Aus Leben und Arbeit [Reprint 2019 ed.] 9783111659459, 9783111275048

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German Pages 406 [460] Year 1944

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Table of contents :
INHALT
Verzeichnis der Tafeln
Vorwort
Erstes Buch. Jugend und erste Betätigung
I. Hannover 1859—1872
II. Vegesack 1872—1877
III. Die Studentenzeit 1877—1882
IV. Intermezzo 1883
V. Rumänien 1884 und 1885
VI. Pergamon 1886
VII. Nachlese in Kleinasien 1887
VIII. Zwischenstationen 1887—1888
Zweites Buch. Die Arbeit des Mannes
IX. Hannover 1888—1908
X. Ausgrabungen in Hannover und Westfalen
XI. Orientreise 1898
XII. Weitere Ausgrabungen in Norddeutschland
XIII. England und Mittelmeer 1902/3 und 1905
XIV. Der nordwestdeutsche Verband für Altertumsforschung
XV. Ausklang in Hannover
XVI. Berlin ab 1908
XVII. Reisen 1912, 1913
XVIII. Begegnungen mit dem Kaiser
XIX. Im Weltkriege 1915—1918
XX. Berlin 1919—1928
Anhang: Die Schüben, Schuchardt, Schuckhardt, Schuhkraft
TAFEL 1 - 51
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Aus Leben und Arbeit [Reprint 2019 ed.]
 9783111659459, 9783111275048

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C a r l S c h u c h h a r d t / Aus L e b e n u n d A r b e i t

CARL S C H U C H H A R D T

AUS LEBEN UND ARBEIT

WALTER DE GRUYTER & CO. BERLIN 1

944

Mit si Tafeln und 41 Textabbildungen

Archiv- Nr. 474644 Druck von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 3$

Meiner lieben Frau MARGARETE

SCHUCHHARDT

geb. Herwig der verständnisvollen Teilnehmerin an allen geistigen Interessen, der vorbildlichen Mutter unserer Kinder *

INHALT Verzeichnis der Tafeln Vorwort

XI XIII

Erstes Buch. Jugend und erste Betätigung I. Hannover 1859—1872 Abstammung Kiiiderzeit Die Großmutter Die Schule 1866 Aufbruch

3 5 10 13 16 19

II. Vegesack 1872—1877 Stadt und Umgebung Haus und Schule Ein Kleinstadt-Idyll

21 23 28

III. Die Studentenzeit 1877—1882 Leipzig Ferien in Vegesack Göttingen Heidelberg Der persönliche Verkehr

38 41 44 47 51

IV. Intermezzo 1883 Berlin, Tirol, Karlsruhe

57

V. Rumänien 1884 und 1885 Hinreise Beim Fürsten Bibesco Beginn meiner Arbeiten im Lande Die „ T r a j ans wälle" in der Dobrudscha Eine Weihnachtsfahrt in die Dobrudscha Weitere Fahrten im Lande

65 69 80 83 87 98

VII

VI. Pergamon 1886 Langsamer Anfang Mit Diest und Carolath Hochsommer in Aegae und Pergamon Mit Heinrich Kiepert Viel Besuch und Bewegung

106 110 114 118 124

VII. Nachlese in Kleinasien 1887 Die südliche Aeolis Kolophon Mamurt-Kalessi

130 132 136

VIII. Zwischenstationen 1887—1888 Athen Heimkehr Berlin

140 145 146

Zweites Buch. Die Arbeit des Mannes IX. Hannover 1888—1908 Die neuen Sammlungen Geselligkeit Eröffnung des Kestnermuseums Schliemann und Troja Sammlungspflege

159 166 173 176 182

X. Ausgrabungen in Hannover und Westfalen Die Königshöfe Karls d. Gr Burgenforschung und Klosterkammer Hermann Allmers

190 197 200

XI. Orientreise 1898 Dobrudscha Der Anastasiuswall Pergamon Das heutige Pergamon

206 210 217 219

XII. Weitere Ausgrabungen in Norddeutschland Haltern-Aliso

225

XIII. England und Mittelmeer 1902/3 und 1905 Erste Englandreise 1902 Zweite Englandreise 1903 Eine Mittelmeerreise 1905

VIII

230 242 254

XIV. Der nordwestdeutsche Verband für Altertumsforschung

261

XV. Ausklang in Hannover

267

XVI. Berlin ab 1908 Museum Nordlandreise Römerschanze bei Potsdam Prähistorische Zeitschrift Vielerlei Reisen und kleinere Grabungen

276 278 281 287 289

XVII. Reisen 1912, 1913 Frankreich

295

Italien, Malta, Kreta

310

XVIII. Begegnungen mit dem Kaiser

321

XIX. Im Weltkriege 1915—1918 Polen 1915, 1916 Dobrudscha 1917 Craiova 1918

329 333 345

XX. Berlin 1919—1928 Ostdeutsche Burgenforschung Arkona 1921 Rethra 1 9 : 2 Garz 1928 Museumsumzug 1922/23 In Pommern eingeladen, 1923 Zuguterletzt

360 369 372 377 378 382 386

Anhang: Die Schüben, Schuchardt, Schuckhardt, Schuhkraft

390

IX

Verzeichnis der Tafeln Tafel i : „ 2: „ 3: „ 4: „ 5: „ 6: „ 7: „ 8: „ 9: „ 10: „ 11: „ 12: „ 13: „ 14: „ 15: „ 16: „ 17: ,, 18: „ 19: „ 20: „ 21: „ 22: „ 23: „ 24: ,, 25: „ 26: „ 27: „ 28: „ „ ,, „ „ „ » „

29: 30: 31: 32: 33: 34: 35: 36:

Carl Schuchhardt im 60. Lebensjahr 1919. Die Häuser Hannover, Osterstraße 21 und 22, gegenüber der Landschaft. Der Vater im Alter von 23 Jahren. Die Mutter mit ihrem Erstgeborenen. Die Großmutter Luise Schuchhardt. Der Vater und seine zweite Frau. Friedrich v. Duhn und Curt Wachsmuth. Fürst Alexander Bibesco. Fürstin Helene Bibesco geb. Costachi-Epureanu. Alex ander Conze. Carl Humann. Das Deutsche Haus in Pergamon. Die West-Terrasse mit dem Theater in Pergamon. Im Geikli-Dagh 1886. Arbeitsgruppe in Aegae. Juli 1886. Tempelanlage auf Mamurt-Kalessi. Carl Schuchhardt. Pergamon 1886. August Kestner in Rom. Heinrich Brunn. Rom 1850. Ernst Curtius. Rom 1841. Fr. Culemann. Meister E. S.: Die fjroße Madonna von Einsiedel. 1466. Erstes Blatt von Goethes Niederschrift der Marienbader Elegie. Fischbecker Reliquienkopf des 12. Jahrhunderts. Marmorkopf des 15. Jahrhunderts aus Selinunt. Sodoma: Judith und Lukrezia. Nicolaus Michael und Medaille des Nie. Michael von Fra Ant. Brixiano um 1500. Dea Contarini, Gemahlin des Nie. Michael und Medaille der Dea Contarini von Fra Ant. Brixiano. Jer. Sütel: Grabstein mit Auferstehung des Lazarus. Exlibris für Marg. Schuchhardt geb. Herwig. Margarete Schuchhardt geb. Herwig. 1896. Fr. Mackensen: Studie zum Pastor in der Moorpredigt. Die Worpsweder in Prozession bei Hermann Allmers. Demeter Sturdza 7ojährig, 1903, und diePergamon-Medaille. Wasserkammer des Kleinen Aquäduktes in Pergamon. Englisches Cottage auf dem Lande, 1902, und Ruine der Tintern Abbey bei Chepstow.

XI

Tafel 33 33 33 93 33 33 33 33 33 33 33 33 33 33

XII

37 Kathedrale von Salisbury und Brunnen in Salisbury. 38: Ein Row in Chester und das Croß im Mittelpunkte von Chester. 39 : Alte Umwehrung von Chester und Granitbauten in Aberdeen. 40: Der Roman Wall bei Buddysbrag nahe dem Castrum Borovicus. 41: Ausgrabungen im römischen Lager Cilurnum. 42 : Inneres von Hexham Abbey. 43 = „Prior Richard's skrine" in Hexham Abbey. 44 = Ein Grabhügel bei Salonik und ein Kabylendorf bei Algier. 45 : Die Kathedrale von Perigucux und ein Cromlech-Rest bei St. Pierre-Quiberon. 46: Opfergrube in der Burg bei Lossow 1919. 47 : C. Schuchhardt mit seinem Sohne Wolfgang. 1911. 48: Margarete Schuchhardt geb. Herwig. 1919. 49: Rumänien. 50: Pergamon, Kolophon, Sardes. 5 i : Britannien.

VORWORT Bei der hübschen kleinen Feier, die zu meinem 80. Geburtstage von meinen Freunden in meinem Hause veranstaltet war, hatte ich die verschiedenen Ansprachen erwidert durch die Schilderung der wohl anziehendsten und ertragreichsten meiner topographischen Untersuchungen: der Entdeckung von Kolophon. Nach einiger Zeit trat Herr Dr. Lüdtke an mich heran, der Mann, der schon 1913, damals als Beauftragter von Karl J. Trübner in Straßburg, mich zu meinem ersten, für einen weiteren Kreis bestimmten Buche „Alteuropa" aufgefordert, dann jahrelang getreulich auf seine Fertigstellung gewartet hat und im November 1918 mit den nicht gehefteten Druckbogen über die Kehler Brücke geflohen ist. Herr Dr. Lüdtke war nun von meiner Darlegung über Kolophon so angetan, daß er wünschte, ich möge in solcher Weise auch über die Motive und Ausführungsphasen meiner übrigen Forschungen Berichte, kurz Lebenserinnerungen schreiben, unter Hervorhebung der für die Forschung immer noch lehrreichen Einzelzüge. Ich war bereit, das Gewünschte zu schreiben, wollte aber, daß es erst nach meinem Ableben erscheinen solle, und auf diese Bedingung hab ich erst verzichtet, als das Buch nach Urteil des Verlages so sachlich ausgefallen war, daß er es als Gegenstück zu „Alteuropa" herausgeben wollte. Von Frau und Kindern ist wenig die Rede, es ist im Wesentlichen ein Studien- und Arbeitsbericht, der durch eine glückliche Fügung dem Unheil entgangen ist, das mir am 23. August 1943 durch eine Phosphorbombe mein Haus in Brand gesteckt und völlig vernichtet hat. Ich hatte das Manuskript 1940 bis 1942 geschrieben und dann gleich zu de Gruyter geschickt und auch Korrekturen und Einschiebungen, die ich 1943 noch vornehmen wollte, bei de Gruyter gemacht, so daß das Manuskript nicht mehr zu mir ins Haus gekommen war. Meine Tagebücher und Bibliothek waren für das neue Buch noch verwendet worden. XIII

Die Korrektur hab ich schon ganz im Exil gelesen. Das Inhaltsverzeichnis, das ich in einfacher Form diesmal selbst gemacht habe, wird den Lesern hoffentlich genügen. Möge das Buch, das wohl das letzte Zeichen meiner Tätigkeit sein wird, eine ähnlich freundliche Aufnahme finden wie die Schwester „Alteuropa", die jetzt nach 25 Jahren ihrem fünften Neuerscheinen entgegensieht. Arolsen, 24. Oktober 1943.

XIV

C. S c h u c h h a r d t

ERSTES BUCH

JUGEND UND ERSTE BETÄTIGUNG

I. HANNOVER 1859—1872 ABSTAMMUNG Hannover ist meine Heimat. Dort bin ich am 6. August 1859 geboren, und auch mein Vater, Großvater und Urgroßvater sind 1828, 1799 und etwa 1770 dort geboren. Des letzteren Vater aber, also mein Ururgroßvater, ist eingewandert, und zwar aus einer Gegend, die mir schon für den SchuchhardtNamen im allgemeinen aufgefallen war. Als ich mit meinem Sohne WalterHerwig im Herbst 1919 vierzehn Tage auf der Hasenburg bei Bleicherode Ausgrabungen machte, um den Anteil Heinrichs IV. an den dortigen Befestigungen kennen zu lernen, machten wir an dem zwischenliegenden Sonntage eine große Wagenfahrt durch die Umgegend und sahen dabei mit Staunen, daß überall auf den Dörfern Schuchhardts als Gastwirte, Schmiede oder sonstige Handwerker saßen. Und als ich nachher in Bleicherode und Nordhausen die Adreßbücher aufschlug, fand ich in beiden den Namen ebenfalls reichlich vertreten. Ich schrieb daraufhin an Edward Schröder, unsern großen Namenforscher, ich glaubte die alte Heimat meines Geschlechts entdeckt zu haben, ob er die Sache für richtig halte. Prompt erhielt ich die Antwort: „Das hätt' ich Ihnen längst sagen können, daß Ihre Familie aus dem nordwestlichen Thüringen stammt". Neugierig war ich nun, im hannoverschen Stadtarchiv nachzuforschen, ob sich über den mir aus mündlicher Überlieferung noch wohlbekannten Großvater hinaus der Stamm etwa als eingewandert erkennen lasse. Das bequemste Hilfsmittel, ein Adreßbuch, hat es in Hannover erst von 1798 an gegeben. Für das Frühere lernte ich das „Bürgerbuch" kennen, in dem jeder neu aufgenommene Bürger mit Herkunftsangabe verzeichnet wurde. Und siehe da, für den ersten in Hannover auftretenden Namensträger hieß es: „1756, 6. Okt. Samuel Heinrich Schuchhardt von Lauterberg aufn Hartz, von Profession ein Schuster, gewinnt das Bürgerrecht um 30 rh." Da hatten wir den Südharz, das nordwestliche Thüringen! Offenbar von dem Sohne dieses ersten hannoverschen Schuchhardt hieß es: „1791, 27. Okt. Joh. Simon Frid. Schuchhardt, eines Bürgers und Schusters Sohn". Und wiederum von dessen Sohne:„10. Juni 1830 Schuchhardt Carl, Stadtbauvoigt, eines hiesigen Bürgers Sohn, hat das hiesige Bürgerrecht mittelst Erlegung des sog. Musketenthalers für seine Person reco3

HANNOVER

1859—1872

gnosziert und dasselbe für seine mit seiner Frau Sophie Luise geb. Täger, eines hiesigen Bürgers Tochter erzeugten beiden noch nicht fünf Jahre alten Kinder Carl August Friedrich und Johann Heinrich Daniel Ludolph gewonnen und überhaupt gezahlt 3 G 8 ggr." Der hier genannte Johann Heinrich Daniel Ludolph ist mein Vater, und somit sind die drei früheren auch meine Vorfahren. Nach dem Adreßbuch (von 1798 an) ist dann mein Urgroßvater „Friedrich (1798 und 1799 Schuckard, nachher Schuchhard geschrieben) Schuhmacher, Maurenstraße 703" (heute Marstallstraße) der einzige Schuchhardt in Hannover. 1819 kommt hinzu „Schuchhard Feuerwerker, daselbst", das ist sein Sohn, der dann von 1828 an nach dem Tode des Vaters allein auftritt, zuerst als „adjungierter Bauvoigt 1829, 1830 und 1831 als „Städtischer Bauvoigt Köbelingerstraße 542". Im folgenden Jahre ist er schon gestorben, 1832 heißt es „Schuchhardt, Wittwe des Bauvoigts; außer dem Steinthore." Erst einige Jahre später treten dann weitere Schuchhardts in Hannover auf, die mit unserer Familie nichts zu tun haben. Über den Namen Schuchhardt ist vielfach gestritten worden. Als ich in Heidelberg studierte, las uns 1881 Otto Behaghel als Privatdozent ein amüsantes kleines Kolleg über Namenforschung, wobei er besonders die Namen der vor ihm Sitzenden zu deuten suchte. Den meinen wollte er vom Schuhu, der ursprünglich ein Jagdvogel wie der Falke gewesen sei, ableiten: als Schuchiwart, „der Wärter der Schuhus", also ein herrschaftlicher Jagdbeamter. Aber die Germanisten haben zu meinem Leidwesen diese Deutung nicht angenommen; sie sind bei Schuch = Schuh geblieben,—noch von Hans Sachs heißt es ja: „er machte Stiefel und auch Schuch". Als ich Edward Schröder über meine Archivfeststellungen berichtete, pries er meine Familie als die ordentlichere: auch seine Vorfahren seien lauter Schuster gewesen, und dabei bedeute sein Name doch „Schneider" (von „schroten"). Meine Mutter war eine geborene Stichweh aus Hameln, und dieser Name hat sich dort an der Weser bis Rinteln hinunter und östlich ein Stück weit ins Land hinein bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Als Bauern und kleine Gutsbesitzer sind die Stichwehs dort verbreitet gewesen. Sonst kommt der eigentümliche Name aber nirgend in Deutschland vor. Der Gießener Germanist, Prof. Götze, dem ich als Parallelerscheinung den Namen „Stichnote" angab, hat ihn uns erklärt: „Stichnote" ist plattdeutsch gleich „Stiftgenosse", denn Stift ist plattdeutsch „Sticht", wie Stiftung im holländischen „Stichting"; und „weh" ist gleich wede, Wald (wie in Brackwede, Worpswede). „Stichweh" ist also der Stiftswald und als Menschenname: der den Stiftswald gepachtet hat oder am Stiftswalde wohnt. Um diese Namendeutimg abzuschließen, will ich nur noch sagen, daß die Mutter meines Vaters eine geborene Täger war, ihr Vater aus Königslutter 4

KINDERZEIT

im Braunschweigischen nach Hannover eingewandert, und daß dieser Name nach Professor Götze am ehesten vom plattdeutschen „tagen" = zehn stammt und so den tägener oder täger, der den Zehnten erhebt, bedeuten dürfte. So wurzeln meine Vorfahren alle in den germanischen Kernländern der Cherusker und Thüringer, und auch für meine Kinder setzt sich diese gute Überlieferung fort: Die Vorfahren meiner Frau, die Herwig und Bunsen, waren in Waldeck zu Hause, also auf der Grenze der Cherusker und Chatten. KINDERZEIT Meine Kindheit hat sich in Hannover auf der Osterstraße abgespielt. Dort bin ich geboren (6. 8. 1859) in einem alten, noch stehenden Hause aus derZeit um 1650, der Windmühlenstraße gegenüber, in dem Zimmer über der großen Bogeneinfahrt, wie mir die Mutter beim Vorbeigehen oft gesagt hat. Mein Vater, der „Graveur und Kupferstecher" war, hat dort die ersten 1V2 Jahre seiner Ehe seinen Laden gehabt. Dann verbesserte er sich und zog in das große Haus der Metallfabrik Bernstorf und Eichwede gegenüber der Landschaft. Auf dieses Gebiet hat Wallbrecht später die Karmarsch- und Grupenstraße gelegt. Tafel 2 stellt die jetzt verschwundenen Häuser dar. Das große in der Mitte ist BernstorfF und Eichwede mit deren Laden links, das meines Vaters rechts. Links neben diesem Hause war eine Bäckerei, dann Rudolphs Schirmfabrik. Rechts von uns wohnte der Hofschlächter Anton Heine, weiterhin sieht man den Übergang von der Seilwinder- zur Gr. Packhofstraße. Der Vorhof der Landschaft, deren weit zurückliegender Mittelbau zwei Flügel zur Straße vorsandte, war ein ideales Gebiet für unsere Spiele. Dort wurde „ g e d i p s t " a u f Stelzen gelaufen, Strick gesprungen und Kriegen gespielt. Aber auch die Straße war den Kindern nicht verboten. Auf dem asphaltierten Gehsteig wurde „Pindopp" geschlagen, und auf den Gossen legten wir im Winter „Schurrbahnen" an. Man staunt heute über jene gemüt') Das „ D i p s e n " , unser beliebtestes Spiel, scheint heute kaum mehr bekannt zu sein. Es ähnelte dem Kegelspiel der Männer, war aber vielseitiger. Am Ende einer 5—6 m langen Bahn wurde ein kleines Quadrat, der „Pott", umrissen; dahinein hatte jeder Teilnehmer „ein G u t " drei türkische Bohnen zu setzen. Ein „ M o h r " galt für drei „ G e m e i n e " , ein „ K a i s e r " , goldbraun mit schwarzen Punkten, für sechs Gemeine. Jeder Spieler suchte nun die Kugel die Bahn entlang durch den Pott zu rollen und ein paar Bohnen hinauszuwerfen. War das gelungen, hatte er noch einen Wurf frei, aber von da, wo die Kugel nun lag. Im Fortgang des Spieles suchte man dann, wenn andere Kugeln einem näher lagen als der Pott, diese Kugeln zu treffen und sie damit zu töten. Gelang das bei allen, so gewann man, was noch im Pott war; sonst ging das Spiel bis zur letzten Eo'.'.ne weiter. Der Ausdruck „dipsen" kommt offenbar von „tippen", wie „knipsen" von „kniffen", „kniepen".

5

HANNOVER

1859—1872

liehe, behagliche Zeit. Mein Vater ging jeden Montag Nachmittag zum Kegeln nach dem Neuen Hause an der Eilenriede und überließ derweil der Mutter den Laden. Ich durfte ihn zuweilen gegen Abend abholen und gewann damit eine Freundschaft zum „Onkel Franke", dem Gastwirt. Der hatte in dem Stück Eilenriede, das seinen Wirtsgarten bildete, die ersten Anfange des .Zoologischen Gartens aufgenommen: eine Anzahl seltener Vögel und ein paar Füchse und braune Bären. Einer von den Bären war eines Nachts ausgebrochen und guckte am Morgen von einem Baum herunter in Frankes Schlafzimmer. In aufgeregter Jagd hatte der ihn dann glücklich wieder eingefangen. Die Sache war zuerst in allen Einzelheiten der Kegelgesellschaft bekannt geworden, und ich habe später oft hören müssen, wie ich, noch in den Anfangsgründen der Sprache steckend, die Geschichte: „Da zog Onkel Franke ßall, ßall seine Hose an" sehr hübsch hätte erzählen können. Mein Vater (Taf. 3) hatte ein für Kunst- und Naturschönheiten sehr aufgeschlossenes Gemüt und damit von früh an auf mich eingewirkt. Schon bevor ich zur Schule ging, hab ich täglich an seiner Seite gesessen, gezeichnet und getuscht. Da wurden alle Einzelheiten von Bäumen und Blättern und Blüten besprochen und bei den anzutuschenden Münchener Bilderbogen die besten Farbenstimmungen für die Bekleidung der Figuren ausprobiert. Über den gewöhnlichen Tuschkasten hinaus hatte ich noch Sepia, chinesisch Schwarz und gebrannten Umber zur Verfügung. Aus Gelb und Blau wurden die verschiedensten Grün gewonnen, das dunkle Russisch-Grün gefiel mir besonders, ebenso warmes Grau neben Dunkelrot oder Dunkelblau. Ich muß heute oft daran denken, wenn man von der Elementarkraft der Farbenstimmungen spricht, die das Sinnliche ins Übersinnliche hinüberführe. Schon die einzelne Farbe erweckt ja ganz bestimmte Gefühle, die auch das Kind bereits empfindet und die das Volk sich treffend deutet: Weiß ist ein Weckruf, eine Fanfare, daher die Festfarbe. Schwarz stimmt düster, markiert deshalb Trauer. Rot erwärmt, entflammt, es bedeutet die Liebe. Blau beruhigt, es ist die Treue. Grün erheitert, stimmt fröhlich und gilt für Hoffnung. Gelb schließlich weckt Widerspruch, es weist auf Neid und Eifersucht. Man wird erinnert an Goethes Verse im West-östlichen Divan: als Gott das Licht von der Finsternis geschieden hat, empfindet er das Unfruchtbare dieses bloßen Schwarz und Weiß: Stumm war alles, still und öde, Einsam Gott zum erstenmal! Da erschuf er Morgenröte, Die erbarmte sich der Qual, 6

KINDERZEIT

Sie entwickelte dem Trüben Ein erklingend Farbenspiel, Und nun konnte wieder lieben, Was erst auseinanderfiel. Meine Knabenjahre in Hannover haben mir aber auch den Grund gelegt zu einer verständnisvollen Freude an der Natur. Mein Vater pflegte mit seinen drei Sprößlingen in der guten Jahreszeit jeden Sonntag früh einen weiten Ausflug in die schöne, waldreiche Umgegend von Hannover zu machen, zum Schmetterlingsfangen und Botanisieren. Er selbst hatte beides früher offenbar leidenschaftlich betrieben und auch einmal daran gedacht, Naturwissenschaftler oder Gartenbauer zu werden. Er kannte alle Stellen in der Eilenriede, wo man im März schon einen hübschen Strauß Leberblümchen pflücken konnte. Wenn er für seine Fischerei eine neue Angelrute brauchte, wußte er dort immer Vogelbeersträucher, die sie ihm hefern konnten. Im April war der ganze Waldboden von Buschwindröschen überzogen, aber im Mai mußte man wieder findig sein, um die Blume, die nach diesem Monat heißt, noch vor der Blüte in einigen ^X^urzelballen nach Hause zu tragen und in Töpfe zu pflanzen. Und wie stolz waren wir, wenn wir einmal im Walde eine „Schildwache" (Calla) oder in sumpfigem Gelände eine Orchis entdeckt hatten. Die wurden dann in der Botanisiertrommel besonders sorgfältig nach Hause getragen. Entsetzlich verachteten wir die vielen Durchschnittsspaziergänger, die ihre Buschwindröschen stundenlang in den warmen Händen trugen und sie dann traurig verwelkt schon vor dem Austritt aus dem Walde wegwarfen, so daß der ganze Weg mit diesen schmählich geopferten ersten Frühlingskindern gesäumt war. Von meinem Vater lernte ich auch rasch die lateinischen Namen der gewöhnlichen und der seltenen Pflanzen und gewann so die Verwandtschaft der Anemone nemorosa (Buschwindröschen) mit der Anemone hepatica (Leberblümchen) und der verschiedenen Orchisarten untereinander. Für die Schmetterlingsjagd hatten wir uns selbst einen Fänger gebaut mit langer Stange und einem weiten Drahtring für das ganz feine Gasenetz. Die käuflichen Netze waren zu eng für das Fangen und zu grob für die leicht verletzlichen Tiere, denn die mußten gleich im Netz durch einfaches Zusammendrücken der Brust getötet werden. Sie wurden dann auf eine Nadel gespießt und auf einer Korkplatte in der Nebenkapsel der Botanisiertrommel sicher untergebracht. Zu Hause kam gleich die heikle Arbeit des Aufspannens. Das durfte nicht verschoben werden, weil die Tiere nach kurzer Zeit schon hart wurden. Das Spannbrett war eine weiche Holzplatte mit eingeschnittener Rinne. In die wurde der Leib gebettet, dann wurden die Flügel ausgebreitet und rechts und links durch einen Papierstreifen überdeckt. 7

HANNOVER

1855—1872

Die Abend- und Nachtschmetterlinge, die man ja selten einmal bei Tage taumelnd oder an einem Baume schlafend zu Gesicht bekommt, zog ich aus Raupen. Die wurden in großen, halb mit Erde gefüllten Einmachegläsern zunächst mit ihrem Lieblingslaub gefüttert, bis sie zur Verpuppung in die Erde krochen. Dann mußte man sie über den Winter in eine stille Ecke stellen und im Frühling fleißig nachsehen, ob nicht das eine oder andere Tierchen mit um den Leib gerollten Flügeln herauskam. Wenn es erschien, entwickelte es sich rasch: die Flügel reckten und glätteten sich, und nach kaum einer halben Stunde bot sich die ganze Pracht dar. Aber eh' sich das Tierchen nun in die sonnige, blühende Welt erheben konnte, griff die böse Knabenhand zu: mit Äther wurde das kaum erwachte Insekt betäubt, und ein Stich in die Brust mit einem Tropfen Tabaksaft aus Vaters langer Pfeife genügte, um es zu töten. So blieben bei den starken Faltern auch Brust und Leib in ihrer vollen Form erhalten, und solch ein aus der Raupe gezogenes Exemplar war immer ein Prachtstück für die Sammlung. Bärenspinner, Lindenschwärmer, Weidenbohrer hab ich wohl auch bei Tage gefangen, aber die großen Ligusterschwärmer oder gar Totenköpfe immer nur aus Raupen gewonnen. Unter den Tagesschmetterlingen waren natürlich die Vanessa-Arten mit ihren lebhaften Farben mein ganzer Stolz : der Admiral, das Pfauenauge, der Distelfalter, der große und der kleine Kirschvogel und der angebetete seltene Trauermantel. Eine lebhafte Jagd erforderten der schnellfliegende Schwalbenschwanz und der Kaisermantel, der nur an bestimmten Stellen des sonnigen Waldrandes zu finden war. Das fruchtbarste Jahr für meine Sammlung ist mit seinem langen, heißen Sommer 1868 gewesen, das ich später auch als das beste Weinjahr kennen lernen sollte. Ein Herbarium hab ich auch eine Zeitlang gehabt, aber nur lässig betrieben; der Umgang mit den lebendigen Tierchen, die auch in der Sammlung noch ihre Schönheit behielten, hat mich weit mehr angezogen, als die beim Trocknen stark verlierenden Pflanzen. Meine Leidenschaft für die Schmetterlinge ist immer erhalten geblieben. Als ich 15 Jahre später, im Frühling 1886, den Burgberg von Pergamon mit einem dichten Teppich farbenprächtiger Anemonen sich überziehen und die traumhaft schönen exotischen Falter, die ich nur aus Abbildungen kannte, darauf gaukeln sah, konnte ich mich nicht halten. Ich fing mit dem Hut ein paar dieser schönen Fremdlinge und brachte sie zu Hause notdürftig in Haltung. Humann betrachtete sie wohlwollend. Aber ich schämte mich doch dieses rohen Verfahrens und gab das kindliche Spiel bald wieder auf. Neben den Schmetterlingen und Pflanzen, die ja nur den Sommer in Anspruch nahmen, hab ich als Junge zeitweilig auch Käfer, Steine, Siegel und Briefmarken gesammelt, und das Briefmarken-Interesse ist mir ebenso 8

KINDERZEIT

treu geblieben wie das für Schmetterlinge. Als die erste, jahrelang betriebene Sammlung den Finanznöten der Studentenzeit zum Opfer gefallen war, hab ich nachher mit meinen Jimgens eine neue angefangen, und als die den Weg der ersten gegangen war, indem sie in der Inflationszeit ihren jungen Besitzern eine Thüringer Reise finanzieren sollte, bin ich nun mit den Enkeln an die dritte gegangen. Die moderne Masse mit ihrer Überfülle läßt mich kalt, aber mit wehmütiger Freude betrachte ich immer wieder die feinen alten Köpfe der Hannoveraner, Preußen, Franzosen und Engländer, die dekorativen Wappen der Braunschweiger, Bremer und Hamburger, den Biber von Canada und das Lama von Peru. Meine Mutter (Taf. 4) war, aus gut bürgerlichen Kreisen der idyllischen Weserstadt Hameln stammend, eine echte Hausfrau und Mutter alten Schlages. Ihr Vater hatte in Hameln eine Branntweinbrennerei gehabt. Der Bruder August Stichweh hatte auf vierjähriger „Wanderschaft", wie man das nannte, besonders in Wien viel Neues gelernt und gründete danach in Hannover die erste große „Färberei und chemische Waschanstalt", die auf einem großen Grundstück am Ende der Andertenschen Wiese — auf der heute die Goethestraße liegt — unmittelbar an der Leine betrieben wurde. Meine Mutter hatte auf der Hämelschen Burg, wo eine Wirtschafterin Lehrgänge eingerichtet hatte, das Kochen gelernt und sprach davon später immer mit Begeisterung, wenn ich ihr beim Zurichten eines köstlichen Gänsebratens vom Schlachten bis zum Aufdentischbringen zusehen durfte und nachher die witzig benannten Knochen und Knöchelchen als Spielzeug erntete. Als in Hameln Vater und Mutter Stichweh bald nacheinander gestorben waren, zog die Tochter Johanne zu dem eben eingerichteten Bruder August nach Hannover, um ihm den Haushalt zu führen. Dort lernte mein Vater sie beide durch den Männergesangverein kennen, und als er sich dann mit Johanne am 27. Dezember 1857 verheiratete, folgte wenige Monate darauf auch der Bruder August mit einer Tochter des Juweliers Böckeier. Während der Vater eigentlich lauter neben der Schule liegende Interessen bei mir züchtete, ließ die Mutter keinen T a g vergehen, ohne sich erzählen zu lassen, was im Unterricht vorgekommen sei, und mir abends die aufgegebenen Arbeiten nachzusehen. Besonders als nachher Gedichte und biblische Geschichte eine Rolle spielten, nahm sie lebhaften Anteil. Mit ihrem freundlich anregenden und verständig ordnenden Sinne war sie auch bei meinen Straßengespielen und Schulkameraden sehr beliebt. Davon werde ich nachher noch zu erzählen haben.

9

HANNOVER

DIE

1859—1872

GROSSMUTTER Tafel 5.

Einen nicht unerheblichen Einfluß auf meine erste Entwicklung hat meine Großmutter gehabt, die dem Erstgeborenen ihres einzigen Sohnes ihre ganze Liebe und anregende Sorgfalt zuwandte. Sie hatte ihren Mann, der städtischer Bauvogt gewesen war, schon nach siebenjähriger Ehe verloren und ihren ältesten Sohn dann bald darauf auch. Er war in Buchholz, wohin sie sich zunächst zurückgezogen hatte, vom Heuboden auf die Diele gefallen. Nun zog sie ihren ältesten Enkel sehr stark an sich heran. Sie genoß eine kleine städtische Pension und wohnte vor der Stadt, schräg gegenüber dem Henriettenstift, in einem kleinen Häuschen mit hübschem Blumen- und Obstgarten, einem Besitztum, das 1872 der neuen Altenbekener Eisenbahn zum Opfer gefallen ist. Da draußen bin ich schon vor meiner Schulzeit oft wochenlang bei ihr gewesen und habe die erste Bekanntschaft mit Lawendel, Myrth' und Thymian, mit Reseda und Tränendem Herz, mit Gravensteinern, Reinetten und Goldparmänen gemacht. Und in der Stube gab es einen Turner, der an einer Kletterstange sich abmühte; einen Mann, der, wenn man ihn anstieß, eine Viertelstunde lang nickte; ein Kettchen von kleinen, aus Kirschkernen geschnittenen Körbchen. Die Großmutter hatte auch schöne Bilderbücher, zu denen sie mir die Verse vortrug, so daß ich sie bald alle auswendig wußte: Ein Bienchen fiel in einen Bach, Das sah von oben eine Taube . . . oder:

Ein Mädchen wollte in den Wald, Gar munter und geschwind; Die Mutter sprach: komm wieder bald Und nasche nicht Beeren, mein Kind!

Wenn dann Besuch kam und ich ihnen die Lieblingsstücke zeigte und die Verse ausdrucksvoll vortrug, glaubten sie, daß ich das alles läse. Bei der Großmutter sind mir die ersten Begriffe vom Weltverkehr gekommen. Wenn ich einen Zug über die Bult nach Lehrte, Braunschweig und Berlin fahren hörte, rief ich: „Oma, Eibahn" und mußte ans Fenster gehoben werden. Und in das Weltgeschehen bekam ich später die ersten Einblicke durch eine Mappe mit farbigen Lithographien aus der Franzosenzeit: Schlachtenund Paradebildern, zu denen die Großmutter prächtig zu erzählen wußte, denn sie war ja, als Hannover zum Königreich Westfalen gehörte (1806—1812), 10

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schon ein ganz kurriges kleines Mädchen gewesen, das im Sommer auf Bellevista nicht ungern mit den schmucken, fremden Soldaten tanzte. Mit der Großmutter hab ich auch am 15. Juni 1865, dem 50. Jahrestage von Waterloo, auf dem Georgswalle gestanden und den Festzug dicht vorbeiziehen lassen, voran mit etwas wackeligem Schritt die „fetten Hahnen" (Veteranen), wie das Volk sie nannte, die die Schlacht selbst mitgemacht hatten. Und ein andermal hat die Großmutter mich zu einer Parade auf dem Waterlooplatz geführt. Da sah ich die stolzen Gardedukorps auf ihren mächtigen Pferden und den König, der einen Schimmel ritt. Dicht neben iHm hielt der Adjutant, der an einem unsichtbaren Faden das Pferd des Königs leitete. Die Blindheit des Königs suchte man immer zu verheimlichen. Die Großmutter sprach gern von ihrem Elternhause, von dem gütigen Vater, der im braunschweigischen Helmstedt geboren, als Friseurgehilfe in Hannover eingewandert war und die Tochter des wohlhabenden Bürgers Basse auf der Marktstraße geheiratet hatte. In dessen Hause hatten die jungen Eheleute dann 17 Jahre lang gewohnt und 10 Kinder miteinander gehabt, von denen aber 5 schon ganz jung gestorben waren. Der alten Großmutter, die 90 Jahre alt geworden und zuletzt ganz schwach gewesen war, hatte sie, die Enkelin, sich immer besonderes angenommen, und die Großmutter hatte oft gesagt: „Lawischen, du bist mine beste Dochter, verlat mick nich, — dei leiwe Gott wert dick davore segnen!" Von den vier großgewordenen Geschwistern der Großmutter hab ich dann auch nur zwei noch kennen gelernt: Wilhelm, den Hofuhrmacher auf der Marktstraße, und Rudolph, den Bildhauer, in dem noch stehenden plankenbeschlagenen Hause an der Ecke der Großen Wall- und Friedrichstraße. Wilhelm war ein stattlicher, würdiger Mann, und sein Wort galt als entscheidend in der ganzen Familie. Noch als Emeritus ging er nach 1866 jeden Sonnabend Nachmittag nach Herrenhausen, um dort im Schlosse die Uhren aufzuziehen. Zuletzt bin ich im Dezember 1871 bei ihm gewesen, um eine silberne Taschenuhr begutachten zu lassen, die meine Großmutter mir zu Weihnachten schenken wollte. Er prüfte sie eingehend und sagte dann: „Es ist eine gute Uhr und die 41/2 Thaler wert, die man fordert." Die Uhr mit dem vom Vater eingravierten Datum ist noch heute vorhanden und dient als erwünschter Lückenbüßer, so oft eine andere in der Familie entzwei gegangen ist. Dabei wird sie in ihrem ungewohnten Aufziehwerk leicht überdreht und muß dann selbst wieder instand gesetzt werden. Ein Uhrmacher, der sie besonders lange behielt, sagte mir noch vor kurzem, es sei eine der vortrefflichen Schweizer Uhren von 1830 oder 1840, und einen neuen Zylinder für sie müsse man heute immer von dort kommen lassen. 11

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Der Onkel Ludolph, ein Kindergemüt von herzerquickender Frische, hatte sein Geschäft zeitig seinem Sohne übergeben und ging von da an in der guten Jahreszeit fast jeden Tag weit die Masch hinauf, um mit einem riesigen Feldblumenstrauß zurückzukommen. Den benutzte er dann zu Motiven für die Bilderrahmen, die er für seine Kunden schnitzte. Mich warnte er besonders immer vor dem Rauchen. Die schönste Gottesgabe verdürbe man sich damit: „Statt de frische Luft toatmen, stäket se sick'n Giftproppen in't Gesichte!" Meine Großmutter ist erst gestorben, als ich schon in Leipzig studierte. Sie hatte immer gesagt: wenn sie auch alt würde, die zwei bösen Sieben in ihren Lebensjahren werde sie nicht überstehen. Und richtig traf sie die Sense des Thanatos im Jahre 1878, wo die 77 sich erfüllten wollten. Ich habe über ihr Freud und Leid die getreueste Auskunft erhalten durch ihre mannigfachen Schriften, die mir nach dem Tode meines Vaters zugefallen sind. Sie hat beständig Gedichte, besonders religiöse, die ihr gefielen, abgeschrieben. Vieles davon hatte sie mir auch schon auswendig vorgetragen, besonders aus Tietje's Urania und Schillers Gedichten, so das ihr eigenes Schicksal widerspiegelnde: Wie leicht ward er dahingetragen, Was war dem Glücklichen zu schwer; Wie schwebte vor des Lebens Wagen Die muntere Begleitung her! Doch ach, schon auf des Weges Mitte Verloren die Begleiter sich, Sie wandten treulos ihre Schritte, Und einer nach dem andern wich. Dazu kam ein stattliches Prosaheft „Eigene und fremde Gedanken", das wiederum hauptsächlich Religiöses enthält, und schließlich zwei Faszikel Tagebücher; d. h. das eine muß man eher ein Jahresbuch nennen: es gibt aus einem alten Tagebuch nur die jährliche Zusammenfassung, die ursprüngliche Niederschrift ist nicht erhalten. Diese abgekürzte Überlieferung betrifft die Zeit von 1816 bis 1826: das ist genau die Periode des Schwärmens für Carl Schuchhardt, mit ihrer Verheiratimg und der Geburt des ersten Sohnes. Die zweite Schrift, ein wirklich von Tag zu Tag geführtes Bekenntnis, umfaßt nur die 3 Monate von Mitte Oktober 1839 bis Mitte Januar 1840, und hier bekam man erst die Aufklärung über eine zweite Ehe, die sie acht Jahre nach dem Tode ihres Jugendgeliebten noch geschlossen hatte, und über die immer ein merkwürdiges Stillschweigen beobachtet worden war. 12

DIE

SCHULE

Ein junger und offenbar sehr talentvoller Gärtner Wilhelm Aue, der 10 oder 15 Jahre jünger als sie gewesen sein muß, hatte ihre Zuneigimg zu entflammen und nach kaum zwei Monaten der Bekanntschaft eine Eheschließung zu erreichen gewußt. Aber sein Charakter erwies sich als so schwach und schwankend, daß nach wenigen Jahren, wenn auch nicht eine gerichtliche Scheidung, so doch eine völlige Trennimg erfolgte. Als Aue in Paris interessante Aufgaben für lange Zeit gefunden, ist er dorthin gegangen und hat später keinen Versuch zum Zusammenleben mehr gemacht. Wenn nun in dem ersten Stück ihrer Bekenntnisse das treue Festhalten an ihrer ersten Liebe, die sie sechzehnjährig gefaßt hatte, rührend und einprägsam auftritt, so ist in dem zweiten Stück ergreifend das treue, von Tag zu Tag gegebene Bekenntnis ihres Schwankens, ob sie dem lodernden Liebesgefühl nachgeben oder dem warnenden Verstände folgen sollte. Alles ist in einer schönen, schlanken Schrift geschrieben, einer fast tadellosen Orthographie und mit gewandtem, treffendem Ausdruck.

DIE SCHULE Ostern 1866 bin ich zur Schule gekommen, und zwar in die Höhere Bürgerschule am Clever Tore. Die war gewählt worden, weil sie, erst vor kurzem gegründet, unter dem hoch angesehenen Direktor Ferdinand Callin sich rasch einen sehr guten Ruf erworben hatte. Es war, was man anderswo eine lateinlose Realschule oder Realschule II. Ordnung nannte. Sie hatte drei Vor- und sechs Hauptklassen von Sexta bis Prima. In der Sexta begann das Französische, in der Quarta das Englische. Das Abschlußzeugnis berechtigte zum Einjährigen Dienst. Ich denke an diese Schule mit der größten Freude zurück. Sie war pädagogisch vorbildlich aufgezogen. Die Vorschulklassen waren in den Händen von jungen, ausgezeichnet durchgebildeten Lehrern. „Herr Wanner", den wir als ersten hatten, Heinrich Wanner, hat uns durch zwei Klassen geführt, und der folgende Wilhelm Bünte, offiziell Bünte III genannt, wieder durch zwei, durch die 1. Vorklasse und die Sexta. Mein Vater war mit beiden durch den Männergesangverein freundschaftlich bekannt. Wanner, ein stattlicher Mann mit langem, schwarzen Bart, war 29 Jahre alt und jung verheiratet. Gleich im ersten Schuljahr durften wir ihm erst zu einem Söhnchen gratulieren und dann zum Geburtstag nach reichlicher Geldsammlung einen großen, echt hannoverschen Butterkuchen nebst einigen Flaschen Wein 13

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und einer Kiste Zigarren in der Klasse aufbauen und nachher ins Haus tragen. Meine Mutter hatte diese Veranstaltung geleitet, und ich war mit unter den Überbringern. In lebhafter Erinnerung sind mir die Anfänge des Geographie-Unterrichts. Da wurde einer aufgerufen: „Wo wohnst Du ? " — In der Osterstraße. „Und wie gehst Du von da zur Schule ? " — Ich gehe die Osterstraße entlang, und beim „Römischen Kaiser" komme ich auf die Schmiedestraße, dann gehe ich durch die Marstallstraße, und beim Marstallsturme komme ich an die Leine. Da gehe ich über die Kavalierbrücke am Gefangenenhause vorbei, und dann bin ich da! — „Schön, was weißt du von der Leine, wo kommt sie her ? " Und nun begann die Belehrung: wie der Fluß weit weg bei Heiligenstadt entspringe, zuerst noch klein sei, dann durch die Ruhme vom Harz und die Innerste von Hildesheim her immer größer werde, nachher in die Aller fließe, diese bei Verden in die Weser und die Weser an Bremen vorbei in die Nordsee. Das alles wurde an die Tafel gezeichnet, wir malten es ab auf unsre Schiefertafel, und so prägte sich das Bild dem Köpfchen ein. Französisch und Englisch wurde nicht wie üblich mit Deklinieren und Konjugieren begonnen, sondern gleich mit Lektüre, nach Lehrbüchern, die unser Direktor verfaßt hatte; in dem englischen fing gleich auf der ersten Seite die Geschichte „Robin the conjurer" an, so gedruckt, daß unter jeder englischen Zeile Wort für Wort die deutsche Übersetzung stand. Wir konnten uns also völlig damit zurecht finden und hatten großen Spaß an dem Manne, der umherzog with an old prayer book instead of a conjuring book und jeden schröpfte, whose wit was lighter than his purse. In der ersten Vorklasse, dem dritten Schuljahre, begann das Sitzen in Rangordnung. Als uns die biblische Geschichte vorgetragen wurde: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde" . . . und wir das wiedererzählen sollten, hatte ich alles so Wort für Wort behalten, daß ich den ersten Platz erhielt, und der ist mir dann auch in den weiteren Klassen ohne Mühe, wie von selbst, zugefallen, offenbar durch meine Gleichmäßigkeit in den verschiedenen Fächern, wie Naturwissenschaften, Mathematik und Sprachen, ja auch noch Zeichnen und Singen. Als Sextaner bin ich zum erstenmal öffentlich aufgetreten. In einer Schulfeier zu Gellerts 100. Todestag, am 13. Dezember 1869, sollte ich dessen Fabel „Die schlauen Mädchen" deklamieren. Es ist das hübsche Stück von den faulen Dirnen, die den Hahn umbringen, weil er sie immer so früh zum Aufstehen ruft, und die dann nachher schmerzlich die Eier entbehren. Da die Schule 800 Schüler hatte, war die Aula brechend voll von Müttern, Schwestern und Tanten. Mich hatte man, da ich als Jüngster gleich nach dem Eröffnungschor drankommen sollte, ganz vorn hinter 14

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SCHULE

den großen Ofen gesetzt. Da kam der Direktor zu mir heran, legte die Hand auf meine Brust und sagte: „Na, klopft das kleine Herz ?" Und dann: „Wo hast Du denn Dein Buch?" „Das hab ich nicht mitgebracht", sagte ich. „Sooo"sagter bedenklich; und ich ganz munter: „Ich kann es ja auswendig!" Diese naive Sicherheit amüsierte und tröstete ihn, und die Sache ging dann auch frisch und gut vonstatten, so daß meine Großmutter, die allein von den Meinigen gekommen war, mich stolz nach Haus begleitete. Am folgenden Morgen, als wir zur Frühstückspause in den Schulhof gingen, stand der Direktor dort an der Tür und reichte mir, als ich vorbeikam, einen fast kopfgroßen, wunderschönen Apfel. Der wurde natürlich wie ein Heiligtum mit nach Hause genommen und der glücklichen Mutter als Trophäe vorgeführt. Besonders gern denke ich an den Gesangunterricht in Hannover zurück. Die Musik spielte ja überhaupt eine große Rolle in der Stadt. Der blinde König, für den sie der Hauptgenuß war, hatte die Oper auf eine stolze Höhe gehoben. Niemann, als Heldentenor der Träger der großen Verdi- und Wagner-Opern und „Schorse Nollet", der populäre Sohn eines hannoverschen Friseurs, als Don Juan, Rigoletto und Hans Heiling suchten ihres Gleichen, und der Kapellmeister Marschner hatte ja selbst Opern, wie „Hans Heiling", „Der Vampyr" und „Templer und Jüdin" geliefert. Die Bürgerkreise wurden mitergriffen, besonders durch den Männergesangverein, der große Konzerte gab und dabei mit seinem berühmten Quartett glänzte, in dem Böhning mit des Basses Grundgewalt immer alles erschütterte. Auf die Schulen wirkte sich diese begeisterte Tätigkeit dadurch aus, daß jeder sangeskundige Lehrer Mitglied des Männergesangvereins war. Besonders trat hier das Geschlecht der Bünte hervor, in dem man Bünte I, II, III und IV unterschied. Sie waren alle Lehrer. Bünte I war, glaub ich, der Vater und zu meiner Zeit schon außer Dienst, die andern drei waren Brüder und standen in voller Kraft. Bünte II war an einer Mädchenschule, aber daneben der angesehene Dirigent des Männergesangvereins. Bünte III (Wilhelm Bünte), mein Klassenlehrer durch zwei Jahre, hielt schon, als wir noch gar keine Gesangstunde hatten, darauf, daß wir immer die letzte Schulstunde des Tages mit einem Liede beschlossen. Mit seiner kleinen Geige begleitete er es, und die Löwe'sche Ballade „Herr Heinrich saß am Vogelherd" war unser Lieblingsstück. Bünte IV schließlich war der Mittler zwischen der Schule und dem Domchor, der dem Leipziger Thomanerchor entsprach und allsonntäglich den Gottesdienst in der Schloßkirche am Leineschloß umrahmte. Der Domchor unterstand Otto Heinrich Lange, dem Bruder der später berühmt gewordenen Helene Lange, einem genialischen Mann, dessen eigene Liedkompositionen auch in der Stadt viel gesungen wurden. Der Domchor rekrutierte sich aus 15

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den besten Sängern der verschiedenen Schulen, Lehrern sowohl wie Schülern. Für die frisch ausgewählten Schüler war ein Vorbildungsjahr eingerichtet, und die Übungen dieses Jahres leitete Bünte IV (August Bünte). In diese Vorschule bin ich am Ende der Quinta (Winter 1870/71) aufgenommen worden. Wir sangen eigentlich nur alte, schöne Kirchenlieder, vielfach mit lateinischem Text; aber viele bekamen in dieser großen Zeit, bei dem so glücklich zu Ende gehenden französischen Kriege, ganz neue Kraft und neuen Schwung. Das „Halleluja" hatten wir grade in den Tagen, wo der Fall von Paris zu nahen schien, geübt und konnten dann bei der Entscheidimg ganz frisch damit auftreten. Denn zuweilen, wenn es sich um einen besonders feierlichen Gottesdienst handelte, wurde die Vorschule auch für den Sonntag mit aufgeboten. Dann bekamen wir zu aller Begeisterung noch Männlein für Männlein 10 gute Groschen in die Hand gedrückt. Das erste Geld, das man sich selbst verdiente.

1866

Die Jahre vor dem 70er Kriege waren sehr gespannt gewesen in Hannover. In meinem ersten Schulvierteljahr hatte ich mit meinen Brüdern die Masern und durfte zum erstenmal wieder aufstehen, um wenige Tage vor der Schlacht von Langensalza (27. Juni 1866) von unserm Fenster aus die Preußen in Hannover einziehen zu sehen. Am Vormittag waren noch viele Lastwagen aus dem Hofe der Landschaft uns gegenüber herausgerasselt, die die Taler und Doppeltaler mit dem schönen Kopf Georgs des Fünften retten wollten. Am Nachmittag erscholl plötzlich Militärmusik, und ein Strom preußischer Infanterie quoll aus der Seilwinderstraße über die Oster- in die Packhofstraße hinüber. Es waren Westfalen, wie man bald erfuhr, die in Eilmärschen über die Weser und Bückeburg gekommen waren. Sie waren furchtbar verstaubt und erschöpft und stürzten sich auf die Wassereimer, die die Frauen ihnen mitleidig aus den Häusern herantrugen. Wir konnten von unserm 3. Stockwerke (vergl. Taf. 2) aus alles genau erkennen, der Zug war nur wenige Häuser weit entfernt. Wenige Tage später begeisterten noch die Bravourgeschichten von Langensalza die Bevölkerung mächtig: wie unsre Infanterie ohne Besinnen durch die reißende Unstrut gegangen sei, wie die schwere hannoversche Kavallerie ein ganzes Regiment Preußen niedergeritten habe, wie ein populärer Gardedukorps-Rittmeister (Führing) einen Preußen von der Schulter an ganz durchgehauen habe, — wie der Schwabe den Türken in Uhlands Gedicht. Dann kam aber der furchtbare Umschlag: die Preußen hatten in ihrer Unbegreif16

HANNOVER

1866

lichkeit den Sieg in die Kapitulation verwandelt, das Land war wehrlos ihrer Laune preisgegeben. Der König ist nicht mehr nach Hannover zurückgekehrt, er ging zu seinem verwandten Hause nach England, um da eine Weifenlegion zu bilden und noch jahrelang zu erhalten. Die Königin ist mit den Prinzessinnen noch längere Zeit auf der Marienburg über der Leine bei Nordstemmen geblieben, bis auch sie sich aus dem Lande gedrängt fühlte. In diesen Jahren wurde die Bevölkerung zwischen Wut und Hoffnung hin und hergeworfen. Den Geschäftsleuten, die allzu rasch sich der neuen Ordnung anbequemen wollten, warf man die Ladenfenster ein, auch die prächtigen Spiegelscheiben unsrer Hausbesitzer Bernstorff und Eichwede erfuhren dies Schicksal. Mein Vater war nicht bei diesen Überläufern, er blieb verschont. Der Adler des Preußischen Wappens wurde umgedeutet auf den Kuckuck, der seine Eier in fremde Nester legt. Es war ein Sport, besonders der lieben Jugend, den Offizieren „Kuckuck, Kuckuck" nachzurufen und dann rasch auszukratzen. Die Jungens, die gefaßt wurden, kriegten Ohrfeigen, die Erwachsenen wurden eingesperrt. Den „hungrigen Preußen" wurde das Wohlgefallen an dem fetten Bissen Hannover überall nachgewiesen. Besonders suchte man die neuen Machthaber zu ärgern durch das Hervorkehren der gelb-weißen hannoverschen Farben. Als Fahnen nicht mehr ausgehängt werden konnten, strich man den Gehsteig gelb-weiß an. Und als man das dann selbst wieder abkratzen mußte, wurden die Schaufenster entsprechend hergerichtet, wobei die Bäcker es am leichtesten hatten mit ihren gelben Broten auf weißen Borten. Die Geburtstage der angestammten Königsfamilie und der Tag von Langensalza sind in solcher Weise noch jahrelang gefeiert worden. Ja, als 1870 der Krieg ausbrach, rechnete man noch stark auf die Welfenlegion des Königs; ich habe Mitschüler sich rühmen hören, daß sie ihre Brüder und Vettern, die ins Feld ziehen mußten, noch auf dem Bahnhof verpflichtet hätten, bei der ersten Gelegenheit „überzugehen". Der Verlauf des Krieges wandelte dann freilich die Gefühle. Als an meinem Geburtstag, dem 6. August 1870, einem Sonntag, mein Vater mit seinen drei Jungens einen Tagesausflug nach dem Banther Berge gemacht hatte, fanden wir abends zuerst auf dem Holzmarkt und dann in den weiteren Straßen die Häuser illuminiert zur Feier des Sieges bei Wörth, von dem eben die ersten Nachrichten eingetroffen waren. So hat der weitergehende Krieg dann immer nachdrücklicher gewirkt. Der Einzug der Truppen im Juni 1871, mit dem deutschen Kronprinzen an der Spitze, ist eine Volksfeier gewesen. Unsre Schule hatte ihre Aufstellung auf der Georgstraße erhalten, und unser Lied: „Hurra, du stolzes, schönes Weib, Hurra Germania!" klingt mir heute noch in den Ohren. Aber das Gedächtnis eines zähen Volkes ist lang, und der Hannoveraner ist ehrgeizig und stolz. Der Verlust des angestammten Weifenhauses und der 2

Schuchhardt

Lebcnserinoerungen

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HANNOVER 1859—1872 staatlichen Selbständigkeit war zu schmerzlich und kränkend gewesen. Große Teile des Volkes hofften immer noch auf eine Wiederherstellung. In Hannover hat das von der gesamten Bürgerschaft gewählte BürgervorsteherKolleg noch bis kurz vor meinem Amtsantritt in Hannover (1888) eine weifische Majorität gehabt, die bewußt den Fortschritt hemmte, damit es nicht heiße, Hannover habe durch die Verpreußung gewonnen. Tramm's Erstes, als er 1891 Stadtdirektor wurde, ist gewesen, daß er den drückenden Vertrag mit der englischen Gasgesellschaft umformte, eine förderliche Schlachthausordnung einführte und endlich, endlich eine Kanalisation baute. Auch in der Landesverwaltung fühlten sich viele als „Mußpreußen". Als 1893 das neue Provinzialmuseum eingeweiht wurde und der persönlich erschienene Kultusminister Studt Ehrungen und Verleihungen verkündigt hatte, hab ich aus dem Munde des danksagenden Landeshauptmanns v. Hammerstein-Loxten die Worte gehört: „Als wir noch das Glück hatten, unter einem eigenen Landmarschall unsre Geschäfte zu führen" . . . Und der Minister fand keine Erwiderung darauf. Eine bezeichnende Erfahrung sollte ich noch 1907 machen. Ich hatte im Historischen Verein über die Entstehung des großen Sachsenstaates oder Sachsenbundes gesprochen und gesagt, der englische Kirchenhistoriker Beda berichtete kurz vor 700: Als der große Apostel Winfrid (Bonifatius) das Bistum Fulda gegründet und dann auch Friesland christianisiert hatte, habe man beschlossen, nun auch die Bekehrung von Westfalen in Angriff zu nehmen. Um sich gehörig darauf vorzubereiten, sei sein Helfer Suitbert für zwei Jahre in seine Heimat Northumberland zurückgekehrt. Als er dann aber seine Arbeit beginnen wollte, habe er nicht mehr in das Land hineingekonnt, denn die Westfalen seien inzwischen von den Sachsen unterworfen worden, und diese bedrohten jeden Apostel mit dem Tode. Damit, meinte ich, hätten wir den Beweis, daß die Brukterer, Chauken, Angrivaren und Cherusker sich keineswegs freiwillig, gewissermaßen um der schönen Augen der Sachsen willen, zu dem neuen Bunde zusammengeschlossen hätten, sondern daß sie durch das Schwert, durch Unterwerfung dazu gezwungen worden seien. Wütend erhob sich in der Versammlung hiergegen der Weifenführer Herr v. Scheele: es sei genug, daß die Stämme des Sachsenlandes 1866 eine Unterwerfung hätten erdulden müssen, daß das zu Beginn ihrer Zusammengehörigkeit schon einmal passiert sein solle, brauche kein guter Hannoveraner sich sagen zu lassen! — In Hannover ist kein Kaiser Wilhelm- und kein Bismarck-Denkmal erstanden. Der erste Platz, den man am Bahnhof betritt, heißt „Ernst-AugustPlatz«, und die schönste Straße heißt „Georgstraße". Eine „Kaiser-WilhelmStraße" gibt es nicht und eine „Bismarck-Straße" erst seit etwa 20 Jahren weit draußen bei der Rennbahn. 18

AUFBRUCH

Im Jahre 1870 erlitt mein Vater, erst 41 Jahre alt, einen schweren Schlaganfall, der seine ganze rechte Seite lähmte. Er erholte sich ziemlich rasch, aber die rechte Hand blieb schwach, bei gekrümmtem kleinen Finger, und hat nie ihre alte Geschicklichkeit wieder erhalten. Die vornehmen Visitenkarten: schwungvolle englische Schrift aufs zarteste in Kupfer gestochen, mit denen er die Hannoveraner verwöhnt hatte, wollten nicht mehr gelingen; das Geschäft ging zurück, und als dann im Winter 1870/71 bei der Mutter sich auf Grund eines Herzfehlers eine bedrohliche Wassersucht entwickelte, so daß sie bei der drei Treppen hoch gelegenen Wohnung sich um den Laden nicht mehr kümmern konnte, wurde eine radikale Änderung beschlossen. Das Geschäft wurde aufgegeben, wir zogen in eine bequem gelegene Wohnimg in einem einstöckigen Hause, das dem befreundeten Senator Hornemann gehörte, bei der Christuskirche, und mein Vater nahm eine Beschäftigung als Zeichner bei der Kgl. Klosterkammer an. Dann kam der schwerste Schlag. Im April 1871 starb meine Mutter. Der Haushalt mit vier Kindern zwischen 4 und 11 Jahren war einem anspruchsvollen Dienstmädchen preisgegeben. Meine Großmutter betreute das Hauswesen einer etwas schwachsinnigen adligen Dame in der weitentfernten Baumstraße. Da fiel mir als dem Ältesten mancherlei zu, was über mein Alter hinausging. Ich bekam trübe Zukunftsbilder zu sehen; es wurde vorgeschlagen, die Kinder aufzuteilen und von verschiedenen Familien aufnehmen zu lassen. Die Lösung brachte ein Antrag, der meinem Vater auf der Höhe der Bedrängnis wie vom Himmel fiel. Er hatte 1864 für die Steingutfabrik Witteburg an der unteren Weser die ganze künstlerische Ausrüstung geliefert, das heißt den Zierat entworfen und in Kupfer gestochen, den sie auf ihren Tellern, Schüsseln und Kannen verwenden wollte. Ich erinnere mich noch eines besonders behebten Tellers, auf dem der alte Blücher, die Pfeife rauchend, an der Spitze seiner Truppen ritt. Jetzt war in Grohn bei Vegesack eine zweite solche Fabrik gegründet, die die neue englische Erfindung des Steingutgeschirrs und seiner Verzierung durch Abdrücke von der Kupferplatte ausbeuten wollte. Diese Grohner Fabrik bewarb sich um meinen Vater und wünschte, daß er ganz dorthin käme. Und der Vater nahm an, besonders auch im Hinblick darauf, daß in Vegesack ein alter Jugendfreund von ihm wohnte, der Privatlehrer Hermann Kiem, der ihn begeistert willkommen hieß. Kiem lebte in kinderloser Ehe in einem eigenen hübschen Hause mit großem Garten. Darin sollten die neuen Ankömmlinge mit wohnen und es fröhlich beleben. Mein Vater ist dann mit meinen drei Geschwistern im Herbst 1871 nach Vegesack übergesiedelt; ich selbst bin der Schule wegen noch bis Ostern 1872 2*

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HANNOVER

1859—1872

bei der Großmutter in Hannover geblieben und habe in jenem Winter die Sonntage regelmäßig im Hause meines Onkels Stichweh verbracht, in dem munteren Getriebe von sieben Vettern und Basen. Auf Weihnachten durfte ich zu Besuch nach Vegesack kommen und damit meine erste selbständige Reise machen. Die neue Welt dort mit dem mächtigen Strom und einem großen hölzernen Walfischfänger, der eingefroren im Hafen lag, imponierte mir sehr. Ganz gefangen wurde ich aber durch das neue warme Familienleben im Freundeshause, und als ich wieder in Hannover war, hab ich tagelang schlimmes Heimweh gehabt und war nur zu beruhigen durch die Aussicht, die mir die Großmutter verriet, daß wir beide wohl auch bald dorthin nachfolgen würden. In der Tat geschah das dann auch. Es gab in Vegesack eine Realschule, die sich im Aufbau zu einer solchen I. Ordnung befand; ich hatte also keine Einbuße gegen Hannover, sondern einen Fortschritt zu gewärtigen, und der Vater wünschte auch das gastliche Provisorium bei Riems durch einen neuen eigenen Haushalt abzulösen. So kam es also zum Abschied aus der Vaterstadt. Er wurde mir nicht schwer, nur die Schule griff mir noch einmal ans Herz durch meinen gütigen Direktor Callin. Er ließ mich nach der letzten Stunde mit meinem Zeugnis in sein Zimmer kommen und fragte mich nach den häuslichen Verhältnissen und den neuen Aussichten; dann schrieb er in mein Zeugnis: „Wir empfehlen diesen in jeder Beziehimg trefflichen Schüler dem besonderen Wohlwollen seiner künftigen Lehrer". Als ich gleich von der Schule weg zu Tante Bergmann ging, um mich für Vegesack zu verabschieden, vergoß sie über diese Zeilen rührende Tränen. Diese Fürsorge des herzhaft zu seinen Schülern stehenden Mannes hat mir nachher in Vegesack so viel rücksichtsvolle und bevorzugte Behandlung eingetragen, daß ich sie im Hinblick auf meine Mitschüler zuweilen etwas vorsichtiger gewünscht hätte. Am 22. März 1872, dem ersten in allen Gauen gefeierten Geburtstage des neuen deutschen Kaisers, bin ich dann mit der Großmutter nach Vegesack gefahren. Den prachtvollen Callin hab ich ein paar Jahre später auf dem Wege zur Universität noch einmal besucht und mich an seiner hohen, würdigen Greisengestalt erfreut. Er ist 83jährig 1887 gestorben. Ein dankbarer Verehrerkreis hat ihm auf dem Engesohder Friedhof ein schönes Grabdenkmal mit seinem Porträt-Medaillon errichtet, und die Stadt hat eine neue Straße am Anfang der Herrenhäuser-Allee nach ihm benannt.

