemmungen und Verwicklungen, die aufsteigende Bewegung begegnet so schroffen Widerständen, daß alles Gelingen unsicher wird. Hier wird klar, daß die Natur freilich als Gehilfin dem geistigen Leben dient, daß sie aber bei seiner näheren Gestaltung ihre eigenen Wege geht und dabei die Werte und die Schicksale des geistigen Wesens mit völliger Gleichgültigkeit behandelt; das menschliche Auge findet in der Ordnung der Natur keine sittliche Ordnung und keine gütige Vorsehung, keine Sorge für das Ergehen des Individuums, das geistige Leben scheint in unserer Welt den Naturprozeß nur als eine Zutat zu begleiten; wie kann ein solches lediglich anhängende Leben eine Selbständigkeit behaupten, wie das Grundstreben es doch verlangt? Die Existenzform des Geistes widerspricht seinem inneren Gehalt: jener erstrebt einen inneren Zusammenhang, das Dasein zeigt die Punkte als vereinzelt und zerstreut; das geistige Leben fordert ein Beharren, eine Ewigkeit, im Dasein ziehen die einzelnen Geschlechter wie Schatten vorbei, und alles individuelle Leben hat eine knappe Frist. Eine kritische Denkweise muß diesen fundamentalen Widerspruch ohne alle Verschleierung aufdecken; sie kann es nicht, ohne manche vermeintlichen Hilfen zu zerstören; die Verfolgung dieses Weges muß, als endgültig betrachtet, einen lähmenden Zweifel an der Vernunft des Ganzen erzeugen und eine Lebensverneinung empfehlen. Noch schwerer wiegen die Hemmungen, welche das geistige Leben innerhalb seines eignen Bereiches erfährt. Die geistigen Anlagen bei der Menschheit dienen meist niederen Zwecken, sie trennen" sich von ihrer eignen Wurzel und verfolgen eigne

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D a s Zusammenwirken von Erkennen und L e b e n .

Wege, welche oft den höheren Zielen schroff widersprechen, der Gesamtstand der Menschheit ist eine Halbheit, ein unsicheres Schwanken zwischen Guten und Bösen, eine Stätte trügerischen und ungerechten Scheins; das gilt nicht nur für die Individuen, das gilt auch für das Ganze des geschichtlichgesellschaftlichen Lebens. So scheinen die Hemmungen den Forderungen weit überlegen, von denen die Menschheit einen Sinn und Wert ihres Lebens erwartet. Diese widerspruchsvolle L a g e fordert eine deutliche Entscheidung über das Ganze des Lebens: hat das Weltleben etwas unternommen, das seine K r a f t übersteigt und an dem es schließlich scheitern muß, oder erklimmt die B e w e g u n g unter Eröffnung neuer K r ä f t e und weiterer Zusammenhänge eine neue Stufe und kann sie zugleich dem Menschen einen neuen Stand verleihen? Dies letztere ist die Überzeugung der Religion; sie kann diese Überzeugung nicht rechtfertigen, ohne einen neuen Weltanblick zu eröffnen und das Geistesleben auf eine festere Grundlage zu stellen; auch das Erkennen e m p f ä n g t damit neue A u f g a b e n ; es kann sich nicht der Aufgabe entziehen, der Naturordnung ein neues Lebensgefüge entgegenzusetzen, es muß die Ideen der Einheit, der Ewigkeit, der Innenwelt als leitende Mächte verstehen und dafür das Vermögen der Phantasie und des Glaubens aufbieten, der freilich die kirchliche Form überschreiten muß. Demnach zeigt das menschlichgeistige Leben drei Hauptstufen: wir haben eine entwerfende und grundlegende, eine begrenzte und gehemmte, eine kämpfende und überwindende A r t des Lebens anzuerkennen. Diese Stufen enthalten eigentümliche Bewertungen und Antriebe auch für das Grundgefühl des Lebens; gegen den anfänglichen Optimismus erhebt sich mit scharfen Waffen der Pessimismus; nur ein A u f s t i e g des Lebens kann über ihn hinausführen, der im A k tivismus der Gesinnung einen A u s d r u c k findet. So zeigt das menschliche Leben vielfach zusammenstoßende Bewegungen; zugleich verlangen auch die früheren Stufen ein Recht. D a mit erscheint das Weltganze und mit ihm das menschliche Leben nicht als eine Stätte reiner Vernunft, wozu manche Denker Eucken,

Erkennen und L e b e n .

2. Aufl.

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es machen möchten, sondern als ein weltgeschichtliches Drama, in dem ein harter K a m p f zwischen höherer und niederer A r t im Gange ist, und das mit seinen kosmischen Größen und Mächten über den menschlichen Bereich hinausführt; d a ß aber der Mensch an einem solchen W e t t k a m p f teilzunehmen v o n der höheren Macht berufen ist, das gibt seinem Leben und Streben eine unermeßliche Spannung, das stellt auch dem Erkennen hohe Aufgaben, die eines festen Zusammenhanges mit einem tiefer begründeten Leben bedürfen. So sehen wir, wie heute zum A u f b a u einer selbständigen Gedankenwelt mannigfache Seiten und Stufen zusammenwirken, und wie wichtig es ist, jeder von ihnen ihre besondere A u f g a b e zu geben, zugleich aber müssen wir anerkennen, d a ß jene Gedankenwelt beim Menschen unter besonderen Bedingungen steht und dadurch eigentümlich gestaltet wird. Immer aber bleibt der Hauptgedanke das Bestehen und Wirken eines selbständigen Gesamtlebens gegenüber dem Nebeneinander der sinnlichen N a t u r und der Vermengung des menschlichen Daseins. Diese Frage duldet kein Ausweichen, von dieser Stelle muß ein jeder über Ja oder Nein entscheiden.

d) Die Forderung einer Kritik unseres geschichtlichen Besitzes. Unser Ausgehen von einer selbständigen Geisteswelt gestattet es, den geschichtlichen B e f u n d des gemeinsamen Lebens sowohl als eine Tatsache unbefangen anzuerkennen, als ihn auf seinen Wahrheitsgehalt zu prüfen. Die letzten Jahrhunderte stellten sich zur Geschichte grundverschieden; neigte das 18. Jahrhundert zu einer Unterschätzung der Geschichte, so dürfen wir bei dem 19. Jahrhundert v o n einer Überschätzung reden. Die jetzige Schätzung der Geschichte bedeutete sicherlich einen großen Gewinn für die Wissenschaft, diese h a t durch die Ausbildung eines geschichtlichen Verfahrens eine unbegrenzte Weite und Elastizität erreicht, wir vermögen mit voller Unbefangenheit, j a Liebe, alle geschichtlichen Bildungen zu umfassen, ihre Eigentümlichkeit und ihr R e c h t zu würdigen,

Die Forderung- einer Kritik unseres geschichtlichen Besitzes.

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auch die fernsten Zeiten und Gegenden unserem Verständnis zu erschließen. Arm muß gegenüber dieser reichen Fülle das erscheinen, was das 18. Jahrhundert dem Lebensbestand zuführte. Noch wichtiger als solche Weite war für das Erkennen das Streben, den vorgefundenen Bestand aus seinem Werden zu erklären und damit tiefer in das Gewebe der Dinge einzudringen. So war eine eingreifende Wendungunverkennbar. Aber der unbestreitbare Gewinn brachte auch schwere Gefahren, leicht konnte die unbedingte Befassung und Hingebung an die weite Welt der Dinge die Kraft der eignen Überzeugung schwächen, leicht auch die Ablehnung aller absoluten Wahrheit zu einem Relativismus führen, der sich den widersprechendsten Eindrücken und Anregungen willfährig hingibt. Diese Gefahren zeigt besonders greifbar die Behandlung des religiösen Gebietes. Die Leistungen der geschichtlichen Denkweise liegen auch hier viel zu deutlich vor Augen, um einer Erörterung zu bedürfen, ihre unermüdliche und.feinsinnige Arbeit hat das Bild reicher und farbiger, gesättigter und sachlicher gestaltet, sie hat gegenüber dem Streit der Parteien mehr Gerechtigkeit aufgebracht. Aber zugleich sind die Grenzen dieser Behandlung nicht zu übersehen, sobald die Frage auf den Inhalt und auf die Wahrheit einer Religion gerichtet wird. Eine Religion ist etwas anderes als ein politisch-nationales Gebilde, seine Bedingtheit und Mängel können wir bereitwillig zugeben, ohne an ihm irre zu werden; aber so gewiß die Religion sich an alle Zeiten und an alle Völker wendet, so wenig kann sie sich mit geschichtlicher Tatsächlichkeit begnügen; für sie bedeutet die Anerkennung einer Relativität einen Verzicht auf Wahrheit; gelingt es ihr nicht, zu einer inneren Einheit und zu einem ursprünglichen Schaffen vorzudringen, so entscheiden schwankende Meinungen und Interessen; nur ein dem überlegenes Wahrheitsstreben kann Wertmaßstäbe einführen, höhere und niedrige Stufen scheiden, Hauptrichtungen herausarbeiten. Der Relativismus der Gegenwart ist nur von der Uberzeugung aus zu überwinden, daß i n uns ein den Bestrebungen und Einrichtungen der Menschen überlegenes geistiges Leben wirkt, ein Grundleben, das uns 6*

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Begründender Teil.

beherrscht und unser Streben richtet. Ein solches überlegenes Leben ist sowohl die Voraussetzung alles Strebens nach Religion als ihr höchstes Ziel, ohne ein schaffendes Gesamtleben, das als eine Eröffnung höherer Macht in uns wirkt, droht die Religion zu einer menschlichen Einbildung zu sinken und alle Fülle geschichtlicher Leistungen ins Leere zu fallen: sie muß eine allumfassende und einzigartige Tatsache ursprünglicher Art bedeuten, sie h a t als Grundreligion gegenüber allen geschichtlichen Religionen die innere Einheit und die durchdringende K r a f t der Gesamtbewegung zu vertreten; erst an zweiter Stelle können wir dann die Stellung und die Bedeutung jener besonderen Bildungen anerkennen und darin eine hohe Aufgabe finden; nur von einem universalen Positivismus, nicht aus abstrakten Erwägungen, kann eine echte Kritik und Würdigung des gemeinsamen Besitzes ausgehen. Was aber für die Religion, das gilt auch f ü r den ganzen U m f a n g des geschichtlichen Lebens. Wir befinden uns heute in einer verworrenen Lage, welche dringend einer Klärung und Weiterführung bedarf. Die Menschheit der Gegenwart kann sich selbst nicht als eine Einheit fassen und ihrer Art und Lage voll bewußt werden, ohne sich bei der geschichtlichen Lage vor schweren Problemen zu finden. Die überkommene Lebensführung erscheint uns viel zu sehr an zufällige und angreifbare Vorgänge gebunden, wir fordern mehr Weite und Freiheit; zugleich befreien wir uns im Verhältnis der Völker von manchen Vorurteilen, die Kulturgruppen treten einander näher und teilen gegenseitig ihre Probleme; damit wird die überkommene geschichtliche Lebensgestaltung der Menschheit zu eng, wir verlangen eine übernationale, rationale und kritische Denkweise, die den Menschen auf sein eigenes Vermögen stellt und seine Tätigkeit möglichst selbständig gestaltet; alle Weltteile zeigen ein darauf gerichtetes Streben. Aber nun wird es schwierig, uns mit dem geschichtlichen Bestände auseinanderzusetzen, die gegenwärtige Erweiterung des geistigen Horizontes kann nach verschiedenen Richtungen wirken: einerseits sind wir bereit, alles Wertvolle der Zeiten und Lagen uns anzueignen und für unser Leben zu verwerten,

Die Forderung einer Kritik unseres geschichtlichen Besitzes.

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andererseits neigen wir zu einem Verhalten, welches nach A r t der Aufklärung nach dem eignen Maß alle Erscheinungen mißt und beurteilt, dabei aber leicht unter die Herrschaft eines freischwebenden und gehaltlosen Verstandes gerät So unterund sich überwiegend an die Verneinungen hält. liegt die heutige Menschheit vielem Schwanken, ihre Bildung verwendet zu viele überkommene und gelehrte Größen und Schätzungen, sie verliert dadurch die Ursprünglichkeit und U n m i t t e l b a r k e i t des Schaffens, wir haben uns fortwährend mit geschichtlichen Daten und Zurückblicken auseinanderzusetzen und müssen uns selbst erst mühsam suchen; im Gegensatz dazu möchte ein anderer Lebensstrom allen Zusammenhang m i t der Vergangenheit aufgeben und nur die unmittelbare Gegenwart gelten lassen; denken wir nur an die harten Kämpfe, welche j e t z t das Gebiet der Erziehung zu führen hat. Dieser Zwist zwischen einer gebundenen Vergangenheit und einer leeren Augenblickshilfe ist nur zu schlichten, wenn wir mit der prinzipiellen Wendung, welche wir vertreten, den Menschen als Geisteswesen über das Dasein hinausheben, ihn vom P u n k t e ablösen und eine selbständige Geisteswelt als den festen Grund und unentbehrlichen Halt alles geistigen Lebens anerkennen; nur eine solche wesenhafte Geistigkeit kann den reichen weltgeschichtlichen Befund auf J a und Nein prüfen, das Bloßzeitliche abstreifen, durch das Zeitliche hindurch bleibende und ursprüngliche Wahrheiten erringen, es gilt das nurgeschichtliche Dasein auf ein übergeschichtliches Wirken aufzutragen und dadurch das Ganze umzuwandeln. U m in dieser R i c h t u n g das rechte Verhältnis zum geschichtlichen B e s t a n d zu gewinnen, müssen wir ein ideales Gesamtbild der Wirklichkeit entwerfen und daraus bestimmte Forderungen stellen, die Hauptmöglichkeiten erwägen, vom Ganzen aus zu den einzelnen Leistungen fortschreiten; nur das kann eine K r i t i k des geschichtlichen Befundes liefern, welche den individuellen Meinungen und Schätzungen und den Gegensätzen der Parteien überlegen ist. Wir haben dabei deutlich auseinanderzuhalten, was der Grundbegriff des

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Begründender Teil.

