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German Pages 470 [472] Year 2015
B E I H E F T E
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Herausgegeben von Winfried Woesler
Band 39
Vom Nutzen der Editionen Zur Bedeutung moderner Editorik für die Erforschung von Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Thomas Bein
De Gruyter
ISBN e-ISBN e-ISBN ISSN
978-3-11-040067-0 (PDF) 978-3-11-041825-5 (EPUB) 978-3-11-041836-1 0939-5946
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition
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Vorwort
Ich habe mich als Herausgeber dazu entschlossen, die Beiträge gemäß dem Alphabet der Autorennamen zu ordnen. Versuche, die Aufsätze systematisch zu bündeln, stießen immer wieder an Grenzen thematischer Überschneidungen – und es stand zu befürchten, dass das Interesse eines Benutzers dieses Bandes durch Themengruppen unzutreffend gelenkt werden könnte. Es erschien mir sinnvoller, die Titel der einzelnen Beiträge für sich sprechen zu lassen. Die Aachener Tagung war überschattet vom frühen Tod meines geschätzten neugermanistischen Kollegen und Freundes Axel Gellhaus, der die Tagung nach Aachen geholt hatte. Seiner wurde bei der Eröffnung gedacht – und ich möchte ihm auch hier als Wissenschaftler und Freund meinen und unser aller Dank für seine wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeiten aussprechen. Gedankt werden muss auch für finanzielle und logistische Unterstützung: – der Deutschen Forschungsgemeinschaft – der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition – dem Rektorat der RWTH Aachen University – dem Dekanat der Philosophischen Fakultät – dem Verlag Peter Lang – dem Erich Schmidt-Verlag – dem Reclam-Verlag – dem Verlag W. de Gruyter Ohne die tatkräftige Unterstützung meiner Mitarbeiter/innen Jens Burkert, Dörte Meeßen und Judith Neugebauer sowie Stephanie Jordans und unserer Sekretärin Tanja Daniels hätte die Tagung nicht so reibungslos ablaufen können. Meinen herzlichen Dank dafür! An der oft genug komplizierten redaktionellen Aufbereitung der Beiträge für den Druck war zunächst Judith Neugebauer intensiv beteiligt. Sie übergab die Arbeiten an Dörte Meeßen, die bis zuletzt an der Herstellung der Druckvorlagen mit Eifer und Sachverstand mitgewirkt hat. An beide Mitarbeiterinnen meinen tiefen Dank! Schließlich ist auch dem Verlag W. de Gruyter für Hilfen bei der Drucklegung zu danken. Aachen, im Juli 2015
Thomas Bein
Inhalt*
Martin Albrecht-Hohmaier, Christine Siegert Eine codierte Opernedition als Angebot für Wissenschaft, Lehre und Musikpraxis. Überlegungen am Beispiel von Giuseppe Sarti (1729–1802) ......... 1 Claudia Bamberg „Schreiben Sie mir ja über alles“. Wozu eine digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels? ............ 19 Jens Burkert Sehnsucht nach falschen Freuden? Walthers von der Vogelweide Lied L 41,13ff. als Beispiel für den Nutzen der jüngsten Auflage der Lachmann-Ausgabe ........................................ 27 Markus Ender Zum Mehrwert der kommentierten Online-Edition des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers ................................................................ 35 Eberhard W. Güting Druckausgaben und Onlineeditionen des NT Graece vor neuen Herausforderungen .......................................................................................... 47 Debora Helmer „Schlecht ist schlecht und es muß gesagt werden“. Zur Bedeutung des Kommentars in Studienausgaben am Beispiel von Theodor Fontanes Theaterkritiken ...................................................................... 59 Katrin Henzel Zur Praxis der Handschriftenbeschreibung. Am Beispiel des Modells der historisch-kritischen Edition von Goethes Faust ................................................. 75 Margret Jestremski Schon alles gesagt über Richard Wagner? Vom Nutzen der kritischen Edition seiner Briefe und Schriften ............................... 97 Stephanie Jordans Arbeit am Textverstehen. Vom Nutzen der Ernst Meister-Werkausgabe in der akademischen Lehre ...................................................................................... 107 –––––––— *
Die einzelnen Beiträge sind nach den Verfassern alphabetisch angeordnet.
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Inhalt
Helmut W. Klug, Karin Kranich Das Edieren von handschriftlichen Kochrezepttexten am Weg ins digitale Zeitalter. Zur Neuedition des Tegernseer Wirtschaftsbuches ..................... 121 Katharina Krüger Wolfgang Koeppens Textwerkstatt als editorische Herausforderung. Zur Edition von Wolfgang Koeppens Jugend .......................................................... 139 Judith Lange, Claudia Schumacher Vom Nutzen der Editionen: Ein Aufriss der Editionsgeschichte anhand der Sammlung Des Minnesangs Frühling ................................................... 145 Aletta Leipold, Sylwia Kösser, André Gießler, Hans-Joachim Solms Zwischen Online-Korpus und Buch. Die Hybridedition der Wundarznei des Heinrich von Pfalzpaint ..................................................................................... 167 Ulrike Leuschner Rezensionen edieren. Aus der Arbeit der Forschungsstelle Johann Heinrich Merck ............................................................................................ 185 Valerie Lukassen Text und Musik bei Oswald von Wolkenstein. Vom Nutzen einer interdisziplinären Edition spätmittelalterlicher Lieder .............. 199 Dörte Meeßen Hochschuldidaktische Perspektiven auf den Einsatz von Fassungseditionen in Bachelorstudiengängen ......................................................... 213 Rüdiger Nutt-Kofoth Wie werden neugermanistische (historisch-)kritische Editionen für die literaturwissenschaftliche Interpretation genutzt? Versuch einer Annäherung aufgrund einer Auswertung germanistischer Periodika ...................... 233 Esbjörn Nyström Nur ein Teil eines Ganzen? Kleiner Denkanstoß zur libretto-, drehbuchund drameneditorischen Debatte ............................................................................. 247 Bodo Plachta Editionsreihen – Konzepte und Ziele einer Editionsform des 19. Jahrhunderts ................................................................................................. 259
Inhalt
IX
Ute Poetzsch Zu welchem Nutzen werden Werke Telemanns ediert? .......................................... 267 Gabriele Radecke, Heike Neuroth, Martin de la Iglesia, Mathias Göbel Vom Nutzen digitaler Editionen. Die Genetisch-kritische Hybrid-Edition von Theodor Fontanes Notizbüchern erstellt mit der Virtuellen Forschungsumgebung TextGrid ............................................................. 277 Federica Rovelli Skizzeneditionen zu Beethoven. Nutzen und Aufgaben im wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick ........................ 297 Michael Schäfer Franz Kafkas Process-Konvolute als autoreflexiver Schreib-Prozess. Ein Promotionsprojekt basierend auf dem Studium der historisch-kritischen Faksimile-Ausgabe (FKA) ..................................................... 311 Simone Schultz-Balluff Kreatives Schreiben im Mittelalter – editorische Herausforderung heute. Zum Umgang mit Varianten im Editionsprozess am Beispiel von St. Anselmi Fragen an Maria ............................................................................ 317 Jakub Šimek Archiv, Prisma und Touchscreen. Zur Methode und Dienlichkeit einer neuen Text-Bild-Edition des Welschen Gastes ........................................................ 335 Gerd-Hermann Susen Quellenkritik und Quellenstudium. Der Nutzen von Brief-Editionen oder: Von den Mühen der Ebene ......................... 367 Herbert Wender Vom potentiellen Nutzen des Quelltexts digital distribuierter Editionen .................................................................................................................. 381 Gabriele Wix „Am Abend, wenn“. Georg Trakl. Vom Nutzen konkurrierender Editionen: Salzburger und Innsbrucker Trakl-Ausgabe ..................................................................................... 397 Winfried Woesler Deutsch-chinesisch: Zweisprachige Editionen von Studierenden ........................... 413
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Inhalt
Roundtable: Normalisierung und Modernisierung der historischen Graphie Mit Beiträgen von: Thomas Bein (Aachen), Kurt Gärtner (Trier), Andrea Hofmeister-Winter (Graz), Ulrike Leuschner (Darmstadt), Wolfgang Lukas (Wuppertal), Hans-Gert Roloff (Berlin), Claudia Schumacher (Aachen), Winfried Woesler (Osnabrück, Koordinator) ........................................................... 419
Martin Albrecht-Hohmaier, Christine Siegert
Eine codierte Opernedition als Angebot für Wissenschaft, Lehre und Musikpraxis Überlegungen am Beispiel von Giuseppe Sarti (1729–1802)
Dass die Art der Edition von ihrem Gegenstand abhängig ist, sollte eine Selbstverständlichkeit sein,1 kann jedoch nicht immer vorausgesetzt werden, war doch die Musikedition lange Zeit von der Denkmalsidee des 19. Jahrhunderts durchdrungen.2 Namentlich für italienische Opern des späten 18. Jahrhunderts ist das Problem virulent. Sie stellen den Editor bzw. die Editorin vor ganz besondere Herausforderungen.
Gattungscharakteristika der italienischen Oper des späten 18. Jahrhunderts Italienische Opern des 18. Jahrhunderts waren bekanntlich keine Werke mit einem unveränderlichen Notentext im Sinne eines Opus perfectum et absolutum, sondern sie wurden an die jeweiligen Aufführungsbedingungen angepasst. Diese Anpassungen konnten in kleineren Änderungen bestehen wie Transpositionen, der Modifikation einzelner Passagen oder der Instrumentation. Möglich waren aber auch größere Eingriffe wie die Streichung, Hinzufügung oder das Ersetzen ganzer Nummern oder sogar ganzer Partien.3 ––––––––
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Entsprechend plädiert Roland S. Kamzelak dafür, „vom Inhalt ausgehend, die passende Publikationsart [zu] wählen“; Roland S. Kamzelak: Edition und EDV. Neue Editionspraxis durch Hypertext-Editionen. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 65–80, hier S. 72. Vgl. Anselm Gerhard: Für den „Butterladen“, die Gelehrten oder „das practische Leben“? Denkmalsidee und Gesamtausgaben in der Musikgeschichte vor 1850. In: Die Musikforschung 57, 2004, S. 363–382. Die Bearbeitungspraxis wurde in jüngerer Zeit eingehend untersucht. Vgl. u. a. A. Peter Brown: Tommaso Traetta and the genesis of a Haydn aria (Hob. XXIVb:10). In: Chigiana. Rassegna annuale di studi musicologici 36, nuova serie 16, 1984, S. 101–142; Kay M. Lipton: The „opere buffe“ of Pietro Alessandro Guglielmi in Vienna and Eszterháza. Contributions to the Development of „opera buffa“ between 1768 and 1793. Ph. D. diss., University of California. Los Angeles 1995; Christine Siegert: Die Fassungen der Arie „Dove mai s’è ritrovata“ aus Pasquale Anfossis Oper I viaggiatori felici. In: HaydnStudien 9, 2006, S. 107–136; Bearbeitungspraxis in der Oper des späten 18. Jahrhunderts. Bericht über die Internationale wissenschaftliche Tagung vom 18. bis 20. Februar 2005 in Würzburg. In Verbindung mit Armin Raab und Christine Siegert hg. von Ulrich Konrad. Tutzing 2007 (Würzburger musikhistorische Beiträge. 27); Michele Calella: La buona figliuola für die Teatri Privilegiati. Anmerkungen zur frühen Rezeption der Opera buffa in Wien. In: Wiener Musikgeschichte. Annäherungen – Analysen – Ausblicke. Festschrift für Hartmut Krones. Hg. von Julia Bungardt, Maria Helfgott, Eike Rathgeber und Nikolaus Urbanek. Wien u. a. 2009, S. 149–170; Michele Calella: Goldoni, Gassmann e l’opera buffa a Vienna. In: Problemi di critica goldoniana 14, 2009, S. 289–306; Martina Grempler: Ensemblebearbeitungen in der Opera buffa an den Wiener Theatern der 1760er Jahre. In: Die Musikforschung 65, 2012,
Martin Albrecht-Hohmaier, Christine Siegert
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Solche Änderungen galten nicht als Notbehelf, sondern waren ganz selbstverständlich; die Komponisten beteiligten sich aktiv daran. Wolfgang Amadeus Mozart nahm im Fall des Don Giovanni, der 1787 in Prag uraufgeführt worden war, für die Erstaufführung 1788 in Wien verschiedene Umarbeitungen vor: Er komponierte eine neue Tenor-Arie, „Dalla sua pace“, für den ersten Akt, arbeitete die Szenen IX bis XI des zweiten Akts mit dem neuen Duett „Per queste tue manine“ sowie der neuen Arie „Mi tradì quell’alma ingrata“ großflächig um und schrieb einen neuen Übergang innerhalb der Scena ultima.4 Auch für die Wiederaufnahme 1789 von Le nozze di Figaro (uraufgeführt 1786) komponierte Mozart zwei neue Nummern für die Rolle der Susanna: die Arietta „Un moto di gioia“ und das Rondo „Al desio di chi t’adora“.5 Nicht zuletzt steuerte er zahlreiche Einlagarien zu Opern anderer Komponisten bei.6 Solche Veränderungen der Bühnenwerke waren konzeptionell mitgedacht. Das singuläre Werk, das der Intention des Autors am nächsten kommt, existiert in der Opera buffa des 18. Jahrhunderts nicht. Einer der erfolgreichsten Opernkomponisten des späten 18. Jahrhunderts war Giuseppe Sarti. Geboren 1729 in Faenza, war er lange Zeit am Königshof in Kopenhagen ––––––––
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S. 127–145; Christine Siegert: „… auf unser Personale (zu Esterház in Ungarn) gebunden“. Bemerkungen zu Joseph Haydns Opernbearbeitungen am Beispiel von Pasquale Anfossis La finta giardiniera. In: Musik und kulturelle Identität. Bericht über den XIII. Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung Weimar 2004. Hg. von Detlef Altenburg und Rainer Bayreuther. Kassel 2012, Bd. 3, S. 150–156; Michele Calella: Migration, Transfer und Gattungswandel. Einige Überlegungen zur Oper des 18. Jahrhunderts. In: Migration und Identität. Wanderbewebungen und Kulturkontakte in der Musikgeschichte. Hg. von Sabine Ehrmann-Herfort und Silke Leopold. Kassel 2013 (Analecta Musicologica. 49), S. 171–181; Martina Grempler: Unter den Augen Metastasios. Zur Bearbeitungspraxis in der Oper am Beispiel der Opera buffa in Wien um 1770. In: Die Tonkunst 8, 2014, S. 197–204. Wolfgang Amadeus Mozart: Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni. Hg. von Wolfgang Plath und Wolfgang Rehm. Zweite, durchgesehene Auflage. Kassel u. a. 1987 (Neue Ausgabe Sämtlicher Werke. Serie II: Bühnenwerke, Werkgruppe 5, Bd. 17), S. 489–526. Online zugänglich unter http://www.mozarteum.at/wissenschaft/digitale-mozart-edition/neue-mozart-ausgabe.html (16. August 2014). Wolfgang Amadeus Mozart: Le nozze di Figaro. Hg. von Ludwig Finscher. Kassel 1973 (Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Serie II: Bühnenwerke, Werkgruppe 5, Bd. 16), S. 597–617. Online zugänglich unter http://www.mozarteum.at/wissenschaft/digitale-mozart-edition/neue-mozart-ausgabe.html (16. August 2014). Wolfgang Amadeus Mozart: Arien, Szenen, Ensembles und Chöre mit Orchester. Bd. 1–4. Hg. von Stefan Kunze. Kassel 1967, 1968, 1971, 1972 (Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Serie II: Bühnenwerke, Werkgruppe 7, Bd. 1–4). Online zugänglich unter http://www.mozarteum.at/wissenschaft/digitalemozart-edition/neue-mozart-ausgabe.html (24. August 2014). Vgl. u. a. Rudolph Angermüller: Anfossi und Mozart. Die Arien KV 418 und KV 420 in der Vertonung von Anfossi und Mozart. In: Wiener Figaro 51, 1985, S. 1–9; Rudolph Angermüller: Die Wiener Fassung von Pasquale Anfossis Il curioso indiscreto. In: I vicini di Mozart. Bd. 1: Il teatro musicale tra Sette e Ottocento. Hg. von Maria Teresa Muraro. Florenz 1989, S. 35–98; Federico Pirani: Il curioso indiscreto. Un’opera buffa tra Roma e la Vienna di Mozart. In: Mozart. Gli orientamenti della critica moderna. Atti del convegno internazionale Cremona, 24–26 novembre 1991. Hg. von Giacomo Fornari. Lucca 1994, S. 47–67; Federico Pirani: I due baroni di rocca azzurra. Un intermezzo romano nella Vienna di Mozart, In: Mozart e i musicisti italiani del suo tempo. Atti del convegno internazionale di studi Roma, 21–22 ottobre 1991. Hg. von Annalisa Bini. Lucca 1994, S. 89–112; Rudolph Angermüller: Le gelosie fortunate oder: Anfossi, Mozart, andere und Salieri oder: Eine Primärquelle zu Mozarts Arietta „Un bacio di mano“ KV 541. In: Musica conservata. Günter Brosche zum 60. Geburtstag. Hg. von Josef Gmeiner, Zsigmond Kokits, Thomas Leibnitz und Inge Pechotsch-Feichtinger. Tutzing 1999, S. 19–33.
Eine codierte Opernedition als Angebot für Wissenschaft, Lehre und Musikpraxis
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tätig. 1784 ging er nach Russland an den Zarenhof Katharinas der Großen. Sarti komponierte zahlreiche Opern, darunter auch Werke auf Dänisch, Französisch und Russisch.7 Heute ist er weitgehend vergessen, und doch ist ein kleiner Ausschnitt aus Sartis Schaffen Musikliebhabern allgemein bekannt, denn Mozart zitierte die Arie „Come un agnello“ aus Sartis Oper Fra i due litiganti il terzo gode im zweiten Finale seines Don Giovanni.8
Zur Überlieferung von Sartis Opera buffa Fra i due litiganti il terzo gode (Mailand 1782) Bei Fra i due litiganti il terzo gode handelt es sich um eine der beliebtesten Opere buffe des Komponisten wie des späten 18. Jahrhunderts allgemein. Das Stück wurde am 14. September 1782 am Teatro alla Scala in Mailand uraufgeführt und kam in den darauffolgenden Jahren an zahlreichen Opernhäusern in ganz Europa auf die Bühne. Das Libretto basiert auf Carlo Goldonis Dramma giocoso Le nozze;9 der Bearbeiter ist unbekannt. Als Folge der weiten Verbreitung sind zahlreiche Fassungen10 in Partituren und/ oder Libretti dokumentiert, darunter Übersetzungen ins Französische, Deutsche, Dänische und Polnische. Auffälligerweise lassen sich auch innerhalb derselben Sprache differierende Werktitel nachweisen: I pretendenti delusi;11 I rivali delusi bzw. The disappointed rivals;12 Le nozze di Dorina ovvero I tre pretendenti bzw. Le mariage de ––––––––
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Vgl. Roland Pfeiffer: Sarti, Giuseppe. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 2., neubearbeitete Ausgabe. Hg. von Ludwig Finscher. Personenteil, Bd. 14. Kassel, Stuttgart u. a. 2005, Sp. 977–987, hier Sp. 980–982. Mozart 1987 (Anm. 4), S. 403–405. Vgl. Richard Armbruster: Das Opernzitat bei Mozart. Kassel 2001 (Schriftenreihe der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg. 13), S. 97–104. Goldoni schrieb den Text für Baldassare Galuppi; die Oper wurde 1755 uraufgeführt: „Le NOZZE / Dramma Giocoso per Musica / DI POLISSENO FEGEJO / P. ARCADE / DA RAPPRESENTARSI / NEL TEATRO / FORMAGLIARI / L’ Autunno dell’ Anno MDCCLV. / DEDICATO ALLE NOBILISSIME / DAME, E CAVALIERI / DI BOLOGNA / In Bologna per il Sassi Successore del Benucci. / Con licenza de’ Superiori.“ (Exemplar: Museo internazionale e biblioteca della musica di Bologna, Lo. 1870. Online zugänglich unter http://www.bibliotecamusica.it/cmbm/scripts/gaspari/src_aut.asp; 24. August 2014.) Vgl. auch http://www.carlogoldoni.it/carlogoldoni/libretti/nozze-0.jsp (17. August 2014). Ob der Textbearbeiter auf das Libretto der Uraufführung oder eine bereits modifizierte Fassung zurückgriff, wäre zu untersuchen. Unter „Fassung“ wird im vorliegenden Beitrag ein zumindest für kurze Zeit weitgehend stabiler (Noten-)Text verstanden, der zumeist aus einem Bearbeitungsprozess hervorgegangen und mindestens durch eine Quelle oder eine abgrenzbare Textschicht innerhalb einer Quelle dokumentiert ist. Die traditionelle Unterscheidung zwischen einer vom Autor selbst erstellten (Neu-)Fassung und einer von einem Zweiten erstellten Bearbeitung erscheint für die italienische Oper des 18. Jahrhunderts aufgrund der skizzierten Gattungscharakteristika nicht adäquat. „I PRETENDENTI / DELUSI / DRAMMA GIOCOSO PER MUSICA / DA RAPPRESENTARSI / NEL NOBILE TEATRO / Dell’ Eccellma Casa / GIUSTINIANI / IN S. MOISE’ / L’Autunno 1782. / [Vignette] / IN VENEZIA / Con Licenza de’ Superiori.“ (Exemplar: Biblioteca Nazionale Braidense Mailand, Racc. Dramm. Corniani Algarotti 4665. Online zugänglich unter http://www.braidense.it /cataloghi/catalogo_rd.php; 24. August 2014.) „I RIVALI DELUSI; / THE / DISAPPOINTED RIVALS. / A COMIC OPERA. / As Performed at the / KING’S THEATRE, / HAY-MARKET. / THE / MUSIC ENTIRELY NEW, / BY / SIGNOR SARTI, / Under the Direction of / SIGNOR ANFOSSI. / LONDON. / Printed by H. REYNELL, No. 21, Piccadil-
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Dorine ou Les trois prétendans;13 Hélène et Francisque;14 Im Trüben ist gut fischen;15 Unter zwey Streitenden zieht der dritte den Nutzen16 u. a. Insgesamt lassen sich über 90 Produktionen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nachweisen;17 ca. 40 Partituren sind überliefert.18 Als Werkzeug im Umgang mit der umfangreichen Überlieferung – die Quellensammlung ist inzwischen auf 20 als Digitalisat vorliegende Partiturabschriften (im Einzelfall mit zugehörigem Aufführungsmaterial) angewachsen – arbeitet die Forschungsstelle des Sarti-Projekts mit synoptischen Darstellungen, in denen Differenzen farblich unterlegt bzw. in der Abbildung auf S. 8ff. unterschiedlich hervorgehoben werden. Folgende Quellen konnten bislang berücksichtigt werden:
Berlin / Be1 „Im Trüben ist gut fischen / oder / Wenn sich zweÿ Zanken / Freut sich der Dritte / Ein Singspiel in dreÿ Aufzügen / Von H: Sarti“ (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Mus. ms. 19493) Berlin / Be2: „Von zwey Streitenden erhällt der Dritte den Sieg; oder: / Im Trüben ist gut fischen. / Operette / in dreÿ Aufzügen, / mit Beÿbehaltung der Musik von Herrn / Joseph Sarti, aus dem Italienischen / fertig bearbeitet, von / Johann André.“ (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Mus. ms. 19493/1) Bologna / Bo: „Fra li Due Litiganti / Il Terzo gode / Mas:o Sarti“ (Museo internazionale e biblioteca della musica di Bologna, KK 075)
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ly, / near the Hay-market. / M,DCC,LXXXIV.“ (Online zugänglich unter http://stabikat.de//DB=1/LNG=DU/CLK?IKT=12&TRM=552154016.) „LE / NOZZE DI DORINA, / OVVERO / I TRE PRETENDENTI, / DRAMMA GIOCOSO PER MUSICA, / da rappresentarsi / nel teatro di MONSIEUR. / LE / MARIAGE DE DORINE, / OU / LES TROIS PRÉTENDANS, / OPÉRA BOUFFON EN TROIS ACTES, / représenté pour la première fois en septembre 1789, / sur le théatre de MONSIEUR. / Prix 30 sous. / A PARIS, / DE L’IMPRIMERIE DE MONSIEUR. / M. DCC. LXXXIX.“ (Exemplar: Bibliothèque de la Ville Lyon, 359160. Online zugänglich unter http://books.google.de; 24. August 2014.) „HÉLÈNE / ET / FRANCISQUE. / OPÉRA COMIQUE / EN QUATRE ACTES. / MUSIQUE DEL SGRE. SARTI. / A HAMBOURG, / IMPRINÉ [sic] CHEZ P. F. FAUCHE. / 1795.“ (Exemplar: Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, Mus. T 30. Online zugänglich unter http://digital.staatsbibliothekberlin.de; 25. August 2014). „Im Trüben / ist gut fischen. / Ein Singspiel / in drey Aufzügen. / Nach dem Italiänischen frey bearbeitet / von / Johann Andre. / Die Musik ist vom Herrn Joseph Sarti. / [Vignette] / Köln am Rhein. / Gedruckt und verlegt von Joh. Godschalk Langen, / Fortsetzer der Pützischen Buchhandlung. 1786.“ (Exemplar: Österreichische Nationalbibliothek, 2463-A. Online zugänglich unter http://www.onb.ac.at/bibliothek/digitaler_lesesaal.htm; 24. August 2014.) „Unter / zwey Streitenden / zieht der / dritte den Nutzen. / Ein Singspiel / in drey Aufzügen. / Aufgeführt auf dem hochfürstlichen Hoftheater / in Salzburg. / [Vignette] / Salzburg, / gedruckt in der hochfürstl. akadem. Waisenhaus= / buchdruckerey. / 1787.“ (Exemplar: Bayerische Staatsbibliothek München, Slg. Her 1810. Online zugänglich unter http://www.digitale-sammlungen.de; 24. August 2014.) Vgl. die Übersicht bei Christine Siegert: „Evvivano i litiganti!“ – Intertextualität und Internationalität als Herausforderungen für die Opernedition. In: Weltliteratur. Komparatistische Perspektiven der Editionswissenschaft. Hg. von Gesa Dane. Berlin. Druck in Vorbereitung. Vgl. Roland Pfeiffer: Die Opere buffe von Giuseppe Sarti (1729–1802). Kassel 2007 (Kölner Beiträge zur Musikwissenschaft. 4), S. 47–58.
Eine codierte Opernedition als Angebot für Wissenschaft, Lehre und Musikpraxis
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Boston / DR_Bs: „LES NOCES DE DORINE / OU / HELENE et FRANCI[S]QUE / Opera en Quatre Actes / Musique Par / M. SARTI. / Parolles de Mr*** / Réprésente [sic] au théatre de Monsieur / Prix [handschriftlich: 30 Livres] / A. PAPIS [sic] / [aufgeklebt: au mont d’or N°. 200 de la section des Gardes / Françaises, entre la rue des Poulies et la maison d’Aligre.]“, Partiturdruck Edition Sieber, Plattennummer 1161 (Exemplar: Boston Public Library, M. 274.15)19 Budapest / Bu: „Fra Li Due Littiganti / il Terzo Gode / Dramma giocoso / Musica / Del Sig:re Giuseppe Sarti. / Wienn. zu haben beÿ Wenzel Sukowaty Copist in k. k. Nazional Theater“, Partitur und Stimmenmaterial (Széchenyi Nationalbibliothek Budapest, Ms. Mus. OE-4)20 Dresden 1 / Dd1: „Fra i / due Litiganti / il / Terzo gode / Del / Sig.e Maestro Giuseppe Sarti.“ (Dresden, Sächsische Landesbibliothek, Staats- und Universitätsbibliothek, Mus. 3273-F-503)21 Dresden 2 /Dd2: „FRA I / DUE LITIGANTI / IL TERZO GODE. / La Musica è del Sig.r Giuseppe Sarti, / Maestro di Cappella della Metropolitana / di Milano“ (Dresden, Sächsische Landesbibliothek, Staats- und Universitätsbibliothek, Mus. 3273-F-6)22 Frankfurt / Ff: „Wer das Glück hat, führt die Braut heim, / oder / Im Trüben ist gut fischen / Ein Singspiel in dreÿ Aufzügen / Nach dem Italiänischen / Die Musik ist von Kapellmeister / Jos[e]ph Sarti“ (Frankfurt, Stadt- und Universitätsbibliothek, Mus Hs Opern 505)23 München / Mu: „Fra i due litiganti, / il terzo gode. / Musica del Sig: r Giuseppe Sarti.“ (München, Bayerische Staatsbibliothek, Musikabteilung, St.th. 107-1) Neapel / Na: „Teatro Nuovo 1798 / Dorina contrastata o Tra due litiganti / il terzo gode / Dramma in 3 atti / musica / Del Sig.r D. Giuseppe Sarti / Atto Primo“ (Neapel, Biblioteca del Conservatorio San Pietro a Majella, 31.3.19– 20) Paris 1 / Ps1: „Fra li due litiganti il terzo gode / musica / Del Sig.r D. Giuseppe Sarti / Atto Primo“ (Paris, Bibliothèque Nationale de France, MS 10987)24 ––––––––
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Ein Exemplar mit der originalen Anschrift „Chez le Sr Sieber Musicien rue St honore entre celles des / Vielles Etave et celle D’orleans chez l’Apothicaire N. 92.“ (Preis: 24 Livres) in der Bibliothèque Nationale de France, D. 13852. Vgl. auch Répertoire International des Sources Musicales. Serie A I: Einzeldrucke vor 1800. Bd. 7. Hg. von Karlheinz Schlager. Kassel 1978, S. 341; Bd. 14. Hg. von Gertraut Haberkamp. Kassel 1999, S. 27. Vgl. Dénes Bartha, László Somfai: Haydn als Opernkapellmeister. Die Haydn-Dokumente der Esterházy-Opernsammlung. Budapest 1960, S. 277–279. Vgl. Ortrun Landmann: Die Dresdener italienische Oper zwischen Hasse und Weber. Ein Daten- und Quellenverzeichnis für die Jahre 1765–1817. Dresden 1976 (Studien und Materialien zur Musikgeschichte Dresdens. 2), S. 64f. Vgl. Landmann 1976 (Anm. 21), S. 64f. Vgl. Robert Didion, Joachim Schlichte: Thematischer Katalog der Opernsammlung in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt/M. (Signaturengruppe Mus Hs Opern). Frankfurt/M. 1990 (Kataloge der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt/M.. 9), S. 250. Vgl. Sylvie Mamy: L’œuvre de Giuseppe Sarti conservée à Paris. In: Revue de Musicologie 73, 1987, H. 1, S. 107–112, hier S. 109.
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Synopse (Ausschnitt) der Oper Fra i due litiganti il terzo gode von Giuseppe Sarti (ausgewählte Quellen, nur die ersten sechs Nummern der Oper) Dd1/Mus. 3273F-503 „Fra i due Litiganti il Terzo Gode“
Pa/SL. 337–338 „Fra i Due Litiganti il Terzo Gode“
Ps1/MS 10987 „Fra li due litiganti il terzo gode“
Bo/KK075 „Fra li Due Litiganti Il Terzo gode“
Wf/46 Alt 5 „I Pretendenti delusi“ [innen:] „Fra li due Litiganti il Terzo gode“
Sinfonia [C-Dur], 4/4, Allegro assai, 154 Takte
[Sinfonia C-Dur], 4/4, Allegro assai, 153 Takte
[Sinfonia D-Dur], 4/4, Allegro 219 Takte
Introduzione „La voglio così“ 3/8, B-Dur, Allegro 162 Takte
Introduzione „La voglio così“ 3/8, B-Dur, Allegro 162 Takte
Introduzione „La voglio così“ 3/8, B-Dur, All.o 162 Takte
Sinfonia [D-Dur], 4/4, Allegro Spiritoso 227 Takte Introduzione „La voglio così“ 3/8, B-Dur, Allegro 162 Takte
Sinfonia [D-Dur], 4/4, All.o spiritoso 227 Takte Introduzione „La voglio così“ 3/8, B-Dur, All.o moderato 162 Takte
1. Akt 1. Szene [Recit.] „In somma miei Signori“ 49 Takte Aria Conte „Vò soffrire a un certo segno“ 4/4, C-Dur, Allegro Spiritoso 98 Takte
[1. Akt 1. Szene Recit.] „In somma miei Signori“ 48 Takte Aria Conte „Vo soffrire a un certo segno“ 4/4, C-Dur, Allegro Spiritoso 98 Takte
[1. Akt] 1. Szene [Recit.] „In somma miei Signori“ 48 Takte Aria Conte „Vo soffrire a un certo segno“ 4/4, C-Dur, All.o spiritoso 98 Takte
[1. Akt] 1. Szene [Recit.] „In somma miei Signori“ 48 Takte Aria Conte „Vo soffrire a un certo segno“ 4/4, C-Dur, Allegro Spiritoso 98 Takte
[1. Akt] 1. Szene [Recit.] „In somma miei Signori“ 48 Takte Aria Conte „Vo soffrire a un certo segno“ 4/4, C-Dur, All.o Spiritoso 98 Takte
2. Szene [Recit.] „Udiste?“ 47 Takte Cavatina Contessa „Quel furbo d’amore“ [Gaetano Marinelli] 2/4, C-Dur, Andante 61 Takte, S. 85– 93 Aria Contessa „Ah dove è andato“ 3/8, F-Dur, Allegretto 133 Takte, S. 84, 99–108 Auszug S. 95–98 Es-Dur, 132 Takte
2. Szene [Recit.] „Udiste?“ 47 Takte Cavatina Contessa „Quel furbo d’amore“ 2/4, C-Dur, Andante 60 Takte
2. Szene [Recit.] „Udiste“ 46 Takte Aria Contessa „Ah dove è andato“ 3/8, F-Dur, All.o 132 Takte
2. Szene [Recit.] „Udiste“ 46 Takte Aria Contessa „Ah dove è andato“ 3/8, F-Dur, Allegro 132 Takte
2. Szene [Recit.] „Udiste“ 46 Takte Aria Contessa „Ah dove è andato“ 3/8, F-Dur, Allegro 132 Takte
Eine codierte Opernedition als Angebot für Wissenschaft, Lehre und Musikpraxis
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Synopse (Ausschnitt) der Oper Fra i due litiganti il terzo gode von Giuseppe Sarti (ausgewählte Quellen, nur die ersten sechs Nummern der Oper) (Forts.) Sn/Mus. 4763 „I Prettendenti Delusi Ovvero Fra li Due Littiganti il Terzo Gode“
Na/31.3.19–20 „Dorina contrastata o. Fra due litiganti il terzo gode“
Wn1/17888/1+2 „Fra i due Littiganti Il Terzo Gode“
Be1/Mus. ms. 19493 „Im Trüben ist gut fischen oder Wenn sich zwey Zanken Freut sich der Dritte“
DR_Bs/Edition Sieber, Pl.nr: 1161 „Les Noces de Dorine ou HELENE et FRANCI[S]QUE“
Sinfonia [D-Dur] 4/4, All.o spiritoso 227 Takte
[Sinfonia D-Dur] 4/4, All.o spiritoso 170 Takte
[Sinfonia D-Dur] 4/4, All.o assai 135 Takte
[Sinfonia D-Dur] 4/4, All.o assai 136 Takte
OUVERTURE [D-Dur] 4/4, Allegro assai 136 Takte
Introduzione „La voglio così“ 3/8, B-Dur, Allegro 162 Takte
[Introduzione] „La voglio così“ 3/8, B-Dur, All.o 162 Takte
No. 1 Quartetto Introduzione. „La voglio così“ 3/8, B-Dur, Allegro 162 Takte
1. Akt 1. Szene „C’est ma volonté“ 3/8, B-Dur, Allegro 162 Takte
1. Akt 1. Szene „In somma miei signori“ 49 Takte Aria Conte „Vo soffrire a un certo segno“ 4/4, C-Dur, All.o spiritoso 98 Takte
1. Akt 1. Szene [Recit.] „In somma miei Signori“ 48 Takte Aria Il Conte „Vo soffrire a un certo segno“ 4/4, C-Dur, All.o Spiritoso 83 Takte 2. Szene [Recit.] „Udiste?“ 49 Takte Aria Livietta „Io voglio uno sposino“ 4/4, C-Dur, All.o mod.o 111 Takte
Nr. 2 [Aria] „Den Wetterfahnen gleichen sie“ 4/4, Es-Dur, Allegro Spiritoso 137 Takte [Dialog]
Ariette Le Baron „Oui d’une Femmelette“ 4/4, Es-Dur, Allegro Brillante 137 Takte
2. Szene [Recit.] „Udiste?“ 47 Takte Aria Contessa „Ah dove è andato“ 3/8, F-Dur, Allegretto 132 Takte
1. Akt 1. Szene [Recit.] „In somma miei Signori“ 54 Takte Aria Conte „La donna è sempre instabile“ [Antonio Salieri] 4/4, Es-Dur, All.o Spiritoso 137 Takte 2. Szene [Recit.] „Udiste“ 31 Takte 3. Aria Contessa „Vorrei punirti“ 4/4, B-Dur, Maestoso 101 Takte
No. 1 Introduzione „Ich will es nun so“ 3/8, B-Dur, Allegro 162 Takte [Dialog]
Nr. 3 [Aria Contessa] „Mich martern Lieb und Rache!“ 4/4, B-Dur, Maestoso 101 Takte
[Dialog] „Monsieur et Madame“
[Dialog] „Oh! ce n’est point par caprice“ [Dialog]
Paris 2 / Ps2: „Fra Li due Littiganti il Terzo Gode / Dramma Giocoso. / Musica / Del Sig:re Giuseppe Sarti. / Rappresentata in Milano. / Nel Teatro Grande della Scala L’autunno / dell’anno 1782.“ (Paris, Bibliothèque Nationale de France, Vm4 538) Paris 3 / Ps3: „Fra li due Litiganti il Terzo gode / Dramma giocoso / Musica / Del Sig:re Giuseppe Sarti / Rappresentata nel Teatro Imperiale a Vienna. / Wienn zu finden beÿ Wenzel Sukowatÿ Hoftheatral Copist. / am Peters Plaz in
Martin Albrecht-Hohmaier, Christine Siegert
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Mazischen Hauß N:° 554. im Hof in dritten Stock.“ (Paris, Bibliothèque Nationale de France, Vm4 539) Parma / Pa: „Fra i / due Litiganti / il / Terzo Gode / Dal / Sig.re Giuseppe Sarti.“ (Parma, Conservatorio di Musica Arrigo Boito, SL. 337–338) Petersburg / Pb: – (Bibliothek des Marinskij Theaters Sankt Petersburg, No. 467) Regensburg / Rb: „I Pretendenti Delusi ovvero Fra li due Littiganti Il Terzo Gode“, Partitur und Stimmenmaterial (Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek und Zentralbibliothek Regensburg, Sarti 5/I)25 Schwerin / Sn: „I Prettendenti Delusi / Ovvero / Fra li Due Littiganti il Terzo Gode / Opera Buffa in trè Atti / Composta / Dal Sig.or Giuseppe Sarti.“ (Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern, Musikaliensammlung, Mus. 4763)26 Wien 2 / Wn 2: „Fra Li due Littiganti Il Terzo Gode / Dramma Giocoso / Musica / Del Signor Giuseppe Sarti / Rappresentata in Milano / Nel Teatro Grande della Scala / L’autunno / Dell anno 1782“ (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, A-Wn KT 357) Wien 1 / Wn 1: „Fra i due Littiganti Il Terzo Godè / Opera Buffa / Dramma Giocoso per Musica / In Tre Atti / Atto Primo / Del Signore Giuseppe Sarti“ (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Mus. Hs. 17888) Wolfenbüttel / Wf: „Fra li Due Litiganti / il Terso [sic] gode / Dramma Giocosa [sic] / Musica / Del Sig.re Giu[se]ppe Sarti / Rappr[es]entata / In Venezia 1782 / Si capia [sic] In Venezia al Negozio Del Sig:e Carlo Carpanin / In Campo a S: Stefano, copista atuale del Teatro di S: Samuele“ (Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 46 Alt 5)
Die Synopse ermöglicht es insbesondere, auf einen Blick Unterschiede in der Abfolge der Gesangsnummern und Rezitative zu erfassen. Ist der Bereich einer Zeile nicht weiter hervorgehoben, stellt dies den seltenen Fall dar, dass keine positiven Abweichungen bestehen, also alle Quellen an dieser Stelle entweder dieselbe Gesangsnummer oder gar nichts enthalten. Treten unterschiedliche Rezitative, Arien oder Ensembles an einer Position im Handlungsablauf der Oper auf, werden diese in einer festen Abfolge unterschiedlich hinterlegt. Dadurch werden zwei Überlieferungsstränge erkenn- und gruppierbar: Es handelt sich zum einen um die Überlieferung auf vorwiegend italienischen Bühnen, ausgehend von der verschollenen Fassung der Uraufführung in Mailand. Der zweite Strang geht auf die Produktion in Wien unter der Leitung
––––––––
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26
Vgl. Gertraut Haberkamp: Die Musikhandschriften der Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek Regensburg. Thematischer Katalog. Mit einer Geschichte des Musikalienbestandes von Hugo Angerer. München 1981 (Kataloge Bayerischer Musiksammlungen. 6), S. 265. Vgl. Otto Kade: Die Musikalien-Sammlung des Grossherzoglich Mecklenburg-Schweriner Fürstenhauses aus den letzten zwei Jahrhunderten. Bd. 2. Schwerin 1893, S. 190.
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Antonio Salieris zurück. Er hat sich als prägend für die Überlieferung der Oper nördlich der Alpen herausgestellt.27 Eine der ersten Stationen nach der Uraufführung in Mailand war die nur wenige Wochen darauf folgende Produktion in Venedig (Herbst 1782) unter dem Titel I pretendenti delusi. Die Werkgestalt wurde von den dort für die Aufführung Verantwortlichen merklich verändert, u. a. durch die Reduktion von ursprünglich drei auf zwei Akte. Am Ende des zweiten Akts, dem Höhepunkt des dramatischen Konflikts, ist vollkommen unklar, für wen der drei „pretendenti“ sich die umworbene Dorina entscheiden wird, und bei sich steigerndem Sturm herrscht größte Verwirrung: „partono tutti confusamente per diverse parti“.28 Dem gegenüber wird in der ursprünglichen und auch weiter verbreiteten dreiaktigen Fassung im letzten Akt mit einer Doppelhochzeit eine Lösung gefunden. Auch in der in einer der beiden Berliner Abschriften überlieferten zweiaktigen Fassung wird das zweite Finale um 72 Takte erweitert, in denen sich der Sturm beruhigt und ein schnelle Lösung der Konflikte herbeigeführt wird. Aber nicht so in Venedig; etwaige Zweifel werden mit der Schlussbemerkung „Fine del Dramma“ beiseite geschoben. Zu dem ersten Überlieferungsstrang zählt auch ein in der Bibliothek des Marinskij Theaters Sankt Petersburg aufbewahrtes Teilautograph, das offenbar für eine von Sarti verantwortete Aufführung 1785 in Petersburg entstand.29 Nicht zuletzt sind auch die beiden Abschriften aus Dresden sowie die Kopie aus Parma zu diesem Überlieferungsstrang zu zählen. Diese beginnen allerdings mit einer Sinfonia, die vermutlich aus Sartis Opera buffa Le gelosie villane (Venedig 1776) stammt,30 und zeigen an mehreren weiteren Stellen signifikante Abweichungen zu den anderen Fassungen dieses Strangs. Eher solitär erscheint die in der Abschrift des Conservatorio San Pietro a Majella, Neapel, überlieferte Fassung des Teatro Nuovo von 1798, in der mehrere Ensemblesätze ergänzt wurden. Auch die Wiener Bearbeitung weist eine andere Ouvertüre auf (möglicherweise aus Sartis Oper Farnace entnommen31 und später von Sarti selbst in der Oper Idalide nochmals verwendet32) auf; darüber hinaus wurden zahlreiche weitere Eingriffe vorgenommen. In dem französischen Partiturdruck, der auf die Wiener Fassung zurückgeht, sind zwar keine musikalischen Nummern ergänzt, aber durch die Unterteilung in –––––––– 27
28 29 30
31 32
Vgl. John Platoff: Francesco Benucci, Nancy Storace, and Sarti’s Fra i due litiganti in Vienna. Referat bei der Tagung Giuseppe Sarti – individual style, aesthetical position, reception and dissemination of his works, Universität der Künste Berlin, 18.–20. Juli 2014. I pretendenti delusi. Venezia 1782 (Anm. 11), S. 58. Vgl. Pfeiffer 2007 (Anm. 18), S. 49 f. Vgl. Pfeiffer 2007 (Anm. 18), S. 52. Die Sinfonia findet sich auch in Sartis Medonte (uraufgeführt 1777 in Florenz), zum Beispiel: „IL MEDONTE / ATTO PRIMO. / Musica. / DEL SIG. GIUSEP.e SARTI / R. T.o di S. C. Napoli 3.o Mag. 1792“ (Conservatorio San Pietro a Majella, Neapel, XXXI.3.22–24. Online zugänglich unter www.internetculturale.it; 25. August 2014). Vgl. Pfeiffer 2007 (Anm. 18), S. 49, Anm. 112. Vgl. „Idalide / Opera Seria in trè Atti / Composta / Del Sig.r Giuseppe Sarti / Atto Primo“ (Mecklenburgische Landesbibliothek Schwerin, Mus. 4765). Vgl dazu Christine Siegert: The Arrangement of Sarti’s Idalide between Authority of the Composer and Aesthetic Approaches. Referat bei der Tagung Giuseppe Sarti – individual style, aesthetical position, reception and dissemination of his works, Universität der Künste Berlin, 18.–20. Juli 2014. Druck in Vorbereitung.
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vier Akte und die zahlreichen Umstellungen selbst von Arienteilen stellt er eine Bearbeitung ganz eigener Art dar. Die Gründe für die beschriebenen Änderungen, die im Einzelfall sogar den Aufbau der Handlung ad absurdum führen konnten, waren im Einzelfall sehr unterschiedlich. Neben lokalen Gepflogenheiten, nationalen Traditionen oder Usancen konnten die Gründe auch in institutionellen Rahmenbedingungen oder persönlichen Vorlieben bzw. Abneigungen der an der Produktion Beteiligten liegen. Einer der häufigsten Eingriffe bestand in der Aufnahme von Einlage-Arien, die einzelne, ursprünglich bzw. in der jeweils erhaltenen Abschrift vorhandene Arien ersetzten. Motivation hierfür waren u. a. der Erfolg, der den eingelegten Arien zuvor am Ort der Aufführung beschieden war, oder etwa der Wunsch von Solisten, solche Arien zu singen, für die sie an anderen Orten gefeiert worden waren oder die ihnen schlicht besser gefielen. Dabei war die Einpassung der Einlage-Arien in den dramatischen Kontext meist unproblematisch, da den Arien häufig typisierte Handlungssituationen zugrunde liegen, weshalb ein Austausch ohne gravierende Eingriffe oder Änderungen möglich war. Wo nötig, wurde der Text der Einlagearie angepasst, gelegentlich mussten auch die angrenzenden Rezitative geändert werden, sei es aus inhaltlichen oder musikalischen Gründen (zum Beispiel bei abweichender Tonart der eingelegten Arie). In deutschund französischsprachigen Fassungen der Oper wurden gemäß den Konventionen von Opéra comique und Singspiel Rezitative grundsätzlich durch gesprochene Dialoge ersetzt.
Zum Editionskonzept Im Rahmen des Projekts A Cosmopolitan Composer in Pre-Revolutionary Europe – Giuseppe Sarti33 werden Editionen von zwei Opern Sartis erarbeitet: Seine berühmteste Opera seria, der 1781 am Teatro di San Benedetto in Venedig uraufgeführte Giulio Sabino von Christin Heitmann, die Opera buffa Fra i due litiganti il terzo gode von Martin Albrecht-Hohmaier.34 Der Fokus liegt dabei weder auf einer autorisierten Erstfassung oder einer Fassung letzter Hand noch auf der Werkgenese, sondern auf der Breite der Überlieferung, wie sie in den Notentexten dokumentiert ist. Einer Druckausgabe sind in diesem Zusammenhang durch das Printmedium enge Grenzen in Umfang und Darstellung gesetzt. Mit diesem Problem sahen sich bereits frühere Editoren konfrontiert, selbst wenn sie sich – was die Dokumentation vollständiger Bühnenwerke betrifft – weitestgehend auf vom Komponisten selbst erstellte Bearbeitungen und Neufassungen konzentrieren. Ein Beispiel ist die Editionsgeschichte von Georg Friedrich Händels Oper Rinaldo, von der Friedrich Chrysander 1874 die Fassung aus dem Jahr 1711 edierte. Zwanzig Jahre später legte er eine zweite Edition der Oper vor, die die Fassungen von 1711 und 1731 gleichberechtigt präsentiert. Das –––––––– 33 34
Das Projekt ist seit März 2013 an der Universität der Künste Berlin angesiedelt. Es wird in Kooperation mit der Hebrew University Jerusalem durchgeführt und von der Einstein Stiftung Berlin finanziert. Außerdem arbeitet Kristin Herold als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an dem Projekt. Ihr und Christin Heitmann sei für alle Anregungen sehr herzlich gedankt.
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Inhaltsverzeichnis dient als Konkordanz der beiden Fassungen; darüber hinaus ist die Ausgabe mit einem Anhang versehen. Die Hallesche Händel-Ausgabe ist dieser Vorlage gefolgt und hat Rinaldo in zwei Teilen vorgelegt.35 Dennoch bleibt diese Perspektive autorzentriert – Händel selbst war für beide vorgelegten Fassungen die verantwortende Autorität. Trugen Komponisten mit der Komposition von Arien oder Ensembles zur Bearbeitung von Opern bei, werden im Rahmen von Gesamtausgaben üblicherweise nur Einlagearien dokumentiert, d. h., es wird nur ein begrenzter Beitrag zu einer Opernbearbeitung wiedergegeben, und zwar losgelöst von seinem Kontext, den man allenfalls im Vorwort erfährt. In die Gesamtausgabe Joseph Haydn Werke werden zusätzlich die Bearbeitungen einzelner Arien und Ensembles aufgenommen, die Haydn für den Opernbetrieb auf Schloss Eszterház anfertigte.36 Einlagen und Arienbearbeitungen werden also getrennt voneinander ediert. Doch selbst wenn es möglich wäre, Haydns Opernbearbeitungen in Gänze zu dokumentieren, bliebe diese Dokumentation ausschnitthaft, wenn man die Perspektive der bearbeiteten Bühnenwerke einnimmt. Vor diesem Hintergrund erscheint für ein Editionskonzept, das die Breite der Überlieferung dokumentieren möchte, eine digitale Präsentationsform gleichsam zwingend. Mit einer solchen digitalen Edition betreten wir Neuland in der musikwissenschaftlichen Editionsphilologie und tragen gleichzeitig dem wesentlichen Charakteristikum der Gattung Rechnung. Aus Gründen der Arbeitsökonomie müssen wir uns auf die historisch-kritische Edition einer Auswahl von Fassungen konzentrieren. Im Hinblick auf die Oper als plurimediale Gattung37 stellt sich die Frage, durch welche Quellentypen diese Fassungen konstituiert werden: durch die musikalischen Quellen allein oder durch eine Kombination aus Musik-, Text- und – sofern vorhanden – Bildquellen. Da Libretti und musikalische Quellen, selbst wenn sie sich derselben Produktion zuordnen lassen, keineswegs immer denselben Werktext überliefern und sich das angedeutete Fassungsproblem durch die Einbeziehung von Libretti demnach noch potenzieren würde,38 beschränken wir uns bei unserer Edition auf musikalische Quellen. Damit beschreiten wir einen anderen Weg als das Projekt OPERA – ––––––––
35 36 37
38
Hg. von David R. B. Kimbell 1993 und 1996. Joseph Haydn: Bearbeitungen von Arien und Szenen anderer Komponisten. 1. Folge. Hg. von Christine Siegert. München 2014 (Joseph Haydn Werke. XXVI/3). Vgl. die Zusammenfassung des Forschungsstands bei Janine Droese, Norbert Dubowy, Andreas Münzmay, Janette Seuffert: Musik – Theater – Text. Grundfragen der Musiktheaterphilologie im Spiegel der OPERA-Hybridausgaben. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft / International Yearbook of Scholarly Editing / Revue Internationale des Sciences de l’Edition Critique 27, 2013, S. 72–95, hier S. 74f. Hinzu kommt, dass Libretti in veränderten Auflagen gedruckt wurden, ohne dass sich dies im Titel niederschlagen muss. So sind etwa von Salieris Prima la musica drei unterschiedliche Auflagen nachweisbar; vgl. Giambattista Casti, Antonio Salieri: Prima la musica e poi le parole. Divertimento teatrale in un atto / Operetta a quattro voci. Music Edition by Thomas Betzwieser, Text Edition by Adrian La Salvia, Editing Supervisor Christine Siegert. Kassel 2013 (Opera. Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen. Historisch-kritische Hybridausgaben. 1), Digitaler Anhang / Critical Report / List of Sources / T Printed Libretto / Source Description. Das Uraufführungslibretto von Sartis Fra i due litiganti erschien in zwei unterschiedlichen Auflagen; vgl. Pfeiffer 2007 (Anm. 18), S. 52, Anm. 117.
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Martin Albrecht-Hohmaier, Christine Siegert
Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen, das sich explizit die „Edition eines […] mehrdimensionalen theatralen‚ Werkganzen�“ zum Ziel gesetzt hat.39 Aufgrund der Orientierung an der aufführungsbedingten Veränderlichkeit der Opern scheint es nicht überflüssig zu betonen, dass auch die Sarti-Edition (Noten-) Texte und nicht etwa die Aufführungen selbst ediert.40 Vor dem Hintergrund, dass sich der Opernbetrieb eben nicht an einem vermeintlichen oder tatsächlichen Original orientierte, sind für unsere Edition alle überlieferten bzw. herangezogenen Quellen als gleichrangig zu betrachten; die Tatsache, dass sowohl Sartis Autograph als auch die Partitur der Uraufführung als verloren gelten müssen, fällt somit nicht ins Gewicht. Auch das in Sankt Petersburg aufbewahrte Teilautograph kann keine höhere Autorität beanspruchen als die übrigen Quellen. Es wäre also unangemessen, eine einzelne Quelle als Hauptquelle zu inthronisieren. Stattdessen wird die Überlieferung möglichst umfassend präsentiert. Für die Edition im engeren Sinne, d.h. für den zu erstellenden Notentext, wird eine Auswahl von ca. acht Quellen berücksichtigt. Die Edition wird mit Hilfe der am Musikwissenschaftlichen Seminar DetmoldPaderborn entwickelten Software Edirom erstellt,41 die vor wenigen Jahren für die Internetpräsentation optimiert wurde. Sie ermöglicht u. a. die Verknüpfung von Quellenfaksimilia mit dem edierten Notentext, den direkten Quellenvergleich am Bildschirm sowie die Unterscheidung verschiedener Anmerkungskategorien und -prioritäten. Diese sind für die jeweilige Edition modifizierbar. Die Carl-Maria-vonWeber-Gesamtausgabe, im Kontext derer die Edirom-Software entwickelt wurde, unterscheidet zwischen primären Anmerkungen (Tonhöhe, Rhythmik, Harmonik) und sekundären Anmerkungen (Bogensetzung, Dynamik, Verzierung, verbalen Zusätzen, Artikulation) und vergibt gleichzeitig hohe, mittlere und niedrige Prioritäten dieser Anmerkungen.42 Das OPERA-Projekt hat die Kategorien der Edition von Musiktheaterwerken angepasst und differenziert zwischen Anmerkungen, die „Music“, „Text“, „Stage“ sowie Kombinationen der genannten Kategorien betreffen, unabhängig davon, ob sie sich auf Noten- oder Textquellen beziehen. In zusätzlichen „Comments“ werden die jeweiligen editorischen Problemstellungen anhand ausführlicher Einzelstellenkommentare bearbeitet.43 Eine Priorisierung der Anmerkungen ist nicht vorge–––––––– 39
40
41 42
43
Droese, Dubowy, Münzmay, Seuffert 2013 (Anm. 37), S. 75. Als erster Band der Reihe ist Casti, Salieri 2013 (Anm. 38) erschienen. Der Notentext wird im gedruckten Band präsentiert sowie auf der Basis von Bilddateien in der auf Datenträger beigegebenen Edirom-Edition; die Textedition findet sich auf der Basis einer Codierung mit TEI ausschließlich in der Edirom-Edition. Entsprechend hat David Halperin bereits 1997 geäußert: „Our task is to encode the written sources, not the (sounding) ‚music�.“ (David Halperin: Guidelines for New Codes. In: Beyond MIDI. The Handbook of Musical Codes. Hg. von Eleanor Selfridge-Field. Cambridge 1997, S. 574. Zit. nach Johannes Kepper und Stefan Morent: Anforderungen an ein musikeditorisches Codierungsformat. In: Digitale Edition zwischen Experiment und Standardisierung. Musik – Text – Codierung. Hg. von Peter Stadler und Joachim Veit. Tübingen 2009 [Beihefte zu editio. 31], S. 265–280, hier S. 269.) Vgl. www.edirom.de (27. August 2014). Vgl. Daniel Röwenstrunk: Die digitale Edition von Webers Klarinettenquintett. Ein Vergleich der Edirom-Versionen 2004 und 2008. In: Digitale Edition zwischen Experiment und Standardisierung (Anm. 40), S. 61–78, hier S. 75, Abb. 8. Vgl. Droese, Dubowy, Münzmay, Seuffert 2013 (Anm. 37), S. 82–84.
Eine codierte Opernedition als Angebot für Wissenschaft, Lehre und Musikpraxis
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sehen; allerdings ist der Differenzierung zwischen Anmerkungen und Kommentaren durchaus eine Hierarchisierung inhärent. Für die Ausgabe von Sartis Opern bietet sich im Sinne des editorischen Erkenntnisinteresses die Hervorhebung von fassungsrelevanten Anmerkungen an. Ob dies sinnvoller im Rahmen der Anmerkungen oder in der Unterscheidung zwischen Anmerkungen und Kommentaren geschieht, bleibt ebenso zu diskutieren wie die konkrete Aufbereitung der verschiedenen Fassungen selbst.44 Wie bei allen Edirom-Editionen werden die Quellen – sofern die besitzenden Bibliotheken, Archive oder Privateigentümer einer Publikation zustimmen45 – zugänglich gemacht. Das macht die editorischen Entscheidungen in erhöhtem Maße transparent und entlastet gleichzeitig den Editor bzw. die Editorin. Während die bisher erschienenen Edirom-Editionen auch den edierten Notentext als Bilddateien einbinden, wird der Notentext der Sarti-Edition als codierter Text zur Verfügung gestellt.46 Die einzelnen Sätze werden mit der xml-Auszeichnungssprache der Music Encoding Initiative (MEI) codiert, die sich in den letzten Jahren zum Standard für die wissenschaftliche Codierung von Musik entwickelt hat.47 Sie bietet eine flexible Anzeige, die Trennung von Daten und Visualisierung, zumindest potentiell Durchsuchbarkeit und Möglichkeiten zur Beschreibung von Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten48 etc. Wie die Edition insgesamt, ist auch die Codierung auf den Gegenstand abzustimmen. Dies betrifft beispielsweise die Tiefe der Auszeichnung. Während Freischütz digital eine möglichst tiefe und umfassende Codierung anstrebt, fokussiert unsere Edition die Primärparameter Tonhöhe, Tondauer und Instrumentation. Dies hat nicht nur arbeitsökonomische Vorteile, sondern verhindert auch, dass diese für das Erkenntnisinteresse der Edition relevanten Unterschiede zwischen den Quellen in der Fülle der Unterschiede etwa von Artikulation, Dynamik, Spielanweisungen und erst recht Balkungen, Stielungsrichtung usf. untergehen.49 Dabei stellt sich die Frage, wie der codierte Notentext in die Edirom-Edition eingebunden werden soll und kann. Auch nach Rücksprache mit den Detmolder Kollegen erscheint uns aufgrund der Vielfalt der Quellen eine modulare Edition als beste Lösung. D. h., wir codieren alle Nummern einzeln und setzen aus dem so entstandenen Pool von Einzelnummern die jeweiligen Quellen im Nachhinein virtuell wieder –––––––– 44
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Zur Möglichkeit der Darstellung kleinerer Varianten mit Edirom siehe Röwenstrunk 2009 (Anm. 42), S. 72f. sowie Reinmar Emans: Neue Darstellungsformen von Fassungen musikalischer Werke. In: Medienwandel / Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Hg. von Anne Bohnenkamp. Berlin und Boston 2013 (Beihefte zu editio. 35), S. 129–139, hier S. 136–139. Die meisten Quellen sind bereits online verfügbar, da viele Bibliotheken nach der Digitalisierung die Digitalisate im Internet zur Verfügung stellen. Auch die digitale Freischütz-Edition arbeitet mit codiertem Notentext. Vgl. www.freischuetz-digital.de (14. August 2014). Vgl. www.music-encoding.org (27. August 2014). Vgl. Kepper, Morent 2009 (Anm. 40), S. 266. In diesen Überlegungen deutet sich eine Hierarchisierung editorisch relevanter Ebenen des Notentextes selbst an. Bei Freischütz digital wird sie durch das sogenannte „Core-Modell“ etabliert, das „damit lediglich zu einer Priorisierung der wesentlichen Unterschiede [führt], nicht zum Verzicht auf die Erfassung von in der Regel nachrangigen Unterschieden“ (http://www.freischuetz-digital.de/datamodel.html; 26. August 2014).
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zusammen. Kleinere Varianten lassen sich so innerhalb ein und derselben Nummer codieren; das Vorhandensein unterschiedlicher Nummern wird durch die Referenzierung zwischen den Quellenfaksimilia und den codierten Einzelnummern repräsentiert. So können auch Positionsverschiebungen einzelner Nummern innerhalb der Satzfolge dargestellt werden.50 Ein diesem Verfahren verwandtes Vorgehen hat der Opernforscher Reinhard Wiesend bereits vor längerer Zeit im Hinblick auf Printeditionen ins Spiel gebracht: […] die adäquate Edition eines Überlieferungskomplexes – sei es für den Fall von Divergenzen innerhalb einer Fassung, sei es für den Fall divergierender Fassungen – [wäre] in Form der Herstellung einzelner Faszikel denkbar, die sich der Benutzer, also der Praktiker wie der Wissenschaftler, ad hoc und nach seinen Bedürfnissen bzw. seinem Erkenntnisinteresse zusammenstellen und mit wenigen Griffen aufeinander abstimmen könnte.51
Zur Erstellung der Codierung werden die Noten der jeweiligen Einzelnummer zunächst anhand von einer Quelle mit einem traditionellen Notationsprogramm gesetzt, in MEI konvertiert und weiter angereichert. Danach werden die Abweichungen der weiteren Quellen eingefügt. Kleinere Varianten können direkt in der Codierung eingegeben werden; größere Abweichungen können zunächst wiederum per Notationsprogramm gesetzt und dann konvertiert werden. Abweichende Nummern werden ohnehin neu ausgeschrieben. Der Notentext wird schließlich aus der MEI-Codierung gerendert. Dabei sollen mehrere Fassungen parallel angezeigt und Quellenfaksimilia und Notentext synchronisiert werden können. Selbstverständlich wird die Codierung ebenfalls zugänglich gemacht. Unser Ziel ist also die kommentierte Präsentation der Faksimilia, der Codierung sowie des aus der Codierung gerenderten Notentextes in einer frei zugänglichen digitalen Online-Edition.
Zielgruppen der Edition Mit der Edition der beiden Sarti-Opern sprechen wir unterschiedliche Zielgruppen an: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Interpretinnen und Interpreten sowie Studierende. Allen Nutzern steht dabei eine Auswahl von Anzeigeoptionen zur Verfügung, die sie ihren jeweiligen Bedürfnissen entsprechend wählen können. So entfällt in einer auf codiertem Notentext beruhenden Edition die Notwendigkeit, sich zwischen der Beibehaltung der historischen Notenschlüssel und einer modernisierten –––––––– 50
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Vgl. Kristin Herold, Christine Siegert: The Encoding of Sarti’s Operas. Macro and Micro Structures. In: Proceedings of the Music Encoding Conferences 2013 and 2014. Hg. von Johannes Kepper und Perry Roland. Druck in Vorbereitung. Reinhard Wiesend: Zur Edierbarkeit italienischer Opern des 18. Jahrhunderts. In: Musik als Text. Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung Freiburg im Breisgau 1993. Hg. von Hermann Danuser. Kassel (u.a.) 1998, S. 271–274, hier S. 274. Der Vorschlag wurde unseres Wissens nie realisiert.
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Schlüsselung entscheiden zu müssen.52 Die Codierung folgt den Quellen, was sogar die Differenzierung zwischen Quellen mit unterschiedlicher Schlüsselung ermöglichen würde.53 Der Nutzer bzw. die Nutzerin kann sich in der Anzeige zwischen alten und modernen Notenschlüsseln entscheiden. Eine ähnliche Wahlmöglichkeit wäre für die Anzeige transponierender Instrumente denkbar.54 Zunächst profitiert die Musikwissenschaft von unseren Ergebnissen. Sie erhält nicht nur einen Prototypen für die exemplarische editorische Dokumentation von komplexen Opernüberlieferungen, sondern auch eine wissenschaftliche Ressource für die Beschäftigung mit dem Werk Sartis – offen und frei zugänglich, mit der Möglichkeit, eigene Ergebnisse anzudocken. So könnten etwa weitere Quellen auch nach Abschluss des Projekts noch hinzugefügt werden, wobei im Fall fremder Beitragsangebote geeignete Maßnahmen zur Qualitätssicherung ergriffen werden müssten. Mit der Präsentation der xml-Daten einschließlich der MEI-Codierung ist die Edition für neue Fragestellungen, etwa musikanalytischer Art, offen. Indem die Edition den Fokus von der Werkgenese zur Überlieferung hin verschiebt, ist sie interdisziplinär eingebettet in eine Entwicklung von der Produktions- zur Rezeptionsorientierung, die Axel Gellhaus für die Germanistik konstatiert hat.55 Die skizzierte Offenheit und Anschlussfähigkeit birgt weiteres editorisches Potential. Einige der Einlagenummern stammen ursprünglich aus anderen Opern, die oft kaum weniger erfolgreich als Fra i due litiganti waren.56 Da in der von uns gewählten modularen Edition die Bühnenwerke nachträglich aus den Einzelnummern virtuell wieder zusammengesetzt werden, ermöglicht diese Struktur auch, Arien verschiedenen Bühnenwerken zuzuordnen. D. h., dass man durch die Aufnahme weiterer Opern in die Edition auch die Wanderung von Arien editorisch nachvollziehen könnte. Die ––––––––
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Das Problem der Schlüsselung wurde seit den ersten Gesamtausgabenprojekten kontrovers diskutiert. Vgl. Chr.: Die Verwendung der Schlüssel bei der Herausgabe älterer Musikwerke, mit besonderer Beziehung auf die „Denkmäler der Tonkunst“. In: Allgemeine musikalische Zeitung 5, 1870, Nr. 45 (9. November), S. 356–359. Bei „Chr.“ handelt es sich um den Herausgeber Friedrich Chrysander; vgl. Gerhard 2004 (Anm. 2), S. 369, Anm. 22. Chrysander war u. a. als Herausgeber der 1858–1902 erschienenen Gesamtausgabe G. F. Händel‘s Werke mit dem Problem konfrontiert. Während Joseph Haydn in der Scena di Berenice die Singstimme im Sopranschlüssel notierte, steht sie in einem 1806 bei Mollo in Wien erschienen Klavierauszug im Violinschlüssel. Vgl. Joseph Haydn: Arien, Szenen und Ensembles mit Orchester. 2. Folge. Hg. von Julia Gehring, Christine Siegert und Robert v. Zahn. München 2013 (Joseph Haydn Werke. XXVI/3), S. 248 sowie das Frontispiz. Auch dies kann ggf. eine größere Quellennähe bedeuten. Der junge Luigi Cherubini notierte etwa Hornstimmen gelegentlich klingend statt – wie in der Zeit weitestgehend üblich – transponierend. Vgl. Axel Gellhaus: Balzacs Hausmantel oder: Textprozesse und ihre Bedeutung für die Erschließung komplexer poetischer Strukturen. In: Die Musikforschung 57, 2004, S. 351–362, hier S. 351. Gellhaus verweist auf Thomas Bein: Einführung in das Rahmenthema. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 34, 2002, H. 2, S. 89–104. Zur Verbreitung der Arie „Vorrei puni punirti, indegno“, die aus Pasquale Anfossis Oper La finta giardiniera stammt und in Wien in Fra i due ligitanti eingelegt wurde, vgl. Christine Siegert: Rezeption durch Modifikation. Verbreitungswege italienischer Opern des späten 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. In: Oper im Aufbruch. Gattungskonzepte des deutschsprachigen Musiktheaters um 1800. Hg. von Marcus Chr. Lippe. Kassel 2007 (Kölner Beiträge zur Musikwissenschaft. 9), S. 111–131, hier S. 112–121.
Martin Albrecht-Hohmaier, Christine Siegert
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Edition des einzelnen Werks würde sich zur Edition der Gattung als System weiten, wobei Transferprozesse sichtbar würden. Es ergäbe sich gleichsam ein Netz von Opern. Eine solche Edition würde nicht nur die Möglichkeiten des digitalen Mediums nutzen, sondern von den genuinen Möglichkeiten des Internets her gedacht sein. Sie würde auf diese Weise ganz neue Perspektiven für die Opernforschung ermöglichen. Für Ausführende besteht der offensichtlichste Unterschied unserer ausschließlich digitalen Edition zu herkömmlichen Print-Editionen oder Hybridausgaben darin, dass die Notentexte selbst ausgedruckt werden müssen. Doch dies ist nur ein scheinbarer Nachteil. Tatsächlich bietet die Ausgabe zahlreiche Vorteile für den mündigen Interpreten bzw. die mündige Interpretin. Neu ist innerhalb der Sarti-Edition die Präsentation von verschiedenen Fassungen, die die Aufführenden vor ungewohnte Aufgaben stellt. Während in Print-Editionen meist nur eine einzige Version eines Werkes vorgelegt wird – gegebenenfalls mit einigen Alternativen im Anhang und selbstverständlich verbunden mit einer gründlichen philologischen und historischen Begründung und Kommentierung –, muss für eine Aufführung von Sartis Fra i due litiganti oder Giulio Sabino zunächst entschieden werden, welche Fassung überhaupt aufgeführt werden soll. Die sich dadurch vervielfältigende Werkgestalt könnte durchaus ein Anreiz für die Aufführenden sein. Eine naheliegende Lösung besteht in der möglichst getreuen Aufführung einer bestimmten Fassung. Dabei könnte man sich die intertextuellen Beziehungen zunutze machen und etwa die Wiener Fassung von Fra i due litiganti mit der Aufführung von Mozarts Don Giovanni – gegebenenfalls sogar unter Heranziehung von Vicente Martín y Solers Una cosa rara – kombinieren.57 Doch auch die Kombination verschiedener Elemente zu einer neuen Fassung ist nicht ausgeschlossen. Diese ließe sich zwar nicht durch eine historische Produktion legitimieren, wohl aber durch die Art des historischen Umgangs mit den Bühnenwerken – sofern eine künstlerische Produktion eine historische Legitimation überhaupt benötigt. Die Edition kann durch die gegebenen Hintergrundinformationen erleichtern, derartige Entscheidungen zu begründen. Durch den freien online-Zugang könnte das interessierte Publikum künstlerische Entscheidungen sogar unmittelbar nachvollziehen und Alternativen erkunden. Auch die Präsentation von Bearbeitungsprozessen im Vergleich etwa eines Vorher – Nachher ist denkbar.58 Im Fall einer szenischen Realisierung eröffnen sich weitere Möglichkeiten eines kreativen Umgangs. Aktuell wird eine Produktion von Fra i due litiganti il terzo gode am Theater der Universität der Künste Berlin (Uni-T) vorberei––––––––
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Gleichermaßen wäre eine Kombination der Wiener Fassung des Giulio Sabino mit Antonio Salieris Prima la musica e poi le parole attraktiv, da Salieri drei Arien aus der von ihm eingerichteten Fassung zitiert. Dies wurde exemplarisch bei dem Projektkonzert „Joseph Haydns Arbeit als Opernkapellmeister. Arien und Szenen italienischer Komponisten“ (Juni 2005) an der Hochschule für Musik in Köln im Rahmen der Tagung Perspektiven und Aufgaben der Haydn-Forschung zum 50-jährigen Bestehen des Joseph Haydn-Instituts Köln versucht, das vom Westdeutschen Rundfunk aufgezeichnet und im Januar 2006 gesendet wurde. Bei dem Konzert wurde die Arie „Vorrei punirti, indegno“ in insgesamt vier Fassungen präsentiert.
Eine codierte Opernedition als Angebot für Wissenschaft, Lehre und Musikpraxis
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tet.59 Wie diese Produktion letztendlich aussehen wird, lässt sich noch nicht absehen, doch bereits bei den ersten Vorgesprächen wurden Möglichkeiten diskutiert, wie die historischen Charakteristika der Rezeption und Überlieferung berücksichtigt werden könnten. So wäre es etwa möglich, die A- und B-Besetzung mit Sängerinnen und Sängern zu besetzen, deren Stimmcharakter und darstellerische Fähigkeiten sich unterscheiden, und dem Publikum sozusagen eine A- und eine B-Fassung anzubieten. Auch ist eine mehrschichtige Aufführung verschiedener Fassungen auf Parallelbühnen denkbar oder die doppelte Besetzung einzelner Rollen. Hierfür käme insbesondere die weibliche Hauptrolle Dorina infrage, zumal die stilistische Bandbreite ihrer Ersatznummern besonders breit erscheint.60 Während die doppelte Orientierung an Wissenschaft und Praxis für historischkritische Musikeditionen üblich ist,61 gerät mit digitalen Editionen die Lehre in neuer Weise in den Blick.62 Ihr nicht-linearer, netzartiger Aufbau steht durch den Umgang mit dem Internet eingeübten Erkenntnisstrukturen nahe und kann erst durch einen explorativen Zugang in seiner Gesamtheit erschlossen werden. Durch die Aufbereitung der Quellenfaksimilia bieten sie eine in Printeditionen ungekannte Anschaulichkeit, die mit den Bearbeitungsspuren im Material gleichsam einen Blick in die historische Werkstatt ermöglicht. Die unmittelbare Überprüfbarkeit editorischer Entscheidungen befördert einen kritischen Umgang mit Notentexten. Die in der Sarti-Edition fokussierte Variabilität der Überlieferung vermag nicht zuletzt den Werkbegriff zu relativieren und, zumindest implizit, an seinen historischen Ort zu verweisen: den der Instrumentalmusik im 19. Jahrhundert. Vielleicht regt die Sarti-Edition ja tatsächlich den einen oder anderen Nutzer dazu an, über die Voraussetzungen der eigenen ästhetischen Maßstäbe nachzudenken.
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Regie: Frank Hilbrich, Leitung: Errico Fresis. Die Aufführungen sind für Juli 2015 geplant. Vgl. Platoff 2014 (Anm. 27). Vgl. Musikedition. Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis. Hg. von Helga Lühning. Tübingen 2002 (Beihefte zu editio. 17). Erste Überlegungen dazu konnten bereits 2007 im Rahmen der Tagung Digitale Edition zwischen Experiment und Standardisierung in Paderborn geäußert werden. Vgl. Zusammenfassung der Diskussion [von Sektion I: „Konzepte digitaler Editionen“]. In: Digitale Edition zwischen Experiment und Standardisierung (Anm. 40), S. 79–85, hier S. 85.
Claudia Bamberg
„Schreiben Sie mir ja über alles“ Wozu eine digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels?
Briefkorpora sind schon seit geraumer Zeit Gegenstand wissenschaftlicher Editionen. Mit ihrer zunehmenden Erschließung ist auch das literatur- und kulturwissenschaftliche Interesse an der Gattung Brief gewachsen, der nun nicht mehr bloß als Dokument für Entstehungsgeschichten von literarischen, musikalischen und bildkünstlerischen Werken in Editionen oder als bloßer Beleg für bestimmte Werkdeutungen herangezogen wird. Mit Aufweichung und Infragestellung des „Werk“-Begriffs wurde der Brief zwangsläufig aufgewertet und gerade in der Literaturwissenschaft für die Interpretation aus ganz unterschiedlichen Perspektiven interessant. Zugleich hat der mediale Wandel den Blick für das Kommunikationsmedium Brief geschärft. Gefragt wurde und wird nun nach seinen medialen, materialen, archivalischen Implikationen sowie nach weiteren kulturwissenschaftlichen bzw. kulturhistorischen Aspekten, nach seinen sprachlichen Verfahren und seiner Literarizität bzw. Fiktionalität sowie nach seiner besonderen Textstruktur und seines spezifischen Informationsgehaltes.1
Briefeditionen im digitalen Medium Zuverlässige und gut kommentierte Editionen bilden die conditio sine qua non für weiterführende Fragestellungen dieser Art. Dabei rücken – nicht zuletzt durch das zunehmende Interesse für Gestalt und Topologie der Handschrift – digitale Lösungen immer mehr in den Fokus. Und so mag es auch wenig überraschen, dass die Zahl der digitalen Briefeditionsprojekte in den letzten Jahren rasant zugenommen hat.2 Damit einher geht ein verstärktes Nachdenken über die Chancen von digitalen Briefeditionen.3 Neben der Möglichkeit, die Transkription des Editors direkt am Digitalisat zu überprüfen oder selbst vorzunehmen, können differenzierten Suchen in den Briefen, eine visuell ansprechende Aufarbeitung der Edition sowie zahlreiche Verlinkungen, die den Kontext beleuchten, Zugang und Benutzung erleichtern. Darüber hinaus ermöglicht die Verwendung von normierten Metadaten nicht nur die eindeutige Identi–––––––– 1
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Vgl. hierzu: Der Brief – Ereignis und Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11. September bis 16. November 2008. Hg. von Anne Bohnenkamp und Waltraut Wiethölter. Frankfurt a.M. 2008, 22010, sowie: Jörg Schuster und Jochen Strobel: Briefe und Interpretationen. Über Ansätze zu einer Geschichte der Briefkultur und über die Möglichkeit kulturhistorischer Skizzen mittels Brieflektüren. In: Jörg Schuster, Jochen Strobel (Hgg.): Briefkultur. Texte und Interpretationen – von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Berlin, Boston 2013, S. XI–XXIV. Vgl. den Überblick bei Patrick Sahle: http://www.digitale-edition.de/vlet_letters.html (Zugriff am 16.06.2014). Vgl. jüngst: Brief-Edition im digitalen Zeitalter. Hg. von Anne Bohnenkamp und Elke Richter. Berlin, Boston 2013.
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Claudia Bamberg
fikation von Personen und Orten, sondern bildet auch die Voraussetzung für eine Nachnutzung und Vernetzung mit ähnlich gelagerten Projekten. Mit der Möglichkeit der digitalen Edition von Briefen ändert sich nun aber fast zwangsläufig die Vorstellung dessen, was eine „zuverlässige und gut kommentierte“ Edition sei. Gemeint ist damit allerdings nicht, dass im digitalen Medium die philologischen Standards über Bord geworfen werden sollten – die Orientierung an etablierten Verfahren bei Inventarisierung und Textkonstitution sowie bei der Erschließung und Kommentierung bestimmter Inhalte sollte selbstverständliche Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Edition sein. Auch wenn es durch das digitale Edieren möglich wird, unabgeschlossene Arbeiten, also noch nicht letztgültig geprüfte Texte und Metadaten freizugeben und als solche zu kennzeichnen, sollte am Ende immer ein sorgfältig redigiertes Ergebnis stehen. Gemeint ist vielmehr, dass sich im digitalen Medium die Möglichkeiten der Erschließung und Kommentierung von Briefen geändert haben und dass dies auch Auswirkungen auf die Präsentation und Nutzung einer Web-Briefedition hat. An die Stelle des konventionellen Stellenkommentars treten neue Formen der Auszeichnung und der Registererstellung, neue Konzepte der semantischen Erschließung sowie zahlreiche Möglichkeiten der Visualisierung. Letztlich sollte das digitale Medium den analysierenden Zugriff auf ein bestimmtes Briefkorpus vereinfachen, ja im besten Fall sogar Themen, Konstellationen und Zusammenhänge aufdecken und sichtbar machen, die eine Buchedition nicht so anschaulich oder womöglich gar nicht preisgeben kann. So kann durch die differenzierte Auszeichnung einer Korrespondenz im digitalen Medium diese – so zumindest könnte eine kühne Vision lauten – gleichsam durchsichtig gemacht und dem Nutzer die Möglichkeit gegeben werden, in ihr gezielt nach Zusammenhängen, Netzwerken und Themen, mögen sie auch noch so abgelegen sein, zu suchen oder diese gar neu zu entdecken. Zudem besteht nun – so könnte man eine weitere kühne Vision formulieren – die Chance, dass der Leser einer digitalen Briefedition selbstständiger und zügiger zu den gewünschten Materialien, Informationen und zu Deutungen gelangen kann als beim Griff zu einer Druckedition. Bei einer gedruckten Ausgabe ist es vor allem der Editor selbst, der durch seine jahrelange intensive Beschäftigung mit ‚seinem‘ Autor über einen reichhaltigen Fundus an Detailwissen über diesen und dessen biographisches, soziales und kulturelles Umfeld verfügt. Diesen Fundus kann er aber niemals in Gänze in seiner Druckedition präsentieren, und wenn er es tut, sind diese Informationen möglicherweise nicht immer gut zu finden. Ohne solides Vorwissen über den Gegenstand bzw. den Autor und seinen Kontext geht das allerdings auch beim Leser einer digitalen Briefedition nicht; womöglich aber wird in einer gut aufbereiteten digitalen Ausgabe nicht nur das Gesuchte, sondern auch die gesamte Korrespondenz in ihrer ganzen Breite und Tiefe leichter zugänglich. Das klingt anspruchsvoll und verheißend und muss sich in der Praxis freilich erst dauerhaft bewähren. Zudem stellt sich die Frage, was solche detaillierten Informationen im Einzelnen bedeuten können: Wem nutzen welche Zugänge, Suchergebnisse und Erkenntnisse? Erweitert sich der Leser- und Nutzerkreis durch die Darstellung im digitalen Medium – richtet sich die digitale Briefedition also nicht nur an einen enge-
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ren fachwissenschaftlichen Kreis, sondern auch an Interessierte sowie eine größere Anzahl von Studenten? Weitergehend könnte man etwa fragen, was dem Literaturwissenschaftler die zahlreichen offengelegten biographischen Informationen nutzen, die in einer Korrespondenz stecken? Was sagen jene über diese aus? Was ist für den Literaturwissenschaftler darüber hinaus von besonderem Interesse? Und wie müssen die Informationen zugänglich gemacht werden, damit sie den Nutzer auch erreichen?
Digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels Diese Fragen sollen auf den folgenden Seiten anhand eines Beispiels diskutiert werden: anhand des laufenden DFG-Projekts „Digitalisierung und elektronische Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels“, das im März 2012 seine Arbeit aufgenommen hat und seit Juni 2014 mit einer ersten Beta-Version online ist.4 Das Projekt, das an der Universität Marburg, der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) und am Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften der Universität Trier durchgeführt wird, hat sich zum Ziel gesetzt, die ungefähr 5.000 Schreiben umfassende Korrespondenz des romantischen Schriftstellers und Philologen August Wilhelm Schlegel, die dieser mit ca. 700 Personen quer durch Europa führte und die bislang nur zur Hälfte gedruckt vorliegt, in einer digitalen Edition zusammenzuführen. Die Briefe sollen im Volltext durchsuchbar und dabei möglichst differenziert erschlossen werden. Transkribiert werden ‚nur‘ die noch nicht gedruckten Briefe, also ungefähr 2.500 Schreiben von und an August Wilhelm Schlegel. Bereits publizierte Schreiben – noch einmal ca. 2.500 – werden im Druck-Volltext aufgenommen und ebenso wie die neu transkribierten in einem ersten Schritt mit einem mehrgliedrigen Register versehen (Personen – Werke – Periodika – Orte). Darauf soll in einem zweiten Arbeitsschritt eine weitere Tiefenerschließung folgen. Zu jedem Brief wird also der Volltext geboten, der durch das Handschriftendigitalisat und/oder das Druckdigitalisat – soweit es verfügbar ist – sowie durch die Metadaten ergänzt wird. Die ausgezeichneten Textstellen, die Lemmata, erscheinen auf der Weboberfläche in blau; der Mauszeiger gibt den Registereintrag an (Abb. 1). Neben der Registersuche sind eine einfache, an Google angelehnte globale Suche sowie erweiterte Suchoptionen (inklusive einer Facettensuche) möglich.