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J U G E N D UND E R S T E

BETÄTIGUNG

II. V E G E S A C K 1872-877 S T A D T UND U M G E B U N G Vegesack ist die kleine, 4000 Einwohner zählende Stadt auf dem letzten Zipfel des bremischen Gebietes, die Bremen zu seinem Vorhafen gemacht hatte, als die großen Seeschiffe wegen Verschlammung des Flusses sie selbst nicht mehr erreichen konnten. Bei Vegesack mündet die stattliche Lesum, die mit ihren Quellflüssen Hamme und Wümme weit in die sumpfigen Moore zurückgreift und so der Weser eine stattliche Zufuhr bringt. Nachher, als die Weser noch mehr verschlammt und die Seeschiffe noch größer geworden waren, konnte aber auch Vegesack nicht mehr helfen, und der große Bürgermeister mit dem plattdeutschen Namen Smid rettete seine Handelsmetropole durch die Anlage von Bremerhaven. Als wir 1871/72 nach Vegesack kamen, war die Stadt ein stilles, verschlafenes Nest. In jedem zweiten oder dritten Hause wohnte eine Kapitänsfamilie, teils mit, teils ohne ihr männliches Haupt, je nachdem ob dieses schon zur Ruhe gesetzt war oder „noch fuhr". Außer dem plumpen, hölzernen Walfischfänger, einem „Grönlandfahrer", der im Hafen überwinterte, war nichts mehr von Überseern zu sehen. Dieser Charakter der Stadt hat sich nachher langsam geändert. Als die Schlickbänke der Weser auch für die einfache Flußschiffahrt unangenehm wurden, beschloß der Bremer Senat eine Radikalkur und berief 1875 den als Wasserbaumeister schon sehr angesehenen Professor Franzius von der Technischen Hochschule Hannover an die Spitze des ganzen Bremer Bauwesens. Franzius stellte dann den überraschenden Plan auf, daß mit dem Baggern ganz aufgehört werden und man sich damit begnügen solle, an den weiten und seichten Stellen lange Buhnen bis weit gegen die Strommitte hin zu bauen; das werde den Fluß so fest in ein schmales Bett zwingen, daß seine starke Strömimg von selbst alle Verschlammung mit sich nehmen werde. Und so geschah's zum Staunen aller. Als der Buhnenbau von Bremerhaven bis Vegesack heraufgekommen war, konnte sich die kleine Ulrichs'sche Werft zu der großen Vulkanwerft ausweiten und Ozeandampfer bauen, die nachher mit Leichtigkeit ins Wasser glitten und die Weser hinunterfuhren. Und heute fahren schon lange die Ozeanriesen wieder ganz bis nach Bremen hinauf. Von Bremerhaven bis Bremen reihen sich an beiden Ufern die Siedlungen, Werften, Fabriken. Und Vegesack selbst ist auch nicht mehr die alte, trauliche Idylle; zu der Steingutfabrik sind Wollwäschereien und -Spinnereien gekommen, und am Oldenburgischen Ufer tobt eine Abwrackwerft mit höllischem Lärm. 21

VEGESACK

1872-1877

Vegesack ist sehr hübsch gelegen. Es thront auf dem steilen Ostufer der Weser an der Stelle, wo sie, vom Südwesten kommend, nach Nordwesten umbiegt. So haben die Gärten der Randstraße, die Weserstraße heißt, den köstlichsten Blick weit weserauf- und weserabwärts und können die Schifffahrt in all ihrem Tun und all ihren guten und bösen Schicksalen verfolgen. Der Wassersport stand bei der männlichen Jugend natürlich an erster Stelle. Sekundaner und Primaner hatten in Gruppen zusammen Ruder- und Segelboote. Wir anderen lernten die Wasserverhältnisse hauptsächlich beim Schlittschuhlaufen kennen. Die Weser selbst kam dafür nicht in Betracht. Wenn sie zufror, geschah es immer in den Stunden, wo die heraufkommende Flut gegen den noch hinabziehenden Ebbstrom drängte, und nun die Schollen, die von beiden Seiten mitgeführt wurden, sich übereinander türmten. Das war ein prachtvolles, gewaltiges Bild, dem man stundenlang zuschauen konnte. Aber Schlittschuhlaufen konnte man auf diesem zerklüfteten Gefilde nicht. Man bekam einen Begriff davon, wie schwer es die Nordpolforscher mit ihren Hundeschlitten haben müssen. Ein Trost war dafür die Lesum. Sie floß ruhiger, hatte infolgedessen keinen so starken Ebbeflutkampf und fror daher langsamer und oft auf weite Strecken glatt zu. Bei stabilem Frost hatte man hier immer eine gute Bahn, und jung und alt nutzte sie fröhlich aus. Die Alten fuhren hier auf ihren holländischen Schlittschuhen mit den weitvorspringenden Kufen rüstig dahin, und die Jungen vollführten auf ihren Halifax-Patenten die schönsten Bogen und Tänze. Ich habe diesen köstlichen Sport immer sehr geliebt und ihn in den folgenden zwölf Jahren eigentlich nur als Leipziger Student auf dem Johannapark weiter üben können. In der guten Jahreszeit, vom Frühling bis zum Herbst, konnte ich meiner Pflanzen- und Schmetterlingsliebhaberei weiterfröhnen. Mein Vater behielt seine Gewohnheit bei, allsonntäglich mit seinen drei Jungen einen großen Morgenausflug zu machen, und die abwechslungsreiche Umgegend Vegesacks mit den kleinen Wäldern, der Heide und den beginnenden Mooren bot uns dabei allerhand Überraschungen. Mancherlei seltene oder gar unbekannte Pflanzen begegneten uns, und grade von den vornehmen Schmetterlingen, wie dem Trauermantel oder dem Totenkopf, schien es hier mehr zu geben als in Hannover. Daneben blühte die Briefmarkensammlung aufs schönste weiter. Der rege Verkehr mit Übersee brachte sehr viel von dort herein, und Briefmarken sammelten eigentlich alle meine Mitschüler, aber für die Schmetterlinge war ich der einzige. Von Naturalien sammelte man hier Muscheln und Eier. Die Muscheln brachten die Väter und Onkel „von Drüben" mit. Solch exotische Liebhaberei sprach sich auch darin aus, daß oft das Gartentor einer Kapitänswohnung aus zwei Walfischrippen gebildet war, die einen Spitzbogen bildeten. Die Eier aber sammelten die Jungen selber, und zwar wurde

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dabei sehr gesittet verfahren, indem man niemals das ganze Gelege aus dem Nest nahm, sondern immer nur ein oder zwei Stück. Dazu wurden oft weite Exkursionen gemacht. Ich habe einmal mit zwei Kameraden an einer Wanderung teilgenommen, die der treffliche Naturlehrer Borcherding nach dem Stüher Walde bei Delmenhorst im Oldenburgischen machen wollte, um dort die sehr selten erreichbaren Reihereier zu gewinnen. Es war eine äußerst anstrengende Tour, morgens um 6 waren wir über die Weser gefahren, und erst nachmittags gegen 2 Uhr kamen wir ans Ziel. Und was fanden wir? Es waren in der Tat Reiher da, eine ganz stattliche Zahl, aber sie hatten ihre Nester so hoch in den Kronen von riesenhaften Ulmen gebaut — 60 m hoch, taxierte Borcherding —, daß man garnicht daran denken konnte, an sie zu gelangen. Enttäuscht nahmen wir rasch ein leidliches Mittagessen ein und machten dann kehrt, um doch noch bei Tage eine möglichst weite Strecke zurückzulegen. Als wir in die Nähe der Weser und der Oldenburg-Bremer Eisenbahn kamen, bot Borcherding uns die bequeme Nachhausefahrt an, aber stolz wollten wir diese Tour nun auch ganz zu Fuß beendigen. So wurde weitermarschiert, Stunde um Stunde. Einer blieb einmal immer stärker zurück, es war August Bähre, dem wir das Schlappwerden eigentlich am wenigsten zugetraut hatten. Ohne es ihn merken zu lassen, verlangsamten wir unsern Schritt, so daß er allmählich wieder aufkam. Als wir glücklich in Lemwerder im Boot saßen, fühlten wir unsre Beine garnicht mehr, und als wir in Vegesack landeten, schlug es zehn Uhr. Wir waren 16 Stunden unterwegs gewesen. Am andern Morgen, zu Wochenbeginn, ernteten wir ein erstauntes Lob des Direktors, der uns um 7 Uhr noch nicht auf unsern Bänken erwartet hatte. Er wußte von der Unternehmung, die alle Kundigen im voraus für „ t o dull" erklärt hatten. HAUS UND SCHULE Wenige Monate nachdem ich mit der Großmutter in der neuen Heimat eingetroffen war, hatte mein Vater sich wieder verheiratet, und zwar mit einer Münchener Jugendliebe, Rosa Islinger, die anno 1852 Bedenken gehabt hatte, sich dem Jüngling mit unsicherer Zukunft für das ferne Norddeutschland anzuvertrauen (Taf. 6), die dann nach 10 Jahren aber einen Reuebrief geschrieben hatte und nun, nach wiederum 10 Jahren, bereit war, den Witwer mit vier Kindern zu betreuen. Der Übergang von München nach Vegesack war freilich erschütternd stark. Die neue Mutter besaß den starken, selbständigen Geist ihres Volkstums. Die ausschließlich plattdeutsche Sprache der Marktfrauen erschien ihr rücksichtslos, unsre Lieblingsgerichte, wie Steckrüben und Kartoffeln, plebejisch und die beständige Eßlust von »ms Kindern als eine schlechte Angewohnheit. Meine Geschwister nahmen 23

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alles, was aus dem neuen Munde kam, als Orakel, aber mir, dem 13jährigen, wurde das Schweigen oft schwer. Indeß sie war klug, wirtschaftlich, fürsorglich, und wir können ihr herzlich dankbar sein. Unsern Vater hat sie so lebhaft in frühere Zeiten und Gefühle zurückversetzt, daß sie 1882, als alle drei Söhne aus dem Hause waren, miteinander nach München gezogen sind. Die Großmutter nahm nun eine eigene kleine Wohnung, und wir, die neugestaltete Familie, zogen in die obere Etage eines größeren Hauses in der Weserstraße, dessen untere die obligate Kapitänsfamilie innehatte. Mein Eintritt in die Vegesacker Realschule vollzog sich sehr einfach: ich ging aus meiner Hannoverschen Quarta hier glatt in die Tertia über, nur mit der Auflage, daß ich die 3 Jahre Latein von Sexta an nachzuholen hatte. Dafür stand aber als trefflicher Helfer der alte Freund meines Vaters, Hermann Kiem, zur Verfügung. Der war, ein weichmütiger, etwas phantastisch veranlagter Mann, nach einem hin und herschwankenden Leben durch die Heirat mit einer energischen, tatkräftigen Frau auf einen festen Weg gekommen. Er hatte seine alte Gymnasialbildung, die wohl nur bis Tertia reichte, benutzt, um sich in dem kleinen Vegesack als konkurrenzloser Privatlehrer niederzulassen. Da er intelligent und für Sprachen besonders begabt war, hatte er zu seinen alten Schulsprachen noch Spanisch hinzugenommen und konnte so der Schifferbevölkerung der dortigen Gegend besonders mit Englisch und Spanisch wertvolle Dienste leisten. Spanisch gehörte damals bei dem regen Verkehr mit Südamerika im Kopf eines Kapitäns so sehr zu der Ausrüstung jedes ordentlichen Menschen, daß unser Mitschüler Karl Nutzhorn auf Wunsch seines Vaters Spanisch lernen mußte, was er später als braver Pfarrer und erfolgreicher Bürgerforscher wohl kaum mehr gebraucht hat. Ich habe später aus dem Vorleben Kiems mancherlei erfahren. Alexander Conze war mit ihm zusammen in Hannover auf der Schule gewesen und erinnerte sich, daß einmal am Ende eines Schuljahres für verschiedene Schwache der Grund ihrer Mitversetzung angegeben war und es dabei geheißen hatte: „Hermann Kiem Alters wegen". Und mein Vater besaß ein altes Gedichtbändchen von Hermann Kiem, in dem ein Poem anfing: Auf einem alten Friedhof Zu Nürenberg der Stadt, Da ruhet Albrecht Dürer, Der viel gemalet hat. Daneben ruhet Agnes, Die seine Gattin einst, Auch sie mußt du beweinen, Wenn du den Mann beweinst. 24

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Das Hauptgedicht aber galt dem Herzog Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha, in dem man ja in den Zeiten der deutschen Sehnsucht nach 1848 vielfach den künftigen deutschen Kaiser sehen wollte. Da schloß jeder Vers: „Das ist so tapfer, treu und ernst Der wackre Sachsenherzog Ernst". Diese Jugendsünden merkte man aber dem gefestigten und zu einem tüchtigen Pädagogen gewordenen Hermann Kiem nicht mehr an. Um seine schlechten Verse wettzumachen, will ich auch die besseren anführen, die er mir bei meinem Abgang von der Schule 1877 ins Stammbuch geschrieben hat: Das Leben, es wechselt sich oft, Es wirbelt durch endlose Kreise, Und der ist ein Tor, der Bleibendes hofft Auf dieser so flüchtigen Reise. Es herrscht ein Trubel, ein ewiger Streit, Genieße im Fluge die köstliche Zeit, Genieße, entbehre, sei weise! Der Vegesacker Schule verdanke ich sehr viel. Am 22. März war ich mit meiner Großmutter von Hannover nach Vegesack gefahren, am Geburtstag des alten Kaisers. Von Hannover aus hatte man noch kein Gefühl dafür, daß das ein Festtag sei; in Vegesack wehte schon eine andere Luft. Aus dem Weifenreich war man nach Deutschland gekommen. Hier feierte die Schule ihr Sommerfest am 3. Juli, dem Tage von Königgrätz, an dem Bismarcks Sieg über die widerstrebenden Bundesstaaten besiegelt war, und hier hörte man in der Schule, daß Bismarck mit seinem längst vor 1866 gesprochenen Wort, die deutsche Einheit könne nur „durch Blut und Eisen" geschaffen werden, sich als klar schauender Staatsmann erwiesen habe. Die Schule hatte eine Reihe erst vor kurzem berufener Lehrkräfte jüngeren Alters. Besonders ist es unser Direktor, Dr. Wilhelm Ebeling, gewesen, von dem manches goldene Wort sich mir fürs Leben eingeprägt hat. Er war Historiker, ein Schüler von Ranke und Droysen, stammte aus dem braunschweigischen Städtchen Harzburg und besaß die ganze Klarheit und ernste Festigkeit, die in jenem Landstrich zu Hause ist. Von der Untersekunda bis zum Abitur sind seine Latein- und Geschichtsstunden uns immer die eindrucksvollsten in der Klasse gewesen. In der Oberprima, wo wir nur zu Vieren saßen, hat er mit uns Tacitus, Horaz, Catull und sogar Plautus gelesen. Das war für ein Realgymnasium, wie mir nachher die Universitätsprofessoren bezeugten, erstaunlich. 25

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Dr. Röttger, 43 jährig, Preuße und Unteroffizier der Reserve, war ein begnadeter Mathematiker, Physiker und Chemiker von einer Klarheit, vor der alle Schwerfälligkeit des Begreifens schmelzen mußte. Schnöderweise war aber das, was wir am raschesten begriffen hatten und am liebsten ausführten, die Herstellung von Schwefelwasserstoff in dem an die Prima anstoßenden Laboratorium. Das Fabrikat versteckten wir dann in offenem Fläschchen auf dem Korridor auf oder unter einem Schrank, und alsbald stank das ganze Haus infernalisch. Alles zerbrach sich den Kopf, bis es eines Tages denn doch hieß: „O diese Primaner!" Sehr eindrucksvoll war dann als dritter Ferdinand Werry, 35 jährig. Er stammte aus Weimar, war dort unter dem großen Philologen Sauppe durchs Gymnasium gegangen und nach dessen Beispiel Philologe geworden. Seine ganze Liebe gehörte Goethe und Carl August, und die ehrwürdige Tatsache, daß seine Mutter von Christiane Vulpius aus der Taufe gehoben war, umgab ihn mit einem besonderen Nimbus. Neben der Schule haben wir in kleinem Kreise auf seiner Stube Goethes Faust und Freytags Journalisten gelesen. Werry war eine Künstlernatur. Er benutzte eine Vertretungsstunde, die er plötzlich geben mußte, gern dazu, uns zum Zeichnen nach der Natur anzuleiten. So ließ er mich an die Tafel treten, stellte einen Mitschüler daneben und gab mir auf, dessen Kopf im Profil zu zeichnen, wobei er dann besonders den Sitz des Auges korrigierte. Mit Martin Rehm zusammen hab ich bei ihm für die Aula die Wappenschilde sämtlicher deutschen Staaten hergestellt. Dabei wies er uns an, mit Farbe größere Flächen zu überdecken. Mit einer mich zuerst erschreckenden Kühnheit wurde sie mit großem, weichem Biberhaarpinsel sehr flüssig auf das geneigt gestellte Blatt aufgetragen, so daß sie von selbst abfloß und durch den ständig horizontal streichenden Pinsel nur geleitet wurde. So hab ich dann auch auf meinen Landkarten für die Geographiestunde weite Meere ganz gleichmäßig blau malen können. Auch mit Kaffee in solch fließender Manier zu malen, hab ich bei ihm gelernt. Man konnte damit großen Flächen einen ganz gleichmäßigen hellen Sepiaton geben. Werry hat uns auch angeregt, den Abschiedsgruß der Schüler an die Abiturienten in Versen auszusprechen. Meinem ersten Versuche in bescheidenen, ungereimten Jamben von 1876 folgte im nächsten Jahre Nutzhorns Nachruf an mich schon in prunkvollen Stanzen, und nachher viel Weiteres in Ernst und Scherz, besonders von Nutzhorn. Für mich sind Werrys Sprachbetrachtungen besonders vorbildlich gewesen. Viele von den späteren Beobachtungen und Erwägungen haben ihre Wurzeln in jener Schulzeit. Die plattdeutsche Sprache, die in Vegesack noch bis in die besten Familien hinauf erklang, forderte besonders zum Nachdenken heraus. Werry wies uns darauf hin, wie unschön das Einmischen hochdeutscher Worte ins Plattdeutsche sei, etwa zu sagen: „Dat is'n utgetekenten Mann" statt „dat is'n 26

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bannigen Kerl"; wobei dann noch zu bemerken ist, daß das Plattdeutsche statt des Nominativs fast immer den Akkusativ verwendet. Mit dem Englischen haben wir's nur die zwei Jahre in Unter- und Obersekunda gut gehabt bei Dr. Diedrich Rohde. Er war ein ausgezeichneter Pädagoge und spannte uns enorm an, gab uns für jede Ferien Privatlektüre auf, etwa Shakespeares Richard II. und Richard III., und forderte einmal die Dramatisierung von Washington Irvings Rip van Winkle. Es ist die Geschichte von dem armen Holzhauer, der vor den Befreiungskriegen in den Rocky Mountains einschläft und nach 20 Jahren in der Washington-Zeit wieder aufwacht. Ich war so kühn gewesen, das Stück zu liefern, und Rohde wünschte nun weiter, daß wir es auch aufführen sollten. Auch darauf wurde eingegangen. Der Amtmann Droste, mit dessen Sohn ich befreundet war, stellte in seinem schönen, alten Patrizierhause einen Saal mit anstoßendem Gemach als Zuschauerraum und Bühne zur Verfügung. Fritz Droste und ich malten Hintergründe und Kulissen, weitere Klassenkameraden holten wir für die Rollen heran, und vor einem Kreise von Eltern und Lehrern wurde dann das Stück zum Besten gegeben und mit wohlwollendem Schmunzeln aufgenommen. Dr. Rohde hat uns leider bald darauf verlassen. Er wurde an das Bremer Gymnasium berufen und ist nachher Direktor der Höheren Staatsschule in Cuxhaven gewesen. Bei uns in Vegesack lag in den nächsten Jahren das Englische so gut wie brach. Ein seminaristischer Lehrer gab es, weil er einmal längere Zeit in England gewesen war. Er schoß so schöne Böcke, daß darüber Buch geführt wurde. In Shakespeare's Sommernachtstraum hatte der Primaner gestockt bei den Worten, die Oberon zu Titania spricht: let us trip after the night's shade. Darauf der Lehrer: „night's shade — Nachtschatten; Sie kennen doch die gelbe Blume, die im Herbst so viel zu sehen ist: Laß uns gehen und Nachtschatten suchen, heißt es." Wir hielten uns für dies Manko im Unterricht — das man bei einer kleinen, von der Stadt unterhaltenen Schule in den Kauf nehmen mußte — schadlos bei den verschiedenen Engländern, die aus ihrer Heimat vielfach zu uns herübergeschickt wurden. Sie brachten uns allerhand schöne oder weniger schöne Lieder bei, und wir korrigierten ihnen ihr Deutsch, wenn sie sagten: Das ist gut „beozubeachten". Nicht vergessen darf ich aber neben der Schule den vortrefflichen Vegesacker Pastor Zedier. Er stammte aus Wunstorf und hatte mich schon in der Kinderlehre und Konfirmandenstunde als „Hannoverschen Jimgen" ihm heimatlich verbunden betrachtet. Er war betonter Humanist, hatte auch den philologischen Doktor erworben und grollte immer, daß die Schule bei ihrer Erhöhung nicht auch das Griechische mit hinzugenommen habe, denn „Griechisch müsse einer können, der ein ordentlicher Kerl werden wolle". 27

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Als ich nun nach der Konfirmation, Ostern 1874, ihm meinen Abschiedsbesuch machte, eröffnete er mir, sein zweiter Sohn Gottfried solle über's Jahr in das Bremer Gymnasium übergehen, und damit er da gleich in die Sekunda eintreten könne, wolle er ihm das dazu nötige Griechisch beibringen. Ich möge daran teilnehmen und zweimal wöchentlich zu ihm kommen. Ich war natürlich dankbarst bereit und habe dann mit Gottfried zusammen flott gearbeitet. Es ging nicht ganz so im Galopp wie bei Hermann Kiem, aber doch derart, daß wir nach einem halben Jahre erst Xenophon und dann Homer gelesen, auch mehrere hübsche Stücke der Odyssee auswendig gelernt haben. Der Pastor war ein großer und strenger Befehlshaber und hielt uns scharf am Bande. Aber gelockert wurden die Stunden durch Gottfrieds drolliges Wesen. Er war ein Humorist und benutzte gern jede Gelegenheit, um den würdigen, ernsten Vater etwas in Verlegenheit zu setzen. So, wenn Vokabeln abgefragt wurden: „Gottfried, was heißt «puAcnoi" ? Antwort: cpuÄaKTi — der Hut. „Ach was, dummer Junge! „Ja, bei mir steht: o l d ° s w e s t r y i m nördlichen Wales, 1 5000 land entdeckt zu haben glaubte. ' Die römische Hauptlinie ist der südlichere Hadrianswall, der sich vom Solway Firth bei Carlisle 130 km weit bis Newcastle upon Tyne erstreckt. Ich habe mein erstes Quartier in Carlisle genommen und bin dann nach Hexham, in die Mitte vorgerückt. Man staunt über die ausgezeichnete Er-

CasrCarodock

VKniflhion.Waltt

st. Ethelberts camp östl. Hereford, Wales

Wcrpley Hill b.TVtfta'$n2.Wates

Burva Bank westl. Presteigne, Wales

Doleburg b. Stanford, Somerset

Abb. 16. Tore britischer Volksburgen. Alle 1 : 7500

Ijarnbury b.Wyty«.Wilt5.

Ivington Camp swl. Les minster, Wales.

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haltung der verschiedenen Teile. Die öde, unfruchtbare Landschaft ist hier den Altertümern eben so freundlich gewesen wie in den South Downs bei Brighton. Die 5—7 Fuß starke Grenzmauer steht hier noch auf weite Strecken 3 oder 5 Fuß hoch (Taf. 40), und von den Lagern haben die Schotten eine ganze Reihe mit leichter Mühe ausgegraben, so daß man auf den alten Lagerstraßen wandeln und die Einteilung der Quartiere studieren kann (Taf. 41). Mich interessierten besonders zwei kleine, mit Erdwällen versehene Lager, die zwischen Gilsland und Greenhead ein Stück weit hinter dem Walle liegen und älter als er sein werden. Sie sind die einzigen, die als Torschutz clavicula und tutulus haben (Abb. 17), wie sie bei uns gerade damals an einer quadratischen Wallbefestig u n g bei Kueblinghausen nächst Rüthen aufgetreten waren. Von Hexham aus besuchte ich noch einige weitere Punkte und freute mich daneben an den Schätzen dieser erstaunlich mittelalterlich anmutenden Stadt. Sie hat eine Abteikirche, die im Wesentlichen den eleganten Lanzettstil der frühen Gotik vom Ende des 12. Jhdts. zeigt (Taf. 41), aber im einzelnen noch schöne normannische Stücke erhalten hat (Taf.42). Abb. 17. Kleines Lager am Roman Wall Von Hexham fuhr ich in wenigen bei Hexham. 1 : 2500 Stunden gleich nach Edinburg, meinem Ausgangspunkt für alles Schottische. Ich hatte mich dort, wieder mit Haverfields Empfehlung, angemeldet bei einem Dr. med. David Christison, der wenige Jahre vorher ein stattliches und vielgerühmtes Buch über die alten Befestigungen desLandes herausgegeben hatte1). Von ihm fand ich im Hotel schon eine Einladung vor für denselben Nachmittag zum afternoon tea. Vorher hatte ich Zeit, einen Rundgang durch die höchst imponierende, einzigartige Stadt zu machen. Sie ist überraschend mit ihrem schroff abwechselnden Terrain: die Burg wird von der neuen Stadt durch eine tiefe und breite Felskluft getrennt. Die ist so groß, daß in ihr Gärten, Markthalle, Bahnhof liegen, und es gehen nun Straßen unten in der Kluft und oben quer über sie hinweg und dann in Terrassen übereinander am Schloßberge hinauf. Höchst malerisch! Fabelhaft ist das Walter Scott-Denkmal, geradezu das Wahrzeichen von Edinburg, man sieht es von überall her: ein riesiger ') David Christison M . D., Eaxly fortifications in Scotland. Edinburgh and London, W . Blackwood and Sons. 1898.

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gotischer Turm und unten darunter sitzt ganz behaglich das kluge Männlein mit seinem Schreibheft. Bei meinem T^ebesuch kam ich zu einem ergrauten, aber lebhaft freundlichen Herrn im Kreise von teils lesenden, teils spielenden Kindern. „ I am an old man with young children" erklärte Dr. Christison; er hatte sich spät verheiratet. Wir zogen uns dann aber in ein ernsthafteres Zimmer zurück, und ich bekam einen Überblick über den ganzen Stand der Lagerund Burgenforschung in Schottland. Regelrecht gegraben hatte man eigentlich nur in römischen Anlagen, und ein paar davon wurden fiir den Besuch in Aussicht genommen. Die massenhaft vorhandenen Burgen (forts) hatten, wie ich sah, große Ähnlichkeit mit den britischen: vielfach mehrere Wälle und auch Vorwerke, aber nicht den raffinierten Torschutz. Eine zeitliche Bestimmung war bisher nirgendwo getroffen; bei den wenigen Grabungen waren keine Einzelfunde gemacht. Dr. Christison meinte, man müsse die Bezeichnung „vorgeschichtlich" hier bis zum 12. Jhdt. n. Chr. ausdehnen. Die lebhafteste Erörterung entspann sich über die vitrified forts. Dr. Christison ' ' ' ' JO * 100 ioow war unangenehm überrascht, daß ich ein absichtliches Brennen der Mauern Abb. 18. Römerlager bei Haus Ardoch in Stirling. 1 : 5000 entscb'eden bezweifelte und an einen Zerstörungsbrand glaubte. Er empfahl mir mehrere besonders lehrreiche Exemplare und erhoffte von ihnen meine Bekehrung. 4

Gleich am folgenden Tage bin ich dann zu dem Römerlager gefahren, das mir als das interessanteste in ganz Schottland bezeichnet wurde: bei Haus Ardoch zwischen Stirling und Perth. Da wurde man allerdings überrascht. (Abb. 18.) Weit eher als ein Römerlager glaubte man ein rechteckig geratenes britisches oppidum vor sich zu haben. Vier Wälle und fünf Gräben sind an der Nord- und Ostseite deutlich. Der Nordeingang geht schräg durch sie hindurch, ist außen flankiert durch einen ausbiegenden Wallschenkel und führt weiterhin über zwei Terrassen. Am Osttore biegt der vom Norden kommende Wall aus, und der vom Süden kommende Graben bildet eine clavicula. In alledem müssen wir britische Übung erkennen. Und doch ist das Ganze unbedingt römisch. Wenig nordwestlich von CarlisJc liegt sein 249

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Zwillingsbruder, das Lager von Birrens. Da ist, in Stein gebaut, die ganze innere Einteilung des Römerlagers freigelegt worden. Bei Ardoch sind dieselben umfassenden Ausgrabungen gemacht. Hier war alles in Holz gebaut, aber dieselbe Einteilung wie in Birrens ließ sich an Reihen von Pfostenlöchern erkennen. Wir sehen also, daß in diesen beiden Fällen, bei Birrens und bei Ardoch, die Römer für ihre Umwallung britische Eigentümlichkeiten nachgeahmt haben. In welcher Periode der römischen Kriegführung ist das geschehen? Es läßt sich mit ziemlicher Bestimmtheit sagen. Die Eroberung Britanniens ist in drei Perioden vor sich gegangen. Cäsars Übergänge 57 v. Chr. haben nur die südöstlichen Völkerschaften von Kent und den anstoßenden Gebieten zum Frieden mit den Römern gebracht. Erst beinah 100 Jahre später haben die Generäle des Claudius Alittelengland und Südwales erobert, und nach weiteren 30 Jahren, von Vespasian an, wurde das nördliche Wales befriedet und im Osten von York (Eburacum) aus nun auch energisch gegen Schottland vorgegangen. Agrícola, der Schwiegervater des Tacitus, hat hier eine Heldenlaufbahn vollbracht. Er hat die erste Grenzlinie auf der späteren Hadrianswallstrecke gezogen, und er hatte die beste Absicht, ganz Schottland zu unterwerfen. Aber in Rom hatte man nicht Lust, sich dauernd mit den ungebärdigen Skoten zu belasten, zumal ihr Land gar keinen Ertrag versprach, und rief Agrícola nach 8jähriger ruhmvoller Tätigkeit ab (85 n. Chr.). Ardoch und Birrens liegen nun beide im Operationsgebiet von Agrícola und ebenso die drei andern vier- oder fünffach umwallten Kastelle, die es sonst noch auf der Insel gibt; Whitley, Risingham, High Rochester befinden sich alle drei in Northumberland, dessen Hauptstadt York immer Agrícolas Stützpunkt für seine Nordzüge gewesen ist. Ich habe in dieser auffallend starken Befestigung römischer Lager immer eine Übernahme britischer Eigentümlichkeit gesehen und insbesondere die nachher öfter begegnende clavicula dazu gerechnet. Erst fast 30 Jahre später, als ich inzwischen in Deutschland wie in der Dobrudscha weitere Belege für Anleihen der Römer gewonnen zu haben glaubte, habe ich es ausgesprochen in dem Akademieaufsatze: „Die Römer als Nachahmer im Landwehr- und Lagerbau" (1931). Das hat Hann Ulrich Kahrstedt veranlaßt, einmal alle römischen Lager mit claviculae zusammenzustellen1). Ihrer 23 hat er aufzählen können, davon liegen 16 in England, 3 in Spanien, je 1 in Frankreich und Deutschland, und 2 sind auf der Trajanssäule dargestellt. Die beiden in Frankreich und Deutschland sind nicht sicher datierbar, die andern gehören alle in die Zeit zwischen 72 und 105 n. Chr. Kahrstedt nimmt deshalb an, daß ein Armeebefehl Neros die Anwendung der clavicula *) Bonner Jahrbücher 138. 1933. S. 144—152.

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empfohlen habe, und daß sie dann durch Hadrians Neuordnung außer Gebrauch gekommen sei. Sie wäre also von den Römern aufgenommen worden, gerade als die britannischen Kriege den Brennpunkt der auswärtigen Politik bildeten. Vom Römertum in Schottland erhielt ich noch weitere Kenntnis durch den Besuch eines Lagers am Antoniuswalle, zu dem Dr. Christison mich einlud. Ich weiß nicht mehr, welches es war, vielleicht Rough Castle. Die Edinburger Archäologische Gesellschaft grub gerade darin, und man bekam so einen vortrefflichen Einblick. Die Lager an dieser Grenze sind keine Steinbauten; so hatte die Grabung ganz den Charakter der unsrjgen in Haltern. Die Schotten verstanden schon sehr schön, die Pfostenlöcher und Schwellbalkenlagen herauszupräparieren. Neu war mir, die Anlage zu sehen, von der Caesar einmal beim Lagerbau seiner Soldaten spricht. Sie hätten, sagt er, Gruben, in Quincunx-Reihen vor dem Lager aufgegraben: obliquis ordinibus in quincuncem dispositis scrobes fodiebantur. Die Quincunx ist unser Zahlzeichen 5 auf dem Würfel oder der Spielkarte. Die Reihen laufen also schräg übereinander. Ich wüßte nicht, wo das in Deutschland schon einmal festgestellt worden wäre. Vielleicht gehört es auch zu den von den Briten oder Belgiern übernommenenen Stücken. Gruben sind ja auch auf der Terrasse von Old Oswestry vorhanden. Dann aber wandte ich mich meiner letzten Obliegenheit, den verglasten Burgen zu, über die das schottische Urteil mir garnicht gefallen wollte. In Deutschland dachte man sich ja alle Wälle der vorgeschichtlichen Burgen von Anfang an schräg abgedacht, höchstens mit einer Pallisade darauf; so sollte denn ein verglaster Steinwall außen absichtlich getrennt sein, um einen glatten, schwer ersteigbaren Abfall zu bekommen. Nach unsern Erfahrungen in Haltern und meinen Grabungen auf fränkischen und sächsischen Burgen glaubte ich nicht mehr an beiderseits abgedachte Wälle. Nicht bloß in Erd-, sondern auch in Steinwällen hatten wir schon Holzeinlagen gefunden, wie beim kl. Hünenring bei Detmold und dem Altkönig auf dem Taunus. So mußten auch die Stein wälle der verglasten Burgen von Holz durchzogene Mauern gewesen sein, die durch einen Zufalls- oder Belagerungsbrand verschlackt waren. Dr. Christison aber und auch die anderen Herren, die ich beim Ausfluge nach dem Antonius-Wall kennenlernte, verfochten durchaus die Ansicht, daß die Wälle absichtlich, um sie zu festigen, gebrannt worden seien. Sie waren stolz auf diese Eigentümlichkeit Schottlands und ungehalten, daß ich sie durch meine nüchterne Erklärung herabsetzen wollte. Ich habe dann ein paar weite Fahrten gemacht, um die von Dr. Christison empfohlenen: Carradale, Tap o'Noth, Finaven und Dunsieman aufzusuchen. Die Fahrt nach Carradale war eigenartig schön. Sie ging über Glasgow und Greenock nach Gourock, an der Mündung des Clyde. Ich bewunderte 251

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den fabelhaften Schiffsverkehr auf dem Flusse und die dicht gereihten Werften am Ufer. In Gourock übernachtete ich und bestieg am Morgen früh einen Passagierdampfer, der den langen Firth of Clyde hinunter, dann südlich um die Insel Arran herum und westlich an ihr wieder hinauffuhr, um mich nach 3 Std. Arran gegenüber, ans Ostufer der Kintyre-Halbinsel abzusetzen. Diese Seefahrt war prachtvoll. Das Wetter klärte sich gegen Mittag auf, das Meer wurde tiefgrün. Man kam sich vor wie im griechischen Inselmeer mit überall zackigen Bergen und vorspringenden Halbinseln. Die Insel Arran, die wir umkreisten, ist geradezu Aegina. Drei Stunden hatte ich dann Zeit, um mein vitrified fort aufzunehmen und gründlich zu studieren. Um 4 Uhr holte mich der Dampfer wieder ab, um 7 Uhr war ich in Gourock zurück und um 11 Uhr in Edinburg. An diesem Tage bekam man auch einmal ordentlich zu essen. Morgens vor der Abfahrt hatte ich schon eine gebackene Seezunge genehmigt, um ',412 war Lunch auf dem Schiff, um 5 Uhr Tee, aber mit Fisch, Fleisch und Marmelade, und um 7 Uhr hatte ich in Gourock Zeit für ein ordentliches Diner. Das Fort bei Carradale war eine Ellipse von 60 m Länge und 25 m Breite1). Auf der einen Langseite zeigte es sich langhin, auf der andern nur in einzelnen Stücken verbrannt. Die Brandmasse bildete einen Schuttwall mit rundem Rücken. Wo Durchschnitte gemacht waren, erkannte man aber das Fundament als eine regelrechte Mauer; das war mir natürlich sehr wertvoll. Die beiden andern Burgen, die ich dann aufsuchte, Tap o'Noth, sehr weit gegen Norden bei Inverness gelegen, und Finaven bei Forfar 2 ), nordöstlich von Perth, hatten ganz ähnliche Gestalt und Größe, waren aber weit weniger umfassend verbrannt. Beim Tap o'Noth kam mir als willkommen neu hinzu, daß sich an mehreren großen Steinbrocken deutlich der Abdruck von Balken zeigte. Ich belud mich mit einer Reihe von ihnen, um sie Dr. Christison vorzuführen und auch nach Deutschland mitzunehmen. Es wäre mir aber wohl kaum gelungen, die gewichtige Beute im Rieselregen, der den ganzen Tag herrschte, den weiten Weg zur Stadt zu bringen, wenn nicht ein braver Bauer mich auf seinen Karren eingeladen hätte. Er staunte, daß ich bei dem Wetter überhaupt auf dem hohen Berge gewesen sei und sagte bei meiner Schilderung immer nur: Eok, eok, eok! Die Krönung meines Bemühens um die Aufklärung der Schlackenwälle brachte mein Besuch der alten Macbethburg Dunsinan, 12 km nordöstlich von Perth. Sie liegt hoch und stolz, eine weite Ebene beherrschend. In ihr ist Macbeth nach der Überlieferung belagert und zugrunde gegangen, und die Burg ist, da nachher nicht mehr benutzt, in dem Zustande ihres Unterganges ') Christison: Early fortifications in Sc. S. 178fr. J ) Christison a. a. O. S. I74f. und 178.

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um 1040 erhalten1)- Sie ist nur 55 m lang und 30 m breit. Die Schlakkenmauer zieht rings am scharfen Plateaurande umher; an dem sanfteren West- und Südhange liegt noch ein doppelter Wall mit Graben davor. Der Zugang kam vom Südwesten herauf. An dem Schlackenwall hat man durch Grabung soviel aufgeklärt, daß auf mehr als den halben Umfang der Fuß der äußeren Mauerfront freiliegt, und zwar ist er 4'/ 2 m von der Krone seines Schlackenwalles entfernt, die Mauer muß also 7—8 m dick gewesen sein. Besonders im Südwesten fallen sehr gut gebaute Mauerstellen auf mit hübschen flachen Quadern. Im Innern des Walles ist alles wie durcheinandergefallen. Die angeschmolzenen Stücke zeigen noch vielfach die Abdrücke von Hölzern. Am wertvollsten war mir aber dies: an der Stelle, wo das große Herrenhaus gestanden hat, ist die Verschlackung stärker als irgendwo am Walle, — offenbar doch deshalb, weil für den Hausbau mehr Holz verwendet worden ist als für den Wallmauerbau. „Absichtlich gebrannt" hat man die Hausmauer gewiß nicht! Zum Abend in meinen behaglichen Gasthof in Perth zurückgekehrt, las ich nach einem guten Diner Shakespeare's Macbeth und gewann hier die völlige Erklärung für die verbrannten Burgmauern. Im 4. Akt gibt eine der Hexen dem Macbeth die Prophezeiung: Macbeth will never vanquished be, until Great Birnam wood to high Dunsinan hill Shall come against him. Im Stück erfüllt sich das, indem das feindliche Heer mit über den Kopf gehaltenen Zweigen den Berg heraufkommt. Die Meinung des alten Spruches ist ursprünglich aber sicher eine andere gewesen. Er sollte bedeuten: — eh nicht das ganze Holz des Birnam-Waldes heraufkommt und um die Burg gelagert sie in Brand steckt. Und das ist ja hier auch gründlich geschehen! -) Als ich nun wieder nach Edinburg kam, wurden die Ohren williger für meine Auffassung dieser Burgen, besonders der Hexenspruch wirkte stark. Meine Reise war damit beendet, und ich konnte mit ihrem Ergebnis zufrieden sein: ich wußte nun, wie britische Befestigungen aussahen und wie sächsische aussahen; und daß die Römer sehr gelehrig gewesen sind, bestätigte mir alsbald Matthias Geizer durch den Hinweis auf ein paar schla') Ich habe sie in meinem Buche „Die Burg im Wandel der Weltgeschichte" abgebildet. ) Ich sah bald nachher, daß auch in Schottland durchaus nicht alle Leute auf Dr. Christisons Standpunkte standen. Der hochgeachrcte Mr. James Macdonald hat nach zwei Tiefschnitten durch den Wall von T a p o'Noth sich durchaus gegen eine absichtliche Brennung ausgesprochen: er dachte an Wacht- oder Signalfeuer, die man gelegentlich auf oder an der Wallmauer angelegt habe. (Christison: Early Fortifications in Scotland S. 174.) 2

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gende antike Zeugnisse: Caesar sagt bei Sallust in einer berühmten Rede (Catil. 51. 37): „Unsern Vorfahren stand kein Stolz im Wege, um fremde Einrichtungen, wenn sie ihren gut schienen, nachzuahmen. Sie haben Schutz- und Trutzwaffen von den Samnitern, Amtsabzeichen von den Etruskern in Menge übernommen. Was immer ihnen bei Freunden oder Feinden nützlich däuchte, haben sie mit höchstem Eifer bei sich verarbeitet. Sie wollten in guten Dingen lieber nachahmen als beneiden. Und noch berühmter ist, was der römische Gesandte vor dem ersten Punischen Kriege den Karthagern sagte (Diodor 23, 3): „Wenn ihr nicht nachgeben wollt, werden die Römer auch den Seekrieg erlernen. Gebt acht, sie sind sehr beflissene Schüler und wachsen gern ihren Lehrern über den Kopf." Ich hatte nun vor, meine ganze englisch-schottische Burgenforschung geschlossen zu veröffentlichen, bin aber durch ein merkwürdiges Berliner Zwischenspiel daran verhindert worden. 70 Pläne und Karten entwarf ich und veranschlagte den Umfang des Textes. Herr Walter de Gruyter war bereit, das Buch zu verlegen, wenn die Herausgabe amtlich gefördert werde. Dafür die Akademie noch einmal in Anspruch zu nehmen, schien mir nicht angängig; ich bat also das Kultusministerium, durch eine Zubuße ihre Unterstützung meines Unternehmens zu krönen. Hier wurde der Antrag aber abgelehnt, weil Althoff eben im allgemeinen dem Institut und allem, was mit ihm zusammenhing, nicht wohlgesinnt und nicht einverstanden war mit der während seines Urlaubs mir gewährten Unterstützung. Im Unmut über solch unsachliche Behandlung hab ich dann auf das besondere Buch verzichtet. Einen Überblick über das Wesentliche konnte ich dem Gesamtverein der Deutschen Geschichts- und Altertumsvereine schon 1903 in Erfurt geben; das Römische ist später in dem Akademie-Aufsatz „Die Römer als Nachahmer im Landwehr- und Lagerbau" (S. B. 1931) vorgebracht; alle Teile aber sind in dem umfangreichen Buche „Die Burg im Wandel der Weltgeschichte" 1931 zur Geltung gekommen. Heute etwa noch jene ganzen 70 Zeichnungen herauszugeben, wäre überflüssig. Die Engländer haben inzwischen selbst ihre verschiedenen Burgenarten in einer Fülle von Beispielen zusammengestellt1), und was über landläufige Auffassung hinausgeht, hab ich hier jetzt dargelegt. EINE MITTELMEERREISE 1905 Daß ich persönlich aber bei dem Gewaltigen des Kultusministeriums nicht in Ungnade war, bewies mir die „kaiserliche Einladung" zu einer *) 223 Abbildungen bietet „Hadrian Allcroft: Earthwork of England, Prehistoric, Roman Saxon, Danish, Norman and Mediaeval". London 1908.

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vierzehntägigen Mittelmeerfahrt auf dem Hamburger Dampfer „Meteor", die ich durch die Vermittlung jenes Ministeriums im Herbst 1905 erhielt. Was es mit dieser hochklingenden Einladung für eine Bewandtnis hatte, erfuhr man gleich in den ersten Stunden auf dem Dampfer. Ein Teil der Passagiere war am Abend vorher in Genua auf einem Empfang beim deutschen Generalkonsul Irmer gewesen — meinem alten Nebenbuhler fiir's Kestner-Museum, der nachher in die diplomatische Karriere gegangen war —, und Irmer hatte folgendes ausgeplaudert: Ballin, der Präsident der „HamburgAmerika-Linie" und bekannte Freund des Kaisers, hatte diesem vor etwa IV2 Jahren erzählt von einem im Bau befindlichen schönen neuen Gesellschaftsschiff, das ganz fiir Vergnügungsfahrten bestimmt sein sollte, und hatte gebeten, Sr. Majestät für die erste Fahrt zehn Karten zur Verfügung stellen zu dürfen. Diese Karten hatte der Kaiser dann verteilt. Nachher, als die zweite Fahrt des Schiffes bevorstand und die Hamburger sich nichts merken ließen, hat der Kaiser nach „seinen zehn Karten" gefragt, und so ist die Einrichtung dann notgedrungen stehend geworden. Die Geschichte erweckte uns nicht gerade angenehme Gefühle: Die nominellen „Kaisergäste" reisten in Wirklichkeit auf Kosten der übrigen Passagiere, denen die Schiffahrtsgesellschaft natürlich die Fahrpreise hatte erhöhen müssen. Die Billets waren diesmal dem Kultusministerium übergeben worden, und das hatte sie hauptsächlich an verdiente Pädagogen verteilt. So bestanden meine 9 Genossen aus 3 Gymnasialdirektoren und 1 Seminardirektor (von Meldorf, Neuwied, Zeitz, Königsberg-Nm.), dem Schulrat Wespy-Hannover, Prof. Plaßmann-Münster, dem Bibliothekar der Kunstakademie Düsseldorf, einem Oberstabsarzt aus Plön und einem jungen Neffen Althoffs, der noch studierte. Ständig zusammen war ich mit dem witzigen Plaßmann und dem beweglichen Wespy, der nur leider viel durch Seekrankheit behindert wurde. Die stolzen Direktoren unterhielten sich fast immer über die Schwierigkeiten ihres Amtes und die Schlechtigkeit ihrer Lehrer. Sie waren geschwollen von Stolz über die „kaiserliche Einladung", bis Plaßmann und ich ihnen die Entstehungsgeschichte verrieten. Der Kapitän und seine Leute behandelten uns aber aufs beste, und die Einrichtungen des Schiffes waren über alles Lob erhaben. Besonders behaglich der Rauchsalon; so gut gelüftet, daß man den Rauch kaum merkte, und deshalb auch von Damen gern aufgesucht. Sehr angenehm dort immer der Moment, wenn abends 10 Uhr noch einmal ganz kleine Butterbrötchen herumgereicht wurden, wie nach einem feinen Diner. Es war auch eine Musikkapelle an Bord, die unter Tags immer ein Stündchen spielte. Die Zahl aller Mitreisenden betrug etwa 80, also kaum ein Drittel derjenigen, auf die das Schiff eingerichtet war. 255

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1. Phoinix dactilífera. 2. Cbamaerops excelsa. 3. Cacus flectuosus. Abb. 19. Palmen im Park von Monte Carlo. Aus meinem Skizzenbuche.

So machte ich denn einmal eine reine Vergnügungsreise und konnte dabei doch hier und da etwas für die Wissenschaft einheimsen. Wir fuhren von Genua dicht an der wundervollen Rivièra entlang, ganz nah sah man San Remo, Mentone, Monte Carlo, Monaco. In Villafranca wurde abends angelegt und von da folgenden Tags Nizza und Monte Carlo besucht. In dem prachtvollen Park, der die Spielhölle umgibt, fiel mir auf, daß eine afrikanische Palmenart die Gewohnheit hat, ihren Stamm nach oben hin anschwellen zu lassen (Abb. 19). Vielleicht hat dieses natürliche Wachstum die Mykenier angeregt, ihre Säule ebenso zu gestalten. Von Villafranca gings quer über das Meer nach Ajaccio, der Hauptstadt von Corsica, wo wir für einen halben Tag anlegten. Sehr überrascht hat uns der Menschenschlag auf dieser Insel. Auf Schritt und Tritt fand man Mädchen, Frauen und Männer mit Napoleonsköpfen : der großen, geraden Nase und dem starken Kinn. Es ist entschieden der Korsische Typus. Dazu imponiert der Ernst dieser Bevölkerung ; die Frauentracht ist allgemein schwarz. Eine höhere Mädchenschule kam heraus, und alle Kinder waren so gekleidet, nur daß einige gelbe Stiefel trugen. Im übrigen genossen wir wohlig die tropische Luft und bewunderten die herrlichen Palmen an den Straßen. Ein Gaudium hatten wir bei der Abfahrt von Ajaccio. Als wir aus dem Hafen schon heraus waren, ertönte ein Signal vom Lande und veranlaßte unser Schiff, noch einmal zu halten. Es kam ein Boot mit einem uniformierten Manne, der schon von weitem ein Papier in die Höhe hielt: die Post brachte eine Postkarte für Frau Gymnasialdirektor Bräuning aus Meldorf, — die ihren Mann auf der Reise begleitete — mit der Meldung von zu Hause, daß 256

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die große Wäsche in der vergangenen Woche völlig erledigt worden sei. Die Adressatin hätte die Sache vielleicht ebenso ernst genommen, wie die italienische Post, wenn nicht der Jubel der ganzen Schiffsgesellschaft sie gezwungen hätte, mitzulachen. Von Ajaccio gings an Sardinien entlang nach seiner Hauptstadt Cagliari an der Südküste, wo wir am folgenden Morgen, einem Sonntag, ankamen. Dort entwickelte sich eine großartige Folge von Festlichkeiten. Die HamburgAmerika-Linie ließ zum ersten Male diesen Hafen anlaufen, und die ganze Bevölkerung war nun auf den Beinen, weil sie dies als den Anfang einer neuen Aera für Sardinien betrachtete. Wir wurden mit Musik empfangen, unter dem Händeklatschen von Tausenden setzte sich unser Trambahnzug in Bewegung und fuhr etwa 1 Std. weit hinaus nach dem Städtchen Quarsu, wo Tänze in der alten Nationaltracht vorgeführt werden sollten. Da aber auch dort der ganze Ort nebst Umgegend auf den Beinen war, und die Gendarmen und Polizisten sich als gänzlich hilflos erwiesen, war vor der Kirche kein freier Platz zu schaffen, und die Vorführung ließ sich nur dadurch ermöglichen, daß die Gendarmen vorausgeschickt wurden, um vor dem Rathause die Straßenzüge abzusperren. Dann zogen wir mit den Tänzern und Tänzerinnen dorthin, unterwegs von den Fenstern aus mit Blumen beworfen und mit Ewiva la Germania, Ewiva Berolino begrüßt. Bei den Vorführungen war besonders auffallend der reiche, vielfach noch an Mykenisches erinnernde alte Goldschmuck der Frauen. Auf dem Rathause wurden wir dann im Sitzungssaale vom Bürgermeister feierlich angesprochen und mit Malvasier in Strömen bewirtet. So ging es im Trubel auch zurück nach Cagliari, wo um 7 Uhr Festdiner bei uns an Bord stattfand. Zu dem waren die Behörden von Cagliari und Quarsu und die deutsche Kolonie von Cagliari geladen, im ganzen 24 Personen. Unser Plaßmann hielt im Namen des Schiffs eine schwungvolle Rede auf die Italiener. Der Kapitän hatte ihn in richtiger Menschenkenntnis darum gebeten, und die Rede fand auch stürmischen Beifall; nur unter unsern Gestrengen entstand ein mißbilligendes Geraune über diese Bevorzugung des „Oberlehrers". Es folgten dann noch Toaste auf die deutschen Reisenden, auf den König von Italien und den deutschen Kaiser. In ziemlich allgemeiner Bezechtheit trennte man sich kurz vor 10 Uhr, wobei ich den alten, spaßhaften Museumsdirektor von Cagliari, der überall seine Papiere und Pläne liegen ließ, das Fallreep hinunterbugsieren mußte. Um 10 Uhr fuhren wir ab und dann Tag und Nacht durch, bis wir am zweiten Tage morgens 7 Uhr auf das strahlende Algier losdampften. Das war ein prachtvoller Anblick: die Stadt, ähnlich wie Neapel in weitem Halbkreis sich majestätisch hoch den Berg hinaufziehend. Sie ist ungeheuer groß. Die alte Araberstadt liegt an der Spitze des westlichen Vorsprungs, während '7

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nach Osten zu die erst seit 1830 emporgewachsene Europäerstadt sich über 1 Std. weit ausdehnt. In der Araberstadt steigen ganz schmale Gäßchen steil in die Höhe bis zu dem alten Kastell, das den Berg krönt. Die Europäerstadt hat am Meere elegante Ladenstraßen, weiter weg ist sie weitläufig villenartig gebaut, ähnlich wie Florenz oben bei San Miniato. Wir sind einen ganzen Morgen bei den Arabern herumgeklettert, einen ganzen Nachmittag bei den Europäern herumgefahren und haben dabei besonders einen botanischen Garten, jardin d'essais genannt, besucht, der wundervolle Alleen von Gummibäumen, Platanen, Palmen, Bambus hatte, und in dem eine Menge merkwürdiger Blumen blühte. Ich empfand immer mehr, daß das ganze westliche Dreieck des Mittelmeeres zwischen Spanien und Italien viel weicher und wärmer ist als das östliche zwischen Griechenland und Kleinasien, offenbar weil hier vom Balkan und Schwarzen Meere die Nordwinde hereinblasen, während dort gegen Norden das milde Frankreich vorgelagert ist. Palmen hatte ich ja früher weder in Kleinasien noch in Griechenland je zu sehen bekommen. Der zweite Tag war in Algier freigegeben, so daß jeder tun konnte, was er mochte. Da bin ich morgens mit zwei anderen Herren hinausgefahren, 1 y2 Wagenstunden zu den ersten Kabylendörfern, weil man in der Stadt behauptete, daß die Leute die Nachkommen seien der in Afrika verschollenen Vandalen, und weil ich auf Ansichtskarten gesehen hatte, daß sie ihre Häuser noch vielfach als Rundhütten bauen, so wie die markomannischen auf der Markussäule in Rom dargestellt sind. Die Fahrt war sehr genuß- und lehrreich; wir kamen durch reich mit Tabak und Wein angebautes, schwarzerdiges Land und haben uns draußen in dem Dorfe 1 Std. herumgetrieben. Die Wohnhütten sind jetzt meist rechteckig gebaut, aber die Vorrats- und Arbeitshütten sind in der Tat noch rund und haben auch immer die große Mittelsäule, die mit ihrer Spitze aus dem Kegeldach her aussteht (Taf. 44 b). Das ist die Säule, an der Telemachos in seiner alten Tholos an einem herumgeschlungenen Seile die ungetreuen Mägde aufhängt, „daß sie zappeln wie die Drosseln" (Od. 22. 456ff.). Die runden Kabylenhütten zeigen eine ganz alte Überlieferung. Im übrigen haben wir in dem Kabylendorfe wohl manche Kinder mit hellen Augen und fast blonden Haaren gesehen, aber die kommen in kleinasiatischen Dörfern auch vor, zum Beispiel in den Räubernestern um Mamurt Kales si(s. oben S. 137), und fiir eine germanische Abstammung ist damit nichts bewiesen. Am Nachmittage dieses zweiten Tages in Algier konnte ich noch das Museum besuchen, wo die Antiken des Landes vereinigt sind, zugleich aber 258

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auch viel Maurisches vom frühen Mittelalter an. Da hab ich „punisches" Tongeschirr kennen gelernt: ganz von griechischer Form, aber roh im Ton, ledergelb und fast ohne Verzierung (Abb. 20). Es ist dieselbe Ware, die sich in der Kestnerschen Sammlung ziemlich zahlreich findet, aus etruskischen Gräbern, und die ich bisher nicht zu benennen wußte. Es scheint, daß die Karthager in ihrer frühen Blüte mit Italien ähnlich starken Handel getrieben haben wie die Griechen. Gekauft hab ich in Algier wenig. Es gab nicht viel Originelles, der Ort wird zu stark besucht, um noch gute alte Sachen bieten zu können. Er hat auch keinen Basar wie Konstantinopel oder Smyrna; den sollte aber Tunis haben, und auf dort setzten wir also mehr Hoffnung. Seit der Fahrt Algier-Tunis, wo man noch einmal einen ganzen Tag und zwei Nächte auf See war, ging die Reise dann rasch voran, so daß man achtgeben mußte, nichts Wichtiges zu verpassen. Für Tunis stand der Besuch von Karthago nicht mit auf dem Programm; das gab mir den Anlaß, mich einmal entschieden von der ganzen Gesellschaft zu lösen. Unsre Reiseführer, zwei sehr aufmerksame und wahrlich stark belastete Herren, sahen es natürlich ungern, wenn jemand in ihrem Programm etwas Wesentliches vermißte. Meinen Plan, gleich in Guletta, wo unser Dampfer zur ärztlichen Revision anhielt, für Karthago an Land zu gehen und nicht erst nach Tunis mitzufahren, nahmen sie daher ziemlich ungnädig auf, vermittelten dann aber doch, unter der Bedingung, daß es sich um mich allein handle, daß in Guletta der Arzt mich mitnehmen sollte. Als ich dann schon in dem Boot des Arztes saß, durchschaute ein Belgier den Plan und schwang sich mit dem Ruf: „Ich will auch nach Karthago" noch mit hinein. So haben wir zu zweien sehr gemütlich und genußreich die ganze Ruinenstätte durchkreuzt, zu Wagen in zwei Stunden: Akropolis, alte Häfen, phönikische Gräber, römische Häuser, Tempel, Amphitheater, stattliches Museum, katholische Kathedrale, vom Kardinal Lavigerie gegründet. Da wir früh 7 Uhr begonnen hatten, waren wir mit dem Zuge schon um y2ll Uhr in Tunis, besuchten dort noch den Bardo (Palast des »7-

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Beys von Tunis) mit dem reichen Museum daneben und trafen unsre Gesellschaft wieder, als sie sich eben zum Dejeuner setzte. Dieser Coup hat uns in der Reisegesellschaft großes Ansehen verschafft, besonders da der Belgier in allen Tonarten rühmte, welch einen köstlichen Genuß er davon gehabt habe. In Palermo waren die Hauptsache die Kathedralen: in der städtischen die Gräber Rogers von Sizilien und Friedrichs II., oben in Monreale die herrlichen Mosaiken des 12. Jahrhunderts. Zwischen beiden bin ich aber wieder einen eigenen Weg gegangen nach dem Museum, wo vor allem die Skulpturen der großen griechischen Tempel von Selinunt aufbewahrt werden. Hieran hatte ich ein besonderes Interesse. In der Kestner'schen Antiken-Sammlung befand sich ein spätarchaischer Marmorkopf, der in eine Figur eingesetzt gewesen war (Taf. 25). Furtwängler hatte einmal bei einem Besuch des Museums gemeint, daß er aus den Metopen von Selinunt stammen könnte. Nun hatte ich alles,\was dafür in Betracht kam, vor mir. Ich sah, daß es sich um den Heratempel E handeln müsse, denn die Skulpturen des Burgtempels C sind noch hocharchaisch, einheitlich aus Kalkstein, und ihre Gestalten lösen kein Glied von der Fläche. Die jüngeren des Heratempels dagegen sind zwar auch noch von Kalkstein, aber die Köpfe hat man vielfach aus Marmor angesetzt. So schien mir, daß Furtwängler in der Tat richtig vermutet habe. Nachher hat Amelung die Frage wohl endgültig gelöst. Er sagt, nur bei den weiblichen Köpfen habe man Gesicht und Hals aus Marmor angesetzt. Der Kestnersche Kopf sei männlich und werde deshalb nicht aus den Metopen stammen. Er sei ihnen aber so stilverwandt, daß er auf dieselbe Werkstatt zurückgehen müsse1). Amelung hat auch aus Kestners Tagebüchern, die in Leipzig lagern, festgestellt, daß Kestner 1824 in Selinunt gewesen ist, als dort noch gegraben wurde; er werde also damals den Kopf erworben haben. In Messina wurde nur gelandet, um Taormina zu besuchen, und dieser Besuch war nach einhelligem Urteil der Glanzpunkt unsrer ganzen Reise. Die Lage und die Aussicht sind unbeschreiblich schön. Alle Ansichten und Schilderungen geben immer nur Teile; wie überwältigend das Ganze ist, kann man nur erfahren, wenn man dort oben steht. Ich habe auch in Griechenland und Kleinasien keine Stelle kennengelernt mit so mächtigem, geradezu stürmischem Eindruck. Der letzte Aufenthalt wurde noch für zwei Tage in Neapel genommen. Da fühlte man sich schon halbwegs zu Hause. Aus meinem Rabinenfenster sah ich auf das deutsche Schulschiff „Charlotte", in dessen Rahen die Jimgen herumkletterten, um Segel hissen und raffen zu lernen; um das Schiff herum ruderten sechs vollbemannte Boote, auch zur Übung. Auf unserer andern Seite lag der große Dampfer „Hamburg". Kurz vor Mittag kamen Jahrb. d. Arch. Inst. 1920, S. 34.

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wir in Neapel an und wurden noch rasch in einer Stunde durch das riesige Museum gehetzt. Für den Nachmittag war eine Besichtigung der Stadt und für den folgenden Tag ein Besuch von Pompeji vorgesehen. Von beiden hab ich mich freigesprochen und die ganze Zeit dem Museum gewidmet, das gar zu viel des Erklärenden für den antiken Alltag bot. Das Letzte, was unsre Reisegesellschaft noch einmal insgesamt erregte, war, daß einem beleibten älteren Herrn, der keuchend zum abfahrbereiten Schiffe strebte, seine dicke goldene Kette mit Uhr vom Leibe gerissen war. Damit bekam das Abschiedslied „O dolce Napoli" eine etwas bittere Färbung. Wir fuhren dann an unsern Ausgangspunkt Genua zurück, und mit kurzem Museumsaufenthalt dort, sowie in Mailand und Zürich, habe ich mich nach Hause begeben.