Beisichselbstseins der Wirklichkeit fordert, und was die weltgeschichtliche Lage der Menschheit an Wirkungen und an Hemmungen aufweist; schon diese Scheidung sichert uns gegen die abstrakte Fassung der Aufklärung mit ihrem Intellektualismus. Es gilt die verschiedenen Möglichkeiten und Wege der Hauptgebiete zu untersuchen, die Hauptrichtungen gegeneinander abzuwägen, in der Religion z. B. Gesetzesreligionen und Erlösungsreligionen als Lebensmöglichkeiten zu verfolgen. Dann aber haben wir uns mit der geschichtlichen Leistung zu befassen und zu prüfen, wie weit sie der prinzipiellen Forderung entspricht, und ob sie eine individuelle Art bringt, welche den Allgemeinbegriff der Religion überschreitet. Die Geschichte bedeutet gegenüber dem Begriff nicht nur ein Weniger, sondern auch ein Mehr, nur beides zusammen führt über den Gegensatz hinaus zu einer lebendigen Tatsächlichkeit. Ein Übergeschichtliches ist unentbehrlich, um die geschichtliche Leistung zu durchleuchten und ihren Gehalt zu prüfen. Von dieser Denkweise aus sind die Grundzüge der Geschichte, sind namentlich die Lebenszusammenhänge (Syntagmen) daraufhin zu prüfen, wie weit sie den Allgemeinbegriff überschreiten: wir müssen untersuchen, was sie an Eröffnungen bringen, Anweisungen und Programme genügen dafür nicht; nur eine Verbindung durchgehender Lebensmächte und schaffender Persönlichkeiten führt hier weiter. Schließlich kommen wir immer auf eine positive Tatsache, aber das Positive darf uns nicht ins Blinde und Zufällige fallen, wenn es eine lebenserhöhende Macht ausüben soll.

III. Ausführender Teil. a) Folgerungen und Ausführungen. 1. Folgerungen für die Stellung der Philosophie. Unsere Fassung des Verhältnisses von Erkennen und Leben stellt die Philosophie eigentümlich im Ganzen des menschlichen Strebens. Hier erscheint sie nicht als eine kühle Beobachterin neben einem Leben, das unabhängig von ihr verläuft und erst nachträglich Licht empfängt, sondern hier teilt sie die Bewegung zu einem Beisichselbstsein der Wirklichkeit, zur Erringung einer Ursprünglichkeit des Lebens, sie hilft das Leben bilden und weiterführen; wie könnte sie das aber, wäre sie nicht der Gesamtbewegung eng verbunden, und würde sie nicht von dieser getragen und getrieben? So steckt in der Bewegung der Philosophie eine gewaltige Energie, in der Arbeit des Erkennens fand das Leben nicht schon Gegebenes vor, sondern es gewann mehr Gehalt und Selbständigkeit, die Leistungen der Philosophie waren unmittelbar, nicht nur nachträglich, Lebenswandlungen, Lebenserweiterungen, Lebenserhöhungen. Führende Geister waren daher nur solche, in denen frisches Leben hervorbrach und sich neue Kräfte entfalteten; so waren sie Bahnbrecher, Eroberer im Reich des Geistes, ihr Wirken tiefgehender und dauerhafter als das der Eroberer in der sinnlichen Welt. Wenn sich den Denkern selbst ihr Werk nicht selten als eine Versetzung in ruhige Betrachtung, in affektloses Anschauen ausnahm, so war eine solche Ruhe dem stürmischen Weltgetriebe erst mühsam abgerungen, und sie hatte sich ihm gegenüber immerfort aufrechtzuhalten; das bedurfte fortdauernder Kraftaufbietung. So trug, was zunächst nur Ruhe schien, in sich eine Uber-

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Ausführender Teil.

windung und zugleich eine starke Bewegung, nur war diese Bewegung nach innen gekehrt. Ist z. B. in der Gedankenwelt Spinozas, dieses Helden der Kontemplation, eine solche Bewegung zu verkennen, und erzeugt sie nicht dauernd frische K r ä f t e ? Die Ruhe des Sieges und die Ruhe der Kampflosigkeit sind grundverschiedene Dinge. Daß das Bedürfnis einer Konzentration der Arbeit die Denker meist zur Zurückhaltung vom Markte des Lebens zwang, das darf nicht übersehen lassen, wie viel K r a f t und Glut ihre Arbeit durchströmte, und wie gewaltige Umwälzungen sie gebracht hat. So zeigt es Plato, so Descartes, so Kant. J e nach dem Verhältnis zum Leben ergibt sich eine durchgreifende Scheidung der Denkarbeit selbst wie auch der einzelnen Denker. Bei der Philosophie pflegen wir Weltwissenschaft und Schulwissenschaft auseinanderzuhalten. Aber zur Weltwissenschaft macht sie nicht, daß sie sich mit mit dem Weltproblem befaßt, denn dies kann in schulmäßiger, enger, voreingenommener Weise geschehen, sondern daß sie einen inneren Zusammenhang mit dem Ganzen des Geisteslebens wahrt und dieses durch ihre Arbeit weiterführt. Der P u n k t aber, wo das geschieht, und die Art, wie es geschieht, bekundet am meisten die Eigentümlichkeit sowie die Größe des Denkers. Verliert die Philosophie jenen Zusammenhang, und stellt sie sich auf bloßes Wissen, Scharfsinn und Uberdenken, so mag sie nach besonderen Richtungen hin Schätzbares leisten, aber für das Erkennen in unserem Sinne trägt sie keine Frucht, bei der Ablösung des Denkens vom Leben und dem Wegfall seiner verbindenden K r a f t wird sie entweder in lauter individuelle Meinungen auseinandergehen oder sich nach Art von Epigonen an einen schaffenden Denker klammern, alles in ihn hineinlegen, alles aus ihm herausdeuten. Daraus erwächst eine Scholastik, sie ist eine Gefahr aller Zeiten, nicht nur des Mittelalters. Unsere Fassung stellt auch das Verhältnis der Denker zu ihrer Zeit in ein eigentümliches Licht, das die verschiedenen Seiten der Sache zu ihrem vollen Rechte führen möchte. Der Denker steht innerhalb der Bewegung der Menschheit, seine

F o l g e r u n g e n und Ausführungen.

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U m g e b u n g stellt ihn in eine eigentümliche geistige Atmosphäre und fördert sein Wahrheitsstreben. Ist ein K a n t an der Stelle Plotins, ein Hegel an der Stelle Descartes' d e n k b a r ? Aber solcher Zusammenhang macht den Denker keineswegs zu einem bloßen Dolmetsch der Zeit, nur die intellektualistische Evolutionslehre eines Hegel konnte die Philosophie als »ihre Zeit in Gedanken gefaßt« verstehen. Denn die Denker brachten nicht bloß zum Bewußtsein, was im Grunde schon vorhanden war, sondern sie hoben die Sache auf eine wesentlich höhere Stufe, mit der E n t w i c k l u n g ihrer Selbständigkeit haben sie der Zeit e t w a s Neues gebracht; nicht was die Zeit schon besaß, sondern was sie bedurfte, ward ihnen zur Hauptsache. Wenn Hegel den einen großen Mann nennt, der, was eine Zeit will, »ausspricht, ihr sagt und vollbringt«, so ist dem entgegenzuhalten, daß eine Zeit überhaupt keinen klaren und eignen Willen hat, sondern d a ß sie zwischen Wollen und Nichtwollen, zwischen B e j a h e n und Verneinen unablässig s c h w a n k t ; erst das Denken und Wollen eines aus innerer Notwendigkeit schaffenden Geistes entreißt sie solcher Halbheit. So haben die Denker ein zwiefaches Verhältnis zur Zeit, das der Verbindung und des Gegensatzes, sie stehen in ihr und zugleich über ihr, sie führen sie weiter und sie widerstehen ihr, sie schöpfen aus ihr und sie bekämpfen sie; je mehr ihr Wirken vertritt und verficht, was der Zeit innerlich not tut, desto härter stoßen sie meist mit ihrer Oberfläche zusammen. Gerade weil Plato im Innersten seiner A r t griechischer ist als Aristoteles, mußte er seiner U m g e b u n g weit schroffer entgegentreten. Voltaire w a r ein treuerer Ausdruck seiner Zeit als irgendein anderer, und mit seiner Zeit ist er ohne tiefere Spuren dahingegangen; Spinoza w a r fremd in seiner eignen Zeit, und von ihm entsprangen bleibende Wirkungen. A u c h pflegt ein leitender Denker, w a s er an Zeitbestrebungen aufnimmt, ins Individuelle zu gestalten; ohne das erreicht er nicht die volle Durchbildung, die er dem Leben und Streben geben möchte. Wie jeder große Mann, so ist auch jeder führende Denker nicht ein bloßer Vertreter eines Prinzips, nicht ein Träger eines »imperativen Mandats«, sondern eine unvergleich-

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Ausführender Teil.

liehe Individualität, eine inkommensurable Größe. Aber diese Individualität ist keine Zufälligkeit, hinter ihr steht ein gemeinsames Suchen und sucht in ihm seine Vollendung; so kann jene zu allen wirken und die übrigen nach sich ziehen. Die Voraussetzungen der Reformation waren ähnlich, aber wie verschiedenes haben Luther, Zwingli, Calvin aus ihrer geistigen Art daraus gemacht! Solche Stellung und Bedeutung der Individualität verbietet es zwingend, die weltgeschichtliche Bewegung in das Schema einer Konstruktion zu pressen. Unsere Fassung der Philosophie erklärt auch das sonst kaum begreifliche Auseinandergehen in ihrer Schätzung, den unablässigen Streit über ihren Wert. Wurde einerseits die Philosophie als die Königin der Wissenschaften, ja als die überragende Höhe des ganzen Lebens gefeiert, so galt sie auf anderer Seite als überflüssig, schädlich, unmöglich; vornehmlich gab die Tatsache den Einwendungen Nachdruck, daß die Arbeit der Philosophie bei den H a u p t f r a g e n die ganzen Jahrtausende hindurch keine sicheren und allgemein anerkannten Ergebnisse geliefert, daß der Verlauf der Geschichte hier scheinbar gar keinen festen Bestand aus den Zweifeln und Kämpfen herausgearbeitet hat. Oder sind nicht die Unterschiede der Denkweisen, wie sie die Sophisten und Sokrates, Plato und Aristoteles, die Stoiker und die Epikureer entzweiten, noch Gegenwartsfragen, entzünden sie nicht immer von neuem Streit? Aber zugleich ist klar, daß Zeiten, welche die Philosophie möglichst von sich weisen, geistig zu sinken, namentlich ins Enge und Starre zu geraten pflegen; das h a t im besonderen die Religion wiederholt zu schwerem Schaden erfahren; auf die Dauer kann man doch ohne Philosophie nicht auskommen; so ist sie, oft zurückgewiesen, immer von neuem zurückgeholt. Das alles gewinnt ein helleres Licht bei der Einsicht, daß die H a u p t a u f g a b e der Philosophie die Umwandlung des Lebens, seine Erhebung zu vollem Beisichselbstsein und damit zu einer echten Wirklichkeit ist. Derin dann wird die Verschiedenheit der Schätzung, auch das Ausgehen von verschiedenen Punkten, die Verfolgung verschiedener Richtungen wohl verständ-

Folgerungen und Ausführungen.



lieh, ohne daß darüber das Ganze verlorengeht oder nur eine Sache subjektiven Geschmackes wird. Die Arbeit verläuft nicht ins Leere, alle ihre Verschiedenheit verfolgt ein gemeinsames Ziel. Was aus dem Leben und seinem Gehalt wird, ist schließlich wertvoller als alles, was es nach außen hin leistet. Daß in Wahrheit die Philosophie durch jene Hebung des Lebens über die Enge und Kleinheit des Menschen gewaltigste Umwandlungen gebracht, daß sie aufrüttelnd, befreiend, erneuernd gewirkt hat, das zeigt, wie der Gesamtverlauf der Geschichte, so jede einzelne Epoche. Die verschiedenen Zeiten suchten verschiedenes bei der Philosophie; aber mochte ein Plato eine Versetzung in ein überlegenes Gedankenreich beharrenden Seins und lauterer Schönheit erstreben, oder ein Aristoteles eine Organisation des gesamten Gedankenreiches, einen Sieg des logischen Vermögens über das wirre Chaos der Dinge vollziehen, oder mochte die Moral eine volle Selbständigkeit und einen unbedingten Selbstwert gewinnen, wie bei den Stoikern, oder das religiöse Verlangen sich an der H a n d der Philosophie von der Enge des Menschen befreien und aus der Erhebung in das AU-Eine eine Seligkeit schöpfen, wie bei Plotin; überall war der von der Philosophie vertretene Aufstieg des geistigen Lebens zur Selbständigkeit eine Quelle einer Erneuerung und ein Antrieb zur Aufbietung höchster K r a f t . Was aber die einzelnen Stellen an Aufgaben und Bewegungen brachten, das verschwand nicht mit der besonderen Zeitlage, sondern es vermochte sich von ihr abzulösen und als ein Lebensfaktor dauernd zu behaupten. Das platonische und das stoische System sind für uns veraltet, aber jugendlich und immer neuer Wirkung fähig bleibt die platonische Denkart, bleibt die stoische Denkart, d. h. aber die Art des Lebens im Denken. Nunmehr ist leicht begreiflich, warum das Leben stockt und erstarrt, wenn es alle Philosophie aufgibt. Denn es verliert damit alle Möglichkeit, selbständig gegenüber dem Menschen zu werden, es wird damit zwingend an die Enge seines Gesichtskreises und die Zufälligkeit seiner Zwecke gebannt. Nur deshalb läßt sich die Philosophie trotz ihres befreienden

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Ausführender Teil.

und erhöhenden Wirkens immer wieder verwerfen, weil jene Erhöhung nicht mit Händen zu greifen, nicht sinnfällig vor Augen zu stellen ist. Aber wenn sie sich übersehen und für nicht vorhanden erklären läßt, so liegt die Schuld nicht an der Philosophie, sondern an dem, der für innere Bewegungen kein Auge hat. Mit der Religion, der Kunst, der Moral steht es nicht anders, auch sie teilen die Gefahr, für überflüssig erklärt und schlechtweg geleugnet zu werden. Aber was eine Schwäche im Verhältnis zum Menschen, das ist in der Sache eine Größe und ein Stolz; alles Hohe drängt sich nicht auf, es verlangt ein Entgegenkommen, eine Hingebung, ein Erwachen inneren Lebens. Wie damit das Ganze der Philosophie einen positiven Wert erhält, so gewinnen von hier aus auch die einzelnen Denker durch allen Streit der Begriffe hindurch ein freundlicheres Verhältnis. Man kann die Formulierung der Gedanken ablehnen, aber zugleich das Aufsteigen eines neuen Lebens anerkennen. Der lehrhafte Vortrag Spinozas reizt eben an den H a u p t p u n k t e n zu entschiedenem Widerspruch, im besonderen ist der so stark betonte Monismus in Wahrheit nur ein Schein, es zerfällt das System bei schärferer Prüfung in Naturalismus und Mystik. Aber die innere Befreiung und Erweiterung, die sich durch jenes Lebensarbeit vollzog, kann dabei in allen Ehren stehen. So erwächst eine zwiefache Art der Betrachtung und der Beurteilung: die eine von der lehrhaften Formulierung, die andere von dem belebenden Geiste aus. Diese Zweiheit erklärt das merkwürdige Schicksal, im besondern den Wechsel der Schätzung, den manche Gedankenwelten erfuhren. Ein Wolff mit seiner systematischen und korrekten Arbeit war der Liebling seiner Zeit und ein gefeiertes Mitglied aller europäischen Akademien; den Mangel an schaffendem Geist und an durchgreifender Lebenserhöhung sahen die gelehrten Herren nicht; als man ihn entdeckte, schlug die Beurteilung um bis zur Ungerechtigkeit. Spinoza dagegen wurde nicht nur von den Strenggläubigen, sondern auch von den Gelehrten seiner Zeit leidenschaftlich abgelehnt, ein religiös so unbefangener Forscher wie Bayle nannte seine Phi-

Folgerungen und Ausführungen.

