Vom Sinn der Selbsterkenntnis 9783110856798, 9783110053241


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Inhalt
VORWORT
EINLEITUNG
VORBEREITENDER TEIL. Die Frage nach dem Sinn des menschlichen Seins
HAUPTTEIL
Erster Abschnitt: Die Möglichkeiten des Mitseins
Zweiter Abschnitt: Mitsein in lebendiger Inkarnation
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Vom Sinn der Selbsterkenntnis
 9783110856798, 9783110053241

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VOM S I N N DER

SELBSTERKENNTNIS

KATHARINA

KANTHACK

VOM SINN DER SELBSTERKENNTNIS

BERLIN

1958

WALTER D E G R U Y T E R & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG / J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG / GEORG REIMER / KARL J. TRÜBNER VEIT & COMP.

© Ardiiv-Nummer 42 62 58 Printed in Germany. — Copyright 1958 by W a l t e r de Gruyter & Co. — Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Ubersetzung, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. — Druck: Deutsche Zentraldruckerei, Berlin S W 6 1 , Dessauer Straße 6—7

ULRICH MEINEM

MANN HERZLICH

KANTHACK UND

TREUEN ZUGEDACHT

HELFER

Inhalt EINLEITUNG

Seite

Die S e l b s t e r k e n n t n i s des M e n s c h e n F o r d e r u n g und Möglichkeit VORBEREITENDER

als 7

TEIL

Die F r a g e nach dem Sinn des Seins

menschlichen

I. Die Fragemöglichkeiten der Metaphysik

23

II. Die Unterwanderung des metaphysischen Fragens

29

III. Der Rückblick auf die Metaphysik von ihrer Unterwanderung her

33

IV. Besonderheiten des metaphysischen Seinsverständnisses A. Der Ansatz des Substanz-Eigenschaftsschemas und des Seins als Vorhandensein B. Die Deutung der Wahrheit als Adäquation zwischen Intellekt und Sache C. Die Subjekt-Objekt-Spaltung und die Lehre vom Primat des Erkennens

57

V. Selbsterkenntnis und Selbsttäuschung von den benannten metaphysischen Aspekten her und Kritik jüngster metaphysisch-psychologischer Ansätze

65

VI. Sartres Deutung der Selbsttäuschung

47 55

74

HAUPTTEIL

Erster Abschnitt: Die M ö g l i c h k e i t e n

des

Mitseins

I. Der Ur-sprung in Gemeinsamkeit und die von ihm mitgebrachte Beirrung als das „Man" II. Der Wandel im Mitsein als Entwurf von Sonderung • • • •

87 92

Seite

III. Die Weite und die Durchschwungenheit des Seinsverständnisses als Hintergrund von Sonderung IV. Die Aufzählung der Weisen des Mitseins V. Die beiden ersten Weisen des Mitseins

95 100 103

Zweiter Abschnitt: Mitsein

in

lebendiger

Inkarnation

III

I. Die Begleitung im Einzelnen, die Anfälligkeit und der Taumel als Selbsttäuschung 113 II. Die Begleitung im Ganzen A. Die Objektivierung als der Versuch unrechten Fremdverstehens I. Die Not des Ausgeliefertseins und ihr Widerschein in der Spiegelbegegnung des Menschen mit sich selbst 127 2. Der „Blick" Sartres und dessen Vorschlag objektivierenden Fremdverstehens 133 3. Das Scheitern des Versuches objektivierender ganzheitlicher Fremderkenntnis 137 B. Rechtes Fremdverstehen als Einstimmigkeitssorge im Mitsein 1. Die Möglichkeit ganzheitlichen Mitvollzugs 156 2. Die Begegnung mit der Natur 172 3. Das Mitsein als Schuld und als Möglichkeit in weiteren Sozialbindungen 180 III. Zusammenfassung: Der Sinn des Menschen als möglicher Sorge um Einstimmigkeit 200

VORWORT

Das vorliegende Buch ist die erste Veröffentlichung aus einem Kreis von Besinnungen, die von der umstürzenden Fragestellung Martin Heideggers ausgehen. Da diese Besinnungen sich von älteren Denkbewegungen, deren Unzulänglichkeit eingesehen wurde, lösen mußten, so bedurfte es längerer Zeit zu ihrer Reifung. Es erscheint jetzt als angemessen, sie in einigermaßen schneller Folge vorzulegen. Unsere Denkansätze sind von der Überzeugung getragen, daß das Gespräch mit Heidegger, wenn die schweren Mißverständnisse seines Werkes zurückgewiesen sein werden, ein dauerndes Gespräch in der Geschichte bleiben wird. Wir verstehen dabei das Fragein Heideggers als ein solches, das von seinem ersten bis zu seinem vorläufig letzten Wort aus einem einheitlichen Grunde heraus spricht. Damit erscheint uns jede diesem Grunde nicht gewachsene Kritik an Einzelnem hier als wesenlos. Wenn es jemals der Kenntnis eines Gesamtwerkes bedurfte, um auch nur ein Wort zu einem Schaffen sagen zu können, dann an dieser Stelle. Von der Überzeugung her, daß im Werk Heideggers ein geniales sprachliches Können ein Grundanliegen im Reichtum immer neuer Fassungen und Beleuchtungen aufstrahlen läßt, wird auf den folgenden Seiten gewagt, Früheres und Späteres aus diesem Schrifttum zusammenzuholen und zu übersetzen in die Sprache, die auch ein ehrfurchtsvoll Folgender als seine eigene zu sprechen nicht ganz vermeiden kann. Es sei jedoch betont, daß immer ein Schmerz dabei mitschwang, wenn der Genauigkeit und der unvergleichlichen Leuchtkraft jener Darlegungen im „Herüberholen" Gewalt angetan werden mußte. Es sei ferner hervorgehoben, daß, wenn hier das Wagnis eines „Weiterdenkens" eingegangen wird, nur eine Entfaltung dessen versucht wird, was in Latenz in jenem Schrifttum schlummert und dort selbst als noch bedenkenswürdig bezeichnet ist. 1