XIV. DER N O R D W E S T D E U T S C H E VERBAND FÜR ALTERTUMSFORSCHUNG Die Burgenforschung rückte nun sehr in den Vordergrund meiner Tätigkeit. Die Aufnahmen für den Atlas vorgeschichtlicher Befestigungen führten mich weit im Lande umher und brachten den Leuten zum Bewußtsein, daß uns über die Vorgeschichte nicht bloß die Urnenfelder erzählen können. Auch in den Nachbarländern rührte sich's. Westfalen wurde durch Haltern hell entzündet. Philippi war von Osnabrück nach Münster versetzt und wirkte dort nun auch an der Universität, wo er in Koepp, Jostes, Spannagel Gesinnungsgenossen fand. In Kassel saß Boehlau am Museum, mein alter Pergamonfreund, mit dem ich nun eine zehntägige Wanderung an der sächsisch-hessischen Landwehr von Speele an der Fulda über Hünxe— Grebenstein—Arolsen bis Brilon machte. An der unteren Weser hatte Hermann Allmers, der „Marschendichter", den „Bund der Männer vom Morgenstern" gegründet, der sich rege mit der Vorzeit des Landes bis zur Elbe hin beschäftigte. Die Aufgaben wuchsen überall wie Pilze aus der Erde. Im Sommer 1904 hab ich noch einmal eine vierwöchige Kampagne in Haltern absolviert, die auf die Torfeststellung ausging. Ein alter Offizier (Dahm), der von Philippi mit besten Hoffnungen hingeholt war, hatte seine Pfostenlöcher zu sehr nach vorgefaßter Meinung gefunden. Wir haben den Torplan dann auch herausgebracht: ein Kammertor, wie sie nachher ebenso in Xanten aufgetreten sind, mit riesigen Pfostenlöchern von 1 m im Quadrat. Von Haltern nahm ich den Wiesbadener Vorarbeiter Trautwein, sowie den besten der westfälischen Arbeiter, den jungen Marwitz, mit nach Bad Rehburg. Dort wollte die Stadt ein vielhundertjähriges Jubiläum feiern und dazu in der Festschrift Mitteilungen über die zu ihr gehörige alte Düsseiburg 261

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bringen. So stellte sie mir die Mittel für eine achttägige Ausgrabung zur Verfügung. Ich fand zu meinem Staunen eine ähnliche Pfostenwand vor dem Walle wie auf dem Halterner Annaberge und ein Kammertor nach Form und Größe dem neuen von Haltern entsprechend. Nach den Scherben schien die Burg bis in die Römerzeit zurückzugehen, hatte aber bis in die fränkische hinein bestanden. Als ich vier Jahre später auf der Römerschanze bei Potsdam, einer Burg aus dem 7. oder 8. Jahrhundert v. Chr., dieselbe Wallverkleidung und denselben Torgrundriß fand, schloß ich, daß, wenn hier ein Volk vom andern gelernt hat, die Römer die Lernenden gewesen sein müssen; im Holzbau waren die Germanen sicher viel erfahrener. Den Hessen hatte ich gesagt: Wenn ihr das alte Mattium, caput Chattorum, das Germanicus i. J. 15 n. Chr. zerstört hat, finden wollt, müßt ihr einen stattlichen Ringwall suchen mit einem an Mattium erinnernden Ortsnamen in der Nähe. Und siehe da, sie fanden die imposante Altenburg bei Niedenstein und nicht weit davon das Dorf Metze, in dessen Namen Edward Schröder sofort die alte Form Mattium erkannte1). So erwachte überall neue Aufmerksamkeit und neue Tätigkeit. Die Geschichtsvereine von Hannover und den Nachbarländern waren auf ihrem vorgeschichtlichen Ohre so hellhörig geworden, daß es uns an der Zeit schien, dem Beispiel von Südwestdeutschland zu folgen und auch für den Nordwesten einen Vereins- und Museumsverband für Altertumsforschung zu gründen. Auf meine Veranlassung lud der „Historische Verein für Niedersachsen" im Winter 1904/5 zu einer Konferenz ein, die dem Plane lebhaft zustimmte, gleich die Satzungen entwarf und mich zum Vorsitzenden wählte. Als gute Ratgeber waren besonders Edward Schröder-Göttingen und Regierungspräsident Stüve-Osnabrück, der alte Protektor meiner vielfaltigen Ausgrabungen in seinem Gebiet, aufgetreten. Stüve verdanken wir es, daß der Titel des Verbandes nicht wie beim Südwestdeutschen lautete „für Römisch-Germanische Forschung", sondern einfach „für Altertumsforschung" ; und der Römisch-Germanische, mit dem wir alsbald ein Kartell schlössen, hat nachher auch seine eigene Bezeichnung entsprechend geändert. Unser Programm für die Tagungen haben wir ebenfalls nach den bereits vorliegenden Erfahrungen so einfach und fest gestaltet, daß es 30 Jahre hindurch unverändert geblieben ist. Es wurde regelmäßig in der Woche nach Ostern getagt, auch wenn es da noch schneite, und zwar zwietägig am Mittwoch und Donnerstag. Am Vorabend wurde bereits die Geschäftssitzung erledigt und mit den Einheimischen Fühlung genommen. Weiterhin wurde durchaus vermieden, etwa einen ganzen Tag mit Vorträgen auszufüllen. Am 1

) Wilhelm Schulze erklärte nachher diese Abwandlung als das schönste Beispiel für ein von den Germanisten immer schon behauptetes Umlaufgesetz.

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Mittwoch Vormittag von 9—1 Uhr fand die Vortragssitzung statt. Sie wurde eröffnet durch einen Bericht des Vorsitzenden über die wichtigsten Unternehmungen der Vereine und Museen im abgelaufenen Jahre. Um diese Mitteilungen zu erhalten, hatte er vier Wochen vorher Fragebogen ausgesandt, die von den großen Vereinen und Museen, wie Schwerin, Münster, Hannover, Bonn immer vollgefüllt zurückkamen, aber auch von den kleineren und kleinsten nützlich bedacht wurden. Dann folgten nicht ausgewachsene und etwa druckfertige Vorträge, sondern Referate, meist freigesprochen, von 20 Minuten, mit Diskussion 30 Minuten. Sie wurden gehalten über Dinge, deren Bedeutung über die Kürze des Fragebogenstils hinausging. Um 1 Uhr war offizielles Mittagessen unter Beteiligung der Einheimischen. Hier fand erst durch einen der letzteren die Begrüßung des Verbandes statt und die Antwort unsrerseits. Von 3—6 Uhr wurde die Stadt besichtigt und besonders ihre etwaigen Museen. Abends um 8 Uhr folgte für einen weiteren Kreis ein ausfuhrlicher Vortrag und darnach schloß sich alles zu gemütlichem Biertrunk zusammen. Der zweite Tag war völlig einem archäologischen Ausfluge gewidmet, und daß für diesen ein würdiges Objekt da sein mußte, war der Hauptgesichtspunkt für die Wahl des Tagungsortes. So sind wir von Münster, wo wir 1905 zuerst zusammenkamen, natürlich nach Haltern gefahren, von Detmold 1906 auf die Grotenburg und zu den Externsteinen gewandert. Von Bremen gings 1907 zur Pipinsburg, Heidenschanze und Heidenstadt bei Sievern abwärts Geestemünde; von Kassel 1909 nach dem neu entdeckten Mattium (unweit Fritzlar, von dem Schumacher-Mainz, der diese Tagung mitmachte, ganz begeistert war, und wo Edward Schröder uns angesichts eines flachen, von Holz eingefaßten Wasserbeckens auseinandersetzte, so etwas habe römisch offenbar puteus geheißen, und von daher stamme das germanische Wort Pütt, Pfütze. Edward Schröder verdanken wir mehr solcher sprachlichen Perlen: als ich in Münster vorgetragen hatte, daß die Ornamentik unsrer norddeutschen Steinzeitgefäße auf Korbflechterei zurückgehe, sagte er, das bestätige seine alte Vermutung, daß das Wort „Flasche' von „flechten" komme; und als Otto Weerth in Detmold seine LandwehrStudien schilderte und feststellte, daß sich vielfach noch die alte Besetzung des Walles mit einer Dornenhecke feststellen lasse, sagte Schröder, das Wort „Hecke" komme von „Haken" (Dorn). In ähnlicher Weise hat uns der General Eisentraut, der als Vorsitzender des hessischen Geschichtsvereins unser ständiger Besucher war, für die Befestigungsart der Burgen beraten. Die Pipinsburg hatten wir schon im Verdacht, daß sie erst aus dem 9. Jahrhundert stamme. Eisentraut bestätigte das mit dem Satze, daß die Befestigungsart immer mit den Angriffswaffen der Zeit fortschreite und der starke Wall und die breite Berme dieser Burg 263

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auf die Geschütze der Normannen deute. Er vertiefte sich so in die Ausgrabungen, die wir im Herbst vorher dort gemacht hatten, daß er etwas verspätet in seinen Wagen stieg und beim raschen Nachkommenwollen die wildgewordenen Pferde den Wagen in den Chausseegraben warfen. Es war den Insassen aber gottlob nichts geschehen, und das ist auch der einzige Unfall gewesen, der den Verband in seiner ganzen Dauer betroffen hat. Die Pipinsburg ist die erste gewesen, die uns den auffallenden Kreis der Häuser vorführte, eine Bebauung, die sich dann auch bei den slawischen Burgen wiederfindet und ebenso bei ihren Dörfern in der Altmark besonders um Lüchow (Abb. 21). Ich könnte noch viel aus der Geschichte des Verbandes erzählen, seine Tagungen gehören zu den schönsten Erinnerungen meiner wissenschaftlichen Arbeit. Sie führten zu einem regelmäßigen freundschaftlichen Meinungsaustausch mit Männern wie Edward Schröder-Göttingen, Karl RübelDortmund, Otto Weerth-Detmold, Robert Beltz-Schwerin, Johannes Boehlau-Kassel, Dr. med. Weiß-Bückeburg, Gustav Schwantes - Hamburg 264

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Abb. 22. Rundlingsdorf Klennow b/Lüchow

(nachher Kiel), Hans Lehner-Bonn, Biermann-Paderborn, Fritz PhilippiMünster, Friedrich Langewiesche-Bünde, und haben das Interesse für Geländeforschung weithin belebt. Sie haben insbesondere dazu gedient, die verschiedenen Burgarten gegeneinander zu stellen und nach Zeit und Charakter zu bestimmen. Mit der Altenburg bei Niedenstein (Mattium) hatten wir das sichere Altgermanentum vor uns, und die Burg hatte schon dieselben Vorwälle am Tore wie die britischen derselben Zeit. Nach ihren Scherben gehörte auch die Burg auf dem Gehrdener Berge bei Hannover, die kurz vor unserer dortigen Tagung (1934) ausgegraben war, in diese Früh-Zeit, und sie hatte schon denselben tiefen Spitzgraben, den man bis dahin nur als römisch kannte. Für das frühe Mittelalter aber standen den rechteckigen fränkischen Königshöfen, wie der Heisterburg b. Barsinghausen und der Wittekindsburg bei Rulle die runden sächsischen Herrenburgen gegenüber: so die Hünenburg bei Todenman (Bückeburg 1920) vom Grafen Uffo um 900 gegründet, und der „Königshof Bodfeld" (Wernigerode 1911), von König Heinrich I. zur selben Zeit im Harz erbaut. Mehrere Male haben wir mit den Südwestern zusammen getagt: 1908 in Dortmund, 1910 in Bonn, von wo wir nicht bloß das Kastell Vetera bei Xanten, sondern auch den neolithischen Gutshof bei Mayen in der Eifel aufsuchten, 1913 in Göttingen, 1921 in Gießen und 1933 sogar im Auslande, in Groningen. Dorthin hatten uns die von A. E. van GifFen frisch ausgegrabenen altgermanischen Bauernhäuser auf der Terpe Ezinge gelockt, die mit ihrer Einteilung, der großen Diele in der Mitte und Viehständen 265

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N O R D W E S T D E U T S C H E V E R B A N D FÜR

ALTERTUMSFORSCHUNG

zu beiden Seiten, durchaus die Vorstufe zu unserm niedersächsischen Bauernhause sind1). 1934 auf der Tagung in Hannover hab ich mein Amt als Vorsitzender des Verbandes niedergelegt. Ich ging meinem 75. Geburtstage entgegen, hatte die letzten Jahre schon Mühe gehabt, das Marschieren und Klettern im Gelände noch mitzumachen und wollte jetzt auch mit meinen vielleicht veralteten Auffassungen den vielerlei neuen Ideen, die für den Zusammenschluß der Vorgeschichtsforschung in Deutschland aufgekommen waren, nicht im Wege stehen. Zu meinem Nachfolger wurde Jacob-Friesen-Hannover gewählt. Der Verband hat noch 1935 in Lüneburg und 1936 in Bonn mit dem Südwestdeutschen zusammengetagt; dann haben aber beide ihre Tätigkeit eingestellt. Die Verhandlungen des Verbandes sind von 1905—1914 regelmäßig im Korrespondenzblatt des Gesamtvereins gedruckt worden, von 1909—1935 auch in der Prähist. Zeitschrift. Ich stelle die ganze Reihe unserer Tagungen hier zusammen, den alten Freunden zur Erinnerung, den Nachstrebenden zur Empfehlung. Bei den mit einem Kreuze ( x ) versehenen waren wir mit den Südwestdeutschen vereint: 1905 Münster (Haltern-Aliso) 1906 Detmold (Grotenburg, Externsteine) 1907 Bremen (Pipinsburg b. Geestemünde) x 1908 Dortmund (Oberaden, Hohensyburg, Haltern) 1909 Kassel (Altenburg v. Niedenstein-Mattium) x 1910 Xanten und Bonn (Vetera, Mayen i. d. Eifel) 1911 Wernigerode (Königshof b. Bodfeld) 1912 Lüneburg (Limes Saxoniae) x 1913 Göttingen (Hünstollen) 1914 Bielefeld (Sparenburg, Wittekindsburg a. d. Porta) 1920 Bückeburg (Ufifoburg b. Todenman) x 1921 Gießen (Hallstatt AB Gräber bei Muschenheim) 1922 Braunschweig (Barnum, Hünenburg b. Watenstedt) 1923 Schwerin (Mikilinburg b. Wismar) 1924 Paderborn (Hünenburg b. Kirchborchen) 1925 Essen (Altenburg und Priesterhügel b. Werden) 1926 Pyrmont (Skidroburg und Altenschieder) ') Schuchhardt, Vorgeschichte von Deutschland, 1939, S. 274.

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1927 Hildesheim (Barenburg b. Eldagsen, Siedlung am Galgenberge) 1928 Oldenburg (Steingräber b. Ahlhorn) 1929 Osnabrück (Wittekindsburg b. Rulle, „Varushügel" b. Iburg, Rüssel b. Bersenbrück) 1930 Münster (Haltern) 1931 Köln (Bandker. Siedlung b. Lindenthal) 1932 Cuxhaven (Altenwalde, Pipinsburg) 1933 Groningen (Terpe Ezinge) 1934 Hannover (Burg a. d. Gehrdener Berge) 1935 Lüneburg (Steingräber) 1936 Bonn (Petersberg) Lebhaft angeregt haben diese Verbandstagungen und dabei behaglichen Verkehr geschaffen. Ihr Aufhören wurde allgemein bedauert, aber mehrere Lebensfreundschaften sind mir aus ihnen erwachsen. Das nahe Verhältnis zu Otto Weerth-Detmold hatte sich schon früher gestaltet. Die sechs Wochen Schieder 1899 hatten uns unlöslich zusammengefügt, und wir haben furderhin nichts mehr im Weser- und Waldgebiet ohne einander gemacht. Auch in Berlin hat Weerth mich noch einmal besucht. Alfred Lonke, der Vertreter Bremens und unser langjähriger Schriftführer, schreibt mir heute noch regelmäßig. Gustav Schwantes in Kiel ist mein nächster auswärtiger Berater und Georg Heimbs, Fabrikant in Hannover, der uns den Angivarierwall entdeckt hat, der treueste Helfer in den heutigen schwierigen Lebensverhältnissen.

XV. A U S K L A N G I N H A N N O V E R Meine Tätigkeit in Hannover hatte sich durch das Burgengraben und den vorgeschichtlichen Atlas allmählich stark verschoben. Die Sammlungen nahmen mich, obwohl Leibnizhaus und Vaterländisches Museum hinzugekommen waren, nicht allzu sehr in Anspruch. Der Kunstgewerbeverein, mit Professor Albrecht Haupt an der Spitze, hielt sehr darauf, das Sammeln selbst zu besorgen, und für das Vaterländische Museum hatte die Stadt den dafür wohlgeeigneten Friedrich Tewes angestellt, den ich nur hier und da in Finanzsachen zu beraten brauchte. Fürs Kestnermuseum aber erschien mir nach wie vor ein starkes Sammeln eher schädlich als nützlich. Als Conze eines Tages bei Planungen für Haltern besorgt fragte, ob ich mich denn wohl wieder für ein paar Wochen vom Museum losmachen könne, meinte Loeschcke: „Es ist ja schön, daß das Kestner-Museum keine Aufgabe hat, da kann der Schuchhardt immer hübsch für uns arbeiten!" 267

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Heinrich Tramm, der als Stadtdirektor alsbald ein gewaltiger Herr geworden war, dachte freilich anders, und das war sein gutes Recht. Tramm ist für Hannover ein besonderes Kapitel. Er ist ohne Frage ein hervorragender Bürgermeister gewesen. Er hat die Stadt, die aus der weifischen Zurückhaltung noch nicht herausgefunden hatte, auf eine großzügige Bahn gebracht: mit dem neuen Gasvertrage, mit der Kanalisation, mit dem vornehmen städtischen Bultviertel und dem Rennplatz vor Döhren. Am meisten pflegt zu seinem Ruhm angeführt zu werden der Prachtbau des neuen Rathauses auf der Masch, und das ist auch der beste Spiegel seines Geistes. Er war ein echtes Kind der Wilhelminischen Zeit mit seinem Hang zum Prunken und Protzen und dem sie volo sie iubeo. Man konnte sagen, daß er zugleich der größte Freund und der größte Feind unsrer Kunstangelegenheiten war: der größte Freund, weil er immer wollte, daß etwas geschaffen würde, und der größte Feind, weil er alles selbst bestimmen wollte. Darunter hab ich auch im Museum sehr zu leiden gehabt. Er hatte den Anschaffungsfond alsbald von 3000 auf 30000 RM gesteigert und verlangte nun, daß restlos gekauft werde. Alle paar Tage schickte er seinen erst kürzlich zum Antikenhändler aufgestiegenen alten Barbier Grunitzky zu mir mit Sachen, die der irgendwo aufgetrieben hatte. Wenn ich sie fürs Museum ablehnte, mußte ich das eingehend begründen, und, wenn irgend angängig, wurden sie dann „zur Ausstattung des künftigen neuen Rathauses" gekauft. Sachen aber, die mir zur Ergänzung der Kestner- oder Culemann'schen Sammlung wertvoll waren, wie ein frühgotisches Reliquiar von Klosterneuburg, persische und japanische Fayencen, moderne englische Radierungen, brachte ich nur mit Mühe zum Ankauf. Das war kein erfreulicher Zustand. Ich habe nie an einer Arbeit Gefallen gefunden, in die mir von oben her stets hineingeredet wurde. In meinen hannoverschen Anfangen hatte der alte Schläger einmal gesagt: „Der ist in Freiheit dressiert, den kriegen Sie nie in ein regelrechtes Beamtentum hinein". Tramm hat es mir damals lachend wiedererzählt, er gehörte ja selbst zu dieser Gattung. Aber tempora mutantur et nos mutamur in illis. Natürlich sah er auch scheel auf meine Arbeit im Lande und spottete über das Schreiben von Büchern, die nachher niemand lese. In die Politik hätte er mich gern eingespannt, zur Hilfe in den Wahlkämpfen der national - liberalen Partei. Eine ganz verfehlte Idee! Mit einer guten Sedanrede am Holzstoß vor dem Schützenhause 1890 — der Humann beiwohnte — und einer schlechten im folgenden Jahre beim Kommers hab ich mich losgekauft. So war unsere alte Freundschaft leider mehr und mehr verblaßt, und der Gedanke, von Hannover fortzugehen, der mir früher nie gekommen war, trat immer näher. Loeschcke hatte sich 1900 schon Mühe gegeben, mich bei der Mainzer Museumskommission, deren Mitglied er war, zum Nachfolger 268

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Lindenschmits durchzusetzen, war aber an dem Widerspruch Rudolph Virchows gescheitert; der wollte einen so ausgesprochenen Archäologen und Westdeutschen nicht für das Allgemeindeutsche haben. So wurde damals Karl Schumacher gewählt, und das war mir im Grunde auch lieber: das Mainzer Museum hatte kein eigenes Grabungsgebiet, darunter hat auch Schumacher nachher sehr gelitten. 1906 war dann Albert Voß, der Direktor der Vorgeschichtlichen Abteilung der Berliner Königlichen Museen, gestorben, und nun war der Gedanke aufgetaucht, mich dorthin zu bringen. Loeschcke verriet es mir alsbald. Bode war in Berlin kurz vorher Generaldirektor geworden und stand mit Althoff und dessen erstem Helfer Schmidt-Ott in bestem Einvernehmen. Freund Boehlau war in ständiger Fühlung mit diesen Herren, da sie ihm in Kassel ein neues „Landesmuseum" schaffen wollten. Er kam oft nach Hannover, und wenn er dabei regelmäßig sondierte, ob und wie ich wohl bereit wäre, nach Berlin zu gehen, so erkannte man leicht, woher die Frage kam. Ich verhielt mich kühl, die Berliner Vorgeschichte wirkte nicht anziehend: vier Säle Brandenburg, dann Pommern, Schlesien usw., keine Spur von historischer Gliederung. Freilich Schliemanns Troja-Sammlung gehörte dazu, und die war allein eine Lebensarbeit wert. Meine Zurückhaltung hatte Früchte getragen. Zwischen Weihnachten und Neujahr 1907, 1 Vi Jahre nach Vossens Tode, bekam ich ein Telegramm von Schmidt-Ott, er habe die Absicht, mit Bode folgenden Tages das Kestnermuseum zu besuchen; ob ich da sei. Ich bejahte, und die Herren kamen. Nach einem angeregten Rundgang verabschiedete sich Schmidt - Ott, um noch einen anderen amtlichen Besuch in der Stadt zu machen, und wünschte Bode und mir „weitere gute Unterhaltung". In meinem Zimmer packte nun Bode seinen Musterkoffer aus mit all dem Verlockenden, das Berlin mir bieten werde: Ich sollte ein neues Museum im Kranze der Dahlemer Planungen erhalten und Entwurf und Einrichtung selbst bestimmen; wenn ich wollte, könne auch eine Dienstwohnung damit verbunden werden. Ich solle das Berliner Museum zu einem Vorbild für Ausgrabungsforschung machen und darauf hinwirken, daß auch in Mittelund Ostdeutschland sich ähnliche Altertumsverbände bildeten wie im Nordund Südwesten. Bode verfehlte nicht, diesem Zukunftsbilde die schwache Aufgabe gegenüberzustellen, die mir in Hannover das Kestnermuseum böte, und schlug dabei stark in Loeschcke's Kerbe. Die einheitliche Forschungsaufgabe war in der Tat der Kernpunkt in dem verlockenden Angebot: mir war es in Hannover mehr und mehr lästig geworden, daß man jeden Tag von den alten Ägyptern bis auf Max Klinger 269

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gerüstet sein sollte für Anfragen und Angebote, während draußen die schönsten Probleme lagen, für die man sich die Zeit abstehlen mußte. Die Hannoverschen Jahre hatten mir gezeigt, daß das Sammeln auf weitem Gebiete und Belehren des Publikums in meiner Natur entschieden zurücktrete hinter dem Triebe zur Forschung. Wenn nun meine Berliner Tätigkeit wesentlich auf die Forschung abgestellt werden sollte, so konnte ich mir nichts Erwünschteres denken. Es bedeutete die Veramtlichung der Tätigkeit, die ich bisher als mein Sonntagsvergnügen betrachtet hatte. So wurde dann vereinbart, daß ich jetzt am 1. Januar kündigen sollte, um am 1. April in Berlin anzutreten. Die Loslösung vollzog sich in Frieden und Eintracht. Von Tramm erhielt ich noch unmittelbar vor meiner Abfahrt folgenden Brief: Meran, 28. März 1908. Mein lieber Schuchhardt! / Seitens des Magistrats wird Ihnen in diesen Tagen noch ein Schreiben zugehen, in welchem in dankbaren Worten Ihrer Tätigkeit für unser Museum gedacht und dem lebhaften Bedauern Ausdruck gegeben wird, daß Sie jetzt von uns scheiden. Daß mir Ihr Abschied aber ganz besonders schmerzlich ist, werden Sie wissen, auch wenn ich dies nicht besonders aussprechen würde. Ich danke Ihnen von Herzen für Alles, was Sie in zwanzigjähriger Tätigkeit geleistet haben, und trauere, daß ich mit Ihnen den zuverlässigen Freund jetzt in der Heimat verliere, auf den ich in allen Fragen und Situationen immer rechnen durfte. Ich bitte Sie, mir Ihre Freundschaft auch für alle Zukunft zu erhalten und mich zuweilen durch ein Wort über Ihre neuen Lebensverhältnisse zu erfreuen. Mögen dieselben sich immer und in jeder Richtung glücklich für Sie gestalten und Sie in der neuen Stellung weitesten Spielraum finden, um der Allgemeinheit zu nützen. Ihr getreu ergebener H. Tramm. Man hatte meinen Rat erbeten wegen der Nachfolge und wählte, als Boehlaus Bewerbung sich nur als ein Druck auf die Kasseler Entscheidung herausgestellt hatte, ohne Schwanken den von Bode empfohlenen Wilhelm Behncke — einen Bruder des im Weltkriege bekannt gewordenen Admirals —, der, aus Lübeck gebürtig, damals erster Assistent Lessings am Kunstgewerbemuseum war, aber mit Neigung und Arbeit ganz in der allgemeinen Kunstgeschichte stand. Er hat dann auch sehr gut am Kestnermuseum gewirkt, aber nach wenigen Jahren, als der Direktor des Provinzialmuseums Jacobus Reimers gestorben war, sich aus dem schwierigen Verhältnis mit Tramm dorthin zurückgezogen. 270

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An meine hannoversche Zeit denke ich mit vielfacher Bewegung zurück. Ich habe dort die Bahn gefunden, die für meine Begabung und Neigung taugte, und es ist mir viel persönliche Freundschaft erwachsen, dauerhaft bis zum Lebensende. Ich kann von den zwanzig Jahren nicht Abschied nehmen, ohne einigen dieser Trefflichen noch einmal besonders zuzuwinken. An ihrer Spitze steht der O b e r s t Blumenbach. Er war der Typus des hochgebildeten, althannoverschen Offiziers. Sein Großvater war der berühmte Göttinger Naturforscher gewesen, sein Vater der Nachfolger des GoetheKestners am hannoverschen Staatsarchiv. Bei Blumenbach befand sich der Nachlaß des Großvaters: die Korrespondenz in vier stattlichen Quartbänden enthielt zwölf Briefe von Goethe und mehrere von Ernst August, der vor seiner Königszeit als junger Herzog von Cumberland in Göttingen studiert hatte. Unter den Gemälden ragte ein schönes Porträt des Italieners Pontormo hervor, unter den Altertümern ein Limoges-Kruzifix des 13. Jahrhunderts. Der Vater Blumenbachs hatte sich schon sehr mit der nordwestdeutschen Vorgeschichte beschäftigt, darin gesammelt und auch Aufsätze für die historische Zeitschrift geschrieben. So hatte der Nachfolger ein reiches Erbe von wissenschaftlichen und künstlerischen Interessen überkommen und machte davon den gewähltesten Gebrauch. Er wohnte meinem Museum schräg gegenüber in dem alten Familienhause Friedrichstraße 10 und kam alle paar Tage mittags auf ein Stündchen herüber, um neue Erwerbungen und Angebote sich anzusehen oder ein Thema, das wir das vorige Mal behandelt hatten, nach weiterer Nachforschung und Überlegung fortzuspinnen. Dabei überschritten wir dann häufig die häusliche Mittagessenszeit, und wenn unsre Frauen sich nachher trafen, klagten sie einander ihr Leid, wobei sich immer ergab, daß jeder der beiden Sünder dem andern die Schuld zugeschoben hatte. Blumenbach war außerordentlich unterrichtet in alter Kulturgeschichte; ich verdanke ihm die Bekanntschaft mit dem köstlichen dreibändigen Tagebuch des Hans von Schweinichen (1552—1602), das ich mir auch in einem schönen alten Exemplar kaufen konnte. Er nahm lebhaften Anteil an meinen Arbeiten für den Atlas und hat mich auf mehrere Burgen hinaufbegleitet. Ihm und meinem Schwiegervater hab ich auch von der englischen Reise eine besondere Zwischenbilanz über meine Ergebnisse geschickt. Der Verkehr mit ihm war besonders anziehend durch den feinen Humor, mit dem er jedes Gespräch übergoß. Blumenbach hat wesentlich dazu beigetragen, daß Allmers sich bei dem kleinen Geburtstagsessen, das ich ihm bei Kasten einmal gab, so wohl fühlte, und umgekehrt hat auch Allmers auf Blumenbach einen starken Eindruck gemacht. Als bald darauf der Weinwirt ein paar Häuser östlich von Blumenbach sein Haus mit den Medaillonbildern der Hauptweindichter schmücken 271

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wollte und dabei für Ausonius, den Dichter des anmutigen Mosella-Epos, keine Vorlage finden konnte, riet Blumenbach ihm, da kein Ausoniusbild überliefert sei, das prachtvolle Profil von Hermann Allmers zu benutzen und Ausonius darunter zu schreiben. So ist's dann tatsächlich geschehen, und als ich eines Tages Allmers selbst davor führte, lachte er sehr und meinte nur, indem er auf seine große Hakennase tippte, sein Profil würde eher für den Publius Ovidius Naso passen. Der zweite, dem ich noch ein Sträußchen des Gedenkens widmen muß, ist Karl N u t z h o r n , mein alter Schulfreund. Aus seinen Vegesacker Bierzeitungen hat man ihn oben schon kennen gelernt. Jetzt war er würdiger Pfarrherr in Bissendorf in der Heide, mit einer Primanerliebe verheiratet und Vater von zwei Jungen und drei Mädchen. Er war schon mit meiner Braut und meinem Schwiegervater rasch in eine lebhafte Freundschaft gekommen, hat dann unsre Trauung in der Schloßkirche vollzogen und nachher unsre vier Kinder getauft. Jedes Jahr kam er regelmäßig zu meinen fünf Vorträgen und war dann hinterher regelmäßig bei uns im Hause. Als Gegengabe wies er mir mehrere Grabsteine an seiner Kirche nach, die von meinen alten hannoverschen Bildhauern stammten. Außerdem verhalf er Tramm zur Pacht der Bissendorfer Jagd, die wegen ihres Wildreichtums bei den hannoverschen Sonntagsjägern sehr geschätzt war. Nutzhorn war in Bissendorf an die Stätte gekommen, wo Bürger einen langen und schmerzlichen Teil seines Lebens verbracht hatte. Das regte ihn zu einer eindringenden Beschäftigung mit diesem Dichter an und führte, nach Verhandlung mit Gustav Roethe, zu mehreren Aufsätzen über den Dichter. Im Kreise um Bürger fesselte Nutzhorn der freundlichere Hannoveraner Hölty, und als dessen 150.Geburtstag herannahte (geb. 21. Dez. 1748), schlug er vor, ihm in Hannover ein Denkmal zu setzen. Ohne Schwierigkeit gewannen wir Tramm für die Sache, die Stadt war bereit, die Kosten zu übernehmen, und zwei Künstler aus dem jüngeren Kreise, der Architekt Lühr und der Bildhauer Gundelach, wurden mit der Ausführung beauftragt. Bei den Vorberatungen über die Gestaltung dieses Denkmals sollte ich erfahren, wie nützlich heute immer noch die Lehre aus Lessings „Laokoon, über den Unterschied zwischen Dichtung und bildender Kunst" sein kann. Nutzhorn war gefangen von Höltys Versen: Dann segnen Enkel Deine Gruft Und weinen Tränen drauf, Und Sommerblumen voll von Duft Blühn aus den Tränen auf. Er schlug die weinenden Enkel und aufsprießenden Blumen für das Grabmal vor. Ich verbündete mich mit Lessing und meinte, das in der Poesie sehr 272

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schöne Bild werde sich in der Elastik wunderlich ausnehmen, weil der Bildhauer nicht darstellen könne, daß die Blumen erst durch die Tränen hervorgerufen würden; es würde also nichts dargestellt sein als weinende Engel an einem blumigen Grabe. Die Künstler stimmten dem zu, und Nutzhorn gab nach. Es ist dann eine griechische Stele mit dem Reliefbilde des Dichters entstanden, die bei der Denkmalhalle auf dem Nikolaifriedhofe errichtet wurde. Der Gedenktag wurde sehr hübsch gefeiert. Nutzhorn hielt die Festrede mit seiner feinen Einfühlung in echte Poesie, und abends fand sich zu einem kleinen Festessen der jüngere Kreis des Künstlervereins harmonisch zusammen. Nutzhorn hatte den Leuten so gefallen, daß der Stadtgartendirektor Trip, der für seine schönen künstlerischen Pläne (Eilenriede-Umgestaltung, Maschparkanlage) nicht immer volles Verständnis in der Stadt fand, eine herzhafte Rede hielt auf das deutsche Pfarrhaus als den Träger vorbildlicher Kultur. Auf diese Rede hin erhob sich der witzige Professor Hubert Stier — der Schöpfer des neuen Bahnhofs und neuen Provinzialmuseums — und steckte dem Trip eine große, weiße Chrysanthemumblüte ins Knopfloch mit dem Spruche: Ist der Magistrat zu weise Und das Publikum zu dumm: Ewig zu des Edlen Preise Blüht doch das Chrysanthemum. Dieser Abend ist mir in lebhafter Erinnerung geblieben. Nutzhorn ist später beklagenswerterweise in geistige Umnachtung verfallen, die sich schon in seiner Studentenzeit einmal bemerkbar gemacht hatte, und ist 54 jährig im Jahre 1914 gestorben. Als Drittem muß ich noch ein Wort des Gedenkens widmen dem trefflichen Maler Prof. H e r m a n n S c h a p e r , dem ich beim Abschied von Hannover mein Bildhauerbuch gewidmet habe. Er hat von den Künstlern mir am nächsten gestanden. Sein gediegenes Urteil, sein praktischer Rat haben mir oft geholfen. Und vor allem konnte sein eigenes Schaffen einem manche Belehrung und Freude bringen. Er war als Schüler des Gotikers Haase schon früh zu dessen Wiederherstellungsarbeiten herangezogen worden. So hatte er 1882 den Festsaal des Alten Rathauses ausmalen dürfen und war dabei durch das große Bild von der Erstürmung der Herrenburg Lauenrode durch die hannoversche Bürgerschaft in der Stadt populär geworden. In Goslar hatte er mit ähnlichem Erfolg das alte Gasthaus „Zum Brusttuch" ausgeschmückt. Von den 90er Jahren an war seine Hauptaufgabe die Ausmalung der allmählich wiedererstehenden Marienburg in Westpreußen. Da >8

Schuchhardt,

Lebeasennnerungen

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hatte in den Anfangen sich schon Menzel mit einigen Glasfenstern betätigt. Die ganzen Wiederherstellungsarbeiten leitete jetzt Steinbrecht, ein alter Mitarbeiter der Olympia-Grabungen, den ich auch regelmäßig sah, wenn er in Hannover war. Er nutzte seine archäologische Schulung, indem er den Schutt der zusammengefallenen Gebäude sorgfaltig nach den alten Mauer- und Dachziegeln der verschiedenen Bauteile und Zeiten durchsuchte und sie fiir den Wiederaufbau nachahmte. Steinbrecht und Schaper arbeiteten prächtig zusammen: beide gleich gewissenhaft und mit solidem, reifen Geschmack kühn auch Neues wagend. Schaper hatte im Remter die Bildnisse der sämtlichen Ordensmeister, die er fast alle erfinden mußte, in lebensgroßen Figuren ringsum an die Wände gemalt und war nun an die Ausschmückung des Festsaales gegangen. Für diesen Saal war sein Leitmotiv, daß Rot die eigentliche Festfarbe sei, die den Beschauer sogleich in eine gehobene Stimmung versetze. So tauchte er geradezu den ganzen Saal in Rot, indem er allen Bildern ringsum einen roten Hintergrund gab, so wie die alten Italiener ihnen goldene gegeben haben. Und so wird man in diesem Saal in der Tat in einen Rausch versetzt; es ist, als ob man ein Posaunenkonzert höre, wie es die alten vorgeschichtlichen Festinstrumente, die Luren, geboten haben müssen. Das ergreifendste seiner Gemälde in der Marienburg ist das in der Grabkapelle der Ordensmeister, wo Heinrich von Plauen und mit ihm die 1410 bei der erfolgreichen Verteidigung der Burg Gefallenen demütig heranschreiten, um zur Madonna, der Schutzherrin der Burg, einzugehen. Schapers Interessen waren weit gespannt, er hat mich nicht bloß zu den alten Grabsteinen auf die Dörfer oft begleitet, sondern auch auf Burgen, die noch altes Mauerwerk, alte Wohneinteilungen und Toranlagen erkennen ließen. Da ging er immer sofort daran, zu messen und zu zeichnen. Sehr beflissen war er, neue Maltechniken auszuprobieren, besonders für seine Freskoarbeiten, um ihnen einen möglichst langen Bestand zu sichern. Eines Tages wollte er versuchen, mit Wasserfarben auf Gipsgrund zu malen und einen Lack darüber zu ziehen und bat mich, ihm dafür ein paarmal zu sitzen. Das ist dann ein sehr nettes Porträt geworden, das er zunächst auf die hannoversche Ausstellung schickte und mir dann schenkte (1894); es hat bis zum Hausbrande immer in unserm Zimmer gehangen. Vielfach hat Schaper die Kartons zu großen Kirchenmosaiken gemalt, so für die Bernwardgruft in Hildesheim, für die Front des Bremer Domes und für die Vorhalle, den Narthex der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche in Charlottenburg. Das Bedeutendste auf diesem Gebiete ist seine Ausschmükkung des Aachener Oktogons. Da ist er tief in die Altertumsforschung hinabgestiegen. Sein Plan, den unteren Teil der Wände mit geädertem hellen Marmor zu verkleiden, war von der Technischen Hochschule in Aachen 274

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angegriffen worden. Schaper fuhr daraufhin nach Salonik, wo die altberühmte Hagios Theodoros Basilika ähnlich behandelt sein sollte. Ich gab ihm eine Empfehlung an Theodor Wiegand in Konstantinopel mit (1903), und der war so angetan von der Sache, daß er Schaper nach Salonik begleitete und ihm dort alle Wege ebnete. So hat dann das Oktogon Karls d. Gr. doch seine Marmorverkleidung erhalten. Schaper hat durch sein Streben nach solider Arbeit sich leider einen frühen Tod geholt. Er war dazu übergegangen, al fresco mit einem neuen Bleipräparat zu malen, vergiftete sich dabei und starb an einem unbesiegbaren kalten Fieber in wenigen Wochen (1911). Schapers Lebenswerk hätte längst eine Monographie verdient. Er war ein kerndeutscher Künstler, Kraft und Gemüt sind seine Zeichen. Der einfache Aufsatz über ihn im „Hannoverland" von 1933 reicht bei weitem nicht aus. Hoffentlich wird die hannoversche Zurückhaltung im Schreib- und Druckwesen hier noch einmal überwunden. Ein gut Halbdutzend weiterer wackrer Männer, die über die Bezeichnimg „guter Bekannter" hinaus den Ehrentitel „Freund" verdienen, will ich nur kurz vorführen. F e r d i n a n d W a l l b r e c h t , der Durchbruchsarchitekt, und F e r d i n a n d L u d o l f f , der Schöpfer der hannoverschen Kanalisation, beide 20 Jahre älter als ich, waren unsre regelmäßigen Mittagsgäste in ihrem sommerlichen Strohwitwertum. Beide hauen mich in ihr Haus gezogen, und ich hatte mit ihnen auch einen wöchentlichen Skatabend, bei dem niedrig gespielt, aber eine Bowle aus Burgunder und Sekt getrunken wurde. R a m d o h r , Tramms hochgeschätzter alter Lehrer und von ihm erst kürzlich von Jever weggeholt, um das neue städtische Reformgymnasium aufzubauen, war ein begeisterter Verehrer des klassischen Altertums und aller archäologischen Forschung. Oskar W i c h t e n d a h l , einer der jüngeren Maler, sehr beweglich und amüsant, viel reisend und beobachtend, war mein nächster Genosse im Künstlerverein. J o h a n n e s K r e t z s c h m a r , Assistent am Staatsarchiv, (später Archivdirektor in Lübeck) und F r i e d r i c h T h i m m e , Assistent an der Stadtbibliothek (später Direktor der Herrenhausbibliothek in Berlin) haben mit mir zusammen jahrelang die Zeitschrift des Historischen Vereins herausgegeben, in Eintracht und Freudigkeit. Reinhold Agahd schließlich, von Ramdohr an seine Schule geholt, war der erste Oberlehrer, der sich zur Mithilfe bei den sommerlichen Ausgrabungen meldete. Ich habe ihn dann mitgenommen zur Pipinsburg bei Geestemünde (1906), wo er nach Aufgaben, die ich ihm stellte, schon nach acht Tagen sein Gesellenstück und nach 14 Tagen sein Meisterstück machte, 275

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so daß ich ihm dann die benachbarte „Heidenschanze" zur selbständigen Untersuchung übergeben konnte. Ich habe später in Berlin noch weiter mit ihm zusammenarbeiten können. Mein Abgang von Hannover vollzog sich in Etappen. Nach einem Abschiedsvortrage im Künstlerverein über meine hannoverschen Bildhauer und einem anderen im Historischen Verein, auf den dann ein festlicher Bierabend folgte, begab ich mich pünktlich zum 1. April nach Berlin. Meine Familie blieb aber noch mehrere Monate in Hannover: wir hatten schon die letzten sieben Jahre mit meinen Schwiegereltern zusammengewohnt, indem wir uns ein mehrstöckiges Haus teilten; sie wollten jetzt auch mit nach Berlin ziehen; und dort zwei große Wohnungen zusammen zu finden, war nicht leicht. Wir griffen zu auf ein noch im Bau befindliches Haus in Lichterfelde und mußten nun mit dem Umzüge bis zu dessen Fertigstellung warten.

XVI. B E R L I N AB 1908 MUSEUM Über Berlin kann ich einheitlicher berichten, als über das vielgestaltige Hannover. Blieb schon die ganze Kunstgeschichte beiseite, so schloß sich auch meine vorgeschichtliche Archäologie in ungeahnter Weise mit der früher betriebenen klassischen zusammen. Zwischen meinen neuen Ausgrabungen vor den Toren Berlins und meiner alten Beschäftigung mit Troja und Mykene ergaben sich Beziehungen, die die Frage der ganzen vorgeschichtlichen Entwicklung von Europa und darin besonders die Rolle des Germanentums betrafen. So ist mein ganzes Sammeln, Graben und Schreiben in Berlin abgestellt gewesen auf ein Schaffen des Bildes von Alteuropa: das Aufkeimen verschiedenartiger Stämme auf verschiedenem Boden, die weite Samenstreuung der einen und die gehaltenere der andern und so die Entwicklung des Mischwaldes, Indogermanentum genannt, im Laufe der Zeiten. Viel Teilnahme und gute Mithilfe hab ich dabei gefunden, zielstrebige Grabungen und umfassende Reisen machen können, für Publikationen immer gute Gelegenheit gehabt. Ich will davon, soweit es heute noch nützlich sein kann, erzählen. Das erste Glückwunschtelegramm, das ich zu meiner neuen Stellung nach Hannover bekam, war von Karl von den Steinen, dem Präsidenten der alten Virchowschen „Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte": man wünschte reichen Erfolg und hoffte auf gute Zusammenarbeit. Virchow selbst war ein paar Jahre vorher gestorben; man wollte also jetzt die Ablehnung des „archäologischen" Betriebes in der Vorgeschichtsforschung und damit den Zwiespalt zwischen Ost- und Westdeutschland nicht fortsetzen. Ich habe natürlich in die dargebotene Hand eingeschlagen,

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mit der Gesellschaft immer im besten Einvernehmen gestanden und selbst auch zweimal die üblichen drei Jahre (1917/19, 1926/28) und nachher noch ein Jahr (1938) vertretungsweise den Vorsitz geführt. Zum 70. Geburtstage wurde mir die Maaß-Medaille „für wissenschaftliche Forschung" und zum 80. die Virchow-Plakette „für Verdienste um die Gesellschaft" verliehen. Die vorgeschichtliche Abteilung hatte neben dem Direktor noch drei wissenschaftliche Beamte: zwei Assistenten und einen Hilfsarbeiter. Die Assistenten waren Otto Götze, der erste und bisher einzige Schüler des Jenaer Prähistorikers Klopfleisch, und Hubert Schmidt, von Haus aus klassischer Archäologe, zunächst zur Katalogisierung der Schliemann'schen Troja-Sammlung hierher berufen und nach deren Erledigung (1904) für die allgemeine Arbeit dabehalten. Götze war aus Weimar, 43 Jahre alt, Schmidt aus Kattowitz, 44 Jahre alt. Als Hilfsarbeiter fungierte der 27 jährige Max Ebert aus Stendal, Germanist und Schüler von Erich Schmidt. Er hatte sich bei den Museen eigentlich für die deutsche Volkskunde-Sammlung gemeldet und war dann, weil dort kein weiterer Beamter nötig schien, der vorgeschichtlichen zugewiesen worden. Die Volkskunde-Sammlung unterstand übrigens auch dem Direktor der vorgeschichtlichen Abteilung, was ich erst in Berlin erfuhr und eigentlich nicht billigte. Sie befand sich in der Klosterstraße 36 in dem schönen, von Schlüter gebauten alten Adelshause, das oben noch den unberührten, sehr geschmackvollen Festsaal enthielt, den wir als Sitzungssaal für die Ankaufskommission benutzten. Als Verwalter dieser Sammlung war Dr. Karl Brunner in der Klosterstraße tätig. Zur vorgeschichtlichen Abteilung gehörte dann noch Eduard Krause, halb Techniker, halb Wissenschaftler, als Leiter der Wiederherstellungs-Werkstatt. Die Leitung der Abteilung seit Vossens Tode hatte Götze gehabt. Wichtige Entscheidungen waren während dieser Periode ausgesetzt worden, und da die sich auf fast zwei Jahre ausgedehnt hatte, lagen ihrer eine ganze Anzahl vor. Die wichtigste war wohl, wie weit der Wunsch des Kaisers, von neuen Funden immer Waffen und Wehr dem Zeughaus abzuliefern, erfüllt werden könne. Seltenheiten wie Helme und Schilde, die nur in ein oder zwei Exemplaren bei uns vertreten waren, abgeben zu sollen, schien mir zu viel verlangt. Ich schlug deshalb vor, hier Ausnahmen zu machen und auch sonst sich auf die Abgabe von Stücken zu beschränken, die als Dubletten gelten könnten, da gerade Waffen und Wehr ein Hauptcharakteristikum auch vorgeschichtlicher Zeiten darstellten. Dieser Vorschlag ist dann erfreulicherweise angenommen worden. Es kamen aber auch aus der Abteilung so viele Anregungen und Anträge an mich, daß ich für die erste Zeit eine regelmäßige Montagskonferenz von 10—12 Uhr mit den Beamten ansetzte. Die Fragen gingen um Kata277

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logisieren und Publizieren, um Ergänzung der Bibliothek, um Ausgrabungen und Reisen. Diese Besprechungen waren mir sehr erwünscht und nützlich; ich habe durch sie am raschesten die Zustände und Bedürfnisse der Abteilung kennen gelernt und mich mit den Mitarbeitern zusammengefunden. Meine Ernennung war eine Überraschung gewesen, man hatte zumeist geglaubt, daß wohl Götze zum Direktor aufrücken würde. Er hatte nun eine ansprechende Remuneration und den Professortitel erhalten und tat ganz ordentlich mit. Hubert Schmidt hatte den Auftrag, für die im August in Berlin stattfindende Internationale Historikerversammlung die zeitliche Entwicklung in Europa mit einer Auswahl aus unserm Material darzustellen. Die Anregung dazu war von Eduard Meyer ausgegangen und traf völlig das, was ich für die ganze Sammlung als künftiges Ziel im Auge hatte. Die Aufstellung ist rechtzeitig fertig geworden und hat dann jahrelang gestanden, da ein neues Museum noch erheblich auf sich warten ließ. NORDLANDREISE Ich selbst ging an die Ausführung dessen, was ich Bode schon in Hannover als für mich dringend notwendig bezeichnet und was er bewilligt hatte, nämlich eine mehrwöchige Nordlandreise zu machen, um die für die germanische Vorgeschichte so grundlegend wichtigen Sammlungen von Kopenhagen, Stockholm, Christiania und Gotenburg kennen zu lernen. Vom 8. Mai bis 1. Juni bin ich dafür unterwegs gewesen; je eine Woche hab ich auf Kopenhagen und Stockholm, drei Tage auf Christiania und zwei auf Gotenburg verwendet. In Kopenhagen stellte sich Sophus Müller freundlichst zur Verfügung. Er sei nur traurig, sagte er, daß ich trotz meiner Eigenschaft als klassischer Archäologe von seiner These der Abstammung unsrer germanischen Kultur aus dem klassischen Süden nichts wissen wolle. Von dem überwältigenden Eindruck gerade der Kopenhagener Vorgeschichtssammlung brauche ich nichts zu sagen. Ich hatte neben ihr nur wenig Zeit, auch in die anderen Museen einmal einen Bück zu werfen: das Antiken-Kabinett, das Ny Carlsberg-Museum, die Gemäldegalerie, das heute sehr altväterisch anmutende Thorwaldsen-Museum. Eine Privatsammlung mitten auf Seeland in Ringsted war mir schon nach Berlin hin angeboten; ich habe sie angesehen, aber nicht gekauft: sie enthielt zumeist das übliche Steingerät, das wir selbst schon im Überfluß hatten, kaum Bronzen und an Keramik, die ich besonders gern gehabt hätte, nur ein paar bei uns auch schon vertretene Töpfe der Kaiserzeit. Von Ringsted bin ich dann aber in die benachbarte alte Hauptstadt Roskilde gefahren, um den schönen Dom aus dem 13. Jahrhundert zu bewundern. 278

NORDLANDREISE

Von der Stadt Kopenhagen hab ich kaum einen Begriff bekommen. Als es nach Regentagen eines Abends schönes Wetter geworden war, beschloß ich, einmal der Hauptverkehrsader nach in die älteren Stadtteile vorzudringen. „Ich hielt mich immer an den Menschenstrom und kam so eine Art Kalwerstraat (Amsterdam) entlang an allerhand Palästen, Denkmälern, dem Kgl. Theater vorbei zu einem Park. Der Menschenstrom ging aber immer noch weiter in einer ganz festen Linie; so kam ich an den Hafen und an ihm entlang. Schließlich wollte ich doch feststellen, welches Ziel der Strom hätte, und siehe da, er zog sich bis auf die äußerste Spitze des Hafen-Molos, umging dort die breite, runde Plattform mit dem Leuchtturm und kehrte so auf derselben Linie in die Stadt zurück. Diese Expedition hat mich genau zwei Stunden gekostet, von 8—10 Uhr. Es war aber herrlich da draußen: erst noch leidlich hell, dann fast voller Mond, weites Wasser, drüben altertümliche Giebel, große Krähen und Masten; dabei Himmel, Meer und Luft in das feine Blaugrau getaucht, wie es die Kopenhagener Porzellan-Manufaktur malt. So hab ich denn doch vom alten echten Kopenhagen eine Ahnung bekommen"1). Von Kopenhagen ging's nach Stockholm. Da wurde ich besonders freundlich aufgenommen. Bode hatte Monteüus, dem großen Magus aus dem Norden, als erstem das Berliner Direktorat angeboten, und Montelius hatte mit Hinweis auf seine 65 Jahre abgelehnt. Nun hatte Bode persönlich mich bei ihm angemeldet, und das hatte sehr günstig gewirkt. Gleich den ersten Tag sollte ich die weitgehende nordische Gastfreundschaft kennen lernen. Nach der Museumszeit führte Montelius, der Strohwitwer war, mich in ein prächtiges Restaurant, darauf folgte ein Café, und als drittes mußte ich unbedingt noch eine behagliche, mit Lederbänken ausgestattete SchwedischePunsch-Kneipe kennen lernen. Ich war die Nacht vorher durchgefahren und wäre gern zeitig nach Hause gegangen, aber es wurde später Abend. Das Gespräch berührte wissenschaftliche Dinge nur oberflächlich. Montelius hatte längst überall seine bekannten festen Standpunkte und war, anders als Sophus Müller, darüber hinaus, sie etwa zu verteidigen öder andere auf die ihrigen anzureden. Aber er plauderte köstlich, mit großem, ruhigen Humor, über Schweden, Deutschland, Italien. Am letzten Tage meines Aufenthaltes durfte ich mich revanchieren, und wir waren da wieder zusammen, bis mein Abendzug mich quer durch Schweden nach Christiania entführte. Von Montelius' Museum war ich etwas enttäuscht. Daß es bei weitem nicht so reichhaltig war wie das Kopenhagener, hatte ich gewußt, aber ich hatte erwartet, in ihm nun die Sammlung nach den sechs Entwicklungsstufen der Bronzezeit (2000 bis 800 v. Chr.), die Montelius' berühmtes Werk *) Aus einem damaligen Briefe.

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waren, aufgestellt zu sehen. Statt dessen durchwanderte man einfach die schwedischen Provinzen, so wie in Berlin die verpönten Säle Brandenburg, Pommern, Schlesien. Ich redete Oscar Almgren, der mich zuweilen bei der Arbeit aufsuchte, darauf an. Er teilte meinen Standpunkt: es sei der aller jüngeren Mitarbeiter, die längst gern eingreifen würden. Montelius aber wolle seinen alten Freund und Vorgänger Hillebrand, der den Perioden mißtraue, nicht durch eine offensichtliche Darstellung derselben betrüben. In der staatlichen Gemäldegalerie lernte man gut die schwedische Kunst kennen, in der die farbenprächtigen Bilder Anders Zorns hervorstachen. Besonders überrascht war ich aber von der hervorragenden Pflege der heimischen Volkskunde in Stockholm. Das neue „Nordische Museum" ist erstaunlich reich und belehrend, und „Skansen" steht unerreicht und einzigartig da. Den Namen hat es von einer alten Volksburg („Schanze"), die sich dieses Höhengelände erkoren hatte. Es ist sehr groß: ein Oval von 30 ha Fläche, also fast wie ein römisches Zweilegionslager. Auf diesem welligen Gelände wechseln Wäldchen mit Wiesen, Äckern, Seen. Alle Gewächse und Tiere Schwedens sind vertreten. Die menschliche Behausung und Wirtschaft der verschiedenen Landesteile ist, meist in Originalen, so getreu aufgebaut, daß der Sennhirt seine Ziegen melkt und den Beschauern die Milch kredenzt. Bei uns wurde damals vielfach gemahnt zur Schaffung von „Freiluftmuseen". Skansen war mir eine Mahnung, vorsichtig damit zu sein: wenn es wirklich ein umfassendes Bild geben soll, erfordert es einen ungeheuren Aufwand an Herstellungs- und Unierhaltskosten. Skansen mußte ständig durch volkstümliche Veranstaltungen: Konzerte, Wettspiele, Volksfeste sich seine Erhaltungsmittel zu verschaffen suchen. Ich habe dann auch Bernhard Salin, eine ähnlich prächtige Natur wie Montelius, kennen gelernt, obwohl er krank war. Er hat mir sein schönes Buch über die Frühmittelalterlichen Fibeln geschenkt. Da ich gern eine vorgeschichtliche Burg sehen wollte, ließ Montelius mich durch seinen jungen Schüler Türen Arne zu zwei solchen am unteren Mälar führen. Sie waren klein, ihre Wälle aus Granitblöcken getürmt, und stammten aus der Wikingerzeit. Ältere scheint es im Lande garnicht zu geben. Auf die acht Tage in Stockholm folgten drei in Christiania. Da war Gustavson Direktor, ein Schwede und Montelius sehr verwandt. Er hatte soeben den großen Osebergfund geborgen: das Wikingerboot gefüllt mit allem Hausrat und den Schätzen einer alten Königin. Einige Stücke, wie der prächtige Tierkopfknauf vom Steven, lagen noch im Wasser, um sich langsam an die heutige Oberwelt zu gewöhnen. Gustavson entführte mich gleich am ersten Nachmittag mit der Hochbahn auf den Holmekollen, den Schauplatz der großen Skiwettkämpfe, wo an diesem 25. Mai noch Schnee lag. Dort wurde gegessen und nachher in der 280

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Stadt die obligate Nachsitzung gehalten. Gustavson ist leider wenige Jahre nachher gestorben, aber sein Nachfolger A. W. Brögger hat das gute Verhältnis zu Berlin fortgesetzt und mir immer seine wichtigsten Arbeiten geschickt. Nach Christiania bin ich noch kurz in Gotenburg gewesen, das von Sarauw, dem früheren Ausgräber der mesolithischen Wohnplätze auf Seeland, betraut wurde. Über Dänemark fuhr ich schließlich wieder nach Hause. RÖMERSCHANZE BEI POTSDAM Als ich in Berlin Bode meinen Reisebericht erstattete, in dem ihn besonders Montelius interessierte, schenkte er mir aus seiner Tasche 1000 Mk., damit ich die Grabung auf der „Römerschanze", die ich ihm schon einmal als eines meiner Ziele genannt hatte, sofort beginnen könnte. Ich war sehr erstaunt und sah erst später, daß er des öfteren einer Museumsabteilung in solcher Weise half, wenn er eine wichtige Sache rasch erledigt sehen wollte. Die Römerschanze am Jungfernsee bei Nedlitz hinter Potsdam war die merkwürdige Burg, die Hölzermann zu seinen nordwestdeutschen mitaufgenommen hatte, weil sie in ihrer Wallführung und Torbildung ganz auffallend an unsere sächsischen Volksburgen erinnert. Ein Jahr vor meinem Amtsantritt in Berlin hatte mich Adolf Erman auch zu einem sonntäglichen Familienbesuch nach der Burg mitgenommen. Er verehrte diese schöne Seelandschaft und wollte endlich einmal Näheres über die Burg erfahren. Allgemein galt sie für „die größte slawische Volksburg in Preußen". Ermans Söhne, zwei 7 und 12 jährige Knaben, trugen außer den Frühstücks-Rucksäcken jeder eine Schaufel. So begann auf der Burg, nachdem die Rucksäcke ihre Aufgabe erfüllt hatten, alsbald ein eifriges Schürfen. Um die Wette wurden dabei rauhe, grobe Scherben gefunden, die durchweg ausgesprochen slawisch waren und somit den bisherigen Ruf der Burg zu rechtfertigen schienen. Als ich daneben aber die aus tieferer Schicht stammende Maulwurfserde prüfte, fand ich alle Augenblick glatte schwarze oder rötliche Stücke aus der voraufgegangenen altgermanischen Periode. So kam ich damals schon zu dem Ergebnis: altgermanisch und von den Slawen wiederbenutzt. Die Burg war ausgezeichnet erhalten, Wälle und Gräben ganz unberührt; der breite Wasserschutz an drei Seiten hatte sie vor jeder Beeinträchtigung bewahrt. Hier den Spaten anzusetzen und so, wie wirs im Westen gemacht hatten, die Bauart von Wall und Toren und den Grundriß der Häuser nachzuweisen, war schon verlockend. In ganz Ostdeutschland war eine auf die Holzspuren abgestellte Grabung noch nicht gemacht worden. Grade die Burgengrabungen waren immer nur Tastungen gewesen. 281

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Das war der Plan, für den Bode sich erwärmt hatte, und da der Museumsfond bis dahin nur für Erwerbungen und nicht für rein wissenschaftliche Grabungen bestimmt war, so hatte er vorläufig persönlich eingegriffen. Zum Mitarbeiter holte ich Agahd, meinen talentvollen Schüler von der Pipinsburg (1906), der inzwischen Gymnasialdirektor in Frankfurt a. O. geworden war. Er brachte unangemeldet einen kleinen Primaner mit, Gerhard Bersu, der sich mit Begeisterung in die Arbeit stürzte, aber tränenden Auges schon nach acht Tagen wieder nach Hause geschickt wurde, um sein schwaches Französisch für das bevorstehende Abitur aufzubessern. Im folgenden Jahre ist er umso tatenlustiger wiedergekommen und später ein meisterhafter Ausgräber geworden. Mit Agahd hab ich dann ein anstrengendes, aber erfreuliches Leben geführt. Wir hatten uns im „Gasthaus zur Römerschanze" am Nedlitzer Ufer für vier Wochen eingemietet, fuhren von da morgens über den See zur Schanze hinüber, mittags zum Essen zurück und saßen abends in unserm schönen Wirtsgarten gewöhnlich noch in Gesellschaft dieses oder jenes freundlichen Besuchers, wie Adolf Erman, Eduard Meyer, Gustav Roethe, Karl v. d. Steinen, Otto Olshausen, Paul Träger. Für sie alle war diese Grabung eine Offenbarung. Und sie war das in mancher Beziehung auch für uns selbst. Die Wälle waren so hoch erhalten, daß in ihrer Tiefe die Holzeinlagen noch deutlich erkennbar, ja vielfach greifbar waren. Ich habe ein Bohlenstück mit einem Holzniet in seinem Loch ins Museum bringen können. Der Wall hatte vorn und hinten eine steile Holzwand gehabt (Abb. 23a). Am Boden ergaben sich die zwei Reihen der großen Pfostenlöcher, die die Dicke der alten Holzerdmauer auf 3,25 m bestimmen ließen. In diesem Zwischenraum, also innerhalb der Mauer, waren die Balkenzüge, die Vorderund Hinterwand verbanden, deutlich, ja mehrfach war beim Abschälen von obenher noch die Stärke der Planke, die vorn wie hinten entlanglief, zu erkennen; sie maß 3 cm. Natürlich konnten wir nun auch die alte Höhe der Wallmauer bestimmen, wir brauchten nur die bei ihrem allmählichen Verrotten nach vorn und hinten abgerutschten Erdmassen auf die heutige Wallkrone zurückzuversetzen. Darnach war die Holzerdmauer bei 3,25 m Stärke etwa 6V2 m hoch gewesen. Wir waren sehr froh über die guten Aussichten, die dieser Anfang uns bot; wie gänzlich neu und geradezu unglaubhaft aber der Allgemeinheit unsre Auffassungen und Deutungen waren, das sollten wir bald mit Schrecken erfahren. Willy Pastor war damals in Berlin der Kunst- und Kulturgeschichte vertretende Journalist. Sein Besuch der Burg war gerade in die Mittagspause gefallen, wo er uns nicht antraf, und er schrieb nun in der „Täglichen Rundschau", er könne Schuchhardt mit seinen „Pfostenlöchern" nicht begreifen, es handle sich einfach um Baumrodungen. Ich schrieb ihm, ich 282

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wolle gegen seinen Artikel nicht öffentlich auftreten; ich lüde ihn ein, in den nächsten Tagen in einer Zeit zu kommen, wo wir da wären. Er kam, sah lind — ich siegte; als ganz vergnügter Kamerad ging er beim Arbeitsschluß mit uns fort und hat dann in der Zeitung seine Palinodie gesungen. Aber auch Berliner Wissenschaftlern war unsre Auffassung zu neu. Otto Olshausen meinte, man müsse den Inhalt der sogenannten Pfostenlöcher auf Holzspuren untersuchen lassen. Ich stellte ihm davon zur Verfügung, so viel er wollte, aber er hat sich dann beim Fortgang der Arbeiten auch ohne das überzeugen lassen. Nach der Walluntersuchung, die mächtige Erdarbeiten erfordert hatte, gingen wir an eins der beiden großen Tore und wählten das östliche, am See gelegene, um das südliche, durch das der einzige Aufgang führte, nicht zu zerstören. Nach Beseitigimg der Humusdecke hatten wir ein Gewirr von Pfostenlöchern vor uns. Deutlich markierten sich aber mit je 3 Pfosten die beiden Wallköpfe, die einen Zwischenraum von 6 m zwischen sich ließen, und von diesen Wallköpfen lief links wie rechts eine Pfostenreihe burgeinwärts: die Wände des Torweges. In der Mitte zwischen diesen Wänden lief wieder eine Pfostenreihe, das Tor war also ein Doppeltor mit einer Durchteilung in der Mitte. Seine Front lag in der Flucht der Rückwand des Walles, so daß der Raum zwischen den Wallköpfen frei blieb und der stürmende Feind hier von drei Seiten bekämpft werden konnte. In diesen Vorraum hinein schob sich aber ein zweites System von Pfostenlöchern, das deutlich von einem späteren Neubau stammte: die Löcher waren kohlig geschwärzt, also erst angelegt, als das erste Tor durch einen Brand zugrunde gegangen war. Die umstehende Skizze zeigt die alte Toranlage (Abb. 23). Das zweite Tor war enger als das erste, nur 3 m weit und daher kein Doppeltor; das einzige Pfostenloch in der Mitte kann nur für den Anschlagpflock der Torflügel bestimmt gewesen sein. Das große erste Tor erregte unser besonderes Interesse durch seine völlige Übereinstimmung mit dem Tore des Römerkastells von Haltern, das wir im Jahre 1904 freigelegt hatten (Abb. 24). Wie jenes war es ein Doppeltor von 6 m Weite und lag hinter der Wallfront zurück. Woher diese merkwürdige Übereinstimmung stammt, ist mir erst viele Jahre später klar geworden, als ich eine Reihe von solchen Verwandtschaften zwischen Römisch und Germanisch kennen gelernt hatte. Die Potsdamer „Römerschanze" gehört in das 8. Jahrhundert v. Chr. Dasselbe Tor und denselben Wallbau wie sie hat aber auch noch die viel spätere germanische Düsseiburg bei Rehburg. Die altgermanische Bauart ist also bis in die Römerzeit geübt worden, sie ist nicht den Römern nachgeahmt, sondern umgekehrt: die Römer haben sie von den Germanen übernommen. Die Halterner Bauten gehören zu den frühesten der Römer in Deutschland, sie stellen ihre ersten Versuche im Holzbau dar, 283

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Abb. 23. Tore der „Römerschanze" bei Potsdam und des „Großen Lagers" bei Haltern. 1 : 300 und 1 : 500

der ihnen bis dahin ziemlich fremd war. So wie Caecina im Jahre 15 n. Chr. die Moorbrücken sicher den Germanen nachgeahmt hat, so hat es Drusus vorher auch in Aliso mit dem Lagerbau getan. Nur aus der Frühzeit der Römer in Deutschland kennen wir die Wall- und Torkonstruktionen von Haltern, Wiesbaden, Xanten. Am Limes unter Domitian und Hadrian kommt dergleichen nicht mehr vor. Mit der Untersuchung der Schutzbauten der Burg wollten wir uns für die erste Kampagne begnügen. Bode erbat sich von mir einen Bericht, den er dem Kaiser vorlegen könnte, und der Kaiser ist dann nachher (2. Nov. 1908) mit der Kaiserin und der jungen Prinzessin gekommen, um sich die Ergebnisse anzusehen. Er faßte alles sehr lebendig auf, sagte ein über das andere Mal: „So etwas hab ich noch nie gesehen!" und war begeistert, daß man nun bei einer einfachen Wallburg die Holzkonstruktionen ebenso gut feststellen könne, wie bei seiner geliebten Saalburg die steinernen. Von der üblen Stimmimg, die damals im Volke gegen ihn im Aufkeimen war wegen seiner Ratschläge für den Burenkrieg an die Königin Viktoria, war noch keine Einwirkung zu bemerken. Am folgenden Tage hat er aber Berlin den Rücken gekehrt, um auf 1 y2 Wochen zum Fürsten von Fürstenberg zu fahren, und die Krise hat nachhcr zum Sturz des Reichskanzlers Bülow geführt. Im folgenden Jahre (1909) hab ich auf derRömerschanze weiter gegraben, und zwar diesmal mit unserem Assistenten Dr. Max Ebert und dem nunmehrigen Studiosus der Archäologie Gerhard Bersu, da Agahd seine Ferien auf die Schwedenschanze bei Lossow südlich Frankfurt a. O. verwenden sollte. Unsere Aufgabe war jetzt, den Innenraum der Burg zu erforschen. Da gab es eine unangenehme Überraschung: die Pfostenlöcher bildeten überall, wo wir einschnitten, ein unentwirrbares Gedränge, und auch die vielfach eingestreuten Herde, aus Feldsteinen zusammengelegt, halfen nicht, irgendwo eine bestimmte Hausform zu erkennen. Nur im südwestlichen 284