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losophie einen kläglichen Widersinn (Gallimathias pitoyable), und eben dieser Mann wurde für größte deutsche Dichter und Denker ein Jungbrunnen frischen Lebens. Ein solches fortquellendes Leben ist freilich nur da zu entdecken, wo es von Haus aus wirksam ist, und es schrumpft, nach solchem Maßstab gemessen, die Geschichte der Philosophie äußerlich arg zusammen; was aber verbleibt, das gewinnt um so mehr Gehalt und um so mehr belebende Kraft. — So ergibt überall unsere Fassung neue Durchblicke und auch neue Aufgaben. 2. Folgerungen für die Erkenntnisarbeit. Diese Sachlage, im besondern diese Abhängigkeit des Denkens und damit auch der Erkenntnisarbeit vom Leben, wird durch die Gesamterfahrung der philosophischen Arbeit bestätigt, denn sie zeigt durchweg die Gestaltung der Gedankenwelt von der Eigentümlichkeit des Lebensprozesses abhängig, der in ihr zur Entwicklung kam und in ihr seine Höhe erreichte. Wo lag der Kern des Lebensprozesses, wie war sein Verhältnis zur Umgebung, welche Aufgaben entstanden daraus, das zusammen gab auch dem erkennenden Denken seine Richtung und ließ es sehr Verschiedenes suchen. So standen im Streit der Geister nicht sowohl Theorien als Lebensfassungen gegeneinander, die Begriffe und Lehren führten nur aus, was im Grunde schon entschieden war. Locke und Leibniz stießen nicht deswegen schroff zusammen, weil sie denselben Tatbestand verschieden deuteten, sondern der Tatbestand selbst war grundverschieden, sie trennten sich schon im Ausgangspunkt. Den Streit der Philosophen machte namentlich das unfruchtbar, daß er das Problem bei den Wirkungen aufnahm, statt auf die Ursachen zurückzugehen; so sprach man verschiedene Sprachen und redete in der scheinbaren Berührung in Wahrheit aneinander vorbei. Demnach konstatieren wir nur eine durchgehende Tatsache, wenn wir die Abhängigkeit des Erkennens vom Leben behaupten. Aber daß dieses mit voller Deutlichkeit anerkannt und in den Vordergrund gerückt wird, das verändert die Lage. Denn nun gilt

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Ausführender Teil.

es, das Problem zurückzuverlegen und die Beweisführung umzugestalten, nun muß Leben gegen Leben seine Überlegenheit, seine Selbständigkeit, seine Ursprünglichkeit erweisen. Es eröffnet sich damit ein Ausblick in eine reiche Bewegung: Wirklichkeiten kämpfen mit Wirklichkeiten; welche wird die anderen unter sich bringen und ihre Art durchsetzen? Jedes philosophische System hat nunmehr vor allem über sein Verhältnis zum Leben Rechenschaft zu geben, es muß den Lebensprozeß aufweisen und rechtfertigen, in dem es wurzelt und dem es seine Richtung entnimmt. Es wird damit alles unzulänglich, was diese Forderung ablehnt, und es wird nunmehr der Hauptquell des Dogmatismus darin erkannt, eine besondere Art des Lebens vorauszusetzen und sie aller Erörterung zu entziehen. Im besondern wird damit alle freischwebende Erkenntnislehre, welche aus kluger Reflexion glaubt einen Weg zur Wahrheit finden zu können, zu einem unfruchtbaren Unterfangen. Ein solcher neuer Inhalt fordert auch ein eigentümliches Verfahren, wir mußten eine noologische Methode von d e r psychologischen abheben; es galt dabei die beiden Fragen deutlich zu scheiden, was das Geistesleben bei sich selbst an Inhalt entwickelt, und wie das Gewonnene beim Menschen der Erfahrung zur Wirkung gelangt. Unsägliche Verwicklung und Irrung ist durch eine Vermengung beider Betrachtungsweisen entstanden. So unterliegt z. B. das geistige Leben bei uns Menschen der Zeit, erst in allmählicher Weiterbewegung, ja durch Gegensatz und Kampf hindurch kommt es zu voller Erschließung. Nun und nimmer aber sei deshalb das Geistesleben selbst als ein absolutes Werden, als ein bloßer Prozeß verstanden und behandelt; damit würde die Wahrheit ein Werk der Zeit, das wäre aber f ü r sie eine innere Zerstörung. Andrerseits t r a u t der Mensch sich selbst zu viel zu, wenn er innerhalb seines Bereiches dem Erkennen sofort einen absolut festen Ausgangspunkt geben will. Denn freilich muß im Geistesleben etwas schlechterdings Festes und Ursprüngliches wirken, der Mensch aber kann sich dem nur durch Arbeit und Mühe, durch Er-

Folgerungen und Ausführungen.

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fahrung und Enttäuschung hindurch allmählich und langsam nähern, er gerät in Gefahr, die Bewegung ins Stocken zu bringen, wenn er innerhalb jenes Bereiches einen Ausgangs- oder einen E n d p u n k t für schlechthin sicher und abgeschlossen erklärt und alles übrige daran hängt. So ist überhaupt, was f ü r das Geistesleben selbst eine unbestreitbare Tatsache bedeutet, für den Menschen ein hohes und fernes Ziel. Tatsache und Aufgabe miteinander gegenwärtig zu halten, über dem Suchen nicht den Besitz und über dem Besitz nicht das Suchen aufzugeben, das ist eine Hauptbedingung des Gelingens. Unsere noologische Behandlung h a t sich vom Ganzen des Geisteslebens her auch in die einzelnen Gebiete zu erstrecken, diese haben ihr Recht zu erhärten und ihren näheren Inhalt zu finden, indem sie ihre Stellung und Leistung innerhalb jenes Ganzen erweisen. Nur das verleiht ihnen Gewißheit und entwindet sie der Zufälligkeit menschlicher Lagen und Launen. Wollte man z. B. die Religion auf ein Bedürfnis des Menschen, wie er beschaffen ist, begründen, seiesdes Individuums, seiesder Gesellschaft, so würde man seinen jeweiligen Stand das Bild der Wirklichkeit beherrschen lassen, man bliebe auch bei größter äußerer Weite innerlich an diesen Stand gebunden, und man wäre wehrlos gegen den Wechsel menschlicher Lagen und Wünsche. Völlig anders liegt die Sache, wenn sich der Erfahrung der Religion erweist, daß sich unserm Geistesleben nur durch Erschütterung und Verneinung hindurch eine Lebenstiefe eröffnet, die den Allgemeinbegriff des Geisteslebens überschreitet und damit in diesem eine Abstufung vollzieht. Nur das ergibt eine gemeinsame Erfahrung, welche die Zufälligkeit der Individuen überschreitet, von hier aus wird die Religion nicht mehr ein bloßes Erzeugnis seelischer Lagen dünken, eine Fassung, welche sie nicht nur auf besondere Kreise beschränkt, sondern sie innerlich erniedrigt und sie dem Pathologischen naherückt. Alle Religion enthält einen Kontrast zwischen alter und neuer Welt — eine immanente Religion ist ein Unding —, aber deshalb ist sie nicht eine bloße Medizin für Kontrastnaturen, die an innerer Zerrissenheit leiden. Seelische Zerrissenheit und Abstufung im Geistesleben sind grundverschiedene Dinge;

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Ausführender Teil.

Widersprüche im subjektiven Seelenstande würden schwerlich eine Wendung zur Religion bewirken, wenn nicht eine religiöse Atmosphäre die Individuen schon umfinge; andrerseits kann es tiefreligiöse Naturen geben, deren Lebensarbeit die schroffen Gegensätze des menschlichen Daseins vollauf gegenwärtig sind, die aber darüber nicht in jene subjektive Aufregung und Zerrissenheit geraten; auch aus dem Lebensbilde Jesu spricht bei aller Bewegung eine sichere Ruhe und Freudigkeit. So ergibt es leicht ein inneres Sinken, wenn die Wirkung der Religion auf den Menschen vornehmlich in einzelne plötzliche und auffallende seelische Akte gesetzt wird, statt vom Kern der Lebensarbeit aus unablässig alles Wirken und Schaffen zu durchdringen. — Die Kunst pflegt dabei entgegengesetzt behandelt zu werden: läßt man die Religion aus kontrastierenden Seelenlagen, so läßt man jene aus harmonischen entspringen, man begrüßt sie als ein Gleichgewicht sinnlicher und geistiger Elemente. Aber in der Beschränkung auf die Seelen der Individuen kann das nie ein geistiges Schaffen, ein Wirklichkeitsbilden erzeugen, das für das Ganze der Menschheit Wert hat, das erhöhend und veredelnd auf den Gesamtstand wirken könnte. Auch wären dann nicht der schwere Ernst, die gewaltige Aufregung, die tiefen Erschütterungen verständlich, welche die Höhe des künstlerischen Schaffens mit sich brachte. Wie die psychologische Erklärung die Religion zu düster und trübselig nimmt, so pflegt sie die Arbeit der Kunst zu vergnüglich und oberflächlich zu fassen. Auch die Kunst hat ihre Größe und ihre Wahrheit darin, eine Forderung des Geisteslebens zu erfüllen und zugleich dieses weiterzubilden. Die noologische Methode möchte durchgängig ein Gefüge des Geisteslebens aus der vorgefundenen Vermengung herausheben und das Leben von der Wirkung in die Ursache versetzen; so wird sie unmittelbar zu seiner Erhöhung wirken; mit jener Durchleuchtung und Befreiung des Geisteslebens wird sie dem vorhandenen Stande gegenüber zu einem Vorbilde, einer Aufforderung, einem Antrieb. Das Höhere ist nicht nur Hoffnung, Wunsch, Ideal, es ist nicht vom leeren Intellekt

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Folgerungen und Ausfuhrungen.

entworfen oder gar hinzugedacht, sondern als tiefster Quell unseres Lebens ist es eine in uns wirksame Macht. Für den nächsten Lebensstand mag das Neue zunächst als ein Sollen erscheinen, aber das Sollen kann in diesen Zusammenhängen alles, was ihm sonst an Gebundenem, ja Knechtischem anhängt, abschütteln und überwinden, weil hier das Höhere von eigner Tat getragen wird und als lebendige Kraft gegenwärtig ist; vor dem Sollen muß immer ein ursprüngliches Wollen stehen, um ihm die nötige Freiheit zu geben. Wir reden heute viel von Werturteilen, aber ein gutes Recht und eine bewegende Kraft haben diese nur als Ausdruck eines in uns wirkenden Lebens; nur sofern dies neue Leben zu unserem Selbst geworden ist, kann es aufrüttelnd und erhöhend wirken; bloße Betrachtung und Beurteilung kann nicht viel heben und helfen. Steigert so das noologische Verfahren die Bewegung unseres Lebens, so treibt sie zugleich zu mehr Selbstbesinnung und muß sie zu vollerer Anerkennung der geistigen Leistung wirken, die in unserer Arbeit steckt; sie wird dadurch nicht nur im einzelnen vieles klären, sondern auch das Gesamtbild der Wirklichkeit mehr ins Ganze und Innerliche heben. Liegt es überhaupt in der menschlichen Art, rasch zum fertigen Ergebnis zu eilen, so hat die Neuzeit mit Ihrem Drängen zur Leistung und ihrer Beschleunigung des Lebenstempos das weiter gesteigert; so neigt sie besonders dahin, über dem Was das Wie zu vergessen, über den Erfolgen der Arbeit ihren Träger außer Augen zu lassen. Wo aber, wie beim Erkennen, das Ganze gewürdigt werden soll, da muß auch diese Seite voll in Anschlag kommen, denn sie bestimmt wesentlich den Charakter des Ganzen. Es entsteht damit die Aufgabe einer Selbstkritik der Erkenntnisarbeit, eines reduktiven Verfahrens, die Aufgabe, zu prüfen, ob was als Ergebnis auftritt, zu der Art der Arbeit stimmt, die zu diesem Ergebnis führte; stimmt beides nicht zusammen, so wird das Ganze gefährdet. Wie weit das auseinandergehen kann, und wie zwingend solches Auseinandergehen über die gewöhnliche Fassung hinaustreibt, das habe ich in meiner »Einheit des Geisteslebens« an den Hauptrichtungen des modernen Strebens näher zu zeigen versucht. Der E u c l c e n , Erkennen und Leben, a. Aufl.

