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German Pages 276 Year 2015
Peter Wehling (Hg.) Vom Nutzen des Nichtwissens
Sozialtheorie
Peter Wehling (Hg.)
Vom Nutzen des Nichtwissens Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven
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Inhalt
Vorwort | 7
Vom Nutzen des Nichtwissens, vom Nachteil des Wissens Zur Einleitung
Peter Wehling | 9
I.
P RAKTIKEN DES NICHTWISSENS IN SOZIALEN K ONTEXTEN
Vom Nutzen und Nachteil strategischen Nichtwissens
Linsey McGoey | 53 Rechtlich-Normative Implikationen des Rechts auf Nichtwissen in der Medizin
Gunnar Duttge | 75 Familiäre Beziehungen zwischen Wissen und Nichtwissen Die Kontroversen um anonyme Geburt und anonyme Samenspende
Peter Wehling | 93 Reisen zur Hitze der Erde. Mit Jules Verne auf dem Weg zu einer Nichtwissenssoziologie des geothermischen Untergrunds
Matthias Groß | 121 Kontingente Kontexte. Ungewissheitsorientierungen der Erziehungswissenschaft
Jochen Kade | 143
II. T HEORETISCHE ASPEKTE UND NORMATIVE DIMENSIONEN DES NICHTWISSENS Zu einem ›positiven‹ Verständnis von Nicht-Wissen in sozialphilosophischer Perspektive − am Beispiel des Vertrauens
Burkhard Liebsch | 171 Genealogie des Wissens – Poetologie des Nichtwissens Literatur und Ignoranz bei Matthias Claudius und Friedrich Hölderlin
Achim Geisenhanslüke | 203 Sprechen und Begründen jenseits des Definiten Theologie und ihr besonderes Verhältnis zum Nichtwissen
Christoph Hausladen | 223 Zur normativen Relevanz von Nichtwissen für eine Ethik der Biodiversität
Andreas Hetzel | 247
Autorin und Autoren | 271
Vorwort
Dieses Buch wäre nicht zustande gekommen, wenn ich nicht vom Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« an der Universität Konstanz eingeladen worden wäre, mich am Kulturwissenschaftlichen Kolleg (KuKo) in einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen mit dem »Nichtwissen« zu beschäftigen. Der sechsmonatige Aufenthalt in Konstanz von Dezember 2011 bis Mai 2012 hat mir die Gelegenheit geboten, mich intensiver und systematischer als in meinen früheren Arbeiten zum Thema mit den ›positiven‹, normativ bedeutsamen Aspekten von Formen und Praktiken des Nichtwissens auseinanderzusetzen. Darüber hinaus hat die großzügige finanzielle und organisatorische Unterstützung durch das KuKo es möglich gemacht, im April 2012 in Konstanz einen interdisziplinären Workshop unter dem Titel »Kulturelle Deutungen des Nichtwissens im Wandel?« zu organisieren, der sich ebenfalls vorwiegend auf die ›vorteilhaften‹ Seiten, auf den ›Nutzen‹ des Nichtwissens konzentrierte. Die Beiträge zu diesem Workshop bilden die Grundlage des vorliegenden Buches, auch wenn nicht alle der damaligen Referentinnen und Referenten ihre Vorträge schriftlich ausarbeiten konnten, weshalb weitere Autoren dafür gewonnen wurden, sich an dem Band zu beteiligen. Dem Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« danke ich für die Einladung nach Konstanz (wie auch für einen zweiten ebenfalls sechsmonatigen Aufenthalt im Jahr 2015) und für die Möglichkeit, den Workshop zu veranstalten. Ein besonderer Dank geht an Albrecht Koschorke und Marcus Twellmann für ihre vielfältige Unterstützung und ihr kritisches Interesse an meinem Zugang zur Thematik des Nichtwissens sowie an Fred Girod, Ana Mujan und die studentischen Hilfskräfte am KuKo für ihre organisatorische und technische Hilfestellung. Für die finanzielle Unterstützung bei der Übersetzung des Beitrags von Linsey McGoey danke ich dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig, und besonders Matthias Groß. Zum Gelingen der Übersetzung haben Matthias Roche und Janne Krumbügel ganz entscheidend beigetragen,
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wofür ich ihnen herzlich danke. Für ihre Unterstützung bei der Korrektur und Vereinheitlichung der Buchbeiträge bedanke ich mich bei Janne Krumbügel, Sarah Schmitz und Jan Weddehage. Michael Ernst-Heidenreich hat die Formatierung und Erstellung der Druckvorlage übernommen, wofür ich ihm zu großem Dank verpflichtet bin. Schließlich, aber nicht zuletzt, danke ich der Autorin und den Autoren der Beiträge wie auch dem transcript-Verlag für das Verständnis und die Geduld angesichts der leider nicht geringen Verzögerungen beim Erscheinen des Buches.
Frankfurt am Main, im Juli 2015
Peter Wehling
Vom Nutzen des Nichtwissens, vom Nachteil des Wissens Zur Einleitung P ETER W EHLING
1. W ARUM »N UTZEN
DES
N ICHTWISSENS «?
In seiner berühmt gewordenen »Unzeitgemäßen Betrachtung« aus dem Jahr 1874 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben untersucht Friedrich Nietzsche bekanntlich die Vorzüge und Gefahren von Erinnern und Vergessen für das menschliche Leben: »Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Thier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben.« (Nietzsche 1972: 246). Später hat Nietzsche diese trotz der aktuellen Wertschätzung des Vergessens (vgl. z.B. MayerSchönberger 2010) noch immer ungewöhnliche Perspektive ausgeweitet auf das Nichtwissen im Allgemeinen und zur Forderung nach einem gezielt zu erlernenden »Willen zur Unwissenheit« zugespitzt: »Es ist nicht genug, daß du einsiehst, in welcher Unwissenheit Mensch und Thier lebt; du mußt auch noch den Willen zur Unwissenheit haben und hinzulernen. Es ist dir nöthig, zu begreifen, daß ohne diese Art Unwissenheit das Leben selber unmöglich wäre, daß sie eine Bedingung ist, unter welcher das Lebendige allein sich erhält und gedeiht: eine große, feste Glocke von Unwissenheit muß um dich stehn.« (Nietzsche 1974: 226)
Inwieweit die Idee eines solchen umfassenden, vitalistisch begründeten Willens zur Unwissenheit aufschlussreich ist für die Frage nach dem Nutzen des Nichtwissens unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen und in spezifischen sozialen Kontexten, wird im Weiteren zu klären sein.
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Der Titel und teilweise auch die Thematik des vorliegenden Bandes knüpfen an Nietzsches Abhandlung von 1874 an – allerdings ist weder vom Nachteil des Nichtwissens die Rede noch davon, inwieweit es »dem Leben« nützt oder schadet.1 Dass der Nachteil des Nichtwissens im Titel des Bandes nicht erwähnt wird, dient ausschließlich dazu, die thematische und konzeptionelle Konzentration der Beiträge auf die über lange Zeit unterschätzten und vernachlässigten ›positiven‹ Wirkungen und (Be-)Deutungen des Nichtwissens pointiert hervorzuheben. Es soll damit keinesfalls die fast triviale, immer wieder bestätigte Tatsache bestritten oder heruntergespielt werden, dass mangelndes Wissen in vielen Situationen und Kontexten höchst unangenehme, wenn nicht gar fatale Konsequenzen haben kann (vgl. z.B. Wehling 2006: 251ff.). Gleichwohl entziehen sich die Beiträge des Bandes mit je unterschiedlicher Akzentsetzung der verbreiteten Sichtweise, Nichtwissen primär oder gar ausschließlich als ›Problem‹, als Defizit und schnellstens zu überwindenden Mangel an Wissen zu begreifen. Allerdings kann »das Leben«, anders als bei Nietzsche, nicht ohne Weiteres als Bezugspunkt und Kriterium für den Nutzen (oder Nachteil) des Nichtwissens fungieren.2 Statt von einer umfassenden und zugleich unspezifischen ›Lebensdienlichkeit‹ oder gar ›Lebensnotwendigkeit‹ des Nichtwissens (oder Vergessens) auszugehen, ist genauer zu fragen und zu analysieren, wem Nichtwissen nützt, wozu es nützlich ist und was dabei überhaupt »Nutzen« bedeutet. Im vorliegenden Band wird der Begriff ›Nutzen‹ weder von vorneherein auf eine allgemeine Funktionalität für das Leben noch auf ein utilitaristisches Kalkül im Sinne der Maximierung des jeweils individuellen Eigennutzes reduziert, er wird aber auch nicht ausschließlich in einem normativ gehaltvollen Sinne, etwa als Realisierung generalisierbarer Ziele und allgemein anerkannter Wertvorstellungen verstanden. Der ›Nutzen des Nichtwissens‹ umfasst vielmehr sowohl das interessegeleitete, strategische Ausnutzen möglicher Vorteile des Nichtwissens (etwa die Entlastung von Ver-
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Vgl. aber Seel (2009), der nach dem »Nachteil und Nutzen des Nicht-Wissens für das Leben« fragt.
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Etwas von Nietzsches lebensphilosophischer Orientierung ist noch bei Georg Simmel, dem wohl frühesten systematischen Soziologen des Nichtwissens spürbar, wenn er in seiner Soziologie von 1908 festhält, es bestehe »kein Zweifel, daß wir nicht nur so viel Wahrheit, sondern auch so viel Nichtwissen bewahren und so viel Irrtum erwerben, wie es für unser praktisches Tun zweckmäßig ist« (Simmel 1992: 386). Unthematisiert bleibt hierbei, auf welche Weise und in welchem Ausmaß es von historisch kontingenten sozialen Faktoren wie etwa institutionellen und diskursiven Rahmensetzungen, technischen Möglichkeiten, moralischen Erwartungen oder ökonomischen Kalkülen abhängt, wie viel Wissen wir erwerben und wie viel Nichtwissen wir bewahren.
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antwortung für negative Handlungsfolgen) (vgl. McGoey in diesem Band) als auch solche Wirkungen von Nichtwissen, die normativ hochrangigen Zielsetzungen wie dem Schutz von Minderheiten vor Diskriminierung und Benachteiligung dienen. Ein Beispiel hierfür sind anonymisierte Bewerbungsverfahren, die in jüngster Zeit auch in der Bundesrepublik Deutschland zum Thema der politischen Diskussion geworden sind und auf die ich unten (Kap. 2.4) zurückkomme. Ein ›Nutzen‹ des Nichtwissens kann aber auch darin bestehen, immer wieder auf die inhärenten Grenzen vermeintlicher Gewissheiten und scheinbar unbezweifelbaren (wissenschaftlichen) Wissens aufmerksam zu machen und vor vorschnellem, allzu selbstgewissem Handeln zu warnen (vgl. Hausladen in diesem Band und Hetzel in diesem Band). Noch vor wenigen Jahren wäre die Frage nach einem Nutzen des Nichtwissens in den selbsternannten »Wissensgesellschaften« vermutlich auf Unverständnis oder Ablehnung gestoßen, und wer so fragte, wäre in den Verdacht der Faulheit, der Ignoranz oder des Obskurantismus geraten. Zweifellos sind solche Reaktionen noch immer zu beobachten; dennoch lässt sich seit einiger Zeit in vielen gesellschaftlichen Bereichen, gleichsam unter der Oberfläche des offiziellen Enthusiasmus für das Wissen, eine gewisse Skepsis gegenüber den vermeintlichen Vorzügen einer immer weiter beschleunigten Wissensakkumulation erkennen, so dass die Frage nach möglichen positiven Aspekten des Nichtwissens mittlerweile nicht mehr als gänzlich abwegig erscheint. Dahinter steht ein Wandel, zumindest ein Fragwürdig-Werden der bisher eingespielten kulturellen Deutungen und Bewertungen des Nichtwissens in westlich-modernen Gesellschaften.3 Nietzsches Ruf nach einem »Willen zur Unwissenheit« zum Trotz wurde Nichtwissen bislang im Wahrnehmungshorizont der westlichen Moderne erstens als Ausdruck geistiger Trägheit und Befangenheit in überlieferten Denkmustern moralisch abgewertet; zweitens ist es in dieser Wahrnehmung allein das Wissen, das die Rationalität, Autonomie und Legitimität unseres Handelns verbürgt, während Nichtwissen eine Gefährdung verantwortlichen Handelns darstelle und überwunden werden müsse; drittens wird Nichtwissen epistemologisch marginalisiert, indem es zu einem bloßen »Noch-Nicht-Wissen« temporalisiert wird, das methodisch geordneten Wissensbemühungen nicht lange Stand halten könne (vgl. Bauman 1992: 295f.). Alle drei Vorannahmen münden in die kulturell
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Recht gut ablesen lässt sich eine zunehmend positive Bewertung des Nichtwissens an den Titeln einiger in den letzten Jahren erschienener wissenschaftlicher Arbeiten, besonders prägnant: Das Management der Ignoranz: Nichtwissen als Erfolgsfaktor (Schneider 2006); The Virtues of Ignorance (Vitek/Jackson 2008); A Defense of Ignorance (Townley 2011) und Nichtwissen als Ressource (Twellmann 2014).
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wirkmächtige Vorstellung, es sei sowohl normativ geboten als auch jederzeit möglich und rational, Wissen zu erwerben – und zwar je mehr und je schneller, desto besser. Dennoch ist unschwer zu erkennen, dass die zur Begründung des modernen »Wissensverlangens« (Landmann 1949) herangezogenen Prämissen einseitig und oberflächlich gedacht sind: Weder sind die Motive und Gründe, etwas nicht zu wissen und nicht wissen zu wollen, per se moralisch zweifelhaft (man denke nur an die Prinzipien der Diskretion und des Takts in sozialen Kontakten) noch sind die Folgen eines solchen Wissensverzichts notwendigerweise desaströs und unverantwortbar. Zunehmend zeigt sich überdies, dass Nichtwissen erkenntnistheoretisch keineswegs eine vernachlässigbare und im Wortsinn verschwindende Restgröße ist, die durch beschleunigten Wissensgewinn immer weiter zurückgedrängt werden kann. Stattdessen setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, Nichtwissen sei »weniger jener dunkle Kontinent, der noch erobert werden muss« als vielmehr »der stetig sich regenerierende Schatten jedweden Wissensgewinns« (Gamm 2005: 23). Nichtwissen kann, mit anderen Worten, nicht einfach eliminiert werden, sondern muss als unhintergehbare Bedingung und möglicherweise sogar produktive Ressource des Handelns angesehen werden. Vor dem Hintergrund dieser neueren Einsichten und Bewertungen hat in den letzten Jahren unter verschiedensten Aspekten die Frage nach den Vorzügen und dem möglichen Nutzen des Nichtwissens an Bedeutung und Plausibilität gewonnen, während parallel dazu einige der Schattenseiten von Wissen und beschleunigtem Wissenswachstum schärfer in den Blick geraten sind.4 Zwei Beispiele sollen diesen Wandel in aller Kürze illustrieren, bevor ich die Frage nach dem Nutzen des Nichtwissens und den Nachteilen des Wissens etwas systematischer aufgreife. In den letzten Jahren hat sich erstens in einem wichtigen gesellschaftlichen Handlungsfeld und Wissensgebiet, nämlich dem der Medizin, genauer der sogenannten prädiktiven genetischen Diagnostik, ein »Recht auf Nichtwissen« etabliert, das mittlerweile in den meisten Ländern auch politisch-rechtlich ausdrücklich anerkannt ist, in der Bundesrepublik Deutschland
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Diese Erweiterung und Verschiebung der Perspektive setzt auch voraus und impliziert, sich von philosophischen Idealisierungen zu lösen, die Wissen mit Wahrheit gleichsetzen und der Wahrheit per se einen normativen Eigenwert zuschreiben. Dementsprechend wird in diesem Band unter Wissen nicht allein wahres oder wissenschaftliches Wissen verstanden, sondern all das, was in der Gesellschaft als Wissen gilt und kommuniziert wird (Berger/Luckmann 1980: 3; vgl. auch Wehling 2009). Nicht-wissenschaftliches Wissen ist demnach kein Nichtwissen, keine ›Unwissenheit‹, sondern eine eigenständige Form lebensweltlichen, alltäglichen Wissens.
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beispielsweise im Gendiagnostik-Gesetz von 2009 (vgl. dazu Duttge in diesem Band). Das individuelle Recht, Wissen über die je eigenen genetischen Krankheitsrisiken und über zukünftig mögliche oder wahrscheinliche Erkrankungen nicht zur Kenntnis zu nehmen, soll verhindern, dass die autonome Lebensgestaltung der betroffenen Individuen durch dieses Wissen gefährdet wird. Den Hintergrund für die Etablierung dieses Rechts bildet zum einen der Umstand, dass das prädiktive genetische Wissen häufig lediglich statistische Erkrankungswahrscheinlichkeiten angibt und auch der mögliche Erkrankungszeitpunkt oft nur sehr grob prognostiziert werden kann. Zum anderen existieren für viele der mittels genetischer Analysen vorhersagbaren Krankheiten keine wirksamen Präventionsmaßnahmen oder Therapien. Bewusstes Nicht-Wissen-Wollen kann die betroffenen Menschen deshalb davor bewahren, durch Wissen über eine zukünftig drohende Krankheit beunruhigt zu werden, die aber möglicherweise doch nicht oder erst in einer sehr späten Lebensphase ausbricht und bei der unter Umständen auch keinerlei Chancen zur Prävention oder Therapie bestehen. Mit teilweise ähnlicher Zielsetzung, und angelehnt an das Recht auf Nichtwissen in der Medizin, wird zweitens im Bereich der digitalen Kommunikationsmedien gegenwärtig über ein »Recht auf Vergessen-Werden« im Internet debattiert, das im Mai 2014 durch ein Aufsehen erregendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) auch institutionell bekräftigt worden ist (vgl. auch Mayer-Schönberger 2010). Dieses Recht soll Privatpersonen davor schützen, durch die allgemeine Verfügbarkeit und zeitlich tendenziell unbegrenzte digitale Speicherung kompromittierender Informationen über sie dauerhaft in ihren Persönlichkeitsrechten beeinträchtigt zu werden. Um dem entgegenzuwirken, können Betroffene laut EuGHUrteil von Suchmaschinen-Betreibern verlangen, dass entsprechende Links nicht mehr in den Trefferlisten aufgeführt und daraus gelöscht werden. Es ist wenig überraschend, dass beide Rechte, das Recht auf Nichtwissen wie das Recht auf Vergessen-Werden, in ihrer normativen Reichweite wie ihrer faktischen Geltung höchst umstritten sind und immer wieder durch konkurrierende Ansprüche (Recht auf Wissen, Pflicht zum Wissen, Recht auf Erinnerung u.Ä.) in Frage gestellt und begrenzt werden.5 Ungeachtet dessen wird mit diesen Rechten ausdrücklich anerkannt, dass Wissen und die unbegrenzte Verfügbarkeit von Wissen nachteilige Effekte haben können, während aus Nichtwissen und dem Zurückhalten von Wissen und Informationen ein ›Nutzen‹ für die jeweils Betrof-
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Vgl. bezogen auf das Recht auf Nichtwissen in der Medizin ausführlicher Duttge (in diesem Band) sowie Schröder (2015) und Wehling (2015). Zur Konstruktion einer moralischen »Pflicht zum Wissen« im Kontext der genetischen Diagnostik vgl. Deutscher Ethikrat (2013: 124).
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fenen hervorgehen kann.6 Dies unterstreicht, dass die positiven Wirkungen von Nichtwissen häufig eng verknüpft sind mit negativen Effekten des Wissens. In den folgenden Kapiteln möchte ich zunächst einige charakteristische Konstellationen unterscheiden, worin Nichtwissen in jeweils spezifischer Weise einen Nutzen erlangt, während Wissen sich als potentiell nachteilig erweist (Kap. 2). Hieran anschließend werde ich exemplarisch zwei gesellschaftliche Handlungs- und Wissensbereiche skizzieren, worin die eingespielte symbolische Ordnung moderner Gesellschaften, und insbesondere die normative Hierarchie von Wissen und Nichtwissen, durch eine positive Bewertung von Nichtwissen in Frage gestellt wird (Kap. 3). Abschließend gebe ich in Kap. 4 einen kurzen Überblick über die Beiträge des vorliegenden Bandes.
2. N UTZEN
DES
N ICHTWISSENS , N ACHTEIL DES W ISSENS
Wie die Überlegungen von Nietzsche und Simmel oder die aufschlussreiche Studie des Philosophen Michael Landmann (1949) verdeutlichen, ist die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Vor- und Nachteilen von Wissen und Nichtwissen nicht neu. Sie gewinnt gegenwärtig jedoch durch Entwicklungen vor allem im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien, aber auch der
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Auch wenn »Wissen« und »Information« nicht ohne Weiteres synonym verwendet werden können, halte ich die verbreiteten, funktional oder normativ begründeten Unterscheidungen beider Begriffe nur für begrenzt tragfähig. Beispielhaft kann die Definition von Mandl et al. (2000 : 5f.) herangezogen werden: »Damit aus Information Wissen wird, muß der Mensch auswählen, vergleichen, bewerten, Konsequenzen ziehen, verknüpfen, aushandeln und sich mit anderen austauschen. […] Im Gegensatz zu Informationen dreht sich Wissen um persönliche Vorstellungen, um Sinn und Bedeutung.« Man sieht hier recht gut, dass solche Abgrenzungen eher undeutlich bleiben und letztlich fast jede Information, die überhaupt zur Kenntnis genommen wird, zu Wissen wird, weil aus der Menge der Informationen immer ausgewählt und (als relevant oder irrelevant) bewertet werden muss. Sinn und Bedeutung kann zudem vieles (etwa die Information, dass der Aconcagua der höchste Berg Südamerikas ist) auch dann haben, wenn es nicht mit »persönlichen Vorstellungen« verbunden ist und wenn daraus keine (unmittelbaren) Konsequenzen (kein unmittelbarer Nutzen?) gezogen werden können. Um derart unscharfe und letztlich normative Abgrenzungen zu vermeiden, spreche ich im Folgenden meistens von Wissen und nur dort, wo ein signifikanter Unterschied markiert werden soll, von Information (etwa bei der rein technischen Speicherung von Datenmengen).
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Genetik und Biomedizin, eine besondere Akzentuierung und Dynamik. Wie die beiden Beispiele ›Recht auf Nichtwissen‹ und ›Recht auf Vergessen-Werden‹ verdeutlichen, ist es nicht selten gerade der Erfolg von Wissensproduktion, der nachteilige Aspekte und Wirkungen des Wissens hervortreten und Nichtwissen als zumindest gleichrangige, wenn nicht gar überlegene Alternative erscheinen lässt. Vor diesem Hintergrund können idealtypisch und ungeachtet zahlreicher Überschneidungen einige charakteristische Konstellationen unterschieden werden, in denen problematische Effekte des Wissens mit einem ›Nutzen‹ des Nichtwissens einhergehen. 2.1 Bewusstes Nichtwissen als Reaktion auf die Quantität des Wissens In dem Maße, in dem vor allem durch digitale Kommunikationsmedien immer mehr Wissen zugänglich gemacht wird, wird die Fähigkeit von Individuen wie von Organisationen auf die Probe gestellt und unter Umständen überfordert, diese Informations- und Wissensmengen aufzunehmen, zu verarbeiten und in sinnvoller Weise zu nutzen. Dies ist nicht allein ein bloß quantitatives Problem der ›Kapazitätsüberlastung‹, sondern insofern auch ein qualitatives, als es schwer fällt, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Fragestellungen zu konzentrieren, wenn gleichzeitig immer weitere Wissensbestände verfügbar sind, die neue Aspekte zu bieten versprechen und so die ursprüngliche Thematik immer komplexer und unüberschaubarer machen. Auf diese Situation reagieren seit einigen Jahren – besonders im Bereich des Wissensmanagements in Organisationen – Strategien und Konzepte wie »intelligente Wissensabwehr« (Howaldt et al. 2004) oder »positive« und »schützende Ignoranz« (Schneider 2006: 73ff.). Unter positiver Ignoranz versteht Ursula Schneider (2006: 77) »die Fähigkeit zu wissen, was man nicht zu wissen braucht. Es geht darum, sich frei zu schwimmen, um die Aufmerksamkeit auf Wesentliches konzentrieren zu können.« Bei schützender Ignoranz hingegen sei es das Ziel, »bewusst nicht auf Wissen zurückzugreifen, obwohl es für die Verfolgung der eigenen Zwecke von der Sache her nützlich wäre. Wer viel weiß, weiß auch, wie viel er nicht weiß, was die Handlungsfähigkeit lähmen kann.« (Ebd.: 86)7 Auf diese Weise können Ignoranz und Nichtwissen schließlich, so Schneider, zu »Erfolgsfaktoren« des Handelns werden.
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Man erkennt hier allerdings auch, dass die Unterscheidung der beiden IgnoranzFormen nicht sonderlich klar und eindeutig ist.
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Noch stärker in ökonomischer Begrifflichkeit gefasst, aber zugleich mit einem weitergehenden Geltungsanspruch ausgestattet wird der hier anvisierte Zusammenhang in dem Konzept des »rationalen Nichtwissens« (Caplan 2001; Somin 2015), das eng an die Theorien der »rationalen Wahl« (rational choice) angelehnt ist. Die Idee von »rational ignorance« beruht erstens auf dem Umstand, dass Wissensgewinn vielfach kein Selbstzweck ist, sondern dem Erreichen bestimmter wirtschaftlicher, politischer, medizinischer oder persönlicher Zielsetzungen dient. Außerdem ist das gezielte Erwerben von Wissen zweitens in aller Regel mit dem Einsatz von Ressourcen verbunden, vor allem von Zeit und finanziellen Mitteln, aber auch von Energie und gerichteter Aufmerksamkeit. Damit lässt sich grundsätzlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem ›Nutzen‹ von Wissen für die Zielerreichung einerseits und den ›Kosten‹ für seinen Erwerb andererseits stellen. Nichtwissen und Nicht-Wissen-Wollen gelten in diesem Rahmen dann als rational, wenn die Kosten für den (zusätzlichen) Wissensgewinn höher sind als dessen Nutzen. Dementsprechend wäre es irrational, gleichsam ›um jeden Preis‹ nach Wissen zu suchen, ohne auf den dafür zu leistenden Aufwand zu achten (vgl. Elster 1989: 25f.). Ein Beispiel solcher Irrationalität oder »Hyperrationalität«, wie Jon Elster (ebd.: 17) dies nennt, wäre es, in einer Situation, wo kein Wissen verfügbar ist, um eine »rationale« Entscheidung treffen zu können (etwa an einer Weggabelung ohne jeden Hinweis, welches der richtige Weg sein könnte), dennoch immer weiter zu versuchen, Wissen zu erlangen. Rationaler wäre es in diesem Fall, so Elster (ebd.: 121f.), die Grenzen des Wissens anzuerkennen und das Los entscheiden zu lassen, statt wertvolle Zeit mit der Suche nach Wissen und vermeintlich rationalen Entscheidungsgrundlagen zu verlieren (vgl. hierzu auch Groß in diesem Band).8 So plausibel solche Überlegungen auf den ersten Blick erscheinen, lassen sie doch zugleich auch die Grenzen und Gefahren eines so verstandenen »rationalen Nichtwissens« deutlich werden. Zunächst einmal können die Kosten des Wissenserwerbs und der Nutzen von Wissen in vielen Fällen gar nicht ohne Weiteres verglichen und ›verrechnet‹ werden, es sei denn beides wird monetär ausgedrückt oder in Zeiteinheiten (Zeitaufwand für Wissensgewinn im Verhältnis zur Zeitersparnis durch Wissen) gemessen, was eine recht eingeschränkte Perspektiven auf den ›Nutzen‹ von Wissen darstellt. Entscheidend ist aber vor allem, dass sich der Nutzen von Wissen (was immer darunter im Einzelfall verstanden wer-
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Im letzteren Beispiel geht es zwar nicht um die Abwehr von ›zu viel‹ Wissen, sondern um ›zu wenig‹ oder sogar gänzlich unerreichbares Wissen in einer bestimmten Situation. Die Grundidee »rationalen Nichtwissens«, die Abwägung der Kosten von Wissenserwerb gegen dessen Nutzen, bleibt jedoch erhalten.
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den mag) häufig erst dann beurteilen lässt, wenn man dieses Wissen erworben hat. Ob beispielsweise die Ergebnisse einer weiteren medizinischen Studie zu möglichen Nebenwirkungen eines Medikaments relevant oder irrelevant sind, wird man in der Regel erst wissen, man die Untersuchung durchgeführt hat. Nur in Fällen, in denen man bereits mehr oder weniger genau absehen kann (oder glaubt, absehen zu können), was man von zusätzlichem Wissen zu erwarten hat, kann man schon vorab einigermaßen begründet dessen Nutzen oder Nutzlosigkeit abschätzen.9 In allen anderen Situationen bleiben Strategien der Ignoranz und Wissensabwehr mit dem Risiko behaftet, wichtige Einsichten nicht zur Kenntnis zu nehmen – mit möglicherweise fatalen Folgen. Anerkennen muss man dennoch den Umstand, dass dieses Risiko (nicht nur) in Situationen der »Informationsüberlastung« und »Wissensexplosion« (Burke 2014) kaum zu vermeiden ist, da jeder Versuch, das verfügbare Wissen auch nur annähernd vollständig zur Kenntnis zu nehmen, kontraproduktive Effekte hervorrufen würde. Praktiken des Wissensverzichts sind dementsprechend im Alltag weit verbreitet und können insofern einen hohen Nutzen haben, als exzessive Erkenntnissuche die Akteure von ihren ursprünglichen Zielen ablenken und eingespielte Routinen blockieren würde (vgl. High et al. 2012). Dennoch bleibt der Nutzen des Nichtwissens in der hier skizzierten Konstellation in gewisser Weise ›parasitär‹; er beruht weniger auf einem Eigenwert des Nichtwissens als vielmehr darauf, dass man die mit dem Erwerben von (noch dazu möglicherweise wenig nutzbringendem) Wissen verbundenen Kosten vermeiden kann: Man spart Zeit, schont finanzielle Ressourcen und kann seine Aufmerksamkeit auf andere, als wichtiger und lohnender erscheinende Dinge konzentrieren. Die normative Hierarchie von Wissen und Nichtwissen wird auf diese Weise kaum in Frage gestellt; Wissen ist in erster Linie deshalb nachteilig, weil ›zu viel‹ davon verfügbar ist, weil mit wachsender Quantität des Wissens
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Es ist wohl kein Zufall, dass die Grundidee »rationalen Nichtwissens« von Anthony Downs 1957 in seiner Economic Theory of Democracy im Blick auf den in der Tat häufig geringen Informationsgewinn aus parteipolitischen Programmen formuliert worden ist. Der Begriff »rational ignorance« wurde allerdings erst zehn Jahre nach Downs’ Buch geprägt (vgl. Caplan 2007: 94). Nach Downs (1957: 259) ist es irrational, politisch gut informiert zu sein, weil der geringe Ertrag des Wissens den für den Erwerb nötigen Aufwand an Zeit und anderen Ressourcen nicht rechtfertige. Ein Plädoyer für generelle politische Uninformiertheit und Desinteresse lässt sich aus dem Beispiel der Parteiprogramme allerdings nicht begründen. Vgl. zur Diskussion um die Gefahren »rationalen« politischen Nichtwissens für die Demokratie Somin (2015: 277ff.).
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dessen Nutzen tendenziell abzunehmen scheint und weil der Erwerb weiteren Wissens hohen Ressourceneinsatz erfordern würde. Der Nutzen des Nichtwissens ist demgegenüber nur ein abgeleiteter, der primär aus der Vermeidung des Aufwands für Wissensgewinn resultiert. Zumindest in der Überlegung jedoch, dass Wissen grundsätzlich eine zielgerichtete Begrenzung der Aufmerksamkeit erfordert und dementsprechend ein Element des Nichtwissens und Ignorierens konstitutiv für jegliches Wissen ist (vgl. Seel 2009), blitzt etwas von einem weitergehenden, sich der Quantifizierung entziehenden ›Nutzen‹ des Nichtwissens auf. 2.2 Strategisches Nichtwissen Ganz allgemein ist unter »strategischem Nichtwissen« (strategic ignorance) das gezielte, interessegeleitete Erzeugen, Aufrechterhalten und Ausnutzen eigenen und/oder fremden Nichtwissens zu verstehen. Daraus ergibt sich idealtypisch die wesentliche Differenz zu den soeben beschriebenen Praktiken der »Wissensabwehr«, die auf den Schutz vor ›zu viel‹ und zudem vermutlich wenig nützlichem Wissen ausgerichtet sind. Demgegenüber dient strategisches Nicht-WissenWollen dazu, sich gezielt Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen, indem bewusst davon Abstand genommen wird, mutmaßlich relevantes Wissen über bestimmte Sachverhalte zu gewinnen, indem prinzipiell verfügbare Wissensinhalte nicht zur Kenntnis genommen oder auch indem andere absichtlich in Unwissenheit gehalten werden. So kann etwa versucht werden, sich durch das gezielte Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen einer Notsituation anderer Personen bestimmten moralischen Verpflichtungen zu entziehen, die andernfalls kaum abweisbar wären. Auch suchen sich Vorgesetzte oder Politiker durch absichtsvolles NichtWissen-Wollen oder ›Nicht-so-genau-wissen-Wollen‹ zweifelhafter Aktivitäten ihrer Mitarbeiter oder Untergebenen davor zu schützen, für eventuelle Verfehlungen zur Verantwortung gezogen zu werden. Ebenso behaupten Unternehmen, etwa aus der Pharma-Industrie, sie hätten von den Nebenwirkungen eines Medikaments bedauerlicherweise nichts gewusst und auch gar nichts wissen können, so dass sie keine Verantwortung für mögliche gesundheitliche Schädigungen tragen (vgl. McGoey in diesem Band). Eine nach der Aufdeckung solcher Fälle regelmäßig auftauchende Frage ist, ob die Betreffenden tatsächlich nichts gewusst haben, ob sie lediglich behaupten, nichts gewusst zu haben, oder ob sie in
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ihrer Position etwas hätten wissen können oder müssen, aber nicht wissen wollten.10 In den Umkreis strategischen Nichtwissens gehören auch viele Formen des mehr oder weniger absichtsvollen individuellen oder kollektiven Verleugnens und Verdrängens (denial), Ignorierens oder »Beschweigens« eigentlich bekannter Realitäten und »offener Geheimnisse« (vgl. Cohen 2001; Zerubavel 2006). Zwar geht es hierbei weniger um das Wissen und Erkennen als um das Anerkennen und Aussprechen bestimmter unangenehmer »Wahrheiten«, doch das zugrundeliegende Motiv ist zumeist ähnlich wie beim strategischen Aufrechterhalten von Nichtwissen, nämlich eigene als vorteilhaft angesehene Verhaltensweisen beibehalten zu können. Dagegen wäre, sobald die unübersehbaren Tatsachen offen angesprochen würden, die Forderung, darauf durch verändertes Verhalten zu reagieren, nur schwer abzuweisen. Ebenfalls in das Spektrum strategischen Nichtwissens fallen die von Robert Proctor (2008) unter der begrifflichen Neuschöpfung »agnotology« analysierten Versuche sozialer Akteure, gezielt und zum eigenen Vorteil (wissenschaftliche) Ungewissheit oder Nichtwissen aufrechtzuerhalten oder zu erzeugen (vgl. Proctor/Schiebinger 2008; Oreskes/Conway 2010). Eines der prominentesten Beispiele sind die von Proctor untersuchten Aktivitäten der Zigarettenindustrie, die darauf ausgerichtet waren, gezielt und strategisch Zweifel, Ungewissheit und Nichtwissen bezüglich des Zusammenhangs von Tabakkonsum und der Entstehung von Lungenkrebs zu verbreiten, um drohenden gesundheitspolitischen Regulierungen zu entgehen. Der Begriff »strategic ignorance« ist im Jahr 2007 zeitgleich, aber unabhängig voneinander und mit je unterschiedlicher Akzentsetzung, von der britischen Soziologin Linsey McGoey (vgl. McGoey 2007, 2012a, 2012b sowie Davies/McGoey 2012) und der US-amerikanischen Philosophin Alison Bailey (2007) geprägt worden (vgl. dazu ausführlicher McGoey in diesem Band). McGoey führte den Begriff in einem organisationssoziologischen Kontext und am Beispiel der Arzneimittelregulierung ein; sie lenkte den Blick auf den zunächst kontra-intuitiv erscheinenden Umstand, dass Organisationen, beispielsweise um ihr routinemäßiges Funktionieren nicht zu stören, bestimmte Realitätsbereiche und Wissensbestände mehr oder weniger bewusst nicht zur Kenntnis nehmen und auch keine Anstrengungen unternehmen, um sichtbar gewordene eigene Wissenslücken zu schließen. Solche Praktiken können sich zu einem re-
10 Solche Fragen stellen sich auch, wenn viele Deutsche, die den Nationalsozialismus erlebt haben, auf die Frage nach der Vernichtung der Juden erklären: »Davon haben wir nichts gewusst.« (Longerich 2007) Haben sie wirklich nichts gewusst, konnten sie nichts wissen oder wollten sie nichts Genaueres wissen?
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gelrechten »Willen zum Nichtwissen« (will to ignorance) summieren (McGoey 2007, der anders als bei Nietzsche nicht »dem Leben« dient, sondern strategisch zur Verfolgung der Eigeninteressen von Organisationen, sozialen Gruppen oder Individuen eingesetzt wird. Alison Bailey verwendete den Begriff strategic ignorance hingegen in einem etwas anderen Sinn, nämlich als strategische, subversive Nutzung des Nichtwissens anderer, insbesondere in einem rassistischen Kontext, der durch die Zuschreibung von Stereotypen an bestimmte Gruppen, etwa an Schwarze in den USA, gekennzeichnet ist (Bailey 2007: 87f.). Bailey knüpft dabei an Überlegungen des US-amerikanischen Philosophen Charles Mills (2007) zur »weißen Ignoranz« (white ignorance) an. Mills und Bailey bezeichnen damit eine Weltsicht, die auf einer durch rassistische Klischees und den Glauben an die eigene, »weiße« Überlegenheit geprägten fundamentalen Unkenntnis und Fehlwahrnehmung von Schwarzen und ihrer Lebenssituation beruht. Statt diese Wahrnehmung als falsch und verzerrt zurückzuweisen, setzt strategisches Nichtwissen im Sinne Baileys (das in gewisser Weise eine Art reflexiven Wissens ist) darauf, die Ignoranz und Unwissenheit der Weißen gezielt zum eigenen Vorteil zu nutzen, etwa durch Formen des absichtlichen ›Sichdumm-Stellens‹ oder durch die vordergründige Erfüllung klischeehafter Erwartungen (Bailey 2007: 88f.). Strategisches Nichtwissen besitzt offensichtlich ebenso wenig wie ›rationales Nichtwissen‹ einen normativen Eigenwert, sondern hat lediglich eine instrumentelle Bedeutung. Es dient in erster Linie als Mittel, um eigene Ziele und Interessen verfolgen und durchsetzen zu können. Angesichts eines noch immer bestehenden rationalistischen und idealisierenden Grundtenors der Sozial- und Kulturwissenschaften bleibt es wichtig, zu betonen, »that cultivating ignorance is often more advantageous, both institutionally and personally, than cultivating knowledge« (McGoey 2012a: 555).11 Dass die auf diese Weise verfolgten Ziele in vielen Fällen höchst eigennützig oder sogar moralisch verwerflich sind, ist dennoch kein Beleg dafür, dass die »Kultivierung« des Nichtwissens per se fragwürdig und dubios sein muss – ganz abgesehen davon, dass auch der Drang nach Wissen keineswegs immer hehren und uneigennützigen Zwecken dient. Die von Bailey gegebenen Beispiele deuten bereits darauf hin, dass das strategische Ausnutzen von Nichtwissen gelegentlich durchaus moralisch gerechtfertigt sein kann, und in den folgenden Abschnitten wird sich zeigen, dass Nichtwissen ei-
11 Vgl. zur sozialen Funktionalität und strategischen Nutzung von Nichtwissen bereits Moore/Tumin (1949). Es wäre allerdings verfehlt, die soziale Relevanz von Nichtwissen auf diese instrumentelle Dimension zu verengen (vgl. hierzu kritisch Wehling 2014).
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nen ›Nutzen‹ auch für die Realisierung moralisch und ethisch anspruchsvoller Ziele haben kann. 2.3 Nichtwissen als Abwehr von Belastungen und Verletzungen durch Wissen Von den beiden vorangegangenen Kontexten lässt sich zumindest idealtypisch eine dritte Konstellation unterscheiden, worin Nichtwissen dadurch einen ›Nutzen‹ gewinnt, dass Belastungen und Beunruhigungen der Adressaten und Rezipienten von Wissen vermieden werden. Es ist somit auch in diesem Fall nicht so sehr die bloße Quantität als vielmehr eine bestimmte Qualität des Wissens, auf die durch Formen des Nicht-Wissen-Wollens reagiert wird. »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß«, lautet die populäre Formel für diese Haltung. Sie ist für Betroffene immer dann bedenkenswert, wenn sie befürchten müssen, dass bestimmte Wissensinhalte bei ihnen Beunruhigung, emotionale Verletzung oder Verstörung auslösen. Dadurch unterscheidet sich diese Form ›nützlichen‹ Nichtwissens vom strategischen Nichtwissen, das darauf ausgerichtet ist, sich durch gezieltes Nicht-Wissen-Wollen Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen. Besonders hoch ist die Bedeutung desjenigen Nichtwissens, das vor beunruhigendem Wissen schützen soll, in all den Fällen, wo dieses Wissen auch keine Handlungsoptionen eröffnet, um die Belastungen, die es selbst hervorgerufen hat, zu beseitigen oder wenigstens abzuschwächen. Genau dies ist die Konstellation, aus der seit den 1980er Jahren im Kontext der genetischen Diagnostik, zunächst vor allem in der Auseinandersetzung mit genetischen Tests auf das Vorliegen der Mutation für die Huntington-Krankheit, die Forderung nach einem individuellen »Recht auf Nichtwissen« entstanden ist (vgl. Wehling 2015). Denn ein positives Testergebnis gibt den Betroffenen die fast hundertprozentige Gewissheit, dass bei ihnen ab ihrem 35. bis etwa 45. Lebensjahr (in Einzelfällen auch später) diese tödlich verlaufende Erkrankung ausbrechen wird, ohne dass aus diesem Wissen wirksame medizinische Präventions- oder Therapiemaßnahmen gewonnen werden könnten. In dieser Situation entscheiden sich offenbar viele Menschen aus sogenannten »Risikofamilien«, in denen ein naher Verwandter, zumeist ein Elternteil, an Huntington erkrankt ist, den Test nicht vornehmen zu lassen (vgl. Renz 2011).12 Viele Rational-Choice-Theoretiker würden dies vermutlich als einen exemplarischen Fall ›rationalen Nichtwissens‹ interpretieren, da der ›Nutzen‹ des gene-
12 Wenn ein Elternteil erkrankt ist, besteht für die Kinder eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, die krankheitsauslösende Genmutation erhalten zu haben.
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tischen Wissens aus Sicht der Betroffenen geringer sei als die damit verbundenen psychischen und sozialen ›Kosten‹. Allerdings hat das Recht auf Nichtwissen auch dann Geltung und wird in Anspruch genommen, wenn durchaus medizinische Präventionsmöglichkeiten oder Therapien bestehen. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Nichtwissen in diesem Kontext einen über ein quantifizierbares Kosten-Nutzen-Kalkül hinausgehenden normativen Eigenwert für eine autonome Lebensgestaltung gewinnt (vgl. auch Duttge in diesem Band). Autonome Lebensgestaltung beinhaltet wesentlich auch, nach eigenen Kriterien darüber zu entscheiden, welches Wissen man über sich erlangen will und welches nicht, und entzieht sich auf diese Weise den gerade aus medizinischem Wissen häufig resultierenden Entscheidungszwängen und Verantwortungszuschreibungen. In diesem Zusammenhang kommt zudem ein grundlegender, aber oft übersehener und unterschätzter ›Vorteil‹ des Nichtwissens ins Spiel: Die Entscheidung für Nichtwissen ist in vielen Fällen sehr viel leichter reversibel als diejenige für Wissen: Man kann den Test zu einem späteren Zeitpunkt immer noch vornehmen lassen, während man ein positives Testergebnis für die Huntington-Krankheit wohl kaum einfach wird vergessen können. Nicht selten wird das Nicht-Wissen-Wollen in solchen Konstellationen mit pejorativen Begriffen wie ›Verdrängung‹ belegt oder als moralisch fragwürdig abgewertet, weil die Betroffenen auf diese Weise davor zurückschreckten, ›der Wahrheit ins Auge zu sehen‹. Abgesehen davon, dass solche Bewertungen eher auf bestimmte Formen strategischen Nichtwissens zutreffen und dass sie bezogen auf die Situation von genetischen ›Risikopersonen‹ in die Nähe des Zynismus geraten, drückt sich darin auch eine kontingente kulturelle Voreingenommenheit für ›Wahrheit‹ und ›Gewissheit‹ als Grundlagen eines vermeintlich autonomen und authentischen Lebens aus. Die US-amerikanische Autorin Alice Wexler, deren Mutter an Huntington erkrankt und verstorben ist, kritisiert diese Auffassung als einseitig und hebt zu Recht hervor, dass es durchaus Stärke erfordert, eine derart fundamentale Ungewissheit auszuhalten, wie sie für Menschen mit einem 50-prozentigen Huntington-Risiko besteht: »Diejenigen, die sich testen lassen, werden als die Stärkeren und Mutigen porträtiert, neben denjenigen, die es nicht tun. Warum kann man nicht sagen, daß eine solche Entscheidung Nachdenken erfordert über den Unterschied zwischen einem starken Verlangen nach Sicherheit und einer großen Toleranz gegenüber Unsicherheit, eine Eigenschaft, die als Stärke ausgelegt werden sollte.« (Zit. nach Lemke 2004: 47)
Autonomie kann in der Tat (mindestens) ebenso gut darin bestehen, bewusst mit Ungewissheit und Offenheit zu leben, wie darin, das eigene Leben auf der
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Grundlage und nach Maßgabe tatsächlicher oder vermeintlicher Gewissheiten rational zu planen (vgl. dazu grundlegend schon Jonas 1985).13 2.4 Nichtwissen als Vermeidung problematischer Effekte von Wissen In einer wiederum etwas anders gelagerten Konstellation kann Nichtwissen dazu dienen, problematische, dysfunktionale oder diskriminierende soziale Effekte von Wissen zu verhindern oder wenigstens zu begrenzen. Hierbei stehen nicht die psychischen oder sozialen Belastungen im Vordergrund, die beunruhigende und bedrohliche Wissensinhalte bei den Rezipienten auslösen. Verhindert oder eingegrenzt werden sollen vielmehr schwer zu kontrollierende negative Wirkungen, die ›normales‹, teilweise ganz alltägliches Wissen hervorrufen kann: Wenn das behandelnde medizinische Personal weiß, dass eine Patientin im Medikamententest nur ein Placebo erhält, sendet es möglicherweise unbewusst Signale aus, die das Testergebnis verzerren können; aus diesem Grund gelten heute sogenannte »doppelt-blinde«, zufallskontrollierte Tests als Standard, bei denen weder die Probanden noch das medizinische Personal wissen, wer das zu testende Medikament und wer ein Placebo bekommt. Wenn ein Gutachter weiß, welche Autorin den zu beurteilenden wissenschaftlichen Aufsatz geschrieben hat, kann dies das Ergebnis des Peer Review erheblich beeinflussen, auch wenn (und gerade weil) die begutachtende Person möglicherweise gar nicht bewusst wahrnimmt, wie dieses Wissen ihre Bewertung zum Positiven oder Negativen verändert. Ähnliches mag einem Schullehrer unterlaufen; wenn er weiß, dass der zu korrigierende Aufsatz von der Tochter eines Arzt- oder Professoren-Ehepaares stammt, wird er ihn unbewusst möglicherweise anders bewerten, als wenn ihn der Sohn einer Migrantenfamilie geschrieben hätte. In diesen Zusammenhang fallen auch die vielen, gerade für demokratische Gesellschaften konstitutiven Formen der Anonymisierung und Geheimhaltung (geheime Wahlen, Postgeheimnis, ärztliche Schweigepflicht, Quellenschutz von Journalisten usw.), die verhindern sollen, dass sensibles, zumeist personenbezogenes Wissen durch Dritte gezielt dazu genutzt werden kann, Menschen zu diskriminieren, politisch einzuschüchtern oder Repressalien auszusetzen. Der in
13 Dennoch vertreten nicht wenige Bioethiker mit Blick auf das Recht auf Nichtwissen sogar die Ansicht, es sei mit individueller Autonomie prinzipiell unvereinbar, (genetisches) Wissen nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, da Autonomie ausschließlich auf der Grundlage von (vollständigem) Wissen möglich sei (vgl. z.B. Harris/Keywood 2001 sowie kritisch Wehling 2015).
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diesen Fällen rechtlich in Form von Anonymität und Geheimhaltung geschützte »Schleier des Nichtwissens« (John Rawls) dient nicht nur dazu, den Missbrauch von Wissen zum Nachteil betroffener Personen zu verhindern, sondern auch dazu, bestimmte Handlungen überhaupt erst zu ermöglichen.14 Ein äußerst kontrovers diskutiertes Beispiel bilden die sogenannte anonyme Geburt und anonyme Kindesabgabe (»Babyklappe«). In diesen Fällen soll die Anonymität, die der Mutter oder den Eltern des Kindes in ihrer mutmaßlichen psychischen oder sozialen Notsituation zugesichert wird, es möglich machen, dass das Kind in einer Klinik zur Welt gebracht wird oder zumindest nach der Geburt in medizinische Betreuung übergeben wird statt einfach ausgesetzt zu werden (vgl. hierzu Wehling in diesem Band). Die vor allem zur Abwehr von gezieltem Missbrauch des Wissens institutionalisierten Praktiken des Nichtwissens (Postgeheimnis, ärztliche Schweigepflicht etc.) besitzen oftmals eine erhebliche soziale und politische Bedeutung und teilweise auch konfliktauslösende Brisanz (Vorratsdatenspeicherung u. Ä.). Dennoch sind im Hinblick auf die gleichsam ›intrinsischen‹ Nachteile des Wissens jene Fälle wissenssoziologisch aufschlussreicher, bei denen Wissen, wie im Medikamententest, problematische Effekte haben kann, ohne dass dies von den beteiligten Akteuren beabsichtigt wäre oder ihnen auch nur bewusst würde. Ein weiteres, sehr prägnantes und gesellschaftlich folgenreiches Beispiel hierfür bieten Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht oder Alter (vgl. hierzu ausführlicher Wehling 2014). Solche Diskriminierungseffekte sind in einer ganzen Reihe von Studien und Feldexperimenten beobachtet worden. So konnten beispielsweise Marianne Bertrand und Sendhil Mullainathan (2004) für die USA in einem Feldexperiment zeigen, dass fiktive Bewerberinnen und Bewerber mit »weiß« klingenden Namen um 50 Prozent häufiger zu Vorstellungsgesprächen eingeladen wurden als solche mit einem »schwarzen« Namen. Umgekehrt demonstrieren Pilotprojekte mit anonymisierten Bewerbungen, worin auf ein Foto sowie auf Angaben über Name, Geschlecht, Alter, ethnische Herkunft der Bewerberinnen und Bewerber verzichtet wird, dass sich auf diese Weise die Chancen von Frauen und Mitgliedern ethnischer (oder ethnisierter) Minderheiten nicht unerheblich verbessern (vgl. Krause
14 In gewisser Weise fällt auch Heinrich Popitz’ (1968) bekannte These von der »Präventivwirkung des Nichtwissens« in diese Kategorie des Nichtwissens. Denn, so Popitz, eine Gesellschaft könne ihr Normensystem nur erhalten und die Individuen zu normkonformem Verhalten motivieren, wenn das tatsächliche Ausmaß der Normverletzungen unerkannt bleibe. Zur Kritik an der funktionalistischen Verengung dieser These vgl. Wehling (2014).
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et al. 2012). Ein Teil solcher Diskriminierungen ist sicherlich auf explizit ethnozentrische oder rassistische Einstellungen der jeweiligen Verantwortlichen zurückzuführen. Doch man kann mit guten Gründen vermuten, dass die Benachteiligung sich zum anderen, möglicherweise größeren Teil aus einer unbeabsichtigten und unbewussten, aber eben deshalb auch schwer kontrollierbaren Voreingenommenheit ergibt, die aus dem Wissen um Herkunft, Alter oder Geschlecht der jeweiligen Kandidatinnen und Kandidaten resultiert. Zweifellos kann (und soll) man versuchen, sich solche unbemerkten Diskriminierungen reflexiv bewusst zu machen und die Verknüpfung von Wissen über Geschlecht oder ethnische Herkunft mit bestimmten Stereotypen und Zuschreibungen aufzubrechen. Dennoch scheinen solche Bemühungen nur begrenzt erfolgreich zu sein, zumal auch eingespielte sprachliche Benennungs- und Unterscheidungspraktiken dem entgegenwirken, indem sie andere Individuen oder Gruppen immer wieder als ›besonders‹ und ›anders‹ markieren und damit subtil ausgrenzen oder abwerten (vgl. Stefanowitsch 2012). Angesichts dessen könnte ein erfolgreicherer Weg, ›wissensbasierte‹ soziale Diskriminierungen zu verringern, darin bestehen, das entsprechende Wissen durch Praktiken des Nichtwissens, der Anonymisierung oder Geheimhaltung gezielt zu neutralisieren und auszuschalten, wie es bei anonymisierten Bewerbungen oder anonymisierten wissenschaftlichen Manuskripten der Fall ist. Dies soll und darf nicht bedeuten, ›abweichende‹ Identitäten generell zu verschweigen und unsichtbar zu machen, da auf diese Weise die hegemonialen Vorstellungen des ›Normalen‹ (weiß, männlich, jung, gesund, heterosexuell) nur bestätigt und verfestigt würden. Dennoch kann es sich, um bestehende Benachteiligungen zu überwinden, als wichtig und sinnvoll erweisen, in spezifischen, begrenzten sozialen Kontexten und Handlungssituationen das identifizierende und stereotypisierende Wissen über Andere gezielt und temporär außer Kraft zu setzen. Dementsprechend wächst dem Nichtwissen in solchen Konstellationen ein erheblicher, auch normativ bedeutsamer ›Nutzen‹ zu: Es kann – möglicherweise besser als wohlmeinende Aufklärungsprogramme – gesellschaftliche Diskriminierungen abschwächen und unterlaufen und dabei auch Reflexionsprozesse auslösen, wenn – etwa im Rahmen von anonymisierten Bewerbungsverfahren – den Beteiligten die eigenen Voreingenommenheiten bei der Personalauswahl gleichsam ›performativ‹ vorgeführt werden.
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2.5 Nichtwissen als Medium einer nicht-epistemischen Einstellung zu Anderen Wie vor allem das Beispiel der Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt verdeutlicht, kann es höchst fragwürdige Effekte haben, wenn wir wissen wollen, wer die Anderen sind, mit denen wir zu tun haben, wenn wir also, etwas allgemeiner formuliert, gegenüber anderen eine primär oder ausschließlich auf Wissen und Erkennen zielende Einstellung einnehmen. Gut zu verdeutlichen sind die grundsätzlichen Grenzen einer solchen kognitiven oder epistemischen Einstellung am Beispiel zweier auch normativ bedeutsamer sozialer Praktiken, die sich explizit und in einem starken Sinne als Praktiken des Nichtwissens begreifen lassen, nämlich Vertrauen und Anerkennen. Mit ›starkem Sinn‹ ist hierbei gemeint, dass aktives Nichtwissen oder Nicht-Wissen-Wollen konstitutiv ist für diese Praktiken, während Wissen-Wollen ihren sozialen und normativen Gehalt gefährden, wenn nicht sogar zerstören würde. Andere, weniger komplexere und alltäglichere Beispiele für diesen Zusammenhang sind Diskretion und Taktgefühl als Grundlage sozialer Interaktionen und Beziehungen, die durch übermäßige Neugier und Wissbegierde erheblich irritiert und gestört würden. Bereits Georg Simmel hat deutlich gemacht, dass Vertrauen als soziale Praxis und soziales Phänomen einen konstitutiven Bezug zum Nichtwissen aufweist,15 indem er Vertrauen als einen »mittleren Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen« charakterisierte (Simmel 1992: 393): »Der völlig Wissende braucht nicht zu vertrauen, der völlig Nichtwissende kann vernünftigerweise nicht einmal vertrauen.« (Ebd. – Hervorh. im Original). Doch damit deutet sich, schon bei Simmel und noch deutlicher in späteren soziologischen Thematisierungen, beispielsweise bei Niklas Luhmann (1989), ein instrumentalistisch verengtes Verständnis von Vertrauen (und seiner Bezüge zum Nichtwissen) an. Simmel (ebd.) bezeichnet Vertrauen auch als »Hypothese künftigen Verhaltens« des oder der Anderen, »die sicher genug ist, um praktisches Handeln darauf zu gründen«. Vertrauen wird auf diese Weise in die Nähe einer Kompensation für unvollständiges und unerreichbares Wissen über das Handeln des Anderen und über eine prinzipiell unbekannte Zukunft gerückt; anderen Menschen zu vertrauen, erscheint als eine zwar ›riskante‹, aber dennoch häufig durchaus erfolgreiche Strategie der Unsicherheitsbewältigung.16 Doch umgekehrt bedeutet dies: Wenn
15 Vgl. zum Verhältnis von Vertrauen und Nichtwissen auch den Beitrag von Burkhard Liebsch in diesem Band sowie Townley 2011; Liebsch 2013; Saborowski 2014. 16 In einer Fußnote erwähnt Simmel (1992: 393f.) allerdings einen »andern Typus des Vertrauens«, der »jenseits von Wissen und Nichtwissen« stehe und auf dem Glauben
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wir vollständiges oder zumindest hinreichendes Wissen hätten, müssten wir nicht nur nicht vertrauen (Simmel: »Der völlig Wissende braucht nicht zu vertrauen […]«), es wäre – zugespitzt formuliert – sogar sehr unvernünftig, dies zu tun, wenn wir doch, statt ›blind‹ auf einen Anderen zu vertrauen, verlässliche und überprüfbare Informationsquellen nutzen könnten. Mit einer derartigen, auf Risikominimierung zielenden epistemischen Haltung wird indessen der Charakter von Vertrauen als einer wechselseitigen sozialen Beziehung grundsätzlich verfehlt, denn unter diesen Prämissen kann nur die Person, der Vertrauen ›geschenkt‹ wird, dieses Vertrauen gefährden, indem sie sich anders verhält als erwartet. Tatsächlich aber würde die Vertrauensbeziehung zu einer anderen Person auch und vor allem dann massiv beeinträchtigt, wenn nicht sogar irreversibel zerstört, wenn derjenige, der dieser Person vertraut (oder zu vertrauen vorgibt), daran gehen würde, ihr Verhalten und ihre Äußerungen anhand anderer Wissensquellen zu überprüfen. Vertrauen ›lebt‹ mit anderen Worten davon, dass wir gegenüber einer Person, der wir vertrauen, keine epistemische, auf Wissen beruhende und auf Wissen zielende Einstellung einnehmen (vgl. Hartmann 2011: 206f.).17 Anerkennen (ganz allgemein verstanden als Bestätigung und Wertschätzung anderer Personen oder Gruppen) bezeichnet ebenfalls eine elementare soziale Praxis und ist in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem, wenn auch keineswegs unumstrittenen, Schlüsselbegriff sozialphilosophischer und gesellschaftstheoretischer Reflexion avanciert (vgl. Taylor 1993; Honneth 2003). Das Verhältnis von Erkennen (oder Wissen) und Anerkennen spielt in der vielschichti-
eines Menschen an einen anderen beruhe. Dieser »andere Typus« hebt sich deutlich vom Risikokalkül ab und kommt dem Vertrauen als einer nicht-epistemischen sozialen Praxis sehr nahe, hat aber ín der soziologischen Rezeption bisher weniger Beachtung gefunden. 17 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die mittlerweile inflationäre Klage über mangelndes Vertrauen ›der Gesellschaft‹ auf politische Institutionen, auf Wissenschaft und Technik oder gar auf ›die Märkte‹ sich aus einem verfehlten Begriffsverständnis speist. Während Vertrauen eine interpersonale Beziehung darstellt, die wesentlich auf Nichtwissen beruht, sollte man sich auf Institutionen, Verfahren und Ähnliches im günstigen Fall verlassen können. Sich auf jemand oder etwas zu verlassen ist eine Haltung und Praxis, die – anders als Vertrauen – durchaus auch Misstrauen und den Wunsch nach mehr Wissen über die Aktivitäten der betreffenden Person oder Institution mit einschließen kann. Vgl. zur Unterscheidung zwischen Vertrauen (trust) und Sich-Verlassen (reliance) Townley (2011) sowie Liebsch (2013 und in diesem Band).
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gen Debatte um Anerkennung eine sehr wichtige Rolle und wird höchst kontrovers diskutiert, worauf ich hier nicht im Detail eingehen kann (vgl. u.a. Markell 2003; Honneth 2005; Ricoeur 2006; Bedorf 2010; Hetzel 2011; Balzer 2014). Es hat sich jedoch zumindest ein gewisser Konsens dahingehend eingestellt, dass die Anerkennung Anderer nicht oder zumindest nicht in erster Linie als eine epistemische Praxis begriffen werden kann, auch wenn es um das Anerkennen bestimmter Anderer in ihrer Besonderheit und Unterschiedlichkeit geht. Dennoch und gerade deshalb kann ›gelingende‹ Anerkennung nicht einfach aus der ›richtigen‹ Erkenntnis des oder der Anderen als diese oder jene Person oder Gruppe mit bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten hervorgehen, so als müssten wir zunächst wissen, wer die Anderen ›wirklich‹ sind, um sie dann in diesem ›Sosein‹ anerkennen zu können. Doch wie könnten wir wissen und sicher sein, dass wir die Anderen als diejenigen erkennen und anerkennen, die sie ›wirklich‹ sind? Tatsächlich stellt jegliches Erkennen von Anderen immer auch ein Verkennen ihrer Einzigartigkeit und Andersheit dar, da wir sie im Erkennen in ein bestehendes Kategoriensystem einordnen und auf bestimmte ›Identitäten‹ (als Frau, als Ausländer, als Deutsche, als Schwarzer, als Behinderte usw.) festlegen, in denen sie niemals vollständig aufgehen und die ihnen niemals gerecht werden können. Mit Verkennung ist dementsprechend gemeint, »daß auch die erfolgreiche Anerkennung den Anderen zu einem identifizierten Anderen macht und diese Identität die Andersheit des Anderen notwendigerweise limitiert« (Bedorf 2010: 146). Wenn Anerkennung nicht in einer solchen Verkennung und damit letztlich auch Unterwerfung der Anderen unter eine gegebene (Wissens)Ordnung (Lepold 2014) enden soll, muss sie als eine im Kern nichtepistemische Praxis begriffen werden. Als solche ist Anerkennen nicht nur nicht primär auf das Erlangen von Wissen über die Anderen ausgerichtet, sondern impliziert sogar das »Aussetzen« vorhandenen Wissens über sie (Hetzel 2011: 19). Denn Wissen und eine epistemische Einstellung erweisen sich in diesem Kontext als eine Art der ›Vereinnahmung‹ und ›An-Eignung‹ des Anderen durch das Selbst/das Selbe (»the same«), wie Emmanuel Levinas pointiert formuliert: »Knowledge is a relation of the Same with the Other in which the Other is reduced to the Same and divested of its strangeness, in which thinking relates itself to the other but the other is no longer other as such; the other is already appropriated (le propre), already mine.« (Levinas 1996: 151 – Hervorh. im Original)
In welchen sozialen Formen sich demgegenüber eine nicht-epistemische Praxis des Anerkennens manifestiert oder manifestieren könnte, kann hier nicht weiter
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ausgeführt werden.18 Festzuhalten bleibt aber, dass Anerkennung, die primär auf Erkennen, auf eine epistemische Einstellung, gegründet oder sogar darauf reduziert wird, ihren eigenen normativen Anspruch und Gehalt verfehlt und untergräbt. Insofern besitzt Nichtwissen auch in diesem Kontext einen hohen ›Nutzen‹, indem es den normativen Eigensinn grundlegender sozialer Praktiken und Beziehungen wie Vertrauen und Anerkennen jenseits eines kognitivepistemischen Zugangs zu den Anderen bewahrt und zum Ausdruck bringt. Andreas Hetzel (in diesem Band) weist zudem darauf hin, dass eine der Grenzen unseres Wissens bewusste nicht-epistemische Einstellung der Achtung auch gegenüber der natürlichen Umwelt angemessen sein könnte. 2.6 Jenseits des ›Willens zum Wissen‹ Bei all ihrer Unterschiedlichkeit deuten diese Formen eines ›nützlichen‹ Nichtwissens übereinstimmend darauf hin, dass die Annahme einer anthropologisch gegebenen, ›normalen‹ und per se rationalen Präferenz von Individuen, Gruppen oder Organisationen für Wissen und gegen Nichtwissen nicht haltbar ist. Es reicht auch nicht aus, lediglich anzuerkennen, dass Nichtwissen in bestimmten, durch besondere Bedingungen zu erklärenden Ausnahmefällen als eine mögliche Handlungsoption erscheinen kann, während dagegen unter ›normalen‹ Umständen Wissen selbstverständlich die rationalere Wahl darstelle. Stattdessen müssen die Sozial- und Kulturwissenschaften sich an einer Art von methodologischem ›Symmetrieprinzip‹ orientieren, wonach Entscheidungen für Wissen wie für Nichtwissen nicht nur gleichermaßen erklärungsbedürftig sind, sondern auch aus der gleichen Art von Gründen und Ursachen erklärt werden müssen, nämlich aus sozialen und kulturellen Faktoren (vgl. Wehling 2015: 209). An dieser Stelle wird die Bedeutung von Nietzsches kritischer Konstruktion eines Willens zum Wissen, eines Willens zur Wahrheit sichtbar: Sie macht darauf aufmerksam, dass das Streben nach Wissen nichts Natürliches und Selbstverständliches ist, sondern
18 Bezweifeln lässt sich jedenfalls Thomas Bedorfs Annahme, die unausweichliche Festlegung des Anderen gehe »notwendig mit dem Wissen darum einher, dass er niemals in dieser kontextuellen Bestimmung aufgeht« (Bedorf 2010: 145). Zu rechnen ist statt eines solchen ›gewussten Nichtwissens‹ eher mit Verdinglichungen im Sinne von Peter Berger und Thomas Luckmann (1980: 98), wenn nämlich kontingente soziale Typisierungen (als Schwarzer, Muslimin, Jude etc.) zu einer Art ›Wesenskern‹ der Anderen verfestigt und ontologisiert werden. Demgegenüber müsse man, so folgern Berger und Luckmann (ebd.) »besonders jenen gesellschaftlichen Umständen Beachtung schenken, die der Entverdinglichung entgegenkommen«.
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Folge eines kontingenten »Wollens« (vgl. Landmann 1949: 354ff.): »Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewißheit? Selbst Unwissenheit?« (Nietzsche 1968: 9 – Hervorh. im Original) Allerdings stellt der häufig metaphysisch aufgeladene Begriff des ›Willens‹ hier nicht mehr dar als eine Metapher für ein Geflecht und Zusammenspiel kultureller Normen und sozialer Rationalitäten sowie kontextspezifischer und situativer Einflüsse (jeweilige Handlungsziele und Interessen, Verfügbarkeit von Ressourcen etc.). Dieses Zusammenspiel ist ausschlaggebend dafür, ob und in welchem Ausmaß die sozialen Praktiken von Individuen, Gruppen oder Organisationen auf Wissensgewinn ausgerichtet sind oder auf das Aufrechterhalten von Nichtwissen. So wenig der eine übergreifende und homogene Wille zum Wissen existiert,19 so wenig überzeugend ist aber auch Nietzsches eingangs erwähnte Forderung nach einem allgemeinen und umfassenden Willen zur Unwissenheit, nach einer »großen, festen Glocke von Unwissenheit« um jeden Einzelnen. Auch Entscheidungen, etwas nicht wissen zu wollen (oder andere etwas nicht wissen zu lassen), entspringen nicht einfach einem vitalen, lebensdienlichen Willen zum Nichtwissen, sondern werden, nicht anders als die Präferenz für Wissen, vor dem Hintergrund kultureller Normen, sozialer Erwartungen, spezifischer Handlungsziele und situativ gegebener Rahmenbedingungen gleichsam von ›Fall zu Fall‹ getroffen. Was dabei als ›Nutzen‹ des Nichtwissens gilt und wem dieser Nutzen zuteil wird, ist ebenfalls Ergebnis sozialer Prozesse und nicht in irgendeiner Weise vorentschieden. So wenig wie Wissen gleichbedeutend ist mit Wahrheit, so wenig verstehe ich den gesellschaftlich formierten Willen zum Wissen als Synonym für einen »Willen zur Wahrheit« (im Foucaultschen Sinne eines diskursiven Ausschließungssystems) oder gar einen »Willen zur Macht«. Etwas wissen zu wollen, heißt nicht notwendigerweise, eine autoritative Unterscheidung zwischen wahr und falsch treffen und das ›Falsche‹, ›Unwahre‹ stigmatisieren und ausschließen zu wollen, sondern bedeutet zunächst ›nur‹, von etwas Kenntnis haben zu wollen. Doch auch wenn Wissen sich nicht per se aus einem Machtwillen begründet, kann es, wie die in 2.3, 2.4 und 2.5 dargestellten Beispiele zeigen, durchaus star-
19 Gleichwohl sind die westlich-modernen Gesellschaft in ihren Selbstdeutungen wie in vielen ihrer institutionellen Praktiken von einer Art von kulturellem und normativem Apriori für Wissen gegenüber Nichtwissen geprägt, so dass man hier abkürzend durchaus von einem generalisierten »Willen zum Wissen« sprechen kann (vgl. Foucault 1977). Jedenfalls stellte sich für Foucault in seinen Vorlesungen Über den Willen zum Wissen von 1970/71 die Frage, inwieweit man den Willen zum Wissen, »nicht mit einem Subjekt oder einer anonymen Kraft, wohl aber mit den realen Herrschaftssystemen verknüpfen kann« (Foucault 2012: 19; vgl. auch Foucault 1991: 14ff.).
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ke Machteffekte haben,20 etwa in Form der Beunruhigung oder Benachteiligung bestimmter Personen und Gruppen oder der Nivellierung der Singularität von Anderen. Etwas kennen zu wollen, wissen zu wollen, mit wem man es zu tun hat, ist nicht per se ›harmlos‹, denn häufig bedeutet es, anderes auf das schon Bekannte zu reduzieren, es in eine gegebene Ordnung zu integrieren und ihm damit möglicherweise sowohl voreingenommen, mit vorgefertigten Erwartungen und Zuschreibungen, gegenüberzutreten als auch es seiner Besonderheit und Einzigartigkeit zu berauben. Demgegenüber können Praktiken des Nichtwissens gegebene soziale Ordnungen zumindest temporär unterbrechen und ›stören‹, insofern sie eingespielte Muster der Identifizierung und ›Platzanweisung‹ irritieren und blockieren (Wehling 2014). Die vorangehend beschriebenen Formen ›nützlichen‹ Nichtwissens stellen die historisch und kulturell eingespielte symbolische und normative Ordnung und Hierarchie von Wissen und Nichtwissen jeweils unterschiedlich stark in Frage. Im Fall des strategischen Nichtwissens (und in ähnlicher Weise, wenn auch normativ weniger problematisch, bei rationalem Nichtwissen) wird die Präferenz für Wissen nur in instrumenteller Hinsicht fragwürdig, insofern deutlich wird, dass strategische, rationale Interessenverfolgung häufig mindestens ebenso gut auf der Grundlage von Nichtwissen wie von Wissen möglich ist. Nichtwissen gewinnt in diesem Fall jedoch keinen normative Bedeutsamkeit, während Wissen, weil es mit Verpflichtungen zum Handeln und mit Verantwortung für das je eigene Handeln einhergeht, normativ übergeordnet bleibt. In anderen Fällen ist die normative Bewertung längst nicht mehr so eindeutig oder verkehrt sich sogar regelrecht ins Gegenteil, etwa bei ›wissensbasierter‹ sozialer Diskriminierung. Hieran anschließend möchte ich im folgenden Kapitel exemplarisch am Feld der Erziehung und Bildung sowie an Hoffnungen auf eine demokratisierende Transparenz des sozialen und politischen Lebens verdeutlichen, dass Problematisierungen des Wissens und ›starke‹, politisch oder ethisch bedeutsame Praktiken des Nichtwissens die moderne Wissensordnung und den eingespielten ›Willen zum Wissen‹ grundlegend in Frage stellen können.
20 Damit meine ich nicht primär die offensichtliche Tatsache, dass Wissen strategisch zur Machtausübung genutzt werden kann, sondern den Umstand, dass das Wissen ›selbst‹, auch unabhängig von der Intention derer, die über es verfügen, problematische Effekte haben kann.
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ALS H ERAUSFORDERUNG DER NORMATIVEN O RDNUNG DES W ISSENS
Beide Bereiche, Bildung wie auch das Bemühen um gesellschaftliche Transparenz, sind durch eine sowohl faktische als auch normative Ausrichtung auf Wissen geprägt: So wie Erziehung, Bildung, Lehren und Lernen (zumindest im vorherrschenden Verständnis) der Vermittlung und Aneignung von Wissen dienen sollen, so werden Transparenz und Sichtbarkeit in Bezug auf Demokratie, Gerechtigkeit und Legitimität des (politischen) Handelns höher bewertet als Heimlichkeit, Geheimhaltung und Intransparenz. Wie und wodurch könnten derart plausibel und selbstverständlich, ja zwingend erscheinende Präferenzen überhaupt in Frage gestellt und möglicherweise relativiert werden? Im Folgenden möchte ich anhand der beiden erwähnten Bereiche beispielhaft verdeutlichen, dass der Blick auf positive Effekte des Nichtwissens den Vorrang für Wissen, und damit die symbolische und normative Ordnung der gegenwärtigen »Wissensgesellschaften«, tatsächlich in Frage zu stellen vermag.21 Dies führt nicht zu einer einfachen Umkehrung dieser symbolischen Ordnung im Sinne einer spiegelbildlichen, pauschalen Höherbewertung des Nichtwissens; es nötigt aber zur immer wieder erneuten Reflexion darauf, ob die Antwort auf die zahlreichen Probleme und Konflikte der gegenwärtigen (Welt-)Gesellschaft immer nur in dem Bemühen um mehr Wissen, mehr Lernen, mehr Forschung, mehr Innovation, mehr Transparenz bestehen kann. 3.1 »Lehren mit Nichtwissen«: die Infragestellung der pädagogischen Ordnung Auch in der Erziehungswissenschaft werden Phänomene wie Nichtwissen und Ungewissheit zunehmend als Teil und wichtige Dimension der pädagogischen Praxis begriffen und sehr differenziert thematisiert (vgl. z.B. Helsper et al. 2003; Wimmer 2014 sowie Kade in diesem Band). Solche Debatten tragen wesentlich zu einem vertieften Verständnis der Ambivalenzen, Unwägbarkeiten, nichtintendierten Effekte von Erziehungs- und Bildungsprozessen bei, aber auch zu einer neuen Aufmerksamkeit für Ungewissheit und Nichtwissen als mögliche Ressourcen pädagogischer Praxis. Dennoch ist in den gegenwärtigen »Wissensgesellschaften« die Vorstellung, Kern und Ziel von Erziehung und Bildung sei
21 Vgl. bezogen auf die Erkenntnistheorie auch Cynthia Townleys (2011) auf den ersten Blick abwegig anmutende »Verteidigung des Nichtwissens« als eines epistemisch relevanten Ziels.
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die Vermittlung von Wissen an ›unwissende‹ Adressaten, selbstverständlich nicht verschwunden; plakative (bildungs-)politische und mediale Diskurse sind dafür ebenso ein Indiz wie die grassierenden Ansätze zu einer »evidenzbasierten Pädagogik«, die suggerieren, es käme nur auf das richtige Wissen an, um Prozesse des Lernens und Wissenserwerbs zielgerichtet steuern zu können (vgl. zur Kritik Bellmann/Müller 2011). Zwei sehr grundlegende Infragestellungen einer pädagogischen Fixierung auf Wissen, die von dem Philosophen Jacques Rancière sowie von der Erziehungswissenschaftlerin Sharon Todd in die Debatte gebracht worden sind, heben demgegenüber in je unterschiedlicher Weise den fundamentalen Wert und ›Nutzen‹ des Nichtwissens für Lehren und Lernen hervor. »[T]he most important quality of a schoolmaster is the virtue of ignorance.« (Rancière 2010a: 1). Worauf zielt diese ebenso provokativ wie kontra-intuitiv wirkende Behauptung Rancières, gelten Lehrerinnen und Lehrer doch für gewöhnlich als professionelle Experten, die sowohl den Stoff kennen, den sie unterrichten, als auch wissen (sollten), wie sie ihn den Lernenden ›beizubringen‹ haben? In seinem Buch Der unwissende Lehrmeister greift Rancière eine irritierende Erfahrung auf, die der französische Literaturdozent Joseph Jacotot im frühen 19. Jahrhundert an der Universität von Leuven machte (vgl. Rancière 2009: 11ff.). Jacotot unterrichtete ausschließlich auf Französisch und war der flämischen Sprache nicht mächtig, viele flämisch-sprachige Studenten wollten jedoch seine Vorlesungen hören. In dieser Situation verwies Jacotot sie auf eine kurz zuvor veröffentlichte zweisprachige Ausgabe des Romans Die Abenteuer des Telemach von François Fénelon und forderte sie auf, sich anhand des Buches selbst Grundkenntnisse des Französischen anzueignen, gab ihnen sonst jedoch keinerlei Erklärungen oder methodische Hinweise. Das Ergebnis übertraf seine Erwartungen bei Weitem, denn die flämischen Studenten waren in der Lage, sich hervorragend in der selbsterlernten Sprache auszudrücken. Es war sein eigenes Nichtwissen, seine völlige Unkenntnis des Flämischen, die den »unwissenden Lehrmeister« Jacotot davon abgehalten hatte, die üblichen Routinen des Unterrichtens und Erklärens einzuschlagen. Jacotot (und mit ihm Rancière) zog aus diesem Experiment weitreichende Schlussfolgerungen im Sinne einer grundlegenden Infragestellung der pädagogischen Logik und ihrer Einteilung der sozialen Welt in Wissende und Unwissende: »Der Erklärende braucht den Unfähigen, nicht umgekehrt. Er ist es, der den Unfähigen als solchen schafft. Jemandem etwas erklären heißt, ihm zuerst zu beweisen, dass er nicht von sich aus verstehen kann. Bevor die Erklärung ein Akt des Pädagogen ist, ist sie der Mythos der Pädagogik, das Gleichnis einer Welt, die in Wissende und Unwissende geteilt ist […].« (Rancière 2009: 16f.)