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Teile fand sich schließlich eine freiere Fläche, und hier entwickelte sich nun ein ganz klarer, großer Grundriß. Ein rechteckiges Langhaus zeichnete sich ab durch einen Rahmen von großen, runden Pfostenlöchern. Es war 13 m lang und 6% m breit und hatte nur eine Durchteilung: vor dem Saale lag eine 1 y2 m tiefe Vorhalle mit einem kleinen Mittelpfosten in der Front. Fast in der Mitte des Saales, etwas nach hinten geschoben, lag wohl erhalten der aus Steinen zusammengebaute Herd mit einem viereckigen Kochloch in der Mitte (Abb. 25). Gespannt waren wir der Aufdeckung dieses vielversprechenden Stückes gefolgt, und das klare Ergebnis übertraf nun alle unsre Erwartungen. Vor uns lag ein ausgesprochenes mykenisches Megaron: der einfache große Saal mit Vorhalle und in der Mitte des Saales, ganz wie in Troja, Tiryns und Mykene, der steinerne Herd, an dem beim Besuch des Odysseus im Hause des Alkinoos die Königin sitzt und spinnt. Die Archäologie hatte sich schon seit einiger Zeit mit der Frage beschäftigt, ob nicht das homerische Megaron aus dem Norden stamme. Rudolf Henning, der Schwiegersohn Virchows, hatte 1882 ein Buch geschrieben: „Das deutsche Haus in seiner historischen Entwicklung" und darin (S. 138AF.) das niedersächsische Bauernhaus als das einzig verwandte mit dem Hause des Odysseus hingestellt. Und Ferdinand Noack hatte 1908 in einer Schrift: „Ovalhaus und Palast in Kreta" ausgesprochen, daß das mykenische Megaron mit dem kretischen Palaste nichts zu tun habe und also wohl vom Norden stammen könnte. Hennings Blick und Schluß ist besonders zu bewundern: im Februar 1882, als er sein Buch zum Druck gab, war in Griechenland und Kleinasien noch kein einziges Megaron aus dem Boden gestiegen — die trojanischen 285

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haben Schliemann und Dörpfeld im Sommer 1882, die tirynthischen 1885 ausgegraben, — und die sächsischen Häuser lagen von den mykenischen 3y 2 Jahrtausende entfernt! Nun wurde diese kolossale Spannweite abgekürzt durch unser neues Zwischenglied aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. Das stand auch in seiner Gestalt dem Megaron noch weit näher als das heutige Bauernhaus: es hatte denselben einheitlichen Saal und die Vorhalle, während das Bauernhaus schmale Seitenschiffe als Viehstände erhalten und die Vorhalle verloren hatte. Die nordische Herkunft des Megaron wurde damit gewiß diskutabler, aber bewiesen wurde sie noch nicht: Monteüus und Sophus Müller konnten immer noch sagen, das nordische Haus sei mit der Bronzekultur aus dem Süden gekommen. Einem solchen Einwände wurde indeß alsbald auch das Wort abgeschnitten. Unweit Neuruppin kamen in steinzeitlicher Schicht mehrere klare Hausgrundrisse zutage, alle rechteckig und zum Teil mit Vorhalle und Herd. Und im Laufe der Jahre sind seitdem in ältest germanischen Gebieten, wie der Lüneburger Heide (bei Dohnsen unweit Hermannsburg) und am Steinhuder Meere, dieselben Grundrisse nachgewiesen. Daß aber dieser Grundriß sich tatsächlich bis in unser Sachsenhaus fortsetzt, ist ebenfalls inzwischen sicher geworden. Ausgesprochene Vorläufer des Sachsenhauses haben sich um 1930 in der Wurt Ezinge bei Groningen gefunden. Den großen Wandpfosten des Römerschanzenhauses entsprechen bei Ezinge wie in Sachsen die starken Ständer, die am Rande der Diele vor den Viehständen entlang stehen. Sie sind es, die das dicke Strohdach tragen, das Vieh steht unter der „Kübbung", deren Außenwand in leichter Bauart „angelappt" ist. Im Jahre 1911 hab ich noch eine Schlußausgrabimg auf der Römerschanze gemacht, um das Vorgelände aufzuklären. Dabei ergab sich, daß die Slawen an der Südwestecke eine Bastion vor die Burgmauer gesetzt hatten; ihre mit Steinen verkeilten Pfostenlöcher waren auf der Berme erhalten. Unten •or den Gräben, gegen Süden, wimmelte es überall von Hausspuren. Die slawischen Häuser waren regelmäßig rechteckige, etwa 1 m tiefe Gruben. In dieser Kampagne war für ein paar Wochen Ulrich Kahrstedt mein Assistent. Er stand vor dem Doktor, hoffte schon im nächsten Jahre archäologischer Stipendiat zu sein und wollte als solcher in Karthago die Hafenfrage durch Ausgrabung klären. Um sich dafür einzuschulen, war er von Eduard Meyer bei mir in die Lehre gegeben. Die philosophische Fakultät machte diesmal ihren Sommerausflug auf einem gecharterten Schiffe nach der Römerschanze. Die Gesellschaft war so zahlreich, daß wir sie in zwei Teile teilten, den einen führte ich, den andern Kahrstedt. Staunend und eindringlich vertieften sich in die Grabungstechnik besonders Diels, Harnack, Wilhelm Schulze und Roethe, der auch mit Frau und zwei kleinen Jungen 286

PRÄHISTORISCHE

ZEITSCHRIFT

vorher schon einmal draußen gewesen war. Zurückgeiahren wurde nach dem Schwedischen Pavillon in Wannsee zu einem stimmungsvollen Abendessen, bei dem Roethe meine Frau zu Tisch führte. Zum Schluß ergab die Jugend sich dem Tanze. Auch Bode hat uns in jener Zeit besucht, zuerst mit Frau und Tochter und dann noch einmal mit dem Kultusminister Trott zu Solz. Das war ganz am Ende der Kampagne, die ich die letzten Wochen ganz allein hatte führen müssen. Davon war ich so ermüdet, daß ich die Einladung des Ministers, mit ihm und seiner Begleitung in Wannsee zu Abend zu essen, nicht annahm, sondern mich still nach Hause begab, um, wie selten im Leben, einmal vierzehn Tage völlig auszuruhen. PRÄHISTORISCHE ZEITSCHRIFT Schon die ersten Monate in Berlin ließen mich den Mangel einer besonderen „Prähistorischen Zeitschrift" in Deutschland schmerzlich empfinden. Unsre Ausgrabungen sowohl, wie die Arbeit in den Sammlungen brauchten ein solches Organ. Die neuen Gesichtspunkte, die die Römerschanze für Ostdeutschland gebracht hatte, mußten ausführlich veröffentlicht werden, um weiter zu wirken. Für das folgende Jahr (1909) stand eine ähnliche Grabung bei Lossow bevor, Alfred Götze wollte in Südrußland gotische Gräber, Hubert Schmidt in der Moldau die steinzeitliche Burg Cucuteni untersuchen. In unsrer Sammlung war mir der struktive Unterschied im Stile unsrer steinzeitlichen Keramik-Gattungen klar geworden: die primitive Tonware ahmt immer voraufgegangene Gefäße aus anderem, natürlichem Material nach, die ostdeutsche Bandkeramik einen Kürbisabschnitt, die rheinische Pfahlbaukeramik Ledergefäße, die norddeutsche Megalith- und die Thüringische Schnurkeramik Korbflechtgefaße in straffer oder weicher Bildung. Hinzu kamen laufende Ankäufe für das Museum: aus einer Münchener Privatsammlung (Osborne) erwarben wir eine Fundmasse von der Burg Stradonic in Böhmen (im Berauntale), sehr verwandt der Ausstattung von Bibracte bei Autun, aus dem Berliner Kunsthandel einen schönen, mit orientalischen Stücken durchsetzten slawischen Silberschatz von Driesen. Kurz, ich fand, daß wir eine „Prähistorische Zeitschrift" gründen müßten, und sagte das Karl v. d. Steinen, denn ich wollte den großen, von Rudolf Virchow gewonnenen Interessentenkreis von vornherein mit dabei haben. Steinen ging lebhaft darauf ein: die „Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte", kurz „Anthropologische Gesellschaft" genannt, war bereit, neben ihre „Zeitschrift für Ethnologie" eine besondere „Prähistorische Zeitschrift" zu stellen, zu der die kgl. Museen die Hälfte der Kosten, etwa 2000 RM im Jahre, beitragen sollten. Aber mit meinem Vor287

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schlage, daß ich die Zeitschrift zusammen mit Kossinna herausgeben wollte, war Steinen nicht einverstanden. Kossinna hatte zusammen mit Burdach, Edward Schröder und Roethe bei Mülienhoff studiert und war besonders auf dessen Altertumslehre eingegangen. Er war dann Bibliothekar erst in Bonn, später in Berlin. Hier zog ihn Roethe 1905 an die Universität auf eine a. o. Professur für „Germanische Vorgeschichte". Das Gebiet war für eine Lehre eigentlich noch nicht reif; das fühlte Kossinna auch. Er mußte seinen Weg neu suchen, und es erging ihm nun, wie es mir mit meinen fränkischen und sächsischen Burgen ergangen war: was man heute mit Entdeckerfreude glaubt gefunden zu haben, wird schon nach einem halben Jahre durch etwas anderes ersetzt. So sind seine vielen Indogermanenzüge entstanden, und doch beweisen sie nur die Aufrichtigkeit, mit der er sich selbst immer rücksichtslos verbesserte. Im Lehrkörper war man mit dem zu engen Gebiet, in das Kossinna seine Schüler verwies, nicht einverstanden. Er pries die germanische Altertumskunde als so reich und groß, daß ihre Jünger sich von der klassischen Archäologie und Alten Geschichte gänzlich fernhalten sollten. Als ich nach Berlin kam, war Kossinna in voller Tätigkeit, und Hahne, sein erster Schüler, war in Hannover Assistent am Provinzialmuseum unter Reimers. Ich erfuhr nun erst von Bode, daß Kossinna sich nach Vossens Tode lebhaft um die erledigte Direktorstelle beworben hatte. Er hatte vorgehabt, Hahne als seinen ständigen Vertreter an das Museum zu berufen und selbst seine Universitätstätigkeit beizubehalten. Er hatte aber dieses Ziel nicht erreicht. Umso mehr war ich bestrebt, mit ihm ein leidliches Verhältnis herbeizuführen. Ich machte ihm einen Zylinderhutbesuch, und er erwiderte ihn. Unser Nordwestdeutscher Verband wollte nun Ostern 1908 zusammen mit dem Südwestdeutschen in Dortmund tagen und von da Haltern und Oberaden besuchen. Auf der Tagung erschienen dann zum erstenmal Kossintiia, Reimers und Hahne. Sie hatten offenbar die Hoffnung, Kossinna an meiner Stelle zum Vorsitz zu bringen, weil auf der Tagesordnung ein bedenklicher Vortrag von Hans Lehner-Bonn über das Verhältnis der Landesmuseen zum Berliner Museum stand, das recht schlecht geworden war. Aber der Vortrag lief dann aus in die besten Zukunftshoffnungen, „da jetzt einer der Unseren, den wir kennen und schätzen, Berliner Direktor geworden ist". Für die Vorstandswahl entstand gar keine Debatte, ich wurde glatt wiedergewählt. Auch die Leitung des Urnenfriedhofwerkes behielt ich, und die Auffassung von Reimers in bezug auf diePublikation des Friedhofsmaterials: „Es sind doch meine Töpfe" führte Edward Schröder in köstlicher Weise ad absurdum. Mein erster Vortrag in der „Anthropologischen" (20. Juni 1908) über die Holzkonstruktionen der Bronzezeit hatte in allem Wesentlichen Kossinnas 288

V I E L E R L E I REISEN UND K L E I N E R E GRABUNGEN

Beifall. Der Ausflug der Gesellschaft acht Tage darauf zu den Megalithgräbern der Altmark überzeugte ihn, wie er dort aussprach, von der Richtigkeit meiner Auffassung, daß bei diesen Gräbern der Steinring den großen, die Steinkammer bedeckenden Hügel in derselben Weise abgestützt habe, wie die Pfostenwand nachher die Urnenhügel, daß diese Wand somit der altgriechischen Krepis entspreche.. Auch auf der Römerschanze hat mich Kossinna nachher noch besucht, sich da allerdings mit seinem Schüler Blume, den er mitbrachte, eigentlich ausschließlich über die verschiedenen Scherbengattungen unterhalten; die Holzkonstruktionen im Wall und der Torgrundriß wurden mit kurzen Blicken abgetan. Ich sah damals schon: die Beobachtung im Gelände war nicht Kossinnas Sache. Er hat auch, soviel ich weiß, nie eine Ausgrabung gemacht, außer der kurzen Urnensuche bei Lyck (1915), die durch den Besuch Hindenburgs bekannt geworden ist. In seiner „Deutschen Vorgeschichte" hat er kein Haus, kein Grab, keine Burg im Grundriß oder Aufbau abgebildet. Das Museums-Material war seine Welt: die Gefäße, Geräte, Waffen und Schmucksachen, und hier hat er ja auch Vorbildliches geleistet. Kossinna war über die Gründung der Prähistorischen Zeitschrift ohne ihn, aber mit Schumacher-Mainz und Seeger-Breslau als Mitherausgebern höchst ungehalten. Er löste sich von der Anthropologischen Gesellschaft, indem er eine besondere ^Gesellschaft für deutsche Vorgeschichte" gründete mit der Zeitschrift „Mannus". In ihr druckte er 1910 ein altes Pamphlet wieder ab, das Knoke schon zweimal gegen mich veröffentlicht hatte. Knoke hatte darin eine Generalabrechnung mit mir gehalten über all die Widersprüche, die ich gegen seine Varus- und Cäcina-Lager und Römischen Moorbrücken erhoben hatte, und seine Lieblingswendung war in jedem einzelnen Falle, daß ich über den sachlichen Befund „die Unwahrheit gesagt" hätte. Es war schade, daß Kossinna, der eine entschiedene Forschematur war und auf dem ihm gelegenen Gebiet der Kleinkunst vortreffliche, grundlegende Arbeiten geliefert hat, zu den Großdenkmälern im Gelände kein Verhältnis gewann und den Fehlurteilen über Stonehenge, die Steinalleen in der Bretagne oder unsre bronzezeitlichen Grabhügel in seinem „Mannus" gar zu willig Raum gab. VIELERLEI REISEN UND KLEINERE GRABUNGEN Im Sommer 1910 bin ich das erste und einzige Mal mit der ganzen Familie in die Sommerfrische gegangen, und zwar in das Hospiz III an der Nordspitze von Amrum. Da ich meinen Urlaub immer zu Ausgrabungen verwendete, ging meine Frau sonst immer für diese Zeit mit den Kindern in das z9

Schucbhardt,

Lebenserinnerungen

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Sommerhaus ihrer Eltern nach Aroken. Jetzt war aber unserm Ältesten, der etwas empfindlich und anfällig war, eine durchgreifende Stärkung empfohlen worden, und dafür schien die Nordsee am angebrachtesten. Sie hat denn auch vortrefflich gewirkt, so daß weiterhin keine Nachhilfe mehr nötig war. Ich hatte die Meinigen eigentlich nur hinbringen wollen, aber es gefiel mir dann dort so gut, daß ich von Woche zu Woche blieb. Ich schrieb im Strandkorb einige Artikel für Hoops' Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Otto Olshausen kam hin, um seine vor Jahren begonnenen Ausgrabungen von Grabhügeln zu Ende zu führen. Knorr aus Kiel stellte sich dazu ein, um dafür zu sorgen, daß die seinem Museum zustehenden Funde nicht anderweitig eingeheimst würden. Meinen „Atlas vorgeschichtlicher Befestigungen" konnte ich fordern, indem ich mit dem stolzen Hamburger Dampfer nach Sylt hinüberfuhr zur Aufnahme der Wikingerburg bei Tinnum und mit einer Kutsche bei Ebbe durchs Watt nach Föhr, das ich dann zu Fuß durchquerte und dabei die gleichartige Burg von Borgsum gewann. Auf der Rückfahrt begleitete ich die Meinigen noch über Helgoland, Cuxhaven nach Vegesack, wo die liebe alte Mutter Stümcke leider das Jahr vorher gestorben war, wo aber mit den Nachkommen die alte Freundschaft fortbestand und der Fährer Garten in alter Schönheit prangte. Dann fuhr die Familie nach Arolsen und ich auf weitere archäologische Unternehmungen. Ein paar Tage war ich bei Hans Müller-Brauel in Zeven. Der hatte mehrere seiner sorgsam ausgegrabenen Grabhügel mit ihren deutlichen Holzeinbauten noch offenliegen. Ich durfte selber nachschürfen und einige Pläne aufnehmen. So konnte ich seine Ergebnisse nachher gegen allerhand Anzweiflungen vertreten und in meine Bücher („Alteuropa" und „Vorgeschichte von Deutschland") aufnehmen. Die schöne Schnurkeramik, die die Hügel enthielten, zeigt das erste Auftreten der Thüringer im Megalithkreise. In der Verschmelzung dieser beiden Kulturen wollen die meisten die Entstehung der Germanen erkennen; ich möchte sie lieber als die Indogermanisierung der in den Megalithikern schon vorhandenen Germanen ansehen. Von Zeven bin ich nach Oldesloe gefahren und dort eine Woche am Limes Saxoniae hinauf- und hinabgewandert mit dem Ergebnis, daß ich beschloß, seine Hauptstützpunkte im nächsten Jahre durch Grabung zu klären. Dann gings weiter nach Stettin, wo ich auf dem benachbarten Gut Colbitzow des Assessors Schlange, des Bruders meines hannoverschen Tischgenossen, den großen Komplex des „Heiligenberges" einmal energisch anfassen wollte. Es wimmelte auf ihm von lausitzer und slawischen Scherben, und man hatte bis dahin an ein Gräberfeld oder an das slawische Alt-Lubin gedacht. Ich fand nirgend ein Grab, aber Wall, Berme und Graben mit 290

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Holzeinlagen lausitzisch hergerichtet. So hab ich die Stätte in den Kreis der Lausitzer Burgen eingereiht und damit auch allgemeinen Anklang gefunden1). Im Herbst des Jahres (September 1910) bin ich dann noch einmal nach England gefahren. Haverfield hatte bei unserm letzten Zusammensein 1903 versprochen, mir für das nächste Jahr die Erlaubnis zu einer Grabung in Stonehenge zu verschaffen. Die Regierung hatte auf seinen Antrag aber erwidert, Stonehenge sei ein nationales Denkmal, in dem man einen Ausländer nicht graben lassen möchte. Nun wollte ich sehen, ob man durch bloße scharfe Beobachtung in der Streitfrage, ob Tempel oder Grab, nicht schon erheblich weiterkommen könnte. Die Begeisterung für den „schönsten Sonnentempel der alten Welt" griff immer weiter um sich, und ihr Hauptschürer war Willy Pastor. Ihn hatte ich ja auf der Römerschanze schon einmal bekehrt, und so forderte ich ihn frischweg auf, doch auch nach Stonehenge mitzukommen. Er ging freudig darauf ein, da er gar kein Englisch konnte und wohl nie allein hätte hinfahren können. Wir sind dann über London und Salisbury nach Avebury gefahren und von da an einem wunderschönen Morgen den einstündigen Weg, das große Denkmal immer schon vor Augen, in großer Spannung hingewandert. Ich war sehr gut gerüstet. Ich hatte in Salisbury mit vielen vergilbten Broschüren auch eine erworben, auf deren Karte die von Stonehenge ausgehende „Avenue" vollständiger als sonst dargestellt war. Nach ihrem zunächst gradlinigen Verlauf gegen Sonnenaufgang gabelte sie sich in zwei Arme; der eine lief nördlich zu der bekannten alten Rennbahn, der andere östlich auf den alten Volksburgwall „Vespasian's camp" von Amesbury zu. Darnach hatte meines Erachtens die Straße einen rein praktischen Zweck gehabt. Ferner hatte ich in petto den Befund von Arbor Low, wo in einem ähnlich großen Kreise genau in der Mitte ein Grab aufgedeckt war, und drittens hatte man unlängst bei Criechie, in Aberdeenshire, wo ein ähnlicher Kreis von Menhiren stand, vor jedem dieser ragenden Steine ein Urnengrab gefunden. In Stonehenge erkannte ich nun, daß der vor dem Hauptmenhirpaar am Boden hegende schmale Langstein schief zu jenem Paare lag und offenbar nicht so gebettet war, sondern aufrecht gestanden hatte als Seelenthron für das hier in der Mitte zu vermutende Hauptgrab. Vor den im Kreise stehenden Menhiren aber vermutete ich ähnliche einfache Gräber, wie sie in Criechie zu Tage gekommen waren. Das alles trug ich Willy Pastor vor und suchte bei ihm ein wissenschaftliches Gewissen anzuregen. Aber es half nichts. Er kam von seiner schönen Schwärmerei nicht los: Die Straße hatte ihre erste Richtung doch gegen das Sommersolstitium, die Fall-Lage des „Altarsteines" erkannte er nicht, und die ') Präh. Ztschr. I I I , 1 9 1 1 , S. 323—329.

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Gräber waren ja rein meine Vermutung. Beglückt von seiner persönlichen Bekanntschaft mit dem angebeteten Denkmal fuhr er gleich von dort aus wieder nach Hause und hat dann seinen Sonnentempel begeistert weitergepredigt. Ich habe noch das nahe gelegene verwandte Avebury aufgesucht, in Mittelengland Criechie und Arbor Low mir angesehen und zu Hause einen großen Artikel „Stonehenge" in die P. Z. gesetzt1), der dann auch die Engländer zu einigen Bemühungen um ihr „Nationalmonument" angeregt hat. Zunächst hatte O. G. L. Crawford, der treffliche Archäologe der Ordnance Survey, vom Flugzeug aus beobachtet, daß die Gabelung der Avenue tatsächlich vorhanden sei. Er hat es dann auch durch Grabung nachgewiesen, indem er die Seitengräbchen der Straße aufdeckte. Von 1919—1926 hat die Society of Antiquaries in Stonehenge selbst gegraben, und T. D. Kandrick hat darüber im 21. Bericht unsrer Frankfurter R.- G. Kommission 1931 (S. 60—68) eingehend berichtet. Der Altarstein war durch sein schmal zulaufendes Wurzelende als stehend wahrscheinlich geworden, und vor ihm wurde das Hauptgrab als altes Körpergrab gefunden. Die Ringe umher wurden noch durch zwei, die aus Holz bestanden haben, vermehrt, und hauptsächlich vor ihren alten Standspuren haben sich über 20 Urnengräber gefunden. Das Ganze ist also ein großartiger Friedhof gewesen2). Dieses Ergebnis sollte man sich auch bei uns zur Lehre nehmen und ablassen von dem Bemühen, in Steinkreisen, regelmäßig gruppierten Grabhügeln und auffälligen Felsen, wie den Externsteinen, astronomische Beobachtungsstellen zu erkennen. Im Jahre 1911 hab ich nach der Schlußgrabung auf der „Römerschanze" (Juni, Juli) zunächst den Archäologenkongreß in Heilbronn und Tübingen mitgemacht und mich dann auf eine dreiwöchige Rundreise durch Böhmen, Mähren, Österreich und Westungarn begeben. In Stuttgart freute ich mich, Montelius wiederzutreffen. Er hielt einen guten Vortrag über das erste Auftreten des Eisens in Italien. In Süditalien, sagte er überraschenderweise, sei es zuerst zu beobachten und dorthin aus dem südöstlichen Mittelmeer gekommen. Die bisherige Meinung von Noricum als ältester Quelle wäre darnach zu korrigieren. Sehr schön war ein Ausflug nach dem Hohenneuffen mit seiner riesigen Volksburg, den der Geologe Fraatz leitete, und an dem der Hofarzt des Kaisers von Japan, v. Bälz, mit seinen Söhnen aus der Ehe mit einer Japanerin teilnahm, als lehrreichen Beispielen einer solchen Mischung. Auch Ferdinand Noack mit Gattin war dabei und Peter Gößler mit seinem Elternpaare. Nach Tübingen war eine internationale „Paläolithische Konferenz" einberufen. Aus Belgien war Rutot gekommen, aus Frankreich der Graf Be1 ) Prähist. Ztschr. II, 1910, S. 292—340. *) Alteuropa4 1 9 4 1 , S. 85fr.

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GRABUNGEN

gouen von Toulouse. Die Leitung hatte R. R. Schmidt von Tübingen. Es war die Zeit der Hochflut von allerhand wichtigen Fragen der Stufenfolge und Verbreitung der Kulturen. Nach den dortigen Hauptfundstellen haben wir mehrere Ausflüge gemacht. Die östliche Rundreise, die ich dann antrat, war hervorgerufen durch das Angebot von drei großen Sammlungen: Jira in Prag, Cervinka in Prerau und Robert Much in Wien wollten ihre in langjährigen Ausgrabungen zusammengebrachten Schätze dem Berliner Museum käuflich überlassen. Ich wollte nun mich nicht bloß über diese Sammlungen selbst, sondern zugleich in den Museen jener Gegenden über die ganze Abfolge der dortigen vorgeschichtlichen Kulturen unterrichten. Das tat ich für Böhmen in Pilsen und Prag, für Mähren in Brünn und bei Palliardi in einem kleinen Städtchen, dessen Name mir entfallen ist, für die Sammlung Much in Wien, Graz, Laibach und Budapest, denn diese dritte Sammlung war von dem Vater des jetzigen Besitzers, dem Prähistoriker Matthäus Much in dem Grenzgebiet von Österreich und Ungarn zusammengebracht worden. Der alte Much hatte in Hallstatt und in Pannonien gegraben und die berühmte Steinzeitkeramik vom Atter- und Mondsee ans Licht gebracht. Ich kam sehr befriedigt nach Berlin zurück, berichtete Bode und erhielt von ihm die Zustimmung zu der Kaufsumme, die ich mit einem jeden der drei vereinbart hatte. Sie selber mußten nun mit ihren Regierungen in Verhandlung treten, um die Erlaubnis zur Ausfuhr der Sammlungen zu erwirken. Much sah dabei Schwierigkeiten voraus, und mit ihm ging deshalb die Verabredung dahin, daß, wenn nicht bis zum Ablauf des Jahres eine österreichische Instanz, Staat oder Krone zum gleichen Kaufpreise die Sammlung erwerben wolle, wir sie haben sollten. Von Jira und Cervinka kam alsbald der Bescheid, daß das Museum von Prag, beziehungsweise Brünn sich bereit erklärt habe, die Sammlung selbst zu erwerben und man sich dem als guter Patriot nicht widersetzen könne. Österreich ließ aber nichts von sich hören, so daß ich am 31. Dezember, als wir bei Museumsschluß nach Hause gehen wollten, mich freute, daß wir uns nun als Eigentümer der schönen Much'schen Sammlung betrachten dürften. Da klingelte das Telefon, und Bode teilte mit, es sei soeben ein Telegramm vom österreichischen Staatsministerium gekommen, daß es die Sammlung selbst erwerben wolle und bäte, diesen Kauf damit als vollzogen zu betrachten. Dem mußte man sich fügen. Robert Much ist freilich selbst nachher unzufrieden gewesen mit dieser Lösimg, weil die Sammlung, aus Staatsmitteln erworben, nicht, wie er gewünscht hätte, in das prähistorische Hofmuseum kam, sondern dem Universitätsseminar als Studiensammlung überwiesen wurde. Er meinte sogar, wir sollten den Kauf anfechten; das haben wir natürlich nicht getan. Aber schade ist es allerdings, daß die Samm293

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hing — so viel ich weiß heute noch — von der Öffentlichkeit unbeachtet in dem stillen Plebejerhause Wahagasse Nr. 4 steht. Im übrigen waren wir auch nicht erbaut darüber, daß die drei Herren mit uns nur verhandelt hatten, um sich bei ihrer Landesbehörde einen guten Preis zu sichern. Rein wissenschaftlich ist mir die Reise von großem Nutzen gewesen. Ich habe auf ihr erkannt, daß der Länderkreis, den ich durchstreifte, eine gemeinsame Urkultur gehabt hat. In Böhmen, Mähren, Österreich und Westungarn bildet die B a n d k e r a m i k die unterste Schicht; vor ihr hat es dort noch keine andere Tonware gegeben. Und dem Gepräge dieser Gattung ist die dortige Bevölkerung auch durch ungemessene Zeiten treu geblieben. Was immer vom Westen und Nordwesten nachher eingeströmt ist: die Megalith- und Schnurkeramik, Pfahlbau, Rössen, Gr. Gartach hat sich immer dem Landesüblichen angenähert, und in der Hallstattzeit ist der alte Spiralstil sogar wieder stark zum Durchbruch gekommen. Wer waren hier die Hallstattleute ? Sobald wir das sagen konnten, hatten wir auch den Namen für die alten Bandkeramiker. Aber Kelten und Illyrier stritten hier damals noch um diese Rolle, und mir blieb die Lösung zweifelhaft. Im Herbst 1911 hab ich in Norddeutschland noch zwei kleinere Grabungen gemacht. Bei Lißdorf, nächst Eckartsberga in Thüringen, hab ich mit dem Studiosus Arnold Hagemann von Naumburg, der die Stelle ausgekundschaftet hatte, zwei Häuser mit Band- und Rössener Keramik ausgegraben, die bleibenden Wert haben, weil hier die bandkeramischen Mulden des Innenraums umgeben sind vom nordischen Pfostenrechteck. Die Mulden werden durch die bandkeramischen, der Pfostenrahmen durch die Rössener Scherben erklärt. Die bandkeramischen Bewohner waren hier schon nordisch beeinflußt1). Die zweite Grabung hab ich für den Atlas der niedersächsischen Befestigungen am Limes Saxoniae gemacht. Es waren nur Tastungen, die die verschiedenen Befestigungsarten: Curtisformen, Ringwälle, Herrenburgen, Wachtposten einigermaßen datieren sollten. Ein durchlaufender Wall als Grenzwehr ist nicht vorhanden gewesen; Wasserläufe markierten die Scheide, und zu ihrer Bewachung haben die Zeiten nach Karl d. Gr. noch vielfach neue Stützpunkte angelegt. Mein Hauptergebnis war, daß das Kopfende der Linie, die von Ludwig dem Frommen angelegte Ertheneburg am rechten Elbufer, Artlenburg gegenüber, noch leidlich erhalten ist, und daß der Wallberg zwischen Koberg und Sierksfelde nach seinen slawischen Scherben wohl einer von den Ringwällen war, die die von Karl d. Gr. als Grenzwächter bestellten Obotriten erbaut hatten 2 ). *) Präh. Ztschr. V I , 1914, S. 293—303. *) Atlas vorgesch. Bef. in Niedersachsen S. 141—148 und der Ztschr. d. V. für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde X V , 1 9 1 3 .

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XVII. R E I S E N 1912, 1913 FRANKREICH Schon in den letzten Jahren vor meinem Amtsantritt hatte das Berliner Museum mehrfach paläolithische Fundproben aus den Höhlengrabungen Otto Hausers in Südfrankreich erworben. Für Anfang August 1908 hatte Hauser auch eine Beteiligung unserer Anthropologischen Gesellschaft an der Hebung des Skeletts, das er in der Höhle von Le Moustier entdeckt hatte, erbeten. Karl v. d. Steinen, Hans Virchow, Hermann Klaatsch, Gustaf Kossinna sind damals hingefahren. Ich konnte nicht mit, da gerade in den Tagen das Robert Bunsen-Denkmal in Heidelberg enthüllt werden sollte, wozu meine Frau als Großnichte des Gefeierten mit mir eingeladen war. Ein Jahr später hatte Hauser dann 40 km südlich von seinem Standort Les Eyzies bei Aurignac wieder ein Skelett gefunden, und 1910 kam er mit beiden Skeletten nach Berlin und bot sie für 160000 M. an. Das brachte eine lebhafte Bewegung in unsere Kreise. Das zweite Skelett, der Aurignacensis, war sehr gut erhalten, das erste aber, der Mousteriensis, stark verrottet; den ganz zerbrochenen Schädel hatte Hauser mit Wachs ungeschickt zusammengeklebt. So fand man den Preis ungeheuerlich. Die Sachverständigen Waldeyer, Hans Virchow, Hansemann erklärten aber, daß vom Schädel alle Stücke vorhanden seien und er sich vollständig werde wiederherstellen lassen. Waldeyer sagte nach seiner Besichtigung: „Allein das Gebiß ist ja das ganze Geld wert, das man von Ihnen fordert!" Das Wichtige war, daß dieses Skelett die früheste Menschenform darstellte, die man bisher kannte. Seine Augenbrauenwülste über den großen Augenhöhlen, das fliehende Kinn, die gebogenen Schenkelknochen entsprachen den Stücken vom Neandertal bei Düsseldorf, von Mauer bei Heidelberg und von Trinil auf Java. Zum ersten Male hatte man hier aber einen vollständigen Schädel. Man staunte über seine große Hirnkapsel, und sein Gebiß war mehr als vollständig: es zeigte 33 Zähne, da unter einem Schneidezahn noch der Milchzahn steckte. Schließlich war dieses Skelett zu datieren: es stammte von einer Bestattung und hatte als Beigaben ein wunderschönes Handbeil und einen Kratzer der Moustier-Periode, also von der Wende der vorletzten Eiszeit zur letzten Zwischeneiszeit. Bode faßte dies alles lebhaft auf und war begeistert für den Ankauf. Da Gefahr schien, daß Hauser, wenn wir zauderten, mit seiner schönen Beute sofort nach Amerika fahren würde, gab er ihm vorweg aus seiner Tasche 10000 Mark als Anzahlung. Für das Weitere brauchten wir nun die Hilfe der Regierung. Und da ergaben sich ungeahnte Schwierigkeiten. Der Kul295

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tusminister Trott zu Solz war vortrefflich in seinem Amt und unsern Museen sehr gewogen, aber er war kirchenfromm und hoffromm. Bei seinem Besuch im Museum hatten wir den Eindruck, daß er fürchtete, der Ankauf werde die leidige Frage der Abstammung des Menschen vom Affen wieder hervorrufen und damit nach oben Anstoß erregen. Bode meinte aber tapfer: „Ich bin übermorgen zur Hoftafel geladen, da kann ich diese Sache gleich zur Sprache bringen". Zwei Tage darauf teilte er mir dann telefonisch mit, er habe der Kaiserin gerade gegenüber gesessen und sei von ihr, kaum daß man Platz genommen, lebhaft angeredet worden: „Nun, Sie wollen da jetzt so ein altes Skelett ankaufen, und dann wird's wieder heißen, daß derMensch doch vom Affen abstammen müsse?" — „Aber nein, Majestät", habe er erwidert, „dies Skelett beweist ja gerade das Umgekehrte: es hat schon einen völlig ausgewachsenen Menschenkopf mit großem Gehirn gehabt, so daß von einer Affenverwandtschaft gar nicht mehr die Rede sein kann." — „Na, das ist ja schön!" habe die Kaiserin gesagt und sei zufrieden gewesen. Gute Hilfe erhielten wir zudem aus dem Abgeordnetenhause. Herr v. Heydebrand und der Lasa, als Vorsitzender der allmächtigen konservativen Partei „der ungekrönte König von Preußen" genannt, hatte ein schwärmerischeslnteresse für die ältesten Menschheitsperioden. Jeden Herbst, einige Wochen vor Beginn der Sitzungsperiode, kam der Bibliothekar des Abgeordnetenhauses zu mir herüber, um sich nach der neuesten Literatur über jenes Gebiet zu erkundigen, denn wehe, wenn Herr v. Heydebrand kam und die neuen Erscheinungen noch nicht vorfand. Begannen dann die Sitzungen, so ließ Heydebrand immer durch einen seiner Getreuen bei mir anfragen, ob ich irgendwelche Wünsche habe, in denen sie mir nützlich sein könnten. Als ich so von unsrer Schwierigkeit mit dem Kultusminister gesprochen hatte, brachte Herr v. Kessel eine wissenschaftlich interessierte Dame ins Museum, die als Cousine des Reichskanzlers v. Bethmann Hollweg bei diesem zu Besuch war und ihm, dem sehr aufgeschlossenen Manne, über den merkwürdigen Fund berichten sollte. Herr v. Heydebrand selbst war während einer solchen Sitzungsperiode so überlastet, daß er nur an einem Sonntagnachmittag einmal zur Besichtigung kommen konnte und während der Viertelstunde, wo wir vor den Skeletten standen, ein paarmal für eine Minute die Augen schloß und einnickte. Sein Interesse für das Paläolithikum hat ihn schließlich (1913) zu einer Reise mit seiner Gattin nach Südfrankreich geführt; ein paar Empfehlungen, die er sich von mir erbeten hatte, sind ihm dabei besonders für Les Eyzies und Toulouse nützlich gewesen. Der Kultusminister hat noch einige Versuche gemacht, uns von dem Kaufe abzubringen, ihn schließlich aber zugegeben mit folgenden Bestimmungen: Wir durften 10000 RM aus den Museumsmitteln verwenden, sollten aus den Jahresetats des kaiserlichen Dispositionsfonds von 1909, 1910 und 1911 296

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je 10000 RM erhalten, im Ganzen also aus öffentlichen Mitteln 40000 RM. Die weiteren 120000 RM aber wurde uns überlassen, privatim zu sammeln. Ich war erschrocken über diese Zumutung. Die Riesensumme erschien mir wie der unersteigliche Mount Everest. Bode aber ging mutig vorwärts. Er schrieb sofort ein Dutzend Briefe an seine nächsten museumsfreundlichen Gönner und entwarf den Plan für die weitere Werbung. Einem kurzen Aufruf, den ich schrieb, wurden stattliche Photographien und die Gutachten der beiden hervorragenden Anatomen Waldeyer-Berlin und Bonnet-Bonn angefügt und dann an die Adressen, die wieder hauptsächlich Bode angab, versandt. An der Spitze der Spender stand dann die Familie Krupp. Daneben betätigte sich die Berliner haute finance. Einer ihrer Vertreter brachte mir auch aus Frankfurt 15000 RM, die er dort in ein paar Tagen gesammelt hatte. Binnen vier Wochen hatten wir 90000 RM zusammen. Aber dann versiegte auch der Zufluß; es rührte sich nichts weiter mehr. Die Restsumme von 30000 RM legte ein Gönner vorläufig aus, und wir haben sie ihm erst nach Jahren zurückzahlen können, indem wir nun doch noch den Dispositionsfond des Kultusministeriums haftpflichtig machten aus Rache für seine frühere Zurückhaltung. Zu diesen beiden Skeletten aus Südfrankreich war bald nachher ein Kalkstein gekommen mit einer der ältesten Menschendarstellungen: einer sehr korpulenten nackten Frau mit einem Trinkhorn in der gehobenen Hand. Professor Verworn hatte bei einem Aufenthalt in Les Eyzies das Stück von einem Bauern gekauft, der schon seit Jahren den Abri von Laussei grabenderweise ausbeutete. Verworn hatte aber in Göttingen die Kaufsumme von 20000 Franken nicht aufbringen können und das Stück deshalb uns überlassen. Durch diese verschiedenen wichtigen Erwerbungen war unser Interesse am Paläolithikum Frankreichs ein ganz erhebliches geworden. Um so mehr sah man jetzt nach jenem Mutterlande der Forschung hinüber, als auch in Deutschland seit dem Erscheinen des großen Werkes von Penck und Brückner über die Eiszeiten der Alpen an verschiedenen Stellen: in Westfalen, Hannover, Sachsen, die Flußschotter auf Anzeichen jener Urzeiten geprüft wurden. Das gab den Anlaß zu mehreren französischen Unternehmungen. Zunächst lud mich ein begeisterter Berliner Finanzmann zu einer sechswöchigen Automobilreise durch Frankreich ein, auf der wir neben den Kathedralen, die ihn besonders lockten, auch alle am Wege liegenden Museen besuchen und uns besonders in Les Eyzies und Umgegend, dem Reiche Hausers, sowie in Toulouse bei Herrn Cartailhac, eingehend unterrichten wollten. 297

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Das Programm haben wir redlich durchgeführt: ich habe im ganzen 38 Museen kennen gelernt, von denen die meisten, in kleinen Städten gelegen, dem Eisenbahnfahrer wohl immer unbekannt bleiben werden. Die Reise war sehr anstrengend, aber doch sehr schön. Mit der Spanne von Mitte April bis Ende Mai war die beste Jahreszeit gewählt. Es war schön, bei der Heerschaar von Wallnußbäumen, durch die man fuhr, die Entwicklung vom Goldbraun zum vollen Grün zu verfolgen, oder bei einer Panne sich nebenan in den Weinberg zu hocken und 28 Blütenknospen an einer einzelnen Staude zu zählen. Die Leute waren durchweg freundlich; auch wenn wir einmal erheblich nach der Mittagszeit in einem kleinen Neste noch essen wollten, hielt man darauf, uns ein auserlesenes mehrgängiges Dejeuner, den Stolz der Franzosen, zu bereiten. Mein Genosse ging in solchem Fall nachher in die Küche und belohnte den braven Koch — denn dies Amt war immer männlich — mit einem guten Trinkgelde. Und mit vielen guten Wünschen wurden wir dann entlassen. Nur in der Gegend von Bordeaux spürte man eine entschiedene Deutschfeindlichkeit. Wir wollten dort die Privatsammlung eines Paläolithikers besehen. Die Sammlung war in einem Gartenschuppen auf langen Tafeln ausgebreitet. Der Besitzer ließ uns warten, bis er seinen Gärtnerburschen geholt hatte, der uns dann offensichtlich auf Schritt und Tritt bewachte. Beim Abschied sagten wir nebenbei, ob Herr X uns nicht einmal in Berlin besuchen und sich unsre Schätze ansehen wolle. „Je n'ai pas grande envie", lautete kurz und klar die Antwort. Folgenden Tages, als wir in Baye zu Mittag gewesen waren, merkte unser Chauffeur bei der Weiterfahrt, daß er merkwürdig wenig Benzin mehr habe. Er meinte zuerst: „J'aiune fuite", es sei ein Loch im Behälter. Da das sich aber nicht fand, mußten ihm bei der Mittagsrast 20—30 1 gestohlen worden sein. Die wissenschaftliche Ausbeute der Reise war vielfältig. Im nördlichen Teile, wo wir begannen: in Namur, St. Quentin, Soissons bekam man einen Überblick über die Kultur der dortigen merowingischen Germanenhöfe. Einen Höhepunkt der Fahrt bildete natürlich Les Eyzies. Nach der Besichtigung von Hausers Ausgrabungsplätzen pachteten wir sie alle von ihm für die zwei Monate September und Oktober, um überall die Entwicklungsstufen noch einmal nachzuprüfen. Es wurde ausgemacht, daß Hauser neben einer Pauschalsumme von 3000 RM hervorragend gute Funde noch besonders bezahlt bekommen sollte. Für das Unternehmen wiirde die Mitarbeit des Geologen Dr. Wiegers von der Geologischen Landesanstalt und des Zoologen Dr. Hilzheimer vom Märkischen Museum in Aussicht genommen; die Gesamtkosten übernahm mein Reisebegleiter. In Südfrankreich, wo wir schließlich bis Auch und Tarbes am Fuße der Pyrenäen vorgestoßen sind, interessierten mich lebhaft die steinernen runden Feldhütten mit dem Kuppeldach in falschem Gewölbe. Sie gehen zurück 298

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auf den Urwohnbau des alten Mittelmeeres. Da Stein hier weit reichlicher zur Hand ist als Holz, und ein Dach aus Stein sich am einfachsten herstellen läßt, wenn man einen Ring auf den andern setzt, die Ringe immer enger werden läßt und oben mit einer letzten großen Platte abschließt, so ergibt sich diese spitze Kuppel. Wir sahen sie hauptsächlich im Südosten: bei St. Pons nördlich Narbonne Dutzende, bei Sauveterre auf der hohen Wasserscheide zwischen Millau und Mende, bei Combes zwischen Assiez und Figeac 8 Stück, bei Limogne zwischen Rodez und Cahors, wo ich das beifolgend skizzierte Exemplar aufgenommen habe (Abb. 25). Nur der Türsturz ist ein Holzbalken, alles andere Stein. Im folgenden Jahre hab ich sie in Oberitalien geradeso in den Fruchtfeldern wiedergesehen, und für Spanien hat sie nachher Bolko v. Richthofen aus alten Schriftquellen in Menge nachgewiesen1). In Toulouse sagte uns Cartailhac, daß er dort die Fundamente solcher Häuser mit steinzeitlichem Inhalt mehrfach ausgegraben habe. Ihre Entwicklung zeigen die 4000 noch erhaltenen Nuragen auf Sardinien und in höchster Form die fürstlichen Kuppelgräber von Mykene. Überraschend ist aber, wie in romanischer Zeit die Kathedralen Südfrankreichs diesen Kuppelbau noch verwendet haben. In Angouleme Abb. 25. (12. Jahrhundert), in Gensac (11. Jahrhundert) und in Bourg-sur-Charente ist das Langschiff in drei oder vier Quadrate geteilt und jedes Quadrat mit einer Kuppel überwölbt (Abb. 26). In Perigueux bildet die Kathedrale ein griechisches Kreuz, das fünf große Kuppeln hat: eine über der Mitte und je eine über den vier Armen daneben. Am Hauptarm, der von dem turmbekrönten Narthex zum Chor läuft, ist aber an beiden Seiten in dem Zwischenraum, den die großen Kuppeln lassen, eine Nische gebildet, die auch wieder eine Kuppel trägt. So entstehen auf jeder Seite noch vier kleine und etwas niedrigere Kuppeln. Im Innern ist der Haupteindruck das Zusammenspiel der 13 großen und kleinen Kuppeln! Man erkennt auch von außen deutlich das Verhältnis der vier kleinen zu beiden Seiten zwischen den großen (Taf. 45 a). Diese Kuppeltradition ist aber nur den frühen Kirchen eigen, mit der Gotik ist sie erloschen. ') Präh. Ztschr. X X I I I , 1932, S. 45—69.

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Grundrisse der Kathedralen von Bourg s./Charente, Angouleme und Pdrigueux A u s meinem Skizzenbuche

In Toulouse erfuhren wir reiche Belehrung von Cartailhac, dem vielerfahrenen ersten Prähistoriker Frankreichs. Er führte uns mit Begeisterung durch sein reiches Museum. Vor dem letzten Saale suchten wir abzudrehen, weil wir dort die Abgüsse unsrer beiden Hauserschen Skelette aufgestellt sahen und einen unangenehmen Ausbruch fürchteten. Aber Cartailhac nahm uns beim Arme: „Hier müssen Sie nun noch etwas Besonderes sehen!" An dem Glasschrank hing ein Täfelchen mit der Aufschrift: „Diese Skelette der ältesten Menschen aus den Höhlen von Le Moustier und Aurignac hat das Deutsche Reich für 200000 Franken angekauft und dem Berliner Museum zugewiesen. So sorgt dort der Staat für die Wissenschaft!" Das war etwas anderes als wir erwartet hatten. Wir haben mit dem trefflichen Manne ein frohes Mittagsmahl gehalten und sind, mit seinen Weisungen reich versehen, weiter gefahren. In der fünften Woche der Reise war aber mein Begleiter von einem giftigen Insekt gestochen worden, offenbar beim Durchfahren eines der vielen Viehmärkte, die immer Sonnabends die Straßen weithin verseuchten. Die Sache sah bedenklich aus; das Auge schwoll zu, in Le Puy verordnete ein Arzt fortwährende Umschläge mit kühlenden Essenzen. So machten wir dort drei Tage Halt. Ich benutzte die Zeit vor allem zu einem Besuch Dechelettes in Roanne bei Lyon, und dieser Besuch steht mir in einer schönen, aber wehmütigen Erinnerung. Bei Deche-

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lette hatte die solide französische Vorgeschichtsforschung ihren Sammelpunkt gefunden; von seinem großen Handbuch 1 ) waren die ersten beiden Bände soeben erschienen, und für die weiteren waren, wie ich sehen durfte, schon Berge von Material gesammelt, — da kam der Weltkrieg, und Dechelette ist gleich in den ersten Wochen an der Spitze seiner Kompagnie gefallen. Der Tod war hier die Bestätigung eines pflicht- und zielbewußten Lebens. Joseph Dechelette war in der Seidenstadt Roanne als zweiter Sohn einer altangesehenen Spinnerfamilie geboren. Der ältere übernahm die Fabrik, Joseph ging zur Universität. Als aber der Bruder starb und zwei Knaben hinterließ, stellte Joseph das Studium beiseite und widmete sich der Fabrik, bis die Neffen erwachsen waren. Dann kehrte er zur Wissenschaft zurück. Bulliot, der sein Leben der Ausgrabung von Bibracte auf dem benachbarten Mont Beuvray gewidmet hatte, war sein Onkel. Dechelette trat hier die Nachfolge an und vertiefte sofort die Forschung, indem er Tschechisch lernte, um das Buch des Prager Professors Piö über die verwandte Kultur der böhmischen Bojer, die aus Frankreich stammten, ins Französische zu übersetzen, und von diesem keltischen Zentralpunkt aus arbeitete er sich dann zurück in die weite Vorgeschichte und vorwärts ins Gallo-Römische. So stand er auf ganz festen Füßen, war zugänglich für alles und mitteilsam über alles. An jenem Maitage 1912 holte er mich am Bahnhof ab und führte mich in sein Haus, wo uns die anmutige Gattin zum Frühstück empfing. Ich bekam eine Schilderung, wie gut es ihnen im Jahre vorher in Deutschland gefallen hatte. Bei einem Autounfall, den sie in der Nähe von Frankfurt erlitten, sei ein Offizier mit seinem Trupp gerade des Weges gekommen, habe den Platz sofort abgesperrt und sie selbst nach der Stadt gebracht, wo sie dann in bester Pflege und bei köstlichem Bier sich erholt hätten. Nach dem Essen brachte Dechelette mich in seinen Arbeitsraum. Das war die alte Orangerie des Gartens, die er zu einer riesigen Bibliothek umgewandelt hatte. Die ganze französische, deutsche, englische, italienische, spanische Literatur war hier handlich aufgestellt. Man verstand, wie so ein umfassendes Wissen in aller Ruhe zustande kommen konnte. Ich bekam hier die wertvollsten Hinweise auf die mich zunächst interessierenden Dinge, eine steinzeitliche Burg und ihre reiche Keramik im Museum von Autun, die bei der Hafenanlage von St. Nazaire gemachten Funde im dortigen Museum und die zahlreichen Steinreihen in der Bretagne um Carnac 2 ). ') Manuel d'archéologie préhistorique, celtique et gallo-romaine, Bd. I u. II, 1910, III u. I V 1927.

*) In derPräh. Ztschr. VI, 1914, S. 3 6 8 f r . hab ich in einem ausführlichen Nachrufe Déchelettes Wesen und Werk gewürdigt.

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Als ich selbigen Abends noch nach Le Puy zurückkam, fand ich meinen Kameraden ohne Hoffnung auf rasche Besserung. Er hatte beschlossen, dort noch ungemessen zu bleiben und mich die Reise allein beenden zii lassen. So trennten wir uns, und ich bin dann auf dem Nachhausewege hauptsächlich noch in Autun und in Straßburg gewesen. Bei Autun handelte sichs um das steinzeitliche Camp de Chassey und seine reichen Funde im Museum. Die Burg liegt als schmales Oval von 750 m Länge auf einer langhinziehenden Höhe. Nur seine Schmalseiten haben einen starken Wall, die Langseiten, durch Steilhang geschützt, hatten sich wohl mit einer Verpfählung begnügt. Die Keramik von der Burg mit ihren Leitformen des halbkugligen Napfes und des geschweiften Bechers, zeigte ausgesprochenen Pfahlbaustil. Sie faßte in ihrer Reichhaltigkeit zusammen, was ich an den verschiedensten Stellen von Frankreich in einzelnen Stücken schon kennen gelernt hatte. Ich gewann den Eindruck, daß diese zuerst aus den Schweizer Pfahlbauten bekannt gewordene und bei uns am eindrucksvollsten auf dem Michelsberge bei Bruchsal aufgetretene „Lederstilkeramik" vom Rhein ab über ganz Frankreich geherrscht habe. In dieser Auffassung bestärkte mich schon in Straßburg Robert Forrer. Die Leute mit dieser Keramik, sagte er, hätten auch das miteinander gemein, daß sie für ihre Werkzeuge durchweg alpines Steinmaterial verwendeten: grauschwarzen Alpenkalk, Serpentin, Naphrit, Jadeit, während die Bandkeramiker sich an deutsche Werkstoffe hielten. Damit war ihr Ursprungsgebiet klargestellt. Die Sommermonate in Deutschland wurden dann nur durch eine zweiwöchige Ausgrabung belebt, die durch ihr komisches Ergebnis hervorsticht. In Westfalen hatte schon der verdiente alte Hülsenbeck 1878 den Arnsberger Wald als die Stätte der Varusschlacht zu beweisen gesucht, wo große Gruppen von Grabhügeln sie noch bezeugen sollten. Die These war jetzt lebhaft wiederaufgenommen. Namhafte Gelehrte, darunter DragendorfF und Koepp, hatten nach Probegrabungen erklärt, die Hügel seien gar keine Gräber. Die einheimische Bevölkerung wollte aber ihr Ruhmesblatt haben. Das Kultusministerium war als Schiedsrichter angerufen und wünschte mein Urteil zu hören. Ich sagte, die Entscheidung könne nur gebracht werden dadurch, daß man nachwiese, was die Hügel denn in Wirklichkeit vorstellten, und erbat mir für eine neue Ausgrabung 300 RM. Mit dem getreuen und scharfäugigen Otto Weerth von Detmold zusammen hab ich dann die Sache gemacht. Wir nahmen Quartier in Meschede und stiegen von da jeden Morgen zum Ensterknick hinauf. Tagelang fand sich kein anderes Ergebnis, als daß keine Spur einer Bestattung vorhanden war, kein Leichenbrand, nicht die geringste Beigabe. Und wie die merkwürdigen Hügel entstanden waren, blieb rätselhaft, bis wir an eine Gruppe kamen, die noch vor 302

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nicht langer Zeit entstanden sein mußte. Mit Hilfe von Einheimischen ergab sich nun, daß es von altersher in den Bauernhäusern üblich sei, die Diele zu pflastern mit kleinen schiefrigen Plättchen, die man auf dem Bergrücken schürfen konnte, und daß man vor allem zur Wegebesserung in dem gebirgigen Gelände immer Steinmaterial an den Wegen selbst geschürft hatte. So erkannten wir, daß die Hügel einfach den Schutt darstellten, den man nach Entnahme des brauchbaren Materials hatte liegen lassen! Damit war das Rätsel gelöst. Wir sahen dann auch, daß die Hügel immer an Stellen lagen, von wo alte Hohlwege zu Tale führten. Die ältesten Hügel waren offenbar entstanden, als das Mescheder Schloß gebaut wurde, dafür sprach der in Betracht kommende Hohlweg. Der Dezernent im Ministerium meinte, der Scherz sei 300 RM wert. Aber in Westfale n nahm man die Sache grimmig ernst ; als ich noch ein paar Tage in Arnsberg blieb, traf mich manch feindseliger Blick1). Die Herbstmonate September und Oktober waren für die Arbeit in Les Eyzies vorgesehen. Unser Auswärtiges Amt hatte der französischen Regierung mitgeteilt, daß wir beabsichtigten, Hausers Höhlenforschungen durch kleine Grabungen nachzuprüfen und gebeten, das zu gestatten. Die Antwort soll gelautet haben, es gebe kein Gesetz in Frankreich, das dergleichen verböte. So sind wir denn auch die ganze Zeit über unbehelligt geblieben. Die Arbeit gestaltete sich sehr einfach. Hauser hatte die kleineren Abris so vollständig ausgeräumt, daß nichts mehr darin zu finden war. Volle Massen standen nur noch in der Laugerie Intermédiaire und in La Micoque. Da mußte sehr behutsam mit Messer und Löffel vorgegangen werden, um die Schichtenund Zeitenfolge durch den Wechsel der Werkzeugformen und der Tierwelt zu erkennen und darnach das jeweilige Klima, ob Eiszeit oder warme Zwischenzeit, zu bestimmen. Wiegers und Hilzheimer besorgten das mit nur einem Helfer, dem Vorarbeiter Hausers, Mr. Leyssalles, der zugleich unser Wirt in dem von Hauser begründeten kleinen Hotel neben dem Abri von Cromagnon war. Mir fiel es zu, die Pläne der Abris nacheinander aufzunehmen. Nach zwei Wochen kam mein Reisefreund, um der Sache ein paar Tage zuzusehen, und entführte mich dann zur Ergänzung unsrer Frühjahrsreise an der Westküste von Frankreich hinauf. Damit lernte man die Vendée nun noch kennen, reich an Hochaltertümlichem im Kirchen- und Festungsbau. Unvergeßlich ist mir der Eindruck von der abendlichen Einfahrt durch die himmelhohen düsteren Festungswerke von La Rochelle, — dem heutigen Stützpunkt unsres Atlantikkrieges. Man hatte das Gefühl, in eine Gefangenschaft zu fahren, aus der es kein Entrinnen mehr gäbe. *) Meine Publikation steht in der Präh. Ztschr. 1912, S. 385—395.

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In Paris trennten wir uns. Mein Kamerad fuhr nach Deutschland zurück, ich wollte in Paris mich noch ordentlich umsehen und dann nach Déchelettes Weisung in die Bretagne und zum Hafen von St. Nazaire gehen. In Paris hatte ich Mühe zurechtzukommen. Um 10 Uhr war ich im Jardin des Plantes und suchte nach seinem Museum. Ich wurde an die Administration gewiesen, um mir eine Einlaßkarte geben zu lassen, denn das Museum sei nur Sonntag und Donnerstag allgemein zugänglich. Bei der Administration erfuhr ich, daß das Museum erst um 11 Uhr aufgemacht würde. Ich besah mir Kokusund andere Palmen und fragte um 11 Uhr nach der Prähistorischen Sammlung. „Ja, die ist hier", hieß es, „aber sie darf erst von y21 Uhr an besichtigt werden". Mit einer kräftigen Bemerkung über diese angeblich öffentlichen Sammlungen verließ ich das Lokal und fuhr zum Louvre, um dort in der Ägyptischen und Asiatischen Sammlung die Zeit auszunutzen. An beiden war ein Anschlag : „Heute von 1—5 Uhr zugänglich". Das war Paris mit den berühmtesten Sammlungen der Welt! „Im Louvre hab ich dann rasch die Gemälde angesehen, die noch genau so sind wie vor 20 Jahren", schrieb ich nach Hause : „alles durcheinander und alles verstaubt und verschmutzt. Nach raschem Frühstück bin ich dann von %1—3% bei den Praehistorica im Jardin des Plantes gewesen; da sind aber die Skelette, die die Franzosen schon seit fünf Jahren aus der Dordogne haben, überhaupt noch nicht ausgestellt. — Liebenswürdig und vielfaltig begabt sind die Franzosen, aber — „mir ist's zu wohl ergangen, drum war's auch bald zu End'" singt Scheffels Trompeter. Von Paris fuhr ich zunächst zu dem Seminarlehrer Commont in Amiens, der dort in den Schottern und an den hochstehenden Ufern der Somme seit Jahren gesammelt und geforscht hatte. Er führte mich zu seinen Fundplätzen und demonstrierte mir dort seine Beobachtungen und Folgerungen. Die Hauptsache war diese: das Moustérien mit warmer Fauna liegt unter dem Moustérien mit kalter Fauna ; die folgenden Kulturen Acheulécn, Solutréen, Magdalénien haben alle kalte Fauna. Daraus folgt, daß der Homo Mousteriensis mit seinen auf der Wende vom Acheuléen zum Moustérien stehenden Werkzeugen aus dem Ende der letzten Zwischeneiszeit stammt und somit nicht 130000 Jahre alt ist, wie bisher vielfach angenommen, sondern nur etwa 30000. Commont fand sich bereit, mir für 1500 R M eine instruktive Sammlung aus seinen Funden zusammenzustellen, da in Frankreich, wie er seufzend sagte, keinerlei finanzielle Unterstützung zu erwarten sei. Dann nahm ich meinen Weg zur Bretagne. Über Rennes, Nantes, St. Nazaire, wo ich schon vorbereitende Museen fand, gelangte ich nach Carnac. Der Besuch der ersten Steinalleen, die hier vor den Toren liegen, war verblüffend. Das Gehöft Ménec liegt in einem großen elliptischen Cromlech 304

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(Abb. 28), zu dem die fast 1 km langen und in ihrem obersten Teile noch in 11 Linien erhaltenen Steinreihen hinaufführen. Von diesem obersten Teile war ein Plänchen schon in dem alten Buch von Fergusson: Rough Stone Monuments 1872. Ich besuchte noch ein weiteres Monument bei Kerleskan, fand hier noch interessantere Dinge und ging nun ins Museum mit der Bitte, mich die Pläne dieser weiteren Anlagen sehen zu lassen. Der Museumsleiter erklärte verblüfft, es habe nie jemand eine weitere Anlage aufgenommen. Da hatte ich wieder meine nachlässigen Franzosen! Klug reden über die Sachen tun sie gern — wieviel war nicht über diese Steinalleen orakelt und gefabelt worden, aber ins Gelände gehen und einmal acht oder vierzehn Tage lang die stumpfsinnige, mechanische Arbeit des Aufnehmens Stein für Stein leisten, das gewinnt keiner über sich. Ich beschloß, diese Aufgabe zu erledigen, da die Anlagen in nahem Verhältnis zu meinem geliebten Stonehenge zu stehen schienen. Da ich aber für die darauf zu verwendende Zeit völlig freie Hand haben wollte, verschob ich die Ausführung, bis Les Eyzies ganz oder doch im Wesentlichen erledigt wäre. Ich fuhr also zunächst zu meinen Kameraden zurück, fand den erfreulichsten Fortschritt vor, auch zwei neue Ankömmlinge, Prof. Verworn aus Göttingen mit Dr. Lorenz, einem Philosophen, die auf den dem Bauern Peyrille zur Verfügung stehenden Grundstücken forschten, und auf ein paar Tage besuchte uns auch der verehrte alte Herr Sökeland, der bekannte Pumpernickelfabrikant und seit langen Jahren Kassenwart der Berliner Anthropologischen Gesellschaft. Er hatte den Internationalen Historikerkongreß in Rom mitgemacht und gönnte sich für die Rückreise nun noch den Abstecher über Les Eyzies. Da er auch Berliner Stadtverordneter war, stellten wir ihn unsrer Umgebung als „Monsieur le député de Berlin" vor, der über unsre Mittel wesentlich zu bestimmen habe. So benutzte ich ihn zum Druck auf Peyrille, von dem ich einen Block mit einer Steinbockzeichnung kaufen wollte. Sökeland hat die dramatische Schlußverhandlung dann auch mitgemacht und sich amüsiert, wie Forderung und Gebot immer gegeneinanderplatzten, bis plötzlich ein uns genehmes Ergebnis da war. Eine andere Verhandlung über eine sehr viel wertvollere Skulptur mußte ich in aller Heimlichkeit allein führen. Schon nach Berlin hin hatte mir der Besitzer eines Kramladens im Dorfe Manourie bei La Micoque das Relief eines großen Fisches in der ihm, gehörigen Höhle Gorges d'Enfer (bei Laugerie Intermédiaire) für 20000 Franken angeboten. Auch Hauser durfte das nicht wissen, denn er war immer sehr eifersüchtig, wenn man von anderen als ihm kaufte. Die „Frau von Laussei", die ich Verworn verdankte, hatte er damals für eine Fälschung erklärt. So benutzte ich eine mehrtägige Abwesenheit Hausers, um mit dem Bauern in der verschlossenen Höhle das Kunstwerk zu besehen und dann ao

Schuchhardt,

Lebenserinneriingen

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im Hinterstübchen seines Ladens mit ihm zu verhandeln. Diese Verhandlung hat dann unter unendlichem Aufwand von Cognac noch zwei Stunden in Anspruch genommen, denn das Gespräch gestaltete sich genau wie im Orient so, daß beim Weitauseinanderklaffen von Forderung und Angebot man zunächst auf ein anderes Thema abbog. Die beiderseitigen Familienverhältnisse wurden entrollt, man suchte einander persönlich näherzukommen. Dann erfolgte ein neuer Anlauf: das Angebot wurde erhöht, die Forderimg ermäßigt, aber immer noch blieb man weit voneinander. Bordeaux wurde dann besprochen; eine neue finanzielle Tastung blieb immer noch erfolglos, Berlin mußte auch noch geschildert werden, bis endlich und glücklich der Spalt von 5000 gegen 20000 sich bei 10000 geschlossen hatte. Der Bauer wollte, sobald wir abgereist wären, das Relief abmeißeln lassen und mir nach Berlin schicken; dann sollte er sein Geld erhalten. Denn es war klar, daß, solange wir da waren, ein Arbeiten in der Höhle den vaterländisch Gesinnten verdächtig vorkommen und ein Eingreifen von oben her veranlassen könnte. Man hatte uns das Hausersche Gelände schon widerwillig genug freigegeben, Gorges d'Enfer lag darüber hinaus. Wir hatten gehört, daß der Präfekt vom Perigord über unsre Anwesenheit blitzwütend sei und uns lieber heute als morgen hinauswerfen würde. Nicht zu verwundern : man stelle sich vor, daß etwa ein Museumsdirektor von Paris sich in Thüringen niederlassen würde, um dort wochenlang Ausgrabungen zu machen und dann mit dem Raube abziehen zu wollen. Würde nicht am zweiten Tage schon ein deutscher Gendarm ihn zum Bahnhof geleiten? Den Fisch von Gorges d'Enfer hab ich denn auch nicht bekommen. Sobald wir Les Eyzies verlassen hatten, ist die Höhle zum Staatseigentum erklärt worden, und der bisherige Besitzer hat sich mit einer bescheidenen Abfindungssumme begnügen müssen. Den Fisch aber hatte ich mir gezeichnet und setze die Skizze hier ein (Abb. 27). Er ist schon dadurch bemerkenswert, daß er die einzige Darstellung dieser Wassertiere aus dem Paläolithikum ist. Außerdem kann er als Naturstudie sich den besten Werken jener treusehenden Zeit zur Seite stellen. Der ziemlich spitze Kopf und der lange schlanke Körper lassen an einen Hecht oder eine Lachsforelle denken. Das Relief war an der Decke der Höhle ausgemeißelt und hatte die stattliche Länge von 1,08 m. In Les Eyzies wurde ich gewarnt vor zu langer Verschiebung meiner Arbeiten in der Bretagne. Der November pflege dort stürmisch und regnerisch zu sein. So beurlaubte ich mich alsbald von den Abris und habe dann zwei volle Wochen (6.—20. Oktober) den Steinalleen gewidmet. In Carnac fand ich jetzt eine ganz andere Szenerie vor. Im September hatte dort ein lebhaftes Treiben geherrscht. In dem netten kleinen Gasthof waren noch Badegäste und dazu mehrere Großkaufleute aus Paris, Bordeaux, Lyon. 306

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1,08 m lang Abb. 27. Fisch von der Decke einer Höhle in Gorges d'Enfer bei Les Eyzies. Aus meinem Skizzenbuche.