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Ausführender Teil.

moderne Naturalist möchte die ganze Welt in Natur, N a t u r in der mechanischen Fassung, verwandeln, er muß dabei das Geistesleben zu einem Anhang des Naturgeschehens machen und sein Wirken ganz und gar die Ordnungen des Mechanismus teilen lassen. Aber die Arbeit, die zu solchem Ergebnis führte, stellt sich völlig anders dar. Da sie in der menschlichen Vorstellung ein weit abweichendes Bild vorfindet, so muß sie einen Kampf von Ganzem, zu Ganzem führen, den Boden für die eigne Überzeugung erst bereiten, die ersten Eindrücke umgestalten, ein Vorauseilen, Entwerfen, Nachprüfen üben, sie entwickelt in dem allen ein so vielschichtiges, nur durch ein überlegenes Denken zusammengehaltenes Gewebe, sie erweist so viel Selbständigkeit des Denkens, daß der Rahmen des Naturgeschehens damit völlig durchbrochen wird. Wer so die Natur behandeln, so mit seinem Denken ihr entgegentreten kann, der ist mehr als Natur. Der Denkende gehört auch zur Wirklichkeit, und ihr Bild muß auch ihn umfassen. So widerlegt die in ihrem geistigen Gefüge verstandene Naturwissenschaft am sichersten allen Naturalismus. — Ähnlich ergeht es den Versuchen, die Wirklichkeit in einen, wenn auch geistigen, so doch unpersönlichen Prozeß zu verwandeln. Denn was zum Kampf gegen die Enge des menschlich-persönlichen Lebens treibt, ist ein eignes Verlangen des Lebens, ist das Suchen eines weiteren und reicheren Beisichselbstseins; mündete der Prozeß nicht in ein solches ein, hielte ihn nicht eine überlegene Einheit zusammen und verwandelte ihn in ein Erlebnis, so würde die ganze Bewegung ins Leere zerrinnen. So belebt und vertieft sich durchgängig das Bild der Wirklichkeit, wenn das Hangen am Ergebnis nicht die bildende K r a f t vergessen läßt. Das alles kann nur gelingen, wenn die Tatwelt zunächst vom Dasein scharf abgehoben und in ihrem Beisichselbstsein rein erfaßt wird; ohne das entsteht kein Zusammenschluß zu einem Ganzen und keine Ausprägung eines Charakters. Aber wir sahen, daß die Scheidung keine völlige Trennung werden darf, daß die Tatwelt zu ihrer eignen Vollendung zum Dasein zurückkehren und sich mit ihm auseinandersetzen muß. Damit entsteht die Aufgabe, den Befund jenes Daseins unbe-

99 fangen zu prüfen, das aber kann nur geschehen, wenn er zunächst in voller Unabhängigkeit von der Tatwelt betrachtet, nicht von vornherein in ihrem verklärenden Lichte gesehen wird. An dieser Stelle ist der Empirismus mit seinem Drängen auf reine Erfahrung in gutem Recht gegenüber dem üblichen Rationalisieren und optimistischen Zurechtlegen des Erfahrungsbefundes. Bei solcher Umbiegung fehlt diesem die Stärke und Härte, die geistige Bewegung weiterzuführen, indem er durch seinen Widerstand neue Kräfte hervorruft und neue Wege erzwingt; viel Verworrenheit des Denkens nicht nur, sondern auch Mattheit des Handelns muß daraus erwachsen, daß dem Erfahrungsstande selber beigelegt wird, was erst überlegene geistige Tätigkeit aus ihm macht. Von zwei Punkten aus gilt es demnach zu arbeiten, es muß ein ernsthaftes Ringen von Tatwelt und Dasein entstehen, damit die geistige Welt dem Menschen ihre volle Eigentümlichkeit ausspreche. Jedoch sei das Zusammenwirken beider Stufen nicht als eine Zusammensetzung zweier Seiten verstanden, etwa so, daß die Tatwelt die Form, das Dasein aber den Stoff gewähre. Denn solche Zusammensetzung würde nie ein lebensvolles Ganzes erzeugen, ja die beiden Stufen könnten dabei innerlich nicht zusammenkommen. Vielmehr ist der Befund des Daseins auf den Boden der Tatwelt zu versetzen und d o r t sowohl in einen Widerstand als in einen Antrieb zur Weiterbildung zu verwandeln. Die Tatwelt ist nicht eine bloße Seite, sondern sie ist ein Ganzes des Lebens, das nichts außer sich duldet, aber sie ist ein Ganzes, das noch unfertig ist, und das seine Höhe erst in Berührung und Zusammenstoß mit dem Dasein erreicht. Solche Bedeutung des Daseins macht es zu einer H a u p t frage, wie sich seine Antwort zur Frage der Tatwelt verhält, ob und in welcher Weise es die entgegengehaltene Bewegung a u f n i m m t und weiterführt, oder ob es ihr einen starren Widerstand leistet und allem Versuche einer Durchleuchtung einen undurchdringlichen Rest entgegensetzt. Diese Frage wird sich vielfach verzweigen, sie erstreckt sich über die einzelnen Punkte hinaus auf das Gesamtverhältnis von Tatwelt und Dasein. Geht das ganze Dasein in die geistige Erhöhung ein, wenn 7*

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Ausführender Teil.

nicht mit einem Schlage, so doch in allmählicher Annäherung, oder behauptet es jener gegenüber eine eigne, ihr widerstehende Art, die der Lauf der Zeiten vielleicht eher schroffer als milder m a c h t ? Dort würde wie das Leben so auch das Erkennen sich ins Rationale gestalten, hier dagegen eine Irrationalität nicht zu überwinden sein. Wie es damit steht, das entscheidet nicht eine freischwebende Erwägung, sondern nur eine Ermittlung des Tatbestandes. Schon daß das Geistesleben sich bei uns nur in Losreißung und im Gegensatz entwickeln kann, zeigt eine besondere Lage; es scheint, daß eine Hemmung zu überwinden ist, und daß das nur allmählich geschehen k a n n ; weiter aber fragt sich, ob das Höhere dabei eine volle Unabhängigkeit erlangt, ob unser Bereich seine Existenzform nicht an das Niedere dauernd bindet. J a auch die Frage ist unabweisbar, ob das Höhere nicht oft zum Niederen zurückgezogen und in seinen Dienst gestellt wird; das würde eine schwere Stockung u nd Verkehrung ergeben, und diese würde wiederum ein Verlangen nach einer Gegenwirkung erzeugen. So erheben sich Möglichkeiten über Möglichkeiten; wie es mit ihrer Wirklichkeit steht, das kann nur die Erfahrung entscheiden; hüten wir uns, dabei eine bestimmte Lösung vorzuschreiben und nach Art der Aufklärung die glatteste und einfachste Lösung als die richtige, als die allein mögliche auszugeben; das heißt im Grunde nichts anderes als zum Maßstab der Wirklichkeit die Bequemlichkeit des Menschen machen und damit einem feineren Anthropomorphismus huldigen, der vielleicht gefährlicher ist als ein grober. Eine Positivität erscheint weiter in der weltgeschichtlichen Bewegung, die, wie wir sahen, nicht von vornherein einer sicheren Richtung folgt, die vielmehr erst durch Kampf und Gegensatz, durch Bejahung und Verneinung hindurch die Richtung zum Ziel zu suchen hat. Das Aufkommen und Zurücktreten geistiger Lebenssysteme, sowie auch das Streben, die verschiedenartigen Gebilde mit einem Ganzen des Lebens zu umspannen, enthält bedeutende Erfahrungen, Erfahrungen menschlichen Vermögens, aber auch menschlicher Schranken, durch alles Menschliche hindurch Selbsterfahrungen des Geistes-

Folgerungen und Ausführungen.

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lebens. Diese E r f a h r u n g e n h a t die Erkenntnisarbeit herauszuheben und für ihre Aufgaben zu nutzen, sie muß über die einzelnen Phasen hinaus eine Bewegung des Ganzen ermitteln, sie wird von da nach einer zeitüberlegenen und zeitumspannenden Gegenwart streben und von ihr aus, nicht von den Wogen der Zeitoberfläche, die Aufgabe der eignen Zeit verstehen. Alles zusammen zeigt deutlich, wo die Erkenntnisarbeit ihr Hauptgebiet zu suchen hat. Sie findet es nicht in der Natur, nicht im individuellen Seelenleben, auch nicht in begrifflicher Erörterung, sondern sie findet es in der übergeschichtlichen Innenwelt des Geisteslebens, in seinen Eröffnungen und Erfahrungen, seinem Ringen mit den Widerständen und seinem sich selbst Weiterbilden. Eine reiche Fülle von Wirklichkeit gilt es hier aufzudecken und anzueignen, die Bewegung der Geschichte bildet dafür den nächsten Angriffspunkt, aber sie hilft und fördert nur soweit, als sie in eine übergeschichtliche Beleuchtung gestellt, als ein Sichselbstsuchen des Lebens verstanden und auf ihren Ewigkeitsgehalt zurückgeführt wird. Hier liegt die größte Tiefe der Wirklichkeit, die dem Menschen erreichbar ist, hier liegt daher auch in J a und Nein der Ursprung der letzten Überzeugungen vom Sinne der Wirklichkeit und der Möglichkeit eines Erkennens. Die Geister wie die Zeiten scheidet dabei namentlich die Frage, ob das Geistesleben eine gegebene Größe ist, die nur nach außen hin sich in verschiedenem Maße b e t ä t i g t , oder ob die Bewegung und die Geschichtc in sein Inneres hineinreicht und die Geschichte sich damit in den Kern des Weltgeschehens erstreckt. Dieses müßte die Aufgabe des Lebens gewaltig steigern, die Erkenntnisarbeit aber noch mehr aus dem Rationalen ins Positive treiben. Wie es sich damit verhält, kann nur eine weitere Untersuchung zeigen; soviel ist gewiß, daß nur diese geschichtliche Fassung dem Leben eine volle Spannung und einen dramatischen Charakter gibt; ein solcher muß daher fehlen, wo entweder das Leben als beharrend, wie im Altertum, oder als ein physikalischer oder logischer Prozeß erachtet wird, wie überwiegend in der Neuzeit. Die christliche Welt gibt mit den anderen Religionen, und mehr noch als diese, unserer Wirklichkeit einen geschieht-

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Ausführender Teil.

liehen Grundcharakter, aber sie gibt ihn ihr in der besonderen kirchlichen Fassung, die vielen Neuern zu eng geworden ist. So viel ist gewiß, daß eine Erkenntnisarbeit, welche diese Probleme zurückschiebt oder sie nicht anerkennt, sich damit zur Unfruchtbarkeit verdammt. Wir sahen, daß hier zwei Fragen sowohl auseinanderzuhalten als zusammenzuhalten sind: die Frage nach dem Grundgehalt des Geisteslebens und die nach seiner Gestaltung im menschlichen Kreise, oder, wie es auch heißen könnte, die nach der Substanz und die nach der Existenzform des Geisteslebens. Dort gilt es zu erörtern, was in jenem Grundgehalte liegt, was er uns an Wirklichkeit offenbart und an Zielen steckt; hier ist zu zeigen, wie sich unser Dasein dazu verhält, und was aus dem Zusammentreffen von Tatwelt und Dasein wird. Dort ergeben sich Grundwahrheiten, hier Erfahrungstatsachen; die Grundwahrheiten sind, als die ursprünglichste Erschließung der Wirklichkeit und als der menschlichen Besonderheit überlegen, auch durch den schroffsten Widerspruch unseres Weltstandes nicht anzutasten; sie sind es auch, welche das Dasein erst in eine klare Beleuchtung stellen, präzise Fragen an es richten, es der anfänglichen Sinnlosigkeit entwinden. Aus der bloßen Erfahrung heraus entsteht nun und nimmer Erfahrung geistiger Art. Dann aber müssen auch die Erfahrungstatsachen voll in die Wagschale fallen, sie zeigen nicht nur die äußere Lage, sie führen auch innerlich weiter, indem sie zu Reizen und Antrieben für die Weiterbildung des Geisteslebens werden. Solchem Zusammentreffen von Grundwahrheiten und Erfahrungstatsachen gibt die besondere Lage des Menschen eine besondere Bedeutung. Es kann darüber kein Zweifel sein, daß das Geistesleben sich beim Menschen in einem andersartigen, ja widerstrebenden Medium zu entwickeln hat. Wohl mag auch das Dasein Möglichkeiten enthalten, welche Hilfen und Stützen für jene Entwicklung werden können, aber diese Möglichkeiten gilt es erst zu beleben, und dazu bedarf es harter Arbeit und fortlaufender Tat, es gilt den Boden zum Aufbau erst zu gewinnen und immer von neuem zu sichern. Wie das Leben des Individuums sich unmittelbar ausnimmt, verläuft

Folgerungen und Ausführungen.