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Die pädagogische Logik der Erklärung ist demnach nichts anderes als eine Logik der »Verdummung« (ebd.: 17),22 der Jacotot und Rancière eine Logik der »intellektuellen Emanzipation« entgegensetzen, die auf dem ausdrücklichen Verzicht auf Erklärung und Wissensvermittlung beruht und die nur dann in Gang kommt, wenn der Lehrmeister tatsächlich unwissend oder in der Lage ist, sein Wissen vollständig zu suspendieren. Die oben erwähnte ›Tugend des Nichtwissens‹ ist somit vor allem eine Tugend der Trennung, nämlich der Trennung des Lehrens vom Wissen (Rancière 2010a: 14). Der unwissende Lehrmeister ist jemand, »der nicht sein Wissen weitergibt und der auch kein Führer ist, der den Schüler auf den richtigen Weg bringt, sondern der nichts als der Wille ist, der dem ihm gegenüberstehenden Willen aufträgt, seinen Weg zu finden und also ganz allein seine Intelligenz zu gebrauchen, um diesen Weg zu finden« (Rancière 2013: 140). Es geht also weder Jacotot noch Rancière darum, jegliches Autoritätsverhältnis aus der pädagogischen Beziehung herauszuhalten, doch handelt sich dabei um die Autorität eines Willens gegenüber einem anderen, nicht einer Intelligenz gegenüber einer anderen, eines Wissens gegenüber einer Unwissenheit. Jacotot war überzeugt, bei seinem Experiment auf das Phänomen der »Gleichheit der Intelligenzen« gestoßen zu sein. Allerdings, so Rancière, ist diese Gleichheit weder als ein empirisches Faktum zu verstehen noch als eine wissenschaftliche Hypothese, die aus einer Intelligenztheorie abgeleitet wäre. Sie ist vielmehr »eine Vorannahme im Sinne eines Axioms, etwas, das vorausgesetzt werden muss, um bestätigt werden zu können« (Rancière 2013: 142): Nur wenn Bildungsprozesse von diesem Axiom der Gleichheit ausgehen, können sie die tatsächliche Gleichheit vergrößern und zur intellektuellen Emanzipation der Individuen beitragen. Setzen sie hingegen im Sinne einer pädagogischen Logik die Aufteilung in Wissende und Unwissende sowie die Ungleichheit der Intelligenzen voraus, werden pädagogische Institutionen, so Rancière, niemals jene Gleichheit erreichen, die sie sich als Ziel auserkoren haben mögen, sondern stattdessen immer wieder die vorausgesetzte Ungleichheit reproduzieren: »Die Gleichheit als Ziel ausgehend von der Ungleichheit zu setzen, bedeutet einen Abstand einzuführen, den gerade die Operation seiner ›Verminderung‹ unendlich reproduziert.« (Rancière 2010b: 301) Die von Jacotot aus seinem Experiment entwickelte Methode des »universellen Unterrichts« erregte Mitte des 19. Jahrhunderts zwar einige Aufmerksamkeit und fand etliche Nachahmer, konnte sich aber dennoch nicht wirklich durchset-
22 Dass allerdings auch ›Dummheit‹ ein subversives, emanzipatorisches Potential gegenüber den dominierenden Zumutungen und Erwartungen von Rationalität haben kann, verdeutlicht Achim Geisenhanslüke (2011 und in diesem Band).
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zen oder wurde auf eine reine Lehrmethodik ohne emanzipatorische Implikationen reduziert. Vor diesem Hintergrund betont Rancière immer wieder, die »intellektuelle Emanzipation« lasse sich nicht institutionalisieren, es gehe nicht um eine neue Pädagogik oder eine Anti-Pädagogik (Rancière 2010a: 14). Nichtsdestotrotz bieten Rancières Überlegungen durchaus Anknüpfungsmöglichkeiten für die Erziehungswissenschaft (vgl. Bingham/Biesta 2010; Simons/Masschelein 2011) und beeinflussen die Art und Weise, wie gesellschaftlich über Bildungsprozesse und -institutionen reflektiert wird. Überdies ist die Figur des »unwissenden«, aber emanzipierenden Lehrmeisters ebenso wie der Hinweis auf die fragwürdigen Folgen der Einteilung der sozialen Welt in Wissende und Unwissende von enormer politischer Bedeutung in einer »pädagogisierten Gesellschaft« (Rancière 2009: 152ff.), einer Gesellschaft, die »lebenslanges Lernen« propagiert, die Lehren zunehmend mit der Vermittlung von Faktenwissen gleichsetzt und im Bildungssystem immer neue Unterschiede und Ungleichheiten zwischen gewöhnlichen und Elite-Einrichtungen, zwischen ›exzellenten‹ und ›mittelmäßigen‹ Wissenschaftlern erzeugt und institutionell verfestigt.23 Von einem vollkommen anderen theoretischen Hintergrund aus, nämlich Emmanuel Levinas‹ Philosophie der Alterität, kommt die Erziehungswissenschaftlerin Sharon Todd zu einem zunächst ganz ähnlich anmutenden Vorschlag wie Rancière, nämlich einem »Lehren mit Nichtwissen« (teaching with ignorance, Todd 2004): » (T)o teach responsibly – and responsively – one must do so with ignorance and humility.« (Todd 2003: 15) Auch hierbei geht es, wenngleich mit anderer Akzentsetzung als bei Rancière, darum, das Lehren von der Vermittlung von Wissen zu trennen. Ausgehend von der Frage nach einer Ethik von Erziehung oder Bildung, hier verstanden als eine relationale soziale Praxis, rückt Todd in einer wiederum zunächst kontra-intuitiv erscheinenden Wendung in Zweifel, dass Wissen, und insbesondere Wissen über die Anderen ein sinnvolles Ziel der Erziehung zu sozialer Gerechtigkeit (social justice education) sein kann. Orientiert an Levinas’ Wendung »from ethics as knowledge to knowledge as ethics« (Todd 2001: 69), das heißt als ethischer Beziehung zum Anderen, problematisiert Todd die weit verbreitete Vorstellung, wir müssten ›nur‹ mehr und genaueres Wissen über die Anderen haben, um ihnen gegenüber ethisch verantwortlich handeln und Diskriminierungen überwinden zu können: »Framing our
23 Nicht zuletzt dienen Bildungseinrichtungen mehr und mehr als Modell für die Legitimation sozialer Hierarchien: »Die Schule funktioniert immer mehr als eine Analogie und eine ›Erklärung‹ der Gesellschaft, das heißt als ein Beweis, dass die Ausübung der Macht die natürliche Ausübung der bloßen Ungleichheit der Intelligenzen ist.« (Rancière 2013: 155).
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ethical attention to difference as a question of knowledge implies that the more we know about ›Others‹, the better we are able to understand how to respond to them, how to be more responsible, and how to de-›Other‹ them.« (Todd 2003: 8)24 Todd stellt diese vermeintliche Selbstverständlichkeit in Frage und plädiert für ein »Lernen vom Anderen« (Todd 2003) anstelle (oder zumindest als Korrektiv und Ergänzung) eines Lernens über den Anderen. Denn durch Letzteres gerate Pädagogik in ein fragwürdiges Fahrwasser, sie werde zum einen zu einer Art von Rhetorik, zur Beeinflussung der Lernenden, die dazu gebracht werden sollen, sich standardisiertes Wissen über die Anderen anzueignen (Todd 2001: 68); zum anderen verfehle solches Wissen über den Anderen notwendigerweise dessen Singularität und unüberbrückbare Andersheit. Wenn wir glauben, den Anderen zu kennen und zu verstehen, schließen wir ihn in unser Wissen, in unser Weltverständnis ein: »The Other becomes an object of my comprehension, my world, my narrative, reducing the Other to me.« (Todd 2001: 73 – Hervorh. im Original). Lernen vom Anderen setzt demgegenüber voraus, dessen Unerkennbarkeit (unknowability) anzuerkennen und aufrechtzuerhalten. Nur dann ist, so Todd, eine offene und verantwortliche, nicht-überwältigende (non-violent) Beziehung zu Anderen möglich: »It is only when we recognize and embrace our ignorance that we can truly begin to learn from the stories that others have to tell.« (Todd 2004: 350 – Hervorh. im Original) Um von den Anderen lernen und etwas von ihnen erfahren zu können, müssen wir das Wissen über sie suspendieren und die Haltung einer nicht schon durch Wissen voreingenommenen Empfänglichkeit (susceptibility) für sie einnehmen:25
24 Der oder die Andere ist dabei nicht nur der oder die gesellschaftlich klassifizierte ethnisch, sozial, religiös, sexuell Andere, sondern letztlich jede Person, mit der wir in Kontakt kommen. Insofern stellt das »de-othering« der Anderen nur bis zu einem gewissen Grad eine ethisch verantwortliche Praxis dar; die sozialen Konstruktionen und Zuschreibungen von Andersheit und Fremdheit nach Herkunft, Religion etc. zu dekonstruieren, bedeutet nicht und kann nicht bedeuten, die grundlegende Andersheit (Alterität) jeder und jedes Anderen aufzuheben (vgl. Todd 2003: 8f.). 25 Man sieht, dass Bildungsprozesse auch bei Todd und Rancière Lernen und Wissen ermöglichen; insofern geht es keineswegs um eine völlige Ablehnung von Wissen und Lernen. Doch dies ist nicht nur ein anderes Lernen, ein anderes Wissen als es üblicherweise gefordert wird, es wird darüber hinaus auch erst dadurch möglich, dass die etablierte normative Ordnung des Wissens in Frage gestellt und unterlaufen wird.
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»The approach to knowledge implies first and foremost an ethical relation to difference; that is, what we learn is conditioned upon an initial susceptibility to what is outside of and exterior to us. In this sense, it is the self’s susceptibility to the Other, not knowledge about the Other, to which education must address itself if it is not to inflict violence.« (Todd 2001: 68 – Hervorh. im Original)
Welche Bedeutung diese Überlegungen für den (im weitesten Sinne) pädagogischen Alltag haben, kann hier nicht weiter verfolgt werden (vgl. dazu Todd 2003: 141ff.). In jedem Fall stellen sie einen begründeten und ernst zu nehmenden Einspruch dar gegen ›gut gemeinte‹ pädagogische Programme und politische Vorstellungen, denen zufolge diskriminierende Einstellungen gegenüber Anderen in erster Linie aus mangelndem Wissen über diese Anderen entspringt. Dementsprechend, so die ebenso geläufige wie fragwürdige Annahme, führe ›mehr‹ und ›besseres‹ Wissen über die Anderen fast notwendigerweise zu reflektiertem, verantwortlichem und tolerantem Handeln diesen Anderen gegenüber. 3.2 Die Ordnung der Transparenz und ihre Ambivalenzen Das Ideal der »Transparenz«, einer transparenten Gesellschaft geht mit einem großen politischen und sozialen Versprechen einher: Durch eine radikale Durchsichtigkeit des sozialen Lebens, durch die allgemeine Zugänglichkeit von Wissen und Informationen, durch die Beendigung von institutionalisierter politischer Geheimhaltung, durch die Offenlegung verdeckter Aktivitäten und undurchsichtiger Machtverflechtungen sollen Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit vorangetrieben oder sogar in einem starken Sinne erst verwirklicht werden. Diese Hoffnung auf Transparenz ist nicht neu, aber, so Manfred Schneider (2013) in seiner historischen Rekonstruktion des »Transparenztraums«, erst in der westlichen Moderne sei sie zu einer »politischen Größe« herangewachsen (Schneider 2013: 21). Von Jean-Jacques Rousseau, einem der grundlegenden Theoretiker der modernen westlichen Demokratie, stammt ein sehr weitreichendes, das gesamte individuelle und gesellschaftliche Leben einbeziehendes Transparenzpostulat: »Ein einziges Gebot der Sittenlehre kann aller andern Stelle vertreten, dieses nämlich: Tue und sage niemals etwas, was nicht die ganze Welt sehen und hören könnte.« (Zit. nach Han 2012: 72f.).26 Vincent Rzepka (2013)
26 Dass sie ›nichts zu verbergen‹ haben, dient vielen Menschen noch heute als Begründung dafür, weshalb sie gegen Maßnahmen der Telefon- oder Internetüberwachung keinen Protest einlegen – womit sie zugleich denjenigen, die protestieren, indirekt unterstellen, sie hätten ›etwas zu verbergen‹.
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spricht von Transparenz sogar als einer »demokratischen Norm« und rekonstruiert die Ursprünge der angestrebten »Ordnung der Transparenz« in den demokratietheoretischen Überlegungen von Jeremy Bentham, dem Erfinder der Überwachungstechnologie des Panoptikums. Vor allem im Zusammenhang mit der weltweiten Durchsetzung des Internets hat die Vision von der demokratisierenden, die politische Partizipation fördernden und ausweitenden Kraft der Transparenz in den letzten Jahren nochmals einen gewaltigen Aufschwung erfahren und an gesellschaftlicher Dynamik gewonnen (vgl. Baumann 2014; Wewer 2014). Allerdings tragen auch andere neuere Forschungsrichtungen und Technologien, insbesondere die Genetik und Genomforschung sowie die Neurowissenschaften zum »Transparenztraum« bei, indem sie versprechen, schon bald die Gedanken anderer »lesen« zu können (Schneider 2013: 277ff.) oder ihre Krankheitsrisiken offen zu legen. Einen frühen Vorstoß für eine Art von genetischer Transparenz unternahm der Nobelpreisträger Linus Pauling, als er 1968 für einen obligatorischen Test auf »defekte« Gene vor der Eheschließung sowie für die halb-öffentliche Kenntlichmachung (»semi-public display«) der genetischen Anlageträgerschaften plädierte. Eine entsprechende Tätowierung auf der Stirn könne beispielsweise verhindern, dass Menschen mit den gleichen genetischen Risiken einander heiraten und Kinder bekommen (zit. nach Duster 2003: 48). Es sind gerade solche technologischen Möglichkeiten und die daran geknüpften Visionen, die parallel zur wachsenden Transparenz-Euphorie auch deren ambivalente und potentiell destruktive Effekte hervortreten lassen, so dass immer mehr Kritikerinnen und Kritiker des Versuchs, durch Transparenz eine ›bessere‹, demokratischere, gerechtere, rationalere und zugleich sicherere Gesellschaft zu schaffen, auf den Plan treten (vgl. z.B. Han 2012; Schneider 2013; Zehnpfennig 2013; Baumann 2014; Wewer 2014). Nach Schneider (2013: 22) sind es Politik, Wissenschaft und Technik, die heute den Traum der Transparenz beherrschen und ihn »enteignet« haben.27 Die Kritik an den Visionen einer »Transparenzgesellschaft« (Han 2012) wird unter verschiedensten Perspektiven vorgetragen und kann hier nur in einigen Aspekten angedeutet werden.28 Grundsätzlich weist das Ideal vollständiger ›Durchsichtigkeit‹ eine Tendenz auf, Formen einer ›undurchdringlichen‹ Fremdheit und Andersheit als störend wahrzunehmen, zu marginalisieren oder zu eli-
27 Allerdings sind es zunehmend auch Wirtschaftsunternehmen, die zu kommerziellen Zwecken immer umfassendere Nutzerprofile anlegen und sich mit der Vision des ›gläsernen Kunden‹ an der Vereinnahmung des Transparenztraums beteiligen. 28 Heinrich Popitz’ (1968) oben erwähnte Überlegungen zur »Präventivwirkung des Nichtwissens« stehen für eine frühe Kritik am Ideal einer transparenten Gesellschaft.
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minieren: Transparenz, so Han (ebd.: 6f.), verwirkliche sich am besten dort, wo alles gleichartig ist und wo die Forderung nach Sichtbarkeit, Erkennbarkeit und Zuordenbarkeit auf nichts Widerständiges trifft. ›Abweichende‹ Ideen und dissidente soziale Praktiken können sich unter Transparenzbedingungen nur schwer herausbilden; schon Georg Simmel (1992: 406) hat hervorgehoben, durch Geheimnisse werde »eine ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht, weil vielerlei Inhalte desselben bei völliger Publizität überhaupt nicht auftauchen können«. Überdies schafft Transparenz, entgegen anderslautenden Versprechungen, gerade kein Vertrauen, sondern unterminiert die Bedingungen für Vertrauen in andere Personen durch das Bestreben, alles sichtbar und überprüfbar zu machen: »Transparenz ist ein Zustand, in dem jedes Nicht-Wissen eliminiert ist. Wo Transparenz herrscht, ist kein Raum für das Vertrauen vorhanden.« (Han 2012: 78f.). Und schließlich gehört wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass die Forderung nach allgemeiner Sichtbarkeit, auch da, wo sie zunächst als Kritik intransparenter Machtstrukturen auftritt, ihrerseits sehr schnell starke Machteffekte und Kontrollimperative hervorbringen kann. Auch wenn man den Blick detaillierter auf das Internet und die digitale Kommunikation als die (vermeintlichen) Medien demokratischer und emanzipatorischer Transparenz richtet, lassen sich neben positiven Wirkungen der schnellen und leichteren Zugänglichkeit von Informationen deutliche kontraproduktive Effekte und Paradoxien erkennen. So ist zu beobachten, dass der (mediale) Raum der Öffentlichkeit und Transparenz, der ursprünglich der ›Durchleuchtung‹ mächtiger Akteure aus Politik und Wirtschaft dienen sollte, zunehmend von diesen selbst besetzt und offensiv zur Selbstdarstellung genutzt wird. »Die Politik ist – unter Bedingungen der Transparenz – zur aktiven Öffentlichkeitsarbeit gezwungen, sie stellt Öffentlichkeit bedarfsgerecht selbst her, statt sich nach einer vorgefundenen Öffentlichkeit zu richten.« (Baumann 2014: 414). Damit ergibt sich in vielen Bereichen nicht ›zu wenig‹, sondern eher ›zu viel‹ Öffentlichkeit, ›zu viel‹ Information, ›zu viel‹ Kommunikation – mit paradoxen Folgen: »Wenn die Informationsflut derart anschwillt, dass eine Entdeckung politischer Normverstöße nicht mehr zu befürchten ist, greift das Prinzip Öffentlichkeit ins Leere. Bei voller Transparenz wird die Politik in gewisser Weise also eher opak.« (Ebd.: 405). Nicht zuletzt muss bei allen Forderungen nach Öffentlichkeit und freiem Zugang zu Informationen in Rechnung gestellt werden, dass finanzstarke soziale Akteure wie Unternehmen, Lobbygruppen oder staatliche Instanzen in der Regel wesentlich besser dafür ausgerüstet sind, große Informationsmengen auszuwerten und für eigene Interessen zu nutzen als ›normale‹ Bürgerinnen und Bürger oder zivilgesellschaftliche Organisationen (vgl. ebd.: 415). Nicht ausschließen kann man daher, dass durch Transparenz und Zugäng-
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lichkeit von Informationsströmen das Machtgefälle zwischen gut organisierten staatlichen und wirtschaftlichen Akteuren einerseits, zivilgesellschaftlichen Gruppen und einzelnen Bürgerinnen und Bürgern andererseits eher noch vergrößert wird. Selbstverständlich bedeuten diese Einwände gegen eine ›Ordnung der Transparenz‹ keineswegs, undurchschaubare Machtstrukturen und Interessenverflechtungen oder politische Geheimverhandlungen (wie die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen TTIP zwischen der Europäischen Union und den USA) nicht auch weiterhin zum Gegenstand der Kritik zu machen. Doch statt die Kritik auf eine vermeintlich allgemeingültige ›demokratische Norm‹ der Transparenz zu gründen, muss es als eine politische, kontextspezifisch zu klärende Frage begriffen werden, wann Transparenz geboten ist und wann es auch in Demokratien gerechtfertigt erscheint, politische Prozesse und mehr noch das soziale Geschehen der allumfassenden Sichtbarkeit und Erkennbarkeit zu entziehen. Die Vision einer generellen, linearen Steigerung von Transparenz und allgemein zugänglichem Wissen würde dagegen kaum zur Erweiterung und Vertiefung der Demokratie führen, sondern wie angedeutet zahlreiche kontraproduktive und destruktive Effekte hervorrufen.
4. D IE B EITRÄGE
DES
B ANDES
Ganz offensichtlich spielt die Thematik des Nichtwissens und seines möglichen ›Nutzens‹ in einer Vielzahl gesellschaftlicher Handlungsbereiche, institutioneller Felder, politischer Diskurse und wissenschaftlicher Diskussionen eine wichtige Rolle. Dementsprechend ist die Frage nach dem Nutzen wie auch nach den Nachteilen des Nichtwissens in den letzten Jahren zu einem Gegenstand verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen und Forschungsfelder geworden.29 Dies spiegelt sich auch in der disziplinären Vielfalt der Beiträge zum vorliegenden Band wieder, die aus unterschiedlichsten Bereichen der Sozial- und Kulturwissenschaften kommen: Erziehungswissenschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie, Rechtswissenschaft, Soziologie und Theologie. Dennoch sind die einzelnen Beiträge nicht nach disziplinärer Zugehörigkeit gruppiert, sondern grob danach unterteilt, ob sie sich stärker mit Praktiken des Nichtwissens (und ihrem ›Nutzen‹) in spezifischen sozialen Kontexten auseinandersetzen oder ob sie in
29 Einen aktuellen Überblick über die enorme Bandbreite der Themen, disziplinären, theoretischen und methodischen Zugänge sozial- und kulturwissenschaftlicher Ignorance Studies bieten die Beiträge in Gross/McGoey (2015).
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einer allgemeineren Perspektive normative Dimensionen und theoretische Aspekte von Nichtwissen analysieren. Letztlich ist diese Unterteilung nicht sehr ›trennscharf‹, da alle Beiträge des Bandes, wenngleich in je unterschiedlichen ›Mischungsverhältnissen‹, beide Zugänge zur Thematik miteinander verknüpfen: den Blick auf spezifische Phänomene und Praktiken des Nichtwissens und den Versuch, allgemeinere Aussagen über die soziale, politische und normative Relevanz von Nichtwissen zu treffen. Den ersten Teil des Bandes, »Praktiken des Nichtwissens in sozialen Kontexten«, eröffnet der Beitrag »Vom Nutzen und Nachteil strategischen Nichtwissens« der Soziologin Linsey McGoey. Gestützt auf Literatur aus der Soziologie, der Philosophie und den Wirtschaftswissenschaften skizziert sie die Grundzüge des Konzepts »strategisches Nichtwissen« und verdeutlicht an einem Beispiel aus dem Bereich der Medikamentenzulassung, dass Organisationen (ebenso wie Individuen und soziale Gruppen) häufig keinerlei Interesse daran haben, bestehendes Nichtwissen aufzulösen. Zentral für McGoeys Argumentation ist die Unterscheidung zwischen »gewöhnlichem« (banal) und »sozial exklusivem« (rarefied) strategischem Nichtwissen. Während ersteres eine mehr oder weniger alltägliche, individuelle Umgangsform mit unbequemen und unpassenden Informationen darstellt, bezeichnet letzteres ein kollektives Privileg zumeist sozial hochrangiger Akteure, solche Dinge, die ihren Interessen zuwiderlaufen, nicht zur Kenntnis zu nehmen. Als exemplarisch hierfür beschreibt McGoey die anhaltende Ignoranz der etablierten Wirtschaftswissenschaften gegenüber den zahllosen empirischen Widerlegungen ihrer theoretischen Axiome. Mit einem deutlich weniger ambivalenten Beispiel ›nützlichen‹ Nichtwissens befasst sich der Rechtswissenschaftler Gunnar Duttge in seinem Beitrag »Rechtlich-normative Implikationen des Rechts auf Nichtwissen in der Medizin«. Duttge erläutert, wie das individuelle Recht, die eigenen genetischen Dispositionen und gesundheitlichen Risiken nicht kennen zu müssen, in den letzten Jahren gegenüber dem »Dogma« von der ›informierten Einwilligung‹ an Bedeutung gewonnen hat und schließlich gesetzlich verankert worden ist. Das Recht auf Nichtwissen soll Menschen davor bewahren, durch Wissen über Erkrankungsrisiken und zukünftig drohende Krankheiten (für die zudem häufig weder Präventions- noch Therapiemöglichkeiten bestehen) in ihrer freien Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt zu werden. Duttge hebt hervor, dass das Recht auf Nichtwissen zwar besonders im Kontext der genetischen Diagnostik Anerkennung gefunden hat, dass es sich dabei aber dennoch nicht lediglich um eine Art ›Sondergesetzgebung‹ für diesen spezifischen medizinischen Bereich handelt, sondern um einen allgemeineren Schutzanspruch von Menschen gegenüber unerwünschtem, sie belastendem Wissen. Allerdings herrsche in den heutigen
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»Wissensgesellschaften« oft noch immer eine Auffassung vor, wonach der bewusste Verzicht auf Informationen eine nicht nur faktische, sondern auch normativ begründungspflichtige Ausnahme darstellt. Aus der gesetzlichen Verankerung des Rechts auf Nichtwissen dürfe deshalb nicht ohne Weiteres auf eine entsprechende gesellschaftliche Durchsetzungschance geschlossen werden. In seinem Beitrag »Familiäre Beziehungen zwischen Wissen und Nichtwissen« beschäftigt sich Peter Wehling aus soziologischer Perspektive mit Entwicklungen, die der oben formulierten These, die ›positiven‹ Aspekte von Nichtwissen würden allmählich gesellschaftlich immer mehr anerkannt, diametral entgegenzustehen scheinen. Denn in den Kontroversen um die anonyme Geburt und die anonyme Samenspende werden inzwischen fast ausschließlich die (tatsächlichen oder vermeintlichen) Nachteile des Nichtwissens thematisiert, so dass die lange Zeit üblichen Praktiken der Anonymisierung zunehmend in Misskredit geraten. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass es vor allem ein spezifischer und alles andere als unproblematischer Wissensanspruch ist, der NichtwissensPraktiken als unzulässig und unverantwortlich erscheinen lässt, nämlich das sogenannte »Recht auf Kenntnis der eigenen biologischen Herkunft«. Obwohl in die Begründung dieses Rechts sowohl ein fragwürdiger biologisch-genetischer Essentialismus als auch zweifelhafte Annahmen über individuelle Identitätsbildung einfließen, wird ihm in den Diskursen zur anonymen Geburt und »Babyklappe« wie auch zur anonymen Samenspende eine fast absolute Geltung verliehen – wodurch verdeckt wird, dass in beiden Bereichen Praktiken der Anonymisierung und Geheimhaltung weiterhin eine wichtige Handlungsperspektive darstellen. Auf eine ganz andere Weise, in der Nichtwissen ›nützlich‹ sein kann, macht der Soziologe Matthias Groß in seinem Beitrag »Reisen zur Hitze der Erde« aufmerksam. Am Beispiel der Geothermie, das heißt der Energiegewinnung aus Erdwärme, verdeutlicht er, dass der Versuch, unter allen Umständen vollständiges Wissen zu erlangen, sich als fragwürdige, blockierende »Hyperrationalität« (Jon Elster) herausstellen kann, während gewusstes und anerkanntes Nichtwissen eine produktive, gleichsam ›vorwärtstreibende‹ Ressource für experimentelles Handeln sein kann. Groß illustriert dies durch einen Vergleich zwischen den Handlungsstrategien der Romanfiguren aus Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde (1864) und dem Vorgehen heutiger Ingenieure bei der Erforschung und Nutzung der Hitze aus dem geologischen »Untergrund«. Nicht von der Hand zu weisen ist dennoch auch im Kontext der Geothermie die Gefahr, dass tatsächlich oder vermeintlich unvermeidbares Nichtwissen von interessierten Akteuren strategisch als Rechtfertigung für vorschnelles und unverantwortliches Handeln genutzt wird.
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Dass Nichtwissen auch in Bildungsprozessen eine höchst produktive und kreative Rolle spielen kann, verdeutlicht Jochen Kade in seinem Beitrag »Kontingente Kontexte«. Er rekapituliert zunächst, wie Ungewissheit und Nichtwissen in den letzten Jahren in der Erziehungswissenschaft immer stärker als zentrale Handlungsbedingung wahrgenommen und theoretisch reflektiert worden sind. Anhand eines empirischen Beispiels skizziert Kade sodann einen Perspektivenwechsel zu einer »aktiven Ungewissheitsorientierung« der Erziehungswissenschaft. Diese geht über den Blick auf die Ungewissheit in Bildungsbiographien hinaus, die gleichwohl noch als kontinuierlich und zielgerichtet unterstellt werden, und erkennt die Ungewissheit von Bildungsbiographien an, die nicht länger durch ein zu erreichendes, normativ begründetes Ziel vor-definiert werden können. Ungewissheit, Nichtwissen und die Kontingenz der Handlungskontexte erweisen sich hierbei nicht als zu lösendes ›Problem‹, sondern letztlich als Bedingung für eine gelingende Zukunftsgestaltung der Individuen in Bildungsprozessen. Der zweite Teil des Bandes, »Theoretische Aspekte und normative Dimensionen des Nichtwissens«, beginnt mit Burkhard Liebschs Beitrag »Zu einem ›positiven‹ Verständnis von Nicht-Wissen in sozialphilosophischer Perspektive − am Beispiel des Vertrauens«. Er wendet sich gegen eine bloß negative, epistemische Deutung von Nichtwissen als ›Defizit‹ und Mangel an Wissen und zeigt demgegenüber, dass vor allem unsere Beziehungen zu Anderen durch ein ›positiv‹ zu verstehendes, nicht-epistemisches Nichtwissen geprägt sind, das heißt durch ein Nichtwissen, das auch durch intensivere Wissensbemühungen nicht erreicht oder gar restlos aufgelöst werden kann. Im Gegensatz zu einer verbreiteten instrumentellen Auffassung von Vertrauen als Notlösung und »Surrogat« für hinreichendes Wissen, macht Liebsch deutlich, dass Vertrauen seinen normativen Gehalt erst und nur dann gewinnt, wenn es hervorgeht aus der Anerkennung und Bejahung unseres Nichtwissens um diejenigen, denen wir vertrauen. Keineswegs, so Liebsch, könne es jedoch um eine pauschale Gegenüberstellung von Wissen und Nichtwissen gehen; vielmehr müssten situationsbezogen sowohl Zugänge zum Wissen gegen Ignoranz und Geheimhaltung offen gehalten als auch Andere vor Wissen in Schutz genommen werden, insbesondere dann, wenn dieses Wissen mit einem Anspruch auf Kontrolle und Verfügung einhergeht. Dass und wie Literatur immer auch von dem historisch und kulturell jeweils verfügbaren Wissen beeinflusst ist (und auch auf dieses zurückwirkt), ist inzwischen recht gut belegt. Der Literaturwissenschaftler Achim Geisenhanslüke lenkt in seinem Beitrag »Genealogie des Wissens – Poetologie des Nichtwissens« den Blick auf das gleichermaßen konträre wie komplementäre Phänomen der literarischen Auseinandersetzung mit Nichtwissen und den Grenzen des Wissens. Am
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Beispiel zweier sehr bekannter Gedichte, Matthias Claudius’ »Abendlied« und Friedrich Hölderlins »Blödigkeit«, verdeutlicht er, wie sich der literarische Umgang mit Nichtwissen im Übergang von der Vormoderne zur Moderne wandelt. Die »Poetologie des Nichtwissens« erkennt in der Literatur ein Archiv, das sich offen hält (auch) für Phänomene wie Ignoranz, Dummheit, Einfalt und Unvernunft und auf diese Weise ein Korrektiv darstellen kann gegen die Wissenszumutungen und Rationalitätserwartungen, denen das moderne Subjekt sich konfrontiert sieht. Christoph Hausladen macht in seinem Beitrag »Sprechen und Begründen jenseits des Definiten« deutlich, dass die Theologie, in diesem Fall die katholische Theologie, über eine lange und vielfältige Tradition des Sprechens und Nachdenkens über das Nicht-Gewusste und Nicht-Wissbare (›Gott‹) verfügt. Aufschlussreich und anregend auch für andere Themenbereiche und wissenschaftliche Disziplinen ist der systematische Anspruch der Theologie, sich rational mit dem alles Wissen fundierenden und es zugleich übersteigenden Nichtwissen zu befassen, ohne es zu einem möglichen Objekt empirischen Wissens zu ›positivieren‹, aber auch, ohne es zu einer reinen Negativität und Abwesenheit zu vereinseitigen, über die sich gar nichts mehr sagen lässt. Unabhängig davon, ob man die religiösen Überzeugungen teilt oder nicht, kann die theologische Reflexion nicht nur für die Begrenztheit empirischer Wissensansprüche sensibilisieren, sondern auch einen Rahmen oder Horizont bieten, sich dessen anzunehmen, was konstitutiv für unsere Erfahrung und unser Wissen ist und ihm sich zugleich entzieht, etwa die Welt, die Anderen, die eigene Leiblichkeit, das eigene (Selbst-)Bewusstsein. Im abschließenden Beitrag des Bandes »Zur normativen Relevanz von Nichtwissen für eine Ethik der Biodiversität« versteht auch Andreas Hetzel aus philosophischer Perspektive unser Nichtwissen als Einspruch gegen fragwürdige Wissens- und Managementansprüche im Kontext der aktuellen Biodiversitätskrise. Der Umstand, dass wir die komplexen funktionalen und kausalen Zusammenhänge in Ökosystemen niemals vollständig werden verstehen können, verpflichtet uns, so Hetzel, zur größtmöglichen Achtung gegenüber der biologischen Vielfalt, auch und gerade wenn wir die Bedeutung und den Wert einzelner bedrohter Arten nicht kennen. Zugleich eröffne die normative Auszeichnung ökologischen Nichtwissens eine weiterführende Perspektive, um über den unproduktiven Gegensatz sowie die jeweiligen Engführungen anthropozentrischer und physiozentrischer Ansätze in der Umwelt- und Biodiversitätsethik hinauszugelangen. Damit einher geht für Hetzel eine Auffassung von Ethik, die diese nicht als eine »Gestalt des Wissens« (miss-)versteht, sondern sie als eine Weise des kritischen Umgangs mit Wissen begreift und praktiziert.
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I. Praktiken des Nichtwissens in sozialen Kontexten
Vom Nutzen und Nachteil strategischen Nichtwissens L INSEY M C G OEY
1. E INLEITUNG Als Abgeordnete der »Republikaner« im US-amerikanischen Kongress im Jahr 2013 versuchten, landesweite Datenerhebungen durch das U.S. Census Bureau gesetzlich zu verhindern, veröffentlichte der Redaktionsausschuss der New York Times (NYT) hierzu einen Kommentar mit dem Titel »Strategic Ignorance« (NYT-Editorial Bord 2013). Darin kritisieren die Journalisten, die vorgeschlagenen Gesetze würden es unmöglich machen, verlässliche Daten unter anderem über Erwerbstätigkeit, Produktivität, Gesundheit, Wohnverhältnisse, Armut, Kriminalität und die Umwelt zusammenzutragen. Dies bewerten die NYTJournalisten äußerst kritisch: »In an age when knowledge is power, restricting knowledge is a power grab, creating the conditions of ignorance that allow bias, ideology and propaganda to flourish, unchallenged and unchecked.«
An der Verwendung des Ausdrucks »strategisches Nichtwissen«1 in der New York Times sind zwei Dinge bemerkenswert. Zum einen ist es der Umstand, dass
1
Anmerkung der Übersetzerin und der Übersetzer: Das englische Wort »ignorance« ist nicht eindeutig ins Deutsche zu übersetzen; es kann je nach Kontext sowohl »Ignoranz« im Sinne eines negativ bewerteten, absichtlichen »Nicht-Wissen-Wollens« bedeuten als auch »Nichtwissen« oder »Unwissenheit« in einem eher deskriptiven, nicht wertenden Verständnis. Im vorliegenden Beitrag übersetzen wir »strategic ignorance«
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eine bis dahin marginale Begriffsprägung, die nur in einer Handvoll soziologischer und wirtschaftswissenschaftlicher Artikel benutzt wurde, neuerdings zu einem relativ gängigen Begriff in der Alltagssprache geworden zu sein scheint. Zum anderen wird der Begriff auf eine Weise benutzt, die der Verwendung in der aktuellen soziologischen Literatur beinahe diametral gegenübersteht. Der redaktionelle Kommentar in der NYT erweckt die Vorstellung, es gebe einen linearen Übergang von Nichtwissen zu Wissen. Impliziert wird, die Erhebung von Zensusdaten sei ein neutrales Unterfangen, das es dem Wissen ermögliche, über die Unwissenheit zu triumphieren. Indem sie den Informationsfluss einschränken, trügen die Gesetzentwürfe zur Erzeugung von Nichtwissen bei, was die Kommentatoren der New York Times mit »Ideologie und Propaganda« gleichsetzen. So entsteht der Eindruck, Bürgerinnen und Politiker seien frei, fundierte Entscheidungen über ihre Gesundheit, ihren Lebensstil und ihr Konsumverhalten zu treffen, wenn nur die Einschränkung von Wissen aufgehoben würde. In diesem Beitrag ziehe ich aktuelle Literatur aus Soziologie, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften heran, um zu zeigen, dass strategisches Nichtwissen ein sowohl gewöhnlicheres und alltäglicheres (more banal) als auch ein sozial exklusiveres (more rarefied) Phänomen ist, als es die Kommentatorinnen der NYT nahelegen. Diese gehen zwar recht in der Annahme, dass die Einschränkung von Wissen ein eminentes strategisches Machtmittel sein kann. Sie irren sich jedoch, wenn sie suggerieren, die Anhäufung von Wissen würde zwangsläufig das Nichtwissen überwinden und beseitigen. Anders als gewöhnlich angenommen wird, stellen Wissen und Nichtwissen keine strikt gegensätzlichen Phänomene dar. Vielmehr ist Nichtwissen selbst eine Form von Wissen – und nicht Wissen, sondern Nichtwissen dient oftmals als Hauptquelle institutioneller Macht. Es mag widersprüchlich erscheinen, strategisches Nichtwissen gleichzeitig als alltäglich und sozial exklusiv zu begreifen, doch es ist gerade meine Absicht, den wechselhaften Charakter von Nichtwissen hervorzuheben. Meine Annahme ist, dass strategisches Nichtwissen sowohl einen weit verbreiteten individuellen Bewältigungsmechanismus darstellt als auch eine exklusive, »verknappte« kol-
in der Regel als »strategisches Nichtwissen«, um die im Deutschen stark negative, abwertende Färbung von »Ignoranz« zu vermeiden. Nur dort, wo im Text der Aspekt des gezielten und bewussten Ignorierens besonders betont wird, wird »strategische Ignoranz« als Übersetzung gewählt. Außerdem unterscheidet das Englische zumeist nicht zwischen männlichen und weiblichen Personenbezeichnungen; in der Übersetzung wird abwechselnd die männliche und weibliche Form verwendet und dabei in der Regel die jeweils andere Form mitgemeint.
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STRATEGISCHEN
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lektive Ressource. Indem ich den Gebrauch von Nichtwissen als »exklusiv« bezeichne, möchte ich betonen, dass Nichtwissen ein Kapital ist, das häufig von einem elitären Kreis auserwählter Personen in Organisationen und wissenschaftlichen Disziplinen monopolisiert wird. Inwiefern kann mangelhaftes oder gänzlich fehlendes Wissen eine eigene Form von Wissen sein? Wie ist es einigen Gruppen möglich, Nichtwissen effektiver zu nutzen als anderen? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich im Folgenden neuere Literatur über den strategischen Gebrauch von Nichtwissen analysieren und auswerten. Wie ich zeigen werde, haben verschiedene akademische Disziplinen den Begriff strategisches Nichtwissen auf unterschiedliche, manchmal gegensätzliche Weise verwendet. Ich vermute, dass die wesentliche Differenz zwischen soziologischen und wirtschaftswissenschaftlichen Konzeptionen von strategischem Nichtwissen, vielleicht nicht überraschend, aus unterschiedlichen methodologischen Zugängen resultiert. Soziologen und Philosophen neigen dazu, die Mobilisierung von Nichtwissen als kollektives Phänomen zu behandeln, motiviert durch etwas, das ich »Anti-Strategien« nenne, nämlich organisationsinternen Druck, der Individuen dazu bringt, den expliziten Zielen der Organisation zuwider zu handeln (McGoey 2007). Wirtschaftswissenschaftler haben strategisches Nichtwissen dagegen eher auf der individuellen Ebene erforscht und dabei untersucht, wie Individuen Informationen ausblenden, die für ihre persönlichen Interessen nachteilig sind. Sowohl in den Wirtschaftswissenschaften als auch in der Soziologie befindet sich die Literatur über den strategischen Einsatz von Nichtwissen noch in den Anfängen, und beide Disziplinen könnten von einer verstärkten Beschäftigung mit den Arbeiten im jeweils anderen Feld profitieren.
2. D IE
STRATEGISCHE
N UTZUNG
VON
N ICHTWISSEN
Den Ausdruck »strategic ignorance« habe ich erstmals in einem Artikel aus dem Jahr 2007 verwendet (McGoey 2007). Darin untersuchte ich die verschiedenen organisationsinternen Motive und Fehlleistungen, die es der britischen Arzneimittelzulassungsbehörde ermöglichten, offenkundige Belege für gesundheitsschädigende Wirkungen einer umsatzstarken Medikamentengruppe zu ignorieren. In späteren Arbeiten bezog ich diesen 2007 entworfenen theoretischen Rahmen auf ähnliche Fälle versagender Regulierungs- und Kontrollinstanzen: zum einen auf die Finanzkrise von 2007/2008 (Davies und McGoey 2012), zum anderen auf die Zulassung des Medikaments Ketek – ein verbreitetes Antibiotikum, das später mit Fällen von Leberversagen in Verbindung gebracht wurde –
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durch die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) (McGoey 2012). Unabhängig davon gebrauchte die Philosophin Alison Bailey ebenfalls im Jahr 2007 im Anschluss an Charles Mills' Konzept der »white ignorance« den Ausdruck »strategisches Nichtwissen« in einem Artikel, der die politischen Hintergründe von Rassismus und »Rassen«-Konflikten untersucht. Obwohl Bailey und ich den Begriff »strategisches Nichtwissen« auf höchst unterschiedliche Weise verwenden, glaube ich, dass sich unsere Auffassungen ergänzen und Aufschluss darüber geben können, wie Nichtwissen sowohl von mächtigen als auch von verletzlichen sozialen Gruppen mobilisiert werden kann, um autoritative Behauptungen über »Tatsachen« und »Wahrheiten« geltend zu machen oder aber in Frage zu stellen. Um diese Parallelen zu erkunden, werde ich mich zuerst Baileys Arbeiten und dann meinen eigenen zuwenden. Im letzten Abschnitt des Beitrags werde ich unsere Arbeiten in einen Zusammenhang mit aktuellen Studien über Nichtwissen in den Wirtschaftswissenschaften bringen. Den Ausgangspunkt von Baileys 2007 erschienenem Artikel bildet eine Reflexion über das, was der einflussreiche Philosoph Charles Mills (1997) als »white ignorance« (»weiße Ignoranz«/«weißes Nichtwissen«) bezeichnet hat. Kurz gesagt, bezieht sich Mills‹ Konzept der white ignorance auf diejenigen Mythen, die von weißen US-Amerikanern aktiv als faktische Realität konstruiert und behauptet werden. White ignorance ist eine Form ideologischer Deutungshoheit, die sich durch die Verbreitung und das Aufnötigen derjenigen kognitiven Strukturen aufrechterhält, mittels derer die weiße Vorherrschaft als legitim wahrgenommen wird. Bailey (2007: 80) schreibt dazu: »White ignorance is the axis around which white Americans construct our political identity. […] The white eye is socialized to see lynchings and racialized torture as entertainment worthy of picnics and postcard reproductions. Whites are taught to see indigenous land as vacant, women of color as sexually available, and Indian schools as charitable. […] [W]hite supremacy requires that everyday experiences and interactions uphold racial ignorance by resisting corrective information […].«
Zwar verschieben sich die einzelnen Elemente der white ignorance im Laufe der Zeit immer wieder (zum Beispiel gelten rassistische Lynchmorde heutzutage nicht mehr als so ehrenhaft wie vor hundert Jahren), doch das vorherrschende und beständige Merkmal von white ignorance ist, dass sie eine Form des Wissens darstellt, die es weißen Amerikanern ermöglicht, ihre eigene Weltsicht fälschlicherweise als die Abwesenheit jeglicher Weltsicht zu verstehen. White ignorance ist ein Modus von Wissen, das sich selbst als eine natürliche oder
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zwangsläufige Realität präsentiert; es handelt sich um eine Form willentlichen Nichtwissens, das sich als Wissen ausgibt. Die Mitglieder einer durch »Rasse« definierten Gruppe müssen lernen, »to see the world wrongly«, aber in der Gewissheit, dass diese fehlerhafte Art, Ereignissen Sinn zu geben, als akkurate Repräsentation der Wirklichkeit gilt (Bailey 2007: 80; siehe auch Mills 1997; Samson 2013). Wie sehr die US-amerikanische Kultur mit white ignorance durchzogen ist, zeigt sich in wahrnehmungspsychologischen Studien wie dem Harvard Implicit Association Test (IAT). Die Teilnehmer dieses Tests müssen Gesichter und Wörter in Kategorien einordnen, wobei Begriffe wie »ruhmreich«, »böse« und »Scheitern« mit Gesichtern wechselnder Hautfarbe gepaart werden. Wie Mills herausstellt, ist white ignorance tatsächlich eine Art von Erkenntnistheorie. Es ist eine Form nützlichen Nichtwissens, das aus gedanklichen Mustern besteht, die Mills als lokale und globale kognitive Dysfunktionen bezeichnet. Dazu gehören zum Beispiel die Assoziation von Weiß-Sein mit Reinheit und Schwarz-Sein mit dem Bösen, oder die »wir und sie«-Polarisierung, die die US-amerikanische Wahrnehmung des von den USA geführten »Krieges gegen den Terror« prägt. Die Ironie von white ignorance besteht darin, dass man erst lernen muss, wie man falsch wahrnimmt; wir müssen unterrichtet werden, wie man nichtwissend wird. Nichtwissen ist kein starrer Zustand, sondern vielmehr etwas, das kontinuierlich reproduziert wird; eine aktive Errungenschaft, die eine ständige Sensibilisierung für das erfordert, was man, wie der Anthropologe Michael Taussig schreibt, besser nicht weiß (Taussig 1997; siehe auch Gross 2007, 2010; Mills 1997). Ausgehend von Mills’ Arbeiten formuliert Bailey die innovative These, dass verschiedene unterdrückte Gruppen ihr eigenes Wissen über das »weiße Nichtwissen« strategisch nutzen, um dieses zu untergraben. Bailey (2007: 88) schreibt: »Strategic ignorance is a way of expediently working with a dominant group’s tendency to see wrongly.« Sie führt das Beispiel von Frederick Douglas an, ein führender Kämpfer gegen die Sklaverei und selbst ehemaliger Sklave, der berichtet, wie er das Nichtwissen anderer ausnutzte, um sein eigenes zu verringern. In seiner Autobiografie beschreibt Douglas, wie er weiße Jungen dazu brachte, ihm das Schreiben beizubringen, indem er ihnen erzählte, er könne genauso gut schreiben wie sie. Ungläubig, dass ein schwarzer Junge so viel wissen könne, wie Douglas behauptete, nahmen die Jungen die Herausforderung an und jubelten oft vor Freude über jeden seiner Fehler, zeigten ihm so aber, was er falsch gemacht hatte. Douglas schreibt: »In this way, I got a good many lessons in writing, which it is quite possible that I should never have gotten in any other way.« (Zit. nach Bailey 2007: 88) Verstellung, das absichtliche Bemühen, die
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Wahrheit über die eigenen Fähigkeiten oder das eigene Wissen zu verbergen, war eine wohlbekannte Strategie unter schwarzen Sklavinnen in den Südstaaten und später auch unter schlecht bezahlten Lohnarbeitern. Sie kultivierten jeweils eine Art erlernter Hilflosigkeit, um der Beobachtung oder gezielten Übergriffen ihrer Besitzer oder Vorgesetzten zu entgehen. Auch wenn Bailey seine Arbeiten nicht zitiert, weist ihre Argumentation starke Überschneidungen auf mit der des Soziologen James Scott zu den »Waffen der Schwachen« (weapons of the weak). Mit diesem Begriff bezeichnet Scott eine Reihe von Strategien, die untergeordnete Gruppen anwenden, um ihre Autonomie und Würde angesichts willkürlicher und gewalttätiger Behandlung zu bewahren. Zu solchen Strategien gehören etwa Zeitschinden, Ausweichmanöver, vorgetäuschte Regelbefolgung, Diebstahl, vorgeschobene Unwissenheit, Verleumdung und Sabotage (Scott 1985: 29). Wie sowohl Bailey als auch Scott einräumen, fordert das strategische Ausnutzen von Nichtwissen oftmals einen enormen psychischen und politischen Preis. Diejenigen, die sich aus blanker Not dazu entscheiden, sich zu verstellen und gezwungen sind, eine Haltung des »Grinsens und Lügens« (grins and lies) einzunehmen, um ihre Fähigkeiten zu verbergen, tragen unvermeidlich zur Verfestigung der Hierarchien bei, die sie eigentlich auflösen wollen. Indem sie die falschen Wahrnehmungen ihrer »Herren« als Waffe zur politischen Unterwanderung übernehmen, fügen unterdrückte Gruppen ihrem Arsenal vielleicht eine weitere Sorte von Munition hinzu. Die Muster der kognitiven Dysfunktion, die Mills identifiziert, bleiben dabei aber größtenteils intakt, falls sie durch den Versuch, ihnen auf diese Art Widerstand zu leisten, nicht sogar noch verfestigt werden. Selbst in historischen Epochen und geographischen Regionen, in denen soziale oder rassistische Ungerechtigkeit weitgehend offenkundig für jeden ist, setzt man seine eigene prekäre soziale Stellung oder physische Sicherheit aufs Spiel durch das Sprechen über diese Ungerechtigkeit und durch den Versuch, an der Epistemologie des Nichtwissens zu rütteln, das fälschlicherweise als »Wahrheit« aufrecht erhalten wird. Mills führt das Beispiel einer schwarzen Frau an, die sich an das Leben in den amerikanischen Südstaaten zur Zeit der Rassentrennung erinnert: »My problems started when I began to comment on what I saw. […] I insisted on being accurate. But the world I was born into didn’t want that. Indeed, its very survival depended on not knowing, not seeing – and certainly, not saying anything at all about what it was really like.« (Mills 2003: 231)
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Zusammen genommen verweisen die Überlegungen von Mills und Bailey auf eine wichtige Eigenschaft von Nichtwissen. Wie das obige Zitat hervorhebt, ist white ignorance eine Form von Dominanz, die funktionales Nichtwissen privilegiert gegenüber dem Eingeständnis oder der Anerkennung unbequemer Wahrheiten. Ein zentrales Merkmal von white ignorance ist die Fähigkeit, Personen ohne weißes Privileg zu ignorieren oder nicht ernst zu nehmen. Es ist eine Art, bewusst »nicht zu wissen«, wie Bailey schreibt, die aus der Gewohnheit entspringt, die Leben, Kulturen und Geschichten der von Weißen kolonisierten Menschen auszuradieren, nicht zu beachten, zu entstellen und zu vergessen (vgl. Bailey 2007: 85). Auch wenn die Parallelen auf den ersten Blick nicht offensichtlich erscheinen mögen, bin ich der Ansicht, dass dieser Punkt erhebliche Übereinstimmungen mit meiner Analyse des Wertes von Nichtwissen in Regulierungs- und kommerziellen Organisationen aufweist. Im Gegensatz zu vielen Arbeiten in der Soziologie und der Management-Forschung, die unterstellen, dass ›gute‹ Manager ständig nach mehr Informationen über die Effektivität ihrer eigenen Leistungen und der ihrer Vorgesetzten oder Untergebenen suchen, gehe ich davon aus, dass »knowing what not to know« eine Schlüsseleigenschaft und Stärke erfolgreicher Manager ist. In vielen Fällen, in denen Regulierungsbehörden versagen, werden typischerweise eher diejenigen Personen diffamiert, die die Aufmerksamkeit auf Fehler lenken, als diejenigen, die diese Fehler stillschweigend fortsetzen. Ganz wie im Fall der von Mills zitierten afroamerikanischen Frau, die Probleme bekam, als sie begann, über das zu sprechen, was sie sah, hängt das Überleben vieler Wirtschafts- und Regulierungs-Organisationen davon ab, dass sie sich durchaus rational weigern, ihre eigenen Fehlleistungen auszusprechen und zu beheben, und stattdessen diejenigen bestrafen, die dies tun. Wie Karl Weick (1998: 74) schreibt, sind Organisationen durch das definiert, was sie ignorieren (vgl. auch Gross/McGoey 2015: 9f.). Ein aktuelles Beispiel, die Zulassung und Regulierung von Ketek, einem kommerziell sehr erfolgreichen Antibiotikum, veranschaulicht diese These.
3. N ICHTWISSEN ALS P RIVILEG : D IE D YNAMIK VON W ISSENSHIERARCHIEN IN O RGANISATIONEN Das Antibiotikum Ketek wird von dem Pharmakonzern Sanofi-Aventis hergestellt. Bevor es zugelassen wurde, äußerten Gutachter der U.S. Food and Drug Administration (FDA) Bedenken wegen einer Reihe schwerer Nebenwirkungen,
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zu denen ein möglicher Zusammenhang mit Leberversagen gehörte. Ein Gutachterausschuss der FDA für Anti-Infektions-Medikamente empfahl, dass Aventis (später zu Sanofi-Aventis fusioniert) durch eine umfangreiche klinische Studie mehr Nachweise für die Unbedenklichkeit erbringen sollte, bevor das Medikament zugelassen werden könne. Der Konzern startete daraufhin die »Studie 3014«, eine klinische Phase-III-Studie, die von mehr als 1.800 Ärztinnen an über 24.000 Patienten in den USA durchgeführt wurde. Wie es in der Pharmaindustrie üblich ist, beauftragte Aventis ein externes Forschungsunternehmen namens Pharmaceutical Product Development Inc. (PPD), die klinische Studie durchzuführen. Obwohl es Hinweise gab, dass die Qualität der Daten aus Studie 3014 durch Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften an elf der Standorte, an denen Ketek getestet wurde, beeinträchtigt war, erteilte die FDA 2004 die Zulassung (vgl. Ross 2007). Eine in der Folgezeit zunehmende Kontroverse darüber, ob Ketek hätte zugelassen werden sollen oder nicht, konzentrierte sich auf die Entdeckung, dass Anne Kirkman-Campbell, eine der Ärztinnen, die von PPD beauftragt worden waren, Ketek in ihren Praxen zu testen, an der Fälschung von Einverständniserklärungen für Versuchsteilnehmer beteiligt war. Diese Urkundenfälschung, ein Straftatbestand, wurde von einer PPD-Angestellten namens Ann Marie Cisneros aufgedeckt, die über eine Reihe von Auffälligkeiten in den Daten aus KirkmanCampbells Praxis beunruhigt war. Bei einer Routineuntersuchung der Sicherheitsvorschriften für PPD stellte Cisneros fest, dass Kirkman-Campbell über 400 Patientinnen für den Test registriert hatte. Die meisten dieser Patientinnen litten nicht an chronischer Bronchitis oder akuter Nebenhöhlenentzündung, den Beschwerden, für deren Behandlung das Medikament vorgesehen war. Kirkman-Campbell hatte die gesamte Belegschaft ihrer Praxis sowie zahlreiche Familienmitglieder für die Studie angemeldet. Für jeden eingetragenen Patienten bekam sie 400 US-Dollar. Später stellte sich heraus, dass 91 Prozent ihrer Daten gefälscht waren. Nachdem ihr Vergehen aufgedeckt worden war, wurde Kirkman-Campbell zu 57 Monaten Haft verurteilt. Anzeichen für Betrug zeigten sich auch an anderen Forschungsstandorten der Studie 3014. Trotz der Tatsache, dass die Datenlage der Studie durch den Betrug von Kirkman-Campbell und anderen Forschern verzerrt war, entschied sich die FDA 2004 gegen die Einwände ihrer eigenen medizinischen Fachleute dafür, Ketek zuzulassen. Zwischen 2004 und 2006 wurden in den USA mehr als fünf Millionen Rezepte für dieses Medikament ausgestellt. In dieser Zeitspanne kam es bei vierzehn erwachsenen Patienten zu Leberversagen, nachdem sie Ketek eingenommen hatten, mindestens vier von ihnen starben, weitere 23 Menschen erlitten einen
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schwerwiegenden Leberschaden. Alle diese Patienten waren ansonsten gesund. Einer von ihnen war Ramiro Obrajero Pulquero, ein 26-jähriger Bauarbeiter, verheiratet und Vater von zwei Töchtern. Er ging mit Erkältungsbeschwerden zu seiner Ärztin, die ihm Ketek verschrieb. Drei Wochen später starb Obrajero Pulquero an Leberversagen (vgl. McGoey 2012). Im Jahr 2007 begann der Wirtschafts- und Energieausschuss des US-Repräsentantenhauses mit einer Reihe von Anhörungen, um festzustellen, ob verschiedene Beteiligte, von der FDA bis zu Sanofi-Aventis, vor der Zulassung von Ketek im Jahr 2004 von den unerwünschten Nebenwirkungen wussten, aber es gleichwohl vorzogen, sie zu ignorieren. Meiner Ansicht nach können die Protokolle dieser Anhörungen Aufschluss darüber geben, auf welche Weise kommerzielle Organisationen wie Aventis strategisch ihr eigenes Nichtwissen, wie auch das Nichtwissen anderer, mobilisieren und zu ihrem wirtschaftlichen Vorteil nutzen. Eine der vorgeladenen Personen war die schon erwähnte PPD-Mitarbeiterin Ann Marie Cisneros. Sie beschrieb, welche Schritte sie unternommen hatte, um sowohl ihre Vorgesetzten bei PPD als auch Beschäftigte von Aventis auf Kirkman-Campbells Betrug aufmerksam zu machen. Sie habe eine Zusammenfassung ihrer Erkenntnisse per E-Mail an den Leiter der Qualitätssicherung bei PPD geschickt und die Nachricht zugleich in Kopie einigen Aventis-Mitarbeiterinnen zukommen lassen. Später habe sie an einer Telefon-Konferenz zwischen PPD und Aventis teilgenommen, bei der sie ihre Bedenken wegen Kirkman-Campbells Daten erläutert habe. Cisneros erklärte bei den Anhörungen: »[W]hat brings me here today is my disbelief at Aventis’ statements that it did not suspect that fraud was being committed. Mr. Chairman, I knew it. PPD knew it. And Aventis knew it.«2 Die FDA sandte im Jahr 2007 ein scharf formuliertes, elfseitiges Schreiben an den Vorstandsvorsitzenden von Sanofi-Aventis. Darin wurden eine Reihe von Verstößen gegen rechtliche Vorschriften aufgelistet, deren sich der Konzern schuldig gemacht hatte, indem er Kirkman-Campbell weder überprüfte noch bestrafte, nachdem Hinweise auf ihr Fehlverhalten unübersehbar wurden. Trotz dieses Briefes wurde Aventis niemals von den Bundesbehörden finanziell dafür belangt, dass die betrügerischen Aktivitäten im Rahmen von Studie 3014 weder kontrolliert noch gestoppt wurden. Wie ist es Aventis gelungen, rechtliche Stra-
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Aussage von Ann Marie Cisneros vor dem »Subcommittee on Oversight and Investigations« des Ausschusses für Wirtschaft und Energie, 12.Februar 2008, S. 15. Verfügbar unter URL: http://frwebgate.access.gpo.gov/cgi-bin/getdoc.cgi?dbname=110 _house_hearings&docid=f:48587.pdf (zuletzt geprüft am 12.6.2015).
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fen zu umgehen? Ein Hinweis darauf findet sich in den Protokollen der Anhörungen im Kongress. Während der Anhörungen wurden die Zeugen immer wieder gefragt, ob sie glaubten, Aventis habe vorsätzlich Informationen zurückgehalten, oder ob der Konzern tatsächlich nichts von Kirkman-Campbells Betrügereien gewusst habe. Einer der Zeugen, ein FDA-Ermittler in Strafsachen namens Douglas Loveland, wies darauf hin, dass Aventis über umfangreiche Informationen verfügte, die das Unternehmen auf Betrug an mehreren Studienstandorten hätten aufmerksam machen müssen. Doch statt auf diese sichtbaren Warnsignale zu reagieren, habe der Konzern Maßnahmen ergriffen, die es ihm erlaubten, vorzugeben, es sei unmöglich gewesen sei, den Betrug überhaupt zu sehen. Loveland erklärte: »From start to finish, [Aventis’] process for analyzing information coming out of the trial was poor. When you get into a traffic accident, you call a traffic cop. These folks came in and they said, We have indicators of fraud, and they called a mathematician. A mathematician didn’t know what fraud looked like, and he couldn’t identify it. He looked at all the data, couldn’t figure out a rule to apply to the data set, came back and said, I don’t see 3
fraud.«
Ausschlaggebend für Aventis’ vorgebliche Unkenntnis von Kirkman-Campbells Betrug war die Entscheidung, einen Berater für Statistik – den von Loveland erwähnten Mathematiker – zu beauftragen, eine Analyse der Labordaten durchzuführen. Bei seiner Aussage während der Anhörungen erklärte Paul Chew, der Präsident der US-amerikanischen Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Sanofi-Aventis, was der Statistiker gemacht habe, war, die Variabilität der Blutproben aus Kirkman-Campbells Praxis mit einem anderen Studienstandort zu vergleichen. Und dabei habe es keine eindeutigen Hinweise auf Betrügereien bei Kirkman-Campbells Proben gegeben.4 Problematisch an dieser Verteidigungsstrategie von Sanofi-Aventis ist, dass statistische Analysen – wie Loveland während der Anhörung ausführte – viele der Warnsignale für Betrug nicht entdecken können, während Ermittler wie Lo-
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Aussage von Douglas Loveland vor dem «Subcommittee on Oversight and Investigations« des Ausschusses für Wirtschaft und Energie, 12.Februar 2008, S. 19. Verfügbar unter URL: http://frwebgate.access.gpo.gov/cgi-bin/getdoc.cgi?dbname=110_house_ hearings&docid= f:48587.pdf (zuletzt geprüft am 12.6.2015).
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Paul Chews Aussage und Befragung ist verfügbar unter URL: http://frwebgate.access. gpo.gov/cgi-bin/getdoc.cgi?dbname=110_house_hearings&docid=f:48587.pdf (zuletzt geprüft am 12.6.2015). Die zitierte Passage befindet sich auf S. 68.
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veland speziell dafür geschult sind. Unabhängig von aller sonstigen wissenschaftlichen Stichhaltigkeit der von dem beauftragten Statistiker durchgeführten Untersuchung suchte er in diesem Fall an der falschen Stelle nach Betrug. Die von ihm vorgenommene Analyse eignete sich gerade nicht, das erkennbar zu machen, was Loveland als »ink irregularities« bezeichnete: das Bearbeiten der unerwünschten Medikamentenwirkungen nach der ersten Aufzeichnung der Daten und mit nicht ganz identischer Schriftfarbe. Solche Farbabweichungen, die den Regulierungsbehörden als Warnzeichen dafür dienen, dass die Aufzeichnungen von Nebenwirkungen manipuliert oder absichtlich gelöscht wurden, sind nur für diejenigen sichtbar, die mit den handschriftlichen Berichten zu tun haben, nicht aber für Statistiker, die mit computerisierten Datensätzen arbeiten. Anders gesagt hat Aventis einen Statistiker die Daten dort analysieren lassen, wo die geringste Wahrscheinlichkeit besteht, dass Anzeichen von Betrug sichtbar werden. Nachdem der Statistiker versichert hatte, er habe keinerlei Hinweise auf wissenschaftliches Fehlverhalten entdeckt, war es Aventis später möglich, sich die Unwissenheit dieses Experten – seine mangelnde Fähigkeit, Betrug zu erkennen – als rationale Begründung für das eigene Nichtwissen zunutze zu machen. In früheren Arbeiten habe ich dieses Phänomen – die Fähigkeit, das Nichtwissen von Experten zu auszunutzen – als »Wissensalibi« bezeichnet, verstanden als die Instrumentalisierung des begrenzten Wissen anderer, um das eigene Nichtwissen zu rechtfertigen. Im Fall von Ketek wurde Cisneros’ Aussage, trotz ihres Beharrens darauf, dass Aventis eine Mitschuld an Kirkman-Campbells Betrug trage, als bloß anekdotisch betrachtet – und konnte dementsprechend leichter übergangen werden. Zwar hatte Cisneros von allen Beteiligten am meisten Wissen aus erster Hand über Aventis’ Verwicklung in den Betrugsfall, doch gerade ihre Nähe zum Geschehen wurde als Hinweis auf ihre mangelnde Objektivität ausgelegt. Die Aussage des Statistikers – eines Experten, ›der wusste, was man nicht wissen sollte‹ – war dagegen entscheidend dafür, dass Aventis erfolgreich die Fiktion der eigenen Unschuld aufrechterhalten konnte (McGoey 2012). Es bestehen starke Parallelen zwischen Aventis’ Mobilisierung von Nichtwissen und den »Epistemologien des Nichtwissens«, die in allen Kulturen vorherrschen, die unterschiedliche soziale, ökonomische oder ethnische Gruppen implizit oder explizit nach dem ihnen zugeschriebenen Wert in einer Hierarchie anordnen. Wie die Beispiele von Mills und Bailey zeigen, wird das Wissen marginalisierter Gruppen fortwährend verleugnet durch eine Form von »weißer Ignoranz«, die sich als unbestreitbare Realität ausgibt. Dieses Phänomen ist in einer Reihe von institutionellen und professionellen Milieus sichtbar, etwa im globalen Finanzsektor. Darin wurden Gillian Tett zufolge frühe Warnsignale eines Systemversagens, das zum Kollaps des Jahres 2008 führte, durch ein »soziales
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Schweigen« über die potentiell katastrophalen Folgen des Derivatehandels verschleiert (vgl. Tett 2009). Nicht dass die Probleme nicht sichtbar gewesen wären – doch handfeste Probleme blieben unausgesprochen, da die wechselseitige soziale Solidarität der beteiligten Gruppen von ihrer Bereitschaft abhing, Informationen zu ignorieren, deren offene Diskussion individuell oder institutionell nachteilig gewesen wäre (vgl. Tett 2009; siehe auch Davies/McGoey 2012; Žižek 2009). Geteiltes Nichtwissen ist, wie die Arbeiten von Stanley Cohen (2001) und Eviatar Zerubavel (2007) zeigen, eine kollektive, kulturelle »Errungenschaft«. Diese wird erzielt, indem sozial oder politisch verhindert wird, dass verborgene Fehlentwicklungen aufgedeckt oder weithin sichtbare offen missbilligt werden. Ergänzend zur soziologischen Literatur darüber, wie Gruppen und Individuen willentlich unbequeme Tatsachen auszublenden versuchen, wird das Phänomen strategischen Nichtwissens in neueren wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten mittels Verhaltensexperimenten empirisch erforscht. Der Blick auf diese Literatur gibt Aufschluss über die Möglichkeiten und Grenzen, strategisches Nichtwissen in der Praxis zu ›messen‹.
4. N ICHTWISSEN UND P RAXIS
IN ÖKONOMISCHER
T HEORIE
Der Wert und die Bedeutung von Nichtwissen in den Wirtschaftswissenschaften ist bisher hauptsächlich auf zwei verschiedene Arten untersucht worden: Erstens hat eine kleine Gruppe von nicht-orthodoxen Ökonominnen die These formuliert, dass viele neoklassische Wirtschaftswissenschaftler selbst bewusst und willentlich Nichtwissen einsetzen, um Hinweise auf die Grenzen der etablierten neoklassischen Sichtweisen abzuqualifizieren (vgl. Keen 2011; Thompson 1997). Eine zweite Forschungslinie stammt von Verhaltensökonomen, die Experimente zur Nutzung strategischen Nichtwissens in Entscheidungsprozessen durchgeführt haben. Diese Wissenschaftler legen nahe, dass ihre Erkenntnisse die Gültigkeit einer Reihe von ökonomischen Axiomen in Frage stellen, und zwar besonders solche der Rational Choice-Theorie, die suggerieren, dass Individuen natürlicherweise danach streben, ihren Nutzen zu maximieren, indem sie nach Informationen über die Folgen ihrer Handlungen suchen. Die jüngste Finanzkrise hat in den Wirtschaftswissenschaften als Katalysator für das sprunghaft zugenommene Interesse an den grundlegenden Charakteristika des Nichtwissens gewirkt. Diese katastrophale Krise hat erkennen lassen, wie sehr Ökonomen anscheinend blind gegenüber den Grenzen ihrer eigenen Model-
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le waren. Wie Svetlova und van Elst (2013: 41f.) schreiben, hat die Krise von 2007/2008 die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass die moderne ökonomische Theorie allem Anschein nach dabei versagt hat, dem Problem unvollkommenen Wissens hinreichende Beachtung zu schenken. Ist das Nichtwissen über Nichtwissen, so fragen Svetlova und van Elst, selbst ein grundlegendes Defizit der modernen ökonomischen Theorie? Gestützt auf eine detaillierte genealogische Untersuchung der Behandlung von Ungewissheit, Risiko und Nichtwissen im ökonomischen Denken des 20. Jahrhunderts legen Svetlova und van Elst dar, dass die große Mehrheit der Ökonomen dazu neigte, Nichtwissen schlicht als das Gegenteil von Wissen statt als eigenständige Variable zu behandeln. Dies betrifft insbesondere diejenigen Theoriestränge, die durch Leonard Savages Theorie des Entscheidens unter Ungewissheit beeinflusst sind. Savages methodologische Innovation bestand, so Svetlova und van Elst, in der gezielten Vernachlässigung von Frank Knights Unterscheidung zwischen Risiko und Ungewissheit. Savages Theorie »presupposes that even if an objective probability measure for future events is not known, it can always be assumed that economic agents behave as if they apply an individual subjective (prior) probability measure to estimating the likelihood of future events. […] By this theoretical move, the immeasurability (and thus the knowability) issue is eliminated.« (Svetlova/van Elst 2013: 46f. – Hervorh. im Original; siehe auch Savage 1954; Kessler 2008)
Größtenteils aufgrund von Savages Einfluss haben Wirtschaftswissenschaftler zunehmend eine Erkenntnis vernachlässigt, die von Frank Knight, John Maynard Keynes und George Shackle noch geteilt wurde. Diese besagt, so formulieren Svetlova und van Elst (2013: 64), dass ökonomische Systeme offene und organische Einheiten sind, »that are genuinely indeterminate«. Die genannten drei frühen Ökonomen erkannten, dass es ein grundlegendes Charakteristikum jeder Entscheidung ist, niemals vollkommen sicher zu sein. Alle Entscheidungen unterlägen vielmehr beständigem Wandel, denn dadurch, dass die Menschen entscheiden und handeln, beeinflussen sie die Konstellation der relevanten Variablen. Dementsprechend sei es die Haupteigenschaft der Entscheidungssituation, dass diese Variablen unbekannt sind (ebd.). Einige Ökonomen, insbesondere Friedrich Hayek, und in jüngerer Zeit auch Financiers und Investoren wie George Soros und Nicholas Nassim Taleb wissen die relativ offensichtliche Botschaft von Forschern wie Keynes durchaus zu würdigen. Danach sind, wie Keynes es in einem berühmten Artikel aus dem Jahr 1937 ausdrückte, viele zukünftige Ereignisse durch radikale Ungewissheit ge-
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kennzeichnet: »there is no scientific basis on which to form any calculable probability whatever. We simply do not know.« (Keynes 1937: 2014; siehe auch Heymann et al. 2013) Doch größtenteils hat es die neoklassische ökonomische Theorie der letzten Jahrzehnte versäumt, dem Rechnung zu tragen, was Svetlova und van Elst als »wahre Endogenität« beschreiben. Damit bezeichnen sie die Tatsache, dass alle probabilistischen Annahmen zukünftiger Ungewissheit unterliegen, einer Ungewissheit, die nicht aufgelöst werden kann, da eine Situation sich beständig verändere, »so that the ex-post choice should not be modelled as a mechanic, or empty (i.e., predetermined) decision.« (Svetlova/van Elst 2013: 66) Ähnlich wie in Svetlovas und van Elsts Argumentation weist eine Reihe von nicht dem Mainstream angehörenden Ökonominnen immer expliziter darauf hin, dass Nichtwissen weniger ein Ärgernis für Wirtschaftswissenschaftler darstellt, sondern ihnen selbst als wirkungsvolle Ressource dient, insofern sie sich strategisch dazu entscheiden, empirische Befunde zu ignorieren oder abzuwerten, die ihren axiomatischen Prinzipien zuwiderlaufen. Der Ökonom Herb Thompson (1997) hebt diesen Aspekt in einem Artikel hervor, worin er darlegt, wie neoklassische Wissenschaftler es seit Jahrzehnten fertig bringen, von Indizien dafür abzulenken, dass viele ihrer Theorien falsch sind. Sie zeigten sich einfach gleichgültig gegenüber diesen empirischen Hinweisen. Zweifel an der Theorie von Angebot und Nachfrage oder die Tatsache, dass Märkte selten, falls überhaupt jemals, »vollkommen effizient« sind, werden schlichtweg nicht gelehrt. Viele Studierende machen ihren Abschluss, ohne jemals von Befunden gehört zu haben, die den Theorien widersprechen, die ihnen als selbstevidente Wahrheiten präsentiert werden. Thompson bemerkt dazu: »Students and many of their preceptors, do not know that they do not know that capital cannot be measured; that utility is metaphysical; that optimisation is non-falsifiable; that capitalism is inherently unstable. […] The incentive remains not to find out; or at the very least, not to recognise the numerous serious-minded non-neoclassical economists who take all of the above for granted.« (Thompson 1997: 301; siehe auch Arnsperger/Varoufakis 2005; Keen 2011)
Heutzutage gibt es jedoch eine kleine Zahl von neoklassischen und Verhaltensökonominnen, die beginnen, das Problem des Nichtwissens tatsächlich ernst zu nehmen. Sie führen Verhaltensexperimente durch, mit dem Ziel, herauszufinden, wann und weshalb Individuen sich absichtlich entscheiden, Informationen nicht zur Kenntnis zu nehmen, die ihren persönlichen Interessen entgegen zu stehen scheinen. Ironischerweise sind diese Experimente, die unter künstlichen Bedingungen durchgeführt werden, jedoch nicht in der Lage, das kollektive Phänomen,
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das oben dargestellt wurde, zu erklären: den Wert von Nichtwissen als disziplinäre Ressource in den Wirtschaftswissenschaften. Möglicherweise stärkt die Verhaltensökonomie, ohne es zu merken, sogar genau die neoklassischen Axiome, die sie in Frage stellen möchte, etwa die Richtigkeit von Vorstellungen einer rationalen Wahl in Entscheidungsprozessen. Im Folgenden werde ich diese Literatur kurz vorstellen, bevor ich einige der damit verbundenen Implikationen analysiere. Der verhaltensbezogene Blick auf den Gebrauch strategischen Nichtwissens in Entscheidungssituationen wird von einer Reihe von Wirtschaftswissenschaftlern vorangetrieben, die an frühere Arbeiten über die Begrenztheit von Rationalität anknüpfen. Ein anschauliches Beispiel stellt ein kürzlich erschienener Artikel von Joël van der Weele (2014) dar. Dieser greift auf ein experimentelles Verteilungsspiel zurück, um herauszufinden, ob Menschen es absichtlich versäumen, sich über unerwünschte Auswirkungen ihres eigenen Handelns zu informieren, wenn sich dadurch ihr finanzieller Vorteil vergrößert. Van der Weeles Artikel schließt an ein früheres Verteilungsspiel der Ökonomen Dana, Weber und Kuang (2007) an, die untersuchen wollten, ob Individuen persönliche Gewinne opfern würden, um sicherzustellen, dass die finanziellen Belohnungen gerecht verteilt werden. Dana und Kollegen stellten fest, dass 74 Prozent der Teilnehmerinnen dies tatsächlich tun. Wenn aber die Transparenz nicht mehr gegeben ist, es den Teilnehmerinnen also ermöglicht wird, sich eigennützig zu verhalten, während sie gerecht zu handeln scheinen, sinkt der Anteil der Personen, die auf persönliche Gewinne verzichten wollen, auf 35 Prozent. Anders gesagt ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass Menschen in solidarischer Weise handeln, wenn sie glauben, beobachtet zu werden. Ein weiteres Ergebnis der Studie von Dana et al. besagt, dass in Situationen der Ungewissheit über die Auswirkungen ihres Handelns auf andere nur 56 Prozent der Teilnehmer sich entschlossen, diese Unklarheit aufzulösen, um besser informiert entscheiden zu können. Fast die Hälfte zog es also vor, nichts zu wissen beziehungsweise die unklare Situation nicht so aufzulösen, dass sie mit unerwünschten Informationen über negative Effekte ihres Handelns konfrontiert sein könnten. Der erwähnte Beitrag von van der Weele lässt bei den Teilnehmenden sogar eine noch ausgeprägtere Tendenz erkennen, für sie unangenehmen Informationen auszuweichen. Anknüpfend an frühere Arbeiten aus der Verhaltensökonomie, wonach die Bereitschaft zu altruistischem Handeln sinkt, wenn die persönlichen ›Kosten‹ für dieses Handeln steigen, beobachtet van der Weele, dass die Kosten für Altruismus auch starken Einfluss darauf haben, ob die Betreffenden überhaupt über die möglichen positiven Wirkungen altruistischen Verhaltens informiert werden wollen. Seine Studie zeige, so van der Weele (2014: 3), »that
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strategic ignorance need not be subconscious, but, depending on the circumstances, is likely to be willfully and consciously chosen«. Solche Forschungen haben eine Reihe von Implikationen für die Wirtschaftswissenschaften wie auch für die Soziologie. Zum einen werden, entgegen der Behauptung vieler Verhaltensökonomen, Modelle der rationalen Wahl durch die neueren Experimente über den Wert des Nichtwissens in Entscheidungsprozessen eher bestätigt als in Frage gestellt. Kurz gesagt, zeigen die Experimente, dass es rational sein kann, nicht mehr Informationen über negative Konsequenzen der eigenen Entscheidungen zu sammeln. Das ist an sich weder sonderlich erhellend noch überraschend. Vielmehr bekräftigen solche Experimente nur die Weisheit bekannter englischer Sprichwörter wie »ignorance is bliss« oder »what you don't know can't hurt you«. Was zum anderen jedoch tatsächlich überraschend ist, ist der Umstand, dass die meisten Wissenschaftlerinnen und politischen Entscheidungsträger weiterhin zu der Auffassung neigen, das Streben nach Wissen sei ein unausweichliches Ziel von Individuen wie institutionellen Akteuren – und dies trotz der Verhaltensexperimente zum strategischen Gebrauch von Nichtwissen und trotz zahlreicher historischer Beispiele dafür, wie sich soziale Gruppen auf Nichtwissen berufen, was Stanley Cohen (2001) als »states of denial« bezeichnet, um Untätigkeit oder Komplizenschaft bei abscheulichen Verbrechen zu rechtfertigen, Wir setzen einfach voraus, dass Wissen vorteilhafter sei als Nichtwissen, trotz reichlich vorhandener Belege, dass dies in vielen Fällen nicht so ist. Auf den ersten Blick haben die letzten Jahrzehnten einen Zuwachs von disziplinären Spezialgebieten erlebt, worin die Tatsache anerkannt oder sogar prominent gewürdigt wird, dass Wissen niemals absolut ist: Wissen ist immer partiell, immer selektiv und immer gefährdet, aufgrund verschiedener persönlicher Interessen und struktureller Einschränkungen abgewiesen und manipuliert zu werden (vgl. Bourdieu 1987; Foucault 1977). Problematisch an diesen Analysen ist, dass Wissen darin großenteils noch immer als dem Nichtwissen vorzuziehende und wirkungsvollere Ressource angesehen wird. Die Unfähigkeit, die zentrale Bedeutung von Nichtwissen im sozialen Leben anzuerkennen, könnte sowohl Symptom als auch Ursache einer Art von »Selbstverliebtheit« (vanity) sein, die in den Sozialwissenschaften generell weit verbreitet ist. Diese besteht darin, dass wir – um Michael Polanyis Äußerungen zum impliziten Wissens abzuwandeln – mehr sagen, als wir wissen, und so regelmäßig einen Eindruck von Stringenz vermitteln, der im Widerspruch zu unserem notwendigerweise beschränkten Verständnis der Phänomene steht, mit denen wir uns auseinandersetzen. Mit »Selbstverliebtheit« knüpfe ich an einen Ausdruck der Wissenschaftsphilosophin Nancy Cartwright an, die in einer Diskussion über die Grenzen zu-
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fallskontrollierter Tests (randomized controlled trials, RCTs) in Wissenschaft und Medizin eine, wie sie es nennt, »Selbstverliebtheit der Präzision« (vanity of rigor) in den experimentellen Methoden kritisch unter die Lupe nimmt. Es würden enorme Anstrengungen unternommen, um Genauigkeit innerhalb der Modelle zu erreichen, wobei jedoch fälschlicherweise angenommen werde, solche interne Präzision der Modelle führe zu einer exakteren Repräsentation der äußeren Welt, die abzubilden sie vorgeben (Cartwright 2007: 18). Diese »Selbstverliebtheit der Präzision« weist Ähnlichkeiten auf mit etwas, das man als »Selbstverliebtheit« oder »Narzissmus« der Repräsentativität (vanity of representativeness) in den Sozialwissenschaften bezeichnen könnte, nämlich die Vorstellung, die soziale Welt sei wissbar, kalkulierbar und mitteilbar, solange man nur die richtigen methodischen Werkzeuge anwende, und solange man seine Beschreibung der sozialen Impulse, die unterschiedliche gesellschaftliche Rituale beeinflussen, immer »dichter« macht. Doch wie Annelise Riles (2001) ausführt, kann selbst eine hermeneutische Orientierung, die auf den Wert »dichter« Beschreibungen (thick descriptions) setzt, die Bedeutung von Bereichen institutionellen Nichtwissens ebenso verfehlen wie die verschiedenen Weisen, wie die Mitglieder bürokratischer Organisationen sich die Ungewissheit bürokratischer Praktiken zunutze machen. Riles zufolge (ebd.: 19) verweisen sie immer wieder auf die Lückenhaftigkeit (incompleteness) bürokratischer Prozeduren, um sowohl explizite als auch implizite institutionelle Ziele zu erreichen.5 Wie können zukünftige Analysen strategischen Nichtwissens den »Narzissmus der Repräsentativität«, der die Sozialwissenschaften durchzieht, vermeiden oder ihn sich zumindest klarer eingestehen? Eine Taktik besteht darin, eine analytische Brille zu verwenden, die ich kurz in meiner Einleitung angesprochen habe, nämlich die Dualität des »gewöhnlichen« und des »sozial exklusiven« Nichtwissens. Gewöhnliches Nichtwissen ist in meinen Augen die weitverbreitete Tendenz von Individuen, sich bewusst gegenüber unangenehmen Informationen abzuschirmen. Dies ist die Art von Nichtwissen, die von den oben vorgestellten Verhaltensexperimenten erfasst wird: die willentliche Weigerung von Individuen, sich mehr Informationen zu beschaffen, wenn dies ihren persönlichen Vorteil oder eine Beziehung beeinträchtigen könnte. Sozial exklusives Nichtwissen hingegen ist etwas anderes als dieses alltägliche, banale Nichtwissen. Üblicherweise wird der englische Begriff rarefied als »einer kleiner, ausgewählten Gruppe zugehörig oder vorbehalten; esoterisch« definiert. Wenn ich be-
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Mit »dichter Beschreibung« beziehe ich mich natürlich auf die Arbeiten von Clifford Geertz; für eine aufschlussreiche Diskussion der Grenzen dichter Beschreibung siehe Crapanzano 1990.