Kanthadc, Selbsterkenntnis

1

Das bezieht sich in erster Linie auf die Auseinanderlegung bestimmter Strukturen des menschlichen Seins als eines Mitseins, auf die Frage der Bindung von Menschen untereinander. Vom Werk Heideggers — dem ganzen Werk — als der Entfaltung eines andenkenden Denkens her leuchten einzigartige Möglichkeiten auf, Reinheit und Tiefe solcher Bindungen zu fassen, ja, man möchte sagen, es sei bis in seine letzte Zeile hinein von solcher Kraft erfüllt. Daß man sich in der Beurteilung dieses Werkes gerade hier schwer „versehen" konnte, gehört zu dem stets tragischen Geschick geistiger Größe. Was an diesen unseren Darlegungen — besonders hinsichtlich unseres ersten, vorbereitenden Teils — vielleicht dem Außenstehenden als überraschend erscheinen kann, erklärt sich daraus, daß von Horizonten strengen Denkens her gesprochen werden mußte, daß dabei kurz und dicht gesprochen werden mußte und daß deshalb oft nur andeutend mit Worten umgegangen werden konnte, deren Sinn im Werk Heideggers voll entfaltet ist. Wenn für den Leser hier Beirrungen auftreten, so muß er auf das Schrifttum Martin Heideggers verwiesen werden, auf dieses allerdings bis zu seiner letzten Zeile. Wir sind nicht der Meinung, daß man das Recht hat, einem fest in sich dastehenden gewaltigen Oeuvre vorzuschreiben, von welchem Punkte an es keine Gültigkeit mehr haben soll. Es ist zuzugeben, daß das Gespräch mit Heidegger nicht leicht ist. Aber Wesentliches ist im Reiche des Denkens noch nie billig zu haben gewesen. Und Besinnungen, die das „Ganze" angehen, müßten sich wohl, wenn sie Härte und Schärfe fliehen wollten, schämen etwa gegenüber heutiger Naturwissenschaft und heutiger Mathematik, die ja auch nicht jedem dilettierend „Beflissenen" oder „geistig Interessierten" mühelos zugänglich sind. Man könnte vielleicht auch bedenken, wieviel schlechter noch jene so zahlreichen Denker des Auslandes gestellt sind, die versuchen, sich jenes Schrifttums zu bemächtigen. Ihren wahrhaft inständigen Anstrengungen gegenüber erscheint der Einsatz, den der Deutschsprachige hier leisten muß, als wesentlich leichter. Spielend läßt sich das Denken Heideggers darum nicht erfassen, weil es von einzigartiger Strenge ist. Für den Denkenden aber kann wohl das Mitgehen mit solcher Genauigkeit nichts anderes bedeuten als Freude. 2

Wenn es darum etwas zu ersehnen gibt gegenüber dem Gehabe der Kritik, die hier oft und oft geübt worden ist, etwas, was wir uns auch für die Beurteilung unserer eigenen Zeilen erhoffen, dann ist es eine Stellungnahme, die von redlicher und eingehender Beschäftigung mit dem behandelten Schrifttum herkommt. Diese unsere Hoffnung scheint überflüssig zu sein. Der sauber Denkende wird uns sagen, anders könne doch ein geistiger Mensch gar nicht Stellung nehmen. Dieser Redliche müßte aber doch wohl auf einen merkwürdigen Modus hingewiesen werden, der sich als besondere Form geistiger Unsauberkeit gerade dem Heideggerschen Werk gegenüber eingespielt h a t Zu diesem Modais gehört einmal der Vorgang der Verstümmelung. Man reißt ein Wort, einen Satz aus dem Ganzen heraus und sucht dieses Isolierte in die Lächerlichkeit zu ziehen oder ein Sciioekerlebnis ihm gegenüber zu bewirken, und man hat dabei meist keine Ahnung davon, von welchen Horizonten her jene Wendung gewählt wurde. Solche Verstümmelung kann jedem großen Denken gegenüber Vulgärerfolge erzielen. Man kann das mit Kant, mit Fichte, mit Hegel „machen", es läßt sich immer etwas dabei herausholen. Die zweite Unmanier, vom der hier gesprochen werden muß, ist die, daß man sich überhaupt keine eigene Meinung bildet, sich diese vielmehr von einem Anderen „herüberreichen" läßt und nun auf Grund solcher Pseudoinformierung „mitredet". Es hat von jeher zum Wesen wirklich geistiger Haltung gehört, nur über das zu sprechen, was in eigener Bemühung erarbeitet worden ist. Sollten solche Traditionen sich auch in „gehobener Sphäre" als umsturzreif erweisen, so geriete damit das menschliche Denken überhaupt in Agonie. Verläßt man sich, nur auf das „Herübergereichte", so wird man dabei nie sicher sein können, ob der Herüberreichende nicht ein voreingenommener Fanatiker ist oder ein böse gewordener Konkurrent. Zur Thematik dieses Buches sei noch einmal gesagt, daß es von der Frage her, was unter „Selbsterkenntnis" verstanden werden könnte, wobei eine Auseinandersetzung mit Jean-Paul Sartre notwendig wird, die Verwebung und Verspannung des Menschen mit seinen Mitmenschen zu bedenken versucht. Insofern möchte es Vorarbeitein liefern für Besinnungen über Menschenführung und das Wesen menschlicher Gemeinschaft. r

3

Es ist heute wohl unmöglich., hier etwas Wesentliches zu sagen, ohne sich in die Auseinandersetzung mit Heidegger zu begeben. Seine Fragestellungen bedeuten epochale Wende in der Geschichte. Übersieht man diese Wende, so bleibt man in überwundenen Denkhorizonten hängen. Die Auseinandersetzung aber, die hier als unvermeidbare Verpflichtung fällig wird, müßte ausführlich und genau sein und sich nicht nur in jenen hingeworfenen Bemerkungen erschöpfen, mit denen man sich hier und da ein Denken abzutun erlaubt, demgegenüber solche Praktiken wahrhaft unwürdig sind. Es gibt Augenblicke in der Geschichte, in denen Ernst und Schärfe angefordert werden, Augenblicke, deren Versäumnis unerbittlich auf den Versäumenden zurückfällt.

4

EINLEITUNG

DIE SELBSTERKENNTNIS DES M E N S C H E N ALS F O R D E R U N G U N D MÖGLICHKEIT

Als eines der großen mahnenden Worte gleitet durch die Denkbewegungen des Abendlandes der Ruf: Erkenne dich seihst! Nachdem die Aufforderung einmal ihren tiefen griechischen Ursprung genommen hatte, gab es kein von unserem Verständnis erfaßbares Jahrhundert, das versäumt hätte, sie an wesentlicher Stelle zu wiederholen. Die Ermahnung, von der die Rede ist, war meist emst und dringlich. Es blieb unserer Gegenwart vorbehalten, sie auch in vorwitzigerer Weise auszusprechen. Bei seiner Wanderung durch die Epochen mußte der Satz natürlich in die Umkreise immer -anderer Weltdeutungen geraten und von diesen mitgezogen werden. Diese Weltdeutungen waren überwiegend metaphysisch, auch dann noch, wenn sie sich dessen nicht bewußt werden konnten und ¡sogar ein metaphysikfeindliches Pathos entfalteten. Es gab jedoch auch Angriffe gegen den Aufruf. Es wurde, und das wiederum von wechselnden Denkhorizonten her, darauf hingewiesen, daß mit ihm eine Gefährdung der sittlichen Reinheit des Menschen verbunden sein könne. Es wurde aber, an anderen Stellen, auch gesagt, daß die Ermahnung sinnlos sei, weil es unmöglich wäre, sie zu befolgen. Wir müssen, um solches Für und Wider einsichtig zu machen, dem Sinn des Satzes genauere Aufmerksamkeit zuwenden. Das Wort „Erkenne dich selbst!" spricht eine Forderung aus und unterstellt dabei, daß die Forderung erfüllt werden könnte, daß der Mensch also imstande sei, sein eigenes Wesen in auf sich selbst zurückgewandter Erkenntnis zu beleuchten. Es ist notwendig, sowohl nach der Berechtigung der Forderung als auch nach dem Bestehen der Voraussetzung zu fragen. Untersucht man, zunächst die Forderung als solche ins Auge fassend, vor welchem Forum sie sich auszuweisen getrachtet hat, so müssen, im Blick auf die Geschichte des Denkens, überwiegend die Räume der Ethik und Religion benannt werden. Erst in den letzten Jahrzehnten wurde dem Appell ein therapeutischer Sinn 7