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es in einem Nacheinander einzelner Bewußtseinsvorgänge; wie sollten aber diese imstande sein, das Geistesleben mit seiner Forderung von Einheit und Ewigkeit zu tragen ? Wenn daher in der Seele eine geistige Bewegung aufkommen soll, so ist eine tiefere Schicht, ja ein Kern des Lebens zu bilden, von einer Einheit aus ein Streben zum Ganzen aufzubringen, dem bloßen Bewußtsein gegenüber ein Beisichselbstsein des Lebens zu gewinnen, das eine Mannigfaltigkeit des Geschehens gegenwärtig zu halten vermag. So ein neues Bild des Seelenlebens, aber nicht ein fertig gegebenes, sondern ein erst aufzubringendes und immer neu zu belebendes; es »gibt« keine Tiefe des Seelenlebens gegenüber der Fläche des bloßen Bewußtseins, sondern sie ist erst zu erringen. Steht demnach die Wirklichkeit letzthin auf schaffender Tat, so kann auch das Erkennen seinen Gegenstand nicht fertig vorfinden, sondern es muß sich in die Bewegung versetzen, die Bewegung begleiten, Möglichkeiten aufdecken, Anknüpfungen und Durchbruchspunkte zeigen; indem es damit dem Fortgang des Lebens dient, gewinnt es zugleich für sich selbst unbegrenzte Bereicherung. Dabei gibt der Bewegung namentlich dies Bedeutung und Spannung, daß das Geistesleben nicht nur nach außen hin, gegen Ungeistiges, sondern d a ß es auch um seine eigne Gestalt zu kämpfen hat, daß der Kampf des Geistes zugleich ein Kampf um den Geist ist. Die Erkenntnisarbeit aber erhält unvergleichlich mehr Frische, Fülle und Beweglichkeit, indem sie so am Werden des Lebens beteiligt ist, nicht ein fertiges Leben lediglich abzubilden oder zum Bewußtsein zu bringen hat. Die hier geforderte enge Verbindung des Erkennens mit dem Leben läßt Gegensätze verstehen und zugleich überwinden, welche oft das Erkenntnisstreben spalteten. Von alters her besteht ein harter Streit zwischen diskursiver und intuitiver Denktätigkeit, zwischen vermittelter und unmittelbarer Erkenntnis. Die diskursive Art beherrscht die Breite der Wissenschaft, mit ihr will sie die zerstreute Mannigfaltigkeit in das Gewebe eines Systems verwandeln und hier alles miteinander gegenseitig verketten, fortlaufende Reihen herstellen. Aber

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Ausführender Teil.

schon Aristoteles hat gezeigt, daß alle logische Verkettung schließlich auf Sätze führt, die unmittelbar einleuchten müssen; denn das Beweisen kann unmöglich ins Unendliche fortgehen. Dies unmittelbare Erfassen pflegten die Jahrtausende als Intuition zu bezeichnen, die sich bald mehr künstlerisch als Erfassung der Einheit in einer Mannigfaltigkeit, bald mehr religiös als Erfassen einer Einheit ihr gegenüber und durch alle Mannigfaltigkeit hindurch gestaltete. So verband die Intuition die Forderungen der Unmittelbarkeit und der Einheit; h a t t e das diskursive Denken die Wirklichkeit in einzelne Stücke und Reihen geordnet, so sollte die Intuition eine Verbindung zum Ganzen liefern und von diesem Ganzen her alle Mannigfaltigkeit mit belebendem Geist durchdringen. Kein Wunder, daß die Intuition die Neigung der Menschen gewann, aber auch kein Wunder, daß die Frage oft viel zu summarisch behandelt wurde. Für die Erkenntnisarbeit ist namentlich die künstlerische Fassung des Begriffes wichtig, sie möchte das wissenschaftliche Bild der Welt auf ein künstlerisches auftragen. Nun hatte aber jener Begriff für die Erkenntnisarbeit im antiken Denken weit mehr Recht als im modernen. Denn wie jenes das Sinnliche und das Geistige überhaupt enger verband, so konnte es auch die gedankliche Gedankengröße und den sinnlichen Vorwurf als verwandte Größen behandeln; Inneres und Äußeres schienen, in einem lebensvollen Kosmos aufeinander angewiesen, sich gegenseitig zu suchen und in der Anschauung völlig eins zu werden. Auch daß der antiken Überzeugung das menschliche Denken innerhalb fester und erreichbarer Grenzen zu liegen schien, unterstützte solchen Abschluß. Der Neuzeit hingegen verbietet schon die schärfere Scheidung von Geistigem und Sinnlichem, in der Anschauung beides unmittelbar zu verketten, auch stellt diese sich ihr weit weniger einfach dar als der älteren Zeit; auch glaubt sie nicht mehr, das Letzte und Axiomatische sofort ergreifen zu können, sondern sie schiebt nach Leibniz' Vorgang jenes immer weiter zurück und bemüht sich eifrigst darum, auch das in Tätigkeit zu verwandeln, was zunächst dieser starr gegenüberzuliegen schien. Den Gegensatz von Subjekt und Objekt und zugleich

F o l g e r u n g e n und

Ausführungen.

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den S t a n d des reflektierenden Denkens will auch sie überwinden, aber sie erwartet das nicht von einem Zusammenkommen und Sichberühren von Subjekt und Objekt, sondern von einem Umspannen ihres Gegensatzes durch Volltätigkeit, von einem Aufstieg zu wirklichkeitbildendem Schaffen. So wird zur H a u p t a u f g a b e die Versetzung in ein solches Schaffen und die Zurückführung dieses Schaffens auf das Ganze eines schlechthin ursprünglichen Lebens. Nicht Anschauung einesTatbestandes, sondern Erzeugen eines Lebens, Miterleben der Wirklichkeit von Grund aus, steht hier in Frage. Damit erscheint, was gewöhnlich Anschauung heißt, als viel zu passiv, s t a t t einer inneren Bewältigung und vollen Durchleuchtung gibt es nur den Eindruck auf den Menschen und kettet ihn daher mehr an seine Subjektivität, als daß es ihn davon befreite und in das eigne Leben der Dinge versetzte. Zur Wirklichkeit gilt es sich zu stellen, wie sich zu einer Schlacht nicht der betrachtende Künstler, sondern der leitende Feldherr stellt. Auch der Künstler faßt die Mannigfaltigkeit des Geschehens in ein Gesamtbild, aber wie verschieden ist dies Bild von dem des Feldherrn, der die Fäden zusammenhält und mit leitendem Gedanken ordnet; er allein durchschaut das Getriebe, ihm allein stellt es sich von Grund aus als ein Ganzes dar. Sollen wir sagen, daß der Feldherr sich zur Schlacht nur anschauend verhalte ? Wie hier, so bedarf es auch beim Weltproblem eines umfassenden und zusammenhaltenden Denkens, eines synoptischen Denkens, das die K r a f t der Synthese, der A b s t u f u n g und der gegenseitigen Determination der Mannigfaltigkeit in sich selber trägt, nur ein solches kann einen Lebenskomplex bilden und d a m i t das Leben der Wirklichkeit teilen. D a s eben ist es, was den wirklichen Philosophen von dem philosophischen Gelehrten unterscheidet, daß dieser über die Dinge von außen her reflektiert und sie von außen her zurechtlegt, sie daher wohl aneinander, aber nicht wahrhaft zusammenbringt, während jener ein umfassendes und beseelendes Erkennen erstrebt. Diese K r a f t aber kann das Erkennen nur dem Leben entlehnen, das in ihm aufquillt; vermöchte sich nicht das Leben in ein Ganzes zu-

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A u s f ü h r e n d e r Teil.

sammenzufassen und aus dem Ganzen zu wirken, so könnte auch das Erkennen nie von innen heraus ergreifen und ein charakteristisches Gesamtbild erzeugen, so könijte es nicht die Mannigfaltigkeit miteinander gegenwärtig halten und sich gegenseitig bestimmen lassen. Denker wie Leibniz und K a n t h a t t e n sicherlich ein deutliches und kräftiges Gesamtbild der Wirklichkeit, das alle verschiedenen Seiten fest aufeinander bezog, und das allem einzelnen eine eigentümliche Färbung gab; verdankten sie das ihrem Anschauungsvermögen und nicht vielmehr ihrer synoptischen Denkenergie, die von einem beherrschenden Mittelpunkt aus gestaltete, das Gewebe eines Systems schuf, von Ganzem zu Ganzem wirkte? So entsteht das Gesamtbild nicht außerhalb, sondern innerhalb des Denkens, es findet sich nicht vor, sondern es ist erst herzustellen; daher verlangen wir dafür nicht eine geringere, sondern eine größere Aktivität, nicht eine Einstellung der Tätigkeit, sondern mehr Erhebung zu einer Gesamttätigkeit. Der Rückschlag gegen den Intellektualismus, in dem wir uns heute befinden, unterschätzt leicht die Bedeutung des logischen Elements in der Erkenntnisarbeit. Gewiß k a n n die Logik nicht schaffen, sondern nur prüfen und regulieren, sie setzt etwas voraus, um wirken zu können. Aber dieses Wirken ist überall unentbehrlich, wo es gilt eine Mannigfaltigkeit in ein Ganzes zusammenzufügen, Widersprüche auszutreiben, die einzelnen Glieder zu verketten. Logik verlangt demnach das Kunstwerk, Logik das praktische Handeln, Logik das politische und soziale Zusammensein; jeder Mangel an Logik rächt sich schließlich durch ein Auseinanderfallen des Lebens; wie sollte so die Logik beim Erkenntnisprozeß eine Nebenrolle spielen? Die bloße Logik freilich f ü h r t das Wirken leicht ins Formale und Schematische, lebendige Gestalten erzeugt sie nicht. Aber was aus Verkennung solcher Schranken an Mißständen erwachsen mag, das kann nie die Neigung der Romantik empfehlen, im Unlogischen zu schwelgen und die Widersprüche gelassen zu dulden, es kann vielmehr nur dazu treiben, die logische Arbeit in weitere Zusammenhänge zu stellen und ihr

Kant und die g e g e n w ä r t i g e

Lage.

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aus dem Ganzen des Lebens beseelende wie richtende K r ä f t e zuzuführen. Unser Streben nach voller Durchleuchtung hat sicherlich unübersteigbare Grenzen, aber sollen wir darum von vornherein gering von unserem Vermögen denken und uns unbesehens zum Irrationalen flüchten? Wer immer das Leben voranstellt und eine Steigerung seiner für möglich hält, der wird vor allem eine Vertiefung und K r ä f t i g u n g des Denkens erstreben, nicht aber ihm entfliehen, der wird, weil das Logische allein nicht genügt, nicht das Unlogische empfehlen.

b) Kant und die gegenwärtige Lage. A u c h heute haben wir uns mit keinem anderen Denker beim Erkenntnisproblem so gewissenhaft auseinanderzusetzen wie mit K a n t . Der Rahmen unserer Untersuchung verbietet uns freilich, seine sowohl umwälzende als weitschichtige Erkenntnislehre gründlich zu erörtern, wohl aber muß uns das Verhältnis v o n Erkennen und Leben beschäftigen; u m so mehr weil der Verlauf unserer A r b e i t keine Gelegenheit bot, K a n t s Stellung zur gegenwärtigen Lage zu erörtern. — Die Lebenslage der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts übte auch auf ihn einen erheblichen Einfluß. Es w a r trotz der mißlichen politischen Verhältnisse eine Zeit geistigen Aufschwungs und eines zuversichtlichen Lebensglaubens. Der H a u p t z u g der A u f k l ä r u n g beherrschte auch Deutschland, aber er gewann hier eine eigentümliche idealistische Fassung, und mehr und mehr wuchs das Verlangen, die Grenzen der Verstandesaufklärung zu durchbrechen, man sehnte sich glühend nach einem ursprünglicheren und gehaltvolleren Leben. K a n t , der anfänglich nur innerhalb der A u f k l ä r u n g eine angesehene Stellung einnahm, wurde durch eine eingreifende U m w ä l z u n g zum Führer einer neuen Epoche. A b e r es ist nicht leicht, den H a u p t p u n k t seiner Größe richtig zu würdigen. Jedenfalls liegt er in einer völligen Verschiebung des Erkenntnisstrebens, aber es wird zur Frage, ob K a n t recht hatte, sie als eine kopernikanische zu bezeichnen; denn es handelte sich u m mehr als um eine Verlegung des intellektuellen Standpunktes, es

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Ausführender Teil.

galt eine Wendung des ganzen Lebens. Eine derartige Verlegung hatte schon Hume scharfsinnig und energisch vorgenommen, in dieser Richtung gebührt ihm der R u h m des Vorangehens; die Größe K a n t s lag in der näheren Fassung, die er jener Wendung gab; was Hume nur empirisch und psychologisch verstand, das wurde K a n t zum Ausgang eines neuen Lebens, in der Geistigkeit wurde eine ursprüngliche Quelle anerkannt, die einzelnen Punkte gewannen von innen heraus einen festen Zusammenhang, es wurde ein geistiges Gewebe entdeckt, eine allen Menschenwesen gemeinsame geistige Struktur; das veränderte die Aufgabe des Erkennens, ja des Lebens völlig, indem nunmehr an erster Stelle nicht gefragt wurde, wie die einzelnen Menschen zu gewissen LeistungeninWissenschaft,Kunst,Moral usw. gelangen, sondern wie jene als Gesamtwerke innerhalb des geistigen Lebens möglich sind, welche Voraussetzungen und welche Zusammenhänge sie sowohl fordern als erweisen. An dieser Stelle scheidet sich die in K a n t gipfelnde Denkart scharf von der üblichen englischen: letztere behandelt die Welt als einen gegebenen Bereich, innerhalb dessen das menschliche Wirken seinen Platz zu suchen hat, diese dagegen macht das Ganze der Welt zum Problem, und sie fühlt sich stark genug, ihre Fremdheit auszutreiben und die Wirklichkeit in ein eignes Reich des Geistes zu verwandeln. Dabei verbindet Kant den Menschen mit der Welt nicht auf dem Wege einer gewagten Spekulation, sondern ihm eröffnet sie sich unmittelbar innerhalb des geistigen Wesens und durch seine Tätigkeit; das bedeutet eine völlige Befreiung von der bisherigen Bindung, es stellt uns fest auf unser eignes Wesen und erweitert dieses von innen heraus zu einem Weltleben. Das mußte die ganze Lage umwandeln, der Lebensbestand wurde bis in die einzelnen Elemente hinein umgestaltet, durchgehende Bewegungen wurden ersichtlich, auch die ethische Gesinnung von Grund aus gekräftigt und verjüngt. Aber so entschieden wir jene innere Erhöhung des Lebens durch das Selbständigwerden der Geistigkeit anerkennen und schätzen, gegen die nähere Ausführung erheben sich manche Bedenken und treiben über den Rahmen des kantischen Sy-

Kant und die gegenwärtige Lage.