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haupte, dass Nichtwissen oftmals sozial exklusiv ist, möchte ich darauf hinweisen, dass nicht zu wissen häufig das Vorrecht mächtiger Gruppen ist. Deren politische oder wirtschaftliche Überlegenheit beruht auf ihrer Fähigkeit, zu verleugnen, dass sie ihr eigenes Nichtwissen ebenso wie das anderer mobilisieren und ausnutzen. Das ist eine Art kollektiven, oft unbewussten Nichtwissens, das sich nicht durch ökonomische Experimente erfassen lässt, die den Erwerb oder Verzicht auf neue Informationen unter inszenierten Bedingungen testen. Sozial exklusives Nichtwissen ist ein Typus des strategischen Nichtwissens, das absichtlich kultiviert wird, aber oftmals unter institutionellen oder strukturellen Bedingungen, die für individuelle Akteure nicht durchschaubar sind. Ein zentrales Beispiel ist die Vorherrschaft neoklassischer Axiome in den Wirtschaftswissenschaften, die trotz ihrer Unfähigkeit, die Realität alltäglicher wirtschaftlicher Prozesse zu erfassen, wieder und wieder gelehrt werden, als ob ihre Wahrheit evident sei. Wie der ›heterodoxe‹ Ökonom Steve Keen (2011) annimmt, gibt es mehrere Gründe für diese disziplinäre Ignoranz. Der erste bestehe darin, dass viele neoklassische Ökonomen, auch aufgrund der Geringschätzung von Wirtschaftsgeschichte innerhalb der Disziplin, sich der historischen Grundlagen verschiedener Theorien nicht bewusst sind. Axiomatische Annahmen, die als Resultat bestimmter historischer oder sozialer Auseinandersetzungen formuliert worden sind, werden absichtsvoll vom sozialen Kontext ihrer Entstehung getrennt, um ihre zeitlose, universelle Gültigkeit zu betonen. Ähnlich wie die Physik strebt die neoklassische Wirtschaftslehre nach einer Universalität, die ihre Theoreme unabhängig vom jeweiligen kulturellen Kontext anwendbar machen soll. Die lästige Tatsache, dass die Wirtschaftswissenschaften eine Sozial- und keine Naturwissenschaft sind, wird gezielt ignoriert – und muss ignoriert werden. Um den Glauben an die Gültigkeit von »selbstevidenten« Meta-Axiomen zu stabilisieren, müssen Ökonomen zweitens solche Studien ausblenden, die belegen, dass viele über lange Zeit aufrechterhaltene ökonomische Grundsätze sich in der Praxis als falsch erweisen. Wie kommt es zu dieser Abschottung? Oft werden neue empirische Befunde einfach ignoriert. Generation um Generation von Studierenden werden, in Keens Worten, zur Ignoranz ausgebildet (»educated into ignorance«) (Keen 2011: 19). Die Tatsache, dass eine solche Ausbildung möglich ist – dass eine Art von Anti-Pädagogik im Wirtschaftsstudium vorherrscht –, wurzelt in der Fähigkeit einer auserwählten Gruppe (Elite-Ökonomen in einflussreichen Institutionen), exklusives Nichtwissen als absolutes, universales Wissen auszugeben. Ganz wie die Formen strategischen Nichtwissens, die Mills und Bailey in den Mythen identifiziert haben, die weiße Kolonialisten oder Rassisten kultivieren, um Unterdrückung zu rechtfertigen, ist sozial exklusives
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Nichtwissen häufig die Domäne privilegierter Gruppen, die von dessen Offenlegung wenig zu gewinnen haben. Ironischerweise dürften Verhaltensexperimente, die vorgeben, den Nutzen von Nichtwissen in alltäglichen Entscheidungsprozessen zu untersuchen, am wenigsten geeignet sein, die disziplinäre Ignoranz zu erhellen, die eben diese experimentellen Werkzeuge zur Messung psychologischer Motivationen erst hervorgebracht hat.
5. F AZIT In diesem Beitrag habe ich Literatur betrachtet, die sich mit den Eigenschaften und dem Nutzen strategischen Nichtwissens in wirtschaftlichen und sozialen Prozessen beschäftigt. Ich habe zu zeigen versucht, dass die Unterscheidung zwischen gewöhnlichem und sozial exklusivem Nichtwissen hilfreich sein kann, um zu verstehen, wie die strategische Kultivierung von Nichtwissen gleichzeitig eine alltägliche und eine höchst elitäre Aktivität sein kann. Auch wenn ich den Schwerpunkt auf Beispiele aus der Ökonomie gelegt habe, um das Problem der disziplinären Ignoranz zu untersuchen, lassen sich ähnliche Belege überall in den Sozialwissenschaften finden. In der Soziologie und Sozialpolitik beispielsweise hat der Aufstieg dessen, was Stephen Ziliak und Deirdre McCloskey (2008) den »Kult der statistischen Wissenschaft« genannt haben, zahlreiche Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger dazu verleitet, die Wichtigkeit eines statistisch signifikanten experimentellen Ergebnisses falsch einzuschätzen und anzunehmen, dass ein solches Ergebnis zwangsläufig nützliche Implikationen für die Politik hat, selbst wenn es in der Praxis zu vernachlässigen ist (vgl. Ziliak/McCloskey 2008). In jedem dieser Fälle – dem übermäßigen Vertrauen auf statistische Signifikanz in der Politik wie dem Propagieren widerlegter ökonomischer Maximen in der universitären Lehre – entgeht der Gebrauch strategischen Nichtwissens der Sanktionierung. Denn diejenigen, die die besten Möglichkeiten haben, dieses Phänomen zu untersuchen, sind zugleich auch diejenigen, die von dessen Aufrechterhaltung profitieren. Wenn die Redakteurinnen der New York Times andeuten, dass die Abschaffung von Bevölkerungsumfragen zur Förderung strategischen Nichtwissens führen werde, entgeht ihnen sowohl die Alltäglichkeit als auch die soziale Exklusivität von Nichtwissen. Tatsächlich kann strategisches Nichtwissen weder eliminiert noch unterbunden werden, indem mehr Zensusdaten gesammelt werden, unabhängig davon, wie umfassend die Befragungen sind. Denn strategisches Nichtwissen ist eine Ressource, die niemals endgültig aufge-
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braucht werden kann; es wird vielmehr kontinuierlich erneuert, wann immer eine neue Studie auf bestehenden Trugschlüssen aufbaut und diese so noch verfestigt. Übersetzung aus dem Englischen von Janne Krumbügel, Matthias Roche und Peter Wehling
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V OM NUTZEN UND N ACHTEIL
STRATEGISCHEN
N ICHTWISSENS
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Rechtlich-Normative Implikationen des Rechts auf Nichtwissen in der Medizin G UNNAR D UTTGE
1. D ER » MÜNDIGE P ATIENT «: I DEAL
UND
R EALITÄT
In scharfer Abgrenzung zum tradierten, paternalistisch geprägten Leitbild sieht das moderne Medizinrecht das Arzt-Patienten-Verhältnis idealiter als eine »therapeutische Partnerschaft« mit gleichrangigem Expertenstatus beider Seiten: des Arztes für die diagnostisch-therapeutischen Optionen, des Patienten für die höchstpersönlichen Präferenzen. Dabei kommt letzterem, soweit seine Wünsche nicht den Rahmen ärztlicher Professionalität überschreiten (»Indikation« und Behandlung »lege artis«), die Befugnis zur Letztentscheidung zu, ob bzw. inwieweit er das ärztliche »Therapieangebot« akzeptieren will. Dies gilt selbst im Falle einer vitalen Indikation, wenn die Ablehnung also voraussichtlich seinen Tod zur Folge haben wird: Denn die Lebenserhaltungs- und Heilungspflicht des Arztes findet »[…]in dem grundsätzlich freien Selbstbestimmungsrecht des Kranken über seinen Körper ihre unübersteigbare Grenze« (BGHSt 11, 111, 114).1 Damit der Patient jedoch überhaupt »selbstbestimmt« entscheiden kann, bedarf es neben seiner allgemeinen Einsichts- und Urteilsfähigkeit (= »Einwilligungsfähigkeit« jedenfalls in einem Mindestmaß, dazu näher Duttge 2013a) einer hinlänglichen Aufklärung durch den behandelnden Arzt über »Wesen, Bedeutung und Tragweite« (BGH NStZ 1981, 351; vgl. auch § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 3a AMG) des in Aussicht genommenen Heileingriffs, und dies im Vergleich zu eventuellen Alternativen (vgl. § 630e Abs. 1 S. 2 BGB). Erst die auf solcher Wissensgrundlage getroffene Entscheidung des Patienten gilt de jure als »auto-
1
Wichtige Abkürzungen werden am Ende des Beitrags erläutert.
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nom« und rechtfertigt den körperlichen Eingriff; eine defizitäre ärztliche Aufklärung vermag diese Legitimation nicht zu leisten und begründet das Urteil einer »rechtswidrigen Körperverletzung«, die den verantwortlichen Arzt sowohl schadensersatzpflichtig als auch strafbar werden lässt (zu dieser – in der Lehre zum Teil bestrittenen – »Körperverletzungsdoktrin« näher Duttge 2014a: § 223 StGB Rn 10 ff.). Infolgedessen gilt der sogenannte »informed consent« im modernen medizinrechtlichen und -ethischen Selbstverständnis als zentraler Baustein der »Patientenautonomie«, durch deren Anerkennung (insbesondere »auf Druck der höchstrichterlichen Rechtsprechung«, Maio 2012: 144) der Patient gegen ärztliche Bevormundung und »Entmündigung« normativ zu einem gleichberechtigten Konterpart »aufgerüstet« werden sollte. Dieses bis heute rechtlich wie medizinethisch herrschende Vorverständnis von einer »Mündigkeit kraft Information« sieht sich jedoch zum Teil schon seit längerem durch diverse Entwicklungen in dreierlei Hinsicht in Frage gestellt: Zum ersten hat sich in der klinischen Praxis inzwischen hinlänglich gezeigt, dass die »Patientenautonomie« realiter stets eine nur »imperfekte« ist (Damm 2002: 375) – mehr noch: Das illusionäre Leitbild hat die Ärzteschaft aus Sorge vor rechtlicher Sanktionierung zu einer »Perfektion der Aufklärungsformulare« gedrängt, durch die der eigentliche Sinn einer ärztlichen Aufklärung verfehlt wird: Denn an die Stelle eines wahrhaftigen, begründeten Konsenses tritt ein formelles »Autonomie-Placebo«; die hieran schon seit langem formulierte Kritik hat bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren: »Die weitgehende Umwandlung des mündlichen Gesprächs in einen mehr oder weniger ausgedehnten Schriftverkehr führt zwangsläufig zur Vernachlässigung des individuellen Charakters der ArztPatienten-Beziehung.« (Schreiber/Wachsmuth 1981: 1985) Zum zweiten zählt ebenfalls schon seit langem zu den an sich gefestigten Einsichten des Arztrechts, dass es mitunter gute Gründe geben kann, dem Patienten eine Information – vor allem eine katastrophale Diagnose – wenigstens zeitweise vorzuenthalten. Diese früher (missverständlich) als sogenanntes »therapeutisches Privileg« bezeichnete und unter dem Schlagwort »Wahrheit am Krankenbett« intensiv diskutierte Ausnahme vom Grundsatz der ärztlichen Aufklärungspflicht hat jüngst mit Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes (vom 20.02.2013, BGBl. I 227) an Bedeutung wieder gewonnen: Denn hierin findet sich diese Durchbrechung der Aufklärungspflicht zwar nicht explizit (vgl. §§ 630c Abs. 4, 630c Abs. 3: »aufgrund besonderer Umstände entbehrlich«), wohl aber durch unmissverständliche Hinweise in den Gesetzesmaterialien (vgl. BT-Drucks. 17/10488, S. 23) anerkannt (zur Kritik an dieser Intransparenz Duttge 2014b), ohne dass sich dieses Vorenthalten einer – immerhin zumeist höchst relevanten – Information auf die Wirksamkeit der Einwilligung auswirken soll. Bei aller Unklarheit über Reichweite und Gren-
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zen dieses Ausnahmebereiches findet sich der Grundgedanke, dass der Patient durch negative Informationen mitunter nicht in seiner »Mündigkeit« gestärkt, sondern geschwächt werden kann, neuerdings bestärkt durch die Entdeckung und zunehmende empirische Bestätigung des sogenannten »Nocebo-Effekts« (dazu im Überblick Häuser et al. 2012: A-459). Schon hier zeigt das Dogma vom »informed consent« erste Risse, weil von diesem aus betrachtet kaum zu erklären ist, warum die defizitäre Wissensbasis des Patienten insoweit – abweichend von den herkömmlichen Fällen einer unzureichenden ärztlichen Aufklärung – die Wirksamkeit der erteilten Einwilligung nicht tangieren soll. Verstärkt worden sind die Zweifel an der »gate-keeperFunktion« (Beauchamp/Childress 2009: 111) der Kategorie informationsgesättigter Einwilligungsfähigkeit zuletzt – zum dritten – durch die Anerkennung des »natürlichen Willens« als eine grundsätzlich ebenfalls Beachtung beanspruchende Patientenbekundung selbst bei Einwilligungsunfähigen. So soll nach Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts auch die krankheitsbedingte Einsichtsunfähigkeit von im Maßregelvollzug Untergebrachten nichts daran ändern, dass deren Veto gegen eine medizinische Behandlung nur ausnahmsweise – bei gesteigerter Behandlungsbedürftigkeit und nur unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit – übergangen werden darf (BVerfG NJW 2011, 2113 ff.; 3571 ff.). Dass auch bei anderen Personengruppen und insbesondere bei (selbst einwilligungsunfähigen) Minderjährigen diskutierte »Vetorecht« (näher Amelung 1995; Rothärmel 2004: 165 ff.) legt im Ganzen ein deutlich neujustiertes Verständnis von »Patientenautonomie« nahe, das nicht in erster Linie nach lebensweltlichen Befähigungen (kraft informationeller Kompetenz), sondern nach respektvoller Fürsorge im dialogischen Miteinander unter Beachtung wohlüberlegter Patientenwünsche fragt. Dieser in der Medizinethik inzwischen konzeptionell ausgearbeitete Paradigmenwechsel (eingehend Rehbock 2005: 312 ff.), der weder die Einwilligungsunfähigen einem ungehemmten ärztlichen Paternalismus überlässt (»paternalistischer Fehlschluss«) noch die Einwilligungsfähigen in ihrer unter Umständen aufgedrängten informationsgesättigten Entscheidungsfreiheit ganz auf sich alleine gestellt lässt (»autonomistischer Fehlschluss«), ist allerdings im Recht bislang noch nicht angekommen.
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2. »N ICHTWISSEN «
NICHT ALS FREMDBESTIMMENDE F ÜRSORGE , SONDERN ALS INDIVIDUELLE B ERECHTIGUNG
Wenn es medizinrechtlich und -ethisch somit nach alledem schon seit längerem eine wohlbekannte Einsicht ist, dass ein realitätsnäheres Verständnis von »Patientenautonomie« sehr wohl ein »Weniger« an Informationen nicht nur verkraften, sondern dadurch sogar bedingt sein kann, muss es einigermaßen überraschen, warum das freiheitsfördernde Potential solchen Nichtwissens bisher vorwiegend als Ausprägung fremdbestimmender Schadensvorsorge und nicht als Gegenstand einer individuellen Entscheidungsbefugnis verhandelt worden ist. Gerade dem Selbstverständnis des modernen Medizinrechts gemäß hätte es sich eigentlich geradezu aufdrängen müssen, dass über dasjenige, was dem jeweiligen Patienten an potentiell belastenden und dadurch unter Umständen freiheitslimitierenden Informationen (noch oder nicht mehr) zuzumuten ist, dieser selbst am besten befinden kann und kraft seines (informationellen) »Selbstbestimmungsrechts« auch selbst urteilen und entscheiden sollte. Gewiss ist die »humanitär« motivierte Verkürzung der ärztlichen Aufklärungspflicht (vgl. Deutsch/Spickhoff 2008: Rn 321 ff.: »humanitäres Prinzip«) zuletzt immer mehr als Anomalie im Kontext der hochgepriesenen Patienten-»Selbstbestimmung« betrachtet worden (so dass ihre schon erwähnte pauschale Anerkennung durch den Gesetzgeber im Patientenrechtegesetz als Rückfall in die Zeiten des ärztlichen Paternalismus erscheinen muss, siehe Duttge 2014b). Dass sich die Sorge vor einer »informationellen Schädigung« jedoch auch – oder vielleicht sogar noch verlässlicher – durch Anerkennung eines »informationellen Vetorechts« entkräften lassen könnte und dieses sich weit mehr als die Annahme eines »therapeutischen Privilegs« auch in die Grundstruktur einer partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Beziehung einfügt, wird in dieser Grundsätzlichkeit hingegen erst ansatzweise erkannt. Dabei ist ein solches Recht, gerichtet gegen unerwünschte Informationen, in der Vergangenheit durchaus schon bereichsspezifisch sichtbar geworden: So haben einzelne Instanzgerichte in der aufgedrängten Mitteilung eines positiven HIV-Befundes – allerdings nur bei einem solchen Testergebnis – auf eine schadensersatzpflichtige Persönlichkeitsverletzung erkannt (LG Köln NJW 1995, 1621 f.; AG Göttingen NJW 1989, 776; siehe auch AG Mölln NJW 1989, 775: kein Schmerzensgeld, wenn der untersuchten Person das Testergebnis wunschgemäß nicht mitgeteilt worden ist). Gewiss dürfte dies ganz wesentlich durch den stigmatisierenden Charakter der Aids-Erkrankung motiviert gewesen sein, so dass es nicht minder auch um das Geheimhaltungsinteresse des Infizierten (das heißt Datenschutz und ärztliche Schweigepflicht) gegenüber seiner sozialen
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Umwelt ging (mit dieser Begründung nahm der Europäische Gerichtshof EuGH eine Verletzung des »Rechts auf Privatleben« nach Art. 8 EMRK an, vgl. NJW 1994, 3005 f.). Doch wäre allein dies noch kein hinreichender Grund gewesen, bereits die Mitteilung an den unmittelbar Betroffenen als persönlichkeitsrelevanten Eingriff zu werten. Ein weiteres, im Zusammenhang mit der Ergänzung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (durch Gesetz v. 26.08.2009, BGBl. I, 2990) verstärkt ins Blickfeld gerücktes Anwendungsfeld eines Individualrechts auf Verschont-Werden von eventuell belastenden Informationen ist die Pränataldiagnostik (PND): Hier bedarf es wegen der psychologischen Ausnahmesituation, in die eine Schwangere bei einem auffälligen Befund nach PND geraten kann (eingehend Rohde/Woopen 2007), schon vor deren Vornahme einer Aufklärung über das hiermit einhergehende »psychologische und ethische Konfliktpotential« (Ziff. 2.2 der PND-Richtlinien der Bundesärztekammer 1998). Da sich selbstredend jede Schwangere der pränatalen Diagnostik auch verweigern darf (anerkannt in Ziff. 9 der BÄK-Richtlinien 1998), hat hier ein (teilweise auch so bezeichnetes, vgl. Woopen/Rummer 2009: 134) »Recht auf Nichtwissen« ebenfalls bereits Anerkennung gefunden, obgleich die ärztliche Praxis offenbar dazu neigt, dieses Recht durch defizitäre Aufklärung und Werbung für die Notwendigkeit einer »frühzeitigen Erkennung von Risikoschwangerschaften« systematisch zu unterlaufen (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2006; Rohde/ Woopen 2007). Den sichtbarsten Ausdruck hat das Individualrecht auf »informationelle Abgeschiedenheit« (Taupitz 1998: 585) jedoch im Kontext der genetischen Diagnostik erfahren; hier ist es inzwischen geradezu selbstverständlicher Bestandteil aller normativen Erwägungen, ohne dass allerdings seine rechtsphilosophischen Grundlagen bisher näher eruiert worden wären. Mit dem Gendiagnostikgesetz (GenDG v. 31.07.2009, BGBl. I, 2529) hat der Gesetzgeber bekanntlich die Intention verknüpft, »dass niemand gegen den eigenen Willen seine genetische Disposition zur Kenntnis nehmen« und – diese gedankliche Verbindung ist von besonderem Interesse – hinnehmen müsse, »dadurch in seiner freien Persönlichkeitsentfaltung beeinträchtigt« zu werden (BT-Drucks. 16/3233, S. 3 zum Gesetzentwurf v. 03.11.2006). Darüber ist die untersuchungswillige Person im Rahmen einer humangenetischen Beratung rechtzeitig vor Vornahme einer genetischen Untersuchung zwecks Ermöglichung einer informierten Einwilligung ausdrücklich aufzuklären, ergänzt um die weitere Information, dass gleichsam in temporaler Verlängerung eines solchen Abwehrrechts auch jederzeit verlangt werden darf, ein zunächst gewonnenes Untersuchungsergebnis trotz ursprünglicher Zustimmung nicht mehr zur Kenntnis nehmen zu müssen, so dass es zu vernichten ist (§ 9 Abs. 2 Nr. 5 GenDG). Dieses Grundverständnis bildet neben
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der Sorge vor einer spezifisch genetischen Diskriminierung das gedankliche Fundament auch für die weitreichenden Ermittlungs-, Kenntnisnahme- und informationellen Verwendungsverbote bezüglich genetischer Testergebnisse im arbeits- und versicherungsrechtlichen Kontext (§§ 18 Abs. 1, 19 GenDG). Dadurch soll, dem Selbstverständnis des Gesetzgebers entsprechend, der »staatlichen Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Würde des Menschen und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung« Ausdruck und Geltung verliehen werden (vgl. § 1 GenDG). Der Umstand, dass die erstmalige explizite Verankerung einer individualrechtlichen Rechtsposition auf Abwehr unerwünschter Informationen im Kontext der humangenetischen Diagnostik erfolgt ist, lässt viele bis heute annehmen, dass es sich hierbei wohl um die folgerichtige Konsequenz der vom Gesetzgeber qua »Sondergesetzgebung« postulierten »Exzeptionalität« genetischer Daten (dazu Damm/König 2008: 344 ff.; Duttge 2013b) handle. Dementsprechend kreist auch die verfassungsrechtliche Debatte (s. unten Kap. 3) bislang um ein »Recht auf Nichtwissen« ausschließlich in Bezug auf die eigene genetische Ausstattung (»Grundrecht am eigenen genetischen Code«: Fisahn 2001, 49 ff.). Eine solchermaßen restriktive Deutung der sachlichen Reichweite ließe jedoch nicht nur jedwede Erklärung zu den erwähnten Anwendungsfällen jenseits der Gendiagnostik vermissen, sondern müsste plausibel darlegen, warum sich die Schutzbedürftigkeit des Einzelnen in der hier verhandelten informellen Abwehrdimension allein bei genetischen Daten begründen lassen soll. Ersichtlich setzt dies vertiefende philosophische und anthropologische Überlegungen zur Notwendigkeit einer solchen Schutzdimension des Einzelnen in seinen sozialen Bezügen voraus, aus denen sich im Anschluss nicht nur Schlussfolgerungen zum sachlichen Anwendungsbereich, sondern zugleich auch zur »Wertigkeit« einer solchen Schutzposition im Verhältnis zu gegebenenfalls kollidierenden Wertbelangen sowie zu den Voraussetzungen ihrer Inanspruchnahme trotz Nichtwissens des Grundrechtsträgers erarbeiten lassen. Mit diesen Grundfragen ist derzeit eine vom BMBF geförderte Göttinger Forschergruppe befasst, die es sich zum Ziel gesetzt hat, »normative[s] Fundament und anwendungspraktische Geltungskraft des Rechts auf Nichtwissen« im interdisziplinären Dialog von Recht, Ethik, Humangenetik und Psychiatrie näher zu beleuchten und zu konzeptualisieren (http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/186.php und http://www.recht-aufnichtwissen.uni-goettingen.de/). Die Überlegungen dieses Beitrags bilden gleichsam eine erste Bestandsaufnahme aus Sicht des Medizinrechts, die selbstredend noch längst nicht alle Fragen abschließend zu beantworten vermag.
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3. S INNGEHALT , B EGRIFF
UND
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V ERFASSUNGSRECHT
Noch immer gilt im Selbstverständnis der modernen Gesellschaft das »Erkenne Dich selbst!« gleichsam als moralischer Auftrag: Erst die tätige Beseitigung der eigenen Unwissenheit, das selbstbewusste Hinausschreiten aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant 1783), verschafft dem Einzelnen die Kapazität, sich als verantwortliches Wesen rational zu seiner Mitwelt zu verhalten und dem eigenen Leben einen greifbaren Sinn zu verleihen. In den Worten des Medizinethikers Hans-Martin Sass: »Das ›Erkenne Dich selbst‹ ist in unserer technisch bedingten Welt kein luxuriöser philosophischer Wunsch, sondern eine Vorbedingung für sittliches verantwortliches Handeln für sich und für andere. Die Kenntnis der Information, meiner genetischen Information, macht mir wie viele Kenntnis das Leben nicht leichter, nicht problemloser, aber es macht mein Leben menschlicher, weil es mich zu verantwortlicher Gestaltung meines Lebens aufruft.« (Sass, zit. nach Künzler 1990: 58f.)
Doch so sehr mangelndes Wissen die Lebenspläne beeinträchtigen kann und die Verantwortlichkeit des Unwissenden in Frage stellt, ist umgekehrt auch das Nichtwissen durchaus konstitutiv für die Freiheit der Menschen. Mit dem Frankfurter Philosophen Martin Seel: »Die Dimensionen der Ungewissheit und Unwissenheit, die ihr Tun und Lassen begleiten, stellen nicht lediglich ein kontingentes Faktum dar, sondern sind konstitutiv für den Begriff des [menschlichen, G.D.] Handelns. […] [D]eshalb ist es für Lebewesen wie für uns nicht nur unvermeidlich, sondern geradezu förderlich, in mancher Hinsicht nicht zu wissen […]. […] Zumal das konstitutive Nicht-Wissen […] stellt eine unumgängliche Bedingung der Freiheit des Handelns sowie einen nicht minder unumgänglichen Rückhalt allen expositorischen Wissens dar.« (Seel 2009: 40 und 47)
Vor diesem Hintergrund kann es daher für den Einzelnen durchaus vernünftig sein, sich mit einer Information nicht zu belasten, um dadurch ihrer »Schattenseite« (Wehling 2008) in Gestalt einer eventuellen psychischen Eintrübung vorhandener Lebenspläne und -optionen zu entgehen (Schröder 2004: 329 ff.). Dies gilt um so mehr, wenn es sich um Prognosen für zukünftige Entwicklungen handelt, deren Eintritt keineswegs sicher, sondern nur mehr oder weniger wahrscheinlich ist. Im Kontext der medizinischen Diagnostik kommt insbesondere den sogenannten »Risikofaktoren« eine höchst ambivalente Bedeutung zu, weil sie stets nur eine an Modellen berechnete statistische Aussage beinhalten, jedoch
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nichts für den individuellen Fall besagen. Derartige Information schaffen daher eine »virtuelle Wirklichkeit«, indem sie Menschen als »krankheitsgeneigt« ausweisen, obgleich diese gegenwärtig an keiner Krankheit leiden und jene »Disposition« sich womöglich auch niemals realisiert (Stockter 2011: 31; siehe auch Enquetekommission »Recht und Ethik der modernen Medizin« 2002: 132 und Nelkin 1995: 208: »gesunde Kranke«). Infolgedessen lässt sich ad principium nicht abstrakt-generell vorhersagen, ob die Informationserlangung oder vielleicht doch eher der Informationsverzicht die »rationale« Option ist: Die Entscheidung zugunsten einer Diagnostik verhindert zwar unter Umständen die unbemerkte Manifestation einer schwerwiegenden Krankheit, muss jedoch die seelischen und mitunter selbst somatischen Beeinträchtigungen infolge eines positiven Befundes in Kauf nehmen, ohne dass die mutmaßlich prädiktiven Daten notwendig in eine zielführende Therapie münden. Wenn der Einzelne sich gegenüber potentiell nutzlosem und das eigene Leben wie ein Damoklesschwert bedrohendem Wissen schützen will, so verdient dies den Respekt der Rechtsgemeinschaft. Die Anerkennung einer subjektivrechtlichen Position zur Abwehr aufgedrängter (Gesundheits-)Informationen ist demzufolge nichts weiter als eine folgerichtige Reaktion der Rechtsordnung auf diesen neu entdeckten Rechtsbedarf. Begrifflich hat sich spätestens seit Veröffentlichung des »Explanatory Reports« zur Biomedizinkonvention des Europarates (1997) die Rede vom »Recht auf Nichtwissen« durchgesetzt (siehe Nr. 67: »The right to know goes hand in hand with the right not to know…«), obgleich korrekter vom »Recht auf informationelle Abgeschiedenheit« (Taupitz 1998: 587) oder noch besser vom »Recht auf Nicht-informiert-werden-Wollen« im Sinne einer bewussten Informationsabwehr gesprochen werden müsste. Die verfassungsrechtliche Verankerung dieser neuen Rechtsposition ist dem Grunde nach ganz unstreitig, der konkrete Begründungszusammenhang allerdings noch nicht restlos geklärt: Zwar besteht inzwischen allgemeiner Konsens, dass ihr auf ein Unterlassen Dritter gerichteter abwehrrechtlicher Charakter weit über einen bloß selbstgewählten Informationsverzicht hinausgeht und sich deshalb nicht im Grundrechtsgehalt der negativen Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG) erschöpft (Retzko 2006: 137 ff.). Weiterhin kann mittlerweile als gesichert gelten, dass die höchstpersönliche Betroffenheit des Rechtssubjekts eine Verortung im »Allgemeinen Persönlichkeitsrecht« aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nahelegt; nach wie vor strittig ist jedoch, ob es sich dabei um eine eigenständige Ausformung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts vergleichbar etwa dem »Recht am eigenen Wort« oder »am eigenen Bild« (so Guttmann 2007: 118 f.; Retzko 2006: 144 ff.) oder aber um eine Teilverbürgung des »Rechts auf informationelle Selbstbestimmung« handelt. Letzteres wird
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überwiegend bestritten, weil dieses Grundrecht eine eigene Konkretisierung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts darstelle und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bislang stets nur in Bezug auf die Erhebung und Verwendung personenbezogener Daten durch Dritte in Erscheinung getreten ist (erstmalig anerkannt durch das »Volkszählungsurteil«, BVerfGE 65, 1 ff.; zur weiteren Entwicklung der Rechtsprechung näher Duttge 1997: 281 ff.). Demgegenüber lässt sich aber kaum übersehen, dass der Schutzzweck der hier verhandelten Grundrechtsposition in letzter Konsequenz ebenfalls auf die Bewahrung der individuellen Selbstbestimmung abzielt, und dies eben wiederum allein und gerade in informationeller Hinsicht. Deshalb erscheint es überzeugender, von einer komplementären zweiten Seite des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auszugehen: Die hierdurch garantierte »Datenhoheit« bezieht sich dann nicht etwa nur auf den »Ausgang«, sondern zugleich auf den »Eingang« personenbezogener Informationen (in diesem Sinne bereits Duttge 2010: 38; zuvor wie hier ebenso Damm 2006: 731 f.; Höchst 1991: 144 f.; Katzenmeier 2006: A1054; Menzel 1989: 2042; zuletzt nochmals bekräftigend Damm 2014: 140). Im Kontext der (Nicht-)Erhebung genetischer Daten ist dementsprechend treffend vom »Grundrecht auf geninformationelle Selbstbestimmung« die Rede (Sternberg-Lieben 1987: 1246), gleichgültig, ob eine Datenerhebung durch Dritte oder durch den Personenträger selbst in Rede steht.
4. W ERTIGKEIT
DES
»R ECHTS
AUF
N ICHTWISSEN «
Die Schutzrichtung dieses Grundrechts lässt sich klar erkennen: Der Rechteinhaber ist befugt, die ihn betreffenden personenbezogenen (insbesondere Gesundheits-)Daten von sich fernzuhalten, d.h. dahingehenden Informationsangeboten oder gar informatorischen »Zwängen« mit Recht entgegenzutreten. Dies gilt sowohl dann, wenn diese Informationen bereits der Gegenseite vorliegen, als auch in der Weise, dass solche Daten von vornherein erst gar nicht (z.B. durch Vornahme einer genetischen Untersuchung) gewonnen werden. Fraglich ist hingegen, inwieweit dieser grundrechtlichen Verbürgung im Widerstreit zu kollidierenden (insbesondere von Fürsorge getragenen) Wertbelangen auch eine hohe normative »Durchschlagskraft« zukommt. Die verfassungsrechtliche Verankerung in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG besagt als solche nicht mehr, als dass es hier einerseits nicht um ein »absolut« geschütztes Recht im Sinne des schlechthin »unantastbaren Kernbereichs menschlicher Persönlichkeit« geht (weil »niemandem […] die Befugnis verliehen werden [kann], ohne Begrenzung […] mit rechtlicher Wirkung für andere in einem objektiv unbe-
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grenzten Raum […] zu bestimmen, was er will«, Ehmann 1988: 337). Andererseits muss jedoch im Rahmen der verfassungsrechtlich daher vorgegebenen Abwägung je nach Persönlichkeitsrelevanz durchaus von einem nicht bloß unerheblichem Schutzinteresse des Einzelnen ausgegangen werden. Dennoch entspricht es wohl einer in den heutigen »Wissensgesellschaften« noch immer weit verbreiteten Intuition, im Informationsverzicht nicht bloß tatsächlich, sondern auch normativ den begründungsbedürftigen Ausnahmefall zu erkennen. So hat etwa anlässlich von kollidierenden Ansprüchen auf (Nicht-)Kenntnis der familiären Abstammungsverhältnisse sogar das Bundesverfassungsgericht bezweifelt, ob das betroffene Kind gegenüber dem Informationsanspruch des mutmaßlichen Vaters überhaupt ein »Recht auf Nichtwissen« für sich reklamieren könne (anders dagegen BGH NJW 2005, 497, 498: »Recht auf Unwissenheit«): »Denn die Nichtkenntnis eröffnet anders als die positive Kenntnis der Abstammung dem Einzelnen […] nicht die Möglichkeit, […] den persönlichen familiären Zusammenhang zu erfahren, an dem sich die eigene Identität ausrichten kann. Ein Recht aber, das eine möglicherweise fehlerhafte Annahme schützt, […] hätte grundsätzlich ein geringeres Gewicht gegenüber dem Recht auf Kenntnis der Abstammung, weil allein dieses letztlich einen dauerhaften Beitrag zur eigenen Identitätsfindung sowohl des Mannes als auch des Kindes leisten kann.« (BVerfGE 117, 202, 230)
§ 1598a BGB sieht inzwischen, um heimliche Vaterschaftstests zu unterbinden, sogar einen einklagbaren Rechtsanspruch des Vaters, der Mutter oder des Kindes auf Zustimmung der jeweils anderen Familienmitglieder zur Feststellung der Abstammung vor. Hier wird exemplarisch die große Versuchung spürbar, im informationellen Konflikt ungeachtet des an sich bestehenden Abwehrrechts am Ende dann doch der »Wahrheit« beziehungsweise »objektiven Vernunft« das ausschlaggebende Gewicht zuzumessen. Dabei dürfte das Interesse des sich in prägenden Entwicklungsprozessen befindlichen Kindes, nicht ungefragt mit existentiellen Verunsicherungen konfrontiert zu werden und die vertrauten Familienstrukturen unbeschädigt erhalten zu sehen, meist alles andere als gering zu schätzen sein. Stünden sich daher tatsächlich allein die beiden konfligierenden Rechtspositionen auf Wissen beziehungsweise Nichtwissen gegenüber, so ließe sich jedenfalls ein genereller Vorrang des Informationsinteresses nicht so einfach begründen. Allzu leicht scheint es jedoch zu gelingen, das »Recht auf Unkenntnis« zu einem fragwürdigen »Recht auf Dummheit« (Taupitz 1998: 586) abzuwerten und letztlich hintanzustellen. Dass die normative Gleichrangigkeit im Verhältnis zum »Recht auf Wissen« (nachdrücklich Wollenschläger 2013: 170 f.) auch mit einer äquiva-
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lenten faktischen Durchsetzungschance einhergeht, ist bislang offenbar alles andere als gesichert; der Bremer Medizinrechtswissenschaftler Reinhard Damm konstatiert, dass »ein Prozess der Relativierung […] unübersehbar« sei (Damm 2006: 732). Und dieser Prozess dürfte sich mit dem wachsenden Selbstverständlich-Werden gesundheitspräventiver Diagnostik im Allgemeinen und prädiktiver Gendiagnostik im Besonderen in der Tat kaum abschwächen: Ganz im Gegenteil »könnte das Recht auf Wissen zunehmend zu einem Selbstläufer in Konformität mit dem Entwicklungsprozess der Technik werden, demgegenüber das Recht auf Nichtwissen aus dem Blickwinkel der Technikentwicklung eher zu einem defensiv antizyklischen Irrläufer« (ebd.).
Gefährdungen sind vor allem dann zu besorgen, wenn aus der Perspektive ärztlicher Fürsorge eine Informationsweitergabe unter Umständen den Weg zu einer wichtigen oder doch jedenfalls sinnvoll erscheinenden therapeutischen Intervention ebnen könnte. Aber auch dann, wenn die Information aller Voraussicht nach lediglich dem Zweck dienen kann, den Betroffenen »nicht im Unklaren zu belassen«, scheint es ein nicht unerhebliches Mitteilungsbedürfnis des behandelnden Arztes, beratenden Humangenetikers oder ärztlichen Forschers zu geben – sei es aus dem Selbstverständnis einer Art von »Dienstleister«, sei es auch aus weniger altruistischen Gründen, etwa um haftungsrechtlichen Risiken vorzubeugen (Stockter 2011: 40). Die Problematik der sog. »Zufalls(-be-)funde« bildet hierfür ein bekanntes Beispiel aus dem Bereich der medizinischen Forschung: Tritt etwa beim Einsatz bildgebender Verfahren oder auch bei einer humangenetischen Diagnostik unerwartet ein positiver Befund beziehungsweise eine krankheitsrelevante Disposition zutage, so besteht eine deutliche Neigung zur Mitteilung jedenfalls dann, wenn die Möglichkeit einer rechtzeitigen therapeutischen Intervention nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann (wie hier auch Schmücker 2013). Die unlängst bekanntgemachten Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik (GfH) »zu genetischen Zusatzbefunden in Diagnostik und Forschung« bestätigen diesen Eindruck: So wird im Rahmen einer Kategorisierung unterschiedlicher Fallgruppen für solche Konstellationen, in denen sich aus den ermittelten genetischen Eigenschaften »ein relevantes Risiko (!) für eine Erkrankung ergibt, für die eine effektive Therapie bzw. wirksame Vorbeugemaßnahmen zur Verfügung stehen«, eine Befundmitteilung als »ärztlich geboten« bezeichnet; unklar bleibt dabei jedoch, ob die darüber hinaus erwähnte »Vereinbarung mit dem Studienteilnehmer« über die eventuelle Mitteilung von Zusatzbefunden als zwingendes Erfordernis oder nur als empfehlenswerte Handhabung gedacht ist (GfH 2013). Dass dem Probanden unerwartete Befunde am
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Ende dann nicht vielleicht doch kraft »ärztlicher Expertise« einfach mitgeteilt werden, ist daher nicht verlässlich unterbunden. Gewiss macht eine derartige Kategorisierung durchaus Sinn, soweit sie das ärztliche Selbstverständnis zu erfassen sucht, wann eine Information »weniger sinnvoll« sein könnte und deshalb mit besonderer Zurückhaltung erfolgen sollte; doch liegt es selbst hier letztlich in der Entscheidungskompetenz des Betroffenen, ob er auch solche Befunde – selbstredend erst nach entsprechendem Beratungsangebot – erfahren möchte (»Recht auf Wissen«). Umgekehrt dürfen Probanden nicht mit unerwarteten Zufallsbefunden gleichsam überfallen werden; vielmehr muss ihnen eine echte Entscheidungsmöglichkeit über deren Kenntnisnahme verbleiben, was bedingt, dass sie bereits vor Beginn der ersten Untersuchung ihre Zustimmung oder Ablehnung erklären dürfen (so kürzlich auch Projektgruppe EURAT 2013: 28). Um den Prüfärzten den sodann gegebenenfalls unvermeidlichen Gewissenskonflikt zu ersparen, ist vorgeschlagen worden, die Einwilligung in die Mitteilung des möglichen Befundes zu einem Einschlusskriterium für die betreffende Studie zu bestimmen (Heinemann et al. 2007: 1986). Angesichts eines fehlenden Rechtsanspruches auf Studienteilnahme lässt sich dies grundsätzlich akzeptieren, freilich nur unter dem Vorbehalt, dass dadurch nicht am Ende de facto doch die informationelle Entscheidungsfreiheit untergraben wird. Ein spezifischer Informationskonflikt mit Gefahren für das Recht auf Nichtwissen zeigt sich im Kontext humangenetischer Daten bei Mitbetroffenheit der genetischen Verwandten. Hier hat das Gendiagnostikgesetz für den Fall eines positiven Untersuchungsbefundes mit Relevanz für eine vermeidbare oder behandelbare Erkrankung zwar den direkten Kontakt des Humangenetikers zu den Angehörigen untersagt, freilich die Erwartung formuliert (»soll«), dass dem Untersuchten im Rahmen der sich anschließenden humangenetischen Beratung »empfohlen« wird, dass dieser auch seinen Angehörigen die Inanspruchnahme einer humangenetischen Beratung »empfehlen« möge (§ 10 Abs. 3 S. 4 GenDG). Dieser »doppelten Empfehlungslösung« haftet jedoch zwangsläufig etwas Pharisäerhaftes (Duttge 2010: 36, Fn 29) an, weil sie eigentlich dasselbe erreichen will wie eine direkte Konfrontation, nur eben auf scheinbar etwas weniger anstößige (nach ersten Erfahrungsberichten aber auch weniger zielführende) Weise. Dieser schlechte Kompromiss wird letztlich keinem der beiden konfligierenden Anliegen gerecht. In der Sache kann sich der empfehlende Humangenetiker auch bei solcher »Privatisierung des Informationskonflikts« nicht von seiner Verantwortung für das im Ergebnis in Gang gesetzte Aufdrängen einer unter Umständen unerwünschten Nachricht freizeichnen, abgesehen davon, dass diese Mitteilung bei schon vorliegendem Untersuchungsbefund den benachrichtigten Verwandten psychologisch gerade keine Wahlfreiheit mehr belässt. Wollte man
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dem informationellen Abwehrrecht der völlig unerwartet damit konfrontierten Verwandten ernstlich Rechnung tragen, so müssten diese analog zur Problemlösung der Zufallsbefunde schon vor Durchführung der genetischen Untersuchung danach befragt werden, ob sie im Falle eines positiven Befundes und ihrer Mitbetroffenheit ebenfalls Kenntnis erhalten wollen; die Einbuße an Unbefangenheit (dies betonend Wollenschläger 2013: 193) wäre insoweit doch weit geringer als bei schon vorliegendem Befund. Ein eventuelles Geheimhaltungsbedürfnis der untersuchungswilligen Person erwiese sich dabei wertungsmäßig als nachrangig, umgekehrt stünde aber auch den Verwandten selbstredend kein Vetorecht zu, weil es sonst jeder Person verwehrt wäre, von ihrem »Recht auf Wissen« – bezogen auf die eigenen genetischen Dispositionen – Gebrauch zu machen (Duttge 2011: 8 f.; Wollenschläger 2013: 184 ff.). In einem jüngst ergangenen Urteil (vom 31.07.2013, MedR 2014, 168 ff.) hat das Oberlandesgericht Koblenz freilich Ernst gemacht mit dem »Recht auf Nichtwissen« und die einer Frau durch den Arzt ihres geschiedenen Ehemannes aufgedrängte Information über das 50prozentige Risiko ihrer beiden Kinder für eine bestimmte genetische Anlageträgerschaft als pflichtwidrigen Eingriff in ihr »informationelles Selbstbestimmungsrecht« (!) bewertet. Den schon erwähnten § 10 Abs. 3 S. 4 des GenDG hat das Gericht dabei zu Recht nicht für anwendbar erachtet, weil vorliegend eine unheilbare Krankheit in Rede stand und im Übrigen der Arzt verbotenerweise den Weg der direkten Konfrontation gesucht hatte. Bemerkenswerterweise hat es darüber hinaus jedweder analogen Anwendung des § 10 Abs. 3 S. 4 GenDG (z.B. eben auch bei nicht behandelbaren Erkrankungsdispositionen) einen Riegel vorgeschoben und damit implizit den fragwürdigen Ausnahmecharakter dieser Sonderregelung verdeutlicht.
5. Z UR
UNGELÖSTEN P ROBLEMATIK DES NICHT - WISSENDEN » INFORMED CONSENT «
Wie bereits Jochen Taupitz mit Recht hervorgehoben hat, besteht die Paradoxie des Rechts auf Nichtwissen freilich darin, »dass eine autonome Entscheidung, bestimmte Informationen nicht erhalten zu wollen, Kenntnis von der Möglichkeit der Kenntnisnahme voraussetzt« (Taupitz 1998: 597): Die besondere Schwierigkeit lässt sich somit in der Weise skizzieren, dass eine nähere Aufklärung über das potentielle Untersuchungsergebnis tendenziell den Willen auf Verschont-Bleiben ad absurdum führen kann, sich jedoch bei gänzlicher Unwissenheit über den informationellen Möglichkeitsraum von einem »informed consent« beim besten Willen nicht mehr sprechen lässt (Asscher/Koops 2010: 31). In die-
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ser dilemmatischen Lage wird in Anlehnung an den klassischen Aufklärungsverzicht empfohlen, einen mittleren Weg zu beschreiten und sich mit einer »abstrakten« beziehungsweise überschlägigen »Metaaufklärung« zu bescheiden (Schwill 2007: 319; ebenso die Gesetzesbegründung zum neuen Patientenrechtegesetz: BT-Drucks. 17/10488, S. 23). Welche Anforderungen dabei allerdings zu stellen sind und wie sich eine solchermaßen »defizitäre« Einwilligung gleichwohl mit dem Grundprinzip der »Patientenautonomie« vereinbaren lässt, harrt bislang noch einer vertiefenden Analyse und befriedigenden Klärung. Blickt man zurück auf die eingangs geschilderten neuen Entwicklungen zur Anerkennung eines »natürlichen Willens« jenseits der Einwilligungsfähigkeit als tradierter Kategorie, so zeigt sich einmal mehr die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit vernetzten (interdisziplinären) Denkens. Im Ganzen lässt sich das Resümee, welches das OLG Koblenz zur erwähnten Sonderkonstellation unlängst gezogen hat, mit derselben Berechtigung verallgemeinern: »Wegen der zunehmenden Zahl gendiagnostischer Untersuchungen […] werden die hieraus resultierenden Rechtsfragen zunehmend an Bedeutung gewinnen; für die beteiligten Patienten, aber auch für die behandelnden Ärzte ist es wichtig, sich rechtssicher entscheiden zu können: Ziel muss eine der Wahrung des informationellen Selbstbestimmungsrechts [in der Ausprägung des Rechts auf Nichtwissen, G.D.] dienende einheitliche Verfahrensweise der Ärzteschaft und aller beteiligten Kreise sein.« (OLG Koblenz MedR 2014, 174 [Rz 75])
Ita fiat!
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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AMG BGB BGBl BGHSt BT-Drucks. GenDG GfH MedR NJW NStZ PND StGB
Arzneimittelgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof in Strafsachen, amtliche Entscheidungssammlung Bundestagsdrucksache, amtliches Publikationsorgan aller Dokumente im Laufe eines Gesetzgebungsverfahrens Gendiagnostikgesetz Deutsche Gesellschaft für Humangenetik Medizinrecht Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Strafrecht Pränataldiagnostik Strafgesetzbuch
Familiäre Beziehungen zwischen Wissen und Nichtwissen Die Kontroversen um anonyme Geburt und anonyme Samenspende P ETER W EHLING
1. E INLEITUNG Dass Familienstrukturen und -beziehungen in der Bundesrepublik Deutschland und vergleichbaren Ländern seit mehreren Jahren einem erheblichen sozialen, kulturellen, aber auch biotechnologisch induzierten Wandel unterliegen, ist fast schon ein Gemeinplatz. Die bekannten Stichworte hierfür sind zum einen die Zunahme von Ein-Eltern- und sogenannten »Patchwork-Familien« sowie die wachsende, wenngleich teilweise noch immer heftig bekämpfte rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften (mit und ohne Kinder); zum anderen neue biomedizinisch-technologische Möglichkeiten der Elternschaft wie künstliche Befruchtung, Samen-, Eizell- und Embryonenspende, Leihmutterschaft oder zuletzt das Einfrieren von Eizellen zur »Nutzung« in einer späteren Lebensphase (»Social Freezing«). Bemerkenswerterweise lassen sich in all diesen sehr heterogenen Veränderungen gleichzeitig zwei auf den ersten Blick einander widersprechende Dynamiken erkennen: Auf der einen Seite ist eine weitgehende Ent-Naturalisierung oder Ent-Biologisierung von familiären Strukturen und Familienbildern zu beobachten, die sich immer weiter entfernen von dem ›natürlichen‹ Modell des heterosexuellen Paares, das mit seinen leiblichen
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Kindern zusammenlebt.1 In Patchwork-Familien, in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit Kindern (sogenannte »Regenbogen-Familien«) sowie in Familien, in denen durch Samenspenden Dritter (sogenannte donogene Insemination) gezeugte Kinder leben (»Inseminationsfamilien«), sind soziale und biologischgenetische Elternschaft nicht mehr deckungsgleich.2 Familie und Elternschaft verwandeln sich auf diese Weise von biologischen (oder als biologisch geltenden) Bindungen mehr und mehr in sozial begründete Phänomene und Beziehungen. Paradoxerweise ist auf der anderen Seite jedoch zur gleichen Zeit eine Tendenz zur Re-Biologisierung insbesondere von Elternschaft zu erkennen, die sich teilweise sogar auf die gleichen medizinischen Technologien stützt, die zur EntNaturalisierung der Familie beitragen. In-vitro-Fertilisation oder Leihmutterschaft als Weg zum ›genetisch eigenen‹ Kind tragen ebenso zu dieser ReBiologisierung und ›Genetisierung‹ bei wie die technisch und rechtlich erleichterte Nutzung DNA-basierter Vaterschaftstests (Saborowski 2014) und nicht zuletzt das diskursive und rechtliche Konstrukt eines »Rechts auf Kenntnis der eigenen biologischen Herkunft«. Das Wissen um die eigene biologische, das heißt im Kern: genetische Abstammung, wird hierbei als unverzichtbar für die Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung der betroffenen Kinder betrachtet, während der Umstand, nicht zu wissen, von wem man biologisch abstammt, als Auslöser und Ursache gravierender Identitätskrisen und Persönlichkeitsstörungen gilt. Vor allem dieser, für Deutschland in den Grundzügen durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1989 formulierte Rechtsanspruch auf
1
Damit ist selbstverständlich nicht behauptet, die europäisch-nordamerikanische Kleinfamilie wäre tatsächlich eine »natürliche«, biologisch fundierte Lebensform. Gleichwohl begründet diese Familienform, wie vor allem in der verbreiteten Abwehr gegen gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften sichtbar wird, ihren Anspruch auf Universalität, auf besonderen Schutz oder gar rechtlich verbürgte Exklusivität mit ihrer vermeintlichen Naturgegebenheit, sowohl unter dem Aspekt der »natürlichen«, auf Fortpflanzung angelegten heterosexuellen Beziehung zwischen Mann und Frau als auch unter dem des Zusammenlebens mit den »eigenen«, genetisch verwandten Kindern.
2
Dies gilt (abgesehen von den schon länger bestehenden Adoptiv- und Pflegefamilien) auch für die Familiengründung durch Eizellspende. Dabei treten viele mit der Samenspende vergleichbare Fragestellungen auf, allerdings bestehen auch erhebliche Unterschiede im gesellschaftlichen und rechtlichen Umgang mit Eizell- und Samenspende. Darauf und auf die Praxis der in Deutschland bisher verbotenen Eizellspende kann ich im Rahmen dieses Beitrags nicht eingehen.
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Kenntnis der eigenen Herkunft macht deutlich, dass Fragen von Wissen und Nichtwissen eng verknüpft sind mit der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Familie, Elternschaft und Verwandtschaft als entweder im Kern biologisch begründeten Gemeinschaften oder primär auf sozialen Bindungen basierenden Lebensformen. Das Recht auf Kenntnis der biologischen Abstammung wird letztlich nur dann relevant, wenn biologische und soziale Elternschaft nicht zusammenfallen, und es wird in erster Linie gegen Praktiken des Nichtwissens, der Anonymisierung und Geheimhaltung im Zusammenhang mit Zeugung und Geburt ins Feld geführt. Es wendet sich namentlich gegen die lange Zeit vorherrschende Praxis der anonymen Samenspende sowie gegen Angebote zur anonymen Geburt und anonymen Kindesabgabe (sogenannte »Babyklappen«), die verhindern sollen, dass Frauen oder Paare in einer psychisch-sozialen Extremsituation ihr Neugeborenes einfach aussetzen oder sogar töten. Der Deutsche Ethikrat etwa hat 2009 in seiner Stellungnahme zum »Problem der anonymen Kindesabgabe« unter Berufung vor allem auf das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner biologischen Herkunft mehrheitlich empfohlen, die vorhandenen Babyklappen sowie die bestehenden Angebote zur anonymen Geburt aufzugeben (Deutscher Ethikrat 2009: 90). In ähnlicher Weise wird bei der Problematik der anonymen Samenspende vor allem in jüngerer Zeit sowohl von Gerichten als auch in der öffentlichen Debatte dem Recht des betroffenen Kindes auf Kenntnis seiner biologischen Abstammung ein eindeutiger Primat gegenüber etwaigen Anonymitätswünschen des Samenspenders oder der (»sozialen«) Eltern des Kindes zuerkannt. Aufgrund der aktuellen Rechtsprechung könne Samenspendern, so die Familientherapeutin Petra Thorn (2014: 127), in Zukunft »kein schutzwürdiges Interesse« mehr daran zugestanden werden, die Anonymität tatsächlich aufrechtzuerhalten, die ihnen von den Reproduktionsmedizinern bislang in der Regel zugesichert worden ist. Eine solche vertragliche Festlegung sei sittenwidrig, weil sie mit dem Recht des Kindes, seine Herkunft zu kennen, nicht zu vereinbaren sei. Dem Anspruch auf Kenntnis der eigenen biologischen Herkunft wird offensichtlich ein überragender rechtlicher und normativer Stellenwert verliehen, in medialen Darstellungen wird gelegentlich sogar von einem »Menschenrecht« gesprochen (Müller 2015). Doch trotz und gerade wegen des anscheinend fast einhelligen Konsenses über die eminente Bedeutung des Wissens um die eigene Herkunft, ist es aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive geboten, sich kritisch mit der Begründung, der Reichweite und den möglichen Ambiva-
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lenzen dieses Rechtsanspruchs auseinanderzusetzen.3 Dies impliziert auch zu fragen, ob die Praktiken der anonymen Geburt, Kindesabgabe und Samenspende tatsächlich so fundamental durch das Recht auf Kenntnis der biologischen Abstammung entwertet und delegitimiert werden, wie von dessen Verfechtern suggeriert wird. Haben Nichtwissen und Anonymität in diesem Kontext nicht möglicherweise dennoch einen gewissen ›Nutzen‹, eine Schutzfunktion, die von einer Überbewertung des Wissens um die eigene genetische Herkunft in problematischer Weise marginalisiert zu werden droht? Im Folgenden möchte ich zunächst (Kap. 2) in aller Kürze zeigen, dass sich im Recht auf Kenntnis der biologischen Herkunft, wie es gegenwärtig postuliert wird, sowohl Elemente eines fragwürdigen genetischen Essentialismus als auch einseitige und verengte Vorstellungen von »Identität« und »Individualität« erkennen lassen (vgl. Schütze 2004). Nicht zuletzt wird auf diese Weise der durch Medien, aber auch Teile der Wissenschaft popularisierten Vorstellung weiter Vorschub geleistet, aus der genetischen Abstammung und Prägung resultiere die ›wahre‹ Identität einer Person (Armstrong et al. 1998; Nordgren/Juengst 2009), während soziale Identitätsbildungen vermeintlich oberflächlich bleiben oder sogar ein ›falsches‹ Bild der betreffenden Person entstehen lassen. Kap. 3 beschäftigt sich mit der Frage, ob solche Auffassungen eine so eindeutig ablehnende Haltung gegenüber Babyklappen und der Möglichkeit zur anonymen Geburt rechtfertigen, wie sie etwa die Mehrheit des deutschen Ethikrates einnimmt – zumal bisher keineswegs erwiesen ist, dass Babyklappen und anonyme Geburt ungeeignet sind, das Leben Neugeborener zu schützen und zu retten. Die Problematik der anonymen Samenspende ist in vielerlei Hinsicht anders gelagert; doch auch hier sind Zweifel berechtigt, ob der Anspruch auf Kenntnis der eigenen biologischen Abstammung tatsächlich unter allen Umständen dem Wohl eines per (Fremd-)Samenspende gezeugten Kindes dient und einen fast absoluten Vorrang vor allen anderen Rechtspositionen und Schutzinteressen der beteiligten Personen haben sollte (Kap. 4).4 In beiden Kontexten ist Nichtwissen (in Formen
3
Allerdings sind die Sozial- und Kulturwissenschaften keineswegs davor gefeit, die zugrunde liegenden Annahmen und normativen Wertungen vorschnell und undifferenziert zu übernehmen, so etwa wenn Dorett Funcke (2013: 414) behauptet, durch die Praxis der anonymen Samenspende würden Kinder »um eine zentrale Wahrheit des Lebens gebracht [...], nämlich den leiblichen Vater zu kennen«, oder wenn Andreas Bernard (2014: 83) ebenfalls mit Blick auf die anonyme Samenspende von einem »auf Lügen errichteten Familienleben« spricht.
4
Im Fall der Samenspende durch Dritte überrascht zumindest auf den ersten Blick, wie stark in den letzten Jahren auf eine reproduktionsmedizinische Technologie, die nicht
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wie Anonymität oder Geheimhaltung) in jüngster Zeit als vermeintlich nachteilig zurückgedrängt und als moralisch unvertretbar diskreditiert worden. Abschließend werde ich jedoch verdeutlichen (Kap. 5), dass soziale Praktiken des Nichtwissens sowohl bei der anonymen Geburt als auch bei der anonymen Samenspende dennoch weiterhin eine wichtige Rolle spielen und dass die zentrale Bedeutung, die dem Wissen um die biologische Herkunft diskursiv zugeschrieben wird, die gegenwärtigen Gesellschaften daran hindert, ein reflektiertes Verständnis der Transformationen von Familie sowie von Eltern- und Verwandtschaft zu entwickeln. Um einem zu erwartenden Missverständnis zuvorzukommen: Bei den folgenden Überlegungen geht es nicht darum, zu bestreiten oder als irrelevant abzutun, dass Kinder und Jugendliche häufig wissen wollen, wer ihre leiblichen Eltern sind, wer ihr biologischer Vater ist, wenn und nachdem sie erfahren haben, dass sie durch eine Samenspende gezeugt oder anonym geboren worden sind. Die Suche nach der eigenen »Herkunft« ist dabei explizit oder implizit zumeist ein ebenso verständlicher wie schwieriger Versuch, sich der eigenen Lebensgeschichte zu vergewissern, die mehr enthält als ›nur‹ die genetische Abstammung, nämlich oft auch die Frage, warum die biologischen Eltern das Kind zurückgewiesen haben (vgl. Lob-Hüdepohl 2004; Schütze 2004). Höchst problematisch ist allerdings die diskursive Überhöhung des Fakten-Wissens um die biologische Herkunft (»von wem stamme ich genetisch ab?«) zum entscheidenden und unverzichtbaren Element von Identitätsfindung und Persönlichkeitsbildung. Überdies werden auf diese Weise Auffassungen von Familie und Verwandtschaft als Lebensformen, die durch soziale Bindungen, durch Fürsorge und Verantwortung konstituiert werden, abgewertet zugunsten von biologisch-genetisch begründeten Vorstellungen der (Bluts-)Verwandtschaft. Soziale Elternschaft wird, so hat Imme Petersen in ihrer ethnologischen Analyse von Bundestagsdebatten zum Embryonenschutzgesetz gezeigt, als unnatürlich und unecht, als ›nur‹ auf menschlichen Willensentscheidungen beruhend und deshalb im Vergleich zu den biologischen Bindungen höchst unzuverlässig wahrgenommen: »Nur die ›Blutsbande‹ entziehen sich dem menschlichen Zugriff und halten somit ein Leben lang.« (Petersen 2000: 102).5
unwesentlich zur ›Ent-Biologisierung‹ von Familie und Elternschaft beiträgt, rechtlich und diskursiv mit der Betonung der biologischen Abstammung und Vaterschaft reagiert wird. 5
Vgl. zur grundlegenden ethnologischen Kritik an der Gleichsetzung von ›wahrer‹ Verwandtschaft mit Blutsverwandtschaft sowie an deren Abgrenzung von nur sozial (zum Beispiel durch Adoption) gestifteter ›fiktiver‹ und ›unechter‹ Verwandtschaft
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2. D AS R ECHT
AUF K ENNTNIS DER EIGENEN BIOLOGISCHEN
H ERKUNFT
Zumindest in der Bundesrepublik Deutschland ist das Recht eines Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung als explizit formulierter, eigenständiger Rechtsanspruch ein relativ neues Phänomen. Als entscheidender Schritt zur rechtlichen Verankerung gilt allgemein eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Januar 1989 zur Möglichkeit einer Vaterschaftsanfechtung durch ein volljähriges Kind (Bundesverfassungsgericht 1989). Bis dahin waren Abstammungsfragen (mit Ausnahme der »Rasse«-Nachweise während des Nationalsozialismus) rechtlich fast ausschließlich im Hinblick auf Unterhaltsfragen von Bedeutung gewesen. Allerdings wurde dem Recht auf Kenntnis der »blutmäßigen« Abstammung, wie es – nicht ganz frei von zumindest sprachlicher Nähe zum Nationalsozialismus – noch bis in die 1970er Jahre hieß, in Deutschland auch schon vor 1989 eine hohe Bedeutung beigemessen, vor allem im Zusammenhang mit Diskussionen um die moralische Vertretbarkeit und rechtliche Zulässigkeit der Fremd-Samenspende (vgl. Kleineke 1976 mit weiteren Belegen sowie unten Kap. 4). Mit dem Urteil des Verfassungsgerichts von 1989 wurde dem Wissen um die eigene Abstammung ausdrücklich eine Schlüsselrolle für Identitätsfindung und Persönlichkeitsbildung zuerkannt; das Recht auf Kenntnis der biologischen Herkunft wurde, so ein damaliger Kommentator (Enders 1989: 881), »endgültig als Ausfluß des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf Verfassungsebene anerkannt« (vgl. auch Badenberg 2006: 33ff.).6 Die Entwicklung und Wahrung der Individualität sei, so die Urteilsbegründung des Gerichts (BVerfG 1989: 891), mit der
David M. Schneider (1984). Schneider kritisiert überzeugend die auch in der Ethnologie lange vorherrschende Annahme, Verwandtschaft sei ein objektives und kulturübergreifendes, biologisch bestimmtes Faktum, das kulturell lediglich jeweils unterschiedlich interpretiert und gestaltet werde. Er wendet sich gegen die Universalisierung des europäisch-nordamerikanischen Modells der Blutsverwandtschaft und dessen implizite Prämisse »blood is thicker than water« (ebd.: 165ff.) und argumentiert demgegenüber, der Rekurs auf ›Blutsbande‹ sei nur eine Form der kulturellen Konstruktion von Verwandtschaft und engen sozialen Beziehungen. 6
Darüber hinaus wird häufig auch auf die 1992 in Kraft getretene UNKinderrechtskonvention verwiesen, die aber, nachdem in Artikel 6 zunächst jedem Kind ein Recht auf Leben zuerkannt wird, in Artikel 7 eher zurückhaltend formuliert: »Das Kind [...] hat [...] soweit möglich das Recht, seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden.« (Zit. nach Merten 2004: 261).
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Kenntnis der dafür konstitutiven Faktoren eng verbunden. Zu diesen Faktoren gehöre auch die biologische Herkunft. Diese lege nicht nur die genetische Ausstattung des Einzelnen fest und präge so seine Persönlichkeit mit. Die Kenntnis der Abstammung nehme darüber hinaus auch unabhängig von den tatsächlichen biologisch-genetischen Einflüssen im Bewusstsein des Einzelnen eine »Schlüsselstellung für Selbstverständnis und Identitätsfindung« ein (ebd.). Insofern hänge der Persönlichkeitswert der Kenntnis der eigenen Herkunft auch nicht von dem »Maß an Aufklärung« ab, das die Biologie über die für die Lebensgestaltung des Menschen bedeutsamen Erbanlagen zu vermitteln vermag. Da die Verfassungsrichter das Recht auf Kenntnis der Abstammung nicht unmittelbar aus der Menschenwürde ableiteten, sondern »nur« aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, kommt diesem Rechtsanspruch jedoch grundsätzlich keine völlig uneingeschränkte Geltung zu (vgl. Enders 1989; Badenberg 2006: 39f.). Auch verleiht das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts kein Recht auf »Verschaffung von Kenntnissen der eigenen Abstammung«, sondern könne nur vor der »Vorenthaltung erlangbarer Informationen« schützen (BverfG 1989: 892) – wobei allerdings unbestimmt bleibt, was unter »erlangbar« zu verstehen ist: lediglich das ohnehin schon vorhandene, aber möglicherweise lückenhafte Wissen anderer oder sämtliche darüber hinaus durch gezielte Erkenntnisbemühungen erreichbaren Informationen? Nach Enders (1989: 884) könne daher zumindest aus dem Urteil des Verfassungsgerichts von 1989 keine staatliche Verpflichtung abgeleitet werden, beispielsweise eine mögliche Anonymität von Samenspendern durch entsprechende Verbote »unter allen Umständen auszuschließen«. In den folgenden Jahren haben die Rechtsprechung und der öffentlich-mediale Diskurs jedoch immer mehr eine Verpflichtung der beteiligten Akteure postuliert, sich alle erreichbaren Informationen über die biologische Herkunft eines Kindes auch tatsächlich zu verschaffen und offen zu legen, so dass Anonymität der Geburt oder Samenspende nicht länger geduldet werden könne. Näher betrachtet rekurriert die Begründung, die das Verfassungsgericht für das Recht auf Kenntnis der eigenen Herkunft gibt, sowohl auf einen genetischen Essentialismus als auch auf eine zweifelhafte Konzeption von Persönlichkeit und Individualität.7 Zum einen wird angenommen, die durch die biologische Abstammung festgelegte genetische Ausstattung präge die Persönlichkeit des Ein-
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Die Betonung der persönlichkeitsprägenden Bedeutung, die der biologischen Abstammung zukomme, ist in der damaligen rechtswissenschaftlichen Diskussion daher keineswegs völlig unwidersprochen geblieben; vgl. vor allem Ramm 1989a, 1989b: 871ff.
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zelnen mit. Dies scheint nur auf den ersten Blick eine ›ausgewogene‹ Formulierung (»prägt … mit«) zu sein. Tatsächlich bleibt sie mit der Prämisse einer ein für alle Mal festgelegten genetischen Ausstattung des Einzelnen und der dadurch mit beeinflussten Persönlichkeit einem deterministisch-essentialistischen Verständnis ›der Gene‹ verpflichtet, das Ende der 1980er Jahre im Vorfeld des »Humane Genome Project« weit verbreitet war – und noch immer ist. Ungeachtet aller sonstigen problematischen Implikationen entspricht die Vorstellung von Genen als fixierten und vermeintlich stabilen Einheiten der Vererbung, als feststehenden »Programmen« zur Entwicklung des Individuums, inzwischen, in Zeiten der Epigenetik und Postgenomik, nicht mehr dem Stand der biologischen Forschung (vgl. Müller-Wille/Rheinberger 2009; Schmidt 2013).8 Diese geht heute vielmehr davon aus, dass die Expression (und bereits die Konstitution) von ›Genen‹ im Rahmen komplexer biologischer Prozesse in der Zelle und im Organismus reguliert wird, wobei auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen können (vgl. Schmidt 2013: 222ff.). Zum anderen merkt das Bundesverfassungsgericht an, die Kenntnis der Herkunft biete dem Einzelnen auch unabhängig von biologisch-genetischen Erkenntnissen »wichtige Anknüpfungspunkte für das Verständnis und die Entfaltung der eigenen Individualität« (Bundesverfassungsgericht 1989: 892). Dies ist insofern nicht falsch, als die genetische Abstammung in der Tat sehr häufig einen entscheidenden Anknüpfungspunkt bietet für narrative Identitätskonstruktionen im Sinne eines (wie auch immer modifizierten und abgeschwächten) genetischen Determinismus, das heißt der Begründung und Vergewisserung der eigenen Identität und Individualität aus der biologischen Herkunft. So nennt etwa eine per Samenspende gezeugte junge Frau als Motiv ihrer Klage auf Auskunft über den Spender, sie wolle »wenigstens einmal jenem Menschen gegenübersitzen, der zur Hälfte für ihr Aussehen, ihre Bewegungen, ihre Talente verantwort-
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Kirsten Schmidt weist zu Recht darauf hin, dass Redeweisen wie die von der »genetischen Information« oder der »Genaktivität« heute zumindest in Teilen der wissenschaftlichen Diskussion nur noch metaphorisch verstanden werden, während sie im öffentlich-medialen Diskurs weit stärker für ›bare Münze‹ im Sinne eines genetischen Essentialismus und einer projektiven Vorstellung von Genen als nahezu personalisierten, ›handelnden‹ Entitäten genommen werden. »Die Neigung zur Personifizierung der Gene durch eine Übersteigerung der Aktivitätsmetapher ist [...] gerade im öffentlichen Sprachgebrauch und in der Darstellung genetischer Befunde für ein breites Publikum stark ausgeprägt.« (Schmidt 2013: 139; vgl. auch Nordgren/Juengst 2009)
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lich ist« (Bernard 2014: 141).9 Abgesehen davon, dass solche deterministischen Vorstellungen großenteils ein Effekt genau jenes diskursiv verbreiteten und medial popularisierten ›Gen-Essentialismus‹ sind, in dem letztlich auch das Verfassungsgericht befangen bleibt, bilden sich Persönlichkeit, Identität und Individualität schwerlich aus dem empirischen Wissen, von einem bestimmten Elternpaar abzustammen oder von einem bestimmten Mann gezeugt worden zu sein (auch dann nicht, wenn man dieses Paar oder diesen Mann kennt). Ausschlaggebend für die Persönlichkeitsbildung sind vielmehr die ›gelebten‹ Beziehungen und Erfahrungen in unterschiedlichen sozialen Kontexten, allen voran in der Familie, in der ein Kind aufwächst und mit der es sich alltäglich auseinandersetzt (vgl. Schütze 2004; Saborowski 2014: 247). Soweit dabei (Tatsachen-)Wissen überhaupt eine Rolle spielt, wäre dies ein Wissen um die eigene Lebensgeschichte, ein Wissen, das weit über die Kenntnis der biologischen Abstammung hinausgeht. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass die lebensgeschichtlichen, sozialen Erfahrungen in der Familie immer ›positiv‹ und förderlich für die Entwicklung eines Kindes sein müssen. Dennoch sind es diese sozialen Beziehungen und Bindungen, die maßgeblich die Individualität und Persönlichkeit eines Kindes oder Jugendlichen prägen (im ›Guten‹ wie im ›Schlechten‹) – und dies gilt ganz unabhängig davon, ob ein Kind bei seinen biologischen oder bei sozialen Eltern aufwächst. Das Recht, die eigene biologische Abstammung zu kennen, ist keine fraglose, gleichsam anthropologisch verbürgte Notwendigkeit, wie von vielen Verfechtern behauptet, sondern ein kontingenter Rechts- und Wissensanspruch, eine Suche nach der vermeintlichen biologischen »Wahrheit« (Saborowski 2014: 248), die auf teilweise höchst problematischen kulturellen und wissenschaftlichen Prämissen beruht. Auch wachsen Kinder, die ihre biologische Herkunft nicht kennen oder gar nicht wissen, dass ihre sozialen Eltern nicht ihre biologischen Eltern sind, nicht zwangsläufig mit einer beschädigten, defizitären Identität auf (Schütze 2004: 250; vgl. auch Thorn 2011: 11). Zumindest diskussionswürdig ist überdies, ob das rechtlich privilegierte Wissen um die biologische Abstammung, statt unverzichtbar zur Identitätsfindung und Persönlichkeitsbildung junger Menschen zu sein, die Betroffenen nicht in ein zweifelhaftes Verständnis der angeblich entscheidend durch die genetische (und warum dann nicht auch ethnische?) Herkunft geprägten individuellen Identität einschließt (vgl.
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Man kann solche Vorstellungen zwar als Ausdruck eines Wunsches interpretieren, »genau zu wissen, wer man ist« (Funcke 2013: 429); gleichwohl wird sich ein solcher Wunsch kaum jemals erfüllen können, schon gar nicht durch das Wissen, von wem man abstammt, oder durch die Kenntnis des eigenen Genoms.
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schon Ramm 1989a). Nichtsdestotrotz sind in den letzten Jahren unter Berufung auf das Recht auf Kenntnis der eigenen Herkunft soziale Praktiken des Nichtwissens und der Anonymisierung in ihrer Bedeutung zurückgedrängt und moralisch zunehmend diskreditiert und delegitimiert worden. Dies betrifft besonders die anonyme Geburt und anonyme Kindesabgabe sowie die anonyme Samenspende.
3. ANONYME G EBURT UND »B ABYKLAPPE «: S CHUTZ DURCH ANONYMITÄT ODER I DENTITÄTSGEFÄHRDUNG ? Die Aussetzung oder gar Tötung (sogenannter Neonatizid) von Kindern unmittelbar nach der Geburt ist historisch nicht neu und in den »modernen«, westlichen Gesellschaften keineswegs verschwunden, auch wenn sich die Motive dafür möglicherweise von wirtschaftlichen stärker zu psychischen Notlagen verschoben haben. Als Reaktion auf diese Problematik sind in verschiedenen Ländern Möglichkeiten zur anonymen Geburt und zur anonymen Kindesabgabe oder -übergabe (»Babyklappen«) etabliert worden.10 In der Bundesrepublik Deutschland sind die ersten derartigen Angebote in den Jahren 1999 und 2000 geschaffen worden (Coutinho/Krell 2011: 27ff.). Durch die Möglichkeit für Frauen, die sich aus welchen Gründen auch immer in einer extremen sozialen oder psychischen Notsituation befinden, ihr Kind in einer Klinik zur Welt zu bringen, ohne ihre Identität preiszugeben, oder es nach der Geburt anonym bei einer Betreuungseinrichtung abzugeben, soll verhindert werden, dass Neugeborene ausgesetzt oder getötet werden. In Deutschland werden jährlich zwischen 20 und 35 Fälle von Kindesaussetzung bekannt, mit einer völlig unbekannten Dunkelziffer. Von Anfang an waren die Angebote zur anonymen Geburt jedoch heftiger Kritik ausgesetzt; dabei standen und stehen zwei Aspekte im Vordergrund: Zum einen wird in empirischer Hinsicht bezweifelt, ob diejenigen Frauen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie den Säugling tatsächlich töten oder aussetzen, von solchen Angeboten überhaupt erreicht werden. Die Fälle von Kindsaussetzung oder -tötung würden deshalb nicht wirklich verringert; stattdessen würden die Möglichkeiten zur anonymen Geburt überwiegend oder ausschließlich von solchen Frauen genutzt, die ihr Kind auch ohne solche Angebote nicht gefährden würden, die aber möglicherweise ein offizielles Verfahren zur Adoptionsfreigabe umgehen möchten oder sogar von den andernfalls unterhaltspflichtigen Vätern gezwungen würden, das Kind abzugeben. Auf diese Weise, so der zweite, nor-
10 Im Folgenden spreche ich zumeist abkürzend von »anonymer Geburt« stellvertretend für alle diese Angebote.
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mativ begründete Einwand, würde den anonym geborenen oder abgegebenen Kindern ohne Notwendigkeit und ohne ›Nutzen‹ das Recht auf die identitätsverbürgende Kenntnis ihrer biologischen Herkunft vorenthalten. Suggeriert wird, anonym geborene Kinder könnten allenfalls eine defizitäre und unvollständige Identität ausbilden, denn ihnen bleibe der »Weg der Selbstfindung« versperrt (Thorn 2011: 37f.). Solche Unterstellungen einer ›Leerstelle‹ der Identität bei den Betroffenen (ebd.) sind höchst problematische pauschale Zuschreibungen – doch wenn sie tatsächlich zuträfen, müsste dies Grund genug sein, die Kinder und Jugendlichen in Unkenntnis über die Tatsache ihrer anonymen Geburt zu lassen, statt sie durch die Mitteilung ihrer vermeintlich ›wahren‹ Herkunft der Gefahr gravierender psychischer Störungen auszusetzen. Beide Argumente prägen auch das bereits erwähnte Mehrheitsvotum des Deutschen Ethikrates zur anonymen Kindesabgabe. Der Ethikrat hat sich im Jahr 2009 gleich in seiner ersten Stellungnahme nach seiner Neuformierung (zuvor »Nationaler Ethikrat« auf anderer rechtlicher Grundlage) dieser offenbar als höchst dringlich eingeschätzten Problematik angenommen. Das Votum der Ethikrats-Mehrheit stieß zwar auch auf öffentliche und mediale Kritik, hat die moralische Vertretbarkeit und rechtliche Zulässigkeit von Angeboten zur anonymen Geburt aber erneut zum Thema gemacht;11 aus diesem Grund werde ich mich im Folgenden mit der zugrundeliegenden Argumentation ausführlicher auseinandersetzen. In empirischer Hinsicht wird im Votum der Mehrheit argumentiert, die bisher verfügbaren Daten über die Inanspruchnahme der Angebote sowie die kriminologischen Erkenntnisse über Frauen, die ihr Kind getötet oder ausgesetzt haben, könnten »nach mittlerweile zehnjähriger Erfahrung die Wirksamkeit der Angebote nicht belegen« (Deutscher Ethikrat 2009: 72). In der Tat ist die Annahme nicht von der Hand zu weisen, durch Angebote der anonymen Geburt und Kindesabgabe würden viele derjenigen Frauen gar nicht angesprochen, bei denen zu befürchten ist, sie könnten ihr Kind aussetzen oder töten (ebd.: 90). »Babyklappen und anonyme Geburt«, so Höynck et al. (2011: 63),
11 Eine auch durch die Stellungnahme des Ethikrates angestoßene gesetzliche Neuregelung hat im Jahr 2014 in Gestalt der sogenannten »vertraulichen Geburt« zwar ein legales Angebot für Frauen in einer Notsituation geschaffen; hierbei gilt die Anonymität der Mutter allerdings nur bis zum 16. Lebensjahr des Kindes. »Babyklappen« und gänzlich anonyme Geburt wurden aber, anders als zwischenzeitlich von der Bundesregierung geplant, nicht abgeschafft, sondern werden weiterhin geduldet. Bestrebungen zu einer Legalisierung zumindest der anonymen Geburt im Krankenhaus, wie sie noch zu Anfang der 2000er Jahre parteiübergreifend verfolgt worden sind (vgl. Werwigk-Hertneck 2004), sind heute allerdings nicht mehr zu beobachten.