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http://august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/
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Abb. 1: August Wilhelm Schlegel an Friedrich Wilken, im Jahr 1816
Zugleich sollen mit der digitalen Aufbereitung und Bearbeitung der Briefe digitale Infrastrukturen geschaffen werden. Indem Metadaten und Digitalisate des weit verstreuten Nachlasses von August Wilhelm Schlegel aus den Archiven und Bibliotheken in die virtuelle Editionsplattform „Forschungsnetzwerk und Datenbanksystem“ FuD5 (für die größeren Sammlungen via OAI) importiert und für den Dresdner Hauptnachlass, der ca. 3.800 Briefe der Korrespondenz umfasst, auch in Kalliope verzeichnet werden, sind die Wege für eine kompatible und zügige Datenübermittlung geebnet. Damit können nicht nur die Archive und Bibliotheken schnell auf die Metadaten zugreifen, sondern auch Kooperationen zwischen einzelnen Projekten und der Datentransfer zwischen Institutionen erleichtert werden. In August Wilhelm Schlegels Korrespondenz finden sich nicht nur alle Arten von Brieftypen – Geschäftsbriefe, Künstlerbriefe, wissenschaftliche Korrespondenz, Bittschreiben, Freundschafts-, Familien-, Liebes-, Reise-, Abschiedsbriefe etc. –, die in mehreren Sprachen abgefasst sind. Die Korrespondenz enthält auch, dieser Vielfalt entsprechend, eine bislang kaum zu überschauende Anzahl an Themen. Da Schlegel zeitlebens mit Hunderten von Künstlern, Wissenschaftlern und Personen des gesell–––––––– 5
Vgl. dazu weiterführend Verf. u. Thomas Burch: Inventarisieren, Analysieren und Archivieren vernetzt. Digitalisierung und Edition größerer Briefkorpora mit der virteuellen Editionsplattform „Forschungsnetzwerk und Datenbanksystem (FuD)“. In: Hanna Delf von Wolzogen, Rainer Falk (Hg.): Fontanes Briefe ediert. Würzburg 2014, S. 265–282.
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schaftlichen Lebens quer durch Europa korrespondierte6 und seine künstlerischen Interessen ebenso wie seine wissenschaftlichen Forschungsbiete äußerst vielfältig waren, lässt sich das gesamte Spektrum seiner weitläufigen Korrespondenz bislang nur erahnen. So geben die Briefe Einblicke in Konstitution und Theoriebildung der deutschen Frühromantik sowie in deren Kräfteverhältnisse; Schlegel korrespondierte mit allen deutschen Romantikern mehr oder weniger intensiv und stand auch mit Goethe, Schiller, den Humboldts, den Vossens und vielen anderen Personen des kulturellen Lebens um 1800 im Briefwechsel. Zudem spiegelt die Korrespondenz die weitere Entwicklung der Literatur- und Kulturgeschichte und des literarischen Marktes; die Auseinandersetzung mit der europäischen Literatur aus komparatistischer Perspektive bleibt dabei Schlegels vorrangiges Interesse. Auch Fragen des Übersetzens sind ein wichtiges Thema; neben seinen bis heute mustergültigen Shakespeare-Übersetzungen übertrug Schlegel auch etwa Werke von Calderon, Petrarca und zahlreichen portugiesischen Dichtern ins Deutsche. In seinen Bonner Jahren – 1818 wurde Schlegel an der neugegründeten Bonner Universität zum Professor ernannt – übersetzte er indische Schriften wie die Bhagavadg�t� und das R�m�yana, allerdings nicht ins Deutsche, sondern ins Lateinische. Daneben spiegelt sich in Schlegels Korrespondenz dessen eigenes dichterisches Schaffen.7 Sie dokumentiert die Entstehung und Rezeption seiner berühmten Vorlesungen und gibt Einblicke in das damalige Rezensionswesen, das er um 1800 wesentlich geprägt hat. Darüber hinaus erfährt man viel über das literarische Schaffen seines Bruders Friedrich und die Entstehung und Rezeption der besonders die Frühromantik prägenden Gemeinschaftsproduktionen der Geschwister. Mit ihm und später auch mit anderen Kollegen war Schlegel kontinuierlich auf der Suche nach mittelalterlichen Quellen; in späteren Jahren interessierten ihn auch indische Quellen, wozu die intensive Beschäftigung mit dem Sanskrit gehörte. Außerdem war er maßgeblich an der Herausbildung neuer Wissenschaftsdisziplinen beteiligt: so an der Indologie, der Romanistik und der Komparatistik. August Wilhelm Schlegels Aufenthalt in Coppet am Genfer See und in Frankreich von 1804 bis 1817 als kulturhistorischer Berater und Begleiter der französischen Schriftstellerin und Intellektuellen Madame de Staël verlagerte den Schwerpunkt von der deutschen hin zur französischen Kulturszene und Politik und ließ neue, sich zum Teil überlagernde Netzwerke entstehen. Bis heute ist beispielsweise noch nicht gründlich aufgearbeitet, inwieweit er das in Frankreich bis heute wirkmächtige Deutschland-Bild der Madame de Staël beeinflusst und geprägt hat. Auch über die Begegnungen und Verhältnisse mit Frauen wie mit Caroline Michaelis-Böhmer-SchlegelSchelling, mit der er einige Jahre verheiratet war, mit Sophie Tieck-Bernhardi, Dorothea Mendelssohn-Veit-Schlegel, deren Schwester Henriette Mendelssohn sowie –––––––– 6
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Zu Schlegel als Europäer vgl. Der Europäer August Wilhelm Schlegel. Romantischer Kulturtransfer – romantische Wissenswelten. Hg. von York-Gothart Mix u. Jochen Strobel. Berlin 2010 (auch als EBook). Auch hier steht eine Ausgabe seiner sämtlichen Schriften noch aus; digitale Verknüpfungen zwischen Korrespondenz und Werk wären dabei zweifellos besonders interessant.
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Claudia Bamberg
mit zahlreichen weiteren Frauengestalten gibt die Korrespondenz Aufschluss; und sie enthält weit mehr als das, was bislang über diese Beziehungen bekannt war. Nicht zu vernachlässigen sind in diesem Zusammenhang und darüber hinaus die zahlreichen biographischen Informationen, die etwa auch in der in weiten Teilen noch unveröffentlichten Familienkorrespondenz verborgen liegen und die Aufschluss geben können über Schlegels äußeres und inneres Leben, für das man sich bislang erstaunlicherweise recht wenig interessiert hat. So könnten diese sichtbar gemachten Konstellationen die Frage aufwerfen, welche Bedeutung und Funktion Personen in den gesellschaftlichen, politischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Debatten und Netzwerken haben und welche Rolle die epistolarische Kommunikation dabei um 1800 spielt, welchem Wandel diese möglicherweise unterworfen ist und wie sie sich zu anderen Formen der Kommunikation verhält. Ein Kaleidoskop an Themen und biographischen Konstellationen, offenen und verborgenen Netzwerken und Verbindungen, an großen und kleinen Schauplätzen des literarischen Lebens, der Entdeckung und Profilierung des „Romantischen“ etwa, aber auch an Schauplätzen der gezeigten und versteckten Absichten, der wissenschaftlichen Debatten und Diskurse am sogenannten ‚Puls der Zeit‘ – all dies umfassen und spiegeln Schlegels Briefe. Und all dies ist in ihnen permanent in Bewegung, wird also fortlaufend modifiziert, ergänzt und sprachlich umspielt. Die Frage angesichts der Erschließung und Edition einer solchen Korrespondenz ist demnach womöglich weniger die nach dem Warum als vielmehr die nach dem Wie, die indessen die Frage nach dem Wozu mit einschließt: Wie nähert man sich einer so qualitativ und quantitativ gewichtigen Korrespondenz, zumal in einem begrenzten Zeitrahmen und angesichts eines dürftigen Erschließungsstands bei Projektbeginn? Welche Ziele sollten dabei im Vordergrund stehen? Und wer ist eigentlich der Adressat einer solchen digitalen Briefedition? Eine unabdingbare Grundlage ist zunächst eine sauber und übersichtlich aufbereitete Inventarisierung: Eine vollständige Bereit- und klare Darstellung von Metadaten und Digitalisaten sollte einen ersten Überblick über ein größeres Briefkorpus geben und dem Leser eine erste Orientierung im Material und in den Dokumenten vermitteln. Dabei ist im Falle der A.W. Schlegel-Briefedition wichtig, dass Handschrift und Druck synoptisch präsentiert werden, damit sofort ersichtlich wird, ob ein Schreiben bereits publiziert ist. Und damit – im umgekehrten Fall – deutlich wird, ob und an welchem Ort die Handschrift zu einem Druck (noch) vorhanden ist. Darüber hinaus sollte mit normierten Daten gearbeitet werden, damit eine eindeutige Identifikation von Personen, Orten etc. gewährleistet ist und die Informationen mit jenen in anderen Datenbanken und virtuellen Forschungsplattformen abgeglichen werden können. Die Archive sind hier ein wichtiger Adressat, da sie sich über die Quellenlage einer Korrespondenz über einschlägige Datenbanken wie Kalliope hinaus informieren können. Zugleich können sie auf diesem Wege ihre eigenen Metadaten vervollständigen, ergänzen oder korrigieren: Da die aus dem Archiv importierten Me-
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tadaten bei der Bearbeitung im Projekt geprüft und gegebenenfalls korrigiert werden, können die neuen Informationen in die Archive zurückfließen.8 Daneben ist es aber auch die fachwissenschaftliche Community, die ein besonderes Interesse an einer digitalen Inventarisierung hat, können die HandschriftenDigitalisate doch etwa Aufschlüsse über Materialität und Topologie der Briefe geben. Ferner sind es erfahrungsgemäß Editoren anderer Briefeditionen – gedruckter und digitaler – aus dem näheren und ferneren Umkreis A.W. Schlegels, die ein Interesse haben sowohl an den Metadaten als auch an den Digitalisaten resp. Transkriptionen sowie den Informationen, die in den Texten stecken. Im Hinblick auf die Texte selbst erweitert sich nun aber der Nutzerkreis, da jetzt die vielfältigsten Fragestellungen in Form von aktiven Suchen an sie herangetragen werden können. Schon eine einfache Volltext- oder Registersuche kann bei inhaltlichen Fragen weiterhelfen; ergänzt man diese Suchen durch weitere Suchoptionen wie etwa die erweiterte oder die facettierte Suche oder auch eine gezielte semantische Erschließung, wird eine relativ zielgerichtete Erschließung der Korrespondenz für den Nutzer möglich. Diese Vielfalt an Suchmöglichkeiten erweist sich im Falle der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels als sehr hilfreich, soll doch Vertretern verschiedener Forschungsdisziplinen – Germanisten, Romanisten, Sprachwissenschaftler, Indologen, Wissenschaftshistoriker etc. – ein zielführender Einstieg in die Briefe garantiert werden, damit sie die Informationen finden, nach denen sie suchen. Aber auch interessierten Laien sollte ein relativ einfacher Zugang ermöglicht werden; die implementierten Suchmöglichkeiten, wie sie auch bei Google zu finden sind, können den Zugang zur digitalen Briefedition gegenüber einer gedruckten zweifelsohne erleichtern. Wünschenswert wäre jedenfalls, dass der Nutzer- und Lesekreis nicht auf die Fachwelt im engeren Sinne begrenzt bleibt und dass sorgfältig und ansprechend aufbereitetes kulturelles Wissen durch digitale Editionen eine weite Verbreitung findet. Ob sich die digitale Aufbereitung von Briefen bewährt, kann aber letztlich nur die Zukunft beantworten.
Suchergebnisse und Lektüre Vieles spricht also dafür, dass sich der Nutzerkreis einer digitalen Briefedition gegenüber einer gedruckten Edition erweitert. Vom interessierten Laien über den Archivar, Bibliothekar und Editor bis hin zum spezifisch fragenden Fachwissenschaftler – weit über die eigene Disziplin hinaus – kann sie, sind die entsprechenden Suchoptionen einmal implementiert, befragt werden und entsprechende Suchergebnisse liefern. Bei der Erschließung einer Korrespondenz wie derjenigen August Wilhelm Schlegels sollten deshalb zunächst die gängigen, schon recht differenzierten Suchoptionen im Vor–––––––– 8
Erfahrungsgemäß sind oft auch die Korrekturen und Ergänzungen, die ein vorangegangener Editor vorgenommen hat (Identifikation eines Korrespondenzpartners, Datumskorrektur etc.), noch nicht in den Datenbanken der Archive vermerkt. In der Webpräsentation können sie nun eingesehen und gegebenenfalls auch im Archiv korrigiert werden. Im Falle des umfangreichen Dresdner Bestandes sollen die Korrekturen in einem automatisierten Schritt an die Bibliothek und zugleich an Kalliope zurückgespielt werden.
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Claudia Bamberg
dergrund stehen. Eine intuitive Bedienung der Website sollte bei der digitalen Aufbereitung stets das Ziel sein. Die Möglichkeit zum bequemen und einfachen Suchen entlässt den Nutzer allerdings nicht aus einer gründlichen Lektüre. Will er Themen- und Personenkonstellationen, Netzwerke oder bestimmte Schreibstrategien verstehen, muss er sich die Mühe machen, die Texte im Zusammenhang zu lesen. Der relativ schnelle und kurze Weg zu den Suchergebnissen bietet selbst noch keine Erkenntnis, kann diese doch erst durch die Deutung jener Ergebnisse, die eine gründliche Lektüre in Gang setzen müssen, entstehen. Die digitale Trefferliste ersetzt das Lesen also nicht – es muss nicht gesagt werden, dass erst die gründliche und kritische Auseinandersetzung mit dem gesamten vorhandenen Material zu einem Thema zu neuen und relevanten wissenschaftlichen Ergebnissen führen kann. Gleichwohl kann die Trefferliste helfen, den Leseprozess zu steuern und zu fokussieren. Der Nutzer bekommt durch die Suchmöglichkeiten eine Vorsortierung des Materials an die Hand; zugleich können visuell ansprechende Auszeichnungen das Verständnis erleichtern und die Texte zügig aufschließen. Dabei bietet eine digitale Briefedition dem Leser eine breite Grundlage für sein Anliegen, da sie ihm die gesamte Quellenlage präsentiert, die er somit niemals aus dem Blick verliert. Im Falle der digitalen Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels wird mit der zunehmenden Erschließung – so jedenfalls lautet ein wichtiges Projektziel – das bislang nicht zu überblickende Kaleidoskop an Themen immer transparenter und sichtbarer. Und vielleicht wird auf dieser Grundlage schon bald eine neue, differenzierte Einschätzung dieses bislang editorisch marginalisierten Autors ermöglicht – und damit das Interesse an der Beschäftigung mit ihm und seinem einzigartigen Briefwerk immer größer.
Jens Burkert
Sehnsucht nach falschen Freuden? Walthers von der Vogelweide Lied L 41,13ff. als Beispiel für den Nutzen der jüngsten Auflage der Lachmann-Ausgabe
Die 14. internationale Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition unter dem Titel „InterNationalität und InterDisziplinarität der Editionswissenschaft“ hat (nicht nur in der entsprechenden Sektion) deutlich werden lassen, wie sehr die mit Theorie und Praxis der digitalen Edition verbundenen Probleme und Chancen die Editionswissenschaft umtreiben, in welch hohem Maße sie als Herausforderung verstanden werden und auch, dass sie nach wie vor als neu gelten. Dem Verdacht, die Philologenzunft stürze sich in naiver Begeisterung auf die Aufbereitung alter Texte in neuen Medien schon allein, um sich in Zeiten eines für sie nicht allzu günstigen Klimas als „Computerphilologie“ vom Stigma der Technikfeindlichkeit zu befreien, lässt sich dabei bspw. mit dem Verweis auf das nicht unbedingt aus euphorischer Sichtung bestehender Online-Editionen hervorgegangene Bemühen um Standards für solche Online-Editionen begegnen. Mag man sich unsicher sein, ob digitale Editionen mit der Editionstätigkeit verbundene Theorieprobleme zu lösen im Stande sind, so steht doch außer Frage, dass sie den Blick für diese schärfen und einige praktische Schwierigkeiten beseitigen können. Dadurch eröffnen sie sogar die Chance zu Mammutprojekten, die in nicht mehr für möglich gehaltener Weise an das 19. Jahrhundert erinnern. Wenn nun eine aus eben dieser Zeit stammende und zu den traditionsreichsten Editionen der Altgermanistik gehörende Gesamtausgabe, nämlich Karl Lachmanns Walther-Edition, im Jahre 2013 eine von Thomas Bein herausgegebene 15. (freilich nach bald 200 Jahren stark veränderte) Auflage erlebt,1 wird vielleicht vom einen oder anderen die Frage nach dem Nutzen auch mit Blick auf die konventionelle (Buch-)Veröffentlichungsform gestellt werden. Denn auch in der 15. Auflage ist der Walther als Endprodukt kein digitaler Walther, womit die Ausgabe die in der aktuellen Tagungsbeschreibung gestellte Frage, ob „digitale Editionsformen […] wesentliche editorische Leistungen an die Nutzer“2 transferieren, zwar gewiss nicht indirekt bejaht, sich ihr aber zumindest nicht aussetzen muss. „Vom Nutzen der Editionen“ war nun die 15. Tagung betitelt und bei einem derart häufig und mit derart verschiedenen Editionsansätzen herausgegebenen Werk wie dem unter dem Namen Walthers von der Vogelweide überlieferten wird der Nutzen –––––––– 1
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Vgl. Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränderte und um Fassungseditionen erweiterte Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns. Aufgrund der 14., von Christoph Cormeau bearbeiteten Ausgabe neu hg., mit Erschließungshilfen und textkritischen Kommentaren versehen von Thomas Bein. Edition der Melodien von Horst Brunner. Berlin/Boston 2013. http://www.ag-edition.org/html/aktuell.html (20. März 2014).
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Jens Burkert
gewiss nicht nur im Hinblick auf die Opposition ,digitale Edition – Buchedition‘ hinterfragt werden. So mag man sich etwa einen aus der Erprobung eines neuen editorischen Zugriffs selbst resultierenden oder auch in der besonderen Verwertbarkeit der Ausgabe im akademischen Unterricht liegenden Nutzen wünschen. Bei Erstgenanntem scheint vieles bereits ausgeschöpft worden zu sein, bei Letzterem hingegen dürfte Einigkeit darüber herrschen, dass eine für den Lehrbetrieb in hervorstechender Weise geeignete frische Ausgabe auch eines so oft edierten Autors ihre Daseinsberechtigung findet. Um diese beiden oder auch weitere Aspekte von Nutzen geht es hier indes nicht – es kann viele eine Neuedition rechtfertigende Gründe geben. Vielmehr steht die für die Neuherausgabe von Literatur (jenseits der etwaigen Notwendigkeit der schlichten Eliminierung von in der zurückliegenden Editionsgeschichte begangenen Fehlern oder der Frage der Verfügbarkeit auf dem Buchmarkt) primäre ,NutzenFrage‘ im Mittelpunkt, nämlich die, ob sich wenigstens in Einzelfällen aus der Edition selbst und nicht erst aus den Interpretationen des jeweils edierten Textes eine neue Sicht auf diesen Text ergibt. Es war dies eine Frage, die mich bei meiner editorischen Mitarbeit an der neuen Walther-Ausgabe mit Spannung begleitet hat und deren Beantwortung überraschen mag: Trotz der seit langem so gestiegenen Würdigung der Varianzphänomene sind sogar bei einem Autor wie Walther noch immer aus der Edition selbst herrührende Überraschungen und hermeneutischer Gewinn möglich. Revolutionen sind freilich nicht zu erwarten, aber obwohl auch die 15. Auflage dem modifizierten Leithandschriftenprinzip der von Christoph Cormeau völlig neubearbeiteten 14. Auflage folgt, sind nur bei einem verschwindend geringen Anteil der Töne des Hauptteils gegenüber der 14. Auflage keine Veränderungen vorgenommen worden.3 Dafür, dass solche Veränderungen noch immer zu besagten Überraschungen führen können (und damit zugleich für den möglichen Nutzen des ,Weiteredierens‘ auch der Forschungsklassiker), soll hier ein Beispiel gegeben werden. Insbesondere am für Walther-Verhältnisse weniger häufig analysierten Lied Ich bin als unschedelîchen frô (L 41,13ff.; Ton 18) lässt sich einmal mehr zeigen, dass nur ein Wort, in diesem Fall eine durch die gesamte Editionsgeschichte ,geschleppte‘ und in dieser neuesten Walther-Gesamtausgabe erstmals weggelassene Konjektur, ein Liedverständnis – und damit vielleicht sogar mehr – entscheidend verändern kann. Das Lied wird dabei im Folgenden innerhalb einer stark verknappenden, sehr kurzen Darstellung nur kursorisch und unter weitgehender Auslassung philologischer Einzelfragen, verschiedener Interpretationsmöglichkeiten, der Fassungsproblematik, spezifischer mit Walthers so–––––––– 3
Vgl. Bein 2013 (Anm. 1), S. LXVf. Die augenfälligste Veränderung (abgesehen von den Erschließungshilfen und dem textkritischen Kommentar) sind die vermehrten Fassungseditionen. Zu einem besonders komplexen Fall vgl. Thomas Bein: Grenzen des Edierbaren: Die Walther-Lieder 92 und 93 (L. 119,17 und MF 214,34 ff). Ein Lehrstück für den akademischen Unterricht. In: Walther von der Vogelweide – Überlieferung, Deutung, Forschungsgeschichte. Mit einer Ergänzungsbibliographie von Manfred G. Scholz. Hg. von Thomas Bein. Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Brüssel/New York/Oxford/Wien 2010 (Walther-Studien 7), S. 39–64. Vgl. dazu ferner Jens Burkert: Hartmanns von Aue Lyrik und das Problem der Autor-Varianz. In: Text Analyses and Interpretations: In Memory of Joachim Bumke (Kalamazoo Papers 2012–2013). Edited by Sibylle Jefferis. Göppingen 2013 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 776), S. 187–219 [veröffentlicht mit vom Verfasser nicht verantworteter und nicht autorisierter amerikanischer Zeichensetzung].
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genannter ,Alterslyrik‘ verbundener und L 41,13ff. tangierender Probleme und der entsprechenden Forschungsgeschichte behandelt werden, da ich andernorts bereits ausführlich darauf eingegangen bin.4 Mir schien es dennoch lohnenswert, auf das Tagungsthema zugespitzt noch einmal (auch in schriftlicher Form und nicht nur im Vortrag) die Aufmerksamkeit kurz und unter Einbezug kleiner Ergänzungen auf das in der Tat – im Übrigen in beiderlei Gestalt: mit und ohne Konjektur – interessante und reizvolle Lied zu sprechen zu kommen. Zunächst sei der Übersicht halber ein Blick auf die Überlieferung geworfen: C: I–V B: I II IV E: II I III IV (B und E vertauschen gegenüber C die Abgesänge in I und II.) Bein ediert drei Fassungen,5 wobei man sich über den Fassungscharakter von B gewiss mehr als über den von E streiten kann. In der Editions- und Interpretationsgeschichte dominiert klar eine Mischredaktion, die den Strophenbestand von C, die Reihenfolge von B und C und die Stellung der Abgesänge in den ersten beiden Strophen von B und E bietet. Hier ist jedoch einzig C von Interesse, denn nur C enthält die für die bisherigen Sichtweisen auf das Lied zentrale fünfte Strophe, in der sich im letzten Vers die besagte Konjektur befindet. Normalisierter C-Text:6 Ich bin als unschedelîchen frô, daz man mir wol ze lebenne gan: tougenlîche stât mîn herze hô. waz touc zer welte ein rüemic man? Rüemære unde lügenære, swâ die sîn, den verbiute ich mînen sanc, und ist âne mînen danc, obs alsô vil geniezen mîn. Das Lied beginnt mit einer überraschenden Aussage zu einem zentralen Thema (fröide) der höfischen Literatur: Das Ich sagt, es sei auf eine so unschädliche Art und Weise froh, dass man ihm wol ze lebenne gönne. Unschädlich ist seine Freude, weil sie eine tougen fröide ist, womit jedoch nicht, wie wohl erwartet werden konnte, eine tougen minne gemeint ist – die Freude des Ichs richtet, vereinfachend gesagt, deshalb keinen Schaden an, weil das Ich sich anders als die Prahler und Lügner, zu denen es offensichtlich in einem problematischen Verhältnis hinsichtlich seines Sanges steht, verhält; es ist im Stillen, Verborgenen hochgestimmt. –––––––– 4 5 6
Vgl. Jens Burkert: Zu Walthers von der Vogelweide Lied Ich bin als unschedelîchen frô (L 41,13ff.). In: Bein 2010 (Anm. 3), S. 65–98. Vgl. Bein 2013 (Anm. 1), S. 135–141 und S. 600f. Hier wie im Folgenden nach ebd., S. 137f.
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Ich wil guotes mannes werdekeit vil gerne hœren unde sagen. swer mir anders tuot, daz ist mir leit. ich wilz ouch allez niht vertragen. Wê den selben, die sô menigen schœnen lîp habent ze bœsen mæren brâht! wol mich, daz ichs hân gedâht! ir sult si mîden, guotiu wîp. Das Verhalten der Prahler und Lügner – wer auch immer damit genau gemeint sein mag – wird konkretisiert und es findet eine weitere Abgrenzung statt. Maniger trûret, dem doch liep beschiht, ich hân aber iemer hôhen muot, und enhabe doch herzeliebes niht. daz ist mir alsô lîhte guot. Herzeliep, swaz ich des noch ie gesach, dâ was herzeleit mir bî. liezen mich gedanke frî, sone wiste ich niht umb ungemach. Das Ich konzentriert sich von nun an zunehmend auf sich selbst. Es eröffnet einen weiteren Grund, warum seine fröide unschädlich ist, nämlich den, dass es nicht nur nicht zu den Prahlern gehört, sondern, dass es keine Herzensfreude (etwa in Form der tougen minne) hat. Somit läuft es nicht Gefahr, zu einem rüemic man zu werden. Von Herzensfreude und Herzensleid wird es abgehalten durch deren Untrennbarkeit. In einem von ungemach freien Zustand der mâze befindet es sich dennoch nicht, weil ihm noch immer gedanke – mit Blick auf das im Lied Vorangegangene und auf das noch Folgende ist zu fragen: herzeliep-Sehnsüchte oder Reflexionen über die wahre Natur irdischer Freuden? – Unruhe bereiten. Als ich mit gedanken irre var, sô wil mir meniger sprechen zuo. sô swîge ich und lâze in reden dar. waz wil er anders daz ich tuo? Het ich ougen oder ôren danne dâ, sô kunde ich die rede verstân. swenne ich ir beider niht enhân, sone kan ich nein, sone kan ich jâ. Das Ich verliert sich in seinen Gedanken und verschließt sich mit ihnen vor der Außenwelt, es will nicht (mehr) auf das zuo sprechen reagieren und kann nichts (mehr) entscheiden. An dieser Stelle ist ein Einschub nötig: Bekanntlich hat die Forschung bei Walther eine Gruppe sogenannter ,Alterslieder‘ ausgemacht – der Begriff lässt grundsätzlich zunächst offen, ob er im Sinne eines dichterischen Spätwerks oder des Aufgreifens
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der Alters- und Todesthematik, also im Sinne einer literarischen Gattung (contemptus mundi, memento mori etc.) gemeint ist –, deren Zusammensetzung wie auch deren biographische Implikationen umstritten sind. Darauf muss hier wie bereits erwähnt nicht eingegangen werden, festzuhalten ist nur, dass es bei den in diesem Zusammenhang diskutierten Liedern graduelle Unterschiede bei der in ihnen anzutreffenden Absagehaltung gibt, die von der nur andeutungsweise die Minnethematik zur Weltklage erweiternden Minneanklage über die Relativierung der Bedeutung des Irdischen ohne Entwertung der eigenen Lebensleistung bis hin zu dem echt dualistischen Lied L 122,24ff. reichen, was im Übrigen keine chronologische Abfolge nahelegen soll. L 41,13ff. kann durchaus auch als ein Lied, das diesbezüglich ,in der Schwebe hängt‘, angesehen werden: Wird hier nur mit den Prahlern und Lügnern abgerechnet oder geht es auch um mehr, um den mundus? (Ob eine Altersperspektive vorliegt, sei hier ganz dahingestellt.) Dass mehrheitlich an Letzteres gedacht wurde, liegt an der fünften Strophe, die zur Verdeutlichung in Abweichung von Beins Text mit der (fettgedruckten) Konjektur im letzten Vers wiedergegeben wird: Ich bin einer, der nie halben tac mit ganzen fröiden hât vertriben. swaz ich fröiden ie dâ her gepflac, der bin ich eine hie beliben. Nieman kan hie fröide vinden, si zergê sam der liehten bluomen schîn. dâ von sol daz herze mîn ‹niht› senen nâch valschen fröiden mê. Man erfährt aus der Erinnerung des Ichs, dass es tatsächlich ohne Freude ist. Die Begründung dafür liegt in deren Vergänglichkeit. Deshalb fordert das Ich von sich, es solle sich nicht mehr nach solchen valschen fröiden sehnen. Machte man hier den Dualismus von falscher irdischer und wahrer göttlicher Freude aus, wäre dessen genaue Ausprägung (die Härte und Tragweite der Absage) zu diskutieren. In dieser Gestalt jedenfalls kann man das Lied wie Mohr als Vorgang begreifen: Versteht man das Lied als einen Vorgang, so ermißt man, wie weit der Weg ist, den es ausschreitet. Anfangs steht der Sänger noch mitten in der Gesellschaft, er begegnet ihr und sich selbst mit Ironie, er scheint verteidigungsbereit und angriffslustig wie je. Und immer noch geht der Streit um das guote wîp und guotes mannes werdekeit. Dann tritt er in den Innenraum der gedanke, und der Kontakt mit der Umwelt geht verloren. Zuletzt bleibt er allein übrig mit seiner Erinnerung an die vergänglichen Freuden des er7 lebten Lebens und der Sehnsucht nach beständiger Freude.
In der Handschrift (und neuerdings ebenfalls in der Edition) heißt es aber nun einmal: dâ von sol daz herze mîn / senen nâch valschen fröiden mê. Was heißt das für den In–––––––– 7
Wolfgang Mohr: Altersdichtung Walthers von der Vogelweide. In: Sprachkunst 2, 1971, S. 329–356, hier S. 350.
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halt?8 Handelt es sich etwa um puren Zynismus? Zieht das Ich eine selbstzerstörerische Konsequenz aus der Vergänglichkeit irdischer Freuden und ist ihm, gerade weil alles (so schnell) dahingeht und weil es freudlos ist, die Sehnsucht nach falschen Freuden – die je nach Interpretation ja auch nicht völlig entwertet, also gänzlich falsch wären – immer noch lieber, als die Gedanken an diese falschen Freuden aufzugeben? Spielt gar noch ein Erfüllungsgedanke, wenn man so will ein carpe diem anstelle eines contemptus mundi, eine Rolle? Ferner muss auch die Gesamtüberlieferung im Auge behalten werden. Immerhin tradiert nur C die Strophe, die als selbstständige Sangspruchstrophe per Stichwortanschluss (fröide) in den Überlieferungskomplex eingedrungen sein könnte. Als Einzelstrophe interpretiert erschiene mir der Strophenschluss sogar noch ein wenig überraschender als innerhalb des Liedverbunds. Schließlich wäre nach der traditionsgeschichtlichen Plausibilität zu fragen und die Stelle dürfte gerade in ihrem handschriftlichen Wortlaut das Interesse profunder Kenner der vielfältigen mittelalterlichen literarischen Verarbeitungen des vanitas-Gedankens wecken. Denn auch wenn das sol im vorletzten Vers keine Aufforderung, sondern nur eine Umschreibung des Futurs sein sollte,9 was die Radikalität der Aussage gewiss zumindest potentiell abschwächte, bewegte sich der Schlusssatz meines Erachtens dennoch am äußeren Rand des bei Walther ausgemachten Gradualismus. Wäre ,soll‘ statt ,wird‘ gemeint, gälte dies umso mehr. Das ist freilich auch eine Frage des Tonfalls, den man herausliest – auch ein ,wird‘ kann trotzig (und weniger melancholisch bspw.) gemeint sein und einem ,soll‘ damit nahekommen.10 Einigkeit dürfte darüber herrschen, dass im letzten Vers ein niht eher zu erwarten gewesen wäre als keines. Nicht umsonst hat sogar Schweikle, trotz seines Bemühens um eine möglichst konsequente Anwendung des Leithandschriftenprinzips, die Strophe unter Einschluss des niht ediert.11 Mein eigenes (durchaus vorläufiges) Fazit fiel seinerzeit ungeachtet des fraglos beachtlichen Reizes, den das Anslichtbringen des Liedendes in seiner handschriftlichen Gestalt bewirkt, entsprechend eher vorsichtig und zurückhaltend aus, und ein niht mag zweifellos beim Kopieren durchaus einmal –––––––– 8
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Bei der Form nimmt man ohne das niht eine Veränderung der Auftaktverhältnisse (nicht der Hebungszahl) in Kauf; andererseits scheint vom Inhalt her eine formal gekennzeichnete Sonderstellung des letzten Verses oder auch nur des Wortes senen alles andere als unpassend zu sein. Diese Übersetzungsmöglichkeit kommt in meinem Beitrag implizit zwar zur Geltung, wäre jedoch deutlicher herauszustellen gewesen. Vgl. Burkert 2010 (Anm. 4), S. 89f. Einfluss auf die im Strophenende erkannte Stimmung könnte im Übrigen auch der Bezug des da von in demselben Vers haben: In der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion kam die Anregung auf, da von auf liehten bluomen schîn zu beziehen. Man könnte paraphrasieren: „Deswegen, weil es den Glanz der leuchtenden Blumen gibt, wird/soll …“; oder: „Um des Glanzes der leuchtenden Blumen willen wird/soll …“ Die (mir wahrscheinlicher erscheinende) Alternative ist ein Bezug auf die Gesamtaussage des vorigen Satzes, auf die Vergänglichkeit aller Freuden. Man erprobe die Nuancierungen, die sich für die Stimmung zumindest ergeben können. Vgl. Walther von der Vogelweide: Werke. Gesamtausgabe. Bd. 2: Liedlyrik. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Hg., übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle. Stuttgart 1998 (Reclams Universal-Bibliothek 820), S. 424. Angemerkt sei, dass die Konjektur nicht immer wie von Lachmann realisiert wurde. So liest man bei Wackernagel/Rieger: des ensol daz herze mîn / sich senen nâch valschen fröiden mê. Walther von der Vogelweide nebst Ulrich von Singenberg und Leutold von Seven. Hg. von Wilhelm Wackernagel und Max Rieger. Gießen 1862, S. 135.
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vergessen worden sein.12 Die neue editorische Lösung wurde in der Diskussion indes durchweg begrüßt und als Gewinn empfunden. Und da der handschriftliche C-Text in der Neuausgabe erstmals als der primär zu interpretierende C-Text präsentiert wird, darf wohl im Rückblick auf die knappen obigen Bemerkungen zu L 41,13ff. gesagt werden, dass man sogar beim Edieren Walthers noch echte Überraschungen erlebt und dass sich ein Nutzen im eingangs erfragten Sinne einstellt. Im Hinblick auf das digital editing sei noch angemerkt, dass die Tatsache, dass sich solche philologischen Kernprobleme wie die Frage nach der Daseinsberechtigung einer offensichtlich gut begründeten Konjektur nicht digital ,auflösen‘ lassen werden, auch künftig ihre Selbstverständlichkeit nicht verlieren darf.
–––––––– 12
Vgl. Burkert 2010 (Anm. 4), S. 90.
Markus Ender
Zum Mehrwert der kommentierten Online-Edition des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers
1. Der große Unbekannte Ludwig von Ficker (1880–1967) ist heute einer breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Als Schriftsteller um die Jahrhundertwende bestenfalls mäßig erfolgreich, machte er sich auf dem kulturellen Feld als Herausgeber der Zeitschrift „Der Brenner“, die mit Unterbrechungen von 1910 bis 1954 erschien, und insbesondere als Entdecker und Förderer Georg Trakls verdient, betätigte sich aber auch als Inhaber und Leiter des Brenner-Verlags sowie als Literaturkritiker, Juror und Organisator von Lesungen und anderen kulturellen Veranstaltungen. Aufgrund der Vielseitigkeit Fickers und der Fülle seiner Tätigkeiten wie auch personellen Bekanntschaften aus Kultur und Politik kann durchaus postuliert werden, dass es sich bei ihm um eine wichtige Vermittlerfigur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehandelt hat – und dies nicht nur auf den engen tirolischen bzw. österreichischen Raum beschränkt, sondern auch über dessen Grenzen hinaus. 1964 verkaufte Ludwig von Ficker seine Lebensdokumente der Republik Österreich, und das neu gegründete Innsbrucker „Brenner-Archiv“ wurde zu jener universitären Institution, die sich forthin mit der Forschung rund um den „Brenner“ beschäftigte und nach wie vor beschäftigt. Neben tausenden von Dokumenten den „Brenner“ betreffend (so z. B. Werkmanuskripte) stand damit auch die gesamte Korrespondenz Fickers der Forschung zur Verfügung. Obwohl der „Brenner“-Herausgeber zeitlebens eher im Hintergrund die kulturpolitischen Fäden gesponnen hatte, war gegen Ende seines Lebens aus dieser Arbeit ein ansehnliches Briefkonvolut erwachsen; mit einem Umfang von ca. 16500 Korrespondenzstücken kann der Briefwechsel durchaus als zweite Lebensleistung neben dem „Brenner“ gelten. Unter den mehr als 2200 KorrespondenzpartnerInnen Fickers finden sich illustre Namen wie Theodor W. Adorno, Martin Heidegger, Karl Kraus, Else Lasker-Schüler, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl oder Ludwig Wittgenstein. Sein Briefwechsel markiert und dokumentiert damit einen Teil der deutschsprachigen Kulturgeschichte und bietet Forscherinnen und Forschern wie auch interessierten Laien Einblicke in den Kulturbetrieb der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aus diesem Grund keimte bereits Mitte der 1960er Jahre bei den verantwortlichen Entscheidungsträgern der Wunsch, den Briefwechsel der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Eine treibende Kraft für dieses Projekt fand sich in der Person Ignaz Zangerles, jenem „Brenner“-Mitarbeiter, der seit 1927 mit Ficker zusammengearbeitet hatte und der 1965 gegenüber dem Salzburger Otto Müller Verlag verlautbart hatte, dass der
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Markus Ender
„Brenner“-Herausgeber bereit sei, seinen Briefwechsel für eine Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen.1 Auch Walther Killy, einer der Herausgeber der historischkritischen Trakl-Ausgabe,2 begrüßte die Pläne für eine Veröffentlichung der Fickerschen Korrespondenz; er war von der Überzeugung getragen, dass sie „ein literarisches Zeugnis (im weitesten und besten Sinn) höchsten Ranges ist, weit über die Wirkungen, ja den Wert des ‚Brenner‘ hinausreichend, im eigenen Recht und Gewicht gegründet.“3 Insbesondere apostrophierte Killy den seiner Ansicht nach außergewöhnlichen Gehalt des Briefwechsels und gab seiner Sorge über den adäquaten Umgang mit dem Material Ausdruck: Ich glaube nicht, daß es in diesem Jahrhundert in deutscher Sprache einen Briefschreiber gegeben hat, der Ihre Gabe zu erkennen, im rechten Augenblick mit den rechten Worten und mit unerschrockener Behutsamkeit zu sprechen auch nur von fern erreichte. Der vielzitierte und so primitiv unmetaphysische Thomas Mann ist lauter je nach dem Empfänger angefärbte Limonade. Wenn das aber wahr ist (und Sie werden dem vorlauten Jüngeren sein Engagement verzeihen), so sollten [Sie] zeitige Sorge tragen, daß das Briefcorpus auf angemessen treue Weise von den rechten Händen, welche sich Ihnen verpflichtet fühlen, verwaltet wird.4
Mit der von Killy angesprochenen Verwaltung der Korrespondenz wurde schließlich der Verlagsleiter des Otto Müller Verlages, Richard Moissl, betraut. Moissl interpretierte den Briefwechsel als „ein Spektrum, in dem sich geistige Entscheidungen des Jahrhunderts widerspiegeln, als ein Schnittpunkt, in dem sich mannigfache geistige Bewegungen treffen“5; das Besondere daran sei allerdings, dass diese Bewegungen nicht institutionell determiniert seien, sondern „von einem einzigen Menschen, der es wagte, sich selbst und seine ganz Existenz in die Bewegung der Ideen zu werfen, und dem es gelang, durch den Dienst edler Freundschaft die divergentesten Geister zu lenken. Dieses Moment und Movens menschlicher Bezogenheit zum Du, gerichtet auf ein Ideelles, scheint mir das wahrhaft Grosse und Einmalige an diesem Briefwechsel zu sein.“6 Moissls Einschätzung illustriert das editorische Selbstverständnis, mit dem der Otto Müller Verlag dem Briefkorpus begegnete. Attribute wie „geistige Größe“ oder „Einmaligkeit“ sowie die Fokussierung auf die Person Ficker selbst waren mithin Einschätzungskriterien, die – wenngleich in abgeschwächter Form – auch auf das editorische Konzept der Buchausgabe des Briefwechsels Ludwig von Fickers wirken sollten. –––––––— 1
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Die Tochter des Verlagsgründers, Erentraud Müller, wandte sich daraufhin persönlich an Ficker: „Dr. Zangerle hat mir geschrieben, daß Sie unserem Verlag die Veröffentlichung Ihrer Briefe anvertrauen wollen. Ich möchte Ihnen sagen, wie sehr ich mich darüber freue, und Ihnen ganz von Herzen danken für Ihr Vertrauen, das uns diese kostbaren Dokumente überantwortet hat.“ Erentraud Müller an Ludwig von Ficker, 04.06.1965; Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck (folgend mit BA abgekürzt), Nachlass Ludwig von Ficker, Sign. 32/47–5. Georg Trakl, Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Walther Killy und Hans Szklenar. 2 Bde. Salzburg 1969. Walther Killy an Ludwig von Ficker, 14.10.1965; BA, Nachlass Ludwig von Ficker, Sign. 23/20-3. Ebd. Richard Moissl an Ludwig von Ficker, 21.06.1965; BA, Nachlass Ludwig von Ficker, Sign. 32/24-2. Ebd.
Zum Mehrwert der kommentierten Online-Edition des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers
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2. Die Buchausgabe Das lakonische „Wohl bekomms“, mit dem Ludwig von Ficker die Pläne für die Veröffentlichung seiner Korrespondenz kommentierte,7 verwies bereits Mitte der 1960er Jahre auf die editorischen Stolpersteine, die diesem Projekt beschieden sein sollten. So vergingen letztlich mehr als 20 Jahre, bis der erste von vier Bänden der kommentierten Ausgabe des Briefwechsels Ludwig von Fickers 1986 im Otto Müller Verlag erscheinen konnte; die Folgebände wurden in den Jahren 1988, 1991 und 1996 vom Innsbrucker Haymon Verlag verlegt. Die von Franz Seyr, Ignaz Zangerle, Walter Methlagl und Anton Unterkircher besorgte Edition wurde von der kulturinteressierten Öffentlichkeit durchaus mit Wohlwollen wahrgenommen. Rolf Schneider urteilte beispielsweise in seiner Rezension in der „Zeit“ vom 4. 12. 1988 über den ersten Band, die „Zahl und Art der Fickerschen Korrespondenz-Partner [seien] imponierend“, der Band sei „mustergültig kommentiert“, und kam schließlich zum Schluss: „Wer deutsche und österreichische Geistesgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts komplex erfahren will, darf an Ludwig von Ficker nicht vorübergehen.“8 Lange Zeit diente diese Ausgabe als – durchaus brauchbare – Referenz für Wissenschaft und Öffentlichkeit9 und sollte die „kulturgesellschaftliche Anschlusskraft“10 der Briefe Fickers demonstrieren. Ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen des ersten Bandes wird allerdings trotz der unbestrittenen kulturellen Bedeutung der Briefausgabe evident, dass die Edition die ursprünglich an sie gestellten Ansprüche kaum mehr erfüllen kann, wobei sich die Problemfelder der Buchausgabe auf zwei wesentliche Bereiche erstrecken, die in Wechselwirkung zueinander stehen und einander bedingen. Zum einen wurde die gedruckte Briefausgabe einem quantitativen Schnitt unterzogen, denn wegen technischer, personeller und finanzieller Vorgaben bzw. Einschränkungen musste der Umfang der Edition begrenzt werden. Aus diesem Grund wurde aus dem gesamten Briefbestand eine Auswahl von 1300 Briefen von und an Ficker getroffen. Die Kriterien für die Selektion orientierten sich an den im Vorfeld unternommenen Überlegungen, dass die gewählten Briefe nach Ansicht der Herausgeber insbesondere die Verbindung der KorrespondenzpartnerInnen sowohl zu Ficker als auch zum „Brenner“ sichtbar machen und die Entwicklung der Kulturzeitschrift unter Fickers Ägide im Laufe der Jahrzehnte nachzeichnen sollten. Dieser erste Selektionsprozess ist aus einer ökonomischen Warte durchaus nachvollziehbar, denn eine Gesamtausgabe war für eine Figur mit wenig Breitenwirksamkeit schon wegen des finanziellen Aufwands nicht realisierbar. Zudem kamen viele –––––––— 7
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Vgl. den editorischen Bericht zur Buchausgabe, in: Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1909–1914. Hg. von Ignaz Zangerle, Walter Methlagl, Franz Seyr, Anton Unterkircher. Salzburg 1986, S. 386–399, hier S. 386. Rolf Schneider: Trotzig. Briefe Ludwig von Fickers. In: Die Zeit 50, 04.12.1988, S. 98. Dass auch in der Öffentlichkeit zumindest regionales Interesse für den Briefwechsel bestanden haben muss bzw. besteht, lässt sich aus dem Umstand ableiten, dass der vierte Band, der den Zeitraum von 1940 bis 1967 abdeckt, vergriffen und nur mehr antiquarisch erhältlich ist. Walter Methlagl: Am Krankenlager Georg Trakls. Ein imaginäres Stelldichein. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 24–25/200506, S. 27–47, hier S. 28.
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Briefdokumente für eine Veröffentlichung aus verschiedenen Gründen nicht in Frage. Die Herausgeber Seyr, Zangerle und Methlagl waren noch persönlich (und zum Teil sehr eng) mit Ludwig von Ficker bekannt gewesen. So konnten Zangerle und Ficker auf eine fast 40-jährige Zusammenarbeit zurückblicken, Methlagl war als Dissertant 1964 mit dem „Brenner“-Herausgeber bekannt geworden und als späterer Leiter des Brenner-Archivs dem Editionsprojekt in besonderem Maße verpflichtet gewesen, und Seyr hatte in den 1960er Jahren für die von ihm besorgte Ferdinand-Ebner-Ausgabe11 eng mit Ficker kooperiert. Aus diesen persönlichen Naheverhältnissen resultierte der Umstand, dass die Entscheidungen über Relevanz und Irrelevanz von Briefen bzw. KorrespondenzpartnerInnen, auch Jahre bzw. Jahrzehnte nach dem Tod Fickers, in einem Denken geschah, das durch diese Bekanntschaft, sei es bewusst oder unbewusst, in vielerlei Hinsicht bestimmt bzw. überformt war. Eine unmittelbare Folge dieser persönlichen Bindung stellt der Umstand dar, dass in den publizierten Briefen, zum Teil an mehreren Stellen, Auslassungen unternommen worden waren. Insgesamt finden sich in den vier Bänden in 43 Briefen Textpassagen, deren Streichung durch die Herausgeber kenntlich gemacht wurde; zumindest in einem Fall, einem Brief Ludwig von Fickers an Ferdinand Ebner vom 20. 1. 1926,12 blieb eine ganze Passage unveröffentlicht, ohne dass dieser Umstand durch eine entsprechende Kennzeichnung für die RezipientInnen erkennbar wird. In gewisser Hinsicht erscheinen die Streichungen aus der damaligen Situation der Herausgeber heraus verständlich, denn sie wurden zum einen durchgeführt, wenn allzu private Details aus dem Leben von Ficker bzw. dessen KorrespondenzpartnerInnen zur Sprache kamen, zum anderen, wenn sich die inkriminierten Stellen auf damals noch lebende Personen bezogen und diese eine Veröffentlichung untersagt hatten.13 Was jedoch schwerer nachzuvollziehen ist, ist der Umstand, dass aus Briefen und Gegenbriefen offenbar gezielt jene selektiert wurden, deren Inhalt geeignet erschien, ein bestimmtes Bild von Ficker zu zeichnen, das die schon in der Beurteilung des Otto Müller Verlages durchscheinende huldvolle Sichtweise auf den „Brenner“-Herausgeber aufgriff und aus diesem Grund durchaus als hagiographisch bezeichnet werden kann. Die Herausgeber des vierbändigen Briefwechsels waren, ähnlich wie die Verantwortlichen beim Verlag, von einer definierten, geistesgeschichtlich motivierten Subjektphilosophie geprägt. Diese Sichtweise wirkte sich sowohl auf die Wahrnehmung des Herausgebersubjekts als auch auf die Auswahl der Briefe aus; die Handschrift, die Ficker mit den höchsten Attributen versah, hat sich in vielerlei Hinsicht in der Edition niedergeschlagen. In diesem Sinne heißt es im editorischen Bericht zu Band 1: „Was an diesem Briefwechsel auf den ersten Blick wie eine Vielfalt disparater Begegnungsfacetten aussieht, hat in sich konvergierende Tendenz; es zentriert sich – auch im zeitlichen Ereignisverlauf – wie um eine Spindel auf eine Mitte hin, die Ludwig von Fi–––––––— 11 12 13
Ferdinand Ebner: Schriften. 3 Bde. München 1963ff. Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1926–1939. Hg. von Ignaz Zangerle, Walter Methlagl, Franz Seyr, Anton Unterkircher. Innsbruck 1991, S. 9. Vgl. Protokoll der Herausgebersitzung vom 23.08.1967; BA, Sammlung Briefwechsel Ludwig von Ficker, Sign. 208/2.2.
Zum Mehrwert der kommentierten Online-Edition des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers
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ckers Namen trägt.“14 Solche Zuschreibungen lassen auf ein Elitedenken schließen, das zwar das Wort „Genie“ expressis verbis vermeidet, im Subtext aber durchaus durchscheinen lässt. Das sinnstiftende Subjekt – also der „Brenner“-Herausgeber – wurde zur Kategorie, der sich die editorische Arbeit der Herausgeber anpasste; so wurde beispielsweise in einer ersten Konzeption für die Buchausgabe angedacht, lediglich die Briefe Fickers ohne die Gegenbriefe zu veröffentlichen.15 Im Sinne des geistesgeschichtlichen Ansatzes, den die Herausgeber verfolgten, mussten sich Eingriffe wie die selektive Aussparung von Inhalten aber nicht zum Nachteil der Edition auswirken, solange der Grundgedanke, dass sich in den Briefen der ‚Geist‘ der Epoche manifestierte, erfüllt blieb: „Überhaupt wird an diesem vielstimmigen Gebilde, das gleichwohl nicht im Stimmengewirr oder in massenhafte Stimm-Vervielfältigung ausartet, deutlich, wie sehr das, was man geistige oder literarische oder politische Strömungen nennt, eben nicht von amorphen, anonymen Instanzen und deren vorgesetzten Leitbildern, sondern im Grunde von ausgesetzt-unausgesetzt tastenden Einzelnen und solchen, die sich mit anderen in genauer Entsprechung ihrer jeweiligen Charaktere zusammenfinden, ins Leben gerufen und getragen wird.“16
3. Die Online-Ausgabe als neuer Zugang Im Rahmen des FWF-Projektes „Ludwig von Ficker als Kulturvermittler“17 entsteht seit April 2012 eine digitale Ausgabe des Briefwechsels Ludwig von Fickers in Form einer kommentierten Online-Edition, die die im vorigen Abschnitt kurz umrissenen problematischen Aspekte der Buchausgabe revidieren soll. Bei dem Editionsprojekt handelt es sich nicht um ein Digitalisat im Sinne einer Faksimilierung bzw. um eine Erweiterung des gedruckten Ficker-Briefwechsels, sondern um eine völlig eigenständige Neu-Edition. Die digitale Edition weicht dabei in ihrer Konzeption, ihrer Darstellungsform und in ihrem intendierten Gebrauchswert in wesentlichen Punkten von der früheren Buchausgabe ab. Das Projektziel ist eine digitale Edition, die insbesondere die Ansprüche der Forschung zu erfüllen vermag, was die Zuverlässigkeit von Textgrundlage, Kommentar und medialer Vermittlung betrifft, sich aber auch durch uneingeschränkte Benutzbarkeit und (zumindest relative) Langlebigkeit auszeichnen soll.18 Eine umfassende NeuEdition des Briefwechsels Ludwig von Fickers wird in wissenschaftlicher Hinsicht aber insbesondere deshalb zum Desiderat, weil die von den Herausgebern der Buchausgabe vollzogenen Einschnitte in das Material dringend zurückgenommen werden müssen. Die in der Vergangenheit erfolgten Selektionsprozesse haben die möglichen –––––––— 14 15 16 17
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Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1909–1914. Salzburg 1986, S. 390. Vgl. Protokoll der Herausgebersitzung (Anm. 13). Ficker: Briefwechsel 1909–1914 (Anm. 14), S. 390. FWF-Forschungsprojekt „Ludwig von Ficker als Kulturvermittler“ (P24283-G23); Leitung: Ao. Univ. Prof. Mag. Dr. Eberhard Sauermann; Wissenschaftliche Projektmitarbeiter: Mag. Ingrid Fürhapter, Mag. Markus Ender; assoziierte Mitarbeit und technische Betreuung durch Mag. Dr. Joseph Wang. URL: http://www.uibk.ac.at/brenner-archiv/projekte/lfickeralskulturvermittler/ (30.04.2014). Vgl. Sören A. Steding: Computer-Based Scholarly Editions. Berlin 2002, S. 263.
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Propositionen des Briefbestandes in eine bestimmte Richtung gelenkt, weswegen der wissenschaftliche Erkenntniswert nur eingeschränkt und nicht in demselben Maße wie bei einer Gesamtedition gegeben ist. Insofern soll die entstehende Edition auch dazu beitragen, das Bild zu revidieren, dass digitale Editionen lange Zeit mit dem Makel behaftet waren, nicht als eigenständige Editionsformen mit eigenen Charakteristika und besonderem Funktionsumfang, sondern als „preprints, also lediglich flüssige Vorformen zu einer gedruckten Edition“19 zu gelten. Der kommentierten Online-Edition liegt ein theoretisch-methodisches Gebäude zugrunde, das im Unterschied zur Buchausgabe sowohl den editorischen Zugang anders strukturiert als auch einen veränderten Output produziert. Die Edition folgt in ihrer Grundkonzeption zum einen den Ansätzen, die Michel Foucault hinsichtlich der Theorie des Archivs und der Subjektphilosophie in der „Archäologie des Wissens“ dargelegt und präzisiert hat. Foucault fordert darin die Abkehr von der subjektzentrierten Sichtweise zugunsten der Analyse von Aussagen, eine Vorgehensweise, die sich, auf das Archiv bezogen, auch auf den Umgang mit der materiellen und darüber hinaus der immateriellen Dimension der archivalischen Briefbestände ummünzen lässt. Laut Foucault stellt sich die Analyse von Diskursen „tatsächlich auf die Ebene des ‚man sagt‘, und darunter braucht man keine Art gemeinsamer Meinung, kollektiver Repräsentation zu verstehen, [...] sondern die Menge der gesagten Dinge, die Relationen, die Regelmäßigkeiten und Transformationen, die darin beobachtet werden können [...].“20 Es ist freilich evident, dass Foucault unter dem Begriff „Archiv“ weder die Summe aller überlieferten Dokumente einer Vergangenheit versteht noch die Institution, die diese Dokumente verwaltet, sondern vom „allgemeine[n] System der Formation und der Transformation der Aussagen“21 spricht. Für eine Annäherung an dieses System eignen sich Archivbestände allerdings durchaus, weshalb die im Brenner-Archiv vorliegenden Briefe, insbesondere in ihrer inhaltlichen Dimension, weitgehend wertfrei als Summe von Aussagen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich waren, betrachtet werden. In Folge wird für die Edition (soweit möglich) vermieden, zwischen ‚wichtigen‘ und ‚unwichtigen‘ Briefen bzw. BriefpartnerInnen zu hierarchisieren bzw. zu priorisieren. Der augenscheinlichste und zugleich wichtigste Schritt, der die entstehende Online-Edition von der Buchausgabe unterscheidet, besteht darin, dass die empirische Materialbasis erheblich erweitert wird. Nach dem derzeitigen Stand der Arbeiten liegen bereits 12500 der 16500 im Brenner-Archiv verfügbaren Korrespondenzstücke von und an Ficker als digitale Transkripte vor, die in die Edition aufgenommen werden können. Die Online-Edition weist zum Zeitpunkt somit bereits den zehnfachen Umfang der gedruckten Ausgabe des Briefwechsels auf und umfasst mehr als vier Fünftel der gesamten im Brenner-Archiv vorhandenen Korrespondenz Ludwig von Fickers. Besonderer Wert wurde bei dieser Edition darauf gelegt, bestehende Lücken –––––––— 19
20 21
Thomas Stäcker: Creating the Knowledge Site – elektronische Editionen als Aufgabe einer Forschungsbibliothek. In: Christiane Fritze u. a. (Hg.): Digitale Edition und Forschungsbibliothek. Wiesbaden 2011, S. 107–126, hier S. 107–108. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt/Main 1981, S. 178. Ebd., S. 188.
Zum Mehrwert der kommentierten Online-Edition des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers
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im Bestand zu schließen und sämtliche Briefe Fickers wie auch die Gegenbriefe der jeweiligen KorrespondenzpartnerInnen vollständig zu erfassen. In jenen Fällen, in denen die Originalbriefe Fickers nicht mehr zu eruieren waren, wurde, soweit vorhanden, auf Entwürfe bzw. Abschriften zurückgegriffen, von denen etliche im Nachlass Ludwig von Fickers erhalten geblieben sind. Die immense Datenmenge, die dieser Edition zugrunde liegt, führte zu einer zentrale Prämisse für die technische Umsetzung: Die operative wie strategische Ablauforganisation sollte möglichst effizient und ohne große technische Hürden gestaltet werden, da Verzögerungen im Arbeitsprozess (insbesondere im Falle projektbedingter Zeitvorgaben) schwierig abzufangen gewesen wären. Der kommentierte Online-Briefwechsel baut auf in den Digital Humanities mittlerweile etablierten Standards22 auf, die Briefe und Kommentare werden somit als XML bzw. TEI-Datensätze23 aufbereitet. Für die Transkription wird zunächst allerdings auf das gängige Textverarbeitungsprogramm Microsoft Word und damit auf das Microsoft-*.docx-Dateiformat zurückgegriffen. Die Entscheidung, den ersten konstitutiven Schritt in Richtung digitale Edition mit einer proprietären WYSIWYGProgrammoberfläche zu unternehmen und nicht auf freie Editor-Software wie beispielsweise GNU Emacs zurückzugreifen, ist bereits zu Projektbeginn vorausschauend aus mehreren Gründen getroffen worden. Zum einen wurden im Brenner-Archiv schon vor Projektbeginn Transkriptionen von Briefen Ludwig von Fickers mittels besagter Software durchgeführt; in etwa 15 Prozent des Gesamtbestandes an Briefen lagen zu Projektbeginn in elektronischer Form als Transkripte im *.docx-Format vor. Vielfach erwiesen sich diese Abschriften aber als lücken- und fehlerhaft, weil in der Vergangenheit die Transkriptionen zum Teil ohne einheitliche Formatvorgaben erstellt worden sind, was einige Zeit für Nachbearbeitungen in Anspruch genommen hat. Zudem waren duch die OCR-Codierungen des gedruckten Briefwechsels zahlreiche Lesefehler vorhanden, wodurch eine genaue Kontrolle bzw. Kollationierung, die im Idealfall durch HandschriftenkennerInnen durchgeführt werden sollte, unabdingbar erschien. Unsere Erfahrung mit dem Projekt hat diesbezüglich gezeigt, dass die Technik den Faktor Mensch bei der Kollationierung nur unzureichend ersetzen kann; die Annahme, dass „Maschinen […] dem Editor heute das mühsame Geschäft des Kollationierens ab[nehmen]“24 könnten, gilt bestenfalls bedingt. Des Weiteren sind aufgrund des nach wie vor hohen Marktanteils und der weiten Verbreitung des Programms die meisten AnwenderInnen mit aktuellen Versionen von Microsoft Word vertraut, weshalb auch externe MitarbeiterInnen bzw. PraktikantInnen in kurzer Zeit in die Transkriptionsarbeit eingeführt werden können, ohne großen Aufwand für die Einübung in ‚fremde‘ Editorsoftware betreiben zu müssen. Überdies verringert dieser –––––––— 22
23 24
Vgl. Hans-Werner Bartz und Stefan Büdenbender: Die Auszeichnung von Briefen in XML/TEI. Eine Hinführung. In: Peter Stadler/Joachim Veit (Hg.): Digitale Edition zwischen Experiment und Standardisierung. Musik – Text – Codierung. Tübingen 2009, S. 251–263. TEI Guidelines for Electronic Text Encoding and Interchange; URL: http://www.tei-c.org/Guidelines /P5/ (30.04.2014). Marita Mathijsen: Die ‚sieben Todsünden‘ des Kommentars. In: Nutt-Kofoth/Plachta/van Vliet/Zwerschina (Hg.): Text und Edition. Position und Perspektiven. Berlin 2000, S. 245–263, hier S. 247.
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Schritt die möglichen Fehler bei der Transkription und gewährleistet gleichzeitig, dass in kurzer Zeit eine große Menge Transkripte erstellt werden kann, ohne dass dabei für die BearbeiterInnen der Überblick verloren geht. Letztlich, und darin bestand der Kern der Überlegungen, lassen sich aus diesen Dateien, weil ihnen bereits das Office Open XML-Format zugrundeliegt, durch ein entsprechendes Stylesheet datenbankgeeignete TEI-Datensätze erstellen.25 Für jede KorrespondenzpartnerIn wird ein eigener Datensatz erstellt, in die die Transkripte sämtlicher vorhandener Korrespondenzstücke aufgenommen und in einem Header nach bestimmten Formalkriterien für jeden Brief die relevanten Metadaten (in diesem Fall Datierung, Sender und Empfänger, Provenienz und Archivsignatur) ausgezeichnet werden. Die Transkripte werden als *.docx-Dateien in einem zentralen Verzeichnis gespeichert und verwaltet. Auf dieses Verzeichnis greift der Data Ingest Thread zu, eine eigens für die Edition von Joseph Wang auf der Basis von Apache Camel erstellte Programmroutine, durch welche die *.docx-Dateien in datenbankkompatible TEI-Datensätze konvertiert und in die Datenbank eingespeist werden. Die automatisierte TEI-Codierung hat sich für das Editionsprojekt insofern als effektiv herausgestellt, als die manuelle Auszeichnung mittels eines XML-Editors eine gewisse Einarbeitungszeit der am Projekt beteiligten MitarbeiterInnen gekostet und personelle Ressourcen gebunden hätte. Zudem musste davon ausgegangen werden, dass eine manuelle Auszeichnung wegen der Menge an Datensätzen schwer durchführbar gewesen wäre. Ein weiterer Vorteil der Implementierung einer Programmroutine liegt in dem Umstand begründet, dass der Data Ingest Thread den inkrementellen Aufbau der Edition unterstützt; sämtliche Änderungen, die im Nachhinein an den *.docxDateien vorgenommen werden, werden vom Programm geprüft und wieder in den TEI-Datensatz eingepflegt. Das Java Content Repository, die eigentliche DatenbankArchitektur, basiert auf Apache Jackrabbit (JCR); deren Struktur ist so gewählt, dass Versionierungen und die Einbindung alternativer Inhalte (so z. B. Scans) möglich sind. Als verbindende Kommunikationsschnittstelle zwischen Data Ingest Thread, der Datenbank und der Web-Applikation dient das Apache Sling Webapplikationsframework. Abgesehen von der Nutzung des proprietären MS-Dateiformats für die Transkription baut die Edition somit vollständig auf Open-Source-Software auf. Es erscheint evident, dass ein editorisches Großprojekt wie die Online-Ausgabe des Ficker-Briefwechsels spezifischer Formen der Texterschließung bedarf. Für die Konzeption und die Realisierung des Kommentars wie auch für die projektierte Erschließungstiefe war deshalb ebenfalls unabdingbar, einen gangbaren Weg zwischen inhaltlicher bzw. operationaler Effizienz und adäquatem Informationswert zu finden. Ähnlich wie bei der Codierung von XML zu TEI wurde auch für den Kommentar die Auszeichnung mittels geeigneter Editor-Software grundsätzlich in Betracht gezogen, angesichts der Knappheit der personellen und zeitlichen Ressourcen aber ein anderer Weg gefunden, die der Datenbank zugrunde liegenden Dokumente auszuzeichnen. Zur Anwendung kommt die Kommentarfunktion von Microsoft Word. Die Kommen–––––––— 25
Das von Sebastian Rahtz geschriebene und in der Edition zur Anwendung kommende XSLT-Stylesheet ist via https://github.com/TEIC/Stylesheets zugänglich (30.04.2014).
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sorte, Blattgröße und Tintenqualität, derzeit noch eine untergeordnete Rolle spielen. Der Fokus auf die textuelle Ebene bedeutet in diesem Fall jedoch nicht, dass sämtliche Formalaspekte des Originals außer Acht gelassen werden müssen; Absatzgliederungen werden übernommen, eine diplomatische Umschrift ist wegen der aufwändigen Realisierung allerdings nicht geplant. Solche Schnitte erscheinen schon aufgrund der schieren Materialfülle als notwendig; es ist für die Edition aber geplant, diesem Aspekt zumindest insofern korrigierend zu begegnen, als die BenutzerInnen die Brieftranskripte mit Faksimileabbildungen in Form von hochauflösenden Farbscans abgleichen können.
4. Nutzen Fragt man nun nach dem Mehrwert bzw. dem Nutzen der kommentierten OnlineEdition, so sollen in ihr insbesondere die vielfältigen Möglichkeiten digitalen Edierens zur Anwendung kommen und sichtbar werden, die Patrick Sahle mit „Umfang, (Multi-)Medialität, Vernetzung [...], Zugänglichkeit, Offenheit, Variabilität, Interaktivität, Retrieval und Weiterverarbeitungsoptionen“28 benannt hat. Die Edition eröffnet zunächst durch ihren Umfang einen Zugang, über den die NutzerInnen die Vermittlerfigur Ludwig von Ficker in einen spezifischen geographischen wie kulturelle Raum, (historische) Zeit und soziohistorische Prozesse eingebunden finden. Es wird eine Materialbasis geboten, die sich dadurch auszeichnet, dass durch ihre Breite differenzierte Einblicke in kulturell-gesellschaftliche Diskurse und Dispositive gewonnen werden können, die durch die vorliegende Buch-Edition bisher versagt geblieben sind und auch nicht in derselben Weise durch einen Archivbesuch und die Konsultation der Originaldokumente substituiert werden können (womit insbesondere der Aspekt des Informations-Retrieval, den die digitale Edition leisten kann, angesprochen ist). Die in der Online-Edition verfügbaren Transkripte bilden auf diachroner Ebene einen Schnitt durch die ersten sechs Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts mit all seinen Brüchen und Verwerfungen, wie Erster Weltkrieg, Austrofaschismus, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg, Nachkriegszeit und Wohlstandsgesellschaft; und die angedachte Suchfunktion, die die Suche nach Personennamen, diachronen und synchronen Zeitabschnitten bzw. -punkten integriert, können illustrieren, dass bestimmte Ausprägungen verschiedener Diskurse zur Sprache kommen, andere hingegen nicht. Steht für die AnwenderInnen die diskursive Breite des Materials im Vordergrund, so existiert hinsichtlich der Institution Archiv ein weiterer Aspekt, der den Nutzen eines Editionsprojekts wie der kommentierten Online-Edition des Briefwechsels Ludwig von Fickers illustriert: Dadurch dass der Arbeitsprozess nicht mit der FaksimileDigitalisierung von Archivinhalten abgeschlossen ist (wobei der Prozess der Digitalisierung mithin schon „zu den größten Herausforderungen der Archive in der Informa–––––––— 28
Patrick Sahle: Digitales Archiv – Digitale Edition. Anmerkungen zur Begriffsklärung. URL: http://www.germanistik.ch/publikation.php?id=Digitales_Archiv_und_digitale_Edition (20.01.2014).
Zum Mehrwert der kommentierten Online-Edition des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers
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tionsgesellschaft“29 gehört), sondern darüber hinaus eine Transkription der Brieftexte samt archivarisch/bibliothekarischer wie literatur- bzw. kulturwissenschaftlicher Erschließung stattfindet, erweitert sich der potentielle Anwendungsbereich der Materialien. Der Mehrwert besteht darin, dass einerseits die Erschließungstiefe der Dokumente projektbezogen gewählt werden kann, sowohl was die Metadatenauszeichnung als auch den Kommentar betrifft, und andererseits die Transkripte gezielt nach Namen und Begriffen durchsucht werden können. Andererseits wird durch die nach der Transkription durchgeführte Datenkonvertierung die digitale Nutzbarkeit auch in der Zukunft gesichert bzw. kann die Verfügbarkeit relativ alterungsbeständiger Datenstrukturen, die sich zudem durch ihre Interoperabilität auszeichnen, gewährleistet werden. Die aus den proprietären MS-Word-Dateien generierten XML/TEI-Datensätze stellen den eigentlichen Kernbereich der Edition dar. Diese bleiben, wie im Fallbeispiel eines kommentierten Briefwechsels, für die Archivinstitution auch noch in jenen Fällen sinnvoll nutzbar, wenn die mit den Daten arbeitenden Projekte auslaufen oder sich MS-Word für die Oberflächenbearbeitung der Transkripte, wie es derzeit praktiziert wird, als nicht mehr brauchbar herausstellen sollte (was angesichts rascher Produktzyklen, denen auch Software permanent unterworfen ist, anzunehmen ist). Überdies wird der Briefbestand an die vom Austrian Academy Corpus (AAC) zur Verfügung gestellten Plattformen „Brenner Online“30 sowie „Fackel Online“31 angebunden werden; diese Vernetzung, unterfüttert mit der Integration von Meta-Content wie den Daten der GND, macht deutlich, wie weit der Mehrwert einer kommentierten Online-Edition reichen kann, denn sie fördert (bzw. fordert!) und unterstützt die Integration vieler archivarischer Repräsentationsformen, die ansonsten getrennt nebeneinander betrachtet werden müssten. Die aus der Verknüpfungsstruktur abgeleitete Anschlussfähigkeit, die Open-Access-Policy, der die Online-Edition des Briefwechsels Ludwig von Fickers verpflichtet ist, sowie eine auf große Textmengen hin ausgerichtete technische Ablauforganisation stellen Faktoren dar, die eine zukünftige Vernetzung mit ähnlich gelagerten Projekten ermöglichen bzw. erleichtern. In diesem Sinne ist geplant, eine Form der Integration zu finden, den Interessierten sowohl einen Zugang zu den konvertierten XML-Dateien wie auch zum Quellcode der Programmroutine und der Datenbankarchitektur zu bieten. Eine solche Maßnahme erscheint geeignet, um zukünftigen verwandten Projekten, die vor ähnlichen Problemen stehen und an der Adaption der Grundstruktur dieses Editionsprojektes interessiert sind, die Umsetzung derselben zu ermöglichen oder zu erleichtern. Ein Austausch in dieser Richtung wäre überdies geeignet, sowohl die Entwicklung quelloffener, gemeinfreier Software voranzutreiben als auch das digitale Edieren (zumindest teilweise) unabhängig von proprietärer Software zu machen. –––––––— 29
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Gerald Maier: Die Digitalisierung von Archivgut – Ziele, Workflow und Online-Präsentation. In: Angelika Menne-Haritz/Rainer Hofmann (Hg.): Archive im Kontext. Öffnen, Erhalten und Sichern von Archivgut in Zeiten des Umbruchs. Festschrift für Prof. Dr. Hartmut Weber zum 65. Geburtstag. Düsseldorf 2010, S. 285–304, hier S. 285. URL: http://corpus1.aac.ac.at/brenner/ (30.04.2014). URL: http://corpus1.aac.ac.at/fackel/ (30.04.2014).
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Eberhard W. Güting
Druckausgaben und Onlineeditionen des NT Graece vor neuen Herausforderungen
1. Eine Onlineedition des NT Graece stellt vor neue Herausforderungen Bereits seit Jahren bieten theologische Verlage Zugang online zu Zeitschriften und sogar zu ihrem gesamten Verlagsprogramm. Abonnenten der Theologischen Literaturzeitung erhalten nach der jährlichen Überweisung des Abonnementpreises mit der Briefpost einen Code, der den Zugang zu sämtlichen Aufsätzen und Rezensionen der Jahre 1996 bis 2013 freischaltet.1 Zusätzlich ist das Durchsuchen der Register der Bände 1876 bis 1995 möglich.2 Ein wichtiges Rezensionsorgan erscheint nicht im Druck, sondern nur als Zeitschrift online.3 Eine erste Onlineedition des griechischen Neuen Testaments mit kritisch ediertem Text erschien im Jahr 2010. Diese Edition wurde als SBLGNT vorgestellt [Society of Biblical Literature Greek New Testament].4 Sie wurde zugleich als Druckausgabe angeboten. Ediert wurde sie von dem Amerikaner Michael W. Holmes in Zusammenarbeit mit Rick Brannan. Diese Edition diente nach Angabe der Editoren praktischen Bedürfnissen, zielte aber zugleich auf die Förderung textkritischer Arbeit. In mehr als 540 Variationseinheiten5 unterscheidet sich der Text von dem weitverbreiteten Text des Nestle-Aland. Auch gegenüber den textlichen Entscheidungen der Editio Critica Maior des Instituts für Neutestamentliche Textforschung in Münster unterscheidet sich ihr Text (vgl. unten den Abschnitt 5 dieses Aufsatzes).6 Der Apparat allerdings verzichtet auf die Nennung griechischer oder lateinischer Zeugen sowie anderer antiker Übersetzungen, nennt keine Väterzitate, keine Lektionarhandschriften. Er verzeichnet auch keine Korruptelen in neutestamentlichen Texten und verzichtet darauf, zu emendieren oder Emendationsvorschläge zu nennen, selbst dort, wo diese in modernen Bibelübersetzungen akzeptiert worden sind.7 In ei–––––––— 1 2 3 4 5 6 7
www.thlz.com. Der Zugriff auf sämtliche Bände dieser Zeitschrift wird gegenwärtig vorbereitet, vgl. Theologische Literaturzeitung 139 (2014), S. 146. TC. A Journal of Biblical Textual Criticism. Adresse: http://purl.org/TC. www.SBLGNT/com. The SBL Greek New Testament. SBL Edition. Hg. von Michael W. Holmes. Atlanta, Georgia 2010 und zugleich Bellingham, Washington: Logos Bible Software, 2010, S. viii. Holmes 2010 (Anm. 5), Appendix. The SBLGNT in comparison to ECM, S. 515–516. Holmes 2010 (Anm. 5), S. ix–xviii. Hinsichtlich der weitgehend nicht genannten Emendationsvorschläge muss allerdings eine Ausnahme erwähnt werden. In 2 Petr 3:10 wird die in ECM akzeptierte Lesart mit dem Zeichen em erwähnt, jedoch nicht in den eigenen Text aufgenommen. ECM stützt sich hier auf mehrere antike Übersetzungen, die eine Negation bezeugen. Unter den im Nestle-Aland sehr seltenen Konjekturen erwähnt Holmes in Apg 16:12 ������ ������� ��� – eine absolut überzeu-
Eberhard W. Güting
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2. Der Nestle-Aland Online stellt sich den Herausforderungen des Internets Auch der Nestle-Aland ist seit der 28. Auflage sowohl als Druckausgabe wie im Internet verfügbar.12 Die Druckausgabe präsentiert sich in eindrucksvoller Reichhaltigkeit. Das gilt für den kritischen Apparat, für die Beigaben im Rand, für die vier Appendices (I Codices Graeci et Latini, II Variae lectiones minores, III Loci citati vel allegati, IV Signa et abbreviationes). Die eingehende Einführung in deutscher und in englischer Sprache gibt zu erkennen, in welchem Ausmaß zahlreiche Spezialisten mitgewirkt haben: Bei der Überprüfung der koptischen Versionen des Johannesevangeliums, bei der Überprüfung der lateinischen, koptischen und syrischen Notierungen im Bereich der Katholischen Briefe, in der Verzeichnung der patristischen Zitate im Bereich der Katholischen Briefe.13 Die wichtigste Neuerung dieser Ausgabe besteht darin, dass sie auf Fortschritte der Editio Critica Maior in der Erforschung der Katholischen Briefe zurückgreifen kann. In diesem Teil des Neuen Testaments wird der Text der ECM2 mit den hier reichlich gesammelten Varianten geboten, während die übrigen Textteile die textkritischen Entscheidungen der 27. Auflage bieten. Der Nestle-Aland und ein großer Teil seiner Ressourcen ist auch im Internet verfügbar.14 Die Präsentation auf der Website des Instituts ist nicht weniger eindrucksvoll als die Druckausgabe.15 Man kann die 27. Auflage online lesen.16 Man bekommt Zugang zu einem Text ohne Apparat. Was man niemandem raten kann zu tun, wird hier möglich. Ebenfalls Zugang zu den wichtigen Zeugen der koptischen Überlieferung mit ausführlichen bibliographischen Angaben erhält man online: SMR Datenbank koptischer neutestamentlicher Handschriften.17 Schon früher hatte es den Zugriff auf zahlreiche Transkripte wichtiger Zeugen gegeben, die Bibliographie zeigt, dass diese Datei im Jahre 2003 angelegt wurde. Ruft man die Datei auf, so erhält man auf Anforderung positive Apparate und Listen der jeweils nicht vorhandenen Zeugen. Man kann im Text Vers für Vers oder Wort für Wort vorangehen.18 Man erhält vollständige Transkripte aufgerufener Handschriften oder auch sorgfältige Beschreibungen mit der Nennung der im jeweiligen Fragment vorhandenen Texte sowie reiche bibliographische Angaben. Damals hielt man es für nötig, dem Nutzer mitzuteilen, welche Voraussetzungen der heimische PC für seinen Einsatz zu erfüllen hatte, nämlich den SBL Greek font, Windows Internet Explorer –––––––— 12 13 14
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www.uni-muenster.de/NTTextforschung. Nestle-Aland. Novum Testamentum Graece. Begründet von Eberhard und Erwin Nestle. 28., revidierte Auflage. Stuttgart 2012 (Anm. 7). Mehrere Internetportale bieten überarbeitete Versionen der 28. Auflage an, z. T. mit lexikalischen, grammatischen und auch textvergleichenden Zusätzen. Dabei sind ökonomische Interessen unübersehbar, dieses Material wird auf erwerbbaren DVDs angeboten und soll die Verkaufserlöse weiterer Produkte steigern. Man kann folgende Adressen aufrufen: www.accordancebible.com oder www.logos.com oder www.olivetree.com oder www.bibleworks.com. www.egora.uni-muenster.de/intf. www.nestle-aland.com/de/na28-online-lesen. www.intf.uni-muenster.de/smr. www.nttranscripts.uni-muenster.de.
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5.0 oder eine spätere Version, Netscape 6.0, Opera 6.0 oder deren spätere Versionen, für Macintosh Rechner war mindestens die Version Mac OS X 10.0 erforderlich. Das Institut für Neutestamentliche Textforschung in Münster ist daran interessiert, für zahlreiche noch unerledigte Arbeiten die Mithilfe auswärtiger Mitforscher zu gewinnen. So kann man etwa eigene Transkripte von griechischen Zeugen anfertigen und gegebenenfalls Verbesserungsvorschläge an das Institut weitergeben.19 Bereits früher hatte der Direktor des Instituts in der Zeitschrift Early Christianity auf den zusammen mit der Universität Birmingham betriebenen Virtual Manuscript Room hingewiesen und damit Nutzer des Internets zur Mitarbeit ermutigt. Allerdings sind die damals genannten Internetadressen zum Teil veraltet.20 Man kann die von Gerd Mink entwickelte lokalgenealogische Methode zum Generieren von Wahrscheinlichkeiten bei der Abwägung von Handschriftenverwandtschaften aufnehmen.21 Das ist jedoch bereits eine anspruchsvolle Arbeit, in die man an Hand der Datei „Genealogical Queries 2.0“ eingeführt wird.22
3. Die Herausforderung der neutestamentlichen Philologie durch die „lokalgenealogische Methode“ Gerd Minks Gerd Minks „Coherence Based Genealogical Method“ (CBGM) trug maßgeblich zum Abschluss der Editio Critica Maior der Katholischen Briefe bei. Zahlreiche Transkriptionen von Zeugen und umfangreiche und vielfältige Rechenprogramme waren erforderlich, um die editorischen Probleme zu bewältigen und einen vertretbaren, allerdings hypothetischen „Ausgangstext“ zu schaffen.23 Mink betont in seinem Rechenschaftsbericht, dass Philologie und philologische Methode das „iterative“ Vorgehen bei der Klärung der genealogischen Beziehungen zwischen den Texten der Zeugen prägen.24 Insofern ist diese Methode, die zugleich Probleme der Kontamination, sowie die Phänomene der oft unabhängig voneinander mehrfach entstehenden Varianten wie auch den gewaltigen Verlust an antiken Zeugen zu bewältigen hat, nur ein „Complement“, eine Ergänzung zur tradierten Philologie. –––––––— 19 20 21
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www.ntvmr.uni-muenster.de. Holger Strutwolf: Der ‚New Testament Virtual Manuscript Room� – eine Online Plattform zum Studium der neutestamentlichen Textüberlieferung. In: Early Christianity 2 (2011), S. 275–277. Gerd Mink: Contamination, Coherence and Coincidence in Textual Transmission. The Coherence – Based Genealogical Method (CBGM) as a Complement and Corrective to Existing Approaches. In: The Textual History of the Greek New Testament. Changing Views in Contemporary Research. Hg. von Klaus Wachtel und Michael Holmes (SBL Text-Critical Studies. 8). Atlanta 2011, S. 141–216. www.intf.uni-muenster.de/cbgm/index.html. Vgl. auch http://egora.uni-muenster.de/intf/projekte/ecm. shtml. Novum Testamentum Graecum. Editio Critica Maior. Hg. von Barbara Aland, Kurt Aland, Gerd Mink, Holger Strutwolf, Klaus Wachtel. Bd. IV Die Katholischen Briefe. 2., revidierte Auflage, 2. revidierter Druck. Stuttgart 2014. Im Internet stellt Gerd Mink seine „Coherence Based Genealogical Method“ unter folgender Adresse vor: http://egora.uni-muenster.de/intf/service/downloads_en.shtml. Mink 2011 (Anm. 21), S. 204: „In the course of a revision it will be checked carefully whether a relationship between variants that appears to be philologically and genealogically plausible was overlooked or whether a previously favored relationship conflicts with the overall picture. In such cases strong philological reasons will be required to sustain the original assumption.”