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stems hinaus. K a n t fand das Wesentliche der geistigen Betätigung in der Form, ihre Hochhaltung durchdringt sein ganzes Schaffen, in ihr sah er die Grundleistung der Geistigkeit. Demgegenüber ist folgendes zu bemerken: Die Bedeutung der Form f ü r alle Stufen des Lebens unterliegt keinem Zweifel, sie reicht von den elementarsten Naturerscheinungen bis zu den höchsten Höhen des Geistes und begleitet alle Entwicklung, ohne sie kann das Leben nicht gelingen. Aber dürfen wir sie als den Kern des Lebens betrachten, muß nicht h i n t e r ihr ein einheitliches und ursprüngliches Leben stehen, das sich in der Form ausspricht, nicht aber in sie a u f g e h t ? Alles Leben geistiger Art f ü h r t auf die Bildung selbständiger Lebensenergien, ohne sie wird die Form eine bloße Zusammensetzung; soll sie von innen her wirken, so muß sie auf eine lebendige E i n h e i t begründet werden. Mit Recht sah Leibniz in der weltumfassenden Monade das Grundelement der Wirklichkeit, angreifbar war nur, daß ihm das Leben lediglich ein Vorstellen bedeutete und damit eine einseitige intellektualistische Fassung erhielt. Aber den Grundgedanken einer selbständigen und aus sich selbst bewegten Einheit müssen auch wir festhalten, wir bedürfen einer Kernbildung im Gegensatz zur bloßen Umgebung, unmöglich kann die Wirklichkeit nur aus Formen bestehen, durch die Formen muß ein belebender Strom gehen, u m eine volle Wirklichkeit zu erreichen. Wir haben in der kantischen Form insofern eine große und folgenreiche Leistung anzuerkennen, als sie das Leben über alles Nützliche ins Selbstwertige erhebt und alle subjektiven Antriebe dahinter zurückstellt; das ergibt einen hohen und strengen Idealismus der Gesinnung, den wir voll anerkennen; aber wir dürfen die Form nicht von dem schaffenden Leben ablösen, wenn die innere Bewegung der Lebenseinheit nicht sinken soll. Insofern zeigt die Form einmal die hervorragende Größe der kantischen Denkarbeit, aber zugleich bezeichnet sie eine Grenze, mit der wir uns auseinanderzusetzen haben. Schätzen wir vollauf die Form als eine wesentliche Bedingung des Lebens, hüten wir uns aber vor dem Formalismus, der die Bedingung zur Hauptsache m a c h t ! K a n t selbst hat diesen in Hauptstücken überwunden,

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Ausführender Teil.

denken wir nur an seine Fassung und Schätzung der Persönlichkeit, aber Gefahren sind hier unverkennbar. Mit der angreifbaren Stellung der Form hängt bei K a n t eng zusammen die Scheidung der theoretischen und der praktischen Vernunft, welche in seinem Systeme eine übergroße Rolle spielt. Jene Scheidung führt auf Aristoteles zurück, sie war im 18. J a h r h u n d e r t namentlich durch Wolff an die deutschen Universitäten und Lehrbücher gekommen, die theoretische Vernunft hatte dabei den Vorrang, die praktische h a t t e sich ihr unterzuordnen. Daß K a n t die Sache umkehrte, die Scheidung anerkannte, aber den Schwerpunkt in die praktische Vernunft verlegte, h a t t e sehr problematische Folgen. Zunächst war es bedenklich, daß jener Scheidung keine überlegene Einheit der Vernunft gegenüberstand und die Teile miteinander verband; sodann aber war es ein Nachteil, daß die einzelnen Teile besondere Wege gingen und ihren Bereich damit unvermeidlich verengten. Dazu kam das Auseinandergehen der theoretischen und der praktischen Vernunft in der Behandlung der Form. Diese h a t t e in der theoretischen Vern u n f t nur die Aufgabe des Ordnens der Erscheinungen, sie blieb an eine unzugängliche Welt, an ein Ding an sich, gebunden, die praktische aber besaß die unbedingte Führung, nur sie erreichte ein selbständiges Schaffen, nur sie gewährte einen Ausblick auf den Sinn der ganzen Wirklichkeit. Mochte die Spaltung dahin wirken, das Eigentümliche der beiden Gebiete kräftig herauszuarbeiten und ihre Besonderheit zu entwickeln, der Mangel an einer belebenden Einheit des Ganzen war nicht zu ersetzen, er mußte P u n k t f ü r P u n k t Verwicklungen ergeben. Zunächst wurde die theoretische Vernunft, auf sich selbst angewiesen und von einem umfassenden Zusammenhange abgelöst, viel zu sehr ein nur intellektuelles Gewebe, das seinen eignen Bereich mit großartiger Energie hervortrieb, hinter dem aber keine durchdringende und richtende Lebensenergie stand. Das gilt auch für die Begriffe von Raum und Zeit. Sie sind nicht bloße Anschauungsformen, sondern Lebensformen; sie beherrschen keineswegs alles geistige Leben, sondern

Kant und die gegenwärtige L a g e .

nur die Fläche des Daseins. Der Mensch steht als geistiges Wesen nicht nur innerhalb des Raumes und der Zeit, sondern auch über ihnen, er hat fortwährend gegen sie zu kämpfen, um die Geistigkeit seines Wesens zu behaupten. Namentlich widerspricht die Herabsetzung der Zeit zu einer bloßen Anschauungsform schroff dem Grundzuge des 19. Jahrhunderts, das im geschichtlichen Werden die unentbehrliche Werkstätte des Lebens sah, es hat ihm in der Natur wie im Geistesleben eine weit größere Bedeutung zuerkannt, als jene Lehre von der Zeit gestattet. Der Anschauungslehre Kants entspricht seine Denklehre, sie ist mit der Schärfe ihrer Zerlegung und ihrer energischen Wiederverbindung der Fäden eine wahrhaft gigantische, einzigartige Leistung, aber sie hätte auf den Stand der Wissenschaft weit stärker und eingreifender wirken können, hätte sie nicht den Intellekt isoliert und nur auf sich selbst beschränkt, es fehlt die Möglichkeit, die Denkformen in ihren Elementen und Zusammenhängen durch eine belebende Tätigkeit ins Konkrete zu führen und sie zugleich in eine engere Beziehung zur geschichtlichen Arbeit zu setzen. Auch die Dialektik mit ihrer Ideenlehre zeigt mit ihrer gewaltigen Größe zugleich die Schranken und Gefahren eines sich auf sich selbst beschränkenden Denkens. Die Ideen sind nicht bloß intellektuelle Gebilde, sondern sie wirken als Triebkräfte durch das ganze Leben. Die Einheit der Seele ist nicht lediglich ein Werk des denkenden Verstandes, sondern die Voraussetzung alles Lebensinhalts. So großartig der Aufbau der Antinomien ist, er vertraut zu sehr dem freischwebenden Verstände, so kann er auch mit den Ergebnissen der positiven Wissenschaft zusammenstoßen, wie das namentlich die moderne Lehre von den Atomen zeigt. Wohl der schwächste Punkt der ganzen kantischen Philosophie ist die vermeintliche Widerlegung des sog. ontologischen Gottesbeweises; es ist merkwürdig genug, daß manche ihn als eine besondere Stärke preisen. Daß die mittelalterliche Fassung des Anselm wenig genügt, das unterliegt keinem Zweifel, aber wenn K a n t die Sache so versteht, daß das Dasein Gottes aus reinen Begriffen

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Ausführender Teil.

nicht zu erweisen ist, so konnten Descartes, Spinoza, Leibniz dem entgegenhalten, daß die Gottesidee die Voraussetzung alles wissenschaftlichen Denkens ist; wird diese Idee aufgegeben, so kann von Wissenschaft und von allgemeinen und notwendigen Sätzen keine Rede mehr sein; hier steht ein Axiom in Frage, das alle andern Axiome erst möglich macht. Aber auf jenem dialektischen Wege ist dem unentbehrlichen Problem nicht beizukommen. Kant selbst hat die praktische Vernunft als den Kern seiner Überzeugung betrachtet, in Wahrheit hat er hier eine heroische Aufrüttelung und Vertiefung bewirkt, die dauernd auf die Menschheit gewirkt h a t und auch heute fortwirkt. K a n t hat der Moral nicht nur eine neue Fassung gegeben, er h a t auch ihre Stellung im Ganzen der Wirklichkeit mit klaren und sicheren Zügen festgelegt. Die Idee der Freiheit als der Selbstbestimmung des vernünftigen Willens eröffnete ein selbständiges Reich gegenüber allem Dasein, die Moral erschien nunmehr nicht als eine Leistung innerhalb einer gegebenen Welt, sondern als der Ursprung einer neuen Welt, das sittliche Handeln wurde damit von der Bindung an die gegebene Welt befreit und über alles Hangen am äußeren Erfolge hinausgehoben. Es ist ein sehr bemerkenswertes Zeichen für die gewaltige Macht der kantischen Gedankenwelt, daß sie Grundbegriffe, welche von alters her die Menschheit stark bewegten, denen bis dahin aber eine tiefere philosophische Begründung fehlte, in den allgemeinen Gebrauch gebracht h a t ; so die Begriffe »Persönlichkeit« und »Charakter«; der Pflichtbegriff h a t t e freilich eine alte Geschichte, aber die kantische Fassung und Begründung des Gedankens h a t m i t neuer und unversieglicher K r a f t gewirkt. Aber die Beschränkung der praktischen Vernunft auf ein besonderes, wenn auch überlegenes Gebiet mußte mannigfache Beschränkungen des Grundgedankens mit sich bringen; die schaffende Lebensenergie konnte unmöglich an der Form ihr volles Genügen finden. Eine solche Beschränkung finden wir darin, daß die praktische Vernunft nur das Verhältnis der Menschen untereinander im Auge hält, nicht aber den ethischen

Kant und die gegenwärtige Lage.

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Wert der sachlichen Arbeit in Wissenschaft und Kunst u. a. würdigt; eine Beschränkung weiter darin, daß die Moral hier einseitig regulativ, nicht produktiv, verstanden wird und zu sehr an der Form des Gesetzes hängt; eine Beschränkung endlich in dem Unternehmen, aus der bloßen Form der Freiheit das Ganze einer Gedankenwelt zu erzeugen. Zu ihrem Aufbau sollen die Ideen Gott und Unsterblichkeit helfen, aber sie sind dem leitenden Grundgedanken viel zu äußerlich angehängt, um eine innere Bewegung auszuüben und der Menschheit einen Halt gegen die Lebensnöte zu gewähren; so liegt hier die Wendung nahe, jene beiden Ideen als bloße Hilfen für die menschliche Schwachheit zu behandeln, sie damit aber zu bloßen Fiktionen herabzusetzen. Natürlich steht die Ehrlichkeit der persönlichen Religion Kants außer allem Zweifel.

Die Bewegung und Erschütterung, in welche K a n t die Zeit versetzte, ist so oft geschildert, daß sie keiner besonderen Erörterung bedarf. Wir wissen, daß die tiefgehenden Scheidungen, welche K a n t am Lebensbestande vornahm, ein stürmisches Verlangen nach mehr Einheit erzeugt haben, und daß die jugendlichen Nachfolger, Söhne einer hochstrebenden und von einem festen Glauben an das menschliche Vermögen erfüllten Zeit, jener Aufgabe außerordentliche K r a f t zugewandt haben. Aus ihrem Streben ist auch ein neues Verhältnis von Erkennen und Leben hervorgegangen, das bedeutende Folgen mit sich brachte. Es galt das von schwellendem Kraftgefühl beseelte Menschenwesen auf die volle Höhe zu führen; was K a n t umsichtig und tiefgrabend unternommen hatte, die Rechtfertigung einer Souveränität des geistigen Lebens, das sollte nun in einem stürmischen Anlauf errungen werden. Steigerte Fichte das Ich zu einem selbständigen und schaffenden Leben, so entwand sich bald die Bewegung den Einzelwesen, jenes Leben sollte den Individuen überlegen werden, es sollte ein eigenes Reich bilden und diesem alle Maße entlehnen. Hatte dabei Fichte die praktische Vernunft als die Wurzel aller Vernunft ausgerufen und die Führung des Lebens Eucken,

Erkennen und Leben.

2. Aufl.

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Ausführender Teil.

der Moral überwiesen, so erhob Hegels großangelegtes System das reine Denken zum Träger aller Wirklichkeit; hier sank das ethische Tun zu einer Nebensache gegenüber dem Walten des erkennenden Geistes, es erschien als etwas nur Privates und Subjektives, nicht als der Quell einer eigentümlichen Lebensordnung, nicht als die Grundbedingung alles geistigen Schaffens. Aber das Streben des 19. Jahrhunderts auf dem geschichtlichgesellschaftlichen Gebiet hat durch Hegel den bedeutendsten philosophischen Ausdruck erhalten, er vor allem ist der Philosoph der modernen Kultur geworden. So war es begreiflich, daß man sich damals am Abschluß und als Vollendung aller Zeiten fühlte. Aber an aller dieser Größe nagte ein zerstörender Zweifel: die Unsicherheit über die Stellung des Menschen im Ganzen der Wirklichkeit und über den näheren Inhalt des geistigen Lebens. F ü r Hegel fiel das menschliche Denken mit dem absoluten zusammen, zugleich fielen ihm Denken und Geist zusammen. Die Form des Lebens sollte unmittelbar auch ihren Inhalt bilden; das enthielt eine starke Überspannung des Menschen und seines Denkens, j a die Gefahr, das Denken in ein Sichselbstverzehren des Lebens zu verwandeln; das drohte die überströmende Fülle der Erscheinungen zu einer Leere im Grunde zu machen. Was eine Selbstentwicklung des Geistes sein sollte, das wird bei weiterem Fortgang des Strebens zu einer Entwicklung des bloßen Menschen, und das unterliegt damit allen Schranken und Bedingungen des menschlichen Daseins; aus der vermeintlichen Wahrheit entsprang unter den Stürmen der Zeit ein krasser Relativismus; niemand hat gegen seine eigne Absicht so sehr dazu gewirkt, dem Radikalismus die Wege zu bereiten als der Philosoph des absoluten Geistes. Daß aber der Umschwung ein so plötzlicher wurde, das verschuldete namentlich die Verlegung des Schwerpunktes des Kulturlebens vom Idealismus zum Realismus. Nun ist über uns auch in philosophischen Dingen eine große Unsicherheit gekommen, und wir entbehren aller hilfreichen Tradition, wir müssen uns jetzt unmittelbar an die Dinge wenden. Aus solcher Unsicherheit flüchten wir gern

Kant und die gegenwärtige Lage.