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»erfordern ein planvolles Handeln der Kindsmutter, eine aktive Auseinandersetzung mit der ungewollten Schwangerschaft und eine Entscheidung über Handlungsmöglichkeiten – Fähigkeiten, die die Täterinnen von Neonatiziden, aus welchen Gründen auch immer, bezogen auf diese Schwangerschaft in aller Regel nicht haben.« Andererseits zeigt eine aktuelle Studie aus Österreich (Klier et al. 2013), dass sich dort nach der gesetzlichen Einführung der anonymen Geburt in der zweiten Jahreshälfte 2001 die Rate der Neonatizide mehr als halbiert hat. Wurden in den Jahren 1991 bis 2001 jeweils durchschnittlich 7,2 Kindstötungen pro 100.000 Geburten von der Polizei erfasst, so waren es von 2002 bis 2009 im Durchschnitt nur 3,1 Fälle jährlich. Besonders bemerkenswert ist dieser Befund, weil in den zum Vergleích herangezogenen Ländern Schweden und Finnland, die das Angebot der anonymen Geburt nicht eingeführt haben, die NeonatizidRaten zwar durchgängig niedriger waren als in Österreich, aber im Untersuchungszeitraum kein derartig starker Rückgang eingetreten ist. Es spricht daher vieles für die Annahme der Studien-Autorinnen, dass die Möglichkeit der anonymen Geburt zu der deutlichen Verringerung der Fälle in Österreich beigetragen hat.12 Empirisch ist also zumindest offen, ob und in welchem Ausmaß Angebote zur Anonymität wirksam im Sinne der Reduzierung von Kindstötungen oder -aussetzungen sind. In normativer Hinsicht legt die Ethikrats-Mehrheit erwartungsgemäß besonderes argumentatives Gewicht auf die Bedeutung der personalen Identität des Individuums sowie deren befürchtete Gefährdung durch die fehlende Kenntnis der eigenen Herkunft: »Wer nicht weiß, wer seine Mutter und sein Vater ist, ist über den Beginn seiner Existenz und die Umstände, unter denen er abgegeben wurde, im Ungewissen. Er hat es ungleich schwerer, Identität und Selbstbewusstsein auszubilden.« (Deutscher Ethikrat 2009: 74). Einem Kind werde daher durch »das Entschwinden seiner Eltern in die Anonymität« ein schwerer Schaden zugefügt (ebd.). Kinder, die anonym zur Welt gebracht oder in einer Babyklappe abgelegt werden, sind aber – so könnte man entgegnen – nicht nur mit der Ungewissheit über ihre biologische Herkunft konfrontiert, sondern haben in der
12 Dabei ist zu berücksichtigen, dass kurz nach der Umsetzung des entsprechenden österreichischen Gesetzes die begleitende Informationskampagne eingestellt wurde, »probably because of concerns that women would use anonymity to avoid the more complicated process of conventional adoption. However, these concerns were not based on data or scientific evidence.« (Klier et al. 2013: 431). Anders als die Mehrheit des Deutschen Ethikrates sprechen sich die Autorinnen der Studie für gezielte, öffentlich zugängliche Informationen über die Möglichkeit der anonymen Geburt aus, um gefährdete Frauen erreichen zu können.
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Regel auch mit einer schweren Kränkung und Zurückweisung durch ihre biologischen Mütter oder Eltern zu kämpfen, die sie nach der Geburt »weggegeben« haben (vgl. Schütze 2004). Ist es vor diesem Hintergrund tatsächlich prinzipiell moralisch unvertretbar, solchen Kindern die Kenntnis ihrer ›wahren‹ Herkunft vorzuenthalten, wenn sie in einer intakten (Pflege-)Familie aufwachsen und ihre sozialen Eltern fraglos als ihre ›wirklichen‹ Eltern erleben, wenn diese Kinder also durchaus wissen, wer ihre Mutter und wer ihr Vater ist? Warum sollte das Interesse der Kinder, weiterhin in gesicherten und emotional verlässlichen sozialen Beziehungen zu leben, unter allen Umständen weniger Gewicht haben als das abstrakte und vermutlich eher verstörende Wissen darum, dass sie andere, unbekannte biologische Eltern haben?13 Auch der Ethikrat scheint in manchen Passagen der identitätsprägenden Bedeutung fürsorglicher und verlässlicher sozialer Beziehungen zwischen Eltern und Kind den Vorrang zu geben: »Die kindliche Entwicklung zum selbstbewussten Individuum ist wesentlich auf das geborgene Zusammensein, auf Halt gebende und zuverlässige Beziehungen, aber auch auf die Ermöglichung von Eigenständigkeit und Unabhängigkeit angewiesen« (Deutscher Ethikrat 2009: 75). Die Mehrheit des Gremiums gerät dann aber ins Fahrwasser eines sowohl empirisch als auch normativ zweifelhaften biologischen Essentialismus, wenn sie postuliert, diese verlässlichen Beziehungen könnten »die leiblichen Eltern durch ihre primäre Bindung meist am besten gewährleisten. Hier reicht die Natur in besonders auffälliger Weise in den gesellschaftlichen Zusammenhang hinein. Die Eltern, die das Kind gezeugt haben, vor allem die Mutter, die es ausgetragen hat, sind die ersten sozialen Instanzen für die Sorge um einen Menschen.« (Ebd.)
Adoptiv- oder Pflegeeltern können nach dieser Auffassung auch im günstigen Fall nur ein »Ersatz« (ebd.), eine Art Notbehelf für die primären Bindekräfte der Natur sein: Denn die emotionalen Bindungen der Eltern an ihr Kind sowie der Kinder zu Mutter und Vater (und gemeint sind hier die biologischen Eltern) gehören, so der Ethikrat,
13 Nicht selten werden von Verfechtern des Rechts auf Kenntnis der eigenen Herkunft in diesem Zusammenhang Andeutungen gemacht, Kinder würden aufgrund einer gespürten biologischen oder genetischen ›Fremdheit‹ ahnen, dass sie nicht zu dieser Familie gehören (vgl. Bernard 2014: 125). Abgesehen davon, dass derartige Fremdheitsgefühle und -phantasien zeitweise oder sogar dauerhaft auch Kinder haben können, die bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen, bleiben solche Spekulationen in einem schwer begründbaren Biologismus befangen.
106 | P ETER W EHLING »zu den stärksten, die es im Gefühlshaushalt des Menschen gibt. Es sind also nicht allein die moralischen Verbindlichkeiten, die durch die Anonymisierung der Herkunft eines Menschen aufgehoben werden; den ausgesetzten Kindern wird diese emotionale Umwelt geraubt.« (Ebd.: 75f.)
Die Möglichkeit, dass soziale Mütter und Väter in Adoptiv- oder Pflegefamilien, aber auch in Patchwork-, Inseminations- und »Regenbogenfamilien« die emotionale Geborgenheit der Kinder ebenso gut oder (was nicht selten der Fall ist) sogar besser gewährleisten als die biologischen Eltern, wird faktisch ausgeschlossen. Dies überrascht umso mehr, als man es im Kontext der anonymen Geburt und Kindesabgabe mit Frauen (oder Elternpaaren) zu tun hat, die durch die Schwangerschaft und die Vorstellung, ein Kind zu bekommen und aufziehen zu müssen, in eine unkalkulierbare Paniksituation zu geraten drohen. Auf der Grundlage der skizzierten Argumentation kommt die Mehrheit des Ethikrates zu ihrer schon erwähnten Ablehnung von anonymer Kindesabgabe und Geburt. Solche Angebote würden falsche ›Anreize‹ für Frauen oder Paare setzen, sich unter dem ›Deckmantel‹ der Anonymität ihrer elterlichen Verantwortung zu entziehen. Das Kind würde dadurch massiv geschädigt, da es nicht allein über seine biologische Abstammung im Unklaren bleibt, sondern ihm auch die besondere »emotionale Umwelt« der Herkunftsfamilie vorenthalten wird. Zudem verteilt die Ethikrats-Mehrheit in einer Situation empirischer Ungewissheit über die Wirksamkeit der Anonymitäts-Angebote die Beweislast höchst einseitig: Die Verhinderung von Kindstötungen oder -aussetzungen durch solche Angebote sei »bloße Spekulation« (ebd.: 83) und »nicht belegt« (ebd.: 72).14 Deshalb würden die negativen Folgen, die die betroffenen Kinder aufgrund der Unkenntnis ihrer Herkunft zu erleiden haben, nicht durch einen erkennbaren ›Nutzen‹ anonymer Geburten aufgewogen oder zumindest relativiert. Dass man mit guten Gründen sowohl das empirische Nichtwissen als auch das Spannungsverhältnis zwischen einer möglichen Schutzwirkung von Anonymität und der Verletzung des Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung an-
14 Einen solchen Effekt empirisch zu belegen wäre in der Tat ein nahezu aussichtloses Unterfangen, denn es müsste kontrafaktisch nachgewiesen werden, dass zumindest eines der in einer Babyklappe abgelegten Neugeborenen ausgesetzt oder getötet worden wäre, wenn kein Angebot zur Anonymität bestanden hätte. Kritiker der anonymen Kindesabgabe und Geburt müssten allerdings bei einer symmetrischen Verteilung der Beweislast ihrerseits belegen können, dass von den anonym geborenen oder abgelegten Kinder auch nicht ein einziges zu Tode gekommen wäre, wenn es keine entsprechenden Angebote für die Mütter gegeben hätte.
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ders bewerten kann, zeigt das Minderheitsvotum von sechs der 26 Mitglieder des Ethikrats. Auch diese Ratsmitglieder halten die Anonymität der Geburt für problematisch, ziehen aus der empirischen Ungewissheit aber dennoch eine andere Schlussfolgerung: »In den Fällen, in denen es zur anonymen Kindesabgabe kommt, wissen wir nicht, welches Schicksal die abgegebenen Kinder ohne diese Angebote getroffen hätte. Deshalb erscheint uns ihre Duldung trotz der aufgezeigten ethischen und rechtlichen Bedenken weiterhin vertretbar.« (Deutscher Ethikrat 2009: 98). Die Betonung des Nichtwissens wird in dieser Argumentation zum Korrektiv vorschneller und einseitiger Wissensansprüche, die den fehlenden Beleg der Wirksamkeit von Anonymitätsangeboten in einen Beleg für ihre Wirkunglosigkeit umdeuten. Zugleich wird in dem abweichenden Votum eine mögliche Verletzung des Lebensrechts von Kindern höher bewertet als die Missachtung des Rechts auf Kenntnis der Herkunft: Da nicht auszuschließen sei, dass das Leben zumindest einiger Neugeborener durch eine anonyme Geburt oder Abgabe gerettet werden könnte, und »die Vermittlung der abgegebenen Kinder an Adoptivfamilien nicht per se als problematisch einzustufen« sei (ebd.), spricht sich die Rats-Minderheit dafür aus, die bestehenden Möglichkeiten der Anonymität nicht aufzugeben, sondern als »Ultima Ratio« (ebd.) weiterhin zu tolerieren. Zumindest bisher bildet diese Auffassung de facto die Grundlage des politischen Handelns in Deutschland, denn auch nach der erwähnten gesetzlichen Neuregelung von 2014 werden Babyklappen und anonyme Geburten von staatlicher Seite geduldet. Eine mögliche Schutzwirkung von Anonymität und Nichtwissen wird somit nicht gänzlich ausgeschlossen und auch nicht vollständig dem Recht der Kinder auf Kenntnis ihrer biologischen Herkunft untergeordnet.
4. D IE AUSEINANDERSETZUNGEN UM DIE ANONYMITÄT DER S AMENSPENDE Noch massiver als bei der anonymen Geburt wird seit einigen Jahren unter Berufung auf das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner biologischen Abstammung die Anonymität von Samenspendern als rechtswidrig und moralisch unvertretbar kritisiert. Die künstliche Insemination ist eine der ältesten reproduktionsmedizinischen Technologien; die ersten erfolgreichen Versuche einer donogenen Insemination (häufig auch als »heterologe Insemination« bezeichnet), das heißt der Übertragung von ›gespendetem‹, nicht vom Ehemann der Frau stammendem Samen wurden möglicherweise bereits Ende des 19. Jahrhundert durchgeführt (vgl. Katzorke 2008: 90ff.; Bernard 2014: 204f.). Bei den frühen, zunächst noch seltenen Zeugungen durch donogene Insemination (DI) wurde der Samen oft von
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einem Bruder oder Cousin des Ehemannes oder einem Freund des Paares gespendet – zumeist ohne jegliche Anonymität und soziale Distanz wie auch ohne finanzielle Gegenleistung (vgl. Bernard 2014: 200f.). Erst in den 1930er Jahren wurde in den USA das dann lange Zeit vorherrschende, inzwischen aber zunehmend kritisierte organisatorische Modell der Samenspende durch einen dem betreffenden Paar nicht nahestehenden und anonym bleibenden Mann, der für seine Spendebereitschaft eine Vergütung erhält, entwickelt (ebd.: 201ff.). In den folgenden Jahrzehnten wurde die DI auf dieser Grundlage zu einer relativ häufig genutzten Methode der Reproduktionsmedizin, wesentlich vorangetrieben auch durch neue technische Möglichkeiten, wie das Einfrieren der Spermien, was wiederum entscheidend zur Entstehung von großräumig agierenden Samenbanken und reproduktionsmedizinischen Zentren beitrug (vgl. ebd.: 103ff.; 217ff.). In der Bundesrepublik Deutschland ist das Verfahren der DI von Ärzten und Juristen nach 1945 über längere Zeit hinweg als unnatürlich und sittenwidrig abgelehnt worden, und einige Jahr lang war sogar mit einem strafrechtlichen Verbot zu rechnen (ebd.: 240).15 Noch bis 1970 galt die Durchführung für Ärzte als standesunwürdig, da das Verfahren der Ordnung der Ehe widerspreche (Katzorke 2008: 95). Erst in den späten 1960er Jahren begann sich die grundsätzlich ablehnende Haltung zu lockern, und allmählich entstanden einige größere repro-
15 Wie Andreas Bernard (2014: 230ff.) zeigt, steht diese Ablehnung, anders als nach 1945 von den gegenüber der DI negativ eingestellten Juristen und Ärzten behauptet, keineswegs im diametralen Gegensatz zur herrschenden Auffassung während der NSZeit, sondern weist durchaus Kontinuitäten dazu auf. Angesichts der rassistischeugenischen Ziele und Bestrebungen des Nationalsozialismus hätte man zwar erwarten können, dass die DI eine relativ wichtige Rolle spielte, um »rassisch hochwertige« Menschen zu zeugen. Tatsächlich war dies jedoch nicht der Fall, und der Grund dafür lag, so Bernard (ebd.: 238), in erster Linie in der Ablehnung einer technisierten Reproduktion und der vom NS-Regime immer wieder inszenierten »Feier des ›Natürlichen‹«. Wurde bis in die 1960er Jahre hinein in Deutschland (im Gegensatz zu vielen anderen Ländern) die Fremd-Samenspende von Juristen als moralisch grundsätzlich nicht vertretbar abgelehnt (vgl. z.B. Doelle 1954), so konzentrierte sich die Kritik in den Folgejahren vor allem auf die Verletzung des Rechts auf Kenntnis der eigenen Herkunft infolge der Anonymität des Spenders (vgl. z.B. Kleineke 1976). Diese starke Betonung der biologischen Abstammung, gewissermaßen das letzte Refugium des ›Natürlichen‹ im technisierten Zeugungsvorgang mittels DI, steht möglicherweise in stärkerer Kontinuität zu den kulturellen Deutungen des NS-Zeit, als manche Verfechter des Rechts auf Kenntnis der eigenen Herkunft wahrhaben wollen (vgl. Bernard 2014: 242ff.).
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duktionsmedizinische Praxen, die sich auf die Durchführung donogener Inseminationen spezialisierten. Nach Schätzungen leben derzeit in Deutschland etwa 100.000 Kinder und (junge) Erwachsene, die durch eine Fremdsamenspende gezeugt worden sind (Funcke 2013: 413). Während in den 1990er Jahren jährlich etwa 1.500 bis 2.000 donogene Inseminationen vorgenommen wurden, ist diese Zahl inzwischen zurückgegangen, da seitdem mit der Intracytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) eine reproduktionsmedizinische Technologie zur Verfügung steht, die vielen heterosexuellen Paaren trotz Fruchtbarkeitsstörungen des Mannes zu einem ›genetisch eigenen‹ Kind verhelfen kann. Teilweise ausgeglichen wird dieser Rückgang dadurch, dass zunehmend lesbische Paare auf die DI zurückgreifen, um auf diese Weise ein Kind zu bekommen (vgl. dazu Funcke/Thorn 2010). Geschätzt wird, dass derzeit in Deutschland pro Jahr etwa 1.000 bis 1.200 Kinder mit einer Samenspende gezeugt werden; dies entspricht etwa 0,2 Prozent aller Geburten (Funcke 2013: 413). In den ersten Jahrzehnten der Nutzung dieser reproduktionsmedizinischen Technologie war die Anonymität des Samenspenders trotz aller Kritik faktisch unangefochten, da sie, unter anderem im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der Spendebereitschaft, als ein unverzichtbares praktisches Erfordernis des Verfahrens angesehen wurde. Dies galt ebenso für das Verschweigen der besonderen Art der Zeugung gegenüber dem betroffenen Kind und dem sozialen Umfeld der Familie. Dahinter stand sicherlich auch das Bemühen des jeweiligen Elternpaares, wie eine ganz »normale« Familie wahrgenommen zu werden und die familiäre Rolle des »sozialen« Vaters vor Infragestellung zu sichern. Zugleich waren Verschweigen und Verheimlichung häufig aber auch eine Reaktion auf die erwähnte Stigmatisierung und Tabuisierung der DI in weiten Teilen der Öffentlichkeit. Im gegenwärtigen Diskurs wird zwar immer wieder suggeriert, die Praxis der Anonymisierung und Geheimhaltung diene in erster Linie – und auf Kosten der betroffenen Kinder – den »egoistischen« Interessen des Elternpaares und den kommerziellen Zielen der Reproduktionsmediziner. Die Anonymität schützte in zweifacher Hinsicht aber auch den Lebensbereich und die Interessen des Samenspenders: Zum einen wurde er vor möglichen finanziellen Unterhaltsansprüchen der mit seinem Samen gezeugten Kinder bewahrt – Ansprüchen, die in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund einer weiterhin unklaren Rechtslage noch immer nicht gänzlich ausgeschlossen sind (vgl. AKDI 2015). Zum anderen kann Anonymität die Spender vor einer von ihrer Seite vermutlich nicht immer erwünschten Kontaktaufnahme durch ihre biologischen ›Nachkommen‹ schützen. Wenn die mit ihrem Samen gezeugten Kinder älter und volljährig werden, haben die Samenspender häufig selbst eine Familie und eigene Kinder; sie sind somit in einer gänzlich anderen Lebenssituation als zum Zeitpunkt der Spende,
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zumeist im Alter von ungefähr 20 Jahren. Daher sind sicherlich nicht alle früheren Samenspender (oder ihre aktuellen Partnerinnen oder Partner) erfreut, wenn die ›Spenderkinder‹ Kontakt zu ihnen und unter Umständen auch zu ihren neu gefundenen vermeintlichen ›Halbgeschwistern‹ suchen. Dies gilt besonders dann, wenn mit dem Samen eines Spenders nicht nur ein oder zwei, sondern möglicherweise Dutzende von Kindern gezeugt worden sind.16 »Welche Konsequenzen«, so fragt Andreas Bernard mit Recht (2014: 155), »hat eine solche Nachricht für die Familie, die der Mann inzwischen vielleicht selbst gegründet hat?« Ungeachtet solcher Schutzwirkungen ist die Praxis der anonymen Samenspende in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland und einer Reihe anderer Länder immer stärker unter Druck geraten, als ethisch fragwürdig und rechtlich unzulässig eingestuft oder sogar explizit verboten worden.17 Dabei berufen sich die Kritiker in erster Linie auf das Recht der per Samenspende gezeugten Kinder, ihre biologische Herkunft zu kennen, das durch die Anonymität des Spenders verletzt werde. Zugleich wird es zunehmend als moralisch zweifelhaftes, unvertretbares (wenngleich rechtlich in der Regel zulässiges) Verhalten der Eltern bewertet, wenn diese ihrem Kind verschweigen, dass es durch eine Samenspende gezeugt worden ist. Neben eher psychologisch motivierten Einwänden, etwa dass ›Familiengeheimnisse‹ in der Regel negative Folgen zeitigten, und pragmatischen Überlegungen, dass das Geheimnis absichtlich oder unabsichtlich durch eingeweihte Dritte gelüftet werden könnte, bildet auch hier die Verletzung des Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung den zentralen Einwand. Die tatsächliche soziale Praxis in den Inseminationsfamilien scheint jedoch weiterhin überwiegend auf das Verschweigen der Zeugungsart zu setzen. Dorett
16 Vor allem in den USA ist dies ohne weiteres möglich, da dort kein verbindlicher Grenzwert für die Zahl der Geburten existiert, die aus den Proben eines Spenders hervorgehen dürfen (Bernard 2014: 154). Für Deutschland gibt der »Arbeitskreis Donogene Insemination« (AKDI) zwar einen Richtwert von 15 Geburten an, doch da die Spender immer nur in einer Samenbank erfasst werden, könnte diese Vorgabe leicht dadurch unterlaufen werden, dass ein Mann bei mehreren Stellen spendet (Bernard 2014: 518, Anm. 63). 17 Die entsprechenden rechtlichen Regelungen sind international betrachtet jedoch weiterhin uneinheitlich. Zwar ist die Praxis der anonymen Samenspende inzwischen in zahlreichen europäischen Ländern (etwa in Schweden, Norwegen und Österreich) nicht mehr zulässig, in anderen, wie Spanien, Dänemark und vielen osteuropäischen Staaten, ist sie jedoch nach wie vor erlaubt und üblich (vgl. Thorn 2011: 25ff.).
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Funcke (2013: 419) erwähnt Schätzungen, wonach in Deutschland insgesamt nur etwa jedes zehnte ›Spenderkind‹ von seiner Herkunft wisse (vgl. auch Bernard 2014: 95ff); ähnlich niedrige Aufklärungsraten scheinen selbst für Schweden zu gelten (Katzorke 2008: 99), obwohl das Land als weltweit erstes schon 1985 den durch Samenspende gezeugten Personen ein verbindliches Auskunftsrecht über den Spender einräumte (Thorn 2011: 25f.). Bemerkenswerterweise hat Thorn zufolge (ebd: 26) in Schweden noch kein Inseminationskind, also auch keines von denen, die von ihrer Zeugungsart wissen, Einsicht in die Spenderdaten verlangt – was die These, der Wunsch nach Kenntnis der biologischen Abstammung entspringe einem tiefsitzenden anthropologischen Bedürfnis, erheblich in Zweifel rückt. Als Grund für die niedrigen Aufklärungsraten wie auch für das überraschend geringe Interesse der schwedischen ›Spenderkinder‹ an Wissen über ihre biologische Abstammung nennt Thorn (ebd.), dass in Schweden »das medizinische Personal der elterlichen Aufklärung der Kinder noch immer reserviert gegenübersteht«. Müsste man sich dann aber nicht umgekehrt auch die Frage stellen, inwieweit der vermeintlich ›natürliche‹ Wunsch, die eigene Herkunft zu kennen, seinerseits durch wissenschaftliche Diskurse und mediale Dramatisierungen ausgelöst und geprägt wird? In weiten Teilen des wissenschaftlichen und medialen Diskurses wird das Verschweigen der Zeugungsart gegenüber den betroffenen Kindern mit stark wertenden und abwertenden Begriffen wie »Lüge« und »Täuschung« belegt, die ihr moralisches Gewicht sowohl aus der Unterstellung fragwürdiger Motive des Elternpaares als auch aus der überhöhten Bedeutung gewinnen, die der (Kenntnis der) eigenen biologischen Herkunft für die Begründung individueller Identität zugeschrieben wird. Würde das Wissen um die eigene biologische Herkunft nicht in essentialistischer Weise als grundlegende Bedingung persönlicher Identität begriffen, müssten auch die moralischen Urteile über das Verschweigen der Zeugung durch eine Samenspende wesentlich zurückhaltender ausfallen. Außerdem muss diese Geheimhaltung durchaus nicht immer durch das ›selbstsüchtige‹ Bestreben der sozialen Eltern eines Spendersamen-Kindes motiviert sein, die »Fiktion« (Bernard 2014: 95ff.) einer normalen Familie aufrechtzuerhalten und gegen das Eindringen des ›fremden‹ Samenspenders in die familiäre Konstellation zu verteidigen.18 Warum sollte hinter dem Verschweigen nicht auch die Be-
18 Auffällig ist eine Tendenz in der medialen wie auch der wissenschaftlichen Diskussion zur Samenspende, allen an der Zeugung durch DI Beteiligten (außer den ›unschuldigen‹ Kindern) dubiose Motive und eigennützige Interessen zu unterstellen. Dies gilt besonders für die Reproduktionsmediziner und die Samenspender, in abgeschwächter Form auch für die sozialen Eltern. Den Reproduktionsmedizinern werden ausschließ-
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fürchtung stehen, das Kind könne durch die ›Enthüllung‹ seiner angeblich ›wahren‹ Herkunft in emotionale Konflikte geraten und in seiner individuellen Identität erschüttert werden, zumal ein möglicherweise entstehender Kontakt zu seinem biologischen Vater‹ ja keineswegs zwangsläufig positive Folgen für das Kind haben muss? Überdies kann, zumindest in Deutschland, die rechtliche Überbewertung der biologischen Herkunft nach wie vor problematische, mitunter sogar ans Absurde grenzende Konsequenzen haben. Hierzu gehört der Umstand, dass zwar nicht der Samenspender, wohl aber das per Samenspende gezeugte Kind mit Erreichen der Volljährigkeit die Möglichkeit hat, die Vaterschaft seines sozialen Vaters anzufechten und statt dessen die des Samenspenders feststellen zu lassen, der damit rechtlich zum Vater des Kindes würde (obwohl er in der Regel mit dessen Mutter nie irgendeine Art von Kontakt hatte). Auch wenn nach Andreas Bernard (2014: 93) ein derartiger Fall bisher in Deutschland noch nicht vorgekommen ist, kann dies für die Zukunft keinesfalls ausgeschlossen werden, zumal wenn immer mehr Kinder die Identität ›ihres‹ Samenspenders kennen. Rechtlich wird auf diese Weise der technisch vermittelten Übertragung von ›genetischer Information‹ größeres Gewicht verliehen als einer mindestens 18 Jahre bestehenden, wie auch immer konfliktreichen sozialen Beziehung zwischen dem Kind, seinem sozialen Vater und seiner Mutter. Eine nicht weniger befremdliche Überbewertung des biologischen Zeugungsvorgangs spricht auch aus einem Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm vom Mai 2014, worin einem Samenspender grundsätzlich ein Rechtsanspruch auf Information durch die sozialen Eltern (im vorliegenden Fall eine Lebensgemeinschaft zweier Frauen) eines mit seinem Samen gezeugten Kindes zuerkannt wird. Nach Ansicht des 13. Senats für Familiensachen des OLG sei die (biologische) Mutter des Kindes verpflichtet, dem Samenspender Auskunft über die persönlichen Verhältnisse der – so wörtlich – »gemeinsamen
lich kommerzielle Handlungsmotive zugeschrieben, so dass auch deren zumindest teilweise bedenkenswerte Plädoyers für Anonymität und Verschweigen (vgl. Katzorke 2008: 100f.) zumeist als rein interessegeleitet abgewertet werden. Auch die Samenspender werden, möglicherweise aufgrund der Tatsache, dass sie in der Regel für ihre Aktivität eine (relativ geringe) Vergütung erhalten, anscheinend als moralisch so stark diskreditiert angesehen, dass ihre Interessen als unerheblich übergangen werden können. Gelegentlich entsteht so der Eindruck, ein offenbar fortbestehendes Unbehagen an der ›Unnatürlichkeit‹ der DI werde auf die Samenspender und Reproduktionsmediziner projiziert, wohingegen die so gezeugten Kinder als schutzbedürftige Opfer einer rein kommerziellen Transaktion und eines ›kalten‹ technischen Vorgangs erscheinen – dem sie allerdings ihr Leben verdanken.
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Tochter« zu geben, da der Mann hieran ein berechtigtes Interesse habe und die Auskunftserteilung dem Kindeswohl nicht widerspreche (OLG Hamm 2014). An diesem Rechtsanspruch des Samenspenders ändere selbst der Umstand nichts, dass der Mann erwiesenermaßen die beiden Frauen, wie auch »andere Mütter seiner Kinder«, belästigt und dabei »vulgäre und die Grenze einer Strafbarkeit überschreitende beleidigende Äußerungen« getätigt habe (ebd.). An seine Grenzen stößt der Versuch, die Folgen der Zeugung durch donogene Samenspende in ein an biologischen Abstammungsverhältnissen orientiertes Familienmodell zu re-integrieren, auch bei der bereits erwähnten Problematik der sogenannten ›Halbgeschwister‹ oder »donor siblings«, die mit Samen desselben Mannes gezeugt worden sind. Initiativen wie das »Donor Sibling Registry« in den USA oder ähnliche Aktivitäten des deutschen Selbsthilfe-Vereins »spenderkinder.de« verfolgen das Ziel, möglichst viele dieser ›Halbgeschwister‹ zu erfassen und gegebenenfalls auch miteinander in Kontakt zu bringen (Bernard 2014: 144ff.), was häufig von enormer medialer Aufmerksamkeit begleitet wird und sich in »sentimentale(n) Reportagen im Fernsehen oder in Zeitschriften« niederschlägt (ebd.: 151). Doch was, wenn mit dem Samen ein und desselben Spenders gleich mehrere Dutzend Kinder gezeugt worden sind, die in völlig unterschiedlichen sozialen und familiären Kontexten aufwachsen? Lässt sich dann noch in sinnvoller Weise von (Halb-)Geschwistern sprechen, und können ›geschwisterliche‹ Beziehungen zu zehn, 20 oder noch mehr Kindern aufgebaut und aufrechterhalten werden? Was bedeutet es für das Selbstbild und die Identitätsbildung von Kindern, wenn sie erfahren, womöglich mehr als hundert ›Halbgeschwister‹ zu haben (ebd.: 155)? Andreas Bernard spricht in diesem Zusammenhang von neuen Formen einer »Phantomverwandtschaft« und hält es für eines der erstaunlichsten Phänomene der gegenwärtigen Reproduktionsmedizin, dass viele ›Spenderkinder‹ und ihre sozialen Eltern gleichwohl eine Sehnsucht nach solchen Verbindungen zu haben scheinen (ebd.: 156). Dennoch liegt hierin nicht nur ein rein quantitatives Problem der zu großen Zahl von ›Halbgeschwistern‹; zu beobachten ist darüber hinaus eine Tendenz zur Sinnentleerung des Begriffs »Geschwister« als einer spezifischen Form und sozialen Erfahrung von Verwandtschaft. Die donor siblings haben keinen sozial präsenten, die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen beeinflussenden Elternteil gemeinsam, und auch die Familien, in denen sie aufwachsen, stehen bis zu einem entsprechenden organisierten Treffen in keinerlei Kontakt miteinander. Aus solchen Treffen der ›Halbgeschwister‹ und ihrer sozialen Eltern mögen Bekanntschaften oder sogar enge Freundschaften entstehen, sei es zwischen den Erwachsenen oder den Kindern; doch daraus resultieren keine Geschwisterbeziehungen, wenn man darunter Beziehungen versteht, die auf der geteilten ›geschwisterlichen‹ Erfahrung beru-
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hen, in der gleichen Familie aufzuwachsen oder zumindest in familiären Kontexten, die sich in der Person eines gemeinsamen Elternteils berühren und überschneiden. Insofern trifft Bernards Vermutung (ebd.: 151), durch reproduktionsmedizinische Praktiken werde das Konzept der Familie nicht zerrüttet, sondern sogar gestärkt, auf die herrschenden Praktiken und Diskurse rund um die donogene Insemination nur vordergründig zu. Tatsächlich wird das Verständnis von Familie als einer auf sozialen Beziehungen wie intergenerationeller Verantwortung, Fürsorge und Vertrauen beruhenden Lebensform (vgl. Thorn 2014: 77) in seinem Bedeutungsgehalt und seiner normativen Relevanz geschwächt, indem es re-biologisiert und durch »Phantomverwandtschaften« überfrachtet und ausgehöhlt wird. Es spricht vieles für die Vermutung von Petra Thorn (2011: 40), dass gerade die medizinisch-technische Unkompliziertheit der Samenübertragung wesentlich dazu beigetragen hat, die soziale, ethische und rechtliche Komplexität der Zeugung und Familiengründung durch donogene Insemination zu unterschätzen. Zu bezweifeln ist allerdings, ob man dieser Komplexität tatsächlich gerecht wird durch die seit einigen Jahren dominierende Fixierung auf des Recht des Kindes, seine biologische Herkunft zu kennen, sowie durch die faktische Unterordnung aller anderen Rechtspositionen und Schutzinteressen (vor allem der Eltern des Kindes sowie des Samenspenders) unter diesen einen Rechts- und Wissensanspruch. Auf einige irritierende Implikationen und Konsequenzen dieser Überbewertung der biologischen Herkunft habe ich oben bereits hingewiesen. Aus dieser Kritik folgt gleichwohl nicht, dass die Unkenntnis der eigenen biologischen Herkunft oder des Umstands, mittels einer Samenspende gezeugt worden zu sein, einen normativen oder emanzipatorischen Eigenwert besitzen würde. Dennoch sollte die Möglichkeit anerkannt werden, dass Nichtwissen, Anonymität und Verschweigen in bestimmten Situationen und Kontexten eine positive Rolle auch im Interesse der betroffenen Kinder und der familiären Konstellation, in der sie leben, spielen können. Und falls es tatsächlich darum gehen soll, die Person des Samenspenders in einer differenzierten und distanzierten Form in die Beziehungsstruktur der Inseminationsfamilie einzubeziehen (Thorn 2014: 77), das heißt nicht als Konkurrenten des sozialen Vaters (oder gar als den ›wahren‹ Vater), dann müsste jegliche Überhöhung des Wissens um die biologische Herkunft zur »zentralen Wahrheit des Lebens« (Dorett Funcke) und zur vermeintlich entscheidenden Quelle von Identität und Persönlichkeit unterlassen werden. Dies gilt umso mehr, wenn ein weitergehendes gesellschaftliches Ziel darin bestehen würde, die nach wie vor bestehende Benachteiligung solcher Lebensformen, die ›nur‹ auf sozialen Beziehungen der Fürsorge und Verantwortung beruhen, gegenüber biologischen Abstammungsverhältnissen und den vorgegebenen Mus-
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tern heterosexueller Reproduktion abzubauen (vgl. Knecht 2003: 66). Dann würde vielleicht sogar das Nichtwissen um die eigene biologische Abstammung den ihm zugeschriebenen Schrecken einer existentiellen Leere, eines Persönlichkeitsverlusts und einer blockierten Selbstfindung verlieren.
5. AUSBLICK : F AMILIE UND V ERWANDTSCHAFT JENSEITS DER B IOLOGIE ? Scheinbar gegenläufig zu der dem vorliegenden Band zugrunde liegenden These von einem ›Nutzen des Nichtwissens‹ werden in der neueren deutschen und teilweise auch internationalen Debatte um anonyme Geburt und anonyme Samenspende vor allem die ›Nachteile‹ des Nichtwissens hervorgehoben: Praktiken des Anonymisierens, der Geheimhaltung, des Verschweigens werden unter Hinweis auf ihre negativen Folgen vor allem für die betroffenen Kinder delegitimiert, als moralisch unverantwortbar und/oder rechtswidrig abgelehnt. Doch die tatsächliche soziale Praxis sowohl bei anonymer Geburt und Kindesabgabe als auch in vielen Inseminationsfamilien folgt diesem Verdikt bisher offenbar nur bedingt. Darüber hinaus fällt auch die sozialwissenschaftliche Analyse und normative Bewertung der Implikationen von Wissen und Nichtwissen in diesen Kontexten bei weitem nicht so eindeutig aus wie der Mainstream des aktuellen Diskurses suggeriert. Die Abwertung von Nichtwissen und Anonymität resultiert, wie gesehen, fast ausschließlich aus der fragwürdigen Überhöhung eines spezifischen Wissens und Wissensanspruchs, nämlich des Rechts auf Kenntnis der eigenen biologischen Herkunft. Doch ob anonyme Geburt und »Babyklappe« nicht gelegentlich doch das Leben von Neugeborenen retten können und ob es nicht manchmal dem Kindeswohl dienen könnte, wenn die Kinder nicht wissen, dass die Eltern, mit denen sie aufwachsen, nicht ihre biologischen Eltern sind, ist alles andere als widerlegt. Die Überbetonung der Kenntnis der eigenen Herkunft mit kritischer Distanz zu betrachten, bedeutet nicht, den Wunsch von ›Spenderkindern‹ oder anonym geborenen Kindern nach Wissen über ihre biologischen Eltern als irrelevant oder schädlich abzuwerten. Ebenso wenig geht es darum, betroffenen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, die hoffen, durch dieses Wissen eine gleichsam ›gefühlte‹ Lücke in ihrer individuellen Identität schließen zu können, ein falsches Verständnis von Identität oder von Genetik vorzuhalten. Die Kritik richtet sich vielmehr gegen die solchen Erwartungen zugrunde liegenden und sie teilweise erst erzeugenden gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bewertungen sowie gegen deren rechtliche Festschreibung. Die zentrale Rolle, die der biologischen
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Abstammung in wissenschaftlichen, rechtlichen und medialen Diskursen zugewiesen wird, revitalisiert und etabliert zum einen eine zweifelhafte Auffassung, wonach individuelle Identität etwas genetisch weitgehend Vorgegebenes, Unveränderbares, in sich Kohärentes und durch empirisches, wissenschaftliches Wissen Erschließbares darstellt.19 Zum anderen erschwert und blockiert die Fixierung auf Abstammungsbeziehungen ein angemessenes und reflektiertes gesellschaftliches Verständnis von und Verhältnis zu den gleichermaßen sozial wie biotechnologisch induzierten Veränderungen von Familie, Elternschaft und Vaterschaft in gleichgeschlechtlichen Lebensformen, Patchwork-, Adoptiv- oder Inseminationsfamilien. Man sollte keinesfalls der zweifelhaften Hoffnung aufsitzen, die offenbar vielfach als problematisch empfundenen Implikationen reproduktionsmedizinischer Technologien und Praktiken (von der Samenspende bis zur Leihmutterschaft) durch die Rückbindung an ein biologisches Modell der identitätsstiftenden Herkunft gleichsam ›eindämmen‹ zu können. Man muss diese Reproduktionstechnologien keineswegs uneingeschränkt gutheißen, und kann doch anerkennen, dass sie ebenso wie die erwähnten sozialen Prozesse dazu beitragen, Familie und Elternschaft aus biologischen, heterosexuellen Normen und Strukturen herauszulösen und sie als primär soziale Beziehungen zu gestalten, die mit ›natürlichen‹ Bindungen einhergehen können, aber keineswegs müssen – und die nicht per se ›besser‹ gelingen, wenn sie biologisch begründet sind. Vor diesem Hintergrund könnten sich zukünftig soziale und kulturelle Horizonte eröffnen für ein neues Verständnis von intimen, solidarischen menschlichen Beziehungen jenseits der Biologie, wie sie die feministische Wissenschaftsforscherin Donna Haraway entwirft – Bindungen, die zugleich ›mehr‹ und ›weniger‹ sind als tradierte Formen durch Herkunft und ›Blut‹ begründeter Verwandtschaft. Sie habe die soziale Bindung durch Verwandtschaft und »die Familie« gründlich satt, schreibt Haraway (1997: 265). Stattdessen sehne sie sich nach »models of solidarity and human unity and difference rooted in friendship, work, partially shared purposes, intractable collective pain, inescapable mortality, and persistent hope. It is time to theorize an ›unfamiliar‹ unconscious, a different primal scene, where everything does not stem from the dramas of identity and reproduction. Ties through blood – includ-
19 Zu Recht befürchten daher Anders Nordgren und Eric Juengst (2009: 165ff.) in ihrer Analyse der essentialistischen Rhetorik, mit der genetische Abstammungstests im Internet angeboten werden, dass dadurch die subjektiven Identitätskonstruktionen und -erfahrungen der Nutzer solcher Tests eher verzerrt und naturalisiert als aufgeklärt und bereichert werden.
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ing blood recast in the coin of genes and information – have been bloody enough already. I believe that there will be no racial or sexual peace, no livable nature, until we learn to produce humanity through something more and less than kinship.«
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Reisen zur Hitze der Erde Mit Jules Verne auf dem Weg zu einer Nichtwissenssoziologie des geothermischen Untergrunds M ATTHIAS G ROSS
1. E INLEITUNG Um unvorhergesehenen Ereignissen im Alltag erfolgreich begegnen zu können, greifen Menschen auf einen kulturellen Vorrat an Erfahrungen zurück. Dazu gehört an zentraler Stelle der erfolgreiche Umgang mit dem, was man nicht weiß, von dem man jedoch weiß, dass man dies tut. Ich stütze mich hier auf den Philosophen und soziologischen Klassiker Georg Simmel (1858–1918), in dessen Tradition sich Nichtwissen auf Wissen bezieht, das man (noch) nicht haben kann oder darf, dessen Bezugspunkt jedoch formuliert werden kann.1 So wäre Nichtwissen ein sich ständig in Bewegung befindendes Gegenstück zu Wissen. Dieses Gegenstück weist darauf hin, dass mehr oder weniger präzise Fragen über das, was nicht gewusst wird, formuliert werden können. Nicht-
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Simmel gilt heute als Klassiker der Soziologie des Nichtwissens (vgl. Groß 2014: 4769). Bereits 1929 hatte Wilhelm Stok eine erste von Simmel inspirierte Monographie zur Psychologie des Geheimnisses vorgelegt. Seitdem wurde das Thema im englischsprachigen Raum zwar immer wieder aufgegriffen (vgl. Hawthorn 1956, Moore/Tumin 1949, Schneider 1962, Erickson 1981), aber erst mit Heinrich Popitz‹ (1968) Essay zur Präventivwirkung des Nichtwissens und insbesondere mit Burkard Sievers (1974) wurde das Thema in der deutschsprachigen Soziologie wieder etwas mehr ins Blickfeld gerückt. Siehe weiterführend auch die Monographien von Schirrmeister (2004) und Wehling (2006).
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wissen kann damit strategisch »nützlich« sein. Nach Willem Vanderburg ist Nichtwissen in der Wissenschaft dann nützlich »(»useful«), wenn »an awareness of its existence has positive consequences, including a sense of the limitations of a specialty and the motivation to engage in ›conversations‹ »wherever possible (Vanderburg 2000: 91). Dies eröffnet auch Verbindungen zu Harry Collins’ (2010: 91ff.) Kategorie des relationalen impliziten Wissens (relational tacit knowledge), da es möglich ist, mit sozialwissenschaftlicher Analyse diese Form von Wissen über das Ungewusste und den oft nicht explizit gemachten Umgang damit sichtbar zu machen. Wenn jedoch mehr Wissen gleichzeitig immer Nichtwissen mit sich bringt, gewinnt die Frage an Bedeutung, ob und wie Entscheidungen auf Grundlage von zunehmendem Nichtwissen getroffen werden können, wenn Überraschungen zu erwarten sind, und wie solche Entscheidungen legitimiert werden. Dieser entscheidungsbezogene Umgang mit Nichtwissen soll im Folgenden an einem aktuellen Forschungs- und Anwendungsfeld der Energiewende verdeutlicht werden: der Gewinnung von Geothermie, der Wärme und Energie aus dem Erdinneren. Geothermie, von griechisch »geo« (Erde) und »therme« (Wärme), wird nach VDI-Richtlinie 4640 folgendermaßen definiert: »Geothermische Energie ist die in Form von Wärme gespeicherte Energie unterhalb der festen Oberfläche der Erde, Synonym: Erdwärme« (siehe: www.vdi.de). Diese Definition scheint einleuchtend, birgt aber, wie weiter unten deutlich werden soll, auch Probleme.
2. L ITERARISCHE F IKTIONEN
ALS KODIFIZIERTE KULTURELLE ANNAHMEN
Am Beispiel der Gewinnung von Erdwärme oder geothermischer Energie soll im Folgenden die Rolle von Nichtwissen als produktive Ressource im Mittelpunkt stehen. Wie aber kommuniziert, illustriert und behandelt man das erwartbare Nichtwissen über das, was sich im Untergrund der Erde abspielt? Die potentielle Nützlichkeit dieses Nichtwissens wird im vorliegenden Beitrag illustriert durch epistemologisch vergleichbare Vorstellungen der Romanfiguren aus Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde (französisches Original 1864, hier zitierte deutsche Ausgabe von 2010). Solche Vorstellungen aus einem literarischen Text kann man, in den Worten von Eva Illouz (2011: 46), als »kodifizierte kulturelle Annahmen« herausfiltern, die helfen, bestimmte Denkmodelle und Wissenschaftsstile zu rekonstruieren. Anhand einiger aktueller Problemlagen bei der Gewinnung geothermischer Energie soll gezeigt werden, wie manche Vor-
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stellungen der Akteure in Vernes Science Fiction-Roman aus dem 19. Jahrhundert sich auch in den technischen Strategien der Ingenieure und Wissenschaftler des 21. Jahrhunderts wiederfinden. Somit steht der vorliegende Aufsatz in der Tradition von Arbeiten, die Literatur nutzen, um Beziehungen zwischen der heutigen Gesellschaft und der natürlichen – hier: geologischen – Umwelt zu erläutern (vgl. aus unterschiedlichen Perspektiven z.B. Bryson 2002, Moore 2014, Stableford 2005). Darüber hinausgehend skizziert dieser Beitrag, wie die für die Gewinnung geothermischer Energie nötige Vorstellungskraft durch die Charakterisierung der Personen aus Vernes Roman wie auch ihrer Strategien, in den Untergrund vorzudringen, geschärft werden kann. Vernes literarische Beschreibungen werden somit nicht als historisch akkurate Aussagen über den geologischen Untergrund verstanden;2 vielmehr werden die im Roman geschilderten Strategien im Umgang mit Unsicherheit und Nichtwissen als Quellen kultureller Annahmen über das unbekannte Innere der Erde genutzt, die sich typologisch auch heute noch in Selbstbeschreibungen von Ingenieuren und Wissenschaftlern finden lassen. Literarische Fiktionen über den geologischen Untergrund können somit als Vorlage für umweltwissenschaftliche Vorstellungen brauchbar werden. Was Vernes Roman für die Geothermie-Diskussion im 21. Jahrhundert interessant macht, ist die Beobachtung, dass zur Zeit der Erstveröffentlichung im Jahre 1864 das Wissen über die »Innenseite« der Erde in der Öffentlichkeit oft als mysteriös betrachtet wurde und die wissenschaftlichen Interpretationen über die Beschaffenheit des geologischen Untergrundes noch ganz am Anfang standen (vgl. Greene 1983, Hallam 1992, Lesser 1987). Vergleicht man diese Zeit mit der heutigen, in der wiederum enorme Wissenslücken über die Besonderheit und die Möglichkeiten des Vordringens in den Untergrund offensichtlich werden, so können die kulturellen Ähnlichkeiten zwischen den Figuren in Vernes Roman und heutigen explorativen Vorgehensweisen bei der Geothermie-Gewinnung Aspekte der Energiewende sichtbar machen, die bis dato implizit geblieben sind. Kurzum, Vernes Reise von 1864 erscheint hilfreich, weil in ihr Vorstellungen von Forschung und wissenschaftlichem Fortschritt virulent sind, die bestimmte Regeln und Rituale – und vielleicht sogar langlebige »kulturelle Annahmen« – offen legen, die sich in ähnlicher Weise auch heute in Strategien der geothermischen Energiegewinnung finden lassen und zu Mythenbildungen und oft auch (verständlichen) Widerständen in der Be-
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Tatsächlich lagen Vernes‹ geologische Annahmen in seinem Roman bereits zur Zeit der Abfassung mehrere Jahrzehnte hinter dem Stand des zeitgenössischen Wissens zurück (vgl. Lesser 1987).
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völkerung führen – man denke z.B. an das Fracking oder Carbon Capture and Storage (CCS) (vgl. Markusson et al. 2012). Ein solcher Zugang zur Analyse aktueller Themenfelder durch Literatur hat im hier vorliegenden Falle eine weitere Komponente, die sich aus David Edgertons These ergibt, die Bedeutung alter Technologien in neuen Zusammenhängen sei viel größer für den sozialen Wandel als die Entwicklung einer neuen Technologie (vgl. Edgerton 2007). Folgt man dieser Überlegung, kann man den in meinem Beitrag hergestellten Zusammenhang als Hinweis darauf auffassen, dass kulturelle Annahmen und Denkstile (hier: der strategische Umgang mit Nichtwissen) als Bestandteil älterer Kulturtechniken zu verstehen sind, die tatsächlich zentraler und erklärungsstärker zu sein scheinen als die technischen Neuerungen um das Thema »Energiewende im Untergrund« suggerieren mögen. Im nächsten Schritt werde ich einige technische Entwicklungen der geothermischen Energiegewinnung vor dem Hintergrund der deutschen Politik der Energiewende diskutieren sowie die Haupthandlung von Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde als Illustrationsmaterial kurz skizzieren. Darauf aufbauend werde ich den Roman mit Blick auf die »kulturellen Annahmen« über Wissenschaft und Fortschritt untersuchen, um zu verdeutlichen, dass diese interessante epistemische Parallelen zum heutigen Umgang mit Nichtwissen aufweisen. Kontrastierend soll auch das strategische Ausblenden von Nichtwissen durch die Akteure der Technologieentwicklung diskutiert werden, eine Problematik, deren Analyse vor dem Hintergrund der bestehenden rechtlichen Regelungslücken im Bereich der Geothermie besonders wichtig für eine verantwortliche Nutzung erscheint.
3. G EOTHERMIE
ALS ERNEUERBARE
E NERGIEQUELLE
Zu den erneuerbaren Energiequellen, gelegentlich auch regenerative oder alternative Energien genannt, zählt man traditionell die Biomasse, Wasserkraft, Windkraft und Solarstrahlung, jedoch nur vereinzelt die Geothermie (vgl. Dannenberg et al. 2012, DeGunther 2009; Ehrlich 2013). Auch wenn die Geothermie in der Fachliteratur heute zunehmend zu den erneuerbaren Energiequellen gezählt wird, werden in der Öffentlichkeit die Erneuerbaren normalerweise mit Quellen, die »von oben« stammen, verbunden. Dazu gehören an erster Stelle sicher die Wind- und Sonnenenergie aber auch das Wasser (von oben aus den Bergen). Aus der Tiefe stammen Öl, Kohle und Gas, also all das was landläufig als »schlechte und schmutzige« Energien verstanden und nicht mit »sauberer« erneuerbarer Energie in Zusammenhang gebracht wird (vgl. Groß/
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Mautz 2015). Ob es tatsächlich mit der Oben-unten-Zuschreibung zusammenhängt, muss zunächst noch Spekulation bleiben, aber tatsächlich spielt in aktuellen Diskussionen zur Energiewende in Deutschland die als Wärme gespeicherte Energie unter der Erdoberfläche, relativ gesehen, eine Nebenrolle (vgl. Leucht 2014). In vielen sozialwissenschaftlichen Diskussionen taucht sie erst gar nicht auf (so etwa bei Hennicke/Welfens 2012; Urry 2013) oder wird nur am Rande eingeführt, wie bei Mazur (2013). Diese geringe Beachtung erscheint auf den ersten Blick insoweit sogar verständlich, als geothermische Energie bis vor etwa zwanzig Jahren lediglich auf den Kanten tektonischer Platten gewonnen wurde, da dort heiße Quellen leicht zugänglich waren. Doch dies ist heute anders, und auch in Deutschland ermöglichen neue Technologieentwicklungen die effiziente Nutzung der Erdwärme zur Stromerzeugung. Die aktuelle Nebenrolle der Geothermie ist aber auch deshalb erstaunlich, weil diese zu den ständig verfügbaren Energiequellen gehört und damit als grundlastfähige Energiequelle mit Kohle und Nuklearenergie konkurrenzfähig ist. Zudem steht Erdwärme nach menschlichem Ermessen unbegrenzt zur Verfügung. Viele Studien der letzten zehn Jahre zum Potential der Geothermie in Deutschland und anderen europäischen Ländern zeigen, dass die neuen technischen Möglichkeiten es theoretisch erlauben würden, bald mehr als die Hälfte der Elektrizität aus Erdwärme zu gewinnen (vgl. Paschen et. al. 2003, Schilliger 2011). Allgemein werden der Geothermie daher zumindest große Perspektiven zugesprochen (vgl. Ehrlich 2013; Rohloff/Kather 2011) und Johannes Winterhagen (2012), häufig ein kritischer Kommentator der Energiewende, bescheinigt ihr trotz aller Risiken und Wissenslücken, das Potential eines »Nachwuchsstars«. Man kann für die Randständigkeit der Geothermie sicherlich auch die Verschleierungsstrategien der traditionellen Energieanbieter (vgl. Scheer 2010) verantwortlich machen, oder sie, wie Gerhard Matzig (2011) dies medienwirksam tut, dem »Wutbürgertum« in die Schuhe schieben, das sich angeblich gegen fast jede Art von Fortschritt wendet. Es gibt aber, wie dieser Beitrag zeigen soll, einige handfeste kulturelle Hindernisse zu bewältigen, die eng mit technischen Herausforderungen verbunden sind und für die bis jetzt nur wenige und teilweise gar keine Forschungsergebnisse vorliegen. Das Nichtwissen über geothermische Energiegewinnung ist sozusagen offensichtlich, wird jedoch nicht so kommuniziert (vgl. Groß 2013, 2015). Grundsätzlich wird die Geothermie in die flache oder oberflächennahe (bis 400 m Tiefe) und die tiefe Geothermie (ab 400 m bis 5km und mehr) eingeteilt. Die flache Geothermie nutzt den Untergrund bis zu Temperaturen von 25 Grad Celsius für das Beheizen oder Kühlen von Gebäuden. Hierzu wird die Wärme aus dem Erdreich und oberflächennahem Gestein oder aus dem Grundwasser
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gewonnen. Die flache Geothermie lohnt sich meist nur zur Beheizung von Haushalten in dicht besiedelten Regionen und Städten. Die Erschließung von Erdwärme in Böden, Sedimenten und festen Gesteinen erfolgt über Erdwärmesonden und Erdwärmekollektoren (vgl. Egg/Howard 2011, Schilliger 2011). Die tiefe Geothermie kann sowohl für Heizzwecke als auch für die Stromerzeugung (ab Temperaturen von 100 Grad Celsius) genutzt werden. Die Einspeisung des erzeugten Stroms bietet sich für Nah-, aber insbesondere für Fernwärmenetze an. In der tiefen Geothermie bezeichnet man heiße und überwiegend trockene Tiefengesteine, bei denen die Wärme im Gestein gespeichert ist, als petrothermale Lagerstätten. Hydrothermale Lagerstätten hingegen stellen tiefliegende, heiße Grundwasserleiter dar. Hier ist die Wärme im Thermalwasser gespeichert. In der tiefen Geothermie sind insbesondere Tempe–raturen über 120 Grad Celsius (besser: 150 Grad Celsius, siehe unten) volkswirtschaftlich interessant. Elektrische Energie kann hier mit einem hohen Wirkungsgrad direkt über Dampfturbinen erzeugt werden (vgl. Huenges 2012, Stober/Bucher 2012). Allgemein wird der petrothermalen Energie ein riesiges Potenzial zur Energieversorgung im 21. Jahrhundert zugeschrieben, da entsprechende Lagerstätten nicht auf lokal begrenzte Thermalwasserreservoire angewiesen sind, sodass eine Erschließung relativ ortsunabhängig möglich ist. In Deutschland stellen petrothermale Lagerstätten circa 90 Prozent des gesamten geothermischen Stromerzeugungspotenzials dar.
4. N ICHTWISSEN ÜBER DIE N UTZUNG DES U NTERGRUNDES Die wissenschaftlich-technischen Herausforderungen in der Etablierung der Geothermie verdeutlichen vielleicht mehr als bei anderen alternativen Energiequellen, dass eine offene Auseinandersetzung über den Umgang mit Nichtwissen geführt werden muss. So verstanden würden sozialwissenschaftliche Fragen zur Risiko-Governance (vgl. Boholm et al. 2012, Klinke/Renn 2002, Renn 2009) eine ganz andere Dimension bekommen, denn erst durch die Geothermie gelangt das Unterirdische langsam in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und man erkennt, dass die »Governance des Untergrunds« sowohl technisch und kulturell als auch rechtlich erst am Anfang steht.3
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In deutschsprachigen Ländern fällt die Nutzung des Untergrundes grundsätzlich unter die Bestimmungen des jeweils landeseigenen Bergrechts. Vor dem Hintergrund der zweiten Ölkrise 1979 wurden bei der Erneuerung des deutschen Bundesberggesetzes
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Die Entwicklung von Untertagetechnologien für die Erkundung und Nutzung des geologischen Untergrundes spielten gegenwärtig eine zentrale Rolle. In der offiziellen Rhetorik steht die gesellschaftliche Relevanz insbesondere im Zusammenhang mit Fragen der Sicherheit bei der Erschließung und Nutzung geothermischer Energieträger im Zentrum. An diesem Punkt finden sich jedoch die ersten großen Forschungslücken. Pirmin Schilliger, der in seinem Buch eigentlich die Geothermie als Alternative zu anderen erneuerbaren Energieträgern etablieren will, macht deutlich: »Sowieso gibt es nur wenige, bereits vorliegende Tiefenbohrungen mit Daten, auf die man bei der Modellierung zurückgreifen könnte« (Schilliger 2011: 113). Allgemein ist die Datenlage für Modellierungen und Risikoabschätzungen so lückenhaft, dass es unverantwortlich wäre, hier überhaupt von Risiken zu sprechen. Rik DeGunther, ein Autor, dem man sicher keine Wissenschaftsfeindlichkeit attestieren kann, fasst den Stand der Fündigkeitsstrategien von Erdwärme wie folgt zusammen: »Locating suitable sites [for geothermal energy] is more of an art than a science« (DeGunther 2009: 214). Grundsätzlich lässt sich sagen, dass sowohl bei der oberflächennahen als auch der tiefen Geothermie die Fündigkeitsrisiken – also die Risiken bei Bohrungen, nur auf geothermische Quellen von nicht ausreichender Quantität oder Qualität zu stoßen – die größte Unsicherheit und damit ein entscheidendes Investitionshindernis bei der Nutzung dieser Energiequelle darstellt. Es fehlt nicht nur an ausreichenden Vorerkundungen lokaler Besonderheiten, die Ermittlung geothermischen Potentials beruht in vielen Fällen sogar nur auf Literaturwerten (vgl. Vienken et al. 2015). Hinzu kommen Risiken aufgrund versiegender oder erkaltender Quellen, das Problem der mangelnden Erfahrung mit dem Langzeiteinsatz der zu verwendenden Technologien sowie nahezu komplettes Nichtwissen zu den Auswirkungen der flächenhaften Nutzung. Neben den Unsicherheiten verbunden mit Wissens- und Datenlücken bei den Berechnungen der Bohrungen, bestehen hinsichtlich der technischen Grenzen weitere Forschungslücken. Bohrgarnituren in geothermischen Bohrungen (wie auch bei Gas- und Ölbohrungen) sind zur Steuerung mit Elektronik gefüllt. Über 150 Grad Celsius funktioniert diese Elektronik jedoch nicht mehr. Lukrative Erdwärmekraftwerke (tiefe Geothermie) sind in Deutschland aber erst bei Temperaturen oberhalb von 150 Grad wirtschaftlich sinnvoll (vgl. Reich 2009: 133ff.).
(BBergG) von 1980 zwar bereits die ersten Nutzungsregelungen für Erdwärme mit bedacht, die dort niedergeschriebenen Regeln entsprechen jedoch nicht dem Stand der Technik des 21. Jahrhunderts.
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In den folgenden beiden Abschnitten versuche ich, vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen und mit Hilfe einiger von Jules Verne inspirierter Rahmungen zur technischen Problematik der geothermischen Energiegewinnung historisch übergreifende Ähnlichkeiten im strategischen Umgang mit Nichtwissen herauszuarbeiten.
5. J ULES V ERNE UND DIE VERTRETBARE U NVERANTWORTLICHKEIT UNTER N ICHTWISSEN Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde gehört zu den Klassikern der frühen Science Fiction-Literatur. Das Buch wurde verschiedentlich verfilmt, die letzten Verfilmungen haben jedoch nur noch wenig mit der Originalgeschichte zu tun.4 Grundsätzlich stehen diese Filme in der langen Tradition von unterhalb der Erdoberfläche spielenden Plots. Die in Vernes Buch erzählte Geschichte beginnt mit dem Hamburger Geologen Otto Lidenbrock, der im Jahr 1863 ein Manuskript aus dem 12. Jahrhundert mit einer verschlüsselten Mitteilung eines isländischen Alchemisten findet. Lidenbrock ist davon überzeugt, dass in dieser Mitteilung eine wissenschaftliche Geheimbotschaft steckt. Sein Neffe und Assistent Axel (Ich-Erzähler des Romans) entziffert das Dokument, aus dem hervorgeht, dass man über einen isländischen Vulkan zum Mittelpunkt der Erde gelangen könne. Lidenbrock will nun dorthin reisen, und Axel begleitet ihn. In Reykjavík engagieren sie Hans als Führer. Zu dritt besteigen sie den Vulkan, klettern in den Krater und finden dort den Eingang zu einer Höhle. Von hieran ist die Reise ein einziges Durcheinander, geprägt von Zufällen, Überraschungen und wissenschaftlichen Fehlschlägen. Die drei verirren sich, kommen nach tage-
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Die bekannteste Verfilmung ist wahrscheinlich die für einen Oscar nominierte Version von 1959 mit Pat Boone als Assistent Alec McEwen (Axel bei Verne). Die zahlreichen Verfilmungen seitdem lehnten sich zumindest thematisch an Vernes Buch an (zum Überblick über alle Verfilmungen, siehe Taves 2005). Am weitesten entfernt vom Original ist hier wohl »The Core« (deutsch: Der innere Kern) aus dem Jahr 2003, in dem ein Team von Wissenschaftlern mit einem Bohrfahrzeug zum Mittelpunkt der Erde reist, um die sich nicht mehr richtig drehende Erdkugel mittels mehrerer Sprengungen wieder auf den rechten Weg zu bringen. »The Core« war Auslöser für eine breitere Diskussion darüber, inwieweit in Filmen wissenschaftliche Ergebnisse verfälscht werden dürfen, damit sie in den Plot passen – eine Diskussion die bereits über Vernes Geschichte geführt wurde. Vgl. zur fragwürdigen Wissenschaftlichkeit in Vernes Buch Lesser (1987) und Schwedt (2011).
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langen Irrfahrten wieder genau dort an, wo sie gestartet waren, und so weiter. Die wissenschaftlichen Annahmen von Lidenbrock werden ständig widerlegt, doch die Irrtümer werden von diesem oft gar nicht erkannt. Nur Axel, der IchErzähler, erkennt die Fehler, sagt meist aber nichts. Am Ende müssen sich die Reisenden den Heimweg aus dem Erdinneren freisprengen, wodurch sie ein Erdbeben auslösen. Sie gelangen dann auf einem Floß auf fließender Lava im Krater eines ausbrechenden Vulkans nördlich von Sizilien zurück auf die Erdoberfläche. Auch wenn die Reise wissenschaftlich wenig erfolgreich war, genoss Lidenbrock nach seiner Rückkehr großen Ruhm, und die Reise war »auf der ganzen Welt eine Sensation« (Verne 2010: 308). Die Unsicherheit und das fehlende Wissen der drei Forscher im Untergrund ist durchaus vergleichbar mit den lückenhaften Wissensbeständen, die heute mit Blick auf die Gewinnung von Energie aus Erdwärme vorhanden sind. Somit können uns die Strategien der drei Romanfiguren aus dem 19. Jahrhundert möglicherweise Vorlagen zur Beschreibung von geothermischer Energiegewinnung im 21. Jahrhundert liefern. Vernes Roman soll damit sowohl als ein Reservoir »archetypischer« kultureller Vorstellungen über den Untergrund der Erde (Hölle, Hitze, Dunkelheit usw.) als auch als eine Art »Blaupause« für den Umgang mit Nichtwissen in einem solchen »Milieu« genutzt werden. In gewisser Weise kann es auch als Metapher für Wissenschaft im und über den geologischen Untergrund überhaupt dienen. Wie stellen sich Vernes Romanhelden dem unumgänglichen Nichtwissen? Während des Abstiegs durch einen Schacht stehen die drei Forscher plötzlich vor einer Weggabelung, ohne zu wissen, in welche Richtung sie weiter gehen sollten. Assistent Axel schlägt nun für das weitere Vorankommen im Untergrund Folgendes vor: »Jedes Zögern vor diesem Scheideweg hätte sich sowieso endlos in die Länge gezogen, denn es gab keinen Hinweis, welchen der beiden Wege wir hätten wählen sollen; wir mussten uns völlig auf den Zufall verlassen.« (Verne 2010: 137)5 Selbstverständlich würde dieses Eingestehen von Nichtwissen im Rahmen geothermischer Bohrungen heute von offizieller Seite sicher nicht als »sich auf den Zufall verlassen« beschrieben werden. Es ist aber dennoch denkbar, dass ein hin und wieder bei einzelnen Nachjustierungen tatsächlich auf den Zufall zurückgegriffen wird, wie es Michael Sohmer (2012: 64) bei der Eruierung verschiedener Möglichkeiten zur Positionierung seismischer Messgeräte während der Bohrung beschreibt. Für den Betrachter
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An anderer Stelle heißt es bei Axel: »Sofort die Flucht zu ergreifen, wäre ein Gebot der Vorsicht, und das Selbstverständlichste dazu. Aber wir sind ja nicht hierhergekommen, um uns in Vorsicht zu üben.« (Verne 2010: 231)
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von Vernes Helden ist es aber vollkommen einsichtig, dass das Vertrauen auf den Zufall der einzig sinnvolle Weg ist, um voranzukommen. Für die Ingenieure im Bereich geothermischer Bohrungen ist dies möglicherweise ebenfalls die Normalität, sie können es sich aber nicht immer erlauben, dies so deutlich zu sagen, da es leicht als Unverantwortlichkeit betrachtet werden würde. Assistent Axel ist, in Reaktion auf einen Vorschlag Lidenbrocks, sogar noch deutlicher: »›In diese Blunderbüchse hinabzusteigen‹, dachte ich, ›wenn sie möglicherweise geladen ist und bei der geringsten Erschütterung losgehen kann, so etwas tun nur Narren‹.« (Verne 2010: 119)6 Ob dies tatsächlich nur Narren tun, kann allerdings bezweifelt werden. Eine Entscheidung dem Zufall zu überlassen, wie sie sich den drei Akteuren in Vernes Geschichte an der Weggabelung stellt, ist in bestimmten Situationen die rationalste Lösung. Jon Elster hat hierfür verschiedene Varianten des Entscheidens unter Unsicherheit vorgeschlagen. Im Fall hier handelt es sich um Unbestimmtheit (indeterminacy) innerhalb eines bestimmten Rahmens (vgl. Elster 1989: 107f.), das heißt, die Akteure erkennen, dass sie im Moment mit den Mitteln, die gerade zur Hand sind, und in der verfügbaren Zeit keine bessere Entscheidung treffen können und man nur auf den Zufall vertrauen kann. Eine solche Form der Entscheidung findet sich in den meisten Formen des Vordringens in den Untergrund, da theoretisch zwar mehr Wissen für Entscheidungen generiert werden könnte, dies aber zu lange dauern würde und Chancen auf Vorankommen verspielt würden. Das Beharren auf einer Entscheidung, die auf verlässlichem Wissen basiert, wäre damit irrational oder, wie Elster (1989) es nennt, eine Art von Hyperrationalität. Elster (1989: 17 – Hervorh. im Original) definiert Hyperrationalität als »the failure to recognize the failure of rational choice theory to yield unique prescriptions and predictions«. Handelnde, die vor Entscheidungen unter aktuell nicht auflösbarem Nichtwissen stehen, müssen damit einsehen, dass auch die Grenzen der Rationalität rational anerkannt werden müssen. Eine solche Situation in der das Nichtwissen rational anerkannt werden muss, findet sich bei den drei Akteuren in Vernes Geschichte an nahezu jeder Weggabelung, denn es scheint unter den gegebenen Bedingungen keine realistische Chance zu geben, in einem vertretbaren Zeitrahmen hinreichende Informationen zum Wählen des »richtigen« Weges zu gewinnen. Auch in heutigen geothermischen Bohrungen kann der Wissensgewinn meist nur im
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Eine Blunderbüchse ist in den Erläuterungen zur neusten deutschen Ausgabe von Reise (Verne 2010: 320) als »ein altertümliches Gewehr mit trichterförmigem Lauf« definiert.
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Anwendungskontext erarbeitet werden. Dem entspricht in Vernes Geschichte der Umstand, dass Wissenszuwachs nur durch das Voranschreiten auf dem Weg selbst möglich ist; das Wissen über die lokalen Gegebenheiten kann nicht durch Vorabuntersuchungen eingeholt werden. Sicherlich ist es denkbar, in einer solchen Situation umzukehren, um unvorhersehbare Gefährdungen zu vermeiden. Allerdings würde das im Falle Geothermie bedeuten, dass eine wichtige Chance zur Verringerung der fossilen Energieerzeugung unausgeschöpft bleiben könnte. Daher sollte das Wissen über das Nichtwissen als ausreichende Rahmenbedingung für die Entscheidung, weiter zu gehen, genutzt werden. Ganz sicher gibt es jedoch typologische Unterschiede zwischen dem Roman und heutigen Forschungsaktivitäten im Untergrund, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. Im Roman riskieren zuallererst die drei Helden ihr Leben und im Falle ihres Ablebens Trauer bei den Daheimgebliebenen. Bei geothermischer Energiegewinnung können bei Unfällen oder Erdbeben potentiell auch eine Reihe andererer Menschen außer den beteiligten Wissenschaftlern und Ingenieuren gefährdet oder geschädigt werden. Um hier legitim mit Nichtwissen begründen zu können, müsste zumindest ein Vorverständnis der möglichen Konsequenzen und der Möglichkeiten, das Nichtwissen in Wissen umzuwandeln, offengelegt werden. Der Nachweis ausreichender Forschungen zur Eliminierung von Nichtwissen im Rahmen des »jeweils Zumutbaren«, wie es juristisch heißt, ist jedoch alles andere als eine einfache Aufgabe (vgl. Hackenberg 1995). Ludger Heidbrink (2013) argumentiert für solche Fälle, dass die Verantwortung für mögliche Negativfolgen dennoch auch dort zugeschrieben werden sollte, wo die Nebenfolgen zwar aus Sicht der Akteure auf unvermeidbarem Nichtwissen resultierten, wo aber der Aufwand für hinreichenden Wissensgewinn bei Entscheidungen und Handeln trotz Nichtwissens von anderen Beobachtern für »zumutbar« gehalten wird. Im Falle der im Bereich geothermischer Bohrungen vorliegenden Nichtwissensbestände verschiebt sich, will man Heidbrink folgen, die Frage nach der Verantwortung für durch Nichtwissen entstandene Nebenfolgen auf die Umstände, unter denen das fragliche Nichtwissen zustande gekommen ist und auf die Umstände, unter denen Akteuren die Überwindung ihres Nichtwissen zuzumuten wäre. Es geht damit um Phasen zur Durchführung einer Bohrung, in denen entschieden werden muss, inwieweit das vorhandene Nichtwissen durch weitere geologische Erkundungen oder Modellierungen überhaupt verringert werden kann oder ob ausschließlich ein »learning while doing« denkbar ist. So verstanden geht es nicht um Verantwortlichkeit, sondern um »erlaubte Unverantwortlichkeit« (Heidbrink 2013: 128f.). Wie genau festgestellt werden kann, dass eine Akteursgruppe (z.B. Hydrologen oder eine Bohrfirma) genügend in Forschungen und Untersuchungen investiert hat und wann sie plausibel dargelegt
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hat, dass bestimmte Sachverhalte nicht gewusst werden konnten, kann selbstverständlich nicht nur von den beteiligten Ingenieuren entschieden werden. Es muss durch ein politisches und gesellschaftliches Übereinkommen legitimiert werden, ob man die Potenziale der Geotheormie trotz aller Wissenslücken erschließen möchte. Einfache Lösungen gibt es hierfür nicht. Entscheidungen in explizit als solchen definierten Situationen des Nichtwissens finden sich daher heute in erster Linie in Innovationsprojekten, bei denen experimentelle Praktiken im Zentrum stehen (vgl. Bleicher/Groß 2011, Groß 2014, Groß/Mautz 2015). Was der Fall Geothermie zeigt, ist jedoch dies: Akteure können offensichtlich übereinkommen, dass es aktuell nicht sinnvoll oder möglich ist, weiteres Wissen zu erarbeiten, dass das Wissen des Nichtwissens also zum verantwortungsvollen Handeln ausreichend ist. Wann und unter welchen Bedingungen sind dann Entscheidungen trotz Nichtwissen legitim?
6. AHNUNGSLOS OHNE N ICHTWISSEN : N EUGIERDE , I RRTÜMER UND NEUE P ERSPEKTIVEN In der Wissenschaftsforschung gehört es zu den Allgemeinplätzen, dass spekulative und vorläufige Aussagen als die wichtigsten Schritte im Wissenschaftsprozess betrachtet werden müssen, da sie Denkhorizonte für neues Wissen eröffnen (vgl. prominent z.B. Latour und Woolgar 1986: 75-88, aber auch bereits Fleck 1980). Dagegen kann man sagen, dass akzeptiertes Wissen sich eher in Lehrbüchern findet. In den mit Unsicherheiten beladenen Fragen zur Energiewende und insbesondere der alternativen Energiegewinnung zeigt sich jedoch die Vorläufigkeit des vorhandenen Wissens in ganz besonderer Weise. Vernes Akteure erlauben es daher, Nichtwissen und Irrtümer so zu rahmen, dass ein Umgang mit überraschenden Wendungen als Normalität beschreibbar wird. Der wissenschaftsgläubige Lidenbrock sagt dazu belehrend zu Axel: »Die Wissenschaft, mein Junge, besteht aus Irrtümern, aber aus Irrtümern, die ihre Berechtigung haben, denn sie führen Stück um Stück zur Wahrheit« (Verne 2010: 208). Allerdings nimmt es Lidenbrock mit seinen eigenen Irrtürmern selbst nicht so genau. Er lehnt z.B. die These der zentralen Hitze im Erdinneren ab. »Je tiefer ich gelange, umso größer wird meine Zuversicht. […] Ich weise die Annahme eines Zentralfeuers vollständig zurück. Und überhaupt: Wir werden ja sehen.« (Verne 2010: 128) Ein bisschen später, nachdem er eine Flüssigkeit aus einem Geysir mit 163 Grad Celsius gemessen hat, gelangt Axel aber zu einer anderen Einschätzung:
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»Also steigt dieses Wasser aus einem Glutkern nach oben. Das widerspricht entschieden den Theorien des Professors. Ich kann mir eine entsprechende Bemerkung nicht verkneifen. ›Ach was‹, gibt er mir nur zur Antwort, ›und inwiefern ist das bitte ein Beweis gegen meine Theorie‹? ›Überhaupt nicht‹, sage ich trocken und sehe ein, dass ich es mit absolutem Starrsinn zu tun habe.« (Ebd.: 234).7
Hier, wie in anderen Teilen des Romans, werden die Gewissheiten der Handelnden immer wieder in Frage gestellt, und wie auch immer ihre Thesen formuliert wurden, neue Erfahrungen und Beobachtungen widerlegen sie; wenngleich dies nicht immer sofort erkannt wird. Der hier von Axel beobachtete »Starrsinn« kann daher auch als eine frühe Formulierung von Ludwik Flecks (1980: 141) These der »Beharrungstendenz«von Denksystemen interpretiert werden, derzufolge etablierte Überzeugungsmuster in einer bestimmten Generation von Wissenschaftlern als selbstverständlich wahrgenommen werden. Obwohl der Leser des Romans oft den Eindruck bekommt, dass wissenschaftliche Gewissheiten und endgültige Antworten zum Greifen nahe sind, werden letztendlich fast keine Lösungen präsentiert. Die Odyssee der Figuren in den tiefen Untergrund wird vorangetrieben durch das Spannungsverhältnis zwischen einem grenzenlos wirkenden Glauben an die Wissenschaft und der beständigen Widerlegung von wissenschaftlichen Gewissheiten. An einer Stelle weist Lidenbrock seinen Assistenten Axel zurecht: »Genug jetzt. Wenn die Wissenschaft gesprochen hat, gilt es zu schweigen.« (Verne 2010: 108) An der nächsten Weggabelung muss er das Schweigen bereits wieder brechen. Diese Spannung wird jedoch nie als Problem kommuniziert, im Gegenteil, die Romanfiguren fühlen sich in all der Unsicherheit zumeist recht wohl (vgl. Tabelle 1) – möglichweise, weil sie sich über ihre »vertretbare Unverantwortlichkeit« im Klaren sind.
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Die Meinungsverschiedenheit zwischen Axel und Lidenbrock bezieht sich auf den englischen Chemiker Humphry Davy, der zu Beginn seiner Karriere eine eigene Theorie zu Vulkanaktivitäten entwickelt hatte, die diese auf rein chemische Reaktionen zurückführte und nicht auf die Hitze in den Tiefen der Erde. Allerdings war diese Theorie bei der Erforschung des Ausbruchs des Vesuvs zu Beginn des 19. Jahrhunderts später von Davy selbst verworfen worden (Haas 2012: 88, Knight 1992). Andere Theorien des 19. Jahrhunderts gingen davon aus, dass die Erde innen hohl sein könnte, dass die Temperatur nach innen hin abnimmt und allgemein, dass es viele verschiedene Höhlen und Gänge im Erdinneren geben könnte (vgl. Greene 1983, Dean 1992, Lesser 1987). Letztere Annahme war für Vernes Roman entscheidend.