gegeben, wobei solche Therapie etwas wesentlich anderes war als frühere Sorge um das „Heil der Seele". Man konnte sogar versuchen und ist noch heute dazu imstande, beide Weisen von „Heilung" durcheinanderzuwerfen, ohne zu durchdenken, was man dabei eigentlich macht. Hier liegt ein solcher Mangel an Strenge der Besinnimg vor, daß ihm gegenüber kaum noch die Reinheit der Absicht zugute gehalten werden kann. Wir sehen zunächst von diesen seltsamen Formen eines sein eigenes Wesen nicht begreifenden neuzeitlichen „Sokratismus" ab und wenden uns der Einstellung jener Denker zu, die die Selbsterkenntnis als das entscheidende Mittel jeder sittlichen Läuterung glaubten ansehen zu müssen. Namen wie die eines Augustinus, eines Spinoza, eines Kant leuchten hier auf. Mahnungen wurden ausgesprochen, wurden an das Selbst gerichtet, Mahnungen, die dahin gingen, der Mensch möge über dem Umgang mit den äußeren Dingen nicht das so unendlich viel Wichtigere versäumen: sich selbst und sein Wollen und Trachten immer wieder mit höchster Redlichkeit zu befragen und zu prüfen. Man nahm dabei an, daß solche Selbstbetrachtung zu dem Entschluß treiben könne, das, was man als tadelnswert und verwerflich am eigenen Ich erkannte, auszumerzen. Dabei unterließ man es meistens, die Frage zu stellen, ob nicht die Absicht als solche, ernst prüfend an sich heranzutreten, nur von dem Läuterungswillen her zu verstehen sei, den man als Folge des Herantretens glaubte erhoffen zu können. Der religiöse Mensch konnte hinsichtlich jener Prüfungsabsicht von der Gnade Gottes sprechen, der nicht in solchen Sicherheiten Lebende aber hätte wohl um eine Antwort verlegen sein können. Noch verlegener aber mußte denjenigen, der Selbsterkenntnis forderte als den Weg zu einer „Besserung" des Menschen, die Frage machen — und diese Frage ist sehr wohl gestellt worden —, ob Selbsterkenntnis denn überhaupt zu wünschen sei, überhaupt gefordert werden dürfe. Man sagte hier, daß Adel und Reinheit des Menschen sich in gar keinem Falle mit Vermessenheit vertrügen. Vermessenheit aber sei nicht zu umgehen bei einer Selbstprüfung, die ja, wenn der Mensch nur im Entsetzen über seine eigenen Unzulänglichkeiten verharren würde, überhaupt nicht zu Handlungen treiben könnte, sondern nur einen erschauernden Quietismus bescheren müßte, aus eben solchem Quietismus aber nicht herausreißen könnte, ohne Selbstbilligung zu werden. Kommt der Sichprüfende 8

jedoch zu einer solchen Selbstrechtfertigrmg, so unterliegt er der superbia, dem sittlichen Hochmut, dem furchtbarsten Hochmut, der denkbar ist. Es ist Augustinus gewesen, der, leidenschaftlich auf Selbsterkenntnis bedacht, mit ebenso intensiver Blickschärfe die Gefahr gesehen, hat, die hier droht und nicht vermieden werden kann, da selbst die Demut, die sich nur aus der Hand Gottes entgegenzunehmen trachtet, sich als solche erkennen und beloben muss 1 . Vielleicht könnte gefragt werden, ob eine so unheimlich klare Durchschauung des Wesens der Selbsterkenntnis nicht erst im christlichen Raum eines gesteigerten Sündenbewußtseins möglich gewesen ist. Läßt sie sich doch nicht vorstellen etwa im geistigen Bereiche des Stoizismus. Aber es geht uns jetzt nicht um die Sicht auf geschichtliche Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten, sondern es geht uns darum, wie es denn grundsätzlich stehe mit der „sittlichen" Legitimation der Forderung „Erkenne dich selbst!" als einer Forderung, der wir bei den Größten des Geistes immer wieder begegnen. Da, wo man die Berechtigung der Forderung ablehnte, fielen Worte wie „superbia" und „Pharisäertum". Man konnte sagen, daß hybrider und verwerflicher Sittenstolz vorläge, wenn der Mensch auf Grund einer Erkenntnis seiner selbst eine „Werterhöhung" seiner anstrebe. Max Scheler hat noch vor wenigen Jahrzehnten in seiner metaphysischen Sprache gesagt, „Personwert" könne nicht intendiert werden. Er entstehe nur „auf dem Rücken einer guten Handlung" und verlösche sofort, wenn er sich selber wolle2. Ein weiteres Bedenken gegen unseren Satz ist gerade in neuerer Zeit oft so vorgetragen worden, daß man behauptete, die Forderung sei verführerisch und versucherisch und könne zu einem höchst unerfreulichen Umgang des Menschen mit sich selber treiben. Ein wirklicher Ernst könnte ja bei der Befolgung des Gebotes nicht immer unterstellt werden. Bliebe er, dieser Emst, aber aus, dann könne die Ermahnung den Menschen zu einer neugierig-peinlichen Selbstdurchsuchung und Selbstinventarisierung treiben. Man konnte dabei des Narzissus gedenken und dessen Freude an seinem 1

Aurelius Augustinus, Confessiones, Buch X und wiederholt im Werk. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Franke-Verlag, Bern 1954, S. 49. 2

9

Spiegelbild zum Symbol nehmen für die Lust an einer Selbstbestreichelung und dauernden Selbstumspielung, einer aesthetizistisch-unverbindlichen Lust an sich selbst 3 . Bei solchem Herumliebeln mit sich selber aber könnte, sagte man, noch das höchst Negative, das dabei angetroffen würde, als etwas sehr Interessantes erscheinen, etwas zu Hegendes und zu Pflegendes und auf jeden Fall hell Anzustrahlende®. Man hat an vielen Stellen darauf hingewiesen, daß bei solcher Inzucht das Wichtigste anderen Menschen gegenüber vernachlässigt werden könnte, daß etwa Treue in ihrer reinen) Größe nicht mehr verstanden werden könnte, und daß solche Versäumnisse auch dann nicht zu beschönigen seien, wenn ein begabter Mensch die Selbstdurchwühlerei mit großem Raffinement betriebe. Es gäbe hier eine Subtilität des Könnens, die als Schamlosigkeit angesprochen werden müßte, eine Süchtigkeit nach Selbstenthüllung, die nicht gebilligt werden könnte. Solche Selbstenthüllung, sagte man weiter, werde auch dann noch nicht der Peinlichkeit enthoben, wenn sie beanspruche, in einer divi natorischen Weise aus den Tiefen des eigenen Selbst heraus Seinsenthüllungen anbieten zu können. Großem Können sei es möglich, so ein Erstaun ein zu erregen und die Sucht zur Selbstdurchpflügung als Orakelhaftigkeit anzubieten. Für den schlichten Menschen, dessen Aufgabe der Umgang mit konkreten Menschen und konkreten Dingen sei, liege im Anstarren solcher Orakelhaftigkeit eine hohe Gefahr der Verführung vor, der Verführung dazu, die eigene geschichtliche Lage zu verfehlen. Bei den Erscheinungen, von denen soeben gesprochen wurde, hat sich der Sinn der Forderung „Erkenne dich selbst!" dahingehend verschoben, daß es dabei nicht mehr eigentlich um die Wekkung eines Entschlusses zur Läuterung geht, als vielmehr um die Konstatierung von Regungen, Trieben, Anlagen, Beschaffenheiten des Menschen, und zwar die Konstatierung als solche, die teils in träumerischer Hingabe, teils im Ausbruch in sensationelle Verkündungen betrieben werden kann. Selbsterkenntnis wird hier Selbstzweck, ein Beisichverweilen um des Verweilens willen. Wieder in neue Beleuchtung trat, wie schon erwähnt, unser Gebot in jüngster Zeit, als man in der Selbsterkenntnis eine therapeutische Maßnahme glaubte sehen zu dürfen und dabei mit' Louis Lavelle, L'Erreur de Narcisse, Paris 1939.