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zu Kant, um durch ihn zu einer Selbstbesinnung und Selbstkritik zu gelangen; er kann uns ein treuer Wegweiser zu den Problemen sein, die er uns mit unbarmherziger Klarheit vorhält: die Aufgabe, uns sowohl über das Denken als über das Leben aufs gewissenhafteste zu orientieren, er läßt uns die Hemmungen unseres Lebens vollauf empfinden und zugleich den Lebensmut tapfer wahren, er mahnt uns zu voller Anerkennung der schaffenden Tat, ihm bedeutet sie die Eröffnung einer ursprünglichen Lebenstiefe, die allein unserem Streben einen Halt zu gewähren vermag. Tatwelt und Dasein bleiben genügend geschieden, um jeder ihr Recht zu gewähren, aber die Überlegenheit der Tatwelt bleibt unbestritten. Aber wir können trotzdem unmöglich Kantianer im alten Sinne bleiben, dazu hat sich bei uns viel zu vieles außer uns und in uns verwandelt. Kant behandelte das Geistesleben als eine sichere und überlegene Tatsache; wir wissen, daß die moderne Richtung zum sinnlichen Dasein eine durchgreifende Wendung darin gebracht hat, sie hat vieles, was früher selbstverständlich war, zu einer schweren Frage gemacht; Kant erörterte die Möglichkeit des Erkennens, wir werden gezwungen, die Möglichkeit alles geistigen Lebens zu rechtfertigen. Damals standen Naturwissenschaft und Technik im Hintergrunde, es schlummerten noch die Verwicklungen, welche die Wendung zur Fabrikarbeit und zum Massenbetriebe brachte, es schlummerten noch die Verwicklungen der sozialen Frage mit ihren schroffen Gegensätzen und die Gefahren einer Massenkultur; zugleich sind die ungeheuern Widersprüche und Hemmungen des menschlichen Befindens weit stärker hervorgetreten, und es durchdringt die weitesten Kreise eine peinliche Unsicherheit über den Sinn und Wert alles menschlichen Daseins, der Mensch ist sich weit mehr zu einem Problem geworden; auch das J a und das Nein der Religion erregt weit leidenschaftlicher die Gemüter, alle Probleme haben sich uns mehr ins Elementare verlegt, Geist und Mensch sind uns schroff auseinandergetreten. Trotzdem bleibt die kantische Begründung und Entwicklung der Selbständigkeit und Ursprünglichkeit des Geisteslebens ein 8*

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Ausführender T e i l .

fester Punkt, an den einfach zurückkehren die inmitten so vieler gehen und dabei der trauen.

wir uns halten dürfen zu K a n t können wir neuer Probleme steht, fortwirkenden K r a f t

und sollen, aber nicht, eine Zeit, muß eigne Wege des Geistes ver-

c) Die geistige Lage der Gegenwart und die Notwendigkeit einer geistigen Erneuerung. Die Neuzeit verfolgte eine gerade entgegengesetzte Richtung als das griechische Altertum. Dieses begann von den Weltproblemen in Natur und Welt, die klassische Höhe entwarf eine universale Gedankenwelt, dann kam die Führung an die ethische Aufgabe, schließlich brachte die Religion einen Abschluß; so hat das Leben und Denken sich dort immer mehr vom Sinnlichen ins Unsinnliche verschoben, bis schließlich Plotin die ganze Wirklichkeit als ein bloßes Gleichnis bezeichnen durfte. Die Neuzeit wurde dagegen immer mehr vom Sinnlichen angezogen: der Welt des Glaubens folgte eine Idealkultur, dieser aber eine Realkultur, die alles Übersinnliche, wenn auch nicht gänzlich ablehnte, so doch weit zurückschob. Nun aber muß die Menschheit erfahren, daß alle Hauptpunkte des gemeinsamen Besitzes schwer erschüttert sind, und daß jeder von ihnen mit schroffen Gegensätzen zu tun hat. Die Welt der Religion stand bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts in unbestrittener Herrschaft, dann aber wurde diese immer mehr eingeschränkt und schließlich in ihrem ganzen Recht bestritten. Eine weltfreudige .Denkweise hat immer mehr Raum gewonnen; sie übte zunächst an dem geschichtlichen Bestände der Religion eine scharfe Kritik, deren Führer einerseits die Naturwissenschaft, andererseits die historische Kritik waren; dann aber wurde auch der Grundgedanke der Religion verworfen und alle Abhängigkeit des menschlichen Bereiches von einer höheren Macht abgelehnt; das kam weniger durch den wachsenden Zweifel als durch das unablässige Wachstum der Erfahrungswelt. Diese umfing den modernen Menschen mit so anziehenden und packenden Eindrücken und

Die geistige Lage der Gegenwart.

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Aufgaben, sie sprach so eindringlich zu seinen Interessen, sie verwickelte ihn in so schroffe Gegensätze und leidenschaftliche Kämpfe, daß sie das Leben gänzlich ausfüllte; die Religion erschien von hier aus als etwas Gleichgültiges und Nebensächliches, von der Gleichgültigkeit aber führt ein naher Weg zur Verneinung und Verwerfung. Diese antireligiöse Bewegung beschränkte sich im 18. Jahrhundert auf intellektuell hochstehende Kreise, im Verlauf des 19. Jahrhunderts ist sie immer mehr ins Volk gedrungen, und sie wirkt mit dem Anspruch auf Selbstverständlichkeit auf viele nicht sowohl gebildete als halbgebildete Menschen. Diese Erschütterung der Religion wurde verstärkt durch das Entstehen eines Spaltes zwischen einer alten und einer neuen Fassung des Christentums. Die ältere hält sich an die Begriffe und die Schätzungen, welche aus alter und würdiger Uberlieferung dem Menschen zugehen, sie folgt namentlich der Gedankenwelt, welche ein Zusammenwirken der altchristlichen Überzeugung und des griechischen Strebens gebildet hat, ihre Stärke liegt in der Organisation, welche sie einem großen Teil der Menschheit gegeben hat, sowie in dem sittlichen Ernst, mit dem sie nicht nur die Individuen, sondern auch die gemeinsamen Verhältnisse durchdringt; hier hat das sichtbare Wirken eine sichere Grundlage in einer metaphysischen Ordnung; demgegenüber hält sich die neue Art namentlich an die moderne Wissenschaft und Kultur, sie findet die überkommene Gestalt der Religion zu eng und gebunden, das Ewige, das auch sie nicht missen möchte, dünkt ihr zu sehr mit Vorstellungen der älteren Denkweise verquickt, sie findet in jener manches zu anthropomorph und geläuterten Begriffen der Neuzeit widersprechend; sie möchte unmittelbar zur Gegenwart reden und auch auf religiösem Gebiet das Psychologische und das Soziale zu größerer Wirkung bringen; ihre Stärke liegt in der vollen Würdigung der intellektuellen Bedürfnisse des modernen Menschen. Was aber solches Zusammentreffen der Gedankenströmungen an Gegensätzen enthält, das konzentriert sich auf das

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Ausführender Teil.

Problem der Christologie: ist Christus Gott, der sich liebevoll zur Menschheit wendet, um sie durch seinen Opfertod von unvermeidlichem Verderben zu erlösen, oder ist er eine menschliche, freilich sehr hervorragende Persönlichkeit, deren Wirken und Leiden eine Weltwende für die Menschheit heraufgeführt h a t ? Das ist ein fundamentaler Punkt, der keine Verständigung und kein Ausweichen erlaubt; je deutlicher dieser Gegensatz sich ausprägt, um so unerläßlicher scheint eine Scheidung; aber wie viele Gefahren und wie viele Erschütterungen eine solche Trennung in dieser wirren Zeit bringt, das ist k a u m auszudenken; andererseits bedroht eine Vermengung der beiden Denkweisen das gemeinsame Leben mit Schlaffheit und Unwahrhaftigkeit. Von der scheinbar alternden Religion flüchtete sich der moderne Mensch zu einer Idealkultur, sie schien das Göttliche nicht aufzugeben, aber es dem Ganzen der Welt enger zu verbinden, eine Fülle edler Bildungen ist daraus erwachsen, das Sichtbare blieb im Bereich, aber das Unsichtbare wirkte zu seiner Verklärung. Es verschob sich damit durchgehend die Stellung des Menschen. Frühere Zeiten erfüllten ernste Seelen mit dem Bewußtsein seiner Schwäche und Zerrissenheit, nun dagegen durfte der Mensch sich kraftvoll und höchsten Aufgaben gewachsen fühlen, es galt, so meinte man, mehr Vern u n f t in die Verhältnisse zu bringen, das Wirkliche vernünftig und das Vernünftige wirklich zu machen. Damit wurde zum Hauptbegriff die Kultur, ihr Wirken u m f a ß t e alle Zweige des Strebens, ihr Hauptweg aber wurde der Kraftgedanke; was in der griechischen Kultur die Form bedeutete, das wurde nun die K r a f t . Aber je mehr die K r a f t vordrang und sich von den geistigen Höhen zur sinnlichen Welt und zu den menschlichen Verhältnissen wandte, desto fühlbarer wurden ihre Schranken; wurzelt die K r a f t nicht sicher und fest in der Seele, wird sie nicht durch eine selbständige Innerlichkeit getragen, so nimmt sie unvermeidlich die R i c h t u n g nach außen und gerät dann leicht ins Hohle und Leere; dazu gesellt sich der Mißstand, daß die lediglich auf sich selbst angewiesenen K r ä f t e leicht

Die geistige L a g e der Gegenwart.

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miteinander in Konflikt kommen; das kann das gemeinsame Leben mehr und mehr in einen Kampf aller gegen alle verwandeln. Was eine Geisteskultur sein sollte, das sinkt im Verlauf der Zeit zu einer bloßen Menschenkultur, zu einer Kulturkomödie (Pestalozzi); wie wenig echte Bildung und geistige Erhöhung der Durchschnitt der heutigen K u l t u r gewährt, das brauchen wir nicht zu schildern. Dazu leidet die K u l t u r bei sich selbst an einem tiefen Spalt, der unsägliche Verwicklungen erzeugt. Der Grundgedanke der Kultur enthielt eine ständige Beziehung und Verbindung von Mensch und Welt, beides sollte zusammenstreben und sich gegenseitig fördern. Nun aber geraten im Durchschnitt des Lebens diese beiden Bestrebungen in einen peinlichen Konflikt, auf der einen Seite bemächtigt die Welt sich des Menschen, sie fordert seine Arbeit, die Arbeit beherrscht ihn immer ausschließlicher; je mehr die moderne Gestaltung die Zusammenhänge der Arbeit steigert, desto mehr sinkt der Mensch zu einem untergeordneten Diener, j a Sklaven der Arbeit; auch über diese akute Wendung hinaus erhält die Tätigkeit einen objektivistischen Charakter, das Subjekt wird als Nebensache behandelt, j a möglichst ausgeschlossen. J e entschiedener diese Wendung vordringt, desto notwendiger wird eine Gegenwehr des Subjekts, es erklärt sich selbst als Hauptsache, es sucht von sich aus das ganze Leben zu gestalten, sein Zustand, j a seine Stimmung beherrscht die Lebensbahn. Indem aber diese beiden Richtungen, Subjekt und Objekt, Zustand und Arbeit, zusammenstoßen, gerät das Ganze des Lebens in Unsicherheit; immer wieder folgen einander entgegengesetzte Wogen, jede einzelne ist geneigt, von ihrem Durchdringen volles Heil zu erwarten; in Wahrheit wird für den K e r n des geistigen Lebens aus jenem Hin- und Herwogen wenig gewonnen, der fieberhaften Aufregung entspricht nicht eine innere Förderung des Ganzen. So zeigt auch in diesem Gegensatz die Idealkultur schwere Verwicklungen, ohne sie überwinden zu können. Der Verlauf des 19. Jahrhunderts brachte eine Wendung von den Fragen des Geisteslebens zu denen der sinnlichen Um-

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Ausführender Teil.

gebung. Alle Befassung mit einer unsinnlichen Welt, alle Schätzung der Religion und der Metaphysik wird als ein ungebührliches Überschreiten der menschlichen Schranken abgelehnt, nur in Beschränkung auf die Erfahrungswelt scheint das Leben und Streben einen festen Boden und eine sichere Wahrheit zu gewinnen. Sowohl die Naturwissenschaft mit ihrer Technik als die Umgestaltung der wirtschaftlichen Lage der Menschheit eröffneten unermeßliche Aufgaben und Aussichten. Den Kern seines Strebens fand nunmehr der Mensch im Menschen selbst; h a t t e sich früher der Glaube auf die Gottheit, dann auf die Weltvernunft gerichtet, so wird nun der Glaube an den Menschen und an das menschliche Vermögen zu einer belebenden und erhöhenden Macht, es ist über den Einzelnen hinaus das Zusammensein, was die Menschen zusammenhält und sie zu überlegenen Leistungen f ü h r t . Demnach ist ein zuversichtlicher Menschenglaube dieser Lebensordnung unentbehrlich. Und es ist nicht zu bestreiten, daß das organisierte Zusammenwirken vieles vermag, was dem Individuum in seiner Vereinzelung versagt ist. Aber dies alles geht mehr nach außen hin als nach innen, es geht mehr auf die Leistung als auf die Gesinnung. Von hier betrachtet sind schwere Verwicklungen im Menschenwesen nicht zu verkennen. Wohl stecken im Menschen geistige Kräfte, aber diese Kräfte werden meistens nicht durch ein beherrschendes Ziel geleitet, sie verfolgen eigene Wege und stoßen dabei oft, ja meist mit den Forderungen einer geistigen Selbsterhaltung h a r t zusammen; einerseits übt unbegrenzte Selbstsucht, andererseits ein überwiegendes Scheinwesen eine unheimliche Macht; die geistigen Forderungen und der vorhandene Tatbestand fallen weit auseinander, der Mensch wird ein Widerspruch in sich selbst, indem seine geistige Natur Ansprüche an ihn stellt, die er nur zum Schein zu erfüllen vermag. Was das individuelle Leben in dieser Richtung an Verwicklungen enthält, das wird durch das gesellschaftliche Zusammensein eher gesteigert als gemildert. Tatsächlich wankt in den Uberzeugungen immer stärker jener Menschenglaube; nur radikale Parteiprogramme meinen es sich schuldig zu sein, die Einsicht und die

Die geistige Lage der Gegenwart.