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Tabelle 1: Aktivitäten und Qualitäten im Umgang mit Nichtwissen über den geologischen Untergrund. Die Charakterisierungen aus Vernes Roman können als Vorlage für die Beschreibung heutiger geothermischer Energiegewinnung dienen. Aktivitäten und Qualitäten
Vernes Forscher im Jahre 1863
Geothermische Energiegewinnung im 21. Jahrhundert Bohren als realexperimenteller Prozess (Hypothesenbildung als Nichtwissensspezifizierung)
Allgemeines Vorgehen
Abstieg in den Untergrund Vertrauen auf den Zufall (Elsters »indeterminacy«)
Wissen
Akzeptiertes Wissen erweist sich ständig als falsch
Wissen ist nur in Bruchstücken vorhanden (insbesondere im Bereich tiefe Geothermie)
Wissensproduktion
Angetrieben durch wissenschaftliche Neugierde
Wissensgewinn über den Untergrund wird vorangetrieben durch politischen Willen (Energiewende etc.)
Nichtwissen
Wissenslücken werden in nahezu jedem Schritt deutlich, den die Forscher unternehmen
Das Anerkennen von unerkannten Risiken und Wissenslücken scheint eher die Norm als die Ausnahme
Rolle von Technologien
Technik spielt Streiche mit den Forschern
Technik als Quelle für Überraschungen und Lernprozesse
Umgang mit Rückschlägen
Rückschläge als normaler Aspekt des Vorwärtskommens
Rückschläge als Voraussetzung für neues Wissen
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Wie gehen die Romanfiguren nun vertretbar unverantwortlich zum Beispiel mit Erdbebenrisiken um? Nach einer von den Forschern ausgelösten Explosion sagt Assistent Axel: »Trotz der Finsternis, des Lärms, der Überraschung, der Aufregung begriff ich, was geschehen war. Hinter dem gesprengten Felsen war ein Abgrund verborgen gewesen. Die Explosion hatte in diesem von Spalten zerfurchten Boden eine Art Erdbeben ausgelöst.« (Verne 2010: 208) Vernes Akteure nutzen jedoch die bedrohlichen Kräfte, die das Erdbeben ausgelöst hat, und lassen sich vom Lavastrom auf einem Floß auf die italienische Vulkaninsel Stromboli befördern und dort wieder auf die Erdoberfläche werfen. Sie nutzen sozusagen ihr Nichtwissen über die Wirkungen bedrohlicher Kräfte und entscheiden sich, die Kräfte für ihre eigenen Ziele einzusetzen. Auf dem Weg nach Stromboli ist ihr Nichtwissen besonders augenfällig. Axel sagt: »Wo sind wir? Mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit werden wir fortgerissen.« (Ebd.: 120). Grundsätzlich aber lässt Axel keinen Zweifel aufkommen, dass Nichtwissen nicht per se als negativ wahrgenommen wird, denn «Ungeduld und Neugierde trieben uns voran« (ebd.: 128). Dies gilt auch noch heute, denn wie Stuart Firestein (2012: 65) es zusammenfasst, heißt Forschung, eine schwarze Katze in einem völlig dunklen Raum zu suchen und zu finden, ohne vorher zu wissen, ob überhaupt eine Katze im Raum ist. Forscher wissen also meist nicht, was sie finden werden, und noch nicht einmal, in welcher Richtung sie forschen sollen. In diesem Sinne kann das Nichtwissen bei der Gewinnung von Energie aus Erdwärme als zentrale Triebkraft der Forschung verstanden werden. Dies ist nicht verwunderlich, denn, wie weiter oben ausgeführt, stellt die Geothermie als Teil der Energiewende ein sehr neues Forschungsfeld dar. Man findet daher, wie bei allen neuen Forschungsfeldern, in der einschlägigen Fachliteratur häufig widersprüchliche Informationen. Dies macht auch das bestehende Nichtwissen deutlich. Dieses Nichtwissen über den Untergrund kann sowohl Urängste wecken als auch eine große Faszination bewirken. Aber ohne Nichtwissen im oben eingeführten Sinne (Georg Simmel) wäre man ahnungslos.
7. Z USAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Kulturelle Vorstellungen über die Hitze im Untergrund werden geprägt von traditionellen Bildern der Hölle, der Unvorhersehbarkeit von Erdbeben und Vulkanausbrüchen, aber eben auch durch populäre Literatur wie Jules Vernes Klassiker über eine Reise ins Innere der Erde. In dieser Tradition scheint es sehr ratsam, keine schlafenden Monster in der Tiefe der Erde zu wecken. Dieser eher negative Zugang zu Dingen im Untergrund hat sicherlich auch die öffentliche
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Wahrnehmung der geothermischen Energiegewinnung beeinflusst, die bis heute im Vergleich zu anderen erneuerbaren Energiequellen eine randständige Rolle spielt. Vor dem Hintergrund unvermeidbarer Unsicherheiten und Wissenslücken in der Etablierung von alternativen Energiesystemen kann die Entwicklung von zukunftsfähigen Strategien der Erdwärmenutzung nur gelingen, wenn Nichtwissen eingestanden und offen gelegt wird, um es in einen demokratischen Diskurs einzupflegen. In diesem Zusammenhang kann Vernes Darstellung der Spannungen zwischen verschiedenen Wissensressourcen (wie an den Hauptdarstellern exemplifiziert) als aufschlussreiche Analogie zur Verdeutlichung von Vorstellungen und Entscheidungsproblemen genutzt werden, wie man sie heute auch in der Erkundung von Geothermiequellen findet (vgl. Tabelle 1). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mithilfe von Vernes fiktiven Charakteren nicht nur gezeigt werden kann, dass Entscheidungen auch und gerade dann getroffen werden müssen, wenn Nichtwissen erkannt ist. Die Bedeutung dieser Einsicht liegt insbesondere in der Tatsache, dass es ein öffentliches Übereinkommen darüber geben muss, ob die »erlaubte Unverantwortlichkeit« (Heidbrink), mit Nichtwissen umzugehen, erwünscht oder zumindest akzeptiert ist, wobei sich die Frage, ob man es wirklich nicht hätte wissen können, im Nachhinein wieder erneut stellen kann. Auf diese Weise kann jedoch bei den beteiligten Akteuren eine Sensibilisierung für das Unbekannte stattfinden, denn die Verknüpfung von Vernes Roman mit der heutigen Debatte um Geotheormie erlaubt, eine weitere Parallele zu ziehen: Genau wie bei heutigen GeothermieBohrprojekten entzieht sich die genaue Tätigkeit von Vernes Forscher-Helden dem Alltagsverständnis. Durch diese Sensibilisierung werden Überraschungen, die den Kurs der Entwicklung und Planung ändern, nicht grundsätzlich als Fehlschläge kommuniziert. Dies unterscheidet jedoch die Situation im Roman von der Welt des 21. Jahrhunderts, in der der Wissenschaft weiterhin eine Rolle als Sicherheitsgarant zugeschrieben wird, der sie nicht gerecht werden kann. Es lässt sich festhalten, dass Vernes Forscher als Prototypen im Umgang mit Nichtwissen in der Wechselwirkung zwischen Menschen und geologischem Untergrund angesehen werden können. Der konstruktive Umgang mit Nichtwissen scheint ein ehrlicherer Weg zu sein, der eine andere Sicherheitskultur skizziert, die die überhöhten Hoffnungen auf sicheres Wissen durch mehr Wissenschaft zu vermeiden sucht. Dies eröffnet die Chance für pragmatische und experimentelle Strategien, um erfolgreich mit unvermeidlichen Überraschungen umgehen zu können (vgl. Groß 2014). Oder wie es Jules Verne mit seinem Ich-Erzähler Axel ausdrückt: »Meine Augen waren auf jede Überraschung gefasst, meine Phantasie auf alles Staunenswerte« (Verne 2010: 266). In diesem Sinne lässt sich sagen, dass eine neuerliche Lektüre von Vernes Roman
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zu verstehen hilft, dass die Erwartung und Verarbeitung von Überraschungen kein Zeichen von schlechter Wissenschaft sein muss, sondern ein normaler Aspekt von Forschung ist. Sollte sich bestätigen, dass in einer sich abzeichnenden »experimentellen Gesellschaft« (Overdevest et al. 2010, Peters 1998, Groß 2014) im 21. Jahrhundert Nichtwissen in und aus der Wissenschaft offen kommuniziert und zunehmend als Entscheidungsgrundlage genutzt wird, wird man sich jedoch mit der Bedeutung des Missbrauchs von Nichtwissen in Form von »Verantwortungsabwehr« weiter auseinandersetzen müssen. Allgemein liegt der Umgang mit Nichtwissen, wie er in diesem Beitrag diskutiert wird, jedoch im Trend aktueller Diskussionen um experimentelle Methoden der Handlungskoordinierung in der Europäischen Union (vgl. Sabel/Zeitlin 2010). Grundsätzlich passt der hier skizzierte Umgang mit Nichtwissen auch zu dem von Karl-Heinz Ladeur (2006: 296) so bezeichneten Prozess der allgemeinen gesellschaftlichen Umstellung »von der Orientierung an der Erfahrung und relativ stabilen Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft auf prospektive Modelle eines Wissens« sowie hin zu »hybriden Verschleifungen und Relationierungen von Suchprozessen in Netzwerken« bezeichnet hat. In solch »experimentellen« Suchprozessen eingelagerte Entscheidungen auch mit Hilfe von Literatur aus dem 19. Jahrhundert sichtbar zu machen, hilft vielleicht ein wenig, ein Verständnis davon zu entwickeln, wie kontextbezogen neues Nichtwissen erkennbar und nutzbar gemacht werden kann.8
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8
Vielen Dank an Almut Ryssel und Peter Wehling für hilfreiche Hinweise zur Verbesserung des Beitrages. Eine frühere und kürzere Fassung dieses Beitrags ist unter dem Titel »Reise zur Hitze der Erde: Geothermie und nachhaltige Energiegewinnung« erschienen in Groß (2014).
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Kontingente Kontexte Ungewissheitsorientierungen der Erziehungswissenschaft J OCHEN K ADE
1. E INLEITUNG : B ILDUNG UND E RZIEHUNG ZWISCHEN W ISSEN UND N ICHTWISSEN Erziehung und Bildung sind soziale Praxen, die unter Bedingungen mehrfacher Ungewissheit stattfinden; so insbesondere der Ungewissheit des pädagogischen Wissens, der Ungewissheit des zu vermittelnden Wissens, der Intransparenz der zu Erziehenden, der Nichtvorhersehbarkeit, also der Ungewissheit der Folgen pädagogischen Handelns, einschließlich der nicht-intendierten und nicht-antizipierbaren Nebenfolgen, der Offenheit und damit Ungewissheit der Zukünfte. Die neuere Erziehungswissenschaft unterläuft eine traditionelle Diskursordnung, die noch durch eine unversöhnliche Dichotomie von Wissen und Nichtwissen bestimmt ist. Verstärkt noch einmal seit Beginn der 2000er Jahre hat der thematische Fokus, der im Begriff Ungewissheit kristallisiert, zunehmend deutlichere Konturen bekommen. Man kann inzwischen von seiner breiten Durchsetzung und Anerkennung in den Erziehungswissenschaften sprechen. Nichtwissen, Ungewissheit, Nichtkönnen haben ihren (theoretischen) Schrecken verloren. In Absetzung von einem ungebrochen fortschritts- und aufklärungsorientierten Typus erziehungswissenschaftlicher Reflexion spielt sich eine Normalisierung des erziehungswissenschaftlichen Umgangs mit Wissen/Nichtwissen, Gewissheit/ Ungewissheit, Können/Nichtkönnen ein. Spätestens mit dem Erscheinen des im Kontext der Modernisierung pädagogischer Felder stehenden Bandes »Ungewissheit« (Helsper et al. 2003), der schon vom Titel her programmatischen Charakter hat, ist – wie in den Sozialwissenschaften generell – ein Akzentwechsel erziehungswissenschaftlicher Reflexion hin zu einem reflektierten Umgang mit
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Nichtwissen und Ungewissheit unübersehbar. Vom verbindenden Ausgangspunkt Nichtwissen her werden Ungewissheit, Uneindeutigkeit und Unsicherheit aus unterschiedlichen Perspektiven thematisiert: aus der Perspektive pädagogischen beziehungsweise erziehungswissenschaftlichen Wissens; aus der Perspektive des Lebenslaufs als chronologisch geordneter Abfolge von Zuständen und Ereignissen, der Biographie als individuell bedeutsamer Beschreibung, Erzählung und damit subjektiver Zusammenhangsbildung von Lebenslaufereignissen (vgl. Koschorke 2012) und der Lebenswelt der Adressaten von Bildung und Erziehung; aus der Perspektive professioneller Strategien und pädagogischer Praktiken sowie aus der Perspektive unterschiedlicher institutionell-organisatorischer Arrangements. Dabei differenziert sich insgesamt ein Thematisierungsspektrum heraus, das in deutlicher Frontstellung steht sowohl zu den bildungspolitisch alimentierten Behauptungen lückenloser Gewissheit und den Erwartungen methodisch voll kontrollierter Wirkungen, wie sie das erziehungswissenschaftliche Denken von Expertenkulturen im Zusammenhang mit PISA und nachfolgenden Large-scale-Studien prägen, als auch zu meist bildungsphilosophisch eher vage begründeten Hypostasierungen von Ungewissheit und Nichtwissen. Die pädagogischen Thematisierungen von Ungewissheit und Nichtwissen sind damit zwischen zwei Polen aufgespannt: Auf der einen Seite stehen Diskurse, die die Aufmerksamkeit auf das Ungewissheitsthema richten und für seine stärkere Berücksichtigung plädieren. Sie kritisieren die Einseitigkeit des bisherigen erziehungswissenschaftlichen Diskurses und führen aus, was man Neues an Erziehung und Bildung sieht, wenn man sie aus der Perspektive von Ungewissheit und Kontingenz betrachtet. Im Lichte dieser eher hinnehmenden Ungewissheitsorientierung wird die kulturell ausgeprägte Präferenz für Wissen nicht in Frage gestellt. Auf der anderen Seite steht eine Diskussion, die bereits von der Durchsetzung des Ungewissheitsthemas ausgeht und auf dieser Grundlage weiterfragt, insbesondere danach, inwieweit sich pädagogisches Handeln als soziale »Praktik des Nichtwissens« (Baecker 2002: 134ff.) konzipieren lässt, die um die Unmöglichkeit von (vollständiger) Kontrolle und (absoluter) Sicherheit herum gebaut ist. Ins Blickfeld dieses aktiven Umgangs mit Ungewissheit geraten so neue pädagogische Arrangements, für die statt eindeutiger Orientierungen und stabiler Handlungsmuster dynamische Gemengelagen von Gewissheit und Ungewissheit, von Wissen und Nichtwissen, von Sicherheit und Unsicherheit charakteristisch sind. Gerade im massenmedialen Diskurs (vgl. am Fall von Talkshows Kade 2003) finden sich Beispiele dafür, wie man sich in Hybridbildungen medialer Pädagogik bereits auf oszillierende Formen des Umgangs mit Gewissheit und Ungewissheit des Wissens, mit Wissen und Nichtwissen einstellt. Nicht zufällig hat der Begriff des Oszillierens ebenso Konjunktur wie der des Risikos, wenn
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das Pädagogische als wesentlich fragil, fragmentarisch und flüchtig akzentuiert wird. Tendenziell verschiebt sich das erziehungswissenschaftliche Problembewusstsein damit »von (eindeutigen) Ordnungs- auf (uneindeutige) Risikodiskurse« (Bonß 1998, S. 974). Zu beobachten ist aber auch ein neues Interesse an Fragen der Synthetisierung, Restabilisierung und Restrukturierung von Erziehung und Bildung unter den Bedingungen von Erfahrungen unhintergehbarer Ungewissheit und Unsicherheit. In diesem Sinne werden etwa »Sicherheits- und Gewissheitsfiktionen«, die »Charismatisierung von Gewissheitsversprechen« (vgl. Kramer 2003) oder die in den pädagogischen Praktiken wie im pädagogischen Wissen institutionalisierten semantischen und organisatorischen Kontrollen von Ungewissheit (vgl. Rustemeyer 2003) analysiert, wie etwa Vereine (vgl. Seitter 2003), Kasuistik (vgl. Hörster 2003) oder Vertrauen (vgl. Kade/Seitter 2003). Es wird die Unumgänglichkeit routinemäßiger Reflexion, reflektierter Routine und eines allen Gewissheitsansprüchen entsagenden reflexiven Handlungswissens begründet (vgl. Helsper 2003), es wird aber auch für »eine generelle Skepsis gegenüber professionellen Vollkommenheitsansprüchen« (vgl. Nittel 2003) und überhaupt für einen »zurückhaltenderen Umgang mit Ungewissheitsmotiven« (vgl. Harney/Rahn 2003) plädiert. Solche Thematisierungen von Voraussetzungen erfolgreichen pädagogischen Handelns, die insgesamt auf Grenzen einer linear gedachten Verwissenschaftlichung der Pädagogik/Erziehungswissenschaft in der Moderne verweisen (vgl. Keiner 2003; 2005), machen zwar deutlich, dass eine aussichtsreiche Perspektive – was die Thematisierung von Nichtwissen angeht – letztlich nur in differenzierten Analysen der Spannungsfelder von Wissen und Nichtwissen, von Gewissheiten und Ungewissheiten, von Sicherheiten und Unsicherheiten liegen kann. Ohne eine gezielte Aufmerksamkeit für Aspekte des (positiven) Nutzens von Nichtwissen besteht jedoch die Gefahr einer erneuten Engführung der Analysen auf eher traditionelle Sichtweisen von Nichtwissen als Mangel, Defizit oder transitorisches Phänomen. Der folgende Beitrag thematisiert den erziehungswissenschaftlich-pädagogischen Bezug auf Nichtwissen unter zwei Aspekten. Zunächst werden Praktiken des Umgangs mit unvermeidbarem Nichtwissen analysiert, die sich gleichsam »unterhalb« der eingespielten kulturellen Bewertungsebenen und ohne besondere Fokussierung auf das Thema Ungewissheit und Nichtwissen etabliert haben (2). Im Anschluss an diese Analysen hinnehmender Ungewissheitsorientierung werden am Fall der erziehungswissenschaftlichen Analyse von Ungewissheit in und von Bildungsbiographien, wie sie über Erzählungen in Interviews zugänglich
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sind,1 Gestalten »aktiver Ungewissheitsorientierung« (Bonß 1996: 975; Hervorh. hinzugefügt) behandelt (3). Das Biographisieren ist ein prägnanter »Modus der Gewissheitserzeugung und damit der Kontingenzbearbeitung« (Kade 2011: 35). Aus diesem Blickwinkel geht es um die Frage der Nutzung von Nichtwissen, das nicht nur hingenommen, sondern positiv bewertet wird und entsprechend als professionelles und theoretisches Entwicklungspotential, in diesem Sinne als Produktivkraft, kultiviert wird. Den Abschluss bilden einige Überlegungen über die (forschungs-)kulturellen Voraussetzungen einer über einen bloß hinnehmenden Umgang mit der Unvermeidlichkeit von Nichtwissen hinausgehenden aktiven Ungewissheits- und Unsicherheitsorientierung, die einerseits in die Richtung einer zukunftsoffenen Dynamisierung von Subjektbildung geht, andererseits zur Steigerung der Komplexität von Bildungs- und Erziehungstheorien beiträgt (4).
2. Z WISCHEN AUSBLENDUNG UND REFLEKTIERTER B EARBEITUNG : PÄDAGOGISCHE F ORMEN DES HINNEHMENDEN U MGANGS MIT N ICHTWISSEN Die Formen eines eher hinnehmenden pädagogischen Umgangs mit Nichtwissen und Ungewissheit im Kontext von Bildung und Erziehung differenzieren sich ihrerseits in einem breiten Spektrum aus. Es erstreckt sich zwischen den Polen Ausblendung einerseits und reflektierter Bearbeitung andererseits (zum Folgenden vgl. Kade/Seitter 2009). Ausblendung als Kehrseite der Suche nach (vermeintlich) sicherem Wissen Eine pädagogisch zentrale Form, mit der Ungewissheit des für Erziehung und Bildung relevanten Wissens und der Ungewissheit der Zukunft insbesondere ihrer Adressaten umzugehen, besteht darin, an der Fiktion sicheren Wissens und der Fiktion der zielgenauen Einwirkungsmöglichkeit auf die Adressaten festzuhalten. Ignoranz in Gestalt von Ausblenden und Nicht-Wissen-Wollen ist eine selbstverständliche pädagogische Form des Umgangs mit einer für moderne Gesellschaften charakteristischen Prekarität von Wissen. Bezogen auf das Wissen wird dabei entweder durch eine Kanonisierung von Inhalten oder durch eine Abstrahierung von (zu konkreten) Inhalten, d.h. durch eine Fokussierung auf so genannte Grund- und Schlüsselqualifikationen, Ungewissheit zu absorbieren
1
Zum Erzählen als historisch entwickelter »Kulturtechnik des Umgangs mit Nichtwissens«, und zwar sowohl als »unvollkommener Vorstufe zu vollständigerem Wissen« als auch als »unersetzlicher Modus der Orientierung«, vgl. Koschorke 2012: 301.
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versucht. Bezogen auf die Adressaten wird der Erfolg der Einwirkungsabsicht durch eine ansteigende und zunehmend zentral durchgeführte Testifizierung ausgewiesen. Ein entsprechendes Vorgehen durch Leistungsvergleiche (Benchmarking) zeigt sich dabei sowohl auf nationaler Ebene (Zentralabitur) als auch auf internationaler Ebene (TIMMS, PISA samt Folgeuntersuchungen). Der abgeprüfte (Nicht-)Wissensstand suggeriert (inter-)nationale (Nicht-)Anschlussfähigkeit durch Vergleichbarkeit der Datensätze. Diese Vergleichsstudien zeigen auch, dass unterschiedliche Bildungs- und Erziehungssysteme unterschiedliche Leistungen erbringen, sie steigern somit auf System- und Organisationsebene das Kontingenzbewusstsein. Bezogen auf Organisationen lässt sich eine Häufung von Verfahren wie Akkreditierung, Zertifizierung oder Qualitätsmanagement nachweisen, die Sicherheit durch Verfahren zu erzeugen suchen. Zugespitzt formuliert zeigt sich ein Dreiklang von (vermeintlich) sicherem Inhaltswissen, von benotetem, getestetem und damit vergleichbarem Adressatenwissen sowie von zertifiziertem Organisationswissen. Aufgabe des Anspruchs auf Wissensvermittlung Kennzeichen einer zweiten »hinnehmenden« Umgangsform ist die Aufgabe des Anspruchs der Wissensvermittlung. Man kann die Prinzipien der Schüler- und Teilnehmerorientierung, die Mutation des Lehrers in einen Lernhelfer, die Umstellung von Lehren auf die Erstellung von Lernumwelten, die Ersetzung des Anspruchs auf Vermittlung von Wissen durch den Anspruch auf die Vermittlung des Umgangs mit Wissen, die insbesondere konstruktivistisch geleitete Ersetzung von Lehren und Lernen durch das ZieI der Irritation und Konstruktion sowie das Verschwinden des Wissens aus der theoretischen Diskussion (vgl. Nolda 2001) als Symptome des Dilemmas der Wissensvermittlung unter den Bedingungen von Nichtwissen sehen. Diese Lösungen favorisieren eher Bildung als Erziehung und sind meist nicht frei von antipädagogischen Affekten – und dies auch, wenn die Dekonstruktion von Erziehung und Lehren durch eine Intensivierung von Professionalisierung kompensiert wird. Implizit wird mit dieser Form des Umgangs mit Ungewissheit die (zeitdiagnostische) These vertreten, Erziehung verändere sich gegenwärtig so grundlegend, dass Wissen seinen zentralen Stellenwert in ihr verliere und sie so quasi von jeder Einwirkungsabsicht gereinigt werde. Korrespondierend zu dieser erziehungswissenschaftlichen Sicht wird in der öffentlichen Debatte wie im soziologischen Diskurs die Wissensgesellschaft primär mit (lebenslangem) Lernen in Verbindung gebracht (vgl. etwa Willke 2002: 36f.), aber nicht als Problem des (lebenslangen) Lehrens diskutiert.
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Kommunikation von (Nicht-)Wissen in hybriden Settings Mit der Expansion lebenslangen Lernens finden zunehmend auch diejenigen entgrenzten Kulturen des Umgangs mit Lernen Beachtung, die sich außerhalb pädagogischer Einrichtungen entwickelt haben. Unter den Bedingungen der Universalisierung des Pädagogischen sind hybride Lernsettings ein zentrales Kennzeichen einer die Grenzen von Bildungseinrichtungen überschreitenden Institutionalisierung des Lernens, gerade auch (aber keineswegs nur) von Erwachsenen. In diesen Aneignungssettings verzahnt sich Lernen mit anderen sozialen Praktiken – zu denken ist etwa an Kultur, Unterhaltung, Konsum, Arbeit –, die keiner Lernlogik folgen und entsprechend nicht auf Übergänge von Nichtwissen zum Wissen fokussiert sind (vgl. Dinkelaker 2007). Absicherung durch Netzwerkbildung Eine vierte Strategie besteht in der Gewinnung von Handlungssicherheit durch Netzwerkbildung. Diese Strategie bezieht sich insbesondere auf die organisatorische Absicherung und Stärkung von pädagogischen Einrichtungen durch die Etablierung von (Weiter-)Bildungsverbünden in einem Umfeld, das durch Marktrisiken und öffentliche finanzielle Unterversorgung gekennzeichnet ist. Die institutionelle Koordination und Kooperation basiert dabei auf der Gleichzeitigkeit von Konkurrenz und Vertrauen. Sie folgt den Prinzipien gleichberechtigten und gleichwertigen Gebens und Nehmens. Sie ist Resultat eines Risikokalküls, das den Einrichtungen trotz ihrer latenten Konkurrenz im kooperativen Verbund größere Marktanteile verspricht als im institutionellen Alleingang. Netzwerkbildung auf der Grundlage von Bindung, Vertrag und Vertrauen ist aber auch im Verhältnis von Innen und Außen, von Festangestellten und Freiberuflichen, von Planern und Dozenten zu beobachten. Sie ist eine Strategie, mit der (Weiter-)Bildungseinrichtungen ihre unsichere Zusammenarbeit mit externen Beratern/Trainern fundieren (vgl. Dollhausen et al. 2010; Schemmann 2013). Ungewissheitsbewältigung durch raumzeitliche Ausdehnung Eine weitere Umfangsform mit Nichtwissen und Zukunftsungewissheit liegt in der raumzeitlichen Ausdehnung von erzieherischen Einwirkungsmöglichkeiten. Diese basieren einerseits auf dem ubiquitären Zur-Verfügung-Stellen von Lernangeboten, wie sie insbesondere durch die Medienverbünde und neuen Medien realisiert werden (raum-zeitliche Unabhängigkeit der Adressaten), andererseits auf der Temporalisierung der Einwirkung über den gesamten Lebenslauf hinweg. Erziehung und Bildung kompensieren insofern ihr strukturelles Nichtwissen (über Zukunft, Adressaten, gesichertes Wissen), indem sie selbst zum Medium der Temporalisierung des Lebenslaufs ihrer Adressaten werden. Sie setzen dabei jedoch immer deren Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbstpädagogisierung
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voraus (vgl. Seitter 2007). Die Formel des lebenslangen und lebensbreiten Lernens steht genau für dieses komplexe Zusammenspiel von verzeitlichter Einwirkungsabsicht von Organisation und Profession einerseits und ständiger Anpassungsbereitschaft der Adressaten andererseits. Ausbau professioneller Reflexionsschleifen Eine weitere Form des Umgangs einer zunehmend unsicherer werdenden Handlungspraxis mit Ungewissheit und Nichtwissen besteht im Ausbau professioneller Reflexionsschleifen. Supervision, Fortbildung, Beratung, berufliche Selbstbeschreibung, Fallzirkel, kollegiale Weiterbildung etc. sind Formen der Selbstdistanzierung und Handlungsentlastung, mit denen Professionelle auf die Ungewissheit und Unverfügbarkeit (der Folgen) professioneller Intervention zu reagieren suchen. Diese Reflexionsschleifen verweisen darauf, dass die Institutionalisierung von (Selbst-)Beobachtung zur Unsicherheitsbewältigung zunehmend als integraler Bestandteil der eigenen Berufsbiographie verstanden wird. Die reflexive Bearbeitung einer unsicheren und riskanten Praxis avanciert in dieser Umgangsform in Ansätzen bereits selbst zum Qualitätsmerkmal professionellen Handelns. Mit Heinz Bude könnte man in einer solchen Entwicklung ein Symptom eines (wissens-)gesellschaftlichen Übergangs vom »tragischen Schema von Wissen und Nichtwissen« zum »ironischen Schema von Neuwissen und Weiterwissen« sehen, eines Übergang vom »Falsifikationsschema zum Innovationsschema« (Bude 2002: 401).
3. U NGEWISSHEIT ALS B ILDUNGSRESSOURCE UND T HEORIEPOTENTIAL BIOGRAPHISCHER (N ICHT -)W ISSENSORDNUNGEN AUF Z EIT Für eine aktive Orientierung der Erziehungswissenschaft an Nichtwissen bietet die kontextualistische Wissenschaftsanalyse (vgl. Bonß et al. 1993) einen aussichtsreichen theoretischen Rahmen. Sie geht davon aus, dass wissenschaftliche Gegenstände und Erklärungen immer ›kontextbezogen‹ begründet sind (vgl. Bonß et al. 1993: 171). Wissen ist danach ein »reflexiv-kontextbezogener Prozeß« (Bonß 1998: 974), ein Kommunikationsprozess, der im Medium von Wissens-Nichtwissens-Übergängen stattfindet. Dabei ist die Kontextualisierung wissenschaftlichen Wissens »auch als Vergesellschaftungsform von wissenschaftlichem Wissen« (Bonß et al. 1993: 185) und – in einer prozessbezogenen Sicht – von Wissens-Nichtwissens-Übergängen zu begreifen. Im Rahmen einer »prozessual und zeitlich orientierten« Variante von Kontexttheorien (vgl. ebd.: 178) stehen diese Übergänge im »Horizont kognitiver und sozialer ›Umgebungsrelatio-
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nen‹«. Sie sind als prinzipiell ungewiss zu unterstellen und im Forschungsprozess nicht (voll) methodisch unter Kontrolle zu bringen. Kontexte sind aus dieser Sicht »in spezifischer Weise geordnete ›Muster‹ in der Zeit« (ebd.: 180). Sie bestehen aus »Folgen« von Kontexten. Entwicklungen oder Anwendungen sind »Wechsel von derartigen Relationen« (ebd.: 181). Zu ihrer Rekonstruktion wird im Rahmen einer kontextualistischen Wissenstheorie vorgeschlagen, den »Prozesscharakter der Konstitution und Handhabung wissenschaftlicher Erklärungen« zu betonen und »Prozesse der Kontextuierung und Umkontextuierung« in den Mittelpunkt zu stellen. An ihnen können unterschiedliche Ebenen fokussiert werden: der sozial-interaktive Kontext der Diskursgemeinschaft, der situativpraktische Kontext der experimentellen und technischen Handhabung und der semantisch-kognitive Kontext der Erklärung, Interpretation und Sinnstiftung (vgl. ebd.: 182). In einer als Längsschnitt angelegten qualitativen Analyse des Wandels von, in zwei Wellen von Interviews im Abstand von 25 Jahren erzählten, Bildungsbiographien Erwachsener zwischen 1984 und 2009 wurden die Kontexte rekonstruiert, in die solche Biographien eingebettet sind.2 Durch den Einbezug dieser Kontexte in die Fallanalyse kamen unterschiedliche Ungewissheiten in den Blick: zum einen die Kontingenz lebensalter-spezifischer und kollektiv-gesellschaftlicher Kontexte von Lebensläufen, zum anderen die Zeitabhängigkeit und im Speziellen die Gegenwartsabhängigkeit von Bildungsbiographien und deren erziehungswissenschaftlicher Rekonstruktion. Ich will das im Folgenden an einem für die Thematik dieses Beitrags prägnanten Fall aus dem erwähnten Projekt etwas näher erläutern. 3.1 Ungewissheiten in Bildungsbiographien Die Person, deren Fall im Folgenden im Mittelpunkt steht, kurz: TN50, ist 1984, zum Zeitpunkt des ersten mit ihr geführten Interviews, 45 Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder. Nachdem sie in der elften Klasse vorzeitig wegen Schulunlust vom Gymnasium abgegangen ist, hat sie auf den Wunsch ihrer durch einen befreundeten Rechtsanwalt beratenen Mutter – sie selbst wollte eigentlich lieber Schauspielerin werden – eine Ausbildung zur Steuergehilfin gemacht, ohne al-
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Das von der DFG geförderte Projekt (KA 642/4-1; 2) trägt den Titel: Prekäre Kontinuitäten. Der Wandel von Bildungsgestalten im großstädtischen Raum unter den Bedingungen der forcierten Durchsetzung des Lebenslangen Lernens. Projektleitung: Jochen Kade/Sigrid Nolda; MitarbeiterInnen: Sascha Benedetti, Monika Fischer, Cornelia Maier-Gutheil, Elske Heinrich; vgl. Kade 2011; Kade/Nolda 2012, 2013, 2014a, b.
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lerdings anschließend diesen Beruf auszuüben. Im Zusammenhang dieser Ausbildung hat TN50 ihren jetzigen Mann kennengelernt. Nach der Heirat war sie zunächst einmal – ganz im Sinne einer in den späten 1960er Jahren noch weithin selbstverständlich gültigen weiblichen Normalbiographie – Mutter und Hausfrau. Anfang der 1980er Jahre – ihre drei Kinder sind nunmehr zwischen 12 und 15 Jahre alt – erfährt sich TN50 in ihrer Mutter- und Familienrolle als eingesperrt. Sie macht sich auf den Weg aus dieser Lebenssituation heraus. Zunächst, indem sie in einer Familienberatungsstelle Unterstützung sucht im Zusammenhang mit Problemen bei der Erziehung ihrer pubertierenden Kinder. Aus dieser erziehungsbezogenen Beratung heraus ergibt sich der Impuls, auch selbst als Person außerhalb der Familie ein eigenes Leben zu suchen. Daraus folgt ein längerer Suchprozess, der insbesondere in verschiedensten Kursen der Volkshochschule verläuft. TN50 nimmt an Kursen zu den Themen Fremdsprachen, Lernen lernen, Kommunikation, Kochen, Yoga, Bioenergetik, Töpfern teil. Dieser Suchprozess scheint 1984 – dem Zeitpunkt des Interviews – ein zumindest vorläufiges Ende gefunden zu haben. TN50 weiß nun – so bringt sie im Interview zum Ausdruck –, was sie weiter machen will. Auf den Rat einer Freundin fasst sie die Ausbildung zur Atemtherapeutin ins Auge, leitet bereits erste Schritte ein. Zu diesem Zeitpunkt weiß TN50 indes noch nicht, dass ihr Emanzipationsprozess durch diese Berufsperspektive noch nicht zum Abschluss gekommen ist. Ihr Lebenslauf, so erfährt man aus dem zweiten, 2009, also 25 Jahre später mit ihr geführten Interview, setzt sich nach ihrer Ausbildung jedoch zunächst wieder im schulischen Rahmen fort. TN50 versucht, auf dem Abendgymnasium ihr Abitur nachzumachen, beendet diesen Versuch aber, nachdem ihr Mann mehrere Jahre im näheren Ausland tätig ist und sie ihn dort wiederholt länger besucht. In einem der von ihr im Ausland besuchten Kurse an einer Volkshochschule lernt sie eine Frau kennen, über die sie in Kontakt zum Feld esoterischer Heil- und Therapieverfahren kommt. Sie besucht in privaten Bildungseinrichtungen im Alternativbereich Kurse und Workshops, insbesondere zu Tai-Chi, zu den chinesischen Gesundheitsübungen Shiatsu und Qi Jong sowie zum gruppentherapeutischen Ansatz des Familienstellens, aber auch zu Yoga, Meditation, Kinesiologie und Schamanismus. Diese Kurse ermöglichen TN50 schrittweise einen eigenen authentischen Zugang zum Feld esoterischer Heil- und Therapieverfahren. Zugleich erwirbt sie umfassendes, alternatives medizinischtherapeutisches Handlungswissen. Sie macht eine Ausbildung zur ShiatsuTrainerin. Später bringt sie dieses Wissen und Können, zunächst begleitend und nach einigen Jahren dann mit einer Akzentverlagerung von Lernen auf Lehren, in einer im häuslich-familiären Bereich angesiedelten eigenen Praxis beruflich ein. Diese Tätigkeit hat sie fünf Jahre vor dem zweiten Interview, im Alter von
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65 Jahren, nach einer schweren Erkrankung beendet. Ein drittes Interview ist für 2019 geplant. Unter dem Aspekt der kontingenten Kontexte in Bildungsbiographien lassen sich am Lebenslauf von TN50 unterschiedliche Arten von Ungewissheiten beobachten. Das sind zunächst Ungewissheiten, die sich daraus ergeben, dass die Frage der Realisierung eines Planes, wie der einer Ausbildung zur Atemtherapeutin, zum Zeitpunkt des ersten Interviews noch nicht abschließend geklärt ist, es dafür noch Zeit braucht. Dann sind es Ungewissheiten, die sich aus der NichtBeherrschbarkeit des (eigenen) Körpers ergeben. Das sind insbesondere schwerere, in die Lebensplanung tief eingreifende Krankheiten, die den Charakter von Schicksalsschlägen haben. Für den einzelnen nicht-vorhersehbar sind auch Ereignisse, die sich aus allgemeineren gesellschaftlichen Entwicklungen ergeben, wie etwa die erst seit den frühen 1980er Jahren dynamisch fortschreitende Ausdifferenzierung von neuen semi-beruflichen Formen der Arbeit etwa im Bereich alternativ-esoterischer Heil- und Therapieverfahren. Nicht-vorhersehbar mussten für TN50 1984 auch die vielfältigen pädagogisch strukturierten Bildungswelten sein, die jenseits des bekannten Feldes der Volkshochschulen einerseits bestehen, andererseits sich aber auch – unter dem Stichwort der Universalisierung des Pädagogischen – expansiv entwickelt haben und erst seit den späten 1990er Jahren allgemein bekannter sind. Wobei allerdings individuelle Unkenntnis und gesellschaftlicher Mangel an Transparenz nicht scharf voneinander unterschieden werden können. Im Zeitraum des ersten Interviews verläuft der Bildungsprozess von TN50 noch in einem traditionalen Erwartungshorizont, ähnlich ihrer traditionell fixierten Orientierung an Bildungseinrichtungen für Erwachsene. In deren Zentrum steht, bildungspolitisch seit den 1960er Jahren enorm forciert, die Volkshochschule. Beruflich denkt TN50 1984 mit der Ausbildung zur Atemtherapeutin an einen Beruf, der bei der Bundesanstalt für Arbeit in deren Berufsblättern erfasst ist. Eine Ausbildung zur Shiatsu-Trainerin, von der sie im zweiten Interview erzählt, liegt zu diesem Zeitpunkt noch jenseits ihres Berufshorizonts. Allein von einer solchen, institutionell zudem ja noch gar nicht bestehenden Möglichkeit konnte sie 1984 noch nichts gewusst haben. Die Ungewissheit von Lebenslaufereignissen resultiert in dieser Hinsicht also aus der Offenheit, mit anderen Worten der Unbestimmtheit der individuellen Identität, auch dort, wo diese sich bereits wieder neu festgelegt, das heißt bestimmt hat. Erst durch die zufällige Begegnung mit einer Frau, mit der sie im Kontext eines Kurses an einer ausländischen Volkshochschule Bekanntschaft schließt, bekommt TN50 einen ersten Zugang zu einer neuen Lebens- und Berufsperspektive. Interessant an diesem Beispiel ist, dass die angesprochenen Kontingenzen ja offensichtlich nicht
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völlig zufällig sind, sondern in einem bildungsbiographischen Bedeutungskorridor mit gewissen Wahrscheinlichkeitsvarianzen verortet sind. 3.2 Ungewissheiten von Bildungsbiographien Die im Abstand von 25 Jahren geführten Interviews erhellen, dass das bildungsbiographische Wissen, aber auch Nichtwissen, von den – durch individuelle Lebensphasen oder kollektive gesellschaftliche Ereignisse bestimmten – Zeitpunkten abhängig ist, von denen aus auf den Lebenslauf geblickt wird. Diese Zeitpunkte prägen die bildungsbiographischen Gestalten, die Individuen ihren Lebensläufen geben. Bildungsbiographien haben daher grundsätzlich einen Gegenwartsindex. Jede einzelne ist somit aus der Perspektive einer weiteren Bildungsbiographie durch Ungewissheiten bestimmt, wie umgekehrt auch auf der Höhe einer Bildungsbiographie ungewiss bleiben muss, welche andere später erzählt werden kann bzw. wird. Serielle Bildungsbiographien einer Person sind füreinander (gleichsam intern-externe) kontingente Kontexte. Diese Gegenwartsabhängigkeit hat nicht nur die Ungewissheit zukünftiger Bildungsgestalten zur Folge. Sie führt auch dazu, dass sich die Vergangenheit von Bildungsbiographien verändert. Sie wird von Gegenwart zu Gegenwart umgeschrieben und damit ungewiss. Im ersten Interview erzählt TN50 ihre Bildungsbiographie aus der Perspektive einer Gegenwart heraus, die individuell durch einen noch nicht zum Abschluss gekommenen Prozess des Suchens nach einer neuen Lebensperspektive gekennzeichnet ist; in dieser Hinsicht ist vor allem der noch nicht lange zurück liegende Ausbruch aus der Familien- und Mutterrolle nach dem Älterwerden der Kinder von Belang. Zugleich ist das Jahr der Führung des ersten Interviews relevant, nämlich 1984. Es ist aktuelle geschichtliche Gegenwart, aus der heraus die erste bildungsbiographische Gestalt erzählt wird. Diese historische Situation ist durch einen verstärkten Anspruch auf individuelle Emanzipation, gerade auch von Frauen, geprägt. TN50 ist sich zum Zeitpunkt 1984 über ihre Zukunft im Ungewissen. Sie weiß nicht, wie ihre Bildungsbiographie 25 Jahre später aussieht. Im Besonderen weiß sie nicht, dass diese sich im Jahre 2009, was ihren aktuellen Kern angeht, grundlegend von der im Jahre 1984 unterscheidet. Stand individuelle Emanzipation aus einer familiär bedingten sozialen Unmündigkeit im Mittelpunkt der bildungsbiographischen Narration von 1984, so geht es 25 Jahre später nicht mehr um die Strukturierung eines labyrinthischen Suchprozess. Nunmehr steht die Entwicklung des Könnens einer ihrer selbst gewissen Person im Zentrum. Die bildungsbiographische Gestalt von TN50 stellt sich 2009 dar als umfassende Integration von persönlich-beruflicher Könnens-Entwicklung,
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sozio-kultureller Einbettung in einen Mehrgenerationenzusammenhang und Vergegenwärtigung der eigenen Kindheit. In dieser bildungsbiographischen Gestalt ist der individuelle Lebensweg von TN50 harmonisch mit einer erneuten Orientierung an sozialer Einbettung und Anerkennung verbunden. Und zwar sowohl mit der Einbettung in den Kontext der Familie als auch mit kontinuierlichen, auch berufsbezogenen Erfahrungen der Anerkennung im Kontext alternativesoterischer Heilverfahren und schließlich mit der gänzlich neuen Erfahrung, als Individuum in diese übergreifenden Generationenverhältnisse eingebettet zu sein. Zugleich verschiebt sich der Akzent von der zukünftigen Gegenwart auf die vergangene Zukunft. TN50 erzählt ihren Bildungsprozess als Rückkehr zur Natur einerseits, als Bewegung des Nach-Hause-Kommens, des Ihre-HeimatFindens andererseits. Individuelle Kindheit und evolutionäre Menschheitsvergangenheit werden zum (Sehnsuchts-)Ort synthetisiert, an den man zurückkommen muss, um ein authentisches, kulturell, professionell und familiär anerkanntes Leben zu führen. Bildung stellt sich somit als zirkulär-rekursive Entfaltung eines Selbst dar, das sich über das individuelle Können und die Identifizierung mit den Zielen der Menschheitsentwicklung bestimmt, und insofern dauerhaft festlegt. 25 Jahre vorher, im Jahre 1984, beschrieb TN50 ihre Bildungsbiographie im Medium einer durch die Bestimmung des individuellen Willens gekennzeichneten Bewegung linearer Steigerung der Emanzipation in eine Zukunft, die trotz all ihrer Offenheit am Ende des ersten Interviews bereits als gewiss erfahren wurde. 3.3 Von der ›Diffusen Zielgerichtetheit‹ zur ›Serialität von Biographien‹. Erziehungswissenschaft als ungewissheitsgenerierender Beobachtungskontext Die erläuterten Ungewissheiten in Bildungsbiographien sind den Akteuren nicht bewusst. Ihr Handlungs- und Entscheidungsspielraum basiert gerade darauf, dass sie ihre Zukunft nicht kennen und auch nicht wissen, wie durch deren Eintreffen ihre aktuelle Gegenwart und Vergangenheit sich noch einmal, etwa durch ihre Umdeutung, verändern werden. Sie sind sich auch nicht bewusst, dass und inwiefern sich ihre biographische Selbstbeschreibung in den 25 Jahren von 1984 bis 2009 geändert hat, in dem Sinne, dass Vergangenheiten und Zukünfte je gegenwartsabhängig umgeschrieben oder gar neugeschrieben wurden (vgl. Kade/Nolda 2014a). In dieser Hinsicht findet sich keine Steigerung von Selbstbeobachtung. Ein Bewusstseinswandel, wie ihn Luhmann (2002: 198) für die Pädagogik als Orientierung vorschlägt, im Sinne einer weitgehenden Ersetzung des Lernens von Wissen durch das »Lernen des Entscheidens, das heißt: des Ausnut-
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zens von Nichtwissen«, findet sichtlich noch kaum Anhaltspunkte bei den Adressaten von Erziehung und Bildung. Aus der Sicht der Erziehungswissenschaft erhellt sich demgegenüber der Zusammenhang, in dem Umdeutungen von Biographien mit dem Wandel externer Kontexte im Zeitverlauf zwischen 1984 und 2009 stehen. Diese bleiben nicht stabil, sondern wandeln sich in eher loser als fester Kopplung mit individuellen Bildungsbewegungen. Insbesondere betrifft dies die kollektiven, sozio-kulturellen Lebensverhältnisse und die überindividuellen Lebenslaufmuster. Zu diesen gehört aber auch das erziehungswissenschaftliche Wissen selber. Dieses bestimmt den theoretischen und methodologischen Bezugsrahmen zur erziehungswissenschaftlichen Beobachtung von bildungsbiographischen WissensNichtwissens-Übergängen. Die erziehungswissenschaftliche Rekonstruktion der im Interview von 1984 erzählten Bildungsbiographie von TN50 (vgl. Kade 1985) basierte in Absetzung von traditionellen, linear-additiven Bildungsmodellen auf dem Konzept der Diffusen Zielgerichtetheit. Es geht zwar noch weiterhin von der Bestimmtheit eines zu erreichenden Ziels aus, aber dieses ist den Subjekten im Prozess ihrer Bildungspraxis zunächst nicht bekannt. Sie befinden sich in einer Bewegung des Suchens, ohne dass sie bereits bei Beginn und im Prozess mit Gewissheit wüssten, was sie suchen. Ein wie auch immer vorläufiges Ende dieses Suchprozesses ist dann erreicht, wenn eine ausreichende Gewissheit besteht, dass der erreichte Subjektzustand das Ziel ist, auf das die Bildungsbewegung von Anfang an gerichtet ist. Auf dieser Basis erlaubt es das Konzept der ›Diffusen Zielgerichtetheit‹, über das Bewusstsein der Bildungssubjekte hinausgehend, erziehungswissenschaftliche Gewissheit über die Bildungsbiographie zu gewinnen. In der Rekonstruktion des Falls TN50 zum Zeitpunkt 2009, nunmehr auf der Grundlage von zwei Erhebungswellen (vgl. Kade 2011), ist an die Stelle des Konzepts der Diffusen Zielgerichtetheit das Konzept der Seriellen Biographie getreten. Dies geht nicht mehr von einem hierarchischen Verhältnis von Wissen und Nichtwissen aus, sondern argumentiert mit einem Prozessbegriff von Wissen, der die Aufmerksamkeit auf Nichtwissens-Wissens und Wissens-Nichtwissens-Übergänge richtet.3 Der Fokus verschiebt sich damit vom Thema der Ungewissheit in Biographien zum Thema der Ungewissheit von biographischen Gestalten. Danach ergibt es keinen Sinn mehr, von der Biographie in der Einzahl zu sprechen. Jede individuelle Biographie differenziert sich in eine Serie von
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Der Übergang vom Konzept der ›Diffusen Zielgerichtheit‹ zu dem der ›Seriellen Biographie‹ ist dem medienkulturellen Übergang von der einzelnen Fotographie zum Film als eine Folge von Bildern vergleichbar.
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bildungsbiographischen Gestalten mit je spezifischem Gegenwartsindex (vgl. Kade/Nolda 2014a, b). Deren Abfolge ist zwar nicht beliebig. Sie ergibt sich aber auch nicht notwendig aus der jeweils vorausgehenden biographischen Folge. Kontingenz wird vielmehr zum Strukturmerkmal von Bildungsbiographien. Diese können zu jedem Zeitpunkt eine andere Gestalt annehmen, weil sie grundlegend zeit-, insbesondere gegenwartsabhängig sind. Anders als bei dem auf einem linear-dynamischen Zeitmodell aufbauenden Bildungskonzept der ›Diffusen Zielgerichtetheit‹ und noch entschiedener anders als bei einem traditionellen, auf einem linearen Zeitmodell basierenden Bildungsverständnis, erfasst die für moderne Gesellschaften kennzeichnende Temporalisierung aller Lebensverhältnisse (vgl. Koselleck 2003) also nunmehr auch die ›Form Biographie‹ selber (vgl. Nassehi 1994). Was Biographien somit kennzeichnet, ist ihre rekursiv-dynamische Zeitstruktur. Diese macht Diskontinuität zur Grundlage von Kontinuität. Stärker als in den bisherigen Konzepten klaffen in dem Konzept der ›Seriellen Biographie‹ nunmehr Vergangenheit und Zukunft auseinander. Es ist die Gegenwart, die als Relais zwischen Vergangenheit und Zukunft ins Zentrum rückt. Der Gegenwartsbezug führt zur Vervielfältigung von Biographien jeweils eines Individuums in der Zeit, sie werden grundsätzlich zeit-, d.h. gegenwartsabhängig. Dies hat zur Folge, dass jedes Bildungssubjekt von der Folge der Gestalten, in denen sich seine Bildungsbiographie nur darstellt, immer auch wieder überrascht wird. Sie erscheint mithin als eine »Serie von Zufällen«, um eine Formulierung von Niklas Luhmann zu übernehmen, mit der er seine eigene Biographie charakterisiert hat (vgl. Luhmann 1987: 121). Im Konzept der ›Seriellen Biographie‹ sind Kontingenzen und Nichtwissens-Wissens-Übergänge auf Dauer gestellt. Sie sind strukturelles, nicht mehr bloß temporäres Merkmal, jenseits aller Vorstellungen von Eindeutigkeit als Grundlage von Gewissheit. Das Verhältnis von je gegenwartsabhängig erzählter Biographie einerseits und Lebenslauf als chronologisch geordneter Abfolge von Ereignissen und Zuständen andererseits wird damit ungewiss. Biographien können sich gegenüber dem mitlaufenden Lebenslauf, in den sie als je gegenwärtiges Ereignis eingebettet sind, verselbständigen und als Serie ihre eigene Strukturlogik entwickeln. Durch diese Eigendynamik kehrt sich das Verhältnis von Biographie und Lebenslauf um. Dieser wird tendenziell vom Gegenstand der Biographie zum Ort, an dem diese als ein Lebensereignis emergiert. Biographien werden zu einem im Verlauf des Lebens sich kontingent wiederholenden Ereignis, dessen Eintreten jeweils ungewiss ist und somit für Überraschung sorgen kann. Mit dem Übergang vom bildungsbiographischen Konzept der ›Diffusen Zielgerichtetheit‹ zu dem der ›Seriellen Biographie‹ verändert sich auch das Verhältnis der Erziehungswissenschaft zur – nicht nur biographischen – Unge-
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wissheit. War das Konzept der ›Diffusen Zielgerichtetheit‹, das die bildungsbiographische Fallrekonstruktion zum Zeitpunkt 1984 anleitete, noch eine Antwort auf eine von den Subjekten im Lebenslauf erfahrene, aber an der Norm der Gewissheit orientierte Ungewissheit, so ist das Konzept der ›Seriellen Biographie‹, das 25 Jahre später den Fallrekonstruktionen zugrunde liegt, nunmehr eine Antwort darauf, dass das Verhältnis von Biographie und Lebenslauf strukturell kontingent, damit ungewiss geworden ist. In der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung, jedenfalls soweit sie Bildungsbiographien thematisiert, wird das Problem der Ungewissheit damit nicht mehr durch Verzeitlichung gelöst, in dem Sinne, dass Ungewissheit als eine vorübergehende Erfahrung begriffen wird. Als konstitutives Merkmal von Bildungsbiographien erfährt Ungewissheit vielmehr eine positive Bewertung, ihre Produktivität wird gerade betont. In den 2000er Jahren basiert erziehungswissenschaftliche Gewissheit nicht mehr wie noch in den 1980er Jahren auf dem Ausschluss der Kontingenz von Bildungsbiographien. Sie identifiziert deren Ungewissheit geradezu als Generator der grundsätzlich immer bestehenden Möglichkeit, dass neue bildungsbiographische Gestalten entstehen. Es gehört danach zur Unhintergehbarkeit von Subjektbildung, dass sie von der Ungewissheit der Zukünfte der Subjekte her gedeutet wird, nicht von einem normativ fundierten allgemeinen Ziel her, das es individuell zu erreichen gilt. Die Ungewissheit von Bildungsbiographien ist die Bedingung des Entscheidungs- und Handlungsspielraums, den Individuen in Bezug auf die wie auch immer erfolgreiche Gestaltung ihrer Zukunft grundsätzlich haben. Sie ist kein »Problem«, sondern setzt gerade Bildungsdynamik in Gang. Bildung kann so zum Medium werden, mit dem in der Gegenwart die Ungewissheit der Zukunft handhabbar gemacht werden kann. 3.4 Erziehungswissenschaftliches Wissen im Kontext von Sozialphilosophie und Soziologie Die Entwicklungsdynamik erziehungswissenschaftlichen Wissens ist nicht nur intern begründet. Sie begründet sich auch aus einer für die Erziehungswissenschaft kontingenten, damit ungewissen, nicht synchronisierten, in »ungleichem Tempo« (Koschorke 2012: 279f.) verlaufenden Entwicklung von externen Kontexten, zu denen insbesondere das sozialphilosophische, das soziologische und das methodologische Wissen im Zeitraum zwischen 1984 und 2009 zählt. In dem Maße, in dem die empirische Bildungstheorie gegenwärtig stärker die Kontingenz von Kontexten und damit biographische Ungewissheiten in komplexe erziehungswissenschaftliche Theoriearchitekturen und zeitsensible Forschungsmethodologien einbezieht, richtet sich die Aufmerksamkeit auch auf die soziolo-
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gischen und sozialphilosophischen Kontexte, in denen die erziehungswissenschaftlichen Rekonstruktionen stehen. Dieser Blick macht deutlich, dass im Verlauf erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung, die auf die Generierung neuen Wissens abzielt, zugleich unvermeidlich als solches nicht bereits identifiziertes Nichtwissen entsteht. Es läuft mit jedem Forschungsprozess mit und kann nur auf dem Wege von dessen forcierter Selbstbeobachtung für eine ungewissheitssensible Wissensgenerierung nutzbar gemacht werden. Für den sozialphilosophischen Horizont des Wissens bzw. Nichtwissens der Erziehungswissenschaft in den frühen 1980er Jahren bedeutsam ist die normative Fokussierung des (Bildungs-)Diskurses. Leitend waren die radikal aufklärerischen Konzepte Emanzipation, Autonomie und Authentizität. Noch nicht im Blick waren die negativen, unbeabsichtigten Folgen von Autonomie und Emanzipation, wie sie inzwischen vor dem Hintergrund von Erfahrungen ihrer Durchsetzung als gesellschaftliche Erwartung an jeden einzelnen unter dem Stichwort der »Modernisierungsparadoxien« erörtert werden (vgl. Honneth 2010). Individuelle Erfahrungen der Überdehnung von Autonomieansprüchen und der Erschöpfung von Identitätsaspirationen (vgl. Ehrenberg 2004; Honneth 2002) etwa kommen im ersten Interview mit TN50 von 1984 noch nicht zur Sprache. Sie sind, soweit sie überhaupt gemacht werden, vollständig überlagert von der die Bildungsbiographie von TN50 1984 im Alter von 42 Jahren beherrschenden Thematik der Selbst- und Fremdbestimmung. Erst in der Bildungsbiographie von 2009 wird eine lebenspraktisch relevante Relativierung und Problematisierung von Autonomie empirisch rekonstruierbar, und zwar auch für die Phase vor 1984. Zum Kontext der Fallrekonstruktion gehören auch soziologische Lebenslaufstudien. Bis in die frühen 1980er Jahre haben sie unter dem Titel ›Deinstitutionalisierung‹ vor allem auf die Entstrukturierung von Lebensläufen und Biographien aufmerksam gemacht. Im Verlauf der 1980er Jahre rückt dann in den Vordergrund das Thema eines Übergangs von einer industriellen Moderne, die mit Individualisierung und Pluralisierung von Lebensläufen verbunden ist, zu einer reflexiven Moderne, in der auch das bisher geltende männlich geprägte Normalarbeitsverhältnis und die weibliche Normalbiographie ihre Selbstverständlichkeit einbüßen und der einzelne bei der Gestaltung seines Lebenslauf einen irgendwie gesellschaftlich institutionalisierten Halt nur noch an sich selbst zu finden scheint (Kohli 2003). In diese Phase der Lebenslaufentwicklung fällt die erste Erhebungswelle der Langzeitstudie, der der hier dargestellte Fall entstammt. Jedoch fehlte 1984, als die Erhebungen begannen, noch jedes Bewusstsein über die gegenwartsdiagnostische Signifikanz dieses Zeitpunkts. Daher wurde auch keine zweite Erhebung
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erwogen. Die Kontingenz der soziologischen Diskussion zur Deinstitutionalisierung von Lebensläufen wird erst erkennbar, als aus dem Kontext des seit 1999 institutionalisierten Sonderforschungsbereiches »Reflexive Modernisierung« (vgl. Beck et al. 2001) heraus nunmehr drei Phasen der Entwicklung des Lebenslaufs in modernen Gesellschaften unterschieden werden. Seit den 1980er Jahren, so die These, schließt an die zweite Phase der Deinstitutionalisierung des Normallebenslaufs der industriegesellschaftlichen Moderne eine dritte Phase neuer Strukturbildungen, das heißt Reinstitutionalisierungen an, insbesondere im Beruf und in der Familie (vgl. Zinn 2003).4 Die Kontingenzen dieser wissenschaftlichen Kontexte der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung haben zur Folge, dass das, was zu einem Zeitpunkt als gewiss gilt, sich im Nachhinein als nur vorläufig gewiss erweist, d.h. immer als Moment von Wissens- Nichtwissens-Übergängen. Mit anderen Worten: Wissensbehauptungen gelten nur temporär als gewiss, sie sind grundsätzlich kontingent, könnten mithin auch in Nichtwissensbefunde übergehen. Unvermeidbar arbeitete die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung in den 1980er Jahren auf der Basis eines durch den Rekurs auf Modernisierungstheorie und Sozialstrukturanalyse bedingten Nichtwissens. Es war indes zum damaligen Zeitpunkt nicht bereits als solches erkannt, sondern erst 25 Jahre später. Und dieses Nichtwissen über den Nichtwissenswert des Wissens war die Voraussetzung dafür, um sich epistemologisch am Wissen als einer Norm zu orientieren, an der gemessen Nichtwissen nur den Status eines Defizits, eines Mangels hatte.
4. F ORSCHUNGSKULTURELLE V ORAUSSETZUNGEN AKTIVER U NGEWISSHEITSORIENTIERUNG Eine aktive Ungewissheitsorientierung – so wurde vorangehend an einem Fall aus der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung analysiert – identifiziert fragwürdige, allein normativ fundierte Gewissheiten und schärft die Aufmerksamkeit für den Freiheits- und Handlungsspielraum, den Individuen (aber auch die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung und Forschung) gerade auf Grund der kontingenten Kontexte, in die sie eingebettet sind, sowie der Ungewissheit und damit Offenheit ihrer Zukünfte bei der Gestaltung ihrer Biographien (oder Theorien) haben.
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Stichweh (1998) hatte solche Restrukturierungen Mitte der 1990er Jahre nur erst erwartet.
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Bezogen auf erziehungswissenschaftliche Forschung und Theoriebildung wird damit für komplexere Theoriearchitekturen votiert. Wenn ein auf die Vermittlung von Wissen und Werten spezialisiertes Erziehungssystem immer häufiger und massiver mit vorgegebenem wie selbsterzeugtem, in jedem Fall kaum aufzulösendem Nichtwissen konfrontiert wird, wird der Blick des Erziehungssystems auf seine Erfolge und Misserfolge »unaufhebbar ungewiss« (Luhmann 2002: 168). Unter diesen Bedingungen sind Bildungs- und Erziehungstheorien erforderlich, die Erziehung, Bildung und Unterricht aus der Perspektive von Wissen und Nichtwissen beschreiben. Damit werden »synthetisch-harmonisierende« Formen des Pädagogischen (vgl. Kondylis 1991) eher Grenzfall als Normalfall. Statt dessen kommen offene, ungewissheitssensible kommunikationstheoretische Konzepte in den Blick, wie die Umstellung von Erziehung, Lehre und Lernen auf das Konzept der Pädagogischen Kommunikation mit Vermittlung, Aneignung und Überprüfen als zentralen Operationen (vgl. Kade/Seitter 2007) oder das Konzept einer »kontingenzgewärtigen Unterrichtstheorie« (vgl. Meseth et al. 2012), die das operative Geschehen im Unterricht (»unterrichtliche Kommunikation«) jenseits von kausalen Wirkungsvorstellungen als eines beschreibt, das strukturell durch doppelte Kontingenz bestimmt ist. Diese Theorieentwicklungen deuten grundlegend daraufhin, dass eine aktive Ungewissheitsorientierung das Entstehen komplexerer, im Besonderen auch zeitsensibler Theoriearchitekturen zumindest begünstigt, wenn nicht forciert. In eine vergleichbare Richtung geht die Entwicklung pädagogischer Konzepte, die sich aktiv an Ungewissheit orientieren. Niklas Luhmann (2002: 134f.) hat bezogen auf die Bildungspraxis für ein Umdenken der Pädagogik von der Vermittlung gewissen Wissens zur Vermittlung der Fähigkeit des Ausnutzens von Nichtwissen plädiert. Er geht davon aus, dass die Ungewissheit der Zukunft in der Schule durchaus Wirkungen zeigt, wenn etwa der heimliche Lehrplan »angesichts der Ungewissheit der Zukunft größeres Gewicht« (ebd.: 135) gewinnt. Er schlägt daher vor, sich zum Nichtwissen nicht als Mangel, sondern als Produktivkraft zu verhalten, und Schülern, Teilnehmern, Klienten etc. einen positiven Bezug auf das Nichtwissen als Ausdruck der Ungewissheit und damit aber auch erst Gestaltbarkeit der Zukunft zu vermitteln. Eine aktive Orientierung der Erziehungswissenschaft an Nichtwissen und Ungewissheit ist jedoch keine bloße Entscheidungsfrage. Sie ist nicht zuletzt an forschungsbezogene und auch biographische Voraussetzungen geknüpft, die in der Regel nicht selbstverständlich gegeben sind. Ungewissheitssensible Forschung hängt von längerfristig abgesicherten institutionellen Rahmungen ab. Denn sie ist erheblich riskanter als ungewissheitsindifferente Forschung. Sie operiert nicht auf einem theoretisch und methodologisch-methodisch bewährten
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Fundament. Der Akzent liegt gerade auf der Generierung von neuem, theoretisch und auch methodologisch bedeutsamem Wissen, das nur in Grenzen, wenn überhaupt vorhersehbar ist. Solche meist qualitativ angelegte Forschung hat den Charakter von Probebohrungen in einem noch unbekannten Feld. Ihr Vorgehen ist daher hochgradig rekursiv, eher tastend als das quantitativ-nomothetischer Forschung, die theoretisch, methodologisch und methodisch im Blick auf feste Untersuchungsziele wissensmäßig eindeutig konturiert ist und daher linear kumulativ vorgehen kann. Bezogen auf die Forschungsgestalt der bildungsbiographischen Studie, auf die vorangehend rekurriert wurde, ist eine weitere Differenzierung angebracht, nämlich zwischen konzeptionell-integrierenden, eher theorieschließenden und damit -stabilisierenden Forschungskulturen einerseits und kreativ-experimentellen, theorieöffnenden, damit wissensgenerierenden Formen andererseits.5 Konzeptionell-integrierende Vorgehensweisen arbeiten mit weitgehend stabilen theoretischen Konzepten, methodologischen Festlegungen und methodischen Instrumentarien. Sie gehen von einem gesicherten theoretischen Modell des Falls aus, an dem schrittweise die Empirie abgearbeitet wird. Der Forschungsprozess wird mit Hilfe von Heuristiken, die in hohem Maße für die Empirie sensibel sind, zielorientiert strukturiert. Es werden Differenzen erzeugt, mit denen ein zunächst noch unbekanntes, nur vage vermessenes Feld systematisch erschlossen wird. Auf Grund seines zielstrebigen Vorgehens erbringt dieser Forschungstyp relativ schnell relativ Befunde, die dauerhaft Bestand zu haben scheinen. Dort wo schnell und gesichert Ergebnisse erwartet werden, wie in der durch Drittmittel geförderten, insbesondere der Auftragsforschung, liegt der Rückgriff auf diesen Forschungstyp nahe. Demgegenüber betont der kreativexperimentell vorgehende Forschungstyp den Prozesscharakter von Forschung. Er geht von einem dynamisch gefassten Untersuchungsgegenstand aus. Damit rückt eher das Nichtwissen und nicht das Wissen in den Mittelpunkt, und zwar nicht nur der angestrebten Befunde, sondern auch der eigenen Geltungsbedingungen und Konsequenzen seiner Anwendung, letztlich damit des theoretischen Rahmens, in dem neue Befunde gewonnen werden sollen, und der methodischen Instrumente, mit denen dieses geschieht. Theorien, Methoden und empirisches Wissen gelten mithin immer nur unter Vorbehalt, Wissen ist Wissen auf Zeit. Im Lichte dieses prozessualen Wissensbegriffs, ist Wissen als Übergang aus dem Nichtwissen definiert (vgl. Stichweh 1999; Rustemeyer 2003). Es ist »kondensiertes Beobachten« (Luhmann 1990: 145) und als solches das »Sediment einer Unzahl von Kommunikationen« (ebd.: 139). Es kristallisiert als Interpunktion im
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Zur Analyse von Forschungskulturen in der wissenschaftlichen Erwachsenenbildung/Weiterbildung vgl. Kade/Nolda 2012.
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Zeitverlauf, beschreibt daher immer nur eine »Version von Welt«, die »kontinuierlicher Revision, Überprüfung, Konstruktion und Rekonstruktion« unterliegt (Flick 2002: 72f.). Dieses Wissen wird zum Inbegriff »generalisierte(r) kognitive(r) Erwartungen« (Stichweh 1999: 464). Diese werden (nur) »vorläufig festgehalten«. Sie bleiben immer »änderbar«, weil »die Bereitschaft zum Wissenserwerb und zur Modifikation des Wissens und damit die Bereitschaft zum Lernen neuen Wissens erwartet werden kann« (ebd.). Bei einem solchen kreativ-experimentellen Vorgehen sind wiederholt schwierige Phasen im Forschungsprozess erwartbar, in denen dessen Fortgang gefährdet ist. Er schreitet nur phasenweise mit gewisser Stetigkeit voran. Im Modus rekursiver Reflexion geht es eher um die Vergewisserung der eigenen Grundlagen als um die Generierung neuen Wissens. Selbstbeobachtung wird ein kontinuierliches Moment im Forschungsprozess, sie prägt Phasen, in denen (Neu-)Strukturierungen der weiteren Forschung vorgenommen werden. Die gesicherte Etablierung solcher jeweils theoretisch, methodologisch oder methodisch akzentuierten Phasen der Selbstbeobachtung ist eine wesentliche Bedingung des produktiven Umgangs mit Nichtwissen und Ungewissheit im Forschungsprozess. Die reflexive Bearbeitung einer unsicheren und riskanten Forschungspraxis avanciert damit selbst zum Qualitätsmerkmal professionellen Handelns. Heinz Bude hat diesen Forschungstyp als einen Fall des von Robert Merton herausgearbeiteten »Serendipity Pattern« analysiert (vgl. Bude 2008). Serendipity meine eine »diskursive Unruhe, die Verhältnisse zwischen Begriffen, Methoden und Problemen verschiebt«. Dieser Effekt führt zu einem Gestaltwechsel im System des Wissens: »Eine merkwürdige Unklarheit in den Daten erzwingt eine Revision der Denkweise« (ebd.: 276). Im Horizont eines prozessualen, zeitabhängigen Begriffs von Wissen und damit Nichtwissen hat auch erziehungswissenschaftliches Wissen/Nichtwissen einen Gegenwartsindex. Es ist Moment von Nichtwissens-/Wissensübergängen, auch wenn diese zum Zeitpunkt von Wissensbehauptungen höchstens im Blick auf die Vergangenheit, nicht aber im Blick auf die Zukunft explizierbar sind. Die Entwicklung des Wissens impliziert entsprechend nicht nur seine Fortschreibung, sie birgt in sich auch die Möglichkeit der Umschreibung und Überschreibung, und zwar von Wissen ebenso wie von Nichtwissen (vgl. Koselleck 2003). Solche innovativ inspirierten Mutationen sind Ausdruck der Ablösung des Wissens von der Bindung an Vorstellungen von der Wirkmächtigkeit von Tradition. Wissen erscheint vielmehr als etwas, das im Übergang zwischen Vergangenheiten und Zukünften in immer neuen Gegenwarten »unablässig neu produziert wird. Und selbst, wenn es sich um altes Wissen handelt, muß man […] verstehen, an ihm einen Aspekt von Neuheit sichtbar zu machen« (Stichweh 2006: 41;
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vgl. Whitehead 1962: 147). Jean-Claude Kaufmann hat vorgeschlagen, alte Daten in größeren Zeitabständen noch einmal zum Gegenstand der Analyse zu machen. Im Grunde geht es dabei um den Vorschlag, die Zeit für den Übergang von Wissen in Nichtwissen zu nutzen, Kaufmann sieht in dieser hohen Selbstreferentialität das Medium einer »neuen Art der Produktion von Theorie« (Kaufmann 2010: 11f.). In deren Rahmen »erweist sich ein lineares Fortschreiten vom Konkreten hin zu allgemeineren Schlussfolgerungen als unmöglich (ebd.)«. Das einzige Mittel, um diese Unmöglichkeit zu umgehen, bestehe darin, »ein und dasselbe Material auf unterschiedliche Weise immer wieder neu zu bearbeiten, auf ältere Untersuchungen zurückzugreifen, indem man sie von einer anderen Seite angeht und theoretischere Werkzeuge verwendet« (ebd.). »Vielleicht« – so könnte man mit Erik Erikson bezogen auf ungewissheitssensible Forschung sagen – »darf man nicht mehr erhoffen als eine bewusste und geschulte Bewertung der Relativität auch der gesichertsten [historischen] Daten und unseres eigenen Status als Beobachter« (Erikson 1975: 67).
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II. Theoretische Aspekte und normative Dimensionen des Nichtwissens
Zu einem ›positiven‹ Verständnis von Nicht-Wissen in sozialphilosophischer Perspektive − am Beispiel des Vertrauens B URKHARD L IEBSCH Die fides [−] rückhaltlos gibt sie sich oder gibt sich hin. JEAN-LUC NANCY
1
[…] eine Art Flucht. Vor dem Hintergrundgeräusch, das das Wissen über den Lauf der Welt hervorruft […]. MAURICE BLANCHOT
1. I M
ZWEIFELHAFTEN
L ICHT
DES
2
W ISSENS
Heute liege alles im hellsten, gleichsam schattenlosen Licht des Wissens, befand der frühere Gnosis-Forscher Hans Jonas (1993: 43). Gerade das blendet die Sehenden und verhindert die Aufklärung, die man sich von diesem Licht erhofft haben mag, suggerierte er. Bedeutet das ironischerweise eine neue Gnosis? Stürzt gerade ein Übermaß an Licht die Sehenden selbst in eine unvermutete neue Dunkelheit? Von was für einem Licht ist hier die Rede, das blendende Helligkeit, aber auch − eben dadurch − Dunkelheit, das den Tag der Aufklärung und der Erkenntnis bedeuten kann, aber auch eine Nacht völliger Orientierungslosig-
1
Nancy (2007: 43).
2
Blanchot (2010: 123).
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keit scheint heraufbeschwören zu können?3 Man braucht den gnostischen Implikationen von Jonas’ Befund nicht nachzugehen, um seinen Hinweis darauf zu verstehen, dass nicht nur ein bestimmtes Wissen, sondern das Wissen als solches heute in Frage steht. Damit ging er weit über die bereits häufig getroffene Feststellung hinaus, das uns zur Verfügung stehende Wissen erfülle kaum mehr die Erwartungen, die man seit dem Anbrechen der Neuzeit an es geknüpft hat − angefangen beim Francis Bacon (1561−1626) zugeschriebenen, oft strapazierten Diktum Wissen ist Macht (knowledge itself is power; scientia potestas est) (Bacon 1597).4 Was auch immer hier genau unter Macht verstanden wird, mit einer solchen Deklaration übt man selbst Macht aus, eine Interpretationsmacht nämlich, die umso durchgreifender wirkt, als sie den Gedanken an Alternativen kaum mehr aufkommen lässt, so dass von der Macht der Interpretation allenfalls noch Spuren erkennbar bleiben − mit der Folge, dass das als Macht interpretierte Wissen gegenwärtig um so ratloser macht, wie es nicht einlöst, was man sich von ihm versprochen hatte.5 Ist Wissen auch dann noch Macht, wenn wir Erfahrungen der Ohnmacht, der Unfähigkeit und der Ausweglosigkeit mit ihm verbinden, Erfahrungen, die besseres Wissen nicht ohne weiteres aufzuheben verspricht? Demgegenüber wollte Jonas die Macht des Wissens selbst in Frage stellen. Ihm ging es nicht etwa darum, dass Wissen nicht genug Macht ist, oder dass wir mehr Wissen brauchen, um Macht auszuüben, wofür auch immer. Vielmehr drängte sich ihm eine zur Deklaration Bacons gegenläufige Einsicht auf: dass wir uns angesichts des schon zur Verfügung stehenden Wissens geradezu ohnmächtig − und durch das ›Licht‹ des Wissens keineswegs durchgängig ›erleuchtet‹ − fühlen; und zwar derart, dass es angezeigt sein könnte, nach etwas anderem als Wissen zu verlangen.
3
Auf diese Frage gab Hannah Arendt folgende Antwort: »Die sarkastische, widersinnig klingende Feststellung, das Licht der Öffentlichkeit verdunkelt alles« treffe »die Sache im Kern«. Das schrieb sie in ihrem Vorwort zu ihrem Buch Menschen in finsteren Zeiten (1968); vgl Arendt (2001: 9, 220). Die Finsternis, die schon in diesem Buchtitel anklingt, ist für Arendt aber nicht einer Vorherrschaft des Wissens geschuldet, sondern dem drohenden Verlust einer politischen Welt, die kein Gegenstand des Wissens ist, sondern im inter-esse der Menschen kommunikativ hervorgebracht wird. Das Licht, heißt es in Was ist Politik?, das »die Anwesenheit der Anderen erzeugen kann«, ist »trügerisch, solange es nur öffentlich und nicht politisch ist« (Arendt 2003: 45).
4 5
Siehe auch Hobbes (1959: 28), vgl. dagegen Krohn (1987: 87). Dass gerade darin die Macht von Interpretationen liegt, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht (Liebsch 2014).
ZU
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Tatsächlich entgleitet ungeachtet eines überbordenden Wissens vieles zunehmend der Kontrolle. Eben davon, meinte Jonas, haben wir ebenfalls ein Wissen − z. B. ein Meta-Wissen hinsichtlich absehbarer Folgen. Aber wir wissen nicht, was gegen sie zu tun wäre; oder, wenn wir das doch zu wissen glauben, wissen wir nicht, wie wir dieses Wissen umsetzen sollen beziehungsweise können. Wir sind weit entfernt von einer Stabilität, auf die Adam Smith noch im Vertrauen darauf glaubte bauen zu können, dass sich unbeabsichtigte Nebenund Spätfolgen unseres Tuns und Lassens langfristig zum Wohle aller wie von selbst konfigurieren werden. Stattdessen steigert Wissen nicht nur bis auf weiteres unsere Macht, sondern zugleich auch unsere Ohnmacht, indem es immer wieder Abstände zwischen Wissen und Können, Können und Vorhersehen, Bewirken und Verantwortung aufreißt. So verkehrt sich Wissen als Macht in Wissen als Ohnmacht. Nicht bloß deshalb aber, weil wir zu wenig, falsches oder sogar zu viel Wissen haben, ohne dass wir die Folgen seiner Anwendung hinreichend absehen und im Vorhinein verantworten könnten, sondern deshalb, weil das Wissen als solches in Frage steht (vgl. Fink 1974: 73). Aber was sollte an dessen Stelle treten, wenn sich herausstellt, dass das fragliche Wissen (oder dessen Anwendung) zur Bedrohung wird? Hilft gegen wie auch immer mangelhaftes, im Überfluss vorhandenes oder geradezu gefährliches Wissen nicht stets nur besseres Wissen? »Sollte es eine Gefahr des Wissens geben, so kann der einzige Schutz davor nur in noch mehr Wissen bestehen«, behauptete ein prominenter Molekularbiologe (zit. nach Kay 2005: 365). Sind wir in dieser Perspektive nicht zum Wissen und zur Forschung nach besserem Wissen geradezu verurteilt, das jene »Gefahr des Wissens« nicht einfach abwenden kann, sondern womöglich noch steigert? Würden diejenigen, die nach Alternativen zum Wissen forschen, so gesehen nicht buchstäblich wider besseres Wissen handeln? Aber wissen wir tatsächlich, dass nur die Überwindung oder Aufhebung relativen Nicht-Wissens in künftigem besserem Wissen die in ihm liegenden Gefahr wird bannen können (worin auch immer diese Gefahr genau liegen mag)? Steht alternativ womöglich nur ein Ausweg in ignorantes Nicht-Wissen offen? Oft wird behauptet, es mangele uns gar nicht an Wissen, sondern vielmehr an konsequenter Realisierung des schon Gewussten, an selektiver Einsicht in das wirklich Wissenswerte, an moralischer Qualifikation eines verantwortlichen Gebrauchs verfügbaren Wissens oder auch an der Fähigkeit, das (vorläufig) nicht zu Wissende auszuhalten. Auch Diskussionen um diese Fragen und darum, was besseres Wissen eigentlich ausmacht, tragen jedoch weiter dazu bei, dass uns das bislang akkumulierte Wissen über den Kopf wächst: Seine Anhäufung und Verteilung in zahllosen Archiven, Bibliotheken und virtuellen Speichern spricht
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buchstäblich Bände. Die Mechanismen der Archivierung, Speicherung und Auswertung kommen nicht gegen die exponentielle Ansammlung und Distribution des Wissbaren an. So kann der schiere Zuwachs an Wissen durch neues Wissen und im neuen Wissen zu immer mehr Nicht-Wissen führen, von dem wir wiederum wenig wissen, so rasant steigt jeden Tag statistisch das Missverhältnis zwischen dem Wissen, das uns tatsächlich zur Verfügung steht, einerseits und einem wieder zum Nichtwissen degenerierten, vergessenen Wissen andererseits, von dem kaum noch jemand weiß, dass es bereits vorliegt. Es ist insofern keineswegs ausgemacht, dass der Prozess des Wissens als ein durch und durch rationaler gelten kann – wovon aber Epistemologien in der Regel ausgehen, die unterstellen, in der Gegenwart des Wissens finde sich dessen Geschichte so aufgehoben, dass sie das Richtige und das Falsche, überwundene Irrtümer und fruchtbare, weiterführende Fragen zuverlässig voneinander zu scheiden erlaubt (vgl. stellvertretend Piaget 1975; Canguilhem 1979; Bachelard 1987; Toulmin 1983; Rheinberger 2007). Diese Epistemologien rechnen wohl damit, dass neues Wissen altes ersetzt oder verdrängt, so dass ein bestimmtes Wissen auf Kosten anderen Wissens geht; sie reflektieren in der Regel aber weder ein konstitutives Nicht-Wissen im Wissen (vgl. Derrida 1976: 271; Gamm 2012: 116)6, noch auch Kehrseiten eines Nicht-Wissens, die ein bestimmtes Wissen − oder Wissen als solches − verbergen könnte. Indessen sind vor allem nach Martin Heidegger und Maurice Merleau-Ponty vielfach Phänomene einer Subversion des Wissens zur Sprache gekommen, die sich ihm relativ beziehungsweise absolut entziehen oder es unterwandern. Dabei ging es weniger (wie bei Michel Foucault) um eine Subversion durch Wissen (vgl. Foucault 1987), als vielmehr um Phänomene einer Subversion, die das Wissen als solches erfährt − sei es im Sinne eines das Wissen fundierenden unbestimmten Nicht-Wissens (Gamm 2000: 275-326), sei es im Sinne eines »blinden Flecks« im Wissen oder im Sinne einer simultanen und inkompossiblen Entbergung von Wissbarem einerseits und Verbergung eines ›Anderen des Wissens‹ andererseits, das niemals in einem besseren Wissen aufhebbar zu werden verspricht.7 Im Anschluss an Heidegger hat die philosophische Diskussion um diese Fragen eine nicht selten radikal technik-kritische, ontologische Wendung genom-
6
Ein konstitutives Nicht-Wissen im Wissen hat auch H. Blumenberg in seinen metaphorologischen Schriften und in seinen auf ihnen aufbauenden Beiträgen zu einer Theorie der Unbegrifflichkeit mit Nachdruck zur Geltung gebracht. Zur Übersicht vgl. R. Konersmann (2006).