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Ein Fruchthändler aus Lyon, mit dem ich einen Abend nach dem Essen noch ein Stündchen zusammensaß, erklärte mir, was sie dort wollten. Es sei jetzt die Hauptzeit für die Versendung der Austern, die am Strande in großen Einhegtingen gezüchtet werden. Die Einheimischen seien aber zu nachlässig, um sie ordentlich zu verpacken. Deshalb kämen die Handelsherren immer selber auf ein paar Wochen, um diese Arbeit zu überwachen. Er selbst bekannte sich als Bananenhändler und käme eben aus dem westlichen Marokko, wo er große Pflanzungen angelegt hätte. Er habe es mit solchen erst in Nordmarokko versucht, sei aber dort gescheitert: die Banane brauche nicht bloß viel Wärme, sondern auch viel Feuchtigkeit, und die böten nur die Atlantik-Winde. Ich fragte, wo denn hier in der Bretagne seine Bananen wüchsen. Da lachte er und sagte: „Nein, hier treibe ich mein Nebengeschäft, den Kartoffelhandel; die Kartoffel gedeiht am besten auf dem Granitboden, deshalb hab ich ausgezeichnete Ware und versorge große Hotels bis nach Deutschland hinein damit, z. B. in Straßburg. Die Bauern leisteten hier auch gute Feldarbeit, aber für die Verpackung müsse man immer nachhelfen. Dieser ganze freundliche Spuk war nun verschwunden, der Strand verödet und das kleine Hotel geschlossen. Ich mußte deshalb landeinwärts in dem Städtchen Auray wohnen und jeden Morgen mit der Bahn herfahren. Das Stein-für-Stein-Aufnehmen der mehrfach 9 oder 13 Reihen breiten und bis zu 1 km langen Alleen forderte viel Mühe und Zeit. Aber die Bedeutung der acht erhaltenen Anlagen wurde mir gerade durch diese genaue Beschäftigung mit ihnen jeden Tag klarer: Die Steinallee führte als Prozessionsstraße hinauf zu einem festlichen Kultplatze (Cromlech, Abb. 28) neben großen steinzeitlichen Gräbern. Gelegentlich konnte man erkennen, daß der Prozessionsweg von einer alten Heerstraße ausging (Kerleskan und das längere [südliche] Kermario). In einem Falle (Kerleskan) war zu Steinallee und Cromlech neben diesem auch noch ein steinumhegtes Langgrab mit einem Menhir (dem „Seelenstein") an seinem Kopfende erhalten. Ein andermal (Ker307

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mario II) führte die Steinreihe zu zwei Hügelgräbern hinauf, ohne daß ein Festplatz zu erkennen war (Abb. 29). Viermal war zu der Allee ein Teil des Cromlechs erhalten (Menec, Plonhorud, St. Barbe, Kermario I), einmal der halbe Cromlech ohne Allee (St. Pierre-Quiberon, Taf. 45 b).

Ein paarmal zeigte sich, daß das Gelände früher schon zu Begräbnissen gedient hatte: die Steinreihen schritten über alte Hügel hinweg, auf oder an denen gelegentlich noch der alte riesige Menhir stand (Kermario, Kerleskan). Wo die Allee gelegentlich eine merkliche Steigung zu nehmen hatte, tat sie das in einer Windung: es kann also keine Rede davon sein, daß die Reihen als astronomische Linien angelegt wären. Sie gleichen in allem Stonehenge: in dem gewundenen Wege, dem Festplatz mit Grab oder Gräbern, der schon früheren Benutzung des Geländes zu Bestattungen, und sie haben ihr erläuterndes Gegenbeispiel in den Prozessionsstraßen, die in Ägypten vom Nil aus zu den großen Gräbern mit Totentempel und in Didyma vom Meer aus zum Apollotempel führen.*) Als ich nach Les Eyzies zurückkam, mußte eine Reihe von Tagen an die Verpackung gewendet werden. Unsre Funde und Erwerbungen, von großen Ich habe die sämtlichen Alleen in der Prähist. Ztschr. 1942 dargestellt und besprochen.

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Steinblöcken bis zu empfindlichen kleinen Werkzeugen, erforderten Sorgfalt und Zeit. Ich schloß auch rasch noch meine kleine Sammlung von sprachlichen Kuriositäten ab. Wie verschiedenartig aus dem Städtenamen der Einwohnername gebildet wird, war mir überall aufgefallen, und auf die Menge

von originellen Flüchen, über die der Gascogner verfügt, hatte ich ebenfalls acht gegeben. Die Einwohnernamen will ich hierhersetzen, die Flüche will ich in meinem alten Notizbuch weiterschlafen lassen: Albi—Albigeois Auch—Auscitain Bergerac—Bergeracois und so die meisten auf —ac Bordeaux—Bordelais Brive—Briviste Cognac—Cogna^ais

Lyon— Lyonnais Mazamet—Mazametain Montauban—Montalbanais Paris—Parisien Perigord—Perigourdin Poitiers—Poitevin La Rochelle —Rochelais

Als ich bald nach dem Weltkriege (1920 und 1923) im Kreise Lüchow auf dem Höhbeck und bei Icetzel grub, kam ich mit dem dortigen Landrat Freiherrn von Löhneysen in Verkehr. A u f meine Frage, wie sein eigenartiger Name sich erklare, antwortete er, «eine Vorfahren stammten aus Ostfrankreich und hätten ursprünglich Lyonnais geheißen; daraus sei in Deutschland Löhneysen geworden.

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9te Foy—Foyen St. Gaudens—St. Gaudinois Limoges—Limousin

Sables—Sablais Toulouse—Toulousain Tours—Touron.

Nachdem unsre 55 Kisten glücklich expediert waren und Hausers freundlicher Gastwirt uns noch seine letzten und besten Weinsorten auf den Tisch gestellt hatte, verabschiedeten wir uns am 1. November von Les Eyzies. Wiegers und Hilzheimer fuhren nach Hause, ich machtc noch einen Abstecher nach Spanien hinein und an die französisch-italienische Riviera. In Gerona und Barcelona studierte ich die reiche dortige Frühkeramik; in Montpellier fand ich im Conservatoire de musique die gleichartige Keramik aus den benachbarten dortigen Höhlen 1 ) aufgestellt. Dann gings weiter nach Monaco zu den Höhlen Grimaldi und „des Enfants" und nach Mentone zur „Barma Grande". Da lernte man die Aurignac-Menschen und ihre Kultur an der Quelle kennen. Die Skelette dieser schlanken Leute, bis 1,87 m lang, und ihre Schmucksachen und Werkzeuge waren in kleinen, hellen Museumshäuschen tadellos aufgestellt. Bis Turin führte mich mein Museumsstreben noch weiter. Ich zeichnete mir dort neben der Keramik aus den Palafitte Varesine auch ein paar Hallstattöpfe mit Rössener Formtradition und nahm dann endgültig den nördlichen Kurs zu den heimischen Penaten. In Berlin erwartete mich die überraschende Mitteilung, daß ich während meiner Abwesenheit in die Akademie der Wissenschaften gewählt worden war. Ich verdankte dies rasche „Avancement" Kossinna, der in seinem 1912 erschienenen Buch : „Die deutsche Vorgeschichte eine hervorragend nationale Wissenschaft" ein Schlußwort geschrieben hatte voll entrüsteter Vorwürfe, daß diese hervorragende wissenschaftliche Körperschaft immer noch keinen Vertreter der Vorgeschichtsforschung in ihrer Mitte habe. Darauf hatte Roethe, erst kürzlich zum Sekretär der philosophisch-historischen Klasse gewählt, sich mit Conze, Erman, Ed. Meyer zusammengetan und meine Wahl herbeigeführt. Für meinen ersten Vortrag, der schon auf den 30. Januar 1913 angesetzt war, hab ich dann gleich meine neuen Beobachtungen und Überzeugungen herangezogen und ihn betitelt: „Westeuropa als alter Kulturkreis2"). I T A L I E N , MALTA, KRETA Im Herbst 1913 wollte ein Berliner Mäcen eine ähnliche Reise wie die französische mit mir durch Italien machen. Als dritter Teilnehmer wurde ') Es sind die Grottes St. Vérédème, Sartanette, Seynes, St. Joseph, des Frères, Latrone, Raymonde, des Bohémiens, Pagues, dés Soeurs, des Prêtres. *) Sitz.-Ber. d. Berl. Ak. 1913.

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der Landrat Büchting von Limburg noch dazu gebeten. Das erwies sich als sehr forderlich: Büchting, mit mir gleichaltrig, war eine lebhafte, aufgeschlossene, mit natürlichem Kunstsinn begabte Natur und sprach ausgezeichnet Italienisch, da er sein erstes Semester (1880) in Rom verbracht hatte. So wurde ihm sofort die Reisekasse übergeben und alles Verhandeln mit den Einheimischen überlassen. Ich gewann den besonderen Vorteil, daß ich jetzt oft längere Zeit auf ein Museum verwenden konnte, während sich die beiden anderen in der Stadt oder der Umgegend ergingen. So hab ich mich besonders mit den Sammlungen von Bologna und Perugia eingehend beschäftigen können. Von Berlin bis Piacenza sind wir mit der Eisenbahn gefahren. Dort war ein Auto für eine Reihe von Wochen bestellt, und wir erhielten einen so trefflichen, ganz neuen Wagen, daß er alle Strapazen bis zum Ende durchgehalten hat. Viermal sind wir über den Apennin gefahren: von Bologna nach Florenz, von da zurück nach Ravenna, dann von Ancona über Arezzo nach Perugia und schließlich von Neapel nach Bari. Sehr interessant waren jedesmal diese Überfahrten. Die Pässe sind bis zu 1200 m hoch, also höher als der Brocken. Auf der Ostseite ist es jedesmal kahl und rauh, auf der Westseite alles reich angebaut und warm und weich. In Florenz herrschte noch voller Sommer, die Sonne glühte, während am Adriatischen Meere es immer kühl war und die ganze Natur schon einen herbstlichen Charakter hatte. Durch ungeahnte Kunstschätze überraschte die Fahrt von Ancona übers Gebirge. Da war Pesaro mit herrlichen Majoliken, Urbino mit seinem Frührenaissance-Palast und Arezzo, eine saubere Stadt mit allerhand selteneren Meistern. Gerade in den kleineren Städten bekommt man vielfach die besten Werke von Robbia, Piero della Francesca, Signorelli zu sehen. Perugia dagegen mit der Fülle von Perugino und seinen Schülern erregt schließlich mehr Unwillen als Genuß. Auch im Cambio, wo er einmal Könige und Feldherren an die Wand zu malen hatte, sind es lauter himmelnde Heilige geworden. Als ich mit solcher Entrüstimg unserm trefflichen Landrat gegenüber herausplatzte, wirkte es auf ihn wie eine Erlösung, denn das immer gleiche „schön", „wunderbar!" unsres Mäcens hatte sich allmählich wie ein Alb auf ihn gelegt. In Rom und Neapel gab es eine Reihe von Begegnungen mit deutschen Bekannten. In Rom trafen wir Harnack mit seinen beiden jüngsten Kindern, Sohn und Tochter, die beide nach ihrem Abiturientenexamen vom Vater zur Belohnung nach Italien geführt wurden; alle drei waren eines Abends zu Tisch bei uns. Am folgenden Tage hatte Richard Delbrück, der damalige Instituts-Direktor in Rom, uns in höchst interessanter Weise durch die neuen Ausgrabungen von Ostia geführt und war abends unser Gast. Er 311

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brachte mir Grüße von seinem Assistenten Ernst Schmidt, dem Sohne meines alten Heidelberger Freundes Traugott. Den nahmen wir H a n n am andern Morgen in unserm Auto mit bis Terracina und durchkletterten unterwegs die alte Etruskerstadt Cori. In Neapel waren wir am selben Abend noch zusammen mit dem Generalkonsul Wewer, einem Bruder des langjährigen Unterstaatssekretärs im Kultusministerium. In Pompeji arbeiteten damals Winter und Pernice mit zwei Architekten. Wir fuhren an einem schönen Sonntag hinaus, wurden durch die neuen und alten Ausgrabungen geführt und aßen nachher allesamt auf der herrlichen Terrasse von Castellamare, wo sie wohnten, zu Mittag. Am Abend besuchte ich Duhn, der eben von Dörpfelds Grabungen in Leukas gekommen war, in Neapel bei seinen Verwandten. Von Bari aus fuhren wir den steilen Weg zu Friedrichs II. wundervollem Castell del Monte hinauf. Überall war dort die Weinernte im Gange; an der Straße lagen zu Bergen aufgehäuft die köstlichen dunkelroten Trauben. Oben stand gleich hinter der Tür eine mannshohe Marmortafel, die in großen Buchstaben meldete, daß der deutsche Kaiser Wilhelm II. im vergangenen Jahre diese Burg seines berühmten Vorgängers besucht habe. Sie wartete auf ihre Anbringung und wird sie wohl nie gefunden haben, denn ein gutes Jahr später standen die Italiener gegen uns im Kriege, und nach dem Kriege bedeutete ihnen Wilhelm II. nichts mehr. Wir sind bis in den Hacken des italienischen Stiefels hinuntergefahren, nach Lecce, Otranto und Tarent. Als von Lecce der Weg zunächst gegen Osten ging, sahen wir aus dem Morgennebel ein mächtiges Gebirge vor uns auftauchen und staunten ob der Fata Morgana, da wir doch nur Meer vor uns erwarteten, — bis Büchting rief: „Es ist Albanien, wir sehen über die Valona-Enge hinweg!" Dabei ist diese „Enge" immerhin 75 km breit; so klar ist im Süden die Sicht! Es hätte nun eigentlich Sizilien noch folgen sollen; aber wir hatten uns vielerorts länger aufgehalten als vorgesehen war, und unser Führer fürchtete auch, besonders für eine Autofahrt, das Räuberwesen dort unten, von dem wieder vielfach gemunkelt wurde. Als somit von Tarent gleich über Potenza nach Neapel zurückgewendet wurde, beschloß ich, nur diese Fahrt noch mitzumachen und dann in Neapel das Dampfschiff nach Palermo zu nehmen, während die beiden anderen im Auto bis Oberitalien hinauffahren wollten. Archäologisch hatte mir die Autoreise Beobachtungen und Überzeugungen gebracht, die nachher die Grundlage für wichtige Entwicklungsbilder geworden sind. In Oberitalien (Parma, Reggio, Modena) und in Rom in dem reichen prähistorischen Museum Pigorinis sah ich, daß die älteste italische Kultur mit ihren „Kürbis"- und „Bootvasen" ganz der von Frankreich und Spanien entspricht, so daß Pigorini mit Recht die Urbewohner Italiens 312

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für iberisch-ligurisch hält; das bestätigte mir den „Kulturkreis Westeuropa". Etrurien aber gehört mit zu diesem Kulturkreise. Die Etrusker sind nicht ein neues Volk für Italien, das erst aus dem östlichen Mittelmeere gekommen wäre. Schon in meinem ersten prähistorischen Buche „Alteuropa" konnte ich auf Grund der Beobachtungen von 1913 schreiben (S. 194): „Wohl haben die Etrusker durch lebhaften Verkehr mit Griechenland, mit Kleinasien und Phönikien, mit Ägypten in der Dipylon- und der klassischen Zeit eine gewisse Tünche vom Auslande angenommen: Kleidung und Schmuck, den Hausrat an bemalten Vasen, einen Kreis von mythologischen Vorstellungen, einige Götterfiguren; aber der Kern ihrer Kultur, wie er sich ausspricht im Haus- und Grabbau, im Bestatten und Verehren der Toten, in allerhand Eigentümlichkeiten des Lebens und Glaubens, ist bodenständig. In all diesen Dingen sind die Etrusker die treuesten Hüter und Bewahrer der alten westmittelländischen Kultur." Ein zweiter großer Gewinn für mich war dann, daß ich an der Adriaküste von Süditalien, besonders in Bari und Matera und nachher noch ausgiebiger auf Sizilien die bemalte Bandkeramik kennen lernte, die, von Illyrien herüber kommend, hier die alte Urkultur abgelöst hatte. Man durfte nach ihrer Herkunft sie schon damals illyrisch nennen, und da ich sie auf der weiteren Reise nachher in Athen, Chaeronea, Volo wiederfand, dämmerte mir die Ahnung von der großen Rolle herauf, die die IUyrier in den frühen Wanderungen auf dem Balkan gespielt haben.

Von Neapel fuhr ich also zu Schiff nach Palermo, leider bei Nacht, da bei Tage kein Dampfer ging, und konnte hier eine Halsentzündung, die mir die letzte Wagenfahrt in raschestem Tempo gegen den scharfen Gebirgswind gebracht hatte, in der weichen sonnigen Seeluft rasch auskurieren. Im Museum fand ich die bemalte Keramik von vielen Fundstätten der Insel und konnte mich für den archaischen Marmorkopf in Hannover nun von seiner großen Verwandtschaft mit Selinunt selbst überzeugen. Nachmittags gönnte ich mir den eindrucksvollen Besuch der Gräber Kaiser Friedrichs II. (f 1250) und seines Vaters Heinrichs VI. im Dom und fuhr den andern Tag quer durch Sizilien über Catania nach Syrakus. Das erfordert den ganzen Tag, so daß ich erst abends in Syrakus ankam. Das Innere der Insel ist sehr malerisch: schroffe, hohe, kahle Gebirge, — Preller hat hier bekanntlich seine Motive entnommen für die Odysseelandschaften — aber wenig angebaut und, wie mir schien, ohne einen einzigen ordentlichen Weg. Von Syrakus wollte ich eigentlich gleich hinüber nach Malta, aber da dorthin jetzt nur einmal in der Woche ein Schiff ging, mußte ich eine Reihe von Tagen warten. D as hab ich aber nicht bereut. „Syrakus ist himmlisch 313

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schön", berichtete ich nach Hause, „und die Wohnverhältnisse so famos, wie auf der ganzen Reise noch nicht. Die heutige Stadt nimmt nur die Akropoüs der alten ein, ungefähr 1 / 10 des alten Umfanges, das ist eine Halbinsel, die sich scharf ins Meer vorstreckt. Die ganze nördlich davon liegende Fläche, die sich malerisch einen Hügel hinaufzieht, ist heute Feld und Garten, darin wohlerhalten ein griechisches Theater, ein Amphitheater usw. auftauchen. Mitten in diesem alten Trümmerfelde ist eine Villa vornehmer Leute, mit altem Garten zum Hotel eingerichtet von einem Schweizer Rockel; da wohne ich, und zwar, da ich nun eine Reihe von Tagen bleibe, für 10 Frcs. alles in allem täglich. Es ist eine wundervolle Existenz mit schattigen Cypressen, der Aussicht weit über Land und Meer, vortrefflichem Essen und Trinken. Nur eine leidige Zugabe ist da: Moskitos, von denen trotz des Bettnetzes sich einige immer nachts an mir gütlich tun. Ich bin aber schon immun, die Stiche laufen kaum mehr auf." Im Museum von Syrakus fand ich die illyrische bemalte Keramik von zahlreichen Fundorten, und der Direktor Paolo Orsi, der sie überall selbst ausgegraben hatte, beriet mich aufs beste. Er legte mir auch so erhebliche neue Veröffentlichungen von Grabungen auf Malta vor, daß ich beschloß, mich dort eingehend umzusehen. Schon im Jahre vorher hatte der deutsche Konsul auf Malta, ein Freiherr v. Tucher, an die Berliner Akademie geschrieben, es würden da jetzt andauernd die wichtigsten Sachen aufgedeckt, aber niemand sei da, um sie richtig zu deuten; ob die Akademie nicht einmal jemand zur Besichtigung schicken könne. Die Akademie hatte das Schreiben damals an den Kultusminister weitergegeben und der an mich. So hatte Malta von vornherein mit auf meinem Programm gestanden. Der Umstand aber, daß nur einmal in der Woche ein Schiff von Catania über Nacht nach Malta fuhr, den folgenden Tag dort blieb und abends wieder zurückging, brachte es nun mit sich, daß ich entweder einen Tag oder eine Woche auf der Insel bleiben mußte. Ich machte mich auf die Woche gefaßt, telegraphierte um Geld an unsern trefflichen Rechnungsrat Junker in Berlin, bekam es dadurch, daß der freundliche Orsi auf der Post von Syrakus meine Persönlichkeit beglaubigte, und begab mich zum Schiff nach Catania. Dort konnte ich mich unmittelbar am Fuße des Ätna in der Abenddämmerung noch am Anblick dieses Riesen erfreuen. Breitgelagert und immer fein gemächlich rauchend liegt er da, ein Bild majestätischer Ruhe. Auf dem Schiff wurde ich mit einem englischen Ingenieur bekannt, dem Malta vertraut war. Seine Firma hatte ihn geschickt, um ein Schiff zu besichtigen, das von Ostasien kommend hier anlegen sollte. Es war bei der Ausreise in London mit einer neuerfundenen Flüssigkeit getüncht worden, die das Ansetzen von Muscheln und Seetang verhindern sollte, und man wollte nun sehen, ob das Mittel sich bewährt habe. Dieser Mann nahm mich 314

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mit in sein Hotel in einer engen, hochhäuserigen Gasse der Altstadt, wo ich dann auch mit seinem Bekanntenkreise in Berührung kam. Diese Berührung war im ganzen sanft und freundlich, aber zuweilen brach doch die Verstimmung gegen Deutschland — wir schrieben 1913! — scharf aus. Als ich sie für unberechtigt erklärte, wurde ich gefragt, ob ich nicht wisse, daß es in den Offiziersmessen üblich sei, bei jedem festlichen Beisammensein das Glas zu erheben: „Auf den Tag!" Die Maltawoche, von der ich 1 y2 Tage auf die Nachbarinsel Gozo verwandte, ist mir keineswegs zu lang geworden; jeden Morgen fuhr ich hinaus zu einem der großen freiliegenden Denkmäler, und wenn ich vor Abend zurückkam, gings noch in das reiche Museum. Ich habe die Ausbeute eingehend dargelegt in meinem Buche „Alteuropa" und kann mich deshalb hier kurz fassen. Die großen Bauten Hagiar Kim, Mnaidra und Gigantia, dies auf Gozo, mit dem stereotypen Grundriß der zwei Ovalräume hintereinander und einer Apsis an dem zweiten, galten bis dahin für Heiligtümer. Ich habe sie zuerst für Paläste gehalten, bis mir ihr durch die Zuwölbung gegebener unterirdischer Charakter, das Wiederkehren des Grundrisses und der Kulteinrichtungen in den Riesenhügeln von Irland und Wales und vor allem die Wiederbenutzung des 1916 freigelegten Hai Tarxien zu einem Friedhof der Bronzezeit ihre Bestimmung als Gräber unabweisbar machte. Aber klar war mir sofort der Zusammenhang dieser Gebäude mit den Kuppelbauten des Westens, und die reiche Keramik im Museum zeigte neben diesem Zusammenhang zugleich den Einfluß der Bandkeramik, aber in der Weise, daß aus der Spirale als reinem Linienornament eine mit Blattknospen besetzte Ranke sich zu entwickeln begann. Der Museumsleiter von Malta, im Hauptamt Ministerialrat, Herr Zammit, war ein Malteser. Er hat mir nicht bloß alles zugänglich gemacht, sondern ging auch auf meinen Vorschlag ein, daß wir im Herbst des nächsten Jahres zusammen eine Ausgrabung machen wollten, für die ich die Kosten übernähme und dafür einen Teil der Funde und das Publikationsrecht erhalten sollte; er faßte dafür auch sofort ein weiteres der noch unberührten großen Bauwerke ins Auge. Das folgende Jahr war 1914, und aus der gemeinsamen Unternehmung ist nichts geworden; aber ein großes Korkmodell von Hagiar Kim, das ich mir bei einem von Zammit empfohlenen Schnitzer bestellen konnte, ist im Mai 1914 noch glücklich nach Berlin gelangt und paradiert im Museum. Außerdem hatte ich am letzten Tage meines Aufenthaltes einen Photographen mit ins Gelände genommen, der mir 36 Aufnahmen gemacht hat. Neben dieser reichen archäologischen Ausbeute gedenke ich heute mit Wehmut des friedlichen, freundlichen Lebens und Treibens, das damals auf Malta herrschte. Unser Konsul war ein würdiger alter Herr, der schon 315

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viele Jahre im Mittelpunkt der Insel, in Valetta, dem alten Hauptort der Ordensritter, auf einem großen Besitztum wohnte, als eines Tages unser Kaiser hinkam und ihn nötigte, ein neuzuschaffendes deutsches Konsulat zu übernehmen. Er hatte das Amt dann aber so trefflich geführt, daß er bei den Einheimischen wie bei den Engländern großes Ansehen genoß. Schon am ersten Abend rieten mir die Tischgenossen im Hotel, doch ja unsern Konsul aufzusuchen, das sei der Mann, der mir am besten nützen könne. Ich durfte mich dann in seinem schönen Privatbesitz einfinden; er hat mich dort zu allen Denkwürdigkeiten des alten Ortes geführt und mir für die ganze Insel die besten Weisungen gegeben. Wenn ich gegen Abend in die Stadt zurückkam, stieß ich regelmäßig auf eine Ziegenherde, die auch eben von draußen hereinkam. Sie machte vor jedem zweiten oder dritten Hause Halt, die Frauen kamen mit Milchtöpfen heraus und ließen sie sich vom Hirten direkt aus dem Euter vollmelken. Vor vielen Häusern saßen auch Frauen und Mädchen und klöppelten ihre berühmten Spitzen, auf denen das alte Malteserkreuz immer das Hauptzierstück bildet. Ich konnte da aus erster Hand mir immer aussuchen, was mir gefiel. Die hübschen Krägelchen sind lange in meiner Familie getragen worden. Abends nach dem Essen bin ich ein paarmal mit ein paar Tischgenossen in eine Matrosenkneipe gegangen. Da ging es lebhaft zu. An langen Tischen wurde Bier getrunken, die Hälfte des Saales diente als Tanzboden, und auf einer Bühne trat hier und da ein singender oder mimender Matrose auf. Auf dem Nachhausewege mußte man sich aber in Acht nehmen, nicht gar zu betrunkenen Gesellen zu begegnen. Von Syrakus konnte ich mit einem italienischen Schiff direkt nach Kreta fahren. Der stattliche Dampfer gehörte einer neuen Gesellschaft „Sizilia", die sich nun alle Mühe gab, ihn einzuführen. Er war wesentlich Frachtschiff, hatte aber 20 sehr hübsch ausgestattete Kabinen. Außer mir fuhr erster Klasse nur ein Mailänder Kaufmann mit Gigerl-Manieren, so daß wir mit dem Kapitän nur drei bei Tisch waren; und die beiden Italiener ließen mich sehr unbehelligt. Auch die zweite Klasse war mit drei Frauen und einem kleinen Mädchen schwach besetzt. So hatte jeder seine eigene schöne Kabine, volle Bewegungsfreiheit auf dem Schiff und erfreute sich zudem einer vorzüglichen Verpflegung. Wir fuhren vom Morgen bis zum folgenden Tage abends. Den ersten Tag sah man nichts als Himmel und Wasser. Auch kein Vogel kam in Sicht und an Schiffen nur vormittags ein Segler und nachmittags ein Dampfer. Die Strecke ist wenig befahren. Sizilien und Kreta produzieren so ziemlich dasselbe, haben also nicht viel miteinander auszutauschen. Ich habe den ganzen Tag gelesen und Vorbereitungen getroffen für Kreta und Athen. Auf dem Schiffe ging es ruhig zu. Den ganzen Vormittag verbrachte die Mannschaft damit, Zitronen- und Weinkisten, die vorläufig an Deck geblieben 316

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waren, in den Schiffsraum hinabzulassen. Den Nachmittag über wurde geputzt und gemalt. Mit Sonnenuntergang verwandelte sich das Bild. Jeder hockte sich irgendwohin und steckte sich zunächst eine Zigarette an. Dann ging einer nach dem andern in die Küche und holte sich sein Essen: einen Blechnapf voll Reis, Bohnen oder Mohrrüben, wohinein viel Brot gebrockt wurde, dazu eine Flasche y2 voll Wein. So saßen sie dann wieder überall einzeln oder in Gruppen auf Fässern und Kisten, und um 7 und 8 Uhr war kaum mehr jemand zu sehen, alles lag in der Klappe. Um 9 Uhr folgte ich dem Beispiel, las aber noch ziemlich lange und schlief auch dann schlecht, da es selbst hier auf hohem Meere Moskitos gibt. Die Viecher kommen in den Häfen aufs Schiff und setzen sich in den Kabinen fest. Um 6 Uhr morgens wurde ich durch schwere Donnerschläge geweckt. Ich überlegte, ob solch ein eisernes Schiff nicht den Blitz anzöge und somit auch in einer Minute das Schicksal des jüngsten Zeppelin haben könnte, das kürzlich alle Welt bewegt hatte. Und da Blitz und Donner und der rauschende Regen immer ärger wurden, stand ich auf und ging an Deck. Aber da bot sich das unbekümmertste Bild. Die Schiffsjungen waren dabei, das viele Wasser wegzufegen und bei der Gelegenheit das Deck zu scheuern. Sie warnten mich vor der Glätte. Ich beglückte sie mit dem Worte „patinaggio", indem ich auf den Bohlen dahinschlidderte. Aber sonst war garnichts los. Alles Grau in Grau, ein zackiger Blitz bald vor, bald hinter uns, aber weder Meer noch Menschen regten sich darüber auf. Und so ging ich denn einfach hinunter und legte mich noch eine Stunde schlafen. Als ich dann um 8 Uhr wieder heraufkam, war links schon deutlich Land sichtbar: Cerigo, die Insel vor der Südspitze des Peloponnes, felsig, baumlos, wie all dergleichen hier, aber imposant geformt als einheitlich rhombischer Block. Dann klärte sichs mehr und mehr auf. Die Frauen aus der zweiten Klasse wagten sich herauf. Ich kam mit ihnen ins Gespräch. Sie waren Flüchtlinge, vor 1 ]/2 Jahren durch den Krieg aus Tripolis vertrieben, Griechen von Abstammung, aber türkische Untertanen, und wollten nun in Konstantinopel eine neue Heimat suchen. Abends wurde an der Nordwestküste von Kreta, in Retima (Retymnon) angelegt; da war Einreiseentscheid und Gepäckrevision, und beides wurde ernst genommen, denn der Friede zwischen den Balkanstaaten und der Türkei war noch sehr frisch. Als die Beamten aber meinen Paß sahen, hieß es: „Ha, Germanos ine!", und als ich sie sogar griechisch ansprach, gab es ein Händeschütteln, Auf-die-Schulter-Klopfen und Umarmen. Erst nach mehreren Stunden fuhren wir weiter und kamen am andern Morgen nach Kandia, meiner Zielstation. Da hab ich dann wieder fast eine Woche bleiben müssen, denn der Verkehr mit Athen war noch sehr flau. Aber die schon ziemlich fertigen großen Aus317

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grabungen von Knossos durch Evans waren so vielseitig belehrend, und das Museum in der Stadt so reich, daß sich das Warten auf den Dampfer lohnte. Ich erkannte hier die Schlußsteine für mehrere meiner Konstruktionen. Der Gewölbebau, in Westeuropa noch vielfach urtümlich, war über Sardinien und Malta hierhergekommen, zur Vollendung gebracht und so ins Mykotische weitergeleitet. Die Spiralverzierung war früher nach Malta als nach Kreta gekommen, wie man an ihrer stufenweisen Entwicklung zur Ranke erkennen konnte. Der altmittelländische Wohnbau schließlich, das Atriumhaus, war mit dem knossischen Königspalast zu seiner üppigsten Ausbildung gekommen und hatte garnichts zu tun mit dem germanischen und mykenischen Megaronhause. Die achtstündige Dampferfahrt von Kandia nach Athen machte ich zusammen mit einem griechischen Inspecteur des travaux publics im Ministerium, der auf Kreta sich umgesehen hatte, wo man zunächst Eisenbahnlinien zu bauen haben würde. Er war sehr deutsch gesinnt, hatte selbst in München studiert und jetzt auch zwei Töchter nach Wien aufs Konservatorium geschickt. Daß Kreta jetzt mit Griechenland vereinigt war, nahm er als die endliche Erreichung eines alten Zieles mit Ruhe hin, „aber daß Salonik uns zufallen würde", sagte er, ,glätten wir uns ja nicht träumen lassen". In Athen bin ich dann vier Tage gewesen. Karo war leider acht Tage vorher nach Italien und Deutschland gereist. Er und Dragendorff hatten am letzten Oktober mich im Piräus erwartet, da ich mich auf den Tag angemeldet hatte. Statt dessen kam ich dann erst am 1 1 . November! Aber es war im Institut der Assistent vorhanden, Dr. Fimmen, ein geborener Oldenburger, Schüler von Fabricius und Loeschcke, der mir in allem zur Hand ging, und mit dem ich mich gleich am ersten Abend, wo ich ihn zum Essen einlud, sehr anfreundete: ein feiner, ruhiger, wissenschaftlicher Kopf und von der Charakter- und humorvollen Art seiner Landsleute. Er ist drei Jahre darauf, noch als letztes Opfer des Rumänienkrieges, vor Bukarest gefallen. Das warein schwerer Verlust für den Betrieb unsrer Forschung in Griechenla nd. Im Museum führte mir Philios voller Stolz die neu hergerichtete mykenische Sammlung vor. Beim Reinigen hatten noch mehrere Dolche eingelegte Bilder ergeben. Der goldene Stierkopf hatte sich als Rhyton herausgestellt und war als solches hergestellt worden. Viel Krummes hatte man gerade gebogen, so auch ein paar Masken und den Löwenkopf. Die vormykenische Kykladenkultur mit ihren vielen „Bootvasen" zeigte mir auch hier den Zusammenhang mit dem Westen bis nach Spanien hin. Als ich dies den Museumsherren sagte und für meine These von dem westöstlichen Kulturstrom im Mittelmeer besonders noch die Entwicklung des 318

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Gewölbebaus ins Feld führte, gab es zunächst nur ein überlegenes Lächeln und Kopfschütteln; aber dann war man doch nachdenklich geworden, und beim Abschied konnte ich allerhand Beifall hören. Der Dampfer, mit dem ich nach Salonik weiterfuhr, ein Österreicher, legte in Volo für fünf Stunden an. So lernte ich dort noch das reiche Museum kennen mit den Funden aus den benachbarten vormykenischen Megaronburgen Dimini und Sesklo, und die Stätte, von der Jason ausgegangen ist auf seine Argonautenfahrt ins Schwarze Meer. Es ist die prachtvolle und geschützteste Bucht Ostgriechenlands, sehr geeignet, ihre Leute auf den Seeberuf und kühne Fahrten vorzubereiten. Auf diesem Schiff machte ich wieder eine sehr unterrichtende Bekanntschaft. Ein deutscher Ingenieur v. Schütz, dessen Vater als Militärtopograph viele Meßtischblätter in der Lüneburger Heide aufgenommen hatte und mir dadurch dem Namen nach bekannt war, reiste für eine große rheinische Firma nach Athen, Salonik, Sofia, Belgrad, um Festungsbauten zu entwerfen und auszuführen. In Salonik konnte ich miterleben, daß er vom kommandierenden General die Aussicht erhielt, die Forts um Salonik zu bauen, ein Objekt von vielen Millionen. Ob der Bau nachher zustande gekommen ist, weiß ich nicht; ich glaube, es ist damit gegangen wie mit den geplanten Eisenbahnen auf Kreta. Von Salonik hatte ich gehofft, gleich nach Belgrad weiterfahren zu können. Aber als wir nach 40 stündiger Fahrt an einem Sonntag Vormittag dort ankamen, stellte sich heraus, daß dorthin nur ein Zug per Tag, und zwar morgens 61/, Uhr, ging, und daß die Griechen jetzt von jedem aus Salonik Wegreisenden ein Paßvisum verlangten, das am Sonntag nicht zu haben war. So konnte ich auch am Montag noch nicht fahren, denn das Paßbüro war nur von 10—12 Uhr geöffnet. Ich habe den Sonntag benutzt, um vormittags den griechischen Ephoros der Altertümer Oikonomos zu besuchen, sowie den altbyzantinischen Dom des Hlg. Demetrios kennen zu lernen, in dem Schaper seine Studien für das Aachener Oktogon gemacht hatte, nachmittags die hoch den Berg hinaufsteigende malerische Stadt mit ihrem Kastell ganz oben zu durchwandern, und abends von einer Loge im Festsaal unsres Hotels aus eine jüdische Hochzeitszeremonie mitzuerleben. Sie dauerte unendlich lange, ich glaube 1 y2 oder 2 Stunden, und endete damit, daß die Mutter der Braut noch vor dem Altar bei den Priestern umherging und ihnen stattliche Geldscheine in die Hände drückte. Am Montag half mir Oikonomos sehr freundlich bei der Besorgung der Reiseerlaubnis und führte mich hinaus zu einem der mächtigen Tumuli, an dessen Ausgrabung er sich aber vorläufig nicht wagen wollte. Diese Hügel, deren es eine große Zahl in jener Gegend gibt, haben riesige Aus319

REISEN 1912, 1913

maße. Der von uns aufgesuchte hatte 150 m unteren Umfang und 8 m Höhe (Taf.44a). Am andern Morgen hab ich von der Bahn aus wohl ein Dutzend ähnlicher gesehen. Die Fahrt von Salonik nach Belgrad zu ging so langsam, daß man ruhige Blicke ins Land tun konnte. Um %6 Uhr waren wir abgefahren, schon um 8 Uhr, als die Steigungen begannen, mußte Halt gemacht werden, um eilends eine Maschine zur Hilfe nachkommen zu lassen. Um y210 gings weiter, von 10—11 mußte schon wieder gerastet werden. Gleich hinter dem Vardar passierten wir die serbische Grenze, es kam eine enge Schlucht und bei Demirkapu ein malerischer, ganz steiler Felsendurchbruch, dann aber weite Landschaft ganz bis Uesküb hinauf. Bis nach Serbien hinein hatte ich in meinem Abteil I. Klasse allein gesessen, während der Korridor gestopft voller Leute stand. Nun stieg ein serbischer Major zu mir ein, mit dem ich ins Gespräch kam, da er gut französisch redete. Ein jüngerer Offizier gesellte sich bald hinzu. Zu essen und trinken gabs im Zuge nichts, und nur ein oder zweimal hatte man Gelegenheit, ich von einigen am Bahngeleise hockenden Bauersfrauen Brot und Früchte zu kaufen. Am Nachmittag sprang der Major plötzlich auf, zog den Kameraden ans Fenster und zeigte ihm aufgeregt die Einzelheiten des Schlachtfeldes von Kumanowo, durch das wir fuhren. Er hatte selbst im Jahre vorher diese für die Serben so glückliche Schlacht auf dem alten Amstelfelde mitgemacht. 10 Uhr abends wurde es, bis wir nur die auf halbem Wege nach Belgrad liegende Stadt Uesküb, die Hauptstadt von Makedonien, erreichten. Wir hatten für die 200 km der Strecke Salonik—Uesküb 15V2 Std. gebraucht! Der Major erklärte, es sei schwer, in solchem Falle überhaupt Quartier in der Stadt zu finden, und nahm mich freundlicherweise mit in sein Hotel. Am andern Morgen 6 Uhr wollten wir dann zusammen weiterfahren nach Belgrad. Wir bekamen richtig jeder noch eine Dachkammer und fanden dann im Speisesaal eine vielfältige Gesellschaft. Der Tisch, an den wir uns setzten, hatte eine so schmutziges Leinentuch, wie ich es weder vor- noch nachher je gesehen habe. Unzählige Portionen fettesten Schweinebratens schienen darauf ohne Teller verzehrt worden zu sein. Auch wir bekamen kalten Schweinebraten in zolldicken Stücken und vortrefflichen Wein dazu. In einer Nische saßen mehrere serbische Offiziere und sangen vierstimmig ein schönes Volkslied nach dem andern. Es gab einen freundlichen Abschluß des langen, drückenden Tages. Von Uesküb nach Belgrad kamen wir erheblich glatter voran. Schon nachmittags waren wir da, so daß ich abends noch mit dem Museumsdirektor und Universitätsprofessor Vassits in einer bayrischen Bierstube zusammen sein konnte. Vassits hatte in München bei Furtwängler studiert und promoviert und sich von da auch seine Frau mitgebracht. Den folgenden Tag widmete ich dem vorgeschichtlichen Museum, wo mir besonders die vielfaltigen Be320

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Ziehungen zu Troja auffielen. Die Gesichtsvasen zum Beispiel, wie Abb. 30, waren die deutlichen Vorstufen zu den von Schliemann so heilig gehaltenen trojanischen. Vassits wollte die Verwandtschaft durch eine Einwirkung Trojas auf Serbien erklären, während mir das Umgekehrte wahrscheinlich war. Unsre Meinungen blieben gegeneinander stehen. Das Belgrader Museum ist ein Jahr später bei der Beschießung der Citadelle zerstört worden. Ich setze die von mir gezeichnete Gesichtsvase hierher, weil sie sich in der späteren großen Vinfca-Publikation von Vassits nicht befindet. Die letzte Strecke Belgrad — Berlin hab ich in Agram noch unterbrochen, um dort im Museum die vielen Ausläufer der Rössener Kultur in Kroatien und Slawonien (Vucedol!) kennen zu lernen.

Abb. 30. Gesichtsvase von V i n i a bei Belgrad. Museum Belgrad. Aus meinem Skizzenbuch, i : 5.

Als Frucht der ganzen Reise erwuchs in Berlin zunächst der Akademie-Vortrag über die Malta-Bauten, erschienen unter dem Titel : „Der altmittelländische Palast" (Sitz. Ber. 1914, S. 274—302).

XVIII. B E G E G N U N G E N M I T DEM KAISER Kaiser Wilhelm II. hatte bekanntlich ein großes Interesse für archäologische Forschung. Er war ein dankbarer Hörer in Kekules Bonner Kolleg gewesen, und die Ausgrabungen in der Nähe seines neuen Besitzes in Korfu mit dem Funde des hocharchaischen Tempelreliefs hatten ihn jetzt wieder mächtig angeregt. Ich hatte ihm ja auch schon einen Vortrag über Haltern halten und die Ausgrabungen auf der Römerschanze vorführen dürfen. Jetzt waren es zwei Sachen, die mich wieder mit ihm in Berührung brachten: der Goldfund von Eberswalde und die andauernden Ausgrabungen seiner Cousine, der Herzogin Paul Friedrich von Mecklenburg geb. Windischgrätz in fürstlichen Grabhügeln auf ihren Gütern in Krain. Auf dem Messingwerk bei Eberswalde war bei Ausschachtung der Fundamentgräben für einen Fabrikanbau ein großer roher Tontopf zutage gekommen, aus dem, als er umfiel, ein gelbmetallner Becher herauspurzelte. Die Arbeiter hielten das Metall für Messing und lieferten den Fund ohne weitere Besichtigung ab. Im Kontor erkannte man dann das Gold. Der Besitzer benachrichtigte mich schon folgenden Tages und bat mich, mit ihm 21

Schuchhardt,

Lebenserinnerungen

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hinauszufahren. Dort erlebte ich dann ein unvergeßliches Bild. Aus dem Nebenzimmer trat ein junger Gehilfe nach dem andern herein, wie die Opfergänger auf einem ägyptischen oder kretischen Friese, auf den erhobenen Händen immer eine Kostbarkeit nach der andern tragend, bis der Tisch vor mir ganz von goldenen Bechern und goldenen Schmucksachen gefüllt war. Acht schön verzierte Becher waren, immer einer in den andern gesteckt» aus dem unscheinbaren Topfe herausgekommen, dazu gegen 60 Haar- und Armringe und auch ein paar Stücke Rohgold. Seit Schliemanns mykenischem Schatz in Athen hatte ich so viel Gold nicht wieder beieinander gesehen. Der Besitzer meinte, es werde ein Schatz aus der Völkerwanderung sein, den man hier in Zeiten der Not vergraben habe. Ich konnte ihm aber sagen, er stamme schon aus dem 8. Jahrhundert vor Chr. und gehöre nach der Art des Topfes zur Lausitzer Kultur. Ein Fürst dieser Zeit müsse hier gewohnt haben, wo die Namen Steinfurth und Schöpfurt auf einen alten Flußübergang, einen wichtigen Verkehrspunkt deuten, und das weithin wasserreiche Wiesengelände eine fruchtbare Bebauung gewährleistet. Der Hausschatz entspricht den homerischen bei Odysseus, Nestor, Menelaos, und in Troja hat Schliemann gerade Goldsachen öfter in Tontöpfen gefunden. Auf der Rückfahrt sagte mir der Fabrikant, er habe die Absicht, mir den Schatz für das Museum zu schenken. Er bat um ein Taxat des Wertes, damit er durch Auszahlung der Hälfte an die Finder — den Polier und zwei Arbeiter — das Eigentumsrecht für sich allein erwerben könne. Als das alles erledigt war, meldete er mir aber, der Kaiser habe von dem Funde erfahren und möchte ihn gern sehen; Majestät sei aber, wie verlaute, gewohnt» die Sachen, für die er sich in solcher Weise interessiere, geschenkt zu erhalten. Ich fand es bedauerlich, daß der Schatz nun der Öffentlichkeit entrückt bleiben sollte, wo er so laut und eindringlich von der Vorgeschichte der Mark hätte erzählen können. Ich war dafür, dem Kaiser geradeaus zu sagen, der Besitzer habe den Fund dem Kgl. Museum geschenkt. Aber die Fingerzeige, die dieser erhalten hatte, schienen sehr bestimmt gewesen zu sein. So mußten denn wir beiden eines Tages im Schlosse das Gold vorführen. Es war in den Tagen der Hochzeitsfeier der Prinzessin Viktoria mit dem jungen Herzog von Braunschweig. Wir mußten ziemlich lange warten und sahen von unserm Fenster aus verschiedene Fürstlichkeiten über den Schloßhof nach Hause kommen. Der Zar war in Husarenuniform mit dunkelroter Hose und dunkelgrüner Jacke. Der Kaiser machte mitten auf dem Hofe Halt, um zu den Fenstern des alten Herzogspaares v. Cumberland hinauf zu salutieren. Dann kam er zu uns herauf, hörte des Besitzers Fundbericht und meine Erläuterungen und nahm das Schlußwort des Ersteren, daß er sich erlaube, den Fund Seiner Majestät „zur Verfügung zu stellen", sehr gnädig entgegen. 322

B E G E G N U N G E N M I T DEM KAISER

Unter der „Verfügung" verstand er persönliches Eigentum. Nach einigen Wochen, als der Fabrikbesitzer inzwischen einen hübschen bronzenen Pultschrank für den Schatz angefertigt hatte, wurde ich auf y22 Uhr ins Schloß bestellt und in den Sternsaal (am Schloßplatze) geführt, wo der neue Schrank mit dem Golde stand. Der Kaiser kam alsbald aus der Nebentür, direkt vom Mittagessen, und ließ sich nun unter vier Augen eine Stunde lang über alle Einzelheiten des Schatzes und darüber hinaus der ganzen Lausitzer Kultur vortragen, so daß ich schließlich, als mir der Stoff ausgehen wollte, auch noch von meiner soeben mit meinen beiden Jungens vollführten Pfingstfahrt die Oder hinunter erzählte. Ich vermutete dort eine alte Volksgrenze der Lausitzer und hatte eine Reihe von Burgen aufgenommen. Nur an eine war ich noch nicht herangekommen, da sie auf dem Gut Bethmann - Hollwegs lag, auf dem ich nicht Zeit hatte, mich ordnungsmäßig zu melden. Kaum acht Tage nach diesem Zusammensein mit dem Kaiser erhielt ich vom Reichskanzler v. Bethmann eine Kaffeeeinladung auf sein Gut. Der Kaiser hatte ihm von meiner Absicht gesprochen, und ich habe dann einen sehr hübschen Nachmittag und Abend dort verbracht, an dem Bethmanns Gattin, geb. v.Pfuhl, und ihre Schwester stark beteiligt waren. Der jüngere Sohn, damals Sekundaner, hatte angefangen, Prähistorika zu sammeln und damit des Vaters Rauchzimmer stark behelligt. Zweierlei weiteres entwickelte sich aber noch aus jenem langen Zwiegespräch mit dem Kaiser. Er wollte bald darauf eine Gedenkfeier in dem alten Zisterzienserkloster Loccum bei Hannover mitmachen und fragte mich nach der Geschichte des Klosters. Ich sagte, was man als guter Hannoveraner darüber weiß, und fügte als Novum hinzu: in den Wiesen unweit des Klosters liege ein kleiner Ringwall, in dem hätten wir meines Erachtens die frühmittelalterliche Burg Lucca zu erkennen und nicht an der Stelle des jetzigen Klosters selbst, wie bis jetzt allgemein angenommen werde; eine Ausgrabung in dem wohlerhaltenen Walle werde darüber somit Klarheit bringen. Bei seinem Besuch in Loccum hat der Kaiser dann den Abt Hartwig, den würdigen Nachfolger des berühmten alten Uhlhorn, mit der Neuigkeit der in den Wiesen noch erhaltenen Burg Lucca überrascht, und als der Einwendungen machte, gesagt: „Wenn Sie's nicht glauben wollen, schick' ich Ihnen Schuchhardt auf den Hals". Die Folge war, daß ich vom Abt eine Einladung zu der Ausgrabung erhielt. Mein altbewährter Freund Otto Weerth-Detmold hat sie für mich gemacht, da er mehr Zeit hatte als ich. Ich bin nur für die letzten Tage hingefahren, um das Ergebnis, das unsre Annahme bestätigte, zu besiegeln, und der Abt hat mir dabei mit gutem Humor das Kaisergespräch geschildert1). r

, Der Bericht über die Ausgrabung steht in der Zeitschrift des hist. V. für Niedersachsen

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Das Zweite, was der Kaiser von mir wünschte, war dies: die Herzogin Paul Friedrich von Mecklenburg hatte ihm wieder Ausgrabungsfunde aus Krain geschickt, und diesmal sollte ein wohlerhaltener Bronzepanzer der Hallstattzeit dabei sein. Die Kisten seien schon in Hamburg auf dem Schiff, mit dem er in acht Tagen seine Nordlandreise antreten wolle, und ich „müsse mir schon die Unbequemlichkeit machen", zum Auspacken dorthin zu kommen. Ich sagte, das sei keine Unbequemlichkeit für mich, für den T a g vorher habe meine Vaterstadt Hannover mich zur Einweihung ihres neuen Rathauses eingeladen, und von da sei es ja nur ein Sprung nach Hamburg. „Dahin bin ich ja auch bestellt!" sagte der Kaiser, „dann können wir uns eventuell dort noch sprechen". Ich erhielt dann vom Hofmarschallamt zunächst die Einladung, mich am Sonntag, den 22. Juni, morgens 10 Uhr auf der „Hohenzollern" in St. Pauli einzufinden. Am 21. abends 7 Uhr war das Festessen in Hannover. Ich hatte den Tag benutzt, um bei Nienburg ein paar Wallburgen zu besuchen. Als ich gegen 6 Uhr nach Hannover zurückkam, war im Hotel die telefonische Mitteilung eingegangen, daß der Kaiser mich schon morgens um 9 Uhr zum Gottesdienst erwarte. Ich ging sofort zu Tramm, der eben mit dem Anlegen der weißen Krawatte beschäftigt war, und klagte ihm, daß ich nun heute abend noch nach Hamburg würde fahren müssen und das Festessen nicht mitmachen könnte. Er widersprach aufs lebhafteste: Der Gottesdienst sei eine Nebensache bei dem, was der Kaiser von mir wollte, man habe mich seit fünf Jahren nicht mehr in Hannover gesehen, ich sollte unbedingt dableiben. Im Kursbuch sah ich, daß vor meinem beabsichtigten Siebenuhrzuge schon 5,20 Uhr ein Schnellzug nach Hamburg ging, der mich bis 8 Uhr hinbrachte. So hab ich zwischen Festessen und Schnellzug zwei Stunden geschlafen und um 9 Uhr auf dem Verdeck der Hohenzollern gestanden. Unter Sonnensegeln fand sich da eine aus Zivil und Militär gemischte Gesellschaft zusammen. Mein Nachbar war Ballin, der Direktor der Hapag. Nach einem Kirchenliede, bei dem der Matrosenchor führte, betrat der Kaiser die aufgebaute Kanzel und las die Predigt, in der ich den Stil des Berliner Militärpfarrers Goens erkannte. Mit einem weiteren Liede schloß die Feier. Es war nun 10 Uhr geworden, die Zeit, wo die Archäologie beginnen sollte und zwar zunächst mit der Besichtigung eines altitalischen Panzers, den mein Hamburger Freund Johannes Reimers nach einer von mir erwirkten Erlaubnis dem Kaiser vorzeigen wollte. Zum Vergleich mit dem neuzuerwerbenden Rrainer Stück schien uns das ganz angebracht, und dabei brannte Reimers natürlich darauf, bei dieser Gelegenheit mit dem Kaiser in Berührung zu kommen. Er besaß eine sehr hübsche Sammlung der anziehenden Kultur, die im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. zwischen Rom und 324

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Neapel geblüht hatte und sich besonders durch ihr Bronzegerät auszeichnete. Sein Panzer war in seiner Urtümlichkeit in der Tat interessant neben dem neuen. Er war nur eine einfache Brustplatte mit Punktkreisen verziert, während der Hallstätter des 6. Jahrhunderts in zwei Stücken Brust und Rücken umschloß und vorn die Brustwarzen aufwies. Als nach dieser Gegenüberstellung Reimers sich zum Gehen wandte, sagte der Kaiser zu mir: „Sie sind mein Zeuge, daß ich mich in keiner Weise bemüht habe, dem Manne seinen Panzer abspenstig zu machen". Der Unwille stieg mir hoch, und ich sagte mit Betonung: „Eure Majestät, Herr Reimers hat seine Sammlung geschlossen seiner Vaterstadt Hamburg vermacht." Reimers hatte die Sache als einen kaiserlichen Scherz aufgefaßt und sich dann lachend mit dem Panzer unter dem Arme verabschiedet. Der Kaiser meinte aber nachher, der Mann sei „eine besondere Nummer" gewesen, und ich sah mit Bedauern, daß der Besitzer des Eberswalder Goldfundes ein paar Wochen vorher recht unterrichtet gewesen war. Das weitere Auspacken der Krainer Kisten ergab dann noch einen schönen intakten Helm, einen Bratspieß, mehrere Dolche und unter der Keramik ein paar imposante hohe Stengelschalen, sowie einen großen Topf mit einer Reihe von kleinen Bechern auf der Schulter. Die beiden Schätze von Eberswalde und von Krain haben nachher doch den Weg in mein Museum gefunden. Den Eberswalder hatte ich schon kurz vor dem Weltkriege mir für einige Zeit erbeten, um ihn in einer stattlichen Sonderpublikation herauszugeben, und ihn dann behalten können; den Krainer hat, als 1918 die Kieler Matrosen das Schloß besetzt hatten, Wiegand herausgeholt und mir abgeliefert. Beide sind nachher beim Ausgleich der Krone mit dem neuen Staat Museumsbesitz geworden. An jenem Sonntag im Juni 1913 wurde ich zum Essen auf dem Schiff dabehalten. Der Hofmarschall Graf Platen sagte mir, meine Tischdame werde die Gräfin Bassewitz, eine Hofdame der Kaiserin, sein. Sobald ich an ihrer Seite saß, begann sie lebhaft von dem Eberswalder Goldfunde und höchst sachverständig von der Lausitzer Kultur zu sprechen, so daß ich erstaunt fragte, wie sie zu all dieser Wissenschaft käme. „Mein Gott", sagte sie, „der Kaiser füttert uns ja jeden Tag damit!" Ich hatte in manchen Wendu ngen ganz das wiedererkannt, was ich dem Kaiser gesagt hatte. So waren jetzt diese Dinge sein Steckenpferd geworden, wie ein paar Jahre vorher das Buch von H. St. Chamberlain über die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, das er iings um sich verteilte, um dann in Gesprächen festzustellen, ob es auch gelesen worden war. Nach Tisch promenierte alles an Deck. Es war ein alter Mitschüler des Kaisers vom Kasseler Gymnasium, jetzt Oberlehrer in Hamburg dabei, der tinfach immer „Flachsmann genannt wurde, — nach demTitel einer damals 325

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vielgespielten Schulmeisterkomödie. Mich faßte der Kaiser schließlich unter den Arm und ging mit mir auf und ab, um die weitere Behandlung der Krainer Funde zu besprechen. Ihren ungefähren Geldwert wollte er wissen. Er „kaufe" die Sachen nicht von ihr, sagte er, sie schenke sie ihm, und er schenke ihr dann Geld zum Weitergraben. Zum andern handelte sichs für den Panzer um die Frage, wie er angelegt und verschnürt worden sei. Das sei anders als heute, und damit ich das richtig verstehen könne, wolle er mir gleich morgen in Berlin einen Kürassierpanzer ins Museum schicken lassen. Den hab ich dann auch richtig erhalten und damit ein allgemeines fröhliches Vergleichen von Zeiten und Völkern hervorrufen können. Um 4 Uhr wurde die Gesellschaft entlassen. Das Kaiserpaar rüstete sich zum Besuch des Rennens in Horn, und wir hörten nachher noch den Jubel des Spähers in den Hamburger Straßen. Ich ging zum Freunde Reimers, der sich höchst beglückt fühlte, und fuhr gegen Abend nach Berlin zurück. Meine letzte Begegnung mit dem Kaiser war im Winter 1913 auf 1914. Da wurde ich überraschend eines Vormittags für den Abend 8 Uhr zum Essen ins Schloß befohlen. Anzug Überrock, Eingang vom Schloßplatz aus zum Sternsaal hinauf. Es ergab sich, daß nur Harnack, Wiegand, der Orientalist Moritz und ich geladen waren. Der General vom Dienst, v. Gontard, empfing uns. Nach wenigen Minuten kam der Kaiser. Er sprach lebhaft von jemand, der kürzlich vor lauter Arbeitseifer das Mittagessen vergessen habe. Ich sagte kecklich: „Ew. Majestät, soll es nicht in Korfu ganz ähnlich zugegangen sein ?" Der Kaiser stutzte einen Augenblick, dann schlug er mich auf die Schulter und lachte: „Da haben Sie Recht, beim Ausgraben kam man so in Eifer, daß man die Zeit vergaß und ich dann plötzlich neben mir hörte: — „und zu Hause soll's dicke Erbsen und Pökelfleisch geben!" Dann fiel der Name Montelius und jemand sagte: „Der ist ja in diesen Tagen hier". „Was", rief der Kaiser, „der ist hier ?" „Ja", sagte Harnack, „er hat bei uns einen Vortrag gehalten". — „Und dazu haben Sie mich nicht eingeladen?!" — „Das hab ich nicht gewagt, Ew. Majestät". — „Den müssen wir noch hierherholen, wo ist er denn jetzt ?" — „Auf dem festlichen Abendessen beim Bürgermeister Reicke; es wird jetzt eben begonnen haben." — „Also Gontard, telefonieren Sie einmal dorthin und bitten Sie ihn, zu kommen". So wurde Montelius von dem ihm zu Ehren gegebenen Festmahl, wohl nicht zum Vergnügen der Teilnehmer, weggeholt. Da das in einem Vororte war, traf er erst nach einer Stunde im Schlosse ein, als wir bereits gegessen hatten und uns im Arbeitszimmer des Kaisers befanden. Der Kaiser begrüßte ihn herzlich und fragte, ob er schon gegessen habe. — „Nein!" — Gontard führte ihn darauf ins Nebenzimmer und ließ ihm nachservieren. 326

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KAISER

Der Kaiser hatte derweil hauptsächlich Harnack und Moritz zum Reden gebracht. An Moritz, der lange Dragoman in Kairo gewesen war, richtete er die kategorische Frage: „Glauben Sie an ein Risorgimento der Türkei ? " Moritz antwortete ebenso kategorisch „Nein!" Darauf lebhaftes Bedauern über die Enttäuschung. Als Montelius wieder hereinkam, ergab sich nun, wozu man hergebeten war. Der Kaiser zog einen großen Brief von Leo Frobenius hervor, setzte sich rücklings auf seinen Schreibtisch und las uns einen Bericht aus Nordafrika vor über die Ausgrabung von Hügelgräbern mit innerem Steingewölbe, in denen er neben den Leichen Tongefäße gefunden habe von Formen, wie sie Prof. Schuchhardt der Stein- und ältesten Bronzezeit des Mittelmeeres zuschreibe. Der Kaiser wollte nun wissen, ob das stimme und ob man Frobenius weitere Mittel gewähren solle. Die Antwort wurde von Wiegand und mir erwartet. Wir konnten aber beide nichts anderes sagen, als daß aus jener ganz unerforschten Gegend alles für uns völlig neu sei, und daß man die Keramik sehen müsse, um sie beurteilen zu können. So wurde bestimmt, sobald Frobenius mit seinen Funden in Deutschland eingetroffen sei, sollten die Direktoren der Ägyptischen, Vorderasiatischen und Vorgeschichtlichen Abteilung der Kgl. Museen sie besichtigen und beurteilen. (Diese Besichtigung haben dann im Sommer 1914 Heinrich Schäfer, Otto Weber und ich zusammen vorgenommen. Sie ergab, daß die Keramik erst aus römischer Zeit stammte, solange haben also ganz alte Grab- und Gefäßformen in Nordafrika sich gehalten. Über das Ganze hab ich einen großen Aufsatz von Leo Frobenius in der Prähistorischen Zeitschrift (1916, S. 1—84 mit 23 Tafeln zum Druck gebracht.) Die weitere Unterhaltung, die durchaus vom Kaiser geführt wurde, wandte sich dann sehr ungezwungen allen möglichen Gebieten zu, so daß alle Anwesenden beteiligt wurden. Wir saßen alle auf Stühlen umher, und nur Montelius folgte seiner strengeren schwedischen Hofsitte und stand jedesmal auf, wenn er zum Kaiser zu sprechen hatte. Dem diensttuenden General wurde es schwer, ein Ende herbeizuführen. Nachdem einige Andeutungen seinerseits nicht beachtet worden waren, ließ er Punkt Mitternacht ungeniert die freien Stühle auf einem Tische zusammenstellen. Daraufhin verabschiedete uns dann der Kaiser. Etwas ermüdet waren auch wir und stiegen alsbald in einen Wagen, um zu unsrer Vorortbahn zu fahren. Nur Montelius war so munter, daß er uns unterwegs noch mit schnöden deutschen Witzen regalierte: „Warum hat Krause einen kahlen Kopf?" Antwort: Weil Schmidt „krauses" Haar hat!" So ging es bei diesen Zusammenkünften immer ganz munter zu. Solange man mit dem Kaiser zusammen war, wirkten sein aufrichtiges Interesse, seine leichte, freundliche Art, sein Sinn für Humor sehr günstig und halfen auch 327

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über Bedenkliches hinweg. Aber etwas bedrückt war man hinterher doch immer durch den Gedanken, daß dieser Mann, der so gern auf allen möglichen Gebieten zu Hause sein wollte, und dem es doch so schwer wurde, sich eine selbständige Meinung zu bilden und einen eigenen festen Weg zu finden — statt des berüchtigten „Zickzackkurses" —, daß der ein großes Reich zu regieren habe und dafür sogar das „sie volo sie iubeo" in Anspruch nehme. Das Ergebnis haben wir ja erlebt. Bei dem raschen Anwachsen von Deutschlands Macht hätte ein Bismarck den Kollektivkrieg der Neider hintanhalten können, aber die Nachfolger waren zu schwach dazu. Ich habe den Kaiser nach jenem Abend mit Montelius nicht mehr gesehen, bin aber noch bis zu seinem Tode mit ihm in Beziehung geblieben. Er hatte die Gewohnheit beibehalten, Zeitungsausschnitte mit ihn interessierenden Fund- oder Forschungsmitteilungen „z. B." (— zum Bericht, mit Rotstift geschrieben) an seinen alten Kasseler Schulkameraden und letzten Kultusminister Schmidt-Ott zu schicken, und der verteilte sie dann an die betreffenden Fachleute mit der Bitte, dem Kaiser direkt zu berichten. Das führte dann gelegentlich zu einer weiteren Rückfrage und einem Meinungsaustausch. Der Kaiser schickte mir seine Gorgo-Studie, die durch das Tempelrelief von Korfu hervorgerufen worden war, und bat um Stellungnahme. Ich schickte ihm meine wichtigeren Publikationen und erhielt auf die „Trajanswälle" und „Alteuropa" längere Briefe von ihm. Auch seine Bücher „Aus meinem Leben 1850—1888" (1926) und „Meine Vorfahren" (1929) hab ich erhalten, und zu meinem 80. Geburtstage hat er mit einem Briefe seine große Photographie geschickt. Er hat unsrer Wissenschaft in den Jahren, über die ich urteilen kann, manchen guten Dienst geleistet.