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Allerdings ist dieser Hinweis Minks mit Zurückhaltung aufzunehmen. Denn gleichzeitig wurde von Mink festgestellt, dass die Arbeit mit drei Typen antiken Textes inzwischen überholt ist.25 Diese seit langem verwendete Einteilung der antiken Zeugen, in alexandrinische, in „westliche“ und in byzantinische Handschriften liegt jedoch dem Vorgehen der SBL Edition zugrunde. Mit ihrer Hilfe wurden bemerkenswerte textkritische Entscheidungen gewonnen. Zunächst soll das zugegebenermaßen komplizierte Verfahren kurz vorgestellt werden. Dieses stützt sich auf vollständige Transkriptionen ausgewählter griechischer Handschriften, die nicht mehr von Hand, sondern digital mit dem Programm COLLATE generiert werden.26 Erste Rechenprogramme ermitteln, welche Handschriften möglicherweise miteinander verwandt sind. Diese Ergebnisse implizieren noch keine genealogische Verwandtschaft, dienen jedoch dazu, eine Liste voneinander abhängiger Zeugen zu ermitteln. Eine Vielzahl von Varianten zeigt einen „textual flow“, mitunter sehr klar, mitunter ohne ausreichende Klarheit. Um Varianten in Rechenprogrammen handhaben zu können, werden mit Hilfe des hypothetisch ermittelten Ausgangstextes für jedes überlieferte Wort und für jeden überlieferten Zwischenraum Adressen festgelegt, die die genaue Platzierung aller Varianten sicherstellen. Schließlich bekommt jeder Zeuge für den Bereich eines Briefs oder einer sonstigen Schrift eine Gewichtung, die sich auf die Qualität seines überlieferten Textes stützt. Das Verfahren erlaubt es, mit weitgehender Kontamination der Überlieferung umzugehen. Schließlich werden mit Hilfe philologischer Kriterien und Überlegungen lokale Stemmata und Stemmata vollständiger Schriften erstellt. Eine Kritik dieses Vorgehens kann und soll nicht gegeben werden.27 Doch liegen inzwischen die Ergebnisse und Materialien der Editio Critica Maior vor. Eine begrenzte und zurückhaltende Prüfung der textkritischen Entscheidungen dieser Bände ist möglich. Es muss betont werden, dass mit Abschluss dieser Edition in eindrucksvoller Fülle und Übersichtlichkeit Varianten und deren Bezeugungen aufgelistet und dargestellt werden. Neben patristischen Zitaten sind in großem Umfang antike Übersetzungen unter den Zeugen nachgewiesen. Die Herausgeber haben klargestellt, dass nicht durchgehend mit gleicher Gewissheit textkritische Entscheidungen getroffen und vertreten werden können. Ein System von auffälligen Punkten in den Textzeilen – � – macht auf alternative Lesarten aufmerksam, die in textkritischer Betrachtung möglicherweise vorzuziehen sind. Auch die Verwendung eckiger Klammern – [ ] – dient dazu, diese Ausgangslage hervorzuheben. Die 28. Auflage des Nestle-Aland verwen-
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Mink 2011 (Anm. 21), S. 148 Anm. 16: „At any rate we should not try to impose the concept of texttypes on evidence that is far too complex to be adequately sorted by it.“ Die Angaben in den Einführungen zu den Bänden der Editio Critica Maior lassen diese Fortschritte erkennen, vgl. auch Peter M. Head: The Editio Critica Maior. An Introduction and Assessment. In: Tyndale Bulletin 61 (2010), S. 131–152. Die von Peter Robinson entwickelte Software mit dem Namen Collate ist unter folgender Adresse erreichbar: www.canterburytalesproject.org. Die Zeitschrift TC veröffentlichte eine sorgfältige Rezension dieses Ansatzes, seiner Möglichkeiten, aber auch seiner Grenzen. Vgl. TC 18 (2013), Reviewer: Charlesworth.
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det zu diesem Zweck in Textzeilen eingefügte Rhomben.28 Neben den hier vorgestellten Entwicklungen auf dem Gebiet der neutestamentlichen Textkritik werden weiterhin bewährte philologische Ansätze genutzt. Dabei zeigt sich, dass diese jeweils spezifische Möglichkeiten enthalten, die Variation der Texte zu erschließen und zu verstehen. Dazu gehört auch die gründliche Untersuchung des Verhaltens von Abschreibern.29
4. Die Bedeutung der „digitalen Revolution“ für die Arbeit an neutestamentlichen Texten Digitale Editionen des Neuen Testaments eröffnen der wissenschaftlichen Arbeit an den Texten vielfältige Möglichkeiten. Weitere Möglichkeiten kommen gegenwärtig hinzu. In Vorbereitung der Editio Critica Maior sind nicht nur in zahlreichen Bänden wesentliche Vorarbeiten gedruckt worden, so vor allem die Ergebnisse von Teststellen-Kollationen.30 Digitale Editionen von Handschriften und von Variantensammlungen31 wurden vorbereitet oder sind bereits erschienen. Der wichtige Codex Sinaiticus ist bereits seit längerem digital erreichbar.32 Gegenwärtig liegt der Schwerpunkt zahlreicher Arbeiten auf der Analyse und Präsentierung der Actaüberlieferung sowie auf den digitalen Vorarbeiten für die Edition des Johannesevangeliums im Rahmen der Editio Critica Maior.33
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Nestle-Aland, 28. Auflage (Anm. 7), S. 10*: „Eckige Klammern im Text der Schriften außer den Katholischen Briefen ([ ]) zeigen an, dass der eingeklammerte Abschnitt textkritisch nach dem heutigen Erkenntnisstand nicht gänzlich gesichert werden konnte (vgl. Mt 18,19; Apg 16,1) [….. ] Eckige Klammern markieren aber immer besondere Schwierigkeiten in der Textfindung.“ Ebd., S. 10* „In den Katholischen Briefen wird dort, wo in der 2. Auflage der ECM die Leitzeile zwei gleichwertige Alternativlesarten aufweist, das Zeichen � (Rhombus) verwendet. In der ECM ist an diesen Stellen die Alternativlesart im Variantenspektrum und im Apparat ebenfalls mit � gekennzeichnet.“ Juan Hernandez, Jr., Peter M. Head, Dirk Jongkind, and James R. Royse: Scribal Habits in Early Greek New Testament Papyri. Papers from the 2008 Panel Review Session. In: TC 17 (2012), S. 1–22. Text und Textwert der griechischen Handschriften des Neuen Testaments. Hg. von Kurt Aland (Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung, Bde. 1–5, 9–11, 16–21, 27–31, 35–36). Berlin/New York 1987–2005. Zu den verfügbaren Materialien gehört eine Kollation des Kapitels 18 des Johannesevangeliums, das 2000 Handschriften erfasst, sowie eine Kollation aller Majuskelhandschriften des Johannesevangeliums, die vom International Greek New Testament Project angelegt wurde: http://www.iohannes.com.majuscule/edition/index/html. Papyri und Minuskelhandschriften sind bereits weitgehend transkribiert und können online aufgerufen werden: www.iohannes.com/IGNTP/transcripts. www.codexsinaiticus.org/en/. Die Angaben dieses Abschnitts nach Hugh A. G. Houghton: Recent Developments in New Testament Textual Criticism. In: Early Christianity 2 (2011), S. 245–258. Weitere Informationen in: The Text of the New Testament in Contemporary Research. Essays on the Status Quaestionis. Hg. von Bart D. Ehrman und Michael W. Holmes. 2. Auflage. Leiden/ Boston 2013, sowie Peter M. Head: Editio Critica Maior. An Introduction and Assessment. In: Tyndale Bulletin 61 (2010), S. 131–152, vgl. 143 Anm. 23: “K. Wachtel and D. C. Parker, ‘The Joint IGNTP/INTF Editio Critica Maior of the Gospel of John. Its Goals and their Significance for New Testament Scholarship,’ (SNTS 2005 – www.itsee.bham.ac.uk./online/2005_snts_WachtelParker.pfd),” S. 1.
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5. Ein Vergleich beider Editionen unter dem Gesichtspunkt der Textkritik Beide Editionen werden im Folgenden unter dem Gesichtspunkt der Textkritik verglichen.34 Jak 2:4 Der Duktus der Argumentation und die Bezeugung stützen hier den Text des SBLGNT, jedenfalls wenn man ägyptischen Zeugen ein bedeutendes Gewicht beilegt. Diese Textfassung vertrat auch die erste Auflage des Jakobusbriefs in der ECM. In der 2. Auflage der ECM wurde den byzantinischen Zeugen das größere Gewicht eingeräumt, so soll es jetzt heißen: ��� �� ���������� ... ;35 Jak 2:14 �� �� ������ wird in 2:14 und in 2:16 von der Editio Critica Maior vorgezogen. Paulus verwendet den Ausdruck ähnlich in der Apodosis eines Konditionalsatzes: �� ��� �� ������ (1 Kor 15:32). Die Majuskeln B und C* sowie die Minuskeln 1175 1243 lassen den Artikel in 2:14 aus. Bei einer derartigen Variantenbildung reicht diese Bezeugung nicht aus. Das Gleiche gilt von der Auslassung in 2:16: B C* 631 1175 L593 Dam. Jak 4:12 Die Bezeugung für das artikellose ��������� ist dagegen stark. Hier ist dem SBLGNT zuzustimmen. Jak 5:4 Bruce M. Metzger folgte dem Text von B* und � und argumentierte in einem Sondervotum für ������������� mit dem Hinweis auf die Seltenheit dieser –––––––— 34
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Rezensionen in Auswahl: Novum Testamentum Graecum. Editio Critica Maior. Hg. von Barbara Aland, Kurt Aland, Gerd Mink, Klaus Wachtel. IV. Die Katholischen Briefe. Lfrg. 1 Der Jakobusbrief. Teil 1: Text, Teil 2: Begleitende Materialien. 2. Auflage. Stuttgart 1997. In: Novum Testamentum 40 (1998), S.195–204 (J. Keith Elliott), und in: Theologische Literaturzeitung 127 (2002), Sp. 297–300 (David C. Parker); David C. Parker: The Development of the Critical Text of the Epistle of James. From Lachmann to the Editio Critica Maior. In: New Testament Textual Criticism and Exegesis. Festschrift J. Delobel. Hg. von Albert Denaux. Leuven 2002, S. 317–330; dass., Lfrg. 2 Die Petrusbriefe. Teil 1: Text, Teil 2: Begleitende Materialien. Stuttgart 2000. In: Novum Testamentum 42 (2000), S. 328–339 (J. Keith Elliott) und in Theologische Literaturzeitung 127 (2002), Sp. 297–300 (David C. Parker); J. Keith Elliott: The Editio Critica Maior. One Reader’s Reactions. In: Recent Developments in Textual Criticism. New Testament, Other Early Christian and Jewish Literature. Hg. von Wim Weren und Dietrich-Alex Koch. Assen 2003, S.129–144; dass., Lfrg. 3 Der erste Johannesbrief, Teil 1: Text, Teil 2: Begleitende Materialien. Stuttgart 2004. In: Theologische Literaturzeitung 129 (2004), Sp. 1068–1071 (J. Keith Elliott); dass., Lfrg. 4 Der zweite und dritte Johannesbrief. Der Judasbrief. Teil 1: Text, Teil 2: Begleitende Materialien. Stuttgart 2005. In: Theologische Literaturzeitung 131 (2006), Sp. 1156–1159 (J. Keith Elliott); Peter M. Head: Editio Critica Maior. An Introduction and Assessment. In: Tyndale Bulletin 61 (2010), S. 131–152; Novum Testamentum Graecum. Editio Critica Maior. Hg. vom Institut für Neutestamentliche Textforschung, Münster. IV. Die Katholischen Briefe. Hg. von Barbara Aland, Kurt Aland+, Gerd Mink, Holger Strutwolf, Klaus Wachtel. Teil 1: Text, Teil 2: Begleitende Materialien. 2., revidierte Auflage. Stuttgart 2012. In: Theologische Literaturzeitung 138 (2013), Sp. 1236–1238 (Karl-Wilhelm Niebuhr). Novum Testamentum Graece. Begründet von Eberhard und Erwin Nestle. Hg. von Barbara und Kurt Aland, Johannes Karavidopoulos, Carlo M. Martini, Bruce M. Metzger. 28., revidierte Auflage, hg. vom Institut für Neutestamentliche Textforschung Münster/Westfalen unter der Leitung von Holger Strutwolf. Stuttgart 2013. In: Theologische Literaturzeitung 138 (2013), Sp. 323–325 (Karl-Wilhelm Niebuhr); J. Keith Elliott: A New Edition of Nestle-Aland, Greek New Testament. In: The Journal of Theological Studies N.S. 64 (2013), S. 48–65; Anthony J. Forte: Observations on the 28th Revised Edition of Nestle-Aland’s Novum Testamentum Graece. In: Biblica 94 (2013), S. 268–292. Novum Testamentum Graecum. Editio Critica Maior. IV Die Katholischen Briefe. Lfrg. 2 Die Petrusbriefe, Teil 1: Text, Teil 2: Begleitende Materialien. Stuttgart 2000, vgl. Teil 1, S. 24* Anm. 4. Die 2. revidierte Auflage der Katholischen Briefe druckt diesen Text: Novum Testamentum Graecum. Editio Critica Maior. Hg. vom Institut für Neutestamentliche Textforschung. IV Die Katholischen Briefe Teil 1: Text, 2. revidierte Auflage, 2. korrigierter Druck, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2014.
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Ausdrucksweise. Auch Walter Bauer entschied sich in seinem Wörterbuch für diese Lesart. 36 So sollte man hier dem SBLGNT folgen: �������������. Die 2. revidierte Auflage der Editio Critica Maior des Jahres 2014 druckte dieses Wort als alternative Lesart. 1 Petr 1:16 Hier hat Holmes unrichtig entschieden. Korrekt ist: ����� ��������� ����� ������, ��� ��� �����. So druckte auch die Editio Critica Maior schließlich und tilgte die früher gesetzten Rhomben. 1 Petr 1:22 Die Varianten zeigen: ������� ist zu streichen. Entsprechend streicht Holmes. Metzgers Textual Commentary zeigt sich etwas unentschlossen und setzte das Adjektiv in eckige Klammern: [�������]. Der Nestle-Aland setzte einen Rhombus. 37 Auch die 2. revidierte Auflage der Editio Critica Maior des Jahres 2014 blieb unentschlossen und behandelte ������� und seine Auslassung als Alternativen. 1 Petr 2:5 Bezeugung und Sprache des Briefs stützen das artikellose ���. So das SBLGNT und die 28. Auflage des Nestle-Aland. Die ECM 2000 bietet �� ���, dabei wird der Artikel zwischen kräftige Punkte gesetzt. Doch druckt auch die ECM 2014 schließlich ein artikelloses ���. 1 Petr 2:25 Der Text der Epistel hatte ursprünglich das elidierte ���’, nicht aber ����. Der Text der Editio Critica Maior ist vorzuziehen. 1 Petr 3:1 Artikelloses �������� ist die bessere und besser bezeugte Lesart. Holmes ist zuzustimmen. Metzgers Textual Commentary bleibt unentschlossen und setzt den Artikel in eckige Klammern: [��].38 Die ECM 2000 setzt den Artikel zwischen zwei kräftige Punkte, streicht aber schließlich dieses Signal (ECM 2014). 1 Petr 3:22 Bezeugung und Sprache der Epistel stützen das artikellose ����. Entsprechend entscheidet Holmes. Die Editio Critica Maior druckt ��� ���� und setzt um den Artikel kräftige Punkte, streicht aber dieses Signal in der revidierten Fassung. 1 Petr 4:16 Die ECM schließt �� ����� ����� in zwei kräftige hervorhebende Punkte ein, um hier eine sachliche Schwierigkeit zu markieren, tilgt diese Punkte jedoch in der revidierten Fassung von 2014.39 Auch die Alternative �� ������� ����� kommt als Text in Betracht. Hat diese hier eine neutral formulierende Wendung ersetzt? Für �� ������� ����� sprechen alte Zeugen, unter ihnen die Itala, die Philoxeniana, die koptische Überlieferung, das Altgeorgische, das Altarmenische, zunächst aber bedeutende Majuskeln: P72 � B A 044. Holmes entschied sich für diese Lesart. Zu Recht. 1 Petr. 5:9 �� �� ����� ist wegen seiner Bezeugung vorzuziehen. So druckte Holmes. Die ECM druckte zunächst � �� �� ����� ���� ���������� �. Die zweite –––––––— 36
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Bruce M. Metzger: A Textual Commentary on the Greek New Testament. A Companion Volume to the United Bible Societies’ Greek New Testament – Fourth Revised Edition. 2. Auflage. Stuttgart 1994, S. 614; Walter Bauer: Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur. Durchgesehener Nachdruck der fünften, verbesserten und stark vermehrten Auflage. Berlin 1963, Sp. 254. Metzger 1994 (Anm. 36), S. 618. Metzger 1994 (Anm. 36), S. 620. Gerd Mink: Problems of a Highly Contaminated Tradition: The New Testament Stemmata of Variants as a Source of a Genealogy for Witnesses. In: Studies in Stemmatology II, hg. von Pieter van Reenen, August den Hollander und Margot J. P. van Mulken. Amsterdam/Philadelphia 2004, S. 13–85, vgl. S. 43–45.
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revidierte Fassung behandelte die Auslassung und Setzung des Artikels �� als alternative Lesarten.. 1 Petr 5:11 Das knappe ��� ���� ������ ist vorzuziehen. So die Editio Critica Maior unter der Setzung eines Punktes, und, bereits früher, Metzgers Textual Commentary.40 In der revidierten Fassung druckt die ECM alternativ Auslassung und Zusatz eines weiteren ��� ������ (ECM 2014). 2 Petr 1:9 Wegen der häufigen auf -�� endenden Abstracta hat es den Anschein, dass in v. 9 ����������� ursprünglich ist. Doch spricht die Bezeugung gegen diese Annahme. Entsprechend urteilte die Editio Critica Maior, räumte jedoch eine Ungewissheit ein und druckt deshalb zwischen zwei kräftigen Punkten: ��������. In der revidierten Fassung bietet diese Edition alternativ �������� und �����������. 2 Petr 2:6 Holmes folgte hier dem überzeugenderen Text und der besseren Bezeugung. Metzgers Textual Commentary blieb unentschlossen: ����� [�] ��.41 Die ECM bot zunächst � ������� � und später �������. 2 Petr 2:11 Da ���� ������ nicht sicher überliefert ist, ist die Entscheidung des SBLGNT gerechtfertigt. Auch Bruce M. Metzger trat in seinem Minderheitsvotum für die Auslassung ein.42 Die ECM druckte zunächst ���� �����, später alternativ Text und Auslassung. 2 Petr 2:19 Gegen den Zusatz ��� spricht unter guten Zeugen auch die koptische Überlieferung. Entsprechend entschied die Editio Critica Maior, setzte aber zunächst einen Punkt. Die letztgültige Fassung strich das ���. 2 Petr 2:20 ������ mit dem Zusatz ���� überliefert die Tradition fast durchgehend fest, in 3:15 gegen P 307 1175 1243 syph boms, in 1:14 nur gegen �. Gegen den Sprachgebrauch des Autors fehlt an unserer Stelle ���� in B 307 2492 Byz, doch sollte man diesen Zeugen hier nicht folgen. Der Text der Editio Critica Maior ist vorzuziehen: � ������ ���� ��� ������� ����� ������� �. Anders entschied Metzgers Textual Commentary. Er beurteilte ���� als einen Zusatz.43 Die letztgültige Fassung der ECM entschied sich für � ������ ��� ������� ����� ������� �. 2 Petr 3:6 Der Kontext erfordert die Lesart von P 1175 t vgms, der man folgen muss: ��’ ��. Anders urteilte Holmes. 2 Petr 3:10 Wie die vielfach bearbeiteten Zeugen erkennen lassen, hat sich der Text nur in Übersetzungen gehalten, vor allem im Sahidischen: ��� ����������� (ECM 2014). Anders urteilte Holmes. Metzger erörterte die zahlreichen Varianten und gab eine Liste von Emendationen.44 2 Petr 3:16 Das Futur wird nicht wirklich durch den Kontext gestützt. So sollte man dem einfacheren und gut bezeugten ����������� mit Holmes folgen. ECM � ������������� �, ECM2 �������������.
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Metzger 1994 (Anm. 36), S. 628. Metzger 1994 (Anm. 36), S. 633. Metzger 1994 (Anm. 36), S. 633. Metzger 1994 (Anm. 36), S. 635–636. Metzger 1994 (Anm. 36), S. 636–637.
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2 Petr 3:18 Dass das Amen am Schluss des 2. Petrusbriefs festzuhalten ist, habe ich in der Festschrift für Heinz Schreckenberg nachgewiesen.45 Diese textkritische Entscheidung hat auch das SBLGNT gegen die Editio Critica Maior vertreten. Metzgers Textual Commentary setzte das Amen in eckige Klammern und äußerte „a considerable measure of doubt as to its right to stand in the text.“46 ECM ������ �, ECM 2014 ������. 1 Joh 1:7 Die Bezeugung für ein �� ist sehr eindrucksvoll. Sein Fehlen bezeugen �, einige Minuskeln, die erste Hand des Altlateiners z*, dazu Handschriften der bohairischen Überlieferung und Cyrill. Das ist wenig. Und doch zeigt der Duktus von parallelen Konditionalsätzen, dass kein �� erforderlich ist. Eine scheinbare Entgegensetzung in Satz 2 hat die Einfügung verursacht. Entsprechend druckte die Editio Critica Maior, setzte allerdings zugleich in seine Position einen kräftigen Punkt als Signal. Später druckte die revidierte Fassung Auslassung und Setzung als Alternativen. 1 Joh 2:6 Die Bezeugung für das Fehlen von ����� ist etwas schwach. A B sind die beiden Majuskeln. Doch ist das Zeugnis der Kirchenväter deutlich: Cl Cyr Cyp. Und erneut erscheint z unter den Zeugen. So wird man das ����� streichen müssen, mit Holmes. Metzgers Textual Commentary blieb unentschlossen: [�����].47 Die ECM akzeptierte ����� zunächst, druckte aber in der revidierten Fassung Text und Auslassung als Alternativen. 1 Joh 2:16 Der Autor vermeidet durchgehend den Hiat. Auf Zeugen wie B und C darf man in solch einer Sache nicht eingehen. So auch die Editio Critica Maior: ���’ �� ��� ������. 1 Joh 3:13 Das Zeugnis für das Fehlen von ���, nämlich A B und zahlreiche Minuskelhandschriften, wird durch die lateinische und die gesamte koptische Überlieferung entscheidend verstärkt. Mit Holmes. Metzgers Textual Commentary blieb hier unentschlossen: [ ��� ].48 ECM � ��� �, ECM 2014 ���. 1 Joh 3:21 Die missverständliche Stellung des ���� vor ����������� war die Ursache für Ergänzungen, aber auch für die Streichung durch B. Die Bezeugung durch C wird durch Cllat und Or verstärkt. Entsprechend druckt die Editio Critica Maior. Metzgers Textual Commentary blieb unentschlossen: [����].49 1 Joh 5:10 Es ist nicht angebracht, hier ein ���� zu drucken, anders Holmes. Das Zeugnis von � � und einem Teil der Byzantiner entscheidet hier nicht. Entsprechend druckt die Editio Critica Maior �� ����. Doch entschied sich der Textual Commentary Metzgers für �� �����.50 Jud 15 ����� �����, durch P72 � 1852 sa bomss bezeugt, fügt sich dem Kontext gut ein. Byzantinische und weitere Zeugen geben dem Text einen heftigen Akzent –––––––— 45
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Eberhard Güting: Amen, Eulogie, Doxologie. Eine textkritische Untersuchung. In: Begegnungen zwischen Christentum und Judentum in Antike und Mittelalter. Festschrift für Heinz Schreckenberg, unter Mitarbeit von Karina und Thomas Lehnardt hg. von Dietrich-Alex Koch und Hermann Lichtenberger (Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum. 1). Göttingen 1993, S. 133–162, vgl. S. 158–159. Metzger 1994 (Anm. 36), S. 638. Metzger 1994 (Anm. 36), S. 639–640. Metzger 1994 (Anm. 36), S. 642–643. Metzger 1994 (Anm. 36), S. 643–644. Metzger 1994 (Anm. 36), S. 649.
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und betonen das Element der �������. Die Editio Critica Maior bietet hier einen in jeder Hinsicht vertretbaren Text. Jud 16 ������ mit dem spiritus asper lässt sich in diesem Satz nicht begründen. Holmes ist zuzustimmen.
6. Ergebnis des Vergleichs Wie die textkritische Überprüfung gezeigt hat, empfiehlt es sich, beide Editionen, soweit sie die gleichen Texte ediert haben, miteinander zu verwenden.
Debora Helmer
„Schlecht ist schlecht und es muß gesagt werden“ Zur Bedeutung des Kommentars in Studienausgaben am Beispiel von Theodor Fontanes Theaterkritiken
Die Frage nach dem Nutzen einer Neuedition von Theodor Fontanes Theaterkritiken kann zunächst mit dem Verweis auf die zwei großen Fontane-Studienausgaben, die auch die theaterkritischen Rezensionen enthalten, beantwortet werden. Die Nymphenburger1 und die Hanser2 Fontane-Ausgabe weisen deutliche textkritische Mängel auf: Die Theaterkritiken werden modernisiert wiedergegeben, ohne die zum Teil substantiellen Eingriffe in Interpunktion und Orthographie nachzuweisen. Aber auch häufig unzureichende, bisweilen fehlerhafte Kommentierung3 und nicht zuletzt die Tatsache, dass die Theaterkritiken unvollständig4 und als nachrangig eingestuft in die Gesamtkonzeption der Ausgaben integriert sind, machen eine Neuedition notwendig. Das bedeutet also keine schlichte Neuauflage, sondern eine Buchedition, die hinsichtlich der Textkonstitution und Kommentierung einem neuentwickelten und als modellhaft intendierten methodischen Konzept folgt, welches auch für die Editionen von Theodor Fontanes Literatur- und Kunstkritiken gelten wird. Auf Vorarbeiten einer Historisch-kritischen Ausgabe kann nicht zurückgegriffen werden, sodass unsere Ausgabe in textkritischer Hinsicht „editorische Pionierarbeit“5 leistet. Als Teil der Großen Brandenburger Fontane-Ausgabe sollen die Theaterkritiken in vier Bänden in der Abteilung „Das kritische Werk“6 erscheinen; so wird der Fokus –––––––— 1
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Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. XXII/1–3: Causerien über Theater. Teil 1–3. Unter Mitw. von Kurt Schreinert hg. von Edgar Gross (Teil 3: in Verbindung mit Rainer Bachmann). München 1964– 1967. Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Hg. von Walter Keitel u. Helmuth Nürnberger. Bd. III/2: Theaterkritiken. Hg. von Siegmar Gerndt. München 1969. Insbesondere bei der NFA fallen sachliche Fehler und Unstimmigkeiten im Kommentar auf. Zu dem Lemma „den historischen ‚Sieger von Gravelingen‘“ (aus der Kritik zu Goethes Egmont vom 16.9.1870) etwa ist zu lesen: „Sieg des Grafen Egmont über die Spanier 1758.“ Gemeint ist hingegen die Schlacht bei Gravelingen (Frankreich) am 13. Juli 1558, in der die Spanier (unter Egmont) über die Franzosen siegten. – Beide Ausgaben lassen die Konkurrenzkritiken unberücksichtigt. Durch die ausführlichen Schauspielerbiographien, die bei der NFA im Stellenkommentar aufgeführt sind, wird dieser unnötig lang und unübersichtlich. Die HFA versammelt lediglich eine Auswahl der vom Herausgeber als ‚bedeutsam‘ eingestuften Kritiken, wobei jedoch die Auswahlkriterien nicht transparent werden. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. 2., ergänzte u. aktualisierte Auflage. Stuttgart 2006, S. 16. Die Abteilung wird außerdem die Bände Aus England, die Literatur- und die Kunstkritiken sowie Schriften zur Politik, Geschichte und Kulturgeschichte umfassen. – Die GBA wird, nach Abschluss der Abteilung Das Erzählerische Werk (herausgegeben von Gotthard Erler), unter der wissenschaftlichen Leitung von Gabriele Radecke und Heinrich Detering an der Theodor Fontane-Arbeitsstelle Göttingen fortgeführt; in Vorbereitung sind außer dem Kritischen auch das Reiseliterarische sowie das Autobiographische Werk, das jeweils von einem Editionsteam erarbeitet wird. – Vgl. auch http://www.uni-goettingen.de/de/154260.html.
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auf den Kritiker Fontane gelegt, nicht auf den Romancier, der zufällig und nebenbei auch Theaterkritiken verfasst hat.7 – Gefördert wird das Projekt durch die Fritz Thyssen-Stiftung für Wissenschaftsförderung. Der zweibändige Anhang umfasst einen literatur- und theaterhistorischen Überblickskommentar, einen rezeptionsgeschichtlichen Essay, den textkritischen Auswahlapparat und Stellenkommentar, den Editionsbericht, ein annotiertes Personenund Werkregister, eine Übersicht über Fontanes Theaterkritiken sowie ein Literaturverzeichnis. Erstmalig werden auch die Aufzeichnungen aus Fontanes Notizbüchern, die noch während der Aufführungen entstanden sind, für die Kommentierung umfassend ausgewertet; das geschieht in Zusammenarbeit mit der Hybrid-Edition von Fontanes Notizbüchern.8 Der Stellenkommentar ist interdisziplinär angelegt, denn um alle Facetten der Theaterkritiken erhellen zu können, müssen zahlreiche politische, literarische, biographische, theatergeschichtliche, kulturhistorische und poetologische Anspielungen für den Benutzer aufgearbeitet werden. Die Edition richtet sich an verschiedene Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen; vornehmlich interessant dürften die Texte jedoch für Literatur- und Theaterwissenschaftler sein. Im Hinblick auf die theaterwissenschaftlichen Fragen besteht eine Zusammenarbeit mit Theaterwissenschaftlern der Universität Köln (Peter Marx, Hedwig Müller, Nora Probst). Dass die Theaterkritiken Fontanes für Theaterhistoriker interessant sind und eine gerade auch in diesem Gebiet sorgfältig aufgearbeitete und kommentierte Edition von Nutzen ist, liegt auf der Hand; und Fontanes Theaterkritiken bieten reichlich Material zur Theaterpraxis des 19. Jahrhunderts – wobei anzumerken ist, dass dieser so wichtige Aspekt in den bisherigen Kommentaren weitgehend unberücksichtigt blieb, was zu Fehleinschätzungen der Texte sicherlich beigetragen hat. Als Beispiel soll ein Zitat aus der Kritik zu O. F. Gensichens Einakter „Lydia“ am 17. 1. 1885 dienen: Fräulein Meyer (Lydia), die sonst das griechisch-römische Kostüm so glücklich zu behandeln versteht, hatte nicht ihren glücklichen Tag und ohne mich auf das diffizile Gebiet der Toilettenkünste begeben zu wollen, möcht’ ich doch sagen dürfen: Gold kleidet ihr besser als Silber. Nur die preußische Armee hat das Vorrecht, dem Silber den Vorzug zu geben und es ein für allemal über das Gold zu stellen.9
Kurz darauf erhielt Fontane einen Brief von Fräulein Meyer: Da Sie in Ihrer neuesten Rezension über „Lydia“ wiederum meine Toilette einer abfälligen Kritik unterziehen, so erlauben Sie mir wohl, Sie über einen Irrtum Ihrerseits aufzuklären. Alles an dem Kostüm war Gold, nicht Silber! Das arme Silber ist also unschuldig an mei-
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Vgl. auch folgenden Beitrag: Gabriele Radecke, Debora Helmer: „Die Druckfehler machen mich ganz nervös“. Theodor Fontanes (1819–1898) Theaterkritiken. In: ZfGerm 3/2012, NF 22, S. 618–621. Vgl. http://www.uni-goettingen.de/de/303691.html sowie den Beitrag im vorliegenden Band: Gabriele Radecke, Martin de la Iglesia, Mathias Göbel: Vom Nutzen digitaler Editionen – Die Genetischkritische Hybrid-Edition von Theodor Fontanes Notizbüchern erstellt mit der Virtuellen Forschungsumgebung TextGrid (S. 279–298). Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen (im Folgenden als ‚Vossische Zeitung‘) Nr. 31, 20.01.1885, Morgenausgabe, 2. Beilage.
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nem unvorteilhaften Aussehen, die Schuld liegt wohl einzig in der unsympathischen Persönlichkeit, die Ihnen in mir leider so oft vor Augen steht. Mit vorzüglichster Achtung Clara Meyer.10
Um u. A. diese (und die zahlreichen weiteren Passagen,11 in denen sich Fontane über weibliche Toilette auslässt) richtig einordnen zu können, ist es hilfreich zu wissen, dass – anders als ihre männlichen Kollegen – die Schauspielerinnen ihre Kostüme selbst anschaffen und bezahlen mussten. So liest man bei Tony Kellen, Verfasserin des Buches Die Not unserer Schauspielerinnen. Studien über die wirtschaftliche Lage und die moralische Stellung der Bühnenkünstlerinnen, zugleich Mahnwort und Wegweiser für junge Damen, die sich der Bühne widmen wollen aus dem Jahr 1902: Die Damen müssen sich ihre Kostüme selbst stellen, da diese nur in den seltensten Fällen an großen Bühnen von der Direktion geliefert werden. Dabei müssen die Toiletten elegant und modern sein. Die erste Ausgabe erfordert schon mehrere tausend Mark, da besonders die historischen Kostüme teuer sind. Später sind immer wieder neue Kostüme erforderlich, obschon die früheren abgeändert werden können oder zum Theil sich wieder verwenden lassen.12
Nur zum Vergleich: Im Jahr 1890 zahlte das Königliche Schauspielhaus seinen ersten Schauspielkräften eine Gage von 8000–12.000, selten auch 15.000–18.000 Mark im Jahr, den mittleren Kräften 3000–6000 Mark jährlich und den Mitgliedern in bescheidener Stellung 1500–3000 Mark.13 Der Blick der Kommentatorin ist vor allem auch auf die Texte in ihrer Gesamtheit gerichtet. Allerdings hat man es mit ca. 700 Kritiken unterschiedlicher Länge zu tun, die über einen Zeitraum von zwanzig Jahren hin entstanden sind – und kaum jemand wird tatsächlich alle diese Texte lesen. Wer das aber tut, der stellt fest, dass diese Fontane’schen Theaterkritiken ein eigenständiges Werk bilden, das unabhängig von dem Erzählerischen Werk besteht und auch als solches behandelt werden sollte. Die Theaterkritiken in all ihrer Komplexität erfassbar zu machen und alle relevanten Dimensionen ausleuchten zu können – dazu möchte die Neuedition die Basis bilden. Gerade im Angesicht der vorliegenden Forschung zu den Theaterkritiken wird es notwendig, neugewonnene Erkenntnisse und Forschungsergebnisse in die Edition mit einfließen zu lassen. Denn Editionen sind rezeptionslenkend und tragen zur Kanonisierung von Autoren und ihren Werken bei.14 Da sich gezeigt hat, dass die bisherige –––––––— 10 11
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NFA XXII/3, S. 243. Vgl. z. B. auch: „Ihr Auftreten rechtfertigte den guten Ruf, der ihr als Künstlerin und den glänzenden, der ihr in der Toilettenfrage voraufgegangen war. Die dritte Toilette: grün und chamois (oder dem Aehnliches) war eine Kunstleistung ersten Ranges.“ Siehe Vossische Zeitung Nr. 473, 10.10.1885, Morgenausgabe, 1. Beilage. Tony Kellen: Die Not unserer Schauspielerinnen. Studien über die wirtschaftliche Lage und die moralische Stellung der Bühnenkünstlerinnen, zugleich Mahnwort und Wegweiser für junge Damen, die sich der Bühne widmen wollen. Leipzig 1902, S. 83f. Ebd., S. 84. Siehe hierzu den Aufsatz von Stephan Kammer: Interferenzen und Korrektive. Die Problematik des Kanons in textkritischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive. In: Text und Edition. Positionen und
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Einschätzung Fontanes als Kritiker zu großen Teilen auf bestimmten etwa in Briefen oder den Kritiken formulierten Selbstäußerungen Fontanes beruht, dabei aber meist übersehen wird, dass die Texte selbst diesen Behauptungen häufig zuwiderlaufen –, da also diese Einschätzung in vielerlei Hinsicht revisionsbedürftig ist, soll die Neuedition der Theaterkritiken dazu beitragen, eine Neugewichtung dieser Texte im kulturellen Gedächtnis vorzunehmen, das bisher vor allem den Romancier Theodor Fontane im Blick hatte.15 Dies sollen zum einen die vorgesehenen Überblicksessays leisten, zum anderen der Stellenkommentar – der aber auch an den jeweils relevanten Punkten auf den Überblicksessay verweist und etwa auf die Textpassagen aufmerksam macht, in denen sich typische Argumentationsmuster abzeichnen oder in denen das Fontane’sche Selbstbild als Kritiker entworfen wird – das oftmals gleich im Anschluss daran durch ihn selbst bzw. das, was er schreibt, desavouiert wird. Dies ist einer unter mehreren bisher gar nicht oder kaum berücksichtigten Aspekten der Fontane’schen Theaterkritiken, die zum Teil die Grenze eines kommentierenden Metatextes überschreiten und durch stilistische bzw. rhetorische Mittel und Verfahren sowie durch Wegbewegung von dem ‚eigentlichen‘ Gegenstand, nämlich der Aufführung oder dem Dramentext, als eigenständige literarische Texte zu behandeln sind. Als solche sind sie etwa auf Mechanismen der Selbstdarstellung oder, damit korrelierend, im Hinblick auf die Funktion des Autorbildes zu untersuchen. Inwiefern also diese Rezensionen über Theaterstücke, die man nicht besucht hat, deren zugrundeliegenden Dramentexte man nicht kennt16 und deren Autoren schon längst vergessen sind, auch für Literaturwissenschaftler interessant sind, soll im Folgenden illustriert und verdeutlicht werden. Dies geschieht anhand einiger Beobachtungen zu Fontanes Kritik der Erstaufführung von Ernst von Wildenbruchs Der Fürst von Verona, veröffentlicht in der Vossischen Zeitung vom 8. April 1887. Insgesamt hat dieser Text, der zu den längeren Kritiken gehört, einen deutlichen persuasiven Charakter, was durchaus nicht bei allen Kritiken gleichermaßen der Fall ist. In diesem Verriss aber wendet Fontane ein „gerüttelt und geschüttelt Maß“17 an rhetorischen Mitteln auf und nimmt sich viel Raum für Selbstreflexion – und auch Selbstdarstellung. Jörg Thunecke nennt als stilistische Grundtendenzen in Fontanes Kritiken „die ganz persönliche Ausdrucksform, die Fähigkeit, Witz und Humor in die Rezension einfließen zu lassen, die kritischen Anmerkungen durch Vergleiche, farben- und bil–––––––— 15
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Perspektiven. Hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H.T.M. van Vliet u. Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 303–321. Die Forschung zu dem Theaterkritiker Fontane ist in der Tat überschaubar; die bislang umfassendste Arbeit Der Theaterkritiker Theodor Fontane von Rüdiger Knudsen stammt aus dem Jahr 1942; s. außerdem die Monographie von Bertha E. Trebein Theodor Fontane as a critic of the drama von 1916. Von Dorothee Krings erschien 2008 die Studie Theodor Fontane als Journalist. Selbstverständnis und Werk, in der jedoch nicht ausschließlich die Theaterkritiken behandelt werden. Darüber hinaus hat die Forschung einzelne Aspekte wie bestimmte Klassikerinszenierungen oder Aufführungen der „Freien Bühne“ in den Blick genommen. – Einen Überblick zur Forschungsliteratur bietet Wolfgang Rasch: Theodor Fontane. Bibliographie. Werk und Forschung, Bd. 2. Berlin, New York 2006, S. 1634–1646. Nicht zu Unrecht ist ein nicht geringer Teil auch der damals erfolgreichen Stücke heute vergessen; zudem ist es mitunter nicht ganz einfach, an die Texte heranzukommen. Zitat aus ebendieser Kritik.
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derreiche Darstellungen aufzulockern, […] sich vom Stofflichen zu lösen und über allgemeinere Dinge zu plaudern“.18 Von diesem berühmten „Plaudern“ schwärmt Paul Legband im Jahr 1905, dass es „ernste Dinge in gefälliger Form vorträgt und zur heitern Belebung nicht auf hübsche Bosheiten und schelmische Ironie verzichtet, dessen tiefster Grundton ein warmes Gemüt ist und das dabei doch nicht des sachlichen Urteils, der ruhigen, aber entschiedenen Kritik entbehrt“.19 Ohne den hier zitierten Aussagen in Gänze widersprechen zu wollen, wird in solchen Beschreibungen des Fontane’schen Kritisierens – die als durchaus typisch gelten können – zu wenig berücksichtigt, dass damit sehr wohl Fontanes eigene Meinung über sein ‚Kritikertum‘ wiedergegeben wird, das aber die Kritik selbst oft widerlegt oder zumindest in Frage stellt. So schreibt er gleich im ersten Abschnitt der Rezension zum Fürst von Verona, Bezug nehmend auf seine noch am Abend der Aufführung verfasste Vornotiz: In einer vorgängigen Notiz über Wildenbruch’s neuestes Stück sprach ich metaphorisch von dem „Wagenradscharakter der Lorbeerkränze“, die das Publikum in seinem übergütigen Beifall nicht müde werde, für seinen Lieblingsdichter bereit zu halten, und ich wählte diesen Ausdruck wohlüberlegt, nicht um zu verletzen oder zu nörgeln, sondern um einfach auf den Punkt hinzuweisen, der, meinem Ermessen nach, einzig und allein die mehr oder weniger kopfschüttelnde Haltung der Kritik den Schöpfungen Herrn v. Wildenbruchs gegenüber bedingt. Herr v. W. hat ausgesprochene Gaben, die zu bezweifeln oder auch nur zu verkleinern, so viel ich weiß, bisher Niemandem eingefallen ist; als Gesammterscheinung aber ist er mindestens ebenso tadelns- wie preisenswerth, eben so reich an großen Fehlern wie an Vorzügen, und dies seitens des Publikums beständig ignorirt und dadurch ein schreiendes Mißverhältniß zwischen Gabe und Dank, zwischen Anspruch und Leistung geschaffen zu sehen, das ist es, was verstimmt und reizt und es dem Gewissenhaftesten und Wohlwollendsten (und ich nehme beides für mich in Anspruch) schwer macht, immer und besonders in der ersten Hitze des Gefechts den richtigen Ton zu treffen.20
In der Tat „wohlüberlegt“ wirkt dieser Abschnitt, sieht man auf die Assonanzen gleich zu Beginn im „Wagenradscharakter“ sowie im „übergütigen Beifall […] müde“ und im „Lieblingsdichter“. Fontane betont durch die syntaktische Stellung seine Absicht („nicht um … sondern“), wobei er gleichzeitig (vermeintlich) seinen Gegnern den Wind aus den Segeln nimmt – als legitimiere die Verneinung einer schlechten Absicht jegliche negative Beurteilung, die darauf folgt.21 Zahlreiche Einschübe, man–––––––— 18
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Jörg Thunecke: „Das Geistreiche geht mir am leichtesten aus der Feder.“ Fontanes Theaterkritiken (1870–1889) im Kontext zeitgenössischer Rezensionen von Friedrich Adami und Karl Frenzel. In: Theodor Fontane im literarischen Leben seiner Zeit. Beiträge zur Fontane-Konferenz vom 17. bis 20. Juni 1986 in Potsdam. Hg. von Otfried Keiler. Berlin 1987, S. 310. Paul Legband: Theodor Fontane als Theaterkritiker. In: Bühne und Welt. Zeitschrift für Theaterwesen 7, 1905,1, S. 33. Abgedruckt in der Vossischen Zeitung Nr. 165 vom 8.4.1887, Morgenausgabe, 1. Beilage. Demselben Muster folgt Fontanes Versicherung, er sei – im Superlativ! – der „Gewissenhafteste und Wohlwollendste“. Und am Ende der Inhaltsangabe des Stückes spricht Fontane von einem „Fehler, der an dieser Stelle nothwendig und nachdrücklich betont werden müßte, wenn er nicht neben einem viel größeren verschwände“ (Hervorhebungen von D.H.) – und das, nachdem er ebendiesen Fehler über mehrere Zeilen dargelegt und somit eindeutig hervorgehoben hat. Diese Verwendung des Konjunktivs
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che mit relativierender Funktion („einfach“, „meinem Ermessen nach“), andere rein rhetorischer Natur (etwa die Tautologie „einzig und allein“) verhelfen dem Satz zu Länge und Gestalt und lassen Fontane selbst als literarisch geschulten, des gehobenen Stils mächtigen Autor erkennen. Was die Argumentation betrifft, so lässt sich diese folgendermaßen zusammenfassen: Weil das Publikum Ernst von Wildenbruch zu unkritisch und positiv beurteilt, muss dieses schreiende Missverhältnis aufgelöst werden und Wildenbruch seine ihm zustehende angemessene (schlechte) Bewertung erhalten. Es folgt nun ein gleichwohl reflektierender wie dozierender (und: relativ zu der gesamten Rezension bemerkenswert langer) Abschnitt über die Beschäftigung des ‚Kritik-übens‘: Da giebt es denn Leute, die nicht müde werden, von der gewohnheitsmäßigen Tadelsucht und der Neidhammelei der Kritik zu sprechen, als ob Kritik-üben eine ruchlose Beschäftigung und der Kritiker in Person unter den vielen catilinarischen Existenzen die catilinarischste sei. Wie liegt es denn nun aber in Wahrheit? Da hat beispielsweise Dr. Hans Hopfen zu Kaiser Wilhelms 90. Geburtstag ein Festspiel geschrieben, auch so zu sagen ein Guelfenund Ghibellinenstück, und alle Welt, und die Kritik an der Spitze, hat sich darüber geeinigt, daß es eine zwar nur kleine, aber wundervolle dramatische Szene gewesen sei. Ja, meine persönliche Meinung geht dahin, daß die deutsche Literatur, die große Weimarsche Zeit mit eingeschlossen, nichts aufzuweisen habe, was sich, auf dem Festspielgebiet, an Frische, Leben und ungesuchter Originalität über diese kleine dramatische Szene Dr. Hans Hopfens erhöbe. Selbst in dem ungeheuren Lärm jener Tage kam dies zur Geltung. Und nun frage ich, wenn sich die Kritik vor Hans Hopfen verneigt, warum sollte sie sich nicht auch vor Ernst v. Wildenbruch verneigen? Ist Hans Hopfen von einer eingeschworenen Anhängerschaar umringt, ist er von einer besonderen Liebe getragen? Eher das Gegentheil. Er ist zu streitbar, um viele Freunde zu haben und wenn ihm trotz alledem, unter dem Einfluß seiner Dichtung, nicht blos die Schulen und Pensionate beiderlei Geschlechts, sondern auch die Herzen seiner Kritiker zujubelten, so beweist das, neben dem Werth seiner Dichtung, vor allem auch noch das andere, daß der Kritiker gerade so begeisterungsfähig ist wie jeder andere Mensch (mitunter auch noch mehr) und von einem richtigen Dichter jeden Augenblick hingerissen werden kann. Es ist nicht so schlimm mit dem Rezensententhum, wie dem Publikum beständig vorgeredet wird; die Kritik ist kein Tadel-Institut, aber freilich auch keine Beifalls-Statistik; sie hat Besseres zu thun, als die Zahl der Hervorrufe zu registriren; sie soll nicht durch Applaus und nicht einmal durch dauernd erscheinende Triumphe bestimmt werden, sie soll ihr Gesetz, am besten das ins eigene Herz geschriebene, haben und danach verfahren; wenn sie das nicht kann, so ist sie „gut für nichts.“
Fontane bemüht sich um die Widerlegung des Vorwurfs, Kritiker seien tadel- und streitsüchtig. Die rhetorische Frage, wie es sich denn nun „in Wahrheit“ verhalte, beantwortet er über einen Vergleich von Wildenbruchs mit „Dr. Hans Hopfen“, der damals zwar kein völlig Unbekannter war, aber nie zu den ersten Schriftstellern seiner Zeit gerechnet wurde.22 Wenn also „sich die Kritik vor Hans Hopfen verneigt“, dann –––––––— 22
zur vordergründigen Schonung oder zum scheinbaren Lob und gleichzeitigen Prononcierung des zu Kritisierenden ist ein typischer rhetorischer ‚Kniff‘ Fontanes. In der NDB wird er als „Epigone im Stile Halms, Heyses, Dahns“ bezeichnet und als Dramatiker als „bedeutungslos“ eingeschätzt. Siehe Karl Schindler: „Hopfen, Hans Ritter von“, in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 611.
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könne sie sich schließlich auch vor Ernst von Wildenbruch verneigen – dieses sehr zweifelhafte Lob, diese eher unglaubwürdig klingende Ehrenrettung Ernst von Wildenbruchs werden mehr oder weniger subtil durch Fontanes stete Wiederholung und Nennung von Hans Hopfens Vor- und Nachnamen noch zweifelhafter und unglaubwürdiger, denn der Name mit der Alliteration H-H klingt gerade nicht sonderlich würdevoll, sondern hat – offenbar nicht nur für Leser der heutigen Zeit – etwas Lächerliches. Die vielen Scheinfragen, die in ihrer Häufung, aber auch in ihrer ironischen Formulierung, zu offensichtlich nicht ernst gemeint sind („Ist Hans Hopfen von einer eingeschworenen Anhängerschaar umringt […]?“), führen, samt ihrer Beantwortung, zu der Pointe: Der Kritiker sei „gerade so begeisterungsfähig wie jeder andere Mensch“ und könne jederzeit hingerissen werden – nämlich von einem „richtigen Dichter“. Daraus lässt sich unschwer schließen, dass Ernst von Wildenbruch eben kein richtiger Dichter ist. Wenn im Anschluss daran die häufig zitierten Worte fallen, dass die Kritik weder „Tadel-Institut“ noch „Beifalls-Statistik“ sei und „Besseres zu thun [habe], als die Zahl der Hervorrufe zu registriren“, dass sie weder „durch Applaus“ noch durch „dauernd erscheinende Triumphe bestimmt werden“ solle – so drängt sich doch im Rückblick auf den Beginn der Rezension ein Widerspruch auf: Hat sich Fontane denn hier nicht – wie er selbst schreibt – erst durch den „Wagenradscharakter der Lorbeerkränze“ herausgefordert gefühlt, das „Mißverhältniß zwischen Gabe und Dank“ zu beheben? Führt Fontane nicht offensichtlich genau hier eine Beifalls-Statistik und registriert die als zu groß empfundene Zahl der Hervorrufungen? Zwei weitere Punkte sind an dieser Stelle interessant bzw. erwähnenswert: zum einen die Kategorienvermischung zwischen Autor/Person und Dichtung (so ist von der Streitbarkeit Hans Hopfens die Rede,23 ebenso wie von seiner Dichtung, und beides scheint gleichermaßen relevant zu sein), zum anderen die letzten Worte des Abschnitts, in denen Fontane das Prinzip seines ‚Kritik-übens� darlegt: Die Kritik soll nur nach dem ins eigene Herz geschriebenen Gesetz verfahren, sonst ist sie zu nichts nütze. Die Subjektivität der Kriterien, nach denen bewertet wird, ist konstitutiv für die Textsorte Theaterkritik; zugleich ist die Frage nach diesen Kriterien ein Problem und steter Vorwurf: Sie können immer nur jeweils neu aus der Differenz von Absicht und Ausführung, Anspruch und Ergebnis nach eigener Sicht und (auch weltanschaulicher) Überzeugung des Kritikers vom ‚Richtigen‘, seiner Erwartung an das Theater, die sich auch in Forderungen an die Bühne artikuliert, gewonnen werden.24
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Diese spielt ja keine Rolle für die Qualität der Dichtung, auch Ende des 19. Jahrhunderts nicht, als der Autor noch nicht ‚tot‘ (und wieder auferstanden) war. Werner Schulze-Reimpell u. Roland Dreßler: Theaterkritik. In: Theaterlexikon I. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Hg. von Manfred Brauneck u. Gérard Schneilin. 5., vollst. überar. Neuausg. Reinbek b. Hamburg 2007, S. 1067.
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Die Besonderheit Fontane’schen Schreibens liegt vor allem auch in der prononcierten, ja programmatischen Subjektivität, die durch den Vergleich mit anderen zeitgenössischen Kritikern noch deutlicher zutage tritt. Karl Frenzel (Nationalzeitung) und Friedrich Adami (Neue Preußische [Kreuz-]Zeitung), die ebenfalls die Aufführungen der Königlichen Schauspiele rezensierten, ließen sich in ihren Kritiken viel stärker von akademischem Belehrungswillen leiten, wobei sie auch zu großen Teilen die professoral wirkende Beurteilung der Dramen und weniger die Aufführung im Blick hatten.25 „Trocken- und Nüchternheit, gepaart mit Gelehrsamkeit, kennzeichneten somit den Stil der Rezensionen dieser beiden Kritiker, die […] zu einer allmählichen Erstarrung ihrer rezeptiven Fakultät führten“,26 urteilt Thunecke zusammenfassend. Ausgehend von dem „ins Herz geschriebenen Gesetz“, von einer „angeborenen Feinfühligkeit gegenüber künstlerischen Dingen“ und dem „unbedingten Vertrauen zur Richtigkeit seines Empfindens“27 (dies alles Selbstaussagen Fontanes), beteuert er vielfach, keine allgemeingültigen Aussagen treffen zu wollen,28 und bemüht sich um Abschwächungen der Form ‚mir scheint …‘ Gleichzeitig aber ist festzustellen, wie häufig besonders bei Negativrezensionen und Verrissen doch Absolutheit und Allgemeingültigkeit in der Bewertung zutage treten, die weit entfernt sind von einer subjektiven Einzelmeinung. Das äußert sich in Formulierungen wie „schlecht ist schlecht, und es muß gesagt werden“29 oder „Die […] Aufführung drängt mir diese Bemerkung auf“;30 „Es bliebe einem dadurch die peinliche Pflicht erspart, einem harmlosen Menschenkinde, noch dazu einer Dame, Unliebsames sagen zu müssen.“31 Fontane schreibt nicht: Ich finde es schlecht, sondern: Es ist schlecht. Das Subjekt tritt in den Hintergrund, und im Vordergrund steht die Tatsache des schlechten Dramentextes, der schlechten schauspielerischen Leistung oder der schlechten Inszenierung, die gewissermaßen als logische Konsequenz eine entsprechende negativ urteilende Kritik nach sich ziehen. Im folgenden Abschnitt urteilt Fontane im Ganzen über von Wildenbruch und seine Dramen: –––––––— 25 26 27 28 29 30
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Vgl. Thunecke 1987, S. 309. Ebd. Aus einem Brief an Maximilian Ludwig vom 2.5.1873, in: Theodor Fontane. Briefe. Zweiter Bd. Hg. von Otto Drude, Gerhard Krause u. Helmuth Nürnberger. München 1998, S. 431. Vgl. etwa den Satz aus der hier zitierten Wildenbruch-Kritik: „Wer anders fühlt, der mag sich beglückwünschen; ich gönne ihm sein Glück.“ Fontane: Kritische Jahre – Kritikerjahre. Autobiographische Bruchstücke aus den Handschriften hg. von Conrad Höfer. Eisenach 1934, S. 10. Vossische Zeitung Nr. 36, 13.2.1877, 2. Beilage. Ähnlich: „Aber das Schicksal des Abends war von Anfang an besiegelt. Wir haben auch nicht vor, in ausführlicherer Besprechung auf das Stück zurückzukommen; es ist eben nichts zu sagen, und der Versuch dazu würde nothwendig in einen Ton verfallen der auf’s Neue verstimmen müßte.“ Vossische Zeitung Nr. 522, 8.11.1885, Morgenausgabe, 1. Beilage. Vossische Zeitung Nr. 122, 26.5.1878, 3. Beilage. Ebenso: „Fräulein Gündel ist, um eine plötzlich in Mode gekommene Wendung zu gebrauchen, eine ‚blutige Dilettantin‘ Was hat sie hergeführt? Warum hieß es nicht: ‚der weite Weg entschuldigt euer Säumen?‘ Mit welchen Gefühlen muß Direktor Annos Auge während der Proben auf einem so absolut unausreichenden Spiele geruht haben? Es würde vielen unserer Gäste viel Kränkung erspart bleiben, wenn man noch in zwölfter Stunde strenger sichtete.“ – Nr. 545, 22.11.1887, Morgenausgabe, 1. Beilage.
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Ernst v. Wildenbruch’s „Fürst von Verona“, so wenig mich das Ganze zur Zustimmung bestimmen konnte, scheint mir nichts desto weniger, nach einer wichtigen Seite hin, einen ganz erheblichen Fortschritt in dem Schaffen oder doch mindestens in der Arbeitsart des Dichters zu bekunden. Was war es, was ich all’ seinen Stücken bisher vorgeworfen hatte? Willkürlichkeit der Szene wie der Einzelhandlung, Sprünge, Mangel an Motivirung, geschraubte Leidenschaft und falsches Pathos. Von der mit falschem Pathos nicht geradezu nothwendig, aber doch immerhin meistens zusammenfallenden geschraubten Leidenschaft hat auch diese neueste Wildenbruch’sche Tragödie noch ihr gutes, um nicht zu sagen ihr gerüttelt und geschüttelt Maß, aber doch ist es besser damit geworden, und was den Mangel an Motivirung und vor allem die Willkürlichkeiten angeht, so waren sie vergleichsweise verschwindend und ließen jenen Hochgrad von Ungeduld nicht mehr in mir aufkommen, der mich sonst wohl bei Vorführung der Wildenbruch’schen Stücke von Anfang bis Ende begleitete. Der Fürst von Verona muthet einem nirgends, wie zum Beispiel der 3. Akt der Karolinger, bis zum Ungeheuerlichen, ja bis zum grotesk Komischen gesteigerte Unglaublichkeiten zu, führt uns vielmehr umgekehrt in Zusammenhang und richtiger Reihenfolge Geschehnisse vor, die sich, wenn auch nicht ebenso, denn Zeitkolorit ist keine starke Wildenbruch’sche Seite, so doch wenigstens ähnlich ereignet haben können.
„Ich habe mich nie für einen großen Kritiker gehalten“, schrieb er am 21. 2. 1891 an seine Tochter Martha; „aber doch muß ich, für natürliche Menschen, mit meinen Schreibereien ein wahres Labsal gewesen sein, weil doch jeder die Antwort auf die Frage ‚weiß oder schwarz‘, ‚Gold oder Blech‘ daraus ersehen konnte; ich hatte eine klare, bestimmte Meinung und sprach sie muthig aus.“32 Durchaus nicht selten33 finden sich jedoch Textpassagen wie die oben zitierte, in denen von einer klaren, bestimmten Meinungsäußerung hinsichtlich „Gold oder Blech“ nicht die Rede sein kann. Denn einerseits wird der Autor hier gelobt (Ernst von Wildenbruch hat einen Fortschritt in seiner Arbeit gemacht), andererseits aber wird jede positive Äußerung relativiert, reduziert oder zurückgenommen durch kritische Bemerkungen noch im selben Satz, deren Notwendigkeit für die Argumentation nicht immer ganz einsichtig ist. Teilweise also ist Der Fürst von Verona gut, aber im Ganzen nicht; der Fortschritt ist auch nur nach einer Seite hin und vielleicht doch nicht im Schaffen des Autors, sondern lediglich in seiner Arbeitsart zu verorten. Später stellt Fontane fest: „Die weitaus beste Figur des Stückes ist Scaramello“ – was aber nicht für Scaramello spricht, sondern gegen die anderen Figuren, denn „Scaramello ist blos eine interessante Karikatur. Dennoch hat er was, und wenn es auch nur das Groteske wäre, was ihn weit über den Rest der anderen Figuren erhebt.“ Anschließend rekapituliert Fontane, was er von Wildenbruchs Stücken „bisher vorgeworfen“ hat und zählt dabei alle möglichen Kritikpunkte, die andere Stücke be–––––––— 32 33
Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familienbriefnetz. Hg. von Regina Dieterle. Berlin, New York 2002 (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft. Bd. 4), S. 393. Stellvertretend hier ein Zitat aus der Kritik zu Hermann Kettes Carolina Brocchi: „Gleichviel, auch mit diesem Fehler, oder doch mit dem, was uns als solcher erscheint, hat er ein unterhaltliches, an wirksamen Scenen reiches Stück geschrieben, das, trotz seines Doppeltons, keinen Mißklang hinterläßt, weil es uns, an Stelle einer das aesthetische Gesetz haltenden Harmonie, die Harmonie einer liebenswürdigen Natur entgegenbringt. […] Es bleibt einem kein bitterer Nachgeschmack, keine Verstimmung, und man verläßt das Haus mit der wohlthuenden Empfindung, in geistiger Berührung mit etwas mannigfach Anfechtbarem, aber doch vorwiegend Erfreulichem gewesen zu sein.“ Vossische Zeitung Nr. 35, 11.2.1876, 3. Beilage.
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treffen, auf, um dann das Urteil zu fällen: Diese Mängel gelten allesamt auch hier, wenn auch in geringerem Maße. Jedes Lob am Fürsten von Verona wird nur in der Negation formuliert, sodass alles, was positiv an diesem Drama sein mag, doch negativ gefärbt und überschattet ist („Der Fürst von Verona muthet einem nirgends […] bis zum Ungeheuerlichen, ja bis zum grotesk Komischen gesteigerte Unglaublichkeiten zu“) – und ganz nebenbei lässt Fontane keine Gelegenheit aus die Leserschaft wissen zu lassen, dass er „AntiWildenbruch“34 ist.35 Eindeutig ist diese Kritik als Verriss zu bezeichnen, auch wenn Fontane sich bemüht, den Eindruck einer differenzierten Rezension zu erwecken – und gerade nicht den Ausdruck tadelsüchtiger Besserwisserei eines ‚Theaterfremdlings‘.36 Die Frage nach „Gold oder Blech“ wird von Fontane selten eindeutig beantwortet – was wohl zum einen daran liegt, dass in den meisten Fällen weder die Theaterstücke noch die Aufführungen reines Gold oder reines Blech sind37 und zum anderen Fontane (nimmt man die Gesamtheit der Kritiken in den Blick) doch stärker differenziert und nicht in Schwarz-Weiß-Malerei verhaftet bleibt. Im Falle Ernst von Wildenbruchs bzw. des Fürsten von Verona38 jedoch ist Fontanes Art und Weise, Kritik zu üben und Lob auszusprechen nicht zu verwechseln mit sachlicher Differenziertheit, sondern – ‚wohlüberlegte� – harsche Kritik, die sich lediglich den Anschein gibt, auch Gelungenes zu seinem Recht kommen zu lassen; damit korreliert Fontanes Selbstdarstellung bzw. Präsentation eines bestimmten Autor-, hier: Kritiker-Ichs. Er argumentiert gleichzeitig für die schlechte Qualität des Stückes und die Mangelhaftigkeit von –––––––— 34 35
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Brief an Georg Friedländer vom 12.11.1888, in: Theodor Fontane. Briefe an Georg Friedländer. Hg. von Walter Hettche. München 1994, S. 140. Es geht natürlich hier nicht darum, Fontane zu widerlegen oder auch nur, ihm zu widersprechen – auch der Herausgeber der Gesammelten Werke Ernst von Wildenbruchs, Berthold Litzmann, schreibt in der Einleitung über das Trauerspiel: „Bühnentechnisch namentlich die beiden ersten Akte sehr geschickt, wirksam, […]. Im dritten, vor allem im vierten Akt mit überstarken Überraschungseffekten und jähen Peripetien […] eine Steigerung dramatischer Kontraste, ein Aufpeitschen der schon überhitzten Leidenschaften bis zur Unerträglichkeit, die auch im fünften und letzten Akt nicht eigentlich gedämpft oder entladen werden; in überstürzter Handlung bricht die Katastrophe herein, die weder innerlich noch äußerlich als notwendig erscheint. Nicht das bühnenwirksamste […] seiner bisherigen Werke, wohl aber das theatralischste.“ Siehe Berthold Litzmann: Einleitung. In: Ernst von Wildenbruch: Gesammelte Werke Bd. 9. Hg. von B.L. Berlin 1914, S. VII. In einem Zeitungsartikel hatte Fontanes Kollege Adolf Glaßbrenner die Initialen Th. F. in „TheaterFremdling“ umgedeutet; s. dazu Jörg Thunecke: Der „Theater-Fremdling“ Theodor Fontane. Anmerkungen zum Ursprung eines Ausdrucks. In: Fontane Blätter 1994, H. 58, S. 254–269. – Ob sich hier allerdings tatsächlich ‚hübsche Bosheiten‘ und ‚schelmische Ironie‘ eines ‚warmen Gemüts‘ äußern, muss jeder Leser selbst entscheiden. Auch wenn man (nach dem principle of charity) sagt, es ginge darum, eine Neigung nach der einen oder anderen Seite zu bekunden, so ist doch gleichzeitig auffällig, dass er sich in beiden Fällen nicht scheut, Superlative zu verwenden. Vgl. etwa die Kritik vom 24.2.1877 zu Adolf von Winterfelds Der gute Name, vom 31.10.1873 zu Goethes Torquato Tasso oder vom 29.09.1874 zu Hebbels Herodes und Mariamne. Seine Meinung ändert Fontane, als er dessen Quitzows sieht; vgl. die Kritik vom 10.11.1888: „Ich war kein Wildenbruchianer, zum Leidwesen Vieler, besonders Zweier, des Einen muthmaßlich, des Andern gewiß. Der Eine war Wildenbruch, der Andere war ich. Ich hätte mitunter was drum gegeben, ihn mitfeiern zu können; aber es verbot sich. Die Kritik steht mitunter auch in Worms und ‚kann nicht anders‘. […] Ich habe heute früh in einer Vornotiz dies neue Wildenbruchsche Stück ein Genialitätsstück genannt. Und das ist es.“ In: Vossische Zeitung Nr. 534, 10.11.1888, Abendausgabe.
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Wildenbruchs als Dramatiker wie für die Legitimation seines ‚Rezensententhums‘. Denn, so kann der Leser nicht umhin zu bemerken, Fontane ist kenntnisreich und gebildet – nicht nur literarisch –, weiß also, wovon er da schreibt. Durch Anspielungen auf z. B. Shakespeare, Schiller, Gustav von Moser, Ernst Raupach und Victor Hugo39 gibt er sich als Autorität auf seinem Gebiet zu erkennen, wie der folgende Abschnitt zeigt – der sich zu gleichen Anteilen um den „Fürsten“ wie um Fontane selber dreht: Dieser viel größere Fehler ist der, daß es uns absolut gleichgiltig läßt, woran die schöne Selvaggia zu Grunde geht, ob an Politik oder Eifersucht oder Liebe. Wir sind froh, daß es aus ist, und erschrecken bei dem Gedanken, daß eine größere Klarlegung der Motive, schlecht gerechnet noch einen Zeitaufwand von 5 Minuten gekostet hätte. So viel liegt uns nicht daran. Da doch lieber in Ungewißheit bleiben! Ja, da doch lieber in Ungewißheit bleiben, nicht weil es schon 10¼ ist, sondern weil auch schon um 8¼ und 9¼ unser Auge wohl den Bildern, aber unsere Seele nicht mehr den Vorgängen folgte. Das Interesse schließt um 7¾;40 […]. Aber schon vom 2. Akt an ist dies Interesse hin und alles was folgt, ist vorwiegend ein Guelfen- und Ghibellinen-Radau. Das hat Raupach41 auch gekonnt und »Karl konnte mehr.«42 Er hieß übrigens auch Ernst. Die beiden einzigen Guelfen und Ghibellinen, die mich zur Zeit überhaupt noch interessiren, heißen Windthorst43 und Bismarck. Die zu sehen, das wäre was. Aber Sanbonifazio und Della Scala, – todte Namen, wenigstens für uns. In einem spanischen Stücke kann ich keine Preciosa und in einem korsikanischen keine Blutrache mehr aushalten, und beinah noch schlimm[m]er sind veronesische Guelfen und Ghibellinen. Was wissen wir von ihnen? Nichts. Und so ist denn thatsächlich nichts da, was ächtes, wirkliches Leben hätte. Die hohe Tragödie braucht dessen freilich nicht, aber sie braucht dafür leidenschaftlich gespannte Tendenzen, eine hinreißende Macht der Ideen und Gegensätze, Konflikte, die wir empfinden, in denen wir selber mit aufgehen. Aber ist dies hier der Fall? Nein und abermals nein. Ich interessire mich für Reiff-Reifflingen44 33 Mal mehr, als für alle 33 Personen dieses Trauerspiels zusammengenommen. Sie sind mir nichts, ich habe keine Spur von Zusammenhang mit ihnen, es ist mir gleichgiltig, ob sie sich heut in den Vesuv oder morgen in den Aetna45 stürzen. Und da liegt der Mangel. Wer anders fühlt, der mag sich beglückwünschen; ich gönne ihm sein Glück. –
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„Die weitaus beste Figur des Stückes ist Scaramello, eine merkwürdige Mischung von Mortimer und Glöckner von Notre Dame. Trotzdem ist es mir fraglich, ob es als lohnend angesehen werden kann, solche Bastarde künstlich zu züchten. Der Bastard im Shakespeareschen King John ist jedenfalls glücklicher gemischt. Faulconbridge ist ein interessanter Mensch. Scaramello ist blos eine interessante Karikatur.“ Das Stück begann vermutlich um 19 Uhr, also reichte das Interesse gerade 45 Minuten. Ernst Raupach hat in einem 16-teiligen Dramenzyklus (1830–1837) die Geschichte der Staufer verarbeitet (die, nach ihrem Besitz der Stadt Waiblingen, ‚Waiblinger‘ (‚Ghibellinen‘) genannt wurden und deren Rivalen die Welfen (‚Guelfen‘) waren). Siehe Friedrich Schillers Don Karlos, II,2: „Das kann auch Karl, und Karl kann mehr.“ Eines von Fontane sehr häufig zitierten Sprichwörtern lautet: Hie Welf, hie Waiblingen!; es geht angeblich zurück auf den Schlachtruf, der 1140 im Kampf um die Burg Weinsberg zwischen dem Staufenkaiser Konrad III. und Graf Welf VI. entstanden sein soll. Das Sprichwort zielt auf die Kundgabe eindeutiger Parteizugehörigkeit. – Otto von Bismarck und Ludwig Windthorst, Repräsentant der Zentrumspartei, standen sich als politische Gegner wie ‚Welf und Waibling‘ gegenüber. Titel eines Schwanks (sowie dessen Hauptfigur) von Gustav von Moser. Nach der Sage soll sich der griechische Philosoph Empedokles (ca. 495–435 v. Chr.) in den Vulkan Ätna gestürzt haben.
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Fontane zeigt sich nicht nur umfassend gebildet (das sind Frenzel und Adami ja auch; als „professoral“ hat Thunecke sie bezeichnet), vielmehr präsentiert er hier seine Argumente – das Stück ist zu lang, Handlung und Figuren sind uninteressant – wiederum mit rhetorischem Aufwand, um, während er erklärt, woran Wildenbruch scheitert, zu zeigen, was er kann. Sein Überzeugungswille äußert sich in der Verwendung vieler rhetorischer Fragen; die Änderung der tatsächlichen 29 Figuren zu 33 wird aus ästhetischen Gründen vollzogen: So spiegelt sich in der aus zwei gleichen Ziffern bestehenden Zahl der Gleichklang von „Reiff-Reifflingen“. Zudem werden recht viele Worte bemüht, um auszudrücken, dass das Stück uninteressant ist – ein Großteil dieses Abschnittes umschreibt eben diesen Punkt. Auf diese Weise führt Fontane seine Wortgewandtheit, geistige Schärfe, Witzigkeit und Fähigkeit zur Pointe vor (die, so ist man bei mancher Kritik zu vermuten geneigt, von größerer Wichtigkeit ist als alles andere). Selbstbewusst gibt er zu verstehen, dass ihm gleichgültig ist, ob jemand eine andere Meinung hat als er: „Wer anders fühlt, der mag sich beglückwünschen; ich gönne ihm sein Glück.“ Damit rekurriert er noch einmal auf das ‚ins eigene Herz geschriebene Gesetz‘, das allein die Wertmaßstäbe vorgibt. Indem diese aber im Herzen verortet werden, macht er deutlich, dass seine Urteile gerade nicht rein rationalintellektuell gefällt werden, sondern vor allem auch affektiver Natur sind.46 Er spricht von der Wirkung auf die Seele, die der rein äußerlichen Wirkung entgegengesetzt sei47 und die ‚hohe Tragödie‘ ausmache: „leidenschaftlich gespannte Tendenzen, eine hinreißende Macht der Ideen und Gegensätze, Konflikte, die wir empfinden, in denen wir selber mit aufgehen“ – das brauche ein gutes Drama. ‚Wahrheit‘ und ‚Echtheit‘ als diejenigen Komponenten, ohne die Fontane kein Stück gutheißen kann (durch alle 700 Kritiken und zwanzig Jahre hindurch), seien ebenfalls im ‚Herzen‘ zu finden; demnach ist der Ort, von dem aus seine Rezensionen ihren Ursprung nehmen, so positiv konnotiert wie kaum ein anderer.48 Wie also könnte etwas Bösartiges oder ‚Tadelsüchtiges‘ daraus entstehen? Eine legitimierende Funktion haben auch die Numeruswechsel der Personalpronomina, wenn Fontane von der 1. Person Singular zur 1. Person Plural übergeht. Grundsätzlich taucht erst ab 1874 in den Kritiken die 1. Person Singular vermehrt auf; zu Beginn seiner Tätigkeit als Kritiker, im Jahr 1870, bleibt Fontane noch gänzlich bei der 1. Person Plural, wenn er auf sich als den Sprecher referiert. Von „wir“ ist die Rede, wenn er sich – wertneutral – auf die Gruppe von Personen bezieht, die das Publikum der besprochenen Aufführung bilden, z. B. bei der kurzen Inhaltsangabe: „sehen wir den Wechselsieg der einen und der anderen Partei“; oder hier: „führt uns vielmehr […] Geschehnisse vor“). Wenn aber in einer Vereinnahmungs- und Verallgemeine–––––––— 46
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Vgl. auch aus der Kritik vom 27.1.1888 zu Paul Lindaus Tante Therese: „Eine Bemerkung, der ich freilich hinzuzusetzen habe, daß die vorstehend von mir gemachten Ausstellungen nicht in einer mitgebrachten doktrinären Schablone, sondern in einem unmittelbaren Gefühle wurzeln.“ S. Nr. 46, 27.1.1888, Abendausgabe, Beilage. Man denke auch an die zahlreichen Auslassungen über die Schauspielerin Clara Ziegler, deren Spiel er als allein auf äußerliche Wirkung ausgerichtet, mithin ‚unecht‘ und ‚unwahr‘, verurteilt, etwa Vossische Zeitung Nr. 114, 18.5.1872; Nr. 140, 19.6.1872; Nr. 222, 23.9.1873. Vgl. auch: „vom dritten Akt an tritt alles in ein intimes Verhältniß zu unserem Herzen“. In: Vossische Zeitung Nr. 132, 8.6.1878. Auch ‚Wohlwollen‘ und ‚Gewissenhaftigkeit‘ haben dort wohl ihren Sitz.
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rungsbewegung Fontane stellvertretend und im Namen des Publikums eine Meinung äußert, so präsentiert er hier seine (kritische) Ansicht als allgemeingültig: „Dieser viel größere Fehler ist der, daß es uns absolut gleichgiltig läßt, woran die schöne Selvaggia zu Grunde geht“; „Wir sind froh, daß es aus ist“; „So viel liegt uns nicht daran.“ Eine Validitätssteigerung wird darüber hinaus erreicht, wenn Fontane auf jegliche Personalpronomen verzichtet, wenn die Wertungen nicht mehr dem Sprecher oder dem Publikum zugeordnet werden, sondern lediglich Feststellungen gemacht werden: „Das Interesse schließt um 7¾“; „das waren die Szenen und Momente, die nicht blos auf die Sinne, sondern auch auf das Herz fielen. Der ganze erste Akt, […] kann alles in allem als eine nahezu meisterhafte, […] Exposition gelten. Aber schon vom 2. Akt an ist dies Interesse hin“. – Schlecht ist schlecht, und es muss gesagt werden. Von literaturhistorischem Interesse wiederum ist Fontanes Realismuskonzept, das in theoretischer bzw. programmatischer Form lediglich in seinem Aufsatz „Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848“ aus dem Jahr 1853 formuliert ist, der aber in puncto Konkretheit und Anschaulichkeit hinter den dort von ihm selbst aufgestellten Forderungen zurückbleibt. In den Theaterkritiken hingegen finden sich vielfach direkt am Dramentext und -inhalt festzumachende Erörterungen darüber, was realistische Kunst sei bzw. was sie gerade nicht sei. Im Stellenkommentar kann auf diese Passagen hingewiesen werden; allerdings kann erst im Blick auf die Gesamtheit der Texte die entsprechende Einzelstelle hinsichtlich Fontanes Vorstellung von ‚dem Realismus‘49 verortet werden. Denn, auch das wird schnell deutlich im Gesamtblick oder auch im Vergleich zweier Kritiken über ein und dasselbe Stück in größerem zeitlichen Abstand: Konsistenz und Einheitlichkeit, Konsequenz und Eindeutigkeit sind Fontanes Sache hier nicht. Doch so können Widersprüche und Entwicklungen nachgezeichnet werden, gerade auch bezogen auf die späten Besprechungen naturalistischer Stücke.50 –––––––— 49
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„Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert, das ist ihr Realismus. Dieser […] findet in der Kunst nicht nur sein entschiedenstes Echo, sondern äußert sich vielleicht auf keinem Gebiet unseres Lebens so augenscheinlich wie gerade in ihr. […] Der Realismus in der Kunst ist so alt als die Kunst selbst, ja, noch mehr: er ist die Kunst.“ Es folgen Ausführungen dazu, „was der Realismus nicht ist“, um dann festzustellen: „Er ist die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst; er ist, wenn man uns diese scherzhafte Wendung verzeiht, eine ‚Interessenvertretung‘ auf seine Art. […] Der Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese; er will am allerwenigsten das bloß Handgreifliche, aber er will das Wahre.“ Siehe Theodor Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848. In: Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. 21/1. Hg. von Kurt Schreinert. München 1963, S. 7ff. u.13. Hatte es 1871 in der Besprechung von Carlo Marencos Pia dei Tolomei hinsichtlich der „Sterbeszene“ der Protagonistin noch geheißen: „All das widersteht unserem Schönheitsgefühl; wir wollen das auf der Bühne nicht sehen; diese Art realistischer Kunstübung hat es in Deutschland noch nirgends zum Bürgerrechte bringen können. Gut so; wir freuen uns dessen. Unsere gegnerische Stellung solchem Naturalismus gegenüber, darf uns aber nicht vergessen lassen, daß andere Nationen anders darüber denken“, so schreibt Fontane in der Kritik zu Arno Holz’ und Johannes Schlafs Die Familie Selicke: „[…] wie steht es d a n n mit einem solchen realistischen Stück, wie steht es dann mit der ganzen Gruppe von Stücken, die, nach alter Anschauung, eigentlich keine Stücke sind? Wie steht es dann mit diesen ‚Ausschnitten‘ aus dem Leben, mit diesen Momentbildern, die das, was wir auf der Hintertreppe gratis sehen können, uns gegen Entree noch einmal zeigen? Ich habe keine bestimmte Antwort darauf; man muß es abwarten, wie so vieles andre. Darf ich aber eine Vermuthung aussprechen, so wird diesen Stücken, ‚die keine Stücke sind‘, doch die Zukunft gehören, zum Mindesten werden sie Bürgerrecht haben, und von meinem Gefühlsstandpunkt aus, auch mit Recht. Denn es bleibt nun mal ein gewaltiger
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Debora Helmer
Die Spezifik Fontane’schen Schreibens führt die Kommentatorin bisweilen auf den schmalen Grat zwischen Interpretation und Erläuterung. Der Leser soll in die Lage versetzt werden, die zum Teil doch sehr voraussetzungsreichen Texte vollständig begreifen zu können. Das bedeutet zum einen, Wort- und Sacherläuterungen zu liefern sowie historisches Wissen zu vermitteln. Allerdings sind manche Texte nicht nur erläuterungs-, sondern ebenso interpretationsbedürftig – und als solche von Fontane bereits angelegt. In diesen Fällen ist man konfrontiert mit der bei Gunter Martens51 ausführlich diskutierten Gefahr, den Leser zu bevormunden und eine Deutungsreduktion dort vorzunehmen, wo Offenheit gewollt sein mag. Denn die Edition will nicht bevormunden, sondern in der Tat, wie Martens formuliert, den Leser zu einem „selbständigen, mündigen Umgang mit Literatur“,52 in diesem Fall: den Theaterkritiken, bringen. Ein Beispiel für eine solche Stelle bietet die Besprechung einer Festvorstellung am 2. September 1873, der Feier des Sedantages, bei der „auf Allerhöchsten Befehl“ zunächst die Ouvertüre zur Oper Ein Feldlager in Schlesien gespielt wurde, worauf ein Prolog von Friedrich Adami folgte; den Schluss bildete Sardanapal, das große historische Ballett von Paul Taglioni. Zitat des Schlussabsatzes: Zwei Akte Ballet folgten. War es ein Zufall, daß „Sardanapal“ gewählt wurde, oder war es mehr? Sardanapal: Er wollte den Sonnendienst abschaffen und den Bachusdienst an die Stelle setzen; statt des Lichtes und der Wahrheit sollte die Freude herrschen. Panem et Circenses! Der Ernst der Waffen war ihm verhaßt. Endlich zog er sein Schwert zu seiner und seines Thrones Erhaltung, aber „n’ayant pas mourir à la tête de ses troupes“ thürmt er den Scheiterhaufen und begrub sich unter ihm. Im Hintergrunde aber strömte die „Naphtha von Baku“, deren modernen Namen auch die Nicht-Eingeweihten leicht errathen mögen, in die in Flammen stehende Hauptstadt, und die Lohe röthete den Horizont. Alles wiederholt sich. So sank – Ninive.53
An Stellen wie dieser, die den heutigen Leser zunächst einmal recht ratlos zurücklassen, ist es durchaus angebracht, nicht nur die zahlreichen Wort- und Sacherläuterungen anzugeben – wer ist Sardanapal, was hat es mit dem Sonnendienst auf sich, was ist die Naphtha von Baku, welcher Satz wird hier auf Französisch zitiert usw. –, sondern auch, als Vorschlag formuliert, eine Interpretation anzubieten. Denn Fontane legt dem dekadenten assyrischen König Sardanapal die Worte Napoleons III. in den Mund, ein Zitat aus dessen Brief an König Wilhelm I. vom 1. 9. 1870, mit dem er die –––––––—
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Unterschied zwischen dem Bilde, das das Leben stellt und dem Bilde, das die Kunst stellt; der Durchgangsprozeß, der sich vollzieht, schafft doch eine räthselvolle Modelung und an dieser Modelung haftet die künstlerische Wirkung, die Wirkung überhaupt. Wenn ich das kleine Lieschen Selicke bei Nachbarsleuten im Hinterhause hätte sterben sehen, so ist es mir zweifelhaft, ob ich geweint hätte, dem kleinen Lieschen, das gestern auf der Bühne starb, bin ich unter Thränen gefolgt. Kunst ist ein ganz besonderer Saft.“ Vgl. die Kritiken vom 1.12.1871 (VZ Nr. 288) und vom 8.4.1890 (VZ Nr. 162). Gunter Martens: Kommentar: Hilfestellung oder Bevormundung des Lesers? In: editio 7/1993, S. 36– 50. Ebd., S. 49 Vossische Zeitung Nr. 206, 4.9.1873, 2. Beilage.