7
Vgl. in diesem Sinne Merleau-Ponty 1986, besonders S. 170.
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men, die die Wurzel des Übels eines überschätzten und übermächtig gewordenen Wissens in der geschichtlichen Formation einer Subjektivität meinte erkannt zu haben, die sich am Ende die ganze Welt im Modus des Herstellens zu beliebigen Zwecken dienstbar zu machen drohe (vgl. Arendt 1989: 165ff.; Luckner 2008). Infolge dieser Hinwendung der Technik-Kritik zu einer ›seinsgeschichtlichen‹ Ontologie erfahren Fragen nach Alternativen im und zum Wissen beziehungsweise nach einem Nicht-Wissen, das sich nicht als bloßer Mangel an Wissen verstehen lässt, bis heute vielfach eine nachhaltige Depolitisierung (Heidegger 1988). Demgegenüber insistierte der Hermeneutiker und Heidegger-Schüler Eugen Fink mit Recht darauf, dass die Frage nach dem Verhältnis des Wissens (in allen seinen verschiedenen Formen) zu dem, was sich ihm relativ oder absolut entzieht, ihrerseits kein Problem des Wissens ist und dass diese Frage an den Kern des – radikal strittigen (vgl. Fink 1974: 165) – menschlichen Selbstverständnisses im Verhältnis zu sich, zu den Anderen und zur Welt rührt, die nur als politische Gestalt annimmt.8 Im Kontext einer solchen, tief greifendem kulturellem Wandel unterliegenden politischen Welt stellt sich allerdings nicht nur die Frage nach der menschlichen Bedeutsamkeit des Wissens, nach seinen künftigen Aussichten und Grenzen als solchen. Vielmehr wird politisch speziell darum gestritten, wer darüber befindet, was genug oder zuviel des Guten (des Wissens) ist – und für wen. Wer verfügt über (welches) Wissen? Wie wird es gespeichert, verfügbar gemacht, abrufbar bereitgehalten − oder auch dem Zugriff Anderer entzogen? Diese Fragen stellen sich umso dringlicher, als das Wissen ökonomischer und politischer Einflussnahme ausgesetzt ist − angefangen bei der Fragwürdigkeit einer algorithmischen Reduktion der virtuellen Komplexität, die anonyme Server in der Form von Listen präsentieren, die unsere Aufmerksamkeit höchst selektiv lenken,9 über die neueste Vernetzung der verschiedenen Google-Dienste bis hin zur chinesischen und iranischen Zensur und den Manipulationen der Öffentlichkeit seitens des japanischen Tepco-Konzerns, die dank der Berichterstattung anlässlich des Jahrestages der Katastrophe von Fukushima nunmehr offenkundig sind. Sogar der damalige japanische Ministerpräsident musste inzwischen zugeben, massiver Desinformation seitens dieser Firma zum Opfer gefallen zu sein.10
8
Ausführlich dazu Liebsch (2012a).
9
Seit langem besteht der Verdacht der Manipulation durch eigens zu dem Zweck eingesetzte Unternehmen, die Algorithmen zugunsten interessierter Kreise zu beeinflussen, welche dafür zahlen.
10 Die fraglichen Zusammenhänge hat der Film Die Fukushima-Lüge ausgezeichnet dokumentiert.
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Die öffentliche Diskussion um jene Fragen läuft meines Erachtens darauf hinaus, energisch einen Primat des Demokratischen beziehungsweise des Politischen über das Epistemische einzuklagen (woraus man nicht simplifizierte Gegensätze ableiten sollte).11 Etwas wissen zu können (oder nicht zu wissen), ist jedenfalls eines; etwas anderes aber, wer von einem Mangel oder Zuviel an Wissen tangiert wird und wo Zugänge zum Wissen reguliert werden. Manchmal geht es dabei (wie bei pränataler Diagnostik und genetischem Screening) um Spezialfragen, die nur Einzelne und engste Angehörige in ihrem individuellen Leben betreffen; häufig geht es darüber hinaus aber auch um die gesellschaftliche Einschätzung bestimmter Wissensformen insgesamt – etwa im Bereich der sogenannten life sciences derjenigen Wissensformen, die den genetischen Code nicht nur »lesbar«, sondern auch manipulierbar werden lassen (vgl. Blumenberg 1986: 327-409). Inzwischen steht aber auch wieder verstärkt der Status des Wissens als solchen in Gesellschaften auf dem Spiel, die durchgängig zu sogenannten Wissensgesellschaften geworden sind, wenn wir einigen Beobachtern glauben können (vgl. Stehr 2000: 51-77). In gegenwärtigen Beschreibungen dieser Gesellschaften hat der Begriff des Wissens eine derart uferlose Ausweitung erfahren, dass inzwischen ein Punkt erreicht ist, an dem sich seine begrifflichen Konturen aufzulösen drohen. Doch geht es mir im Folgenden nicht darum, diese Entwicklung zu bemängeln oder Korrekturvorschläge zu unterbreiten. Vielmehr werde ich mich vor dem skizzierten Hintergrund zunächst darauf beschränken, das Verständnis des Verhältnisses zwischen Wissen und Nicht-Wissen zu diskutieren, das ungeachtet der noch genauer zu umreißenden Ausdehnung des Wissensbegriffs allgemein vorherrscht (2). Sodann gehe ich auf die derzeit dominierende epistemische Deutung von Nicht-Wissen (3) und auf den (politischen) Welt-Bezug des Wissens ein (4), um dann zu zeigen, inwiefern ein ›positives‹ Verständnis von Nicht-Wissen (bezüglich Anderer) angezeigt sein könnte (5), das anhand des Phänomens des Vertrauens zu konkretisieren ist (6). Daraus wird sich am Ende eine politische Schlussfolgerung ergeben (7).
2. W ISSEN
UND
N ICHT -W ISSEN
»All of us are knowers, all the time«, schrieb Aldous Huxley (1960: 378) in seinem Essay Knowledge and Understanding. Jedoch haben sich inzwischen
11 Wobei die Begründungen der von Feyerabend (1981) bis Rorty (1988) vertretenen Positionen kaum auf einen Nenner zu bringen sind.
ZU
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VON
N ICHT -W ISSEN
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vielfältige Begriffe des Wissens ausdifferenziert, so dass sich nur noch schwer allgemein von Wissen reden lässt. Ich nenne hier nur einige der wichtigsten Ausdifferenzierungen: • • •
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Es ist längst über den klassischen Gegensatz von doxa und episteme hinaus (Platon) (vgl. Vollrath 1977; Held 2010: 169f.). Es orientiert sich nicht mehr generell am Ideal evidenter Einsicht (Descartes) (vgl. Liebsch 2012b: 55-88). Es changiert zwischen Glauben, Meinen und Gewissheit (Kant), ohne sich aber noch auf subjektiv und/oder objektiv zureichendes Fürwahrhalten reduzieren zu lassen, das sich als Erkenntnis ausweisen ließe (vgl. Sandkühler 2009). Es verspricht nicht länger, im Ganzen in der Subjektivität geistigen, absoluten Sich-Wissens aufhebbar zu werden, wie es sich Hegel vorgestellt hatte (Hegel 1980: 575ff.; Fink 1977: 132-149). Charles S. Peirce, der noch an Kant und Hegel anknüpfte, entdeckte die pragmatische Funktion von Wissen in der Form von Überzeugungen (beliefs), die uns bis auf weiteres als richtig, (relativ) gut begründet erscheinen, aber nicht auf letzte, unanfechtbare Gründe zurückgeführt werden können (Peirce 1975). Diese Überzeugungen können sich im Habitus eines Lebens manifestieren, das sich gewohnheitsmäßig nach Maßgabe eines auf diese Weise unbewusst gewordenen Wissens vollzieht. Im Anschluss an den antiken Begriff der hexis haben das vor allem soziologische Forschungen zu einer »Logik der Praxis« als einer Form leiblich inkarnierten Wissens deutlich gemacht (vgl. Bourdieu 1993). Anstelle eines propositionalen knowing that manifestiert sich praktisches Wissen in einem impliziten knowing how (Ryle 1969: 26-77) oder in Schemata leiblichen Verhaltens (Merleau-Ponty 1976), dem womöglich kein epistemisches Subjekt zugrunde liegt, wie es sich Jean Piaget (1980) vorgestellt hatte.
Im gleichen Maße, wie das Wissen nicht mehr an Idealen des Epistemischen oder der Evidenz gemessen wird, die einem theoretischen Bewusstsein vorbehalten bleiben, hat man es im Logos der praktischen Welt lokalisiert; und zwar nicht nur in der Form praktischer Klugheit (phronesis) als einer Kunst des Handelns12, sondern darüber hinaus in unbewussten Formen, die die Leiblichkeit
12 Siehe dazu Gadamer (1982: 41-57; 1985: 230-248) und de Certeau (1988).
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durchdringen. Dem entsprechend ist die Erforschung des Wissens längst nicht mehr der Philosophie oder epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Untersuchungen verschiedener Rationalitätsformen vorbehalten, die das Erbe von Ansprüchen auf Wahrheit angetreten haben, welche ursprünglich das Wissen aus Einsicht hatte erfüllen sollen. Von den Theorien symbolischer Formen des Wissens (Ernst Cassirer) über die Soziologie vergesellschafteter Formen des Wissens (Karl Mannheim) bis hin kulturwissenschaftlichen Archäologien und Genealogien des Wissens widmen sich alle Kulturwissenschaften selbst subtilsten Phänomenen und Spuren des Wissens. So führen sie vor Augen, wie weit sich unser Verständnis von Wissen von ursprünglichen Idealen wie der episteme entfernt hat13 und wie tief es im gleichen Zug bis in alle Verästelungen menschlichen Lebens eingedrungen ist14, so dass es alles zu imprägnieren scheint15, selbst die erwartete Zukunft, in der das vorläufig noch nicht Gewusste bereits »virtuell überwunden« (Emmanuel Levinas) scheint kraft eines künftigen besseren Wissens. Gerade dieser vermeintliche Triumph eines ubiquitär gewordenen, vielfach ausdifferenzierten Wissens, dem sich angeblich nichts zu widersetzen vermag, lässt nun ironischerweise ein Verlangen nach Nicht-Wissen aufkommen. Nicht freilich im Sinne einer dialektischen Ironie, die an der Aussicht auf die Aufhebbarkeit vorläufigen Nicht-Wissens in einem künftigen Wissen nichts ändern würde, sondern im Lichte des Verdachts, wir hätten den Sinn für ein Nicht-Wissen aus den Augen verloren, das nicht in einer Zukunft besseren Wissens aufhebbar zu werden verspricht. Weit entfernt, nur als vorläufiger Mangel an Wissen in Betracht zu kommen, den man vermutlich wird beheben können, tritt Nicht-Wissen dem Wissen quasi selbständig entgegen − was die Frage aufwirft, ob wir uns nicht grundsätzlich von einer bloß privativen Deutung des
13 Vgl. Foucault (1981: 253-280; 1983; 2001: 20ff.). Wenn Foucault hier von einer »Wiederkehr des Wissens« spricht, so meint er ausdrücklich eine Vielzahl von Wissensformen, die sich nicht an epistemologischen Maßstäben der etablierten Wissenschaften messen lassen. 14 In diesem Zusammenhang firmiert das Wissen freilich vielfach unter anderen Titeln (»inkarniertes Denken«, »Können« etc.); vgl. Levinas (1992: 143-156). Hier wird der Begriff des Wissens in der weitesten Bedeutung genommen, so dass er jegliches intentionales Bewusstsein und jegliche Identifikation von etwas als etwas umfasst, die als aussagbar gilt (ebd.: 86, 112). 15 Überaus deutlich wird das in der Soziologie des Wissens bei P. Berger und Th. Luckmann (1980: 1).
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Nicht-Wissens verabschieden müssen.16 Warum und inwiefern es sich so verhalten könnte, möchte ich im Folgenden ausgehend von der bislang zweifellos vorherrschenden privativen Deutung des Nicht-Wissens in Grundzügen erklären.
3. Z UM
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Ungeachtet einer irreduziblen Vielfalt von Manifestationsformen, Dimensionen, Bereichen, Subjekten, Gegenständen und Epistemologien des Wissens, herrscht bislang eine epistemische Deutung von Nicht-Wissen vor, die Folgendes besagt (1-6): (1) Wir fragen nach Wissen vom Nicht-Wissen aus; wir verlangen nach Wissen, weil wir es nicht haben, aber brauchen (typischerweise in Situationen, wo wir nicht wissen, wie man etwas machen muss, wie sich etwas verhält usw.). (2) Im Lichte des Wissens, das wir haben, erscheint das Wissen, das wir nicht haben, nur noch privativ, als ein Mangel an Wissen. Besser wäre es demnach allemal, mehr zu wissen (wenn schon nicht alles). (3) Wissen ist so gesehen auf besseres (umfassenderes, detaillierteres, …) Wissen hin angelegt. (Ich sehe hier davon ab, was im Einzelfall als ›besseres‹ Wissen gilt oder zählt.) Das impliziert: (4) Wir (müssen und können) jeweils wissen, was das schlechtere vom besseren Wissen unterscheidet. Wissen gibt es nur in dieser Differenz. Es hebt sich ab von vorherigem, es begleitendem oder künftigem, schon absehbarem Nicht-Wissen als einem Noch-nicht-Wissen, so wie das etablierte Wissen ein Nicht-mehrnicht-Wissen ist. Am Anfang unseres Fragens nach Nicht-Wissen steht die Erfahrung einer Differenz im Sinne der Fraglichkeit bisherigen Wissens, die zu besserem, angemessenerem Wissen führen muss. (5) So fängt das Fragen nach dem Nicht-Wissen als solchem mit dem Wissen an, dass diese Differenz über bloßes Nicht-Wissen hinaus gelangt ist. Wissen ist insofern überwundenes Nicht-Wissen. Es enthält die Wahrheit über das relative Nicht-Wissen, das es überwunden hat, meinte Hans-Georg Gadamer (1975: 337) unter Berufung auf Hegels Lehre dialektischer Negativität. (6) Das Wissen kann seine Geschichte nur rekonstruieren, d. h. zeigen, wie es vorheriges Nicht-Wissen überwunden hat, wobei es damit rechnen muss, seinerseits durch Wissen überwunden, abgelöst oder in ihm aufgehoben zu werden. In Zukunft ist also damit zu rechnen, dass manches überhaupt erst als (noch) nicht Gewusstes aufscheinen wird. Bis es so weit ist, wissen wir nicht im Einzelnen, was wir (noch) nicht wissen. Darin,
16 Vgl. Blanchot (1987: 48), wo es heißt: »le non-savoir est un mode de compréhension de l’homme«; s. auch Blanchot (2011: 119ff.).
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möglichst zu präzisieren, was wir noch nicht wissen, liegt wesentlich der Sinn derjenigen Prozesse, von denen man sich Erkenntnis verspricht. Der Anfang der Erkenntnis liegt demnach nicht in einem pauschalen Wissen, dass man nichts weiß, sondern in einem bestimmten Wissen davon, was man (noch) nicht weiß, aber vielleicht ›in Erfahrung bringen‹, also in näherer oder fernerer Zukunft wissen könnte. Erkenntnis gewinnende Prozesse arbeiten sich insofern stets an relativem Nicht-Wissen ab. Diese epistemische Deutung von Nicht-Wissen liegt auch Theorieformen zugrunde, die vor allem seit James M. Baldwin und Jean Piaget als Genetische Epistemologien bekannt sind (Broughton/Freeman-Moir 1982). Piaget, der sich besonders von Baldwin und Henri Bergson inspirieren ließ, versuchte zu zeigen, dass die Erkenntnis biologische Wurzeln hat. Demnach sind wir schon als sensomotorische Organismen epistemische Subjekte, in deren Leben ein Prozess der Erkenntnisgewinnung abläuft (Piaget 1983). Und das Interesse an Wissen stünde uns so gesehen gar nicht zur Disposition, wenn es denn stimmt, dass unser Leben geradezu in Erkenntnisgewinnung besteht. Im Übrigen sollte man sich mit Kant an die Grenzen der Erkenntnis halten, davon bleibt auch Piaget überzeugt. Nicht nur die einst verachtete doxa, auch beliebige beliefs (Überzeugungen) sollten sich an dieser Maßgabe messen lassen. Was auch immer sonst noch gelegentlich als Erkenntnis ausgegeben wird (Piaget sprach ein wenig herablassend von »Weisheit« [sagesse], die er lediglich als Pseudo-Wissen den Philosophen zubilligte), kann Piaget zufiolge eigentlich nicht Anspruch darauf erheben, als Wissen gelten zu dürfen (Piaget 1974). Dagegen ist an die genealogische Befragung des Erkenntnisprozesses selbst zu erinnern, die nach Kant schon im 19. Jahrhundert einsetzte. Dieser Prozess läuft nicht von selbst ab. Er verdankt sich vielmehr einem Willen zum Wissen, behauptete Friedrich Nietzsche (1980: 510f.). Vor dem Wissen liegt der Wille, wissen zu wollen. Demnach wären wir keineswegs quasi dazu verurteilt, uns als epistemische Subjekte um Wissen und Erkenntnis zu bemühen. Es wäre ja auch vorstellbar, nicht wissen zu wollen beziehungsweise sich dem Wissen als solchem zu verweigern. Nietzsche begriff den Willen zum Wissen in historischer Perspektive als eine Ermächtigung des Wissens (in bestimmten Formen, zum Beispiel eines praktischen Verfügungswissens im Sinne Francis Bacons, oder einer instrumentellen Rationalität), deren Grenzen uns etwa in ökologischer, langfristiger Sicht seit langem beschäftigen. Auch ein derart ermächtigtes Wissen hat es aber in mehrfacher Hinsicht mit Nicht-Wissen zu tun: Im Prozess des Wissens liegt (relatives) Nicht-Wissen (sei es als bereits überwundenes, sei es als noch zu überwindendes, mit dem man sich auseinandersetzen muss, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen); aber auch vor
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dem Wissen liegt Nicht-Wissen. Dieses ist aber nicht als bloße Privation des Wissens zu verstehen, sondern als Anderes des Wissens, durch das es überhaupt erst möglich wird. Auch jenseits des Wissens liegt wiederum Nicht-Wissen, das ebenfalls nicht privativ aufzufassen ist. Selbst Piaget mochte nicht völlig ausschließen, dass jenseits des Wissens noch ein Anderes liegt − möglicherweise eine gewisse Weisheit …
4. Z UM W ELT -B EZUG DES W ISSENS In unserer gegenwärtigen Kultur des Wissens genießt dieses weithin Vorrang, ohne dass den Fragen besondere Aufmerksamkeit geschenkt würde, woher der Wille zum Wissen eigentlich rührt, an welche Grenzen er möglicherweise stößt, ob man von ihm ablassen könnte und ob uns etwas über ihn hinauszuführen verspricht. Diese Kultur privilegiert das Wissen17 vielmehr generell als diejenige Form der Erfahrung, die wirklich ›zählt‹, insofern sie effektiv Gewusstes als verwertbaren Ertrag einbringt. Und zwar im Bezug auf eine Welt, die als wissbar, d. h. möglichem Wissen weitestgehend zugänglich gilt.18 Als die ideale, paradigmatische und prototypische Form des Wissens gilt seit Aristoteles die Feststellung, die assertorische, prädizierende Rede, die möglichst eindeutig als richtig zu beurteilen sein sollte. Ihr traut man zu, auszusagen, was der Fall ist. Und nach Ludwig Wittgensteins Tractatus kann die Welt ja angeblich als all das definiert werden, was der Fall ist und sich so dem Wissen darbietet (Wittgenstein 1979: 11). Der späte Wittgenstein mit seiner Gebrauchstheorie der Bedeutung und mit seiner Theorie der Sprachspiele und der Lebensformen brachte dagegen bis heute folgenreiche, inzwischen auch radikalisierte Gegenargumente vor. Ihnen zufolge bildet Wissen gar nicht eine ihm als Komplex von Sachverhalten voraus liegende Welt ab, sondern geht in kommunikative Formen der Hervorbringung beziehungsweise Zeitigung einer (kulturellen) Welt ein, die keineswegs fertig vorliegt, zumal nicht als eine Welt gemeinsamen, politisch zu regelnden Lebens.
17 Oder vielmehr bestimmte Auffassungen von Wissen wie etwa die Information. Ich komme weiter unten darauf zurück. 18 Eine solche Kultur weiß demnach nichts von einer ästhetischen Produktivität, die gerade − in einem nicht-privativen Sinne − darauf beruht, »nicht [zu] wissen, dass es bereits eine Kunst gibt, nicht [zu] wissen, dass es bereits eine Welt gibt« (Blanchot 2012: 126).
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Schon Kant sprach (in weltbürgerlicher Perspektive) vom »Dasein eines Ganzen anderer, mit mir in Gemeinschaft stehender Wesen (Welt genannt)« (Kant 1977: 411) und legte dabei nahe, diese Welt sei erst im Werden; es handle sich um eine »unfertige Welt« (Friedrich Schlegel), die ohne künftiges menschliches Zutun überhaupt nicht Bestand haben könne. Hannah Arendt konnte hier mit ihrem politischen Weltbegriff anknüpfen, der nicht die Erde meinte, sondern den Raum einer politischen Koexistenz, der nur im Zusammenleben mit Anderen gestiftet wird (Arendt 1993); und zwar als ein politisch möglichst stabiler und verlässlicher. Hannah Arendt sah noch nicht die von Hans Jonas19 hervorgehobenen Aporien voraus: etwa die, dass zur künftigen Stabilisierung immer mehr Wissen gebraucht wird, das aber wiederum zunehmend Folgen zeitigt, die immer weniger beherrschbar scheinen. Nicht nur Risiken, sondern auch Gefahren sind hier im Spiel, die, wie Jonas meinte, unter allen Umständen abgewendet werden sollten. Jonas hat in verantwortungsethischer Perspektive zu zeigen versucht, wie die weltbürgerliche, politische Welt künftig Lebender von jetzt verfügbarem Wissen und von nach ihm sich richtendem Handeln abhängt. Nach seiner Überzeugung sind es die gegenwärtig Lebenden ihren Nachkommen schuldig, die ökologischen Lebensgrundlagen der menschlichen Gattung zu schonen und gewissermaßen treuhänderisch zu verwalten,20 statt sie rücksichtslos für gegenwärtige Zwecke auszubeuten; andererseits dürfen sie dem künftigen Leben Anderer nicht vorgreifen, insofern diese Anspruch darauf haben, ihr Leben selbst zu leben, das nicht vorweg dazu verurteilt werden dürfe, ein vorgegebenes Programm abzuwickeln (vgl. Liebsch 2005). Einerseits kommt in dieser Philosophie futurischer Verantwortung für das Leben Anderer einem antizipierenden Wissen verstärkte Bedeutung zu. Im Sinne einer »Heuristik der Furcht« malt es Handlungsfolgen aus, deren Bewertung sich am Primat von Ansprüchen orientieren müsste, die unter keinen Umständen verletzt werden dürfen (Jonas 1982: 63f.). Andererseits gilt hier als Maßstab das künftige Selbst Anderer, das überhaupt nicht Gegenstand möglichen Wissens ist. Zu Anderen, die wir als Andere würdigen, haben wir nicht im Modus des Wissens, sondern der Achtung oder der Anerkennung ein praktisches Verhältnis, das gerade nicht voraussetzt, wir könnten oder sollten wissen, mit wem wir es zu tun haben (vgl. Jonas 1987: 188; Liebsch 2012c).
19 Auf den ersten Blick ähnlich wie Arendt stellt Jonas fest: »Die irdische Welt ist unsere Welt«, doch dabei hatte er im Sinn, auch die politische Welt in eine Ontologie der Natur einzubetten, was Arendt fern lag (vgl. Jonas 2005: 324, 376). 20 Von der Begründung dafür sehe ich ab; mir geht es hier nur darum, wie Jonas die Bedeutung des Wissens und des Nicht-Wissens neu einschätzt.
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5. Ü BERGANG ZU EINEM › POSITIVEN ‹ V ERSTÄNDNIS VON N ICHT -W ISSEN ( BEZÜGLICH ANDERER ) Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es hier gleich mehrfach um ein NichtWissen hinsichtlich Anderer geht. Erstens geht es um ein Nicht-Wissen, das darin liegt, dass wir nicht (zureichend beziehungsweise letztlich gar nicht) wissen können, wer der beziehungsweise die Andere ist (oder morgen sein wird). Daraus wird, zweitens, abgeleitet: wir sollten Anderen so begegnen, dass wir sie nicht einem vorgreifenden Wissen unterwerfen. Wenn wir sie gegen ein vorgreifendes Wissen in Schutz nehmen, das sie auf eine bestimmte Identität (im Sinne der Selbigkeit) festlegen würde, erschöpft sich das Nicht-Wissen bezüglich Anderer nicht in einem Mangel an Wissen, sondern geht positiv in einen Modus der Achtung ihrer Anderheit ein. Die Achtung bezieht sich in diesem Verständnis auf das Selbst Anderer, deren Anderheit unaufhebbar und dem Wissen entzogen bleibt. Diesen Gedanken hat vor allem Paul Ricœur (1997, 2015) entwickelt, der (mit Blick auf Levinas) behauptet, die Alterität Anderer entziehe sich letztlich jeglichem kognitiven Zugriff und Verstehen. So bleiben uns Andere in ihrer Anderheit fremd21 − was aber gerade nicht als bloßes Versagen unserer sozialen Erfahrung (unserer Sensibilität, unseres Verstehens und Denkens) gedacht wird.22 Vielmehr insistiert Ricœur darauf, der Andere verlange danach, als Anderer, uns letztlich fremd bleibender geachtet oder anerkannt zu werden beziehungs-
21 Und zwar auch in jeder Antwort auf sie beziehungsweise auf ihn, »da wir im Anderen nie sicher sein können, nicht einzig die immer noch dialektischen Formen des Andersseins und nie das Unbekannte, außerhalb des Einen und der Einheit, des Anderen zu erkennen« (Blanchot 2011: 135). 22 Auch hier verweist der Gedanke des Entzugs auf ein (relatives) Wissen, das wir auf Andere beziehen können. Es geht um einen Entzug im Bezug oder über den Bezug hinaus, so dass auch ein absolutes Nicht-Wissen hinsichtlich der Alterität Anderer nicht aus jeglichem Welt-Bezug herausfällt. Keinesfalls läuft diese Position auf eine abstrakte Hypostasierung einer absoluten, auf kein relatives Wissen mehr zu beziehenden Alterität hinaus. Im Übrigen geht es nicht um eine rein logische Koordination von absolutem und relativem Nicht-Wissen, sondern um eine Phänomenologie der Erfahrung, in der sich die Alterität des Anderen gegenüber jeglichem Zugriff auf sie als widerständig, insofern als irrelativ erweist. Dass und wie dies im Einzelnen geschieht, müssten allerdings Analysen historisch kontingenter Praktiken der Würdigung Anderer konkret zeigen, die zweifellos kulturellem Wandel unterliegen und nicht darauf schließen lassen, es gebe eine objektive Grenze, jenseits derer der Andere als dem Wissen entzogen gelten muss. Vgl. zum Widerstandsbegriff Liebsch (2011a).
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weise er verdiene Achtung und Anerkennung und behaupte seine Anderheit jenseits des Wissens, so dass auch eine Deutung der Anerkennung als eine Form der Erkenntnis in die Irre führt.23 Es geht nicht um ein anderes (etwa praktisches) Wissen im Gegensatz zu einem bloß kognitiven Wissen, sondern um ein Jenseits des Wissens, das uns gerade als unserer Erfahrung letztlich Entzogenes24 zur Achtung Anderer herausfordert. Hier wird das Wissen als solches zurückgewiesen, eben diese Zurückweisung aber zur ›positiven‹ Herausforderung der Achtung und Anerkennung Anderer. Auch wer wir selbst im Verhältnis zu Anderen sind, ist überhaupt nicht zu wissen. Das zeigt sich nur indirekt und nachträglich im Modus der Narrativität – das heißt in der Erzählung, die stets nachträglich erfolgt; und im Modus der praktischen Selbst-Bezeugung, die niemals beweisen kann, wer wir sind.25 Hier geht es nicht bloß um ein Nicht-Wissen-Können26, sondern darüber hinaus um die Würdigung der Freiheit Anderer, die sie nicht auf ein Wissen darum festlegt, wer oder was sie sind, das heißt die realisiert, dass sie zumal als sich und Anderen Fremde niemals in ihrer Identifikation als Selbst oder als Selbiges aufgehen können (vgl. Ricœur 1996).27 Eine solche, positive Affirmation des Nicht-Wissens widerspricht eklatant jeglichem Ansinnen, Andere etwa mit bio-technischen Mitteln möglichst ›restlos‹ zu identifizieren. Tatsächlich haben Molekularbiologen in Aussicht gestellt, eines Tages werde es möglich sein, »daß wir unser Selbst […] anhand der Information identifizieren können, die auf einer einzigen Compact-Disc (CD) enthalten ist« (Kay 2005: 423). Schließlich seien die ca. drei Milliarden DNABasen, aus denen unser Erbgut besteht, auf einer solchen CD ohne weiteres unterzubringen. Wenn das zutrifft, dann könnte man unter Hinweis auf eine Speicherung des Genmaterials, das als komplexe Information über unser Selbst aufgefasst wird, sagen: »Hier ist ein menschliches Wesen. Das bin ich!« − oder irgendein Anderer (ebd.: 15). Demgemäß wäre es möglich, die DNA als Information und dieses wiederum als Wissen zu verstehen, das sich auch virtuell repräsentieren ließe. Dieses Wissen würde sich auf ein noch lebendes, schon totes
23 In seinem Buch Wege der Anerkennung rückt Ricœur (2006) gleichwohl das Anerkennen und das Erkennen eng zusammen. 24 Eben deshalb bleibt das, was hier als ein »Jenseits des Wissens« zur Diskussion steht, stets auf Erfahrbares und Wissbares bezogen. 25 Vgl. zum Gedanken des Selbst-Entzugs im Verhältnis zu sich E. Angehrn (2003: 224f.). 26 Oder um ein Nicht-Wissen-Wollen bzw. -Dürfen wie beim »Recht auf Nicht-Wissen«, dem Jonas an einer oben zitierten Stelle (1987: 88) nahe kommt. 27 Konsequenzen beleuchtet in pädagogischer Perspektive A. Schäfer (2005).
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oder erst zu erzeugendes »living thing« als dessen biologische Essenz beziehen (ebd.: 165). Die modernen life sciences haben zu derartigen Reduktionen vielfach Anlass gegeben; und nicht wenige Forscher haben sie auch propagiert, um über die Lesbarkeit, Schreibbarkeit, Kopierbarkeit und Editierbarkeit des sogenannten genetischen Codes hinaus dessen Umarbeitung in Aussicht zu stellen, wie Lily E. Kay (2005: 15, 38, 380f.) detailliert gezeigt hat. Dass der Begriff der Information genauso wie das Konzept des Codes in diesem Zusammenhang vielfach nur als (sachlich irreführende) Metapher gebraucht wurde, hat einige Wissenschaftler nicht davor bewahrt, über informationstheoretische und kybernetische Modellbildungen weit hinaus zu gehen und zu behaupten: Wir sind, biochemisch betrachtet, nichts als eine Menge decodierbarer, dechiffrierbarer oder lesbarer Informationen. Dabei wurde der Informationsbegriff zwar ebenso aufgeweicht wie der Begriff des Codes und der Sprache (wie er in der Vorstellung von einem ›lesbaren‹ Buch der Natur vorausgesetzt war), aber das hat der diskursiven Macht des Informationsparadigmas keinerlei Abbruch getan. Im Gegenteil: je diffuser die Begriffe, desto geschmeidiger passten sie sich in eine Nachkriegskultur ein, in der man (nicht zuletzt aus militärischen und machtstaatlichen Gründen) massiv an der Entschlüsselung von Nachrichten, Botschaften, Codes und Informationen aller Art interessiert war. Dabei ging nicht selten das Bewusstsein dafür verloren, dass auch der Informationsbegriff nur als eine Metapher fungieren konnte und dass Menschen nicht einfach ein Haufen von Informationen sind – auch wenn es für den Molekularbiologen den Anschein haben kann, als sei genetisch manifestierte Information »die ontologische Einheit des Lebens« (ebd.: 427). Von diesem Informationsdiskurs ging eine erhebliche kulturelle Interpretationsmacht aus; und zwar umso mehr, als vergessen wurde, dass es die Biochemie des genetischen Materials nur nahe gelegt hatte, dieses als syntaktisch gegliedert (aber nicht ohne weiteres auch als semantisch bedeutungsvoll) zu verstehen. In diesem ›als‹ liegt eine signifikative Differenz, die man in schlichten Gleichsetzungen der aus Aminosäuren gebildeten DNA mit einer »chemischen Information« unterschlagen hat. So konnte nicht vom genetischen Code selbst, wie Kay missverständlich schreibt, sondern von dessen Interpretation eine unvergleichliche und bis heute anhaltende Macht ausgehen, die als Interpretationsmacht im gleichen Maße kaschiert wurde, wie der Eindruck erweckt werden konnte, Menschen seien letztlich ›nichts als‹ Lebensformen, die durch das Alphabet von Aminosäuren, durch Proteine als Nachrichten und durch ein genetisches Wörterbuch innerhalb eines gewissen mathematischen Spielraums eindeutig festgelegt zu sein scheinen (ebd.: 169, 187, 231, 189).
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Tatsächlich ist »der Mensch« keine Information (ebd.: 130, 167) − auch wenn das Erbgut jedes Einzelnen gewissermaßen als ein Komplex von Informationen, von Bauplänen für einen Organismus und dergleichen betrachtet werden kann. Dennoch ist Information kein (bio-chemischer) Grundstoff (vgl. ebd.: 162, 177). Erst ein molekularbiologischer Diskurs, der das Verstehen-als in eine Reduktion ummünzt, um schließlich bei der Gleichsetzung Mensch = Information zu enden, bringt eine Interpretationsmacht hervor, der wir unterworfen werden, so dass es dann den Anschein haben kann, als übe das Leben selbst beziehungsweise die im genetischen Code gespeicherte Information Macht über uns aus (ebd.: 11). Inwiefern es sich hier um fragwürdige Reduktionismen handelt, lehren uns allerdings nicht die sogenannten life sciences, deren Vertreter heute vielfach für sich allein in Anspruch nehmen, in wissenschaftlich legitimer Art und Weise das menschliche Leben zur Sprache zu bringen. Um in dieser Frage weiterzukommen, müssen wir den Diskurs dieser Wissenschaften im öffentlichen Raum einer politischen Auseinandersetzung mit abweichenden Auffassungen davon konfrontieren, was ›Leben‹ heißt. Genau daran lag Hans Jonas.28 Allerdings führt es leicht in die Irre, zu unterstellen, Jonas oder andere Autoren (besonders Paul Ricœur und Robert Spaemann), die sich ebenfalls davon überzeugt zeigen, dass Menschen niemals in ihrer Identifizierbarkeit (als Selbst oder als Selbiges) aufgehen können, glaubten zu wissen, dass es sich so verhält. Denn wie sollten wir wissen können, was sich doch angeblich derart dem Wissen entzieht, dass ›es‹ uns fremd bleibt? (Gerade in dieser Fremdheit liege die Freiheit des Anderen; und weder diese Freiheit noch auch diese Fremdheit lasse sich in den ontologischen Registern der Selbigkeit oder der Selbstheit denken, behauptet Levinas [1987: 44, 100], der in seinem Spätwerk in diesem Punkt auch von Ricœur deutlich abweicht.) Genau genommen geht es hier überhaupt nicht um ein (beweisbares) Wissen, sondern um das Widerfahrnis (páthos) einer Anderheit des Anderen, die nicht etwa nur ein »Loch ins Sein« (Jean-Paul Sartre)
28 Wenn ich vor allem Jonas’ späte Schriften so verstehe, dass sie als politische Interventionen gedacht waren, verkenne ich gleichwohl nicht, dass sie auf eine »philosophische Biologie« im Sinne einer Ontologie des Lebens gegründet waren, die Jonas selbst keineswegs nur als kontingente, im Verhältnis zu den life sciences heterodoxe Auffassung menschlichen Lebens verstanden wissen wollte. Nur am Rande sei in diesem Sinne auf sein Buch Organismus und Freiheit (Jonas 1973) verwiesen.
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reißt, sondern nur als Figur des Überschusses über das Erfahrbare hinaus beschrieben werden kann.29 Auch für Sartre ist es gerade das Nichtaufgehen des Anderen in dem, was man von ihm wissen kann, wodurch ein »positiver« Bezug zu ihm ermöglicht wird. Als Selbst »real sein« heißt für ihn, dass einem geglaubt oder, mehr noch, dass an jemanden geglaubt wird; und zwar gerade deshalb, weil letztlich nicht zu wissen ist, wer jemand ist (Sartre 1977: 31; 2005: 741). Jemandem glauben, an jemanden glauben, jemandem vertrauen und in diesem Sinne jemandem ein Versprechen abnehmen, ist nur möglich und nur erforderlich, wo weder in der Gegenwart noch in der Zukunft gewusst werden kann, um wen es sich genau handelt. Gewiss können wir davon ein begrenztes, provisorisches Wissen haben. Das aber erfasst niemals die Alterität des Anderen selbst. Denn er/sie ist gerade anders, immer über das hinaus, was wir von ihm/ihr wissen können. Und das lässt sich nur praktisch bezeugen, im ›Umgang‹ mit Anderen. Nur angesichts einer solchen Anderheit wird Vertrauen und ein Vertrauen stiftendes Versprechen möglich. Wüsste ich mehr oder weniger genau, wer der oder die Andere ist, so bräuchte ich ihm oder ihr überhaupt nicht zu vertrauen; er/sie wäre ein berechenbares Etwas, dessen künftiges Verhalten sich ebenso abschätzen ließe wie irgendein Risiko. Wie das Nicht-Wissen, statt nur als »Scheitern des Wissens« (vgl. Wehling 2001) zu gelten, somit zur positiven Voraussetzung aller »Mechanismen« wird, die man (von Thomas Hobbes bis Niklas Luhmann) vom Versprechen bis hin zum Vertrauen als für die Einrichtung und Aufrechterhaltung einer politischen Welt grundlegend gehalten hat, zeigen die nachfolgenden Überlegungen in einem Exkurs zum Phänomen des Vertrauens.
29 Es kann insofern keine Rede davon sein, die Welt des Wissbaren würde auf diese Weise einfach übersprungen oder ignoriert. Ich sehe ab von der Frage, ob dieser Überschuss als ethisch maßgeblich zu gelten hat im Sinne der Gabe der Verantwortung für den Anderen, gerade insofern er/sie fremd bleibt.
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6. E XKURS : AUSGESETZTES , UNVERTRAUTES V ERTRAUEN 30 So sehr gelegentlich versichert wird, jemand habe volles, uneingeschränktes oder sogar absolutes Vertrauen in eine(n) Andere(n), so bedenklich scheint, ob auf die Sprache in solchen Fällen Verlass ist beziehungsweise ob wir ihr trauen können. Bringt sie in derartigen Wendungen angemessen zum Ausdruck, worum es sich handelt? Oder führt sie uns in die Irre? Am Beginn unseres Nachdenkens über das Vertrauen – ein zwar seit geraumer Zeit viel diskutierter, gleichwohl aber eigentümlich ungreifbarer ›Gegenstand‹ all der Wissenschaften, die ihm zu Leibe rücken – sollte eine Besinnung darauf stehen, ob und wie die Sprache das Vertrauen buchstäblich zur Sprache bringt (in der es nicht immer schon zuhause ist, wenn ein Leben in ungetrübtem Vertrauen niemals von sich aus als solches zur Sprache kommt, da es der sprachlichen Vergewisserung überhaupt nicht bedarf). Gerät nicht absolutes oder uneingeschränktes Vertrauen, das man nicht selten rhetorisch beschwört, schon allein dadurch, dass man es zur Sprache bringt, ins Zwielicht möglicher Anfechtbarkeit durch Zweifel und Misstrauen? Und zeichnet man das fragliche Vertrauen nicht gerade deshalb eigens verbal aus, um es gegen mögliche Anfechtung in Schutz zu nehmen und womöglich zu immunisieren, indem man feststellt, das Vertrauen sei im betreffenden Fall ›außer Zweifel‹ gegeben, angebracht oder verdient? Es scheint, dass sowohl die alltägliche als auch die wissenschaftliche Thematisierung des Vertrauens dieses rätselhafte Phänomen stets nur als bereits zweifelhaftes, fragliches, prekäres, insofern als gewissermaßen verunreinigtes zum Vorschein zu bringen vermag. Ob man überhaupt je in ›reinem‹, ungetrübtem Vertrauen leben kann, mag dahingestellt bleiben. Von ihm reden wird man jedenfalls nur dann, wenn es damit in gewisser Weise ein Ende hat. Solange wir im Vertrauen leben, sind darüber keine Worte zu verlieren. Zuerst muss es gewissermaßen aussetzen und uns paradoxerweise unvertraut oder sogar fremd werden, damit wir sehen können, was es mit dem Vertrauen auf sich hat, das heißt wie man zuvor im Vertrauen lebte, wie es prekär wurde, wie man es einbüßte, eventuell völlig und in jeder Hinsicht, und wie es gegebenenfalls wiederherzustellen oder erneut zu schenken wäre. Mit diesen Fragen befasst sich auch die aktuelle Forschung: ob man überhaupt im vollen Vertrauen leben kann, ob
30 Die nachfolgenden Überlegungen gehen zurück auf Liebsch (2011b); sie werden ausführlicher entfaltet in dem Aufsatz »Ausgesetztes und sich aussetzendes Vertrauen – in historischer Perspektive« (Liebsch 2013).
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man es gänzlich einbüßen kann, ob es sich wirklich (wieder) ›herstellen‹ lässt oder ob es nur gewährt werden kann wie eine rückhaltlose Gabe et cetera. Das Aussetzen des Vertrauens bedeutet nicht nur, dass fraglich wird, ob beziehungsweise wem wir wie (bedingt oder bedingungslos, bis auf weiteres oder unbefristet, in gewissen Hinsichten oder uneingeschränkt) vertrauen können, wollen, müssen oder sollen, sondern auch, dass fraglich wird, was wir überhaupt ›tun‹, wenn wir vertrauen (Vertrauen riskieren, stiften, schenken etc.) oder im Vertrauen auf Andere die Fraglichkeit des Vertrauens gewissermaßen vergessen. Es geht insofern um eine Infragestellung des Vertrauens als Vertrauen, in der sowohl das Vertrauen als auch unser Verständnis des Vertrauens aussetzt – bis es gegebenfalls erneuert wird, um geradezu ›vergessen‹ zu werden, wenn es sich in erneuerter Fraglosigkeit von neuem bewährt – paradoxerweise gerade so, dass es sich unserer Aufmerksamkeit entzieht. Nur gestört oder sogar zerstört aber kommt es als – fragliches, ausgesetztes – Vertrauen zum Vorschein (vgl. Grøn/ Welz 2010). Zuerst steht (a) das ›Objekt‹ beziehungsweise das Worauf des Vertrauens in Frage, dann auch (b) das Vertrauen selbst als Prozess, in dem es sich wie indirekt auch immer zeigt (etwa dadurch, dass man sich Anderen in seiner Verletzbarkeit ungeschützt ausliefert), und schließlich (c) das Subjekt des Vertrauens. Dann zeigt sich: streng genommen kann man nur jemandem vertrauen, wohingegen man sich auf Dinge, Prozesse und institutionelle Strukturen in der Regel nur verlässt. Zwar trennt der normale Sprachgebrauch beide Fälle nicht deutlich. So verlässt man sich auf Andere (wenn man ihnen zugleich vertraut, aber nicht selten auch dann, wenn man ihnen im Grunde misstraut) und man vertraut auf Institutionen, die sich vor allem in ihrem verlässlichen Funktionieren bewähren. In der kulturwissenschaftlichen Diskussion führt diese Überkreuzung der Begriffe jedoch vielfach zur schlichten Aufhebung ihrer Differenz und infolgedessen dazu, dass im Worauf, im Prozess und im Subjekt des Vertrauens Entscheidendes übersehen wird. So zeigt sich das Vertrauen auf Andere darin, dass man ihnen selbst vertraut; und von ihnen selbst ist man mehr oder weniger tiefgreifend und irreversibel enttäuscht, wenn sie das ihnen entgegengebrachte Vertrauen nicht rechtfertigen.31
31 Zumal in pädagogischen Prozessen lässt sich jedoch auch beobachten, dass das Vertrauen in jemanden gegenläufig zu faktischen Enttäuschungen sogar verstärkt aufrechterhalten wird. So zeigt sich, dass sich das Vertrauen in einen Anderen selbst keinesfalls darauf zu reduzieren ist, dass man sich darauf verlässt, dieser werde etwas Bestimmtes tun – was im gegenteiligen Fall womöglich sofort den Verlust des Vertrauens nach sich ziehen würde. Unter dieser Voraussetzung ließe es sich nicht den-
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Dass sich eine solche Enttäuschung in einer Erfahrung des Verrats manifestieren kann, zeigt, dass auch das Subjekt des Vertrauens im Vertrauen auf Andere ganz anders ins Spiel kommt, als es beim Sich-Verlassen auf Dinge oder anonyme Strukturen und Funktionen der Fall ist. Im ersten Fall nämlich sieht sich das Subjekt selbst getäuscht und es hat sich im Anderen selbst getäuscht, der infolgedessen seine Vertrauenswürdigkeit und damit sein soziales Ansehen gänzlich einbüßen kann. Ob jemand vertrauenswürdig ist, kann man allerdings niemals wissen; das ist keine Frage nach einer erkennbaren Eigenschaft und erweist sich nur in einem Zeitspielraum, in dem sich das fragliche Vertrauen im Sinne des Glaubens an jemanden bewährt oder nicht bewährt. Gerade durch die Enttäuschbarkeit des Selbst, das Anderen vertraut und dabei Gefahr läuft, sich in ihnen zu täuschen, wird die Gefahr des Verrats heraufbeschworen. Nur dadurch, dass die eigene Verwundbarkeit im Sinne des Verraten-Werden-Könnens zum Zuge kommt, wird Anderen die Gelegenheit gegeben, Verrat nicht zu verüben und das geschenkte Vertrauen so weit wie möglich nicht zu enttäuschen. So gesehen wird das Vertrauen in Andere – im Gegensatz zum bloßen Sich-Verlassen auf etwas – gerade dadurch möglich, dass jemand sich Anderen in seiner Verwundbarkeit durch deren Verrat exponiert. Derart dramatische Dimensionen des Vertrauens können zwar vorübergehend in den Hintergrund treten, wenn man die Differenz zwischen Vertrauen und Verlässlichkeit nivelliert. Ganz verschwinden können sie aber niemals, wenn es stimmt, dass selbst ein abstraktes Systemvertrauen noch auf dem Vertrauen in (gegebenenfalls anonyme) Andere beruht, die es letztlich rechtfertigen müssen, worauf unter anderen Niklas Luhmann (1989) hingewiesen hat. Im kulturwissenschaftlichen Diskurs bleiben gleichwohl diese Dimensionen weitgehend unbedacht, wenn er wie üblich das Vertrauen schlicht als einen Kontrollmechanismus unter Bedingungen unzureichenden Wissens beziehungsweise als Surrogat für zureichendes Wissen einstuft.32 Vertrauen wird demzufolge gerade dort praktisch bedeutsam, wo Prozesse von niemandem mehr kontrollierbar erscheinen – was allerdings darauf hinauslaufen kann, dass das Vertrauen als solches kaum mehr erkennbar ist und dass es sich von gleichgültiger Hinnahme
ken, wie es möglich ist, trotz andauernder Erwartungsenttäuschung zu einem Anderen zu stehen. 32 Wobei Fragen gegenläufiger Normalisierung, die verhindert, dass jederzeit alles ganz anders sein kann, meist weniger Beachtung geschenkt wird.
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des Unberechenbaren oder von einem »Klima der Sorglosigkeit« nur noch schwer unterscheiden lässt.33 In jedem Fall gilt Vertrauen im kulturwissenschaftlichen Diskurs aber als riskante Vorleistung, die im Grunde entbehrlich würde, wenn man über genügendes Wissen verfügen würde. Idealiter, so scheint es, würde bestmögliches Wissen jegliches Risiko und jegliche Gefahr ausschließen. Vertrauen erscheint so als Notbehelf – mangels besseren Wissens. Es würde demzufolge auch Anderen nur deshalb geschenkt, weil sie sich der Einsicht des Wissens entziehen. Und auch hier würde uns die Sprache in die Irre führen: streng genommen wird hier gar nichts geschenkt, wenn es sich wiederum nur um eine riskante Vorleistung handelt, wie es ein ökonomisches Denken lehrt, das ›umsonst‹ Gegebenes, Gewährtes oder Geschenktes entweder als irrationale Ausgabe oder (bestenfalls) als Akt souveräner Großzügigkeit gelten lässt (vgl. Hénaff 2009). Dieses Denken schimmert in ökonomischer Rhetorik überall durch, wo das Vertrauen als Ressource zur Sprache kommt und wo von Vertrauensgebern und -nehmern die Rede ist. Kann aber das Vertrauen wie eine Art Ding zwischen uns zirkulieren? Indem man jemandem vertraut (beziehungsweise ihm Vertrauen schenkt, so als hätte man ihm etwas gegeben), liefert man zugleich sich selbst möglichem Verrat aus. Darin liegt nicht bloß ein mehr oder weniger kalkulierbares »Risiko«, das man spieltheoretisch rekonstruieren könnte, sondern die Gefahr existenzieller Auslieferung an Andere (vgl. Bauman 1995: 298, Anm. 14). Im Vertrauen setzt man sich selbst und Andere in ganz anderer Weise ›aufs Spiel‹, als es eine ökonomische Rhetorik von Vor- und Gegenleistungen suggeriert, die nur darauf bedacht sind, wie man aus ›riskantem‹ Vertrauen Vorteile wie etwa einen Gewinn an relativer Sicherheit ziehen kann. Risikotheoretisch ist es schwer erklärbar, warum man sich überhaupt dazu bewegen lassen sollte, Vertrauen originär zu stiften und selbst nach einer katastrophalen Krise der Vertrauenswürdigkeit wieder Vertrauen zu schenken. Warum sollte man überhaupt ein unnötiges Risiko dieser Art eingehen – zumal wenn mit einer solchen ›Investition‹ keine gewinnträchtige Spekulation zu verbinden ist?
33 Das scheint besonders für jene berüchtigten Rating-Agenturen zuzutreffen, die mit ihren Einstufungen der Kreditwürdigkeit von Staaten inzwischen wie ein (politisch nicht im Geringsten legitimiertes) Weltgericht fungieren. So frei im Übrigen die Presse sein mag, die über diese Zustände berichtet, erhebliche Zweifel bestehen doch daran, ob sie eine zureichende Einsicht in sie vermitteln kann. Auch das ist ein Vertrauensproblem, wenn es stimmt, dass die freie Presse das »überall offene Auge des Volksgeistes, das verkörperte Vertrauen eines Volkes zu sich selbst« ist, wie Karl Marx (1989: 60) meinte.
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Warum sollte man aufs Neue vertrauen, wenn jeder ›Kredit‹ verspielt worden ist, wie man häufig in gedankenloser ökonomischer Sprache sagt? So wird suggeriert, das Vertrauen gleiche einer Art Kapital, das nur begrenzt zur Verfügung stehe und niemals überzogen in Anspruch genommen werden dürfe. Die wichtigste Leistung dieser Art Kapital wäre es demzufolge, uns so handeln zu lassen, »als ob die Zukunft sicher wäre« (Luhmann 1989: 9) – und nicht etwa, uns Anderen im Vertrauen auf sie zu überantworten in dem Wissen, dass sie nicht sicher ist.34 Vertrauen wäre am Ende nur eine spezielle Form der Ignoranz, wenn es darauf gegründet werden müsste, die Zukunft für sicher zu halten, wider besseres Wissen, das bekanntlich in Form der Phrase von allen Dächern gepfiffen wird, es komme immer anders, als man denkt. Wenn man das Vertrauen als im Vergleich zu sicherem Wissen defizitäres Surrogatphänomen traktiert, geht ein entscheidender Aspekt dieses Phänomens verloren. Das Vertrauen, das dem Anderen nicht etwa trotz, sondern gerade angesichts seiner dem Wissen nicht zugänglichen Alterität geschenkt wird, stiftet die Möglichkeit einer verlässlichen Zukunft, die zunächst einseitig – erstmals oder wieder – Anderen angetragen wird. Insofern hat es einen an-ökonomischen Aspekt, wenn es ohne jede Vorleistung und Berechnung erfolgt.35 Zugleich entzieht es sich der Logik eines bloßen Kalküls und Spiels, wenn es auf nicht bloß ›riskante‹, sondern gefährliche Art und Weise ein Leben im Vertrauen anbahnt; sei es für das vertrauende Selbst, sei es für Andere, denen vertraut wird und die so in die Position möglicher Verräter versetzt werden. Das Vertrauen schenkende Selbst hat für den Fall der Enttäuschung nicht etwa nur einen Schaden, sondern eine Verletzung zu gewärtigen, die gerade nicht unter allen Umständen zu vermeiden ist. Wie schon Luhmann gesehen hat, ist es gerade das Sich-Aussetzen im nicht bloß ›riskierten‹, sondern geschenkten Vertrauen und damit die eigene
34 Auch der Sicherheitsbegriff wäre im Hinblick auf die Frage zu revidieren, ob ein Vertrauen, das sich des Anderen ›sicher‹ ist, angemessen in einem risikotheoretischen Diskurs zur Sprache kommen kann, der sich auf eine Logik des Spiels stützt. Vgl. Bonß (1997). 35 Das wird nicht genügend berücksichtigt, wenn das Vertrauen-Schenken als Stiftung eines »fiduziären Funktionszusammenhangs« aufgefasst wird, der laut Paul Valéry ein »Credo oder Kredit voraus[setzt]«, so dass die Rechtfertigung des Vertrauens zu einer Art Schuld wird, in der diejenigen stehen, denen Vertrauen geschenkt beziehungsweise im Sinne einer Vorleistung (credere) gewährt wurde. Vgl. Valéry (1988: 465); Nancy (2007: 42); Ricœur (2004: 251-255, 279, 747), sowie zur Unterscheidung von Vertrauen (pistis, fides, fidélité) als »Kredit, den wir haben«, einerseits und einem Glauben an Andere, den wir gewähren, andererseits Agamben (2006: 128f.).
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Verletzbarkeit durch Verrat, wodurch vertrauensvolle Beziehungen in Gang kommen und erneuert werden, selbst wenn alles dagegen sprechen mag und es klüger wäre, sich jeglichen Vertrauens zu enthalten. Besonders Risiko- und Rational-Choice-Theorien in den Kulturwissenschaften suggerieren nicht selten in der Art und Weise, wie sie ›persönliches‹ und ›systemisches‹ Vertrauen durcheinander bringen oder ersteres zugunsten des letzteren vernachlässigen, Vertrauen sei nichts als eine Misslichkeit, mit der man sich behilft, wo Wissen nicht genügt oder versagt. Damit beweisen solche Theorien ironischerweise selbst – gerade dort, wo sie das Vertrauen wortreich zur Sprache bringen –, dass sie jegliches Vertrauen in das Vertrauen verloren zu haben scheinen. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, ob man dazu – nicht zuletzt in historischer Perspektive, nach einem »Jahrhundert des Verrats« (Margaret Boveri) – in der Tat allen Grund hat. In diesen Kontext gehört schließlich auch ein exzessiver Missbrauch moralisierender Sprache in Begriffen wie Treue. So wie dieser Begriff, so ist auch die Rede von Vertrauen vor dem Hintergrund einschlägiger historischer Erfahrungen insbesondere mit Totalitarismen und Diktaturen nicht mehr unbedacht zu gebrauchen (s. dazu Thieberger 1968). Das mag zum Teil erklären, warum man sich in den Kulturwissenschaften auf unverfänglichere systemische und risikotheoretische Analysen des Vertrauens zurückgezogen hat, die es weitgehend vermeiden, sich auf Fragen eines an-ökonomischen, Anderen geschenkten und sogar wider besseres Wissen (neu) gestifteten Vertrauens allzu sehr einzulassen. Wenn es aber stimmt, dass in diesem Vertrauen letztlich auch das Vertrauen in die Verlässlichkeit sozialer Systeme fundiert ist, dann ist es an der Zeit, dem Begriff des Vertrauens seine ganze Weite zurückzugeben (Schweer/Thies 2005). Sobald das geschehen ist, wird man allerdings auch diese Präsupposition erneut prüfen müssen. Fundiert tatsächlich das Vertrauen in Andere (einseitig) die Verlässlichkeit sozialer Systeme oder lässt sich die Fundierungsrelation auch invers verstehen? Bewahrt am Ende gerade diese Verlässlichkeit das Vertrauen vor einer moralischen Überlastung, der es niemals standhalten kann (vgl. Hirsch et al. 2014)? Liegt andererseits nicht eben darin, dass man dem Vertrauen in Andere eine systemische Verlässlichkeit vorzieht, die Gefahr, dass man sich im Vertrauen »in die gesellschaftlichen Fähigkeiten des Umgangs mit einem grundsätzlich nicht auflösbaren Nichtwissen« einer buchstäblich »unermesslichen Tragik« ausliefert (vgl. Strulik 2011: 240 – Hervorh. im Original)? Liegt diese Tragik allein darin, dass man in einem systemischen Vertrauen stets neue Unberechenbarkeiten und Risiken heraufbeschwört? Diese Frage trifft den Nerv eines uns unvertraut gewordenen Vertrauens, das sich in allen seinen Formen, als personales wie auch
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als systemisches, zugleich als außerordentliche Zumutung erweist, die niemals zureichend zu rechtfertigen ist. Zukünftiges ist derart kontingent, dass theoretisch alles anders kommen kann als erwartet. Wer nicht etwa ungeachtet dessen, sondern im Wissen darum auf Vertrauen sich stützt, reduziert nicht, sondern steigert die Verletzbarkeit aller Beteiligten durch Enttäuschung für den Fall, dass sich das Vertrauen nicht bewährt. Nur weil wir uns dieser Verletzbarkeit im Wissen um die Kontingenz des Zukünftigen und um die buchstäblich unkalkulierbare Alterität des Anderen ausliefern, ist jedoch überhaupt eine Zukunft möglich, die uns nicht enttäuscht. So gesehen läge die eigentliche Tragik sowohl eines Verzichts auf Vertrauen als auch eines hoffnungslos überforderten oder enttäuschten Vertrauens darin, uns diese Möglichkeit zu verbauen.
7. E INE
POLITISCHE
S CHLUSSFOLGERUNG
Ausgehend von einem privativen Verständnis von Nicht-Wissen, in dem dieses nur als Fehlen, Mangel oder Ausstand von Wissen gedeutet wird, sind wir auf Phänomene wie das Vertrauen gestoßen, zu deren konstitutiven Voraussetzungen das Nicht-Wissen gehört. Im Vertrauen, das dem Anderen als Anderem geschenkt wird, nehmen wir es nicht nur im Sinne der Kalkulation eines Risikos hin, die Grundlage unseres Vertrauens, die Möglichkeiten seiner Enttäuschbarkeit usw. nicht hinreichend abschätzen zu können. Das dem Anderen als Anderem geschenkte Vertrauen affirmiert vielmehr, dass er in seiner Alterität dem Wissen letztlich unzugänglich ist. Gerade das macht dieses Vertrauen (im Gegensatz zu einem sogenannten Systemvertrauen) überhaupt erst möglich. Wenn in diesem Zusammenhang davon die Rede war, ›im Wissen‹ um die Alterität Anderer und um eine unabsehbare Zukunft werde Vertrauen gestiftet, so ist wiederum nicht gemeint, wir hätten es nur mit einer Lücke im Wissen zu tun. Vielmehr rührt das fragliche Wissen hier an eine Grenze, jenseits derer Anderes als Wissen liegt; aber nicht ein mysteriöses Geheimnis, sondern das Begehren Anderer, sie angesichts ihrer unaufhebbaren Alterität zu würdigen. Von einem solchen Begehren ›wissen‹ wir streng genommen nichts. Es lässt sich nicht beweisen, sondern nur bezeugen. Im Modus der Bezeugung wird wiederum Anderen die Wahrheit dieses Begehrens zugemutet. Nur so sind die en passant erwähnten philosophischen Theorien von Hans Jonas bis Paul Ricœur zu verstehen. Ungeachtet ihrer nicht zu leugnenden Unterschiede insistieren sie auf einer keinem Wissen zu unterwerfenden, sei es in ontologischem, sei es in ethischem Vokabular beschriebenen Anderheit, die geachtet und anerkannt zu werden verdiene, insofern sie sich der Erkennbarkeit
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oder der ›Gnosis‹ im Register der Selbigkeit und der Selbstheit entzieht. Mit anderen Worten: Der Andere ist weder als eine Art Ding noch auch als eine Person beziehungsweise als jemand erschöpfend (re-)identifizierbar und dennoch kein soziales Nichts, das überhaupt keinem Wissen zugänglich wäre. Gerade das, was Andere über die Selbigkeit ihres Körpers oder personale Selbstheit hinaus ausmacht, das heißt dieser ›Überschuss‹, führt auf die Spur ihrer Alterität als einer unaufhebbaren Anderheit, die ›anders‹ bleibt (Ricœur 1996: 426; Ricœur 2015).36 Der gastliche Empfang, den man Anderen bereitet, weiß darum. So kann man Hans Jonas’ Überlegungen zum Prototyp einer generativen Verantwortung verstehen (vgl. Shchyttsova 2012), die sehr wohl darauf angewiesen sein kann, sich auf bio-technisches, genetisches Wissen zu stützen. Sie kann beziehungsweise darf das aber nur im Geist der Achtung eines/r künftigen Anderen, der (oder die) selbst ein eigenes Leben führen wird. Weder ist dieses Leben nur als Ablauf eines im Code der DNA bereits festliegenden Programms »chemischer Informationen« zu verstehen, in dem manche Forscher sogar die Identität des Selbst glaubten entziffern zu können, noch darf es im Vorhinein dazu verurteilt werden, sich später genau so verstehen zu müssen, weil man nach eigenem Gutdünken in diesen Code eingegriffen hat. Was auch immer man einem werdenden Leben glaubt zugutekommen lassen zu sollen, steht gleichsam unter dem Vorbehalt seiner Irreduzibilität auf Objekte des Wissens. Unter diesem Vorbehalt kann man in Erfahrung bringen, was man heute über das im genetischen Code angeblich repräsentierte »Buch des Lebens« wissen kann − seien es nun »chemische Informationen« oder Anweisungen zur Ausführung eines epigenetischen Programms, nach dem sogar ein Wesen soll entstehen können, das reflexives Wissen von seinem Wissen und von sich selbst hat. Wie aber dieses Wissen zur Anwendung kommen kann beziehungsweise darf, ist nur
36 Gewarnt sei wiederum vor dem Missverständnis, wir hätten es hier mit einer schlechterdings welt-transzendenten Alterität zu tun. Wenn letztere konsequent als Überschuss über die (in den Registern der Selbigkeit oder der Selbstheit) identifizierbare Gestalt des Anderen gedeutet wird, bleibt sie bezogen auf das Wissen, das wir von Anderen haben können und das ihnen im Übrigen dienen kann; zum Beispiel dann, wenn ihnen das Schicksal einer anonymen Geburt erspart bleiben soll, die den Nachkommen keinerlei Anhalt für eine Antwort auf die Frage bietet, wer sie sind beziehungsweise woher sie kommen. Keineswegs bedeutet das Wissen in allen Fällen eine Gefahr für die Würdigung einer unverfügbaren Alterität. Im Gegenteil kann es deren Anerkennung dienen, wenn es wie im Fall generativer Zeiterfahrung einem anderen Selbst dazu verhilft, sich geschichtlich im Verhältnis zu Anderen zu verstehen.
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im öffentlichen Streit derer auszumachen, die, wie Hannah Arendt gezeigt hat, kraft ihrer unaufhebbaren Pluralität politische Lebensformen verbürgen, in denen nicht ›der Mensch‹, der angebliche Gegenstand jeder Anthropologie, existiert, sondern Menschen zusammen leben, die im Verhältnis zueinander und für einander nicht bloß ›etwas‹, ein Objekt des Wissens, sondern ›jemand‹ sind. Es handelt sich nicht um Lebensformen epistemischer Subjekte, durch die sich ein ontogenetischer und gattungsgeschichtlicher Erkenntnisprozess vollzieht, sondern um soziales Leben mit und unter Anderen, die einander in ihrer Alterität entzogen und nur unter dieser Bedingung auch etwas zu wissen in der Lage sind. Diesen in sich plural verfassten Lebensformen obliegt es, Zugänge zum Wissen gegen Ignoranz, Geheimhaltung und Zensur zu sichern, aber auch Grenzen des Wissens in Erinnerung zu rufen und Andere vor Wissen in Schutz zu nehmen, vor allem dann, wenn es auf die Anmaßung buchstäblich restloser Verfügung über sie hinausläuft. Dabei geht es aber nicht um eine pauschale Konfrontation zwischen Wissen und Nicht-Wissen − so als ob wir nur dazwischen die absurde Wahl hätten, uns bedingungslos willentlich dem Wissen oder dem Nicht-Wissen zu überantworten −, sondern um spezifische Bedingungen, Formen und Materien des Wissens und des Nicht-Wissens,37 die in jedem Einzelfall daraufhin zu prüfen sind, für wen sie wichtig, hilfreich, schädlich sein können. Dabei steht stets mit auf dem Spiel, wie und wo die Auseinandersetzung darum geführt werden kann, und wer in ihr ›zählt‹ − bei passender oder unpassender Gelegenheit, in privaten und öffentlichen Räumen und virtuellen Foren, wo elektronische Algorithmen interpretationslos unsere ›Identität‹ konfigurieren. Hier liegen sowohl Formen der Ohnmacht als auch Formen der Macht-Besessenheit, die sich dieser Techniken bemächtigen, besonders nahe und fordern zum radikalen Streit heraus − nicht zuletzt zum Streit darum, inwiefern Nicht-Wissen nicht als Mangel, sondern im Modus der Achtung unverfügbarer Alterität als Bedingung der Ermöglichung eines sozialen Lebens zu verstehen ist, das seinen Namen verdient.
37 Das gilt auch und gerade dort, wo man es angeblich mit schlechterdings »Unvorstellbarem« zu tun hat. T. Todorov (1993) hat in dieser Hinsicht Recht, wenn er sagt, »Wissen und wissen lassen ist eine Art, menschlich zu bleiben« − auch dann, wenn wir an Grenzen des Wissens stoßen (die nicht einfach hypostasiert werden dürfen). Vgl. Todorov 1993: 108; Blanchot 2005: 103f.; Didi-Huberman 2007: 35-45, 47, 63.
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Genealogie des Wissens – Poetologie des Nichtwissens Literatur und Ignoranz bei Matthias Claudius und Friedrich Hölderlin A CHIM G EISENHANSLÜKE
1. G ENEALOGIE DES N ICHTWISSENS ? Z UR D IALEKTIK VON W ISSEN UND N ICHTWISSEN Der Begriff des Nichtwissens ist eigentümlich spröde. Im Unterschied zu seiner englischen oder französischen Variante, der ›ignorance‹, verweist er schon in seiner sprachlich zusammengesetzten Form auf den Begriff, gegen den er sich eigentlich richtet: das Wissen. Das Nichtwissen erscheint so von Beginn an als »›unmarkiertes Anderes‹« (Fulda 2010: 484), als eine bloße Negation, als Mangel, Abwesenheit oder Leere des positiv verstandenen Wissens. Zugleich will das Nichtwissen jedoch mehr als die logische Negation von Wissen sein. Hinter dem spröden Begriff des Nichtwissens verbirgt sich eine Fülle an positiven Gestalten, die nach einer Aufmerksamkeit verlangen, die ihnen immer dann verwehrt wird, wenn das Nichtwissen nur als Mangel oder Abwesenheit von etwas begriffen wird. So bevölkern mit den allegorischen Auftritten von Narren, Toren und Irren konkrete Figurationen des Nichtwissens die gesamte literarische und ikonographische Kultur der Frühen Neuzeit, ohne von vorneherein aus dieser ausgeschlossen zu sein. Das ändert sich mit der Ausbildung der modernen Rationalität, die eine tiefe Zäsur in der Auseinandersetzung mit dem Nichtwissen bedeutet. Die moderne Philosophie des Subjekts, wie sie vor allem Kant ausgebildet hat, führt eine strikte Trennung zwischen den Begriffen des Wissens und des Nichtwissens ein. Fortan begegnet das Nichtwis-
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sen nur noch als eine defizitäre Erscheinung, als ein Unfall des Denkens, den es schnell zu beheben gilt. »Ignorance is most commonly seen (or trivialized) in this way, as something in need of correction, a kind of natural absence or void where knowledge has not yet spread«, hält Robert N. Proctor (2008: 2) im Kontext der Forderung nach der Begründung einer neuen Wissenschaft namens »Agnotology« fest. Was sich wie die Dummheit oder der Wahnsinn der Vernunft entzieht, wird als pathologisches Moment gekennzeichnet und an den Rand des Wissens gedrängt, dort aber zugleich zum Gegenstand neuer Wissenschaften wie der Psychologie, der Medizin und der Forensik gemacht. Der Versuch, den Begriff des Nichtwissens systematisch und historisch zu entfalten, kommt vor diesem Hintergrund nicht nur der Aufgabe gleich, die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen durchlässiger zu machen. Vielmehr geht es darum, in der Kultur der Vormoderne wie der Moderne Formen des NichtRationalen auszumachen, um so zu einer kritischen Revision des Herrschaftsanspruches der modernen Vernunft zu gelangen, sofern diese sich einseitig über rationale Wissensordnungen definiert. In diesem Sinne verkörpert das pathologische Moment des Nichtwissens nicht nur das Andere des Wissens, es markiert zugleich dessen Grenze, einen ebenso fundamentalen wie unbestimmten Ort, an dem sich der philosophische Anspruch auf Evidenz im Dunklen des Nichtbegrifflichen verliert. Eine der grundlegenden Schwierigkeiten, vor die sich eine Poetologie des Nichtwissens gestellt sieht, ist daher die, das Nichtwissen nicht einfach als das Gegenteil von Rationalität zu verstehen. Wenn das Nichtwissen als das Andere des Wissens zugleich eine Grenze des modernen Rationalitätsanspruches verkörpert, dann steht es mit den historischen Wissensformationen, die es außer Kraft setzt, zugleich in vielfältigen Verbindungen. Die Auseinandersetzung mit dem Nichtwissen kann sich daher nicht im Nachweis der Relevanz des Nichtwissens von der Antike bis zur Moderne erschöpfen. Sie muss zugleich auf die diskursiven Transformationen zielen, die das Wissen in der Geschichte erfahren hat, auf die Frage, wie dieses sich durch den Bezug auf historische Formen des Nichtwissens überhaupt erst konstituieren konnte. Die Poetologie des Nichtwissens ist zugleich eine Genealogie des Wissens im Sinne Nietzsches und Foucaults. Eine Genealogie des Wissens im Sinne Nietzsches ist die Poetologie des Nichtwissens in dem Maße, in dem sie bei dem Bereich des Ästhetischen ansetzt. Das ist alles andere als selbstverständlich, gilt doch gerade das Ästhetische im traditionellen Verständnis als ein Bereich, für den die üblichen Bedingungen des Wissens und der Wahrheit nicht oder nur eingeschränkt gelten. Eine der wesentlichen Aufgaben der Poetologie des Nichtwissens besteht darin, Kunst
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und Literatur weder als Statthalter für die Abwesenheit des Wissens noch als Ausdruck eines »anderen Wissens« zur Geltung zu bringen. »Schöne Literatur hält ein Alternativ-Wissen bereit, das wert ist, sachlich ernst genommen zu werden«, stellt Jochen Hörisch (2007: 10) in seiner Untersuchung über Das Wissen der Literatur fest. Unklar bleibt aber letztlich, worin dieses AlternativWissen eigentlich bestehen soll. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist vielmehr die, ob es grundsätzlich sinnvoll ist, Literatur als eine bestimmte Form des Wissens oder aber des Nichtwissens zu begreifen. Angesichts der alles in allem nicht unbegründeten Skepsis am Erkenntniswert der Literatur und der Frage, ob Literatur überhaupt etwas mit Wahrheit als einer begründeten Form des Wissens zu tun hat, kann es der Auseinandersetzung mit dem Nichtwissen weniger darum gehen, zu zeigen, was Literatur alles wissen muss, um ästhetisch relevant zu sein, als vielmehr darum, einen Raum zu eröffnen, der die Funktion des Ästhetischen ernst nimmt, ohne dieses von vorneherein dem Wissen oder dem Nichtwissen zu überantworten. Das unterscheidet die Poetologie des Nichtwissens sowohl von den erkenntnistheoretisch begründeten Versuchen, einen Zusammenhang zwischen Literatur und Wissen zu etablieren, als auch von den kulturwissenschaftlichen Poetologien des Wissens. Der Poetologie des Nichtwissens gilt die Literatur als ein Archiv, das sich auf andere Art und Weise als die Philosophie oder die Wissenschaften für Formen des Nicht-Rationalen wie Wahnsinn, Dummheit oder Ignoranz offen gezeigt hat. »Literature, in this respect, is the discourse or institution that is above all others, and in some sense against philosophy, allied with ignorance«, hält Andrew Bennett (2009: 16) in seiner Studie über Literatur und moderne Formen des Nichtwissens seit der Romantik fest. Die Bedeutung der Literatur für die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Nichtwissen verbindet und unterscheidet die Poetologie des Nichtwissens daher zugleich von den Untersuchungen Foucaults. Als Foucault sich in der Archäologie des Wissens die Frage stellen musste, warum von ihm »systematisch ›literarische‹, ›philosophische‹ oder ›politische‹ Texte ausgeklammert« wurden (Foucault 1973: 253), rührte er an die Grenze seines Unterfangens, eine Geschichte nicht der Wissenschaften, sondern des Wissens zu schreiben.1 Welche Rolle der Literatur in dieser Geschichte zukäme, hat Foucault offen gelassen. Die Poetologie des Nichtwissens versucht dem nachzugehen, indem sie mit dem Blick auf die Literatur zugleich an die Grenzen des Wissens rührt. Die Aufgabe der literatur-
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»Was die Archäologie zu beschreiben versucht, ist nicht die Wissenschaft in ihrer spezifischen Struktur, sondern der durchaus andersartige Bereich des Wissens«, schreibt Foucault (1973: 278 – Hervorh. im Original).
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wissenschaftlichen Analyse kann sich vor diesem Hintergrund nicht darin erschöpfen, in der Literatur eine bloße Repräsentationsform oder symbolische Ordnung des Wissens zu erkennen. Ebenso wenig kann sie sich mit der Bestimmung der Literatur als Subversion des Wissens begnügen. Dass Literatur beides, historische Diskursformation und ästhetischer Gegendiskurs zugleich ist, macht jene Spannung aus, die die Poetologie des Nichtwissens herausarbeiten will, wenn sie sich an den Rändern des Wissens bewegt, um die Brüche in den epistemologischen Ordnungen aufzuweisen, die Diskurse erst ermöglichen. Nicht nur die begrifflichen Schwierigkeiten stellen die Auseinandersetzung mit dem Nichtwissen jedoch vor Probleme. Darüber hinaus erweist sich auch die zentrale Frage nach dem Zusammenhang von Literatur und Nichtwissen als schwierig. Denn so sehr sich auch historische Zusammenhänge zwischen Literatur und Nichtwissen herstellen lassen, ein systematischer Anspruch lässt sich daraus noch nicht ableiten. So wenig Literatur von vorneherein als eine Instanz des Wissens begriffen werden kann, so wenig wird sie als eine Instanz des Nichtwissens fassbar. Die begriffliche Unbestimmtheit des Nichtwissens ermöglicht zwar eine breite Anschlussmöglichkeit an die Literatur. Dass Themen wie Ignoranz, Vergessen, Missverstehen, Vorurteil oder Dummheit zum Gegenstand literarischer Darstellung geworden sind, scheint evident zu sein. Ob Literatur selbst aber darüber hinaus über einen strukturellen Bezug zum Nichtwissen verfügt, ist damit noch lange nicht geklärt. An die Stelle einer im strengen Sinne begrifflichen Auseinandersetzung mit dem Nichtwissen tritt daher eine exemplarische Analyse der literarischen Formen, die sich mit dem Phänomen des Nichtwissens beschäftigen. In den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses rücken mithin literarische Texte, die sich ausdrücklich mit dem Nichtwissen auseinandersetzen. Wie die Geschichte der Literatur zeigt, ist das meist unter der Begrifflichkeit der Dummheit oder der Einfalt erfolgt. Dummheit und Einfalt verkörpern in diesem Sinne anschauliche Formen des Nichtwissens, rational defizitäre Positionen, denen gleichwohl eine nicht zu unterschätzende Bedeutung im Rahmen moderner Erkenntnisprozesse zukommt. Literaturwissenschaftliche Untersuchungen zum Nichtwissen wie etwa Avital Ronells Studie zur Stupidity setzen daher auch meist bei dem Begriff der Dummheit an.2 Wie bereits angedeutet, spielt in diesem Zusammenhang die Frage nach der Bedeutung von Nichtwissen und Dummheit in der Literatur der Moderne eine zentrale Rolle, scheint die philosophische Moderne mit ihrer Gründungsfigur Kant doch diejenige Wissensordnung zu sein, die eine strenge
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Vgl. Ronell (2002) sowie jüngst die allerdings weniger ergiebige Studie von Alain Roger (2008).