XIX. IM W E L T K R I E G E 1915—1918 Vom Weltkriege hab ich für die Wissenschaft auf zweierlei Weise Nutzen zu ziehen gesucht: zum ersten hab ich in der unfreiwilligen Muße, die durch die winterliche Schließung der ungeheizten Museen entstand, zwei erhebliche Publikationen fertig gestellt und zum andern in den von uns besetzten osteuropoäischen Ländern einige nützliche Ausgrabungen gemacht. Die erste Publikation war der „Atlas vorgeschichtlicher Befestigungen", der seit meiner Übersiedlung nach Berlin (1908) nicht mehr vorwärts gekommen war. Ich nahm die Burgen in den noch ausstehenden nördlichen Landesteilen Oldenburg, Friesland, Lüneburger Heide auf und ließ dann die letzten vier Hefte 1916 zugleich erscheinen. Der Nordwestdeutsche ist damit 328

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bis heute der einzige dieser Burg-Atlanten, der fertig geworden ist; die andern: Hessen, Westfalen, Schleswig-Holstein haben es höchstens bis zum zweiten Heft gebracht. Sodann schrieb und veröffentlichte ich das Buch „Alteuropa". Als Vertreter des Verlages Trübner in Straßburg hatte mich Dr. G. Lüdtke — später Verlagsdirektor von de Gruyter — schon 1913 gebeten, ihnen ein Buch zu schreiben, das sie an die Stelle des von der deutschen Kritik überwiegend abgelehnten von Sophus Müller-Kopenhagen setzen könnten: über die älteste Kulturentwicklung in Europa. S. Müller hatte unsre Megalithkultur, wie auch die Bronzekultur, aus dem Süden hergeleitet und stand damit der bei uns sich anbahnenden Indogermanisierungstheorie im Wege. Matthäus Much hatte schon ein energisches Buch dagegen geschrieben, auch meine Aufsätze über den Korbflecht-, Kürbis- und Lederstil der ältesten Keramik standen ja dagegen, und so wollte der Verlag Trübner den Müller nicht neu drucken. Ich sagte zu, verlangte aber viel Zeit, die auch gewährt wurde, und habe hauptsächlich den schlimmsten Kriegswinter 1916/17 darauf verwendet. 1918 war es gesetzt, und Dr. Lüdtke ist am 10. November 1918 mit den Korrekturbogen und Tafeln über die Kehler Brücke geflohen. Das Buch hat dann einen glücklichen Weg genommen, obgleich die klassische Archäologie sich an manches erst gewöhnen mußte: als letzte Weihnachten (1941) die vierte Auflage erschien, war sie durch die Vorbestellungen bereits erschöpft. POLEN 1915, 1916 Aus dem Felde wurde uns damals öfter von Funden gemeldet, die bei der Anlage von Schützengräben zu Tage gekommen waren und zu weiterer Nachforschung reizten. So hatte man unweit Mlawa einen ausgedehnten Urnenfriedhof mit schönen großen Urnen angeschnitten. Bei Kutno waren ebenfalls Töpfe gehoben. Bei Lodz aber — dem heutigen Litzmannstadt — sollte eine Menge von Steinkreisen, der „Heidenkirchhof" oder „Steineburg" hegen, deren Abtragung für den Chausseebau man vorläufig verhindert habe. Ich beschloß, Mlawa und Lodz aufzusuchen und das Übrige noch in der Schwebe zu lassen. Das Wichtigere schien mir Lodz, deshalb nahm ich meinen Weg über Posen, Kaiisch gleich dorthin. Ein junger Lodzer Zeitungsmann Adolf Kargel — er ist heute noch dort als Chefredakteur der „Deutschen Zeitung" — hatte uns die Mitteilung gemacht. Mit ihm fuhr ich am Morgen des 15. Oktober 1915 per Droschke 3% Std. weit gegen Nordwesten. Nach 11 km kamen wir durch das deutsche Städtchen Alexandrowo. Die Einwohner sind durch einen Gutsbesitzer hierhergeholt. Kargel stammt aus dieser Stadt, sein Vater war hier Zunftmeister der Weberinnung. Viele der Städter 329

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begegneten uns, die in den benachbarten Dörfern Eßwaren holen wollten; nach Lodz gingen sie dazu nicht, die dortigen Juden kauften in den Dörfern auf und forderten dann in der Stadt hohe Preise. Alle Schenken an den Straßen sind von den Russen aufgehoben. Der Wald hinter Alexandrowo ist stark gelichtet; die Bauern haben sich im letzten Winter an die fiskalischen Wälder gehalten, um zu heizen. Viele Spuren der Kämpfe, die um Lodz sehr heftig waren, sieht man: zerschossene Bauernhäuser, von einem Kinderheim stehen nur noch die Wände. Hie und da erscheint ein Holzkreuz im Felde, hinter Alexandrowo auch ein kleiner Soldatenfriedhof. Auf manchen Strecken ist die Chaussee im Umbau: vor Zlotniki muß der Wagen einen weiten Umweg machen, polnische Arbeiter und viele Frauen sind beschäftigt; 1 die letzten 4 km Sandweg müssen wir zu Fuße gehen. Das Dorf unsres Strebens war Wiltschitza, Wilczycad, auch geschlossen deutsch, mit einer deutschen Schule. Wir stellten ein beim Bauern Stengert, vor dessen Hause sich der s ,Heidenkirchhof'' ausbreitet. Die wackere Frau Stengert hat es sich nicht nehmen lassen, uns ohne Kriegsrücksichten aufzutischen: vierzehn gekochte Eier brachte sie, einen Suppenteller voll Honig, dazu Butter, Schwarzbrot und Tee. Vorher hatten wir den Plan des ganzen Gräberfeldes aufgenommen und einige von ihnen angegraben. 32 Kreise zählten wir, davon 10 von 2—3 m, die übrigen von nur 1 m Durchmesser. Einige hatten flache Hügel im Innern, alle aber waren leider längst völlig ausgeraubt; nur einige Scherben von Lausitzer Riefenkeramik fand man überall und bekam so doch die zeitliche Bestimmung für das 9. oder 10. Jahrhundert v. Chr. Wir erhielten dann beim Ortskommando zwar die Versicherung, daß das jetzt noch vorhandene Bild geschont werden solle, aber die Notwendigkeit, die polnischen Heerstraßen wieder instand zu setzen, hat nachher doch dahin geführt, daß nach Jahresfrist kein Stein mehr vorhanden war. Von 4-V28 Uhr fuhren wir nach Lodz zurück. Von'dieser gräßlichen Stadt will ich garnichts sagen, man hat sich im letzten Jahre (1941) oft genug in ihrer abschreckenden Schilderung ergangen. Sie ist eine Ansammlung vön Elendshütten mit einigen dazwischen gestreuten Palästen. Ich hatte mich den Tag vorher schon genug über sie empört und war nur getröstet worden durch das gute deutsche Theater, das schon im Gange war, und in dem Sudermanns „Johannisfeuer" gegeben wurde. Am andern Morgen lud mich der Hauptmann Schultze aus Görlitz auf 1 Uhr zur Kommandanturtafel ein, damit auch die andern Herren ins Interesse gezogen würden. Die Gesellschaft war nur klein: als Kommandeur ein General v. Braunschweig, daneben zwei sächsische Exzellenzen (von Bautzen und Dresden), ein Reichsgerichtsrat aus Württemberg, Professor v. Zwiedinek (Karlsruhe), ein Sohn des Professors Althaus (Göttingen) 330

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und der Hauptmann Schultze. Das Essen war einfach: Suppe, Rindfleisch mit Beilage und Pudding; der Wein teuer: Weißwein 5, Rotwein 6 RM die billigste Flasche. Nach Tisch fahren die jüngeren Herren mich hinaus, um mir Kampfspuren vom Sommer zu zeigen. Die Deutschen hatten Lodz vom Osten her umfaßt und so besonders den Kirchhof stürmen müssen, dessen prunkvolle Denkmäler arg mitgenommen waren. Abends fuhr ich nach Warschau, wo ich den bevorstehenden Sonntag (17. Oktober) in Ruhe der Stadt und den Sammlungen widmen wollte. Das „Museum der Gesellschaft" am Großen Platze ist wesentlich ethnologisch: polnische Volkskunde, dann Sibirien, Amerika usw., alles Schenkungen. Auch die vorgeschichtliche Abteilung besteht aus mehreren Privatsammlungen ; sie überraschte mich durch stellenweisen Reichtum, so waren von Cucuteni in der Moldau, Hubert Schmidts Ausgrabungsstätte, drei Schränke voll vorhanden. In der Stadt konnte ich mir an der Eisenbahnbrücke die beiden Forts ungehindert besehen. Es waren Rundbauten, der vordere mit einfachem, der hintere mit doppeltem Wall und Graben umgeben. Nachmittags bin ich durchs Judenviertel geschlendert und habe besonderen Spaß an den Namen der Ladeninhaber gehabt. Sie erinnerten mich lebhaft an Kieperts Behauptung, er habe einen Juden gekannt, der „Temperaturwechsel" hieß. Ich fand neben den vielen nur durch Schreibung auffälligen, wie Szulc, Szwabe, Fuks, die originellen: Weichselficz (Weichselfisch), Nirenstein, Postbrief, Ziferblatt. * Abends im Theater, wo „Halka" gegeben wurde — was das ist, weiß ich nicht mehr — traf ich Büchting, den Reisekameraden von 1913, in Uniform natürlich. Wir haben nachher im Europäischen Hof zusammen Krimwein getrunken, und als wir um 12 Uhr dort fortgingen, ergab sich, daß er mich nach Hause bringen mußte, weil ein Zivilist nach 10 Uhr nicht mehr über die Straße gehen durfte. Am folgenden Morgen wollte mich Büchting eigentlich nach Nowo Georgiewsk fahren, um mir diese mächtige Festung, in deren Kühlräumen wir für mehrere Millionen Mark Gefrierfleisch erbeutet hatten, zu zeigen. Aber es wurde kein Auto mehr für persönliche Zwecke bewilligt, und so begab ich mich gleich zur Bahn, um nach Mlawa zu fahren. Das war wieder ein abschreckend häßliches und gänzlich jüdisches Nest. Man war außerdem auf dem Ortskommando nicht sehr erbaut von meinem Besuch. Die Herren waren außerordentlich belastet durch die vielen voreiligen Besuche der Angehörigen von letzthin hier Gefallenen (Schlacht bei Praschnitz [Pracznic]). Beim Abendessen erhielten meine Pläne aber gleich eine überraschende Förderung. Ein Baurat Scherer aus Idstein im Taunus war über die Funde 331

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bei Ploc und Kutno unterrichtet und wollte am andern Morgen mit seinem Auto den Chausseebau nach dorthin inspizieren. Er lud mich ein mitzufahren und so meine Angelegenheit aufs einfachste zu erledigen. Am andern Morgen wurde ich mit Mütze und Fußsack wohlverpackt, wir frühstückten unterwegs in einem zerschossenen großen Polengehöft, fanden dann auch die Tafel des Leutnants Edeling: „Fundstelle eines alten Grabes", ohne weitere Reste zu entdecken, und erreichten stark in der Dunkelheit die alte polnische Königsstadt Ploö. Da stieg ich am andern Morgen hinauf zu der stolz auf einem Felsen über der Weichsel liegenden Kathedrale mit den Königsgräbern, bestaunte auf dem Flusse die riesige Pontonbrücke und fuhr mittags mit einer innen und außen übervoll besetzten Postkutsche nach Kutno. Unterwegs fielen mir mehrfach die breitschultrigen schwarzen Töpfe auf, die die Dorfkrämer in ihren Fenstern stehen hatten. Sie schienen mir noch ganz die Tradition der Mäandergefäße aus der Kaiserzeit fortAbb zusetzen. Dr. Kühtmann hat mir nachher ein Exemplar davon mitgebracht, das bilde ich hier ab (Abb. 31). In Kutno war das Unterkommen sehr polnisch; ohne einige Läuse kam man nicht davon. Ich bekam hier aber die in Aussicht gestellten Funde, es waren einfache Latene-Töpfe, und konnte nun ans Ende denken. Über Warschau fuhr ich nach Mlawa zurück, um den dortigen Urnenfriedhof noch zu untersuchen. Am frühen Morgen des 23. Oktober kutschierte mich ein Soldat polnischer Nationalität bei 4° Kälte gegen schneidenden Ostwind hinaus zu den Schützengräben beim Bahnhof von Stupsk, wo die Funde gemacht waren. Wir fanden alles wie angegeben, kratzten ein paar Stunden an den Wänden der Gräben, erbeuteten mehrere große Mäanderurnen und waren mit ihnen zum Mittagessen im Kasino zurück. Nun sah man dort das Unternehmen doch in einem günstigeren Lichte. Der Arzt interessierte sich lebhaft für den Inhalt der Urnen. Nach Tisch wurden aus einer die sämtlichen Knochenrestc herausgelesen und zu einem Leichenbild zusammengelegt. So etwas hatte man in der öden Gegend nicht erwartet. Beflissen half man mir, alles zu verpacken, und schon nachmittags konnte ich abfahren, um über Königsberg, wo ich noch mit Professor Bezzenbergcr konferierte, heimzugelangen. Poinischer

Topf. 1:6

Im folgenden Jahre, 1916, bin ich wieder in Polen gewesen, und zwar noch im Dezember, von vornherein mit einem schwiegerväterlichen Pelze ausgerüstet. Bei Nowo Minsk, 40 km östlich von Warschau, handelte sichs um Urnengräber mit kleinen Metallbeigaben, die aber ganz unsern ostdeutschen Latene-Gräbern entsprachen, und in Warschau, wo ich wieder ein paar 332

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Tage verweilte, wollte man zu einer Serie von Bändchen über Polen: Geologie, Geographie, Landwirtschaft, Geschichte usw. auch eine Vorgeschichte haben. Penck, der sich ganz dort niedergelassen hatte, trug sie mir an. Ich lehnte aber ohne Besinnen ab. Ich hätte den ganzen Winter dort bleiben müssen und sah doch nicht, daß ich etwas erheblich Neues zu Papier bringen würde: der ganze Lauf der Entwicklung, von der Bandkeramik an über die Lausitzer Kultur, Latene- und römische Zeit, ging pari passu mit Ostdeutschland. Ich empfahl daher, einen der jungen ostdeutschen Vorgeschichtler zu wählen, der eigentlich nur ein großes Inventar zu machen brauche. Erst nach dem Kriege ist dann von dem neuen Posener Museumsdirektor Kostrzewski das Büchlein geschrieben worden, aber nun ganz durch die polnische Brille gesehen: von Anfang her ist Polen der Herd der Kultur gewesen, und die Polen haben auch ganz Ostdeutschland beherrscht. Der Krieg ging anders aus, als man 1916 dachte. Ich erlebte damals in Warschau unsre Proklamierung Polens zu einem Königreich und das allgemeine Friedensangebot des Kaisers. Die Gespräche in den Kasinos behandelten die Thesen: 1. Wir brauchen das Territorium und die Armee der eroberten Länder, folglich ist allgemeine Wehrpflicht und eine Militärkonvention nötig. 2. Wir wollen aber nicht die Wallonen, Polen und Juden im deutschen Reichstage haben, folglich müssen Belgien und Polen besondere Königreiche sein. 3. Damit sie nicht Gesetze machen, die den Deutschen den Grunderwerb in ihrem Lande verbieten und sie auch sonst als Ausländer behandeln, muß neben die Militärkonvention ein Staatsvertrag treten, nach dem allen Angehörigen des Deutschen Reiches gleiche Rechte mit den Einwohnern Belgiens und Polens zustehen, es muß gleiches Gerichtswesen, Münzwesen, Zollwesen usw. herrschen. „Was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe, Die der Mensch, der flüchtige Sohn der Stunde, Aufbaut auf dem beweglichen Grunde!" D O B R U D S C H A 1917 In Rumänien war der alte, mit Deutschland verbündete König Carol 1916 gestorben, und sein treuer Minister Demeter - Sturdza war ihm sehr rasch gefolgt. Der Neffe Ferdinand hatte den Thron bestiegen, seine Schwäche war mir schon 1885 bei den Bibescos geschildert worden. Nach wenigen Monaten erklärte er uns den Krieg. Als dann aber noch im November unsre Truppen den Schurduk-Paß durchbrochen und den Jiu hinaufstürmend Craiova eingenommen hatten, und dann binnen kurzem die ganze Walachei und die halbe Moldau in unsrer Hand war, wurde meine alte 333

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Liebe für Rumänien wieder lebendig, lind ich fieberte danach, nun endlich an den „Traj ans wällen" auch zu graben und daneben weitere Fundplätze der so vielsagenden bemalten Steinzeit-Keramik zu erforschen. Hubert Schmidt hatte uns von Cucuteni bei Jassy eine stattliche Ausbeute an Gefäßen, Idolen und frühesten Metallwerkzeugen ins Museum gebracht; jetzt hatte er einen neuen Ausgrabungsplatz, die Burg Monteoru bei Buzau in Arbeit, und ich wollte ihn dort besuchen. Paul Träger rüstete sich, im Dienste des Auslanddeutschtums die deutschen Kolonien in der Dobrudscha zu bereisen. Ich beschwor ihn, dort überall auf Scherben der „bemalten Keramik" zu fahnden, und er brachte im Frühling 1917 denn auch vielversprechende von Cernavoda am Donauende der Trajanswälle. Auch Leo Frobenius stellte sich meinen Plänen zur Verfügung. Er wollte die etwa 1000 indischen Gefangenen, die er in Berlin betreut hatte, vor dem schweren deutschen Winter bewahren und sie deshalb nach der Walachei überführen. Maraseschti, in der Mitte der Bahnstrecke Bukarest-Cernavoda war dafür ins Auge gefaßt. Dorthin sind denn auch die beiden AkademieMitglieder Heinrich Lüders und Wilhelm Schulze, der Sanskritist und der Indogermanist, ihnen gefolgt. Sie wollten die Gelegenheit sich nicht entgleiten lassen, die Vertreter der verschiedenen Stämme, besonders aus dem unzugänglichen Lande Nepal, ausgiebig zu verhören. Ich konnte sie mit Kartenmaterial und allerhand guten Ratschlägen, besonders inbezug auf warme Kleidung, unterstützen. Die Hoffnungen von Frobenius auf ein mildes Klima waren zu rosig gestellt und sind denn auch bitter enttäuscht worden. Dr. Träger brachte mir bei seiner Rückkunft nicht bloß Tonscherben, sondern auch schon die lebhafte Zustimmung des Dobrudscha-Kommandos Constanza zu meinem Hinkommen. Im Frühling 1917 konnte ich in Berlin den Adjutanten des Kommandierenden Generals Hauptmann Ott (in Zivil Assessor im Rheinlande) sprechen und für den Herbst meine Reise, die ich die ganze Donau hinunter machen wollte, sowie einen 2—3 monatlichen Aufenthalt in Constanza und Cernavoda mit ihm verabreden. Für die Trajanswälle entwarf ich als Unterlage für die neue Arbeit nach meinen früheren Aufnahmen von 1884 und 1898 ein 40 x 80 cm großes Kartenblatt (1 : 75000) und begab mich Ende August auf die Reise. Sie begann mit dem reinen Naturgenuß der herrlichen Strecke Passau—Linz. Nur vier Nachmittagsstunden dauert sie, aber man erhält wohl die wildeste Romantik, die Deutschland zu bieten hat. Der Fluß macht große Schlingen, er bricht durch mächtige Felspartien, oft ist kein Weg und Steg am Ufer, der Strom ist zuweilen so reißend, daß ich sah, wie ein einfaches Boot von vier Männern stromauf gezogen werden mußte. Überall mächtige Wälder, spärlich nur hier und da eine alte Burg. 334

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In Linz mußte übernachtet werden, bei Nacht fahren die Schiffe in diesem Stromteile nicht. Aber im „Erzherzog Karl" gab es noch Fleisch in Fülle ohne Karte, Brot mußte jeder Einheimische mitbringen, der Fremde bekam es auf Karte. Am andern Morgen (31. August) gings von Linz nach Wien, die „Nibelungenstrecke". Zunächst sanfte Ufer, vielfach weite Becken; erst von Grein an bergiger. Mit Weiteneck begegnet die erste mittelalterliche Burg. Bei Pöchlarn ist keine zu sehen, es liegt in großer Ausweitung: der alte Rüdiger von Bechelaren muß ein stattlicher Grundherr gewesen sein. Dann kommt die liebliche Wachau, die berühmte Weingegend. Das Städtchen Willendorf, das wir zur Linken grüßen, ist jetzt auch archäologisch berühmt durch den Fund der paläolithischen „Venus". Zur Rechten üegt das mächtige Barockkloster Melk, auf steilem Block springt der Aggstein vor. Zur Linken erinnert der Dürnstein an Richard Löwenherz. Dann wird es breit und flach; in ruhigen Abendtönen nähern wir uns Wien. Ich bleibe in der Nähe des Ufers in einem kleinen Hotel und bekomme zum Abendessen das stopfige „Ritset" (gespr. Ritschet): Graupen und weiße Bohnen zusammengekocht, für 63 Pfennig. Am andern Morgen (1. September) Uhr gehts weiter, zunächst durch flaches Land; von Deutsch-Altenburg an wirds gebirgig. Mit der Hainburg und Deveny kommen mittelalterliche Befestigungen. Nun auch schon die ungarische Flagge; wir passieren Preßburg (Poszony) mit großer quadratischer Zitadelle. Mehrere Schleppzüge begegnen uns mit rumänischem Getreide, — hoffentlich reichts bis nach Berlin! Höchst imposant ist Gran (Estergom) mit seinem hochkuppligen Dom inmitten einer mittelalterlichen Burg. So möchte man sich Lohengrins Montserrat vorstellen! Es wird Abend, die muntere Familie eines Wiener Ministerialrats, mit der ich zusammengesessen hatte, ist ausgestiegen, man kann nicht mehr lesen und wartet ungeduldig auf Budapest, das wir schließlich mit zwei Stunden Verspätung um 10 Uhr erreichen. Das Ufer beherrscht mit tausend funkelnden Lichtern die schöne Silhouette des Parlamentsgebäudes, gegenüber führt eine erleuchtete Zickzackstraße auf die Burg Ofen. Ein Schiff hat zum Weiterfahren schon auf uns gewartet, ein stattlicher, ganz neuer Dampfer. An Deck ist eine johlende Volksmenge versammelt, die offenbar von einer Festlichkeit in der Hauptstadt kommt. Auf meinen Regierungspaß hin bekomme ich eine Luxuskabine, in der drei Betten stehen, für mich allein; auch Weißbrot mit Käse und Bier wird noch geliefert. Um 11 Uhr gehe ich zu Bett und schlafe herrlich bis 8 Uhr morgens. Zum Frühstück gibts ganz friedensmäßig Kaffee mit Milch und zwei Eier. Als ich an Deck komme, zeigt sich, daß der Fluß ganz langweilig geworden ist; zwischen flachen Lößufern geht er breit und langsam dahin. Merkwürdige Mühlen 335

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liegen in ihm: ein mächtiges Rad von 5 m Durchmesser hängt zwischen zwei Booten und wird vom Flusse getrieben. In Mohais (10 y2 h) nehmen wir neuen Kohlenvorrat, was mehrere Stunden dauert, da er in Schubkarren an Deck gefahren wird. Das westliche Ufer wird jetzt höher und zeigt Weinbau. Um 4,20 Uhr passieren wir das DrauEck (Aljmas), um 5,20 Uhr bei Gombos eine große Brücke, wohl die erste seit Budapest; sie hat sechs Bogen auf Steinpfeilern. Die Anzeichen deutscher Bewohner treten auf: zwei Mühlen tragen die Namen Steiner und Schwend: wir haben Slawonien erreicht. Weiterhin haben ein paar ihre deutschen Namen ungarisiert: Elter Janos, Szeidl Joszef. In Vukovar, dem Hauptort dieses Gebietes, wollte ich meine Reise auf zwei Tage (3. u. 4. September) unterbrechen. Da wohnte ein Mitglied unsrer Anthropologischen Gesellschaft, das schon Dr. Träger bei seinen hiesigen Studien wertvolle Dienste geleistet hatte, der Holzhändler Stubenvoll. Von hier stammte die auffallende steinzeitliche Tiefstichkeramik, die wir Träger verdanken. Er hatte sie an zwei Stellen gefunden, am hohen Donauufer des Vucedol und dem hohen Save-Ufer bei Drava Szarvas. Ich wurde von unserm Vereinsfreunde aufs beste aufgenommen und von ihm zunächst nach dem Vucedol verwiesen, wo der „Streimsche Weinberg" seiner Nichten, der beiden Fräulein Streim, den Schlüsselpunkt der merkwürdigen Funde bilden sollte. Ich pilgerte also gleich am andern Morgen dorthinauf und traf die beiden Damen persönlich an. Die eine war Konzertsängerin in Wien, die andere Professorin der Musik in Agram. Ich sah alsbald, daß der Weinberg, beiderseits von einer Schlucht begrenzt, eine alte Volksburg gewesen war, und nahm das Gelände auf. An der Oberfläche fanden sich nur sehr wenige Scherben, die alte Kulturschicht mußte tiefer liegen, die starken Abstürze am Donaurande hatten sie aber angegriffen, so daß ich dort nachher eine Menge fand. Im Weinberg hausten die beiden Besitzerinnen in einem Sommerhauschen und baten mich freundlich zu ihrem Mittagessen. Das Gericht, das sie gekocht hatten, nannte sich „Generalmarsch" und bestand aus Nockerln, Kartoffeln, Äpfeln und gebratenen Zwiebeln. Das Gespräch ging scharf ins Politische. Die Österreicherinnen wünschten lebhaft das Ende dieses alles zermürbenden Krieges und verlangten, wir sollten jetzt Frankreich ElsaßLothringen anbieten und Frieden schließen. Mir schien eine solche Zumutung unerhört, und wir fanden nicht zueinander. Am Nachmittag führte mich ein freundlicher alter Offizier in Vukovar noch in das Schloß der Grafen Eitz (von der Mosel), in dem es schöne Täfelungen und viele Porträts des 18. Jahrhunderts gab. Noch am Abend fuhr ich mit der Eisenbahn 3 Std. weit nach Drava Szarvas, fand auch da wieder deutsche Bewohner und als Fundstelle der 336

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Steinzeitkultur einen ganz ähnlichen burgartig anmutenden Weinberg, den „Herrschaftsberg", den ich in aller Morgenfrühe aufnahm. So war ich schon am Mittag des zweiten Tages in Vukovar zurück, aß bei Herrn Stubenvoll gefüllte Gurken, Paprikaschoten und Aubergines, streifte mit ihm noch an der Donau umher und stieg gegen Abend wieder auf ein donauabwärtsfahrendes Schiff. Das konnte mich aber nur bis Semlin bringen, Belgrad gegenüber; von da an war die Donau immer von feindlichen Gebieten, Serbien und Rumänien flankiert, und die deutsche Militärverwaltung hatte deshalb hier besondere Schiffe eingesetzt, für die man sich von ihr den Erlaubnisschein verschaffen mußte. Mein Dobrudscha-Protektor Ott hatte versprochen, mir das Nötige dafür vorzubereiten; als wir morgens %4 Uhr in Semlin ankamen, lag dort auch die nötige Anweisung telegraphisch vor, so daß ich gleich auf das neue Schiff gehen und schon um 4% Uhr weiterfahren konnte. Es war noch dunkel, aber starker Mondschein. Wir fuhren nach Belgrad hinein, man sah, wie die Feste total zerschossen war, zwei Schuppen hatte man errichtet für den Schiffsverkehr. Zurück gings und zuerst an einer vorgelagerten buschigen Insel, die den altberühmten Übergangspunkt erklärt, entlang. Die Sonne geht auf, und die Donau dampft stark. Ein Offizier borgt mir seine „Belgrader Zeitung", die erste, die ich seit Wien zu sehen bekomme. Sie meldet die Einnahme von Riga durch unsere Truppen. Endlich ein Fortschritt dort im Norden, wie ihn Hindenburg so lange ersehnt hat! Die Stimmung an Bord ist froh und hoffnungsvoll. Das hohe serbische Ufer bietet viel Abwechslung: Korn, Wein, Buschwald, Ortschaften aus lose hingestreuten weißen Häusern. Um 8 Uhr halten wir in Semendria bei einem schönen alten Fort. Man kann Trauben kaufen. Deutsche Offiziere kommen mit einem Motorboot, um rasch ein paar Verwaltungswünsche auszutauschen, machen ein paar Scherze und stoßen wieder ab. Eine Wienerin, die sie gehört hat, sagt zu ihrem Mann: „Was für eine Sprache, man versteht sie fast nicht!" Von Drenkova an ( 1 'A h) fahren wir durch wildes Waldgebirge, nur selten erscheinen ein paar Häuschen, zuweilen liegen Felsklötze mitten im Fahrwasser. Um 4 y4 öffnet sich ein weites Becken, aber von 5,35—5,50 folgt eine unheimliche Felsenge, links ist ein Fahrweg teils in den Felsen gehauen, teils durch Untermauerung gestützt, rechts ein verfallener Felspfad. Nach weiteren fünf Minuten folgt wieder eine Felsenge; das Schiff, ein alter Raddampfer, geht mit ganz langsamen Radschlägen. 6,15 kommen wir an der „Tabula Traiana" vorbei, die den hier erfolgten steinernen Brückenbau des Kaisers verkündet. Dicht vor Orsova stößt der Dampfer an ein Felsriff und bricht das Steuer. Langsam läßt das Schiff sich treiben und tastet sich mühsam in den Hafen. Aber Sorge darf nicht aufkommen: von Semlin ab 22

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sind 17 Primaner und Sekundaner mit einem Lehrer an Bord. Als wir Orsovas ansichtig werden, singen sie die „Wacht am Rhein", „Heil dir im Siegerkranz" und „Gott erhalte Franz den Kaiser", und ein schöner Tenor gibt noch „die letzte Rose" zu. Unser havariertes Schiff hatte mit Orsova gerade noch sein Ziel erreicht. Das für die Weiterfahrt bestimmte lag schon in einiger Entfernung am Quai bereit. Da es schon um 5 Uhr morgens abgehen sollte, war ich beflissen, meine beiden schweren „Harmonika-Koffer" gleich hinzutragen — „selbst ist der Mann", hieß es in der Kriegszeit! — und nicht erst ins Hotel mitzunehmen. Es wurde auch angenommen; am liebsten hätte ich gleich selbst auf dem neuen Schiff übernachtet, aber das war leider nicht gestattet. Leider, denn als ich nun ins Hotel kam, war es schon voll und übervoll besetzt. Alle Bitten und Vorschläge führten als Äußerstes nur zu einem Lehnstuhl auf dem oberen Korridor. So hab ich denn meinen Aufenthalt in der Wirtsstube ausgedehnt, bis alle Lichter gelöscht wurden, und die restlichen Stunden auf dem Korridorstuhle verbracht. Um 4 Uhr ging ich zum Schiff und erfuhr hier zu meinem Trost, daß das nun in dem von jetzt an ruhigen Fahrwasser Tag und Nacht durchfahren und mich somit ganz an meinen Bestimmungsort Cernavoda bringen werde. Pünktlich um 5 Uhr geht es ab. Zu sehen gibt es jetzt wenig mehr. Amüsant ist gleich hinter Orsova Ada Kaleh, die noch von Türken autonom bewohnte Insel, von der auch einige Bewohner an Bord kommen und mit ihrer Tracht und Sprache Aufsehen erregen. Um 5% Uhr gibt es Kaffee und zwei Eier für bloße 1,20 RM. Mein Schiff ist das schönste, das ich bisher gehabt habe, hat erst vor zwei Monaten die Werft verlassen, heißt „Karl IV.". Gegen 6 Uhr schöner Sonnenaufgang. 6,20 Uhr links Turn Severin, sauber auf einem Hügel hingestreckt. Wohl 50 Getreide-Kähne mit einem Dutzend Schleppern fahren vorüber. Gleich darauf zwei flache Inseln und wieder 8—10 Getreidekähne. Dann steigt das rumänische Ufer zu einer ähnlichen Lößwand auf wie bei Vukovar, aber nicht so hoch und nur für eine kurze Strecke. Der Fluß wird zuweilen unendlich breit, bildet Sümpfe auf der rumänischen Seite, an der bulgarischen sieht man wieder mehrfach Schiffsmühlen. 8,45 Uhr Kladowa, 10 Prahova, 12,15 Kalafat. Nach dem Essen hab ich von 1—4 Uhr in meinem Bette herrlich geschlafen. Um 2,20 Uhr hörte ich Widdin ausrufen, 4,10 Lom Palanka mit zwei Minarets. Von Widdin bis hier sind viele Bulgaren mitgefahren: Soldaten mit einem Musikkorps, ein paar Pagen, auch einige Damen. In Lom Palanka steigen gegen hundert Menschen aus und ein. Breitschädlig und breitschultrig ist diese bulgarische Rasse in starkem Gegensatz zu den schlanken Österreichern, die so sehr auf Taille halten. In Lom Palanka wird ein neuer Quai gebaut für mehrere Bahngleise. Die Front aus cyklopischem Mauer338

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werk ist halb hochgebracht, jetzt wird Sand für die Hinterschüttung herangefahren. Um 5,10 Uhr gehts von Lom Palanka ab. 8 h Rahova, 101/2 Corobia. Am andern Morgen (7. September) 6,50 Rustschuk, die drittgrößte Stadt Bulgariens. Hier kommt die Eisenbahn Bukarest—Varna von Giurgiu (Dschurdschu) auf einer Brücke herüber. Nach einstündigem Aufenthalt in Rustschuk legen wir dann auch drüben in Giurgiu an. Da zeigen die Nationalgebäude viele Kugelspuren vom Übergange der Bulgaren im November des vorigen Jahres. 11 h rechtsseitig Tutrukan, bulgarische Festung, im Halbbogen gebaut wie ein griechisches Theater. Ein bulgarischer General kommt an Bord, begrüßt die bulgarischen Offiziere, die ihm kurze Meldung erstatten. Die Ovationen des Publikums scheinen hauptsächlich einem Zivilisten in gelbem Jäckchen zu gelten. Am Nachmittag lernte ich auf dem Schiffe schon einen der deutschen Offiziere von Constanza kennen, der von meiner bevorstehenden Ankunft unterrichtet war und mich von nun an in seine Obhut nahm. Es war der Verpflegungsoffizier des Stabes, Feldintendant Presting, der von mehrwöchigem Urlaub in der Heimat kam. Als wir gegen 6 Uhr glücklich in Cernavoda ausstiegen, bewährte er sofort sein militärisches Amt, indem er uns ein treffliches Abendessen besorgte, und von 8—10 Uhr sind wir dann in stockdunklem Eisenbahnzuge miteinander nach Constanza gefahren. Beim Stabe der Dobrudscha-Armee bin ich dann viele Wochen lang sehr gut aufgehoben gewesen. Er hatte sich in dem Schlößchen einquartiert, das von König Carol gleich nördlich vom Hafen am Seeufer erbaut war. Darin bekam ich zwei schöne Zimmer mit der Aussicht auf das weite, immer bewegte Meer. Jeden Morgen um 8 Uhr stand ein Einspänner vor der Tür, um mich zu näheren und dann immer entfernteren Punkten der Wälle hinauszufahren. Er kehrte dann zurück, während ich zu Fuße meine Begehungen machte und gegen Abend von irgendeiner Bahnstation nach Hause fuhr. So vervollständigte und sicherte ich zunächst meine kartographische Darstellung der Wallinien. Dann grub ich auch in ein paar Lagern des Großen Erdwalls und des Steinwalls. Dabei wurde ich insofern enttäuscht, als sich von der inneren Einteilung und Bebauung gar nichts erkennen ließ: der fette schwarze Boden dieses Landes verrät den etwaigen Einsatz eines Pfostens weder durch Farbe noch durch Lockerheit. Es ließ sich nur sagen, daß nicht in Stein gebaut war und man wahrscheinlich in Zelten gehaust hat. Aber die keramischen Funde brachten doch eine Datierung: die Lager des Großen Erdwalls lieferten flavische terra sigillata und die des Steinwalls eine grobe grau- oder schwarzbraune mit geritzten Reifen und Wellenlinien aus Konstantinischer oder noch etwas späterer Zeit. Auf Grund dieser Ergebnisse 339

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habe ich dann die „Trajanswälle" in einem Heft der Berliner AkademieAbhandlungen (1918, Nr. 12) mit großer Karte und Plänen der einzelnen Lager neu publiziert. Die Geländearbeit dafür hatte die Zeit vom 8. September bis 20. Oktober in Anspruch genommen. Sie war unterbrochen durch einen dreitägigen Aufenthalt in Cernavoda, der durch ein denkwürdiges Ereignis veranlaßt war. Der Kaiser sollte auf einer Donaufahrt am 21. September in Cernavoda eintreffen, dort von den Truppen begrüßt werden und dann über die Brücke mit der Eisenbahn nach Bukarest fahren. Bei seinem großen archäologischen Interesse wollte man ihm auch einen Blick auf die Wälle verschaffen, und dafür war ungemein geeignet eine Höhe südöstlich über Cernavoda, von der sich die Wallinien mit verschiedenen Lagern weithin überschauen ließen. Ich sollte also dort oben den Kaiser erwarten und erhielt einen Trupp von Arbeitern, um den Hinaufweg rasch noch für eine Autofahrt von seinen schlimmsten Löchern zu befreien. Das war in zwei Tagen notdürftig geschehen, und ich saß nun oben und schaute abwechselnd nach dem erwarteten Schilf und dem erwarteten Auto aus. Aber Stunde um Stunde verrann, und kein Schiff und kein Auto kam heran. Als es so dämmerig wurde, daß die Wälle kaum mehr zu erkennen waren, gab ich seufzend meinen Posten auf und stieg hinunter. Unten auf der großen Fahrstraße begegnete mir schon das Auto mit dem General v. Unger, dem Stabschef van den Bergh und dem Adjutanten Ott, die nach Constanza zurückfahren wollten. Sie berichteten kurz, das kaiserliche Schiff sei sehr verspätet gekommen und habe gar nicht mehr in Cernavoda, sondern gleich drüben angelegt, wo schon der Sonderzug für Bukarest bereit gestanden habe. Die Herren wollten mich mitnehmen nach Constanza, aber ich hatte alle meine Sachen in Cernavoda und mußte deshalb noch dort übernachten. Abends im Offizierskreise war die Stimmung zuerst flau, ging dann aber in humorvolle Betrachtungen über, und ich erhielt die eigenartige Aufklärung über das Ereignis. Der Kaiser, hieß es, habe während der Fahrt erfahren, daß der König von Bulgarien ihn in Cernavoda erwarte, um erneut seine Ansprüche auf die Dobrudscha geltend zu machen. Dem wollte der Kaiser ausweichen und hatte deshalb befohlen, möglichst langsam zu fahren, um dann bei Dunkelwerden gleich am linken Donauufer zu landen und sich in den Zug zu setzen. So wars also geschehen. Aber auch der König hatte achtgegeben: als er die geänderte Landeabsicht erkannte, war er rasch über die große Brücke gefahren und hatte sich mit in den Sonderzug gesetzt. Man malte sich aus, wie schön die beiden hohen Herren sich nun miteinander unterhalten haben würden. Anfang Oktober kam Dr. Träger, um mir bei den Ausgrabungen zu helfen und auch einige seiner deutschen Kolonien noch näher kennen zu lernen. 340

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Mit ihm zusammen hab ich besonders die Untersuchung von zweien der großen Grabhügel durchgeführt, die für unsre Militärverwaltung zu einer lästigen Frage geführt hatten. Es war beabsichtigt, ein paar besonders stattliche und malerisch gelegene für deutsche „Soldatenfriedhöfe" einzurichten. Dem stand im Wege die Behauptung, die Hügel seien schon Gräber, und man werde das Volksgefühl verletzen, wenn man die Ruhe der Bestatteten störe. Der Feldmarschall v. Mackensen, der als Oberstkommandierender in Rumänien kürzlich die Dobrudscha besucht hatte, war auch um seine Meinung gefragt worden und hatte orakelt, die Hügel seien Erdblasen, durch aufsteigende Gase hervorgerufen. Das hatte ermutigt. Mit Begeisterung trat für die Umwandlung ein der Bildhauer Ernst Gorsemann, dem die Fürsorge für unsre Soldatenfriedhöfe übertragen war, und man wünschte nun dringend das archäologische Urteil zu hören. Ich konnte mich Mackensens Auffassung nicht anschließen und nur schildern, wie in Deutschland die Ausgrabung solcher Hügel immer ein altes Hauptgrab in der Mitte, flach in den Boden eingetieft und oft noch mehrere Nachbestattungen weiter oben ergeben hätten. In Makedonien und Thessalien (Sesklo und Dimini) seien ganz große Hügel als Wohnstellen der ausgehenden Steinzeit erkannt worden. Was von den hiesigen zu halten sei, müsse man erst selbst ergraben, und ich sei bereit das zu tun. So haben wir unter allgemeiner Spannung einen recht großen und einen kleineren Hügel geöflnet. Beim ersten ließ sich ziemlich in der Mitte 1,70 m unter der Hügelkrone eine rechteckige Fläche lockeren Bodens von 2,13 : 1,65 m erkennen. Auf der gingen wir hinunter, langsam, da hier nur zwei Arbeiter graben konnten. Bei 2% m Tiefe (unter der Bodenfläche) fanden sich zwei Scherben, etwa der Zeit Alexanders d. Gr. Bei 4 m Tiefe, erklärte der Arbeiter, — es konnte jetzt nur einer unten arbeiten — er sei auf einen Schädel gestoßen. Er weigerte sich ihn anzurühren und überhaupt dort weiterzuarbeiten, — „am friggu", sagte er, „ich habe Furcht". Dr. Träger stieg hinunter und brachte die Kalotte heraus. Beim Abwaschen des fetten schwarzen Lehms ergab sich, daß es — eine Schildkröte war. Am folgenden Morgen wollte keiner der Arbeiter sich mehr in die Grube wagen. Wir haben selbst der eine unten weitergekratzt und der andere den Boden in einer Strohtasche heraufgezogen. Bei 4,30 m unter der flachen Erde, 6 m unter der Hügeloberfläche, kam dann endlich der Boden der Grube als ganz festes gewachsenes Erdreich. Und hier lag als einziger Rest der Bestattung noch der halbe Schädel, ohne irgendwelche Beigabe. Bei dem zweiten, kleineren Hügel war auf der alten Bodenfläche ebenfalls eine Eintiefung zu erkennen: ein Oval von 1,10 : 0,55 m, und schon in 0,20 m Tiefe lagen die deutlichen Reste einer Kindsleiche: Schädel, Rippen, Beinknochen. Darüber waren in 5 cm Abstand voneinander zwei Schichten 341

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roten Ockers jede % cm dick, ausgebreitet. Der Schädel besonders war ganz rot gefärbt. Der alte, im Süden so weit verbreitete Glaube, wie er in Schillers Nadowessiers Totenklage sich ausspricht: Farben auch, den Leib zu malen, Steckt ihm in die Hand, Daß er rötlich möge strahlen In der Seelen Land! Die Grabung hatte also ergeben, daß die Leiche zuweilen ganz außerordentlich tief liegt, auf jeden Fall im gewachsenen Boden, und daß keinerlei Nachbestattungen im Hügelaufwurf zu erwarten sind. Herr Gorsemann bekam damit freie Bahn und hat sich dann bei der neuen Einrichtung mit künstlerischem Geschmack betätigt. Das Leben bei diesem Armeestab war dem königlichen Schlosse und dem reichen Agrar- und Weinlande Rumänien entsprechend noch beinahe friedensmäßig. Des Morgens bekam man aus der Küche ein gutes Frühstück und eine Flasche Wein mit auf den Weg. Gegen Abend, wenn ich nach Hause kam, genoß ich das Meer noch an der hohen Uferpromenade, aber rasch fiel dann tiefe Dunkelheit ein, und man ging nach Hause zum gemeinsamen Abendessen an langer Tafel. Die Gesellschaft bestand außer dem General Fritz von Unger und dem Chef des Stabes van den Bergh aus lauter Reserveoffizieren, meist von der Reiterei. Ein Rittmeister Cuntze, im Zivil Landrat in Hattingen-Westfalen, stammte aus Arolsen und war verwandt mit meiner Frau. Er und der Adjutant Ott standen uns am nächsten. Ott lud an seinem Geburtstage ein paar Kameraden nebst Träger und mir zum Gänseessen ein. Die fetten Vögel hatte er von Cotzgun in der Nähe von Adam Klissi bezogen, und der Wein war die erste Probe von der ausgezeichneten neuen Sorte, die der Verpflegungsoffizier soeben von einer Einkaufsreise aus Buzeu an den Karpathen mitgebracht hatte. Ein köstlicher Sekt folgte darauf und hielt uns bis 4 Uhr beisammen. Und das alles war so bekömmlich, daß Träger und ich an dem heraufdämmernden Sonntag Morgen schon um 6 Uhr mit dem nur für diesen Tag bewilligten Auto am Meere entlang weit nach Norden fuhren, um dort einige von den Rumänen gemachte Ausgrabungen zu besichtigen. Besonders erfreulich war auch, daß man in Constanza in den Kramläden und auf dem Markte vielerlei Nahrungsmittel kaufen und sie in fabrikmäßig hergestellten 5 und 10 Kilokistchen nach Hause schicken konnte. Die Preise waren allerdings erheblich. Der rumänische Franken, nach seinem Löwenwappen Leu genannt, galt immer noch 60 Pfennige. So hab ich gelegentlich gekauft: 14 Kilo Bohnen á 1,20 Lei, 814 kilo Mehl ä 2,30 L., 8 Kilo Weizen342

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mehl á 3,40 L., 2,3 Kilo Schmalz ä 2,40 L., 5 Liter Rüböl ä 3,35 L., 6 Stück bulgarischer Seife ä 2,80 L. 1 l/z Kilo türkischer Seife á 20 L. Für die Grabungsarbeit waren uns 15 rumänische Gefangene zur Verfügung gestellt unter Aufsicht eines deutschen Gefreiten. Sie erhielten keinen Lohn und wurden von ihrem Lager aus verpflegt. Die Arbeit kostete uns somit gar nichts, wir durften den Leuten nur allsonnabendlich ein Päckchen Tabak schenken. Es waren gutmütige, willige Kerle, wie die rumänischen Bauern sind, und ich hatte es besonders leicht mit ihnen, da ich zu ihrem Staunen rumänisch sprach. Der Gefreite war ein Schlachtermeister aus Ilsenburg am Harz, der die Graberei zwar eigentlich für spleenig hielt, aber doch schmunzelnd zusah. Dr. Träger hatte mit seinem ethnologischen Blick unter den Leuten alsbald einen Zigeuner erkannt, und zwar an seinem „indischen Typus", wie er sagte, denn die dortigen Zigeuner sollten aus Indien stammen. Der Mann bekannte sich denn auch als solcher und ließ sich willig photographieren. Diese Studien erhielten nachher in Cernavoda noch neue Nahrung durch eine Mutter mit ihrer Tochter, die in einer Gastwirtschaft musizierten. Auch diese wußte Träger zu überreden, sich eines Morgens in der Stille photographieren zu lassen, wogegen sie einen schwer zu überwindenden Aberglauben haben. Dabei mußte freilich ein guter Geldschein mithelfen. Mitte Oktober hatten wir unsre Arbeiten bei Constanza erledigt und siedelten nun nach Cernavoda über, um die von Träger am hohen Donauufer festgestellte Steinzeitsiedlung zu untersuchen. Da kamen wir in weit einfachere Verhältnisse. Die Gegend war von sächsischem Landsturm besetzt. Das Kommando hatte ein Oberstleutnant Eydam aus Dresden. Neben ihm sah man im Casino, einem einfachen bürgerlichen Wohnhause, lauter Reserveoffiziere, in Zivil Kaufleute und Techniker. Verpflegungsoffizier war ein Gutsbesitzer v. Posern aus der Gegend von Freiberg. Wir erhielten zum Quartier ein ganz kleines, nur drei Zimmer umfassendes Häuschen in der Nachbarschaft. Der Hauptmann Ott hatte wohl vorausgesehen, daß ein mehrwöchiger, ganz unmilitärischer Besuch, wie der unsere, der pedantischen Bedächtigkeit von Cernavoda nicht sehr willkommen sein würde, und hatte deshalb schon bei dem mißglückten Kaiserempfang dem Oberstleutnant die Sache schmackhaft zu machen gesucht. Ein offizielles Schreiben mit lebhafter Empfehlung war dann noch nachgefolgt. So wurden wir kühl und zurückhaltend, aber doch sehr ordentlich aufgenommen. Die Landsmannschaft von Träger, der ein Fabrikantensohn aus Freiberg war, wirkte sehr günstig, und mit dem Adjutanten Heinrichs und dem Herrn v. Posern standen wir alsbald auf bestem Fuße. Aber der Kommandierende fand nicht aus seiner Haut. Als 343

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ihm einmal mitgeteilt war, daß von unserer Grabungshöhe ein paar Erdklumpen auf die unten vorbeiziehende Fahrstraße gefallen seien, bekam ich ein ganz förmliches Schreiben mit der Aufforderung, sie beseitigen zu lassen, worauf ich dann folgenden Tages ebenso förmlich erwiderte, daß das geschehen sei und wiedervorkommenden Falles ebenso rasch geschehen werde. Inzwischen hatten wir zwei Mittage und einen Abend im Casino bei einandergesessen, ohne daß ein Wort über die Sache fiel! Einen Vergleich mit Constanza durfte man nicht ziehen. Im Amtsgebäude hing eine Tafel, auf der immer die neuen Kriegsereignisse bekannt gemacht werden sollten. Ende Oktober war der große österreichisch-deutsche Durchbrach durch die italienischen Linien erfolgt. T a g um T a g verging, ohne daß das Mindeste davon mitgeteilt wurde. Mit Mühe konnte ich den Oberstleutnant zur Bekanntgabe bewegen, er meinte, das interessiere die Leute ja doch nicht, und gab erst nach, als ich sagte, man müsse sie zum Interesse erziehen. Diese sächsischen Landstürmer waren allerdings flaue Burschen. Als damals der Kaiser erwartet wurde, war der General an dem aufgestellten Bataillon entlang gegangen und hatte einen Musketier gefragt: „Werdet ihr denn auch ordentlich schießen, wenn die Russen hier einbrechen?" — " N u , Herr General, so weit wird's ja hoffentlich nich gommen!" war die Antwort gewesen. In einem Geburtstagstoast hatte ein offenherziger Landstürmer einmal — zum Entsetzen der Offiziere! — vom Kommandierenden gesagt, er werde zwar „ D e r Dobrudschaschreck" genannt, aber im Grunde sei er ein garnicht so schlimmer Mann. Unsre Ausgrabung auf dem langgestreckten Hügel an der Donau, zwischen der Stadt und der Petroleumraffinerie, war über Erwarten erfolgreich, so daß der gute Oberstleutnant uns statt drei — vier Wochen behalten mußte. Wir fanden eine Reihe aneinander gereihter, rechteckiger Häuser, etwa 1 m in den Boden eingetieft. Sie waren aus Holz und Lehm gebaut und sämtlich verbrannt. So war nichts weggeschafft und besonders das Tongeschirr in Menge erhalten. Große Schüsseln herrschten vor, die offenbar an den Wänden gehangen hatten und bei deren Einsturz mitten in den Raum auf den Fußboden geklascht waren. Wir konnten die Scherben dort dicht beieinander auflesen und das betreffende Stück vollständig wieder zusammensetzen. Es war immer eine hübsche Sonntagnachmittagsarbeit, die Stücke aneinander zu probieren und das Zusammengehörige dann gleich geschlossen zu verpacken. Die Schüsseln und auch eine feine Gattung von Amphoren und Bechern waren in großem Volutenwerk rot, weiß und schwarz bemalt, in dem Stile, den wir schon aus Galizien, der Moldau und Bulgarien kannten. Es war der balkanische Ausläufer der Bandkeramik von Böhmen und Mähren her, entsprechend dem adriatischen, der von Illyrien nach Apulien und

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Sizilien gegangen war. Als deutliches Zeugnis des darin enthaltenen nordischen Einflusses fanden wir ein schönes dicknackiges Beil aus Feuerstein. Eine zweite Keramik, die sich spärlich mitfand, war unbemalt, naturfarbig braun und mit Flecht- oder Verschnürungsmustern verziert. Sie ist gleichzeitig mit der ersten, aber aus anderer, wohl einheimischer Wurzel. Als gegen den 20. November das Wetter kalt und regnerisch wurde, machten wir Schluß. Dr. Träger wollte noch in Constanza bleiben, um ein Buch über die deutschen Kolonien in der Dobrudscha fertig zu machen; ich begab mich auf die Heimreise, die ich aber noch zu vielfachen Besichtigungen benutzt habe. Dann bin ich mehrere Tage in Bukarest und kurz auch in Kronstadt, Schäßburg, Klausenburg und Budapest gewesen. In Bukarest traf ich Hubert Schmidt und Dr. Hofmann, die zusammen in Monteoru bei Buzeu gegraben hatten. Ich fuhr dort hinauf und sah mir die Burg und die Gräber an. Dr. Hofmann hatte außerdem in Bukarest die Reliefs von Adam Klissi mit den Germanen-Kriegern (Bastarnern) für Berlin abformen lassen. Sie sind uns heute sehr wertvoll, da die Kalkstein - Originale in Bukarest inzwischen sehr gelitten haben. In Bukarest suchte ich den alten Ingenieur Polonic (beim Domänen - Ministerium) auf, der Tocilescus sämtliche Ausgrabungen gemacht und, wie ich wußte, sich eine große Karte von allen aussichtsreichen vorgeschichtlichen Fundstellen Rumäniens angelegt hatte. Ich bat ihn, mir für ein gutes Honorar eine Liste derjenigen zusammenzustellen, an denen Lehmbau und somit wohl steinzeitliche Besiedlung zu erwarten sei. Er hat sie mir dann auch im folgenden Jahre geliefert. In Schäßburg konnte ich oben auf dem alten Burgberge, wo das Gymnasium liegt, unter Führung des Professors Serafim die reiche vorgeschichtliche Sammlung mit der wichtigen steinzeitlichen Wietenberg-Keramik studieren. Ich bin mit Serafim auch zum Wietenberge hinausgefahren, der eine prächtige Burg ist, und dachte daran, auf ihr später einmal zu graben. In Klausenburg belehrte mich in dem wohlgehaltenen Museum besonders Prof. Bela v. Posta sowohl über römische Grenzwallreste der Gegend wie über Steinzeitkulturen. In Budapest schließlich konnte ich selbst den Belehrenden spielen: man hatte soeben die nachgelassene Sammlung des Professors Torma erhalten und glaubte, daß da die rohe „slawische" Wellenlinien-Keramik versehentlich zwischen das spätrömische Material geraten sei. Es war aber ganz dieselbe, die ich vor wenigen Wochen in den Steinwall-Kastellen der Dobrudscha gefunden hatte! C R A I O V A 1918 Hubert Schmidt hatte auf seiner Heimreise in Craiova Station gemacht und dort in einem Edelmetall-Laden einen großen Silberfund festgestellt, der 345

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kürzlich in der Umgegend gemacht sein sollte. Nach den Photographien, die er mitbrachte, war es ein reiches Pferdegeschirr in dem amüsanten skythischen Tierstil des 4. Jahrhunderts v. Chr. Unsre Militärverwaltung hatte die Hand darauf gelegt, und durch Verhandlung mit dem die Stadtpolizei befehligenden Hauptmann Barnim Puchstein, einem Vetter unsres Archäologen Otto Puchstein, gelang es rasch, den Fund für das Berliner Museum zu erwerben. Natürlich hätte man nun gern auch den Fundort gewußt, um weiter aufzuklären, aber für den büeb es bei unsicheren Andeutungen. So beschloß ich bei meiner neuen Ausreise im Herbst 1918, Craiova einigen Aufenthalt zu widmen, zumal in den Papieren, die mir Polonic geschickt hatte, einhalb Dutzend Burgen und Siedlungen in der dortigen Umgegend empfohlen wurden. Ich hatte mich bemüht, Robert Koldewey als Arbeitskamerden mitzubekommen. Er war nach 18jähriger Ausgrabungstätigkeit in Babylon, als die Engländer im Herbst 1917 Bagdad eingenommen hatten, durch ein Auto unseres Generals v. d. Goltz noch in letzter Stunde vor der Gefangenschaft bewahrt worden und saß nun in Berlin, wie die Ente ohne Teich. Nichts konnte ihm erwünschter sein als eine Ausgrabung in ganz neuen Gefilden, zumal wenn Lehmbauten winkten. Aber seine Oberherren im Vorstand der Orientgesellschaft dachten anders. Sie wünschten, daß die großen Ergebnisse in Nebukadnezars Residenz nun auch in allen Einzelheiten publiziert würden. Das schöne Buch „Das wiedererstehende Babylon", das er ihnen auf Abschlag geliefert hatte, genügte nicht. So mußte er betrübten Herzens an seinem Zeichentisch in der Rubensstraße bleiben, wo er in den gegenüberliegenden Laubengärten die jungen Kirschbäume als werdende Palmen und die Spatzen als Nachtigallen anzusehen sich bemühte. Die erste Postkarte, die ich in Craiova von ihm erhielt, lautete: „Lieber Schuchhardt! Vielen Dank für Karte vom 27. September. Es ist doch merkwürdig, welcher Reiz für unsereinen in Lehmziegeln und verkohlten Hölzern ruht. Bei deinen Nachrichten empfinde ich fast wie Mignon: „Nach Rumänien, nach Rumänien Laß mich, zu den Dakschen Könien, Wo die stolze Burg sich hebt; Wo in stark verkohlten Räumen Neolithisch Ziegel träumen, Und der Doktor Schuchhardt gräbt." Derweilen sitze ich hier an meinem Fenster in der Rubensstraße und schaue nach Südosten, immer nach Südosten! Herzlichen Gruß und Schippe Heil! Dein alter Koldewey." 30. 9.1918. 346

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Derweilen hatte ich in Craiova schon bestens Fuß gefaßt. Aus dem Hotel Germania, das mich sehr an Plock und Kutno erinnerte, wurde ich durch den Hauptmann Puchstein herausgeholt und zum Etappenkommandanten Grafen Johannes v. d. Schulenburg geführt. Ich bekam ein schönes Zimmer im Casino der Etappenverwaltung, für das man das Bürgermeisterhaus in Beschlag genommen hatte. Das war wohl das stattlichste von den vielen stattlichen Häusern von Craiova. Die Stadt ist die Kornmetropole von Rumänien, und die vielen reichen Kornhändler wußten zu leben, der Bürgermeister allen voran; wie seine Kleiderschränke auswiesen, hatte er seine Garderobe stets aus Paris bezogen. Beim Herannahen der Deutschen war er geflohen, so daß sein Haus leer stand. Der Graf Schulenburg interessierte sich recht lebhaft für meine Pläne und bot mir alle Hilfe, sie durchzuführen. Schon am zweiten Tage fuhr ich mit ihm und dem Verpflegungsoffizier, einem Herrn von Blücher aus dem Warnowtale in Mecklenburg, nach den zunächst in Betracht kommenden Stättea im Norden von Craiova. Es ging das Jiu-Tal hinauf. Wir fanden leicht das weite Gebiet des Römerlagers Pelendava, wo Sigillatascherben und Ziegelstücke wimmelten, aber nichts mich besonders fesseln konnte. Dann galt es, die vorgeschichtliche Cetate Judovilor, die „Judenburg" zu finden, die Polonics Karte in einem nach links (gegen Westen) sich öffnenden Nebentale verzeichnete. Wir fuhren in das enge Tal hinein. Es war ganz menschenleer, aber alsbald kamen wir an eine Erweiterung, von drei Höhen umgeben, deren jede wohl eine primitive Burg getragen haben konnte. Wir gingen jeder auf eine davon hinauf. Blücher und ich kamen schon nach einer halben Stunde unten wieder zusammen und hatten nichts gefunden. Aber nach einiger Zeit sahen wir Schulenburg schwerschleppend, langsamen Schrittes herniedersteigen, und keuchend packte er dann aus: er hatte alle Taschen und die Arme voll von Brocken großer, halb verbrannter Lehmziegel. Er sprach von mehreren Wällen, die er oben gesehen hatte; es war klar, er hatte die Burg gefunden. Ich ging rasch hinauf und nahm im Abschreiten eine Planskizze auf. Es war ein ostwestlich gerichtetes langes, spitzes Dreieck, von 3 Wällen überquert; der vorderste und stärkste an der Basis im Westen enthielt die Ziegel. Das war ein gutes Ergebnis und bot fürs erste genug zu tun. Ich habe die Burg, die für gewöhnlich einfach Cetate genannt wurde, die „Schulenburg" getauft. Erstens hatte der Graf Schulenburg sie für uns gefunden, zweitens aber wurde sie durch die alte Bedeutung dieses Namens überraschend charakterisiert: „Schulen" ist plattdeutsch für „Schielen" „versteckt, im Hinterhalt liegen". Im Lübecker Reinecke Fuchs von 1498 heißt es Vers 2003 von Isegrim „he schulede under eineme bom". Schulenburg bezeichnet also ursprünglich eine im Hinterhalt liegende Burg, und das trifft für unsre Cetate 347

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ganz auffällig zu: Das Tal, in dem sie stark zurückgezogen liegt, mündet ganz eng zum Jiuflusse aus, so daß die Burg von der großen Straße aus garnicht zu sehen ist; sie selbst kann aber durch einen vorgeschobenen Posten die Straße ständig im Auge haben. Ich hatte, als mir Koldewey versagt war, zur Mithilfe bei den Grabungen einen Ägyptologen und Archäologen gewonnen, der, durch einen dummen Streich aus seiner eigentlichen Bahn geworfen, jetzt in Berlin im Schuldienst stand. Er hatte von seiner Behörde auch für 15. September bis 1. November Urlaub bekommen. Die Zeit bis zu seinem Eintreffen benutzte ich zunächst, um einem Hinweis auf den Fundort des Craiova-Silbers nachzugehen. In dem Dorfe, das man mir angegeben hatte, wollte aber niemand von einem solchen Funde etwas wissen. Die Sache ist auch bis heute unklar geblieben. Dann bin ich den Jiu weiter hinaufgefahren und habe noch ein paar andere Burgen festgestellt, die für Ausgrabungen in Betracht kamen, und ebenso ging ich südlich von Craiova nach Salcutza und Plopschoru. Als dann mein Kamerad kam, haben wir auf der „Schulenburg" den Spaten angesetzt. Wir wohnten dabei in dem Gutshause des großen Dorfes Cotzoteni, das gleich nördlich von dem kleinen Tale der Cetate an der Jiustraße liegt. Der Gutsbesitzer war, ebenso wie Craiovas Bürgermeister, geflohen. Das Gut verwaltete einsam, aber respektgebietend ein Unteroffizier Meyer, im Zivil Hofbesitzer in Rothenfelde bei Osnabrück. Der begrüßte unsre Gesellschaft natürlich als eine hochwillkommene Belebung seines Daseins und war eifrig bestrebt, unsern Aufenthalt durch immer neue Nachweise erforschungswerter Plätze zu verlängern. Unser Hauptobjekt in dieser Gegend ist aber die Schulenburg geblieben. Die Grabungen ergaben schon in den ersten Tagen, daß wir es garnicht mit einer steinzeitlichen, sondern mit einer dakischen Burg aus den letzten Jahrhunderten v. Chr. zu tun hatten. Zu der grauen, glatten und auf der Scheibe gedrehten Keramik dieser Zeit fand sich die Scherbe einer griechischen Vase mit der „Mantelfigur" eines Jünglings, die Freund Zahn mir nachher auf die Zeit um 420 v. Chr. bestimmte. Die Burg hatte aber offenbar bis in die römische Zeit bestanden, das ließ der Zustand des vordersten Walles annehmen. Der war keineswegs ganz oder unregelmäßig verbrannt, sondern von seiner Länge von 400 m war das nördliche Viertel verbrannt, das folgende Viertel nicht verbrannt, das dritte wieder verbrannt und das vierte wieder intakt. Das ist nicht das Bild einer zufälligen oder einer wilden durch den Angreifer herbeigeführten Verbrennung, sondern das einer absichtlichen, planmäßigen. Sie erklärt sich, wenn man bedenkt, daß Trajan nach seinem ersten Feldzuge, der durch die Eroberung der Hauptstadt Sarmizegethusa gekrönt war, den Dakern die Zerstörung aller ihrer Burgen auferlegt hatte. Wie sie das ausgeführt haben, können wir an diesem Walle 348