„Schlecht ist schlecht und es muß gesagt werden“
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Kapitulation von Sedan anbot: „Da es mir nicht vergönnt war, an der Spitze meiner Truppen zu sterben“. Fontane legt nahe: Es war kein Zufall, dass bei dieser Festvorstellung, die vornehmlich den Triumph Deutschlands über Frankreich und die Herrlichkeit Preußens feiert, ein Ballett aufgeführt wurde, das den Untergang eines großen Reiches zum Thema hat. „Alles wiederholt sich. So sank – Ninive.“ So sank Paris? In diese Überlegungen ist mit einzubeziehen, dass es sich bei der Kritik um einen bislang lediglich in die Nymphenburger-Ausgabe aufgenommenen Text handelt, der von den Herausgebern der Hanser-Ausgabe als unwichtig eingestuft wurde und daher unberücksichtigt blieb. In der Tat mag diese Kritik nicht zu den wichtigsten gehören, die Fontane geschrieben hat, aber sie ist sowohl (kultur)geschichtlich interessant als auch aufschlussreich in Hinsicht auf Fontanes Neigung zur Analogiebildung, zum Vergleich, zum metaphorischen Sprechen, wobei die einzelnen Elemente, wie bei diesem Beispiel nachgerade ins Auge springt, aus den unterschiedlichsten Bereichen stammen können. Die Frage, wie viel Interpretation nötig, sinnvoll oder erlaubt ist, kann hier nicht kategorisch festgelegt, sondern muss jedes Mal neu gestellt und beantwortet werden. Es liegt dabei in der Verantwortung der Kommentatorin, dem Leser genügend Raum für eigene Überlegungen zu lassen. Edgar Groß formuliert für die NFA als den Sinn der Ausgabe und das „letzte[] Ziel: Fontane und seinem Werk in Liebe zu dienen“. Ich meine jedoch, Liebe zum Autor ist in einer Edition fehl am Platze, denn sie führt womöglich zu jenen Fehlurteilen und Deutungsverengungen, die man gerade zu vermeiden sucht. Vielmehr soll als ‚letztes Ziel‘ gesetzt werden, die Texte zu ihrem vollen Recht kommen zu lassen, in all ihrer Sperrigkeit, Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz, dafür aber mit all ihren Eigenheiten, die sie in der Geschichte der Theaterkritik des 19. Jahrhunderts so herausragend machen.
Katrin Henzel
Zur Praxis der Handschriftenbeschreibung Am Beispiel des Modells der historisch-kritischen Edition von Goethes Faust
Der folgende Beitrag befasst sich mit der Handschriftenbeschreibung in neugermanistischen Editionen; im Zentrum steht dabei das für die Handschriftenbeschreibung in der historisch-kritischen Neuedition von Goethes Faust erstellte Schema. Den theoretischen Kontext bilden zwei Kataloge, die als maßgeblich für die Beschreibung von Handschriften in Editionen gelten können.
Status quo von Handschriftenbeschreibungen in neugermanistischen Editionen Die Zeugenbeschreibung bzw. die Handschriftenbeschreibung1 als spezifische Teilmenge der Darstellung der Überlieferung2 bildet einen unverzichtbaren Bestandteil jeder historisch-kritischen Edition.3 Es mag auf den ersten Blick erstaunen, dass man bei der Suche nach theoretischen Erörterungen oder konkreten Handlungsanleitungen für die Erfassung und Wiedergabe von Zeugen, speziell von Handschriften, für das Edieren von Texten seit dem 18. Jahrhundert jedoch kaum fündig wird.4 Ein –––––––— 1
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„Historisch-kritische Ausgaben beruhen immer auf Grundlagenforschung. Sie greifen stets auf die überlieferten Quellen zurück und erfassen somit auch die in den Archiven aufbewahrten handschriftlichen Schätze.“ Waltraud Hagen: Von den Ausgabentypen. In: Siegfried Scheibe u. a.: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Berlin 1988, S. 31–54, hier S. 33. Vgl. Siegfried Scheibes Katalog der Bestandteile einer historisch-kritischen Ausgabe: Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 1–44, hier S. 9–11. „Im Kontext der neueren Literaturgeschichte verwendet man den Begriff ‚Überlieferung‘ vor allem in der Editionswissenschaft für die Gesamtheit der Zeugnisse, welche die Entstehungs- und Bearbeitungsstufen eines literarischen Textes durch den Autor dokumentieren (‚Überlieferungslage‘).“ Klaus Grubmüller: Überlieferung [Artikel]. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 3. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2007, S. 717–720, hier S. 717. „Erste Voraussetzung für die Veranstaltung einer historisch-kritischen Ausgabe ist die Erfassung und Sammlung aller erhaltenen Textzeugen eines Werkes, die zu Lebzeiten des Autors entstanden sind oder die nach seinem Tode aus seinem Nachlaß [...] herausgegeben wurden.“ Hagen 1988 (Anm. 1), S. 33. Klaus Kanzog spricht bei Handschriften und ihrer Bedeutung für die moderne Philologie von „zufällig überlieferte[m] Material, das es zu sichten, zu werten und einzuordnen gilt. In welcher Weise dieses Material für Demonstrationszwecke verwendet werden kann, ist erst nach diesen Voruntersuchungen zu entscheiden.“ Klaus Kanzog: Prolegomena zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists. Theorie und Praxis einer modernen Klassiker-Edition. München o. J. [1970], S. 46. Eine andere Situation liegt bei der Katalogisierung von Handschriften (für Bibliotheken und Archive) vor, hier gibt es schon seit Längerem zahlreiches Material, beispielsweise für mittelalterliche und neuere Handschriften: Richtlinien und Terminologie für die Handschriftenbeschreibung. In: Handschriften-
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Katrin Henzel
möglicher Grund könnte sein, dass man in der Regel davon ausgehen kann intuitiv zu wissen, wie eine solche Beschreibung gestaltet sein sollte, indem man beispielsweise bestehende Editionen vergleichend heranzieht. Ein weiterer Grund könnte darin bestehen, dass es durchaus ‚lohnendere‘ Bereiche innerhalb der Editionswissenschaft gibt, wohingegen die Handschriftenbeschreibung ein recht ‚trockenes‘ Sujet darstellt. Dass es sich hierbei eher um Allgemeinplätze handelt, liegt auf der Hand, wenn auf den folgenden Seiten Theorie und Praxis der Handschriftenbeschreibung erörtert werden sollen. Ein Blick in eine kleine (nicht repräsentative!) Auswahl von Editionsbänden soll zeigen, wie die derzeitige Praxis der Handschriftenbeschreibung in neugermanistischen Ausgaben aussieht. Dabei werden im Folgenden lediglich Besonderheiten hervorgehoben. Jede Edition muss sich selbstredend auf ihren Forschungsgegenstand einlassen und entsprechend auch die Zeugenbeschreibung gestalten. Aus diesem Umstand ergibt sich die Tatsache, dass die vorhandenen Editionen in vielerlei Hinsicht tatsächlich nur schwer miteinander vergleichbar sind – bei der einen Edition überwiegt möglicherweise der Anteil druckhistorischer Darstellungen, bei der anderen die Analyse der Wasserzeichen, je nach Überlieferungslage findet man unterschiedliche Gewichtungen vor. Welcher Art diese sein können, soll die folgende Zusammenstellung bieten: Typisch für die Zeugenbeschreibung (konkret die der Handschriften) ist die Zweiteilung, die Handschriftenbeschreibung selbst direkt dem Text/Textzeugen zuzuordnen und im editorischen Bericht das Prinzip dieser Beschreibung zu erläutern. So geschieht es beispielsweise auch in der Innsbrucker Trakl-Ausgabe.5 Dem editorischen Bericht6 ist zu entnehmen, dass Angaben zu Sigle, Textstufe, Aufbewahrungsort, Provenienz und Einschätzung des Textzeugen vorgenommen wurden. Die –––––––—
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beschreibung in Österreich. Referate, Beratungen und Ergebnisse der Arbeitstagungen in Kremsmünster (1973) und Zwettl (1974). Hg. von Otto Mazal. Wien 1975 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Denkschriften, Bd. 122. Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters, Reihe II, Bd. 1), S. 133–158; Zur Katalogisierung mittelalterlicher und neuerer Handschriften. Hg. von Clemens Köttelwelsch. Frankfurt/M. 1963 (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderheft). Maßgeblich für die Katalogisierung von Handschriften sind allgemein die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft erarbeiteten Richtlinien Handschriftenkatalogisierung, die in der 5. erw. Auflage Bonn 1992 online zur Verfügung stehen: URL: http://www.manuscripta-mediaevalia.de/hs/kataloge/HSKRICH.htm (9. Juli 2014). Zur Bedeutung von Handschriftenkatalogen für die Forschung, im konkreten Fall die Kodikologie, s. Georg Vogeler: Einleitung. Der Computer und die Handschriften. Zwischen digitaler Reproduktion und maschinengestützter Forschung. In: Kodikologie und Paläographie im digitalen Zeitalter. Hg. von Malte Rehbein, Patrick Sahle und Torsten Schaßan. Norderstedt 2009 (Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik, 2), S. XV–XXIV, hier S. XIX. In diesem Kontext nicht weiter eingegangen wird auf den ausgesprochen komplexen Bereich der Metadatenstandards und Normdaten im Bereich der Bibliothekswissenschaft, s. dazu u. a. die Publikationsreihe der Humboldt-Universität zu Berlin: Berliner Handreichungen zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls. Hg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. Frankfurt/M., Basel 1995ff. Trakl-Ausgabe (Anm. 5), Bd. 1: Dichtungen und journalistische Texte 1906 bis Frühjahr 1912. Frankfurt/M., Basel 2007, hier und bei den nachfolgenden Angaben den S. 33–35 entnommen.
Zur Praxis der Handschriftenbeschreibung
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Beschreibung des Zeugen umfasst im engeren Sinn die Eigenschaften des Papiers. Es erfolgt eine Maschinenunterscheidung bei Typoskripten, die Beschriftung des Blattes mit Schreibrichtung und zeitgenössischen7 Eintragungen wird erläutert, Datierung und Funktion des Blattes werden ebenfalls angegeben. Vergleichbar ist die Vorgehensweise der Hamburger Klopstock-Ausgabe.8 Auch hier erfolgt die Zweiteilung, auch hier wird nach der Beschreibung des Zeugen („Schriftträgers“) mit Angaben zu Schreiber und Schrift auf die Funktion des Textzeugen hingewiesen.9 Die Gliederung der Beschreibung folgt diesem Muster: Angabe von Archiv, Signatur, Umfang, Maße, Blattrand (beschnitten oder unbeschnitten), Lage, Wasserzeichen, Faltung, Zustand, Foliierung/Paginierung, Funktion (z. B. Reinschrift). Neben textgenetisch relevanten Informationen finden sich zu jeder Handschrift auch – das ist bemerkenswert – Ausführungen zum schriftbildlichen Befund (beispielsweise zum Zeilenabstand). Einen besonders ausführlichen Editionsbericht findet man in der Marburger Büchner-Ausgabe vor.10 Er enthält unter anderem Ergebnisse der vorgenommenen Tintenanalyse, erläutert die Prinzipien der Niederschrift und gibt Informationen zur Überlieferung. Ein eigenes Kapitel (3.6.) ist der Beschreibung der Handschriften gewidmet.11 Die Ausarbeitung erfolgt diskursiv und zeichnet sich durch einen großen Informationsgrad aus – die gewählte Darstellungsform erschwert allerdings auch eine Auswertung der Daten. Einbezogen wurden auch Angaben zu erfolgten Restaurierungsmaßnahmen, die stets einen Eingriff in die Struktur des Materials bedeuten. Jede Handschriftenbeschreibung folgt dann einem genauen Ablaufmuster, wobei dann nur die Kriterien angeführt werden, die tatsächlich für den jeweiligen Zeugen zutreffen (als Positivlistung). Zusätzliche Informationen – etwa zu Händen oder Tintenanalyseergebnissen – sind (wie schon bei der Hölderlin-Ausgabe Sattlers)12 in Fußnotenapparaten unterhalb der Textwiedergabe zu finden, dort allerdings nur in geringem Maße. Schon optisch unterscheidet sich von den vorigen – aber eben auch in der Anlage der Zeugenbeschreibung – die Klagenfurter Musil-Ausgabe.13 Die Anordnung des –––––––— 7 8
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Interessanterweise werden spätere Eintragungen auf dem Papier (wie Siglen oder Stempel) bei der Beschreibung nicht berücksichtigt. Friedrich Gottlieb Klopstock. Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe (Hamburger KlopstockAusgabe). Hg. von Horst Gronemeyer, Elisabeth Höpker-Herberg, Klaus Hurlebusch und Rose-Maria Hurlebusch. Berlin, New York 1974ff. Die Angaben entstammen Abteilung Werke: IV 3: Der Messias. Text, Apparat. Hg. von Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin, New York 1996, S. 361. Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Hg. von Burghard Dedner. Darmstadt 2000 ff., Bd. 7.2, 2005, ab S. 70. Ebd., ab S. 150. Gegliedert ist dieses Kapitel in sechs Unterkapitel, von denen einige ausschließlich einzelne wichtige Woyzeck-Handschriften behandeln. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe). Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von D. E. Sattler. Frankfurt/M., Basel 1976–2008. Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. von Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino. Klagenfurt 2009 (DVD-Edition). Ausführlich zur Musil-Ausgabe s. Walter Fanta: Robert Musil – Klagenfurter Ausgabe. Eine historisch-kritische Edition auf DVD. In: editio 24,
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Katrin Henzel
Materials erfolgt bewusst ‚nebeneinander‘, da eine Wertung/genetische Einordnung der Entwürfe zum Mann ohne Eigenschaften nach Angaben der Herausgeber nicht getroffen werden kann.14 Auch die Medienwahl (DVD) ist eine konsequente Folge dieser Einschätzung. Die Zeugenbeschreibung folgt hier (verglichen mit den vorigen Editionen bzw. Teilbänden) am radikalsten einer festen hierarchischen Ordnung: In Form von Tabellen lassen sich die Informationen entnehmen, die linke Spalte beinhaltet die Kriterien, die rechte die jeweilige zeugenbezogene Angabe. Auch zwischen den verschiedenen Zeugentypen (Mappen, Hefte, Briefe) wird so eine Vergleichbarkeit möglich, da – selbst wenn manche der Kriterien textsortenbedingt entfallen oder ergänzt werden müssen – das feste Muster bei allen gleichermaßen erkennbar ist. Eine Verlinkung und die Möglichkeit der Vor- und Rückwärtsbewegung ermöglichen eine Orientierung und Navigation innerhalb des umfangreichen Materials. Bereits diese kleine Auswahl an Beispielen für die Handschriftenbeschreibung in vorhandenen neugermanistischen Editionen verdeutlicht die Krux, einerseits dem Material geschuldet eine möglichst dem Zeugen gerecht werdende Beschreibung zu liefern, die andererseits aber auch das Kriterium der barrierefreien Nutzung und Auswertung der Daten zu erfüllen hat. Deutlich wurde: Der Befund ist ausschlaggebend für die Datenauswahl und -erhebung. Wie sieht es diesbezüglich in benachbarten Disziplinen aus? In der Musikwissenschaft etwa besitzt die Handschrift offensichtlich einen anderen Stellenwert: So hat sie schon sehr früh eine detaillierte Handschriftenbeschreibung bzw. allgemein der Quellenbeschreibung als grundlegende Vorarbeit der Textkritik unter- und zugeordnet: Objekt dieses ersten textkritischen Arbeitsschrittes [der Quellenkritik; KH] ist das originale historische Dokument, das wie ein Beweisstück in einem Gerichtsprozeß hinsichtlich aller erdenkbaren Eigenschaften aufgenommen wird. Diese Aufnahme von Fakten kann nicht präzise und umfassend genug sein, weil im ersten Zugang offen bleiben muß, aus welchen Gegebenheiten Schlußfolgerungen abgeleitet werden können und aus welchen nicht (inwieweit diese Gegebenheiten dann auch im Kritischen Bericht mitgeteilt werden, hängt von dessen inhaltlicher und pragmatischer Zweckbestimmung ab).15
Alle noch so winzigen Details spielen also bei der Erfassung der Zeugen in der Musikedition eine Rolle, da im Vorfeld nicht geklärt werden kann, welche dieser Angaben für die Textkritik tatsächlich von Bedeutung sein werden. Der Wert eines solchen induktiven Verfahrens für die Edition literarischer Texte war innerhalb der deutschen Editionswissenschaft noch lange Zeit eher unbekannt, in der angloamerikanischen und in der französischen hingegen bekanntermaßen schon seit –––––––— 14 15
2010 (DOI: 10.1515/edit.2010.010), S. 117–148 (mit der Seitendokumentation einer Mappe des Nachlasses auf S. 144, Abb. 6). Vgl. hierzu Fanta 2010 (Anm. 13), S. 120f. Christian Martin Schmidt: Editionstechnik [Artikel]. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG). Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Begr. von Friedrich Blume, 2., neu bearb. Ausg. Hg. von Ludwig Finscher. Sachteil 2. Kassel u. a. 1995, Sp. 1656–1680, hier Sp. 1667.
Zur Praxis der Handschriftenbeschreibung
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Längerem Konsens, ja Grundvoraussetzung für die Erforschung der Textzeugen.16 Wichtige Ergebnisse aus diesen Bereichen sind bekanntermaßen auch in neugermanistische Editionen geflossen, wie der vorangestellte Überblick deutlich macht.
Terminologische und konzeptionelle Desiderate Eng einher geht mit dem Fehlen verbindlicher (oder wenigstens vorbildlicher) Anleitungen für die Beschreibung von Zeugen in der neugermanistischen Editionslandschaft das Etablieren einer allgemein verbindlichen Terminologie, um die Vergleichbarkeit von Editionen zu verbessern und auch und vor allem die praktische Editionsarbeit zu erleichtern.17 Zwei ehrgeizige Projekte, die Mitte der 1990er Jahre entstanden, aber noch nicht oder nur im Ansatz realisiert werden konnten, stellen das Wörterbuch der Editionsphilologie18 und das Kompendium der Editionswissenschaft19 dar.20 Auch der Versuch, beide Projekte miteinander zu verknüpfen, konnte bisher nicht in die Tat umgesetzt werden, wenngleich die Vorteile klar auf der Hand liegen: „Sie [die Verknüpfung beider Publikationen; KH] würde beträchtliche Synergie–––––––— 16
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Als Grundlage dienen hier natürlich die Arbeiten der Analytischen Druck- sowie der Analytischen Handschriftenforschung, deren Verdienst nicht oft genug genannt werden kann. Maßgeblich noch immer: Martin Boghardt: Analytische Druckforschung. Ein methodischer Beitrag zu Buchkunde und Textkritik. Hamburg 1977; Fredson Bowers: Principles of bibliographical description. 5. Auflage Winchester 1998 [11949] (St. Paul�s Bibliographies, 15); Marianne Bockelkamp: Analytische Forschungen zu Handschriften des 19. Jahrhunderts. Am Beispiel der Heine-Handschriften der Bibliothèque Nationale Paris. Hamburg 1982. Diese Diskussion ist selbstredend nicht neu; so wird in diesem Kontext immer wieder als einen frühen zentralen Beitrag hingewiesen auf: Hans Zeller: Braucht die Editionslehre eine Fachsprache? Für eine Verständigung. In: Die Nachlassedition. Akten des vom Centre National de la Recherche Scientifique und der Deutschen Forschungsgemeinschaft veranstalteten Französisch-Deutschen Editorenkolloquiums, Paris 1977. Hg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bern u. a. 1979 (Jahrbuch für Internationale Germanistik: Reihe A, Kongressberichte, 4), S. 31–41. Zeller geht – nicht zu Unrecht – sogar noch einen Schritt weiter, indem er die Notwendigkeit der Terminologie an das Kriterium der Wissenschaftlichkeit bindet, s. S. 31, und eine Verständigung der Editoren untereinander von einer gemeinsamen Fachsprache abhängig macht, s. vor allem S. 37. Dabei nutzt er den Begriff der Definition als einen dynamischen, s. S. 38. Vgl. auch die Ausführungen Klaus Hurlebuschs zur Frage nach einem einheitlichen Verfahren der Editionsprinzipien am Beispiel der Varianten: Klaus Hurlebusch: Zur Aufgabe und Methode philologischer Forschung, verdeutlicht am Beispiel der historisch-kritischen Edition. Eine Auseinandersetzung mit Hermeneutik und Historismus. In: Texte und Varianten (Anm. 1), S. 117–142. Gewissermaßen einen Versuch die Diskussion um eine allgemein verbindliche Terminologie neu zu beleben unternimmt Gunter Martens mit dem Band: Editorische Begrifflichkeit. Überlegungen und Materialien zu einem „Wörterbuch der Editionsphilologie“. Hg. von Gunter Martens. Berlin, Boston 2013 (Beihefte zu editio, 36). Genaue Informationen zur Konzeption und zum Arbeitsstand liefert: Editorische Begrifflichkeit (Anm.17). Von besonderem Interesse ist im Kontext der Handschriftenbeschreibung der dortige Abdruck der Liste der Begriffe und Stichwörter für das „Wörterbuch der Editionsphilologie“, ebd., S. 205–217, mit ca. 650 Begriffen und ca. 150 Verweisstichworten (Angaben von Gunter Martens übernommen aus: Vorwort des Herausgebers, ebd., S. 1–7, hier S. 205). Ausführlich dazu: Roger Lüdeke mit Anne Bohnenkamp und Hans Walter Gabler: Konzeption und Prototyp eines Kompendiums der Editionswissenschaft. In: Editorische Begrifflichkeit (Anm. 17), S. 145– 158. Der Prototyp ist online abrufbar über URL: http://www.edkomp.uni-muenchen.de/CD1/index.html (8. Juli 2014). Zu beiden Projekten s. ausführlich Editorische Begrifflichkeit (Anm. 17).
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Katrin Henzel
Effekte freisetzen und in der Verbindung des pragmatischen Nachschlagewerks mit dem auf (theoretische, historische, disziplinäre) Kontextualisierung abzielenden elektronischen Netzwerk des ‚Kompendiums‘ beiden Projekten zugute kommen.“21 Neben diesen Bemühungen zur Formulierung allgemeiner editionswissenschaftlicher Grundbegriffe sind auch – nicht erst seit der Fokussierung auf den Begriff der Materialität22 im editionswissenschaftlichen Bereich, aber durch diesen Trend verstärkte – Bestrebungen der Klassifikation materieller Eigenschaften zu beobachten. Per Röcken beispielsweise hat eine vorläufige Auflistung unternommen, in welcher er die Materialitäten, die editorisch erfasst werden, aufzählt und dabei folgende Bereiche unterscheidet: „(1) die klassifikatorische Bezugnahme auf einen ‚medialen Rahmen‘, (2) Beschreibstoffe bzw. Schriftträger, (3) technische Verfahren der Aufbringung von Schriftzeichen und (4) Schreibgeräte […], (5) Schreibstoffe sowie (6) ‚formale‘ Spezifika der Schrift […]“.23 Editoren haben nun nach Röcken verschiedene Möglichkeiten, die Materialität in der Edition darzustellen:24 Neben der Reproduktion als Faksimile und der zeichengebundenen Nachbildung von Eigenschaften zählt Röcken auch die (Zeugen-)Beschreibung hierunter, die er jedoch als „diskursiv“ und „selektiv“ kennzeichnet und damit – wie im Folgenden anhand zweier Kataloge für die Handschriften- bzw. Zeugenbeschreibung gezeigt wird – bereits um den wichtigen Aspekt der Deskription im strengen Sinne (die noch keinen diskursiven Charakter hat) bringt. Bei den beiden Katalogen, die konkrete Instrumentarien für die Zeugen- oder Handschriftenbeschreibung für die Edition neuerer Handschriften darstellen, handelt es sich einerseits um das vom Institut des textes et manuscrits modernes (ITEM) als Broschüre herausgegebene Beschreibungsmodell für neuere Handschriften25 aus dem Jahr 1986 und andererseits um Siegfried Scheibes Aufsatz Zur Darstellung der Überlieferung in historisch-kritischen Editionen von 1991.26 Ihnen ging zeitlich ein –––––––— 21 22
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Roger Lüdeke u. a. 2013 (Anm. 19), S. 158. Natürlich gab es auch vorher wichtige Forschungsbeiträge zur Materialität – hervorzuheben sind auch hier wieder die Arbeiten im Rahmen der Critique génétique, z. B. Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die „critique génétique“. Aus d. Frz. übers. von Frauke Rother und Wolfgang Günther. Bern u. a. 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft, 4), insbesondere S. 50–103. Beispielhaft für das seit einigen Jahren zu beobachtende verstärkte theorieübergreifende Interesse an der Materialität von Texten in/für Editionen: Medienwandel, Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Hg. von Anne Bohnenkamp-Renken. Berlin, Boston 2013 (Beihefte zu editio, 35); editio 22, 2008. Offensichtlich ist ein direkter Grund für diesen Trend im Zuwachs digitaler und hybrider Ausgaben zu suchen. Einen guten Überblick zum Begriff der Materialität aus handschriftenanalytischer Perspektive bietet z. B. Louis Hay: Materialität und Immaterialität der Handschrift. In: editio 22, 2008 (DOI: 10.1515/edit.2008.002), S. 1–21. S. aber auch frühe Ausführungen zur Materialität des Textes in Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991 (Grundlagen der Germanistik, 31), S. 50–96. Nützliche weiterführende Publikationshinweise zum Thema liefert Per Röcken: Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität? In: editio 22, 2008 (DOI: 10.1515/edit.2008.003), S. 22–46. Röcken 2008 (Anm. 22), S. 42. Eine ausführliche Gliederung mit allen Unterpunkten zu den sechs genannten Bereichen findet sich auf den Seiten 43–45. Röcken spricht aufgrund der stets stattfindenden Informationsreduktion in diesem Zusammenhang u. a. von einer Übersetzung, vgl. Röcken 2008 (Anm. 22), S. 45. Beschreibungsmodell für neuere Handschriften. Hg. vom Centre National de la Recherche Scientifique – Institut des textes et manuscrits modernes (ITEM). o.J., o.O. [Paris 1986]. Siegfried Scheibe: Zur Darstellung der Überlieferung in historisch-kritischen Editionen. In: Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller. Hg. von Gunter Martens und Winfried Woesler. Tübingen
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Beitrag Marianne Bockelkamps voraus, der als Plädoyer für die (bis dato nicht vorhandene) Reglementierung von Beschreibungen moderner Handschriften zu verstehen ist.27 Anhand konkreter Beispiele macht sie deutlich, worin der Mehrwert der Materialanalyse auch für das Textverständnis liegen kann. Einen Katalog entwirft sie gleichfalls nicht, dieser folgt neun Jahre später mit dem Beschreibungsmodell für neuere Handschriften.28
Wegweisende Modelle der Handschriftenbeschreibung Handschriften- als Dokumentenbeschreibung (ITEM) Das Beschreibungsmodell für neuere Handschriften versteht sich als direktes Arbeitsinstrument – es bietet konkret Formulare zum Ausfüllen an – und will dabei verschiedenen Nutzern dienlich sein: für Forschungszwecke (bei denen das Erfassen und Auswerten der genetischen Analyse dient), für Editionszwecke,29 für Konservierungszwecke (insbesondere zum Festhalten des Status quo im Fall einer bevorstehenden Restaurierungsmaßnahme) und zu Inventarzwecken (im Archiv). Implizit wird bei der Beschreibung von Handschriften nach diesem Modell in eine Beschreibung im engeren und eine im weiteren Sinne unterschieden, indem einige „dokumentexterne Informationen“ nicht berücksichtigt wurden. „All diese [unberücksichtigten; KH] Angaben finden ihren Platz im Kommentar, in der kritischen Edition oder in einem analytischen Katalog.“30 Das Ziel der dokumentbezogenen Beschreibung ist eine möglichst homogene Form eben dieser;31 es ließe sich durchaus – wenn auch in Abhängigkeit von Zielen und Zwecken – von einem Standardisierungsversuch sprechen. Doch sind in jedem Fall bei der Beschreibung die „natürlichen Gegebenheiten des Dokumentes“32 zu berücksichtigen, was den Versuch der Standardisierung ein wenig relativiert.
–––––––—
27
28 29
30 31 32
1991 (Beihefte zu editio, 23), S. 17–30. Auf eben diesen Aufsatz Scheibes verweist Per Röcken unmittelbar bei der Benennung der Sichtbarmachung von Materialität in Editionen, s. Röcken 2008 (Anm. 22), Anm. 134 auf S. 45. Der Wiederabdruck des Aufsatzes erfolgte in: Siegfried Scheibe: Kleine Schriften zur Editionswissenschaft. Berlin 1997 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft, 1), S. 128– 139. Marianne Bockelkamp: A propos de la description des manuscrits littéraires. In: Nachlassedition 1977 (Anm. 17), S. 162–165. „Jusqu�à ce jour, il n�existe pas de règles reconnues et codifiées pour ce qui est de la description des manuscrits modernes.“ Ebd., S. 162. Beschreibungsmodell 1986 (Anm. 25). „Die erfassten Charakteristika der Handschrift werden in den Apparat aufgenommen, und ihre Interpretation spielt bei der Erstellung von Text und Kommentar eine Rolle.“ Beschreibungsmodell 1986 (Anm. 25), unpag., S. 3 nach eig. Zählung. Ebd. sind alle oben genannten Zwecke aufgelistet und kurz erläutert. Beschreibungsmodell 1986 (Anm. 25), unpag., S. 5 nach eig. Zählung. Beschreibungsmodell 1986 (Anm. 25), unpag., S. 5 nach eig. Zählung. Beschreibungsmodell 1986 (Anm. 25), unpag., S. 5 nach eig. Zählung.
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Katrin Henzel
Tabelle 1: Übersicht der vom ITEM erhobenen Kategorien für die Handschriftenbeschreibung Gliederung Kategorie
Der Kategorie untergeordnete Kriterien
Autor 1
Titel des Werks Aufbewahrung
Standort Signatur Anzahl der Blätter
Identifizierung
*Blattnummer(n)33 Titel der Hs.34 Entstehungszeit35 Art der Hs.36 Genetischer Status37
2
Geschichte
Erstveröffentlichung und Titel der Originalausgabe Herkunft der Hs.
3
Materielle Struktur der Hs.
[= Medientyp]38 Foliierung39 Paginierung Einband40
4
Schrift
*Blattnummer(n) Beschriftung41 Schreibmaterial Farbe
5
Papier
*Blattnummer(n) Maße des Blattes42 Format Farbe Herstellungsart Art des Papiers43 Verlauf der Steglinien, Abstand44
–––––––— 33
34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
Die Angabe der Blattnummer(n) ist nicht als Subkategorie zu verstehen, sondern als stetig mitgeführte Information zwecks eindeutiger Zuordnung der erhobenen Daten. Ihre Nennung erfolgt deshalb in obiger Tabelle mit dem Zusatz eines Sternchens. Identifizierung des Inhalts, Incipit, Explicit. Belegt, geschätzt. Es handelt sich um eine materielle Bestimmung mit Vorgaben wie: eigenhändige Handschrift, Abschrift usw. Gemeint ist die Textsorte, es werden Vorschläge gemacht wie Vorstudien, Reinschrift usw. Vorgaben werden gemacht wie: Heft, Album, lose Blätter usw. Bei Foliierung und Paginierung gibt es Formulierungsvorgaben wie: eigene Hand, fremde Hand usw. Umfasst die Maße und Werkstoffe des Einbands (wie Leinen). Erwartet werden hier Positionsangaben wie: recto, verso, Rand usw. Neben Höhe und Breite ist auch die Dicke zu messen. Gerippt versus ungerippt.
Zur Praxis der Handschriftenbeschreibung
Gliederung Kategorie
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Der Kategorie untergeordnete Kriterien Ripplinien45 Liniierung46
6
Wasserzeichen
[Typ]47 Stellung im Blatt Stellung im Verhältnis zu den Steglinien
7
Trockenstempel
*Blattnummer(n) Beschreibung Stellung
8
Bemerkungen
Die Handschriftenbeschreibung ist, wie man der Tabelle entnehmen kann, hierarchisch aufgebaut: Sie geht von allgemeinverbindlichen Informationen die gesamte Handschrift betreffend aus und führt dann zu den einzelnen Teilen (den Blättern bzw. Seiten). Lediglich in der Anordnung des Wasserzeichens innerhalb der Liste ist ein Sprung zurück zur nächsthöheren Ebene und insofern eine Inkonsequenz festzustellen, da das Wasserzeichen nicht die Seiten-, sondern die Blattebene betrifft. Der Katalog ist insgesamt als ein sehr detaillierter zu bewerten; je nach Verwendungszweck lassen sich die Handschriften bis in die kleinsten Details nach diesem Muster beschreiben, wenngleich die Erfahrung diejenige ist, dass in Editionen (auch in historisch-kritischen) selten eine so detaillierte Beschreibung der Zeugen (der Dokumente) erfolgt. Der Katalog des ITEM bietet über diese Formulare hinaus konkrete Zeichenvorgaben für die Verzeichnung und (leere) Tabellen zum Ausfüllen. Es werden alle Merkmale, auf die es bei der Handschriftenbeschreibung zu achten gilt, nicht nur aufgelistet, sondern auch noch einmal detailliert hinsichtlich ihrer Bedeutung und Indizien aufgeschlüsselt.48 Zudem befindet sich am Ende des Katalogs ein Glossar mit Definitionen der wichtigsten Begriffe. Zeugenbeschreibung in Editionen nach Siegfried Scheibe Als maßgebliche konzeptionelle Arbeit über die Handschriftenbeschreibung gilt Siegfried Scheibes Beitrag Zur Darstellung der Überlieferung in historisch-kritischen Editionen in der 1991 erschienen Festschrift für Hans Zeller.49 Scheibe beschränkt sich beim Forschungsgegenstand nicht nur auf Handschriften, sondern allgemein auf Zeu–––––––— 44 45 46 47 48 49
In Relation zur Schrift. Unterschieden wird in eng und weit. Es sollen Angaben gemacht werden wie: liniert, kariert, Linienabstand, Randbreite und Farbe. Einteiliges Wasserzeichen, Doppelwasserzeichen, mehrteiliges Wasserzeichen oder unvollständiges Wasserzeichen. Siehe etwa die Erläuterung zur Beschreibung der Wasserzeichen in: Beschreibungsmodell 1986 (Anm. 25), unpag., S. 33 nach eig. Zählung. Scheibe 1991 (Anm. 26). Wiederabdruck: Scheibe 1997 (Anm. 26).
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Katrin Henzel
gen. Allerdings bezieht sich Scheibe sodann bei der Modellierung lediglich auf (einfach strukturierte) Handschriften,50 sodass hier weiterhin von der Handschriftenbeschreibung gesprochen werden kann. Der Aufsatz hat vor allem neugermanistische Editionen – und dabei konkret Printeditionen ohne Faksimilebeigaben – im Blick. An die Beschreibung der Überlieferung stellt Scheibe insgesamt drei Anforderungen: 1. die eindeutige Identifizierung und Zuordnung eines Zeugen, 2. präzise und umfassende Informationserteilung zu den „äußeren und inneren Merkmale[n] und Eigenschaften“ eines Zeugen sowie 3. die Charakterisierung des Zeugen hinsichtlich „seine[r] eigene[n] Entwicklung wie seine[r] Beziehung zu anderen“, also seine Verortung innerhalb des genetischen Gesamtprozesses.51 Damit wird zugleich die Zeugenbeschreibung aufgewertet, da sie bei der konzeptionellen Erarbeitung schon mitzudenken ist. Im konkreten Verfahren der Zeugenbeschreibung unterscheidet Scheibe zwei separate Teile innerhalb der Edition: 1. die deskriptive und 2. die diskursive Beschreibung. Tabelle 2: Scheibes Modell der Zeugenbeschreibung Gliederung Kategorie
Der Kategorie untergeordnete Kriterien
A
Deskriptiv
AI
Daten des Zeugen
Siglierung Ort der Aufbewahrung/Besitzer Signatur, gegebenenfalls Vorbesitzer Verweis auf Stelle zum Zeugen in anderen Ausgaben (mit Sigle) Hinweise auf Faksimiles
A II
Beschreibung des Zeugen
Beschreibung des Gesamtzustandes des Zeugen Beschreibung des Papiers Wasserzeichen Zählung Schreibersiglen/material (inkl. Schriftart) Inhalt
B
Diskursiv
Art und textgeschichtliche Funktion des Zeugen Folgerungen aus Zustand des Zeugen Beweisführung über chronologischen/stemmatologischen Ort des Zeugen Beweisführung über Abfolge von Korrekturschichten Schlussfolgerungen über verwendete Schriftarten Angaben über Schicksal des Zeugen (weitere Korrekturen, Provenienz)
–––––––— 50
51
S. Scheibe 1991 (Anm. 26), S. 22. Scheibe begründet dieses Vorgehen mit dem Hinweis auf bestehende Arbeiten und Erläuterungen zur deskriptiven Beschreibung von Drucken und komplex beschaffenen Handschriften, s. ebd. Scheibe 1991, S. 19.
Zur Praxis der Handschriftenbeschreibung
Faust Faust
Faust
¡ ¢
£¤ ¤ ¥ ¦ £ ¡ ¡ £
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Katrin Henzel
Archivalieneinheiten mit über 2000 beschriebenen Seiten gestaltet sich die Überlieferungslage von Goethes Faust schon rein materiell als ausgesprochen komplex. Die Edition sieht sich mit der Erfassung des Handschriftenmaterials also durchaus vor eine gewisse Aufgabe gestellt. Für die Beschreibung der Handschriften wurde ein Schema im XML-Format erarbeitet, das sich in modifizierter Form auch auf die Beschreibung der für die FaustEdition relevanten Drucke und die eingebundenen Zeugnisse zur Entstehungsgeschichte anwenden lässt.54 Für jede Handschrift wird eine separate XML-Datei angelegt; maßgeblich ist dabei der aktuelle Überlieferungszustand; das bedeutet, dass ehemals zusammenhängende Dokumente, die nun getrennt archiviert sind, gemäß aktueller Lage mehrere XML-Dateien erhalten: pro Archivalieneinheit eine. Der genetische Zusammenhang wird mittels Verweisen in jeder XML-Datei sowie visuell an anderer Stelle der Edition hergestellt. Unser Modell nimmt sich – wie das vom ITEM erarbeitete – das Archivmaterial, also die Handschriften (oder Dokumente) zum Ausgangspunkt und ordnet entsprechend die Kriterien für die Beschreibung hierarchisch an, beginnend mit allgemeinen Informationen auf höchster Ebene und dann ‚hinabsteigend‘ zur Blatt- und weiter zur Seitenebene bis zu An-/Aufklebungen von Zetteln auf einzelnen Seiten einer Handschrift.55 Der im Folgenden vorgestellte Katalog wird in der hier vorgefundenen Reihenfolge bei der Datenerhebung im Archiv systematisch abgearbeitet; die Reihung ist zugleich eine mögliche Orientierung für eine spätere Wiedergabe der eingegebenen Daten in der Anzeige der Handschriftenbeschreibung in der Edition.56
–––––––— 54 55
56
zum Goethebestand in Weimar. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 387–406. Zu den Möglichkeiten der weiteren Nutzung des Schemas s. die abschließenden Bemerkungen in vorliegendem Beitrag. Lediglich die Literaturangaben wurden an das Ende des Schemas gestellt, weil sie dokumentexterne Angaben sind und weiterführenden Charakter besitzen. Sie haben keine ordnende Nummer, da sie jeweils den Punkten 1 bis 5 zugeordnet werden (gibt es beispielsweise den Faksimiledruck eines bestimmten Blattes in einem umfangreichen Konvolut, wird die entsprechende Literaturangabe dem Punkt 2 zugeordnet). Es ist aber geplant, die Informationen nicht in Gänze sofort dem Nutzer anzuzeigen, um eine Informationsflut zu vermeiden. Stattdessen sollen erst nur allgemeine Informationen zur Handschrift bereitgestellt werden, die übrigen soll der Nutzer in einem weiteren Schritt abrufen können.
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Zur Praxis der Handschriftenbeschreibung
Tabelle 3: Kriterien für die Datenerhebung zu Handschriften in der Faust-Edition Gliederung
Kategorie
Der Kategorie untergeordnete Kriterien
1
Dokumenteigenschaften Allgemeine Informationen/Inhaltsangabe Aufbewahrungsort (Spezifizierung des Ortes)57 (Sammlung) Identifizierung der Hs. in verschiedenen Systemen: Siglen, Signaturen (Angabe von Teilsiglen) Verweis auf Text des Zeugen58 Handschriftentyp (Überlieferung/Provenienz) (Historische Aufbewahrungsform) (Einband) (Vorgefundene Zählungen) (Zustand der Handschrift)
2
Blatteigenschaften
Blattmaße Format (Bindematerial) (Stichlöcher) (Erhaltungszustand des Blattes) (Rand: beschnitten/unbeschnitten)
3
Papiereigenschaften
Papiersorte Papierfarbe (Steglinienabstand) (Papiermühle) Wasserzeichen Gegenzeichen
4
Seiteneigenschaften
Verweis auf das dokumentarische Transkript59
–––––––— 57 58
59
Angabe von Teilarchiven, beispielsweise das Cotta-Archiv im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Verwiesen wird auf eine XML-Datei, in der der Text der Handschrift transkribiert ist. Siehe Bohnenkamp u. a. 2011 (Anm. 52), S. 38–46; Gerrit Brüning, Katrin Henzel und Dietmar Pravida: Multiple Encoding in Genetic Editions: The Case of „Faust“. In: Journal of the Text Encoding Initiative (Online), Issue 4, März 2013 (DOI: 10.4000/jtei.697), URL: http://jtei.revues.org/697 (8. Juli 2014). Verwiesen wird auf eine XML-Datei, in der der Handschriftenbefund transkribiert ist; aus diesem Transkript wird automatisch die differenzierte Umschrift der jeweiligen Handschriftenseite generiert. Vgl. Abb. 2 in Brüning u. a. 2013 (Anm. 58), Absatz 18.
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Katrin Henzel
Gliederung
Kategorie
Der Kategorie untergeordnete Kriterien
5
(Eigenschaften von Anbringungen)
Maße Art der Anbringung Papiersorte der Anbringung Papierfarbe der Anbringung (Steglinienabstand der Anbringung) (Papiermühle der Anbringung) Wasserzeichen der Anbringung Gegenzeichen der Anbringung
Drucknachweise Literaturangaben
Handschriftenbeschreibungen Faksimiledrucke Textwiedergaben der Handschrift publizierte Erörterungen, die genetisch relevante Informationen enthalten
Alle in runden Klammern wiedergegebenen Kriterien sind optional, bei den übrigen sind in jedem Fall die dazugehörigen Daten zu erheben. Diese werden benötigt, um das von Siegfried Scheibe erhobene Kriterium der eindeutigen Identifizierbarkeit eines Zeugen zu gewährleisten. Wichtig war zudem, im Schema explizit festzuhalten, aus welchem Grund Informationen nicht angegeben wurden: Entweder sind die erforderlichen Merkmale nicht vorhanden (wenn z. B. kein Wasserzeichen auffindbar ist) oder es wollen/können keine Aussagen hierzu getroffen werden (wenn z. B. aufgrund der schlechten Papierqualität ein Wasserzeichen nicht erkennbar, aber doch vorhanden und lediglich nicht sichtbar sein könnte). Auch wurde die Möglichkeit geschaffen, in Freifeldern weitere Informationen im Schema diskursiv anzutragen, da bei Handschriften immer der Fall auftreten kann, besondere, noch nicht qualifizierbare Beobachtungen festhalten zu wollen, die sich in kein Schema ‚pressen‘ lassen. Grundsätzlich wurde jedoch so verfahren, diskursive Angaben auf möglichst wenige Bereiche zu begrenzen, um eine Auswertung und damit Vergleichbarkeit der Handschriften zu ermöglichen. Das Schema ist so konstruiert, dass sich einmal angetragene Informationen auf alle darunter befindlichen Bereiche vererben lassen: Wurde beispielsweise für ein Handschriftenkonvolut immer das gleiche Papier verwendet, wird diese Information nur einmal angebracht und muss nicht bei jedem Blatt wiederholt werden. Zur Erläuterung der in der Tabelle aufgeführten Gliederungsebenen (1–5) ist Folgendes zu ergänzen: Dokumenteigenschaften – Unter diesem Punkt finden sich alle Angaben, die generell auf die gesamte Handschrift zutreffen. Grundlegende Arbeiten hat hierzu bereits das Goethe- und Schiller-Archiv Weimar mit dem Inventarband60 zum Faust –––––––— 60
Inventare 2011 (Anm. 52). Großer Dank gilt Jürgen Gruß, der die Daten der Faust-Redaktion schon vor Publikation des Bandes großzügig bereitstellte. Siehe auch Silke Henke: Das Goethe-Inventar als archivarisches Findhilfsmittel und Quelle der Goethe-Philologie. Ergebnisse und Nutzungsmöglichkeiten. In: Goethe-Philologie im Jubiläumsjahr – Bilanz und Perspektiven. Kolloquium der Stiftung Weimarer Klassik und der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, 26.–27. August 1999. Hg. von Jochen
Zur Praxis der Handschriftenbeschreibung
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geleistet, sodass hier zahlreiche Fakten nicht erst mühsam recherchiert werden mussten. Dies war insbesondere bei der Datenaufnahme in den Archiven hilfreich, da dort die dokumentinterne Beschreibung, die nur vor Ort zu leisten möglich ist, den Schwerpunkt bildete. Beim Kriterium des Handschriftentyps erfolgte in Anlehnung an die Klassifikation in Anne Bohnenkamps Arbeit zu den Faust-Paralipomena die Einteilung in Mundum, Arbeitsmundum, Sammelblatt, Schema, Konzept, Exzerpt und Notiz.61 Die (optionale) Beschreibung des Zustands der Handschrift erfolgt anders als z. B. bei der Handschriftentypologie als Freitexteingabe. Blatteigenschaften62 – Gemessen wird jedes Blatt einer Handschrift Breite mal Höhe in Millimetern.63 Für die Erhebung und Auswertung dieser Daten bietet sich deshalb eine feste Vorgabe an. Auf Schwierigkeiten stößt man bei sehr ungleichmäßig geschnittenen Papieren, die oft in Folge einer Mehrfachverwendung (beispielsweise für Briefkonzepte, kurze Notizen – oder auch nur Tintenproben – zusammen mit Faust-Versen) in der Breite und Höhe stark variieren können. Hier wurde als interne Regel formuliert, die maximalen Maße in der vorgegebenen Maske einzugeben und zusätzlich die kleinste messbare Zahl zu notieren. Freiwillige Angaben im Bereich der Blatteigenschaften beziehen sich auf das Bindematerial in Konvoluten, möglicherweise vorhandene Stichlöcher, Angaben zur Erhaltung64 und zum Rand. Papiereigenschaften – Bei der Papiersorte wird zwischen Konzept-, Schreib-, Brief-, Velin- und Maschinenpapier unterschieden. Während der Erhebung der Daten wurde beobachtet, dass weder Goethe noch seine Schreiber Maschinenpapier nutzten. Die Messung des Steglinienabstands soll bei der Auswertung der erhobenen Daten helfen, Handschriften im Nachhinein materiell in Relation setzen zu können; möglicherweise können mit diesen Angaben sowie den weiteren unter Gliederungspunkt 3 genannten neue Zusammenhänge erfasst und damit entstehungsgeschichtlich wertvolle Informationen gewonnen werden. Die Bestimmung und Beschreibung der Wasserzeichen65 erfolgt mit Hilfe des Deutschen Buch- und –––––––— 61 62
63
64 65
Golz. Tübingen 2001 (Beihefte zu editio, 16), S. 87–98; sowie Silke Henke 2000 (Anm. 52), insbesondere S. 399–406. Anne Bohnenkamp: „... das Hauptgeschäft nicht außer Augen lassend.“ Die Paralipomena zu Goethes ‚Faust‘. Frankfurt/M. 1994, S. 815–841. Warum das Blatt als Bezugsgröße von großer Bedeutsamkeit ist, beantwortet Marianne Bockelkamp: „Während in der Papierforschung der Bogen, wie er durch den Schöpfvorgang entstanden ist, die zu untersuchende Einheit bildet, gehen wir in der analytischen Handschriftenforschung von dem Blatt aus, wie es der Autor beschrieben hat.“ Bockelkamp 1982 (Anm. 16), S. 41. Dabei ist nicht immer eindeutig, was unter Breite und unter Höhe verstanden wird: Das Kriterium des Schriftverlaufs (Siegfried Scheibe) ist bei mehrfach erfolgten Niederschriften nicht immer gegeben. Als weiteres Kriterium nennt Scheibe daher den Umfang des Textes, s. Scheibe 1991 (Anm. 26), S. 23f. Wir haben uns hingegen dafür entschieden, die Ausrichtung der Seite an die Ausrichtung der Erstbeschriftung zu binden. Diese Angaben sind nämlich nur dann erforderlich, wenn sie nicht bereits auf der Ebene der Dokumenteigenschaften notiert wurden. Zum Nutzen der Aufnahme und Beschreibung von Wasserzeichen bemerkt Marianne Bockelkamp treffend: „[...] es [das Wasserzeichen; KH] könnte sich sehr wohl zu einem späteren Zeitpunkt, in einer günstigeren Konstellation, als wichtiger Datierungsfaktor erweisen. Kommen Wasserzeichen in Handschriften vor, deren Entstehungsdatum und Entstehungsort bekannt sind, so ist ihre Verzeichnung von größtem Nutzen, denn sie bilden ein Bezugssystem in Raum und Zeit, das als Datiergerüst funktionieren kann [...]“. Marianne Bockelkamp: Wasserzeichen in neueren Handschriften. Ihre Erfassung und Aus-
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Katrin Henzel
Schriftmuseums in Leipzig.66 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Zuordnung der Wasserzeichen noch nicht abschließend aufbereitet.67 Seiteneigenschaften – Wie aus den wenigen Angaben zu diesem Punkt in der Tabelle ersichtlich wird, ist die Beschreibung einer Handschriftenseite eher belanglos, da sich – im Gegensatz zu Druckseiten – alle wichtigen Beschreibungskriterien entweder auf das Blatt in seiner Gänze oder auf Anbringungen auf einer Handschriftenseite (in der Regel kleine an- oder aufgeklebte Zettel mit Bearbeitungen zum Text der Handschrift) beziehen. Von der Ebene der Seiteneigenschaften wird es dem Nutzer möglich sein direkt auf die dazugehörige Umschrift mit Faksimile zu gelangen. Eigenschaften von Anbringungen – Auf dieser niedrigsten Ebene wiederholen sich die Kriterien, die für die Blatt- und Papiereigenschaften der Handschrift erarbeitet wurden, nur dass sie sich nun auf den angebrachten Zettel beziehen. Zu sehen ist im Folgenden ein Ausschnitt aus einer XML-Datei, wie sie typisch für die Erhebung der Handschriftendaten im Faust-Projekt ist; konkret wurden hier die Daten für die (im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar befindliche) Handschrift mit der Signatur GSA 25/W 1396 angetragen.
gsa GSA 25/XVII,2,22 GSA 25/W 1396 none H P42
none Vergilbt. Linker Rand leicht gewellt.
212 128
8 uncut
–––––––—
66 67
wertung. In: editio 4, 1990, S. 21–43, hier S. 26. Das Wasserzeichen dient somit wohlbemerkt als „Glied einer Beweiskette“, ebd. S. 36, nicht als alleiniges Indiz. Den aktuellen Stand zur Wasserzeichennutzung durch die Editoren fasst Sven Limbeck umfassend und informativ zusammen in: Sven Limbeck: Wozu sammeln wir Wasserzeichen? Vom Nutzen eines Papiermerkmals für Editoren. In: Materialität in der Editionswissenschaft. Hg. von Martin Schubert. Berlin, New York 2010 (Beihefte zu editio, 32), S. 27–43. Wir danken Frieder Schmidt und Andrea Lothe für die Bereitschaft, uns bei der Beschreibung der Wasserzeichen in Goethe-Papieren zu unterstützen. Geplant ist, über eine Nummerierung der einzelnen Wasser- und Gegenzeichen in der jeweiligen Handschriftenbeschreibung zu einem gesonderten Bereich in der Edition zu gelangen, in der neben der Beschreibung der Zeichen auch – dies ist aber nur exemplarisch für eine Auswahl an Papieren möglich – Wasserzeichenaufnahmen zugänglich sein sollen. Für die Aufnahmen der Papiere danken wir dem Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, insbesondere Carmen Knickmeier, für die weitere Aufbereitung der Digitalisate für die Edition Georg Dietz (Dresden).
Zur Praxis der Handschriftenbeschreibung
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Briefpapier gelb Muschel
S. 303 S. 130 S. 303 S. 130 Bd. 1, S. 550 S. 130
Zu sehen ist ganz oben die Angabe des Aufbewahrungsortes mit einem Kürzel (in diesem Fall „gsa“ für Goethe- und Schiller-Archiv Weimar) unter . Sodann folgen innerhalb von Siglen verschiedener Ordnungssysteme (in vorliegender Reihenfolge im oben gezeigten Beispiel: alte und neue Signatur des Archivs, hier des GSA, Handschriftensigle der Weimarer Ausgabe,68 Handschriftensigle in der Paralipomena-Ausgabe von Anne Bohnenkamp.69 Unter wird auf das textuelle Transkript verwiesen (aus welchem der Text der Handschrift generiert wird). Eine Klassifikation der Handschrift fehlt hier („none“ innerhalb von , weil keine der Vorgaben auf den konkreten Fall zutrifft). Danach wird in Form von Freitext der Erhaltungszustand der Handschrift beschrieben, dann folgen die Maße (Angaben Breite x Höhe in mm). Mit der „8“ unter wird das Oktavformat bezeichnet, das Blatt ist unbeschnitten, als Papiersorte wurde die Einordnung als „Briefpapier“ vorgenommen. Es folgen mit und 70 weitere Angaben zur Papierbeschreibung. Abschließend werden bibliographische Verweise mittels gelistet, im vorliegenden Beispiel konkret unterschieden nach publizierten Handschriftenbeschreibungen ("description"), Textwiedergaben ("text") und ausführlichen Erörterungen ("essay"). –––––––— 68
69 70
Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 143 Bde., Weimar 1887–1919; Nachträge und Register zur IV. Abteilung: Briefe. Hg. von Paul Raabe, 3 Bde., München 1990 (WA). Der Wert "wa_faust" bezieht sich auf die Faust-Bände mit enthaltenen Lesarten WA I 14 und WA I 15/2 (1887–1888) sowie WA I 39 (1897) und WA I 53 (1914). Im vorliegenden Fall wurde die Handschrift in der WA nicht erfasst, entsprechend lautet die Angabe „none“. Bohnenkamp 1994 (Anm. 61). Hier wird besonders deutlich, dass die Daten noch einer weiteren Überarbeitung bedürfen, da hier schließlich eine ID stehen soll – die Angabe „Muschel“ dient vorerst als Platzhalter und verweist auf eine parallel zum XML-Schema für die Wasserzeichen geführte Liste mit genauen Angaben zum Wasserzeichen.
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Katrin Henzel
Zusätzlich zu den hier geschilderten Daten werden in jeder XML-Datei der Arbeitsstand71 und – wie im Folgenden zu sehen – die im Archiv vorgefundene Lagenstruktur festgehalten.72
Bei dem Beispiel, das sich wiederum auf die Handschrift mit der GSA-Signatur GSA 25/W 1396 bezieht, ist die Struktur recht einfach: Es handelt sich um ein einzelnes Blatt () mit Vorder- und Rückseite, auf deren Ebene jeweils der Verweis auf das dazugehörige dokumentarische Transkript erfolgt. Je umfangreicher und komplexer eine Handschrift ist, desto komplexer wird auch die XML-Struktur. Aus dieser Anordnung wird eine visuelle Wiedergabe des Konvoluts erzeugt. Dem Nutzer sollen so zusätzliche Informationen an die Hand gegeben werden, die ihm ohne Archivgang entgehen. Vergleich mit den Beschreibungsmodellen des ITEM und Siegfried Scheibes Im Vergleich mit den Modellen für die Beschreibung von Handschriften (ITEM) oder Zeugen allgemein (Scheibe) fällt auf, dass – dem digitalen Medium geschuldet – weitere Kriterien hinzugekommen sind: der Verweis auf die Transkripte, die die Navigation zwischen Handschriftenbeschreibung, Umschrift, Faksimile und der Textwiedergabe einer Handschrift erst ermöglichen. Auf der anderen Seite fehlen auch Kriterien, die bei beiden vorgestellten Katalogen von großer Wichtigkeit sind: Angaben zur Schreiberhand und zum Schreibmaterial. Diese Informationen werden an anderer Stelle – konkret in den Transkripten – angetragen und entsprechend anders ausgewertet, bleiben aber in jedem Fall auffindbar und durchsuchbar. Eine Gegenüberstellung der beiden Kataloge mit dem Modell der Faust-Edition soll noch einmal die wesentlichen Merkmale herausstreichen: –––––––— 71 72
Aufgrund der großen Menge der zu beschreibenden Faust-Handschriften ist das Festhalten des Arbeitsstandes eine unerlässliche Aufgabe. So können gezielt auch noch nicht erledigte Schritte erfolgen. Als Beispiel für die Darstellung der Konvolutstruktur s. entsprechende Abbildung in Bohnenkamp u. a. 2011 (Anm. 52), S. 57.
93
Zur Praxis der Handschriftenbeschreibung
Tabelle 4: Vergleich der Handschriftenbeschreibungsmodelle (ITEM, Scheibe, Faust) Modell ITEM
Modell Scheibe
Modell Faust
Forschungsgegenstand
Handschriften
Zeugen (Handschriften und Drucke)
Handschriften, Modell adaptierbar für andere Zeugen
Zweck der Datenerhebung
verschiedene Zwecke (Forschung, Edition, Inventar)
Editionszwecke (Print)
Editionszwecke (digital)
Qualität der Daten
dokumentintern
dokumentintern und -extern
dokumentintern und -extern
Funktion des Modells
Formular direkt zum Ausfüllen = konkretes Arbeitsinstrumentarium � Datenaufnahme
Leitfaden zur Darstellung der ausgewerteten Daten in der Edition � Datenanalyse und Präsentation der Ergebnisse
Schema zur Erhebung von Daten, Durchsuchbarkeit, Basis für die Ausgabe der Daten � Datenaufnahme, -analyse und -wiedergabe
Struktur des Modells
stark vom Objekt (Handschrift) ausgehend, und zwar materiell � objektbezogen
von der Edition und ihren textsortenspezifischen Einzelteilen ausgehend � medienbezogen
stark vom Objekt ausgehend, aber gleichermaßen hinsichtlich der medialen Auswertung strukturiert � objekt- und medienbezogen
Darstellungsweise
vorrangig listenförmige Erhebung, Schlussbemerkungen diskursiv
erster Teil eher Listen (doch ohne konkrete Vorgabe), zweiter Teil diskursiv
listenförmig, aber mit der Möglichkeit diskursiver Einsprengsel, bei komplexen Sachverhalten erfolgt diskursive Darstellung außerhalb des Schemas
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Katrin Henzel
Allen gemeinsam ist das Verfahren bei der Angabe der Daten: hierarchisch geordnet, vom Allgemeinen zum Besonderen gehend. In allen drei Modellen wird die Befürwortung eines festen Arbeitsablaufs mit einer klaren Informationsstrukturierung erkennbar, wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen. Prinzipiell wird von allen Seiten die Notwendigkeit eingeräumt, dem Untersuchungsgegenstand geschuldet die Möglichkeit zu bieten, vom vorgegebenen Muster auch abweichen zu können. Dies kann als konzeptionelle Schwäche bewertet werden; im Umgang mit von großer Individualität geprägten Objekten (Handschriften) ist eine andere Vorgehensweise aber gar nicht denkbar. Nutzbarmachung des Schemas und der erhobenen Daten Welche Daten man für die Handschriftenbeschreibung in der Faust-Edition erheben möchte, um der Beschaffenheit der Faust-Handschriften und ihrem Wert für die Forschung gerecht zu werden, darüber war man sich schnell einig, auch und vor allem dank wichtiger vorausgegangener Arbeiten in den Bereichen der Handschriften- und Goethe-Forschung. Weitaus schwieriger war die Konzeption der Datenstrukturierung: Komplexe Handschriftenbeschreibungen in Editionen waren bisher und sind auch immer noch bis auf wenige Ausnahmen diskursiver Art und lassen sich so schwer in Beziehung zueinander setzen. Es wurde für die Faust-Edition eine Lösung angestrebt, die umfangreichen Daten in den verschiedenen Archiven präzise und einheitlich erfassen zu können und gleichzeitig ihre Auswertung und Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Das für die Faust-Edition entwickelte Modell ist dabei mehr als ein bloßes Arbeitsinstrument bei der Datenerhebung in den Archiven: Es wird dem Forschungsgegenstand mit seiner besonderen Überlieferungslage gerecht, und es erfüllt die Anforderungen der Gesamtkonzeption der Edition mit ihrem Anspruch, dem Nutzer verschiedene Sichten auf Goethes Faust zu bieten.73 Schnittstellen für die weitere Bearbeitung und Präsentation der Daten werden bereitstellt; die erhobenen Daten sollen in verschiedenen Formaten ausgeliefert werden können. Die Möglichkeit der Anknüpfung an das bestehende Modell betrifft dabei sowohl die eigene Arbeit74 als auch die anderer Editionsvorhaben. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist die Verständigung. Das XML-Schema zur Handschriftenbeschreibung in der Faust-Edition wurde daher so gestaltet, dass die einzelnen Kategorien für die Datenerhebung in englischer Sprache verfasst wurden. Hierbei halfen Wörter- und Handbücher der Buchwissenschaft75 ganz wesentlich, für –––––––— 73 74
75
Hierzu ausführlich Bohnenkamp u. a. 2011 (Anm. 52). Die umfassende Beschreibung der Drucke und Zeugnisse zur Entstehungsgeschichte von Goethes Faust steht noch aus. – Zur Aufwertung der Zeugnisse vgl. Klaus Hurlebusch: Steckt für Quellen- und Editionsphilologen nur der liebe Gott im Detail? Über eine Detailwissenschaft par excellence und ihr kulturwissenschaftliches Reflexionspotential. In: editio 25, 2011 (DOI: 10.1515/edit.2011.002), S. 1–31, hier S.18f. Helmut Hiller: Wörterbuch des Buches. 7., grundlegend überarb. Auflage. Frankfurt/M. 2006. Ursula Rautenberg: Reclams Sachlexikon des Buches. 2., verb. Auflage. Stuttgart 2003. Glossary of basic archival and library conservation terms: English with equivalents in Spanish, German, Italian, French, and Russian. Hg. von Carmen Crespo Nogueira. München u. a. 1988 (ICA handbooks series, 4). Eberhard Sauppe: Dictionary of Librarianship / Wörterbuch des Bibliothekswesens. 2. Auflage. München u. a.
Zur Praxis der Handschriftenbeschreibung
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den Bereich der Handschriften herrscht diesbezüglich leider noch ein Defizit, sodass es teilweise terminologisches Neuland zu betreten galt.76 Darüber hinaus wurden bei wichtigen Typologisierungsvorgängen (etwa der Textsortenklassifikation oder der Bestimmung der Papiersorte) bestehende Modelle und Forschungsbeiträge genutzt und, wo nötig, modifiziert. Worin liegen die Vorteile für den Nutzer? In der klaren Sprache und Kategorisierung von Handschriftenmerkmalen. Eindeutige Zuweisungen, etwa zu Papiersorten und Wasserzeichen, ermöglichen die Auswertung großer Mengen an Daten und ihre Systematisierung/Überschaubarkeit. Eigene Suchanfragen können zu neuen Forschungsergebnissen und vertiefenden neuen Fragen führen. Gleichzeitig liegt in dieser Festlegung auch eine besondere Verantwortung: Editoren sind gezwungen, eigene Beobachtungen klar zu formulieren und sich relativ früh bei der Kategorisierung und Typisierung festzulegen. Dies setzt wiederum eine solide Grundkenntnis des Korpus voraus, um das Schema den Eigenheiten der untersuchten Handschriften gegebenenfalls anzupassen (je früher dies den Editoren bewusst ist, desto einfacher lassen sich auch noch zu einem späteren Zeitpunkt Korrekturen vornehmen). Erst später aufgefundene Charakteristika sind nur schwer in das bestehende Schema zu integrieren, und einmal getroffene Entscheidungen sind auch nur unter erhöhtem Aufwand zu revidieren. Damit geht eine gewisse Umgewöhnung des Editors einher, denn er muss sich zu klaren Aussagen zwingen. Diese neue Arbeitsweise kann und sollte man aber auch als Chance begreifen: Entgeht man so doch eher der stetigen Versuchung, in unklaren oder komplizierten Fällen gar nichts sagen zu wollen und sich damit der editorischen Verantwortung vor dem Nutzer zu entziehen.77
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1996. Harrod’s librarians’ glossary: 9,000 terms used in information management, library service, publishing, the book trades and archive management. Zus.gestellt von Ray Prytherch. Aldershot 1995. Nicht zuletzt war eines der Standardwerke der buchkundlichen Analyse von großer Hilfe: Bowers 1998 (Anm. 16). Beispielsweise bei der Unterscheidung von Bogen/Doppelblatt (sheet), Bogenblatt (leaf) und Einzelblatt (disjunct leaf).Unterstützung erfuhren wir bei der Findung adäquater englischer Termini von Hans Walter Gabler, dem wir an dieser Stelle danken möchten. Diese Entwicklung kann man paradoxerweise auch als Wiederannäherung an ältere Konzepte von Editionen deuten. Vgl. hierzu Joachim Veit im Kontext der Musikeditionen: „[...] Resultierte die bewusste ‚Sperrigkeit‘ vieler Texte bisher aus der Neigung, Handschriftenbefunde quellennah wiederzugeben, tendiert der Herausgeber in einem mit digitalen Anteilen kombinierten gedruckten Text stärker zur Interpretationsausgabe [...]“. Joachim Veit: Es bleibt nichts, wie es war – Wechselwirkungen zwischen digitalen und ‚analogen‘ Editionen. In: editio 24, 2010 (DOI: 10.1515/edit.2010.005). S. 37–52, hier S. 50.
Margret Jestremski
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Margret Jestremski
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Das Liebesverbot Bericht über eine erste Opernaufführung Bericht über die Heimbringung der sterblichen Überreste Karl Maria von Weber’s aus London nach Dresden Bericht über die Aufführung der neunten Symphonie von Beethoven im Jahre 1846 in Dresden
Mein Leben
Gesammelten Schriften und Dichtungen
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Margret Jestremski
Gesammelten Schriften und Dichtungen
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Stephanie Jordans
Arbeit am Textverstehen Vom Nutzen der Ernst Meister-Werkausgabe in der akademischen Lehre
1. Die Ernst Meister-Werkausgabe Die textkritische und kommentierte Ernst Meister-Werkausgabe versammelt in ihrer ersten Abteilung die zu Lebzeiten publizierte Lyrik Ernst Meisters. Dabei handelt es sich um 19 vom Autor selbst veröffentlichte Gedichtbände aus dem Zeitraum zwischen 1932 und 19791 sowie verstreut Publiziertes, etwa aus Zeitungen, Zeitschriften, Jahrbüchern und Anthologien. Die Ausgabe erschien zum 100. Geburtstag Ernst Meisters 2011 im Wallstein Verlag und umfasst fünf Bände für die ca. 1.000 Gedichttexte (Bde. 1–3) mit textgenetischem Apparat (Bd. 4) und Kommentar (Bd. 5).2 Ergänzt wird die gedruckte Edition durch einen elektronischen Teil zum Download auf der Homepage der Ernst Meister-Arbeitsstelle.3 Hier werden digitale Reproduktionen sowie die vollständigen Verzeichnisse mit genauen Beschreibungen sämtlicher Textzeugen zur Verfügung gestellt und auch ein Gesamtverzeichnis der Privatbibliothek Ernst Meisters.4 Die ersten drei Bände der Ausgabe beinhalten die kritisch revidierten Gedichttexte in der chronologischen Reihenfolge der von Meister veröffentlichten Lyrikbände und auch die verstreut publizierten Texte in chronologischer Reihenfolge. Die Textkonstitution erfolgte auf der Basis der Erstausgaben bzw. Erstdrucke (verstreut publizierte Gedichte). Der vierte Band enthält einen textgenetisch fundierten Apparat, der alle bekannten Textzeugen vom frühesten Entwurf bis zum Erstdruck und gegebenenfalls –––––––— 1
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Die Gedichtbände (mit Jahresangabe des Erstdrucks) sind im Einzelnen: Ausstellung (1932), Unterm schwarzen Schafspelz (1953), Dem Spiegelkabinett gegenüber (1954), Der Südwind sagte zu mir (1955), … und Ararat (1956), Fermate (1957), Pythiusa (1958), Zahlen und Figuren (1958), Lichtes Labyrinth (1959), Die Formel und die Stätte (1960), Flut und Stein (1962), Neue Gedichte (In: Gedichte 1932–64, 1964), Zeichen um Zeichen (1968), Schein und Gegenschein (1969), Es kam die Nachricht (1970), Sage vom Ganzen den Satz (1972), Schatten (1973), Im Zeitspalt (1976), Wandloser Raum (1979). Ernst Meister: Gedichte. Textkritische und kommentierte Ausgabe. 5 Bände. Hg. von Axel Gellhaus, Stephanie Jordans, Andreas Lohr. Göttingen 2011. Download unter: http://ema.germlit.rwth-aachen.de [Homepage der Ernst Meister-Arbeitsstelle]. In der ersten Abteilung wurde der sehr umfangreiche Bestand der nachgelassenen Lyrik noch nicht berücksichtigt, der noch einmal ca. 1.000 Gedichttexte umfasst und für die zweite Abteilung geplant ist. Der Entstehungszeitraum der Nachlass-Lyrik reicht von den frühen dreißiger Jahren bis zum Lebensende Ernst Meisters. Zum vielschichtigen Gesamtwerk des Autors gehören außerdem Prosaarbeiten, Hörspiele, Dramen, Aphorismen und auch ein umfangreiches bildnerisches Werk. Hinzuweisen ist auch auf die Korrespondenz des Autors. Mit knapp 8.000 Briefeinheiten ist sie nicht nur quantitativ beeindruckend; lebens- und werkgeschichtlich gesehen sind die Briefe sehr aufschlussreich und waren für die Erarbeitung des Kommentars eine unabdingbare Materialbasis.
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Stephanie Jordans
auch die späteren Nachdrucke listet und in eine Kurzübersicht bringt. Die Textgenese der Gedichte wird ausschnitthaft anhand von ausgewählten Textstufen darstellt. Mit dem digitalen Teil der Ausgabe liegen die vollständigen, genetisch geordneten Verzeichnisse mit ausführlichen Zeugenbeschreibungen vor sowie sämtliche Textzeugen als Digitalisate, d. h. alle Handschriften, Typoskripte und Durchschläge in Kombination und Verlinkung mit den Zeugenverzeichnissen, damit die einzelnen Auswahlprozesse des Editionsteams vom Benutzer verifiziert werden können.5 Dass für den textgenetischen Apparat ausgewählt werden musste, liegt insbesondere im gigantischen Umfang des überlieferten genetischen Materials begründet, dessen vollständige Darstellung eine viel zu voluminöse und zwangsläufig unübersichtliche Ausgabe zur Folge gehabt hätte.6 Der Apparat wäre bei einer vollständigen Darstellung zu einem Variantengrab geworden, das den Blick auf die spannenden Textprozesse verstellt hätte. So wurden auf der Basis der vollständigen Materialkenntnis der Editoren nur die signifikantesten textgenetischen Prozesse für die Darstellung ausgewählt. Mit Hilfe des digitalen Teils der Ausgabe können die editorischen Entscheidungen im Zweifel nachvollzogen bzw. überprüft werden. Die Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass man die äußerst schwierig zu entziffernde Handschrift Ernst Meisters zu lesen vermag, was einige Übung und Einarbeitung erfordert. Ziel unserer Arbeit insgesamt war ein Editionsmodell, das eine handliche Studienausgabe in Form einer klassischen Buchpublikation mit dem wissenschaftlichen Anspruch einer textgenetischen Edition kombiniert, die durch die elektronische Präsentation des Nachlass-Materials in Kombination mit den Zeugenverzeichnissen unterstützt wird.7 Der fünfte Band enthält den Kommentar. Im Kommentarteil bietet die Ausgabe zu den von Meister veröffentlichten Gedichtbänden und der verstreut publizierten Lyrik ausführliche Einleitungen mit Darstellungen zur Entstehungs-, Publikations- und Wirkungsgeschichte, Hinweise auf konzeptionelle und poetologische Zusammenhänge sowie Übersichten über die archivalische Situation. Der lemmatisierte Stellen–––––––— 5
6
7
Der Ausgabe sind im elektronischen Teil folgende Bestände beigegeben: Der lyrische Nachlass im engeren Sinne, d. h. die mappenweise geordneten und siglierten Handschriften, Typoskripte und Durchschläge; die Werk- und Arbeitsbücher; der lyrische Nachlass im engeren Sinne aus der Sammlung von Irena Demtröder; der lyrische Nachlass im engeren Sinne aus dem Privatarchiv Walter Israels; Gedichttextzeugen aus den Büchern der Privatbibliothek Ernst Meisters. Nicht digitalisiert und beigegeben sind Bestände aus dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach a.N., des Literaturarchivs SulzbachRosenberg, der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund sowie einige Konvolute in Privatbesitz. Allein der lyrische Nachlass Meisters im engeren Sinne umfasst ca. 17.500 Blatt, zum großen Teil sind die Blätter recto und verso beschrieben. Hinzuzurechnen sind außerdem noch die Gedichtzeugen, die in den Werk- und Arbeitsbüchern, in Briefen, in der Bibliothek des Autors, in öffentlichen Archiven sowie in Privatarchiven enthalten sind. Als Download verfügbar sind auf der Homepage sämtliche im Nachlass befindliche Zeugen als Faksimiles in hoher Auflösung und mit Zoomfunktion. Das sind insgesamt knapp 20.000 Faksimiles und zusätzlich 41 digitalisierte Werk- und Arbeitsbücher. Für ausführliche Ausführungen zum Konzept der Ausgabe vgl. Stephanie Jordans: Der Nachlass Ernst Meisters und das Konzept der textkritischen und kommentierten Ausgabe seines lyrischen Werkes. Münster 2012 [siehe: Literatur-Archiv NRW. Portal für Literatur, Kultur & Kritik. Weblink: http://www.literatur-archiv-nrw.de/sonderausstellung]. Vgl. Stephanie Jordans: Gedrucktes Buch und digitales Archiv. Zur textkritischen und kommentierten Ausgabe von Ernst Meisters lyrischem Werk. In: Medienwandel / Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Hg. von Anne Bohnenkamp. Berlin 2013 (Beihefte zu editio; Bd. 35), S. 241–255.
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kommentar löst vor allem inter- und intratextuelle sowie biographische Bezüge8 für die einzelnen Gedichte auf und gibt ohne Anspruch auf Vollständigkeit auch Hinweise auf Forschungsliteratur. Die Kommentierung der Gedichte Meisters beruht auf dem Textverständnis, das jeder der Bandbearbeiter durch intensives Studium der Materialien aus dem umfangreichen Nachlass Ernst Meisters, der Inter- und Kontexte zu erwerben hatte. Der Kommentar versteht sich als Angebot und Hilfestellung für den Leser und nicht etwa als Bevormundung oder Reglementierung der Rezeption.9 Meisters Gedichte sind von zeitgenössischen Kritikern als ‚hermetisch‘ bezeichnet worden. Die Kommentare können an zahlreichen Stellen zeigen, wie berechtigt die Zurückweisung dieses Etiketts durch den Autor selbst gewesen ist. Der Kommentar weist – den bisherigen Stand der Forschung widerspiegelnd – durchaus noch Lücken auf, was an der unterschiedlichen Dichte der Erläuterungen zu den einzelnen Gedichten erkennbar ist. Die Lücken sind zum großen Teil auch darin begründet, dass sich der Kommentar insbesondere in seiner Funktion als Hilfestellung für Hinweise auf relevante Nachlass-Materialien, Realien und Sachzusammenhänge begreift – und nicht etwa als Vorwegnahme von Deutungen oder gar Durchführung von literaturwissenschaftlichen Interpretationen der Gedichte. Das bedeutet nicht unbedingt einen strengen Verzicht auf interpretierende Anteile im Kommentar, die durchaus vorkommen können, jedoch einer Materialkenntnis zu entspringen hatten, durch die die interpretierenden Aussagen geerdet werden konnten und belastbar sein mussten. Waren sie es nicht, wurde im Editionsteam Zurückhaltung geübt, was das Kommentieren angeht. Der Zurückhaltung oder gar der Enthaltung eines Kommentars gingen oft die lebhaftesten Diskussionen im Editionsteam voraus, mit denen die Belastbarkeit von Aussagen geprüft wurde. Auch damit ist manche Lücke zu erklären, die wir nicht mit weniger belastbaren Kommentar-Aussagen schließen wollten, sondern im Zweifelsfall dann lieber offen gelassen haben.10 In der Meister-Ausgabe wird zwischen textgenetischem Apparat (Bd. 4) und Kommentar (Bd. 5) unterschieden. Die Funktion des Apparates liegt zunächst darin, mit Hilfe der vollständigen Zeugenverzeichnisse sämtliche bekannte Textzeugen zu listen, zu beschreiben und in eine genetische Folge zu bringen. Ziel ist zunächst die Sicherung der Materialbasis, das Erfassen des Textbestandes. In Auswahl folgt im Apparat dann die Darstellung einiger besonders interessanter Textprozesse. Nicht Vollständigkeit der Darstellung und Rekonstruktion der Textgenese im Ganzen ist das Ziel, sondern das Richten des Augenmerks auf ganz bestimmte Textzustände. Ein Auswahlkriterium beim Erstellen des Apparates waren semantisch gesehen signifikante Verschiebungen im Text, die Einfluss auf das Verständnis und die Interpretati–––––––— 8
9 10
Für lebens- und werkgeschichtliche Zusammenhänge dient zudem eine Chronik als Begleitband für die Ausgabe. Die Chronik entstand aus der Arbeit am Nachlass heraus. Vgl. Ernst Meister. Eine Chronik. Aus dem Nachlaß erarbeitet von Karin Herrmann und Stephanie Jordans unter Mitarbeit von Dominik Loogen. Göttingen 2011. Vgl. hierzu die Überlegungen von Gunter Martens: Kommentar – Hilfestellung oder Bevormundung des Lesers? In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 7 (1993), S. 36–50. Wie gewinnbringend Teamarbeit für die editionsphilologische Arbeit ist, kann nicht deutlich genug herausgestellt werden. Das betrifft den Austausch über Kommentarfragen, das gemeinsame Entziffern von Handschriften, das gemeinsame Erarbeiten des Editionsmodells u.v.m.
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Stephanie Jordans
on des Gedichtes nehmen können. Dabei ist es wichtig, dass die Textprozesse im Apparatband zunächst nur festgehalten werden und zur genauen Darstellung kommen – interpretiert werden sie an dieser Stelle (noch) nicht.11 Das Kommentieren von solchen Textprozessen kann seinen Ort im Kommentarband finden, etwa in den allgemeinen Einführungen zu den einzelnen Gedichten vor dem lemmatisierten Stellenkommentar. Die unter mehr oder weniger strikt definierten Formalia erstellten Apparate machen die mitunter strittigen Fragen, die in den intensiven Diskussionen im Editionsteam stattfanden und oft Fragen der Deutung der Gedichte berührt haben, nur sehr bedingt bis gar nicht sichtbar, denn die Aufgabe des Apparates sahen wir in der möglichst objektiven, angemessenen Darstellung der Textgenese unter der Vorgabe klar definierter Prinzipien und Formalia. Zumindest ist die Objektivität der Darstellung das Ziel beim Edieren gewesen – bei gleichzeitigem Bewusstsein dafür, dass es Objektivität in einem strengen Sinne nicht geben kann. Doch die Kategorie wurde nicht aufgegeben und diente als Regulativ. Aufgabe des Apparates kann es nicht sein, textkritische bzw. -genetische Befunde mit Interpretationen derselben zu vermischen. Es stellt sich natürlich die Frage, inwiefern eine Trennung zwischen Edieren und Interpretieren überhaupt aufrecht zu erhalten ist und inwieweit es eine rein formale, ‚objektive‘ Darstellung der Textgenese ohne Einfluss eines Vorverständnisses oder Vorstellungen des Interpretierens und Deutens der Gedichte überhaupt geben kann. Für die Herstellung des Apparates mussten zum Teil weitreichende editorische Entscheidungen getroffen werden. Die Annahme einer Trennung zwischen einer ‚objektiven‘ Darstellung des empirischen Materials einerseits und deren Interpretation andererseits geht ja bereits von der Möglichkeit aus, dass eine solche Trennung von handwerklicheditorischer Darstellung und Interpretation überhaupt zu machen möglich ist. Die Gegenposition, auf eine Formel gebracht, lautet, dass Edieren immer auch zugleich ein Interpretieren mit einschließt. Im Fall der Meister-Ausgabe kann bereits die mitunter strenge Auswahl der darzustellenden Textprozesse als Interpretationsakt verstanden werden, der festlegt, welche Textzustände als relevant eingestuft werden und welche nicht, worauf der Fokus gerichtet werden soll und worauf nicht. Hier muss man den Editoren Glauben schenken, dass sie gut beurteilt haben, was darzustellen sinnvoll ist, und im Zweifelsfall überprüft man das Handwerk der Editoren anhand der digitalen Faksimiles und verschafft sich ein eigenes Bild. Transparenz und Überprüfbarkeit der editorischen Entscheidungen ist elementar, wenn den Darstellungen in den Apparaten eine strenge Auswahl zugrunde liegt. Die vorangegangenen Überlegungen sollen die Trennung zwischen Apparat und Kommentar nicht in Frage stellen, sondern den Blick für die unterschiedliche Funktionalität von Apparat und Kommentar schärfen. Zur Unterscheidung von Edition und Interpretation formuliert Stüben: „Edition und Interpretation bezeichnen unterschiedliche, aber einander ergänzende Arbeitsfelder der Philologen. Schon Art und Anlage jeder Edition fußen auf einem Vorverständnis des Edierten, also auf Interpretation.“12 –––––––— 11
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Für Fragen der Verzahnung von Edieren und Interpretieren vgl. den Aufsatz von Jens Stüben: Edition und Interpretation. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 263–302. Ebd., S. 263.
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Insofern sind zunächst Überlegungen mit Blick auf das Verhältnis von Edition und Interpretation für die Meister-Ausgabe anzustellen, um die Art und Anlage dieser Edition noch ein wenig näher zu beschreiben, die anvisierte Funktionalität von Apparat und Kommentar, bevor dann im Folgenden der Nutzen der Edition für den Seminarunterricht diskutiert werden kann. Im Kommentarband der Meister-Ausgabe finden sich verschiedene Kommentarformen. So werden insbesondere die für das Verständnis der Gedichte relevanten Materialien aus dem Meister-Nachlass benannt und vorgestellt. Das können Einträge in Notiz- und Werkbüchern sein, Hinweise auf Notizen und Anstreichungen in Meisters privaten Büchern13, prägnante Stellen in der umfangreichen Korrespondenz, Hinzuziehen von dokumentarischem Material, zeitgenössische Rezensionen u.v.m. Der lemmatisierte Stellenkommentar versucht zudem, Realien und Sachbezüge zu erläutern, inter- und intratextuelle sowie biographische Bezüge aufzulösen bzw. zunächst einmal nur festzustellen. Auch Hinweise auf relevante Forschungsliteratur, d. h. sekundäre Quellen, werden in Kurzform gegeben, gedacht als Ausgangspunkt für weitergehende Recherchen. Ein weiterer Aspekt des Kommentars kann die Kommentierung der Textgenese sein, wobei hier die im Apparatband dargestellten Textzustände die Grundlage für die Interpretation bilden und als eine Art empirische Basis fungieren; so wird zwischen der im Apparat dargestellten Textgenese und der Interpretation derselben im Kommentar deutlich unterschieden. Eine Gemeinsamkeit der verschiedenen Kommentarformen mag das Bestreben sein, auf vorhandene Materialien hinzuweisen und ihr Auffinden zu erleichtern, damit hiervon ausgehend weitergehende Recherchen und Arbeitsschritte betrieben werden können. Das relevante Material für den Kommentar wurde von den Editoren ausgewählt, d. h., es fand auch im Fall des Kommentars ein Auswahlprozess statt, um die Sicht auf die relevanten Materialien freizulegen. Die Editoren haben sich die eindringliche Kenntnis des umfangreichen Meister-Nachlasses erarbeitet, um einen Überblick über die für das einzelne Gedicht oder die Bandeinführungen wichtigen Materialien geben zu können und zu vermeiden, dass der Kommentar den Charakter einer ‚Materialhalde‘ bekommt. Vollständigkeit der Darstellung würde im Fall der Meister-Edition mit Blick auf den Apparat Variantengräber bedeuten, mit Blick auf den Kommentar Materialhalden. Dass aufgrund der zum Teil strikten Auswahlprozesse ein Stück weit mehr Subjektivität ins Spiel kommt, wurde zugunsten einer handlichen, benutzerfreundlichen Edition bewusst in Kauf genommen. Ziel war hier unter anderem auch das Erreichen einer breiteren Leserschaft der Ausgabe, das Wecken des Interesses für textgenetische Prozesse bei einem größeren Adressatenkreis als der spezialisierten Fachforschung, die sich im Fall Ernst Meister auf eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beschränkt. Die nun folgenden Ausführungen über den Nutzen der Meister-Ausgabe in der akademischen Lehre sollen unter anderem zeigen, inwiefern das Hinzuziehen der Meister-Edition Einfluss auf die Interpretationen und die hermeneutischen Deutungs-, –––––––— 13
Vgl. Andreas Lohr: Kleiner Bibliotheksstreifzug in editorischer Absicht. In: Ernst Meister – Perspektiven auf Werk, Nachlaß und Textgenese. Ein Materialienbuch. Hg. von Karin Herrmann und Stephanie Jordans. Göttingen 2009, S. 137–154.