10

schwingende Gefährdung durch bestimmte Anweisungen glaubte ausschließen zu können, Anweisungen, wie die Selbstbetrachtuag zu vollziehen sei. Wenn bei solchen Bestrebungen noch der Gedanke einer zu bewirkenden Läuterung mitsprach, so nur unter sehr „naturalistischen" Vorzeichen. Was einmal als Geheimnis des um sein Tiefstes ringenden Menschen angesehen werden konnte, erschien jetzt mitunter als faßbar unter dem Bilde der Austarierung einer Waage. Wir wiesen hin auf ein seltsames, geschichtlich verfolgbares Schwanken hinsichtlich der Frage, 6b die Forderung „Erkenne dich selbst!" zu Recht bestünde. Es könnte nun sein, daß dieser Wechsel der Einstellung mit der Art der Deutung zusammenhinge, die man dem Satz zu verschiedenen Zeiten gegeben hat. Es könnte sein, daß man unter dem „Erkennen" je etwas anderes verstand und daß man auch mit dem „Selbst", von dem die Forderung spricht, nicht immer dasselbe meinte. Wir möchten die Frage nach der Berechtigung des Gebotes, das wir herausstellten, an dieser Stelle offen lassen und uns der Möglichkeit als solcher zuwenden, die der Satz voraussetzt, der Möglichkeit, daß Selbsterkenntnis überhaupt geübt werden könne. Daß uns hier sofort entgegengehalten werden kann, es müsse dabei genau gefragt werden, was man je unter dem Erkennen wie unter dem Selbst verstanden habe, unterschreiben wir nur zu gern. Sehen wir doch selbst unsere Aufgabe darin, hier sorgfältig vorzugehen. Aber da es in dieser unserer Einleitung darum geht, wie man mit dem Worte „Erkenne dich selbst!" geschichtlich umgegangen ist, können auch geschichtliche Versäumnisse hier nicht verschwiegen werden, Versäumnisse in dem Sinne, daß sowohl die Bejahung der Möglichkeit als auch deren Leugnung sehr oft in wenig genauer Weise begründet worden sind. Es kann bei einem geschichtlichen Umblick wahrhaft Verwunderung erregen, zu sehen, mit welcher Unbefangenheit die Möglichkeit der Selbsterkenntnis oft lauter oder stiller behauptet worden ist, nachdem von anderen Seiten her hier schon schwerste Bedenken erhoben worden waren. Bei solchen Bedenken war darauf hingewiesen worden, daß es Selbsttäuschungen gäbe und daß es höchst fraglich sei, ob diese jemals vermieden werden könnten. Krasse Skepsis konnte hier auf eine unüberwindliche Schwädie des Menschen hinweisen, eine un11

aus rottbare Neigung, sich vor sich selbst zu verstecken, sich über sich selbst etwas vorzumachen, und solcher Skepsis gegenüber konnte dann wieder eine seltsame Sorglosigkeit zutage treten. Es gab dabei oft ein Pathos der Forderung, das über die Frage der Erfüllbarkeit einigermaßen leicht dahinglitt, weil die Erfüllung eben sein sollte. Sowohl diejenigen, die die Möglichkeit der Selbsterkenntnis bejahten, als auch diejenigen, die sie verneinten, waren sich dabei im großen und ganzen einig hinsichtlich der grundlegenden Deutung des Menschen. Man faßte die „Seele" oder das „Ich" metaphysizierend als etwas Substantielles, mit Eigenschaften Behaftetes. Und man verstand unter gelingender Selbsterkenntnis die Fähigkeit des Menschen, jene Eigenschaften eben in einem „Erkennen" unverfälscht in die Sicht heben zu können. Unter „Unverfälschtheit" oder Wahrheit aber verstand man dabei die Übereinstimmung der Erkenntnis mit der „Sache". Es ist bekannt, daß eine solche Wahrheitsdeutung im Laufe vieler Jahrhunderte in alle möglichen Schwierigkeiten hinsichtlich der Kriterienfrage geraten ist, ohne sich dadurch wesentlich stören zu lassen. Bestanden solche Schwierigkeiten schon in bezug auf die adäquate Erfaßbarkeit eines „Äußeren", so konnten sie sich noch erheblich erhöhen, wenn es um die Zuwendung des „Ich" zu „sich selber" ging. Es hätte also wohl gefragt werden können, was denn eigentlich ein Vergleich zwischen Aussage und Sache bedeute, wenn Aussagender und Sache dasselbe wären, und wie eine mögliche Unstimmigkeit hier überhaupt zustande kommen könne. Es scheint, daß in bezug auf dieses Gebiet nicht nur die Anwendbarkeit eines Kriteriums als problematisch hätte erscheinen müssen, sondern daß man hätte klären müssen, was denn hier überhaupt der Sinn von Kriterium sein könne. Solchen Fragen ißt — deshalb sprachen wir eben von Unbefangenheit — in langen Jahrhunderten nur wenig Aufmerksamkeit zugewandt worden, wenn die Forderung „Erkenne dich selbst!" gestellt worden ist. Dieses Versäumnis hing sicherlich damit zusammen, daß die Deutung der Wahrheit als Adäquation zwischen Erkenntnis und Sache auch hinsichtlich der „äußeren Wirklichkeit" immer wieder in einer gewissen Unbekümmertheit um die Möglichkeit des Gelingens durchgezogen worden ist. Versuchen wir, zu bedenken, welche „Bedingungen" gegeben sein müssen, damit eine Wahrheitsfindung gelinge und man sich 12