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sehen: sie haben ihn nicht in ganzer Länge angezündet, sondern in einzelnen abgemessenen Stücken. Ich habe nachher noch eine ganz ähnliche Burg in einem Nebentale des Jiu weiter aufwärts, 1 Std. westlich von Stoina, kennen gelernt. Da war die Bergzunge von zwei Wällen überquert und die ganze Fläche, heute Ackerfeld, mit Lehmbrocken übersät. Im übrigen haben wir gleich nördlich von unserm Stammdorfe Cotzofeni noch auf zwei Bergflächen, dem „Botu micu" und „Botu mare" (auch „Piscu lungu" genannt) gegraben und hier in der Tat steinzeitliche Scherben gefunden, aber nur spärlich und nicht von der bemalten Art, sondern in Tiefstich oder mit linsenförmigen Perlen („Linsenkeramik") verziert. Auf dem „Piscu lungu" war auch eine alte flache Umwallung stellenweise festzustellen. Die ersehnten Pfostenlöcher, durch die wir in Deutschland so verwöhnt waren, wollten sich nirgend zeigen, und allmählich erst wurde mir klar, warum wir sie auch nicht erwarten konnten. Der ganze Osten hat, wenn er Holz verwandte, nicht den Ständerbau, sondern den Blockbau geübt. So sind auf der Trajanssäule die Mauern der dakischen Burgen dargestellt, so hab ich später, als Max Ebert in Westpreußen (bei Elbing) grub, die Wälle der dortigen, gegen die Deutschordensritter verwandten Burgen kennen gelernt, so bauen noch heute die Spreewaldbauern ihre Häuser. Nach den mehrwöchigen Grabungen bei Cotzoteni sind wir dann noch fast ebensolange weit südlich von Craiova bei Salcutza tätig gewesen, auch da in einer steinzeitlichen Siedlung, deren Umhegung nur noch unvollkommen festzustellen war. Wir fanden hier aber nicht bloß Scherben, sondern auch ein paar ganze Gefäße: einen Tontrichter, eine breite Pfeilspitze aus Feuerstein und 13 pyramidenförmige Webergewichte. Unter den Topfscherben war nur eine bemalte, die andern zeigten geritzte oder gepunktete Verzierung. Das ließ für die hiesige alte Kultur an einen Zusammenhang mit Tordosch und weiter zurück mit Rössen (bei Merseburg) und Norddeutschland denken. Im Museum von Craiova war eine Gruppe von ganzen Gefäßen aus den stein- und bronzezeitlichen Fundstellen der Umgegend zusammengestellt, sie zeigten alle jene einfache Schnitt- und Druckverzierung; ein paar Scherben mit Schnurverzierung lagen auch dabei, und in der Mitte paradierte eine Amphora, die man auf den ersten Blick als eine Nachahmung von Thüringer Vorbildern ansehen mußte. In diesem Museum sah ich auch ein paar Stücke, die, ebenso wie die Gesichtsvasen in Belgrad, durchaus an Troja erinnerten: von Cotzoteni einen Standring und von Salcutza einen Tragegriff und ein paar Spinnwirtel. Das Craiovacr Museum Aman, eine private Stiftung mit schöner Bibliothek, war recht ordentlich gehalten. Es verwaltete seit kurzem ein junger Gelehrter Mongescu, der nördlich von Craiova, bei Targu Jiu begütert war, 349

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aber die letzten 12 Jahre in Deutschland gelebt hatte und sich gerade in Münster für Philosophie habilitieren wollte, als der Krieg ausbrach. Er hatte auch eine Münsteranerin zur Frau und wollte demnächst wieder nach Deutschland übersiedeln. Ich bin mit ihm in freundschaftlichen Verkehr gekommen. Er hat mich auf Salcutza hingewiesen, und beim Primar und auf dem Gute, wo wir wohnen sollten, aufs nützlichste eingeführt. Denn es war nun Mitte Oktober geworden, und das Ansehen der Deutschen stand nach den Nachrichten, die vom Kriege durchgesickert waren, — zu den Rumänen viel unverblümter als zu uns, — nicht mehr so fest wie vorher oder gar wie im vorigen Jahre in Constanza. Schon in den Septemberwochen, die wir in Cotzofeni verbrachten, war dort das Gutsehepaar Jonescu zurückgekehrt, und der brave Unteroffizier Meyer mußte nun manche Rücksichten nehmen. Die Herrschaften waren keine Bojaren, es waren Emporkömmlinge: er der Sohn eines Verwalters, der sein Geschäft verstand und so Gutsbesitzer wurde, sie die Tochter von Handelsleuten in Craiova, mit mäßiger Volksschulbildung, aber von walkürenhafter Figur, mit blonden Loreleyhaaren und geschminktem Gesicht. Der Mann hat ein paarmal abends mit uns gegessen, die Dame bekamen wir nur aus der Ferne zu sehen. Ein Zwillingspaar von fünfjährigen Knaben waren ihre Kinder. Eines Sonntagmorgens, als im Hofe eine große Menge Bauern um den Zahltisch des Herrn mit seiner Familie und seinem Verwalter versammelt waren, haben wir das stolze Bild Photographien und damit einen guten Eindruck gemacht. Wir wurden auch weiterhin aus der Gutsküche verpflegt, leisteten aber unsern Beitrag dazu, indem Meyer des öfteren Hühner, Enten, Gänse aus dem Dorf kaufte: Das Essen war sehr einförmig: immerfort Fleisch und Brot, Fleisch und Brot: Mittags 12 Uhr eine Hühnersuppe, dahinter ein gebratenes Huhn, abends eine Hammelsuppe, dahinter gebratene Hammelstücke. Zuweilen in ähnlicher Abwechslung Ente und Gans, auch ein geschlachtetes Schwein machte sich einmal mehrere Tage recht fett bemerklich. Teuer war die Sache nicht, eine Ente kostete 3,50 Franken (2,50 RM), eine Gans 10 Franken (6 Y¿ RM), und das Essen mundete uns auch recht gut, wir dachten an die homerischen Helden, die immer so gelebt haben. Aber es war auf die Dauer magenangreifend, und wir haben nachher in Craiova einige Zeit gebraucht, um uns davon zu erholen. In Cotzofeni, im September, machte die Beschaffung der Arbeiter noch keine Schwierigkeit; wir haben täglich zwischen 5 und 13 Leute beschäftigt. Dazu hat uns Meyer im Laufe der 3 Wochen im ganzen 27 Bauern, lauter ordentliche, willige Leute herangeholt. Aber in Salcutza, im Oktober, mußte der Primar schließlich morgens mit dem Knüppel durchs Dorf gehen, um noch ein paar junge Kerle zusammenzutreiben, die sich dann möglichst frech betrugen. 350

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Ich habe noch die Arbeiterlisten von Cotzofeni und Salcutza, 30 auf der einen und 17 auf der anderen Stelle. Die Namen sind nicht uninteressant. Die Vornamen sind fast alle von den Jüngern Jesu und anderen besonders verehrten Heiligen genommen. Es heißen 11 Leute Jon, 5 Petru, 2 Matei, 5 Gheorghie, 3Thomasi, 2 Dimitru und je einer Stefan, Nicolai, Constantin. In Salcutza tritt 5 mal Iliei auf, das wohl von Elias stammt. Die Herkunft der Namen ist freilich kaum noch im Bewußtsein. Aber ebensowenig wie das dortige „Jon" ruft unser „Hans" wohl noch den alten Evangelisten ins Gedächtnis. Die Familiennamen sind vielfach nur umgewandelte Vornamen, zuweilen bezeichnen sie die Landsmannschaft: Nugureanu, Serbu, Mehadian. Es fehlen völlig die bei uns so gängigen Gewerbenamen wie Müller, Meyer, Schmidt, Schlosser, Schuhmacher: der Rumäne ist Bauer; die Gewerbe und Handwerke überläßt er den Juden und Zigeunern. Auf den Erkundungsfahrten, die ich mit dem die Forstwirtschaft verwaltenden Hauptmann Hauß machte, haben wir einmal in Segarcea, südlich von Craiova, übernachtet und folgenden Tages in Piscu zu Mittag gegessen. Das sind die beiden großen Krongüter in Rumänien, die in ihrer Üppigkeit nicht ihresgleichen haben. Auf Piscu hatte Wilhelm Rimpau — ein Neffe Bodes aus Langenstein am Harz — bis diesen Sommer gehaust und ein Gebiet von 300000 Morgen verwaltet; dann war er schwer erkrankt, noch nach St. Blasien gegangen und kurz darauf gestorben. Jetzt trafen wir einen wackeren Mecklenburger Gutsbesitzer, der dicht bei Doberan zu Hause war und sich sehr nach Frau und Kindern sehnte. Er hatte seine Entlassung jetzt zum dritten Male beantragt und hoffte, diesen Herbst aus dem Kriege herauszukommen. So stand es damals mit vielen. Und der Mißmut war nicht einfach durch die Länge des Krieges, sondern hauptsächlich durch die Verwaltungsanordnungen, die für dies Land garnicht paßten, hervorgerufen. Schon das leichte Nachhauseschicken von Eßwaren, wie voriges Jahr in der Dobrudscha, gab es jetzt nicht mehr. In dem Vertrage mit Rumänien, der im Mai 1918 vereinbart war, hatte man nur Mehl und Mais beschlagnahmt, aber Hülsenfrüchte, Wein und ö l freigelassen. Die Folge war, daß diese Waren von den Juden gleich im großen aufgekauft wurden und damit für uns verschwunden waren. Unsre Vertragschließenden hatten, wie nachher offen Zugegeben wurde, diese Waren einfach vergessen, so daß wir von den Rumänen nur Getreide und Petroleum erhielten. Besonders erstaunlich war, was man in Craiova über die Verwaltung des benachbarten Gutes Breasta erfuhr. Das war 35000 Morgen groß, gehörte einem rumänischen General und hatte ihm im Frieden 170000 Franken jährlich eingebracht. Wir hatten es jetzt durch einen deutschen Unteroffizier bewirtschaften lassen, und rumänische Gefangene hatten die Arbeit auf den Feldern und im Weinberge getan. Der Ertrag des Gutes war im Laufe der 351

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zwei Jahre ungefähr auf das Zehnfache gestiegen. Was hatte man mit dem vielen Gelde getan? Dem General waren alle seine Bankschulden getilgt und dann noch 1 y2 Millionen Franken bar ausbezahlt worden! Alle Leute, die man darüber sprach, waren einig in der Verurteilung solcher Art von deutscher Gewissenhaftigkeit. Man fragte sich, wo eigentlich die Leute säßen, die an solchen UnVerantwortlichkeiten schuld seien. Berufene Stellen wiesen dafür immer auf die schwachen Minister hin, von denen man einen noch kürzlich hier im Lande mit Kopfschütteln kennen gelernt habe. Ich war in meinem Kreise aber sehr zufrieden und dankbar. Der Graf Schulenburg wurde allgemein verehrt, weil er, wie man sagte, jeden seiner Abteilungsleiter nach seiner Natur walten ließ. Er hat mich öfter zu Fahrten in den schönen Bibesco-Park abgeholt und sich auch mit den Korrekturbogen meines noch nicht erschienenen „Alteuropa" befaßt. Den Gerichtsvorsitzenden Assessor Dr. Bergschmidt, den jüngsten unsres Kreises, hab ich öfter in Antikenhandlungen begleitet, wo er besonders gern dakische Silbermünzen mit dem springenden Pferde kaufte. Mit dem Amtsgerichtsrat Heidenhain aus Straßburg-Westpr., der unsere Friedhöfe betreute, habe ich die altrumänischen aufgesucht, deren eigenartige, bemalte Grabdenkmäler er durch einen jungen Maler aufnehmen ließ. Dabei sahen wir einmal auf einem Dorffriedhofe an frischen Gräbern die Spuren regelrechter Opfer: vor dem Kreuze lag ein zerschlagener Topf auf einem Aschenhaufen. Vom Begräbnistage an, erklärte uns ein Bauer, wird am Grabe jeden Morgen Feuer gemacht, bis 6 Wochen nach dem Tode, dann kommt niemand mehr. Antike Tradition, wie in Pergamon! Mein Mitarbeiter mußte zum 1. November wieder in Berlin sein und wollte die Rückreise durch Siebenbürgen über Arad-Budapest machen. Ich brannte darauf, nach den Erfahrungen von der dakischen Schulenburg nun auch die alte Hauptstadt des Landes, Sarmizegethusa kennen zu lernen, durch deren Eroberung Trajan seinen ersten Feldzug beendigt hatte. Durch Mongescu hatte ich eine Publikation von Antonescu über sie kennen gelernt. Er beschrieb sie als eine rechteckige Stadtbefestigung mit einem großen rundlichen Turme. Vielleicht war dieser „Turm" das Schloß des Königs gewesen, woran man noch nicht gedacht hatte. Ich beschloß also mit dem Kameraden das kurze Stück nach Siebenbürgen hineinzufahren und mit ihm noch diese Stätte zu besichtigen. Die Lage von Sarmizegethusa war gesichert: beim Dorfe Tarhely, nur 70 km nordwestlich von der rumänischen Grenze. Wir fuhren, soweit die Eisenbahn uns bringen konnte, das Jiutal hinauf nach Tärgu Jiu. Als ich dort am andern Morgen aus meinem Hotelfenster sah, las ich auf dem Firmenschild eines Eßwarenladens, daß hier die Erträgnisse der Güter von E. und A. Bibesco verkauft würden. Das waren meine beiden alten Schüler Emanuel und Anton, die hier in der Gegend, 352

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ich glaube bei Balesti, ihren Hauptbesitz hatten. Die Leute im Orte, mit denen ich daraufhin anknüpfte, waren sehr willig und besorgten uns einen Reisewagen mit drei Pferden, der uns weiter am Flusse hinauf bis an die Grenze im Schurduk-(Szurduk-)Passe bringen sollte. Nach Ungarn hinein wagte damals kein Rumäne mehr zu fahren, aus Sorge, daß ihm sofort seine Pferde genommen würden. An die Grenzstelle wurde also ein neuer Wagen aus der Stadt Petroscheni (Petro§eni) bestellt. Die Fahrt war wunderbar schön, aber für die Pferde sehr anstrengend. Es ging stark bergan und der Weg war herzlich schlecht. Die Straße war zwar erst 1890—94 gebaut, aber jetzt sehr vernachlässigt. Der Fluß wurde zu einem schäumenden Wildbach, der sich eine Klamm durch das Gebirge gefressen hatte.

Abb. 32. Die drei Berge über Sarmizegethusa.

Aus meinem Skizzenbuche

Wir erreichten am späten Nachmittag das Grenzhäuschen: kein Wagen aus Petroscheni war zu sehen, und es war auch keiner angemeldet. Wir be, wogen unsern Kutscher, noch ein Stück weiterzufahren, in der Hoffnungdaß wir ihm dann begegnen würden. Aber eine Stunde und noch einn verging, und keine Menschen- und Pferdeseele war zu sehen. Wir beschworeunsern Fuhrmann, uns nun ganz nach Petroscheni zu fahren, da er uns une möglich hier in der Wildnis absetzen könne, versprachen, ihn überreichlich zu bezahlen und in der Stadt durch meinen Regierungspaß und die besondere Empfehlung des ungarischen Konsulats zu schützen. So kamen wir bei einbrechender Nacht mit sehr ermüdeten Pferden glücklich nach Petroscheni und fanden ein sehr ansprechendes kleines Hotel. Von unserm wackren Rumänen trennten wir uns aufs freundlichste und wünschten ihm und seinen Pferden eine gesegnete Nachtruhe. Wie ich am andern Morgen erfuhr, hat er die aber verschmäht und ist gleich nach dem Nachtessen mit seinen braven Tieren wieder umgekehrt. So unsicher erschienen ihm die jetzigen Verhältnisse. Petroscheni lernten wir als eine ganz deutsche Stadt kennen. Gleich im Nachbarhause wohnten gebildete Leute, die sich aufs lebhafteste für unser Tun interessierten und uns eine Menge des Sehenswerten in der Umgegend 23

S c h u c f a h a r d t , Lebenserinnerungeo

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nachwiesen. Es waren zumeist römische runde Wachttürme, zum Teil von riesigem Ausmaß. Aber auch eine mittelalterliche Burg mit Namen Coltscha (Coltzea) haben wir in einer Tagestour aufgesucht, hoch an einem Bergeshange, ganz nach deutschem Muster angelegt. Ich habe den Grundriß in meinem Burgenbuche abgebildet1). Von Petroscheni konnten wir mit der Eisenbahn nach Hatszeg fahren. Ich fand in Hatszeg wieder treffliche Berater in einem Arzte Dr. Gero und dem Bezirksrichter Hegdys. Schon für den folgenden Tag bekam ich eine Fahrgelegenheit nach Sarmizegethusa: ein Freund der Herren ahtte in der dortigen Gegend zu tun; er wollte mich in seinem Einspänner mitnehmen und abends wieder zurückbringen. Mit dem Gelde gabs jetzt auch Schwierigkeiten. Unsere deutschen Reichsbanknoten wurden im allgemeinen nicht mehr angenommen. Der Richter Hegdys wechselte mir aus Freundlichkeit noch einen Hundertmarkschein zum alten Kurse. Vasarhely liegt 25 km, also 2 y2 Wagenstunden östlich von Hatszeg. Es ist ein großes Dorf von über 1000 Einwohnern und rein rumänisch. Die Bauern wiesen mich für Sarmizegethusa auf die Ruinen hin, die sich im unmittelbaren Anschluß an das Dorf in einer weiten Ebene ausbreiteten. Bei ihrem Durchstreifen erkannte ich bald, daß das Erhaltene von einem quadratischen römischen Lager stammt, und daß auch der „große rundliche Turm", für den man an die feste Wohnung des Decebalus hätte denken können, als ein prächtiger Tutulus vor einem Tore durchaus mit zum Lager gehörte. U m ein klares Bild zu bekommen, nahm ich das Ganze auf. Die Lagerseiten messen 580: 600 m, das ergibt eine Lagerfläche von rd. 35 Hektar, also einen Raum, wie er einer im Frieden sich bequem einrichtenden Legion zugebilligt zu werden pflegt. Der ,rundliche Turm" liegt 120 m vor dem Nordtore, durch das heute ein Fahrweg geht. So war hier alles Sichtbare römisch und wurde noch beglaubigt durch die überall auftretenden Sigillata-Scherben. Als ich nachmittags wieder ins Dorf kam, fragte ich die Bauern, ob denn außer dieser Gradischte (Festung), wie sie die Ruinen nennen, nirgend hier umher auf einer Berghöhe etwas wie eine cetate, eine Burg, vorhanden sei, sie sprachen dann von einer alten Baustätte, die sie Selia nennen, nordwestlich hoch oben am Berge. Sie liege nicht auf seiner Kuppe (vurfu-Gipfel), sondern 30—40 m abwärts, wo jetzt ein Häuschen stehe. Die Ruinen hätten die Größe etwa eines Hofes. Die Karten ergaben, daß der Gipfel Selia 745 m hoch liegt, das Dorf Vasarhely 496 m. Die Ruinen wären also etwa 200 m über der Ebene. Da noch hinaufzugehen hatte ich leider nicht die Zeit, der Tag neigte sich, und ich mußte: 1

) Die Burg im Wandel der Weltgeschichte 1931, S. 335 fr.

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meinen Wagen erwarten. Es konnte sein, daß dort oben ein Rest des alten dakischen Königssitzes erhalten war. Die Stadt Sarmizegethusa wird aber doch, wie auch allgemein angenommen, an der Stelle des nachherigen römischen Lagers gelegen haben, das wurde mir noch durch eine besondere Beobachtung beglaubigt. Unweit im Süden zieht sich stolz und malerisch die hohe Kette des Sebenhelyer Gebirges entlang, und gerade dem Lager gegenüber fesseln den Blick drei neben einander aufragende Bergriesen. Ich habe sie mir im Laufe des Tages zweimal von verschiedenen Punkten aus skizziert, und nachher, als ich wieder in Deutschland war, gesehen, wie nützlich das war. Unter den Bildern der Trajanssäule zeigt den Höhepunkt des Geschehens die Szene, wo Trajan vor den Festungsmauern inmitten seiner Scharen auf dem Throne sitzt und die Großen der Daker zur Unterwerfung empfängt. Das Bild ist immer schon als der Abschluß des ersten dakischen Krieges vor dem eroberten Sarmizegethusa aufgefaßt worden. Hinter den Festungsmauern erscheinen hier aber jene drei Bergriesen, die heute noch ihr Wahrzeichen abgeben 1 ). Vasarhely war, wie gesagt, ein rumänisches Dorf, aber, wie ich in meinen Jugendjahren schon in der Moldau gesehen hatte, daß die Rumänen sich rein auf den Ackerbau beschränken und Handwerk und Handel den Juden und Zigeunern überlassen, so war es auch hier. Die Wirtschaft mit Kramladen, wo man mich abgesetzt hatte, betrieben Juden. Als ich zum Abendessen ein Stück Schinken hervorholte, waren sie peinlichst berührt und rafften mir ihren Teller und ihr Messer weg; ich mußte mein Taschenmesser und eine Papierunterlage benutzen. Ich war froh, aus diesem ängstlichen Zwang befreit zu werden, und fuhr in wundervoller Mondnacht durch die Berglandschaft zurück. U m von Hatszeg mit der Eisenbahn nach Craiova zu kommen, mußte ich erst gegen Norden nach Deva, dann gegen Osten nach Hermannstadt und von da gegen Süden durch den Roten Turm-Paß an der Aluta entlang über Slatina fahren. In Deva und Hermannstadt bin ich je einen Tag geblieben. Deva hatte ein nettes kleines Museum und in Herrn Josef Malas, einem Beamten der Finanzdirektion, einen freundlichen Direktor mit ernsten wissenschaftlichen Interessen, der sich auch auf Ausgrabungen verstand. Ich machte ihn auf das Problem Sarmizegethusa aufmerksam; er wollte sich seiner annehmen. Als er mich in die Sammlung führte, die er selbst mehrere Tage nicht betreten hatte, sagte ihm der erste Blick, daß die ganze Münzsammlung gestohlen war. Überall Not und Ausschreitungen! Das Museum enthielt viel Tordos - Keramik aus der Maros - Ebene der Umgegend. Ich zeichnete mir eine prächtige Linsen-Amphora, ein Unikum, und habe sie nachher auch in „Alteuropa" abgebildet. ') Cichorius, Die Trajanssäule 1900. Tafel 55. Bild 197—199. »3

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Abb. 33. Fundstelle des Goldschatzes von Pietroassa bei Buzeu. Aus meinem Skizzenbuche

Als ich am 1. November in Craiova wieder eintraf, bekam man dort schon ein Vorgefühl allgemeiner Auflösung. Ich wollte aber das Land nicht verlassen, ohne diesmal endlich den Fundplatz des berühmten großen Goldschatzes von Pietroassa aufgesucht zu haben, zumal mir die Wagenfahrt von Buzeu dorthin durch den Etappenkommandanten von Buzeu, Rittmeister v. Seydlitz, einen nahen Freund Dr. Trägers, noch in sichere Aussicht gestellt war. Sie gelang denn auch gut, mit dem einzigen Schönheitsfehler, daß, als ich nach den Geländebesichtigungen müde und hungrig zu meinem Wagen zurückkam, mein gutes Frühstück samt der Flasche Wein gestohlen war. Die Situation bei Pietroassa ist folgende: an der ostwestlich streichenden Chaussee liegen das Wirtshaus und die Primeria einander gegenüber, die Primeria im Norden, das Wirtshaus im Süden. Von der Primeria aus steigt das Gelände erst langsam an und erhebt sich dann in einer Stunde Entfernung zu einer Bergkette. Auf deren breitem Rücken tritt ein Oval von 100: 130 m heraus, das von einem wohlerhaltenen niedrigen Ringwall umgeben ist. In der Mitte nun zwischen dieser Bergkuppe und dem Dorfe wurde mir eine anmutige Stelle, wo ein Bach seinen Lauf verlangsamt und weithin sichtbar ein großer Nußbaum steht, als der Fundplatz des Goldschatzes gezeigt. Ich glaube, daß sich damit der Fund erklärt. Der Schatz ist immer schon einem der gotischen Fürsten zugeschrieben worden, die am Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. mit ihren Völkern aus Südrußland kommend sich in der Walachei niederließen. Wie Tacitus nun die Wohnung Marbods in Böhmen charakterisiert als eine „regia" mit dem „castellum iuxta situm", so würde auch bei Pietroassa der Gote bei dem Nußbaum, auf einer Platte des Abhangs sein Haus und oben auf der Höhe die Volks- und Fluchtburg gehabt haben. Die beistehende Skizze mag das Verhältnis veranschaulichen, den Goldschatz hab ich in „Alteuropa" abgebildet und besprochen. Es ist ein höchst originelles Stück aus der üppigen südrussischen Germanenkunst der Völkerwanderungszeit, und die Rumänen waren immer sehr stolz auf diesen Museumsbesitz. Deshalb hatten sie, als die deutschen und bulgarischen Heere im Sturmschritt auf Bukarest heranrückten, ihn 356

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nach Bessarabien zu den Russen gerettet. Als die dann aber durch den Friedensvertrag Bessarabien an Rumänien abtreten mußten, haben sie den Schatz behalten, und Rumänien hat ihn bis heute nicht wiedergesehen. Am 5. November kam ich nach Craiova zurück. Nun rüstete dort bereits alles zum Abmarsch. Es war schon nicht mehr möglich, noch große Stücke wegzuschicken. So mußte ich meine 5 Kisten mit den Funden von Cotzefeni und Salcutza und den vielen Einkäufen, die mir in der letzten Zeit doch noch gelungen waren: an weißem Mehl, Pflaumen, Zwiebeln, Zucker, Seife, Wein zurücklassen. Der freundliche Goldschmied, von dem wir den Craiovaer Silberfund gekauft hatten, erbot sich, sie in der Stille aufzunehmen und wollte sie mir nach dem Ende des Krieges, das nun nahe schien, nachschicken. Nur die wenigen ganzen Gefäße von Salcutza und sechs Weinflaschen mit ausgelassenem Schweineschmalz, die mir eine deutsche Schlossersfrau hergerichtet hatte, tat ich in meine Handkoffer. Im Casino packte auch alles für den Rückmarsch. Die Helferinnen aus den Krankenhäusern und den Soldatenheimen sollten zuerst befördert werden. Das Militär sollte zu Fuß und zu Wagen nach Siebenbürgen gehen und dort die Eisenbahn nach Deutschland zu erreichen suchen. Ich hatte den Plan, doch noch mit der Eisenbahn über Orsova auf Budapest zu fahren. Herr v. Blücher meinte zwar: „Wer noch Grütze im Kopfe hat, der fährt doch jetzt nicht über Orsova". Aber der Graf Schulenburg war einverstanden und riet nur, mir vom Ungarischen Konsulat einen kräftigen Schutzbrief mitgeben zu lassen. Am Sonnabend Abend, den 9. November, wurde im Casino ein allgemeiner Abschied gefeiert, zu dem auch das weibliche Personal der Etappe eingeladen war. Nach dem Essen mußte ich einen Vortrag über meine Ausgrabungen halten und konnte dabei den „nordischen Zug zum Balkan" allgemein verständlich machen. Am andern Morgen um 6 Uhr brachte mich ein Wägelchen an die Bahn, und ich fuhr mit einem ganz ordnungsmäßigen Schnellzuge nach Orsova. Ich hatte auch mein Gepäck noch aufgeben können, einen Schein darüber erhalten und sah beim Umsteigen in Orsova nach, daß es richtig in den Budapester Zug umgeladen wurde. Sehr schön war dann die Fahrt von Orsova an den Karpathen hinauf. In dem Badeort Mehadia, wo wir länger hielten, war sonntägliches Treiben der rumänischen Bauern in ihren malerischen Trachtcn. Abends um 8 Uhr kamen wir nach Temesvar und sollten hier zwei Stunden Aufenthalt haben. In der Bahnhofswirtschaft bekam man eine mächtige Schweinsrippe,—ganz wie vor fünf Jahren in Uesküb — mit gutem Wein dazu. Als ich wieder zum Zuge ging, sah ich, daß er nun ganz von heimfahrendem Militär vollgeladen war. In meinem Abteil hatte man aber den Platz am Fenster, auf den ich meinen Rucksack gelegt 357

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hatte, respektiert. Neun Soldaten, gewöhnliche Musketiere, und zwar Slowaken, wie ich allmählich erkannte, hatten sich daneben eingerichtet. Sie haben sich auch die ganze Nacht über musterhaft benommen, was ich ihnen erleichterte durch öftere kleine Tabakspenden. Morgens gegen 9 Uhr kamen wir nach Budapest. Die Bahnhofshalle wimmelte von Zivil und Militär, und in staunendem Schrecken erkannte ich ein paar höhere französische Offiziere, die bereits die Befehlshaber spielten. Ich konnte unangefochten zum Gepäckraum gehen, erfuhr dort aber, daß meine Koffer nicht mitgekommen seien; warum, wußte man nicht, meinte beruhigend, morgen würden sie vielleicht da sein. In der Stadt suchte ich dann vergeblich nach einem Unterkommen. Alle Hotels waren völlig besetzt. Ich ging zum Museum und sicherte mir für alle Fälle ein Sofa in einem Assistentenzimmer. Als ich dann nach dem Mittagessen im Kaffeehause nach einer Zeitung griff, las ich als ersten Satz: „Die Republik Österreich hat beschlossen, sich mit der Republik Deutschland zusammenzuschließen". Ich fiel aus den Wolken. Wir hatten in Craiova seit 14 Tagen keine Verbindung mehr mit Deutschland gehabt. Nun las ich, daß der Kaiser abgedankt hatte, daß in der Nacht vom Sonnabend auf Sonntag (9./10. November) in Berlin die Revolution ausgebrochen war und die äußersten Linksparteien die Herrschaft an sich gerissen hatten. Um Genaueres zu erfahren, ging ich zum Deutschen Konsulat. Der Konsul, ein deutscher Adliger, war geflohen. Allein zurückgeblieben war ein Sekretär Noculac, der mir doch noch zu einem Nachtquartier verhelfen wollte und meinte, seine Frau werde es schon einrichten können; ich möge ihn nur abends abholen, dann wolle er mich mitnehmen. Das ist dann geschehen. Als wir über die lange Donaubrücke gingen, strahlten der Quai und das Parlament nicht mehr in ihren alten tausendfachen Lichtern. In stillem Dunkel kamen wir in die Vorstadt und in ein kleines, einfaches Haus. Die Frau und ihre zwei Töchterchen begrüßten und versorgten mich aber sehr freundlich .Über meine Koffer meinte man freilich, ich würde sie nicht wiedersehen; wenn heute jemand mit schweren Gepäckstücken aus dem fetten Rumänien komme, verlocke das gar zu sehr zum Zugriff. Als ich am andern Morgen zum Gepäckschalter ging, bestand die Überraschung darin, daß — meine Koffer da waren. Man hatte in Temesvar wegen des großen Zuzuges die Gepäckwagen abgehängt, aber sie nachher befördert. Ich erfuhr zugleich, daß abends um 8 oder 10 Uhr ein Zug nach Oderberg abgehen solle. So konnte ich noch kreuz und quer durch Budapest wandern und mich wundern über die vielen neuen Inschriften an den Ladenfenstern bis ich erfuhr, es heiße „Staatliches Geschäft" und bedeute, daß es der neuen 358

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Regierung übereignet sei, um es vor der Plünderung zu bewahren, denn die Revolution hatte auch hier die unteren Schichten zur Herrschaft gebracht, und alles war in Unruhe. Für die Kinder meiner guten Gastfamilie kaufte ich, was es noch an Kuchen- und Zuckersachen gab, und verabschiedete mich dort dankbarst. Abends fand ich im Zuge noch leidlichen Platz, wenn auch in einem Abteil, dessen zerschlagene Fensterscheiben den eisigen Wind zum Dauergefahrten machten. Statt um 8 oder 10 ging der Zug erst um 12 Uhr ab. Gegen 2 Uhr weckte mich Geschrei und großes Schurren auf dem Korridor. Man hatte meine Kofier herausgezerrt und war dabei sie zu öffnen. Ich zog meinen ungarischen Schutzbrief heraus, ein Feldwebel entfaltete ihn, schmunzelte und las dann feierlich im Kreise von Fackelträgern mit Pathos all die Lobeserhebungen über mich vor. Auf seinen Wink wurden die Koffer wieder in den Wagen getragen und ich selbst grüßend entlassen. Das muß in Gran gewesen sein, wo die Bahn abzweigte, um das Waagtal zu erreichen und in ihm gegen Norden hinaufzufahren. Gegen Mittag (Mittwoch den 13. November) kamen wir nach Sillein und konnten dort essen. Unser Zug verschwand aber leer auf einen neuen Befehl hin. Ein anderer sollte uns weiterbringen, und der erschien dann nach einigen Stunden. Er war aus lauter offenen Kohlenwagen zusammengestellt, auf denen wir uns zusammen hockten. Meine Gefährten waren lauter deutsche Soldaten, die in Rumänien zu zweien oder dreien die Dorfbesatzungen gebildet hatten und in ihrer Abgeschiedenheit ganz ohne Anweisung geblieben waren. So hatten sie auf eigene Faust die Abreise beschlossen und sich durchgeschlagen. Es waren nette Kerle. Als wir ins Jablonka-Gebirge kamen, wo immer ein Tunnel mit einem Schneegestöber abwechselte, saßen wir andauernd unter ihren großen Mänteln zusammen, um uns im Freien gegen den Schnee und im Tunnel gegen den noch schlimmeren Rauch der Maschine zu schützen. Es war Abend, als wir Oderberg erreichten. Hier stand der ganze Bahnsteig voll von neuen Heimkehrern. Als der für Breslau bestimmte Zug einlief, war er im Nu gestürmt. Auf den Trittstufen hingen dicke Menschentrauben, und immer suchten noch Begehrliche durch die Fenster einzusteigen. Ich sah keine Möglichkeit mitzukommen. Der deutsche Gouverneur, zu dem ich ging, war ratlos und verwies mich an den österreichischen, und der gestand auch: „Wir sind hilflos, wir können nichts machen, — sagen Sie dem Lokomotivführer, er möge Sie in den Gepäckwagen lassen". So ging ich mit der Gepäckfrau, die meine Koffer fuhr, möglichst unauffällig am Zuge entlang, umging vorn die Lokomotive und stieg von der Rückseite in den Gepäckwagen, wo ich dann meine Koffer in Empfang nahm. Es hatte uns niemand beachtet, und ich kam so in fast leerem Wagen mit. Nur in Breslau war frühmorgens länger Halt, und um Mittag war ich in Berlin. 359

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Meiner Frau hatte ich von Budapest aus telegraphiert, und in den schlimmen zwei Wochen vorher hatte schon Dragendorff sie zu trösten gesucht: „Wenn einer sich durchfrißt, dann ist es Ihr Mann! Aber trotzdem war das gute Ende nun eine Erlösung. Meine verehrte Craiova-Gesellschaft hat es schwerer gehabt: sie ist 3 Wochen lang in Siebenbürgen festgehalten worden und dann erst in einem durch Handstreich eroberten Zuge nach Hause gefahren. Die Erinnerung an die guten Tage von Craiova haben wir aber bis heute wachgehalten. Alles was in und um Berlin wohnt, ist dem Rufe des verehrten Grafen Schulenburg gern gefolgt; so kommen um ihn Puchstein, Heidenhain, Bergschmidt, Willy Koch und mehrere, die schon vor meiner Zeit in Craiova gewesen sind, immer noch von Zeit zu Zeit zu einem Abendschoppen oder einem Mittagessen zusammen.

XX. BERLIN 1919-1928 O S T D E U T S C H E BURGENFORSCHUNG 1920—1923 Als ich 1908 nach Berlin kam, gab es dort bei der Anthropologischen Gesellschaft eine „Rethra-Kommission". Sie war seit Jahren bestrebt, die große slawische Tempelburg wiederzufinden, von der der Merseburger Bischof Thietmar um 1010 und der Bremer Schulmeister Adam um 1070 verlockende Schilderungen gemacht haben. Ich lehnte den Eintritt in die Kommission aber ab, weil es sich hier um eine Aufgabe handelte, die durchaus von einem einzelnen gelöst werden mußte. Die Kommission bestand aus lauter Dilettanten. Ihre Mitglieder hatten bald hier, bald da kleine Grabungen gemacht, je nachdem dieser und jener eine Vermutung aussprach, Erreicht war im Ganzen garnichts. Man unterschätzte auch die Schwierigkeit der Suche, da man sich nicht bewußt war, wie sehr wir noch für das ganze slawische Burgenwesen im Dunkeln tappten. Man war stolz, nach den Topfscherben jetzt altgermanische und slawische Burgen unterscheiden zu können, hatte aber für die slawischen an eine Einteilung etwa in Volksburgen, Herrenburgen und Tempelburgen noch nicht gedacht. Für die Rethralösung schienen mir ganz umfassende Vorstudien mit Probegrabungen in einer Reihe von slawischen Burgen erforderlich, und für die hatte ich auf Jahre hinaus keine Zeit. Die Rethrakommission hat sich angesichts dieser Stellungnahme aufgelöst; sie war ihrer selbst überdrüssig geworden, und mir ist es dann tat360

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sächlich erst nach mehr als 10 Jahren möglich gewesen, ihre alte Aufgabe in die Hand zu nehmen. Die Akademie verhalf mir dazu, ihr eine solide, breite Grundlage zu geben. Sie hatte von Frau Wentzel-Heckmann anderthalb Millionen Mark geschenkt bekommen, deren Zinsen, also 60000 R M jährlich, zu wissenschaftlichen Forschungen verwendet werden sollten. Roethe als Vorsitzender des betr. Verwaltungsrates berief eine besondere Akademiesitzung, um Vorschläge für größere Unternehmungen zu hören und gleich eine Aussprache darüber herbeizuführen. Da hab ich den Plan einer Aufklärung des ostdeutschen Burgenwesens mit Rethra als Schlußhoflhung vorgetragen und die erbetenen 20000 R M , auf vier Jahre verteilt, bewilligt erhalten. Aber kurz darauf begann der Krieg mit dem immer steigenden Mangel an Arbeitern, ich ging nach Polen und Rumänien und kam erst 1919 in Deutschland wieder in Tätigkeit. Die Aufgabe, die mir durch den Akademieauftrag erwuchs, erstreckte sich, chronologisch und völkisch gesehen, auf die drei Gattungen: Lausitzer Burgen, Hohbuoki Karls d. Gr. und slawische Burgen. Die Römerschanze bei Nedlitz war mir ein Wichtiges schuldig gebheben: die innere Einteilung. Die ganze Burgfläche war so übersät von Pfostenlöchern und Herden, daß keinerlei Straßen oder Plätze zu erkennen waren. Ich hatte allmählich alle Burgen, die nach den früheren Probegrabungen als Lausitzisch anzusehen waren, kennen gelernt, auch auf dem „Schloßberg" bei Burg im Spreewald und dem bei Witzen (nächst Sommerfeld) ziemlich vergebUch gegraben, als 361

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ich in dem „Baalshebbel" bei Starzeddel (1 Std. südlich Guben) eine Erhaltung kennen lernte, wie ich sie mir nicht schöner wünschen konnte. Eine Sandinsel im Wiesenschwemmlande zwischen zwei Flußarmen der Lubst trug eine herzförmige Umwallung von 85 m Länge und 65 m größter Breite, also genau so groß wie die runde Pipinsburg bei Geestemünde. Im Innern war alles, wo man auch angrub, primär erhalten, durchaus im Zustande der ersten Anlage. Das erste Haus, das ich freilegte, war ein großes Vorhallenhaus mit Mittelpfeiler in der Front und Herd im hinteren Teile des Saales; kein Pfostenloch fehlte, keines war mehr da, als der erste Plan erforderte. Hier war die Aussicht, die Einteilung einer solchen Burg in ihrer ersten Reinheit wieder zu gewinnen. Aber die äußeren Umstände, von denen die Ausführung abhing, waren zwiespältig: sehr förderlich die maßgebenden Persönlichkeiten, sehr schwierig die Unterkunfts- und die Arbeiterfrage. Freudig bei der Sache war der Mühlenbesitzer Greulich, zu dessen Mehlmahl- und Holzschneidemühle die ganze Wiese gehörte; er konnte mir zuerst auch ein paar Arbeiter stellen. Sehr interessiert auch der Pastor Krumrey, der in Stettin mit unserm Archäologen Hans Schräder zusammen auf der Schulbank gesessen hatte und ständig im Dorfe zu werben suchte, und drittens die Prinzessin Margarete v. Schönaich-Carolath, die Witwe des kurz vorher gestorbenen Prinzen Heinrich, als nationalliberaler Abgeordneter „Der rote Prinz" genannt, — so weit hatte man damals den Begriff „Rot" schon ausgedehnt. Sie wohnte auf dem nahen Schlosse Arntitz, kam fast täglich zu den Ausgrabungen und lud mich häufig zum Abendessen ein. Ich hatte die Grabung zu Beginn der Inflation begonnen. Der einzige Gastwirt des kleinen Dorfes hatte mir notdürftig ein Dachzimmer freigemacht, das nichts anderes als ein Bett und einen Stuhl mit Waschschale darauf enthielt. So hab ich im ersten Jahre acht Tage graben können. Als ich im zweiten wiederkam, konnte Herr Greulich keinen Arbeiter mehr entbehren; ich bin mit einem 17jährigen Burschen, der ein paar Tage Zeit hatte, dann nur sehr wenig weiter gekommen. Fürs dritte Jahr war ich vorher hingefahren und hatte mit vier Waldarbeitern ein paar Wochen der Folgezeit vereinbart. Als ich dann aber zur Arbeit antrat, waren sie alle vier dem Rufe eines benachbarten Gutsbesitzers gefolgt, der rasch eine Menge Holz geschlagen haben wollte. Unzuverlässig wie man es nie ahnen konnte, waren diese slawischen Lausitzer. Ich habe es auch im Spreewalde mehrfach schmerzlich erfahren. Als ich es nachher in meiner Publikation der Starzeddeler Grabung aussprach, erhielt ich von einem Fabrikanten der dortigen Gegend einen lebhaft zustimmenden Brief: er habe sich gefreut, das einmal offen gesagt zu sehen, er müsse gar zu oft dieselbe Erfahrung machen. Es kam im selben Jahre hinzu, daß auch meine Wirtsleute mir das sogenannte Zimmer und die sehr einfache Verpflegung nicht mehr geben zu 362

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BURGENFORSCHUNG

Abb. 35. Deutsche Keramik von 1000 und 1075 n. u. Ztr. 1 : 2.

können erklärten. So hab ich denn eine längere Pause gemacht und erst 1923 die Grabung zu Ende führen können. Da hatte mich die Prinzessin eingeladen, bei ihr im Schlosse zu wohnen, und die Arbeiterfrage wurde dadurch gelöst, daß der Gubener Gymnasialdirektor in seiner Prima und Sekunda für eine 14tägige Ferienarbeit warb, zu der sich dann 20 tapfere Jungen meldeten. Ich habe davon abwechselnd 10 täglich beschäftigt. Sie kamen zu Rad jeden Morgen heraus; ich ließ sie nur 6 Std. arbeiten, damit sie durchhielten, und zahlte ihnen den halben Tagelohn der Fabrikarbeiter, der sich damals aber von drei zu drei Tagen so erheblich steigerte, daß ich mir Millionen um Millionen Papiergeld von Berlin nachschicken lassen mußte. Die Jungen haben indes vortrefflich gewirkt. Das Abheben des Humusbodens hatten sie rasch begriffen und fahndeten dann mit Feuereifer auf die in schönen Linien herauskommenden Pfostenlöcher. Am Ende der zweiten Woche war der ganze Burgplan aufgedeckt. Am inneren Wallfuße entlang zog sich ringsum eine 4 m breite, mit kleinen Steinen gepflasterte Straße. Auf sie öffneten sich die Vorhallen der 6 großen Wohnhäuser der Burg, die mit ein paar nachlässigeren Bauten, wohl Stall und Scheune, nun ebenfalls einen Kreis bildeten. Auf dem Mittelplatze war ein kleiner Bau ohne Herd aus der anfänglichen Nordorientierung in die nordöstliche umgestellt worden. Das Ganze war offenbar eine Genossenschafts- oder Sippenburg. Jedes Haus muß für eine Familie bestimmt gewesen sein, und der Mittelbau war wohl der Gemeinschaftssaal. Die wenigen Tongeschirrfunde wiesen deutlich auf den Übergang von der Lausitzischen zur Hallstattkultur, das 6. Jahrhundert v. Chr. hin. Das Wichtige an dem Ergebnis war die Alleinherrschaft des Megaronhauses in dieser Kultur und der Häuserkranz als früher Vorläufer der später sehr verbreiteten Übung1). l ) Grabungsbericht in der Präh. Ztschr. 1926, S. 188—201; kurze Darstellung mit Plan auch in „Alteuropa" und „Vorgeschichte von Deutschland".

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Wie diese Megaronform Jahrhunderte hindurch in Norddeutschland erhalten gebheben'ist, sah ich aus einer kleinen Ausgrabung, die ich noch im November 1914 in Lichterfelde selbst vornehmen durfte (Abb. 37). In dem alten Laubengarten einer adligen Dame dort, dem späteren Grundstück Carstennstraße 7, hatten sich zwei Silbermünzen der Kaiserin Faustina gefunden, also aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. Einige Versuchsgräben brachten mir ein Haus zutage, die Schmalseiten sehr schräg gestellt, was Koldewey dadurch erklärte, daß die Straße in dieser Richtung vorbeigefuhrt habe. Der Herd lag ganz an seinem üblichen X Platze. Eine Querteilung war nicht 9 7 vorhanden. Glcte>*6urq f. JL'hmrad* Die Grabungen bei StarzeddeJ, die sich von 1920—1923 hinzogen, hab ich immer alleingeführt, weil die Aufgabe einfach war, und ich auch immer J T ft. 9'A nur für wenige Tage Arbeiter hatte. Wo es zwischendurch aber galt, Vorstudien zu machen zu dem künftigen Rot, Generalangriff auf die slawischen Raffittirli Jfu tine r lie rq Tempelburgen, war ich beflissen, Koldewey zur Seite zu haben, der nun doch alljährlich einen mehrwöchigen Urlaub erhielt. Nach vielerlei Besichtigungen hatte ich bei Arnswalde und Reetz, an der X' ÌÌH Srtm MmUpmee'i.fiiltir Htm RthJtn Grenze von der Neumark und Vorpommern, zwei slawische Ringwälle A b b . 36. Die 3 Perioden der slawischen gefunden, die mir als Studienobjekte Keramik. 1 : 2 . geeignet schienen: die „Schwedenschanze" nördlich und den „Hühnerberg" südlich von Reetz. Den Juli 1919 haben wir auf diese Burgen verwendet und von beiden ein Bild erhalten, das besonders durch seine frappante Ähnlichkeit mit der Pipinsburg bei Sievern (Geestemünde) überraschte. Beide waren fast kreisrund, hatten nur ein Tor, einen mit Steilfront versehenen Wall und die Häuser im Kreise um einen offenen Mittelplatz gestellt, ganz wie bei Starzeddel im 6. Jahrhundert v. Chr. und auf der Pipinsburg im 9. Jahrhundert n. Chr. Nur hatten die Häuser bei Reetz nicht auf dem ebenen Boden gestanden, sondern waren, wie alle slawischen pflegen, einen Meter tief in den Boden eingesenkt1). *) Ich habe über die Grabung in dem Festvortrage zum 50jährigen Jubiläum der Anthrop. Gesellschaft (Ztsch. f. Ethnologie 1919, S. 286ff.) berichtet.

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Dies Ergebnis hat mir die Grundlage geliefert für die Erkenntnis, daß die slawischen Rundlinge keine eigene nationale Erfindung, sondern den Altsachsenburgen nachgeahmt sind, wie sie Heinrich I. gerade an seinen Ostgrenzen so zahlreich hat bauen lassen. Als ich diese Auffassung in der Akademie vortrug, stimmte Professor Penck mir lebhaft zu: die slawischen Rundlinge, sagte er, fänden sich nur im Grenzgebiet, weiter nach Polen oder Rußland hinein kämen sie nicht mehr vor. Im Herbst 1919 hab ich dann noch zwei Grabungen auf germanischen Burgen gemacht, um festdatiertes Tongeschirr des frühen Mittelalters zu gewinnen und damit auch der Chronologie der slawischen Töpferei aufzuhelfen. Der von Bernward von Hildesheim um 995 gegen die Slawen angelegte „Wallgarten" bei Wahrenholz (nördl. Gifhorn) lieferte derbe Scherben, die mit einfach umknickendem Rande dem Geschirr von den karolingischen Königshöfen noch sehr ähnlich waren. Die aus den Wachthäusern Heinrichs IV. von 1076 stammen- Abb. 37. Germanisches Haus des 2. Jahrhunderts n. u. Ztr. in Lichterfelde, i : iooo den Topfränder schweiften schon im Bogen aus, um einen Deckel aufzunehmen. Und noch weiter in dieser Manier gingen dann die Stücke, die von der Heinrichsburg bei Mägde365

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sprung im Harz aus der Zeit um 1270 stammten und von denen mir Proben aus dem Ballenstedter Schloßmuseum überlassen wurden. Die slawische Keramik hat dieselbe Entwicklung genommen: die Steilränder biegen zunächst einfach um und kommen dann immer mehr in Schwung, so daß wir jetzt früh-, mittel- und spätslawisch vom 9. bis zum 12. Jahrhundert unterscheiden können. Dem Vordringen der Slawen gegen Westen hat Karl d. Gr. nach der Eroberung des Sachsenlandes an der Elbe Halt geboten. Der Fluß war damals noch nicht eingedeicht und überschwemmte das Land oft meilenweit. Es gab nur drei für ein Heer brauchbare Übergänge: bei Magdeburg, beim Höhbeck, Lenzen gegenüber, und bei Artlenburg. Ihnen entsprechend hatte der Kaiser für den Handel mit den Slawen die drei Städte Magdeburg, Schezla (genaue Lage unbekannt) und Bardowiek, Artlenburg gegenüber, freigegeben. Beim Höhbeck ist er selbst einmal mit dem Heere hinübergegangen und hat drüben die kleinen Slawenfürsten unterworfen. Dieses Ereignis vom Jahre 789 wird in den Annalen mit genaueren Angaben beschrieben. Der Kaiser, heißt es „habe zwei Brücken gebaut und die eine mit einem Kastell befestigt, dessen Wall aus Erde und Holz (terra et ligno) hergestellt wurde". Das Kastell wird Hohbuoki genannt, was allein schon auf den heutigen Höhbeck hinfuhrt. Außerdem aber erklären sich die zwei Brücken, von denen nur eine befestigt wird, einzig hier. Der Höhbeck ist eine große, ovale Hochinsel; an ihrer Nordseite fließt heute einheitlich die Elbe; ein alter Arm von ihr hat aber über Süden die Höhe umfaßt und zur Insel gemacht. Über diesen Nebenarm hat Karl d. Gr. die erste Brücke geschlagen, die unbefestigt bleiben konnte, die zweite, über den Hauptarm, führte in Feindesland und wurde deshalb geschützt. Das Kastell steht heute noch wohlerhalten am Höhenrande unmittelbar über dem Flusse. Eine Probegrabung hatte ich in ihm ja schon 1897 gemacht und dabei die beglaubigt karolingischen Scherben geerntet, die zur Bestimmung der Königshöfe führten. Jetzt kam es mir darauf an, durch die Hilfe Koldeweys den Bau des Walles genau festzustellen und über die Aufteilung des Innern einiges zu erfahren. Das Erste gelang sehr gut, das Zweite wenigstens zum Teil. In dem verbrannten Walle war die unterste Schicht verkohlt in Form erhalten: es lagen Langhölzer dicht aneinander. Darüber folgte eine durch heftigen Brand dicht zusammengebackene Lehmmasse mit zuweilen lang erhaltenen röhrenförmigen Hohlräumen, in denen feine weiche Holzasche verblieben war. Für Standhölzer an der Front fanden sich nur kleine Löcher von 10 cm Durchmesser, so daß Koldewey hier nur kurze Pfähle annahm, die das Ausweichen des Wallfußes verhindern sollten* 366

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Nur das Doppel-Tor in der Mitte der südlichen Langseite war mit drei Reihen von je fünf starken Pfosten gebaut und hinter seiner Front fanden sich noch zwei große Löcher, wie Koldewey meinte, zur Aufnahme von großen Klötzen, auf die die Verschlußstrecken der Torflügel sich stützten. Es ist dies eine Vorrichtung, die, soviel ich weiß, sonst noch nirgend beobachtet wurde. Die Abbildungen findet man in meiner „Vorgeschichte von Deutschland". Im Innenraum das Kastells fanden sich gar keine Pfostenlöcher. Die Truppe hat keine festen Häuser, sondern offenbar nur große Zelte gehabt, und deren Stellung war an Flächen mit stark verschmutztem Boden leidlich zu erkennen. Gleich hinter dem Tore lag ein freier Platz, weiterhin war alles in große Rechtecke aufgeteilt. Zu der karolingischen Keramik fanden wir hier auch ein halb Dutzend slawischer Scherben, die uns sehr erwünscht waren. Das Kastell ist nämlich kurz vor dem Tode Karls d. Gr. 810 von den Slawen erobert und erst im folgenden Jahre durch den Kaisersohn Karl zurückgewonnen worden. So wohl datiert bestätigten die Stücke mit ihrem steilen Rande und den einfachen Gitterritzungen unsre schon gebildete Auffassung vom frühslawischen Geschirr1). Einen Kilometer östlich vom Kastell liegt auf einer vorspringenden Bergnase ein einfacher kleiner Ringwall, in dem soeben ein junges Siedlerehepaar sich eingerichtet hatte. Bei der Fundamentierung ihres Häuschens war Latene-Keramik gefunden worden. Der Platz liegt über der heutigen Fähre, die drüben bei der Burg von Lenzen landet. Man darf wohl annehmen, daß hier schon in vorgeschichtlicher Zeit ein Übergang bestanden hat, Karl d. Gr. also einem gewiesenen Wege gefolgt ist. Unser Leben in den drei Wochen Höhbeck gestaltete sich sehr harmonisch, dank vor allem dem köstlichen Humor Koldeweys. Ich hatte durch die Erzählung von seinen Taten in Babylon schon den Besitzer des Geländes — einen Hamburger Straßenbahnschaflner! — derart für unsern Plan eingenommen, daß er in einer Hamburger Zeitimg unser Unternehmen verkündete mit einem Artikel, in dem es hieß, der berühmte Ausgräber der Hauptstadt des Nebukadnezar habe jetzt „den Schwerpunkt seiner Tätigkeit an die untere Elbe verlegt". Als Arbeiter hatten wir nicht Bauern, sondern Tagelöhner bekommen, und die machten uns einigen Kummer. Die Revolution von 1918 schlug noch hohe Wellen. Kaum hatte man den Rücken gedreht, so trat die Gruppe zusammen, stützte sich auf die Schaufeln und trieb Politik. Koldewey ärgerte sich ständig darüber, aber wenn ich sagte: „Weise sie doch zurecht", meinte l

) Ich habe die Scherben abgebildet in der Festschrift für Adalbert Bezzenberger 1921.