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Unterscheidung zwischen dem Wissen und dem Nichtwissen zu etablieren sucht. In Frage steht also, wie der Übergang zwischen vormodernen und modernen Auffassungen des Nichtwissens in der Literatur zu fassen ist. Besonders deutlich wird das in der Lyrik. Nicht nur verkörpert die Lyrik diejenige moderne Gattungsform, die sich in der Form der Apostrophe in unmittelbarer Weise an das Nichtwissen zu adressieren vermag. An so unterschiedlichen Gedichten wie Matthias Claudius’ Abendlied und Friedrich Hölderlins Blödigkeit kann zugleich der Übergang von der Vormoderne zur Moderne im Zeichen des Umgangs mit dem Nichtwissen erläutert werden.
2. D AS G LÜCK DER E INFALT : M ATTHIAS C LAUDIUS ’ A BENDLIED Matthias Claudius und Friedrich Hölderlin schreiben sich mit ihrer Darstellung der Blödigkeit in den Horizont ein, den Kant mit dem Begriff der Einfalt zu umreissen sucht. Bei Kant verkörpert der Begriff der Einfalt eine grundsätzlich positiv gewendete Form des Nichtwissens. Einfältig, so stellt Kant in der Anthropologie fest, »ist der welcher n i c h t vi e l durch seinen Verstand auffassen kann.« (Anth, B 128) Der Mangel an Auffassungsgabe, den Kant der Einfalt zugrunde legt, verweist zugleich auf seine erkenntnistheoretische Definition der Dummheit als Fehlen von Urteilskraft oder Verstand aus der Kritik der reinen Vernunft. Im Vergleich zur defizitären Auffassungsgabe des Dummkopfes aber kommt dem Einfältigen eine eigene Qualität zu. Im Blick auf die Einfalt betont Kant: »aber er ist darum nicht dumm, wenn er es nicht verkehrt auffaßt« (Anth, B 128). Während die Einfalt durch den Mangel an Auffassungsgabe gekennzeichnet ist und sich so der Dummheit anzunähern scheint, ist sie Kant zufolge keinesfalls als eine Verkehrtheit des Gemüts wie Verrücktheit, Wahnsinn oder Wahnwitz zu begreifen. Die Einfalt fasst nicht viel auf, das wenige, was sie aufnimmt, kann sie aber durchaus richtig aufnehmen. Tut sie es nicht, so gerät auch sie in den Strudel der Dummheit. Fasst sie jedoch richtig auf, so nähert sie sich der Vernunft an. Einfältig im positiven Sinne ist derjenige, der trotz seines Mangels an Auffassungsgabe richtig denkt und handelt, da sein Kopf von den Prinzipien der Vernunft geleitet wird. Ein positiv gewerteter Begriff ist die Einfalt für Kant, da sie eine moralische Integrität des Charakters voraussetzt. Dass dieser grundsätzlich positiv gewendete Begriff der Einfalt als »Blödigkeit« wiederum auf Rousseau zurückgeht, in dessen autobiographischem Werk »Blödigkeit als Charakter entfaltet« wird, hat Georg Stanitzek (1989: 169) nachgewiesen. Das rousseauistische Lob der Einfalt findet
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sich nicht bei Kant allein. Eine Vielzahl von Texten des 18. Jahrhunderts stellt das Bild einer natürlichen Einfalt des Herzens her, das zugleich für die moralische Bestimmung des Subjekts einsteht. So stimmt Claudius in seinem Abendlied ein Lob der Einfalt an, das sich ganz aus der Religion speist: Abendlied Der Mond ist aufgegangen, Die goldnen Sternlein prangen Am Himmel hell und klar; Der Wald steht schwarz und schweiget, Und aus den Wiesen steiget Der weiße Nebel wunderbar. Wie ist die Welt so stille, Und in der Dämmrung Hülle So traulich und so hold! Als eine stille Kammer, Wo ihr des Tages Jammer Verschlafen und vergessen sollt. Seht ihr den Mond dort stehen? – Er ist nur halb zu sehen, Und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen, Die wir getrost belachen, Weil unsere Augen sie nicht sehn. Wir stolze Menschenkinder Sind eitel arme Sünder, Und wissen gar nicht viel. Wir spinnen Luftgespinnste, Und suchen viele Künste, Und kommen weiter von dem Ziel. Gott, laß uns dein Heil schauen, Auf nichts Vergänglichs trauen, Nicht Eitelkeit uns freun! Laß uns einfältig werden,
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Und vor dir hier auf Erden Wie Kinder fromm und fröhlich sein! * Wollst endlich sonder Grämen Aus dieser Welt uns nehmen Durch einen sanften Tod! Und, wenn du uns genommen, Laß uns in Himmel kommen, Du unser Herr und unser Gott! So legt euch denn, ihr Brüder, In Gottes Namen nieder; Kalt ist der Abendhauch. Verschon uns, Gott! mit Strafen, Und laß uns ruhig schlafen! Und unsern kranken Nachbar auch!3 Claudius’ Abendlied gilt bis heute als eines der populärsten Gedichte des 18. Jahrhunderts. Einer der Gründe für die außerordentliche Beliebtheit des Gedichtes liegt in seiner anmutsvollen Schlichtheit. Einfachheit ist jedoch nicht nur ein formales Merkmal des Gedichtes. Simplizität des Gemüts ist das Thema des Abendliedes überhaupt. Der an Gott gerichtete Wunsch »Laß uns einfältig werden« formuliert auf programmatische Art und Weise ein Lob der Einfalt, das in einer zunehmend komplexer werdenden Welt Schutz verspricht. Das lyrische Ich wünscht sich in die Einfachheit der Kindheit zurück, um dort jenen geschützten Raum zu finden, den die Welt ihm nicht länger geben kann. Die Einfachheit der Form resultiert im Abendlied aus der Verbindung von religiösen und volkstümlichen Elementen. Volkstümlich wirkt das Gedicht in seiner einfachen Liedform mit Schweifreimstrophe. Zur religiösen Dichtung ist es zu zählen, da es die Form eines Gebets hat, das die abendliche Hausgemeinschaft vor dem Vater versammelt. Das zentrale Thema des Gedichtes hat Reiner Marx im Anschluss an Richard Alewyn herausgearbeitet: »Die Hausgemeinschaft anempfiehlt sich Gottes Schutz gegen die potentiellen Bedrohungen und Gefahren der kommenden Nacht.« (Marx 1983: 343) Als Abendgebet, das der Hausvater vor der Hausgemeinschaft spricht, soll das Gedicht Schutz gegen die
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Matthias Claudius, Abendlied, in: ders: Werke, Stuttgart 1965, S. 264f.
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bedrohliche Macht der Nacht bieten. Trotz der deutlichen Kritik an der Wissenschaft der Zeit erweist es sich damit als ein Teil der in Deutschland anders als in anderen europäischen Ländern vor allem religiös bestimmten Aufklärung (vgl. Möller 1986: 26f.). Wo Novalis »die heilige, unaussprechliche, geheimnisvolle Nacht« als Signum der Romantik ansprechen wird (Novalis 1978: 149), da vertraut Matthias Claudius noch ganz auf das Licht der Vernunft, das er im christlichen Vatergott erblickt. Das religiöse Moment, das das Gedicht bestimmt, bindet wie bei Kant die positiv gewendete Einfalt an die Vernunft und grenzt sie zugleich von der allein durch den Verstand bestimmten Wissenschaft ab. »In einer bewußten Setzung wendet sich Claudius von einer die Menschen existentiell zusehends verunsichernden Naturwissenschaft ab und reaktiviert ein vorkopernikanisches Weltbild, das vertrauen- und ordnungstiftend wirkt.« (Marx 1983: 344) Das Aufgehen des Mondes, mit dem auch das Gedicht anhebt, zeigt einen vertrauten Himmel, der noch ganz von einem kindlichen Blick geprägt ist. Das Zentrum des Weltalls bildet die Erde und das eigene Zuhause. Von der Unbehaustheit der romantischen Bildungsentwürfe ist an dieser Stelle trotz der im Anschluss an Bodmer und Breitinger formulierten Referenz an eine Poetik des Wunderbaren, die den Schluss der ersten Strophe bildet, noch keine Spur. Wunderbar ist der Beginn des Gedichtes, indem er das kindliche Staunen angesichts der gotterfüllten Welt ausstellt und über die Angst setzt, die die Nacht ausstrahlt. Aus diesem Gottvertrauen leitet sich zugleich der belehrende Ton ab, der in der dritten und vierten Strophe die Oberhand gewinnt. Der Hausvater wird zum Prediger, der sich in einem moralisch-didaktischen Sinne an seine Gemeinde wendet. So dient der wunderbare Anblick des Mondes zugleich der Versicherung, dass es auf und jenseits der Welt doch manche Sachen gebe, die das menschliche Auge nicht erblicken könne. Das Lob der Einfalt, des Schlafes und des Vergessens, mit dem die zweite Strophe endet, dient zugleich der Abwehr des nun möglich gewordenen Wissens. Die Menschenkinder sind unrein gereimte Sünder: »Und wissen gar nicht viel.« In einer Zeit, in der die Möglichkeiten des Erkenntnisfortschritts dank der erstarkenden Naturwissenschaften fast bis ins Unermessliche expandieren, setzt Claudius dem Wissen im Gedicht eine deutliche Grenze. Die fünfte Strophe leitet aus der moralisch-didaktischen Botschaft daher einen doppelten Imperativ ab: Gottes Heil schauen und »einfältig werden«. Das Lob des christlichen Gottes, der Schutz vor der Nacht verspricht, lässt den Menschen wieder zum unwissenden Kind werden, das sich einer höheren Instanz anvertraut. Folgerichtig endet das Gedicht, als Gebet zunächst nur als Schutz vor der Nacht konzipiert, mit einer Erweiterung, die die metaphorische Nähe von Nacht und Tod nutzt. Die Bitte um den sanften Schlaf des
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Vergessens, mit dem das Gedicht eingesetzt hatte, wandelt sich zur Bitte um einen »sanften Tod«. Im christlichen Urvertrauen, das sich den Möglichkeiten des menschlichen Wissens bewusst verschließt, erscheint der Tod als die äußerste Form des Nichtwissens. Die Angst vor einer modernen Welt, in der die Wissenschaften die Rolle der Religion zu übernehmen drohen, ersetzt das Gedicht durch die mythische Angst vor dem Tode, vor der allein Gott schützen kann. Durch die Rückbildung der allmählich sich ausdifferenzierenden Moderne in die einfach strukturierte vorkopernikanische Welt, in deren Zentrum der väterliche Gott regiert, erreicht Claudius jene Angstabwehr, die dem Gedicht insgesamt zugrunde liegt. Bewältigt werden kann die Angst, die sich im Gedicht auf vielfältige Art und Weise einschreibt, indem sie in die Einfalt der Kinderwelt zurückgeführt wird. Was die Kunst bei Claudius leistet, ist ein Lob der Einfalt, das sich unmittelbar gegen die neuen, wissenschaftlichen Möglichkeiten der Erkenntnis richtet und so eine Ordnung zu bewahren sucht, die im Zuge der in der Sattelzeit um 1800 einsetzenden Moderne allmählich zu verschwinden droht. Claudius wehrt sich so gegen einen zu radikalen Begriff der Aufklärung, der droht, durch seine Wendung gegen alle theologischen Vorgaben die Erkenntnisleistung des Menschen in der Moderne zu überlasten. Aufklärung bedeutet für Claudius daher nicht die völlige Selbstverantwortung des Menschen, sondern angesichts der Existenz einer ihm übergeordneten Macht die Anerkennung der Grenzen seiner Möglichkeiten, zu wissen.
3. E INFALT
UND
G ESCHICK : H ÖLDERLINS B LÖDIGKEIT
Auf eine ganz andere Weise als Claudius geht Hölderlin mit dem Thema der Einfalt um. Er thematisiert sie unter dem Begriff der ›Blödigkeit‹, deren Bedeutung für die Poetik des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts Georg Stanitzek nachdrücklich herausgearbeitet hat. Stanitzek vertritt die These, »daß in Blödigkeit eine Kategorie zu sehen ist, welche für das Selbstverständnis des Individuums und der Literatur jener Übergangsepoche eine signifikante Rolle spielte« (Stanitzek 1989: VII). Im Blick auf die geschichtsphilosophische Positionierung des Individuums um 1800 stellt er fest, dass »Blödigkeit letztlich nur eine Art Zögern des Individuums vor dem Eintritt in die Moderne darstellt« (ebd.). Wo Claudius sich der Moderne konsequent verweigert, um sich der sicheren Ordnung des christlichen Vatergottes hinzugeben, steht Hölderlin an einer Schwelle, die das Alte mit dem Neuen verbindet.
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Blödigkeit
Sind denn dir nicht bekannt viele Lebendigen? Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen? D’rum, mein Genius! tritt nur Baar in’s Leben, und sorge nicht! Was geschiehet, es sey alles gelegen dir! Sey zur Freude gereimt, oder was könnte denn Dich beleidigen, Herz, was Da begegnen, wohin du sollst? Denn, seit Himmlischen gleich Menschen, ein einsam Wild Und die Himmlischen selbst führet, der Einkehr zu, Der Gesang und der Fürsten Chor, nach Arten, so waren auch Wir, die Zungen des Volks gerne bei Lebenden, Wo sich vieles gesellt, freudig und jedem gleich, Jedem offen, so ist ja Unser Vater, des Himmels Gott, Der den denkenden Tag Armen und Reichen gönnt, Der, zur Wende der Zeit, uns die Entschlafenden Aufgerichtet an goldnen Gängelbanden, wie Kinder, hält. Gut auch sind und geschickt einem zu etwas wir, Wenn wir kommen, mit Kunst, und von den Himmlischen Einen bringen. Doch selber Bringen schickliche Hände wir.4 Hölderlin scheint sich in Blödigkeit zunächst auf eine für den deutschen Idealismus charakteristische Art und Weise dem Zusammenhang von Dichtung und Wahrheit zu widmen. Schon Walter Benjamin hat »das Gedichtete« bei Hölderlin im Blick auf Blödigkeit als »die Wahrheit der Dichtung« aufgefasst, bestimmt
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Friedrich Hölderlin, Blödigkeit, in: ders: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente, Bd. X, S. 235.
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als »synthetische Einheit der geistigen und anschaulichen Ordnung« (Benjamin 1980: 105, 106). In Blödigkeit, in einer früheren Fassung noch mit »Dichtermuth« betitelt, scheint der Dichter dementsprechend derjenige zu sein, dessen Fuß einleitend ganz »auf Wahrem« wandelt. Der folgende Aufruf an den Genius der Dichtung, doch »Baar« ins Leben zu treten, verweist die Wahrheit der Dichtung scheinbar auf jene unbedarfte Sorglosigkeit, der Kant den Namen der Einfalt gegeben hat. Die doppelte Frage, mit der das Gedicht beginnt, stellt diesen Anschein des einfältigen Vertrauens auf die Kraft der Dichtung jedoch zugleich in Frage. Dass dem Dichter die Lebendigen »bekannt« sind, weist bereits auf jenes Moment des Wissens und Erkennens hin, das Claudius im Abendlied noch erfolgreich abgewehrt hatte. Die zweite Frage »Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen?« lässt das Wahre durch den abschließenden Vergleich daher auch in einem anderen Licht erscheinen: Der Fuß des Dichters geht nicht auf einem Naturgrund, sondern auf einem Gegenstand der Kunst, dem Teppich, der zudem auf das der Dichtung zugrunde liegende Moment des Webens, des textere, verweist. »Die Wahrhaftigkeit dieses Wahren ist des Weiteren dadurch unsicher, dass der Teppich auch als Metapher für ein textuelles Gebilde, genauer für ein Gedicht verstanden werden kann«, kommentiert Barbara Indlekofer (2008: 75). Auch wenn der Genius arglos ins Leben treten soll: Der Boden, auf dem er wandelt, ist alles andere als einfach, erscheint vielmehr selbst als Ergebnis einer Kunstleistung, die erst das herstellt, was dann als Grund dienen soll. Die »Blödigkeit«, die Hölderlin in seinem Gedicht ausstellt, wird nur zu einem Teil durch die Einfalt abgedeckt, die Claudius in den Mittelpunkt seines Gedichtes gestellt hatte. Ihr anderer Teil ist der vertraute Umgang mit dem durch Wissen vermittelten Bekannten, mit der Dichtung als einer lehr- und lernbaren Technik, die das Gedicht fordert und zugleich vorführt. Die Frage- und Antworttechnik, die Hölderlin in der ersten Strophe leitet, nimmt die zweite Strophe wieder auf. Im Vergleich zur ersten Strophe ist das Verhältnis von Frage und Antwort jedoch umgekehrt: Die zweite Strophe beginnt mit der Antwort und endet mit einer Frage. Der einleitende Aufruf »Was geschiehet, es sey alles gelegen dir!« dient erneut der Selbstversicherung des Dichters. Dass ihm alles »gelegen« sein soll, verweist nicht nur auf die stoische Schicksalsgläubigkeit, die immer wieder mit dem Gedicht wie Hölderlins Dichtungsverständnis überhaupt in Verbindung gebracht wurde.5 Sie spielt
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In diese Richtung weist der Kommentar von Jochen Schmidt in der Ausgabe Deutscher Klassiker Verlag: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Gedichte, hrsg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1992, S. 831.
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zugleich auf den kairos der Dichtung an. Gelegen kommt dem Dichter alles, da es sich zu jenem Text-Teppich verarbeiten lässt, auf dem sein Fuß sicher wandeln kann. Im »gelegen« steckt das Moment des Liegens ebenso wie das des Legens: Die passive Komponente, die in der stoischen Blödigkeit zum Ausdruck zu kommen scheint, wird durch eine aktive ergänzt, die auf die Kunstfertigkeit des Dichters verweist. Das Gedicht zelebriert damit alles andere als eine stoische Schicksalsgläubigkeit oder christliches Gottvertrauen, wie es noch im Abendlied der Fall war. In Hölderlins paradoxer Logik von Eigenem und Fremdem begegnet dem Dichter das, was sich ihm unmittelbar zu geben scheint, als dasjenige, was er erst zu verarbeiten hat, um es überhaupt werden zu lassen. Natur, als der paradigmatische Bereich, in dem Rousseau und Kant zufolge die Einfalt zu Hause ist,6 ist nicht der Ursprung der Kunst, sondern erst ihr Werk. Mit dieser neuen Verhältnisbestimmung von Natur und Kunst »überwindet« Hölderlin, so schon die Einsicht Peter Szondis (1978), den Klassizismus und schreibt sich in jene Moderne ein, die er poetisch wie politisch herzustellen bemüht ist. Dass in dem reimlosen Gedicht Hölderlins das Herz »zur Freude gereimt« sein soll, weist jedoch zugleich darauf hin, dass der Prozess der Überwindung des Alten nicht allein als Wende, als Zäsur oder Epoche zu verstehen ist. Mit dem Herzen nimmt Hölderlin die zentrale Metapher der Empfindsamkeit auf, um zu verdeutlichen, dass das geforderte Vertrauen sich keiner äußeren Instanz verdankt, sondern allein der eigenen inneren Kraft des Dichters. Das Herz steht in diesem Zusammenhang nicht allein für die empfindsame Aufnahmebereitschaft ein, die den Dichter nach Klopstock auszeichnet. In dem Maße, in dem das Herz sich einen eigenen Weg bahnt, erscheint die Begegnung mit äußeren Dingen zunächst nur als Hindernis auf dem Weg zum Ziel. Der dialektische Fortschritt besteht jedoch darin, dieses Hindernis in ein Eigenes zu verwandeln und zum Geschick umzuwenden. Der Begriff des Geschicks, der den Schluss des Gedichts bestimmt, ist erläuterungsbedürftig. Bereits Benjamin (1980: 115) hat auf den »Doppelsinn des Wortes ›geschickt‹« hingewiesen. Auf der einen Seite scheint der Sänger im Sinne der alten Auffassung der Kunst als einer enthusiastischen Beseelung von den Göttern geschickt. Auf der anderen Seite aber ist er als moderner Dichter im technischen Sinne geschickt, da er die Muster der Vergangenheit kennt und neu zu bearbeiten weiß. Die voraussetzungsreiche, geschichtlichen Veränderungen
6
»D i e N a i v e t ä t , diese edle oder schöne Einfalt, welche das Siegel der Natur und nicht der Kunst auf sich trägt« (GSE A 38f.), so Kant in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Zur Einfalt bei Hölderlin, allerdings bezogen auf das Spätwerk, vgl. Bart Philipsen (1995).
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unterworfene Stellung des Dichters als Vermittlungsinstanz zwischen Göttern und Menschen nimmt der Mittelteil des Gedichtes in den Blick. In einer komplexen Satzfolge, die sich über drei Strophen erstreckt, erstellt Hölderlin ein Bild, das mit dem »Gesang und der Fürsten / Chor« beginnt, der die Himmlischen wie die Menschen zur »Einkehr« führt. Der Begriff der Einkehr verweist zum einen auf die theologische Tradition, auf jene Rückwendung des Selbst auf sich, die Augustinus in den Confessiones im Mailänder Garten findet.7 In Hölderlins geschichtsphilosophischer Verhältnisbestimmung von Antike und Moderne nennt das Moment der Einkehr jedoch zugleich die Wende, die den Gang des vaterländischen Gesanges im Unterschied zum antiken Vorbild bestimmt: Die Einkehr, eng verbunden mit der für Hölderlin zentralen Figur Rousseaus, meint eine Rückwendung des Selbst nicht allein im theologischen Sinne, sondern eine geschichtsphilosophische Kehre, die zugleich eine Abwendung vom griechischen Götterhimmel bedeutet. Wo Claudius den kindlichen Blick auf den Abendhimmel ausgestellt hat, da fordert Hölderlin eine Hinwendung zum Selbst, die in der reflektierten Form der Einkehr die Einfalt durchbricht. Es ist der Gesang, der die Menschen wie die Himmlischen einer Einkehr zuführt, die zugleich eine Wende im Geist der Dichtung bedeutet, derzufolge die Dichter nicht mehr zum Mundrohr der Götter, sondern, auch im politischen Sinne, zu »Zungen des Volkes« werden. Dass der Gott, den Hölderlin anruft, »den denkenden Tag Armen und Reichen gönnt«, verstärkt nicht nur die politische Bedeutung des Gedichtes, sondern macht durch die Betonung, dass es sich hier um eine Form des Denkens handelt, zugleich deutlich, dass es hier wieder um ein Moment des bewussten Erkennens geht. Das Bild Apollos als »des Himmels Gott«, der die Menschen als »die Entschlafenden« an »goldenen / Gängelbanden« und dazu noch »wie Kinder« führt, scheint zunächst den ursprünglichen Sinn von Blödigkeit im Sinne Benjamins zu bestätigen: »›Blödigkeit‹ – ist nun die eigentliche Haltung des Dichters geworden. In die Mitte des Lebens versetzt, bleibt ihm nichts, als das reglose Dasein, die völlige Passivität, die das Wesen des Mutigen ist; als sich ganz hinzugeben der Beziehung.« (Benjamin 1980: 125) Wenn die Beziehung, von der Benjamin spricht, im theologischen, politischen und poetologischen Sinne eine ist, die den Mensch in ein Verhältnis zu den Göttern stellt, dann vollzieht die letzte Strophe jedoch einen Wechsel. Das eindrucksvolle Bild der Sonnenstrahlen als Bänder, an denen der Gott die Menschen hält, verweist sie als Kinder in den Bereich der Unwissenheit und der Passivität, den das Gedicht überwinden möchte. Während Apoll als Gott der Musen dem Dichter das Bild der vergänglichen Menschen vor
7
Vgl. Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, Zürich 1950, S. 206f.
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Augen führt, indem er »uns«, die Entschlafenden aufgerichtet hält, verkehrt sich das Verhältnis von Dichter und Gott daher in der letzten Strophe: »Wenn wir kommen, mit Kunst, und von den Himmlischen / Einen bringen.« Der Gott der Antike, der die Dichtung durch seine Inspiration auslöste, wird zum Werk des Dichters, der ihm in der Dichtung erst Gestalt gibt. Ließ sich die Einfalt mit Kant als ein Mangel an Auffassungsgabe bestimmen, so bestimmt Hölderlin die Blödigkeit des Dichters nicht mehr als den Mangel, der die Dummheit ausmacht, sondern, im Sinne von Kants Begriff des Witzes, als seine Gabe. Was dem modernen Dichter als Naturgabe mitgegeben zu sein scheint, ist nicht Natur, sondern Kunst, das, »was bei den Griechen und uns das höchste seyn muß, nemlich dem lebendigen Verhältniß und Geschik« (Hölderlin 2004: 183) als dem Moment, das die Antike und die Moderne verbindet. Vor diesem Hintergrund führt die abschließende Strophe die doppelte Bedeutung des »geschickt« noch einmal zusammen, um zugleich die titelgebende Blödigkeit aufzuheben. »So ist die anfängliche von Blödigkeit gekennzeichnete Haltung, so ist die Zaghaftigkeit und Schüchternheit, die das Subjekt der dichterischen Rede bezüglich seiner gegenwärtigen Situation hegte, einem Wissen um die doppelte Geschicktheit des poetischen Unternehmens gewichen«, kommentiert Indlekofer (2008: 92) den Entwicklungsgang des Gedichtes. Geschickt im Sinne von gesandt sind die Sänger in einem Auftrag, der mit einem Ziel verbunden ist, das geschickte Hände voraussetzt: »wenn wir kommen, mit Kunst«. Dichtkunst erscheint in diesem Sinne im Anschluss an Horaz als decorum, als eine Form der Schicklichkeit. Das decorum aber ist geschickt, um etwas zu tun, ist geschickte Kunst als Geschick und Schicklichkeit zugleich. Poetologisch lässt sich der Anspruch, den Hölderlin in Blödigkeit erhebt, im Gegensatz von Originalität des Gedichtes und Konventionalität der Sprache fassen. Dass Hölderlin sich in Blödigkeit ganz gegen den Anschein der Einfalt mit dem Problem der Konventionalität dichterischer Sprache auseinandersetzt, hat wiederum Stanitzek (1989: 245) betont: »Auch die Ode Blödigkeit spricht eine Sprache, die einen extremen Abstand vom Konventionellen erreicht.« Paradox sei die Distanzierung von der Konvention aber, weil »die Ode gerade als intensive Versenkung in die Frage der Gegebenheit von Konvention zu lesen ist« (ebd.). Die schicklichen Hände, auf die der Dichter sich zum Schluss beruft, lösen dieses Paradox auf. Schicklich sind die Hände, da sie der geforderten Konvention des Dichterischen, dem Horazschen decorum, entsprechen, zugleich aber geschickt, da sie die sprachlichen Konventionen im dichterischen Wort außer Kraft setzen. Nichts anderes leistet Hölderlins Lob der Blödigkeit. Eine »Revolution der dichterischen Sprache« im Sinne Julia Kristevas (1974) erreicht Hölderlin noch vor der französischen Moderne des 19. Jahrhunderts, da er die
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Konvention im Gedicht überwindet, indem er sie artistisch neu windet und damit im Hegelschen Sinne »aufhebt«. Hölderlins Ode ist Ausdruck extremer Schicklichkeit und Geschicktheit zugleich.
4. D IE G ENEALOGIE DES N ICHTWISSENS UND DIE L ITERATUR Wie Claudius und Hölderlin zeigen, lässt sich die Frage nach der Darstellung des Nichtwissens in der Literatur nicht auf eine übergreifende Weise beantworten. Auf dem Weg von der Aufklärung in die Moderne entfalten beide ein Bild der Einfalt, das unterschiedlicher nicht sein könnte. Im Mittelpunkt des Abendliedes steht eine religiös begründete Form des Nichtwissens, die sich auf der einen Seite in der spezifischen Form der Ignoranz als ein Nicht-Wissen-Wollen zeigt. Die Ansprüche der modernen Naturwissenschaft werden im Gedicht auf paradigmatische Weise zurückgenommen, um der scheinbar naiven Welt des Glaubens Raum zu lassen. Dem Nichtwissen, das in das Abendlied Eingang findet, liegt eine Abwehr der Angst zugrunde, die die Erweiterungen des Wissens in der Moderne mit sich bringen. Auf der anderen Seite aber dient gerade die von Claudius beschworene Schutzfunktion der Einfalt dazu, das moderne Subjekt vor Anforderungen zu retten, die es in der vollständigen Überantwortung an die Wissenschaften überlasten könnten. Hölderlins Blödigkeit aus den Nachtgesängen skizziert ein ganz anderes Bild. Im Mittelpunkt seines Interesses steht die Frage nach der dichterischen Darstellung der Wahrheit, die zwei scheinbar unvereinbare Dinge miteinander verbindet: die Einfalt des Herzens, wie sie sich aus der Tradition Rousseaus und Kants ergibt, und das rhetorische Geschick des Dichters, das sich als eine Form des Wissens erweist, die sich den Anforderungen der neuen Zeit zu stellen hat. So inszeniert Hölderlin das Geschick in Blödigkeit zugleich ganz im Kantischen Sinne der Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit, als eines Ausgangs, der jene Ungewissheit und Angst erzeugt, gegen die Claudius im Abendlied Schutz gesucht hat. Beiden Gedichten liegt so die Erfahrung der Moderne als einer Zeit zugrunde, die nicht nur beständig neues Wissen befördert, sondern zugleich mit immer neuen Formen des Nichtwissens konfrontiert. Im Falle Claudius’ ist dies die religiös begründete Einfalt des gläubigen Menschen, im Falle Hölderlins die dichterisch begründete Blödigkeit als das paradoxe Zusammengehen von rhetorischer Technik und der spezifisch modernen Aufgabe der Darstellung einer Wahrheit, die in ihrer poetischen Form
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nicht einfach mit dem Wissen um die Tradition gleichgesetzt werden kann, vielmehr den Horizont der Moderne als ein Nichtwissen um die Zukunft öffnet. Vor diesem Hintergrund lässt sich die hier skizzierte Poetologie des Nichtwissens durchaus als eine Form der Dialektik der Aufklärung verstehen. Nach Horkheimer/Adorno besteht deren Aufgabe bekanntlich darin, die Furcht von den Menschen zu nehmen. Auf die zwiespältige Rolle, die die Dummheit in diesem Zusammenhang spielt, sind Horkheimer/Adorno selbst eingegangen. »Dummheit ist ein Wundmal«, halten sie in der Dialektik der Aufklärung fest (Horkheimer/Adorno 1969: 274). Die Poetologie des Nichtwissens kann die Wunden der Dummheit nicht heilen. Sie kann sie gleichwohl zum Sprechen bringen und damit einen Beitrag zu jener Form der Aufklärung leisten, die Horkheimer/Adorno schon bei Sade und Nietzsche am Werke sahen. Die dunkle Macht des Nichtwissens, deren Abgründigkeit John Locke in seinem Versuch über den menschlichen Verstand beschworen hat, nicht einfach im Wissen aufzuheben, sondern als einen eigenständigen Raum der Unbegrifflichkeit zu begreifen, bedeutet daher zugleich, dem Herrschaftsanspruch der Vernunft eine Grenze zu setzen, die diese nur zu überschreiten vermag, wenn sie sich auf die dunkle Seite des Nichtwissens einlässt. »Der Begriff ist zwar kein Surrogat, aber er ist zur Enttäuschung der auf ihn gesetzten philosophischen Erwartungen nicht die Erfüllung der Intention der Vernunft, sondern nur deren Durchgang, deren Richtungsnahme.« (Blumenberg 2007: 10) Mit diesen Erläuterungen thematisiert Hans Blumenberg eine Theorie der Unbegrifflichkeit, die eine Grenzziehung unternimmt, deren Kontur die Poetologie des Nichtwissens bestimmt. Kurs auf das scheinbar unbegrenzte Reich des Nichtwissens zu nehmen, von dem schon John Locke in seinem Versuch über den menschlichen Verstand berichtete, als er feststellte, dass die »Unwissenheit nahezu die gesamte intellektuelle Welt für uns in ein undurchdringliches Dunkel hüllt« (Locke 1988: 211), bedeutet vor diesem Hintergrund, der Einsicht zu folgen, dass das Nichtwissen im Kontext der Geschichte des Wissens keineswegs marginal sei, sondern eine konstitutive Größe für die Geburt der modernen Vernunft darstellt. In diesem Sinne hält Jacques Derrida fest, das Nichtwissen überschreite den gegenständlich fassbaren Bereich des Wissens, verstanden als eine Form der Rede, »die ihren Ursprung und ihren Sinn verbirgt und nie sagt, woher sie kommt noch wohin sie geht; zunächst weil sie es nicht weiß und weil dieses Nichtwissen, die Abwesenheit ihres eigentlichen Subjektes nämlich, nicht über sie hereinbricht, sondern sie konstituiert« (Derrida 1976: 271 – Hervorh. im Original). Die Aufgabe einer Dekonstruktion der Geschichte des Wissens bestünde entsprechend darin, »den Riß in den Text einzuschreiben, die Kette des diskursiven Wissens in ein Verhältnis zu einem Nicht-Wissen zu bringen, das nicht eines ihrer Momente ist,
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zu einem absoluten Nicht-Wissen, von dessen Grund der Glücksfall oder der Einsatz des Sinns, der Geschichte und der Horizonte des absoluten Wissens sich abheben« (ebd.: 407). Auch Derridas Begriff eines absoluten Nichtwissens birgt jedoch eine Gefahr in sich. Sie besteht in der unumschränkten Herrschaftserklärung all dessen, was die Ausbildung des Geistes auf seinem Weg durch die Geschichte stört. Die Idee eines absoluten Nichtwissens verfährt letztlich nicht weniger autoritär als Hegels Begriff des absoluten Wissens. An Blumenberg und Derrida kann die Poetologie des Nichtwissens daher nur anknüpfen, wenn sie nicht allein auf der metaphorischen Ordnung der Literatur als paradigmatischem Ort der Unbegrifflichkeit besteht, sondern deren Nichtwissen als eine Form der begrifflichen Unbestimmtheit zur Geltung bringt, die sich in die Geschichte des Wissens einschreibt und sich ihr im gleichen Zuge entzieht. Dass die Literatur sich mit den unterschiedlichen Diskursen des Wissens auf vielfältige Art und Weise zusammenbringen lässt, haben kulturwissenschaftliche Ansätze in der Nachfolge von Foucault zu Genüge erwiesen.8 Die Poetologien des Wissens wären aber durch eine Poetologie des Nichtwissens zu ergänzen, die in der Literatur nicht nur den Ort erkennt, an dem sich wissenschaftliche Diskurse unterschiedlichster Provenienz einschreiben, sondern zugleich ein Archiv, das sich für historische Formen der Unvernunft offenhält und so ein Korrektiv zu allen Versuchen bildet, das moderne Subjekt allein durch die ihm eigene Vernunftbestimmtheit zu definieren. So gibt sich die Poetologie des Nichtwissens zugleich als eine Genealogie des Wissens im Lichte der Literatur zu erkennen, die in mancherlei Hinsicht an Nietzsches fröhliche Wissenschaft und die damit verbundene Infragestellung des Willens zum Wissen anknüpfen kann.
L ITERATUR Augustinus, Aurelius (1950): Bekenntnisse (hrsg. von W. Thimme), Zürich: Artemis. Benjamin, Walter (1980): Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1: Aufsätze, Essays, Vorträge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 105-126. Bennett, Andrew (2009): Ignorance. Literature and Agnoiology, Manchester/ New York: Manchester University Press.
8
Vgl. Vogl (1999) und, auf einer ganz anderen theoretischen Grundlage, Schlaffer (2005).
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Blumenberg, Hans (2007): Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Claudius, Matthias (1965): Abendlied, in: ders.: Werke (hrsg. von U. Roedl), Stuttgart: Cotta, S. 264-265. Derrida, Jacques (1976): Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1973): Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fulda, Daniel (2010): Wissen und Nicht-Wissen vom anderen Menschen. Das Problem der Gemütserkennung von Gracían bis Schiller, in: H. Adler/R. Godel (Hg.): Formen des Nichtwissens in der Aufklärung, München: Fink, S. 483-504. Hölderlin, Friedrich (2004): 4. Dezember. An Casimir Ulrich Boehlendorff: Abschrift Sinclairs, in: ders.: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Reihenfolge, Bremer Ausgabe, Bd. IX, 1800-1802 (hrsg. von D. E. Sattler), München: Luchterhand, S. 183. Hölderlin, Friedrich (2004): Blödigkeit, in: ders.: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Reihenfolge, Bremer Ausgabe, Bd. IX, 1800-1802 (hrsg. von D. E. Sattler), München: Luchterhand, S. 235. Hörisch, Jochen (2007): Das Wissen der Literatur, München: Fink. Horkheimer, Max/Adorno Theodor W. (1969): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M.: S. Fischer. Indlekofer, Barbara (2008): Friedrich Hölderlin. Das Geschick des dichterischen Wortes. Vom poetologischen Wandel in den Oden ›Blödigkeit‹, ›Chiron‹ und ›Ganymed‹, Tübingen/Basel: Francke. Kant, Immanuel (1977a): Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (GSE), in: ders.: Vorkritische Schriften bis 1768, Bd. 2. Werkausgabe, Bd. II (hrsg. von W. Weischedel), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 825-884. Kant, Immanuel (1977b): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (Anth), in: ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Bd. 2. Werkausgabe, Bd. XII (hrsg. von W. Weischedel), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 397-690. Kristeva, Julia (1974): La révolution du langage poétique, Paris: Éditions du Seuil. Locke, John (1960): Versuch über den menschlichen Verstand, Hamburg: Meiner. Marx, Reiner (1983): Unberührte Natur, christliche Hoffnung und menschliche Angst – Die Lehre des Hausvaters in Claudius’ Abendlied, in: K. Richter
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(Hg.): Gedichte und Interpretationen, Bd. 2, Aufklärung und Sturm und Drang, Stuttgart: Reclam, S. 339-355. Möller, Horst (1986): Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Novalis (1978): Hymnen an die Nacht, in: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 1: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe (hrsg. von H.-J. Mähl/R. Samuel), München/Wien: Hanser, S. 147177. Philipsen, Bart (1995): Die List der Einfalt. NachLese zu Hölderlins spätester Dichtung, München: Fink. Proctor, Robert N. (2008): Agnotology. A Missing Term to Describe the Cultural Production of Ignorance (and Its Study), in: R. N. Proctor/L. Schiebinger (Hg.): Agnotology. The Making and Unmaking of Ignorance, Stanford: Stanford University Press, S. 1-33. Roger, Alain (2008): Bréviaire de la bêtise, Paris: Gallimard. Ronell, Avital (2002): Stupidity, Urbana-Champaign: University of Illinois Press. Schlaffer, Heinz (2005): Poesie und Wissen. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schmidt, Jochen (1992): Kommentar, in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Gedichte, hrsg. von J. Schmidt, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, S. 483-1095. Stanitzek, Georg (1989): Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer. Szondi, Peter (1978): Überwindung des Klassizismus. Der Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801, in: ders.: Schriften, Bd. 1 (hrsg. von J. Bollack/H. Beese/W. Fietkau/H. Stierlin/H.-H. Hildebrandt/G. Mattenklott/S. Metz), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 345-366. Vogl, Joseph (1999): Einleitung, in: ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800, München: Fink, S. 7-16.
Sprechen und Begründen jenseits des Definiten Theologie und ihr besonderes Verhältnis zum Nichtwissen C HRISTOPH H AUSLADEN
1. E INLEITUNG Die Debatte um die Rolle und die Bedeutung von Nichtwissen in modernen Gesellschaften beschäftigt in zunehmendem Maße verschiedene Einzelwissenschaften. Sozial- wie Geisteswissenschaften thematisieren unterschiedlichste Phänomene des Nichtwissens von der Literatur bis zur Ökonomie. Recht, Medizin oder Wirtschaft bedenken die Konsequenzen von Nichtwissens-Phänomenen und suchen nach Umgangsformen damit. Nun scheint die Theologie in diesen Diskurs der anderen Wissenschaften nicht wirklich eingebunden1 – auch wenn der Begriff des Nichtwissens ihr seit Jahrhunderten vertraut ist. Begriffliche Übereinstimmung muss jedoch nicht heißen, dass die gleiche oder doch eine verwandte Sache damit verhandelt wird. So will der folgende Beitrag einen Blick darauf werfen, welche Form von Nichtwissen die Theologie beschäftigt, an welchen Stellen es auftritt und zu welchen Konsequenzen es theologisches Denken nötigt. Nach einem kurzen Hinweis zur Begrifflichkeit wird in einem ersten Schritt der zentrale Ort des Nichtwissens in
1
Eine Berücksichtigung des gegenwärtigen Nichtwissens-Diskurses in der Theologie hat der Verfasser bisher nicht beobachten können, und umgekehrt lässt sich bisher auch kaum feststellen, dass theologische Aspekte des Nichtwissens über einzelne Berührungspunkte hinaus (Arntz 2013; Hausladen 2013) in die außertheologische Debatte einfließen.
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theologischem Denken festzustellen sein. Es ist – schon das wohl eine Besonderheit – kein Randphänomen, das die sicheren Bereiche des Gewussten umgibt. Betroffen von Aspekten des Nichtwissens ist die innerste Mitte des theologischen Denkens, dasjenige, worauf sich zentral der Fokus theologischer Rede richtet: die Gottesfrage. Gott ist kein gewöhnliches Objekt und entsprechend nur in eigener Weise »übergegenständlich« (Demmer 2013: 86) zu denken und zur Sprache zu bringen. Kann so überhaupt Näheres von ihm gewusst (im Sinne eines belastbaren, kognitiv gefassten Begriffs) und über ihn ausgesagt werden? Es wird sich zeigen, wie die Suche nach angemessenen Vorgehensweisen und Sprachformen seit jeher die Theologie beschäftigt. In einem zweiten Schritt lässt sich eine neuzeitliche Verschärfung des Problems feststellen, indem dieses ›Nichtwissen‹ ihrer zentralen Mitte auf die Theologie als Ganze und auf ihren Wissenschaftscharakter abfärbt. Nicht nur seine genaue Bestimmung und Füllung, das Wort ›Gott‹ selbst und sein sinnvoller Gehalt werden fraglich. Die Gewissheit seiner Existenz, die sich auch auf die Vernunftform ontologisch-philosophischer Gottesbeweise stützen konnte, zerbricht nach Immanuel Kant mit wandelnden erkenntnistheoretischen Prämissen und der in Frage gestellten Plausibilität bestimmter metaphysischer Einsichtsformen (vgl. Striet 2007: 112-114). Die Nichtwissensproblematik affiziert neben der Sprachebene nun auch die Begründungsebene – und wirft verschärft die Frage nach der Form und Vernünftigkeit des Theologie-Treibens auf. Immer schon gab es hier eigene Denkformen der Theologie als Vergewisserung einer Überzeugung, die zunächst im Modus des Glaubens an den Menschen herantritt, doch in neuer Radikalität wird heute ihr Wissens- wie Nichtwissensstatus angefragt und muss sich rechtfertigen. Mit dem Siegeszug der empirischen Wissenschaften scheint deren verlässliches Wissen in Gegensatz zu als obskur und »PseudoWissen« (Werbick 2010: 37) verdächtigten Gehalten der Gottesrede zu geraten. Aus der Position an der Spitze der Universitas der Wissenschaften, dem Selbstverständnis als vornehmste und höchste Wissenschaft verdrängt, gerät die Theologie in die Defensive und in eine Randstellung, bis dahin, dass nicht selten ihr Wissenschaftscharakter und ihre Existenzberechtigung im Rahmen der Universität bestritten werden (vgl. Striet 2007: 117).2 Hier ist zu zeigen, wie nach dem
2
Dabei ist mit Schärtl (2012: 430) präzisierend festzuhalten, dass dieser Angriff nicht den in den unterschiedlichen theologischen Disziplinen wie Exegese, Dogmatik oder Kanonistik angewandten disziplinspezifischen Methodiken gilt, die sich durchaus mit vergleichbaren wissenschaftlichen Standards anderer Einzelwissenschaften messen können, sondern der Grundannahme, die sich die Theologie setzt, eben die Existenz
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eigenen Selbstverständnis ein fundamentales Nichtwissen im Sinne der Wahrnehmung und Integration der Grenzen des Wissbaren in den Charakter dieser Wissenschaft einfließt und ihn durchprägt, ohne sie dadurch zur ›Nicht-Wissenschaft‹ zu machen. Mit Blick auf die gegenwärtige innertheologische Diskussion lassen sich unterschiedliche Entwürfe feststellen, die in je eigener Weise dem Nichtwissen Gewicht geben und diese Prägung durch das Nichtwissen auch nicht verschleiern, sondern in ihrer Gesamtanlage kundtun. Anhand einiger relevanter Positionen der gegenwärtigen akademischen katholischen Theologie im deutschen Sprachraum sollen hier unterschiedliche Zugänge profiliert werden, die gemeinsam haben, dass in ihnen Begründungsformen jenseits traditioneller Gottesbeweise vorliegen und sie dennoch den Anspruch erheben, die Theologie als vernunftförmig zu erweisen – eine Vernunft abseits wissensbasierten Beweisens, aber auch unterschieden von reiner Emotionalität nur innerreligiöser, systeminterner Schlüssigkeit. Klaus Müller hat unlängst erst darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung der Theologie von der Religionswissenschaft voraussetzt, den Anspruch auf vernünftiges Wissen in einem über die Beschreibung religiöser Phänomene hinausgehenden Bereich und jenseits rein privater Lebensbewältigung aufrecht zu erhalten: »Es geht um die Frage, ob der Anspruch der Theologie genuin kognitiv geladen und im öffentlichen Diskurs satisfaktionsfähig ist.« (Müller 2012: 182) Sie beansprucht dabei, vernünftige Gottesrede zu sein, das heißt nicht in Widerspruch zu den Voraussetzungen eines von religiösen Grundannahmen unabhängigen Vernunftgebrauchs zu kommen. Es muss vernünftig sein (nicht: zwingend), von Gott zu sprechen. Theologie ist die vernünftige Rede von dem, was nicht auf herkömmliche Weise gewusst und bewiesen werden kann. Zuletzt ist entsprechend dem Anliegen dieses Bandes zu betrachten, ob trotz aller Unterschiedlichkeit des Begriffs, aus den Sprachformen und dem Selbstverständnis der Theologie über sie hinaus ein allgemeiner Nutzen gezogen werden kann. Bevor wir diese Aufgaben angehen, eine kurze Beobachtung zum Umgang mit dem Wort ›Nichtwissen‹. In der Theologie ist es in Folge der Schrift »Docta Ignorantia« des Nikolaus von Kues (1401-1464), oft als »Wissen des Nichtwissens« gefasst, zum vertrauten Begriff geworden. Er bezeichnet die Erkenntnis von dauerhaften Grenzen des mit menschlichem Erkenntnisvermögen Wissbaren, eine Tatsache, die dem Menschen ihrerseits bewusst ist und für den Cusaner ein wirkliches Wissen darstellt. Das bezeichnete Phänomen erscheint jedoch heute eher selten unter dem Label des Nichtwissensbegriffs, sondern wird zu-
Gottes vorauszusetzen und alles Weitere unter dieser Annahme zu denken. Zur Diskussion um die Rolle der Theologie an der Universität vgl. Hoping (2007).
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meist im Blick auf das Ziel des Erkennens unter der Geheimnishaftigkeit und Unbegreiflichkeit Gottes gefasst. In Bezug auf den epistemischen Charakter ist auch von der besonderen Vernunftform des Glaubens, vom »vernunftgemäßen Anderen der Vernunft« (Höhn 2012: 277) die Rede, in Hinsicht auf die Gestalt des Denkens von apophatischer oder negativer Theologie.3 In einer wissensdominierten Gesellschaft scheint die Theologie eine Scheu vor dem Begriff zu haben, und Risiken eines Missverstehens scheinen zu einer großen Vorsicht zu führen.
2. D IE S PRACHFORM – M ÖGLICHKEIT DES S PRECHENS ÜBER G OTT
UND
G RENZE
Die Gottesrede ist der primäre Ort des Nichtwissens in der Theologie. Wird über anthropomorphe Sprachbilder hinaus theologisch-philosophisch reflektiert von Gott gesprochen, geht es um einen übergreifenden und gründenden Integrationsgedanken aller Wirklichkeit. Es macht ihn gerade aus, dass er kein Objekt unter vergleichbaren anderen ist. Mögliche Begriffsbestimmungen lauten entsprechend »die alles bestimmende Wirklichkeit, die Wirklichkeit schlechthin, wirklichste Wirklichkeit, die Grund und Ziel aller uns begegnenden und von uns erfahrenen Wirklichkeit ist« (Wendel 2011b: 524). Es geht im Gottesgedanken nicht um ein Einzelnes, das dingfest zu machen wäre, sondern um die »Klärung der Art und Weise, wie in einer Gesellschaft über das Ganze der Welt und des Lebens gesprochen wird« (Eckholt 2010: 250). Der fragende, nachdenkende und es in Worte bringende Bezug auf das Ganze von Welt und Mensch, der als konstitutiv für den Menschen und seinen Vernunftvollzug angenommen werden kann, ist es, der auf das Wort Gott führt. »Nicht nur Gott selbst, sondern zugleich alle Weltwirklichkeit in ihrem Dasein« (Striet 2007: 118) umfasst ein Gottesbegriff, der den denkerischen Anspruch der mit ihm verbundenen Unbedingtheit wahrt. So ist mit ihm auch die Frage nach dem Ursprung und Hergang von allem, was ist, verbunden. »Das Wort Gott weist also auf das Ganze und seinen Grund: Da kommen wir her, da gehen wir hin, Ursprung und Ziel.« (Lehmann 2011: 15). Mit diesem Umriss eines Gottesbegriffs ist jedoch noch nichts weiter über dessen Realität und die Möglichkeit ausgesagt, angemessen von ihm zu sprechen.
3
Nicht ganz zufällig erscheint auch die Beobachtung, dass der evangelische Theologe Martin Hailer beispielsweise den Begriff Nichtwissen in einer Überschrift anführt, ohne ihn im nachfolgenden Text überhaupt ein einziges Mal zu benennen (Hailer 2006: 233).
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Nun muss es Anspruch und Aufgabe der Theologie sein, diese umfassende und unbedingte Wirklichkeit, auf die sich ihr Interesse richtet, auch sprachlich und begrifflich soweit zugänglich zu machen, dass sie dem vernunftgemäßen Denken und Kommunizieren offensteht. Sie muss eine in sich konsistente und mit verschiedenen Bereichen der Wirklichkeitserfahrung kohärente Gott-Rede entwickeln. Doch wenn es sich gerade im Unterschied zu allem sonstigen Erkennen und Sprechen nicht um ein Objekt im herkömmlichen, bestimmbaren Sinne handelt, wie kann diese Wirklichkeit gewusst und von ihr gesprochen werden? Von Gott lässt sich nicht nahtlos und in gleicher Weise wie von anderen Objekten reden. Eine empirische Überprüfbarkeit, Grundvoraussetzung unseres naturwissenschaftlich geprägten Wissensbegriffs, scheidet aus, da sich die bezeichnete Wirklichkeit nicht isolieren und in ein Experiment einpassen lässt. Doch auch jenseits methodisch kontrollierter Empirie gilt verschärfend: Gegen eine nähere begriffliche Bestimmung Gottes in Form positiver Aussagen steht der mit dem Gottesbegriff einhergehende Gedanke der unüberwindbaren Andersheit Gottes und seiner schlechthinnigen Unbegreiflichkeit. Einzigartigkeit, Unendlichkeit, Absolutheit verbinden sich nicht nur mit einem philosophischen, sondern auch mit dem konkreten Gottesgedanken der Religionen. Daher kann es nie hinreichendes Wissen von Gott als Erkenntnis geben; es kann nicht aufgehen in einem »Pathos des Erklärens« (Werbick 2008: 119), das meint, das Ganze zu durchschauen. Der Theologie und dem Glauben sind daher ein Ringen um ihre Aussageformen inhärent, das zwischen Sprachnotwendigkeit und Sprachgrenzen nach Wegen sucht, das qua Ausgangsbestimmung nicht abschließend Definierbare auszudrücken. Dabei sind nachfolgende unterschiedliche Optionen möglich, die durchaus kontrovers diskutiert und in Gebrauch genommen werden. Einsprüche durch negative Theologie Der Einspruch gegen ein allzu leichtfertiges Reden kommt von Seiten einer als »negative Theologie« bezeichneten Infragestellung eines allzu gewohnten und vertrauten Sprechens von Gott. Sie streicht die Unverfügbarkeit und Geheimnishaftigkeit Gottes heraus und durchzieht alle monotheistischen Religionen, insbesondere in ihren mystischen Traditionen. Gegenwärtig erlebt sie eine neue Renaissance unter Verweis darauf, dass es gerade ein falsches »Vielwissertum« der Theologie gewesen sei, das mit seinem allzu auskunftsfreudigen, genauen und ausführlichen Wissen über Gott dazu beigetragen habe, dass der Gottesglaube als solcher dem modernen Menschen fraglich geworden ist (Höhn 2011a: 27, vgl. Halbmayr/Hoff 2008). Die Grundaussage negativer Theologie liegt darin, dass
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alle positiven Aussagen Gott niemals adäquat fassen können und daher zu verwerfen sind. Verborgenheit wird zur zentralen Wesensbestimmung Gottes. In der christlichen Theologie geht ihre Tradition insbesondere auf Dionysios Areopagita zurück, der positive Aussagen zwar zum Ausgangspunkt nimmt. Wo Bezeichnungen Gebrauch finden, sind sie jedoch stets äquivok zu verstehen: Der Ausdruck ist vertraut, er bezeichnet jedoch nicht den vertrauten Gehalt und das vertraute Objekt, sondern meint im Hinblick auf Gott etwas radikal anderes. Alle Begriffe müssen jedoch letztlich mangels ihrer Triftigkeit zurückgelassen und negiert werden. Bestenfalls haben sie Verweisungscharakter (vgl. Demmer 2013: 86). Sein Ziel findet dieser Zugang zu Gott nicht in einer begrifflichen Bestimmung, sondern jenseits der Sprache und des definierenden Denkens in der Anrede, in der ein Mensch in der Sprachform der ersten Person – als Ich – zu seinem Gott spricht und im Schweigen vor Gott (vgl. Wendel 2011a: 94ff.). So wird dessen Unverfügbarkeit und Unnennbarkeit gewahrt, auch jeder ideologischen Instrumentalisierung Gottes vorgebeugt. Er wird der Verdinglichung und Verharmlosung entzogen und bleibt »die Leerstelle, die niemals zu füllen ist« (ebd. 99). Negative Theologie ist Ideologiekritik. Sowohl Erkenntnisobjekt wie Erkenntnissubjekt werden hier kritisch betrachtet in Bezug auf Erkenntnismöglichkeit und Erkenntnisleistung: »Negative Theologie ist eine Denkhaltung, welche für das Sprechen von Gott Negationen und ihnen verwandte Sprachformen bevorzugt, um im Blick auf Gott alle begrenzenden Prädikationen abzuweisen und im Blick auf den Menschen dessen Vermögen zur letzten Erkenntnis des Wesens Gottes zu negieren.« (Faber 2002: 469 – Hervorh. im Original)
Grenzen negativer Gottesrede Trotz aller Faszination sind die Grenzen auch dieses Weges offensichtlich: Er erfährt nicht nur eine Korrektur durch die Vorstellungen der Religionen, dass Gott sich mitteilt, sich von sich aus offenbar macht, erfahrbar und damit bestimmbar wird. Ein Gott, über den nichts mehr ausgesagt werden kann, wird letztlich der Willkür preisgegeben. Seine moralische Dignität, und damit seine entscheidende sinnstiftende Dimension gehen verloren: Ist er noch der Gott, der das Gute will? Wo er nicht mehr im Zusammenhang mit einem Reflexionsbegriff der Liebe steht, ist auch angesichts einer fragwürdigen Realität der Welt jede zukünftige Hoffnung vergebens. Daneben verliert eine zu unbestimmte Gottesrede ihren provozierenden und korrigierenden Aspekt, sie ist kein »herausfordernder Stachel mehr« (Striet 2001: 130), der Kritik an bestehenden Realitäten und daraus
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resultierende Forderungen nach Verhaltenskorrekturen seitens des Menschen nach sich zieht. Gemütlichkeit und Realitätsaffirmationen treten an die Stelle prophetischer Umkehrrufe. Daher fordert beispielsweise Magnus Striet, zumindest den Gedanken der zugewandten Liebe als Minimalbestimmung Gottes dort aufrecht zu erhalten, wo verantwortlich von Gottes Wirklichkeit gesprochen wird (vgl. Striet 2003: 231240). Doch jede inhaltliche Füllung muss aufzeigen, auf welche Quelle sie sich stützt. Philosophisch denkbar wird ein entsprechender Gottesbegriff am genannten Beispiel auf dem Hintergrund einer transzendentalen Freiheitslehre – d.h. über eine Reflexion der Vernunft, die Sinnannahmen über den Menschen (die Gegebenheit einer Freiheit) setzt und ausdeutet – aber zu solchen Begründungsformen später mehr. Nicht-beherrschendes, gefülltes Sprechen Eine Gegenposition zu einer stark negativ-theologisch geprägten Rede nimmt Armin Kreiner (vgl. Kreiner 2006) ein, der radikale Unbeschreibbarkeit als weder haltbar noch stimmig zurückweist. Er verweist alle nicht-univoken Sprechweisen, die eine unterschiedliche Bedeutung der Aussagen je nach dem jeweiligen Bezug auf ein innerweltliches Objekt oder auf Gott voraussetzen, in klare Schranken, um sinnvolle Rede auch angesichts des Gottesbegriffs nicht zu gefährden. Sein Argument, dass dabei ein Rest an Nichtobjektivierung und damit auch Nichtwissen dennoch gewahrt wird, lautet: Wenn zwischen Erkennbarkeit und Beherrschbarkeit, Vergegenständlichung und Verdinglichung unterschieden wird, kann demzufolge eine aussagekräftige Rede von Gott aufrechterhalten werden, ohne dessen Absolutheitsstatus zu untergraben. Letztlich stellt sich sonst die Frage nach der Existenz einer Realität oder zumindest verschärft nach deren Relevanz für den Menschen, wenn sie außerhalb der Sprache verortet wird. Eine radikal durchgeführte negative Theologie unterscheidet sich nicht mehr wesentlich von einer Negation Gottes. So unterliegen Formen, die anstelle positiver Aussagen einzig die Sprachlosigkeit als legitim aufrechterhalten wollen, dem Verdacht, tatsächlich eine Form des Atheismus darzustellen. Die Sprachform der Analogie Dennoch bleibt die Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache im Hinblick darauf bestehen, Aussagen über Gott zu machen. Die katholische Theologie begegnet ihr mit dem Begriff der Analogie, den das Laterankonzil 1215 bestimmt und als lehramtliche Position der Kirche festgehalten hat. Jede Aussage über Gott ist
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als analog zu verstehen. Die Erklärungskraft der Sprache und des Denkens greifen zu kurz, da das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf als von grundsätzlich größerer Unähnlichkeit gegenüber aller Ähnlichkeit zu bestimmen ist.4 Das hat erkenntnistheoretische Konsequenzen. Saskia Wendel (2011a: 104) spricht von der Analogie als dem »Königsweg« der Gottesrede, die allerdings in der Moderne rein sprachtheoretisch verstanden werden kann, ohne die entsprechende Metaphysik der damit verbundenen ontologischen Vorstellung eines in verschiedene Stufen gegliederten Seins übernehmen zu müssen: »Analogie ist, bezogen auf das, was sie bezeichnen möchte, mehr als bloße äquivoke Ähnlichkeit, aber weniger als univoke Deckungsgleichheit von Begriff und Bezeichnetem.« (ebd.: 102) Als Sprachform bezeichnet sie ein ›zwischen‹, das Sprechbarkeit wahrt über einen Entsprechungsgehalt zwischen Ausdruck und Bezeichnetem, jedoch immer die notwendige Differenz aufrechterhält, so dass keine schlichte Einheit entsteht. Der Gehalt kann so nie ausgeschöpft werden und nimmt nicht die Gestalt eines definiten Wissens an. Über Begriffe hinaus: Metaphern Gegen die »Definitionsgewalt« affirmativer Begriffe und Prädikationen setzt religiöse Rede eine mit Metaphern gefüllte Sprache, die den Aussagegegenstand mehr »umspielen« als festnageln will (Werbick 2005: 414). Die Metapher beruht auf einer nach außen offensichtlichen Differenz, ja Nicht-Passung: »Sie hält zusammen, was zunächst nicht zusammenpasst« (ebd.).5 Damit irritiert sie das gewohnte Verständnis und sprengt es auf. Sie weitet den Blick über das Vertraute und hinterlässt die Herausforderung, die durch die Metapher erzeugte Spannung in eigener aktiver Auseinandersetzung aufzuarbeiten. Dabei ist das Verstehen ihres Gehalts nicht begrifflich abschließbar, sondern immer neu zu leisten. Sie vermittelt somit ihren Gehalt in immer neue Lebenskontexte (Wendel 2011a: 105). Sie spielt mit Anschaulichkeit, setzt an bei konkreter Erfahrung, indem sie ein vertrautes Bild zum Ausgang nimmt, das doch zerbrochen werden muss, das wieder entzogen wird, um zur Metapher zu werden: »Die Bilder geben zu verstehen, aber sie geben zu verstehen, indem sie das Verstehen über ihre Anschaulichkeit hinaus treiben« (Werbick 2005: 416). Eine Metapher ist somit Gabe und Entzug zugleich. Sie eröffnet eine Spur, ohne eine Zielgestalt abschließend prä-
4
So hat es in der Entfaltung der kirchlichen Lehre das IV. Laterankonzil 1215 lehramt-
5
Als Beispiel führt Werbick unter anderen den König am Kreuz, die Herrschaft in
lich festgehalten. Ohnmacht an (vgl. Werbick 2010: 176).
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sentieren zu können: »Das Verstehen holt die Neuheit des zu Verstehenden niemals ein, es wird seiner definitorisch nicht mächtig« (ebd.: 418). Damit ist die Metapher eine Sprachform an der Grenze. Sie sprengt das vertraute Verständnis auf. Dennoch bleibt sie im Rahmen verlässlichen, sinnvollen und nachvollziehbaren Sprechens, wenn auch der Gehalt nicht vollständig einholbar bleibt. Theologische Gottesrede zeigt sich damit als eine nicht sprachlose, aber den Bedingungen ihres Sprechens bewusste Rede. Sprach- und Erkenntnisgrenzen nimmt sie wahr und erkennt sie an, ohne ganz zu verstummen.6 Sie wendet sich dagegen, zu schnell, zu leichtfertig und zu sicher zu reden, wo die epistemischen Voraussetzungen dies verbieten, eröffnet aber auch Wege, grundlegende Erfahrungen und Denkhorizonte des Menschen jenseits definiter Erkenntnis ins Wort zu bringen. Die Betrachtung der Sprachformen hat sich bereits ständig als verwoben mit epistemischen, erkenntnistheoretischen Fragen gezeigt, die der Tiefengrund eines verantwortlichen Sprechens sind. Sie betreffen nicht nur den besonderen Gegenstand ›Gott‹, sondern überhaupt ein umfassendes Verständnis von Welt und Mensch – die Geheimnishaftigkeit Gottes zieht eine Unabschließbarkeit auch in anthropologischen Fragen nach sich, die darauf ausgerichtet ist, eine Sinnoption für den Menschen jenseits der deskriptiven Perspektive biologisch-physikalischer Funktionalitäten offenzuhalten. Dabei kann nun bereits vorausgesetzt werden: Der besondere Horizont, den die Theologie in den Blick nimmt, entzieht sich einer begreifenden Analyse dergestalt, dass diese alles in Fraglosigkeit überführen könnte. Die Wissenschaft vom Ganzen kann nicht mit der gleichen Sicherheit des Wissens und Erkennens hantieren wie Einzelwissenschaften. Dennoch stellt sich gerade in der Moderne verschärft die Frage: Kann sie überhaupt etwas begründen, kann sie in legitimer Weise überhaupt noch rationale Ansprüche erheben, die über den internen Kreis der Mitglieder einer Religionsgemeinschaft und deren Konsens hinausgehen?
6
Das gilt auch für die erkenntnis-optimistische Variante Striets, der festhält, dass die menschliche Vernunft zwar den Gedanken einer vollkommenen Freiheit entwickeln kann, ihn jedoch nicht zu durchdenken vermag: sie wird »prekär«, wenn sie ihn auf seine Ursache und Genese befragt (Striet. 2008: 32).
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3. D IE T IEFENDIMENSION – B EGRÜNDUNGSDISKURSE
IN DER
T HEOLOGIE
Es geht somit um die Frage, ob und in welcher Weise sich die Gehalte der Theologie begründen lassen und daher als vernunftgemäß erweisen können. Oder anders gewendet, es geht um den Status theologischer Aussagen und in diesen reflektierter religiöser Gewissheiten: Macht die konstatierte und nicht bestreitbare Unterschiedenheit zu einer in der Gegenwart als Idealform und Norm präsentierten Art naturwissenschaftlichen Wissens sie obsolet7, oder stellen sie eine analoge, besondere Form von, in einem geweiteten Sinn, vernunftgemäßem ›Wissen‹ dar, das seinerseits ein Nichtwissen integriert? Für die Triftigkeit der letztgenannten Position, die dem Selbstverständnis der wissenschaftlichen Theologie entspricht, sollen im Folgenden einige ›gute Gründe‹ dargelegt werden. Um das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis von Theologie und die Frage nach der Eigenart von Glaubensgewissheiten gibt es eine dauerhafte und intensive, mitunter auch konfessionell geprägte Debatte. Für die mehrheitlich vertretene und lehramtlich bestätigte katholische Position kann festgehalten werden: Eine Theologie, die sich als Wissenschaft behaupten will, muss sich nach zwei Seiten abgrenzen. Weder darf sie in einen reinen, begründungsfreien Fideismus übergehen, der Glauben (lat. ›fides‹) als Gegensatz zu Vernunft versteht und seine Aussagen vor dem Forum dieser Vernunft nicht mehr legitimieren kann und will. Noch geht sie in einem Rationalismus auf, der nicht in der Lage ist, über die Grenzen eines begrifflich-sicheren und einer abgeschlossenen Weltwirklichkeit, eines der Weltimmanenz verpflichteten Denkens hinaus zu blicken.8 Innerhalb dieser Grenzen gibt es einen großen Spielraum an unterschiedlichen Begründungsformen9, die eine Rationalität des Glaubens kenntlich
7
Ob der Gegensatz in der Verlässlichkeit und Sicherheit des Wissens wirklich so scharf zu ziehen ist und empirisches Wissen in der Regel diesen Ansprüchen an Objektivität und Definitheit tatsächlich gerecht wird, ist eine Frage, die kritisch angemerkt, hier aber nicht weiter verfolgt werden kann.
8
Vgl. dazu die Enzyklika »Fides et ratio« von Johannes Paul II (1998) sowie das Grundanliegen des Episkopats von Benedikt XVI., wie es unter anderem in der sogenannten ›Regensburger Rede‹ 2006 und der Rede vor dem Deutschen Bundestag 2011 zur Geltung kommt, vgl. dazu auch Müller (2012: 23ff.).
9
Mit Thomas Schärtl kann hier weiter differenziert werden nach Intensionalität und Extensionalität: Starke Intensionalität stellt hohe Anforderungen an Vernunft, sie fordert Einsehbarkeit und Einsichtigkeit ausgesagter Inhalte, das heißt aktive Begründung, während die schwache Variante nur die Einhaltung gewisser Mindeststandards von
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machen, ohne ihn bruchlos in ein Vernunftkonzept zu integrieren, das seine Eigenart nivellieren würde. Die theologische Tradition beruht in weiten Teilen auf dem behutsamen und reflektierten Fragen an Grenzen heran und dem als spekulativ gezeichneten ›Überschritt‹, einem Schritt über diese Grenzen hinaus, so dass es ungerecht wäre, ihr auch im Blick auf ihre eigene Geschichte vorschnell das Zeugnis eines das Nichtwissen verdeckenden Systemdenkens auszustellen. Dennoch muss nach dem Zerbrechen ontologischer Sicherheiten und vor der Voraussetzung des modernen Wissenschaftsbegriffs eine Zuspitzung der Frage nach ihren Begründungsmöglichkeiten konstatiert werden, so dass im Folgenden ein Blick auf verschiedengestaltige aktuelle Antworten auf den epistemischen Status von theologischer Begründung geworfen werden soll. Dabei kann auch ein kritischer Blick auf sich absolut setzende konkurrierende Wissensansprüche nicht unterbleiben. Bestimmt die Theologie Gott als das bleibende Geheimnis, so scheint sie sich in Widerspruch zu den Zielen modernen wissenschaftlichen Denkens zu bringen. Aufklären, Durchblicken, unbegrenzte Erweiterung des Gewussten durch den Gebrauch der eigenen Vernunft wird erstrebt, so dass Geheimnis einen negativen Klang erhält (vgl. Lehmann 2011: 16f.), in die Nähe eines antiaufklärerischen Obskurantismus gerät. Erst wo die Allzuständigkeit eines analytischen Denkens, einer sich alles bemächtigenden instrumentellen Vernunft kritisch hinterfragt wird, eröffnen sich wieder Zugänge zu einem positiv bewerteten Geheimnisbegriff. Karl Lehmann verweist hier auf das phänomenologische und das personale Denken in der Philosophie, das ebenfalls nicht ein letztes Durchschauen, ein Unterwerfen unter die Begriffe anstrebt, sondern eine Anerkenntnis des begegnenden Anderen rehabilitiert: »personales Kennen […] möchte ja sagen, möchte nicht alles von mir aus vereinnahmen, freut sich an der Eigenart des anderen […]« (ebd.: 18). Es ist die bekannte Dialektik der Aufklärung, die Kritik an einer Engführung des Vernunftbegriffs, die auch in den Begründungsdiskursen der gegenwärtigen Theologie Raum einnimmt. Gerade vor dem Hintergrund, dass sich in der Moderne nicht alle Versprechen eines Fortschrittsglaubens erfüllt haben, sondern er sich vielmehr seine eigenen Opfer geschaffen hat, prägt sich – in Anlehnung an parallele philosophische Denkbewegungen – eine veränderte Gestalt von Theo-
Rationalität, wie Nichtwidersprüchlichkeit, Ausweis der Autoritäten etc. fordert. Universale Extensionalität beansprucht die unbedingte Geltung der gleichen Vernunftstandards in maximaler Reichweite, an allen Orten, während regionale Extensionalität verschiedenen Bereichen unterschiedliche Vernunftstandards zuschreibt (vgl. Schärtl 2006: 91f.).
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logie aus. Zugleich werden hier zu starke Begründungsansprüche vor dem Hintergrund der Unbegreiflichkeit Gottes als mit dem Logos, der Vernunftform der Theologie nicht übereinstimmend, zurückgewiesen. So kann über die Sache der Theologie keine letzte Entscheidung auf dem Forum der Vernunft fallen, das würde ihre Möglichkeiten übersteigen. Der Glaube bleibt im Letzten existentielle Entscheidung (vgl. Hoff 2001: 96). Hans-Joachim Höhn: Gott außerhalb der funktionalen Logik der Welt Im Denkentwurf Hans-Joachim Höhns verbindet sich damit ein starker Zug negativer Theologie. Er bestimmt als den Ausgangspunkt der Moderne, dass der Gedanke Gottes nun außerhalb der funktionalen Logik der Welt seinen Platz findet und damit seine absolute Notwendigkeit verloren hat: »Die Welt ist erklärbar ohne Gott und der Mensch kann menschlich sein ohne Gott.« (Höhn 2011b: 187) Gott ist sowohl dem Erfahrungshintergrund des modernen Menschen abhandengekommen, wie er auch in Erklärungsmodellen der Welt nicht mehr als Hypothese verwendet werden muss: »Gott ist im Horizont der Welt nicht mehr nötig.« (ebd.: 190) Es wird ihm auch nicht gerecht, ihn für Erklärungslücken innerweltlicher Funktionalitäten einzusetzen, die vielleicht in absehbarer Zeit ohne die Gotteshypothese geschlossen werden können. Damit entfällt jedoch zugleich die Möglichkeit, affirmativ von ihm zu sprechen, denn er ist aus keinem Zusammenhang, von nichts anderem her bestimmbar, nur um seiner selbst willen interessant. Entsprechend zeigt Höhn ein Gottesverhältnis aus der Negation auf, das heißt aus einer »Praxis der Bestreitung« (ebd.: 195), einem Protest gegen die reale Verfasstheit der Welt und der Verhältnisse, die in ihr begegnen. Die Theologie ist dann die »Kunst«-Form dieser Bestreitung, die scheinbare Selbstverständlichkeiten nicht als solche stehen lässt (Höhn 2011a: 23) und auch die Sprachformen hinterfragt: »Die Theologie kennt selbst den Weg des Bestreitens, auf dem sie auf die Grenze der Sprache reflektiert und zugleich eine Sprache an und auf dieser Grenze erprobt.« (ebd.: 202) In einer Welt, die so, wie sie ist, dem Menschen nicht als akzeptabel erscheint, in der aber auch nichts garantiert, dass Verbesserungsbestrebungen die Mühe lohnen, als sinn- und wertvoll gelten können, besteht eine »Deckungslücke« in Bezug auf die Sinnfrage (vgl. Höhn 2011b: 197). Diese ist gegen die Absurditätsannahme auch durch theologische Behauptung nicht affirmativ zu schließen. Es bleibt ein »Moment der Differenz und Nicht-Identität«, »das Gesuchte scheint am Leben als dasjenige auf, was in ihm fehlt. Diese Fehlform lässt sich nur in einem nicht-affirmativen Sprechen ar-
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tikulieren.« (ebd.) Es liegt hier also eine »Hermeneutik des ›Gott-Vermissens‹«10 vor (Höhn 2008: 97). Sie kann nicht als ein reines Gegenhalten gegen die Realitäten der Welt verstanden werden. Vielmehr ist sie das Entdecken und Markieren einer »Leerstelle« in Hinblick auf eine zufriedenstellende Daseinsakzeptanz in einer geschlossenen Welt (Höhn 2011b: 203). Sie erwächst aus den Zumutungen des Lebens, aus »der verlorenen Gewissheit und zerbrochenen Sicherheiten« (ebd. 201). Sie stellt ein ›Fehlen‹ fest (vgl. ebd.: 203) und hält Ausschau nach einer möglichen Füllung der Lücke, ohne diese aus eigener Kraft erreichen und als gewusst festhalten zu können. Sie bleibt sensibel für die Erfahrungen von Sinnwidrigkeit und Leid, indem sie keine vorschnellen Antworten liefert, alles hinweg zu erklären sucht. Höhn verfolgt hier eine aus dem Gottesgedanken resultierende Aporiefähigkeit, die eine Praxis ermöglicht und bewährt, »wo es nichts mehr zu machen gibt« (ebd.: 198) nach den Maßstäben der Zweckrationalität. Aus dem Sich-Nicht-Abfinden mit dem, was für die Vernunft nach ihren eigenen und gewohnten Maßstäben zwar unannehmbar ist, aber als nicht zu ändern gilt, erwächst eine Praxis: »wo es keinen Weg mehr gibt, auf dem man vorankommt, und es dennoch ›weitergehen‹ muss«. (ebd.: 198) Gregor Maria Hoff entwickelt in ähnlicher Denkspur als grundlegenden theologischen Stil eine Form »Aporetischer Theologie«.11 Aporetik wird verstanden als »Ausweglosigkeit (von Denken und Existenz), die sich (unter futurischem Vorbehalt) rational und existentiell nicht auflösen lässt« (Hoff 1997: 51). Solche Aporetik begegnet nicht nur konkret in den einzelnen Erfahrungen des Lebens, sondern wird für Hoff zur Zeitbeschreibung eines postmodernen Denkens, das in praktischer und theoretischer Vernunft, in Ethik und Erkenntnis der Welt gegenüber einem grenzenlosen aufklärerischen Vernunftoptimismus die eigene Brüchigkeit, die Entgleisungen der Vernunft wahrnimmt, und dem geschlossenes Systemdenken verdächtig wird. Dabei versteht sich aporetisches Denken nicht als Kapitulation des Denkens, sondern als Kritik, als »offenes, ideologiefreies Denken« (ebd.: 157), das noch dort »in aporetischem Angang«, der eigenen Unruhe folgend, einen Weg sucht, wo sicherer Boden unmöglich und die Sicherheit des Weges unerreichbar scheinen. Zu Recht kann er darauf verweisen, dass entscheidende Inhalte der christlichen Theologie aporetische Verfassung aufweisen, so an herausragender Stelle die Einheit der Göttlichkeit und Menschlichkeit im Gottmenschen Jesus.