ihrer auch „vergewissern" könne, so muß dabei vor allem Weiteren die Wahrhaftigkeit des Suchenden angesetzt werden. Man muß, wenn Wahrheit möglich sein soll, voraussetzen, daß der Strebende sie wirklich ersehne. Ist er hier gleichgültig und für keine Aufforderung ansprechbar, so helfen alle weiteren Weisungen nicht das geringste. Wahrheit hat immer und unabdingbar mit dieser Reinheit des Suchenden zu tun. Auch wenn man meint, Wahrheit bedeute die Übereinstimmung einer Aussage mit der Sache, mußte man jenen Wahrheitsdrang beanspruchen. Man hat hier von der „sittlichen Voraussetzung" jeder Wahrheitsfindung gesprochen. Solche Voraussetzung kann nur erfüllt werden in autonomer Entscheidung des Menschen, sie kann niemals erzwungen werden, es gibt hier keinen Rekurs auf irgendeine „Allgemeingültigkeit". Nun konnte aber die weitere Frage auftauchen, ob die Reinheit des Erkennenden als solche als Bürge für das Gelingen der Wahrheitsfindung ausreiche oder ob nicht noch andere Sicherungsmittel dafür angeboten werden müßten, Sicherungsmittel, die jenseits der Entscheidung für Wahrhaftigkeit lägen und damit nicht von dieser allein abhingen, sondern von dem einen Menschen, her zu den anderen hinübergriffen, die zugleich aber auch zu der „beurteilten" Sache hinübergriffen und somit die „Stimmigkeit" der Menschen untereinander wie ihrer aller mit der Sache garantieren könnten. Dabei mußte man unterstellen, daß hinsichtlich der Wahrheit nicht nur der „gute Wille" des Menschen maßgebend sein könnte, sondern daß man noch gewisse sittlich gleichsam neutrale Fähigkeiten seiner beanspruchen müsse, „theoretische Fähigkeiten", die die Ausstattung aller seien und darum die Möglichkeit hergäben, daß ein Mensch die anderen zwingen könnte, hier mit ihm zu gehen. Diesen theoretischen Fähigkeiten aber mußte man zubilligen, daß sie sich der Sache bemächtigen könnten. Blicken wir von hier aus zu der Frage hinüber, wie Selbsterkenntnis möglich sei, so scheint es, daß man sich hier nur an der ersten von uns genannten Bedingung festmachen könnte: der Wahrhaftigkeit. Die Beanspruchung weiterer „Kriterien" scheint hier auf größte Schwierigkeiten zu stoßen, gehe es dabei nun um eine „Adäquation" oder gar um eine „Intersubjektivität" der Erkenntnis. Der Blick auf die Geschichte zeigt, daß man überwiegend nur mit einem der Garanten — der Wahrhaftigkeit — hier umgegangen ist, daß man aber gelegentlich auch zu den anderen hinüberzublicken versuchte. 13

Wir betonen, daß wir uns zur Zeit im Raum der traditionellen Deutung der Wahrheit bewegen und mit Schwierigkeiten in diesem Räume zu tun haben. Wir haben noch nicht die Frage gestellt, ob jene so geläufige These das Wesen der Wahrheit angemessen fasse, respektive, wie weit sie dies tue. Wir gehen jetzt nur mit den Jahrhunderten mit, in denen die Wahrheit grundsätzlich als Übereinstimmung zwischen Intellekt und Sache gedeutet wurde, und fragen, wie man hier über das Zustandekommen der Selbsterkenntnis als einer adäquaten meditieren konnte. Wir werden allerdings auf Grund solcher Umschau dahin gelangen, der üblichen Wahrheitsdeutung gegenüber hohe Bedenken anmelden zu müssen. Es ist nun kein Zweifel, daß man, wenn man Selbsterkenntnis forderte, immer wieder an die Gutwilligkeit des Erkennenden appelliert hat, des Erkennenden, den man aufforderte, sich selbst genau zu betrachten und Täuschungen dabei zu vermeiden. Tat man dieses, dann konnte man dabei annehmen, daß der reine Wahrheitswille als solcher zugleich auch hinreichendes „Kriterium" wäre, Kriterium in dem Sinne, daß diurch ihn allein die Übereinstimmung zwischen Intellekt und Sache gewährleistet und konstatiert werden könne. Dazu bedurfte es jetzt aber wieder der Feststellung, daß solch reiner Wahrheitswille im Menschen wirklich vorhanden sei, eine Feststellung, die nur durch den Sicherkennenden selbst getroffen werden konnte, wozu er einen neuen Wahrheitswillen gebraucht hätte — und so fort. Die Frage war, wie hier noch eine Adäquation von irgend etwas an irgend etwas sollte festgestellt werden können. Man hat sich mit solchen Nöten von „erkenntoiskritischem" Denken her nicht allzusehr abgequält, wenn man Selbsterkenntnis forderte. Man sah überwiegend im Mißlingen dieser Selbsterkenntnis, in der Selbsttäuschung, eine Verlogenheit und Böswilligkeit des Menschen, man appellierte also an dessen Reinheit und setzte eine Art von prästabilierter Harmonie zwischen solchem Reinheitswillen und der gelingenden Adäquation zwischen Intellekt und Sache an. Weil aber diese Adäquationslehre durchgezogen wurde und gleichsam apokryph „theoretische" Ansprüche anmeldete, sah man sich hier und da um, ob es nicht „Zusatzkriterien" für die Selbsterkenntnis gäbe, Zusatzkriterien, bei deren Verwendung sogar der 14

andere Mensch noch mithelfen könne. Man hoffte dabei, daß solche Zusatzkriterien von der Region des Wahrhaftigkeitsstrebens in die Region „theoretischer Sicherungsmöglichkeiten" hinüberführen könnten. Man suchte also zwei Garanten miteinander zu verschlingen als sich wechselseitig Helfende. Von beiden aber erheischte man die Bestätigung einer Adäquation im Sinne objektivierender Erkenntnis. Man konnte so, auf das Übermaß menschlicher Selbsttäuschungen hinweisend, dem Suchenden raten, er möge den Blick von der Betrachtung seines „Inneren" fortwenden und möge seine Handlungen, das also, was er bewirkt habe, ansehen. Diese Handlungen seien etwas Objektives, Annagelbares, Unverrückbares. Der nach Selbsterkenntnis Strebende könne sich also sagen: du bist der, der dieses zu tun imstande war, deine Besonderheit ist in dieser Handlung offenkundig ausgebreitet. Nicht nur du selbst kannst dich von dieser Handlung ablesen, sondern dieses vermag auch ein fremder Mensch zu tun. Es ist hier zunächst zu sagen, daß kein Mensch, der sich selbst erkennen will, das Geheimnis seiner selbst ergründen will, jemals dabei sein äußeres Tun außer acht lassen kann und wird. Der Mensch ist immer der in der „Welt" Tätige und Besorgende, er kann gar nicht Züge reiner „Selbstbeschaffenheit" der Verflochtenheit mit seinem Tun so entreißen, daß er zu diesem Handeln nicht mehr hinüberzublicken brauchte. Das soeben benannte „Zusatzkriterium" ist also gar kein zusätzliches, sondern ein immer schon in die Selbsterkenntnis verwobenes. Aber man könnte ja vielleicht meinen, daß eine besonders intensive Zuwendung zum Faktischen der Tat vorzügliche Hilfe leisten könne beim Hinwegräumen von Selbsttäuschungen. Hier aber wird doch wohl nicht genau genug gedacht. Die Tat eines Menschen ist nur so verstehbar, daß sie in einen Sinnzusammenhang eingegliedert wird. Sie kann auch nur so begangen werden. Der Sinnzusammenhang umfängt etwas, was wir vorläufig einmal, der bisherigen Sprache der Philosophie uns bedienend, ein Motiv der Handlung nennen können. Am rein Vorgangshaften der Handlung erscheint dieses Motiv nicht. Es läßt sich niemals als etwas objektiv Betrachtbares hinüberreichen. Der sich selbst in seinen Taten Betrachtende kann das Motiv nicht ausklammern. Dieses Motiv zu erfassen, ist seine ureigene 15