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Verstehens- und Erkenntnisprozesse der Studierenden im Seminarunterricht nehmen kann. Der Beitrag versteht sich als Plädoyer, moderne Editionen (bzw. Editionen überhaupt) in den akademischen Unterricht stärker einzubeziehen und von ihrem Nutzen für die Initiierung und den Gang hermeneutischer Prozesse zu profitieren, aber auch ihre Möglichkeiten und Grenzen zu reflektieren. Worin der Nutzen eines solchen Hinzuziehens von Editionen in den Unterricht konkret begründet liegen kann, versucht der Beitrag exemplarisch an der Ernst Meister-Ausgabe zu zeigen. Reflektiert werden soll auch, inwiefern spezielle Formen des Kommentars erheblichen Einfluss auf den Gang hermeneutischer Prozesse nehmen – und gar das Bild des Autors verändern können.
2. Vom Nutzen der Edition in der akademischen Lehre Mit der Meister-Ausgabe ist eine Edition verfügbar, die Möglichkeiten der Annäherung an die nicht immer einfach zu verstehenden Gedichte Ernst Meisters ermöglicht. Den Vorwurf des Hermetismus hat Meister selbst zwar vehement abgelehnt, etwa in einem Brief an Helmut Lamprecht: „Es heißt, man wäre ‚hermetisch‘. Ist gar nicht wahr. – Doch könnte man bloß Hermes sein, dieser en chair et en os!“14 Und zahlreiche neuere Forschungsarbeiten sprechen Meister vom Verdacht des Hermetismus frei zugunsten eines dialogischen Prinzips, eines Korrespondenz-Charakters seiner Lyrik. Doch die Korrespondenzen müssen erst einmal gefunden und freigelegt werden, um ein näheres Verständnis für die Art und die Form der Korrespondenzen entwickeln zu können. Nicht immer geben die Gedichte ihren Dialog-Charakter auf den ersten Blick preis. Auf den zweiten Blick tun sie es für denjenigen, der die Bezugnahmen zu erkennen und zu interpretieren vermag – was nicht das Gleiche ist. Der Kommentar der Meister-Ausgabe schafft insofern Abhilfe, als er zahlreiche Bezugnahmen auflöst und aufzeigt, so dass der Einstieg in den Verstehensprozess erleichtert wird und den Interpreten auf eine Spur bringt, auf eine Fährte setzt. Doch auch wenn zum Beispiel ein Zitat ausfindig gemacht und ausgewiesen werden konnte, ist die interpretatorische Arbeit noch nicht geleistet, sind Funktion und Bedeutung des Zitats noch nicht hinreichend bestimmt. Der Kommentar bietet lediglich die Spuren und Fährten, die in eine Richtung weisen und Orientierungshilfe geben können. Es sind Angebote, die beim Einarbeiten in die Verstehenszusammenhänge helfen und zum Beispiel Hinweise auf hinzuzuziehendes Material geben. Dabei soll der Kommentar mögliche Deutungen nicht vorwegnehmen und auch die Interpretation nicht einseitig beeinflussen. Im Blick zu behalten ist das Abwägen und Reflektieren darüber, wie man die gelegten Spuren und Fährten bewertet und wie man mit ihnen verfahren möchte. Die umfassende Deutungsarbeit beginnt dort, wo der Kommentar aufhört. Die im folgenden Abschnitt vorgeführten Beispiele aus dem textgenetischen Apparat und dem Kommentarteil der Meister-Ausgabe dienen nicht der Diskussion um Grundsätze des Edierens bzw. der Erstellung eines literaturwissenschaftlichen Kom–––––––— 14
Ernst Meister: Brief an Helmut Lamprecht [09.09.1962]. In: Jahrbuch der Ernst Meister Gesellschaft 1992/93. Hg. von Theo Buck. Aachen 1994, S. 7–22, hier S. 16.
Arbeit am Textverstehen
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Zahlen und Figuren Zahlen und Figuren
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mehrfach, bis Meister schließlich Zahlen und Figuren festgelegt hat. Dass mit „Zahlen und Figuren“ auf Ludwig Tiecks „Bericht über die Fortsetzung“ von Novalis� Roman-Fragment Heinrich von Ofterdingen angespielt ist, ist zunächst nur eine Vermutung. Meisters eigenes Ofterdingen-Exemplar belegt, dass folgende Verse von ihm mit Bleistift unterstrichen wurden: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren (/) sind Schlüssel aller Kreaturen.“17 Der Bandtitel kann entsprechend als Zitat und Meisters Bibliotheksexemplar als Beleg dafür verstanden werden. In einem Brief Ernst Meisters an Horst Bingel vom 16. Juni 1958 betont Meister, dass es ihm in dem Band um die Formel gehe – ein zwei Jahre später veröffentlichter Gedichtband von 1960 wird Die Formel und die Stätte heißen –, und weiter heißt es in dem Brief, dass im Band Zahlen und Figuren „Antithetisches zu Hardenberg hier listig mit im Spiele“18 sei. Von diesem Briefzitat und der Vokabel „listig“ ausgehend, liest sich das Motto, das Meister dem Band Zahlen und Figuren vorangestellt hat, mit verändertem Blick: Schlangen winden sich um den grauen Berg, wo ich listig breche den grünen Farn, dem Traum sogleich unters vernehmende, zählende Haupt.19
Wenn es Meister darum ging, „Antithetisches zu Hardenberg […] listig mit [ins] Spiel“20 zu bringen, liest sich der grüne Farn möglicherweise als ‚Gegenentwurf‘ zur blauen Blume. An dieser Stelle setzt bereits die Deutungsarbeit ein, und es geht um Folgeüberlegungen zu den Spuren und Fährten, die der Kommentar gelegt hat, und um die für die Interpretation zu gewinnende Perspektive auf das Gedicht im Ganzen. Zwei einzelne Spuren wie Meisters Ofterdingen-Exemplar und der Brief an Bingel sind sicher nicht ausreichend für ein umfassendes Textverständnis, aber sie können den Anfang bilden, ein umfassendes Verständnis zu entwickeln und an einer Deutung zu arbeiten. Deutlich wird an dieser Stelle aber auch, dass die Kommentarhinweise eine Perspektivierung für die Interpretation des Bandtitels und des Mottos mit sich bringen und den Ausgangspunkt für den hermeneutischen Deutungsprozess in gewisser Weise festlegen, einen Anker setzen, so dass andere mögliche Ansatzpunkte zwangsläufig in den Hintergrund rücken. –––––––— 17
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Tiecks Bericht über die Fortsetzung [von Heinrich von Ofterdingen]. In: Novalis. Schriften. Nach den Handschriften ergänzte und neugeordnete Ausgabe. Erster Band. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Leipzig o. J., S. 250–260, hier S. 251 [Ernst Meisters Exemplar]. Brief von Ernst Meister an Horst Bingel vom 16.06.1958 [Nachlass Ernst Meister]. Motto des Gedichtbandes „Zahlen und Figuren“. In: Ernst Meister. Gedichte. Textkritische und kommentierte Ausgabe. Bd. 1: Zu Lebzeiten publizierte Gedichtbände (1932–1958). Hg. von Axel Gellhaus, Stephanie Jordans und Andreas Lohr. Göttingen 2011, S. 250. Brief von Ernst Meister an Horst Bingel vom 16.06.1958 [Nachlass Ernst Meister].
Arbeit am Textverstehen
Delphin Delphin Fermate
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Delphin A Une Passante Tableaux Parisiens Fleurs du Mal Blumen des Bösen An eine, die vorüberging Du gingest vorüber A Une Passante
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Einmal wird die Katze, jene in dir, die lautlos springt von Sinn zu Sinn, erjagt. „Die Schätze, die im Glanze des Nutzlosen leuchten“, verdunkeln sich, wenn ein anderes Katzentier aus deiner Augenwildnis fängt das Rätsel voller Sehen zuletzt. Jenen Augenblick aber, der dich stiehlt aus dem Blitz der atemberaubenden Schätze, siehst du nicht voraus.24
Die Anführungszeichen lassen vermuten, dass es sich bei den Zeilen „Die Schätze, die im Glanze des (/) Nutzlosen leuchten“ um ein Zitat handeln muss, und es stellt sich unmittelbar die Frage nach der Quelle dieses Zitats. Als Editorin überlegt man zunächst an einer Reihe von Dichtern und Philosophen entlang, die man für die Ermittlung der Quelle im Verdacht hat; entsprechend wird die Recherche angegangen. Das Zitat ist entnommen aus einem Vortrag Martin Heideggers mit dem Titel Wissenschaft und Besinnung25, den der Philosoph für einen kleinen Kreis am 4. August 1953 in München gehalten hat. Es handelt sich um einen Vortrag zur Vorbereitung auf eine Tagung, die ein paar Monate später im November 1953 in München stattfand, auf der Heidegger dann den Vortrag Die Frage nach der Technik hielt.26 1954 erschien bei Klett-Cotta der Band Vorträge und Aufsätze, der sich zwar nicht in der Bibliothek Meisters befindet; allerdings liegt nahe, dass Meister das Zitat aus Heideggers Vortrag Wissenschaft und Besinnung entnahm, der in dem Band abgedruckt ist. Dort heißt es: „Die Armut der Besinnung ist jedoch das Versprechen auf einen Reichtum, dessen Schätze im Glanz jenes Nutzlosen leuchten, das sich nie verrechnen läßt.“27 Die Meister-Edition verweist im lemmatisierten Stellenkommentar auf dieses Zitat28 aus Heideggers Vortrag, doch die Funktion und Bedeutung im gedanklichen Zusammenhang mit Meisters Gedicht wäre in einem weiteren Schritt zu eruieren. Das Heidegger-Zitat wirkt im Gedichtzusammenhang merkwürdig fremd, Zitatquelle und Gedicht sind gedanklich kaum zusammenzubringen. Die Tatsache, dass Meister die Textstelle mit den Anführungszeichen explizit als Zitat ausgewiesen hat, lässt allerdings vermuten, dass für ihn die Bezugnahme auf Heidegger eine gewisse Bedeutung gespielt hat und es ihm zum Beispiel nicht darum ging, die Worte des Philosophen nur ‚klaubenderweise‘ zu gebrauchen, etwa wegen einer wohlklingenden Wendung oder einer anspre–––––––— 24
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Ernst Meister: Einmal wird die Katze. In: Ernst Meister. Gedichte. Textkritische und kommentierte Ausgabe. Bd. 1: Zu Lebzeiten publizierte Gedichtbände (1932–1958). Hg. von Axel Gellhaus, Stephanie Jordans und Andreas Lohr. Göttingen 2011, S. 202f. Martin Heidegger: Wissenschaft und Besinnung. In: Ders.: Vorträge und Aufsätze. 11. Auflage. Stuttgart 2009, S. 41–66. Ebd., S. 275 [Hinweise]. Ebd., S. 66. Vgl. Bandeinführung und Kommentar zu Ernst Meister: Fermate [Bearbeitet von Stephanie Jordans]. In: Ernst Meister. Gedichte. Textkritische und kommentierte Ausgabe. Bd. 5: Kommentar. Hg. von Axel Gellhaus, Stephanie Jordans und Andreas Lohr. Göttingen 2011, S. 101–129, hier S. 109.
Arbeit am Textverstehen
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chenden, prägnanten Formulierung, wobei dann die Bezugnahme auf die Quelle keine allzu große Rolle mehr spielt. Der Kommentar weist lediglich auf die Zitatquelle hin, die aufgrund der wörtlichen Übertragung gesichert sein mag. Dies ist ein Fall, der nicht immer gegeben ist, wenn Meisters Zitate beispielsweise nur als entfernt klingendes Echo auftauchen, so dass eine eindeutige bzw. belastbare Quelle gar nicht genau benannt, sondern nur ein bestimmter ‚Ton‘ ausgewiesen werden kann, den man mehr oder weniger sicher zu erkennen glaubt. In dem Fall gibt der Kommentar Hinweise auf den ‚Ton‘, markiert aber den Grad der Vermutung. Die Fremdheit des Zitats im vorliegenden Fall von Einmal wird die Katze erforderte im Seminarunterricht eine weitergehende Deutungsarbeit mit Blick auf die Funktion und Bedeutung des Zitats im Gedicht. Die Studierenden taten sich schwer, eine solche Deutung zu leisten, unter anderem auch wegen mangelnder Kenntnisse mit Blick auf Heideggers Werk. Eröffnet werden konnte an dieser Stelle lediglich der Horizont für die weiteren Arbeitsschritte, die für die Entwicklung eines umfassenderen Textverständnisses zu leisten sind, etwa das Erarbeiten von Kenntnissen über die Meister-Heidegger-Forschung.29 d) Der Gedichtband … und Ararat – Zu einem Diskurs der fünziger Jahre Der Gedichtband … und Ararat erschien 1956 als neuntes Heft der Reihe Dichtung unserer Zeit im Limes Verlag. Im Kommentar der Meister-Edition erhält man Informationen über die Reihe und hier insbesondere den Zusammenhang mit Reinhard Paul Beckers Gedichtband Die Arche unter dem Pilz, der als drittes Heft der Reihe Dichtung unserer Zeit erschien.30 Das gleichnamige Gedicht des Bandes widmete Becker seinem Schriftstellerkollegen und Freund Ernst Meister, mit dem er rege korrespondierte. Meister hatte ein Exemplar von Die Arche unter dem Pilz in seinem Besitz – versehen mit Beckers Widmung: „Meister und Ernst – wie allein wäre man ohne Dich. / New Haven, Cennecticut am 28. März 1956 / R.P.B.“ Ernst Meister wiederum widmete seinerseits das Titelgedicht Ararat seinem Freund Becker. Der Kommentar weist nach, inwiefern sich die beiden Gedichtbände aus der Reihe Dichtung unserer Zeit als poetische Korrespondenz lesen und verstehen lassen – und wie wichtig die zeitgenössischen, gesellschaftspolitischen Diskurse für Meister und Becker waren. Für ein umfassendes Verständnis von Meisters Gedichtband … und Ararat sind Beckers Die Arche unter dem Pilz und die Korrespondenz zwischen Ernst Meister und dem nach Amerika ausgewanderten Reinhard Paul Becker unbedingt hinzuzuziehen. Meister lässt mit dem Bandtitel … und Ararat eine Leerstelle dort, wo Gottfried Benn in seinem 1948 veröffentlichten Band Statische Gedichte in dem Gedicht mit dem Titel Liebe den Vers „Arche und Ararat“ setzte. Dieser Benn-Bezug ist im Zusammenhang mit Meisters … und Ararat kein zufälliger, denn für Meister ist die Be–––––––— 29 30
Vgl. Stephanie Jordans: Kontroverse in der Meister-Heidegger-Forschung. In: Dies.: Die „Wahrheit der Bilder“. Zeit, Raum und Metapher bei Ernst Meister. Würzburg 2009, S. 114–119. Vgl. Bandeinführung und Kommentar zu Ernst Meister: … und Ararat [Bearbeitet von Axel Gellhaus]. In: Ernst Meister. Gedichte. Textkritische und kommentierte Ausgabe. Bd. 5: Kommentar. Hg. von Axel Gellhaus, Stephanie Jordans und Andreas Lohr. Göttingen 2011, S. 75–100, hier S. 75ff.
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Stephanie Jordans
deutung Gottfried Benns, gerade in den fünfziger Jahren, als hoch einzuschätzen. Zahlreiche gründlich durchgearbeitete und mit zahlreichen Anstreichungen, Markierungen und Notizen versehene Gedichtbände Benns in Meisters Privatbibliothek legen Zeugnis von einer sehr intensiven Lektüre ab, so finden sich auch Arbeitsspuren und sogar ein Gedichtentwurf in Meisters Exemplar von Statische Gedichte. Meister und Becker haben sich intensiv mit dem Werk Benns beschäftigt und sich darüber auch in ihren Briefen ausgetauscht, was als weiteres Indiz für die nötige Berücksichtigung des Benn-Kontextes gelten kann.31 Oskar Loerkes Gedicht Ararat dürfte Meister gekannt haben, möglicherweise auch die zwischen 1918 und 1921 erschienene Reihe zur neuen Kunst mit dem Titel Der Ararat und auch den 1951 von Stefan Andres publizierten Roman Die Arche.32 Die Meister-Edition gibt Hinweise darauf, wie wahrscheinlich Meisters Kenntnis der entsprechenden Titel war. Wenn die Kenntnis geerdet werden kann, etwa weil sich entsprechende Exemplare in Meisters Bibliothek befinden oder es Briefstellen hierzu gibt, bringt der Kommentar die Belege hierfür. Im Seminarunterricht war es bei der Besprechung des Gedichtes Ararat aus dem Band … und Ararat insbesondere ein bestimmter Bezug, den die Studierenden sahen und stark machten. Meister greift für seinen Bandtitel die Thematik von Arche und Ararat aus der Schöpfungsgeschichte (Gen. 6–8) auf und lässt die Arche weg, so dass in erster Linie auf den Berg in Ostanatolien verwiesen ist und auf die Arche in Form einer Leerstelle. Manche Studierende sahen aufgrund der Leerstelle mit Blick auf die Arche den biblischen Bezug durch Meister abgeschwächt bzw. ausgehöhlt; andere interpretierten die Leerstelle wiederum als expliziten Hinweis und somit geradezu als ein Exponieren des weggelassenen, fehlenden Elements. Ohne die Hinweise im Kommentar war kein Weiterkommen über den Genesis-Bezug hinaus. Den Studierenden fehlte hierfür vielleicht der Kontext für den poetischen Diskurs der fünfziger Jahre mit Blick auf die Sintflut-Thematik. Für das Begreifen der zeitgenössischen Relevanz und Aktualität der Genesis-Bezugnahme ist der Kontext jedoch unabdingbar. Der Kommentar der Meister-Ausgabe führt mitten hinein in die Diskurse der unmittelbaren Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre. Er zeigt auf, inwiefern sich Meister hier eingeklinkt und mit anderen Schriftstellern auf poetische Art und Weise korrespondiert hat. Stellt man Meisters Gedichtband … und Ararat in den Kontext der in den fünfziger Jahren akuten gesellschaftlichen Diskurse – und hierfür braucht es für eine weitergehende Interpretation die Kommentarhinweise für die hinzuzuziehenden Materialien –, so ergibt sich notwendigerweise auch ein anderes Bild für die Dimension und die Qualität von Meisters Dichtung, die von Kritikern bisweilen als eine weltflüchtige und eine am Konkreten desinteressierte Dichtung abqualifiziert wurde.33 Es ist ein Unterschied, ob Arche und Ararat in Meisters Lyrik ausschließlich als biblisches Motiv fungieren oder ob damit auf die Zeit ‚nach der Sintflut‘, die fünfziger –––––––— 31 32 33
Ebd., S. 79. Ebd., S. 78f. Ich habe in meiner Dissertation unter anderem zu zeigen versucht, inwieweit sich Meister den gesellschaftlich-politischen Fragen und Diskursen seiner Zeit gestellt und Bezug darauf genommen hat, was ihm von der Literaturwissenschaft und -kritik lange Zeit abgesprochen wurde. Vgl. Stephanie Jordans: Die „Wahrheit der Bilder“. Zeit, Raum und Metapher bei Ernst Meister. Würzburg 2009.
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Jahre, angespielt wird. Der Kommentar eröffnet mit den Hinweisen auf Reinhard Paul Becker, Gottfried Benn und den Diskurs der fünfziger Jahre Perspektiven, die zeigen, dass Meister die Spannungen seiner Zeit sehr genau wahrgenommen und sich mit ihnen in seiner Lyrik auseinandergesetzt hat. Das Bild des weltflüchtigen, gesellschaftlich desinteressierten Ernst Meister bedarf der Korrektur, sobald man Meisters Lyrik in die entsprechenden Diskurse seiner Zeit setzt. Es soll nicht die Distanz zum Zeitgeschehen nivelliert werden, die das Werk Meisters auszeichnet, aber die Formen der Bezugnahme auf zeitgenössische Diskurse sollten in den Blick genommen werden, um dem Werk diese zweifelsfrei vorhandene Dimension nicht zu rauben.
4. Fazit Die vier Beispiele sollten zeigen, wie die Meister-Edition im akademischen Unterricht als Spuren- und Fährtenleger für die Gedichtinterpretation genutzt werden kann, wenn es darum geht, Verständnishorizonte und neue Perspektiven auf die Gedichte Ernst Meisters zu eröffnen. Dabei nimmt der Kommentarteil die Interpretations- und Deutungsarbeit nicht vorweg und ersetzt sie nicht, sondern gibt in erster Linie Hinweise auf Bezugnahmen oder auch auf Material, das für die Entwicklung und Arbeit an einem umfassenden Textverständnis hinzuzuziehen sinnvoll ist. Vom Kommentar ausgehend, kann die Deutungsarbeit ihren Anfang nehmen und kann für die ersten Schritte der Arbeit am Textverstehen eine Hilfestellung sein. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Möglichkeit einer raschen Orientierung und die Benutzerfreundlichkeit der Edition im akademischen Unterricht beweisen muss, auch mit Blick darauf, dass die hier vorgestellten Beispiele von Lehr- und Lernsituationen nicht im Rahmen eines spezialisierten (Aufbau-)Studiengangs stattfanden, etwa mit dem Schwerpunkt Editionsphilologie, sondern im Fach Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt auf der Lehrerausbildung.
Helmut W. Klug, Karin Kranich
Das Edieren von handschriftlichen Kochrezepttexten am Weg ins digitale Zeitalter Zur Neuedition des Tegernseer Wirtschaftsbuches
Die Frage nach dem Nutzen von Editionen ist in Zeiten eines rasanten medialen Umbruchs in höchstem Maß aktuell. Besonders relevant ist sie für Fach- und Sachtexteditionen, die oft hohen interdisziplinären Anforderungen gerecht werden müssen. Das trifft ganz besonders für das Edieren von Kochrezepttextsammlungen zu, deren spätmittelalterliche handschriftliche Überlieferung hier exemplarisch im Zentrum stehen soll. Dem historischen Überblick über bereits publizierte Editionen von spätmittelalterlichen Kochrezepttexten und den damit verbundenen Forschungszielen folgt ein Praxisbericht zu unserem eigenen Arbeitsmodell für die laufende Edition der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 8137, dem sogenannten Tegernseer Wirtschafts- und Fischereibuch. Ausgehend von den zentralen Aufgaben der germanistischen Fachtextforschung soll abschließend definiert werden, wie Neueditionen ausgerichtet sein sollen, damit ein maximaler Nutzen daraus gezogen werden kann.
Germanistische Kochrezepttextsammlungsforschung – ein historischer Überblick Die ersten zaghaften Editionen von Kochrezepttextsammlungen sind schon in den Anfängen der germanistisch-mediävistischen Edition in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden: Wilhelm Wackernagel ediert Texte aus der HS München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. ms. 731 (Cim 4) unter dem Titel Altdeutsches Kochbuch1 und einzelne Rezepte aus der Sammlung des Meister Hans2. Anton Birlinger veröffentlicht 1864 als Edition Kalender und Kochbüchlein aus Tegernsee3 und ein Jahr später weitere Editionen historischer Kochrezepttexte4. Diese Art der Texte wurde zu jener Zeit –––––––—
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Wilhelm Wackernagel: Altdeutsches Kochbuch. Diz ist ein guot lere von guoter spise. In: Zeitschrift für deutsches Alterthum 5 (1845), S. 11–16. Wilhelm Wackernagel: Kochbuch von Maister Hannsen des von Wirtenberg Koch. In: Zeitschrift für deutsches Alterthum 9 (1853), S. 365–73. Die Texte stammen aus der HS Basel, Öffentliche Bibliothek der Universität, A.N.V. 12. Anton Birlinger: Kalender und Kochbüchlein aus Tegernsee. In: Germania 9 (1864), S. 192–207. Das ist die HS München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 8137. Anton Birlinger: Ein alemannisches Büchlein von guter Speise. In: Sitzungsberichte der königl. bayer. Akademie der Wissenschaften zu München 2 (1865), S. 171–199. Die Texte entstammen der HS München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 384. Im gleichen Jahr erscheint Anton Birlinger: Bruchstücke aus einem alemannischen Büchlein von guter Speise. In: Sitzungsberichte der königl. bayer. Akademie
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noch als randlagiges Kuriosum betrachtet. Wackernagel meint z. B.: „alle [diese Texte sind] wenigstens für die sittengeschichte der vorzeit von belang“5 und Birlinger kommentiert seine Edition damit, dass er „nur die Küchenzettel für die 200 Fasttage der Benediktiner“6 mitzuteilen hätte. Erst die weitreichenden Neuorientierungen der germanistischen Mediävistik seit den 1960er Jahren änderten hier die Perspektive auf nichtliterarische, vor allem aber ‚alltagsorientierte‘ Texte des Mittelalters: Die Fachprosaforschung konnte damit erst richtig Fuß fassen! Mittlerweile haben sich zu bestimmten Themen renommierte Forschungsbereiche und -institutionen7 etabliert und mediävistische Fachliteratur ist fester Bestandteil universitärer Curricula.8 In dieses Forschungsfeld gehören auch die Kochrezepttextsammlungen, deren Wiederentdeckung erst ab Anfang der 1990er Jahre durch Trude Ehlert intensiv vorangetrieben worden ist. Mittlerweile sind in unserem Forschungsbereich 58 Handschriften bekannt, die deutschsprachiges Textmaterial zur mittelalterlichen Küchenpraxis überliefern,9 36 dieser Sammlungen sind bereits publiziert.10 Der Weg, den die wissenschaftlichen Ansprüche im Bereich der heute sogenannten ‚Kochbuchforschung‘ nahmen, lässt sich an der Entwicklung des Aufbaus und des Umfangs der Editionen im Lauf der Jahrhunderte gut nachverfolgen: In den Anfängen im 19. Jahrhundert war es ausreichend, die kuriosesten Auszüge aus den Sammlungen für kulturhistorisch Interessierte abzudrucken. Wackernagel bringt in diesem Zusammenhang außerdem eine Diskussion der Texte im Lichte des Überlieferungskanons des Mittelhochdeutschen.11 Birlinger ist der erste, der zur altdeutschen Küchensprache forscht und in einem Aufsatz acht Vokabel mithilfe von Rezepten und in Zusammenhang mit der schöngeistigen Literatur analysiert.12 Gollub zeigt 1935 in seiner Edition der HS Berlin, Geheim. Staatsarchiv Preuß. Kulturbesitz, XX HA OBA Nr. 18384 als einer der Ersten Interesse an der Parallelüberlieferung der Rezepttexte.13 –––––––— 5 6 7
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der Wissenschaften zu München 2 (1865), S. 199–206. Das sind Rezepte aus der HS Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 20.291. Wackernagel 1853 (Anm. 2), S. 365. Birlinger 1865 (Anm. 4), S. 172. Exemplarisch sei hier nur auf die Forschergruppe Klostermedizin der Universität Würzburg verwiesen: Forschergruppe Klostermedizin. Seiteninhaber: Dr. Ralf Windhaber. Inhaltlich Verantwortlicher gemäß § 55 Abs. 2 RStV: Dr. Johannes G. Mayer. 1999–2014. URL: http://www.klostermedizin.de [25.07.2014]. Vgl. Bernd Dietrich Haage, Wolfgang Wegener: Deutsche Fachliteratur der Artes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Unter Mitarb. von Gundolf Keil und Helga Haage-Naber. Berlin 2007, S. 25. Im Vergleich dazu sind für England 39, Frankreich 12, Italien 13, Katalonien 2, Portugal 1 vergleichbare Handschriften bekannt. (Diese Daten basieren auf: Carole Lambert [u. a.]: Répertoire des manuscrits médiévaux contenant des recettes culinaires. In: Du manuscrit á la table. Hg. von Carole Lambert. Montreal, Paris 1992, S. 315–362.) Vgl. dazu die vollständige chronologische Bibliografie der Kochrezepttexteditionen im Anhang. Wackernagel 1845 (Anm. 1). Anton Birlinger: Zur altdeutschen Küchensprache. In: Alemannia 6 (1876), S. 42–48. Hermann Gollub: Aus der Küche der deutschen Ordensritter. In: Prussia 31 (1935), S. 118–124. Die Frage nach der Parallelüberlieferung von Kochrezepttexten ist insofern interessant, als man nicht weiß, wie und warum diese Texte in den Handschriften aufgezeichnet worden sind, und es sich bis auf einige wenige Ausnahmen um unikale Überlieferungen handelt. Eine sehr detaillierte, wenngleich in den grundlegenden Ansätzen noch ausbaufähige Untersuchung dazu bietet Marianne Honold: Studie zur Funktionsgeschichte der spätmittelalterlichen deutschsprachigen Kochrezepthandschriften. Würzburg 2005.
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In der Edition der Rezeptsammlung des Meister Eberhard von Landshut durch Anita Feyl14 1963 kann man die ersten ernstzunehmenden Ergebnisse in der Fachtextedition und einen Paradigmenwechsel in der Editionswissenschaft überhaupt erkennen: So stellt sie neben den eigentlichen Quellentext in einem gleichwertigen Umfang einen Abriss der Herkunft der Quelle sowie der Besitzverhältnisse des Kodex und dessen Beschreibung, eine Beschreibung und literaturwissenschaftliche Einordnung des Inhalts, einen Überblick über die Kochrezepttextliteratur und einen Vergleich einzelner Rezepte mit den bekannten Parallelüberlieferungen und endet mit einer summarischen Beschreibung und kulturhistorischen Einordnung der von ihr herausgegebenen Kochrezepttextsammlung. Bald darauf erscheinen die ersten SWFaksimiles von Kochrezepttextsammlungen.15 Zu dieser Zeit tritt verstärkt die Frage nach dem Wortschatz und den Eigenheiten der Syntax von Kochrezepttexten in den Mittelpunkt: Hans Wiswe ist einer der ersten, der einer Edition ein vollständiges Glossar zur Seite stellt.16 Auf seine Edition der Kochrezepttexte der HS Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Helmst. 1213 folgt außerdem ein wissenschaftlicher Aufsatz, der zusätzlich Wortbedeutungen diskutiert17 und an Wiswes 1970 erschienene Kulturgeschichte der Kochkunst ist ein Lexikon der Fachsprache der mittelalterlichen Küche18 angeschlossen. Diesem Trend folgen weitere Editionen, die Wert auf eine Erläuterung des Wortschatzes legen.19 In den folgenden 20 Jahren steht die Arbeit mit handschriftlich überlieferten Kochrezepttextsammlungen nahezu still. Sie erhält neuen Antrieb Anfang der 1990er Jahre mit Trude Ehlerts Arbeiten zur mittelhochdeutschen Küchenliteratur:20 Ab diesem Zeitpunkt werden kulturhistorische Aspekte in umfangreichen Stellen- und Gesamtkommentaren verstärkt hervorgehoben. Zudem rücken neue Fragestellungen – vor allem von Trude Ehlert initiiert – ins Zentrum: Aspekte der Überlieferung in Zusammenhang mit der Frage nach der Mündlichkeit und Schriftlichkeit von Rezepttexten,21 –––––––— 14
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Anita Feyl: Das Kochbuch Meister Eberhards. Ein Beitrag zur altdeutschen Fachliteratur. Freiburg im Breisgau: Univ., Diss., 1963. Das ist die HS Augsburg, Universitätsbibliothek, Öttingen-Wallerstein III.1.2° 43. Z. B. Gerold Hayer: Daz buoch von guoter spîse. Abbildungen zur Überlieferung des ältesten deutschen Kochbuches. Göppingen 1976. Hans Wiswe: Ein mittelniederdeutsches Kochbuch des 15. Jahrhunderts. In: Braunschweigisches Jahrbuch 37 (1956), S. 19–55. Hans Wiswe: Nachlese zum ältesten mittelniederdeutschen Kochbuch. In: Braunschweigisches Jahrbuch 39 (1958), S. 103–121. Eva Hepp: Die Fachsprache der mittelalterlichen Küche. Ein Lexikon. In: Kulturgeschichte der Kochkunst. Kochbücher und Rezepte aus zwei Jahrtausenden. Mit einem lexikalischen Anhang zur Fachsprache. Hg. von Hans Wiswe. München 1970, S. 185–224. So z. B. Berthilde Danner: Alte Kochrezepte aus dem bayrischen Inntal. In: Ostbairische Grenzmarken. Passauer JB f. Geschichte, Kunst u. Volkskunde 12 (1970), S. 118–128. Das ist die Edition der Kochrezepttexte aus der HS Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Donaueschingen 793. Die ersten Arbeiten erscheinen bereits 1987 im Sammelband Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit. Hg. von Irmgard Bitsch, Trude Ehlert und Xenja von Ertzdorff. Stuttgart 1987, die erste Edtion 1993: Trude Ehlert: Die (Koch-)Rezepte der Konstanzer Handschrift A I I. Edition und Kommentar. In: ‚Von wyßheit würt der mensch geert‘. Festschrift für Manfred Lemmer zum 65. Geburtstag. Hg. von Ingrid Kühn u. Gotthard Lerchner. Frankfurt am Main 1993, S. 39–64. Für eine Aufstellung der weiteren Editionen vgl. den Anhang. Vgl. Trude Ehlert: Indikatoren für Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der deutschsprachigen Fachliteratur am Beispiel der Kochbuchüberlieferung. In: ‚Durch aubenteuer muess man wagen vil‘. Festschrift
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die diätetischen Aspekte,22 die Frage der Wissensvermittlung in diesem Bereich der Artes mechanicae 23, außerdem die interne Systematik der Rezeptsammlungen,24 die bis heute nach wie vor sehr schwer zu fassen ist, aber auch die Aspekte von Regionalität25 in den einzelnen Texten. Das sind alles Themen, welche die Erforschung mittelalterlicher Kochrezepttextsammlungen bis heute bestimmen! Ehlert gelingt eine Verankerung dieses Forschungsbereiches innerhalb der germanistischen Mediävistik; sie bringt verstärkt Sprachformanalysen, Syntaxanalysen ein, sie betreibt Gattungsforschung und analysiert – im Konnex mit den sog. ‚Küchentexten‘ literarische Texte des Hoch- und Spätmittelalters,26 die allgemein gerne die Thematik der Ernährung aufgreifen. Ehlert widmet sich in ihren Editionen aber auch wieder verstärkt der Untersuchung von Parallelüberlieferungen und stellt dazu eigene Modelle auf. Sie regt außerdem eine große Zahl von Qualifikationsarbeiten an27 und leitet Lehrveranstaltungen, welche die Edition von Kochrezepttextsammlungen zum Ziel haben.28 Der Umfang der Editionen von Kochrezepttextsammlungen wird um Farbfaksimiles er-
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für Anton Schwob zum 60. Geburtstag. Hg. von Wernfried Hofmeister und Bernd Steinbauer. Innsbruck 1997, S. 73–85. Vgl. Trude Ehlert: ‚Doch so fülle dich nicht satt!‘ Gesundheitslehre und Hochzeitsmahl in Wittenwilers „Ring“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 109/1 (1990), S. 68–85 und Irmgard Bitsch: Ernährungsempfehlungen in mittelalterlichen Quellen und ihre Beurteilung aus heutiger Sicht. In: Haushalt und Familie in Mittelalter und früher Neuzeit. Hg. von Trude Ehlert. Mit einem Register von Ralf Nelles. Sigmaringen 1991, S. 129–136. Vgl. Trude Ehlert: Wissensvermittlung in deutschsprachiger Fachliteratur des Mittelalters oder: Wie kam die Diätetik in die Kochbücher? In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 8 (1990), S. 137–159. Vgl. Trude Ehlert: Zum Funktionswandel der Gattung Kochbuch in Deutschland. In: Kulturthema Essen: Ansichten und Problemfelder. Hg. von Alois Wierlacher; Gerhard Neumann u. Hans-Jürgen Teuteberg. Berlin 1993, S. 319–41. Vgl. Trude Ehlert: Regionalität und nachbarlicher Einfluß in der deutschen Rezeptliteratur des ausgehenden Mittelalters. In: Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven. Hg. von Hans-Jürgen Teuteberg, Gerhard Neumann u. Alois Wierlacher. Berlin 1997, S. 131–147. Vgl. Trude Ehlert: Das Rohe und das Gebackene. Zur sozialisierenden Funktion des Teilens von Nahrung im ‚Yvain‘ Chrestiens de Troyes, im ‚Iwein‘ Hartmanns von Aue und im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. In: Mahl und Repräsentation. Der Kult ums Essen. Beiträge des internationalen Symposions in Salzburg, 29. April bis 1. Mai 1999. Hg. von Lothar Kolmer u. Christian Rohr. München, Wien, Zürich 2000, S. 23–40 und Trude Ehlert: Zur Semantisierung von Essen und Trinken in Wernhers des Gertnaere ‚Helmbrecht‘. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 138.1 (2009), S. 2–16. Vgl. u. a. Mirjam Schulz: Die Kochrezepte des cpg 583, fol. 80r–89r: Edition und Untersuchung eines spätmittelalterlichen Fachliteraturtextes. Würzburg: Univ., Magisterarbeit, 1998 oder Alessandra Sorbello Staub: Die Basler Rezeptsammlung. Studien zu spätmittelalterlichen deutschen Kochbüchern. Erstausgabe mit Kommentar und Fachglossar der Handschriften Basel, ÖUB D II 30, Bl. 300ra–310va, und Heidelberg, UB cpg 551, Bl. 186r–196v und 197r–204r. Würzburg 2002. Vgl. z. B. Trude Ehlert: Das Kochbuch aus der Stiftsbibliothek Michaelbeuern (Man. cart. 81). Edition und Kommentar. Hg. in Zusammenarbeit mit Florian Bambeck, Heike Bezold, Katharina Boll, Martina Fath, Nora Fischer, Michaela Lindner, Markus Nolda, Maria Schaible, Andrea Schartner, Christian Schwaderer und Katrin Wenig. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 24 (2005), S. 121–143 oder Münchner Kochbuchhandschriften aus dem 15. Jahrhundert. Cgm 349, 384, 467, 725, 811 und Clm 15632. In Zusammenarbeit mit Gunhild Brembs, Marianne Honold, Daniela Körner, Jörn Christoph Krüger, Robert Scheuble, Mirjam Schulz, Christian Suda und Monika Ullrich. Hg. von Trude Ehlert. Im Auftrag von Tupperware Deutschland. Donauwörth 1999.
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und wie weit daran angeschlossene diätetische Literatur als Teil der Kochrezepttextsammlung gesehen werden bzw. inwieweit sie damit in Verbindung gebracht werden kann bzw. muss.35 Ehlert legt Wert auf eine Bestimmung der Schreibsprache der Kochrezepttextsammlungen. Diese unterstützt in Zusammenhang mit den Informationen, die man aus der Handschriftenbeschreibung erhält, zumindest die lokale und temporale Einordnung des Textes. Die Daten der Sprachanalyse können auch zur Gruppenbildung von Überlieferungen herangezogen werden. Das von Ehlert explizit definierte Zielpublikum – das sind FachwissenschafterInnen und kulturhistorisch interessierte Leser – prägt ihre Editionsprinzipien.36 Sie legt großen Wert darauf, dass mit möglichst wenigen Eingriffen eine nahezu diplomatische Wiedergabe des Textes erstellt wird: Zu diesen Eingriffen gehören Emendationen bei Kürzungen, sodass Nasalstriche oder er-Kürzung stillschweigend aufgelöst werden. Außerdem werden noch einige wenige Normalisierungen auf Graphebene vorgenommen: die Vereinheitlichung der S-Schreibung auf rundes s, die Darstellung von langem s + z als ß. Die Groß- und Kleinschreibung der Handschrift wird ausnahmslos übernommen, Getrennt- und Zusammenschreibung wird nur korrigiert, wenn damit Verständnisproblemen vorgebeugt werden kann. Ergänzungen und Verbesserungen werden vorgenommen, wenn dies notwendig erscheint, diese werden aber durch entsprechende Formatierung gekennzeichnet. Problematisch und der sonst so eindeutig angestrebten unmittelbaren Nähe zum Ausgangstext zuwiderlaufend ist aber, dass eine Interpunktion nach modernen Regeln eingeführt wird. Sofern sie nicht bereits in den Quellen vorhanden ist – und das ist sie in der Regel nur sehr selten37 –, wird eine durchlaufende Nummerierung der Rezepte vorgenommen. Leseschwierigkeiten werden im Fließtext entsprechend gekennzeichnet. Die Gestaltung der Editionen ist je nach Publikationsmedium verschieden, nur wenige bieten eine diplomatische Edition, die Zeilen- und Seitenumbrüche der Handschriften berücksichtigt.38 Die Übersetzung, sofern vorhanden, wird vereinzelt parallel zum Editionstext synoptisch auf der rechten Seite mitgeführt oder stellt ein eigenes Unterkapitel dar. 39 Sie ist so nahe am
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Vgl. Feyl 1963 (Anm. 14), S. 5–12. Dazu weiter: Wolfgang Hirth: Die Diätetik im Kochbuch des Küchenmeisters Eberhard von Landshut und eine deutsche Regel der Gesundheit nach Arnald de Villanova. [Um einen Nachtrag erweiterte Fassung aus: Ostbairische Grenzmarken, Passauer Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Volkskunde 8 (1966), S. 273a–281b.]. In: Medizin im mittelalterlichen Abendland. Hg. von Gerhard Baader u. Gundolf Keil. Darmstadt 1982, S. 275–292, besonders S. 279. Gundolf Keils Auffassung steht dem entgegen: Gundolf Keil: Eberhart von Landshut. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. von Kurt Ruh [u.a.]. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter. Redaktion Christine Stöllinger. Bd. 2. Berlin, New York 1980, Sp. 289. Deren generelle Ausrichtung bleibt über die Jahre hinweg konstant und wird gegebenenfalls geringfügig an die jeweiligen Eigenarten der Handschrift angepasst: Vgl. Ehlert 1993 (Anm. 20), S. 41; Ehlert 1996 (Anm. 32), S. 140–141; Ehlert 1996 (Anm. 30), S. 242–243; Ehlert 1999 (Anm. 28), S. 92–95; Ehlert, Leng 2003 (Anm. 33), S. 299–300; Ehlert 2005 (Anm. 28), S. 127–128; Ehlert 2010 (Anm. 33), S. 8–9, 16–17 (Solothurn), S. 220–221 (Köln). Einzig die Rezepte des cgm 725 sind innerhalb der Gesamtüberlieferung nummeriert (vgl. Ehlert 1999 [Anm. 28], S. 196), die HSS Köln, Historisches Archiv der Stadt Köln, Gymnasialbibliothek 4° 27 (vgl. die Kapitelüberschriften in Ehlert 2010 [Anm. 33], S. 222, 260 etc.) und Solothurn, Zentralbibliothek, S. 490 (vgl. Ehlert 2010 [Anm. 33], S. 11) lassen eine Kapiteleinteilung erkennen. Ehlert 1996 (Anm. 30); Ehlert, Leng 2003 (Anm. 33); Ehlert 2010 (Anm. 33). Keine Übersetzung: Ehlert 1993 (Anm.20); Ehlert 1996 (Anm. 32); Ehlert, Leng 2003 (Anm. 33); synoptische Übersetzung: Ehlert 1996 (Anm. 30), Ehlert 1999 (Anm. 28), Ehlert 2010 (Anm. 33); Übersetzung als eigenständiges Unterkapitel: Ehlert 2005 (Anm. 28).
Das Edieren von handschriftlichen Kochrezepttexten am Weg ins digitale Zeitalter
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Original wie möglich, vor allem auch, um die historisch begründeten syntaktischen Eigenheiten im Neuhochdeutschen deutlich werden zu lassen. Erläuternde Ausführungen werden, sofern diese für das Textverständnis notwendig sind, im Fließtext in Klammern angeboten. Die Editionen bieten neben dem Apparat, der neben den Schreibvarianten auch Erklärungen zu Wortbedeutungen enthalten kann,40 einen Kommentarteil, der, wenn er als Stellenkommentar ausgerichtet ist,41 sich meist auf die mikrotextuelle Einheit eines Rezeptes konzentriert: In diesem werden Details zur Parallelüberlieferung zusammengefasst und außerdem sprachliche Probleme und Besonderheiten der Übersetzung diskutiert. Im Regelfall wird auch eine inhaltliche Kommentierung angeboten. Einen ähnlichen inhaltlichen Querschnitt zeigen auch jene Kommentare, die nur einen Überblick zur Rezeptsammlung geben.42 Das Glossar, sofern als eigene Subeinheit vorhanden,43 erläutert seltene und schwer verständliche Vokabeln, wobei unter Berücksichtigung der Zielgruppe – Lesende, welche die Normalisierungsregeln des Frühneuhochdeutschen nicht beherrschen – bewusst auf eine Normalisierung der Lemmata verzichtet wird.44 Der Gesamtkommentar zu gesammelt publizierten Editionen mehrerer Kochrezepttextsammlungen45 wird meist von der kulturhistorischen Einordnung in den Überlieferungskanon und einer allgemeinen Kommentierung der Texte und ihrer Abhängigkeiten untereinander bestimmt. Dabei wird vor allem die Beschreibung der Rezeptsammlung in Bezug auf Inhalt und Aufbau in den Mittelpunkt gestellt. Der Überlieferungszusammenhang wird unter Berücksichtigung der erschlossenen Überlieferungstraditionen und der Streuüberlieferung diskutiert. Daran schließen auch tabellarische Übersichten zur Parallelüberlieferung und im Falle von Mehrfachüberlieferungen Rezeptkonkordanzen an.
Aufbauend auf diesen im Fach mittlerweile gut verankerten Konventionen der Editionsgestaltung von Sachtexten, besonders Kochrezepttexten, haben wir eine Neuedition der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 8137 geplant, einer Sammelhandschrift, aus der Teile in der Forschung auch als Tegernseer Wirtschaftsbüchlein46 und Tegernseer Angel- und Fischbüchlein47 bekannt sind.
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So in Ehlert 1993 (Anm.20), Ehlert 1996 (Anm. 32) und Ehlert 1999 (Anm. 28). Stellenkommentare bieten Ehlert 1999 (Anm. 28); Ehlert, Leng 2003 (Anm. 33); Ehlert 2005 (Anm. 28) und Ehlert 2010 (Anm. 33). Überblickskommentare bzw. einzelne Spezialanalysen sind in Ehlert 1993 (Anm. 20), Ehlert 1996 (Anm. 30), Ehlert 1996 (Anm. 32) und neben dem Stellenkommentar auch in Ehlert 1999 (Anm. 28) zu finden. So in Ehlert 1996 (Anm. 32), Ehlert 1999 (Anm. 28), Ehlert 2005 (Anm. 28) und Ehlert 2010 (Anm. 33). Vgl. Ehlert 2010 (Anm. 33), S. 10. Ehlert 1999 (Anm. 28), Ehlert 2010 (Anm. 33). Monika Reininger: Tegernseer Wirtschaftsbüchlein. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. von Burghart Wachinger [u. a]. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter. Redaktion Christine Stöllinger. Bd. 11: Nachträge und Korrekturen. Berlin, New York 2004, Sp. 1506f. Gundolf Keil, Monika Reininger: Tegernseer Angel- und Fischbüchlein. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. von Burghart Wachinger [u. a.]. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter. Redaktion Christine Stöllinger. Bd. 9. Berlin, New York 1995, Sp. 664f.
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Das Tegernseer Wirtschaftsbuch: kurze Handschriftenbeschreibung Der Codex cgm 8137 umfasst 128 Blätter mit einer neuzeitlichen Bleistiftfoliierung jeweils rechts oben. Der Beschreibstoff ist Papier mit den Maßen 155 x 105 mm. Die im Handschriftencensus etwas vage angegebene Datierung 15./16. Jahrhundert lässt sich durch Datumsnennungen in der Handschrift – einmal 1534 und einmal 1453 bzw. 1462 – konkretisieren. Inhaltlich besteht der Codex aus zwei großen Teilen: einerseits aus dem Tegernseer Wirtschaftsbuch und andererseits aus dem sog. Tegernseer Angel- und Fischbuch. Das Tegernseer Angel- und Fischbuch ist aus sechs Einzeltexten zusammengestellt, aber von einer (!) Hand geschrieben, die Keil/Reininger in ihrem VL-Artikel Frater Placidus im Küchenamt des Klosters Tegernsee zuweisen.48 Auch das Tegernseer Wirtschaftsbuch ist in sich nicht homogen, sondern zerfällt in drei Teile: Es beginnt mit dem sogenannten Jüngeren Eintragskalender (fol. 12r–30r) bezogen auf das Jahr 1534. Darauf folgt der ältere Eintragskalender (fol. 36r–44v) ohne konkrete Jahresangabe. Der dritte Teil schließlich wird als ‚Speisenbuch‘ bezeichnet (fol. 45r–85r). Hier finden sich im Text die genannten Datierungen von 1453 und 1462. In allen Teilen schreiben mehrere unterschiedliche Hände; besonders in den Kalendern gibt es zahlreiche Ein- und Nachträge, was für diese Art von Text ja durchaus typenprägend ist. Alles deutet darauf hin, dass diese Handschrift also erst relativ spät, jedenfalls nach 1534, ihre heutige Gestalt erhielt, indem Einzelteile zusammengebunden wurden. Wir haben es also mit einer klassischen ‚zusammengesetzten Handschrift‘ zu tun. Eine solche besteht aus mehreren ursprünglich selbstständigen Teilen sehr unterschiedlichen Alters und Aussehens und auch unterschiedlicher Herkunft. Kodikologisch immer interessante Marker in zusammengesetzten Handschriften sind Serien von leeren Blättern. Diese befinden sich im Tegernseer Wirtschaftsbuch überwiegend und signifikant an den ‚Nahtstellen‘ der Einzelteile, sind also dort positioniert, wo ‚Zuwachs‘ erwartet wurde. Zusammengesetzte Handschriften sind ja als ‚lebendige‘ Körper zu verstehen, die im Alltagsgebrauch standen und sich auch weiterentwickeln konnten.49 Thematisch kreisen alle Bestandteile der Handschrift cgm 8137 um die nicht zuletzt kulinarische Gestaltung des christlichen Fastens bei den Benediktinern in Tegernsee. Die Kalender gehören selbsterklärend hier her, das Speisenbuch ist wohl als Küchenmeisterinstruktion aufzufassen, denn großteils geht es weniger um Anleitungen zur Speisenzubereitung als vielmehr darum, was in welchen Mengen zu welchen Zeiten der Küche zur probaten Speisenversorgung des Konvents zur Verfügung stehen muss. Und in diesem Zusammenhang ist wohl auch das Fisch- und Angelbüchlein hier als konsequent logisch platziert zu betrachten, denn Fisch ist in der generell fleischlosen Kost der Benediktiner eine wertvolle und besonders wichtige Ingredienz. –––––––— 48 49
Vgl. Keil/Reininger 1995 (Anm. 47), Sp. 664. Vgl. dazu ausführlich: Karin Kranich: Zusammengesetzte Handschriften – Sammelhandschriften: Materialität – Kodikologie – Editorik. In: Materialität in der Editionswissenschaft. Hg. von Martin Schubert. Berlin [u. a.] 2010, S. 309–321.
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Deren gesicherte Bereitstellung war eine wichtige Aufgabe, deren Umsetzung sich auch in wissensorientierten Texten wie dem Tegernseer Fischbüchlein niederschlug.50 Der Ersteditor dieser Texte, Anton Birlinger, beschreibt den Inhalt 1864 mit folgenden Worten: Der erste [Teil] enthält eine Art Einschreib-Kalender (1534); der zweite, wegen seiner Unbedeutendheit hier weggelassene, nach den Monaten halb latein, halb deutsch, die Speiseordnung; der dritte das Kochbüchlein, das bis auf den letzten Drittheil, der nur Wiederholung ist, fast ganz hier mitgetheilt wird; der vierte das Fischbüchlein […].51
Dass diese nur bruchstückhafte Publikation nach den Standards der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heute nicht mehr genügt, liegt auf der Hand. Dennoch ist der Text in der Forschungsliteratur zur historischen Kulinarik immer wieder präsent, wenn auch eben nur aufgrund dessen, was Birlinger in seinem ‚Lückentext‘ mitteilt. Es geht also darum, diese Quelle in vollem Umfang nach den aktuellen editorischen Standards der Forschung zur Verfügung zu stellen. Daran wird in Graz durch Mitglieder des Universitätsvereins KuliMa bereits gearbeitet.
Editionsvorhaben Der Universitätsverein KuliMa – Kulinarisches Mittelalter an der Universität Graz52 – setzt sich aus universitätsinternen und externen Mitgliedern zusammen und umfasst somit wissenschaftliches Personal, Angestellte aus dem Bereich der Universitätsverwaltung, Studierende und außerdem universitäre Laien. Der gemeinsamer Nenner der Mitglieder ist das Interesse an historischer Kulinarik: In den letzten Jahren hat sich der Verein mit der Aufarbeitung des kulturhistorischen Hintergrundes zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ernährung beschäftigt, nach historischen Rezepten gekocht und an der Überführung von Rezepten aus der historischen Adelsküche in eine moderne Küche gearbeitet. Seit Herbst 2012 ist die editorischen Bearbeitung historischer Rezepte und anderer Quellentexte zur mittelalterlichen Speisekultur ein fixer Bestandteil der Vereinsaktivitäten: Im Zentrum steht dabei momentan die Handschrift cgm 8137. Als Durchführungszeitraum wurden zumindest zwei Jahre veranschlagt, da der zeitliche Ablauf nach den Terminplänen der großteils berufstätigen Vereinsmitglieder ausgerichtet werden muss. Das Endprodukt dieser Unternehmung wird eine in Etappen veröffentlichte digitale Edition sein. –––––––— 50
51 52
Vgl. dazu Karin Kranich: Das Tegernseer Wirtschaftsbuch: Benediktinische Kulinarik in Fasten- und Nichtfastenzeiten. In: Der Koch ist der bessere Arzt. Zum Verhältnis von historischer Diätetik und Kulinarik im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Fachtagung im Rahmen des Tages der Geisteswissenschaften 2013 an der Karl-Franzens-Universität Graz, 20.6.–22.6.2013. Hg. von Andrea HofmeisterWinter, Helmut W. Klug u. Karin Kranich. Frankfurt am Main [u.a.] 2014, S. 177–187. Birlinger 1864 (Anm. 3), S. 192. KuliMa. Kulinarisches Mittelalter an der Karl-Franzens-Universität Graz. 2010–2014. URL: http://kulinarisches-mittelalter.org [27.06.2014].
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renden am Original nachvollzogen werden kann. Als Beispiel dafür kann die Arbeit von Thomas Gloning im Rahmen des Deutschen Textarchivs genannt werden.69 Ein Editionstext muss natürlich als elektronischer Text zur Verfügung gestellt werden,70 um in weiterer Folge als Basis für zukünftige Forschungsvorhaben weiterverarbeitbar zu sein: Von diesen weiterführenden, textbasierten Forschungen sind dann übergeordnete Forschungsfragen wie die Untersuchung der Parallelüberlieferungen und Studien zur diachronen Rezeptentwicklung auf inhaltlicher wie auch sprachlicher Basis abhängig. Das gesammelte Material kann auch die inhaltliche Basis für eine digitale Edition bilden. Diese digitale Edition sollte zum Beispiel einen elektronisch verfügbaren kritischen Apparat beinhalten, der von überall innerhalb der Edition zugänglich ist. Eine digitale Edition sollte digitale Bilder der Handschrift bereitstellen, die positionsgebunden mit dem Text verlinkt sind. Es muss zudem für eine Langzeitarchivierung der Edition gesorgt sein. Alle Daten sollten für vertiefende Forschungsfragen aufbereitet sein, was unter anderem durch die Transparenz in der Codierung und eine ausführliche Beschreibung des XML-Aufbaus und der benutzten Tags geschehen kann; gleichzeitig sollte die Revisionsgeschichte der Materialien offengelegt werden. Die digitale Edition muss auf Basis der vorherrschenden Standards erstellt oder zu diesen zumindest kompatibel sein. Eine digitale Edition bzw. ihre Darstellung im Internet sollte verschiedene Wege der Texterschließung (Glossar, Index, Konkordanz etc.) ermöglichen und deren Funktionsweise detailliert erklären.71 Für eine moderne Fachtextedition im Allgemeinen und für die Edition von Kochrezepttextsammlungen im Speziellen bedeutet diese Differenzierung, dass verbindliche Richtlinien aufgestellt werden müssen: –––––––— 69
70
71
Als Beispiel sei hier genannt: Koch Buch zum Gebrauch der Wohlgebohrenen Frau Theresia Lindnerin. 1780. Zuletzt geändert 07.11.2012. URL: urn:nbn:de:kobv:b4-30141-7 (07.07.2014). Dieses Werk steht im Deutschen Textarchiv als Download unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC 3.0 in unterschiedlichen Textformaten (TEI-XML-, HTML-, TCF-, E-Book-Fassung) zur Verfügung und kann, sollte das erwünscht sein, auch über den Herausgeber in gedruckter Form bezogen werden: Das handschriftliche Kochbuch zum Gebrauch der Theresia Lindnerin. Einleitung, Transkription und digitales Faksimile. Hg. von Thomas Gloning. Gießen 2009. Ein Best-Practice-Beispiel sind die Begleitmaterialien zur Edition von Hugo von Montfort (Hugo von Montfort: Das poetische Werk [Texte, Melodien, Einführung]. Hg. von Wernfried Hofmeister. Mit einem Melodieanhang von Agnes Grond. Berlin [u. a.] 2005.): So gibt es auf der die Edition begleitenden Webpräsenz (Hugo von Montfort – Das poetische Werk. Begleitende Internet-Plattform zur Neuausgabe. Hg. von Wernfried Hofmeister. Zuletzt geändert Juni 2014. URL: http://www-gewi.uni-graz.at /montfort-edition [10.07.2014].) nicht nur die elektronischen Texte in unterschiedlichen Formaten, sondern auch eine TEI-kodierte xml-Fassung des Textes, welche die Grundlage für die sogenannte ‚Augenfassung‘ der Edition darstellt (Hugo von Montfort: Das poetische Werk. Hg. von Institut für Germanistik der Karl-Franzens-Universität Graz. Projektleitung: Wernfried Hofmeister. Technische Umsetzung: Zentrum für Informationsmodellierung – Austrian Centre for Digital Humanities der Karl-FranzensUniversität Graz. Grafische Gestaltung: Eva Horvath. Zuletzt geändert 2010. URL: http://gams.unigraz.at/me (10.07.2014).). Vgl. dazu u.a. Patrick Sahle: Definition of „digital scholarly edition“. In: About. A catalog of: Digital Scholarly Editions, v 3.0, snapshot 2008ff. 2008–2011. URL: http://www.digitale-edition.de/vletabout.html [10.07.2014] oder sehr anschaulich aufgeschlüsselt und unter spezieller Berücksichtigung der TEI (Text Encoding Initiative) Georg Vogler: Digitale Edition mit der TEI. Präsentation im Rahmen des Workshops „Texttechnologische Standards in den Geisteswissenschaften“, Oktober 2012, Wien. Hg. vom Zentrum für Informationsmodellierung, Universität Graz. URL: http://gams.unigraz.at/archive/ get/o:ide.291/sdef:PDF/get (07.07.2014).
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1. 2.
3.
Zielpublikum einer Neuedition ist an erster Stelle immer die internationale ForscherCommunity. Die Grundlage für ein dauerhaft brauchbares Ergebnis ist eine wissenschaftlich verantwortungsvolle Editionspraxis mit allen bekannten Geboten und Einschränkungen. Als Ausgangspunkt dafür sind die „Empfehlungen zum Umgang mit Editionen im digitalen Zeitalter“ der AG germanistische Edition72 anzusetzen. Die Arbeit innerhalb eines neuen Mediums verlangt nach der Dokumentation des Umgangs mit den Materialien. Der Aspekt der Nachvollziehbarkeit der Daten- und Ergebnisgenese sollte zwingend beachtet werden: Was wurde wann wie warum gemacht? Jede moderne Edition muss zusammen mit diesen Forschungssekundärdaten publiziert werden.
Fazit Um im Bereich der Kochbuchforschung relevante Beiträge liefern zu können, muss man als Edierender erkennen, dass eine Edition in Buchform für Zwecke der wissenschaftlichen Nachnutzung längst überholt ist und allenfalls dazu dienen kann, in einem science to public-Rahmen Wissenstransfer zu betreiben – aber gerade hier bleibt zu diskutieren, ob es nicht wieder das digitale Medium ist, mit dem eine breite Öffentlichkeit besser erreicht werden kann. Die Minimalanforderung, die zukünftige Edierende aber wohl umsetzen müssen, ist, in jedem Fall eine elektronische Edition in Form eines maschinenlesbaren Dokuments abzuliefern. Besser und deshalb wünschenswert wären aber digitale Editionen im Rahmen einer interdisziplinären Forschungsplattform.73
–––––––—
72
73
Vgl. dazu Empfehlungen zum Umgang mit Editionen im digitalen Zeitalter. Hg. von d. Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach. Zuletzt geändert 31.01.2012. URL: http://www.ag-edition.org/empfehlungen_editionen_v01.pdf (10.07.2014). Befremdlich wirkt es in diesem Zusammenhang, dass die AG für Germanistische Edition keine Kommission mehr betreibt, die sich den besonderen Belangen der digitalen Edition widmet, im Gegenteil die ehemals bestehende Kommission zur EDV hat auslaufen lassen. Eine solche Forschungsplattform stellt z. B. das Portal der Pflanzen des Mittelalters (Anm. 34) dar.
Das Edieren von handschriftlichen Kochrezepttexten am Weg ins digitale Zeitalter
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Anhang: Chronologische Bibliografie der Kochrezepttexteditionen Birlinger, Anton: Bruchstücke aus einem alemannischen Büchlein von guter Speise. In: Sitzungsberichte der königlich bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München 2 (1865), S. 199–206. [N 1]74 [Schmeller, Andreas]: Ein Buch von guter Speise. Stuttgart: Literarischer Verein 1844. [M 11] Wackernagel, Wilhelm: Altdeutsches Kochbuch. Diz ist ein guot lere von guoter spise. In: Zeitschrift für deutsches Alterthum 5 (1845), S. 11–16. [M 11] Wackernagel, Wilhelm: Kochbuch von maister Hannsen des von Wirtenberg koch. In: Zeitschrift für deutsches Alterthum 9 (1853), S. 365–73. [Bs 1] Voigt, Johann: Aus einem handschriftlichen Kochbuch des XV. Jahrhunderts. In: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit. NF. 4 (1857), S. 81–83. [B 6] Birlinger, Anton: Kalender und Kochbüchlein aus Tegernsee. In: Germania 9 (1864), S. 192– 207. Birlinger, Anton: Aus dem Tegernseer Kochbüchlein. In: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit. NF. 12 (1865), S. 439–40. Mittelalterliches Hausbuch. Bilderhandschrift des 15. Jahrhunderts. Mit einem Vorwort von August von Essenwein. Nachdruck der Ausgabe Frankfurt 1887. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms 1986. [Wol 1] Birlinger, Anton: Ein alemannisches Büchlein von guter Speise. In: Sitzungsberichte der königlich bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München 2 (1865), S. 171–99. [M 2] Gollub, Hermann: Aus der Küche der deutschen Ordensritter. In: Prussia 31 (1935), S. 118–24. [B 6] Wiswe, Hans: Ein mittelniederdeutsches Kochbuch des 15. Jahrhunderts. In: Braunschweigisches Jahrbuch 37 (1956), S. 19–55. [Wo 5] Daz buoch von guoter spise. Aus der Würzburg-Münchener Handschrift neu herausgegeben. Hg. von Hans Hajek. Berlin: Schmidt 1958. (Texte des späten Mittelalters. 8.) [M 11] Feyl, Anita: Das Kochbuch Meister Eberhards. Ein Beitrag zur altdeutschen Fachliteratur. Freiburg im Breisgau: Univ., Diss., 1963. [A 1] Ein Stockholmer mittelniederdeutsches Arzneibuch aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Hg. von Agi Lindgren. Stockholm: Almqvist & Wiksell 1967. (Acta Universitatis Stockholmiensis. Stockholmer Germanistische Forschungen. 5.) [St 1] Danner, Berthilde: Alte Kochrezepte aus dem bayrischen Inntal. In: Ostbairische Grenzmarken. Passauer Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Volkskunde 12 (1970), S. 118–28. [Ka 2] Ehlert, Trude: Die (Koch-)Rezepte der Konstanzer Handschrift A I 1. Edition und Kommentar. In: ‚Von wyßheit würt der mensch geert‘. Festschrift für Manfred Lemmer zum 65. Geburtstag. Hg. von Ingrid Kühn und Gotthard Lerchner. Frankfurt/M.: Lang 1993, S. 39–64. [Ko1] Ehlert, Trude: Das Reichenauer Kochbuch aus der Badischen Landesbibliothek. Edition und Kommentar. Hg. in Verbindung mit Patrick Benz, Rick Chamberlin, Diana Finkele, Barbara
–––––––— 74
Die Siglen in eckiger Klammer (ausgenommen Ka 3, M 13 und Wol 1) korrespondieren mit dem Siglensystem, das Marianne Honold (Anm. 13) eingeführt hat und verweisen auf die der Edition zugrundeliegenden Handschriften, zu denen es vertiefende Informationen unter http://medievalplants.org/mps-daten/manuscripts (Anm. 34) abzurufen gibt.
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Gölz, Erwin Heidt, Wolfgang Höhne, Ruth Karasek, Heike Krankel, Birgit Mayer, Eberhard Müller, Annette Roser und Nicole Wolf. In: Mediaevistik 9 (1996), S. 135–88. [Ka 1] Adamson, Melitta Weiss: Die Kochrezepte im Codex J. [sic!] 5 (no. 125) der Bibliothek des Priesterseminars Brixen. Edition und Kommentar. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 14 (1996), S. 291–303. [Br 1] Maister hannsen des von wirtenberg koch. Hg. von Trude Ehlert. Mit Transkription, Übers., Glossar und kulturhist. Kommentar. Frankfurt/M.: Tupperware 1996. [Bs 1] Das mittelalterliche Hausbuch. Kommentarband. Hg. von Christoph Graf zu Waldburg Wolfegg. München, New York: Prestel 1997. [Wol 1] Schulz, Mirjam: Die Kochrezepte des cpg 583, fol. 80r–89r: Edition und Untersuchung eines spätmittelalterlichen Fachliteraturtextes. Würzburg: Univ., Magisterarbeit., 1998. [H 3] Rheinfränkisches Kochbuch um 1445. Hg. von Thomas Gloning. Mit einer kulturhistorischen Würdigung von Trude Ehlert, Übers., Anm. und Glossar. Frankfurt/M.: Tupperware 1998. [B 1] Aichholzer, Doris: „Wildu machen ayn guet essen.“ Drei mittelhochdeutsche Kochbücher: Ersteditionen, Übersetzung, Kommentar. Wien [u. a.]: Lang 1999. (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie. 35.) [W 1, W 3, W 4] Münchner Kochbuchhandschriften aus dem 15. Jahrhundert. Cgm 349, 384, 467, 725, 811 und clm 15632. In Zusammenarbeit mit Gunhild Brembs, Marianne Honold, Daniela Körner, Jörn Christoph Krüger, Robert Scheuble, Mirjam Schulz, Christian Suda und Monika Ullrich. Hg. von Trude Ehlert. Im Auftrag von Tupperware Deutschland. Donauwörth: Auer 1999. [M 1, M 2, M 4, M 5, M 7, M 10] Daz buoch von guoter spise. The book of good food. A study, edition, and English translation of the oldest German cookbook. Hg. von Melitta Weiss Adamson. Krems: Medium Aevum Quotidianum 2000. (Medium Aevum Quotidianum Sonderband. 9.) [Ds 1, M 11] Honold, Marianne: Die Kochrezepte des Cod. Guelf. 16.17. Aug. 4°, Bl. 102r–118v. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 19 (2000), S. 177–208. [Wo 2] Goldene Speisen in den Maien. Das Kochbuch des Augsburger Zunftbürgermeisters Ulrich Schwarz († 1478). Hg. von Gerhard Fouquet. Unter Mitarb. von Oliver Becker [u. a.]. St. Katharinen: Scripta-Mercaturae-Verl. 2000. (Sachüberlieferung und Geschichte. 30.) [Wo 4] Sorbello Staub, Alessandra: Die Basler Rezeptsammlung. Studien zu spätmittelalterlichen deutschen Kochbüchern. Erstausgabe mit Kommentar und Fachglossar der Handschriften Basel, ÖUB D II 30, Bl. 300ra–310va, und Heidelberg, UB cpg 551, Bl. 186r–196v und 197r–204r. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. (Würzburger medizinhistorische Forschungen. 71.) [Bs 2, H 2] Ehlert, Trude; Rainer Leng: Frühe Koch- und Pulverrezepte aus der Nürnberger Handschrift GNM 3227a (um 1389). In: Medizin in Geschichte, Philologie und Ethnologie. Festschrift für Gundolf Keil. Hg. von Dominik Groß und Monika Reininger. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 289–320. [N 2] Ehlert, Trude: Das Kochbuch aus der Stiftsbibliothek Michaelbeuern (Man. cart. 81). Edition und Kommentar. Hg. in Zusammenarbeit mit Florian Bambeck, Heike Bezold, Katharina Boll, Martina Fath, Nora Fischer, Michaela Lindner, Markus Nolda, Maria Schaible, Andrea Schartner, Christian Schwaderer und Katrin Wenig. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 24 (2005), S. 121–43. [Mi 1]
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Caparrini, Marialuisa: La letteratura culinaria in bassotedesco medio: un�indagine linguistica e storico-culturale sulla base del ricettario di Wolfenbüttel (Cod. Guelf. Helmst. 1213). Kümmerle 2006. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 732.) [Wo 5] M I 128: Medizinische-naturwissenschaftliche Sammelhandschrift (Kochbuch von fol. 318r– 331v und 337r–337v). Hg. von Beatrix Koll. Zuletzt geändert 2009. URL: http://www.ubs.sbg.ac.at/ sosa/lucull/lucull128.htm [21.12.2013]. [Sb 2] Küchenmeisterei. Edition, Übersetzung und Kommentar zweier Kochbuch-Handschriften des 15. Jahrhunderts. Solothurn S 490 und Köln, Historisches Archiv GB 4° 27. Mit einem reprographischen Nachdruck der Kölner Handschrift. Hg. von Trude Ehlert. Frankfurt/M. [u. a.]: Lang 2010. (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung. 21.) [K 1, So 1] Guggi, Natascha: „ain weizz gemùess oder ain weizz chost mach also:“ Dynamische Edition des Kochbuchs der Handschrift 415. Mit Glossar und Rezeptregister. Graz: Univ., Masterarb., 2013. [M 3] Ehlert, Trude: Kochrezepte und Notizen aus dem Günterstaler Notizenbuch. Edition von fol. 11r–14v der Handschrift GLA 65 Nr. 247 aus dem Generallandesarchiv Karlsruhe. In: Der Koch ist der bessere Arzt. Zum Verhältnis von historischer Diätetik und Kulinarik im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Fachtagung im Rahmen des Tages der Geisteswissenschaften 2013 an der Karl-Franzens-Universität Graz, 20.6.–22.6.2013. Hg. von Andrea Hofmeister-Winter, Helmut W. Klug und Karin Kranich. Frankfurt/M. [u. a.]: Lang 2014. (Mediävistik zwischen Forschung, Lehre und Öffentlichkeit. 8.) S. 287–314. [Ka 3] Die Neuedition der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 8137. Hg. von Karin Kranich, Helmut W. Klug. Unter Mitarbeit des Vereins KuliMa – Kulinarisches Mittelalter an der Universität Graz. [Online-Edition in Vorbereitung]. [M 13]
Katharina Krüger
Wolfgang Koeppens Textwerkstatt als editorische Herausforderung Zur Edition von Wolfgang Koeppens Jugend
I. „Und wo, wenn ich fragen darf, ist der große Roman? / Vielleicht dort / in der Schachtel / mit dem Verbandszeug / und den Fotos / aus Rom.“1 Wer wie der Koeppen-Herausgeber Hans-Ulrich Treichel in seinem Gedicht „Im Koeppen-Archiv“ in Wolfgang Koeppens Nachlass nach dem großen, nie erschienenen Roman sucht, der wird enttäuscht werden. Nachdem der Autor 1996 verstarb, fiel schon die erste Bilanz des Nachlassverwalters Alfred Estermann eher ernüchternd aus: Den Nachlass beschreibt er als „riesige[n] Steinbruch aus Anfängen“.2 Und doch gibt es ein Konvolut, das schon aufgrund seines Umfangs aus dem Nachlass herausragt: All jene Manu- und Typoskripte, die Wolfgang Koeppens Jugend zuzuordnen sind. Als das Buch Jugend 1976 im Herbstprogramm des Suhrkamp Verlags erschien, hatte die Öffentlichkeit schon lange auf eine neue Buchpublikation von Wolfgang Koeppen gewartet. Nach einer produktiven Schaffensphase in den 1950er Jahren (Tauben im Gras [1951], Das Treibhaus [1953], Der Tod in Rom [1954]) war es seit dem Beginn der 1960er Jahre still geworden um den Autor, was ihm in den Feuilletons den Ruf des ‚Schweigers‘ einbrachte – eine Zuschreibung, die sich angesichts der dokumentierten Schreib- und Publikationsleistung des Autors kaum halten lässt. Die Diskrepanz zur Erwartungshaltung der literarisch interessierten Öffentlichkeit blieb dennoch, denn entgegen vieler Ankündigungen entstand eben nicht das, was man erwartete – ein neuer Koeppen-Roman. Umso überraschender war schließlich das Erscheinen von Jugend (1976) als Band 500 der Bibliothek Suhrkamp. Ein schmales Bändchen mit einem vergleichsweise kurzen, fragmentarischen, autobiographisch gefärbten, nicht chronologisch erzählenden, hoch verdichteten Prosatext. Die Literaturkritik reagierte begeistert, Jugend er–––––––— 1 2
Hans-Ulrich Treichel: Südraum Leipzig. Gedichte. Frankfurt/M. 2007, S. 24. Alfred Estermann: Ein riesiger Steinbruch aus Anfängen. Wolfgang Koeppens literarischer Nachlaß – Ein Überblick. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ressort Bilder und Zeiten, Nr. 283, 05.12.1998, S. I. Eine neue Studie von Walter Erhart zeigt jedoch, dass sich in der Disparität der nachgelassenen Manuskripte das kontinuierliche Bestreben nach einem ‚großen Roman‘ ausmachen lässt, dessen Umsetzung jedoch auch aufgrund konkurrierender Schreibverfahren scheiterte. Jugend ist demnach ein Teil dieses unverwirklichten literarischen Großprojekts. Vgl. Walter Erhart: Wolfgang Koeppen. Das Scheitern moderner Literatur. Konstanz 2012.
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Katharina Krüger
reichte Platzierungen auf den Bestsellerlisten und zählt bis heute zu den herausragenden Werken Koeppens. Die besondere Form des Textes sowie sein besonderer Status im Gesamtwerk führen beinah unweigerlich zur Frage nach der Entstehung – zumal die KoeppenPhilologie schon länger um die Existenz des umfangreichen Manuskriptkonvoluts wusste.3 Dennoch konnte die Forschung bisher die Materialien kaum nutzen, lagen doch die über 1450 Blatt unerschlossen in einer Anordnung, die vermutlich nicht auf den Autor zurückgeht, verstreut über 35 Mappen. Wie ein Labyrinth, ein wucherndes Rhizom, ein Wirrwarr erscheint dieses Konvolut. Es spiegelt paradigmatisch Koeppens Arbeitsweise: unsystematisch, diskontinuierlich, eruptiv, langwierig, immer wieder neuansetzend, verwerfend, überschreibend, korrigierend und stagnierend. Im Verhältnis zum publizierten Text erstreckt sich eine Fülle von meist undatierten Textstufen, nicht eindeutig zuzuordnenden literarischen Entwürfen, Reflexionen zu Schreibverfahren, Umfangsberechnungen und Arbeitsmaterialien, Verworfenem und Wiederaufgenommenem. Es handelt sich überwiegend um Typoskripte, häufig mit handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen, sowie um vereinzelte Manuskripte. Anhand spärlich vorhandener Datierungen wird erkennbar, dass Koeppen bereits seit den frühen 1960er Jahren an Jugend (1976) gearbeitet hat. Sein Arbeitsprozess verlief dabei nur partiell teleologisch oder linear; der Autor lässt sich als ein „prozeßorientierter Allesschreiber“ charakterisieren, der „sich sozusagen vom Sog des Schreibens selbst tragen und leiten“ lässt,4 ohne stets auf das Endprodukt fokussiert zu sein; der Buchtext scheint vielmehr aus dem Schreibprozess heraus generiert worden, dem Autor vielleicht auch abgerungen worden zu sein und lässt sich nicht als erklärtes Ziel ausmachen. Einzelne Sequenzen des Buchtextes hatte Koeppen bereits seit den späten 1960er Jahren an verschiedenen Stellen eigenständig publiziert.5 Die Erschließung und Edition des Nachlass-Konvoluts soll es nun erstmals ermöglichen, das Buch Jugend im Blick auf seine Entstehungskontexte lesbar zu machen. Dazu wird die Leseausgabe im Rahmen der Ausgabe Wolfgang Koeppen: Werke6 –––––––— 3 4
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Vgl. z.B. Günter und Hiltrud Häntzschel: Wolfgang Koeppen. Leben – Werk – Wirkung. Frankfurt/M. 2006 (Suhrkamp BasisBiographie 12), S. 114. Almuth Grésillon: Literarische Schreibprozesse. In: Domänen- und kulturspezifisches Schreiben. Hg. von Kirsten Adamzik, Gerd Antos und Eva-Maria Jakobs, Frankfurt/M. u. a. 1997, S. 239–253, hier S. 241. Zu dieser Unterscheidung siehe auch: Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die „critique génétique“. Bern u.a. 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft Bd. 4), S. 132ff. Zwar finden sich in Koeppens Nachlass auch diverse Konzeptionspapiere für seine Prosa; im Zuge der Umsetzung dieser Pläne scheint der Autor im Schreiben dann aber eher prozess- denn produktorientiert vorgegangen zu sein. Wolfgang Koeppen: Anamnese. In: Merkur 239, 22. Jg. Heft 3, März 1968, S. 252–259; Ders.: Jugend. Eine Erinnerung. In: Merkur 273, 25. Jg. Heft 1, Januar 1971, S. 43–58; Ders.: Vom Tisch. In: text+kritik 34/1972, S. 1–13; Ders.: Von Anbeginn verurteilt, in: Merkur 257, 23. Jg. Heft 9, September 1969, S. 835–845; Ders.: Als ich Gammler war. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 236, 11.10.1969. Die Ausgabe Wolfgang Koeppen: Werke, herausgeben von Hans-Ulrich Treichel, versieht die Texte in ihrer Gestalt entsprechend den Erstausgaben jeweils mit einem umfangreichen Kommentar. Sie ist auf 16 Bände angelegt und erscheint seit 2006 im Suhrkamp Verlag, Berlin. Der Band 7 (Jugend) soll 2015 erscheinen (hg. von Eckhard Schumacher).
Wolfgang Koeppens Textwerkstatt als editorische Herausforderung Jugend
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Option, in andere Materialzugänge zu gelangen. Die Idee ist jedoch, diesen Zugang so reduziert wie möglich zu halten und damit eine ‚reine‘ Textlektüre zu ermöglichen. Ein zweiter Zugang öffnet den Blick ins Archiv: Hier findet der Nutzer alle Dokumente des dossier génétique zu Jugend sowie die Vorabpublikationen.10 Neben hochauflösenden, vergrößerbaren Faksimiles, die durch eine umfassende Metadatenstruktur mit durchsuchbaren Textträger-Parametern wie Papierformat, -farbe, Wasserzeichen, Beschädigungen etc. ergänzt werden, steht hier eine XML-basierte Transkription des maschinenschriftlichen Textes sowie der handschriftlichen Änderungen und Ergänzungen zur Verfügung. Dabei wird in der Visualisierung unterschieden zwischen der Grundschicht (Maschinenschrift inklusive maschinenschriftliche Sofortkorrekturen) und der Änderungsschicht, wobei durch die detaillierte Auszeichnung der einzelnen Schreibmedien (z. B. blauer vs. grüner Kugelschreiber) optional die Möglichkeit besteht, einzelne Korrekturschichten separiert einzublenden. Alle Entscheidungen der HerausgeberInnen sind durch die Betrachtung der Faksimiles jederzeit hinterfrag- und überprüfbar.11 Für die XML-Auszeichnung der einzelnen Textträger, die zuvor mit einer Texterkennungssoftware bearbeitet werden, nutzen wir das in Trier für die Edition der Werke Arthur Schnitzlers entwickelte Tool Transcribo,12 ein Werkzeug zur Erfassung und Transkription von Manu- und Typoskripten, das für die Spezifika der Koeppen-Texte angepasst wird; eine TEI-konforme Konvertierung des Datenbestands ist nach Abschluss der Editionstätigkeit für die Langzeitarchivierung vorgesehen.
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Für die Edition sind diese Publikationen (vgl. Fußnote 5) erstmals systematisch mit dem Text der Erstausgabe abgeglichen worden. Die Überprüfbarkeit der editorischen Entscheidungen erscheint als ein wichtiger Baustein hinsichtlich der angestrebten Transparenz. Da es sich überwiegend um Typoskripte handelt und Koeppens Handschrift verhältnismäßig gut lesbar ist, kann davon ausgegangen werden, dass sich der Nutzer auch ohne dezidierte Kenntnisse orientieren kann. Es sind vor allem vereinzelte, komplexe Überarbeitungen einzelner Satzteile, bei denen die Festlegung der Reihenfolge der Änderungen der Interpretation bedarf. Vgl. dazu Jens Stüben: „Unter Mithilfe der Interpretation müssen die einzelnen Überarbeitungsstufen einer Textstelle voneinander geschieden und muß die (belegbare oder vermutete) Abfolge der Arbeitsschritte und Korrekturschichten bestimmt werden.“ Jens Stüben: Edition und Interpretation. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H.T.M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 263–302, hier S. 278. Stüben widmet sich dem komplexen Spannungsverhältnis zwischen Edition und Interpretation in umfassender Weise. Zuletzt widmet er sich dem Zusammenhang von „Kommentierung und Interpretation" und hält als Schlussplädoyer fest: „Es kommt auch bei der Kommentierung – wie bei allen editorischen Tätigkeiten – nicht darauf an, die Interpretation um jeden Preis zu meiden, sondern im Gegenteil darauf, sich ihrer Unterstützung zu bedienen, sie jedoch als solche zu kennzeichnen, um Subjektivität intersubjektiv mitteilbar und überprüfbar zu machen.“ Ebd., S. 302. Vgl. dazu einführend die Homepage zur Vorstellung der Software: „Bei Transcribo handelt es sich um eine RCP-Anwendung, die mit Hilfe der integrierten Entwicklungsumgebung Eclipse erstellt wurde. Der Einsatz der Programmiersprache Java ermöglicht eine plattformunabhängige Nutzung. […] Der beim Arbeiten transkribierte Text und die hinterlegten Annotationen werden von Transcribo in einer separaten XML-Datei gespeichert, die mit der Bilddatei verknüpft wird. In diese Datei werden sämtliche Daten geschrieben, die Bilddatei bleibt unverändert. Die Codierung dafür erfolgt in proprietärem XML, das es ermöglicht, unkompliziert auch Metadaten zu vergeben, für die bislang noch keine gültigen Standards nach TEI existieren. Eine spätere Überführung in TEI-konformen Standard ist gewährleistet.“ http://transcribo.org/de/ueber-transcribo/technische-standards/ (01.08.2014).