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er immer: „Ach, das tu lieber du!" Das Befehlen lag ihm nicht; das war in Babylon auch so gewesen. Aber er hatte eine Art, stumm seine Mißbilligung auszudrücken, die durchschlug. Eines Tages kam ein Oberlehrer, der die Höhbeckfrage gepachtet zu haben glaubte und eine Woche zu bleiben gedachte. Als er aber das erstemal Koldewey gegenüber unsre wichtigsten Schnitte als verfehlt hinstellen wollte, drehte der sich wortlos um und ging, so daß der Mann zur allgemeinen Erleichterung andern Tages wieder abfuhr. Als einmal gerade zur Mittagszeit eine Schulklasse aus Wittenberge eintraf, und mein Sohn, um uns nicht vom Essen zurückzuhalten, sich erbot, sie zu führen, lockte es Koldewey, diesen ersten Versuch des Jünglings zu belauschen. Er kam mir aber bald nach und meldete mit erhobenem Finger: „Das ist der künftige Professor!" — Wohnung hatten wir im Dorfe Vietze, am Westfuße des Höhbeck, nehmen müssen, da oben in der Mühle durch 8 oder 10 Sommerfrischler alles besetzt war. Wir wurden aber in der Mühle verpflegt und saßen dann mittags und abends mit den dort Wohnenden, meist kleinen Beamten aus Hamburg, an langer Tafel zusammen. Dabei kam Koldeweys Gabe, sich mit einfachen Leuten ganz in ihrem Sinne zu unterhalten und allen Dingen eine überraschende, freundliche Seite abzugewinnen, prächtig zur Geltung. Als eines Sonntags nach der Suppe drei stattliche gebratene Enten aufgetragen wurden, und einige gleich zugreifen wollten, rief er: „Halt, das muß nun erst photographiert werden!" und schuf damit einen Augenblick allgemeiner ruhiger Bewunderung. In einer Woche hatten wir eine Reihe von Tagen ständig Besuch: Jacob-Friesen kam von Hannover, Wilhelm Reinecke mit einem Architekten von Lüneburg, Hermann Hofmeister von Hamburg, v. Duhn auf der Reise von Lübeck nach Heidelberg. Da war für uns kein Platz mehr im Gemeinschaftszimmer, wir saßen mit unsern Gästen in einer kleinen Nebenstube. Als aber einen Tag nach deren Abreise versehentlich auch wieder so gedeckt war, kam nach Tisch die ganze andere Gesellschaft in Prozession zu uns herein, jeder mit seinem Milchkännchen für den Nachmittag in der Hand, und der Obmann bat in feierlicher Ansprache, daß wir doch die Trennung nicht fortsetzen möchten, es sei bei ihnen jetzt ganz trübselig gewesen. Mein Sohn Walter-Herwig hatte noch besondere Fäden angeknüpft. Es wurde zuweilen für abends nach dem Essen ein „Gesellschaftsabend" angesagt, wo getanzt, gespielt und gesungen wurde. Ein junger Bauer kam dann mit der Zieh-Harmonika herauf und brachte einige junge Mädchen mit. Da mein junger Student ein leidenschaftlicher und guter Tänzer war, führte das zu einigen Freundschaften, die sich besonders bei unserm Abschiede auswirkten. Eines der Mädchen hatte einen großen Butterkuchen für uns gebacken, ein anderes die dicksten Aale der letzten Fänge rasch 368

ARKONA 1921 geräuchert. Damit hatte sich unser reichliches Gepäck noch etwas vermehrt. Die Aale waren so lang, daß sie in keinen Koffer paßten und ein Sonderpaket bildeten. Als wir dann in Berlin vom Lehrter Bahnhof per Droschke zum Potsdamer gefahren waren und im Zuge nach Lichterfelde saßen, rief Walter beim Überblick über unsre Habe: „Die Aale fehlen!" Er sprang auf der nächsten Station hinaus und wollte versuchen, die Droschke wiederzu finden. So kam ich allein nach Hause und sah mit der Mutter dem unberechenbaren Eintreffen des lieben Sohnes trübe entgegen. Aber schon nach einer Stunde kam er und hielt triumphierend sein Aalpaket in die Höhe. Er hatte die Nummer der Droschke behalten und auch vom Kutscher, neben dem er gesessen, gehört, daß der Wagen nach seinem Standquartier am Stettiner Bahnhof zurück müsse. Dort fand er dann 20 abgestellte Wagen ohne Kutscher und seinen darunter mit dem Aalpaket noch unberührt in dem zurückgeschlagenen Verdeck! Er nahm es, ohne mit irgendwem zu verhandeln, und zog vergnügt seines Weges. ARKONA 1921 Als ich durch das Studium der Meßtischblätter und mannigfaches Abstreifen der in Betracht kommenden Gegend schon ziemlich sicher war, wo ich Rethra anzunehmen hätte, beschloß ich, als letzte Vorübung für seine Ausgrabung nun noch die Untersuchung von Arkona vorzunehmen. Da hatte ich eine beglaubigte Tempelburg vor mir und konnte erfahren, was man von einer solchen zu erwarten hatte. Die Burg ist auch verlockend wohl erhalten, aber der Spatenarbeit stellten sich einige Schwierigkeiten entgegen. Arkona liegt auf fiskalischem Boden: ich brauchte also die Genehmigung der Regierung. Das Berliner Ministerium verwies mich an den Stralsunder Regierungspräsidenten, das war ein kleiner Zeitungsredakteur aus der Provinz, dem der Name Arkona spanisch vorkam; er schob mich weiter an den Landrat in Bergen. Hier kam ich an einen Schriftsetzer — die Sozialdemokraten überfluteten damals diese Ämter —, der fand die Lösimg: ich solle mich an den Leuchtturmwärter in Arkona wenden, der habe die Aufsicht über das umliegende Gelände und möge verfügen. Arkona war damals schlecht zu erreichen. Die Vergnügungsdampfer, die es sonst mit Saßnitz verbanden, gingen in jenem schlechten Jahre nicht. Ich mußte mit der Kleinbahn von Bergen über Vitt an der Westküste nach Altenkirchen fahren und von da über Puttgarten zu Fuß gehen. Aber man wurde belohnt durch die herrliche Lage der Burg auf der steilen, fast 50 m hohen Kreideküste mit dem Ausblick auf das allseitig unbegrenzte Meer; nur im Nordwesten erschienen bei klarem Wetter die Umrisse der kleinen dänischen Insel Moen. 24

Schuchhardt,

Lebenserinnerungei

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Der Leuchttürmer war ein kernfester Rügener, der die Schwierigkeiten sah, aber sie zu meistern hoffte. Die Arbeiterfrage war die Klippe. Tagelöhner gab es nicht. Die Bauern in Puttgarten halfen sich bei der Ernte untereinander aus; indem sie sich erst auf den Äckern des einen und dann des andern zusammenfanden. Es war nur möglich, einige der jungen Fischer zu gewinnen, die jeden Morgen um 4 Uhr mit ihren Booten ausfuhren, die Beute von den ausgelegten Netzen einheimsten und dann um 8 oder 9 Uhr zurückkamen. Einige Tapfere würden dann wohl zur Verfügung stehen, er wolle energisch werben. Die Aussicht auf Unterkunft und Verpflegung dagegen war gut. Das Logierhaus dicht beim Leuchtturm war ein ansprechender Bau mit einer riesigen Glasveranda am Eingang und freundlichen Zimmern im Oberstock. Eine Berliner Filmtruppe unter Führung von Paul Wegener hatte dort eben erst mehrere Wochen gehaust und die Wirtschaft an allerhand Ansprüche gewöhnt. Die Wirtsleute waren erst vor kurzem aus Pommern herübergezogen, wo sie ein Bauerngut besessen hatten. Mit einigen Sorgen waren sie in den neuen Betrieb gegangen, hatten jetzt aber, wie sie sagten, an dem vielen Sekt der Filmleute so gut verdient, daß sie uns keine hohen Preise zu stellen brauchten. Hier sind dann Koldewey, mein Sohn und ich am Sonntag, den 12. August 1921, eingetroffen und drei Wochen geblieben. Der erste Arbeitstag ließ sich trübe an. Ein Rieselregen ging hernieder; als wir um 8 Uhr auf die Burg kamen, war kein Arbeiter zu sehen. Gegen 10 und 11 Uhr kamen dann zwei und noch ein dritter angeschlendert, neugierig, was die merkwürdigen Herren aus Berlin denn eigentlich vorhätten. Unsere offene Art, die jedesmalige Erläuterung, was wir an dieser und jener Stelle nachprüfen wollten, die gemeinsame Freude, wenn dann ein klares Ergebnis herauskam, gewann sie aber bald, und am andern Tage kamen schon acht zur Arbeit. Wir faßten den dreieckigen Burgraum in der Weise an, daß wir von seiner Basis, dem großen Walle aus, lange Schnitte nach Osten, gegen die Burgspitze hin, zogen. Es ergab sich zunächst ein breiter, mit eingetieften Häusern besetzter Streifen, Abb. 39. Das waren die Wohnungen der 300 Besatzungsleute, von denen Saxo Grammaticus spricht, und dazu wohl auch die der Tempeldiener und die Schatzkammern, denn in bestimmter Linie hörten die Hausspuren auf, und unsre Schnitte führten auf ganz reinem Boden weiter. Wir waren auf einen großen freien Platz gekommen, der bedenklicherweise gar kein Ende nehmen wollte. Wir fürchteten schon, daß der Tempel, den wir doch erhofften, mit dem erheblichen Stück des abgestürzten Burgrandes verloren wäre: da kam ein Ingenieur über die Burg gegangen, der vor Jahren bei der Errichtung ihrer Telefunkenmasten mitgeholfen hatte. Er 370

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erinnerte sich einer breithinlaufenden Steinpackung, auf die man damals noch weiter hinauf gestoßen sei. So zogen wir unsre Schnitte guten Mutes weiter und kamen auch alsbald an die besagte Packung, die sich dann als der HiiCscr Unterbau der Tempelfront erwies. Sie war aus Lehm und kleinen Steinen hergerichtet und durch einen Brand fest zusammengebacken. 2 m breit und heute noch 1 m dick, hatte sie in nordsüdlicher Richtung eine Länge von 20 m. An beiden Enden bog sie rechtwinklig gegen Osten um; diese Seitenlinien liefen sich aber schon nach 8 m tot in dem gegen die Spitze sanft ansteigenden Gelände. Die Anlage war also kein vollständiges Fundament des Tempels, sondern nur die Abb. 38. Plan der Burg Arkona. i : 2666 Abgleichung des Terrains, auf dem er stehen sollte. Ich wollte nun sehen, ob auch im Innern des Tempels noch etwas von der Einteilung, die Saxo gibt, zu erkennen sei. Er spricht von vier Säulen, die, ein Quadrat bildend, das Dach getragen hätten; in ihrer Mitte habe das große hölzerne Swantewitbild gestanden, das, als die Dänen es umstürzten, die Seitenwand eingeschlagen habe. Die Grabung im Tempelraum brachte in der Tat noch drei Fundamentpackungen aus kleinen Steinen für die Säulen, die vierte war schon abgestürzt, und, was uns besonders erfreute: zwischen den vier Säulen war noch die Fundamentgrube, in der das Götterbild verankert war, erhalten. Es war 2: 1,40 m weit und 1,05 m tief, an seinem Boden lagen noch drei große und mehrere kleine Granitsteine, mit denen man die tiefgreifenden Fußzapfen festgekeilt hatte. Das war eine Illustration zu Saxos Schilderung von dem Umsturz des Bildes. Er erzählt, die Dänen hätten mit umgelegten Stricken die Statue nicht umreißen können, sie sei zu fest fundamentiert gewesen; der König habe zwei Adlige mit großen Äxten in den Tempel schicken müssen, die es bei den Knöcheln durchhieben und so zu Fall brachten. Beim Umfallen habe es die Seitenwand des Tempels eingeschlagen. Da wir nun sahen, daß der Tempel 20 m maß und das Bild in seiner Mitte stand, konnten wir sagen, daß das Bild mindestens 10 m hoch gewesen sein muß. Der Grundriß des Tempels, das Quadrat mit vier Säulen, weicht ab von allen germanischen Gotteshäusern, stimmt aber auffallend zu den keltischen 24 •

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Kultbauten, wie sie zahlreich am Rhein, besonders lehrreich in dem großen Bezirk des Trierer Altbachtales gefunden sind. Verwandt sind auch die byzantinischen Zentralbauten, wie die Hagia Sophia. Wie diese Beziehungen entstanden sind, ist noch eine Frage der Zukunft. Das Bild von der Burg, das die Ausgrabungen uns verschafft haben, macht die Schilderung Saxos von der großen Jahresfeier in Arkona vollkommen greifbar: Das Volk versammelt sich schon am Tage vorher in der Burg und übernachtet auf dem Festplatze. In den Tempel darf nur der Priester eintreten. Der nimmt am Festtage dem Swantewitbilde das Trinkhorn aus dem Arme und weissagt nach dem Verdunstungsgrade der Flüssigkeit auf das kommende Jahr. Dann ermahnt er das Volk zu allem Guten, trinkt den Rest im Hörne auf einen Zug aus und füllt es mit neuem Stoff. Das Volk aber ergibt sich ungemessenem Schmausen und Trinken. R E T H R A 1922

Für Rethra hatten wir zwei Überlieferungen. Thietmar von Merseburg hatte es um 1010 beschrieben und Adam von Bremen um 1070. Thietmar war ein Graf von Galen aus der AUergegend, mit Kaiser Heinrich II. verwandt und von ihm mit dem neuen, gegen die Slawen gerichteten Bistum betraut. Er hatte an der Seite des Kaisers auch 1007 den Feldzug gegen Boleslaw von Böhmen mitgemacht und dabei die auf kaiserlicher Seite mitkämpfenden Lutitzen kennen gelernt, in deren Gebiet der Rethra-Tempel lag. Das empfahl von vornherein seine Beschreibung des Heiligtums. Sie klang auch weit glaubhafter als die phantastische des Adam von Bremen. Adam spricht (II 21) von einer Burg, rings von Wasser umgeben und mit neun Toren versehen, die also novies Styx interfusa cohercet (Vergil Aeneis VI 439). Thietmar dagegen sagt (Chronicon VI 23): „Im Redariergau liegt eine Burg mit Namens Riedegost, dreihörnig (tricornis) und mit drei Toren, ganz von einem großen Walde, den die Bewohner unversehrt und heilig halten, umgeben. Zwei ihrer Tore stehen allen, die hinein wollen, offen, das dritte, das nach Osten schaut und ganz klein ist, weist den Pfad zum Meere, dicht daneben und schreckhaft zu sehen. In dieser Burg steht nichts als das Heiligtum, aus Holz kunstreich gebaut und statt der Fundamente von den Hörnern verschiedener Tiere getragen". Im Weiteren ist dann von den Schutzbildern die Rede, die außen den Tempel schmücken, von den Götterstatuen, die im Innern stehen, derea vornehmster Suarasici heißt, von den Dienern (ministri), die das Heiligtum zu pflegen haben, und von dem großen heiligen Pferde, das, über Speere schreitend, die Orakel schafft. Heiligtümer, heißt es weiter, gibt es im Slawenlande so viele wie Gaue, aber Rethra hat die unbedingte Vorherrschaft. 372

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Hier werden die Feldzeichen (vexilla) der sämtlichen Wendenvölker aufbewahrt, hier kehren sie ein, bevor sie in den Krieg ziehen, und hier opfern sie einen guten Teil der Beute, wenn sie zurückkehren. Wie viel reicher war Thietmar unterrichtet und wie hatte alles bei ihm Hand und Fuß! Als ich 1921 beim Mecklenburgischen Städtchen Feldberg zum „Schloßberg" emporstieg, der sich mir schon auf der Karte empfohlen hatte durch den Breiten Lucin See, den er im Osten vor sich und den Urwald auf der Moräne entlang, den er hinter sich hatte, und dann oben die Wahrscheinlichkeit von drei Toren erkannte, einer für die allemal eintorigen slawischen Burgen ganz auffallenden Erscheinung, da wurde mir klar, was Thietmar mit der urbs tricornis meinte. Wenn er diese Bezeichnung in einem Atemzuge mit den drei Toren zusammen gebraucht, hat er die drei Tortürme vor Augen gehabt und nicht ein dreizipfliges Gelände. Die Tortürme baut man immer viel höher als die Mauertürme, weil man die Tore durch Etagen von Verteidigern schützen will. So bestimmen sie, von weitem gesehen, das Bild der Burg. Nicht ohne Bosheit aber verwendet Thietmar hier den Ausdruck tricornis. Das Wort kommt nur ein paarmal in der römischen Literatur vor (bei Plinius und Solinus) für Ochsen, denen zufällig drei Hörner gewachsen sind. Der große Bischof war ein geistreicher Mann. Ich habe mit Vergnügen damals sein ganzes „Chronicon", das man heute „Memoiren" nennen würde, gelesen und eine Reihe von Beispielen gefunden für seine Neigung zu witzigem Wortspiel. So hat er auch hier dem slawischen Heidentum einen Stich versetzt, indem er seinen Haupttempel verglich mit einem von der Natur besonders begnadeten Ochsen! Durch die wohlgelungene Ausgrabung von Arkona waren wir nun aufs beste gerüstet für die von Rethra. Koldewey freilich fühlte sich durch seine schleichende Lähmungskrankheit so geschwächt, daß er glaubte, auf ein Mittun verzichten zu müssen. Der Arzt hatte ihm eine sechswöchige Kur in Oeynhausen geraten, aber er glaubte, sie werde nichts nützen, und wollte nicht hingehen. Da sammelte ich rasch in Freundeskreisen die bei dem damaligen Stande der Inflation horrenden Kurkosten und versprach ihm, mein Vorhaben bis zu seiner Rückkehr zu verschieben. So willigte er ein und hat dann die Grabung auch mitgemacht, an der doch sein Herz hing. Die schon vor Jahren bewilligten Mittel reichten, trotz stattlicher Zulagen, jetzt nur für 14 Tage. So mußten wir uns bestreben, vom 1.—15. Oktober 1922 die Aufgabe zu erledigen. In einer Pension an der Strandstraße in Feldberg haben wir gute Wohnung und Verpflegung erhalten und sind von da jeden Morgen in einer halben Stunde zum Schloßberg hinübergerudert: Koldewey, mein Sohn, Walter Karbe von Neustrelitz und ich. 373

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Die Waldarbeiter, die uns die Forstverwaltung in Aussicht gestellt hatte, konnten wir in dieser Herbstzeit ihres Hochbetriebes leider nicht erhalten. Aber der freundliche Apotheker Funke in Feldberg verschaffte uns 10 Primaner und Studenten, die Ferien hatten, mit seinem Sohn an der Spitze, und die haben vortrefflich gearbeitet. Auf der Burg war die schwierigste Frage: wo hat der Tempel gestanden und wie hat man die große Mulde behandelt, die wie ein griechisches Theater in die Mitte der Westseite einschneidet? Ich nahm den Tempel auf der Burgfläche an und in der Mulde den zweiten Torweg. Koldewey dagegen hielt es für möglich, daß der Tempel die Mulde überbrückt habe mit der Front auf der Burgmauer, so daß er über der unten herumziehenden Vorburg als prachtvolles hohes Mittelstück, von allen Seiten sichtbar, gethront hätte. Nach vielen Versuchsschnitten auf der Burgfläche und schließlich einem tiefen Querschnitt durch die Mulde ergab sich die Lösung. Auf der ganzen Burgfläche trafen wir unter 1—iy2 Fuß tiefem Humus schon den alten Schotterboden. Fast überall war er urtümlich wellig, nur in der Mitte, gerade oberhalb jener noch zu bestimmenden Mulde, war er sichtlich eingeebnet, und auch einige zur Abgleichung gelegte Steine fanden sich hier. Das schien uns nun doch der Tempelplatz zu sein. Koldewey erklärte auch, daß man ein besonderes Fundament für ihn nicht zu erwarten brauche, man könne einen Holzbau ohne weiteres auf diesen tragfähigen Schotter stellen. Der Arkonatempel hatte ja auch kein Fundament gehabt, die Steinpackungen dort waren nur auf der Seite des sich absenkenden Bodens angebracht, Abb. 40. Der Querschnitt durch die Mulde aber ergab nun tatsächlich einen Torweg. Wir hatten an der Nordspitze der Burg schon das erste Tor freigelegt. Seine Wände hatten auf Findlingspackungen gestanden und ergaben einen Durchgang von 4 m Breite und ebensolcher Länge. Die gleichen Packungen fanden sich nun in der Mulde und in derselben Entfernung von 4 m voneinander. Die Ausmündung dieses Torweges unten auf die Berme vor dem Graben ließ sich dort ebenfalls erkennen, und zwar in 4 m Breite. Der Torbau hatte bis hierher hinuntergereicht mit einem Abstieg von 5,08 m. Der Torweg von der Burgfläche bis auf die Berme herunter ließ sich auf 20 m Länge bestimmen. Er wird nicht eine glatte Rampe gewesen sein; Koldewey konstruierte eine Treppe, die, durch zwei Podeste unterbrochen, in drei Abschnitten zu je 10 Stufen (von 12y2cm Höhe) verlaufen sei. Die Anlage ist von einer Großartigkeit, die man einer slawischen Burg wohl nicht zugetraut hätte; sie erinnert an die Athenischen Propyläen, die auch vom Fuße des Burghügels aufsteigen und bis weit in die Burg hineingreifen. „Die Akropolis des Nordens", sagte einer unserer Besucher, als er das imposante Bild von der Vorburg aus erblickte. 374

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Abb. 39. Plan der Burg Rethra b. Feldberg i. M. 1 : 2500.

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Abb. 40. Rethra von Westen gesehen. Rekonstruktion von R. Koldewey.

Nun war das dritte Tor noch auszugraben, das Seetor. Robert Beltz, der Herrscher im Mecklenburgischen Altertumsreich, war aus Schwerin auf zwei Tage zu Besuch gekommen. Er hatte bei seinem Erscheinen offen erklärt: „Ich komme als Gegner Ihrer Hypothese, aber ich möchte doch sehen, was die Grabimg herausbringt". An dem Morgen, wo es ans Seetor ging, bat ich ihn, dort einstweilen die Aufsicht zu übernehmen, und begab mich zu einer andern Arbeitergruppe in die Unterburg. Als ich nach einer Stunde wieder erschien, kam Beltz mir entgegen und sagte mit erhobenem Finger: „Tertia porta quae minima est, — ich gratuliere!" Das Tor lag mit seinen zwei Steinlinien frei und hatte nur eine Weite von 1,45 m! Nun war Rethra wohl sicher: das große Wasser im Osten, der Urwald im Rücken, die Tempelstelle deutlich, drei Tore, von denen das kleinste zum See führte, — was wollte man mehr ?! Beltz erzählte denn auch, als er wieder nach Hause kam, wie Rethra nun tatsächlich bei Feldberg gefunden sei. Da griff er aber in ein Wespennest: von allen Seiten wurde er mit Vorwürfen überschüttet, daß er ruhig zugesehen habe, wie das berühmte Heiligtum, das bisher immer Mecklenburg-Schwerinisch gewesen sei, nun Mecklenburg-Strelitzisch werden solle. Man hatte sich damals in der Tat allgemein auf die Fischexinsel im Südzipfel der Tollense geeinigt, sodaß die Schweriner und Neubrandenburger sich in ihrem Besitz sehr sicher fühlen konnten. Beltz hat dieser Stimmung dann auch Rechnung getragen, indem er ein paar Jahre darauf in seinem Artikel für Eberts Reallexikon erklärte, ganz sicher sei die Ansetzung Rethras bei Feldberg nicht, da man ja den Tempel selbst eigentlich nicht gefunden habe. Aber die wissenschaftliche Welt hat von diesem Zweifelsversuch keine Notiz mehr genommen, mein Akademiebericht über die Grabung war sehr rasch vergriffen und ist bald darauf mit den Aufsätzen über Arkona und Vineta zusammen als Buch erschienen1). ' ) Arkona, Rethra, Vineta. Ortsuntersuchungen und Ausgrabungen. 1926. W . de Gruyter u. Co.

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GARZ 1928

Im Jahre 1519 hatte der Rostocker Professor Albert Krantz die Suche nach Rethra begonnen, nach just 400 Jahren war sie nun zum Ziele gebracht. G A R Z 1928 Im folgenden Frühling (1923) hab ich dann noch die verschiedenen Plätze aufgesucht, für die alte Quellen slawische Heiligtümer erwähnen, um zu sehen, ob sich durch eine Grabung dort noch etwas gewinnen ließe. Das Ergebnis war aber sehr dürftig. In Stettin, wo ein großer Tempel gestanden haben soll, hat der dortige Gymnasialdirektor Fredrich, ein Schwiegersohn Wilamowitzens, auf der Höhe die Stelle bestimmt, sie hegt aber mitten in der dicht bebauten Stadt. In Brandenburg hat der Slawentempel auf dem Marienberge gestanden, wo heute die große Kirche steht. In Gützkow hab ich einen Tag im Pfarrgarten gegraben, weil man dort gelegentlich auf alte Mauerreste gestoßen war. Ich sah aber, daß sie von einem früheren Pfarrhause herrührten, und der Tempel unweit davon, auf der schönen Hochfläche, die die heutige Kirche trägt, anzunehmen ist. Bei Malchow schließlich fand ich keinen Anhalt, auch nur den Platz, wo der Tempel gestanden haben dürfte, zu bestimmen. So blieb für mein Begehr, noch weitere slawische Heiligtümer zu erfassen, nur die große Volksburg Carentia bei Garz im südlichen Rügen übrig, die von Saxo Grammaticus beschrieben wird, und in der er drei Heiligtümer schildert. Da hab ich denn, unterstützt von Oberbaurat Otto Stiehl und Dr. Wilhelm Petzsch im August 1928 meine überhaupt letzte Ausgrabung gemacht. Mit zwiespältigen Gefühlen denke ich an sie zurück: die Ergebnisse haben Mühe, die Anstrengungen, die sie gekostet haben, aufzuwiegen. Nach der anstrengenden Tagesarbeit wurden wir häufig noch durch Einladungen und Besuche in Anspruch genommen. So waren wir beim Superintendenten Anthes, dem Bürgermeister Dr. Stoffers, bei dem künftigen Erben des großen fürstlich Putbusschen Besitzes, einem jungen Kavallerie-Offizier, zu Gast. Häufig kam abends der Kantor Wiedemann zu uns. Von auswärts erschienen Erich Pernice und Adolf Hofmeister aus Greisfwald, Otto Kunkel mit dem Gymnasialdirektor Fredrich, dem Schwiegersohn von Wilamowitz aus Stettin und Wilhelm Unverzagt aus Berlin. Die drei Heiligtümer der Burg konnten wir nach den Steinfundamenten und Pfostenlöchern in der Tat feststellen. Sie lagen im südlichen, höchsten Teile der Burg. Die zwei kleineren, ganz an den Rand vorgeschoben, waren Quadrate von 7 y2 und 6 m Seitenlänge. Das große, nach Saxo mit einem Umgang versehene und dem Rugiaevit gewidmete hatte davor gelegen, war aber durch das mittelalterliche Fürstenhaus beseitigt worden, so daß wir 377

BERLIN 1919—1928 nur aus zwei Pfostenlöchern und einem Rest des Pflasters seine alte Lage erkennen konnten. Die Wohnhäuser der alten Volksburg waren, wie bei den Slawen üblich, in den Boden gesenkt. Sie lieferten viel Tongeschirr der späten Form und eiserne Messer, Speerspitzen, Sporen und Steigbügel. Auch ein silberner Brakteat kam zu Tage. Von den mittelalterlichen Bauten war das Fürstenhaus das größte. Es war ein Rechteck von 25: 22 m und hatte zwei Ecktürme auf Steinfundament an seiner Südfront. Neben ihm nördlich lag ein kleines Gebäude und noch mehr nach der Mitte der Burg eine Kapelle, von der ein Formstein sich erhalten hatte. Der Wall mit Holzplanke umzog nur die flacher abfallende Nordseite der Burg, an dem steilen Südhang hatte man sich mit einer Pallisade begnügt. Der Torweg in der Mitte der Westseite ging zwischen zwei Türmen hindurch. Auch diese Garzer Grabung hab ich in einem Akademiebericht veröffentlicht: Sitz.B. Phil.-Hist. Klasse 1928. XXVII 36 S. m. 3 Tafeln. MUSEUMSUMZUG 1922/23 Bei meiner Berufung nach Berlin hatte man mir ein neues Museum versprochen, das in Dahlem mit vier ethnologischen Museen zusammen gebaut werden sollte. 1911 war das erste von diesen fast fertig, und meines sollte nun das nächste sein. Ich legte einen Plan vor, der Bodes Zustimmung erhielt: ein Rechteck wurde in der Mitte der Langseite vom Eingang aus durch einen Riegel zerschnitten, der durch zwei Stockwerke gehen und Nachbildungen von großen Stücken, wie Menhirs, Juppitersäulen, aufnehmen sollte. Um die seitlichen beiden Hälften sollte sich an der Außenseite die Schausammlung, an der Hinterseite, um den Lichthof, die Studiensammlung ziehen. Bruno Paul, damals Direktor der Kunstgewerbeschule, entwarf für diesen Plan einen Bau im frühen Empirestile von etwa 1790, von dem der Kultusminister Trott zu Solz bei der Besichtigung sagte: „Ich dachte, wenn man ein Vorgeschichtsmuseum baut, würde es eine Art Stallgebäude werden, aber dies ist ja ein wunderhübsches Schlößchen!" So schien alles auf gutem Wege zu sein, als plötzlich Herr v. Heydebrand, der große Freund meiner Abteilung, zu Bode ging und sagte, das Vorgeschichtliche Museum mit seiner Troja-Sammlung verknüpfte sich in so erfreulicher Weise immer mehr mit den Archäologischen Sammlungen von Italien, Griechenland, Ägypten und Vorderasien, daß man es nicht mit den Ethnologischen Sammlungen nach Dahlem legen, sondern bei den verwandteren in Berlin lassen solle. Als Bode mich um meine Meinung fragte, mußte ich 378

MUSEUMSUMZUG

Heydebrand Recht geben. Die Verkoppelung mit der Ethnologie im Museum und in der AEU-Gesellschaft, und der Einfluß Virchows, der auch meinen Vorgänger Albert Voß, einen alten Arzt, zum Direktor gemacht hatte, war Schuld daran, daß die philologischen Oberlehrer jener einzigen Gesellschaft, in der die Vorgeschichte betrieben wurde, völlig fernblieben, während man in Hannover im „Historischen Verein" sich gerade auf sie sehr stark hatte stützen können. Jetzt war aber Robert Zahn, der 2. Direktor der Antikenabteilungen, in unsrer Sachverständigen-Kommission, und ich war in der des Antikenmuseums. Damit war schon der neue Weg vorgezeichnet, den nun auch Heydebrand empfahl. Es wurde nun vereinbart, daß ich das bisherige Völkermuseum ganz für die Vorgeschichte erhalten sollte, sobald die Ethnologen alle nach Dahlem übergesiedelt sein würden. Daß das bei unsern Lebzeiten gar nicht eintreten würde, konnte man nicht voraussehen. Aber es war draußen erst ein Museum fertig, als der Weltkrieg ausbrach, und dies eine wurde dann als Magazin für alle Abteilungen eingerichtet, so daß überhaupt keine mit ihrer Schausammlung auszog. Nach dem Kriege haben wir gesucht, ob nicht eines der freigewordenen Schlösser für die Vorgeschichte brauchbar sein würde, aber das Alte Schloß am Lustgarten und das Prinz-Albrecht-Palais an der Wilhelmstraße erschienen mir zu prunkvoll für meine alten Töpfe, und das Prinz-Leopold-Palais am Wilhelmsplatz war zu kleinräumig und auch schon für eine Verwaltung ins Auge gefaßt. Als aber Otto v. Falke sich entschloß, mit seiner Kunstgewerbesammlung in das Alte Schloß zu gehen, griff ich sofort zu und sicherte mir sein bisheriges Haus. Das war ein Museumsbau, der wirklich diesen Namen verdiente: mit großfenstrigen, lichtvollen Räumen, abwechselnd größeren und kleineren Sälen, die eine Pläne-Einteilung der Sammlung ermöglichten, und mit einem Lichthof, um den im 1. Stock ein breiter Umgang die großen Stücke, wie Einbaumboote und die Gipsabgüsse von Grabmälern, aufnehmen konnte. Freilich mußte ich nun meine großen Ausstellungsschränke umarbeiten lassen. Die Säle im Völkermuseum hatten alle auf beiden Seiten Fenster und waren durchweg 35 m lang. Sie hatten somit gar keine Wandflächen, an den Fenstern standen nur Pulte, und die großen Schränke mitten im Räume hatten zwei Fronten und waren damit über 1 m tief. In dem neuen Museum dagegen hatte jeder Saal drei gutbeleuchtete Wände, da mußten flache, hohe Schränke stehen, am Fenster nur ein Pultschrank und in der Mitte je nach der Größe des Saales einer oder zwei niedrige zweifrontige Schränke. Bei den Finanz-und Materialverhältnissen von 1922 war es unmöglich, an neue Schränke zu denken. So zog ich einen geübten und erfinderischen Schlosser, der sich unter unsern Arbeitern fand, heran und ließ ihn unsre 379

BERLIN 1919—1928 alten gigantischen Eisenschränke in der Mitte durchsägen und die offenen Seiten der beiden Teile Hann mit einer hölzernen Wand verkleiden, die damit die Rückwand des neuen Stückes wurde. So erhielt ich eine große Zahl brauchbarer Wandschränke. Aus der Aufseherschaft des Kunstgewerbemuseums wurde ein Maler gewonnen, um die Rückwand und die Börte anzustreichen. Dabei räumte ich auf mit einer merkwürdigen Leidenschaft des alten Museums. Mein Vorgänger Voß war nach vielfaltigen Proben zu der Überzeugung gekommen, daß nur eine Farbe sich als Hintergrund für alle vorgeschichtlichen Gegenstände eigne: die lehmgelbe. So hatte er in allen Sälen die Wände und die Schränke lehmgelb streichen lassen. Als ich einmal einen auswärtigen Kunsthistoriker durch diese Säle führte und ihn fragte, welchen Eindruck er davon habe, sagte er: „Das wirkt ja wie ein unendlicher Regentag!" Ich ließ nun die in dem neuen Museum sehr wechselnden Wandfarben stehen und suchte die Bemalung der Schränke so einzurichten, daß sie sowohl den Wänden wie auch den aufzunehmenden Gegenständen gerecht würde. In dem großen trojanischen Saale, wo die Wände rötlich waren und nun auch die hochrote Keramik stehen sollte, wählte ich grüne Schrankfarbe, umgekehrt im Hallstattsaal für die lebhaft grünpatinierten Bronzen roten Untergrund usw. Diese Neuerungen, wie auch schon der langwierige Umzug selbst, machten nicht unerhebliche Kosten. Um durch ihre Anmeldung nicht die Einmischung des bei allen Abteilungen gefürchteten damaligen Museumsarchitekten hervorzurufen, habe ich sie im Einverständnis mit Bode gedeckt durch den Verkauf von Bruchstücken dicker goldener Armbänder und eines im Laufe der Zeit als Fälschung erkannten goldenen Hallstattschatzes. Den ersten Verkauf hatte ich unserm trefflichen Rechnungsrat Junker überlassen. Er hatte dabei aber gleich ein ganzes Kilo Gold auf einmal verkauft, während ich es in Etappen hatte absetzen wollen. Auf meine Vorhaltung, daß er bei dem immer mehr absinkenden Kurse nur so viel verkaufen dürfe wie die nächsten vier Wochen erforderten, um nachher die höher gewordene Bewertung zu genießen, meinte er, es sei uns streng verboten „zu spekulieren". Ich entlastete sein Gewissen und ging von da an selber zu dem Goldund Silber-Amt gegenüber der Reichsbank. Die Neuaufstellung des Museums ist mir eine große Freude gewesen. Zum ersten Male konnte man mit diesem imposanten Material die ganze frühe Kulturentwicklung von Europa anschaulich vorführen. Ich habe auch zwei Drittel der 19 Säle selbst eingerichtet und Hubert Schmidt und Otto Götze nur diejenigen überlassen, mit deren Material sie besonders vertraut waren. Der erste Saal zeigte die paläolithischen Funde aus Deutschland und Frankreich mit den beiden Skeletten von Le Moustier und Aurignac 380

MUSEUMSUMZUG

im Mittelpunkt und den Höhlenskulpturen daneben. Der etwas kleinere zweite war dem deutschen Neolithikum gewidmet, hatte in der Mitte acht der Rössener Hockerskelette mit ihren Beigaben und in den Wandschränken die Gefäße und Geräte der Megalith-Kultur- und Bandkeramik. Diese beiden Säle hatte Hubert Schmidt aufgestellt, mit 3 bis 8 begann meine eigene Reihe. Saal 3 taufte ich den „Rumänischen Saal", was den etwas eifersüchtigen Tsigara Samurcasch, der alsbald zu Besuch kam, einigermaßen versöhnte. Die Funde H. Schmidts von Cucuteni und Monteoru und die meinigen von Cernavoda und Salcutza boten hier ein hübsches, buntes Bild. Saal 4, 5 und 6 waren die „Schliemann-Säle*'. Im vierten, dem mittelsten und größten an der südwestlichen Hausseite, bildete der trojanische Goldschatz den Mittelpunkt, und ringsumher stammte auch alles aus der zweiten, der „verbrannten Stadt". In 5 und 6 folgten die späteren Perioden. In Saal 7 hatte ich zusammengestellt, was wir sonst aus dem alten Mittelmeer besaßen, von Spanien bis Ägypten, darunter auch das Modell des großen Malteser Grabmals Hagiar Kim und Nachbildungen von kretischen Gefäßen und Figuren. In Saal 8 dominierte die Kultur des Kaukasus der Zeit von 1200—800 v. Chr. Hier geriet Bode, der mein erster Besucher war, in Entzücken, als er sah, wie dort damals schon die Emaillierkunst, und zwar der Grubenschmelz, bekannt gewesen war, der bei uns seine Blüte erst im frühen Mittelalter gehabt hat. In den folgenden drei Sälen hatte Götze sich betätigt. Sie boten die deutsche Bronzezeit und erste Eisenzeit: in Saal 9 die wertvollen Schatzfunde mit dem großen Waffendepot von Spandau; in Saal 10 die Lausitzer Kultur mit dem Eberswalder Goldfunde; in 11 die Urnenfriedhöfe von Göritz, Billendorf, Zaborowo und die Haus- und Gesichtsurnen von der Elbe. In Saal 12 und 13 hatte ich die süddeutsche Hallstatt- und Latene-Kultur aufgebaut, in 14 Götze die Funde derselben Zeit aus Norddeutschland, worunter die aus den 250 Ringgräbern bei Börnicke (nächst Nauen) die Hauptrolle spielten. Die weiteren von 15—19 hatte ich wieder übernommen und führte da zunächst die einheimische Kultur zur frühen Römerzeit, dann das Römische aus dem Rheinlande und wieder das Einheimische der spätrömischen Zeit vor. Saal 18 entsprach als großes Quadrat in der Mitte der Nordostseite dem Saale 4 im Südwesten und erlaubte wie jener eine besonders eindrucksvolle Vorführung. Hier brachte ich die schönen Schmucksachen der Merowinger-, Karolinger- und Wikinger- Zeit zur Geltung und belebte das Bild durch die große Figur eines germanischen Kriegers, eine Nachbildung des Holzsarges von Oberflacht in Württemberg mit einer Harfe und altem Geschirr aus Holz, sowie dem Modell von Karls d. Gr. Kastell Hohbuoki. Den Schluß 381

BERLIN 1919—19:8 bildete Saal 19 mit den slawischen Altertümern, darunter eine freilich sehr zerschundene Holzfigur. Die neue Darbietung der Sammlung hat sofort weitgehendes Interesse und Beifall gefunden. Ich habe sie zuerst den Kollegen der Berliner Museen vorgeführt, dann der Presse, der Anthropologischen und Archäologischen Gesellschaft, den „Freunden antiker Kunst" und den Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften, von denen mir besonders die Fragen und weiterführenden Bemerkungen Gustav Roethes und Wilhelm Schulzes in Erinnerung sind. Die Aufstellung hat in dieser Form fortbestanden, bis 1941 die Bombengefahr eine allgemeine Ausräumung der Museen und Sicherstellung ihrer Schätze gebot. IN POMMERN EINGELADEN 1923 Im Jahre 1922 meldete mir der Aufseher einen Herrn „von Wismar", der mich zu sprechen wünsche. Es trat ein eleganter Mann von etwa 40 Jahren ein, der von Wällen und Grabhügeln auf seinem Gut und in der Nachbarschaft sprach, über die er gern Aufklärung haben möchte; ob er sich erlauben dürfe, mich auf ein paar Wochen zu Ausgrabungen dorthin einzuladen. Ich mußte ihm erwidern, daß die Neueinrichtung meines Museums und die Bearbeitung eines „Führers" mich vorläufig an Berlin fessele, daß ich nachher aber gern bereit sei zu kommen. Ich bat um seine Adresse und hörte „Kniephof bei Naugard in Pommern". „Ach", sagte ich, „da hat der Diener vorhin wohl Ihren Namen mißverstanden: er hat mir einen Herrn von Wismar gemeldet." „Ja", lachte er: „ich heiße von Bismarck, Gottfried von Bismarck, bin ein Großneffe des Altreichskanzlers und habe sein altes Kniephof in Besitz." Im folgenden Jahre kam nach einem Vortrage über die Slawen, den ich in einem Wohltätigkeitszyklus in der Akademie gehalten hatte, derselbe Herr zu mir und sagte: „Ihr Museum steht jetzt, und der Führer ist gedruckt, könnten Sie nun nicht zu mir kommen ? Bringen Sie von Ihrer Familie mit, wen Sie noch wollen". Ich willigte ein, und wir verabredeten die Zeit nach der Kornernte, Mitte September. Daran schloß Bode dann noch einen Wunsch: er war ein paarmal zur Sommererholung in Lustebuhr bei Köslin, bei einem Neffen v. Helden, dem Gatten von Marie Rimpau in Langenstein bei Halberstadt, gewesen und hatte dort mehrere Burgen und ganze Gruppen von Grabhügeln kennen gelernt, die der Bestimmung harrten. So bat er mich jetzt, nach der Erledigung von Kniephof nach Lustebuhr weiterzugehen. 382

IN POMMERN EINGELADEN

Ich bin dann mit meinem jüngeren Sohne Wolfgang, der in Marburg Germanistik studierte, am 10. September nach Kniephof gefahren. Da kamen wir in ein wohlbestelltes und sehr gastfreies Haus, von 6 Kindern zwischen 12 und 5 Jahre alt belebt und durch häufigen Gelehrtenbesuch auf verschiedenen Gebieten angeregt. Im Sommer war der Theologe Stähelin aus Nürnberg ein paar Wochen dagewesen, jetzt trafen wir einen Universitätsfreund des Hausherrn, Dr. Klamrott, Privatdozent für Germanistik in Freiburg, mit Gattin an. Vor- und nachmittags durchstreiften wir die Gegend, abends war man gesellig beisammen zum Plaudern und wohl auch Liedersingen. Eines der Kinder hatte sich so mit meinem Sohne befreundet, daß es morgens schon vor seiner Kammertür wartete, um sich, sobald er herauskam, an ihn zu hängen. Am Sonntag konnte man im Garten unter der großen Eiche, des alten Bismarcks Lieblingsbaum, sitzen und durch das schöne Buch von Erich Mareks sich in „die tolle Zeit" von Kniephof zurückführen lassen. Das Nachbargut Laesbeck besaß ein Bruder des Kniephofer Herrn, und die Mutter von beiden wohnte als Witwe mit einer Tochter auf einem weiteren Nachbargut. Sie war eine geborene v. Riedesel aus Oberhessen und hatte, wie man mehr und mehr erkannte, den sanfteren oberdeutschen Zug in diesen Zweig der preußischen Bismarcks gebracht. In ihrem Schlößchen hatte sie eine hübsche Ahnengalerie der Riedesel zusammengestellt. Auf dem Gute Kniephof selbst fanden wir nicht viel Archäologisches. Ein paar Hügelgräber mit einem Kern aus kleinen Findlingen waren slawisch, mehrere Siedlungsspuren mittelalterlich oder noch später. Im Laesbecker Walde, 2 km nördlich vom Orte, fanden wir aber sechs stattliche Hügelgräber und östlich anschließend eine slawische Siedlung mit Eisenschmelze, die bis in die Regermanisation bestanden hatte. Nach acht Tagen wurden wir weiter verliehen auf das benachbarte, 20000 Morgen große Gut von Plathe, das der Graf Bismarck-Osten besaß. Der war ein älterer Stiefbruder der Kniephof-Laesbecker Herren. Der Vater aller drei war zuerst mit einer Gräfin v. d. Osten verheiratet gewesen und hatte nach deren Tode, damit der Name Osten erhalten bliebe, ihn nebst dem Grafentitel übernommen. Er war verheiratet mit einer geborenen von Bunsen, der Tochter eines in England verbliebenen Sohnes des bekannten Botschafters und Freundes von Friedrich Wilhelm IV. In Plathe führten wir uns ein dadurch, daß wir im Garten, wo wir kurz vor Mittag den Hausherrn erwarteten, einige Scherben auflasen und auf das 13. Jahrhundert bestimmten. Der Graf war sehr erfreut, dadurch den bisher umstrittenen Standplatz des ältesten Schlosses bestimmt zu sehen. Zwei alte und leidlich erhaltene Burgwälle gab es auf dem Gut, in denen wir nun fleißig gruben. Der eine „Schloß Damnitz" genannt, erwies sich 383

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als eine slawische Volksburg, der andere, der „Schloßberg" bei der Molkerei, ganz quadratisch und mit den Fundamenten eines Wohnturms in der Mitte, als ein typischer Adelssitz aus der Zeit der Regermanisation. Genau dieselbe quadratische Anlage mit dem Donjon in der Mitte hatte der „Schloßwall" beim Gute Vahnerow des Herrn v. Thadden. Die dritte Woche sind wir dann in Lustebuhr gewesen. Da fuhr uns Herr v. Helden zunächst westlich über die Persante zu dem Hauptaltertumskundigen der Gegend, dem Lehrer Asmus in Zwilipp, dessen Erfahrungen uns dann geleitet haben. Er führte uns zunächst zu 10 kleinen Grabhügeln im Walde an der Persante, über die Stubenrauch-Stettin nicht ins Klare gekommen war, da er neben slawischen Scherben auch germanische des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. gefunden hatte. Unsre Grabung ergab, daß hier slawische Brandhügelgräber auf der Stelle einer altgermanischen Siedlung angelegt waren. Nur 500 m östlich von diesen Gräbern liegen der prächtige größte „Bartiner Burgwall", der für altgermanisch galt, und 500 m entfernt, unten an der Persante, ein kleines Wallviereck, das wikingisch sein sollte. Wir fanden aber eine Fülle slawischer Scherben und bekamen so die Zusammengehörigkeit einer Volksburg auf dem Berge mit ihren Gräbern und einem Vorposten zur griffbereiten Überwachung des Flußverkehrs. Auffallig waren die slawischen Hügelgräber, und gar mit Brandbestattung. Für slawisch galt bisher ausschließlich Körperbestattung in flachem Boden. Mit Spannung gingen wir daher an den großen Hügel, den „Katzberg" heran, der dem Bartiner Burgwall gegenüber, östlich der Persante auf Lustebuhrer Gebiete liegt. Unsre Grabung zeigte rasch, daß der ganze 3 ]/2 m hohe Hügel aus dem Bodenmaterial einer spätslawischen Siedlung aufgeworfen war, und diese Siedlung ergab sich dann auch, schon durch bloßes Abschreiten der Äcker, weit um den Hügel herum. Als wir nach langwieriger Arbeit den Boden des Hügels erreichten, fanden wir mehrere Findlinge so gelegt, als wenn sie einen Sarg eingehegt hätten, von Menschenknochen, verbrannt oder unverbrannt, keine Spur. Es wird also eine Bestattung, nicht eine Verbrennung anzunehmen sein, auf jeden Fall aber wieder slawisch. Am letzten Tage führte uns auf dem Nachbargut Klaptow die Besitzerin, Frau v. Wedel, zu einer „Schwedenschanze" dicht an der Persante. Es war eine kleine, den Berg hinaufziehende Volksburg, offenbar slawisch. Auf beiden Seiten von ihr sah man dieselben kleinen und größeren Hügel, wie wir sie bei Lustebuhr kennen gelernt hatten, also wiederum slawische Hügelgräber. Für die Erkenntnis, daß die Slawen vielfach Hügelgräber angelegt und die Leichen dabei meist verbrannt haben, fand ich bald weitere Bestätigung. Beltz hatte in seinem großen Buche über die Mecklenburgischen Altertümer 384

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(1910) schon mehrere Beispiele angeführt. Alfred Götze hatte sie 1901 auf dem Gute Rowen Kr. Stolp und 1918 zahlreich im Bialowiesser Forst gefunden, und Gerhard Bersu hatte soeben auf Neuhof Kr. Regenwalde eine Hügelgruppe als slawisch erwiesen, deren Gräber bei meist unverbrannt bestatteten Leichen charakteristisch slawische Gefäße, Messer, Schläfenringe und einmal einen Topf mit 190 Brakteaten, meist Wendenpfennigen, enthielten, die Otto d. Gr. eigens für den Handelsverkehr mit den Slawen hatte prägen lassen. Diese Erkenntnis, daß auch die Slawen vielfach die Leichenverbrennung und den Hügelbau geübt haben, griff nun aber ein in die Frage, wo Vineta, die berühmte Wikingerfeste an der Ostsee, gelegen habe. Ein patriotischer Stettiner hatte vor etlichen Jahren eine größere Summe gestiftet für ihre Lösung. Das Stettiner Museum hatte daraufhin eine Ausgrabung des großen Gräberfeldes auf dem Hügelrücken südlich Wollin vorgenommen, und die Herren waren zu der Überzeugung gekommen, daß trotz der einheitlich slawischen Keramik die Gräber wikingisch sein müßten, weil sie die Leichenverbrennung und den Hügelbau den Slawen nicht zutrauten. Jetzt war diese Begründung nicht mehr stichhaltig, es schien sogar sicher, daß die Gräber slawisch waren, und die Bestimmung Wollins als der alten Wikinger-Feste wurde damit wieder zweifelhaft. Ich nahm mir vor, die Inseln Wollin und Usedom einmal zu bereisen, um zu sehen, ob nicht ein anderer Platz für Vineta in Betracht komme, und die Ausführung dieses Planes wurde mir in ungeahnter Weise erleichtert. Herr Major v. Wedel, Gutsherr auf Cremzow bei Cohn, Kr. Stargard, legte mir Anfang 1924 im Museum verschiedene Silber- und Bronzesachen vor, die er während des Krieges bei Dünaburg ausgegraben hatte. Ich bestimmte sie ihm als wikingisch aus der Zeit von 1000—1200 n. Chr. Die Rede kam dabei auf Vineta, und als ich meine Auffassung darlegte und von der beabsichtigten Reise sprach, sagte er: „Wenn Sie mich mitnehmen wollen, stelle ich Ihnen ein Auto zur Verfügung; ich habe soeben eins gekauft". Natürlich nahm ich dankbar an; wir verabredeten die letzte Woche des Mai und haben dann die beiden großen Inseln bei schönstem Wetter und angenehmsten Quartieren kreuz und quer durchfahren. Herr v. Wedel hatte seine Gattin und seinen Chauffeur mitgebracht und auch an einen Spaten gedacht, mit dem er selbst sich dann des öfteren betätigte. Zu dieser guten Zusammensetzung der Reisegesellschaft kam, daß die „Saison" für die Inseln erst im Mai begonnen hatte, so daß wir in den Gasthöfen vielfach die ersten Gäste waren und in voller Frische bedient wurden. Wir begannen in Wollin, fuhren von da an der Diewenow hinunter bis gegenüber Cammin, wo wir auf der im Bodden liegenden kleinen Insel (mit dem Dorfe Gristow) einen stattlichen Ringwall sahen, offenbar als Vorposten von Wollin, zur Bewachung des Flußeinganges. Über Wollin 25

Schuchhardt,

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zurückkehrend, fuhren wir dann an der Südküste der Insel nach Lebbin, wo ich einen schönen viereckigen Ringwall auf der Bergecke aufnehmen konnte, dann nach Misdroy und am Seeufer entlang nach dem Jordansee, der, tief im herrlichsten Buchenwalde gelegen, für den Nerthus-See des Tacitus gehalten wird. Von Misdroy gings nach Swinemünde und 5 km südwestlich weiter zu dem ovalen Ringwall „Golm", wieder einer ausgesprochen slawischen Volksburg. Eine ähnliche große konnte ich bei Mellenthin aufnehmen, während bei der Stadt Usedom eine kleinere rechteckige Burg wohl aus der Zeit der Regermanisation stammen wird. Unsre Fahrt führte dann an der ganzen Nordküste der Insel entlang über Heringsdorf, Koserow, Zinnowitz bis in die Nordwestspitze, der die kleine Insel „der Rüden" vorgelagert ist. Hier war erst vor kurzem ein Goldfund am Ufer gemacht worden: acht Armreifen wikingischer Arbeit, der ins Stettiner Museum gelangt war. Hier, schien mir, könnte Vineta am ehesten gelegen haben. Das nur 3 km entfernte Peenemünde war schon letzthin von mehreren geographisch eingestellten Forschern und Rudolf Hennig-Düsseldorf für Vineta in Anspruch genommen worden. Mir schien wichtig, daß der Rüden nach allgemeiner Überzeugung ursprünglich zum Lande gehört hatte, daß hier also erhebliches Gelände dem Meere zur Beute geworden war und damit die Vineta-Sage ihre Begründung finden könnte. So kam ich zurück mit der Überzeugung, daß wir Vineta beim Rüden annehmen dürften. Manche haben sich dieser Auffassung angeschlossen, andere, wie besonders Otto Kunkel, der Stettiner Museumsdirektor, lehnten sie ab. Als dann 1931 Adolf Hofmeister-Greifswald in seinem Vortrag ganz durchschlagende neue Gesichtspunkte brachte, änderte sich auch für mich das Bild. Er legte dar, daß die von den Wikingern an der Pommerschen Küste okkupierten Slawenstädte zwei Namen gehabt hätten, einen slawischen und einen wikingischen, so habe Stettin zugleich Burstaborg geheißen, Cammin Steinborg und Wollin Jumnda. Sobald Vineia nicht mehr die rein wikingische Feste ist, sondern eine slawische Stadt mit wikingischer Besatzung, ist das slawische Gräberfeld auf dem Galgenberge kein Gegenbeweis gegen Vineta mehr, es ist dann der besondere Friedhof der slawischen Gemeinde, der wikingische wird andern Orts zu suchen sein. Aus dieser Überzeugung heraus hab ich dann mich bemüht, eine möglichst weitgreifende Ausgrabung bei Wollin herbeizuführen. Seit 1932 ist sie im Gange und hat von Jahr zu Jahr mehr Anhalt gebracht, daß wir es hier wirklich mit dem alten Vineta zu tun haben. ZUGUTERLETZT Nach meinemAbgang vomMuseum(1925)hab ich noch an zweiFeststellungen große Freude haben dürfen und will deshalb noch kurz von ihnen erzählen.

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Im Museum hatte mich ein paarmal ein Fabrikant Georg Heimbs aus Hannover aufgesucht, der aus dem Försterhause von Leese bei Stolzenau stammte und sich eifrig bemühte, die beiden letzten Schlachten zwischen Arminius und Germanicus, bei Idistaviso und am Angrivarischen Grenzwall, in dem dortigen Gelände wiederzuerkennen. Für Idistaviso war er mit meiner Ansetzung nördlich vom „Nammer-Lager" ziemlich einverstanden. Für den Grenzwall der Angrivaren gegen die Cherusker, der nach Tacitus (Ann. II 19) zwischen der Weser und einem Sumpfgebiet anzunehmen ist, war immer schon die Landenge zwischen der Weser und den Loccumer Sümpfen angenommen worden. In dieser Gegend war auch heute noch eine Stammesscheide zu erkennen, körperlich wie sprachlich: die Leute nördlich waren nordisch-schlank, die südlich falisch gedrungen. Die Nördlichen sprachen das allgemeinsächsische Platt, das bis zum Meere herrscht, die Südlichen wichen davon besonders durch ihre Doppelvokale ab, sie sagten haut für hoot (Hut), gaut für goot (gut), iuse hius für use hus (unser Haus) und mek un dek für mi und di (mich und dich). Ein paarmal glaubte Herr Heimbs schon Reste des Walles gefanden zu haben, die mir aber nach ihrer Lage nicht passend erschienen. Da kam er eines Tages und zeigte mir auf der Karte eine lange Linie, die er in schwachen Spuren von der Weser ab mitten durch das Dorf Leese hindurch bis an den Lokkumer Sumpfwald verfolgt hatte. Das gefiel mir, wir verabredeten ein Treffen in Leese, gingen von da nach beiden Seiten und machten dann im Dorfe gleich eine Probegrabung, die Herr Heimbs eigenhändig ausführte. Als er den Humus abgehoben hatte und dann über 1 m tief immer noch durch aufgeschütteten Boden kam, sagte ich: „Das ist der Wall". Damit die Sache gleich autoritativ entschieden würde, bat ich unser Frankfurter Römisch-Germanisches Institut, die Ausgrabung in die Hand zu nehmen. Gerhard Bersu kam, und wir haben dann zusammen festgestellt, daß der heutige Wall, an guten Stellen noch 30 m breit und 1 y2 m hoch, eine dicke Erdholzmauer gewesen war, nach Art des Walles der Römerschanze bei Potsdam und der frühen Römerlager von Haltern und Xanten. 5 m hoch und 8 m dick, hatte er große Pfosten in der Front, die 1,30m voneinander standen (Abb. 41). Das war die schönste Illustration zu der Beschreibung des Tacitus: die Legionäre des Germanicus seien gegen das Werk, auf dem die Germanen standen, wie gegen eine Mauer herangestürmt „ut si murum succederent", und hätten nichts ausrichten können. Erst als Germanicus sie aus dem Kampfe zurückzog und seine Geschütze auffahren ließ, wären die Germanen gewichen und hätten sich in den benachbarten Sumpfwäldern verloren. Das andere Stück, an das ich mit Genugtuung zurückdenke, ergab sich 1930, als ich begann, mein Buch „Die Burg im Wandel der Weltgeschichte" auszuarbeiten. 387

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Abb. 4 1 . Der Angrivarische Grenzwall.

Rekonstruktion von W. Andrae.

Ich fragte Kurt Sethe, dem ich in unsrer „Graeca" nahegetreten war, nach der Form der ägyptischen Hieroglyphe für „Burg", von der ich gehört hatte. Er stellte mir die verschiedenen Formen dieses Zeichens zusammen, und ich sah mit Staunen, daß sie als ein Rechteck mit einem Quadrat in der Ecke die größte Ähnlichkeit mit unsern karolingischen Königshöfen hatten. Die weiteren Nachforschungen führten mich dann zu folgender Erkenntnis: Schon die ältesten Befestigungswerke, die die ägyptischen Könige seit der frühest dynastischen Zeit um 3200 v. Chr. an ihrer neuen nubischen Grenze angelegt hatten, die Schlösser von Abydos, hatten einen Wohnturm innerhalb einer rechteckigen Umhegung. Der Typus ist dann am ganzen alten Mittelmeere herrschend geworden und besonders von den Römern gepflegt und weiter verbreitet worden. Von den Römern ist der Typus auf die Franken übergegangen, daher verwenden ihn Karl der Große und seine Schüler: die Normannen und Deutschordensritter1). Im Gegensatz dazu steht die altgermanische und indogermanische Burg: das große Rund oder Oval mit dem Kranze von Häusern darin. Diese Form beginnt in Deutschland schon in der Steinzeit (Köln-Lindenthal, Goldberg bei Nördlingen) und endigt im Mittelalter mit Wartburg, Veste Coburg, Burg Henneberg. Nach Griechenland kommt sie durch die Mykenier: wie die das Schiffslager von Troja angelegt haben, so haben sie auch nachher Athen und Mykene geformt. Paul Kretschmer hat nachher diese Feststellungen ergänzt durch den Nachweis, daß die beiden verschiedenen Burgenformen im Griechischen ') C. Schuchhardt: Ursprung und Wanderung des Wohnturmes. Berl. Ak. S . 8er. 1929.

ZUGUTERLETZT

auch zwei verschiedene Namen gehabt haben: die altmittelländische Burg wurde -rüpais genannt; das ist ein vorgriechisches Wort, von dem das lateinische turris stammt. Der alte Kronos haust, als er die Weltherrschaft an Zeus abgetreten hat, als Herrscher über die Abgeschiedenen auf den Seligen Inseln in einer TÜpcns (Pindar). Auf dem Hofe des Odysseus nennt Homer (Od. 22, 442; 459) Q6\os den Bau, in dem Telemachos die ungetreuen Mägde an einem Pfeiler aufknüpft; Xenophons Leute belagern und verbrennen in der Pergamenischen Landschaft die Tupcris eines Landadligen. Nach diesen literarischen Zeugnissen werden wir auch Tiryns in seiner ersten vormykenischen Periode, als es nur den großen Wohnturm in seiner Mitte trug, als eine TÜpcns zu betrachten haben, und TÜpcreis sind ferner die 4500 sardischen Nuragen gewesen, die die Gutshöfe schützen sollten. In der Römerzeit heißt es von Hannibal, als er nach Kleinasien fliehen will, daß er an die Küste kam ad suam turrem (Liv. 33. 48): für dieselbe Sache dasselbe, nur wenig veränderte Wort. Die andere Burgengattung aber, sagt Kretschmer, die indogermanische, hat auch eine indogermanische Bezeichnung: sie heißt Tupcreis. So nennt schon Homer immerfort die Befestigung des Schiffslagers vor Troja; und Kretschmer weist nun nach, daß in diesem m / p y o s unser germanisches „Burg" steckt und diese Bezeichnung daher das älteste germanische Lehnwort ist, das wir im Griechischen bisher kennen. Zum Schlüsse muß ich noch erwähnen, daß ich den Antrag des Verlages de Gruyter, den Herr Dr. Lüdtke mir überbrachte, ihm ein „Reallexikon der Vorgeschichte" zu schaffen, für mich persönlich zwar ablehnen mußte, da mir eine solche Arbeit garnicht liegt und ich deshalb erst recht nicht eine Reihe von Jahren dafür opfern wollte, daß ich ihm aber dringend unsern früheren Assistenten Herrn Professor Dr. Max Ebert empfahl, und dieser dann in 15 starken Bänden die Arbeit so vortrefflich geleistet hat, daß der Verlag sich heute noch bei jeder Gelegenheit der Sache dankbar erinnert.

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ANHANG DIE SCHUBERT, SCHUCHARDT, SCHUCKHARDT, SCHUHKRAFT Von J o s e p h K a r l m a n n B r e c h e n m a c h e r , Oberstudiendirektor in Stuttgart

Ein metkwürdiges Beispiel, wie stammesfremde Namen wandernd die Landesgrenze übersteigen, fern von ihrem Mutterboden Wurzel schlagen und sich ausbreiten, sind die S c h u b a r t , Schubert(h), S c h u p p e r t , Schuchard(t), Schuchert, Schuck(h)ardt, Schuh(h)werk, Schu(h)kraft, die heute auf schwäbischem Boden in mehr als 300 (Stuttgart über 50) Sippen blühen. Kein einziger dieser Namen ist im altschwäbischen Namenbestand aufzufinden, alle sind sie vom Norden her zu uns vorgestoßen, mit einziger Ausnahme des S c h u h w e r k , dessen Ausgangspunkt im Südosten zu suchen ist. Auch der Dichter Schubart, den wir sonst gern als Schwaben in Anspruch nehmen, ist blutmäßig kein Schwabe, und er selber nennt sehr betont Nürnberg seine „eigentliche Heimat". Aber von den genannten Sippen sind im Ablauf der letzten paar hundert Jahre viele so gründlich eingeschwabt worden, und mancher dieser Namen klingt uns so ehrwürdig, daß wir wohl auch an dieser Stelle auf den begrifflichen Kern der ganzen Gruppe eingehen dürfen. Daß Schubert ganz derselbe Name ist wie Schuchert oder Schuckert, leuchtet nicht jedem ein, und es sind schon einige sprachliche Überlegungen nötig, um diese Gleichheit augenscheinlich zu machen. Als nämlich vor 700 bis 800 Jahren die edle Schuhmacherei aus der drückenden Enge der Hauswirtschaft heraustrat und sich zu einem freien und lange sehr angesehenen Handwerk entwickelte, da gab es natürlich kein einheitliches deutsches Wort für einen Beruf, der selber noch gar keinen einheitlichen Charakter hatte. Für den dörflichen Schuhflicker sonderten sich ja früh die Bezeichnungen Schuhbletzer, Altbüßer, Schuhlepper, Schuhnieter usw. ab, aber für den städtischen Schuhmacher, der neues, den Ansprüchen der schon damals rasch wechselnden Mode Genüge leistendes Schuhwerk auf den Markt brachte und der sich bei seiner Arbeit des dem altdeutschen Handwerk noch ganz fremden Leistens bediente, gab es zwei ihrer Art und Geschichte nach ganz verschiedene Namentypen. Im alemannisch-schwäbischen Sprachraum ging man von dem lat. Sutor (== Schuhnäher) aus, der ja in der Masse der heutigen Sippennamen Sauter und Sautermeister noch nachklingt. Da aber der kleine Mann sich bei dem Sutor natürlich garnichts denken konnte, so verdeutlichte er sich diese Benennung durch „Schuh390

ANHANG

suter", und es ist leicht zu sehen, wie daraus durch schrittweise Verkürzung unser „Schuster" wurde, und wenn alte Urkunden Schuhster schreiben, so ist das nicht Schreiberwillkür, sondern Erkenntnis organischen Wachstums. Im mitteldeutschen Raum aber, etwa das hessische und thüringische Stammesgebiet umfassend, entwickelte sich die rein deutsche Bezeichnung schuochwürchte oder schuochworchte. Das h in „Schuh" wurde nämlich, wie noch heute in vielen Mundarten, als ch oder gar als k gesprochen, und wenn es im Aschenputtelmärchen heißt: „Ruckediguck, Blut ist im Schuck", so steht „Schuck" wahrhaftig nicht die Reimes wegen. Und was das Grundwort würchte oder worchte betrifft, so bezeichnete es gemäß heutigem „wirken, werken" den Hersteller, Hervorbringer, Erzeuger. Als man dann den „würchte" nicht mehr verstand — die Hochsprache hat dieses wertvolle Wort leider nicht mit übernommen —, da erlitt die schöne und klare Prägung Schuochwürchte ein leidvolles Schicksal, das sich im Schatz unserer Sippennamen bis in die kleinste Einzelheit hinein spiegelt. Von den beiden ihrer Artikulationsstelle nach weit auseinander liegenden und daher feindlichen Konsonanten ch und w muß nämlich der schwächere weichen. Weithin erwies sich das ch als der nachgiebigere Teil, und so wird der Schuchwürchte zum Schuwirt, Schuwort, Schuwert, und da nun zwischen den beiden Vokalen das w gesetzmäßig verhärtet, so springt der S c h u b e r t als letztes Ergebnis dieser Entwicklung heraus und hat den Schubort oder Schubart nur noch selten neben sich. Anderwärts, z. B. im Hessischen, wo man noch heute Schuech sagt, zeigte sich das w wenig widerstandsfähig und dorrte ab. Dort wird also der Schuochwürchte zum S c h u c h e r t und schließlich, unter Anlehnung an die beliebte Endung -hart zum S c h u c h h a r d t . Und wenn nun der Prozeß einen Schritt weiter geht und die organische Länge des u beseitigt, so ist der Schuckert und weiterhin der S c h u c k h a r d t unvermeidlich. Das ist eine vollkommen klare Entwicklung, die man in den Urkunden Schritt für Schritt verfolgen kann. Zu Breslau ist 1350 ein Pecze S c h u w o r c h t , der sich 1364 bereits Peter Schuwort schreibt. Sein Sohn tut den weiteren Schritt und schreibt sich 1369 Nickel S c h u b o r t . Ein Bürger der Bergstadt Freiberg in Sachsen begegnet mir 1404 als As man S c h u w o r c h t , 1405 als Asmus S c h u w a r t , 1407 als Erasmus S c h u bort. Hat hier also das w den Sieg davongetragen, so sehen wir weiter westlich das ch triumphieren. Zu Langensalza ist 1508 ein Ratmann D i e t r i c h S c h u c h a r t , 1584 zu Tennstedt, Provinz Sachsen, ein T h o m a s S c h u c h a r t , im gleichen Jahr zu Eschwege in Hessen ein H e r m a n n u s S c h u chardus. Mitten in der Entwicklung stecken geblieben ist der F r i e d r i c h Schugwert, den wir 1461 zu Steinau in Hessen aufstöbern, und der John S h u g e r t , dem im Jahr 1836 zu Elizabeth (Staat Alleghany) ein Patent zugesprochen wird, ist hundertprozentig ein ausgewanderter deutscher Schuckert. 391

ANRANG

Wohin zielen aber unsere verhältnismäßig zahlreichen Schuhkrafit? Die Schuhwirker waren lange eine mächtige und reiche Zunft, deren Gesellen, die „Schuhknechte", es gelegentlich sogar auf einen förmlichen Krieg mit der Stadt ankommen lassen konnten, wie z. B. in Augsburg. Als 1495 der Reichstag zu Worms zusammentrat, wählten sich die Reichsstädte das Schuhmacherzunfthaus als Stätte ihrer Beratungen. Der Vorsteher der Schumachergilde heißt Schuhgraf, so wie z. B. das Haupt der Spielleute sogar amtlich Spielgraf und der Leiter eines Salinenbetriebs Salzgraf hieß. Wo aber der Schuhgraf nach dem Absinken des Handwerks nicht mehr verstanden wurde, deutete man den Namen zu Schuhkraft um. 1576 ist zu Sindringen, Kreis Oehringen, eine wie es scheint aus dem benachbarten Feßbach kommende Sippe S c h u c r a f f t , die sich zuweilen auch Schuhekrafft schreibt. Aber noch 1756 finde ich zu Oberviechtach (Overpfalz) einen Heinrich Schuegraf. Auf wie leisen Sohlen auch die Namenschöpfung schreitet — ihre Fußspuren sind unaustilgbar; denn es rinnt in ihnen das Blut starker und zäher Geschlechter nach!

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TAFEL I

Carl Schuchhardt im 60. Lebensjahre 1919.

TAFEL 2

Die Häuser in Hannover, Osterstraße 21 u. 22, gegenüber der Landschaft Um 1870

TAFEL

3

Der Vater im Alter von 23 Jahren Kleines Ölbild von W i d m a n n , M ü n c h c n 1852

TAFEL 4

D i e M u t t e r mit i h r e m

Erstgeborenen

Hannover 1S60

Die Großmutter Luise Schuchhardt Ölbild, Hannover um

1820

TAFEL 6

TAFEL 7

TAFEL 8

Fürst Alexander Bibesco (1842—ca. 1910) Rumänien 1SS4

TAFEL 9

Fürstin Helene Bibesco geb. Costachi-Epureanu (1855— ca. 1905) Rumänien 1884

T A F E L io

Alexander Conze ( 1 3 3 1 — 1 9 1 4 ) l'crgamon iKSíí. I ' i n u . v. ('. H u i c i ü h

TAFEL ii

Carl H u m a n n Pergamon 1886

T A F E L 12

Das Deutsche Haus in Pergamon gez. v. H . Stiller 1885

TAFEL 13

T A F E L 14

T A F E L 15

TAFEL 16

Tempelanlage auf Mamurt-Kalessi Nach Conzc und Schazmann

TAFEL

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Carl Schuchhardt Pergamon 1886. Phot. v. C. Humann

T A F E L 18

August Kestner in Rom (1777—1853) gez. von W. Roß 1844

TAFEL

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Heinrich Brunn (1822—1894) gez. von A. Kcstncr, Rom 1S50

T A F E L 20

Ernst Curtius (1814—1896) gez. von A. Kestner, Rom 1841

TAFEL 21

Fr. Culcmann (1811—1886) Marmorbüste

im

K e s t n e r m u s e u m von Carl D o p m e y e r

1S86

T A F E L 22

D i e große M a d o n n a von Einsiedel Kupferstich vom Meister Ii. S. 1466

T A F E L 23

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Erstes Blatt von Goethes Niederschrift der Marienbader Elegie 1821

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T A F E L 24

F i s c h b c c k e r R e l i q u i e n k o p f des 12. J h . Im K i M n c r m u ^ u m zu Hannover

M a r m o r k o p f des 5. J h . aus S e l i n u n t K c s t n e r m u s e u m zu

Hannover

T A F E L 26

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T A F E L 27

Nicolaus Michacl Schule dos l-rancesco Gossa. Fcrrara-Boiogna um i4~o

Medaille des Nie. Michacl von Fra. Ant. Brixiano u m 1500 J

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Dea Contarini, Gemahlin des Nie. Michael Vom gleichen Meister

Medaille der Dea Contarini von Fra Ant. Brixiano nat. Große

T A F E L 29

Jer. Sütel: Grabstein mit Auferweckung des Lazarus Hannover 1630

T A F E L 30

E x libris f ü r Marg. Schuchhardt geb. Herwig Radierung von Heinrich Vogeler 1896

Margarete Schuchhardt geb. Herwig Kreidezeichnung von Fr. Mackensen 1896

T A F E L 32

F r . M a c k e n s e n : S t u d i e z u m Pastor in d e r M o o r p r e d i g t Kohlezeichnung 1895

TAFEL 33

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T A F E L 34

D e m e t e r Sturdza 70jährig. 1903

Die Pergamon-Medaille Um 1900

T A F E L 35

W a s s e r k a m m e r des kleinen A q u ä d u k t e s in Pergamon

1898

T A F E L 36

Ruine der Tintern Abbey bei Chepstow Um 1180

TAFEL 57

Brunnen in Salisbury. 14. Jh.

T A F E L 38

Ein R o w in Chester

Das C r o ß im Mittelpunkte von Chester

T A F E L 39

T A F E L 40

T A F E L 41

TAFEL 42

Inneres von Hexham Abbey

T A F K L 43

, Prior Richard's shrine" in Hexham Abbey

T A F E L 44

E i n Kabylendorf bei Algier

TAFEL 45

Ein Cromlech-Rest bei St. Pierre-Quiberon

T A F E L 46

Opfergrubc in der Burg bei Lossow 1919

TAFEL

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C. Schuchhardt mit seinem Sohne Wolfgang Römerschanze 1911

T A F E L 48

Margarete Schuchhardt geb. Herwig Berlin 1919

T A F E L 49

T A F E L 50

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