Sache, zu der er durch niemand anderen gezwungen werden kann. Wer verbürgt ihm dabei, daß das von ihm angesetzte Motiv das wahre ist? Wer kann es ihm anders verbürgen als nur er selbst: er selbst von der Reinheit seines Wahrheitswillens her? Auch wenn ihm von fremder Seite her nahegelegt wird, daß das Motiv, das er glaubt anbieten zu können, ein falsches ist, auch wenn er von fremder Seite hier schwer bedrängt wird, welche Bedrängung immer in ihren eigenen Vermessenheiten und Unzulänglichkeiten schwingt, so hängt es stets nur von seinem Sauberkeitswillen ab, ob er auf den Hinweis hören will oder nicht. Wir bewegen uns dabei jetzt immer noch in den Gefilden der Adäquationswahrheit, wobei wir voraussetzen müssen, daß der Mensch etwas objektivierend zu Fixierendes ist und seiner Seinsweise nach sich selbst gegenüber solche Fixierung ausüben kann. Was aber wäre, wenn dieser ganze Ansatz fortgewischt werden müßte? Wenn der Mensch als etwas verstanden werden müßte, das immer über sich hinausgreift, dessen Seinsweise solches Transzendieren ist, so daß er sich je und je in neuer Weise sehen könnte, ja, sehen „müßte", und dieses auch bei höchster Redlichkeit? Unter den Auspizien einer solchen Deutung würde der Ansatz einer Adäquaticmswahrheit bei der Selbsterkenntnis schlechthin zusammenbrechen. Wir würden nach dieser in ganz neuer Weise fragen müssen. Bevor wir dieses zu turn versuchen, möchten wir noch einen Beitrag zur Frage der Selbsterkenntnis und Selbsttäuschung berücksichtigen, der an hochberühmter Stelle geliefert worden ist, und zwar von Friedrich Nietzsche. Es sieht zunächst so aus, als solle hier dem sich selber Zugewandten ein Kriterium angeboten werden, das ihn zwar allein angeht und von keinem anderen „ausgewertet" werden kann, das aber doch etwas wie eine objektivierende Adäquation sichern zu können scheint. Dabei ist jedoch von vornherein zu bedenken, daß es hier um die Frage der Wahrheit geht und daß wir, Nietzsche begleitend, überall in ein qualvolles, bohrendes, erschütterndes Ringen um der Wahrheit willen geraten. Es braucht nicht dargestellt zu werden, welcher Raum der Selbsttäuschung im Werke Nietzsches eingeräumt wird und wie sein furchtbares Fragen hier immer wieder zustößt. 16

Wir möchten nur ein „Angebot" des frühen Nietzsche aufgreifen und geben jene Stelle der dritten „Unzeitgemäßen Betrachtung", in der es heißt: „Niemand kann dir die Brücke bauen, auf der gerade du über den Fluß des Lebens schreiten mußt, niemand außer dir allein. Zwar gibt es zahllose Pfade und Brücken und Halbgötter, die dich durch den Fluß tragen wollen; aber nur um den Preis deiner selbst: du würdest dich verpfänden und verlieren. Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann, außer dir: wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn." In diesen Zeilen klingt ein Ton an, der unser eigenes, hier vorgelegtes Buch tief durchdringen wird, der Ton, der von der Brücke raunt, über die immer nur ein einziger gehen kann und muß, es sei denn, er verkaufte sich und gäbe sich selber auf. Auch die Verführung zu solchem Selbstverkauf, das verwirrende Angebot derer, die durch den Fluß tragen wollen, wird von uns immer wieder bedacht werden müssen. Jetzt folgen wir Nietzsche, der fragt: „Aber wie finden wir uns selbst wieder? Wie kann sich der Mensch kennen? Er ist eine dunkle und verhüllte Sache; und wenn der Hase sieben Häute hat, so kann der Mensch sich sieben mal siebzig abziehn und wird noch nicht sagen können: ,das bist du nun wirklich, das ist nicht mehr Schale.'" Die ganze Dämonie der Selbsttäuschung wird hier enthüllt: die unheimliche Gewandtheit, mit der der Mensch sich selber ausweichen kann, mit der im! Abstreifen der einen Maske 'die andere umgebunden wird. Und nun folgt jene Warnung, von der wir bereits gesprochen haben, die Warnung: „Zudem ist es ein quälerisches, gefährliches Beginnen, sich selbst derartig anzugraben und in den Schacht seines Wesens auf dem nächsten Wege gewaltsam hinabzusteigen. Wie leicht beschädigt er sich dabei so, daß kein Arzt ihn heilen kann." Wir lassen die Frage offen, was mit der Gewaltsamkeit des Hinabsteigens in sich selbst im tiefsten gemeint sein kann. Hier packt uns, daß Nietzsche einen glücklicheren, minder gewaltsamen Weg sieht, auf dem der Mensch seine eigene Unredlichkeit überwinden kann. Er schildert ihn mit folgenden Worten: „Die junge Seele sehe auf das Leben zurück mit der Frage: was hast du bis jetzt wahrhaft geliebt, was hat deine Seele hinangezogen, was hat sie beherrscht und zugleich beglückt? Stelle dir 2

Kanthadc, Selbsterkenntnis

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die Reihe dieser verehrten Gegenstände vor dir auf, und vielleicht ergeben sie dir, durch ihr Wesen und ihre Folge, ein Gesetz, das Grundgesetz deines eigentlichen Selbst. Vergleiche diese Gegenstände, sieh, wie einer den anderen ergänzt, erweitert, überbietet, verklärt, wie sie eine Stufenleiter bilden, auf welcher du bis jetzt zu dir selbst hingeklettert bist; denn dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermeßlich hoch über dir, oder wenigstens über dem, was du gewöhnlich als dein Ich nimmst. Deine wahren Erzieher und Bildner verraten dir, was der wahre Ursinn und Grundstoff deines Wesens ist, etwas durchaus Unerziehbares und Unbildbares, aber jedenfalls schwer Zugängliches, Gebundenes, Gelähmtes: deine Erzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier. Und das ist das Geheimniss aller Bildung: sie verleiht nicht künstliche Gliedmaßen, wächserne Nasen, bebrillte Augen — vielmehr ist das, was diese Gaben zu geben vermöchte, nur das Afterbild der Erziehung. Sondern Befreiung ist sie, Wegräumung alles Unkrauts, Schuttwerks, Gewürms, das die zarten Keime der Pflanzen antasten will." Es ist hier Gültiges und Großartiges gesagt über die Bedeutung des Vorbildes für den Menschen, vor allem in den Worten, die eine „Beeinflussung" fortwischen und von einer Befreiung des Menschen zu sich selbst sprechen. Was eine solche Befreiung sei und wie sie zustande kommen könnte, darüber wird noch ausführlich gesprochen werden müssen. Wir wenden uns dem Ratschlag zu, der dem um die Erkenntnis seiner selbst bangenden Menschen hier angeboten wird. Vielleicht, sagt Nietzsche, könne der Mensch ein Gespinst, das ihn selbst darstellt, zusammenknüpfen aus den Fäden der Vorbilder, die er verehrt hat. Vielleicht könne er eine Selbstgestalt zeichnen aus den Strichen, die jene Ideale ihm liefern, denn immer mußte dieses Selbst die Gründe dafür hergeben, warum diesem oder jenem Rufenden gefolgt wurde. Vielleicht gerinnt ihm die Mannigfaltigkeit seiner Aufschwünge zu einem überschaubaren festen System zusammen: zu dem Gesetz seines Selbst. Dieses wahre Wesen liegt nach Nietzsche hoch über dem, was der Sichbetrachtende gewöhnlich als sein Ich nimmt. Es geht also nicht um das, was sich empirisch und zufällig zeigt, es geht um das Gesetz, ja, wie wiederholt wird, das Grundgesetz des eigentlichen Selbst. Was ist mit solchem Gesetz gemeint? 18