Wolfgang Koeppens Textwerkstatt als editorische Herausforderung
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Ein Suchfeld in der Metanavigation ermöglicht über alle Zugänge eine Volltextsuche.13 Innerhalb des hier erläuterten zweiten Zugangs „Texte“ ist darüber hinaus auch eine erweiterte Suche integriert; diese Suche bietet alle in der Datenbank vermerkten Textmerkmale als Eingabefeld, wobei diese Eingabefelder nach Sachzusammenhängen (Bsp. Eigenschaften des Papiers: Format, Gewicht etc.) gruppiert werden und optional in Vollständigkeit angezeigt werden können, um bei der ersten Ansicht der Suche eine Überfrachtung des Suchformulars zu vermeiden und die Suche nutzerfreundlich zu strukturieren. Bei der Erfassung der Dokumente wurden neben den Metadaten für jeden Textträger auch Parameter wie Motive/Themen, Figuren, Eigennamen, Schauplätze und reale Orte erfasst. Dabei vermengen und bedingen sich Textverstehen und Interpretation. Dieses Modell, das die Edition zunehmend zu einer textgenetisch-interpretatorischen werden lässt, basiert auf einem postulierten Nutzerinteresse: Das Dossier soll durchsuchbar werden, auch hinsichtlich bestimmter Motive oder Eigennamen, die unter Umständen durch differente Schreibweisen oder fehlende Schlagworte über eine Volltextsuche nicht zu erfassen wären.14 Dass Nutzer dieses Interesse haben könnten, das wir nun antizipieren möchten, liegt in der Struktur des Ausgangsmaterials begründet, denn innerhalb des rhizomatischen Textgeflechts finden sich häufig wiederkehrende Motive, Orte etc., deren paralleles Lesen neue Lesepfade durch das Konvolut eröffnet. Es eröffnen sich häufiger andere Zusammenhänge als die, die der Buchtext nahe legt; es zeichnen sich dadurch andere Möglichkeiten der Textstrukturierung und mithin der Narration ab. So ist beispielsweise in der ersten Sequenz das Motiv der Schlange präsent: „Meine Mutter fürchtete die Schlangen.“15 Durch eben dieses Motiv entsteht eine Verbindung zur letzten Sequenz des Buchtextes („Ich schrieb, meine Mutter fürchtete die Schlangen.“16) sowie zu zahlreichen weiteren Sequenzen, zu Varianten sowie Sachbuchexzerpten. Das von HerausgeberInnen angelegte Register mit dem entsprechenden Eintrag „Schlange“ ist in die Suche integriert und kann in der jeweiligen Suchkategorie aufgerufen werden. Der vorgesehene dritte Zugang zum Material zeigt die Entstehung des Textes. Hier werden zu jeder Sequenz genetische Pfade präsentiert. Häufig findet sich zu einer Sequenz eine Reihe von zumeist undatierten Varianten, die sich zum Teil nur geringfügig voneinander unterscheiden. Diese Texte in eine gesicherte chronologische Abfolge zu bringen ist mitunter kaum möglich. Um jedoch die textgenetischen Zusammenhänge, die wir hypothetisch benennen können, adäquat abzubilden, ordnen wir die Typoskripte virtuell in Gruppen an. Im Zweifelsfall werden Varianten so eher parallelisiert denn hierarchisiert. Eine Gruppe kann dabei aus einem oder beliebig vielen –––––––— 13
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Diese Suche ist mit der im Folgenden erläuterten erweiterten Suche verknüpft, denn über entsprechend formulierte Suchanfragen können auch einzelne Felder der Datenbank angesprochen bzw. bedingte Suchen realisiert werden. Über die Auto-Vervollständigen-Funktion werden NutzerInnen relevante Suchworte aus indizierten Werten der Datenbank vorgeschlagen. Eine stellengenaue Auszeichnung ist nicht vorgesehen, da sich gezeigt hat, dass zum einen die Typoskripte als Faksimiles gut lesbar sind, zum anderen Motive häufig nicht durch das Auftreten eines auszuzeichnenden Signalwortes zu identifizieren sind. Da eine von den Indizes separierte Volltext-Suche für den User möglich ist, halten wir dieses Vorgehen für vertretbar. Wolfgang Koeppen: Jugend. Frankfurt/M. 1976, S. 9. Ebd., S. 142.
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Katharina Krüger
Dokumenten bestehen, die jeweils aufgrund bestimmter textueller oder metatextueller Eigenschaften gruppiert werden und zu den anderen Gruppen in eine VorgängerNachfolger-Relation gebracht werden können. Befund und Deutung lassen sich dabei kaum voneinander trennen, die Darstellung der Textgenese wird entsprechend auch aus interpretatorischen Überlegungen heraus generiert und in der Edition schließlich als genetischer Pfad visualisiert. Die zugrunde liegenden textgenetischen Hypothesen, aus denen die Anordnung und Abfolge der Gruppen resultieren, werden dabei in einem frei formulierten Text von den HerausgeberInnen erläutert. Diese Rekonstruktion der Textgenese bleibt jedoch gelegentlich kontingent und kann vom Leser in Zweifel gezogen werden. Die textgenetische Ansicht stößt jedoch auch im digitalen Medium an Grenzen, denn die Linearität von oben nach unten entspricht den etablierten Gewohnheiten der Nutzer und lässt sich schwer durch eine weniger hierarchisierend wirkende Ansicht ersetzen. Ein vierter Zugang schließlich eröffnet die Möglichkeit des maschinellen Textvergleichs. Dazu können nach spezifischen Kriterien ausgewählte Texte des Dossiers miteinander kollationiert werden; der Grad der Ähnlichkeit wird durch graphische Abstufungen visualisiert. Dieser Zugang könnte gerade bei einer Vielzahl von Varianten zu einer Sequenz, die sich oft nur geringfügig voneinander unterscheiden, eine vernetze Darstellung ermöglichen, aus der Textzusammenhänge leichter zu erkennen sind, als es bei einer üblichen synoptischen Darstellung möglich zu sein scheint. Durch den zuletzt genannten statistischen Zugang, die textgenetische Rekonstruktion sowie durch die Suche mit implementiertem Register gelingt es, das Konvolut umfassend zu vernetzen, was nur digital in dieser Form möglich ist. Damit verfolgt die Edition ein zweifaches Ziel: Erstmals soll die Grundlage dafür geschaffen werden, dass Forschung zu Koeppens Jugend durch die umfassende Erschließung und Zugänglichmachung des Materials überhaupt möglich wird; zugleich bietet die Edition aber auch bereits mögliche Lesepfade durch das Material an und kann dadurch zu neuen Fragestellungen anregen, auch über Jugend hinaus das Spätwerk Wolfgang Koeppens betreffend.
Judith Lange, Claudia Schumacher
Vom Nutzen der Editionen: Ein Aufriss der Editionsgeschichte anhand der Sammlung Des Minnesangs Frühling
Die Meinungen darüber, wie die Arbeit mit Texten auszusehen hat und mit welchen wissenschaftlichen (philologischen) Methoden Texte aus der Überlieferung hergestellt werden sollten, gehen bis heute auseinander. Wie umstritten die Frage nach der angemessenen Editionstechnik tatsächlich ist und welchen Wandel die Wissenschaft über knapp zwei Jahrhunderte durchlief, lässt sich besonders gut an der Lyrikanthologie Des Minnesangs Frühling nachzeichnen. Dabei können zur Analyse zum einen die Vorworte der einzelnen Herausgeber, in der sie die Anlage ihrer Edition erläutern, sowie zum anderen der tatsächliche Aufbau der Sammlung herangezogen werden. Die Anthologie eignet sich besonders gut zur Analyse der editionswissenschaftlichen Methoden und ihrer Veränderung, denn das Gesamtkonzept, welches noch von Karl Lachmann selbst erstellt wurde,1 ist bis zur neuesten Ausgabe nahezu unangetastet geblieben. Die Dichtersammlung wurde bis heute nur wenig in ihrem Textbestand verändert und auch das grundsätzliche Verständnis von ihrem Zweck blieb dasselbe. Die Methoden zur Umsetzung des Sammelwerkes änderten sich im Laufe der Fachgeschichte allerdings deutlich.
Edition und Wissenschaft – Von der Textkritik zum Leithandschriftenprinzip Vorüberlegungen Was ist die Edition eines mittelalterlichen Textes? Sie ist ein restaurierter Text, der aus einer wie auch immer gearteten Überlieferung durch Zusammenschau seiner Überlieferungsträger konstruiert wird. Dabei war es lange Zeit das höchste Ziel dieser Rekonstruktionsversuche, einen Text wiederzugewinnen, bei dem man davon ausging, er sei der vom Autor selbst intendierte.
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Einen guten Überblick über die Rolle Karl Lachmanns für die Entstehung der Anthologie und wie diese sich in Briefen und Zeitzeugnissen widerspiegelt zeigt Jens Haustein: Minnesangs Vorfrühling? Zu (MF 3,1–6,31). In: Edition und Interpretation. Neue Forschungsparadigmen zur mittelhochdeutschen Lyrik. Festschrift für Helmut Tervooren. Hg. von Johannes Spicker. Stuttgart 2000, S. 21–31, hier S. 21–24.
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Judith Lange, Claudia Schumacher
Karl Lachmann und die Textkritik/textkritische Methode Die Geschichte der textkritischen Methode in der altgermanistischen Editionswissenschaft beginnt mit Karl Lachmann,2 einem Philologen des 19. Jahrhunderts mit beeindruckender Vita. Mit 16 Jahren schloss Lachmann 1809 seine Schullaufbahn mit dem Abitur ab; mit 21 Jahren habilitierte er in Göttingen über klassische Philologie, nachdem er Theologie, klassische Philologie und Altdeutsch studiert hatte. Ein Jahr später wurde Lachmann Lehrer in Berlin und habilitierte 1816 erneut; dieses Mal über das Nibelungenlied. Im selben Jahr arbeitete er als Gymnasiallehrer in Königsberg und wurde dort zwei Jahre später Extraordinarius für klassische Philologie und deutsche Literatur. 1825 wurde er an die Berliner Universität berufen und ab 1829 leitete er dort die lateinische Abteilung des philologischen Seminars. Karl Lachmanns Werdegang kann als Bilderbuchkarriere betrachtet werden. Er erwarb in zwei Fachrichtungen eine hohe Reputation: in der klassischen Philologie und in der Altgermanistik. Diese doppelte Fachzugehörigkeit legte den Grundstein für seine spätere Arbeit als Editor, in der er richtungweisend Methoden der klassisch-philologischen Editionswissenschaft auf mittelhochdeutsche Texte anwendete. Er gilt als Begründer der wissenschaftlichen textkritischen Recensio.3 Wurde vorher nach nur einer Handschrift ediert, stellte Lachmann nun die Überlieferungen eines Textes vergleichend zusammen – er kollationierte. Er vertrat die Ansicht, dass man zur Rekonstruktion der ursprünglichen Form eines Textes mindestens vier oder fünf Textzeugen heranziehen müsse. Generell ging er davon aus, dass, wenn man mehrere Handschriften als Überlieferungsträger ein und desselben Textes hat, stets die größte Anzahl gleicher Lesarten und/oder die älteste Lesart maßgebend sind. Lachmanns Methode fußt auf dem Ideal der Rekonstruktion des originären Dichterwortes mithilfe von Stemmata. Zudem nahm er eine allgemeine Dichtersprache an und betrachtete die handschriftlich überlieferten Dialekte als von Schreibern verursachte Verderbnisse. In seiner Auswahl aus den hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts4 verleiht Lachmann der Idee einer allgemeinen Dichtersprache des Hochmittelalters Ausdruck: „Denn wir sind doch eins, daß die Dichter des dreizehnten Jahrhunderts, bis auf wenig mundartliche Einzelheiten, ein bestimmtes unwandelbares Hochdeutsch redeten, während ungebildete Schreiber sich andere Formen der gemeinen Sprache, theils ältere, theils verderbte, erlaubten.“5 Zu für ihn auftretende Ungereimtheiten in den Handschriften hat Lachmann folgende Erklärung: „endlich manche grammatische Unsicherheit ist zum Theil vielleicht Schreibfehler, anderes Mißbrauch, den man dem Dichter selbst zuzuschreiben kein Recht hat.“6 Sein –––––––— 2 3
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Vgl. Günther Schweikle (Hg.): Die mittelhochdeutsche Minnelyrik I. Die frühe Minnelyrik. Darmstadt 1977, S. 1. Vgl. Hans-Gert Roloff: Karl Lachmann, seine Methode und die Folgen. In: ders.: Geschichte der Editionswissenschaft vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick. Berlin 2003, S. 64f. Recensio: Rekonstruktion des Archetypus mit Hilfe der erhaltenen Textzeugen. – Vgl. Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. In: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Kleine Schriften I. Hg. von Jens Haustein. Göttingen 1997, S. 5. Karl Lachmann: Auswahl aus den hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts. Berlin 1820. Ebd., S. VIII. Ebd., S. IX.
Ein Aufriss der Editionsgeschichte anhand der Sammlung „Des Minnesangs Frühling“
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generelles Anliegen für seine Ausgaben drückte Lachmann wie folgt aus: „Mein Hauptbestreben ging darauf, eine alterthümliche, aber genaue Rechtschreibung7 einzuführen.“8 Die in den Handschriften vorliegenden ,Verderbnisse‘ versuchte Lachmann bei der Rekonstruktion des Dichterwortes mithilfe von Konjektur und Emendation zu heilen. Hierbei erstellte er Archetypen, die seiner Ansicht nach zwar nicht vollständig das originäre Dichterwort wiedergaben, aber doch sehr nah an dieses heranreichten. Durch die Anwendung der Recensio-Technik wurde durch Lachmann eine neue Epoche der Edition mittelhochdeutscher Texte eingeleitet.9 Lachmann hat seine theoretischen Ansätze und seine Vorstellungen zur Herangehensweise nie programmatisch gefasst und nie auf den Punkt gebracht niedergeschrieben – und das, obwohl sich in der Folge eine ganze Schule auf ihn bezog. Ein genaueres Bild über die lachmann�sche Vorgehensweise zeichnet eine Rezension, die Lachmann 1817 in der Jena�schen Allgemeinen Literaturzeitung über Friedrich Heinrich von der Hagens zweite Ausgabe des Nibelungenliedes und Georg Friedrich Beneckes Edition von Boners Edelstein veröffentlichte. An beiden Schriften wird schonungslos Kritik geübt, wobei Lachmann sein eigenes textkritisches Ziel hervorhebt. Er postuliert, dass ausschließlich aus guten und nicht aus allen Handschriften eine Textfassung erarbeitet werden müsse, die das Original darstellt oder ihm zumindest sehr nahe kommt.10 Es ist anzumerken, dass Lachmann nie expliziert hat, was genau eine gute Handschrift ausmacht. Anhand seiner Editionen lässt sich aber beobachten, dass dies meist (nicht immer) die ältesten Handschriften sind. 11 Bereits unter seinen Zeitgenossen fanden sich Kritiker, die einzelne Aspekte an Lachmanns Verfahren zur Textherstellung beanstandeten.12 Kritik an Lachmanns Methode und das Leithandschriftenprinzip Etwa zeitgleich zu Lachmanns Textkritik entwickelten sich auch andere philologische Strömungen, die sich allerdings zunächst nur schwer durchzusetzen vermochten. So beispielsweise Friedrich Heinrich von der Hagens Leithandschriftenprinzip, nach dem –––––––— 7
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Diese Rechtschreibung hat Einzug in den Exempelhaushalt der Grammatiken und Wörterbücher gehalten. Zu nennen seien hier Lexers mittelhochdeutsches Wörterbuch (1. Auflage 1879) und Hermann Pauls mittelhochdeutsche Grammatik (1. Auflage 1881). Da beide Werke noch heute Standardwerke für den universitären Unterricht sind und wichtige Werkzeuge zur Erschließung mittelhochdeutscher Texte darstellen, nehmen Lachmanns Ideale bis heute Einfluss auf das Bild des Mittelhochdeutschen. Dieser Umstand ist zum einen darauf zurückzuführen, dass nach wie vor viele ältere Ausgaben für den universitären Unterricht genutzt werden (so Lachmanns Parzival-Ausgabe). Zum anderen bedienen sich aber auch aktuelle Editionen nach wie vor des Normalmittelhochdeutschen und verändern den Lautstand der zugrundeliegenden Handschriften stark. Ebd., S. XI. Vgl. Roloff (2003), S. 66ff. Vgl. Roloff (2003), S. 67. Zu Lachmanns großen mittelhochdeutschen Editionen zählen das Nibelungenlied (1826), Iwein (1827), die Lieder Walthers von der Vogelweide (1827), der Parzival Wolframs von Eschenbach (1833), der Gregorius Hartmanns von Aue (1838), die Lieder Ulrichs von Lichtenstein (1841) sowie Des Minnesangs Frühling (mit Haupt, 1857). Vgl. Roloff 2003, S. 76.
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Ein Aufriss der Editionsgeschichte anhand der Sammlung „Des Minnesangs Frühling“
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zu beschreiten. Vor allem Karl Stackmann wies darauf hin, dass das von Lachmann propagierte Verfahren in der Regel nicht erfolgreich auf die aus dem Mittelalter überlieferten Texte angewendet werden könne. Es sei weder von einer geschlossenen, vertikal verlaufenden Überlieferung, die sich in ein Stemma übertragen ließe, auszugehen noch von der Annahme, die Schreiber hätten nach dem Vorsatz kopiert, den getreuen Wortlaut ihrer Vorlagen zu übernehmen.17 Durch die immer stärker hervortretende Kritik an der „Missachtung der handschriftlichen Überlieferung“18 entwickelte sich im Laufe der Zeit auf Basis der schon bestehenden Leithandschriftenverfahren eine modifizierte Variante der Methode, die in der Vergangenheit als radikaler Kontrapunkt zur lachmannschen Textkritik bewertet wurde.19 Besonders die Lyrikphilologie – zu nennen sind hier vor allem die Des Minnesangs Frühling-Ausgabe von Hugo Moser und Helmut Tervooren sowie Günther Schweikles Ausgabe Mittelhochdeutsche Minnelyrik20 – nahm eine wichtige Vorreiterstellung in diesem Prozess ein. Anstelle der lachmannschen Vorstellung eines Archetyps rückte die Überlieferung selbst ins Zentrum der Edition; anstatt des verlorenen ,Originals‘ präsentierte man historisch verbürgte (d. h. überlieferte) Texte. „Der Text mußte [...] in engem Anschluß an die Überlieferung aufgebaut werden, und zwar so, daß der mögliche Eigenwert der Überlieferung nicht angetastet wurde.“21 Trotz ähnlicher Zielsetzung der Philologen war die Umsetzung der Präsentation der überlieferten Texte durch große Unterschiede in der Anwendung des Leithandschriftenprinzips geprägt. Während Hugo Moser und Helmut Tervooren in ihren Ausgaben für jede Strophe die Frage nach der Leithandschrift diskutierten, setzte sich Günther Schweikle für ein konsequentes Leithandschriftenverfahren nach einem Überlieferungsträger ein. Des Minnesangs Frühling Lange vor Moser und Tervooren und deren Leithandschriftenverfahren schrieb Friedrich Vogt im Vorwort zu seiner Neuausgabe von Des Minnesangs Frühling22 (1911): „Möge sich das altbewährte Werk, für das wir Lachmann und Haupt zu unvergänglichem Dank verpflichtet bleiben, auch in seiner neuen Gestalt Lernenden und Forschenden nützlich erweisen zum rechten Verständnis und Genuß unseres ältesten Lie–––––––—
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Vgl. Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Kleine Schriften I. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997, S. 8f. Ingrid Bennewitz: „Eine Sammlung von Gemeinplätzen?“ Die Waltherüberlieferung der Handschrift E. In: „Dâ hoeret ouch geloube zuo“: Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang. Beiträge zum Festcolloqium für Günther Schweikle anlässlich seines 65. Geburtstages. Hg. von Rüdiger Krohn. Stuttgart 1995, S. 28. Vgl. Thomas Bein: Die mediävistische Edition und ihre Methoden. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth et al. Berlin 2000, S. 85. Günther Schweikle (Hg.): Mittelhochdeutsche Minnelyrik. I. Frühe Minnelyrik. Texte u. Übertragungen. Einführung und Kommentar. Stuttgart, Weimar 1993. Aus dem Vorwort zu Heinrich von Morungen: Lieder. 3., bibliographisch erneuerte Auflage. Hg. von Helmut Tervooren. Stuttgart 2003, S. 8. Im weiteren Text in der Regel MF genannt.
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derschatzes wie zur Förderung der mannigfachen Probleme, die er immer noch der Wissenschaft bietet.“23 Dieser Satz könnte – selbstverständlich sprachlich etwas angepasst – bisher in jeder Ausgabe von MF stehen, so auch in der gerade neu entstehenden.24 MF war und ist spätestens seit Vogts Ausgabe von 1911 eine Lyrikanthologie, anhand derer das Phänomen Minnesang Studierenden nahegebracht und von Wissenschaftlern erforscht wird. Deutlich geändert haben sich allerdings die Darbietung der Texte innerhalb der Lyriksammlung und die editionsphilologischen Methoden, mit Hilfe derer diese Texte aus der Überlieferung erarbeitet wurden. Interessant ist hierbei, dass Lachmann selbst die Arbeit an MF als „Arbeit für das zwanzigste Jahrhundert“ bezeichnete, von der er (aus heutiger Sicht zurecht) glaubte, dass „es doch unsre Enkel Dank wissen, wenn wir ihnen etwas nachgelassen haben woran sich anknüpfen lässt“25. Jens Haustein liest aus diesen Zeilen, Lachmann habe die Arbeit an der Ausgabe „im Grunde [als] unzeitmäßig empfunden“26 und er habe damit gerechnet, dass die Sammlung, sollte sie denn erscheinen, von Zeitgenossen hauptsächlich kritisiert würde;27 ihr „wahrer Wert kann erst den Enkeln deutlich [werden]“28. Der „Enkel Dank“ und Fortschritte in den Herangehensweisen zeigen sich in allen Vorworten der Lyrikanthologie. Bei aller Wahrung der Tradition, der MF unterliegt, zeigt sich, dass die Herausgeber mit durchaus abweichendem Verständnis, wie philologisches Vorgehen auszusehen hat, an ihre Arbeit gingen. So hebt beispielsweise Carl von Kraus in seinem Vorwort zur 33. Ausgabe hervor, er arbeite nach streng philologischen Methoden. Dies bedeutet für Kraus aber, anders als in der modernen Editionsphilologie, eben gerade nicht, sich nur zum „Abschreiber des Abschreibers“29 zu machen. Vielmehr soll das ‚echte Dichterwort‘ aus der als schlecht bewerteten Überlieferung erarbeitet werden. Den edierten Quellen wird entsprechend der Geist des Autors wieder eingehaucht. Philologisches Verfahren ist hier also in gewisser Weise tatsächlich im Wortsinn begriffen: Die Liebe zum Wort zeigt sich in der Rekonstruktion unter ästhetischen Gesichtspunkten, wobei die Überlieferung lediglich das Material darstellt, aus dem das archetypische Dichterwort herausgearbeitet wird. Im Folgenden wird der Wandel der Editionswissenschaft in der mediävistischen Germanistik am Beispiel von MF näher in den Blick genommen. Dafür werden hauptsächlich vier verschiedene Ausgaben des Werkes herangezogen, die von den bisherigen vier Bearbeitern dieser Lyrikanthologie erstellt worden sind. Die erste Ausgabe von Karl Lachmann und Moritz Haupt (1857), die Neubearbeitung von Friedrich –––––––—
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Des Minnesangs Frühling. Mit Bezeichnung der Abweichungen von Lachmann und Haupt und unter Befügung ihrer Anmerkungen. Neu bearbeitet und hg. von Friedrich Vogt. Leipzig 1911, S. XV. Zurzeit wird eine neue Ausgabe von MF von Freimut Löser, Dorothea Klein und Franz-Josef Holznagel erarbeitet. Briefe von Karl Lachmann. In: Germania. Deutsche Zeitschrift für Altertumskunde 13 (1868), S. 494– 495, hier S. 494. Haustein (2000), S. 23. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Des Minnesangs Frühling. Nach Karl Lachmann, Moritz Haupt und Friedrich Vogt. Neu bearbeitet und hg. von Carl von Kraus. Stuttgart 331965, S. VII.
Ein Aufriss der Editionsgeschichte anhand der Sammlung „Des Minnesangs Frühling“
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Vogt (1911), die 33. Auflage von Carl von Kraus (1965 – zurückgehend auf die Ausgabe von 1943) sowie die 38. Auflage von Hugo Moser und Helmut Tervooren (1988 – zurückgehend auf die Ausgabe von 1977). Die Bearbeiter von MF haben in ihren Ausgaben ihre eigenen Editionsmethoden angewendet, die sich an den wissenschaftlichen Erkenntnissen und Vorlieben ihrer Zeit orientieren. Entsprechend kann man schrittweise die Veränderungen der Herangehensweisen in der mediävistischgermanistischen Editionswissenschaft anhand der Ausgaben dieses Werkes nachvollziehen. Generell hat die Lyrikanthologie Des Minnesangs Frühling „wohl durchdachte und beschreibbare theoretische Grundlagen [...] und“, so fordern Hugo Moser und Helmut Tervooren, „jeder Editor sollte genau Rechenschaft ablegen über die von ihm verwendeten Kriterien und über die ihn leitenden Überlegungen.“30 Jedoch „haben [...] frühere [...] Herausgeber [...] Karl Lachmann, Moritz Haupt, Wilhelm Wilmanns, Friedrich Vogt und Carl von Kraus [diese Forderung] nur in sehr unvollkommener Form erfüllt.“ Dennoch begeben wir uns neben der Analyse des Aufbaus – der Ordnung der Kapitel, der Reihung der aufgenommen Autoren u. ä. – in den Vorworten auf die Suche nach Bemerkungen zu den verwendeten Kriterien. Schließlich suchen wir, den Veränderungen in den editorischen Herangehensweisen auf die Spur zu kommen.
1. Aufbau und Editionsprinzipien – die Anlage (anhand des Œuvres Heinrichs von Veldeke) Die Anlage der Sammlung lässt sich besonders gut anhand der Edition des Œuvres Heinrichs von Veldeke exemplifizieren. Dazu muss gesagt werden, dass der mutmaßlich aus dem maasländischen Raum stammende Heinrich eine besondere Stellung innerhalb des Sammelwerkes einnimmt. Es gab von der ersten Auflage des Werkes an die Bestrebungen, das Gesamtwerk Heinrichs in das Altlimburgische, d. h. in einen niederdeutschen Dialekt, zu übertragen und die Sprache des Dichters zu rekonstruieren.31 Jedoch verfuhren alle Bearbeiter der Lyrikanthologie unterschiedlich mit Heinrichs Dichtung und (fast alle) äußern sich zum Umgang mit dem Dichter und seinem Sprachstand in ihren Vorworten. In allen Ausgaben wurden anhand dieses Œuvres die eigene Editionspraxis und deren Prinzipien auf die Probe gestellt – es zeigt sich hieran deutlich, wo sich die Editoren selbst Grenzen setzten und diese überschritten. In der ersten Ausgabe erscheint das Werk Heinrichs in normalmittelhochdeutscher Form, obwohl schon Karl Lachmann und Moritz Haupt durchaus in Erwägung zogen, es in einen niederdeutschen Sprachstand zu transferieren. Für wichtiger als die Wiedergabe der Gedichte in der Mundart ihres Autors befanden beide Editoren je–––––––— 30 31
Die Erläuterungen zu MF werden in diesem Artikel MF II genannt. Der Erläuterungen-Band wurde 1977 von Moser und Tervooren herausgebracht – ergänzend zum Text-Band von MF. – MF II, S.7. Folgt man Lachmanns Streben nach dem originären Dichterwort, dann folgt für die Dichter aus niederdeutschem Sprachgebiet: es wurde für diese, anders als bei mitteldeutschen Dialekten, nicht angenommen, dass sie sich einer oberdeutschen „Dichtersprache“ bedient hätten.
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doch, dass die Übertragung auf gesichertem Grund steht und eine gleichförmige, belegte Mundart wiedergibt. Moritz Haupt schreibt hierzu erläuternd in seinem Vorwort zur ersten Ausgabe von Des Minnesangs Frühling: treuer als unbedingtes streben nach dem echten es geduldet hätte ist die überlieferung in den liedern Heinrichs von Veldeke befolgt worden. aber die geringe kunst sie in eine gleichförmige niederdeutsche mundart umzuschreiben, habe ich so wenig wie Lachmann üben wollen, da sichere gewähr solcher gleichmässigkeit fehlte. vielleicht sind aus dem vor kurzem aufgefundenen Servatius festere bestimmungen der mundart des dichters zu gewinnen; dass er aber der sprache seiner heimat in der fremde durchgängig treu geblieben sei wird sich schwerlich erweisen lassen.32
Wilhelm Wilmanns33 belässt die Gedichte Veldekes ebenfalls in der von Haupt erarbeiteten Form. Als Begründung führt er an, es habe von Haupts Seite nie den Versuch einer Übertragung ins Mittelniederdeutsche gegeben, auf die er sich hätte stützen können.34 Er vermerkt hierzu Folgendes: auch die lieder Heinrichs von Veldegge und Heinrichs von Morungen glaubte ich (...) in der form belassen zu sollen, die ihnen in der ersten ausgabe gegeben war; denn nirgends, auch nicht in seinem handexemplar, hat Haupt den versuch gemacht, die mundart der dichter herzustellen.35
Der Text zu Heinrich von Veldeke, hier als IX. HER HEINRICH VON VELDEGGE bezeichnet, beginnt auf S. 56. Es befindet sich eine Verszählung am Rand, ansonsten steht der Text allein.
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Ez sint guotiu niuwe mâre, daz die vogel offenbâre singent dâ man bluomen siet. zuo den zîten in dem jâre stüende wol daz man frô wâre: leider des enbin ich niet. mîn tumbez herze mich verriet, daz ich muoz unsanfte und swâre tragen leit daz mir geschiet.
Auch Friedrich Vogt hält seine Gedanken zum Œuvre Heinrichs von Veldeke im Vorwort36 zu seiner überarbeiteten Neuausgabe von 1911 fest: Eine Sonderstellung nimmt Heinrich von Veldeke ein. Hier konnten weder die hochdeutschen Handschriften mit ihren Vers- und Reimstellungen befolgt werden, noch durfte ich durch Einsetzung nur der für Reim und Vers erforderlichen niederländischen Formen in ei-
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Des Minnesangs Frühling. Hg. von Karl Lachmann und Moritz Haupt. Leipzig 1857, S. VIIf. Wilhelm Wilmanns ist der zweite Bearbeiter der Lyrikanthologie. Bis 1911 hatten sowohl die Erben Moritz Haupts als auch der Verlag Änderungen an MF untersagt. Es ist also anzunehmen, dass Willmans nur dann die Textgestalt hätte ändern können, wenn dies konkret auf Versuche Haupts zurückgegangen wäre. Des Minnesangs Frühling. Hg. von Karl Lachmann und Moritz Haupt. Besorgt von Wilhelm Wilmanns. Leipzig 21875, S. VIII. Im vogtschen Vorwort finden sich keine Fußnoten.
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nen im übrigen oberdeutschen Text die Sprachmischung verschlimmern. Auch Haupt hat seine und Lachmanns Textbehandlung hier für nichts weniger als eine endgültige Lösung des sprachlichen Problems gehalten. Die Bedenken, die ihn zunächst von dem Versuch einer Herstellung der Mundart abhielten, (...) sind zum Teil durch Vermehrung der Sprachquellen (...) wesentlich abgeschwächt worden. Gleichwohl habe ich die Rückübersetzung in eine keineswegs in jeder Einzelheit festgestellte Sprache nicht ohne Widerstreben vorgenommen und mich lieber zu eng an die alten Servatiusfragmente angeschlossen als ganz den Boden älterer schriftlicher Überlieferung verlassen. Um so mehr hielt ich es für angezeigt, in diesem Falle den ganzen Lachmann-Hauptschen Text unter meiner Herstellung wiederzugeben, auf den dann auch die in Klammern eingeschalteten Abweichungen der Handschriften zu beziehen sind.37
In diesem Zitat kommt deutlich zum Ausdruck, dass Vogt nun das realisiert, was Lachmann und Haupt sich nicht getraut hatten umzusetzen. Er überführt die Texte Heinrichs in dessen vermutete Mundart. Dabei orientiert er sich sehr nah an den altlimburgischen Servatiusfragmenten und geht nicht darüber hinaus. Vogt gibt an, er habe diese mundartliche Umsetzung nicht gern vorgenommen, warum er es dennoch unternahm, bleibt unkommentiert. Interessant ist, dass er sich verpflichtet fühlte, den Lesetext von Lachmann und Haupt mit wiederzugeben und Abweichungen von den Handschriften anzugeben. Vogt führt diese als Apparat unter dem Lesetext ein. Zusätzlich ergänzt er am Blattrand zur besseren Vergleichbarkeit die Lachmann- bzw. Hauptzählung sowie Kurzverweise zur Handschriftenstrophenreihenfolge neben den Strophen. Veldekes Œuvre ist in der vogtschen Ausgabe unter X. HER HEINRICH VON VELDEKE zu finden. Neben der Reihenfolge der Dichter änderte Vogt also auch den Dichternamen.38 Der dargebotene Text weist wie in den Vorgängerausgaben eine Verszählung auf. Alle Angaben zu Varianten und auch der Apparat sowie die Lachmann- bzw. Hauptzählung sind nicht auf den ersten Blick erschließbar und wichtig sind diese Angaben nur, wenn man wissenschaftliches Interesse an der Herstellung des Textes hat. Aus einem von Lachmann und Haupt erstellten reinen Lesetext ist eine wissenschaftliche Ausgabe geworden, die sogar die Möglichkeit des Vergleichs mit ihrer Vorgängerausgabe vorsieht.
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MF (1911), S. VIIIf. Es mutet etwas merkwürdig an, dass zwar der Text in eine mittelniederdeutsche Sprachform gebracht wird, der Name des Autors hingegen in eine mittelhochdeutsche Form übertragen wird.
Judith Lange, Claudia Schumacher
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Zu Heinrichs von Veldeke Liedern schreibt er in einer längeren Stellungnahme: In gänzlich veränderter Gestalt wird man die Lieder Veldekes finden. Theodor Frings hat die Güte gehabt, sich ihrer anzunehmen und mir die Ergebnisse seiner tiefschürfenden und ins Weite gehenden Untersuchungen, deren ausführliche Begründung noch in diesem Jahre erscheinen wird, zusammen mit einem Texte schon für diese Ausgabe zur Verfügung zu stellen [...]. Frings hatte dabei die Absicht, in der Schreibung so getreu als nur möglich dem limburgischen Gebrauch zur Zeit des Dichters zu folgen. Man wird daher in diesen Liedern entgegen dem Verfahren Lachmanns und Haupts weder Apokope noch Synkope des unbetonten e aus Gründen des Rhythmus vollzogen finden: beides wird nur durch die Schreibung e zum Ausdruck gebracht. Diese Ausnahme schien mir durch die Ausnahmestellung, welche die Sprache Veldekes in der ganzen Sammlung einnimmt, genügend gerechtfertigt. Wie sehr überdies Sinn und Ausdruck der Gedichte durch die Zurückführung in ihre einstige Sprache gewonnen haben, wird ein Vergleich mit der Gestalt, in der man sie bisher gekannt hat, hoffentlich zeigen.40
Kraus hat sich für die Bearbeitung von Heinrichs Liedern mit seinem Kollegen Theodor Frings zusammengefunden, der die ,Rückführung‘ des Œuvres ins Altlimburgische vornahm. Kraus setzt in seiner Edition also um, was Lachmann und Haupt sich nicht trauten und Vogt nur in gemäßigter Weise angegangen war. Wo Vogt noch Bedenken hatte, verfuhr Kraus selbstbewusst und ohne jeden (Selbst-)Zweifel mit den Texten. Er bewertet das Vorgehen seines Vorgängers von erhobener Warte aus: „Einen grundsätzlichen Fortschritt bedeutete es schließlich, daß Vogt nach dem teilweisen Vorgang von Bartsch die Lieder Veldekes der Sprache ihres Dichters anzunähern trachtete.“41 Kraus behält die Hinweise und den Apparat, die Vogt eingeführt hatte, am Text bei und führt darüber hinausgehend einen zweiten Apparat ein, der Abweichungen vom Text mit Namenskürzel verzeichnet. Der beibehaltene Apparat beinhaltet die Textgestalt bei Lachmann und Haupt, die beigegebene Ziffer verweist ebenfalls auf die Ausgabe von Lachmann und Haupt, auf den Text in der vogtschen Ausgabe wird nicht referiert oder verwiesen. Somit ist eine Vergleichbarkeit zu den ersten, unveränderten Ausgaben des Werkes gegeben und nicht zu allen Vorgängerausgaben. In seinen Band Minnesangs Frühling. Untersuchungen hat er jedoch einen Teil der Anmerkungen von Vogt übernommen. Die Auswahl, der aufzunehmenden Anmerkungen entbehrt jedoch nicht einer gewissen Willkür: Er übernimmt nur die Anmerkungen, „deren Inhalt [er] zustimm[t]“42 und solche, bei denen er Vogts „Meinung zwar nicht teil[t], aber es für wünschenswert hielt, daß der Leser sie mit [s]einer abweichenden vergleichen kann“43. Das Œuvre Heinrichs von Veldeke findet sich bei Kraus ebenfalls an zehnter Stelle, obwohl er nach eigenen Angaben manches in der Reihung ge-
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Ebd. Ebd., S. VI. Ebd. Ebd.
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ändert, anderes in die ursprünglich von Haupt vorgelegte Reihung zurückgesetzt hat.44 Der „Bestand der Sammlung [wurde] weder vermehrt noch vermindert“45. 56,
I
Het is gûde nouwe mâre I BC dat dî vogel� openbâre singen dâ men blûmen sît. tût den tîden in den jâre 5 stûnde´t dat men blîde wâre: leider des ne bin ich nît. mîn dumbe herte mich verrît, dat ich mût unsacht� end� swâre dougen leit dat mich geschît. _________________________________________________
56,* I. Ez sint guotiu niuwe mâre (m�re BC), 2. daz die vogel offenbâre (offenb�re BC) 3. singent dâ man bluomen (die bl�men C) siet (siht B). 4. zuo den (ze den C, zen B) zîten in dem jâre (iære C) 5. stüende wol daz man frô wâre (w�re BC): 6. leider des enbin ich niet (niht B). 7. mîn tumbez herze mich (min C!) verriet, 8. daz ich (ich fehlt BC) muoz unsanfte und swâre (sw�re BC) 9. tragen [daz BC] leit daz mir geschiet (beschiet C, beschiht B). __________________________________________________ Die sprachliche Form, in der die Lieder Veldekes oben geboten werden, wird F(rings) verdankt. Sonstige Abweichungen vom Text sind mit dem Namen ihres Urhebers verzeichnet. Ke = Kern. 56 * I is F. 5 F. 9 dougen F.
Hugo Moser und Helmut Tervooren haben die zurzeit aktuelle Version der Sammlung Des Minnesangs Frühling herausgebracht. Interessant ist, dass sich im Vorwort von Moser und Tervooren keinerlei Angaben zum Œuvre Heinrichs von Veldeke finden. Viele Zusatzinformationen und Erläuterungen wurden in einen Extraband, Des Minnesangs Frühling II. Editionsprinzipien, Melodien, Handschriften, ausgelagert, damit der Textband auch weiterhin seine schmale Form behalten konnte. Daneben wurde auch der Untersuchungen-Band von Carl von Kraus neu aufgelegt sowie ein Band mit Anmerkungen von Lachmann, Haupt, Vogt und Kraus. Im Vorwort finden sich aber Angaben zu Mosers und Tervoorens Editionsweise. Sie edieren zwar nach dem Leithandschriftenprinzip, entwickelten jedoch eine eigene Version dieser Methode, bei der nicht durchgängig auf eine Handschrift als Leithandschrift zurückgegriffen wird: Poetologische und technische Gründe führten uns zu der Entscheidung, die Leithandschrift von Strophe zu Strophe zu wechseln. Wir meinen nämlich, daß Strophe und Lied auch im Minnesang verschieden gewertet werden sollten. Auf die Strophe konzentriert sich das Bemühen des Dichters, sie ist Endziel dichterischer Gestaltung, aber gleichzeitig auch Baustein zu Liedern (nicht aber des Liedes). Das mehrstrophige Lied ist dagegen in seiner aktuellen Verwirklichung stärker von den Bedürfnissen der Aufführungssituation bestimmt und darum
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Vgl. ebd., S. XI. Ebd.
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Mittelalterliche Texte als Aufgabe ¡ ¢
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Das Œuvre liegt synoptisch abgedruckt vor. Links der normalisierte mittelhochdeutsche Text und rechts die ,altlimburgische‘ Variante von Carl von Kraus. I Ez sint guotiu niuwe maere 1 Ez sint guotiu niuwe maere, 56, 1– 1 BC
daz die vogel offenbaere singent, dâ man bluomen siht. zén zîten in dem jâre 5 stüende wol, daz man vrô waere, leider des enbin ich niht: mîn tumbez herze mich verriet, daz muoz unsanfte unde swaere tragen daz leit, daz mir beschiht.
56,1 Het is gûde nouwe mâre
dat dî vogel� openbâre singen dâ men blûmen sît. tût den tîden in den jâre stûnde´t dat men blîde wâre: leider des ne bin ich nît. mîn dumbe herte mich verrît, dat ich mût unsacht� end� swâre dougen leit dat mich geschît.
I. 1,1 gt C. 3 die bl. siet C. 4 Ze den ... iaere C. 6 niet C. 9 beschiet C. I u. II als „Liederwechsel“ Ipsen 392. – 1, 1 : 2 : 5 : 8 mâre : offenbâre : wâre : swâre L. 3 : 6 siet : niet L. 4 Zuo den z. L, In den tîden van den jâren Schröder ZfdA. 67, 127. 8 Daz ich m. LVK. und L. 9 Tragen leit L. beschiet Sch 55] geschiet L.
Damit haben Moser und Tervooren ihrem Vorgänger einerseits Respekt erwiesen, für die Leistung hinter der ,Rückübersetzung‘ in die angenommene Sprache Heinrichs von Veldeke, andererseits wird eine Vergleichbarkeit zwischen ihrer und der Vorgängeredition gewährleistet. Der Tatsache, dass sie die ,altlimburgische‘ Textgestalt nicht überzeugen konnte, verleihen sie in ihren Erläuterungen Ausdruck. 1) Veldeke hat seine Lieder in einer niederfränkischen Sprachform abgefaßt und die nichtmhd. Einsprengsel sind nichtgetilgte Reste einer maasländischen Urfassung in einem obd. Translat. 2) Die Ausgangssprache der Überlieferung ist nicht maasländisch, sondern mhd. – sei es, daß Veldeke seine Lieder von vornherein mhd. dichtete, sei es, daß er sie selbst ins Mhd. übersetzte. In einem solchen Fall wären die nicht-mhd. Einsprengsel als Formen zu deuten, die den Liedern ein gewisses Kolorit gaben und die auch einem obd./md. Publikum verständlich waren und daher keinen Anstoß erregten.49
Sie äußern insgesamt „Bedenken gegen den bisher in MF abgedruckten Text“.50
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Ebd., S. 79 Ebd.
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2. Der Apparataufbau Am Wandel des Aufbaus und an der veränderten Positionierung des Apparats in den unterschiedlichen Ausgaben von MF lassen sich zwei grundlegende Fortschritte innerhalb der Fachwissenschaft festmachen. Zum einen zeigt sich generell die zunehmende Bedeutung der Überlieferung für die Editionswissenschaft, zum anderen spiegelt sich die lauter werdende Forderung nach dem wieder, was Moser und Tervooren wie oben bereits angeführt als „allgemeine Regel aller editorischer Arbeit“51 formulieren: Die theoretische Grundlage bildet die Basis jeder Ausgabe und es ist die Aufgabe des Editors, Rechenschaft über diese abzulegen.52 Noch in der vierten Auflage der Lachmann-Ausgabe ist der Apparat nicht unter den Liedtexten zu finden, sondern im Anhang der Gedichtsammlung untergebracht. Moritz Haupt schreibt 1857 zum Nutzen des Apparates: „Wie diese handschriften gebraucht und wo sie verlassen worden sind, davon geben die anmerkungen bescheid.“53 Den Ausführungen Haupts ist zu entnehmen, dass nicht die Dokumentation der Überlieferungszustände im Fokus dieser Anmerkungen steht, sondern sie vielmehr dazu dienen, aufzuzeigen, dass die schlechte Qualität des überlieferten Textes die Eingriffe des Herausgebers überhaupt erst nötig macht. Ein schneller Vergleich des abgedruckten Textes mit der handschriftlichen Überlieferung ist durch die Positionierung des Apparates kaum möglich. Dieser Mangel an Vergleichbarkeit bewegte Friedrich Vogt dazu, in seiner 5. veränderten Neuauflage einen grundlegenden Eingriff in die Editionsgestaltung zu wagen. Obwohl er nach eigenen Angaben mit seiner Entscheidung haderte, versetzte er die Lesarten und Konjekturanmerkungen aus dem Anhang direkt unter die jeweiligen Strophen der einzelnen Lieder. Das nicht auch die Anmerkungen mit unter den Text gestellt wurden, begründet Vogt damit, dass es ihm ohnehin eine „unliebe Notwendigkeit [gewesen sei], das alte schöne Textbild durch die Fußnoten zu beeinträchtigen“, so wolle er es „wenigstens nicht durch sie überwuchern lassen“54. Auffallend ist, dass sich der Vogts Lesarten-Apparat auch bei Liedern, die nur in einer Handschrift überliefert sind, recht umfangreich darstellt. Dies ist auf Vogts Umgang mit Abweichungen von den Editionen Lachmanns und Haupts zurückzuführen. Vogt greift in den Editionstext überall dort korrigierend ein, wo er Fehler in den früheren Ausgaben entdeckt. Die Lesarten früherer Editionen werden neben den handschriftlichen Varianten im Apparat erfasst und mit dem jeweils ersten Buchstaben des Herausgebernachnamens (L, H oder W) sigliert. Die von Vogt eingefügten Neuerungen waren bedeutsam und wurden von allen späteren Editoren und Herausgebern übernommen und weitergeformt. Carl von Kraus bedient sich des neuen Seitenaufbaus in der Edition, erarbeitet aber einen doppelstöckigen Apparataufbau, was enorm zur besseren Übersicht und Handhabbarkeit desselben beiträgt: Die Angaben über die handschriftliche Überlieferung und die Konjek–––––––—
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Ebd., S. 7. Vgl. ebd. Es hat die Editionswissenschaft eine nicht unbeträchtliche Zeit gekostet, diese allgemeine Regel aufzustellen. MF (1857), S. VII. MF (1911), S. VIII.
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tur- und Emendationsvorschläge werden getrennt; diese finden sich in einem zweiten Apparat unterhalb des ersten. Den zweiten Apparat nutzt Carl von Kraus auch dazu, vermeintlich ,unechtes‘ Liedgut mit der Formulierung „nicht von“ zu kennzeichnen.55 Moser und Tervooren behalten den doppelstöckigen Aufbau der Apparate bei, erweitern jedoch seine Funktion zum Kommentarapparat: Wir haben ihn so zu gestalten versucht, daß er dem Benutzer einen Eindruck von der Entwicklung des Textes verschafft, und zeigt, was Kraus von seinen Vorgängern übernahm, was er änderte. Darüber hinaus soll er ihm aber auch die Gewährsmänner nennen, welche die von uns getroffene Entscheidung vorbereitet haben, außerdem – hier geht er weit über Kraus hinaus – Hinweise zum Text bringen (Konjekturen, Vorschläge für Anordnungen von Strophen, zu ihrer rhythmischen-metrischen Gestaltung, Bemerkungen zur Echtheit), die sich in anderen Ausgaben, Monographien oder Aufsätzen finden […]. Anders als Kraus haben wir hier aber nicht nur Namen gebracht, sondern hinreichende bibliographische Angaben.56
Die schnelle Überprüfbarkeit der Angaben steht bei Moser und Tervooren deutlicher im Vordergrund als bei den vorherigen Herausgebern. In einem weiteren Punkt nehmen Moser und Tervooren die Ansprüche und Wünsche ihrer Zielgruppe – Studierende und Forschende – in den Blick. Sie liefern dem Nutzer direkt unter jedem Gedicht Lesehilfen, die das Verständnis schwieriger Passagen erleichtern und Übersetzungshilfen anbieten. Diese Lesehilfen sind sicherlich gerade im Rahmen der Hochschullehre von großer Bedeutung und machen die Texte trotz ,fehlender� Übersetzung gut anwendbar; sie passen die Sammlung der Zielgruppe der Lernenden an.
3. Die Interpunktion Neben dem Umgang mit der Dokumentation der Überlieferungszustände hat sich im Laufe der Geschichte auch ein weiteres Feld stark verändert: Der Gebrauch von Satzzeichen.57 –––––––— 55
56 57
Mit Carl von Kraus erreicht die Echtheitsdebatte innerhalb der Geschichte der Editionsphilologie ihren Höhepunkt. War Lachmann, wie Franz-Josef Holznagel für Lachmanns Walther-Ausgabe nachweisen kann, noch bemüht, „einen Teil der Athetesen im Rückgriff auf überlieferungshistorische Befunde zu objektivieren“, pflegte Carl von Kraus eine eher subjektiv zu nennende Echtheitskritik jenseits aller Überlieferungsgrundlagen. Er „operiert mit Urteilen über die allgemeine literarische Qualität der Texte und die Besonderheiten ihrer sprachlichen, stilistischen und metrischen Merkmale sowie mit Überlieferungen zu der Stellung der Lieder und Sprüche in der mutmaßlichen Werkchronologie und in einem hochgradig konstruierten Geflecht literarischer Beziehungen anderer Autoren.“ Franz-Josef Holznagel: Überlieferung und ,Werk‘. Zu den Athetesen in Lachmanns erster Auflage der ‚Gedichte Walthers von der Vogelweide‘ (1827). In: Walther von der Vogelweide: Textkritik und Edition. Hg. von Thomas Bein. Berlin 1999, S. 32–59, hier S. 50. Zur Echtheitsdiskussion bei Carl von Kraus vgl. zusätzlich Manfred Günther Scholz: Kriterien der Unechtheit in der Walther-Forschung nach Carl von Kraus. In: „Dâ hoeret ouch geloube zuo“. Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang. Beiträge zum Festcolloquium für Günther Schweikle anlässlich seines 65. Geburtstages. Hg. von Rüdiger Krohn. Stuttgart 1995, S. 177–194. MF II (1977), S. 18. Vgl. zur allgemeinen Übersicht über den aktuellen Forschungsstand zur Interpunktionsfrage Martin Schubert: Interpunktion mittelalterlicher deutscher Texte durch die Herausgeber. In: editio 27 (2013), S. 38–56. Generell ist es nach wie vor üblich, durch Einsetzen moderner Interpunktion Lesehilfen zu bieten. Umstritten ist aber die Frage, wie offen oder geschlossen solche Lesehilfen gestaltet werden dür-
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Grundsätzlich verfügen alle Herausgeber über dasselbe Repertoire an Satzzeichen. Die häufigste Verwendung findet der einfache Punkt [.], gefolgt vom Komma [,] zur Trennung von Haupt- und Nebensätzen und den deutlich selteneren Doppelpunkten [:] und Semikolons [;]. Haben sowohl der Punkt als auch das Semikolon im Laufe der Editionswissenschaft keinen bedeutenden Wandel in ihrer Benutzung erfahren, hat sich der Gebrauch des Kommas und des Doppelpunktes vom 19. Jahrhundert bis heute durchaus gewandelt. Es fällt auf, dass der Gebrauch von Doppelpunkten [:], die wir in den Editionen von Lachmann und Haupt noch in relativer Häufigkeit antreffen, in späteren Ausgaben von MF zunehmend seltener wird. Der Grund hierfür liegt in der sich wandelnden Funktion des Doppelpunktes: Gebrauchte Lachmann den Doppelpunkt noch als „kleineren punkt“58 zur Markierung zweier Satzteile, die „weniger stark als durch einen Punkt und stärker als durch ein Semikolon zu trennen seien“,59 wird der Doppelpunkt heute häufig vor dem Einsatz der direkten Rede verwendet. Damit zeigt sich vor allem beim Doppelpunkt, dass sich der Gebrauch der Satzzeichen – auch in Bezug auf die Häufigkeit ihrer Verwendung – sehr nach dem jeweiligen ,Geschmack der Zeit‘60 richtet. Warum sich die Interpunktion mittelhochdeutscher Texte im Lauf der Zeit ändert, liegt auf der Hand. Die Interpunktion soll dem modernen Leser den syntaktischen Aufbau der Texte entschlüsseln helfen und, um mit Lachmann zu sprechen, den „heutigen lesern das verständniss des dichters so erleichtern wie sie es in gedruckten büchern aller sprachen gewohnt sind“. Dementsprechend ist die Interpunktion in den einzelnen Ausgaben den Lesegewohnheiten der Zeit angepasst. Die größte Abweichung zwischen dem althergebrachten und dem modernen Interpunktionssystem, so Martin Schubert, liegt in der Verwendung des Kommas.61 Der Gebrauch von Kommata ist auch in den frühen Ausgaben recht spärlich. Ein Vergleich mit den Vorworten bestätigt die Annahme, dass die gewählte Kommasetzung, ebenso wie die Benutzung der Doppelpunkte, wohl eher nicht das Resultat einer auf die mhd. Syntax fokussierten Interpunktionsstrategie ist, wie mitunter in der Forschung behauptet wurde. Gemäß dem Usus des 19. Jahrhunderts finden sich in der Ausgabe von Lachmann und Haupt keine Satzzeichen zur Trennung von Subjekt- und Objektsätzen oder von kurzen Adverbialsätzen, die sich eng an den übergeordneten Satz anschließen; ebenso nicht vor Nebensätzen dritten Grades. –––––––—
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fen, da die Interpunktion in nicht unbeträchtlichem Maße die Interpretation eines Textes vorzugeben vermag. „Wird [die Interpunktion] zu bestimmt vorgenommen, können gewisse Interpretationen präjudiziert werden. Die Interpungierung müsste deshalb so offen wie möglich bleiben.“ Günther Schweikle: Edition und Interpretation. Einige prinzipielle Überlegungen zur Edition mhd. Epik im allgemeinen und von Wolframs „Parzival“ im besonderen. In: Wolfram-Studien 12, Berlin 1992, S. 93–107, hier S. 96. Lachmann (1843); Iwein, S. VII. Dieser Einsatz entspricht den zwei heute noch im Duden benannten Funktionen des Doppelpunktes: Zur Einleitung von Sätzen, die das Vorhergehende zusammenfassen und vor Aufzählungen. Schubert (2013), S. 49. Für lange Zeit war der Gebrauch der Rechtschreibung wie der Zeichensetzung an das Wörterbuch Konrad Dudens – als normatives Wörterbuch – gebunden. Schubert (2013), S. 50 geht sogar so weit zu sagen, für die Abweichung zwischen altem und neuem Interpunktionssystem sorge „eigentlich das Komma ganz alleine“.
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Als konkretes Fallbeispiel sei ein Ausschnitt aus Dietmars von Eist Ez stuont ein vrouwe alleine in den Versionen der vier gewählten Editionen herangezogen: Vogt:
Haupt: 5
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Ez stuont ein frouwe alleine, und warte uber heide, unde warte ir liebe. só gesach si valken fliegen. ,sô wol dir, valke, daz du bist! du fliugest swar dir liep ist: du erkiusest in dem walde einn boum der dir gevalle. alsô hân ouch ich getân: ich erkôs mir selbe man: den welten mîniu ougen. daz nîdent schœne frouwen.
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37,4 [Ez stuont ein frouwe alleine
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Moser/Tervooren:
Carl von Kraus: und warte uber heide und warte ire liebe, so gesach si valken fliegen. ,sô wol dir, valke, daz du bist! du fliugest swar dir liep ist: du erkíusest dir in dem walde einen bóum der dir gevalle. alsô hân ouch ich getân: ich erkôs mir selbe einen man, den erwélten mîniu ougen. daz nîdent schœne frouwen.
Ez stuont ein frouwe alleine und warte uber heide und warte ir liebes, so gesach si valken fliegen. ,so wol dir, valke, daz du bist! du fliugest swar dir liep ist: du erkiusest dir in dem walde einen boum der dir gevalle. alsô hân ouch ich getân: ich erkôs mir selbe einen man, den erwelton mîniu ougen. daz nîdent schône vrouwen.
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Ez stuont ein vrouwe alleine 37,4–12 C und warte über heide unde warte ir liebes, sô gesách si valken vliegen. ,sô wol dir, valke, daz du bist! du vliugest, swar dir liep ist, du erkíusest dir in dem walde einen bóum, der dir gevalle. alsô hân ouch ich getân: ich erkôs mir selbe einen man, den erwélten mîniu ougen. daz nîdent schoene vrouwen.
In der Ausgabe von Karl Lachmann und Moritz Haupt finden sich Kommata vor den und-Anschlüssen in den Versen 4 und 5 (diese werden von Vogt gestrichen) sowie vor und hinter der Anrede valke in Vers 8, der mit Ausrufezeichen prononciert wird. Ganze Sätze schließen auch dann mit Punkten ab, wenn die Semantik durchaus eine Verbindung mit Komma nahelegen würde. Anschlüsse mit Doppelpunkt kommen zum Abschluss der Verse 9, 12 und 13 vor und zeigen an, dass die Folgeverse in direktem Sinnzusammenhang mit diesen stehen. Während der Versanschluss mit Doppelpunkt in V. 12 auch heute noch sehr gut nachvollziehbar ist – wird doch das Gleichnis zwischen dem Falken und der Dame nach dem Satzzeichen aufgelöst – und auch der Anschluss in V. 9 verständlich ist (obgleich man eher ein Komma erwarten würde), ist der letzte Doppelpunkt in V. 13 als fragwürdig einzuschätzen. Es verwundert also nicht weiter, dass Vogt, der sich ansonsten recht eng an die Interpunktion der
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älteren Ausgaben hält, den Doppelpunkt in Vers 13 streicht und durch ein Komma ersetzt. Auch anstelle einiger Punkte setzt Friedrich Vogt Kommata ein und verbessert so zum einen den Lesefluss und stellt zum anderen deutlichere Bezüge zwischen den semantischen Einheiten her; in unserem Beispiel etwa in Vers 6, wo der Anschluss mit Komma die Sichtung des Falken konkreter mit dem Warten auf den Geliebten verknüpft. 62 Moser und Tervooren passen ihre Texte an die Lesegewohnheiten des Rezipienten des 20. Jahrhunderts an. Sie trennen Haupt- und Nebensätze ab (so in den Versen 6 und 8 – die Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe von Moser und Tervooren) und den in Vers 9 der übrigen Ausgaben befindlichen Doppelpunkt ersetzten sie durch ein Komma: swar dir liep ist wird hier als Einschub gewertet, der die Aufzählung du vliugest, du erkiusest durchbricht. Die Wende seit Stackmann – Editionen heute Als Hugo Moser und Helmut Tervooren ihre Ausgabe von Des Minnesangs Frühling herausbrachten, hatte spätestens mit Karl Stackmanns Programmschrift Mittelalterliche Texte als Aufgabe eine Wende in der Editionswissenschaft stattgefunden. Stackmann fasste in seiner Programmschrift die Ideen seiner Zeit zusammen und es resultierte ein Programm, welches die Texte nun im Blick auf ihre Überlieferung betrachtet. Auch bei Stackmann ist der Editor die ‚höchste Instanz‘; Stackmann relativiert nur den Status eines Editors als ‚allwissend‘. Er postuliert, man müsse dem Rezipienten deutlich machen, dass der konstruierte, edierte Text nur eine Möglichkeit unter vielen sei und dass die tatsächliche autorisierte Form eines Textes in der Regel nicht mehr rekonstruiert werden könne.63 Die Tatsache, dass nun also die Überlieferung und damit auch das Nicht-Statische (die mouvance64) eines Textes in den Fokus der Editionswissenschaft rückte, bedeutete eine ganz neue Herausforderung für Editoren. Es galt nicht mehr eine Textausgabe zu erstellen, die den Eindruck eines statischen Textes zu hinterlassen hatte, sondern es sollte eine Ausgabe erstellt werden, die der Überlieferungslage Rechnung tragen konnte. Eine solche Ausgabe kann ggf. natürlich eine Ein-Text-Ausgabe sein, wie Florian Kragels Lanzelet (de Gruyter, 2006), aber auch andere Formen sind möglich: So etwa synoptische Fassungsausgaben (Klaus Wolfs Dietmar-Edition [Leuvense Bijdragen, 2010] oder die Fassungseditionen in Thomas Beins aktueller WaltherAusgabe [de Gruyter, 2013]) sowie Editionen, die die Stufen der Textherstellung dokumentieren – von der Handschrift über den diplomatischen Abdruck hin zum Le–––––––— 62
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Vogt greift weitestgehend logisch nachvollziehbar und sinnvoll korrigierend in die Lachmanninterpunktion ein. Alle Änderungen Vogts werden sowohl von Carl von Kraus als auch von Tervooren und Moser übernommen. Dabei bleibt Carl von Kraus grundsätzlich sehr eng an Vogts Interpunktion und weicht nur an vereinzelten Stellen von ihr ab, in unserem Beispiel überhaupt nicht. Vgl. Stackmann (1997), S.1–25. Diese Bestrebungen begannen bereits in den 1950er-Jahren. Als mouvance bezeichnet Paul Zumthor die Beweglichkeit mittelalterlicher Texte. Diese äußere sich vor allem im Phänomen der Varianz eines Textes, die immer situationsspezifisch sei und zur geregelten Beweglichkeit mittelalterlicher Texte gehöre. Vgl. Paul Zumthor: Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft. München 1994, S. 36f. sowie Bernard Cerquilini: Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie. Paris 1989.
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setext (etwa die Edition der Frankfurter Dirigierrolle von Johannes Janota [Niemeyer, 1996] oder die Edition der Lyrik Wolframs von Eschenbach von Peter Wapnewski [C.H. Beck, 1996]). Den Möglichkeiten der Darstellung sind wenige Grenzen gesetzt und seit dem Aufkommen der digitalen Medien haben sich die Darstellungsoptionen noch deutlich erweitert. Im Rahmen von Hybrid- oder Digitaleditionen ergeben sich Chancen der Vernetzung:65 Direkte Verlinkungen zu Wörterbüchern und weiteren Ausgaben sind heute realisierbar. Auch von den Möglichkeiten einer digitalen Veröffentlichung sämtlichen Quellenmaterials (Transkriptionen und Faksimiles) als Beigabe zu einer Printausgabe wird immer häufiger Gebrauch gemacht.66 Stellt man die Frage aus den Vorüberlegungen dieses Beitrags ,Was ist eine Edition?‘, nun erneut, resultiert eine Antwort, in der die Autorfrage keine primäre Rolle mehr einnimmt. Aus heutiger Perspektive ist klar, dass das ,höchste Ziel‘ der LachmannSchule, die Rekonstruktion der vom Autor intendierten Textfassung, nicht zu erreichen ist. Es muss Utopie bleiben, denn dieses Ziel wäre nur durch eine völlig ,reine‘ Überlieferungslage erreichbar: Es dürfte weder Verschreibungen noch Varianten geben und das ist, zumindest was die Texte des deutschen Mittelalters anbelangt, nahezu nie der Fall.67 Eine Edition aus heutiger Sicht betrachtet einen Text im Lichte seiner Überlieferung und versucht nicht länger zu rekonstruieren, was nicht belegt werden kann. MF als Leitfaden für die Geschichte der Editionswissenschaft – Zusammenfassung Studiert man nun alle hier zurate gezogenen Ausgaben von MF, werden deutliche Unterschiede in der Herangehensweise der Editoren und somit gleichzeitig auch Entwicklungen in der Geschichte der Fachwissenschaft sichtbar. Vor allem die Notwendigkeit der Kommentierung der editorischen Herangehensweisen nimmt über die Jahrzehnte stetig zu, was man an der Funktion und Position des Apparates sehen kann. Auch die editionswissenschaftlichen Methoden haben sich gewandelt. Brachten Lachmann und Haupt noch eine Ausgabe mit Blick auf den Lesetext heraus, so wandelte sich dieses Bild mit Vogts überarbeiteter Neuausgabe. Der noch bei Lachmann im Anhang zu findende Apparat wird von Vogt unter den Lesetext gesetzt. Ebenso werden weitere Möglichkeiten der Kommentierung (bspw. Einführung der Lachmann/Haupt-Zählung) gefunden und in späteren Ausgaben – leicht abgewandelt – beibehalten. Auch Kraus, der sich hauptsächlich dem von Lachmann propagierten –––––––—
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Etwa bei Michael Stolz’ Parzival-Projekt [http://www.parzival.unibe.ch 2014]. So etwa in Judith Lange: Die Verslegende Veronica II. Hybridedition und Studien zur Überlieferung. Essen, Berlin, Bern 2014. Zu den Ausnahmen von der Regel, d. h. den überlieferten mittelalterlichen Autographen vgl. Volker Honemann: Autographische Überlieferung mittelalterlicher deutscher Literatur. In: Scrinium Berolinense. Tilo Brandis zum 65. Geburtstag (Beiträge aus der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Bd. 10). Berlin 2000, hier II, S. 821–828 (mit zahlreichen Literaturangaben zum mittelalterlichen Autograph).
Ein Aufriss der Editionsgeschichte anhand der Sammlung „Des Minnesangs Frühling“
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„Kunstgefühl des Editors“68 verpflichtet fühlte, setzte Apparate unter den Text und schuf eine kritische Ausgabe, bei welcher er „sich nicht der Mühe unterzieht, von sich selbst für jede Silbe seines Textes Rechenschaft zu fordern“69. In der Ausgabe von Hugo Moser und Helmut Tervooren wird mehr Wert auf die Kommentierung gelegt. Sie beschreiben ihre Herangehensweise sehr genau und grenzen sich dabei von ihren Vorgängern deutlich ab – sowohl was die Genauigkeit der Kommentierung anbelangt, als auch was ihre Herangehensweise insgesamt betrifft. Ab Mosers und Tervoorens Ausgabe wird nicht mehr die Lachmanns Textkritik, sondern das Leithandschriftenprinzip als editorische Methode gewählt. Der Wunsch, das originäre Dichterwort zu rekonstruieren, rückt zugunsten der Darstellung einer verbrieften mittelalterlichen Existenzform der Texte in den Hintergrund. Es wird dargestellt, wie fluide das Konzept ,Text‘ anhand der Überlieferung erscheint; die unterschiedlichen Handschriften überliefern z. T. unterschiedliche Strophen und Strophenreihenfolgen zu einem Lied, so dass die Lieder an sich nicht als feste Gefüge zu fassen sind. Letztlich soll der Rezipient in die Lage versetzt werden, „Lieder, die seiner Meinung nach dem Autorwillen am nächsten kommen, selbst zusammenzustellen“70. Diese veränderte Sicht auf den Text ist letztlich einer der wichtigsten Unterschiede zur ,alten‘ Editionswissenschaft, die sich spätestens seit Stackmanns Programmschrift Mittelalterliche Texte als Aufgabe in der Forschung durchgesetzt hat. Nicht mehr der Editor und seine Sicht des Textes stehen im Fokus, sondern der Text als Fluidum im Hinblick auf seine Überlieferung; der edierte Text wird nicht mehr als einzige Möglichkeit betrachtet, sondern als eine mögliche Realisierung oder Variante des mittelalterlichen Textes.
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Roloff (2003), S. 74. Carl von Kraus: Der Heilige Georg Reinbots von Durne. Heidelberg 1907, S. VIII. MF (1988), S. 8.
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Zwischen Online-Korpus und Buch Die Hybridedition der Wundarznei des Heinrich von Pfalzpaint
1. Text, Überlieferung und Arbeitsvorhaben Gegenstand des hier thematisierten Editionsvorhabens ist ein spätmittelalterlicher Sachtext, ein medizinisches Lehrbuch aus dem Jahr 1460 mit dem Titel Wundarznei. Diese Schrift ist nicht als Kompendium mittelalterlichen medizinisch-pharmazeutischen Wissens bekannt geworden, sondern wegen der Tradierung der ersten abendländischen Beschreibung einer Nasenersatzplastik. Der Verfasser, Heinrich von Pfalzpaint, gilt deswegen als Ahnherr der plastischen Chirurgie und zählt zu den berühmtesten Chirurgen des Spätmittelalters.1 Medizinhistorikern ist dieser Text bestens bekannt, Germanisten haben bislang wegen des Fehlens einer verlässlichen Textgrundlage zu diesem Werk kaum Zugang finden können. Die Wundarzei entstand im Umfeld der dreijährigen Belagerung der Marienburg bei Danzig im Deutschordensstaat Preußen in der Mitte des 15. Jhs. Dort waren viele tausend Menschen eingeschlossen, als der Wundarzt Heinrich von Pfalzpaint gemeinsam mit dem Leibarzt des Hochmeisters die medizinische Versorgung der Kämpfenden übernahm. Er behandelte dort nach eigener Aussage 3000 bis 4000 Menschen. Heinrich war kein physicus – also nicht akademisch ausgebildet – und verfügte nach mehrjähriger Wanderschaft zu verschiedenen berühmten Wundärzten über einen großen Erfahrungsschatz an chirurgischen und pharmazeutischen Fertigkeiten.2 Diesen –––––––—
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Vgl. Bernhard Schnell: Heinrich von Pfalzpaint: Ein Ahnherr der plastischen Chirurgie auf der Marienburg. In: Mittelalterliche Kultur und Literatur im Deutschordensstaat in Preußen. Leben und Nachleben. Hg. von Jarslaw Wenta, Sieglinde Hartmann, Gisela Vollmann-Profe. Torun 2008 (Sacra bella Septentrionalia 1), S. 231; Christoph Weißer: Die Nasenersatzplastik nach Heinrich von Pfalzpaint. Ein Beitrag zur Geschichte der plastischen Chirurgie im Spätmittelalter mit Edition des Textes. In: Licht der Natur. Medizin in Fachliteratur und Dichtung. Festschrift für Gundolf Keil zum 60. Geburtstag. Hg. von Josef Domes. Göppingen 1994, S. 485. Zu weiteren biographischen Angaben vgl. Schnell 2008 (Anm.1), S. 231–244; Gundolf Keil: Heinrich von Pfalzpaint. In: Verfasserlexikon². Hg. von Kurt Ruh. Bd. 3. Berlin 1981, Sp. 856–862; Gundolf Keil: Zur Geschichte der plastischen Chirurgie. In: Laryngologie, Rhinologie, Otologie 57, 1978, S. 581–591; Bernhard D. Haage: Medizinische Literatur des Deutschen Ordens im Mittelalter. In: Würzburger Medizinische Mitteillungen 9, 1991, S. 217–231; Christoph Weißer: Heinrich von Pfalzpaint. In: Enzyklopädie Medizingeschichte. Hg. von Werner E. Gerabek u. a. Berlin/New York 2005, S. 563–564; Karl A. Muffat: Heinrich von Pfolspeunt. In: Sitzungsberichte der kgl. bayer. Akademie der Wissenschaften. Jahrgang 1869 Bd. I, 1869, S. 564–570; Karl Sudhoff: Neue Handschriften der „Bindarznei“ Heinrichs von Pfalzpeunt 1460. In: Ders.: Beiträge zur Geschichte der Chirurgie im Mittelalter. – Graphische und textliche Untersuchungen in mittelalterlichen Handschriften. 2. Teil. Leipzig 1918, S. 531–560; Christian Probst: Zwei unbekannte Briefe des Chirurgen Heinrich von Pfalzpaint aus dem Jahre 1453. In: Sudhoffs Archiv 50, 1966, S. 69–78.
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aus der praktischen Anwendung rührenden Fundus wundärztlichen Wissens hält er am Ende seines Lebens in Buchform fest, v.a. um ihn seinen Schülern weiterzugeben. Wie andere Wundarzneien auch enthält sein Werk überwiegend Kapitel zur Herstellung von Medikamenten und deren Anwendung. Berühmt geworden sind jedoch die chirurgischen Teile, die nur ca. 16% des Gesamtwerkes umfassen, unter ihnen die sog. Meisterstücke wie die Rhinoplastik, die Herstellung eines Schlafschwammes, die Behandlung innerer Blutungen, das Gliedereinrenken, das Löschen des wilden Feuers oder die Hasenschartenoperation. Dies alles ging über das übliche Wissen eines Wundarztes und über die Kriegschirurgie hinaus. Im Vordergrund steht jedoch die Behandlung von typischen Kriegsverletzungen wie chirurgische Anweisungen zum Ausziehen von Pfeilen, die Behandlung von Schwerthieben, Bein- und Armbrüchen etc. und sogar bereits die Therapie von Schussverletzungen. Der Text und seine Überlieferung sind bislang nur unzureichend Gegenstand philologischer Untersuchungen gewesen.3 Der derzeit bekannte Gesamtbestand der Wundarznei ist noch nicht vergleichend untersucht worden. Der frühneuhochdeutsche Text liegt allein in einer von zwei Medizinprofessoren (Haeser/Middeldorpf) aus Breslau 1868 erarbeiteten Edition vor, wobei den Editoren seinerzeit nur eine einzige Hs. bekannt war. Kurz nach Erscheinen der Edition wurde eine weitere Hs. entdeckt, die bereits einem der Herausgeber einen ‚besseren‘ Text zu beinhalten schien.4 Aufgrund der deutlichen Mängel der früheren Edition, der zwischenzeitlichen Hss.-Neufunde und des seitens der Medizinhistoriker geäußerten Interesses steht eine Neuedition der Pfalzpaint’schen Wundarznei nun an. Die Identifizierung der hallischen Hs. der Wundarznei in der Universitäts- und Landesbibliothek Halle5 regte eine vergleichende Untersuchung aller Textzeugen an. Verschiedene Pilotstudien erbrachten die Qualität der hallischen Hs.6 Um die Erstellung einer Edition und v.a. den Vergleich mehrerer Textzeugen halbautomatisch zu unterstützen, hat sich eine Arbeitsgruppe aus Altgermanisten und Informatikern kon–––––––— 3
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Teileditionen finden sich bei Sudhoff 1918 (Anm. 2), S. 539–557; Weißer 1994 (Anm.1), S. 494–504; (ebenfalls bei Thomas Bein: Wider allen den suhtin. Deutsche medizinische Texte des Hoch- und Spätmittelalters. Eine Anthologie. Stuttgart 1989, S. 35–38). Vgl. auch die einschlägige Literatur zu Pfalzpaint des Instituts für Medizingeschichte der Universität Würzburg. Heinrich Haeser: Lehrbuch der Geschichte der Medicin und der epidemischen Krankheiten. 1. Bd. – Geschichte der Medicin im Alterthum und Mittelalter. Reprograf. Nachdr. d. 3. völlig umgearb. Auflage Jena 1875–1882. Hildesheim/New York 1971, S. 789. Eine ausführliche Handschriftenbeschreibung liefert Brigitte Pfeil: Katalog der deutschen und niederländischen Handschriften des Mittelalters in der Universitäts- und Landesbibliothek SachsenAnhalt in Halle (Saale). Hg. von Heiner Schnelling. Halle/Saale 2007 (Schriften zum Bibliotheks- und Büchereiwesen in Sachsen-Anhalt 89/1), S. 257ff., die die Hs. auf 1495–1505 datiert (Ausweis der Wasserzeichen) und sie im omd. (schles.) Sprachraum verortet. Die Hs., die seit 1950 im Bestand der Universitäts- und Landesbibliothek Halle nachgewiesen ist (und sich vorher im Besitz des Grafen von Stolberg und später in der Bibliothek der Fürsten von Anhalt/Köthen befand), konnte 2008 durch Schnell (vgl. Christoph Weißer 1994 (Anm. 1), S. 486, Anm. 9) der Überlieferung zugeordnet werden; er spricht von einem ‚relativ gute[n] Text‘ (Bernhard Schnell 2008 (Anm. 1), S. 241, Anm. 53). Vgl. Sylwia Kösser: Vorüberlegungen zu einer Neuedition der ‚Wundarznei‘ Heinrichs von Pfalzpaint – Untersuchungen zu den Handschriften. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2012 (unpubliziert) und der Beitrag Aletta Leipold/Jörg Ritter/Hans-Joachim Solms: Neue Wege zu Textzeugenvergleich und Edition am Beispiel der ‚Wundarznei‘ des Heinrich von Pfalpaint. In: Paradigmen der aktuellen Sprachgeschichtsforschung. Hg. von Vilmos Ágel und Andreas Gardt, 2014. (Jahrbuch für germanistische Sprachgeschichte 5, im Druck).
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stituiert: Das Projekt SaDA (Semiautomatische Differenzanalyse von komplexen Textvarianten)7 soll elektronische Werkzeuge bereitstellen, um einerseits die Filiation der Texte, zum anderen aber die Aufbereitung eines strukturierten Korpus und schließlich die Edition der Wundarznei zu begleiten, bei der die Hs. Halle eine exponierte Stellung haben wird. Diese informationstechnologischen Methoden und Werkzeuge sind zur Anwendung in verschiedenen philologischen Bereichen gedacht und sollen über dieses konkrete Projekt hinaus einsetzbar sein. Bislang sind elf Hss. der Pfalzpaint’schen Schrift bekannt, wobei zwei Hss. (Erlangen und Berlin) dem Bestand von uns neu zugeordnet werden konnten. Der in Berlin nachgewiesene Textzeuge stammt aus Privatbesitz und galt bislang als verschollen, so dass im Moment neun Hss. (+ Edition) ausgewertet werden. Die elf Überlieferungszeugen sind in chronologischer Reihenfolge:
1. B8: Bern, Burgerbibl., Mss. h.h. VII.118, 74v–146r 2. B9: Bern, Burgerbibl., Mss. h.h. VII.119, innerhalb 31a und 333a 3. St: Stuttgart, Landesbibl., Cod. med. et phys. 2° 11, 1r–34v 4. H: Halle, Universitäts- und Landesbibliothek, Cod. 23 G 38; Bl. 1r–112v 5. *B: Berlin, Hübotter (ohne Sign.), Bl. 1r–53v 6. Bu: Budapest: Bibl. für Medizingeschichte, Hs. S. 83, Bl. 1r–181v 7. D2: Dresden, Landesbibliothek, Mscr. C 292, Bl. 96r–206r 8. E: Erlangen, Universitätsbibliothek B 275, Bl. 2r–121v 9. *Br: Breslau/Wroc�aw, Universitätsbibliothek, Cod. III Q 13e, Bl.1–338 10. P: Prag, Nationalbibl. Cod. XIII.F.29, Bl. 43r–116r 11. D3: Dresden, Landesbibl., Mscr. C 328, Bl. 128r–275r
1477 1482 Ende 15. Jh. 1495–1505 um 1500 1503 um 1517 1517ff. 1519 Anfang 16. Jh. 16. Jh.
Da über die Verwandtschaftsverhältnisse und Beschaffenheit der Textzeugen wenig bekannt war, mussten diese zunächst hinsichtlich ihrer Struktur verglichen werden. Als erster Schritt war das Herausschälen des Pfalzpaint’schen Textes aus dem Kontinuum medizinischer Versatzstücke und Rezepte in Sammelhss. und die Definition des Grundbestandes der Wundarznei unabdingbar. Nachdem dies im Rahmen einer Magisterarbeit8 geschehen ist, steht nun fest, dass es sich um ein abgrenzbares Werk handelt: Die Überlieferungsträger tradieren einen gemeinsamen Grundbestand an Kapiteln. Die Hs. Halle ist die einzige vollständig erhaltene ‚Monographie‘: Sie bietet den vollständigsten Text mit 246 Kapiteln nach dem Eingangstext.
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Vgl. http://www.informatik.uni-halle.de/ti/forschung/ehumanities/sada/ (letztmaliger Aufruf aller im Artikel verwendeten Internetquellen am 30.04.2014), Laufzeit: 01.09.2012 – 31.08.2015, gefördert vom BMBF. Kösser 2012 (Anm. 6).
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2. Kollationierung anhand eines Teilkorpus und deren wichtigste Ergebnisse In einem weiteren Schritt wurden die zehn verfügbaren Textzeugen in ihrem genauen Wortlaut anhand eines Teilkorpus,9 das ca. 12 % des Gesamtbestandes umfasst, verglichen. Mit fünf Textabschnitten wurden ungefähr 90.000 (von insgesamt ca. 700.000) Wortformen der Wundarznei detailliert händisch untersucht. Anhand dieser exemplarischen Kollationierung können nun relativ gesicherte Aussagen über die Beziehungen der einzelnen Textzeugen untereinander angestellt werden. Das Hauptergebnis der Kollationierung ist die Existenz zweier Fassungen oder Versionen der Wundarznei, die sich nicht inhaltlich, jedoch in einzelnen Formulierungen deutlich unterscheiden. Bislang haben die beiden Gruppen von uns die Arbeitstitel A und B erhalten, ohne dass hiermit eine Hierarchie suggeriert werden soll. Die Gruppenbildung ist weder zeitlich noch lokal begründbar, es zeichnen sich keine deutlichen Qualitätsunterschiede ab. Die aus dem Textvergleich der Kapitel aufscheinende Zweiteilung der Hss. wird im Wortlaut des Eingangstextes aufs Deutlichste bestätigt: In den Hss. der Gruppe A finden sich an verschiedenen Stellen Formulierungen mit der 1. Person (z. B. wenn ich habe die [Rezepte] zcu�ammen brocht / vndt geholt auß deuczenn vnd wel�chen\landenn), während die B-Hss. dort die 3. Person aufweisen, (z. B. vnd der mei�ter hat �ie zu�amne gebracht vnd geholet auß deütz�chen vnd wel�chen Landen).10 Diese wechselnde Autorenperspektive führt zu der Annahme, dass es sich bei der Zweiteilung der Hss. einerseits um Abschriften des Pfalzpaint’schen Originals handelt, von uns nunmehr als Meister-Hss. bezeichnet und andererseits um Abschriften der Bearbeitung des Textes durch Schüler Heinrichs, nunmehr als Schüler-Hss. bezeichnet. Zu den Meister-Hss. (A) zählen H, Br, D3, E und Bu, zu den Schüler-Hss. (B) hingegen B8, D2, St, P und B9. An vielen Stellen finden sich in einer der beiden Gruppen fehlende Teilsätze, abweichende Formulierungen, unterschiedliche Lexik, abweichende morphologische Formen oder Wortbildungen, so dass die Gruppenbindung in allen Teilen der Wundarznei aufscheint.11 Darüber hinaus sind die in A und B differierenden Datumsangaben, die Register und das jeweils verschiedene Ende weitere Indizien für die Gruppierung. Eine weitere wichtige Erkenntnis, die aus der Kollationierung gewonnen werden konnte, ist das nähere Zusammengehen einiger Hss. innerhalb der Schüler-Hss. Besonders augenfällig ist die enge Verbindung von B8 und D2, zu denen sich häufig auch B9 gesellt. Innerhalb der Meister-Hss. ist eine Gruppierung schwerer auszumachen: Grundsätzlich sind die Übereinstimmungen gravierend, es sind aber auch viele –––––––— 9
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Es handelt sich um drei chirurgische Abschnitte (Pfeilwunden, Nasenteile inklusive Rhinoplastik, Leistenbruch), eine größere Rezeptgruppe (gegen Männerkrankheiten) und den Eingangstext, der grundsätzliche Aussagen zur Gruppierung der Hss. und deren Entstehung ermöglicht. Die Textabschnitte umfassen jeweils zwischen 1500 und 2700 Wortformen (ca. je 10.000 Wortformen pro Hs.). Leicht normalisierte Lesefassung: A nach D3–128r,11ff. und 128v,1ff.; B nach D2–96v,11ff. und 96v, 24ff. Zu Beispielen vgl. Leipold/Ritter/Solms 2014 (Anm. 6).