10 Höhn greift hier einen zentralen Begriff von Johann Baptist Metz auf. 11 So der Titel seiner Monographie »Aporetische Theologie. Skizze eines Stils fundamentaler Theologie« ( Hoff 1997)
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Eine entsprechende Gottesrede bleibt nach Höhn »adverbial«, das heißt an die entsprechenden Umstände und Situationen gebunden, beispielsweise an die einer vermissten Identität (vgl. Höhn 2011b: 201), sie kommt von vielen Orten und Subjekten her (vgl. Eckholt 2010: 254), ist auf eine konkrete Praxis verwiesen und vermeidet überzogene Sicherheit im Sinne einer »theologische[n] Vertikale, die dogmatische Gewissheiten proklamiert« (Höhn 2011b: 203). Gegenüber einer allzu explikationsfreudigen Rede von Gott wird hier die Theologie, in die sich die Spuren vom Nichtwissen eingeschrieben haben, zu einer Ausdrucksform, mit den zahllosen existentiellen Sprachlosigkeiten umzugehen, die sich im Leben finden, und sie zur Sprache bringen zu können. Sie ist gerade die Sprachform, das Unsagbare, aber wirkmächtig Vorhandene zur Geltung zu bringen. So wird Gottesrede zur Fähigkeit, die Brüche, Verstellungen, aber auch Hoffnungen und Freuden zu deuten, ohne sie zu erklären in der Sicherheit der Worte. Sie bleibt einer Unbedingtheit auf der Spur, die sich aus den Erfahrungen des Lebens auftut, ohne verfügbar zu werden. Jürgen Werbick: Gottesrede aus dem Begriff der Würdigung Auf die Suche nach ›guten Gründen‹, nach einer verlässlichen Gottesrede, nach einer Unbeliebigkeit des Redens von Gott, die auch eine verbindliche, verantwortlich zu gebrauchende Sprache benötigt, begibt sich Jürgen Werbick (2007). Er entfaltet – anders als Höhn – zunächst einen sprachlich ausweisbaren Begriff derjenigen Wirklichkeit, auf die sich der Glaube bezieht, um sie somit sprachund diskursfähig zu machen. Die Geltung eines derart reflektierten Glaubens wird jedoch hermeneutisch verankert, sie erweist sich erst in der Auseinandersetzung mit den Anfragen und Verdächtigungen, die an ihn gerichtet werden. Werbick arbeitet sich insbesondere an Nietzsches Verständnis von Wahrheit als dem ›Willen zur Macht‹ ab, dem er ein anderes Wahrheitsverständnis mit einer größeren Plausibilität entgegen setzt. Die Rationalität des Glaubens ist auf eine unaufhörliche Abarbeitung der Glaubenskritik verwiesen. Dabei kann der Glaube nur immer neu den jeweiligen Einwänden und konkreten Bestreitungen entgegentreten, ohne sie dauerhaft überwinden zu können. Eine letztgültige und beständige Begründung der Gestalt des christlichen Glaubens, die neue Verdächtigungen erst gar nicht mehr aufkommen ließe, hält er für nicht erreichbar und zielt sie nicht an (vgl. kritisch hierzu Müller 2013: 176). Über die rationale Plausibilisierung mittels Widerlegung der konkreten Anfragen hinaus bedarf es daher eines weiteren Schritts, um zur existentieller Gewissheit bezüglich des Glaubens zu gelangen: »Die guten Gründe werden mich oft nicht so weit geleiten, wie ich gehen muss, so dass ich über ihr Geleit hinaus
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weitere Schritte tun muss – und vielleicht auch tun darf« (Werbick 2007: 12). Inhaltlich ist Werbicks Wahrheitsbegriff von der negativen Dialektik der Kritischen Theorie mitgeprägt. Wahrheit zeigt sich als Gegen-Macht gegen die Dynamiken der welthaften Wirklichkeit und das Streben instrumenteller Vernunft. Diese Dynamiken der Welt erscheinen so nicht nur als Reduktion, sondern als Un-Wahrheit, in dem sie das Andere, das Einzelne in seiner Eigenwirklichkeit nicht gelten lassen: »Unwahrheit bedeutet konkret Verdrängung, Nicht-Sein und Nicht-vorkommen-Lassen, bloß perspektivisch-verkürzte Würdigung nach Maßgabe der Brauchbarkeit und ›Nützlichkeit‹«. (Werbick 2007: 130) Jede funktionale, zweckgebundene Perspektive auf die begegnenden Einzelwirklichkeiten erweist sich als »kalkulierend-erkennender Übergriff« und »Verfügenwollen«. Durch die Unterscheidung tauglich-untauglich und die Verfügung über das Andere wird dieses zum Mittel reduziert. Gegen die Nützlichkeitsperspektive steht eine Würdigung, die die Würde des Anderen nicht verzweckt, sondern sich in einer »würdigenden, frei-lassenden Freiheit« realisiert, die anderes in seiner Selbst-Bedeutsamkeit gelten lässt. Der Begriff des Würdigens erfährt Unbedingtheit, wenn er im Hinblick auf die Schöpfungsmacht Gottes gedacht wird.12 Er erweist sich als Nachvollzug der Art und Weise, wie der Schöpfer das Geschaffene als gut würdigt und in sein EigenSein entlässt: »Gut und schön sein heißt, zunächst in sich und für sich gut und schön zu sein« (ebd. 126). Die Würdigung verfährt anamnetisch, indem sie konkrete Entwürdigungen aufdeckt und sich dabei als Gegenmacht zu ihnen erweist (vgl. ebd. 131). Auch der Glaube an Gott erlangt Geltung im Modus einer Würdigung und nicht einer sicheren Erkenntnis. »Die Herausforderung, die Bitte nach unendlicher Würdigung zu Ende zu denken, ist nicht […] das Gesetz, das sie [die menschliche Vernunft] sich selbst gibt; so kann die Vernunft auch nicht gezwungen sein, ihr zu folgen. Die Bitte selbst bittet darum, sie zu Ende zu denken.« (Werbick 2005: 221f.) Für die Leistungsfähigkeit menschlicher Vernunft ergibt sich: Sie kann Unbedingtes denken, dieses Denken als sinnvoll erweisen, aber nicht jedem Zweifel entziehen. Die glaubende Praxis und ihre Gewissheit
12 Hier setzt die Kritik Klaus Müllers in der Debatte um notwendige Begründungsleistungen in der Theologie an. Müller selbst plädiert für stärkere transzendentalphilosophisch orientierte Begründungsmuster, deren sich Werbick dagegen bewusst enthalten zu können meint. Er fragt die letzte argumentative Tragfähigkeit von Werbicks Entwurf an und verweist darauf, dass das Denken der »Unbedingtheit« einer Würdigung seinerseits eines Erweises von etwas für mich und an sich »Unbedingtem« bedarf, das nicht allein der praktischen Vernunft entstammt (Müller 2013: 176-178).
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ruhen auf mehr auf als auf den guten Gründen: auf einer freien Antwort auf ergehende Bitte. Theologie ist also alles andere als eine Allerklärungstheorie im Sinne eines affirmativ zu verstehenden absoluten Wissens. Werbick bringt es, gewendet auf die kritisierende, positive Bedeutung einer größeren Wahrheit gegenüber dem einzelnen Wissen, sehr pointiert auf den Punkt: »Die Wahrheit der biblischen Gottesoffenbarung lässt sich nicht einfach ausmünzen in kleine Münzen oder große Scheine des Bescheidwissens theologischer Problemlöser.« (2000: 361) Letztbegründungsstrategien bei Klaus Müller, Hansjürgen Verweyen und Thomas Pröpper Erneut stellt sich jedoch im Anschluss daran die Frage: Kann die Theologie mehr sein als ein Sprachspiel unter vielen, als eine Daseinshermeneutik in der Vielzahl und der Vielperspektivität der Weltbilder im Pluralismus? Kommt sie ohne einen universalen Wahrheitsanspruch und ohne bestimmte ontologische Verpflichtungen aus (vgl. Müller 2012: 212)? Wer derartige Wahrheit aber behauptet und als Erkenntnis ausgibt, muss diese auf dem Forum einer autonomen, philosophischen Vernunft plausibel machen können, er muss einen Minimalgehalt der Gottesidee rein philosophisch aufzeigen können (vgl. Pröpper 2011: 498). Dies versuchen Theologen wie Klaus Müller, Hansjürgen Verweyen und Thomas Pröpper.13 Sie bringen den stärksten Begründungsanspruch für Theologie und Gottesglauben unter den hier verhandelten Positionen zur Geltung. Dem Blick auf Wissensbegründungen und Nichtwissen in ihren Denkformen soll nun die Aufmerksamkeit gelten. Die genannten Theologen erheben den Anspruch, einen rein aus der autonomen Philosophie stammenden, unbedingten und notwendigen Gedanken zu entwickeln. Das Denken, das sich selbst als sinnvoll verstehen und sich nicht in seinem Vollzug dementieren will, trägt danach in sich selbst Strukturen, die zu einem denknotwendigen, unhintergehbaren Gedanken führen. Der autonomen Vernunft ist es möglich, ohne Rückgriff auf Glaubensbestände, allein aus sich einen Begriff auszuarbeiten, wie ein unbedingter oder letztgültiger Sinn auszusehen hätte. Ein konkreter Glaube hat sich dann dadurch auszuweisen, dass er eine Entsprechung zu diesem unabhängig von ihm entwickelten unbedingten Begriff darstellt. Gelingt dies, kann er sich als auf ersten und letzten Gründen beruhend darstellen, unbedingte Geltung für sich beanspruchen. Dementsprechend
13 Zu einem kurzen Überblick über die Positionen vgl. Müller 2005: 209-214.
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werden diese Ansätze in der Theologie als ›Erstphilosophie‹ und ›Letztbegründung‹ gekennzeichnet. Müller hält solch starke Begründungsansprüche für notwendig, soll ein rationaler Umgang mit Begründung überhaupt aufrechterhalten werden. Eine reine Hermeneutik ohne Ankerpunkte, ohne vernünftig begründeten Rahmen mache jedes Verstehen zu einer Endlosschleife, das sich immer nur auf anderes Verstehen bezieht, und hebe letztlich den Unterschied zwischen Sinn und Unsinn auf. Daher bedarf die Hermeneutik, die unverzichtbar bleibt, einer Metaebene: »Nur wenn ich der Vernunft zutraue, Letztgültiges denken zu können, kann ich auch mit Überzeugung bestimmte Überzeugungen vertreten und bestimmte ablehnen […] Soll Verstehen (bei allen Grenzen, die es auch zeichnen) nicht im Prinzip eine Illusion sein, muss Hermeneutik um ihrer selbst willen mit Erster Philosophie als dem Ort letztgültiger Gedanken in Beziehung gesetzt werden.« (Müller 2001: 20)
Pröpper entwickelt den letztgültigen Sinn durch eine transzendentale Freiheitsanalyse. Er geht aus vom Phänomen endlicher Freiheit und der diesem innewohnenden Ambivalenz. Sie erfährt sich als formal unbedingt, real jedoch in Kontingenz eingebunden. Entsprechend kann sie sich in ihrer Selbstvergewisserung nur auf eine absolute Freiheit hin angemessen verstehen (vgl. Pröpper 2011). Um nicht in Selbstwiderspruch zu geraten, muss endliche, unbedingte Freiheit sich in ihrer Eröffnung, ihrem angemessensten Gehalt und ihrer höchsten Verwirklichung auf die Idee einer nicht nur formal, sondern in jeder Hinsicht unbedingten Freiheit einlassen.14 Diese unbedingte Freiheit bejaht den angemessensten Gehalt, nämlich die Anerkennung anderer Freiheit, in einer Weise, dass sie sein Sein nicht nur akzeptiert, sondern sich für es verbürgt. In einer weiteren Variante erstphilosophischer Begründungsmuster kommt Müller zu einem letztgültigen Sinnbegriff über die Analyse des Selbstbewusstseins. Dieses ist – hier folgt Müller Einsichten der Philosophie Dieter Henrichs – von der unaufhebbaren Polarität von präreflexiver Selbstvertrautheit einerseits und deren Unableitbarkeit und Herleitungsresistenz andererseits gekennzeichnet. So muss sich Selbstbewusstsein einen entzogenen Grund voraussetzen, um sich selbst verstehen zu können. Alle diese Konzeptionen letztgültigen Sinns erheben zwar einen fundamentalen Begründungsanspruch für menschliches Selbstverständnis, ohne es jedoch im
14 Die endliche Freiheit ist nach ihrer transzendentalen Analyse formal unbedingt, um wirklich Freiheit zu sein, tritt in ihrer realen Gestalt jedoch immer als bedingte auf, weil sie sich nicht selber setzen kann (vgl. Pröpper 2011: 510f.).
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Sinne einer letzten Durchsicht auf den Grund aufklären zu können. Sie begehen nicht den Irrtum, in den beispielsweise in der Theologie das neuscholastische Denken geriet. Dieses glaubte, mittels eines dem Rationalismus – dem Wissenschaftsverständnis seiner Zeit – unkritisch entliehenen methodischen Instrumentars, angewandt auf Glaubensbestände, ein geschlossenes System sicheren Glaubenswissens erstellen zu können. Eine ›absolute Freiheit‹, ein ›Grund von Subjektivität‹ bei Pröpper und Müller versperren sich jeder methodischen Kontrolle und widerstreben damit den vertrauten Kategorien des Gewussten. So entzieht sich beispielsweise die Möglichkeit und Wirksamkeit des Freiheitsvollzugs weiterhin dem Begreifen, wie Pröpper selbst in einer Fußnote anmerkt (vgl. Pröpper 2011: 882, Anm. 228). Anstelle einer rationalen Bemächtigung muss eher von einer austastenden »Grenzregie« gesprochen werden, genauer bestimmt von einer »Vernunftregie an den Grenzen des Wissens«, die »die Reichweite menschlichen Denkens ausmisst«, ohne vorschnell vor diesen Grenzen zurückzuweichen (Müller 2012: 183). Letztbegründungsansätze teilen nicht einmal die metaphysische Sicherheit, wie sie beispielsweise noch bei Karl Rahner anzutreffen ist, die Existenz Gottes beweisen zu können. Vielmehr führen sie zu der begründungslogischen Aufgabe, ob und wieweit einem notwendigen Gedanken bereits Wirklichkeit zuzusprechen ist (vgl. Müller 2012: 173-180). Sie entlasten nicht von der hermeneutischen Aufgabe, den konkreten Glauben vom gewonnenen Sinnbegriff her zu verstehen. Und sie ersetzten selbstverständlich nicht die existentielle Entscheidung, ein entsprechend weiterhin resultierendes Wagnis des Glaubens einzugehen, in der erst der Überschritt von der Begründetheit zur Gewissheit verantwortet wird.15
4. Z UR B EDEUTUNG THEOLOGISCHEN N ICHTWISSENS Der Sachverhalt und die Begrifflichkeit, die sich in der Theologie mit dem Nichtwissen verbindet, hat einen eigenen Gehalt und lässt sich kaum nahtlos für
15 Vgl. dazu auch Thomas Schärtl, der eine »Begründung im logischen Sinne« nicht geleistet sieht, sondern hier »hermeneutische Programme« erkennt, die »metaphysische Explikationen des Gottesbegriffs« zur Verfügung stellen, um damit konkrete Gottesvorstellungen kritisch sichten und scheiden zu können. Die Option für die Sinnhaftigkeit des Menschen und seiner Vernunft an sich kann hier nicht entschieden, sondern muss vorausgesetzt werden (Schärtl 2012: 408f.).
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andere Wissenschaften adaptieren. Es ergeben sich jedoch entsprechend der bisherigen Darstellung zwei Bedeutungsebenen. Zunächst verfügt die Theologie über eine lange, erprobte und erfahrungsgesättigte Tradition, Sprachformen für das nicht umfassend Bestimmbare zu entwickeln, anzuwenden, zu reflektieren und ihrerseits zu kritisieren. Auch wenn stets die Gefahr besteht, dass ebendiese Formen sich verselbständigen und an manchen Stellen vergessen wird, dass es sich um analoges Sprechen, um bildhafte Rede, metaphorische Sprache handelt, so geschieht dies vor dem Bewusstsein, dass die Bilder doch immer wieder einzuholen und zu überprüfen, durch andere zu ergänzen oder als irreführend zu verwerfen sind. Vielleicht kann diese Sprachpraxis Anregungen auch für andere Felder geben, wo nicht abschließend Gewusstes zur Sprache kommen soll und muss, ohne dass es in definiter Endgültigkeit präsentiert werden kann. Andererseits lädt dies ein, kritisch aufmerksam zu werden, wo auch in empirischen Wissenschaften die Bildhaftigkeit der Sprache und Modelle darüber hinweg täuscht, dass digitale Virtualität vor dem Hintergrund eines erkenntnistheoretisch reflektierten Wirklichkeitsverständnisses eine analoge Sprache über, nicht aber die Wirklichkeit an sich darstellt und damit eine Spur des Nichtwissen in das scheinbar so sichere Wissen gelegt ist. Über die Sprachform hinaus bringt eine Theologie, die nicht nur durch das Bad externer Kritik, sondern auch des ihr inhärenten Nichtwissens immer wieder hindurchgeht, eine eigene, unaufgebbare Rolle ein. Sie liefert etwas anderes als die einzelnen angewandten Wissenschaften und auch ein ›Mehr‹ gegenüber einer additiven Summe von deren Erkenntnissen. Denn sie denkt eine allumfassende, jenseits aller einzelwissenschaftlichen Sichtweisen oder der Logik funktionaler Teilsysteme liegende, das »Leben, Denken, und Handeln ›ganzheitlich‹ orientierende Perspektive« (Höhn 2012: 282), in der erst eine Sinngestalt von Mensch und Welt sichtbar wird. Damit kann sie zum einen überzogene Wissensansprüche einzelner Leitwissenschaften kritisieren, wo diese sich selbst und das von ihnen produzierte Wissen zum einzigen Schlüssel der Wirklichkeit erklären. Dies gilt insbesondere überall dort, wo einzelne Theoriekonzepte der Biologie, Physik oder Ökonomie in einem fundamentalistischen Reduktionismus den Überschritt von wissenschaftlicher Theorie zu weltanschaulicher Wirklichkeitsdeutung nicht mehr ausweisen, sondern evidentialistisch voraussetzen (vgl. Striet 2007: 119f., Demmer 2013: 83f.). Die Theologie markiert die Differenz zwischen einzelwissenschaftlichem Wissensanspruch einerseits, der in Pluralität auftritt, und der Perspektive einer ebenfalls begründeten Integration dieser Ansprüche in eine handlungsorientierende Weltdeutung andererseits. Wo ein szientistischer Begriff vorherrscht, wird sie den mit diesem einhergehenden Alleinvertretungsanspruch zurückweisen.
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Darüber hinaus macht sie nicht nur auf die unübersehbaren negativen Folgen wissensdominierter Rationalisierungsprozesse in der Moderne aufmerksam, die den ›Glauben‹ an den Siegeszug der Humanität in Verbindung mit der Rationalisierung ökonomischer, politischer und technischer Teilbereiche erschüttert haben. Abseits eines funktionalen Mittel-, Zweck- und Notwendigkeitsdenkens präsentiert sich eine andere Logik, die dominante, aber in Alleinstellung nicht lebensdienliche Kategorien einer bestimmten Vernunftform geradezu aufsprengt zugunsten einer reichhaltigeren, ›anderen Vernunft‹, um Höhns Begriff vom »vernunftgemäßen Anderen der Vernunft« einmal anders zu wenden. Hier wird auch eine Vieldeutigkeit des Wissensbegriffs deutlich, wie er im sprachlichen Umgang, mitunter unreflektiert, so Verschiedenartiges wie analytisch-gesicherte Axiome, Ergebnisse der Empirie bis hin zu Formen der Vergewisserung umfasst. Aus eigener Erfahrenheit kennt und verdeutlicht die Theologie dieses Spannungsfeld, das eine reine Polarität von Wissen und Nichtwissen überwindet. Erst jenseits des methodisch kontrollierten Wissens ist auch die Stabilität einer Selbstverständigung des Menschen zu erreichen, die eine dauerhafte Ausrichtung des eigenen Lebens und Handelns erlaubt und dergestalt eine »Bleibe für das menschliche Dasein« in der Welt schafft (Höhn 2007: 143). In den letzten Sätzen wurden vertraute Begründungsmuster der Verteidigung einer religiösen Weltdeutung bemüht. Diese steht jedoch ihrerseits in der Moderne stets unter dem Verdacht des Fundamentalismus. Ein Rückfall in voraufgeklärte Zeiten und ein Abgleiten in ideologiegleich sich abschließende religiöse Überzeugungen kann nur dort verhindert werden, wo der Widerpart einer zweckrationalen Vernunft nicht widervernünftig, sondern selbst auch mit der Vernunft vereinbar ist.16 Hier ist es nun genau besehen gerade die verschiedenartig ausgeprägte, aber immer durchscheinende Grundierung mit Nichtwissen, die einer Fundamentalisierung entgegenwirkt. Die nach außen durch die Religion öffentlich und kenntlich gemachte Grenze des Wissens und Begreifens ist ständiger kritischer Selbstvorbehalt gegenüber Selbstüberheblichkeit und Selbstgenügsamkeit, damit verbundener Verengung und Selbstverfehlung. Zwar ermöglicht Religion den Einbruch von Unbedingtheit in die Kontingenz des Menschen, so dass die Gedanken einer unbedingten Freiheit oder Würde möglich werden, allerdings ist dieses Unbedingte nicht systematisch zu wissen und damit auch zu beherrschen,
16 Thomas Schärtl (2012) weist darauf hin, dass die Legitimation rechtfertigbarer Überzeugungen mithilfe einer Praxis des Vernünftig-Seins erfolgen kann, die ihrerseits auf der Ausprägung der epistemischen Tugend beruht, und nicht allein auf einer theoretischen letzten Begründung.
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sondern begegnet nur im gleichzeitigen Entzug.17 Jeder sichere Besitz einer Wahrheit, die als methodisch beherrschtes Wissen präsentiert und in ebendieses eingeschlossen wird, muss nicht nur als Fundamentalismus und Ideologie bezeichnet werden.18 Darüber hinaus verfehlt er die Eigenart des nicht abschließbaren Transzendierens auf das als Gott Bezeichnete derart, dass es nicht diesen, sondern den Menschen selbst zum Ziel nimmt (vgl. Marx 2013: 25f.). Die aufgedeckte »Leerstelle« im Funktionszusammenhang der Welt wird im reflektierten Gottesglauben nicht wieder geschlossen, sondern als solche blockiert, mit einem »Platzhalter« versehen (vgl. Höhn 2007: 149; Striet 2007: 122f.). Indem die Theologie ihre Ganzheitsperspektive stets spekulativ und hermeneutisch zugleich entfalten muss, sie aber nie definitiv abschließen kann, reißt sie einen Horizont des Fragens auf (vgl. Striet 2007: 123), in dem sie vernünftige und bewährte Orientierungen zur Verfügung stellt und dadurch eine gewisse Anleitung bietet. Nie jedoch kann dieser Horizont in einen Raum des Gewussten überführt werden, so dass das Fragen zum Erliegen kommt. Theologie zeigt sich damit als offen auf das Ganze der Wirklichkeit, das sich erst im denkerischen Überstieg erweist (vgl. Demmer 2013: 86f.). Daher kann sie, wenn sie ihrem Selbstanspruch folgt, weder die Form einer esoterischen Sonderlehre noch die einer in sich abgeschlossenen Systemlogik einnehmen. Es bleibt der Theologie ein letztes Nichtwissen eingeschrieben, als dessen Anwalt sie sich auch nach außen versteht. So hat bereits Karl Rahner der Theologie an der Universität die Rolle des Unfriedensstifters zugesprochen, der aus dem Wissen um eigene Grenzen auch die Selbstsicherheit der anderen Wissenschaften hinterfragt (vgl. Rahner 1983). Es gilt ihm der Theologe als »Hüter« (vgl. Rahner 1970: 536) des Wissens um das Nichtwissen gegen alle sich verabsolutierenden Wissensansprüche jedweder Art. Diese Position hat nichts an Aktualität verloren.
17 »Fundamentalistisch wird die Religion dort, wo sie diesen Unterschied nicht mehr wahrt, d.h. wenn sie nicht mehr deutlich macht, dass das Heilige nur dort ist, wo es sich zugleich entzieht.« (Höhn 2007: 148) 18 Dies steht nicht relativistisch einem Wahrheitsbegriff als solchem entgegen, wie ihn Religionen beanspruchen.
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Zur normativen Relevanz von Nichtwissen für eine Ethik der Biodiversität1 A NDREAS H ETZEL »Ecology will be the last science to achieve predictable reactions.« ALDO LEOPOLD
Durch die Übernutzung und Zerstörung von Ökosystemen verringern wir täglich die biologische Vielfalt auf unserem Planeten. Auch wenn genaue Zahlen schwer zu ermitteln sind, gehen die meisten Experten davon aus, dass heute pro Tag bis zu 130 Tier- und Pflanzenarten durch menschliche Eingriffe aussterben. Die aktuelle Aussterberate dürfte somit um den Faktor 100 bis 1000 über der natürlichen background extinction rate liegen (vgl. May et al. 1995: 1; Barnosky et al. 2011: 56). Die damit in Gang gesetzten Veränderungen sind unumkehrbar und ohne Vorbild. Mit jedem Aussterbeereignis werden Prozesse in Gang setzt, die mit »evolutionären Risiken« (Krohn/Krücken 1993: 14) einhergehen: Risiken, die die Kontexte, in denen sie auftreten, verändern, die selbst einer Evolution unterliegen und insofern in einer besonderen Weise unberechenbar bleiben. Die Techniksoziologen Wolfgang Krohn und Georg Krücken bezeichnen evolutionäre Risiken auch als »Unsicherheits-Unsicherheiten« (Krohn/Krücken 1993: 9), Unsicherheiten, deren Umfang und Qualität selbst unbestimmbar bleiben. Da Ökosysteme und Arten Ergebnisse komplexer, singulärer und teilweise höchst unwahrscheinlicher koevolutionärer Prozesse bilden, die sich weder vollständig verstehen noch gar technisch reproduzieren lassen, trifft die Charakterisierung
1
Wichtige Hinweise und Anregungen verdanke ich Peter Wehling, Thorsten Assmann, Alfred Nordmann, Rainer Totzke, Sebastian Spanknebel und Janis Prinz.
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als »Unsicherheits-Unsicherheit« auf kaum etwas besser zu als auf das Aussterben einer Art. Durch die in Gang gesetzten Entwicklungen bedrohen wir mittelfristig nicht nur die Überlebensmöglichkeiten der Menschheit, sondern beschneiden auch die evolutionären Perspektiven aller anderen Lebensformen auf der Erde. Im vorliegenden Beitrag möchte ich fragen, wie weit die in den zurückliegenden Jahrzehnten ausgearbeiteten Ansätze einer Umweltethik ein argumentatives Einspruchspotenzial gegen die aktuelle Biodiversitätskrise bereitstellen konnten. Dabei werde ich eine Ethik des Biodiversitätsschutzes vorschlagen, die es einerseits vermeidet, der außermenschlichen Natur ausgehend von schwer zu rechtfertigenden metaphysischen Hypothesen moralisch relevante Eigenschaften einfach zu unterstellen, die andererseits aber auch nicht kontingenten menschlichen Interessen an bestimmten Aspekten von Biodiversität das letzte Wort einräumt und Biodiversität damit tendenziell in ein Sachkapital verwandelt. Ich schlage einen dritten Weg jenseits physio- wie anthropozentrischer Ansätze vor, der die Schutzwürdigkeit natürlicher Vielfalt ausgehend von der moralischen Signifikanz ökologischen Nichtwissen begründet. Ich möchte zeigen, dass uns gerade unser Nichtwissen (etwa um die Bedeutung von Biodiversität für die Erfüllung von Ökosystemfunktionen) zu einem verantwortungsvollen Umgang mit biologischer Vielfalt bewegen kann und sollte. Über dieses Klugheitsgebot hinaus kann und sollte uns unser ökologisches Nichtwissen aber auch zu einer gewissen Achtung gegenüber der Vielfalt des Lebens in all seinen Erscheinungsformen anhalten. Da das moralische Gefühl der Achtung immer von der partiellen Unausdeutbarkeit und Entzogenheit des zu Achtenden (unabhängig davon, ob es sich um ein moralisches Prinzip, eine Person, ein kulturelles Artefakt, eine Landschaft, eine Lebensform oder eine Gemeinschaft von Lebensformen handelt) motiviert ist (vgl. hierzu Hetzel 2011), wird es auch und gerade gegenüber dem gefordert, was wir seit einigen Jahrzehnten mit einem sehr unbeholfenen Wort als »Biodiversität« bezeichnen. Ich gehe in vier Schritten vor. In einem ersten Abschnitt versuche ich, auf mögliche Grenzen des Wissens um Biodiversität hinzuweisen (1). Daraufhin werde ich die wesentlichen Probleme der bisher dominierenden physio- und anthropozentrischen Ansätze in der Umweltethik benennen (2). In einem dritten Abschnitt deute ich eine Ethik der Biodiversität an, die der Unauflösbarkeit ökologischen Nichtwissen nicht nur Rechnung trägt, sondern sich aus diesem Nichtwissen begründet (3). Abschließend frage ich kurz nach möglichen politischen und naturschutzpraktischen Konsequenzen (4).
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1. B IODIVERSITÄT
UND
VON
N ICHTWISSEN
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N ICHTWISSEN
In der neueren wissenschaftsphilosophischen Diskussion wird immer wieder der Verdacht geäußert, dass sich mit jedem Zuwachs wissenschaftlichen Wissens auch der Bereich des Nichtwissens vergrößern könnte. Der Satz: »More research brings more ignorance« (Douglas/Wildavsky 1982: 64), gilt als Charakteristikum einer reflexiv gewordenen Moderne (vgl. Beck 1996: 298), auch und gerade in den Naturwissenschaften. In aktuellen Forschungen zum Nichtwissen in den Wissenschaften (vgl. Wehling 2006; Janich et al. 2012) wird, im Anschluss an Merton (1987), zwischen subjektivem und objektivem Nichtwissen unterschieden, einem Noch-Nicht-Wissen, das sich zumindest im Prinzip durch weitere Forschung beheben ließe, und einem intrinsischen Nicht-Wissen-Können, das der Natur einer Sache geschuldet ist, die sich in einem Netz wahrer und gerechtfertigter Propositionen nicht einfangen lässt. Biodiversitätsforschung hat es ganz offensichtlich immer auch mit objektivem Nichtwissen zu tun, mit einem Nichtwissen also, das sich niemals wird vollständig in propositionales Wissen überführen lassen. Objektives Nichtwissen begegnet uns im Rahmen der Biodiversitätsforschung zunächst in Form einer strukturellen Komplexität von Ökosystemen, die sich mit den auf Komplexitätsreduktion beruhenden Methoden des Laborexperiments und der Modellbildung nicht abarbeiten lässt. In einem halbwegs intakten mitteleuropäischen Laubwald leben annähernd 40.000 biologische Arten: ein gutes Dutzend Säugetierarten, mehrere Dutzend Blütenpflanzen, mehrere tausend Spinnen- und Insektenarten sowie Tausende Arten von (teilweise unbekannten) Mikroorganismen und Pilzen. Eine Vielzahl dieser Organismen ist hochgradig spezialisiert. Die sehr artenreichen Totholzinsekten etwa bewohnen jeweils nur einen bestimmen Sukzessionsgrad einer bestimmten Holzart, oft auch noch abhängig von Bodenfeuchtigkeit, Sonnenexponiertheit oder dem Vorhandensein einer bestimmten Gesellschaft sympatrischer Arten, das heißt solcher Arten, die im gleichen sehr speziellen Lebensraum vorkommen und diesen mitgestalten. Solche Arten stehen zueinander in einer Vielzahl von Beziehungen (trophische Interaktionen, Bestäubung, Transport, Symbiosen, Parasitismen, Hyperparasitismen usw.), die sich wiederum wechselseitig beeinflussen. Da jedes Element und jede Funktion Auswirkungen auf alle anderen Elemente und Funktionen hat, sind verlässliche Aussagen über die Folgen des Ausfalls eines Elements oder einer Funktion für andere Elemente und Funktionen nicht möglich. Bereits die einfachste Klasse dieser Beziehungen, die trophischen Interaktionen, definieren sich durch Kaskaden von Komplexität, die nicht einfach in eine Menge distinkter Elemente und Funktionen aufgelöst werden können. In diesem
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Zusammenhang wäre daran zu erinnern, dass der biologische Systembegriff, der dem Ökosystembegriff zu Grunde liegt, ursprünglich nicht als technische Funktionseinheit eingeführt wurde, sondern dazu diente, Grenzen des Wissens und damit der Steuerbarkeit zu markieren:2 Das System als Inbegriff sich selbst organisierender und gegenüber einer Umwelt erhaltender Interaktionen verkörpert einen Überschuss über seine Elemente, der sich nicht selbst als Element begreifen und entsprechend manipulieren lässt. Komplexe Systeme, wie sie in der neueren Systemtheorie etwa von Stuart A. Kauffman und anderen nach dem Vorbild von Ökosystemen beschrieben werden, zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Grenzen schwer bestimmbar sind, dass ihre Elemente selbst komplexe Systeme sein können, die ein emergentes Verhalten zeigen, dass die Beziehungen zwischen diesen Elementen nicht linear sind und dass sie mit Feedback-Schleifen einhergehen (vgl. Kauffman 1993). Die relativ junge Wissenschaft der Ökologie unterscheidet sich dadurch von anderen Naturwissenschaften, dass sie es »in besonderem Maße mit ›Einmaligkeit‹ zu tun hat« (Townsend et al. 2009: 7), sie widmet sich nicht der »Suche nach Aussagen, die als »‹richtig bewiesen sind‹, sondern nach Schlussfolgerungen, denen wir trauen können« (ebd.: 13). Erklärungen und Modelle in der Ökologie und Evolutionstheorie bedienen sich statistischer Verfahren, die sich grundlegend von der Heuristik einer älteren, mechanistischen und mathematischen Naturwissenschaft unterscheiden. Der Unterschied betrifft vor allem die Modalität wissenschaftlicher Aussagen (vgl. Brandom 2013: 111): Während den von Newton aufgestellten Naturgesetzen Notwendigkeit und universale Geltung zukommt, beziehen sich ökologische und evolutionäre Erklärungen auf »contingent happenings, by displaying conditions under which they can be seen to have been probable. Both are ways of making intelligible the contingent emergence of collective order from individual randomness« (Brandom 2013: 111 – Hervorh. im Original). Im Mittelpunkt der aktuellen Forschung zur Biodiversität stehen Fragen nach dem Zusammenhang von Biodiversität und Ökosystemfunktionen (vgl. Hooper
2
Ilya Prigogine, dessen frühe Arbeiten zur Thermodynamik irreversibler Phänomene in den 1950er Jahren den Biologen Ludwig von Bertalanffy zur Ausformulierung einer Theorie »offener Systeme« (vgl. Bertalanffy 1950) angeregt haben, führt die Entstehung der Systemtheorie rückblickend auf einen Bruch mit einem mechanistischen und deterministischen Naturbegriff zurück: «In the classical view, the basic processes of nature were considered to be deterministic and reversible. Processes involving randomness or irreversibility were considered only exceptions. Today we see everywhere the role of irreversible processes, of fluctuations.« (Prigogine & Stengers 1984: xxvii)
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VON
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et al. 2005; Naeem et al. 2009; Jax 2010) sowie von Biodiversität und Evolution. Während in programmatischen Texten oft die »Entschlüsselung« des Zusammenhangs von Biodiversität und Ökosystemfunktionen angekündigt wird (vgl. etwa Gradstein et al. 2003), werden in der Praxis immer deutlicher Grenzen des Wissens auf allen Ebenen der Biodiversitätsforschung sichtbar (vgl. Thuiller et al. 2004; Keith et al. 2011; Rocchini et al. 2011). So hängt die Fähigkeit von Ökosystemen, Ökosystemfunktionen zu erfüllen, von ihrem Potenzial ab, sich an sich verändernde Bedingungen anzupassen und sich weiter zu entwickeln. Dieses Potenzial steht in direktem Zusammenhang mit der sich in ihnen verkörpernden Diversität. Die Frage, wie viel Vielfalt nötig ist, lässt sich dabei nicht eindeutig beantworten; es zeichnet sich einerseits ab, dass ein intrinsischer Zusammenhang besteht, andererseits, dass eine allgemeine, alle zoogeographischen Regionen und Ökosystemtypen übergreifende Antwort nicht gegeben werden kann. Der Ökologe Matthias Schaefer schreibt in diesem Zusammenhang: »Vielfalt ist ›nötig‹, zur Frage ›wie viel?‹ ist eine Antwort nicht möglich.« (Schaefer 2004: 23) Und weiter: »Die [...] Frage ›Wie viel Vielfalt ist nötig?‹ kann also nicht beantwortet werden und sollte modifiziert werden in ›Ist Vielfalt nötig?‹. Hier gibt es ein klares ›Ja‹.« (Schaefer 2004: 37) Wie auf anderen ihrer Teilgebiete scheint sich die Ökologie auch hier als die einzige Naturwissenschaft zu erweisen, die keine Naturgesetze formuliert. Nicht nur auf allen Ebenen des Verständnisses von Biodiversität müssen wir mit objektivem Nichtwissen rechnen, sondern auch auf der Ebene der Diagnose einer Biodiversitätskrise. Dies gilt insbesondere für die tropische Biodiversität jenseits von »charismatischen Arten«, also für diejenigen Lebensformen die heute schneller verschwinden, als wir sie erfassen können. Das Nichtwissen um die Dimension der Krise kann hier als ein wesentliches Kennzeichen der Krise selbst beschrieben werden, die uns mit einer klassischen »Unsicherheits-Unsicherheit« konfrontiert. In Bezug auf die tropischen Insekten ist davon auszugehen, dass in den nächsten 50 Jahren mindestens zehn Prozent der aktuell existierenden Arten aussterben werden (vgl. Dunn 2005: 1030f.), mit unabsehbaren Folgen. Unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten wird Nichtwissen hier gerade angesichts der Unmöglichkeit relevant, vorauszusagen, wann welche Art, die uns, falls überhaupt bekannt, jetzt vielleicht als unwichtig oder redundant erscheint, kompensierend auf veränderte, speziell anthropogen induzierte Umwelteinflüsse reagieren könnte. Aldo Leopold, der Vater der amerikanischen »Environmental Ethics«, schreibt bereits in den 1940er Jahren: »Wenn die Biosphäre im Laufe von Aeonen Elemente hervorgebracht hat, die wir zu schätzen, aber nicht zu verstehen gelernt haben, dann würde doch nur ein Dummkopf auf
252 | ANDREAS H ETZEL scheinbar entbehrliche Teile verzichten. Jedes Zahnrad und jede Schraube zu behalten ist die wichtigste Vorsichtsmaßnahme des intelligenten Bastlers.« (Leopold 1992: 14)
Aufgenommen wurde Leopolds Argument vor allem von Ehrlich und Ehrlich (1981), die biologische Arten mit Nieten an einem Flugzeugflügel vergleichen, von denen jede einzelne unnötig sein kann, ohne dass wir voraussagen könnten, von welcher Zahl verlorener Nieten an der Flügel brechen wird. Die Faktoren (Flächenverlust, Klimawandel, Übernutzung, Schadstoffeintrag, Neozoen, Jagd, ...) die heute zum Biodiversitätsverlust führen, interagieren und verstärken sich, so dass wir nicht absehen können, von welchem Moment an welche Entwicklung kritisch werden könnte. In den aktuellen Debatten scheint sich ein Konsens abzuzeichnen, dass die meisten Aussterbeereignisse auf nur schwer mess- und beobachtbaren Störungen von Interaktionen zwischen Arten beruhen (vgl. Cahill et al. 2012; Schweiger et. al. 2008): Durch die weltweite Klimaerwärmung verschieben sich etwa die Vegetationsphasen von Pflanzen und die Entwicklungsphasen von mit ihnen assoziierten, oft hochspezialisierten Insekten in einer Weise, dass sie nicht mehr aufeinander abgestimmt sind. Schweiger et. al. haben am Beispiel der Interaktion des monophagen HochmoorPerlmutterfalters (Boloria titania) mit der Futterpflanze seiner Larve, dem Schlangen-Knöterich (Polygonum bistorta), gezeigt, dass bereits durch eine geringfügige Klimaerwärmung die Entwicklungsphasen beider Arten getrennt werden könnten: »These findings strongly suggest that climate change has the potential to disrupt trophic interactions because co-occurring species do not necessarily react in a similar manner to global change, having important consequences at ecological and evolutionary time scales.« (Schweiger et al. 2008: 3472) Unter Bedingungen hochgradiger Komplexität können kleinste Veränderungen mit großen Wirkungen einhergehen. Dies sollte uns sowohl zu einem nachhaltigen Umgang mit Biodiversität als auch zu einer Skepsis in Bezug auf unterkomplexe Management-Strategien im Biodiversitätsschutz motivieren.
2. D IE D EBATTE
ZWISCHEN PHYSIO - UND ANTHROPOZENTRISCHEN ANSÄTZEN IN DER U MWELTETHIK
Die Umweltethik hat die »Sixth Extinction«, das durch Menschen verursachte massenhafte Aussterben von Arten (vgl. Leaky/Lewin 1996; Ehlers 2008), im zurückliegenden Jahrzehnt als Problem entdeckt (vgl. Norton 1986; van Kooten et al. 2000; Sarkar 2005; Ott 2007; Potthast 2007; Lanzerath 2008; Eser 2009;
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Gorke 2010; O’Brien 2010; Rolston 2012). Aus der naturschutzbiologischen Diagnose einer »extinction crisis« (Ceballos/Ehrlich 2002: 904) oder »biodiversity crisis« (Wilson 1985; Novacek 2001; Koh et al. 2004: 1632) ist allerdings bisher keine Notwendigkeit abgeleitet worden, eine spezielle Biodiversitätsethik zu entwickeln. In der aktuellen umweltethischen Diskussion besteht stattdessen ein weitgehender Konsens, demzufolge die etablierten, zumeist anthropozentrischen umweltethischen Begründungsmodelle ausreichen, um den normativen Aspekten der Krise Rechnung tragen zu können. Eine Ethik der Biodiversität verlange keine neuen und speziellen Begründungsstrategien oder metaethischen Reflexionen. So begreift Sarkar (2005: 81) den Wert von Biodiversität als Ergebnis einer Übertragung: Werte, die wir in sozialen, und das heißt genuin ethischen, Kontexten gewonnen haben, vermögen wir, wenn wir uns für die Vielfalt des Lebens sensibilisieren, nachträglich auch auf Aspekte von Biodiversität zu übertragen. In ähnlicher Weise kennzeichnet Lanzerath, der die Debatten der letzten Jahre zusammenfasst, Biodiversität als »Wert zweiter Ordnung« (Lanzerath 2008: 147), der von höherrangigen Werten wie Gerechtigkeit, Gesundheit, Schönheit etc. abhängig bleibe. In Bezug auf die Vielfalt der Lebensformen bestünden nur indirekte Pflichten, da wir diese Vielfalt ausschließlich dann für schützenswert erachten könnten, wenn sie für den Erhalt dieser anderen Werte relevant sei. Gegenüber diesem Konsens möchte ich die Frage stellen, ob die Biodiversitätskrise nicht auch metaethisch relevante Folgen haben könnte. Der Versuch einer normativen Auszeichnung unseres Nichtwissens um Biodiversität soll dabei helfen, bestimmte Sackgassen zu vermeiden, in die der Konflikt zwischen anthropozentrischen und biozentrischen Begründungsansätzen geführt hat, der die umweltethische Debatte um Biodiversität bisher wesentlich geprägt hat. 2.1 Anthropozentrische Ansätze in der Biodiversitätsethik Die sich selbst als (in einem methodischen Sinne) anthropozentrisch verstehenden Ansätze berufen sich auf unser modernes wissenschaftliches Weltbild, das es nicht erlaube, der Natur als ganzer oder einzelnen nichtmenschlichen Lebewesen einen Eigenwert zuzusprechen (vgl. Myers 1983). Die von Max Weber beschriebene weltgeschichtliche Rationalisierung führe uns unausweichlich zu einer »Skepsis gegenüber der Möglichkeit, den geschwisterlichen Umgang mit einer nicht-objektivierten Natur rational auszugestalten« (Habermas 1988: 327). Nur Menschen könnten Verantwortung übernehmen und insofern umgekehrt auch ethische Ansprüche anmelden. Nichtmenschliche Lebewesen oder abstraktere Entitäten wie Arten oder Ökosysteme können zwar in Prozessen der Abwägung strittiger Ansprüche als moral patients berücksichtigt werden, allerdings nie
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selbst als moral agents ihre Stimme erheben. Konrad Ott führt in diesem Sinne aus, dass ein »methodischer Anthropozentrismus« für jede Umweltethik »unausweichlich« (Ott 2000: 20) sei. Die anthropozentrischen Ansätze (Ott 2000; Gutmann/Janich 2002: 24) orientieren sich in Fragen des Biodiversitätsschutzes an den bereits von Osborn, Vogt und Leopold (vgl. Callicott 2005: 111-135) unterschiedenen vier Haupttypen von Ökosystemfunktionen (bereitstellende Dienstleistungen, regulierende Dienstleistungen, informatorische Dienstleistungen und kulturelle Dienstleistungen). Die Vertreter anthropozentrischer Ansätze weisen darauf hin, dass sich von diesen vier Typen von Ökosytemfunktionen nicht das eine, »alles entscheidende ›Mega‹- oder ›Super‹-Argument […], das den Schutz der gesamten Biodiversität gleichsam auf einen Schlag zwingend begründet« (Ott 2007: 109), ablesen lässt. Dennoch ließen sich aus diesen Funktionen gute Gründe ableiten um »einzelne Segmente von Biodiversität als Schutzgüter« (ebd.) aufzufassen. Jedem partikularen Interesse an der Aufrechterhaltung bestimmter Ökosystemfunktionen lassen sich normative Orientierungen entnehmen, die gegen konkurrierende, insbesondere ökonomische Ansprüche geltend gemacht werden könnten. Ein Eigenwert lasse sich der biologischen Vielfalt darüber hinaus aber nicht zusprechen. Die anthropozentrischen Ansätze, die auf den Erhalt von Ökosystemfunktionen abzielen, tendieren implizit zu einem Optimismus in Bezug auf unser Umweltwissen. Manche Autoren neigen dazu, die Biodiversitätskrise vor allem als Wissenskrise zu interpretieren: Würden wir erst den Begriff und die Komponenten von Biodiversität klar definieren und den Zusammenhang von Biodiversität und Ökosystemfunktionen empirisch angemessen beschreiben können, dann würden sich daraus die richtigen Schutzstrategien fast automatisch ableiten lassen Besonders deutlich wird diese Tendenz im Bio-Folio-Ansatz (vgl. Figge 2002; kritisch dazu Höhler 2014), der eine fünfstufige Strategie des Biodiversitätsschutzes vorschlägt: 1) Das Auswerten ökologischer Datenbanken; 2) die Identifizierung von Biomen (in einer Region vorherrschenden Lebensgemeinschaften) und Spezies, die zu Portfolio-Klassen zusammengefasst werden; 3) die Identifizierung der korrespondierenden Ökosystemdienstleistungen sowie deren ökonomische Bewertung; 4) die Identifizierung von Risiken für die Biome sowie der Risiko-Ertrags-Relation; 5) die Simulation der Auswirkungen von Managemententscheidungen auf das Portfolio. – Auf jeder dieser fünf Stufen treten massive Unbestimmtheitseffekte auf, die von den entsprechenden Ansätzen einfach ausgeblendet werden, so dass sie insgesamt einem naiven Machbarkeitsdenken – Figge (2002: 21) spricht explizit von einem »management of biodiversity« – Vorschub leisten.
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Demgegenüber möchte ich dafür plädieren, dass wir nicht ausschließlich auf Wissenserwerb setzen sollten, und zwar schon allein deshalb nicht, weil die Biodiversitätskrise weit schneller voranschreitet, als wir mit der Erforschung ihres Ausmaßes, ihrer Ursachen und ihrer Folgen nachkommen könnten, geschweige denn mit der Erfassung und dem Verständnis der globalen Biodiversität selbst. Wir stehen also unter dem Zwang, vor dem Hintergrund eines Nichtwissens Entscheidungen treffen zu müssen. Damit würde der Umgang mit ökologischem Nichtwissen selbst dann zu einem gravierenden Problem, wenn sich die Frage, ob es sich hier um ein Noch-Nicht-Wissen oder ein prinzipielles Nicht-WissenKönnen handelt, langfristig gesehen beantworten ließe. Ausgehend von Jaeger/Scheringer (2006) ließe sich darüber hinaus darauf hinweisen, dass Umweltwissen nicht automatisch zur Lösung der Umweltkrise beiträgt. Die Autoren sprechen von einem »Datendilemma« (Jaeger/Scheringer 2006: 21), das zwei Seiten hat: •
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einerseits ist »der Bestand an verfügbaren Forschungsresultaten so umfangreich, unübersichtlich und heterogen geworden« dass sich aus ihm »zum Teil auch widersprüchliche Schlussfolgerungen ziehen« lassen; andererseits besteht »in vielen Fällen […] keine ausreichende wissenschaftliche Grundlage für die Entwicklung und Bewertung von Handlungsalternativen« (Jaeger/Scheringer 2006: 21).
Über die Skizzierung dieses Dilemmas hinaus, das sich auf der Ebene politischer Öffentlichkeiten in einem »Experten-Dilemma« (Nennen/Garbe 1996) fortsetzt, wäre zu fragen, ob die weiter oben im Anschluss an Merton und Wehling erwähnten Typen des Nichtwissens noch um einen weiteren Typ ergänzt werden müssen: ein zynisches Wissen, über das wir verfügen, ohne daraus praktische Konsequenzen zu ziehen. Ein Wissen um ökologische Zusammenhänge, um das wir uns natürlich bemühen müssen, reicht oft nicht aus, um Schutzanstrengungen zu motivieren. Als Beispiel hierfür wäre auf die Erderwärmung zu verweisen, deren Abhängigkeit vom CO2-Ausstoß seit Langem weitgehend anerkannt ist, ohne dass wir im Alltag unseren CO2-intensiven way of life ändern würden. Selbst wenn wir in der Biodiversitätsethik von der Unausweichlichkeit eines methodischen Anthropozentrismus ausgehen und menschliche Interessen an einzelnen Aspekten von Biodiversität als das einzige harte Kriterium für Biodiversitätsschutz akzeptieren würden, müssten wir immer noch Bryan Nortons Argument berücksichtigen, dass wir mögliche Interessen zukünftiger Akteure und Generationen an Aspekten von Biodiversität, die uns heute unwichtig erscheinen, nicht antizipieren können (vgl. Norton 2002: 43); insofern könnte uns das
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entsprechende Nichtwissen bereits innerhalb eines methodisch anthropozentrischen Referenzrahmens dazu motivieren, Natur als einen möglichst umfassenden Erfahrungsraum, und das heißt: in ihrer größtmöglichen Diversität, zu schützen. 2.2 Physiozentrische Ansätze Anfänglich konzentrierten sich die Vertreter nicht-anthropozentrischer Ethiken, die allem Lebendigen einen Eigenwert zusprechen wollen, auf die Begründung von animal rights, die unter der Vorherrschaft pathozentrischer und präferenzutilitaristischer Argumente eingeklagt wurden. Ausgehend vom klassischen Utilitarismus und der Aristotelischen eudaimonia-Lehre behaupten etwa Birnbacher (1986: 121), Singer (1996: 54) oder Wolf (1990: 44; vgl. ferner Wolf 1997), dass wir gegenüber der außermenschlichen Natur immer dann ethisch verpflichtet seien, wenn sich diese als leidensfähig erweise. Dieser Ansatz steht und fällt mit der Möglichkeit, Tieren und Pflanzen sinnvoll Leidensfähigkeit zusprechen zu können und operiert mit starken (Wissens-)Voraussetzungen in Bezug auf die Eigenschaften und die Erkennbarkeit von Leid; auch der Physiozentrismus geht also von starken Wissensansprüchen aus. Darüber hinaus werden heute drei weitere Gründe gegen pathozentrische Positionen geltend gemacht (vgl. zusammenfassend Grimm 2012): •
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Aus einer pathozentrischen Begründungsstrategie würde die kontraintuitive Konsequenz folgen, dass wir Tiere daran hindern müssten, sich wechselseitig Leid zuzufügen; die »leidfreieste« Welt wäre letztlich eine unbelebte. Hinter der unter Pathozentrikern geläufigen Rede von einer unterschiedlich schwer wiegenden »Leidensfähigkeit« der Tiere verbirgt sich die unterkomplexe Vorstellung einer Hierarchisierbarkeit des Tierreichs in »höhere« und »niedrigere« Arten. Aus dem Pathozentrismus lassen sich, wenn überhaupt, dann nur sehr vermittelt Gründe für den Erhalt von abstrakteren Entitäten wie Ökosystemen, evolutionären Linien und Biodiversität ableiten. Oft kommt es zwischen Tier- und Artenschutz zu direkten Konflikten (zu einer Reihe von Beispielen vgl. Rolston 2012: 66f.).
Vergleichbare Probleme ergeben sich, wenn eine biozentrische Position ausgehend von der Fähigkeit nichtmenschlicher Lebewesen, Präferenzen zu verfolgen (vgl. Singer 1996: 128), begründet wird. Auch die Rede von Präferenzen schwebt in der Gefahr einer (als krypto-anthropozentrisch zu bezeichnenden) Projektion vermeintlich gesicherten Wissens (vgl. hierzu Ricken 1987: 8).
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Eine weitere Variante des Biozentrismus bedient sich religiöser Muster, so etwa bei Schweitzer (2006) oder Spaemann, für den eine »menschenwürdige Existenz« dauerhaft nur »in einem wie immer begründeten religiösen Verhältnis zur Natur« (Spaemann 1986: 198) gesichert werden könne. In den Diskussionen um Biodiversität wird diese Position heute insbesondere von O’Brien (2010) vertreten, der in der »variety of life« eine »creation of god« (O’Brien 2010: 3) erblickt, die es genau deshalb zu bewahren gelte. In einem christlichen Verständnis von Lebensformen als Mitgeschöpfen und von Gott als sorgendem Hausvater der Natur sieht er das wesentliche Einspruchspotenzial gegen die drohende Auslöschung von Arten – und setzt sich damit dem Einwand aus, dass er die Schutzwürdigkeit natürlicher Vielfalt von einer Glaubensvoraussetzung abhängig macht, die argumentativ nicht vollständig eingeholt werden kann. Wenn die physiozentrischen Begründungsstrategien bisher auch argumentativ nur wenig zu überzeugen vermochten, so haben sie zumindest erfolgreich auf ein konzeptuelles Problem rein anthropozentrischer Begründungen der Umweltethik hinweisen können, das angesichts der Biodiversitätskrise besonders dringlich wird (vgl. erstmals Tribe 1986: 34): Wenn wir in der Umweltethik und -politik menschliche Interessen als einzige Bezugsgröße akzeptieren, dann gelten Arten und Ökosysteme nur solange als schützenswert, wie entsprechende Bedürfnisse angegeben werden können, die durch sie befriedigt werden. Sobald diese Bedürfnisse auch technisch befriedigt werden können oder politische Entscheidungsträger an diese Möglichkeit glauben, verlieren Arten und Ökosysteme jede Schutzwürdigkeit. Dies wird etwa dann relevant, wenn versucht wird, bereitstellende Ökosystemfunktionen durch Geo-Engineering (Freisetzung von Schwefeldioxid in der Stratosphäre zur Abkühlung des Weltklimas, Anregung des Algenwachstums durch Düngung der Meere etc.) zu kompensieren. Das gleiche gilt für kulturelle Dienstleistungen: Ein ästhetisches Bedürfnis nach Vielfalt wird bereits heute durch eine Vielfalt von Marken, Konsum- und Medienangeboten kompensiert, so dass viele Menschen den Rückgang der biologischen Vielfalt weder wahrnehmen noch als Verlust empfinden. Angesichts des aktuellen Verschwindens von Natur als Erfahrungsraum in einer urbanisierten und hochgradig technisch vermittelten Lebenswelt und der sich im Geo-Engineering ausdrückenden Machbarkeitsphantasien und ökonomischen Interessen (vgl. hierzu kritisch UN 2010: Abschnitt w; ferner Scott 2012), ist zu befürchten, dass die Beschränkung auf einen methodischen Anthropozentrismus auf Dauer nicht genügend Einspruchspotenzial gegen die Biodiversitätskrise wird bereithalten können.
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3. J ENSEITS ANTHROPO - UND PHYSIOZENTRISCHER ANSÄTZE : F ÜR EINE E THIK DES N ICHTWISSENS Die Konzentration der Umweltethik auf die Auseinandersetzung zwischen anthropo- und physiozentrischen Begründungsansätzen ist im angelsächsischen Sprachraum immer wieder in Frage gestellt worden. So formulieren Norton (1991) und Midgley (1994) eine Konvergenzhypothese, die besagt, dass bio- und anthropozentrische Begründungsansätze in der Praxis keineswegs zu unterschiedlichen Handlungsfolgen führen würden. Auch die am 5. Juni 1992 in Rio de Janeiro verabschiedete Convention on Biological Diversity der Vereinten Nationen spricht im ersten Satz der Präambel von einem »intrinsic value of biological diversity«, im zweiten Satz von »ecological, genetic, social, economic, scientific, educational, recreational and aesthetic values of biological diversity« (UN 1992: 1). Intrinsischer Wert und Wert für uns Menschen stehen hier gleichberechtigt nebeneinander, ohne dass wir uns argumentativ auf eine der beiden Seiten beschränken müssten. Potthast und Eser schlagen vor dem Hintergrund der Konvergenz-Hypothese eine »inklusive Perspektive« für die Begründung der Umweltethik vor, für die sich bio- und anthropozentrische Argumente nicht länger ausschließen (vgl. Potthast/Eser 1999: 48). Für diese »inklusive Perspektive« existieren bereits eine Reihe von Vorbildern: so etwa die von Arne Næss (1973) ausgehende »Deep Ecology«-Bewegung, die die Menschheit als integralen Bestandteil der belebten Umwelt begreift; der »Environmental Pragmatism« (vgl. Norton 1986a; Norton 2005), der im Anschluss an den naturalistischen Erfahrungsbegriff von William James und John Dewey die scharfe Trennung von Mensch und Natur hinterfragt; die Akteur-Netzwerk-Theorie des französischen Wissenschaftsphilosophen Bruno Latour, die davon ausgeht, dass Handlungen nicht von mit Intentionalität begabten Akteuren allein vollzogen werden, sondern in Netzwerken von Menschen, Artefakten und natürlichen Entitäten emergieren (vgl. Latour 1996), sowie schließlich die in den 1940er Jahren formulierte »Land Ethic« des amerikanischen Forstwissenschaftlers Aldo Leopold (1992). Leopold versteht unter land, das sich am ehesten mit dem deutschen Wort Landschaft übersetzen lässt, eine Indifferenzzone von Mensch und Natur. Am einen Ende des Spektrums steht (wenn auch nur als Idealbild) die wilderness, eine von jedem Eingriff unberührte Natur, auf der anderen Seite die hochartifizielle Stadtlandschaft der Moderne. Auch diese Stadtlandschaft ist noch in Stoff- und Energiekreisläufe einbezogen (und von ihnen abhängig), die nicht von Menschen gemacht wurden. Nach Callicott ist das land in Leopolds »Land Ethic« im Sinne eines Holismus zu lesen:
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»The real world is one« (Callicott/Mumford 1997: 36), sie umfasst Natur und Kultur, Mensch und Umwelt, Sein und Sollen. Leopold geht von der Beobachtung aus, dass sich der Bereich moralisch relevanter Lebewesen im Lauf der abendländischen Kulturgeschichte erweitert hat. Ethische Grundsätze wurden erst nach und nach, häufig in Folge harter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, in denen die Grenzen der Gesellschaft selbst auf dem Spiel standen, auf Sklaven, Frauen, Kinder und Fremde ausgedehnt (vgl. Leopold 1992: 149). Nach Leopold kann uns nichts die Gewissheit geben, dass diese Auseinandersetzungen bereits an ein Ende gekommen seien. Gerade das Nichtwissen um die Grenze der moral community wird für ihn ethisch relevant. Ähnlich argumentiert neuerdings auch Gorke (2010: 47ff.), der für eine Beweislastumkehr in der Biodiversitätsethik plädiert: Rechtfertigungsbedürftig ist es nicht, einzelnen Aspekten der Biodiversität einen intrinsischen Wert zuzusprechen, sondern ihn abzusprechen. Die Land-Ethik, der deep-ecology-Ansatz, der environmental pragmatism, die Akteur-Netzwerk-Theorie und die holistische Ethik Gorkes erweiterten somit »die Grenzen des Gemeinwesens und schließ[en] Böden, Gewässer, Pflanzen und Tiere« ein (Leopold 1992: 151). Der Mensch steht der Natur hier nicht länger abstrakt als Subjekt ihrer (objektiven) Erkenntnis und Bewertung gegenüber, sondern findet sich in sie einbegriffen. Im Gegensatz zu anthropo- und physiozentrischen Positionen räumen die inklusiven Ansätze dem Nichtwissen einen zentralen Stellenwert ein. Gerade weil sie uns Menschen mit all unserer Wissenschaft, Kultur und Technik als Ergebnis der Evolution und damit als Teil von Biodiversität begreifen, verbietet sich aus ihrer Sicht mit einem teleologischen Denken, das Arten und Ökosysteme nur in ihrem Mittelcharakter für uns Menschen zu würdigen wüsste, auch die Position eines objektiven Beobachters, der Biodiversität von außen sehen und bewerten könnte. Sowenig wir Personen nur deshalb als Träger intrinsischer Werte achten und anerkennen, weil wir ihnen bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften zuschreiben beziehungsweise um diese Fähigkeiten und Eigenschaften wissen können, sowenig müssen wir jener Biodiversität, die wir selbst sind, einen Wert erst verleihen. Für Cary Wolfe sind weite Teile der zeitgenössischen Umweltethik dagegen «locked into a model of justice, in which a being does or does not have rights on the basis of its possesion (or lack) of morally significant characteristics that can be empirically derived« (Wolfe 2008: 13). Nichtwissen wird also gerade in Bezug auf die Unmöglichkeit ethisch relevant, klare Kriterien der Unterscheidbarkeit von moral agents und moral patients anzugeben. Wir haben bereits die Schwierigkeiten angedeutet, in die sich Ansätze verstricken, die Interessen, zweckgerichtetes Handeln, Leidens- oder Reflexionsfähigkeit auf nichtmenschli-
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che Akteure projizieren. Diese Schwierigkeiten bedeuten nicht, dass wir nichtmenschlichen Akteuren Interessen, Verfolgen von Zielen, Leidens- und Reflexionsfähigkeiten absprechen können. Zu fragen wäre vielmehr, ob wir über die Interessen, Leidens- und Reflexionsfähigkeiten nichtmenschlicher Lebewesen jemals genug werden wissen können, um sie ausschließlich für uns Menschen zu reservieren. Die Primatenforschung, aber auch die Forschung zu kognitiven Fähigkeiten von Rabenvögeln, legen zunehmend einen Gradualismus nahe. Darüber hinaus problematisieren die Human-Animal-Studies das Recht, »die Tiere für Arten einer Gattung zu halten, die man Das Tier, das Tier im Allgemeinen nennen würde« (Derrida 2006: 58). Sie stellen dabei nicht, wie von Kritikern häufig unterstellt, etwa die Differenz zwischen Mensch und Schimpanse prinzipiell in Frage, sondern relativieren die Bedeutung dieser Differenz in Relation zu den Differenzen zwischen verschiedenen anderen Tieren. In den letzten Jahren wurde insbesondere in (von Leopold inspirierten) Arbeiten aus dem Umfeld des Land Institute auf einen weiteren Aspekt der Bedeutung von Nichtwissen für eine Ethik der Biodiversität hingewiesen (vgl. Berry 2008; Jackson 2008; Vitek/Jackson 2008). Die entsprechenden Autoren gehen davon aus, dass sich alle kulturellen und technischen Fortschritte in der Menschheitsgeschichte der Ausbeutung von in prinzipiell endlichen Kohlenstoffdepots gebundenen Energien verdanken: zunächst der in Böden gebundenen Kohlenstoffe durch Ackerwirtschaft, dann des in Wäldern fixierten Kohlenstoffs durch die Nutzung von Holz, schließlich des in Kohle, Öl und Erdgas fixierten fossilen Kohlenstoffs (vgl. Jackson 2008) durch die neuzeitlichen Industrien. Unsere Gesellschaften hängen damit fundamental von der primären Produktion von Ökosystemen ab, von ihrer Fähigkeit, atmosphärisches CO2 mittels Photosynthese zu binden. Die diesbezügliche Produktivität und optimale Funktionalität etwa der tropischen Regenwälder können wir nicht ansatzweise technisch kompensieren. Im Gegenteil: Wir vermögen unseren Energiebedarf (zumindest bisher) nicht nur nicht aus erneuerbaren Ressourcen wie der Sonnenenergie zu decken, sondern reduzieren mit den Nebenfolgen unserer Ausbeutung der fossilen Kohlenstoffdepots auch die Fähigkeit der verbleibenden Ökosysteme zu weiterer Primärproduktion. Wes Jackson schreibt vor diesem Hintergrund: »Acknowledging our ignorance, we recognize the need to protect the integrity of wild ecosystems that have experienced minimal human disruption. These ecosystems become our standards because they represent the best example of what is optimally efficient anywhere across the ecological mosaic of the ecosphere […]. Natural ecosystems generally have higher levels of net primary production than do agricultural systems« (Jackson 2008: 25).
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Gerade weil wir unbeeinflusste Ökosysteme in ihrer Funktionalität weder verstehen noch technisch simulieren können, stehen wir in der Pflicht, sie in ihrer gesamten Komplexität zu achten und schützen. Auch auf einer metaethischen Ebene hätte die Akzeptanz unseres ökologischen Nichtwissens bedeutsame Konsequenzen. Anthropozentrisch wie physiozentrisch argumentierende Autoren beginnen ihre Plädoyers häufig mit der Frage, welcher Typus von Ethik besser geeignet sei, Argumente dafür zu liefern, dass der Schutz von Biodiversität nicht prinzipiell anderen Interessen untergeordnet werden sollte. Dabei wird die Schutzwürdigkeit der Biodiversität bereits implizit vorausgesetzt. Diese Schutzwürdigkeit eigens zu begründen, erscheint, so möchte ich ausgehend von der Position eines modifizierten metaethischen Realismus3 betonen, genauso kontraintuitiv wie das Vortragen subtiler Argumente gegen den Mord. Bevor wir den Raum des Gebens und Nehmens von Gründen betreten, fühlen wir uns immer schon in eine Verantwortung genommen, von der wir nicht wissen können, warum wir sie nichtmenschlichen Lebewesen und ihren Assoziationsformen vorenthalten sollten. Vor diesem Hintergrund ließe sich Gorkes Argument, dass »eine Moral, die ich einfach so definiere, dass bestimmte Wesen von vornherein aus der Moralgemeinschaft ausgeschlossen werden« (Gorke 2000: 93; dazu kritisch Ott 2007: 102), fragwürdig ist, mit pragmatistischen Überlegungen zu einer »Moralisierung der Moraltheorie« (Cavell 1999: 440) verbinden. Zu Beginn seines Aufsatzes »The Moral Philosopher and Moral Life« weist William James darauf hin, dass die finale Gestalt der Ethik erst dann festgelegt werden könnte, wenn »der letzte Mensch seine Erfahrungen gemacht und seine Antworten gegeben« (James 2010: 78) haben würde. Ethik wird damit zu einer endlosen und immer auch selbstreferentiellen oder eben: ethischen Aufgabe; ihre Begriffe und Methoden müssen, so Cavell, selbst ständig moralisiert werden. Diese Moralisierung bedeutet für Cavell konkret, dass die Frage, »welche Art von Gründen, in welcher Weise und zu welchem Zwecke vorgebracht, moralische Gründe sein« können (Cavell 1999: 469), und wer unter welchen Bedingungen als moral agent oder patient gelten kann, selbst als moralische Frage verstanden werden muss. Ethik wäre vor diesem Hintergrund keine Gestalt des Wissens, sondern eine Weise des
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Mit metaethischen Realisten wie McDowell, Nagel oder Putnam gehe ich davon aus, dass moralische Tatsachen (Ansprüche, Forderungen, Werte ...) unabhängig von uns und unseren individuellen Präferenzen existieren. Mit der von den meisten Realisten geteilten weiteren Prämisse, dass moralische Sätze wahrheitsfähig sind beziehungsweise moralische Tatsachen adäquat repräsentieren, möchte ich dagegen brechen (vgl. Hetzel 2014 und Hetzel 2015).
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kritischen Umgangs mit ihm. Um mehr als ein instrumentelles Kalkül zu sein, dürfte sie sich nicht in der Kenntnis bestimmter Regeln und einem Wissen, wie diese Regeln gerechtfertigt und auf eine bestimmte Situation angewendet werden können, erschöpfen (vgl. Gamm/Hetzel 2015). Dies wird auch von Jacques Derrida immer wieder betont. In Bezug auf die Rolle von Wissen und Nichtwissen in ethischen Entscheidungen befinden wir uns für Derrida in einer aporetischen Situation: »Die Behauptung, eine verantwortliche Entscheidung müsse sich nach einem Wissen richten, scheint zugleich die Bedingung der Möglichkeit der Verantwortung (man kann eine verantwortliche Entscheidung nicht ohne Wissen und Bewusstsein fällen, ohne zu wissen, was man tut, aus welchem Grund [...]) und die Bedingung der Unmöglichkeit der sogenannten Verantwortung zu sein (wenn eine Entscheidung gemäß diesem Wissen getroffen wird, das zu befolgen [...] sie sich genügt, so ist sie keine verantwortliche Entscheidung mehr« (Derrida 1994: 353).
Diese Aporie lässt sich nicht theoretisch auflösen, sondern allenfalls leben.
4. N ATURSCHUTZPRAKTISCHE K ONSEQUENZEN Abschließend und zusammenfassend möchte ich dafür plädieren, dass kein kurzfristiger Anspruch menschlicher Gruppen oder Individuen es rechtfertigen könnte, eine evolutionäre Linie zu unterbrechen, die mehrere Milliarden Jahre alt ist und deren Zukunft und deren Interdependenzen mit anderen Linien völlig unabsehbar bleiben: »To eliminate a particular species is to shut down a story of many millennia, and leaves no future possibilities« (Rolston 2005: 116). Die Geschichten und Zukunftsperspektiven von Arten sowie ihren Assoziationsformen überwiegen jeden kurzfristigen, nicht-überlebensrelevanten Anspruch menschlicher Gruppen oder Individuen. Für die Befriedigung der Bedürfnisse menschlicher Akteure existieren, dank unserer kulturellen und anthropologischen Offenheit, so gut wie immer Alternativen, die zunächst ausgelotet werden müssen. Das Verschwinden von Arten (oder evolutionary significant units) und Ökosystemen ist demgegenüber irreversibel und insofern um jeden Preis zu vermeiden. Die meisten umweltethischen Zielkonflikte stellen uns ohnehin nicht vor die Wahl »between killing human beings and conserving biodiversity. Rather, most choices are between human lifestyles and biodiversity.« (Callicott 2005: 128) So ließe sich etwa ausgehend vom mehrstufigen Konzept menschlicher Bedürfnisse und Fähigkeiten, wie es der capability approach (vgl. Nussbaum 2006) vorge-
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schlagen hat, zeigen, dass nicht alle menschlichen Interessen gleich zu gewichten sind. In diesem Zusammenhang wäre vor allem darauf zu insistieren, dass uns nicht der Mensch, die Menschheit oder die Moderne in die aktuelle Biodiversitätskrise geführt hat, sondern eine ganz bestimmte, letztlich hochkontingente sozioökonomische und biopolitische Formation (vgl. auch Callicott 2005: 128), ein auf ungehemmtes Wachstum setzender Neoliberalismus. Die Biodiversitätsethik wäre vor diesem Hintergrund mit Theorien starker Nachhaltigkeit (Ott/Döring 2011) sowie aktuellen Debatten um eine Postwachstumsgesellschaft (Seidl/Zahrnt 2010; Muraca 2014) zu verbinden. Wenn wir berücksichtigen, dass die Biodiversitätskrise vor allem die hot spots der globalen Biodiversität, die tropischen Regenwälder, betrifft, die heute in rasantem Tempo Palmöl- und Sojaplantagen weichen, wäre es vor allem wichtig • •
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die Subventionierung sogenannter Biofuels zu stoppen und zugleich die Suche nach Alternativen zum Personen-Individualverkehr zu forcieren, die Fleischproduktion (die nur durch Soja-Import möglich ist) und Konsumtion in der nördlichen Hemisphäre zu überdenken und entsprechend politisch (etwa durch Besteuerung) gegenzulenken, sowie schließlich generell einen nachhaltigeren Begriff des Wachstums zu etablieren, der die globalen ökonomischen Stoff- und Warenkreisläufe entschleunigt und nicht länger auf die Steigerung von Produktions-, Konsumtions- und damit oft auch Bevölkerungsraten setzt.
Darüber hinaus käme es darauf an, differenzierte Prozess-Schutzstrategien zu etablieren, die eine nachhaltige Nutzung von land ermöglichen, das im Anschluss an Leopold als Kontinuum zu verstehen wäre, welches von einer hochartifiziellen Stadtlandschaft bis zur wilderness reicht. Dabei ist einerseits ein Denken in langen Zeiträumen wichtig, andererseits die Ausweisung großer, miteinander vernetzter Schutzgebiete. Politisches Engagement für einen Biodiversitätsschutz motiviert sich weniger aus einem Wissen, als vielmehr aus einem Gefühl der Achtung, in dem sich Wissen und Nichtwissen verbinden; diese Achtung wäre näher zu charakterisieren als ein Wissen, das um sein Nichtwissen weiß. Ein Gefühl der Achtung und Verbundenheit gewinnen wir nur gegenüber dem, was uns vertraut ist, was sich aber zugleich unserer vollständigen kognitiven Verfügung entzieht.
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Autorin und Autoren
Gunnar Duttge ist Direktor der Abteilung für strafrechtliches Medizin- und Biorecht sowie Vorstandsmitglied des Zentrums für Medizinrecht an der GeorgAugust-Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Strafrecht, Rechtsphilosophie, Medizinrecht, insbesondere Rechtsfragen der Humangenetik, Organtransplantation, Sterbehilfe, Arzneimittelrecht. Er ist Leiter des BMBF-Projekts: »Normatives Fundament und anwendungspraktische Geltungskraft des Rechts auf Nichtwissen«. Letzte Buchveröffentlichungen u.a.: Chr. Baum/G. Duttge/M. Fuchs, Gentherapie, 2013; Chr. Lenk/G. Duttge/H. Fangerau (Hg.), Handbuch Ethik und Recht der Forschung am Menschen, 2014; H. Steinfath/C. Wiesemann/G. Duttge u.a., Autonomie und Vertrauen in der modernen Medizin, 2015. Achim Geisenhanslüke ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Literaturtheorie und Ästhetik sowie der europäischen Literatur vom 17. bis zum 21. Jahrhundert, insbesondere dem Nichtwissen und der Infamie. Letzte Veröffentlichungen: Dummheit und Witz. Poetologie des Nichtwissens, München 2011; Die Sprache der Infamie. Literatur und Ehrlosigkeit, Paderborn 2014; Die Wahrheit in der Literatur. Paderborn 2015. Matthias Groß ist Professor am Institut für Soziologie der Friedrich-SchillerUniversität Jena sowie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig. Arbeitsschwerpunkte: Umweltsoziologie; Wissenschafts- und Technikforschung; experimentelle Prozesse in Gesellschaft und Wissenschaft; strategisches Nichtwissen. Letzte Buchveröffentlichungen u.a: Renewable Energies (zusammen mit Rüdiger Mautz), London/New York 2015; Routledge International Handbook of Ignorance Studies (hrsg. mit Linsey McGoey), London/New York 2015.
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Christoph Hausladen war bis 2015 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Moraltheologie der Universität Augsburg; er ist derzeit Referent für Gemeindecaritas und Engagementförderung beim Caritasverband für die Diözese Augsburg und promoviert an der Universität Augsburg im thematischen Rahmen des DFG-Projekts »Ethik des Nichtwissens«. Arbeitschwerpunkte: Fragen der Fundamentalmoral und Ethikbegründung, Subjektphilosophie bei Karl Rahner und Dieter Henrich. Veröffentlichung zum Thema: Wissenschaft vom Nichtwissen? Theologie und der ihr inhärente Umgang mit den Grenzen des Wissens, in: C. Peter/D. Funcke (Hg.): Wissen an der Grenze, Frankfurt a. M. 2013, S. 261-305. Andreas Hetzel ist Privatdozent am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Arbeitsschwerpunkte: Politische Philosophie (Diskurse radikaler Demokratie), Sozialphilosophie der Moderne (Theorien der Macht seit Nietzsche), Sprachphilosophie (das Verhältnis von Pragmatik und klassischer Rhetorik) sowie Umweltethik (Antworten auf die Biodiversitätskrise). Veröffentlichungen u.a.: Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur, Würzburg 2001; Interpretationen: Hauptwerke der Sozialphilosophie, Stuttgart 2001 (mit Gerhard Gamm und Markus Lilienthal); Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie, Bielefeld 2011. Jochen Kade ist Professor em. für Erziehungswissenschaft am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Theorie des Erziehungssystems, (pädagogischer) Umgang mit (Nicht-)Wissen, Bildungsbiographien, Pädagogik der Medien, Videographieforschung. Letzte Buchveröffentlichungen u.a.: Ungewissheit. Pädagogische Felder im Modernisierungsprozess (hrsg. mit Werner Helsper und Reinhard Hörster), Weilerswist 2003; Pädagogisches Wissen (hrsg. mit Werner Helsper, Christian Lüders, Birte Egloff, Frank-Olaf Radtke, Werner Thole), Stuttgart 2011; Videographische Kursforschung. Empirie des Lehrens und Lernens Erwachsener (hrsg. mit Sigrid Nolda, Jörg Dinkelaker, Matthias Herrle), Stuttgart 2014. Burkhard Liebsch, Prof. Dr., lehrt Praktische und Sozialphilosophie apl. an der Ruhr-Universität Bochum. Spezielle Forschungsthemen: Theorie der Geschichte, das Politische in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Gewaltforschung, Lebensformen, Sensibilität, Erinnerungspolitik, Europäisierung, Negativität, Geschichte des menschlichen Selbst. Jüngste Buchveröffentlichungen: Renaissance des Menschen?, Weilerswist 2010; Prekäre Selbst-Bezeugung. Die erschütterte
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Wer-Frage im Horizont der Moderne, Weilerswist 2012; Verletztes Leben, Zug 2014; Mitherausgeber: Profile negativistischer Sozialphilosophie, Berlin 2011; Schwerpunkt: »J. N. Shklars politische Philosophie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62 (2014); Bedingungslos? Zum Gewaltpotenzial unbedingter Ansprüche im Kontext politischer Theorie, Baden-Baden 2014. Linsey McGoey ist Senior Lecturer für Soziologie an der University of Essex, Großbritannien. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Soziologie von Wissen, Nichtwissen, wirtschaftlicher Entwicklung und globaler Governance von Gesundheit, mit einem aktuellen Schwerpunkt auf dem Verhältnis von Philanthropie und wachsender wirtschaftlicher Ungleichheit. Sie ist Herausgeberin von: An Introduction to the Sociology of Ignorance: Essays on the Limits of Knowing, London/New York: Routledge 2014, und Mitherausgeberin (mit Matthias Groß) des Routledge International Handbook of Ignorance Studies, London/New York: Routledge 2015. Peter Wehling ist Privatdozent und Projektleiter am Institut für Soziologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Soziologie des Wissens und Nichtwissens; Wissenschafts- und Technikforschung; Soziologie der Biomedizin, Biopolitik und Bioethik; Gesellschaftstheorie und Kritische Soziologie. Letzte Buchveröffentlichungen u.a: Soziologie des Vergessens (hrsg. mit Oliver Dimbath), Konstanz 2011; The public shaping of medical research. Patients associations, health movements and biomedicine (hrsg. mit Willy Viehöver und Sophia Koenen), London/New York 2015.
Sozialtheorie Hilmar Schäfer (Hg.) Praxistheorie Ein soziologisches Forschungsprogramm Dezember 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2404-5
Urs Lindner, Dimitri Mader (Hg.) Critical Realism meets kritische Sozialtheorie Erklärung und Kritik in den Sozialwissenschaften Dezember 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 25,99 €, ISBN 978-3-8376-2725-1
Silke Helfrich, David Bollier, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Die Welt der Commons Muster gemeinsamen Handelns Oktober 2015, 384 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3245-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Sozialtheorie Franka Schäfer, Anna Daniel, Frank Hillebrandt (Hg.) Methoden einer Soziologie der Praxis Juni 2015, 320 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2716-9
Joachim Renn Performative Kultur und multiple Differenzierung Soziologische Übersetzungen I 2014, 304 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2469-4
Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat 2014, 528 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2835-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Sozialtheorie Gabriele Klein, Hanna Katharina Göbel (Hg.) Performance und Praxis Praxistheoretische Studien zu szenischer Kunst und Alltag April 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3287-3
Brigitte Bargetz Ambivalenzen des Alltags Neuorientierungen für eine Theorie des Politischen März 2016, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2539-4
Thomas S. Eberle (Hg.) Fotografie und Gesellschaft Phänomenologische und wissenssoziologische Perspektiven Februar 2016, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2861-6
Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft Dezember 2015, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5
Hanna Katharina Göbel, Sophia Prinz (Hg.) Die Sinnlichkeit des Sozialen Wahrnehmung und materielle Kultur November 2015, 464 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2556-1
Florian Süssenguth (Hg.) Die Gesellschaft der Daten Über die digitale Transformation der sozialen Ordnung
Maria Dammayr, Doris Graß, Barbara Rothmüller (Hg.) Legitimität Gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Bruchlinien der Rechtfertigung Juli 2015, 366 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3181-4
Iman Attia, Swantje Köbsell, Nivedita Prasad (Hg.) Dominanzkultur reloaded Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen Juni 2015, 354 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3061-9
Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Was ist der Mensch? Vier ethische Betrachtungen. Vadian Lectures Band 1 März 2015, 112 Seiten, kart., 16,99 €, ISBN 978-3-8376-3032-9
Diego Compagna Postnukleare Handlungstheorie Ein soziologisches Akteurmodell für Cyborgs Januar 2015, 410 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2845-6
Stephan Lorenz Mehr oder weniger? Zur Soziologie ökologischer Wachstumskritik und nachhaltiger Entwicklung 2014, 144 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2776-3
November 2015, 288 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2764-0
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