Handelt es sich dabei um die objektivierende Vorstellung von etwas Gestalthaftem, eine Vorstellung, die zutreffend ist, wenn sie mit der „eigentlichen Beschaffenheit" des Selbst übereinstimmt? Wenn Nietzsche hier im wesentlichen an die Gewinnung einer solchen Adäquationswahrheit dächte, so müßte das Gelingen eines derartigen Versuches durchaus bezweifelt werden. Es wäre darauf zu verweisen, daß die Verwebung des Selbst mit seinen Vorbildern, wenn man sie objektivierend erfassen wollte, auf jeden Fall etwas unendlich Kompliziertes wäre. Ein Durchstoßversuch könnte nur immer sehr wenig von dem, was wirklich vorliegt, erfassen. Das weitaus meiste müßte dabei versteckt bleiben. Es hinge wohl auch sicher das Aufleuchten dieses oder jenes Vorbildes von der jeweiligen A r t und Weise ab, wie das Selbst auf sich zugeht. Und es könnte gefragt werden, ob dieses Selbst bei solchem Zugehen auf sich nicht schon wieder von einem neuen Vorbild gesteuert würde, ohne daß ihm diese Steuerung jetzt oder überhaupt jemals zum Bewußtsein käme. Bei mangelndem Sauberkeitswillen könnte weiter „Peinliches" aus der Reihe der Vorbilder unterschlagen werden, und es könnte ein das eigene Selbst verherrlichender Ausschnitt, ein sehr „dekorativer" Ausschnitt, angeboten werden. Nur zu oft präsentieren Selbstbiographien eine erlauchte Ahnenreihe, an die man nicht recht glauben kann. Wenn aber das aus den Vorbildern zu schöpfende „Gesetz des Selbst" nicht solchen objektivierend-abbildenden Sinn haben kann, was meint es dann? Und was besagt das frühere Wort, daß es in der Welt nur einen einzigen Weg geben kann, der für einen Menschen, der sich selbst findet, da ist? Müßte man dann nicht meinen, das „Gesetz des Selbst" bedeute jenen eigenen Weg, der sich zwar aus der Kette der Vorbilder erringe, aber niemals deren Summe allein sein könnte, sondern ihre einzigartige Integration, eine Integration, deren Steuerung eben der Mensch als der je unvertretbare wäre? Kann dann hier aber noch „neutralisierend", „objektivierend" vorgestellt werden? Muß nicht der Mensch bei der Frage, was er eigentlich sei, immer neu integrieren, sich gleichsam immer von neuem zusammenholen? Und meint nicht Nietzsche im Grunde solche Anstrengung, diese gleichsam noch in das Gewand einer Objektivierungsbemühung hüllend? 2»

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Auf jeden Fall läßt sich dem geheimnisvollen Vorschlag Nietzsches der Hinweis entnehmen, daß das „Selbst" überhaupt nichts von si-cti wissen könnte ohne einen Blick zu „den Anderen" hinüber, ja daß es möglicherweise gar kein Selbst sein könnte ohne diese Anderen. Vielleicht gibt es hier ein Sichabstoßen von den Anderen — denen möglicherweise, die „durch den Fluß tragen" wollen — oder ein Sichgewinnen an wiederum Anderen, von dem her allein die eigene Einzigartigkeit aufscheinen kann? Vielleicht gibt es hier eine geheime Symbiose, in der das Selbst und die Anderen so verflochten sind, daß sie nie voneinander gelöst werden können? Das Wort „Erkenne dich selbst!" ist für ums immer rätselhafter geworden. Wir erinnern noch einmal daran, daß der Satz viele Jahrhunderte lang im Umkreis metaphysischer Deutungen aufgetaucht ist und daß das Für und Wider, die Zustimmung wie das Bedenken, mit denen wir umgegangen sind, im Rahmen derartiger Deutungen aufgeschienen sind. Wir verstehen dabei unter einer metaphysischen Seinsdeutung eine solche, die das Sein als allgemeinstes wie höchstens Seiendes, jedenfalls aber als Seiendes versteht. Heutiges wesentliches Denken entfaltet sidi als eine Weise des Frageins, das die Metaphysik unterwandert. Auch von diesem sehr genauen Denken her läßt sich auf das Wort „Erkenne dich selbst!" zugehen. So lassen sich die metaphysischen Befangenheiten, in denen der Satz Jahrhunderte hindurch schwang, durchschauen, und so läßt sich mit neuem Ernst untersuchen, ob und wie mit ihm, dem so ehrwürdigem Gebot, noch umgegangen werden kann. Wir werfen dazu einige Fragen auf: Was kann, wenn von „Selbsterkenntnis" die Rede ist, solches „Erkennen" bedeuten? Was kann dabei unter „Wahrheit" verstanden werden? Was ist der Sinn des „Selbst", um das es dabei so dringend zu gehen scheint? Was haben die „Anderen" mit diesem Selbst zu schaffen?

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VORBEREITENDER

TEIL

DIE FRAGE N A C H DEM SINN DES M E N S C H L I C H E N SEINS

I. DIE FRAGEMÖGLICHKEITEN DER METAPHYSIK In den voraufgegangenen Zeilen wurde auf einen geschichtlichen Wandel hingewiesen: den Wandel des Umganges mit dem zunächst so einleuchtend und so unverfänglich klingenden Worte „Erkenne dich selbst!" Es wurde dabei gefragt, ob diese verschiedenartige Behandlung des Satzes nicht von dem Wechsel der Deutungen her zu verstehen sei, die das Sein des Menschen als solchen in der Geschichte des Denkens erfahren habe. Auch von hier aus kann der für uns thematische Spruch noch als Forderung geltend gema.cht werden, nur jetzt in einem weiter umgreifenden Sinn. Denn unseren bisherigen Hinweisen entsprechend richtete sich das Gebot an den jeweils einzelnen Menschen und forderte von ihm die Beachtung seiner singulären Besonderheit. Daß dabei zugleich stets jener weitere Sinn mitschwang, trat nicht immer in den Vordergrund. Wenn aber so die Frage, was der Mensch als solcher sei, den Horizont darstellen muß für die Frage „dieses" oder „jenes" Menschen nach sich selbst, so ist die erstere Erkundung wiederum nicht zu trennen von der noch umfassenderen des Sinnes von Sein überhaupt, einer Frage, die von aller Philosophie gestellt worden ist, auch da, wo man meinte, sagen zu müssen, sie sei sinnlos. In mehr als zwei Jahrtausenden abendländischen Denkens, einem Zeitraum, in dem immer wieder das Wort „Erkenne dich selbst!" gefallen ist, hat sich der Versuch des Menschen, den Sinn des Seins zu verstehen, in der Weise metaphysischer Besinnungen entfaltet, d. h. so, daß die Frage nach dem Sein gestellt wurde als Frage nach einem Seienden, das' geeignet wäre, als Ausgang für die Ableitung alles anderen Seienden zu dienen, wie auch als Frage nach den allgemeinsten Zügen des Seienden. Der Mensch konnte sich in solchen Sinndeutungen als etwas irgendwie in die Ganzheit dea Seienden Eingemeindetes verstehen 23