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Alleingänge einzelner Hss. zu verzeichnen, deren Quantifizierung ein drittes wichtiges Ergebnis der Kollationierung war. Sie weisen einmal Verbindungen zu dieser, ein anderes Mal zu jener Hs. auf, zumeist ohne konkrete Hinweise auf Abhängigkeiten. Diese Abweichungen einzelner Hss. in beiden Gruppen sind bislang ohne Aussagewert für eine Gruppenbildung oder ein Stemma. Die Überlieferung macht insgesamt den Eindruck, als wären die Textzeugen aus sehr disparaten Zusammenhängen heraus überliefert, sicher fehlen viele Zwischenstufen. Konkrete Ergebnisse soll die maschinelle Auswertung des Gesamttextes liefern, auf deren Basis letztlich die Filiationsverhältnisse herauszulesen sein werden. Diese händische Auswertung eines Teilkorpus soll nun Grundlage für die maschinelle Auswertung des Gesamtwerkes sein, welche die bisherigen Ergebnisse stützen und präzisieren soll.
3. Das Vergleichswerkzeug LAKomp Viele der neueren Editionsvorhaben sind heute hybrid, also digital im Netz ebenso verfügbar wie als Buch. Dieser Weg soll auch für die Pfalzpaint-Edition beschritten werden. Die Neuedition der Wundarznei will versuchen, die Ansprüche der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere die der historischen Sprach- und Literaturwissenschaft, zu berücksichtigen und beiden gerecht zu werden.12 Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Überlieferungszeugen der Wundarznei so aufbereitet werden, dass sie einem späteren Nutzer nicht nur einen Lesetext liefern, sondern ein erschlossenes, hochgradig strukturiertes Korpus, welches verschiedensten Interessenbereichen als Forschungsgrundlage dienen kann. Es soll ein Textkorpus entstehen, welches die Forschung nicht auf gegenwärtige aktuelle Erkenntnisinteressen ein[engt], sondern [...] auch die gesicherte Basis für zukünftige Fragen, die noch gar nicht gedacht, geschweige denn formuliert [sind],13
bildet. Um ein solches erschlossenes und strukturiertes Korpus zu erstellen, müssen die Überlieferungszeugen mit verschiedenen Informationen angereichert werden. Um die teilweise recht arbeitsintensiven, aber erforderlichen Schritte zu erleichtern, wurde das Werkzeug LAKomp14 entwickelt, welches nun auch für die weiterführenden Arbeiten an der Edition ausgebaut und genutzt werden soll. Mit Hilfe von LAKomp können alle, im Zuge der Bearbeitung dem Text zugefügten Informationen –––––––— 12
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Durch die hybride Erscheinungsform und die zusätzlichen Informationen durch Lemmatisierung und Annotation (s.u.) können die von Andrea Hofmeister (1991) noch sogenannten ‚gegenläufigen Faktoren‘ einander doch angenähert, wenn nicht gar vereint werden. Vgl. Andrea Hofmeister: Das Brixner Dommesnerbuch. In: Editionsberichte zur mittelalterlichen deutschen Literatur. Hg. von Anton Schwob unter Mitarb. von Rolf Bergmann. Göppingen 1991 (Litterae 117), S. 286: „es wird nicht gelingen, alle Interessen auf einmal zu wahren, denn die Ansprüche der beiden extremen Interessengruppen [...] sind zwei gegenläufige Faktoren [...]“. Andrea Hofmeister-Winter: Das Konzept einer „Dynamischen Edition“ – dargestellt an der Erstausgabe des „Brixner Dommesnerbuches“ von Veit Feichter (Mitte 16. Jh.). Göppingen 2003, S. 74. LAKomp: Lemmatisierung, Annotation, Komparation.
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gespeichert und für einen späteren Nutzer systematisch aufbereitet werden. Diese Daten wiederum bilden die Grundlagen sowohl für die digitale als auch für die Printedition. 3.1. Aufbereitung des Textmaterials a. Transkription Die Basis einer jeden Bearbeitung von handschriftlich überlieferten Texten ist die diplomatische Transkription. Bei der Transkription der Wundarznei werden die für die Mittelhochdeutsche Grammatik15 entwickelten und in weiteren Projekten, wie dem Referenzkorpus Mittelhochdeutsch16 und dem Referenzkorpus Frühneuhochdeutsch,17 erprobten Konventionen und Kodierungen angewendet. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass die Graphie der Texte eindeutig abgebildet wird. Daneben werden zusätzliche Informationen zu den Makrostrukturen der Textzeugen (Texteinrichtung, wie Absätze, Rubrizierungen usw.) durch sog. Kommentarfelder in die Transkription eingefügt.18 In einem weiteren Schritt wird der Text präeditert. Das bedeutet u.a., dass der Text in Teilsätze zerlegt wird, eine moderne, extra ausgezeichnete Interpunktion eingefügt, Präverbien in Distanzstellung und divergierende Getrennt- und Zusammenschreibung ausgezeichnet werden. Diese so kodierten Transkriptionsdateien werden nach der automatischen Prüfung der vorgenommenen Kodierungen in LAKomp eingespeist und bilden den Ausgangspunkt jeder weiteren Bearbeitung.
Abb. 1: LAKomp – transkribierte und präedierte Datei; Eingangstext – Hs. Bu
Die Nachvollziehbarkeit der einzelnen Transkriptionsentscheidungen, welche vom Bearbeiter getroffen wurden, wird mit der Verknüpfung von Hs. und diplomatischer Transkription gewährleistet. Hierbei soll dem Nutzer eine synoptische Darstellung der –––––––— 15 16 17 18
Siehe http://www.germanistik.uni-halle.de/forschung/altgermanistik/mittelhochdeutsche_grammatik/. Siehe http://referenzkorpus-mhd.uni-bonn.de/. Siehe http://www.germanistik.uni-halle.de/forschung/altgermanistik/referenzkorpus_fruehneuhochdeutsch/ und http://www. ruhr-uni-bochum.de/wegera/ref/index.htm. Die Notwendigkeit der Aufnahme solcher Makrostrukturen in Editionen erklärt schon Franz Simmler: Prinzipien der Edition aus sprachwissenschaftlicher Sicht. In: Probleme der Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Hg. von Lothar Mundt/Hans-Gert Roloff/Ulrich Seelbach. Tübingen 1992, S. 36–127 (bes. S. 43ff.).
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Hs. und der Transkription mit zusätzlich zeilengenauer Detailansicht der handschriftlichen Überlieferung in der Transkription (optional durch Lupenansicht) geboten werden.19 So können auch die verschiedensten Ansprüche der beiden „extremen Interessengruppen“20 gewahrt und bedient werden.
Abb. 2: mit der Hs. D221 verlinkte Transkription
b. Lemmatisierung und Annotation Um die Filiationsverhältnisse der Hss. der Wundarznei abschließend bestimmen und einem späteren Nutzer ein erschlossenes, strukturiertes Korpus zur Verfügung stellen zu können, werden alle Überlieferungszeugen der Wundarznei lemmatisiert und morphologisch annotiert.22 Nur durch dieses Vorgehen ist ein semi-automatischer Vergleich der verschiedenen Überlieferungszeugen mit ihren disparaten Graphievarianten möglich. Zugleich wird ein Ergebnis geliefert, welches den manuellen Korrekturaufwand eines solchen Vergleiches drastisch verringert. Die Lemmatisierung eines frnhd. Textes selbst stellt uns jedoch vor größere Probleme, was vor allem mit dem Fehlen einer geeigneten lexikographischen Basis für
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Vgl. auch Wernfried Hofmeister ‚Hugo Montfort – Das poetische Werk‘; http://gams.unigraz.at/fedora/get/o:me.1r/bdef:TEI/get/ (direkte Ansicht); oder http://www-gewi.uni-graz.at/montfortedition/ (Startseite Edition). Andrea Hofmeister 1991 (Anm. 12), S. 286. SLUB Dresden/Handschriftensammlung, Signatur: Mscr.Dresd.C.292; 96v. Dieses Verfahren findet in allen Referenzkorpora (vgl. Referenzkorpus Mittelhochdeutsch (Anm. 16) und Referenzkorpus Frühneuhochdeutsch (Anm. 17), sowie Referenzkorpus Altdeutsch, vgl. www.deutschdiachrondigital.de und im Referenzkorpus Niederdeutsch, vgl. www.slm.uni-hamburg.de/ifg1/Personal/Schroeder/home.html) Anwendung.
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diese Epoche zusammenhängt.23 Wir haben, im Konsens mit dem Referenzkorpus Frühneuhochdeutsch (vgl. Anm. 7), zunächst nach dem DWB24 lemmatisiert (genauer s. u. Abschnitt c. Funktionsweise des Tools). Die morphologische Annotation reichert das Textmaterial zunächst mit der Angabe der Wortart an, wobei Verben und Nomina weiter spezifiziert, also mit Angaben zu den verbalen und nominalen Kategorien (Person, Numerus, Tempus, Modus, Flexionsklasse bzw. Genus, Numerus, Kasus) versehen werden. Syntaktische Informationen werden teilweise durch die Unterscheidung attributiver, prädikativer oder adverbialer Verwendung bei Adjektiven und Partizipien geliefert. Auch die während der Transkription eingefügte moderne Interpunktion und die Markierung von Präverbien in Distanzstellung ermöglichen eine teilweise automatisch gestützte syntaktische Analyse. Durch Lemmatisierung und Annotation werden die Wortformen der einzelnen Hss. einem tertium comparationis gegenübergestellt. Durch diese Abstraktion, die Zuweisung einer der Einzelgraphie übergeordneten Wörterbuchform (bei parallelem Erhalt der konkreten Hss.-Graphie), wird ein sehr konkreter maschineller Vergleich möglich. c. Funktionsweise des Tools Für die Lemmatisierung und morphologische Annotierung mit Part-of-Speech-Tags existieren bereits linguistische Werkzeuge, die nach einer Trainingsphase auf bereits annotierten Texten weitere Texte automatisch annotieren können. Angewendet auf frühneuhochdeutsche Texte liefern diese Werkzeuge aber hohe Fehlerraten, denn eine Voraussetzung für ihr Funktionieren ist hier schwer erfüllbar: das Erkennen von Wortformen. Im Frühneuhochdeutschen stellt die stark variierende Graphie ein Hindernis dar. So finden sich in der Wundarznei, wie in anderen frnhd. Hss. auch, sogar innerhalb desselben Textzeugen verschiedene Graphievarianten eines Lexems. Eine manuelle Nachbearbeitung, bei der eine Überprüfung der maschinell getroffenen Entscheidungen für jede einzelne Wortform nötig ist, ist damit unumgänglich. Aus diesem Grund werden im Pfalzpaint-Projekt der Lemmatisierungs- und Annotationsvorgang komplett manuell durchgeführt. Dabei ist aber dem Benutzer mit LAKomp ein Werkzeug an die Hand gegeben, das ihn sehr schnell und präzise große Textmengen bearbeiten lässt und damit den Mehraufwand händischer Annotation nahezu ausgleicht. Für bessere Lesbarkeit und zur schnellen, benutzerfreundlichen Lemmatisierung und Annotation präsentiert LAKomp dem Nutzer den Text mit rückübersetzter –––––––—
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Das FWB (Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hg. von Robert R. Anderson [für Bd. 1]/Ulrich Goebel/Anja Lobenstein-Reichmann/Oskar Reichmann [Bd. 4 und 7 in Verbindung mit dem Institut für deutsche Sprache], Berlin/New York. 1986ff.) befindet sich derzeit noch in Bearbeitung und soll voraussichtlich erst 2027 fertiggestellt sein (siehe auch: http://adw-goe.de/forschung/forschungsprojekte -akademienprogramm/fruehneuhochdeutsches-woerterbuch/). Das kleine frühneuhochdeutsche Wörterbuch von Christa Baufeld (Christa Baufeld: Kleines frühneuhochdeutsches Wörterbuch – Lexik aus Dichtung und Fachliteratur des Frühneuhochdeutschen. Tübingen 1996.) weist eine nur geringe Lemmaanzahl auf. DWB. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854 – 1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971.
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Transkriptionsnotation. Ohne die Hände von der Tastatur zu nehmen, also ohne zeitraubendes Umgreifen von Tastatur zu Maus, kann er die Wortformen zügig nacheinander lemmatisieren und annotieren. Für jede Wortform sind dabei oft nur drei Tastendrücke nötig. Zur Lemmatisierung einer Wortform öffnet sich der in der Abbildung gezeigte Dialog.
Abb. 3: LAKomp – Annotationsdialog mit automatisch generierten Vorschlägen
Auf der linken Seite des Annotationsdialogs werden Vorschläge für Lemma und morphologische Informationen geboten, die sofort in die Eingabefelder rechts im Dialog übernommen werden können. Mit einem weiteren Tastendruck können diese Informationen gespeichert werden. Für möglichst gute Vorschläge verwendet LAKomp die elektronisch vorliegende Lemmaliste des DWB25 und die Daten des Bonner Frühneuhochdeutschkorpus.26 Letztere sind hinsichtlich der Lemmatisierung noch genauer auf das Frühneuhochdeutsche zugeschnitten und enthalten schon morphologische Informationen zu den einzelnen Wortformen. Zusätzlich wird jede getätigte Lemmazuweisung und Annotation einer Wortform in einem eigenen Lexikon27 gespeichert und steht sofort für jede weitere Wortform zur Verfügung. Um aus der Menge der bereits lemmatisierten Wortformen trotz abweichender Graphie möglichst passende Lemmatisierungs- und Annotationsvorschläge für eine neue Wortform finden zu können, verwendet LAKomp einige Ersetzungsregeln, die
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Vgl. http://wörterbuchnetz.de/DWB. Vgl. www.korpora.org/Fnhd/. Im Falle der Wundarznei von uns als Pfalzpaint-Wörterbuch bezeichnet.
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Da alle getätigten Lemmazuweisungen und Annotationen in einem eigenen Wörterbuch abgelegt werden, entsteht ein Pfalzpaint-Wörterbuch (in der Eingabemaske mit geklammertem (P) bezeichnet), welches konkret das in der Wundarznei auftretende Wortmaterial umfasst. Dieses Vorgehen gewährleistet die spätere Durchsuchbarkeit des Materials. In einer einfachen Suche können alle Belegstellen mit Lemmazuweisung, morphologischen Informationen sowie individuell anpassbarem Kontext angezeigt werden. Vorteil ist hier, dass neben der Suche nach Lemma und morphologischen Attributen auch die Transkriptionsnotation selbst sowie Anmerkungen zu diesen durchsuchbar sind. Dies ermöglicht u.a. ein präziseres Bearbeiten einzelner Wortformen bzw. bei der Suche in den Annotationsanmerkungen ein schnelleres Lösen einzelner morphologisch problematischer Fälle. Auch eine Prüfung der einzelnen Annotationen durch den Bearbeiter mit Blick auf Annotationsfehler ist dadurch möglich.
Abb. 5: LAKomp – einfache Suche
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Vorgehen gewährleistet die freie Kombinierbarkeit und damit freie Wählbarkeit der Kollationsbasis.
Abb. 6: Vergleich der Textzeugen in Form eines Partiturtextes
Der Partiturtext wird von LAKomp mit Zuhilfenahme der vorher beigegebenen Informationen automatisch erzeugt, wobei die Basis des Vergleichs frei wählbar ist. Um, wie im Falle der Wundarznei, eine Gruppierung der Hss. zu erkennen, kann man als Vergleichsbasis die Lemmaebene ansetzen. Durch das Hinzuziehen der morphologischen Informationen lassen sich detailliertere Abhängigkeitsverhältnisse zwischen einzelnen Hss. deutlicher erkennen. Der Bearbeiter hat dann die Möglichkeit, den automatisch generierten Vorschlag zu prüfen, zu interpretieren und gegebenenfalls zu korrigieren. Hohe Priorität haben hierbei v.a. lexikalische Varianten, die bei einem automatischen Vergleich einander nicht zugeordnet werden, jedoch trotz der unterschiedlichen Lemmawahl als gleichwertig hinsichtlich der Satzstruktur zu betrachten sind. Diese sollen dann, entweder manuell oder bei eindeutiger Zuordnung auf Grund der Übereinstimmungen benachbarter Wörter auch automatisch, einander zugewiesen und verglichen werden.
4. LAKomp als Editionswerkzeug Auf der Ebene des Partiturtextes soll eine weitere Zeile (bei mehreren Versionen eines Textes auch zwei oder mehr Zeilen)34 eingefügt werden, in welcher der spätere Editionstext erstellt werden kann. Diese soll den Text der ausgewählten Leithandschrift enthalten und bearbeitet werden können. „Wo eine Verbesserung objektivierbarer Fehler nötig ist“,35 kann das betreffende Wort bzw. der betreffende Textabschnitt aus anderen Hss. per Drag and Drop, mitsamt den dazugehörigen Informationen (Hs., Position innerhalb der Hs., Lemma, morphologische Annotation) übernommen und automatisch als Texteingriff kenntlich gemacht werden. Auch alle anderen editorischen Eingriffe, wie die Auflösung von Abbreviaturen und Superskripten, werden automatisch als solche gekennzeichnet. –––––––—
34 35
Im konkreten Fall der Wundarznei sollen zwei zusätzliche Zeilen eingefügt werden: je eine für jede Gruppe der Hss. Thomas Bein: Textkritik. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Frankfurt/M. 2011, S. 112.
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4.1. Such- und Analysefunktion Neben der einfachen Suchfunktion, welche die Belegstellen mit Kontext anzeigt und vor allem auch für den Bearbeiter zur Überprüfung seiner Lemmatisierungen und Annotationen von großem Nutzen ist, kann das zuvor im Pfalzpaint-Wörterbuch abgelegte und mit Informationen angereicherte Wortmaterial auch mit der sogenannten Analysefunktion gezielt durchsucht werden. So bietet sich dem Nutzer bspw. die Möglichkeit, alle Graphieformen eines Lemmas abzurufen und ihre statistische Verteilung in den Hss., aber auch innerhalb einzelner Hss. abzufragen. Neben der prozentualen Verteilung werden ebenso die Belegzahlen und die einzelnen Graphieformen ausgegeben.
Abb. 7: LAKomp – Analysefunktion
Neben dem Interesse eines späteren Nutzers an einer solchen statistischen Analyse bezüglich diachroner und diatopischer Fragestellungen bietet diese Funktion dem Editor auch die Möglichkeit, den Schreibusus der einzelnen Überlieferungszeugen zu ermitteln, um diesen einer Edition voranzustellen und somit den Variantenapparat zu entlasten.
Zwischen Online-Korpus und Buch
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Abb. 8: LAKomp – statistische Verteilung der Graphievarianten für das Lemma pfeil in den Hss. H und B8
4.2. Variantenapparat Die dem Text beigegebenen Daten bilden auch die Grundlage für die automatische Generierung eines Variantenapparates, der 1. die graphematischen, 2. die morphologischen und 3. die lexikalischen36 Varianten unterscheidet. So sind alle Variantentypen nach Relevanz für die jeweilige Fragestellung in der Ansicht frei zu- bzw. abschaltbar.
Abb. 9: Partiturtext und Variantenapparat mit graphematischen, morphologischen und lexikalischen Varianten
–––––––— 36
Die lexikalischen Varianten müssen zuvor auf der Ebene des Partiturtextes als solche manuell markiert werden. Vgl. 3.2. Semi-automatischer Textzeugenvergleich, S. 178.
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Abb. 10: Partiturtext mit Variantenapparat ohne graphematische Varianten
5. Printedition Neben der digitalen Verfügbarkeit des Textes der Wundarznei des Heinrich von Pfalzpaint, deren Möglichkeiten hier mit der Vorstellung von LAKomp aufgezeigt wurden, soll es auch eine klassische Printedition nach dem Leithandschriftenprinzip mit Variantenapparat geben. Die Editionsform muss nun der Textvarianz, hier also den beiden in den Pilotstudien herausgearbeiteten Versionen, Rechnung tragen. Da sich die Abweichungen der Schüler-Hss. nicht im Apparat der Meister-Hss. (siehe auch 2.) verbergen können, wird es sich um eine synoptische Zwei-Text-Version handeln, wobei jede Gruppe nach dem Leithandschriftenprinzip ediert werden wird.
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Abb. 11: Fassungssynopse mit vollem Variantenapparat; Eingangstext Wundarznei; Editionsprobe
Vor dem Hintergrund der Verfügbarkeit eines umfassenden Variantenapparats auf digitaler Ebene kann der Apparat der Printausgabe deutlich verschlankt werden. Neben dem klassischen Lesartenapparat soll der Printausgabe ein zweiter, grammatischer Apparat beigegeben werden, welcher grammatische Besonderheiten erläutert und Übersetzungshilfen gibt. Um diesen, sprachlich wie auch inhaltlich, nicht immer einfachen Text einem breiteren Publikum, also auch Nicht-Philologen, wie Medizinhistorikern, deren erstes Anliegen das Verstehen des Textes ist, zugänglich zu machen, soll ein zweites Verfahren Anwendung finden: Ein stärker normalisierter Lesetext mit Übersetzung soll der Edition beigegeben werden.
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normalisierte Lesefassung, Pfeilwunden (Anfang): Item, kommt dir einer zu und ist durch den leib geschossen, also durch die höhle aus, So rat ich dir mit nihte, dasz du ihm den pfeil ausziehest. Darumb, wenn du ihn den pfeil alsobald auszögest, [nur A:] so lieff/leufft das blut allum/ von allen enden zu der wunden. [nur A:] Ist er ganz durchgeschossen, so leufft das blut hinden und vorn zu den löchern aus als ein röhre und des bluts ist zuvil und leufft im wohl halb inwendig in den leib. das wirt den von stund an in dem leib gelibbert. Übersetzung, Pfeilwunden (Anfang): Also: kommt einer zu dir, der durch den Leib geschossen wurde, sodass (der Pfeil) durch die (Leibes)Höhle wieder austritt, so rate ich dir, dass du ihm den Pfeil auf keinen Fall herausziehst. (Das soll) deshalb (so sein): Wenn du ihm den Pfeil sofort herausziehst, [nur A:] dann läuft das Blut von überall her zur Wunde. [nur A:] Ist er ganz durch (den Leib) geschossen, so läuft das Blut hinten und vorn an den Löchern hinaus wie aus einer Röhre. Und es ist dann zu viel Blut und die halbe Menge oder mehr läuft ihm in den Leib hinein, dieses (Blut) gerinnt sofort im Körper.
6. Zusammenfassung Mit Hilfe von LAKomp wird das Ergebnis unserer Pilotstudien, eine Einteilung der Hss. in Meister- und Schüler-Hss., auch für den Gesamtbestand durch semiautomatische Analyse zeitnah bestätigt werden können. Mit der Anreicherung des Textmaterials durch Lemmatisierung und morphologischer Annotation und der Durchsuchbarkeit des Materials sind die Voraussetzungen geschaffen, einem späteren Nutzer neben dem Text der Wundarznei in Buchform auch ein strukturiertes, erschlossenes Korpus zur Verfügung zu stellen,37 welches sowohl die Ansprüche der historischen Sprachwissenschaft wie auch der historischen Literaturwissenschaft zu vereinen versteht und auch für jedwede weiteren Fragestellungen, seien es kulturhistorische, medizinische oder pharmazeutische, eine Datengrundlage über den konkreten Text hinaus bietet.
–––––––— 37
Gemäß den DFG-Richtlinien zur digitalen Veröffentlichung und zum entgeltfreien Zugriff im Internet (vgl. http://www.dfg.de/formulare/2_01/2_01_de.pdf, S. 22f.) soll das Pfalzpaint-Korpus über die linguistische Datenbank ANNIS (vgl. http://www.sfb632.uni-potsdam.de/annis/) verfügbar gemacht werden.
Ulrike Leuschner
Rezensionen edieren Aus der Arbeit der Forschungsstelle Johann Heinrich Merck
Was Johann Heinrich Merck schon im Urteil seiner Zeit auszeichnete, war sein kritischer Intellekt. Gepaart mit vielseitigen Interessen und einem Gespür für aktuelle Themen, prädestinierte ihn diese Begabung zum Zeitschriftenbeiträger just in der Epoche, da sich ein breites bürgerliches Publikum zu etablieren begann. Merck, geboren 1741, war der Sohn einer begüterten Darmstädter Apothekerfamilie. Da sein älterer Bruder die Apotheke weiterführte, nahm der begabte Jüngste 1757 an der Landesuniversität Gießen das Studium der Theologie auf, weitete sein Bildungsprogramm 1759 an der fortschrittlichen Erlanger Universität auf die Naturwissenschaften und die Schönen Künste aus, wechselte 1762 zum Kunststudium an die Dresdner Akademie und schloss seine akademischen Jahre 1763 mit poetischen Vorlesungen in Leipzig ab. Nach einem Intermezzo als Hofmeister trat er 1766 als Schreiber in den Hofdienst der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, in dem er, zuletzt mit dem Titel eines Kriegsrats, bis zu seinem Freitod 1791 verblieb. In seinen freien Stunden entstand ein schriftstellerisches Werk, in dem bis 1780 nicht nur dem Umfang nach Rezensionen einen bedeutenden Teil einnehmen. In den 1780er Jahren verlegte er den Schwerpunkt seiner außerdienstlichen Betätigung auf die Naturforschung. Den Zeitgenossen galt er als herausragende Persönlichkeit, in seinem Briefwechsel sind europaweit rund 150 Korrespondentinnen und Korrespondenten auszumachen, darunter namhafte Literaten, Künstler und Naturwissenschaftler. Der Briefwechsel liegt seit 2007 gedruckt vor,1 2008 begann die Forschungsstelle Johann Heinrich Merck an der Technischen Universität Darmstadt mit der Edition der Gesammelten Schriften.2
1. Merck ein Journalist Im Jahr 1772 bezeichnet Merck sich in einem Brief als einen „Journalisten, – der mit allem unzufrieden ist“.3 An dieser Selbstaussage sind der Zeitpunkt wie der Adressat des Briefes aufschlussreich. 1772 herrschte in Mercks Heimatort das, was nachmals in der Literaturgeschichte als ‚Darmstädter Empfindsamkeit‘ auftritt, das gesellige Bei–––––––— 1 2 3
Johann Heinrich Merck: Briefwechsel. Hg. von Ulrike Leuschner in Verbindung mit Julia Bohnengel, Yvonne Hoffmann und Amélie Krebs. 5 Bde. Göttingen 2007. Bisher erschienen: Johann Heinrich Merck: Gesammelte Schriften. Bd. 1: 1760–1775. Göttingen 2012; Bd. 3: 1776–1777. Göttingen 2012; Bd. 4: 1778. Göttingen 2013. Johann Heinrich Merck an Johann Georg Jacobi, Darmstadt, 12. Juli 1772; Merck 2007 (Anm. 1), Bd.1, S. 320–322, hier S. 322.
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sammensein einer Gruppe von Menschen, die sich in Musik, Naturschwärmerei und sentimentalen Dichtungen ergingen.4 Mittelpunkt des Kreises war Merck. Der junge Frankfurter Advokat Goethe beglückte die Darmstädter Freundinnen und Freunde mit kleinen Schauspielen und Gedichten. Auch Merck versuchte sich in empfindsamer und bardietischer Lyrik, maß dem aber, wie das Zitat zeigt, wenig Bedeutung bei. Der Adressat des Briefes ist Johann Georg Jacobi, gegen dessen anakreontische Dichtung Merck sich abgrenzt. Falsch ist die Selbsteinschätzung als ‚Journalist‘ nicht. Bereits in seiner Erlanger Studienzeit hatte Merck in der dortigen Teutschen Gesellschaft erste Proben kritischer Begutachtungskunst abgelegt, vier davon haben sich erhalten.5 Ende 1771 übernahm er die Schriftleitung der seit 1736 bestehenden Franckfurtischen gelehrten Zeitung, die im folgenden Jahrgang 1772 als Frankfurter gelehrte Anzeigen reüssierte. Goethe, der dort unter Mercks Anleitung erste Erfahrungen im kritischen Fach sammelte, attestierte dem Jahrgang rückblickend ein „unbedingtes Bestreben, alle Begrenzungen zu durchbrechen“.6 Von Beginn an gab es Querelen mit der Frankfurter Orthodoxie, am Ende des Jahres resignierten die Hauptakteure Merck, Schlosser, Herder und Goethe. Unter neuer Leitung bestand das Rezensionsorgan noch bis 1790 weiter. „Daß Sie und Ihre Freunde nicht mehr kritisiren wollen, geht mir von Herzen nahe“, schreibt Heinrich Christian Boie im Januar 1773 an Merck. „Nie hat man vielleicht einen sichtbareren Abfall gesehen, als die wenigen Blätter des neuen Jahres machen. Ich werde sie nicht mehr lesen.“7 Als das Ende seiner Frankfurter Tätigkeit abzusehen war, schloss Merck einen Kontrakt mit Friedrich Nicolai. 1773 bis 1775 rückte er 28 Besprechungen in dessen Referatenorgan Allgemeine deutsche Bibliothek ein,8 1776 wechselte er zur Monatszeitschrift Der Teutsche Merkur. Bis 1780 sind dort rund 230 Rezensionen Mercks auszumachen.9
2. Mercks Rezensionen im zeitgenössischen Kontext Als kritischer Publizist trat Merck zu eben jenem signifikanten Zeitpunkt in Erscheinung, da im erstarkenden Bürgertum des letzten Jahrhundertdrittels Zeitschriften „ge–––––––— 4 5 6
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9
Vgl. Robert Seidel: Literarische Kommunikation im Territorialstaat. Funktionszusammenhänge des Literaturbetriebs in Hessen-Darmstadt zur Zeit der Spätaufklärung. Tübingen 2003, S. 561–654. Merck 2012 (Anm. 2), Bd. 1, S. 7–9. Johann Wolfgang Goethe: Autobiographische Schriften der frühen Zwanzigerjahre. Hg. von Reiner Wild. München 1986 (Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Bd. 14), S. 10. Heinrich Christian Boie an Johann Heinrich Merck, 26. Januar 1773; Merck 2007 (Anm. 1), Bd. 1, S. 354. 1773: 7 Rezensionen; 1774: 4 Rezensionen; 1775: 17 Rezensionen; vgl. Merck 2012 (Anm. 2), Bd. 1. Von den Rezensionen, die Merck 1773 für den Teutschen Merkur lieferte, kam nur eine zum Abdruck, eine zweite fand sich unter den nachgelassenen Redaktionspapieren; vgl. ebd., S. 517f. 1776: 47 Rezensionen; 1777: 42 Rezensionen; vgl. Merck 2012 (Anm. 2), Bd. 3. 1778: 84 Rezensionen; vgl. Merck 2013 (Anm. 2). 1779: etwa 60 Rezensionen; 1780: etwa 15 Rezensionen; Johann Heinrich Merck: Gesammelte Schriften. Bd. 5: 1779–1780 (in Vorbereitung).
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radezu Kristallisationspunkte des geselligen Lebens unter den Privatleuten“ wurden.10 Bis dahin war in den Rezensionsabteilungen der Zeitschriften das Häuflein akademisch Gebildeter weitgehend unter sich geblieben, hatten ökonomisch und staatsrechtlich ausgerichtete Organe wie die Staats- und Gelehrte Zeitung Des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten (gegründet 1731) oder die Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen (gegründet 1740) in ihren quantitativ geringen Sparten „Von gelehrten Sachen“ allenfalls religiöse oder geopolitisch relevante Schriften angeführt. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts richteten sich die Verleger auf einen stetig wachsenden Bedarf ein. Die Messkataloge verzeichneten insgesamt einen steilen Anstieg der Buchproduktion,11 bis zum Ende des Jahrhunderts gingen Werke in lateinischer Sprache auf eine zu vernachlässigende Prozentzahl zurück.12 Das führende Rezensionsorgan Allgemeine deutsche Bibliothek (gegründet 1765) kam mit vier Lieferungen pro Jahr bald nicht mehr aus, behalf sich seit 1771 mit Ergänzungsbänden und verschaffte sich durch Nicolais geschickte Netzwerkbildung eine autoritäre Position. Der neue Ton der Frankfurter gelehrten Anzeigen 1772 begeisterte die nachrückende Generation. Eine breite Leserschaft aber wurde, wie das Epitheton signalisiert, auch dort nicht angesprochen. Als erster reagierte Christoph Martin Wieland, soeben vom Erfurter Professor zum Weimarer Fürstenerzieher avanciert, mit der Gründung des Teutschen Merkur 1773 auf den Wandel. Die „erste deutsche Kulturzeitschrift“ (Andrea Heinz) machte es sich zur Aufgabe, ihre Leserschaft zum Publikum heranzubilden. Ausgewählte Dichtungen leiten die einzelnen Hefte ein und erziehen den Geschmack, ein umfassender kritischer Teil die Urteilsfähigkeit der Leserschaft. Darin lasse es sich, so Wieland in der Vorrede des ersten Stücks, Der Deutsche Merkur (wie er im ersten Quartal 1773 noch hieß) angelegen sein, „durch unpartheyische und auf gründliche Einsichten gestüzte Urtheile über Werke des Genies und der Litteratur das Publicum gegen falsche Eindrücke zu verwahren, von bereits gefaßten Vorurtheilen zu befreyen, und auf den rechten Standpunct, aus welchem die Gegenstände gesehen werden müssen, zu setzen“.13 Leser, die einer solchen Anleitung nicht bedürften, gebe es in geringer Zahl sehr wohl, aber für die größere Menge „des lesenden Publici, welches täglich zahlreicher wird“, sei Hilfestellung von Nöten.14 Das Publikum avanciert zum hofierten Dialogpartner. Von den „vier Hauptformen von Literatur“, die sich in den „diskursanalytisch und funktionsanalytisch orientierten“ Forschungen herauskristallisiert haben, spielen die Formen (2) „[d]ie Unterhaltungsliteratur der Mittelschichten“ und (3) „die gelehrte, intellektuell anspruchsvolle Literatur der Bildungsschichten“ eine breite Rolle. Die „Kompensationsliteratur der Unterschichten“ (1) ist auf dem Buchmarkt noch kaum –––––––— 10 11
12 13 14
Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied, Berlin 61965 (Politica, 4), S. 93. Friedrich Kapp, Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels. Bd. III: Geschichte des Deutschen Buchhandels vom Beginn der klassischen Litteraturperiode bis zum Beginn der Fremdherrschaft. (1740–1804). Leipzig 1909, S. 248. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick. München 1991, S. 112. Christoph Martin Wieland: Vorrede. In: Der Deutsche Merkur 1773, Bd. 1, S. III–XXII, hier S. XIX. Ebd., S. XX.
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vertreten, die „Repräsentationsliteratur der gesellschaftlichen Machteliten“ (4) distinktiv besetzt.15 An Mercks Rezensionen ist das buchstäblich abzulesen. In der Summe präformieren sie für ein halbes Jahrzehnt den zeitgenössischen Bildungshorizont. Gespür für die aktuelle Nachfrage hatte Merck bereits bewiesen, als er im Selbstverlag, hergestellt beim Darmstädter Hofdrucker Wittich, angesagte Werke in der Originalsprache und die ersten genieästhetischen Publikationen herausbrachte: 1772 Oliver Goldsmith� The Deserted Village, verdeckt dem Freund Goethe gewidmet, und Claude-Joseph Dorats Ma Philosophie, 1773–1777 unter Mitwirkung Goethes in einer vierbändigen Ausgabe James Macphersons Works of Ossian, 1773 vier Werke des jungen Goethe, darunter den Erstdruck des Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, 1774 Lenz� Adaption Lustspiele nach dem Plautus und Goethes Prolog zu den neusten Offenbarungen Gottes. Im Selbstverlag ließ Merck auch eigene Werke erscheinen, so 1773 Rhapsodie von Johann Heinrich Reimhart, dem Jüngern, eine satirische Sichtung des literarischen Feldes in der Nachfolge Swifts,16 und 1775 Pätus und Arria eine Künstler-Romanze, eine satirische Antwort auf das Verbot der Leiden des jungen Werthers durch die Stadt Leipzig.17 1782, 1784 und 1786 folgten seine drei paläontologischen ‚Knochenbriefe‘ (Lettre Sur les Os Fossiles).18 Zuletzt beschäftigte er sich mit Techniken zur Reproduktion von Graphik; 1788 gründete er eine darauf spezialisierte Druckerei, in der er Johannes Millers Illustratio systematis sexualis Linnaei mit kolorierten Kupferstichen herausbrachte. Die zweite verbesserte Auflage 1792 erlebte er nicht mehr. Für den Kulturjournalisten Merck war Der Teutsche Merkur der rechte Ort. Wieland hatte ihm „das ganze Kritische Fach (nicht als Gesell, sondern als Obermeister)“ überlassen.19 1778, im Jahr mit dem höchsten Ausstoß, verfasste Merck 18 Rezensionen zu belletristischen Werken, 13 zu der überaus beliebten Gattung der Reiseberichte, acht Rezensionen widmen sich Werken der Bildenden Kunst, acht weitere solchen der Naturkunde, je sechs der Altertumswissenschaft und Kameralistik, fünf der Geschichtsschreibung, je drei der Philosophie und Pädagogik, zwei dem Bibliothekswesen, einige weitere zu Sammelwerken beziehen sich auf mehrere Bereiche. Bildungsund Machtelite differenzieren sich beispielhaft bei den unmittelbar aufeinanderfolgenden Besprechungen von Johann Karl Hedlingers Medaillenwerk20 und Nicolas de Pigages kostbarer Kupferstichsuite der Düsseldorfer Gemäldegalerie.21 Heißt es zu dem ersten, „das Publicum hat alle Ursache, den Hrn. v. M. [dem Verleger Christian –––––––— 15 16 17 18 19 20 21
Klassifizierung nach Jost Schneider: Literatur und Text. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2007, S. 1–24, hier S. 17. Merck 2013 (Anm. 2), Bd. 1, S. 131–138. Ebd., S. 238–243. Vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Johann Heinrich Merck als Drucker, Verleger, Kupferstecher und Mäzen. In: Philobiblon 13 (1969), S. 99–122 und S. 165–208. Christoph Martin Wieland an Johann Heinrich Merck, 5. Januar 1776; Merck 2007 (Anm. 1), Bd. 1, S. 604. [Johann Heinrich Merck:] Oeuvre du Chevalier Hedlinger ou Recueil des Medailles; Der Teutsche Merkur 1778 II, S. 175f. [Johann Heinrich Merck:] Nicolas de Pigage: La Galerie Electorale de Dusseldorf; ebd., S. 176–178; beide Texte wieder in: Merck 2013 (Anm. 2), S. 157–160.
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von Mechel] sowohl für die Unternehmung als Ausführung dieses schönen Werkes verbunden zu seyn“,22 so zu dem zweiten, es bleibe „immer ein sehr angenehmes Werk für reiche Kunstliebhaber“. Pigages Werk koste „144 Französische Livres, oder 6 neue Louisd’or“, das „Hedlingerische[] Werk[] just die Hälfte“.23 Insbesondere Mercks Texte zur Kunst bewegen sich häufig in der Schnittmenge von Bildungs- und Machteliten. „Man sage nicht, das bloße Kauffen und Aufbewahren machts nicht aus“, schreibt er in einem Essay vom Juli 1777. „Allein der Mensch, der neben einem Kunstwerk Jahr und Tage zubringen, es mit Eifersucht wie seine Maitresse bewachen, und auch glücklich in seinem Besitz seyn kann, wenn kein Mensch Zeuge davon ist, dieser Mensch, wenn er viel Geld und Zeit übrig hat, wird dadurch doch unschädlich. Und dies ist schon genug, wenn man es bey einer gewissen Classe, die Gewalt, Ansehen und Reichthümer in Händen hat, dahin bringen kann.“ Und Ovid zitierend, weiter: „Emollit mores, begegnet dem Despotismus, er sey häuslich, oder fürstlich – den Verstopfungen im Unterleibe etc. etc.“24 – wobei Letzteres als typisches Leiden der sitzenden Gelehrten galt. Dem Making-of-Art des Kunstmarkts mit seiner virtuellen Preisgestaltung und der Fälschungsanfälligkeit insbesondere der Druckgraphik schenkte Merck große Aufmerksamkeit, berichtete über Auktionen, verglich international die Preise und beriet Kunstsammler. Mehr als ein gebildeter Amateur, der sein Urteil unter Seinesgleichen formuliert,25 bereitete er als der erste deutsche Kunstkritiker der Kunstgeschichte den Weg.26 Die professionelle Autorität bezog er aus der eigenen Praxis als Zeichner: In Ueber die Schönheit. Ein Gespräch zwischen Burke und Hogarth, dem ersten essayistischen Beitrag für den Teutschen Merkur, legt er nach dem kontroversen Disput der beiden Theoretiker das letzte Wort dem Maler Mengs in den Mund und lässt ihn abschließend Dürer zitieren.27 Das „selbst Hand angelegt haben“, das Wissen „aus Erfahrung“ erst befähigen nach Mercks Meinung zur kritischen Bewertung eines Kunstwerks.28 Aus dieser Haltung heraus wertete er die Landschaftsmalerei – in der zeitgenössischen Hierarchie der Historienmalerei und dem Porträt nachgeordnet – auf und leitete junge Künstler zum Malen nach der Natur an.29 Im Radieren geübt, verriss er eine Anleitung zur Anlage einer Kupferstichsammlung30 und setzte ihr eine eigene entgegen.31 –––––––— 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Merck 2013 (Anm. 2), S. 157. Ebd., S. 160. – 6 neue Louisd’or entsprachen 30 Reichstalern, ein Tagelöhner hatte ein Jahreseinkommen von 48 Reichstalern. Johann Heinrich Merck: An den Herausgeber des T. M. [Ueber Kunst und Künstler]. In: Der Teutsche Merkur 1777 III, S. 49–59, hier S. 52f.; Merck 2013 (Anm. 2), S. 109–113, hier S. 110. Vgl. Habermas 1965 (Anm. 10), S. 58. Vgl. Gerhard Sauder: „Wunderliche Großheit“. Johann Heinrich Merck (1741–1791). In: LenzJahrbuch. Sturm-und-Drang-Studien 1 (1991), S. 207–227, hier S. 223. Der Teutsche Merkur 1776 I, S. 131–141; Merck 2012 (Anm. 2), Bd. 2, S. 7–13. Der Teutsche Merkur 1777 III (Anm. 24), S. 55 bzw. Merck 2013 (Anm. 2), S. 111. Johann Heinrich Merck: Ueber die Landschaft-Mahlerey, an den Herausgeber des T. M. In: Der Teutsche Merkur 1777 III, S. 273–280; Merck 2013 (Anm. 2), S. 114–118. Carl Ludwig Junker: Erste Grundlage zu einer ausgesuchten Sammlung neuer Kupferstiche. Bern 1776. Rezensiert in: Der Teutsche Merkur 1776 IV, S. 274f.; Merck 2012 (Anm. 2), Bd. 2, S. 96f. Johann Heinrich Merck: Aus einem Schreiben an den H. über die Frage: wie eine Kupferstichsammlung anzulegen sey? In: Der Teutsche Merkur 1778 II, S. 170–175; Merck 2013 (Anm. 2), S. 81–84.
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Speziell im Bereich der Kunstkritik sind die Grenzen zwischen Rezension und Aufsatz bzw. Essay fließend. Die Überschrift „Kunstsachen“ im Teutschen Merkur bietet der editorischen Textsortenqualifizierung denn auch keine Hilfestellung. Die Sparte versammelt Texte unterschiedlichster Art, tritt zudem nicht regelmäßig auf.32
3. Probleme der Zuschreibung Alle Texte Mercks erschienen anonym oder allenfalls sigliert. „Machen Sie mit was Sie wollen, schneiden Sie ab, setzen Sie zu, nehmen Sie was Sie wollen, aber setzen Sie nur meinen Namen unter nichts“,33 autorisierte er den Freund Höpfner, und mit dessen Namenskürzel „H.“ versehen standen als erste Publikationen Mercks fünf Fabeln im Göttinger Musenalmanach des Jahres 1770. In den vierten Jahrgang 1774 nahm Boie zwei der empfindsamen Gedichte auf, unterzeichnet nach dem gängigen Muster der Almanachs mit einer Sigle – „K. M.“, den Eingeweihten immerhin als „Kriegsrath Merck“ entzifferbar. Die Frankfurter gelehrten Anzeigen hatten auf jegliche Kennzeichnung verzichtet; „denn das ist mein Gesetz, mein erstes und vornehmstes Gesetz, daß kein Recensent je soll genannt noch bekannt werden“, hatte der Verleger Deinet am 16. Januar 1773 an Karl Friedrich Bahrdt geschrieben.34 Im Siglensystem der Allgemeinen deutschen Bibliothek, von Nicolais Schwiegersohn Parthey, wenn auch nicht immer ganz zuverlässig, entschlüsselt, fungiert Merck unter „Um.“ oder „Za“,35 was keinerlei Rückschlüsse mehr zuließ. Die Anonymität war Programm. Zum einen bot sie Rezensenten einen Schutzraum, zum anderen diente sie dem geschlossenen Auftreten des jeweiligen Periodikums. Als die Genieästhetik der autonomen Autorschaft zum Sieg verholfen hatte,36 bat Wieland eingedenk der Prominenz seines Mitarbeiters: „A propos, wolltest du nicht erlauben daß ich künftig unter deine Producte einen buchstaben deines Nahmens, bald ein M. bald ein E. bald ein R. u. bald ein K. setze. Eine Menge Leute wissen doch ohnehin daß du eine hauptrolle beym Merkurwesen spielst.“37 Mercks Gegenbrief ist nicht bekannt, doch scheint die Antwort negativ ausgefallen zu sein: An der bisherigen Praxis änderte sich nichts. Ein einziges Mal machte Merck eine Rezension ausdrücklich –––––––— 32 33 34
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Vgl. Merck 2013 (Anm. 2), S. 320. Johann Heinrich Merck an Ludwig Julius Friedrich Höpfner, Darmstadt, 16. November 1769; Merck 2007 (Anm. 1), Bd. 1, S. 119. Degenhard Pott (Hg.): Briefe angesehener Gelehrten, Staatsmänner, und anderer, an den berühmten Märtyrer D. Karl Friedrich Bahrdt, seit seinem Hinweggange von Leipzig 1789. Nebst andern Urkunden. Zweyter Theil, von 1774 bis 1781. Leipzig 1791, S. 145. [Gustav Parthey:] Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte. Berlin 1842, S. 18f. – Die dort für die Jahre 1776–1787 angegebenen weiteren Siglen „Kl.“, „Au.“ und „Nt.“ sind nicht nachvollziehbar; zu Mercks ausbleibenden Lieferungen vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Aus Briefen der Wertherzeit. In: Die Grenzboten 70 (1911), S. 411–417, 463–469, 557–563, 611–620, hier S. 563, 614, 618. Vgl. Klaus Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens. Ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne. Tübingen 2001 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 86). Christoph Martin Wieland an Johann Heinrich Merck, 16. April 1780; Merck 2007 (Anm. 1), Bd. 2, S. 418.
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durch seine Initiale „M.“ kenntlich – Lichtenberg, aufgebracht durch eine Invektive von Lenz zugunsten Lavaters, hatte dem Teutschen Merkur Rache angekündigt, und Merck wusste die Gefahr durch eine günstige Besprechung von Lichtenbergs Schrift Ueber Physiognomik wider die Physiognomen abzuwenden.38 Autoreitelkeit war Merck fremd, wobei es auch hier eine Ausnahme zu verzeichnen gibt: Beim Abdruck seiner Erzählung Geschichte des Herrn Oheims, die in sechs Lieferungen im Teutschen Merkur 1778 stand,39 war in der dritten Folge im Aprilheft durch Textauslassung der Sinn entstellt. „[D]ießmal oder niemal in meinem Leben fühlt� ich das AutorFieber“, bekannte Merck.40 Zu lesen war: „Die älteste trat dichte auf mich zu, und fragte mich: ob ich nichts vom Stallgeruch an mir hätte?“,41 heißen musste es jedoch: „Die Aelteste trat dichte vor mich, und fragte mich: ob sie nicht abscheulich aussähe? indeß die Jüngste hinten um mich herumschlich, um auszuspähen, ob ich nichts vom Stallgeruch an mir hätte.“ Wieland bat umständlich um Entschuldigung42 und stellte im Maiheft die Korruptel richtig, mit den einleitenden Worten: „Im April des T. M. ist, aus Versehen des Setzers und Correctors, auf der 56sten Seite, durch Auslaßung zwoer Zeilen, eine Art von Druckfehlern veranlaßt worden, die einem Autor den Muth zum Schreiben wenigstens auf 4 Wochen niederschlagen können.“43 Als editorische Konsequenz wurde dem Autorwillen in der Textkonstitution der Gesammelten Schriften Genüge getan, die fehlende Passage an Ort und Stelle in den Text eingefügt.44 Die Autorschaft von Mercks Erzählungen und Essays ist durch Briefe belegt, eine eigenhändige Abschrift nur für den dialogisierten Essay Ein Gespräch zwischen Autor und Leser überliefert.45 Für die Rezensionen gilt das nur ausnahmsweise. Handschriften existieren nicht, das Papier wurde nach der zeitüblichen Praxis noch in der Druckerei der Wiederverwertung zugeführt. Liegen explizite Aufträge oder Reaktionen Wielands vor, ist die Attribuierung unproblematisch. In den Zeiten höchster Rezensi–––––––— 38 39 40 41 42 43 44
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Merck 2013 (Anm. 2), S. 139; vgl. ebd., S. 409–411. Zum Druckverlauf vgl. Merck 2013 (Anm. 2), S. 224. Johann Heinrich Merck an Christoph Martin Wieland, 8. Mai 1778; Merck 2007 (Anm. 1), Bd. 2, S. 76. Ähnlich am 28. Mai 1778 „eine Menge Zeuges“, darunter „klein Zeug“; ebd., S. 93. Der Teutsche Merkur 1778 II, S. 56. Christoph Martin Wieland an Johann Heinrich Merck, Weimar, 14. Mai 1778; Merck 2007 (Anm. 1), Bd. 2, S. 79f. Der Teutsche Merkur 1778 II, S. 192. Vgl. Merck 2013 (Anm. 2), S. 37, Zeile 26–29. – In den bisherigen Drucken wurde unterschiedlich verfahren: Der zeitgenössische Nachdruck in der Auswahl der besten zerstreuten prosaischen Aufsäze der Deutschen (Bd. 2, Leipzig 1780, S. 3–98, hier S. 49) übernimmt die Stelle unkorrigiert, ebenso Arthur Henkel (Johann Heinrich Merck: Werke. Ausgewählt und hg. von A. H. Mit einer Einleitung von Peter Berglar. Frankfurt/M. 1968, S. 173–229, hier S. 200). Adolf Stahr (Johann Heinrich Merck�s Ausgewählte Schriften zur schönen Literatur und Kunst. Ein Denkmal. Göttingen 1840, S. 57–112, hier S. 84), Kurt Wolff (Johann Heinrich Mercks Schriften und Briefwechsel. Bd. 1. Leipzig 1909, S. 45–135, hier S. 76), Heinz Nicolai (Sturm und Drang. Dichtungen und theoretische Texte. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen. Bd. 2. München 1971, S. 1212–1261, hier S. 1235) und Hedwig Voegt (Johann Heinrich Merck: Galle genug hab ich im Blute. Fabeln, Satiren, Essays. Berlin 1973, S. 135–198, hier S. 165) fügten den fehlenden Passus unkommentiert ein. Johann Heinrich Merck: Ein Gespräch zwischen Autor und Leser. Handschrift Kraków, Biblioteka Jagiello�ska, ehemals Staatsbibliothek Berlin; Erstdruck: Der Teutsche Merkur 1780 II, S. 51–57.
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onsfrequenz spricht Merck aber oft nur von einer „Fracht vielerley Zeugs“,46 von „Schnizzen“47 oder einem „Bündel Recensionen“48 – die Zitatreihe ließe sich beliebig fortsetzen. Ebenso pauschal fällt verschiedene Male Wielands Dank aus.49 Die Tatsache, dass Merck in den Jahren 1776–1779 für das ‚Kritische Fach‘ insgesamt zuständig war – als im November 1776 seine Sendung zu spät in Weimar eintraf, erschien das Monatsheft ganz ohne Rezensionen –, erfordert die Überprüfung aller Texte, die nicht sicher einem anderen Autor zugeschrieben werden können. Das Repertorium von Thomas Starnes50 nimmt für Merck nur die Texte in Anspruch, die im Briefwechsel mit Wieland auftauchen. Es bleibt eine erhebliche „Dunkelziffer“.51 Jürgen Stenzel, der bei der Edition der Rezensionen Lessings einen „Offenbarungseid“ leistet, sowohl hinsichtlich der aufgenommenen als auch der „nicht übernommenen Rezensionen“,52 befindet sich gleichwohl in einer komfortablen Lage – die Zu- und Abschreibungen wurden und werden im Falle Lessings von der Forschung lebhaft diskutiert und revidiert.53 Mit Lessing immerhin teilt Merck die vielfachen anderen Verpflichtungen geschuldete Zeitknappheit, so dass beide häufig zu einem ökonomischen Verfahren Zuflucht nehmen: Sie schreiben einfach die Vorreden der rezensierten Werke aus. Einen weiteren, den wichtigeren, Hinweis liefern bei Lessing wie bei Merck die Verflechtungen mit dem übrigen Werk.
4. Die Technik der Hybridisierung Neben ‚klassischen‘ Besprechungen produzierte Merck Mischformen, die sich vom Gegenstandsbezug lösen und narratologische Mittel einsetzen. Als fiktiver Brief ist das Schreiben eines Landedelmanns über eine Stelle aus dem dritten Theil der Könige von Scheschian verfasst, in dem sich eingangs der Landjunker mit der Lektüre von Wielands Erziehungsroman Der Goldne Spiegel, oder die Könige von Scheschian54 –––––––— 46 47 48 49 50 51
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Johann Heinrich Merck an Christoph Martin Wieland, Anfang März 1778; Merck 2007 (Anm. 1), Bd. 2, S. 53. Johann Heinrich Merck an Christoph Martin Wieland, Anfang April 1776; Merck 2007 (Anm. 1), Bd. 1, S. 645), etwa 6. Dezember 1777; Merck 2007 (Anm. 1), Bd. 2, S. 25 und öfter. Johann Heinrich Merck an Christoph Martin Wieland, 10. Januar 1779; Merck 2007 (Anm. 1), Bd. 2, S. 195. Vgl. Christoph Martin Wieland an Johann Heinrich Merck, 1. Juni 1778 (ebd., S. 96), 25. Januar 1779 (ebd., S. 198). Thomas C. Starnes: Der Teutsche Merkur. Ein Repertorium. Sigmaringen 1994. Andrea Heinz: „Mineralogie ist schon gut; aber Witz, lieber Herr, ist für den Merkur noch besser“. Mercks Anteil an Wielands Teutschem Merkur. In: Ulrike Leuschner, Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Netzwerk der Aufklärung. Neue Lektüren zu Johann Heinrich Merck. Berlin, New York 2003, S. 61– 76, hier S. 66. – Für den Zeitraum 1776–1778 stehen nach Heinz� Auswertung 66 Rezensionen Mercks 120 mit unbekannter Autorschaft gegenüber; vgl. ebd. Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1743–1750. Hg. von Jürgen Stenzel. Frankfurt/M. 1989 (Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 1), S. 1291 (Hervorhebung von Stenzel); vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1751–1753. Hg. von Jürgen Stenzel. Frankfurt/M. 1998 (Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 2), S. 738. Vgl. Karl S. Guthke: Besuch in einem Kartenhaus: Lessings Rezensionen. In: Ders.: Der Blick in die Fremde. Das Ich und das andere in der Literatur. Tübingen, Basel 2000, S. 351–392 [Erstdruck im Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1993, S. 1–59]. Christoph Martin Wieland: Der Goldne Spiegel, oder die Könige von Scheschian, eine wahre Geschichte. Aus dem Scheschianischen übersetzt. 4 Bde. Leipzig 1772.
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auseinandersetzt, dann aber seine Überlegungen durch eine gewaltige Maschinenmetapher auf eine Kritik des absolutistischen Staates ausweitet. Der Text, den Merck 1773 eingereicht hatte, blieb in der Redaktion des Teutschen Merkur liegen und wurde erst 1778 zum Druck befördert.55 Hinter der Maske eines Schnupftabakfabrikanten versteckt sich der Rezensent von Herders Aeltester Urkunde des Menschengeschlechts.56 Die Handschrift blieb erhalten, wohl weil Merck aus Rücksicht auf die schwierige Freundschaft mit Herder57 von einer Veröffentlichung abgesehen hat.58 Die Gedanken zum Verhältnis von Buch und Publikum, die dieser biedere ‚Rezensent‘ äußert, greift Merck sechs Jahre später in Ein Gespräch zwischen Autor und Leser59 essayistisch wieder auf. Beide Male erscheint das Verhältnis als ein Handel von hohem Prestige für den einen wie für den anderen. „Der Leser […] bildet seinen Autor, so gut wie der Autor den Leser, und einer muß des andern werth seyn, wenn sie neben einander gedeyhen sollen“, fasst Merck an anderer Stelle die Situation zusammen.60 Die Dialogizität wie die Form des fiktiven Briefs als ein schriftliches Gespräch sind symptomatisch. Das zeitgenössische literarische Feld trägt Züge einer „im Tumult entstandnen Demokratie“,61 deren Bürger das Gespräch miteinander suchen. Wenn der Leser in Mercks Gespräch nicht nur das verlorene Geld, sondern auch sein gefährdetes Renommee bei der Wahl des falschen Buches beklagt, stehen im Hintergrund die Lesegesellschaften als Entstehungsstätten bürgerlicher Öffentlichkeit.62 „Wenn von der Literatur eines Landes die Rede ist, so fragt man nicht, wie ansehnlich –––––––— 55 56
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Der Teutsche Merkur 1778 IV, S. 47–54; nach der Entstehungszeit aufgenommen in Merck 2012 (Anm. 2), Bd. 1, S. 139–142, zur Vorgeschichte ebd., S. 455f. Erstdruck in: Karl Wagner (Hg.): Briefe aus dem Freundeskreise von Goethe, Herder, Höpfner und Merck. Eine selbständige Folge der beiden in den Jahren 1835 und 1838 erschienenen Merckischen Briefsammlungen. Aus den Handschriften hg. Leipzig 1847, S. 219–225. – Von der Handschrift, die Wagner noch vollständig vorgelegen hat, ist in Mercks Nachlass nur noch ein Teil erhalten (vgl. Merck 2012, Bd. 1 [Anm. 2], S. 524f.); die Handschrift weist sich durch starke Überarbeitungen, insbesondere Alternativvarianten, als frühe Niederschrift aus. Der edierte Text in Merck 2012 (Bd. 1, S. 219–225) übernimmt für diesen Teil statt der erfahrungsgemäß geglätteten Wiedergaben Wagners in diplomatischer Transkription die Handschrift. Vgl. Jörg-Ulrich Fechner: „die Meerkatze“ – Bemerkungen über Johann Heinrich Merck im Briefwechsel von Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder. In: Leuschner, Luserke-Jaqui 2003 (Anm. 51), S. 105–120. Die Frankfurter gelehrte Zeitung (Nr. LXIII vom 7. August 1772, S. 497–502 des Jahrgangs) brachte eine außergewöhnlich umfangreiche Rezension, die sich jeder kritischen Auseinandersetzung enthält und den Text paraphrasierend und zitierend zusammenfasst. In der Forschung wird sie übereinstimmend Merck zugeschrieben; vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter gelehrten Anzeigen 1772. Tübingen 1966, S. 664. In gleicher Manier besprach Merck 1776, einem Auftrag Wielands nachkommend, zwei weitere Schriften Herders (Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts. S. l. [Riga] 1774. Rezensiert in: Der Teutsche Merkur 1776 I, S. 83–85, Merck 2012 [Anm. 2], Bd. 1, S. 30f.; Ursache des gesunkenen Geschmacks bey den verschiedenen Völkern, da er geblüht. Berlin 1775. Rezensiert in: Der Teutsche Merkur 1776 II, S. 205–208, Merck 2012 [Anm. 2], Bd. 1, S. 55–57). Mit engagierter Zustimmung folgen die beiden Besprechungen den Gedanken der rezensierten Werke. Der Teutsche Merkur 1780 II (Anm. 45). Der Teutsche Merkur 1777 III (Anm. 24), S. 50; Merck 2013 (Anm. 2), S. 109. Wieland 1773 (Anm. 13), S. XIII. Vgl. Habermas 1965 (Anm. 10), S. 59.
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die Bibliothek des Fürsten seye, sondern welche Masse von Kenntnissen unter den Privatleuten circulire“, heißt es bei Merck.63 Zur Anleitung und Konsolidierung dieser Öffentlichkeit setzt Merck die von ihm genutzten Kleinformen variabel ein. Die Grenzen zwischen den Textsorten sind fließend, die Themen und Motive fluktuieren über die Gattungsgrenzen hinaus. Das kritische Alltagsgeschäft hat Einfluss auf die literarische Prosa, diese wiederum bestimmt nicht selten die Auswahl der zu rezensierenden Werke. Mit der Technik der Hybridisierung erweist sich Merck als ein Vorläufer des modernen Feuilletonisten, als ein ‚poetischer Journalist‘, der in der „Ahnenreihe“ von Heinrich Heine bis Egon Erwin Kisch64 einen Platz an zumindest chronologisch vorderer Stelle beanspruchen darf.
5. Das Ende der Rezensententätigkeit Mit Beginn des Jahres 1780 änderte Wieland das Auftreten des Teutschen Merkur. Die Dichtung erhielt nun den Vorrang gegenüber der Kritik, das Versepos Oberon nahm das gesamte erste Quartal ein. Das bei der Gründung gegebene Versprechen, alle seine Dichtungen vorab in seiner Hauszeitschrift zu veröffentlichen, erwies sich als probates Alleinstellungsmerkmal, da 1776 dem Teutschen Merkur mit Boies Deutschem Museum eine ernsthafte Konkurrenz erwachsen war. Merck stand Freund Wieland solidarisch bei.65 Das ‚Kritische Fach‘ wurde in der Folge immer spärlicher besetzt, auch weil schon länger sich anbahnende Querelen zutage getreten waren: Im (unpaginierten) Anhang zum Augustheft 1779 räumte Wieland einem geharnischten Protestschreiben des Nürnberger Schriftstellers Christoph Gottlieb von Murr gegen die Allgemeine deutsche Bibliothek „des Berlinischen Buchhändlers Nikolai“ wegen der „unerhörte[n] Grobheiten, Unbilligkeiten und Sottisen […] seiner Rezensenten“ einen Platz ein. In einem kleinen Nachtrag distanzierte er sich listig von Murrs Anklage. Merck, der seinerseits den Kontrakt mit Nicolai nie formell beendet hatte, kam seit 1776 dessen Drängen nur noch sporadisch nach.66 Das Abflauen des Rezensentenwe–––––––— 63 64 65 66
Der Teutsche Merkur 1777 III (Anm. 24), S. 50; Merck 2013 (Anm. 2), S. 109. Rüdiger Zymner: Texttypen und Schreibweisen. In: Anz 2007 (Anm. 15), S. 25–80, hier S. 76. Vgl. Merck 2007 (Anm. 1), Bd. 5, S. 66f. Die Überlieferung der Korrespondenz ist lückenhaft. Zur Lieferung von Rezensionen vgl. im vorhandenen Bestand: Merck an Nicolai, Darmstadt, 19. Januar 1776: „Ihre Recensionen bekommen Sie sicher noch vor Anfang der Frankfurter Messe.“ Merck 2007 (Anm. 1), Bd. 1, S. 610; Merck an Nicolai, Darmstadt, etwa 20. Dezember 1776: „Was meine Beytr. betrifft, so sollen Sie alle Reste biß Ende dieses oder höchstens den l0ten Januar künftigen Jahres in Ihren Händen haben, u. zwar bey Ehrlichen Mannes Parole.“ Ebd., S. 701; Merck an Nicolai, Darmstadt, 3. November 1777: Vorschlag zu einem neuen Kontrakt, ebd., Bd. 2, S. 10; Merck an Nicolai, Darmstadt, 1. August 1779: „Liebster Herr und Freund, endlich kommen hier die längst schuldige Recensionen.“; ebd., S. 257; Nicolai an Merck, Berlin, 24. April 1780: „Es sind wenige Bücher um deren Recension ich Sie gebeten, aber vergleichungsweise wichtig, und von denen ich nun wohl das Urtheil eines Mannes wie Sie in der deutschen Bibl. haben möchte. Sagen sie mir wenigstens und mit ein paar Worten, ob ich noch Hofnung habe, daß Sie mir diese Recens. senden werden; denn sonst müßte ich, obwohl sehr ungern, auf einen andern Recensenten denken.“ Ebd., S. 426; Merck an Nicolai, Darmstadt, 10. April 1782: „Ich bin noch in Einem alten Rest bey Ihnen Liebster Herr und Freund, und da ich so lange nichts zur Bibliothek geliefert, u. Sie mich auch von dieser Seite ganz scheinen aufgegeben zu haben, so ist die Frage, wie wir uns hierüber berechnen.“ Ebd., Bd. 3, S. 48. – Ergänzende Nachrichten über Mercks Säumigkeit lieferte der
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Teutschen Merkur
Gesammelten Schriften
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racteristicks of Men, Manners, Opinions, Times,69 die in Wielands Brief vom 26. Juni 1780 erwähnte „schnakiche[] beylage“ oder „kleine Ejaculation über das halbichte Wesen“70 und eine kleine Fibel71 bisher hartnäckig der Recherche. Die um eine politisch brisante Schrift über das Lotto erweiterte zweite Auflage der gegen August Ludwig Schlözer gerichteten Polemik Die Par Force Jagd zu Bessungen72 dagegen, von der weder im bundesweiten Bibliotheksverbund noch in den hessischen Archiven eine Spur zu finden war, konnte in der an die Syracuse University übergegangenen Bibliothek Leopold von Rankes aufgespürt werden. Die Bände 1 und 3 bis 7 bringen die derzeit nachweisbaren Schriften Mercks. Band 2 wird den gesamten Jahrgang der Frankfurter gelehrten Anzeigen 1772 mit rund 430 anonymen Rezensionen enthalten, der Mercks Schriftleitung unterstand. Zuschreibungen lassen sich hier nur im Ausnahmefall vornehmen, der Kommentar unterrichtet über die Nachweise und dokumentiert den Forschungsstand. Goethe, der als Adept in den Kreis der Kritiker Einlass gefunden hatte, gibt in Dichtung und Wahrheit einen Eindruck von der Unmöglichkeit einer letztendlichen Klärung: Jener literarische Verein ward überdies durch eine lebhafte Korrespondenz und, bei der Nähe der Ortschaften, durch öftere persönliche Unterhandlungen begünstigt. Wer das Buch zuerst gelesen hatte, der referierte, manchmal fand sich ein Korreferent; die Angelegenheit
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Ein erster Hinweis auf diese Übersetzungsarbeit findet sich in Mercks Brief an Johann Georg Jacobi von Ende Mai/Anfang Juni 1771 (Merck 2012 [Anm. 2], Bd. 1, S. 228f.) und an Sophie La Roche, 21. September 1771 (ebd., S. 264). Am 1. März 1773 teilt er Wieland mit, dass er eine eigene Übersetzung „unter der Feder“ habe, die gemäß seiner Aufzählung bereits zur Hälfte fertig war (ebd., S. 364). Am 2. April weiht er auch Friedrich Nicolai in diese Arbeit ein (ebd., S. 366). Ein Druck ist bibliographisch nicht nachweisbar, von dem umfangreichen Manuskript fehlt bisher jede Spur. Merck 2007 (Anm. 2), Bd. 2, 453f., dort 455 unzureichend identifiziert als An den Herausgeber des T. M. (TM 1781 II [Mai], S. 139–146); vgl. Wielands Beanstandungen ebd., S. 454. [Johann Heinrich Merck:] Deutsches Lesebuch für die ersten Anfänger. Mit ausgemahlten Kupfern. Frankfurt/M. 1790, vermehrte postume Ausgabe 1808. Nachweise in: Karl Wagner: Verzeichniß von Merck’s gedruckten Schriften. In: Ders. (Hg.): Briefe an Johann Heinrich Merck von Göthe, Herder, Wieland und andern bedeutenden Zeitgenossen. Mit Merck’s biographischer Skizze. Darmstadt 1835, S. XXXI–XXXIX, hier S. XXXV; Karl Goedeke: Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung. Aus den Quellen. Dritte, neu bearbeitete Auflage. Hg. von Edmund Goetze. 4. Bd., 1. Abt. 1916, Nachdruck Berlin 1955, S. 760. – Der Eintrag fehlt in der maßgeblichen, aus zeitgenössischen Nachrichten schöpfenden Quelle, Friedrich Wilhelm Strieders Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten und Schriftsteller Geschichte Seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten (Bd. 8, Kassel 1788, S. 456–461), und wird auch in den „Zusätze[n] und Berichtigungen zum achten Bande“ in Bd. 9 (Kassel 1794, S. 429f.) nicht angezeigt. Johann Georg Meusels Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen Teutschen Schriftsteller (Bd. 9, Leipzig 1809, S. 82–84), das weitgehend aus Strieders Werk schöpft, nennt den Titel gleichfalls nicht. Hermann Bräuning-Oktavio entdeckte einen Nachweis in einer Anzeige des Verlegers Johann Friedrich Wenner; vgl. Bräuning-Oktavio 1969 (Anm. 18), S. 204. [Johann Heinrich Merck:] Die Par Force Jagd zu Bessungen eine interessante Beylage zu Herrn Professor Schlözers in Göttingen Briefwechsel. [Darmstadt] 1780. In der Fortsetzung, Zweytes Schreiben an den Herrn Professor Schlözer zu Göttingen, die Parforcejagd zu Bessungen betreffend. Mit einem Vorberichte an das Publicum, [Darmstadt] 1781, steht (S. 9) der entscheidende Hinweis: „Da die erste Auflage, der groben Druckfehler, wovon sie wimmelt, ungeachtet, bald vergriffen war; so veranstaltete der Verleger eine zwote, zu welcher ich einen Anhang schrieb, das Lotto zu Darmstadt betreffend.“ – Den Nachweis von Mercks Autorschaft der beiden Parforcejagd-Schreiben erbrachte Gerhard Heinemann: Die Parforcejagd des Erbprinzen (späteren ersten) Großherzogs Ludewig von Hessen. Die höfische Jagdpraxis als Anlaß einer Kontroverse zwischen Schlözer und Merck. In: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde. N. F. 47 (1989), S. 181–210.
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ward besprochen, an verwandte angeknüpft, und hatte sich zuletzt ein gewisses Resultat ergeben, so übernahm Einer die Redaktion. Dadurch sind mehrere Rezensionen so tüchtig als lebhaft, so angenehm als befriedigend.73
Derzeit in Vorbereitung ist Band 8 mit Übersetzungen aus dem Englischen, die der Student Merck in den 1760er Jahren anfertigte. Bereits an diesen Arbeiten – der Übersetzung der ästhetisch-moralischen Abhandlungen von Francis Hutcheson,74 der Prosaübertragung von Joseph Addisons Trauerspiel Cato75 und der Übersetzung eines fulminanten und vielbeachteten Reiseberichts des Oxforder Theologen Thomas Shaw76 – zeigt sich Mercks Gespür für die Erfordernisse des deutschen Buchmarkts, die er als Kulturjournalist in umfassender Weise zu bedienen wusste.
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Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. von Peter Sprengel (Goethe, Münchner Ausgabe [Anm. 6], Bd. 16). München 1985, S. 585. Franz Hutchesons, […] Untersuchung unsrer Begriffe von Schönheit und Tugend, in zwo Abhandlungen. I. Von Schönheit, Ordnung, Übereinstimmung und Absicht. II. Von dem moralischen Guten und Übel. Aus dem Englischen übersetzt. Frankfurt/M., Leipzig 1762. – Die Widmung an seinen Erlanger Universitätslehrer Johann Christian Arnold datiert Merck auf den 11. April 1762, den Tag seiner Volljährigkeit. Cato ein Trauerspiel von Addison. Aus dem Englischen. Frankfurt/M., Leipzig 1763. Herrn Thomas Shaws […] Reisen oder Anmerkungen verschiedene Theile der Barbarey und der Levante betreffend. Nach der zweyten engländischen Ausgabe ins Deutsche übersetzt und mit vielen Landcharten und andern Kupfern erläutert. Leipzig 1765.
Valerie Lukassen
Text und Musik bei Oswald von Wolkenstein Vom Nutzen einer interdisziplinären Edition spätmittelalterlicher Lieder
Der Dichter, Sänger und Komponist Oswald von Wolkenstein (ca. 1377–1445) gilt als ein Grenzgänger zwischen Mittelalter und Neuzeit, denn sein umfangreiches Werk und Wirken sind im Spätmittelalter ein Sonderfall. Noch zu Lebzeiten ließ er seine rund 130 Lieder in zwei Prachthandschriften aufschreiben und nahm damit ein neuzeitliches Autor- und Werkverständnis vorweg.1 Diese Handschriften enthalten zu jedem Liedtext eine eigene Melodie oder einen mehrstimmigen Satz, was zur damaligen Zeit eine absolute Ausnahme ist, denn die Melodien mittelalterlicher, volkssprachlicher Lieder wurden i.d.R. nicht schriftlich fixiert und sind daher heute nicht erhalten. Die Verschriftlichung seiner etwa 90 einstimmigen und rund 40 mehrstimmigen Liedsätze belegt, dass die Musik in Oswalds Selbstverständnis als Künstler eine zentrale Rolle einnimmt und ihm der Fortbestand seiner Melodien ebenso wie seiner Texte am Herzen lag. Daher sollten Text und Musik gemeinsam untersucht werden. Bereits in der frühen Oswald-Forschung wurde die Frage gestellt, inwiefern Text und Musik in Oswalds Werk aufeinander Bezug nehmen.2 Mit der Frage nach der besonderen Beziehung zwischen seinen Texten und seiner Musik geht die Bewertung seiner künstlerischen Leistung und seiner Rolle in der europäischen (Musik-)Kultur einher: Je enger das Verhältnis von Text und Musik, desto fortschrittlicher ist das Werk. Dabei stehen stets die einstimmigen Lieder im Vordergrund, denn während bei den polyphonen Liedern die Stimmen harmonisch aneinander angepasst werden müssen, konnten die einstimmigen Melodien freier gestaltet und von Oswald auf die Eigenheiten des Textes zugeschnitten werden. Die vorherrschende Einstimmigkeit der Lieder gilt als ein „Symptom für den zunehmend privaten Charakter der Dichtung“.3 Besondere Beachtung fanden die Untersuchungen sowohl von Christoph Petzsch als auch Bruno Stäblein. Obwohl deren Beiträge inzwischen viele Jahre alt sind, sind sie immer noch Bezugspunkte der Text-Musik-Analysen in Oswalds Werk. Christoph –––––––— 1
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Auch in seinen Liedtexten ist Oswald von Wolkenstein seiner Zeit voraus. Er zeigt einen „geradezu modernen oder sogar postmodernen Umgang mit den traditionellen literarischen Motiven und Formen“, Johannes Spicker: Oswald von Wolkenstein: Die Lieder. Berlin 2007, S. 9. Zudem nutzt er die Sprache „als artistisches Ausdrucksmittel“ markiert so „einen entscheidenden Schritt in die neuzeitliche Autonomie der Dichtung“.Thomas Cramer: Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter. München 1990, S. 65. Z. B. Herbert Loewenstein: Wort und Ton bei Oswald von Wolkenstein. Königsberg 1932. Cramer 2000 (Anm. 1), S. 65.
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Petzsch konnte u.a. am Beispiel des Liedes Kl 33 zeigen, dass Oswalds Melodien sehr eng auf die Textbedeutung abgestimmt sind und einzelne Worte in ihrer konkreten Bedeutung musikalisch interpretieren.4 Auch Bruno Stäblein war überzeugt, dass bei Oswald von Wolkenstein eine neue, sehr enge Verbindung von Text und Musik anzutreffen sei. Für ihn ist Oswald der „Schöpfer des Individuallieds“ und somit seiner Zeit musikalisch weit voraus. Das Individuallied versteht Stäblein als eine Komposition, in der sich ein „ganz bestimmter Inhalt in der textlichen und musikalischen Gestalt ausdrückt, so, dass andere Inhalte nur in seltenen […] Fällen in das für diesen primären Inhalt geschaffene Kleid schlüpfen können und sich mit ihm zur Deckung bringen lassen.5“ Mit den einstimmigen Liedern schuf Oswald seinem „ganz persönlichen lebendigen und dramatischen Vortragstil zugeschnittene Gebilde“, er „bildet den Höhepunkt dieser ganzen mittelalterlichen Musik“ resümiert Stäblein.6 Auch Klaus J. Schönmetzler ist überzeugt, dass Oswald von Wolkenstein mit seinen Liedern „an Modernität alle Zeitgenossen“ übertrifft.7 Er „hat als erster Melodien und Inhalte zu poetischer Einheit verschmolzen. Das moderne Kunstlied beginnt mit ihm“, so Schönmetzler.8 Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass Stäblein und Schönmetzler ihre Bewertungen auf der Basis ausgewählter Lieder vornahmen. Bei Oswald von Wolkenstein ist zwar „punktuell eine neue Sensibilität für Aspekte des Inhalts“ sicherlich feststellbar,9 jedoch bleibt unklar, inwiefern sich ihr Urteil auf die Gesamtheit der Lieder übertragen lässt. Die Text-Musik-Beziehung in mehrfach textierten Melodien, wie beispielsweise den Liedern Kl 22–25, wurden bisher nirgends untersucht. Eine „systematische Untersuchung der Wort-Ton-Beziehungen“ steht daher schon länger „auf der Agenda der Liedforschung“.10 Der Grund, weshalb eine solche Untersuchung bisher nicht in Angriff genommen werden konnte und die musikorientierte Oswald-Forschung seit einigen Jahren –––––––— 4
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Im Lied Kl 13 ist das Wort beseuffte in einem Melisma wie ein musikalischer Seufzer umgesetzt. Christoph Petzsch: Text- und Melodietypveränderung bei Oswald von Wolkenstein. In: DVjs 38 (1964), S.491–512, bes. S. 506. Ebenso könnte das Anfangsmelisma des Lied Kl 57 als musikalisch ausgedrückte Klage verstanden werden. Vgl. Bruno Stäblein: Oswald von Wolkenstein, der Schöpfer des Individualliedes. In: DVjs 1972, 46. Jg. Bd. 46, S. 112–160, S. 113f. Bruno Stäblein: Oswald von Wolkenstein und seine Vorbilder. In: Oswald von Wolkenstein. Beiträge der philologisch-musikwissenschaftlichen Tagung in Neustift bei Brixen 1973. Hg. von Egon Kühebacher. Innsbruck 1974, S. 285–307, S. 305f. Dem ist zu entgegnen, dass bei Oswald ein deutlicher Bezug zwischen Thematik und Melodie zwar häufig erkennbar ist, dass es dies aber auch bei anderen Dichtersängern (z. B. Walther von der Vogelweide) gibt und dass die Art des Vortrags entscheidend zur individuellen Ausprägung beiträgt, so Ulrich Müller: Oswald von Wolkenstein. In: MGG Personenteil Bd. 12. Kassel, Stuttgart 2004, Sp.1462–1467, hier Sp. 1465. Oswald von Wolkenstein: Die Lieder. In Text und Melodie neu übertragen und kommentiert von Klaus J. Schönmetzler. München 1979, S. 10. Schönmetzler 1979 (Anm. 7), S. 11. Vermutlich bezieht er sich damit auf Stäbleins Studien, die innerhalb der Oswald-Forschung schnell zum Allgemeinwissen wurden. Eigene Untersuchungen zum WortTon-Verhältnis bei Oswald von Wolkenstein legt Schönmetzler nicht vor. Burghart Wachinger: Oswald von Wolkenstein. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters‚ Verfasserlexikon Bd. 7 (2. Auflage). Berlin 1989: Sp. 134–169, hier Sp. 149. Horst Brunner: Rezension zu Loenertz, Elke Maria: Text und Musik bei Oswald von Wolkenstein. In: PBB 128 (2006), S. 361–363, hier S. 363.
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gewisser Maßen auf der Stelle tritt, ist einfach: Es mangelt an einer adäquaten Edition, die sowohl die Melodien als auch die Texte Oswalds von Wolkenstein angemessen aufbereitet.11 Diesem Desiderat der Forschung habe ich mich in meiner Dissertation „Edition und Kommentierung der einstimmigen Lieder Oswalds von Wolkenstein“ (Arbeitstitel) angenommen. Die Edition ist unter Einbeziehung der musikwissenschaftlichen und altgermanistischen Forschung konzipiert, enthält sämtliche einstimmigen Melodien und ermöglicht die systematische Analyse von Text und Musik. Der Kommentar beschreibt Auffälligkeiten der Melodie und ihrer Beziehung zum Text und bietet Ansatzpunkte für weitere, detaillierte Wort-TonUntersuchungen. Die von mir erstellte neue Ausgabe der einstimmigen Lieder Oswalds von Wolkenstein unterscheidet sich in wesentlichen Aspekten von bereits vorliegenden Editionen. Die Gesamtausgabe von Joseph Schatz (Text) und Oswald Koller (Musik) von 1902 bildet die Basis der bisher vorliegenden Forschung zu Oswalds Musik und war lange (bis zur Textausgabe von Karl Kurt Klein 1962) auch Grundlage der literaturwissenschaftlichen Oswald-Forschung. Der musikalische Teil dieser Ausgabe ist sorgfältig gearbeitet, zeichnet sich aber durch eine Reihe von Schwächen aus. Zentraler Nachteil ist, dass die Mensuralnotation beibehalten wird, was vielen heutigen Germanisten und Musikwissenschaftlern den Zugang verwehrt. Außerdem fallen einige Schlüssel- und Rhythmusfehler ins Auge. Die Trennung von Textteil und Musikteil erschwert zudem die Wort-Ton-Untersuchung. Nachteilig ist, dass die Ausgabe der Leithandschrift A folgt und die vielen Varianten der Melodien zwischen bzw. innerhalb der Handschriften stillschweigend korrigiert wurden. Die 1975 vorgelegte Gesamtedition von Klaus J. Schönmetzler ist für interdisziplinäre Forschung nicht zu verwenden. Schönmetzler gibt neuhochdeutsche Nachdichtungen anstatt des ursprünglichen Textes an, ist in der Transkription der Melodien intransparent, sowie manchmal fehlerhaft und entspricht daher nicht den wissenschaftlichen Standards.12 Einige einstimmige Melodien finden sich in Auswahlausgaben z. B. in der ReclamAusgabe von Burghart Wachinger und Horst Brunner aus dem Jahr 200713 (28 der dort enthaltenen Lieder sind einstimmig) oder im Anhang von Aufsatzbänden z. B. fünf einstimmige Lieder bei Christian Berger 201114. Die heute fast ausschließlich benutzte Edition ist die Text-Ausgabe nach Karl Kurt Klein von 1962, zuletzt aufgelegt 1987. Diese Ausgabe enthält nur die Texte von Oswald von Wolkenstein und etwa zehn Melodien im Anhang (davon fünf einstim–––––––— 11
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Die Musik der rund 40 mehrstimmigen Lieder Oswalds von Wolkenstein wurde Anfang der 1980er Jahre von Ivana Pelnar ediert und seither in der germanistischen und musikwissenschaftlichen Forschung viel diskutiert. Ivana Pelnar: Die mehrstimmigen Lieder Oswalds von Wolkenstein. Bd. 1: Textband, Bd. 2: Edition. Tutzing 1982. Schönmetzler 1979 (Anm. 7). Burghart Wachinger und Horst Brunner: Oswald von Wolkenstein: Lieder. Ausgewählte Texte herausgegeben, übersetzt und kommentiert. Stuttgart 2007. Christian Berger: Oswald von Wolkenstein. Die Rezeption eines internationalen Liedrepertoires im deutschen Sprachbereich um 1400. (Freiburger Beiträge zur Musikwissenschaft Bd. 14). Freiburg i.Br. 2011.