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Güte der Menschen zu preisen. Das moralische Sinken des allein auf sich selbst gestellten Menschen wird immer handgreiflicher, je mehr die Hemmungen des Niederen und Gemeinen fortfallen, welche frühere Ordnungen, sei es die religiöse, sei es die politische, den Menschen boten. Schließlich gelangen wir zu einer allgemeinen Zerwerfung; sollte das in Wahrheit die Lösung des Problems bedeuten, h a t sich der zuversichtliche Glaube an den Menschen in einen krassen Unglauben verwandelt? Was aber bleibt dem Menschen als Lebensziel, wenn seine Ideale eines nach dem anderen zerrinnen ? Schließlich sei die Tatsache nicht übergangen, daß auch innerhalb dieser Menschenkultur die nähere Fassung des Strebens weit auseinandergeht. Es entstehen sehr verschiedene Bilder, je nachdem die Naturwissenschaft mit ihrer Technik oder das wirtschaftliche Zusammensein das Leben beherrscht. In der N a t u r sind es die einzelnen Elemente, deren Beziehung und Zusammensetzung alle Ordnung hervorbringt, es ist die Summierung, welche aus kleinen K r ä f t e n große Leistungen hervorbringt, hier pflegt sich das eine Element dem anderen ruhig zu fügen; der gesellschaftliche Boden dagegen liefert ein völlig anderes Bild, namentlich die Neuzeit verlangt mit stürmischer Hast auch einen innern Zusammenhang der Kräfte, ihm haben die einzelnen Elemente sich zu fügen, der Begriff des Ganzen gewinnt hier eine überragende Macht; indem seine nähere Fassung nicht wie in der N a t u r vorgefunden wird, sondern der Mensch sie gemäß seinen Ideen erzeugen soll, e n t s t e h t eine starke Unruhe und ein vielfacher Widerspruch, unvermeidlich wird eine Scheidung in entgegengesetzte Heereslager, leidenschaftliche Affekte bestürmen den Menschen, alle Darbietung scheidet sich in nützlich und schädlich, in gut und böse, in Freund und Feind. Die Ordnung der Natur kennt nicht derartige schroffe Gegensätze, so gehen in dieser Richtung Mensch und N a t u r weit auseinander. So d a s geistige Bild der Gegenwart, wie es uns unmittelb a r u m f ä n g t . Daß dies nicht der endgültige Abschluß sein kann, ist kaum zu bestreiten. Zugleich unterliegt es keinem

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Ausführender Teil.

Zweifel, daß ein arges Mißverhältnis zwischen unsern Nöten und den dargebotenen Hilfen besteht; denken wir nur an das von K a n t verwandte Bild Humes, daß ein Durchbruch eines Ozeans nicht mit einem Strohwisch zu verstopfen sei; nur eine große Wendung, nur eine Umwälzung der Hauptrichtung des Lebens kann uns weiterführen. An erster Stelle gilt es hier eine Klärung über jene H a u p t richtung zu erreichen, in der eine R e t t u n g möglich ist. Das Nein steht dabei heute völlig klar vor Augen: von dem bloßen Menschen, von dem Menschen, wie die Erfahrung des heutigen Kulturlebens ihn darbietet, ist keine Hilfe zu erwarten; was von hier geboten wird, das treibt uns immer weiter in die Verwicklung hinein; wenn überhaupt Rettung möglich ist, so kann sie uns n u r von einer dem Dasein überlegenen Ordnung, nur von einer selbständigen Geisteswelt kommen. Damit wird zur ersten Frage und Sorge das Bestehen und Wirken dieser Geisteswelt; nur sie kann der Menschheit erhöhende Ideen und richtende Persönlichkeiten mitteilen, ohne ihre Offenbarung gibt es keine Rettung. Jene überlegene Welt müssen wir in einer heroischen Wendung des Lebens uns aneignen und anerkennen, dabei aber den entscheidenden Beweis der Wahrheit in dem Gehobenwerden in ein neues Leben und in neue Zusammenhänge finden; jenes Leben muß uns mitgeteilt werden, nur als ein mitgeteiltes kann es unser eignes werden; dies ist das Hauptwunder, daß das Übermenschliche zum eignen Leben des Menschen werden kann. Aber zugleich haben wir die Tatsache anzuerkennen, daß das geistige Schaffen in unserem Weltstande ungeheuren Hemmungen begegnet, und daß dieser Kampf auch uns unmittelbar berührt; der Kampf wäre aber sinnlos, trüge er nicht in sich irgendwelche Überwindung, welche das Streben in ein Besitzen, das Suchen in ein Finden verwandelte. Auf Grund dieser Weltüberzeugungen haben wir den geschichtlichen Stand unserer Zeit zu beleuchten; unsere Betrachtung zeigte uns, daß eine große Epoche abgelaufen ist, nun gilt es eine neue vorzubereiten und auch die Hauptrichtung umzugestalten. Nunmehr dürfen wir nicht mehr vom Übersinnlichen durch die Kultur hindurch zur

Die geistige Lage der Gegenwart.

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Gestaltung des sinnlichen Daseins fortschreiten und uns damit gänzlich in das Sinnliche verlieren, sondern wir müssen durch die geistig vertiefte E r f a h r u n g von der sinnlichen Welt zu einer echten Kultur und zu einer Grundreligion aufsteigen, zugleich aber das Ganze zu einer Einheit verbinden. Zunächst umfängt uns der Zauber der sinnlichen Welt mit ungeheuren Eindrücken. Aber diese Eindrücke sind zweideutiger Art. Intellektuelles und technisches Vermögen hat weit mehr aus der Welt gemacht und uns weit mehr in ihr erblicken lassen. Aber indem der Mensch die Erfolge in seinen Dienst zog und sie seinen selbstischen Interessen unterwarf, ist er in schwere Verwicklungen geraten. Das Wachstum des wirtschaftlichen Vermögens hat eine Materialisierung des ganzen Lebens bewirkt, die weit die einzelnen Individuen überschreitet; Industrie und Politik gestalten sich zu dämonischen Mächten, welche mit voller Gleichgültigkeit sowohl dem Bösen als dem Guten zu dienen bereit sind. Demgegenüber ist auf einer ethischen Überwachung und Begrenzung des Industrielebens zu bestehen, damit es nicht die ganzen Völker in einzelne Riesenhaufen von Arbeitern verwandelt, welche zwischen den einzelnen Punkten große Lücken aufweisen. Auch die Politik muß ethisch überwacht werden, wenn sie nicht einer raffinierten Selbstsucht und Unwahrheit dienen soll, eine Politik ohne Ethik und gegen die Ethik ist ein Werkzeug des Teufels. Das Böse steckt zu tief in der menschlichen Natur, als daß wir je den Stand der Menschheit in ein Reich reiner Vernunft verwandeln könnten, aber es besagt einen gewaltigen Unterschied, ob wir das Böse gelassen dulden, es als ein Schicksal aufnehmen, oder ob wir nach besten K r ä f t e n einen Kampf dagegen unternehmen; freilich ist dieser Kampf aussichtslos, wenn nicht eine Weltbewegung hinter ihm steht und ihn nicht mit einer metaphysischen Begründung verknüpft. Früher oder später wird eine Organisation der Menschheit notwendig sein, um eine völlige Zersplitterung der Individuen zu verhüten und das Ganze der Menschheit seinen eignen Problemen gewachsen zu machen. Das Christentum hat in seiner Kirche ein großes Vorbild ge-

Ausführender Teil.

liefert; das m ü ß t e nur von der mittelalterlichen Enge und Gebundenheit befreit und der ganzen Menschheit zugeführt werden. Jedenfalls sind alle Reformen des gesellschaftlichen Lebens hoffnungslos, wenn sie nicht durch das Wirken einer zugleich überlegenen und innewohnenden Macht getragen werden; ohne eine solche Quelle und ohne einen solchen Halt gilt das Wort, daß die Toten selbst ihre Toten zu begraben haben. Von der Kultur verlangen wir, d a ß sie die in der modernen Welt vorherrschende Kraftaufbietung dem tieferen Ideal der Wesensbildung unterordne und den Gegensatz von K r a f t und Form, von Antikem und Modernem, durch die Bildung einer echten, von Freiheit getragenen geistigen Wirklichkeit überwinde. Die Lebensarbeit hat dabei Kern und Umgebung in fruchtbare Wechselwirkung zu bringen und das Leben in ständigem Fluß zu halten. J e entschiedener wir aber auf einer Wesensbildung bestehen, desto deutlicher muß sich der ethische Charakter des Ganzen ausprägen, er hat nichts mit einem nüchternen Moralismus zu tun. Der Ethizismus hat unablässig sowohl gegen den Intellektualismus als gegen den Ästhetizismus der modernen Kultur zu kämpfen, damit das Leben zugleich wesenh a f t und ursprünglich bleibe. J e bestimmter wir einem solchen Ethizismus folgen, desto inniger wird seine Verbindung mit der Religion sein. Aber die Religion h a t dann an erster Stelle ein neues Leben zu bringen, ein Leben freilich, das nicht in subjektive Stimmungen und Anregungen aufgeht, sondern den Seelen und den Verhältnissen innere Weltzusammenhänge gegenwärtig hält und dabei das rätselhafte Mysterium unseres Weltstandes vollauf anerkennt. Es muß ein Weltwille auch durch unsere Welt gehen, ein Weltwille, der auch Leid und Opfer nicht scheut, damit aber dem Leben eine unermeßliche Tiefe gibt. Nur von hier können die Ideen der Einheit, der Ewigkeit, der Liebe eine Macht gewinnen; was das von dieser Quelle abgesonderte Leben davon aufweist, ist ein dürftiges, ja klägliches Surrogat. Schließlich kommen wir auf die einfache Grundtatsache zurück, daß die Ablösung des menschlichen Lebens vom schaf-

Die geistige Lage der Gegenwart.

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fenden Grunde des Ganzen die Hauptschuld der gegenwärtigen Not trägt. Wenn aber in solcher Richtung durch die Stufen hindurch eine starke Bewegung entsteht, und wenn auch das Erkennen dabei große Aufgaben hat, so liegt alles daran, das Streben auf das Einfache, Ursprüngliche, Kindliche zu lenken und ihm vollauf gegenwärtig zu halten, was in der Tiefe jeder Seele wirkt, und was uns zugleich unmittelbar mit dem Weltganzen verbindet. Aber bei diesen Fragen ist das Einfachste auch das Schwerste; so dürfen wir auch die Erörterung von Erkennen und Leben mit dem Worte Leibnizens schließen: »Gott ist das Leichteste und Schwerste, so zu erkennen; das Erste und Leichteste in dem Lichtweg, das Schwerste und Letzte in dem Weg des Schattens«.

Register.

Allgemeines,

seine

Überschätzung I F o r t s c h r i t t s i d e e

35A r b e i t , äußere und innere geschieden 49 ff. Arbeitswelt

50.

Asiatische

und

Denkweise Autonomes fahren

70.

(reziprokes)

und

Ver-

ihr Vorantreten im mo-

Gesellschaft, Griechische

E r k e n n t ni s I e hre Tat weit

seine

59, 98, 99.

Leistungen

Stufen des D e n k e n s Denk prozeß Denken

11,

55;

Indische

Art

und

Sein

u,

die

ver-

als Kritik, als Schaffen,

und

70.

103 ff. 48,

Leben,

seine

Art

intuitives

ihre

Dogmatismus,

sein Hauptquell 94.

seine Fehler 53.

Erkenntnisarbeit,

Mensch,

Fiktionslehre 63, 109.

ihr

31 ff.

seine

und

ihre

als A u s g a n g s p u n k t 36, 39.

Noologisches

Haupt-

tivistische Organisation

wie zu fassen 60. Verfahren Art der

ihre Notwendigkeit Östliche

gebiet 101.

43,

71 ff.

Bedeutung

Objektivistische

103 ff.

Empirismus,

Fassungen

Lebenssysteme

Metaphysik,

Denken

119.

49, 96.

Grenze 106 ff.

englische und

Volun-

77.

107—116.

Logik,

69. Diskursives

b e k ä m p f t 22. und

Stufen 79, 81.

12.

zwei T y p e n 65.

Deutsche

Intuition Kant Kunst

als Arbeit 57 fr. Denker,

ihre B e w e g u n g

Intellektualismus

Kulturidee

57.

19.

schiedenen Möglichkeiten Denkarbeit,

67.

kriti-

ihre Stellung in der Welt,

tarismus und

Besitz,

Intellektualismus,

39 ffDenken,

S p ezi e 1les

Geschichtlicher

7i-

Biologische

Form

Generelles

Neuzeit 35.

dernen L e b e n 40.

Dasein

ihre Forderungen 1 1 6 ff.

siert 8 2 f f . europäische

79.

Bewegung,

44.

Gegenwart,

weise

und

94.

undsubjek79. Menschheit, 123.

westliche

Denk-

70.

Parallelismus

im

Erkennen

12 ff.

127

Register. Pragmatismus Raum

und

25 ff. Zeit,

kantischen Lehre Reduktives

m .

Verfahren

Relativismus Schaffen

T a t w e l t , s. Dasein. Kritik

der T e c h n i k , ihr kennen 42. Volltat

97.

und

Scheiden,

ihr

Zusammenhang 6 1 , 64. Selbstkritik

d e s E r k e n n e n s 97.

das

Er-

97.

Wesensbildung

124.

Wissenschaftliche schauung

Weltan-

10.

S p e k u l a t i o n , ihre Arten 97.

Zeitströmungen

S o l l e n , seine Bedeutung 97.

Zustand

S y s t e m , seine Bedeutung 65.

auf

49.

Werturteile

46, 73.

Einfluß

und

89. Gegenstand,

Überwindung ihres Gegensatzes 78.