und konnte dabei vergessen, daß er selbst nie in dem Gedeuteten rein als Mitgedeutetes aufgehen konnte, sondern immer ein von der Deutung nicht erfaßter Rest blieb als der Deutende, Sinnstiftende, Fragende als solcher. Und er konnte weiter blind sein dafür, daß er, stets deutend, sich hier nicht in letzteigenmächtigem Schöpfertum entfalten konnte, sondern sich immer schon als diese Frage und diese Sinngebung vorfand. Jahrhunderte, ja, Jahrtausende des Denkens haben dieses nicht aufhebbare Restsein, das der Mensch immer ist, übersehen. Das strengere Denken, das in unserer Gegenwart möglich wurde, kann diesen Rest nicht mehr ausklammern, fortwischen oder einfach aufgehen lassen in dem Gedeuteten. Als der Metaphysiker hat sich der Mensch „Geschichten erzählt", Geschichten, wie er selbst hineingehöre in das, was sich ihm als das Seiende im Ganzen auftat. Wir weisen hin auf einige Möglichkeiten des Selbstverständnisses, zu denen er so gelangen konnte, wobei es jetzt um die Deutung seiner als des „Menschen überhaupt" geht. Er konnte sich verstehen als den in einem Ideenhimmel Beheimateten, der zwar dem Los zeitweiliger Verstoßeinheit nicht entgehen konnte, dem aber doch die Möglichkeit der Rückkehr und des ewigen Verweilens in jenem Jenseits vergönnt war. Er konnte sich, in anderer Deutung, in einem tiefernsten Bedenken seiner eigenen Endlichkeit, als ein Bündel von Atomen zu fassen suchen und sich, still und verhalten sterbend, unter dem Bilde des Zerflatterns dem Nichts anheimgeben. Er konnte sich auch als ein Wesen verstehen, das in der verklärten Reinheit leidenschaftslosen Zuschauens denkend, sich vergöttlichend, einzustimmen vermag in den sich immer in gleicher Weise wiederholenden Umschwung des Alls. Weiter konnte er, der Mensch, sich deuten als ein mit allem anderen Seienden zusammen auf den Wink eines einzigen Gottes hin aus dem Nichts Geschaffenes und konnte dabei seine Abständigkeit zu diesem größten Gott, der in gewesene Sinndeutung eingegangen ist, in verschiedener Weise festsetzen. Im Verstehen späteren Menschentums konnte die Lebendigkeit Gottes sich dann als erloschen zeigen. Gott konnte noch aufscheinen, aber als der Getötete, und statt seiner konnte sich der Mensch als denjenigen ansetzen, in dem die Wahrheit gründe, durch den sie, diese Wahrheit, zu allem anderen Seienden gebracht 24

würde, so daß auf diese Weise dem Seienden vorgeschrieben werden könnte, was es zu sein habe. Solcher Anspruch gründete zutiefst darin, daß sich der Mensch jetzt nicht mehr als einen Hinnehmenden, sondern als einen Herausfordernden verstand, als einen, der meinte, vergewaltigend-organisierend auf alles andere Seiende, ja, was dabei sehr seltsam war, auch auf seinen Mitmenschen zugehen zu dürfen, planend, beherrschend, berechnend. Metaphysik des Willems konnte so als Weltdeutung entspringen und ist das, was noch heutiges Menschentum durchdringt. Bei dieser unserer Erwähnung metaphysischer Seinsauslegungen haben wir sowohl solche genannt, die sich an die Namen einzelner großer Denker knüpfen lassen und die in Wort und Schrift herausgestellt wurden, wie auch solche, die als das gleichsam apokryphe Semsverständnis eines bestimmten geschichtlichen Menschentums Jahrhunderte durchziehen konnten. Es ist dazu zu ergänzen, daß jeder in mündlicher Verkündung oder im Schriftwerk niedergelegte Einzelvorschlag einer Metaphysik immer umfangen ist von den Möglichkeiten einer bestimmten Epoche, von dem, was hier überhaupt als Weltsinn aufscheinen kann. Führendem Denken ist es jedoch immer in besonderem Maße anbefohlen, die Sprache, die das Können einer Zeit ist, klar zu sprechen, sie vor siimauslaugender Abnützung zu bewahren und das, was sie an Gefahren in sich trägt, zu bekämpfen. Wir betonen, daß das, was hier Sprache genannt wurde, welches Wort im Augenblick noch im geläufigen Sinne genommen werden möge — es wird weiteres dazu zu sagen sein —, immer nur als die Formulierung einer Frage verstanden werden kann. Es ist stets so gewesen, daß der Mensch fragend den Sinn des Seins anzugehen versucht hat. Jede Antwort, die er geglaubt hat, anbieten zu können, hing immer schon davon ab, wie gefragt worden war. Eine endgültige Antwort aber wurde immer verwehrt, weil Menschentum zu der je neuen Frage wurde, auf Grund deren alles Gewesene andere Vorzeichen erhielt. Es seien noch einige weitere Hinweise gegeben zu den Möglichkeiten, die der Mensch als das „animal metaphysicum" sein konnte. Er konnte Sein als das ewige Bleiben eines Seienden verstehen und sich danach umsehen, welches Seiende wohl am ersten als 25

etwas anzusehen sei, das der Zerbrechlichkeit und dem Vergehen enthoben wäre. Und er konnte dabei an sich selber Umsdiau halten, ob dort wohl ein Etwas zu finden sei, dem wesensgemäß Unvernichtbarkeit eigne. Er konnte sich solche Sehnsucht auch mit kühlem Zynismus verb ieten und das „ Nichteerb rechliche" nur jenseits seines „individuellen Seelentums" suchen, etwa im Atom. Er konnte seinen Platz im „Kosmos" in der Nähe Gottes suchen oder in der Nähe des Tieres. Er konnte mit Gott oder mit der Materie um seine Freiheit hadern. Er konnte sich seinen Mitmenschen gegenüber als den Wohlwollenden oder einen Wolf sehen, und das konnte wieder damit zusammenhängen, wie tief der Stoß ging, der in seiner Deutung dem Gotte versetzt war. Er konnte auch eine bestimmte Art von Metaphysik vermeiden wollen. Er konnte es ablehnen, sich „rational erkennend" um Hintergrundswelten zu bemühen, und sich in die Frage werfen, ob nicht die Weise des Aufleuchtens des Seienden irgendwie von ihm selber und seiner Offens