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mige Lieder). Sie ist die Grundlage heutiger Oswald Forschung und hilft aufgrund der fehlenden Noten bei interdisziplinären Fragen aber nicht weiter. Stattdessen stellt die Ausgabe Oswald von Wolkenstein als Dichter dar und lässt die musikalische Seite seines Werks unkommentiert. Eine umfassende Gesamtausgabe gilt seit Jahrzehnten als Desiderat, das Projekt wurde aber bis heute nicht in Angriff genommen. Meine Arbeit ist auch ein großer Schritt in die Richtung der Erschließung sämtlicher Werke, da dann – ergänzt durch Pelnars Edition mehrstimmiger Lieder – die gesamten Melodien Oswalds ediert sein werden. Wie sieht die neue Edition aus? Die neue Edition der einstimmigen Lieder Oswalds von Wolkenstein zeichnet sich durch ihre Nähe zur handschriftlichen Überlieferung aus. Eingriffe und Zusätze der Herausgeberin werden zurückhaltend und lediglich punktuell vorgenommen, denn wie bereits eingangs erwähnt, ist die Überlieferungslage der Lieder Oswalds von Wolkenstein ungewöhnlich günstig.15 Beide Handschriften eignen sich als Leithandschriften.16 Der Inhalt der Handschriften ist weitgehend deckungsgleich, jedoch liegen bei vielen Liedern unterschiedliche Fassungen vor. Während die Texte sich v.a. in ihrer grafischen Schreibweise und stellenweise auch in der Wortwahl unterscheiden, weichen die Melodien in den Handschriften grundsätzlich in stärkerem Maße voneinander ab, bspw. in Tonhöhe, Rhythmus und Notationsweise. In besonderen Fällen divergiert sogar die Anzahl der Stimmen: Manche Lieder erscheinen in Handschrift B als einstimmig, in Handschrift A sind sie dagegen ein polyphones Werk mit zwei oder drei Stimmen. Auch innerhalb einer Handschrift treten Abweichungen auf verschiedenen Ebenen auf: Manche Melodien werden mehrfach eingesetzt, also für unterschiedliche Texte verwendet. Auch wenn in den Handschriften vermerkt ist „das lied X singet sich inn der weyse Y“, unterscheiden sich die „gleichen“ Melodien oftmals untereinander. Übereinstimmung oder Gleichheit bedeutet für die mittelalterliche Überlieferung einen größeren Spielraum als für uns heute, die wir die perfekt einheitliche maschinelle Vervielfältigung gewohnt sind. Innerhalb eines Liedes weichen große Melodieabschnitte, wie die ausgeschriebenen Wiederholungen, voneinander ab. Dies ist beispielsweise bei den Stollen einer –––––––— 15
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Die Handschriften A und B wurden auf Oswalds Veranlassung hin und wahrscheinlich unter seiner Aufsicht hergestellt. Der Großteil seiner Lieder ist jeweils in beiden Handschriften überliefert, sie gelten daher als die Haupthandschriften. Beide Handschriften wurden vermutlich in der Schreibstube des Klosters Neustift bei Brixen erstellt, das bereits damals als Musikzentrum und Herstellungsort berühmter Musikhandschriften bekannt war und in räumlicher Nähe zu Oswalds Lebensmittelpunkt auf Burg Hauenstein in Südtirol liegt. Die Handschriften befanden sich lange Zeit in Privatbesitz der Familie und sind bis heute in guten Zustand erhalten. Faksimile-Ausgaben sind in vielen Germanistik-Bibliotheken zugänglich. Zudem können Digitalisate auf CD-ROM bei den besitzenden Bibliotheken bestellt werden. Handschrift A ist die Leithandschrift der Ausgaben von Pelnar 1982 (Anm. 11) und von Wachinger / Brunner 2007 (Anm. 13). Handschrift B ist die Leithandschrift der Ausgaben von Karl Kurt Klein: Die Lieder Oswalds von Wolkenstein. Tübingen 1962 [3. Auflage 1987], Schönmetzler 1979 (Anm. 7) und Elke Maria Loenertz: Text und Musik bei Oswald von Wolkenstein. Edition und Interpretation der 40 einstimmigen, einfach textierten Lieder in der Fassung der Handschrift B. Frankfurt/M. 2003.
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Kanzone häufig zu beobachten, die üblicherweise auf die gleiche Melodie gesungen werden. Innerhalb eines Liedes variieren mehrmals benutzte Melodiezeilen oder -bausteine und oftmals sind floskelhafte Schlusswendungen ausgetauscht.17 Es wird deutlich, dass bei den einstimmigen Melodien per se von Abweichungen (intendiert oder nicht-intendiert) ausgegangen werden muss und i. d. R. keine richtige oder falsche Version zu identifizieren ist. Wir haben es fast immer mit Präsumptivvarianten zu tun, also mit Änderungen, die eine schlüssige und sinnvolle Alternative darstellen. Eine komplett identische Notation stellt dagegen den Ausnahmefall dar.18 In meiner Edition werden alle Varianten der Melodien nicht korrigiert, sondern grundsätzlich übernommen. Nur wenn eine Variante eindeutig nicht als eigene Fassung interpretiert werden kann und offensichtlich einen Schreiberirrtum darstellt, wird sie korrigiert. Solche Irrtümer sind nur in Einzelfällen nachweisbar, beispielsweise bei Schlüsselfehlern nach Zeilenwechsel oder Verschreibungen innerhalb eines Stücks. Im Kommentarteil wird ein solcher Herausgebereingriff erläutert. Die Melodien werden in den Fassungen A und B synoptisch untereinander wiedergegeben, daher entfällt ein kritischer Apparat. Sie werden in moderner Notation und mit oktaviertem Violinschlüssel dargestellt. Eine Semibrevis wird wie üblich als Viertelnote, eine Minima als Achtelnote übertragen. Auf eine rhythmisierte Übertragung wird verzichtet.19 Wiederholungen werden getreu der Quellenlage ausgeschrieben oder mit Wiederholungszeichen dargestellt. Um die Übersichtlichkeit sicher zu stellen bzw. zu verbessern, werden größeren Abschnitte entsprechend der Bauform des Lieds durch Studierzeichen mit den Buchstaben A / B / C gekennzeichnet. Zudem werden die Zeilenumbrüche entsprechend der Reime des Textes vorgenommen. Verse und Melodiebausteine werden mit Zahlen bzw. griechischen Buchstaben beziffert. Die Wiedergabe der Texte erfolgt ebenfalls entsprechend der Überlieferung, also generell ohne Normalisierung. Abgesehen von der Interpunktion und der Kapitalisie–––––––—
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Siehe hierzu auch Valerie Lukassen: Musikalische Varianz in den einstimmigen Liedern Oswalds von Wolkenstein. In: JOWG 19 (2012/13), S. 321–338. Für die mehrstimmigen Lieder hingegen wurde nachgewiesen, dass sie in der Notation weitgehend übereinstimmen und nur „nur äußerst selten und nur geringfügige Abweichungen“ zeigen. (Vgl. Erika Timm: Die Überlieferung der Lieder Oswalds von Wolkenstein. Lübeck, Hamburg 1972, S. 87.) Dies ist durch den einfachen Umstand erklärbar, dass die Stimmen dort entsprechend regelhafter Vorgaben aufeinander abgestimmt sind. Schon bei kleinen rhythmischen oder melodischen Abweichungen klingt ein Stück nicht mehr harmonisch, die Stimmen passen nicht mehr zusammen. Daher haben sich Oswalds Schreiber bei den mehrstimmigen Liedern strenger an ihre Vorlage gehalten als bei den einstimmigen. Bei einstimmigen Liedern sind Veränderungen und Fehler schwerer nachweisbar und fallen auch weniger ins Gewicht. Diese Form der diplomatischen Transkription hat sich in der Lieder-Ausgabe von Burghart Wachinger und Horst Brunner 2007 (Anm. 13) bewährt. Ein Vorteil dieser Übertragungsweise ist die Nähe zur handschriftlichen Quelle; jedoch richtet sich eine solche Übertragung vor allem an Fachpublikum und kann von Benutzern mit wenigen Vorkenntnissen missverstanden werden. Daher wird im Kommentarteil eine ausführliche Erläuterung der rhythmischen Modi bei Oswald von Wolkenstein geboten und mögliche Interpretationsweisen thematisiert.
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rung von Personennamen werden von Seiten der Editorin keine Änderungen vorgenommen. Im Kommentarteil wird der Fokus einerseits auf die Melodie und andererseits die Wort-Ton-Beziehung der Lieder gelegt. Dabei wird die Verbindung von Musik und Text nicht nur im engeren Sinne auf der Ebene des Inhalts gesucht, sondern auch die Bauformen, Reimtechniken und metrische Eigenschaften berücksichtigt, da sie wichtige Aspekte der Kunstfertigkeit in Oswalds Liedtexten darstellen. Ansatzpunkte für eine solche Wort-Ton-Untersuchung im weiteren Sinne sind ebenfalls bei Stäblein zu finden. In seiner Studie zur musikalischen Nachahmung von sprachlichen Phänomenen wie bestimmten Worten und Reimen bei Oswald von Wolkenstein kommt er zu dem Schluss, dass dieser „souverän“ das „gesamte Arsenal mittelalterlicher Wort- und Tontechnik“ beherrschte.20 Im Rahmen der Kommentierung werden die Melodien hinsichtlich ihrer Notation (Notenschlüssel, Ligaturen, Pausenzeichen etc.), Ambitus, Länge und Gestalt von Melismen, Abschnitte und Bausteine, Gestaltung der Melodie durch Tonleiterausschnitte, Intervallsprünge, Höhe- und Tiefpunkte sowie Rhythmus untersucht. WortTon-Korrelationen werden auf folgenden Ebenen gesucht und analysiert: Die Bauform des Textes wird musikalisch unterstützt, bspw. kann eine dreiteilige Form AABBC in der Melodie durch Melismen, harmonische Halb- und Ganzschlüsse (Grundton oder Quinte) oder Rhythmus (Schlussteil rhythmisch abgesetzt) unterstrichen werden.21 Metrische Eigenschaften des Textes werden in der Musik berücksichtigt bspw. Melodiesprünge auf betonte Silben. Die Reimstruktur wird durch Ligaturen und Melismen unterstützt. Stäblein nennt solche Phänomene „musikalische Reime“, die ähnlich der Textreime für den Hörer wiedererkennbar sind und bei der Strukturierung helfen. Das Reimschema wird auch durch die Tonalität (z. B. Rückkehr auf den Grundton) musikalisch unterstrichen. Bedeutsame Worte oder Verse werden durch rhythmisch und musikalisch auffällige Melodieabschnitte allgemein hervorgehoben. Mittel der musikalischen Hervorhebung können beispielsweise Melismen, Abschnitte mit besonders hohen Tönen oder großen Melodiesprüngen sein. Stäblein bezeichnet diese markanten Stellen als „textlich-musikalische Verdichtung“, die sich aufgrund von Reimhäufung im Text und Variation der parallel laufenden Melodie ergibt.22 Konkrete Wortinhalte werden durch die Musik direkt nachgeahmt bzw. illustriert. Dazu gehören auch begriffsanaloge Bewegungen (auf- oder abwärts) oder Stellung (hoch oder tief). Hierzu würde auch die Interpretation des Seufzers in ein Melisma im Lied Kl 33 zählen.23 –––––––— 20
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Bruno Stäblein: Das Verhältnis von textlich-musikalischer Gestalt zum Inhalt bei Oswald von Wolkenstein (1970). Wieder in: Oswald von Wolkenstein. Hg. von Ulrich Müller. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1980 (Wege der Forschung), S. 262–282, S. 278. Die Kanzonenform AAB wird in Text und Melodie oftmals mit farbigen Initialen optisch hervorgehoben und in der Musik durch Melodiewiederholung für die gleichgebauten Stollen im Aufgesang und/oder durch rhythmisch, melodisch oder harmonisch abgesetzten Abgesang unterstrichen. Stäblein [1970] 1980 (Anm. 20), S. 263f. Siehe Petzsch 1964 (Anm. 4).
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Text und Musik bei Oswald von Wolkenstein
Im Rahmen der Kommentierung der einstimmigen Lieder Oswalds von Wolkenstein soll anhand dieser fünf Kategorien das Wort-Ton-Verhältnis systematisch untersucht werden. Grundsätzlich ist dabei zu berücksichtigen, dass Text und Musik nicht immer parallel und gleichberechtigt miteinander verwoben sind: Sie können sich auch gegenseitig den Vortritt lassen. Wenn viele Töne auf eine Silbe gesungen werden, beispielsweise bei langen Melismen, tritt hier die Musik in den Vordergrund und entfaltet sich stärker als der Text, der in diesem Moment stehen bleibt. Dagegen wird bei rezitativen Phrasen der Text aufmerksamer wahrgenommen, die Musik tritt in den Hintergrund und lenkt nicht durch eine ausgefallene Gestaltung ab. Anhand der Lieder Kl 13 und 22-25 lässt sich die Kommentierung des Wort-TonVerhältnisses und der Nutzen einer interdisziplinären Edition exemplarisch nachvollziehen.
1. Beispiel Kl 13: AABBC Kanzone der Form AABB (C oder R), 3 Strophen mit je 13 Versen. Geistliches Lied. Abschnitt Vers Metrik Melodie
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C 7 3e �
8 1e,1e,2e �
A 3 3a'
4 3b//
9 2f,2g �
10 2f,2g �
B B 5 6 3c',2d/ 3c',2d// /:� :/ 11 1h',1h',2g �
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13 3K �
Melodie Das Anfangsmelisma von Kl 13 weist eine außergewöhnliche Länge von 16 Tönen und den sehr großen Ambitus einer Dezime auf. Besonders lange Melismen über große Tonräume prägen auch den weiteren Verlauf des Lieds: Am Schluss von Melodiebaustein � sowie in � � � sind Melismen mit 5,7 oder mehr Tönen gesetzt. Das Anfangsmelisma, das melodisch von oben nach unten geführt wird, und die Melismen im C-Teil des Liedes, die melodisch tief ansetzen und aufsteigen, bilden eine tonale Klammer um das Stück. Die Melismen gliedern das Stück in die Abschnitte ABC, jedoch ist der Abschnitt C musikalisch zweigeteilt, denn die Melodiebausteine � und � sind durch Ambitus und Melismen anders konstruiert als � – � und funktionieren musikalisch als eigenständiger Teil. Die Melodie des Liedes Kl 13 setzt sich aus Tonleiterausschnitten (d. h. stufenweise auf- und absteigende Linien) sowie größeren Sprüngen von Quarten, Quinten und
Valerie Lukassen
da von wir sein getrösst, erlösst/ von scharpfer helle gier. so wil ich von der zarten warten/ gnaden schier erbrich des tiefels sper, sein ger/ versetz im, junckfrau zier! Amen.
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Text und Musik bei Oswald von Wolkenstein
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Melodie Die ersten sieben Töne funktionieren als wiedererkennbares Initium innerhalb der Quinte f-c', in der sich auch der Großteil der Melodie bewegt. Der Aufgang aus einer Terz, gefolgt von Sekundschritten (hier f-a-b-c'), wird bei OvW häufig verwendet, beispielsweise bei Kl 1–7. In der vorliegenden Fassung von Kl 22–25 werden die Töne repetiert und eine große Terz verwendet. Am Ende der Melodie kehrt die Tonfolge leicht verändert wieder, der Abschnitt � erinnert mit den Tönen f-a-a-b-c an das Initium �. Die Melodie insgesamt ist recht einfach strukturiert und funktioniert nach dem Baukasten-Prinzip. Jeder Abschnitt lässt sich in zwei Unterabschnitte von je vier Zeilen unterteilen, innerhalb dessen dann wiederum je zwei Zeilen zusammen gehören und durch Ligaturen abgerundet werden. Die Melodie ist ohne markante Höhepunkte konstruiert und durch mehrfache Wiederholung der Melodiebausteine geprägt. So werden die Bausteine �, �, � , �, � und � mehrmals verwendet und erklingen in jeder Strophe viermal. Wort-Ton-Verhältnis Das einfache Reimschema (durchgängig Kreuzreime) entspricht der klaren Melodiestruktur. Durch die Wiederholungen und die mehrfache Nutzung einzelner Melodiebausteine sind Text und Musik vorausschaubar und leicht einzuprägen. Dadurch wird das Singen der langen Textstrophen dieser erzählenden Lieder erleichtert. Die Ligaturen am Ende jeder zweiten Zeile sind durch die männliche Kadenz zu erklären, denn im Vergleich zur weiblichen Kadenz fehlt dadurch eine Silbe. Um die musikalische Symmetrie von stets sieben Tönen je Melodiebaustein beizubehalten, werden dann jeweils zwei Töne verbunden. Die übrigen Verse haben eine weibliche Kadenz und erklingen zu bestimmten Melodie-Bausteinen, die sich wiederholen. Beispielsweise sind die Verse 1, 3, 9, 11 mit den Reimen a' oder e' aufgrund des Bausteins � sogleich als zusammengehörig erkennbar. Reimschema und Melodie bilden gemeinsam eine sehr stabile Konstruktion, die ohne Veränderungen über mehrere Lieder und viele Strophen beibehalten wird.
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Zusammenfassung und Fazit: Anhand der neuen Edition konnte ich skizzieren, wie bei Lied Kl 13 geistlicher Inhalt, metrische Komplexität und auffällige Musikalität verbunden sind. Dank der beibehaltenen Varianten konnte die Fassung in Handschrift B als überarbeitete Version von Handschrift A identifiziert werden. Die Musik gibt dem Marienpreis eine eigene klangliche Dimension und Ausdruckskraft. Bei Kl 22–25 wurde deutlich, wie Reimschema und musikalische Bauweise eng miteinander verknüpft sind und sich für Liedtypen mit vielen Episoden oder erbaulichen Inhalten anbieten. Metrische Einfachheit sowie musikalische Wiederholung stabilisieren sich und lassen in den vielen, langen Strophen den erzählenden Textinhalt in den Vordergrund treten. Anhand der neuen Melodie-Edition kann nachvollzogen werden, wie Wort und Ton immer wieder unterschiedlich aufeinander Bezug nehmen und sich in vielen Aspekten gegenseitig ergänzen und stützen. Ebenso wie Oswalds Liedtexte zeichnet sich seine einstimmige Musik durch eine überraschende Vielfalt aus: Traditionelles steht neben Innovativem. Es gibt komplexe Kompositionen, aber auch einfache Lieder, die aus mehrfach verwendeten Melodie-Bausteinen zusammengesetzt sind. Im einstimmigen Liedschaffen Oswalds von Wolkenstein wird das Verhältnis von Musik und Text jedes Mal neu verhandelt und muss daher von Fall zu Fall anders bewertet werden.
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1. Beispiel: Lied Kl 13
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2. Beispiel: Lied Kl 22
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Hochschuldidaktische Perspektiven auf den Einsatz von Fassungseditionen in Bachelorstudiengängen
Hochschulreform und Hochschuldidaktik: Literaturwissenschaftliche Bachelorstudiengänge Die Bachelorstudiengänge1 haben in den letzten Jahren Einzug in die deutsche Hochschullandschaft gehalten und haben sowohl Forschung als auch Lehre nicht unwesentlich verändert.2 Ziele der im Bologna-Prozess vereinbarten Reformen sind die Förderung von Mobilität im Studium, Förderung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die europaweite Vergleichbarkeit von Abschlüssen sowie die Förderung der Beschäftigungsfähigkeit am Arbeitsmarkt3 (Employability)4, kurzum: Eine kurze Studiendauer5, die einen schnellen Einstieg in den Beruf ermöglicht und auf hohe internationale Flexibilität setzt.6
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Der Begriff ,Bachelorstudiengänge‘ schließt im Folgenden die lehramtsbezogenen Bachelorstudiengänge mit ein. Vgl. Thomas Bein: Edieren und Studieren – Über neue hochschuldidaktische Anforderungen an Textausgaben. In: Wernfried Hofmeister und Andrea Hofmeister-Winter (Hg.): Wege zum Text. Überlegungen zur Verfügbarkeit mediävistischer Editionen im 21. Jahrhundert, Grazer Kolloquium 17.–19. September 2008. Tübingen 2009, S. 17. Sigrun Nickel spricht von einem „didaktischen Paradigmenwechsel“ für die meisten Hochschulen: Vgl. Sigrun Nickel: Zwischen Kritik und Empirie – Wie wirksam ist der Bologna-Prozess? In: Dies. (Hg.): Der Bologna-Prozess aus Sicht der Hochschulforschung. Analysen und Impulse für die Praxis, Arbeitspapier Nr. 148, September 2011, Internetseite des Bundesministeriums für Bildung und Forschung [http://www.bmbf.de/pubRD/Bologna_Prozess_aus_ Sicht_der_ Hochschulforschung.pdf; 12.08.2014], S. 10. Häufig ist dieses Ziel auch unter den Stichworten „arbeitsmarktbezogene Qualifizierung“ und „arbeitsmarktrelevante Qualifikation“ zu finden: Vgl. Internetseite des Bundesministeriums für Bildung und Forschung [http://www.bmbf.de/pubRD/bologna_deu.pdf, angesehen am 12.08.2014]. Zu den Zielen der Vereinbarungen der europäischen Bildungsminister im Bologna-Prozess 1999: Vgl. Bundesministeriums für Bildung und Forschung (Anm. 3). Ebenso: Vgl. Nickel 2011 (Anm. 2), S. 9. 39 % der Studierenden aller Fächer erreichten 2012 den Hochschulabschluss in Regelstudienzeit. Zur Entwicklung der allgemeinen Studiendauer und der Dauer eines Germanistikstudiums vgl.: Internetseite des Statistischen Bundesamtes, 18.05.2012 [https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/ Pressemitteilungen/2014/02/PD14_037_213pdf.pdf?__blob=publicationFile, angesehen am 12. 08.2014]. Vgl. Internetseite des Bundesministeriums für Bildung und Forschung: Zwischenbilanz zum Bachelorstudium (URL: http://www.bmbf.de/pub/bachelor_zwischenbilanz_2010.pdf; 13.08. 2014). Statistische Erhebungen zeigen, dass die durchschnittliche Studiendauer an deutschen Hochschulen gesunken ist, gleichzeitig sind die Zahl der im Ausland studierenden Deutschen, die Zahl der in Deutschland studierenden Ausländer und die Zahl der Anerkennung von im Ausland erbrachten Studienleistungen in Deutschland gestiegen. Vgl. Internetseite des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, 18.06.2014 [URL: https://www.bmbf.de/de/7222.php; 12.08.2014].
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Dies hat sich in der Praxis vor allem durch eine gefühlte ,Verknappung‘ und ,Verschulung‘ der Lehr- und Lernzeit7 vieler Dozierender und einer steigenden Anzahl Studierender gezeigt.8 Sprach- und literaturwissenschaftliche Fächer sind von der ,Raffung‘ der Studienzeit in besonderer Weise betroffen: Es zeigt sich, dass viele Inhalte und Kompetenzen, wie das Lesen, Verstehen und Schreiben komplexer und umfangreicher (fremdsprachlicher) Texte in kurzer Zeit vermittelt und geprüft werden müssen – zum Leidwesen einer Vertiefung von Lerninhalten.9 In besonderer Weise ist dies sicher auch ein Problem des ,Grundstudiums‘, der ersten Semester der Bachelorstudiengänge, die sich teilweise aus überblickshaften Einführungen zusammensetzen. Die Aufgabe, speziell der Einführungskurse, ist die zeitökonomische Vermittlung theoretischer Grundlagen und fachwissenschaftlicher Kompetenzen, die erst in den Masterstudiengängen adäquat anwendungs- und forschungsorientiert vertieft werden können.10 Daraus resultieren im Hochschulalltag Probleme speziell für den Unterricht in Einführungskursen: Das Anziehen des ,Lehrtempos‘, die Reduzierung und Komprimierung von Inhalten und das Zusammenstreichen von Themen und Themenfeldern gefährden die Lehrqualität.11 Im Hinblick auf das Oberthema der internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, stellt sich nun also die Frage: Welchen Nutzen kann der Einsatz und Umgang mit komplexen literaturwissenschaftlichen Inhalten, hier mit Fassungseditionen12 älterer deutscher Texte, in Veranstaltungen sprach- und literaturwissenschaftlich orientierter Bachelorstudiengänge haben? –––––––— 7
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Bein spricht von einer „radikale[n] Verkürzung von Studienzeiten“, die es nötig macht, „Lehrinhalte auszudünnen oder gar ganz wegzulassen“. Thomas Bein: Walther von der Vogelweide: Schul- und hochschuldidaktische Materialien zur Überlieferungs- und Editionsgeschichte, in: Ders. (Hg.): Walther verstehen – Walther vermitteln. Neue Lektüren und didaktische Überlegungen. Frankfurt/M. et al. 2004, S. 57. Vgl. Internetseite der Hochschulrektorenkonferenz, Projekt Nexus (URL: http://www.hrknexus.de/uploads/media/HRK_nexus_LESSI.pdf, S. 114, angesehen am 13.08.2014). Vgl. dazu auch: Internetseite der Hochschulrektorenkonferenz (URL: http://www.hrk-nexus.de/fileadmin/redaktion/hrknexus/07-Downloads/07-02-Publikationen/Zahlen_und_Argumente_zur_Umsetzung_der_Studienreform_21_07_14.pdf; 13.08.2014). Fehlende schulische Vorkenntnisse erschweren besonders den Einstieg in die Ältere deutsche Literatur. Ziel der Lehre ist nach einem Papier der Hochschulrektorenkonferenz: „Studieninhalte und Veranstaltungen müssen so gestaltet sein, dass nicht vornehmlich Faktenwissen vermittelt wird und dass wissenschaftlich-kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten und Methoden des Fachs bzw. der Fächer weiterhin Platz haben.“ Internetseite der Hochschulrektorenkonferenz (Anm. 8). Bein beschreibt den Zwiespalt des Lehrenden wie folgt: „Didaktisch stößt man freilich nicht selten auf das Problem, hochkomplexe Vorgänge so zu komprimieren, dass sie einerseits Anfängern leichter zugänglich sind, andererseits aber noch genügend Substanz und ,Seriosität‘ aufweisen.“ Bein 2004 (Anm. 7), S. 61. Von ‚Fassung‘ soll im Folgenden die Rede sein, wenn es zwischen zwei Überlieferungen eines mehr oder weniger fest zusammengehörigen Strophenkomplexes über lexikalische, grammatikalische und orthografische Abweichungen hinaus semantische, bedeutungstragende, sinnstiftende Veränderungen (die das „Sinnpotential“ verändern) durch Strophenbestand und -reihenfolge, Wortwahl und Syntax gibt. Vgl. Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränderte und um Fassungseditionen erweiterte Ausgabe Karl Lachmanns. Aufgrund der 14., von Christoph Cormeau bearbeiteten Ausgabe neu herausgegeben, mit Erschließungshilfen und textkritischen Kommentaren versehen von Thomas Bein. Edition der Melodien von Horst Brunner. Berlin/Boston 2013, S. LXVI.
Hochschuldidaktische Perspektiven auf den Einsatz von Fassungseditionen
Saget mir ieman, waz ist minne
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Hochschuldidaktische Perspektiven auf den Einsatz von Fassungseditionen
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Das folgende Modell zeigt die Grundstruktur thematischer Unterrichtseinheiten, deren Ausgangspunkt die Fassungsedition des genannten Liedes ist:
Abb. 2: Die Fassungseditionen als Ausgangspunkt werden mit zentralen Themenbereichen der Einführung in die Ältere deutsche Literatur zu unterschiedlichen Lehr- und Lerneinheiten verknüpft.16
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Das Modell ist zum Zwecke der Übersichtlichkeit nummeriert – die Abfolge der Themenbereiche ist je nach Lied oder Seminarablauf durchaus variabel.
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Hochschuldidaktische Perspektiven auf den Einsatz von Fassungseditionen
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Hochschuldidaktische Perspektiven auf den Einsatz von Fassungseditionen
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Zusammenfassung und Ausblick Über Fassungseditionen ist die Anknüpfung an thematische Schwerpunkte des mittelalterlichen Literaturbetriebs möglich: Synoptische Vergleiche zeigen sprachliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die erste Diskussionen und Fragen anregen. Der didaktische Bezug zur Gegenwart, dem Hochschul- und Lebensalltag der Studierenden kann über die digitalen Medien hergestellt werden (z. B. Wie verhält es sich im digitalen Zeitalter mit Autor- und Urheberschaft? Es können ebenso Prozesse der Veränderlichkeit und Beweglichkeit von Texten anhand moderner Textverarbeitungsprogramme diskutiert werden). Das angestrebte Lernziel ist die differenzierte Reflexion über Funktion und Bedeutung von Dichtung im historischen Kontext. Anhand verschiedener Fassungen können in der Hochschullehre Fragestellungen der Überlieferung problematisiert werden. Eine zusätzliche Erweiterung erhält die Seminardiskussion über die Themenfelder Medialität, Medienwechsel und Prozesse der Rezeption mittelalterlicher Dichtung, die sich zwischen Schrift (Literarizität) und mündlicher Volkssprache (Oralität)82, zwischen Materialität (Handschriften) und Vortrag erstrecken. Letztlich kann der Einsatz von Fassungseditionen zu Beginn des Studiums die Entwicklung eines differenzierten Textbegriffs als einer sich im Wandel befindlichen Entität bewirken sowie die Herausbildung philologischer Kompetenzen sowohl im Umgang mit historischen Texten als auch in aktuellen computergestützten Analysetechniken. Für die Wissenschaft bietet sich die Möglichkeit, neue, auch digitale, Editionsmodelle in der Hochschullehre zu erproben. Im Umgang mit Fassungseditionen können Studierende zu einem frühen Zeitpunkt im Studium eine „Lesehaltung“83 gegenüber Text entwickeln, die Form und Inhalt nicht nur hinnehmen, sondern Entstehungsbedingungen und Textprozesse der Überlieferung mitberücksichtigen. Es kann im akademischen Unterricht bereits in den ersten Semestern der Umgang mit literarischen Varianten, Autor- und Urheberschaftsproblemen geschult werden. Die Wahl des Beispielliedes von Walther von der Vogelweide kann damit begründet werden, dass der Text – oder besser die Texte – neben einer komplexen Überlieferungsgeschichte auch eine vielseitige Editionsgeschichte erfahren haben, die die aufwendigen Textherstellungsprozesse nachzeichnet, den der Editor am Text vollzieht. Es wird den Studierenden ein Einblick in vergangene und gegenwärtige Editionsprinzipien gewährt und es kann ein Bewusstsein für dynamische, variante Textprozesse geschult werden. Zudem bieten die Varianten des Liedes 44 sinntragende Varianten84 –––––––— 82 83
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Vgl. dazu: Bein 2008 (Anm. 77), S. 55–65. Willemsen 2004 (Anm. 15), S. 107. Bein spricht von einem „Problembewusstsein“, das der Studierende durch den akademischen Unterricht für die textkritische Fragestellungen der Textüberlieferung und -herstellung entwickeln soll. Thomas Bein: Grenzen des Edierbaren: Die Walther-Lieder 92 und 93 (L. 119,17 und MF 214,34ff) Ein Lehrstück für den akademischen Unterricht, in: Ders.: Walther von der Vogelweide – Überlieferung, Deutung, Forschungsgeschichte. Frankfurt/M. 2010, S. 39 (WaltherStudien, Bd. 7). Varianten, die einen ,Mehrwert‘ in der Textanalyse bedeuten. Einen Überblick über phonematische, graphematische, grammatische Varianten sowie größere Varianz, Umstellungen und Neuformulierungen bietet: Lüpges 2011 (Anm. 49).
Hochschuldidaktische Perspektiven auf den Einsatz von Fassungseditionen
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in Strophenbestand und -reihenfolge, die zahlreiche Schlüsselwörter des Minnesangs aufführen und durch textnahes Lesen können verschiedene Bedeutungsdimensionen des Textes erschlossen werden. Da die Themenbereiche aus Abb. 2 viele inhaltliche Berührungspunkte haben, können sie im Rahmen eines Einführungskurses in die Ältere deutsche Literatur ,vernetzt‘ und um die Fassungseditionen des Beispielstons gewoben werden und stellen für die Studierenden ein erstes Gerüst philologisch-mediävistischer Grundlagenkenntnisse sowie der Methoden- und Forschungsgeschichte dar. Auf diese Weise kann das Lehr- und Lernkonzept – zeitsparend, einführend und aufeinander aufbauend – den Anforderungen verknappter Lehr- und Lernzeit in den Bachelorstudiengängen sprach- und literaturwissenschaftlicher Fächer gerecht werden. Im Hinblick auf die in der Einleitung gestellte Frage nach dem Nutzen des Einsatzes und Umgangs mit komplexen literaturwissenschaftlichen Inhalten, wie Fassungseditionen älterer deutscher Texte, in Veranstaltungen sprach- und literaturwissenschaftlich orientierter Bachelorstudiengänge, lässt sich antworten, dass neben der ,vernetzten‘ Einführung in grundlegende Bereiche der germanistischen Mediävistik vor allem eine andere Lesehaltung durch Fassungseditionen entwickelt werden kann, die Prozesse von Textgenese, -überlieferung, -edition und -rezeption ins Bewusstsein ruft. Das Modell eignet sich sowohl für andere fassungsedierte Walther-Lieder85 als auch für doppelt- oder mehrfach überlieferte Lieder anderer Dichter, z.B. Reinmar, Heinrich von Morungen, die in einer Edition vorliegen. Dies ist in der ReclamAusgabe der Lieder Heinrichs von Morungen86 bei drei Liedern bzw. einzelnen Liedstrophen der Fall: 1. Ich bin iemer ander und niht eine ( XIa,1, nach Hs. A) bzw. Ich bin iemer der ander, niht der eine (XIb,1, nach Hs. B)87 2. Vrouwe, ich wil mit hulden (XXXIII,6, nach Hs. C und XXXIII,3 nach Hs. E unter Walther überliefert)88 3. West ich, ob ez verswîge möhte sîn ( VIa,1, nach Hs. C) bzw. Wist ich, obe ez mohte wol verswigen sîn (VIb,2, nach Hs. A)89 –––––––—
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36 der Walther-Lieder sind drei- oder mehrfach überliefert. Vgl. Cramer 1998 (Anm. 38), S. 85. Thomas Bein edierte in der Aachener Ausgabe von 2013 24 Töne in Fassungen, allein das Palästinalied ist in fünf Fassungen vorhanden. Einen guten Überblick über die Mehrfachüberlieferung im Waltheruvre bietet: Elmar Willemsen: Walther von der Vogelweide. Untersuchungen zur Varianz in der Liedüberlieferung. Frankfurt/M. et al. 2006, vor allem S. 189ff. Heinrich von Morungen: Lieder. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hgg. von Helmut Tervooren, Stuttgart 1975. Die drei Strophen Ich bin iemer ander und niht eine (MF 131,25), Sî ensol niht allen liuten lachen (MF 131,33) und Sît si herzeliebe heizent minne (MF 132,19) aus Hs. A sind doppelt überliefert (in Hs. B, für die außerdem noch zwei weitere Strophen bezeugt sind), vgl. Tervooren 1975 (Anm. 89), S. 64–73. Lediglich die Strophe Vrouwe, ich wil mit hulden ist doppelt überliefert. Die andere Autorzuweisung macht das Lied fruchtbar für die Diskussion der Kategorie ,Autor‘ im Mittelalter. Vgl. Tervooren 1975 (Anm. 89), S. 134–139. Die Strophe West ich, ob ez verswîge möhte sîn bzw. Wist ich, obe ez mohte wol verswigen sîn ist doppelt überliefert, sowie ein Teil der Strophe Der sô lange rüeft in einen touben walt bzw. Der alsô vil geriefe in einen touben walt, vgl. Tervooren 1975 (Anm. 89), S. 42–47.
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Das Lied Ich bin iemer ander und niht eine eignet sich in beiden Fassungen für die Thematisierung im akademischen Unterricht, da es ähnlich wie Walthers Saget mir ieman, waz ist minne nach der definitorischen Bedeutung des Begriffs minne fragt (es ist eine durchaus ähnliche Formulierung der Ratlosigkeit im Definitonsprozess bei Walther und Heinrich zu lesen: Sus enweiz ich, wie sie [die minne] denne heizen sol und so enweiz ich niht, wie diu liebe heizen sol). Beide Lieder gleichen sich in der Wortwahl und Beschreibung von Gefühlen wie Freude und Leid, Liebe und Klage.90 Unerlässlich für das sprach- und literaturwissenschaftliche Studium ist weiterhin – neben der intensiven Analyse eines Liedes in verschiedenen Fassungen – sicherlich die breite Lektüre91 und Kenntnisse eines mittelalterlichen Literatur-Kanons, die in den folgenden Pro- und Hauptseminaren der Bachelor- und Masterstudiengänge erworben werden müssen.
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In beiden Liedern verwendete Begriffe sind Schlüsselworte des Minnesangs: liep, liebe, minne, herzeliebe, danc bzw. gedanken, wunne, grüezen bzw. gruoz, wol (tuon) gegenüber trûren und leit. Vgl. Kasten 1989 (Anm. 79), S. 260f. Einen allgemeingültigen Literaturkanon der Älteren deutschen Literatur an Hochschulen und Universitäten gibt es nicht. Die Universität Jena empfiehlt neben prominenten epischen Texten des Mittelalters (z. B. Nibelungenlied), lyrische Texte von Reinmar, Hartmann von Aue, Heinrich von Morungen, Walther von der Vogelweide, Neidhart und Ulrich von Liechtenstein. Vgl. Lektüreliste auf der Website der Universität Jena (URL: https://www.uni-jena.de/unijenamedia/Downloads /faculties/phil/germ_lit/lektuereliste-p-42647.pdf; 23.08.2014).
Rüdiger Nutt-Kofoth
Wie werden neugermanistische (historisch-)kritische Editionen für die literaturwissenschaftliche Interpretation genutzt? Versuch einer Annäherung aufgrund einer Auswertung germanistischer Periodika Dass Wissenschaftler Editionen nicht um des Selbstzwecks willen herstellen, sondern für die Benutzung durch entsprechende Interessenten, ist Teil jenes Verständnisses, das der Editorik als philologischer Grundlagenforschung zukommt. Diese Nutzerorientierung, die in Gerhard Seidels Formel von der „Funktions- und Gegenstandsbedingtheit der Edition“1 den Funktionalitätsgesichtspunkt ausmacht, schlägt sich in der Vielzahl der Ausgabentypen nieder, die sich als vormals hierarchisch strukturiertes, heute eher als funktional differenziert verstandenes Spektrum beschreiben lässt. Gegenwärtig gilt etwa noch als eine übliche – idealtypische – Differenzierung diejenige in historisch-kritische bzw. kritische Ausgabe, Studienausgabe und Leseausgabe.2 Georg Witkowski hatte 1924 in der ersten monografischen Arbeit zur neugermanistischen Edition stattdessen eine andere, „wertende Unterscheidung“3 für seine Gliederung der Ausgabentypen eingeführt, nämlich diejenige in wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Ausgaben.4 Damit hat er die funktionale Differenzierung der Ausgabentypen allerdings bloß – wie Dirk Göttsche treffend formuliert hat – „überlagert“,5 denn Witkowksi spricht selbst davon, dass „in erster Linie der Zweck, d.h. der Benutzerkreis, zu beachten ist“.6 Weil bei Witkowski so das „Bedürfnis des Benutzers“7 im Zentrum steht, setzt er als erste Kategorie zur Beschreibung eines jeden Ausgabentyps die „Zweckbestimmung“8 an. Doch ist es wiederum merkwürdig, wie wenig wir – jenseits der für die Ausgabentypen proklamierten Zielgruppen – tatsächlich über den Editionsbenutzer wissen. Heinrich Meyer hat 1992 in seiner Untersuchung zu „Edition und Ausgabentypolo–––––––— 1
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Gerhard Seidel: Die Funktions- und Gegenstandsbedingtheit der Edition. Untersucht an poetischen Werken Bertolt Brechts. Berlin 1970 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur. 46. Reihe E: Quellen und Hilfsmittel zur Literaturgeschichte); später in erweiterter Neuausgabe: Gerhard Seidel: Bertolt Brecht – Arbeitsweise und Edition. Das literarische Werk als Prozeß. Stuttgart 1977. Siehe etwa den Überblick bei Dirk Göttsche: Ausgabentypen und Ausgabenbenutzer. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H.T.M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 37–63, bes. S. 40f.; Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. 3., ergänzte und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2013, S. 11–26, bes. S. 12. Göttsche 2000 (Anm. 2), S. 39. Georg Witkowski: Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Ein methodologischer Versuch. Leipzig 1924, S. 169 (Inhaltsverzeichnis). Göttsche 2000 (Anm. 2), S. 39. Witkowksi 1924 (Anm. 4), S. 2. Witkowksi 1924 (Anm. 4), S. 67, im Original kursiv. Witkowksi 1924 (Anm. 4), S. 71, 85, 87, 93, 105, 113, 117, 123, 145, 153f.
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Rüdiger Nutt-Kofoth
gie“ zu Recht festgestellt: „Es gibt […] keine öffentlich zugänglichen Resultate über die Spezifik der Zielgruppen bestimmter Buch- bzw. Ausgabentypen und deren Bedürfnisse und Lesegewohnheiten.“9 Unter der Prämisse, dass „eine Ausgabe […] versuchen [wird], alles zu unternehmen, daß sie die Leser erreicht und ihnen die Benutzung erleichtert“, folgert er jedoch: „Am wenigsten Probleme bieten sich wohl bei hochspezialisierten Ausgaben wie historisch-kritischen Gesamtausgaben“, weil diesen „in erster Linie beruflich Interessierte“, nämlich „professionelle Wissenschaftler“, zugeordnet werden könnten.10 Doch schon weit vor Meyer war über die mangelnde fachwissenschaftliche Nutzung der historisch-kritischen Ausgaben geklagt worden. Zunächst stand der Vorwurf im Raum, die textgenetischen Apparate seien ungenutzt und unbenutzbar11 – wogegen offensichtlich auch Friedrich Beißners Motto von den „Lesbare[n] Varianten“,12 unter das er sein textgenetisches Wiedergabemodell des Stufenapparats stellte, nicht half. Erhard Weidl hat 1975 das „Elend der Editionstechnik“ – so der Titel seines Beitrags – in das Diktum von der „Wirkung der Editionstechnik in ihrer Wirkungslosigkeit“13 gefasst. Als 1989 Ulrich Ott, der damalige Leiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, im Schiller-Jahrbuch zu einer Diskussionsrunde zum „Problem der historisch-kritischen Ausgaben“ unter dem Titel „Dichterwerkstatt oder Ehrengrab?“ aufrief, stand das Editionsformat ‚Historisch-kritische Ausgabe‘ in Gänze auf dem Prüfstand. In Hinblick auf den Rezipienten stellt Ott die Frage, ob die historisch-kritischen Ausgaben „ihrem Aufwand entsprechend benutzt“ würden, und antwortet selbst skeptisch: „Wer die germanistische Fachliteratur verfolgt, möchte zweifeln.“14 Auch Hartwig Schultz konstatiert in seinem Beitrag zu dieser 1990/91 abgehaltenen Diskussion die „Abwanderung des germanistischen Fachlesers“ und macht dafür das zirkuläre Verhalten der seinerzeitigen Editionswissenschaft verantwortlich, die sich in seinen Augen „von der Entwicklung des Faches [gemeint ist wohl die Germanistik] abkoppelt“ und zu einer „esoterischen Wissenschaft“ entwickele.15 In Hinblick auf die Güterabwägung bei der Finanzierung der wissenschaftlichen Forschung bringt Walter –––––––— 9
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Heinrich Meyer: Edition und Ausgabentypologie. Eine Untersuchung der editionswissenschaftlichen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bern u. a. 1992 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur. 1360), S. 62. Meyer 1992 (Anm. 9), S. 62. Etwa bei Jonas Fränkel: Zum Problem der Wiedergabe von Lesarten. In: Euphorion 53, 1959, S. 419– 421, hier S. 420; Helmut Koopmann: Für eine argumentative Edition. Probleme der Kommentierung am Beispiel der Philosophischen Schriften Schillers und Eichendorffs „Ahnung und Gegenwart“. In: Edition et Manuscrits. Probleme der Prosa-Edition. Akten des mit Unterstützung des Centre National de la Recherche Scientifique und der Deutschen Forschungsgemeinschaft veranstalteten französischdeutschen Editorenkolloquiums Paris 1983. Hg. von Michael Werner und Winfried Woesler. Bern u. a. 1987 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte. 19), S. 45–57, hier S. 46f. Friedrich Beißner: Lesbare Varianten. Die Entstehung einiger Verse in Heines ‚Atta Troll‘. In: Festschrift Josef Quint anläßlich seines 65. Geburtstages überreicht. Hg. von Hugo Moser, Rudolf Schützeichel und Karl Stackmann. Bonn 1964, S. 15–23. Erhard Weidl: Das Elend der Editionstechnik. In: LiLi 5, 1975, H. 19/20: Edition und Wirkung. Hg. von Wolfgang Haubrichs, S. 191–199, hier S. 192. U[lrich] O[tt]: Dichterwerkstatt oder Ehrengrab? Zum Problem der historisch-kritischen Ausgaben. Eine Diskussion. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 33, 1989, S. 3–6, hier S. 5. Hartwig Schultz: Unumkehrbar? Vom Wandel der historisch-kritischen Ausgaben. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 34, 1990, S. 416–418, hier S. 417f.
Nutzung neugermanistischer (historisch-)kritischer Editionen
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Müller-Seidel gleichfalls die behauptete mangelnde Nutzung der historisch-kritischen Ausgabe in diese Diskussion ein: „Es muß erlaubt sein zu fragen, ob das im Lesartenband zu Klopstocks Messias Dargebotene, wie bewundernswert in der Erarbeitung auch immer, den vielleicht 4 oder 5 Benutzern innerhalb einer Generation nicht auch in anderer Form hätte dargeboten werden können.“16 Das Verdikt Müller-Seidels trifft mit dem Beispiel des sieben Teilbände umfassenden, hochskrupulösen MessiasBandes17 aber nicht nur die textgenetische Aufbereitung – hier also in einer umfänglichen synoptischen Darstellung –, sondern ohne spezifisches Beispiel und damit ganz grundsätzlich auch den sogenannten edierten Text bzw. konstituierten Lesetext der historisch-kritischen Ausgabe: „Was haben wir vom zuverlässig dargebotenen Text, wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen, daß ihn immer weniger zur Kenntnis nehmen?“18 Zwar steht dann auch Ott der von Schultz eingeforderten und ebenso bei MüllerSeidel gewünschten „Selbstkritik“19 der Editoren nicht völlig fern, dennoch erkennt er den besonderen Status der historisch-kritischen Ausgabe unumwunden an: Die „Historisch-kritische Gesamtausgabe“ gilt ihm als „das Flaggschiff der Textwissenschaft“.20 Doch enthält sein Plädoyer für eine Erweiterung und Differenzierung des Instrumentariums, das der philologischen Grundlagenforschung dienstbar sein könnte, eine Bemerkung, die diesmal der Rezipientenseite dieser Grundlagenforschung kein gutes Zeugnis ausstellt: „Freilich setzte das alles viel mehr ‚Textbewußtsein‘ bei den Nutzern, bei den Literarhistorikern und interpretierenden Wissenschaftlern voraus“.21 Gunter Martens beantwortet die Frage, ob eine historisch-kritische Ausgabe in ihrer Erschließungstiefe überhaupt genutzt werde, im gleichen Zusammenhang skeptisch, pikanterweise mit einem Verweis auf das Schiller-Jahrbuch selbst, in dem die genannte Diskussion geführt wurde: Beispiele aus dem Jahrbuch, in dem dieser Beitrag erscheint, stimmen bedenklich: Da wird die Existenz zuverlässiger kritischer Editionen großzügig übersehen, wird nach der – in vieler Hinsicht zweifellos verdienstvollen – Hamburger Goethe-Ausgabe zitiert, obwohl heute selbst dem Proseminaristen bekannt sein sollte, daß die philologische Grundlage dieser Edition alles andere als zuverlässig ist. Doch genau das scheint mir darauf zu verweisen, daß
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Walter Müller-Seidel: Erwiderungen pro domo: Nachwort zur Editions-Diskussion. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 35, 1991, S. 352–358, hier S. 353f. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Adolf Beck, Karl Ludwig Schneider und Hermann Tiemann. Hg. von Horst Gronemeyer, Elisabeth HöpkerHerberg, Klaus Hurlebusch und Rose-Maria Hurlebusch. Berlin, New York: Abteilung Werke. Bd. IV: Der Messias. Hg. von Elisabeth Höpker-Herberg, Bd. 1/2: Text. 1974; Bd. 3: Text/Apparat. 1996; Bd. 4: Apparat. 1984; Bd. 5,1/2: Apparat. 1986; Bd. 6: Apparat. 1999. Müller-Seidel 1991 (Anm. 16), S. 356. Schultz 1990 (Anm. 15), S. 417. U[lrich] O[tt]: Historisch-kritische Ausgaben. Eine Diskussion. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 34, 1990, S. 395–397, hier S. 396. Ott 1990 (Anm. 20), S. 396.
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hier nicht ein Problem der historisch-kritischen Ausgabe, sondern eines des Benutzers, genauer: seiner wissenschaftlichen Erziehung vorliegt.22
Damit war nun die Argumentation verkehrt. Anstelle der von Schultz eingeforderten editionswissenschaftlichen Selbstkritik lastet Martens das konstatierte Dilemma nicht dem Herausgeber, sondern dem Benutzer der Ausgabe an, ja leitet es gar noch weiter, indem der literaturwissenschaftliche Lehrer in die Verantwortung genommen wird. Siegfried Scheibe argumentiert in seinem Beitrag zur Diskussion in die gleiche Richtung. Dabei holt er wissenschaftsgeschichtlich weiter aus und sieht in der literaturwissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung des 20. Jahrhunderts, der Abkehr von grundlegender materialgesättigter, dann als ‚positivistisch‘ verurteilter Forschung, den Grund des zeitgenössischen Dilemmas: Mit diesem Abwenden von philologischen Forschungen war die Abkehr von bestimmten Traditionen, aber auch von wissenschaftlichen Disziplinen verbunden, die bis dahin zum Kenntnisstand und zur Ausbildung von Literaturwissenschaftlern gehörten. Daß heute viele für die Ausbildung von Studenten zuständige Hochschullehrer selbst keine Kenntnisse auf solchen Gebieten besitzen, bedingt, daß sie auch keine solchen Kenntnisse vermitteln können. Ich betrachte es deshalb als eine wichtige Aufgabe der heutigen Literaturwissenschaft, an diese verkümmerten Traditionen literaturwissenschaftlicher Forschungen wieder anzuknüpfen und ihren Studenten Kenntnisse auf diesen Gebieten zu vermitteln.23
Auch Norbert Oellers sieht die Problemstelle im Rezipienten, hier in Form des allgemeinen literaturwissenschaftlichen Interpreten: Es spricht allein gegen die Interpreten von Literatur, wenn sie nur ungenügenden Gebrauch von den (wenigen) historisch-kritisch edierten Texten machen. […] | Es wird so oft falsch interpretiert, weil die Texte falsch sind. Es wird so oft falsch interpretiert, weil die Varianten (‚Lesarten‘) nicht bekannt sind. Es wird so oft falsch interpretiert, weil es an Sachinformationen (in historisch-kritischen Ausgaben) fehlt.24
Ganz offensichtlich standen sich in dieser Diskussion aus dem Anfang der 1990er Jahre die Positionen derjenigen, die die historisch-kritische Ausgabe uneingeschränkt befürworteten, und derjenigen, die ihr mit Skepsis begegneten, unvermittelt gegenüber. Tatsächlich hat die Diskussion auch in der Folgezeit nicht dazu gedient, Brücken zwischen den verschiedenen Ansichten zu schlagen. Gleichzeitig hat sich die Distanz zwischen dem Angebot der historisch-kritischen Ausgabe und seiner Nutzung nicht verringert. Klaus Kanzog hat schon ganz zu Beginn seiner Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur 1991 von der „Kluft zwischen der editorischen Tätigkeit und den Lesern“25 gesprochen. Stefan Graber sieht 1998 in –––––––— 22
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Gunter Martens: Immer noch „Wissenschaft auf Abwegen“? In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 34, 1990, S. 398–403, hier S. 398f. – Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. Hamburg 1948–1960; seitdem laufend Neubearbeitungen (München). Siegfried Scheibe: Plädoyer für historisch-kritische Editionen. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 34, 1990, S. 406–415, hier S. 413. Norbert Oellers: Aus einer Philologenwerkstatt. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 34, 1990, S. 404f., hier S. 405. Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991 (Grundlagen der Germanistik. 31), S. 5.
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Aufgriff der Diskussion nicht nur einen „Graben“ „zwischen Produzenten von HKAs und ihren hauptsächlichen Konsumenten, den Wissenschaftlern“, sondern klassifiziert diesen „Graben“ zudem als „gegenseitige Verständnislücke“.26 Dies scheint bis heute unverändert zuzutreffen. Bodo Plachta jedenfalls hat schon in der ersten Auflage seiner editionswissenschaftlichen Einführung 1997 festgestellt, „daß der Abstand zwischen diesen Editionen und ihren Benutzern zunehmend größer wird“, und Plachta meint mit „Benutzern“ sowohl „Studierende“ als auch „Wissenschaftler“.27 16 Jahre später, in der dritten, ergänzten und aktualisierten Auflage von 2013, sah er keinen Anlass, diese Einschätzung zu revidieren.28 Wenn die Diskussion über das Verhältnis von Edition und Nutzer über Jahrzehnte in solcher Dissonanz und unter Wehklagen geführt wird, muss man allerdings fragen, worauf sie sich faktisch gründet. Alle Bemerkungen über die veranschlagte „Kluft“29 zwischen Editionsanspruch und Editionsnutzung beruhen offensichtlich auf subjektiven Eindrücken. Martens hat immerhin ganz konkret auf das Schiller-Jahrbuch (allerdings eventuell nur auf einen Fall darin) hingewiesen, an dem er sein Unbehagen konkretisieren konnte. Nur Müller-Seidel bringt noch konkrete Zahlen vor. Doch sind seine „vielleicht 4 oder 5 Benutzer[ ] innerhalb einer Generation“,30 die er dem Messias-Apparat der Hamburger Klopstock-Ausgabe zubilligt, natürlich bloße – eher der Polemik dienende – Vermutung. Die Editionswissenschaft hat sich bisher kaum konkret für die Häufigkeit und Intensität der Benutzung ihrer Ausgaben interessiert; das hat sich seit Heinrich Meyers Bemerkung dazu von 1992 auch nicht geändert. Empirische Untersuchungen zu dieser Frage existieren nicht. Das gilt nicht nur für die germanistische Editionswissenschaft. So weist etwa der große Kongress der Historiker zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung zum Thema „Vom Nutzen des Edierens“, der 2004 in Wien abgehalten wurde und dessen Vorträge 2005 publiziert wurden, nur in drei Beiträgen vorsichtige Annäherungen an diese Fragestellung auf. Einer dieser Aufsätze berichtet immerhin über eine Befragung von 29 altphilologischen Abteilungen US-amerikanischer Universitäten in Hinblick auf die Anteile von Editorischem in der Lehre und von Editoren unter den Hochschullehrern.31 –––––––— 26 27 28 29 30 31
Stefan Graber: Der Autortext in der historisch-kritischen Ausgabe. Ansätze zu einer Theorie der Textkritik. Bern 1998, S. 170. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997, S. 9. Plachta 2013 (Anm. 2), S. 9. Siehe Anm. 25. Siehe Anm. 16. Danuta Shanzer: Editions and Editing in the Classroom. A Report from the Mines in America. In: Vom Nutzen des Edierens. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Wien, 3.–5. Juni 2004. Hg. von Brigitte Merta, Andrea Sommerlechner und Herwig Weigl. Wien, München 2005 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband. 47), S. 355–368, zu den erhobenen Daten s. dort S. 367f. – Die anderen beiden Aufsätze behandeln ebenfalls Fragen der Vermittlung von Editionsergebnissen im akademischen Unterricht und an weitere Interessierte: Brenda Bolton: Bringing the Pope to the People: Validity in the Use of Language. In: ebd., S. 369–381; Rita Voltmer: Kontextualisieren, exemplifizieren,
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Die fehlende empirische Basis war der Anlass zu einer kleinen, vom Verfasser durchgeführten statistischen Untersuchung, die einige härtere Daten in die bisher von Vermutungen, subjektiven Einschätzungen und Vorbehalten geprägte Diskussion einbringen soll. Um in vertretbarem Zeitrahmen und bei der verfügbaren Personalkapazität von einer Person zu einigermaßen validen, aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen, mussten bestimmte Einschränkungen vorgenommen werden. Im Fokus sollte allein die neugermanistische Edition stehen. Da der Editionstyp ‚Historisch-kritische Ausgabe‘ das Zentrum der Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte bildete, sollte er dies auch für die Datenerhebung tun. Die Leitfrage der Untersuchung war also folgende: „Wie werden neugermanistische (historisch-)kritische Editionen für die literaturwissenschaftliche Interpretation genutzt?“ Der Bestandteil „historisch“ ist dabei bewusst in Klammern gesetzt. Das heißt, dass im Regelfall nach der Benutzung der historisch-kritischen Ausgabe zu einem Autor gefragt wird, jedoch in den Fällen, in denen keine historisch-kritische Ausgabe für einen Autor vorhanden ist, eine vorliegende ‚kritische‘, also eine solche, die vor allem nicht sämtliche Varianten verzeichnet, gleichfalls mitberücksichtigt ist. Das ist also etwa bei der Kritischen Hofmannsthal-Ausgabe32 der Fall. Der Ausgabentyp der ‚Kritischen Ausgabe‘ ist daher im Folgenden, wenn von ‚Historisch-kritischer Ausgabe‘ gesprochen wird, für solche Fälle immer mitgemeint. Die Frage nach der literaturwissenschaftlichen Benutzung historisch-kritischer Ausgaben wurde in zwei Teile zerlegt. Zunächst einmal wurde gefragt, ob der literaturwissenschaftliche Interpret eine vorhandene historisch-kritische Ausgabe zu dem behandelten Autor herangezogen hat oder nicht. Ergänzend wurde zu dieser Grobdifferenzierung eine Feindifferenzierung vorgenommen. So wurde für den Fall, dass die historisch-kritische Ausgabe benutzt wurde, weiter danach gefragt, welche Teile der historisch-kritischen Ausgabe verwendet wurden: der edierte Text bzw. konstituierte Lesetext (soweit die Ausgabe einen solchen enthält), die Entstehungsgeschichte, die Varianten bzw. die Darstellung der Textgenese, die Erläuterungen oder Sonstiges, worunter Überlieferungsgeschichtliches, Herausgeberbericht, Register u. Ä. subsumiert wurden. Diese Differenzierung in Hinblick auf die Benutzung einzelner Ausgabenbestandteile wurde nur bei Verwendung der historisch-kritischen Ausgabe vorgenommen, nicht für andere Ausgabentypen, etwa falls der literaturwissenschaftliche Interpret eine Studienausgabe verwendet hat. Für die Nutzung der einzelnen Bestandteile von Studienausgaben liefert die Erhebung also keine Daten. Gelistet wurden auch nur diejenigen Fälle, in denen zu einem behandelten Autor eine (historisch-)kritische Ausgabe existiert, weil nur hier eine Benutzerentscheidung im Sinne der Rahmenfragestellung nach der Nutzung von historisch-kritischen Ausgaben sichtbar werden kann. Das heißt, dass die Erhebung über die Nutzung von Ausgaben bei Autoren ohne (historisch-)kritische Edition – und das betrifft natürlich die überwiegende Anzahl der –––––––— 32
popularisieren: Gedanken zur Edition landes- und regionalgeschichtlicher Quellen für universitäre Lehre, Schulunterricht und Kulturbetrieb. In: ebd., S. 383–396. Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hg. von Heinz Otto Burger, Rudolf Hirsch, Detlev Lüders, Heinz Rölleke, Ernst Zinn [im Folgenden wechselnde Gesamt-Hg.]. Frankfurt/M. 1975ff.
Nutzung neugermanistischer (historisch-)kritischer Editionen
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Autoren der neueren deutschen Literatur – keine Aussage macht. In der Erhebung wurde auch in den Fällen von Autoren nicht weiter differenziert, zu denen mehrere, zumeist zwei historisch-kritische Ausgaben vorliegen, insbesondere wenn sie durch ihre methodische Differenz je nach Interesse des Interpreten beide als wissenschaftlich legitime Grundlage der Interpretation dienen können. Hier wurde nur die grundsätzliche Verwendung der historisch-kritischen Ausgabe verbucht. Das betrifft etwa die Situation bei Hölderlin mit der Stuttgarter und der Frankfurter Ausgabe oder diejenige bei Kafka mit der Fischer- und der Stroemfeld-Ausgabe.33 Standen die Untersuchungskategorien fest, war aber noch zu überlegen, durch welche Materialgrundlage wenigstens eine gewisse Repräsentativität der erhobenen Daten in Hinblick auf das weite Feld der literaturwissenschaftlichen Publikationen zu erreichen war. Dass Monografien nicht in Frage kamen, weil bei ihnen nur eine willkürliche, zufällige Auswahl hätte vorgenommen worden können, war von Anfang an klar. Ein Stück weit Repräsentativität konnte nur das Feld der germanistischen Periodika gewähren, weil sich in ihnen eine große Anzahl verschiedener wissenschaftlicher Verfasser und auch literaturwissenschaftlicher Themen vorfindet und damit eine größere Spannweite der Verwendung historisch-kritischer Ausgaben zu erwarten war. Ausgeschlossen werden konnten dabei Jahrbücher literarischer Gesellschaften, die hauptsächlich einem Autor verschrieben sind. Und natürlich war es auch nicht sinnvoll, spezielle editionswissenschaftliche Periodika, also etwa editio oder Text. Kritische Beiträge, auszuwählen, da die dort publizierende Verfassergruppe allemal vielfach aus dem engeren editionswissenschaftlichen Bereich stammt. Eine Breite an literaturwissenschaftlichen Themen konnten daher nur große, das ganze Fach der germanistischen Literaturwissenschaft abdeckende allgemeine Zeitschriften bieten. Aus ihnen sind folgende drei Periodika ausgewählt worden: die Zeitschrift für deutsche Philologie, der Euphorion und die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs). Bei ihnen handelt es sich um die ältesten, die besonders traditionsreichen Zeitschriften des Faches: die Zeitschrift für deutsche Philologie erschien zuerst 1869 und gab 2013 ihren 132. Band heraus, der Euphorion existiert seit 1894 und legte 2013 den 107. Band vor, die Deutsche Vierteljahrsschrift gibt es seit 1923 und sie trat 2013 mit Band 87 an die Öffentlichkeit. Die Auswahl dieser Zeitschriften war geleitet durch die Annahme, dass besonders in solchen alteingesessenen Organen eine wissenschaftliche Akkuratesse in der Ausgabenbenutzung zu erwarten wäre, sodass sich die Ergebnisse der Datenerhebung eher von diesen Periodika aus auf die allgemeine Benutzung der historisch-kritischen Ausgaben hochrechnen lassen, als wenn man jüngere oder nur ein engeres Themengebiet der Literaturwissenschaft abdeckende Periodika herangezogen hätte. Dass für die Erhebung trotzdem auch andere Periodika statt dieser hätten befragt werden können, ist selbstverständ–––––––— 33
Hölderlin: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Hg. von Friedrich Beißner [und Adolf Beck]. 8 Bde. in 15. Stuttgart 1943–1985; Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. ‚Frankfurter Ausgabe‘. Hg. von D.E. Sattler. Frankfurt/M. [seit 1985: Basel, Frankfurt/M.] 1975–2008; Franz Kafka: Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit unter Beratung von Nahum Glatzer, Rainer Gruenter, Paul Raabe und Marthe Robert. Frankfurt/M. 1982ff.; Franz Kafka: Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel, Frankfurt/M. 1995ff.
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lich. Zudem wäre es natürlich besser gewesen, weitere Zeitschriften in die Untersuchung einzubinden und sie damit auf eine breitere Grundlage zu stellen. Die Beschränkung auf drei Zeitschriften ist allein der für die Erhebung zur Verfügung stehenden Zeit und Personalkapazität geschuldet. Dennoch ist die Untersuchungsbasis nicht ganz gering. Ausgewählt wurden aus den drei genannten Zeitschriften die Jahrgänge 2000 bis 2013, also die letzten 14 Jahrgänge, einschließlich der Sonderhefte der Zeitschrift für deutsche Philologie.34 So sollte ein Überblick über die Benutzung der historisch-kritischen Ausgaben von der jüngsten Vergangenheit bis in die aktuelle Gegenwart ermöglicht werden. Zugleich ließ sich vorab erhoffen, dass sich spätestens ab der Jahrtausendwende die Argumente und Forderungen aus den vorherigen intensiven Diskussionen, insbesondere jener im Schiller-Jahrbuch aus den frühen 1990er Jahren, niederschlagen könnten. Die Seitenzahl der untersuchten 14 Jahrgänge beträgt für die Zeitschrift für deutsche Philologie 12 675, für den Euphorion 7086 und für die DVjs 9375. Zusammen macht das 29 136 Seiten, die als Untersuchungsgrundlage dienten. Zu bemerken ist, dass alle drei untersuchten Organe auch Aufsätze zu altgermanistischen, mediävistischen Themen anbieten; bei der Zeitschrift für deutsche Philologie machen sie in der Regel etwa die Hälfte des Umfangs aus (ohne die eher seltener der Mediävistik gewidmeten Sonderhefte), beim Euphorion und der DVjs jedoch ganz erheblich weniger. Diese Teile des untersuchten Korpus fallen also für die Fragestellung nicht ins Gewicht fallen. In den Jahrgängen 2000–2013 traf nun das Faktum, dass eine neugermanistische historisch-kritische Ausgabe verwendet wurde oder hätte verwendet werden können, in der Zeitschrift für deutsche Philologie auf 159, im Euphorion auf 157 und in der DVjs auf 219 Aufsätze zu. Insgesamt beziehen sich die Untersuchungsergebnisse also auf 535 Aufsätze. Bei den literarischen Autoren, an denen die Nutzung der (historisch-)kritischen Ausgabe festzustellen war, handelt es sich im Wesentlichen um Brentano, Büchner, Celan, Droste-Hülshoff, Eichendorff, George, Goethe, Grillparzer, Heine, Herder, Heym, Hofmannsthal, Hölderlin, Jean Paul, Kafka, Keller, Kleist, Klopstock, Lessing, C.F. Meyer, Mörike, Nietzsche, Novalis, Schiller, F. Schlegel, Stifter, Trakl und Wieland. Wenn im Folgenden nun die Detailergebnisse35 genannt werden, bezieht sich die Information „HKA verwendet ja oder nein“ auf die grundsätzliche Heranziehung oder Nichtheranziehung einer historisch-kritischen Ausgabe zu einem literarischen Autor innerhalb eines Aufsatzes; das Faktum wird also pro Aufsatz nur einmal gebucht und nicht in Hinblick auf die Menge der Einzelzitate zum gleichen literarischen Autor innerhalb eines Aufsatzes. In der Zeitschrift für deutsche Philologie sind somit 336 Fälle zu nennen, in denen der Verfasser eines Beitrags eine HKA hätte verwenden können; davon ist sie 178-mal nicht herangezogen worden, 158-mal aber wohl. Das ent–––––––—
34 35
Zur Untersuchungszeit im Januar und Anfang Februar 2014 war das Sonderheft des Jahrgangs 2013 in den Bibliotheken noch nicht verfügbar; es wurde daher nicht mitberücksichtigt. Die Zahlen wurden aufgrund einer einmaligen Durchsicht der genannten Erhebungsgrundlage ermittelt. Die Zuweisung der bibliografischen Nennungen zu den einzelnen, im Folgenden genannten Kategorien erfolgte unter Einbezug des jeweiligen Kotextes im entsprechenden Aufsatz. Die jeweilige bibliografische Angabe im entsprechenden Aufsatz wurde nicht im Einzelnen an den Editionen überprüft. Kleinere Unschärfen sind daher möglich.
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spricht einem Verhältnis von 53 % zu 47 % zugunsten der unterlassenen Verwendung der HKA.36 Höher liegt die Quote beim Euphorion hinsichtlich des Verzichts auf eine Benutzung der HKA: Von 345 möglichen Fällen wurde 208-mal die HKA nicht herangezogen und nur 137-mal sehr wohl; das Verhältnis zuungunsten der HKA beträgt beim Euphorion damit 60 % zu 40 %. Noch weiter zum Nachteil der HKA geht diese Relation bei der DVjs auseinander: Von 480 möglichen Fällen wurde 299-mal auf die HKA verzichtet, 181-mal wurde sie herangezogen; das entspricht einem Verhältnis von 62 % zu 38 % zum Nachteil der HKA. Für die drei untersuchten Zeitschriften zusammen heißt das: Von 1161 möglichen Fällen wurde 685-mal die HKA ignoriert, 476-mal wurde auf sie zurückgegriffen; in Prozenten ausgedrückt: In 59 % der möglichen Fälle wurde die HKA nicht benutzt, in 41 % der Fälle wurde sie herangezogen. Warum sich ein Verfasser entscheidet, eine HKA zu nutzen, und warum nicht, lässt sich den erhobenen Daten nach kaum nachvollziehen. Es gibt eine große Anzahl an Aufsätzen, in denen für bestimmte Autoren die HKA genutzt wird, für andere nicht; eine typische Variante ist die Nutzung der Schiller-Nationalausgabe im gleichen Aufsatz, in dem für Goethe nur neuere oder ältere Studienausgaben herangezogen werden, nicht aber etwa die Weimarer Ausgabe; die Hamburger Goethe-Ausgabe, zu der Martens 1990 ja schon ein eindeutiges Statement abgegeben hatte, findet sich unter diesen Studienausgaben übrigens immer noch nicht zu selten vertreten. Obwohl die Verwendung der Ausgaben in der Tat insgesamt den Eindruck großer Willkür erweckt, sind gewisse Trends der Benutzung durchaus erkennbar. So wird unter anderem auch auf von der HKA abgeleitete Ausgaben zurückgegriffen: so für Nietzsche auf die reduzierte Kritische Studienausgabe37 statt auf die Kritische Gesamtausgabe38 oder für Kafka auf die Werkausgabe von Hans-Gerd Koch39 statt auf die Kritische Ausgabe.40 In beiden Fällen dürfte der Grund darin liegen, dass die als Taschenbuch erschwingliche abgeleitete Ausgabe auf dem heimischen Bücherregal steht und dass der Verfasser meint, mit einer Ausgabe, die zumindest im Textteil der eigentlichen Referenzausgabe entspricht, dem wissenschaftlichen Handwerkszeug Genüge getan zu haben. Die Bequemlichkeit des heimischen Bücherregals dürfte auch der Grund für die an sich abstrusen Fälle sein, in denen eine Studienausgabe und eine historisch-kritische Ausgabe zu einem Autor zugleich verwendet worden sind. Das Muster, an dem sich solche Fälle erkennen lassen, lautet so: Die Werke eines Autors werden nach der – zuhause offensichtlich greifbaren – Studienausgabe, Briefe und Tagebücher – die wohl nicht im heimischen Regal verfügbar waren – nach der historisch-kritischen Ausgabe zitiert. –––––––— 36 37 38 39 40
Höhere Prozentzahlen erscheinen ohne Stelle hinter dem Komma auf- oder abgerundet auf die nächste ganze Zahl. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980, 2., durchgesehene Auflage 1988, Neuausgabe 1999. Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi. Berlin u. a. 1967ff. Franz Kafka: Gesammelte Werke in 12 Bänden. Nach der kritischen Ausgabe hg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/M. 1994. Kafka, Kritische Ausgabe 1982ff. (Anm. 33).
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Rüdiger Nutt-Kofoth
Die detaillierte Betrachtung, welche Bestandteile der historisch-kritischen Ausgabe – so sie denn überhaupt verwendet wurde – der Aufsatzverfasser benutzte, gibt ein recht klares Bild. Wenn in den 14 untersuchten Jahrgängen der Zeitschrift für deutsche Philologie eine historisch-kritische Ausgabe 158-mal herangezogen wurde, dann wurde 149-mal der edierte Text, der Lesetext, genutzt, viermal die Entstehungsgeschichte, dreimal die Varianten, 14-mal die Erläuterungen und neunmal weitere Teile der Edition. Natürlich können durchaus mehrere dieser Komponenten in einem Aufsatz zugleich genutzt worden sein. Daher ergibt sich für die Zeitschrift für deutsche Philologie folgendes prozentualer Prozentanteil der einzelnen Komponente in Hinblick auf HKA-Nutzung: Zu 94 % wurde der edierte Text benutzt, zu 2,5 % die Entstehungsgeschichte, zu 1,8 % die Variantendarstellung, zu 8,8 % die Erläuterungen und zu 5,6 % sonstige Teile der Edition. Die Zahlen für den Euphorion zeigen dazu nur geringe Schwankungen. In den 137 Fällen, in denen auf eine HKA zurückgegriffen wurde, wurde 119-mal der edierte Text benutzt (86 %), fünfmal die Entstehungsgeschichte (3,6 %), viermal die Variantenverzeichnung (2,9 %), 17-mal die Erläuterungen (12,4 %) und neunmal sonstige Teile (6,5 %). Bei der DVjs haben die Autoren bei den 181 Zugriffen auf eine HKA 167-mal den edierten Text genutzt (92 %), zehnmal die Entstehungsgeschichte (5,5 %), 14-mal die Variantenverzeichnung (7,7 %, ein deutlich höherer Wert als bei den anderen beiden Zeitschriften), 22-mal die Erläuterungen (12,1 %) und sechsmal sonstige Teile der Edition (3,3 %). Für alle drei Zeitschriften zusammengenommen lautet das Ergebnis der Detailuntersuchung: In den 476 Fällen, in denen eine HKA herangezogen wurde, bezog sich der Aufsatzverfasser 435-mal auf den edierten Text (also in 91 % der Fälle), 19-mal auf die Entstehungsgeschichte (also in 3,9 % der Fälle), 21-mal auf die Variantenverzeichnung (4,4 % der Fälle), 53-mal auf die Erläuterungen (11,1 % der Fälle) und 24mal auf sonstige Teile der Edition (5,0 % der Fälle). In einer groben Zusammenfassung ließe sich das Ergebnis der Untersuchung für die letzten 14 Jahrgänge der drei Zeitschriften in Hinblick auf die relevantesten Daten so darstellen: Wenn für einen literarischen Autor eine historisch-kritische Ausgabe vorliegt, nutzen zwei Fünftel der literaturwissenschaftlichen Interpreten diese Ausgabe, drei Fünftel – also mehr als die Hälfte – ignorieren sie. Wenn eine historischkritische Ausgabe genutzt wird, beziehen sich neun Zehntel der Interpreten auf den edierten Text, gut ein Zehntel (auch noch) auf die Erläuterungen und nur etwa ein halbes Zehntel (ebenso) auf die Varianten bzw. die Textgenese. Was bedeutet dieser Befund nun für die Situation der neugermanistischen historischkritischen Ausgabe, und zwar auch vor dem Hintergrund der älteren und jüngeren Diskussion über deren Nutzung? Immer im Bewusstsein der Datengrundlage von allein 14 Jahrgängen von bloß drei – immerhin aber zentralen – Zeitschriften der germanistischen Literaturwissenschaft sind doch Ergebnisse greifbar, aus denen zumindest zwei grundsätzliche Mankos abzuleiten sind, für die aber auch Lösungen bedacht werden müssten.
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243
1. Manko in Hinblick auf die basale Übereinkunft zum wissenschaftlichen Arbeiten: Ganz offensichtlich fehlt in den Jahren seit 2000 genauso wie zurzeit der Editorenklage zu Anfang der 1990er Jahre ein Bewusstsein der Standards wissenschaftlichen Arbeitens beim literaturwissenschaftlichen Interpreten, wenn in der Mehrzahl der Fälle auf beliebige statt der verfügbaren historisch-kritischen Ausgaben zurückgegriffen wird. Man könnte und sollte darauf zumindest mit einer stärkeren Verankerung grundlegender editionswissenschaftlicher Kenntnisse im literaturwissenschaftlichen Studium reagieren, um der folgenden Wissenschaftlergeneration eine bessere Ausgangssituation zu verschaffen.41 Das ist sicher äußerst sinnvoll, doch kaum ausreichend. Denn das Problem scheint tiefer zu liegen und ist keineswegs allein mit der besseren Ausbildung des einzelnen Wissenschaftlers zu beheben. Wenn nämlich die Redaktionen und die Herausgebergremien der wichtigsten literaturwissenschaftlichen Zeitschriften der Germanistik den Zustand dulden, dass die Grundlagen der wissenschaftlichen Interpretation beliebig gewählt werden können, wird man den Redaktionen und Herausgebern nicht einfach ein gegenüber dem einzelnen Aufsatzverfasser potenziertes Manko des Verständnisses vom wissenschaftlichen Arbeiten vorhalten können. Viel eher liegt dann eine andere Schlussfolgerung nahe, nämlich die, dass es die immer wieder behauptete Übereinkunft über die Basis wissenschaftlichen Arbeitens zumindest in Hinblick auf die Verwendung der besten wissenschaftlichen Ausgabe, der historisch-kritischen, gar nicht gibt. Ein Standard, der über weite Strecken nicht eingehalten wird, ist nur ein vermeintlicher, also keiner. Diese Diskussion betrifft daher nicht nur die Editionswissenschaft, sondern erfordert eine neue und selbstverpflichtende Verständigung der Literaturwissenschaft über ihre Grundlagen. 2. Manko im Interesse für die differenzierenden und erschließenden Bestandteile der HKA: Die historisch-kritische Ausgabe wird vom literaturwissenschaftlichen Interpreten fast ausschließlich für die Zitation des edierten Textes benutzt. Besonders auffällig ist, dass die Variantenapparate und textgenetischen Darstellungen bei den literaturwissenschaftlichen Interpreten so gut wie keinen Niederschlag in den betreffenden Beiträgen finden,42 obwohl diese zu den aufwendigsten Leistungen einer HKA gehören und die Bedeutung der Textgenese innerhalb des Werkkontextes durch die editorischen Dis–––––––—
41
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Überlegungen zur editionswissenschaftlichen Lehre, an die sich anschließen ließe, sind schon vor einiger Zeit zusammengetragen worden: Editionswissenschaft und akademischer Unterricht. Symposion. Hg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 1999 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 4). Dieser Befund gilt für die untersuchten allgemeinen literaturwissenschaftlichen Zeitschriften. Das schließt nicht aus, dass sich monografische Spezialuntersuchungen für die textgenetische Thematik oder deren Anschlussstellen, vor allem die Ästhetik des Schreibens, immer wieder einmal interessiert haben; s. z.B. Hans-Georg Kemper: Georg Trakls Entwürfe. Aspekte zu ihrem Verständnis. Tübingen 1970 (Studien zur deutschen Literatur. 19); Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen. Eine textgenetische Studie zu Theodor Fontanes „L’Adultera“. Würzburg 2002 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft. 358); Annette Schütterle: Franz Kafkas Oktavhefte. Ein Schreibprozeß als „System des Teilbaues“. Freiburg/Breisgau 2002 (Cultura. 33); Stephan Kammer: Figurationen und Gesten des Schreibens. Zur Ästhetik der Produktion in Robert Walsers Prosa der Berner Zeit. Tübingen 2003 (Hermaea. N.F. 102); die Buchreihe: Zur Genealogie des Schreibens. Hg. von Martin Stingelin. München 2004ff.
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Rüdiger Nutt-Kofoth
kussionen des 20. Jahrhunderts ganz wesentlich theoretisch fundiert wurde.43 Aber auch die Erläuterungen oder die Entstehungsgeschichte werden in der historischkritischen Ausgabe äußert selten konsultiert. Wie ist nun diesem Zustand abzuhelfen? Es scheint, dass hier die Editoren selbst eine wesentliche Brücke zu den nichtedierenden literaturwissenschaftlichen Interpreten schlagen können, und zwar wenn die Editoren selbst nicht nur in der editorischen Rolle, sondern auch in derjenigen des Literaturwissenschaftlers agieren. Sie sollten sich nämlich daran beteiligen, die Erkenntnisse, die ihnen aus dem genauen Wissen um das reiche Material der historischkritischen Ausgabe zugewachsen sind, literaturwissenschaftlich fruchtbar zu machen, indem sie an Beispielen zeigten, welcher Interpretationsgewinn für das edierte Werk aus spezifischen Teilen der Textgenese, der Entstehungsgeschichte, der Quellenaufarbeitung in den Erläuterungen etc. zu erzielen wäre. Aus einem solchen Verfahren erwüchse – so wäre zu hoffen – eine Sammlung von Exempla, die nicht nur als Muster für eine andere Breite in den Verfahren der literaturwissenschaftlichen Interpretation dienen, sondern die die historisch-kritische Edition endlich als Ganze literaturwissenschaftlich sichtbar machen könnte.
–––––––—
43
Siehe als Überblicke etwa Hans Zeller: Die Typen des germanistischen Varianten-Apparats und ein Vorschlag zu einem Apparat für Prosa. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 105, 1986, Sonderheft: Editionsprobleme der Literaturwissenschaft. Besorgt von Norbert Oellers und Hartmut Steinecke, S. 42–69; Kanzog 1991 (Anm. 25), S. 149–168; Herbert Kraft: Editionsphilologie. Zweite, neubearbeitete und erweiterte Auflage mit Beiträgen von Diana Schilling und Gert Vonhoff. Frankfurt/M. u. a. 2001, S. 109–131; Hans Zeller: Die Entwicklung der textgenetischen Edition im 20. Jahrhundert. In: Geschichte der Editionsverfahren vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick. Ringvorlesung. Hg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 2003 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 5), S. 143–207; Rüdiger Nutt-Kofoth: Textgenese. Überlegungen zu Funktion und Perspektive eines editorischen Aufgabengebiets. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 37, 2005, H. 1, S. 97–122; Plachta 2013 (Anm. 2), S. 99–114.
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Nutzung neugermanistischer (historisch-)kritischer Editionen
Anhang Tabellarische Übersicht zur Auswertung dreier germanistischer Zeitschriften in Hinblick auf die Nutzung neugermanistischer historisch-kritischer Ausgaben durch die Aufsatzverfasser in den Jahrgängen 2000–2013 Absolute Werte HKA möglich
davon HKA nein
davon HKA ja
HKA ja: Text
HKA ja: Entsteh.
HKA ja: Varianten
HKA ja: Erläut.
HKA ja: Sonstiges
ZfdPh
336
178
158
149
4
3
14
9
Euph
345
208
137
119
5
4
17
9
DVjs
480
299
181
167
10
14
22
6
Gesamt
1161
685
476
435
19
21
53
24
Relative Werte (bei höheren Prozentzahlen ohne Kommastelle gerundet) HKA möglich
davon HKA nein
davon HKA ja
HKA ja: Text
HKA ja: Entsteh.
HKA ja: Varianten
HKA ja: Erläut.
HKA ja: Sonstiges
ZfdPh
100 %
53 %
47 %
94 %
2,5 %
1,8%
8,8 %
5,6 %
Euph
100 %
60 %
40 %
87 %
3,6 %
2,9 %
12,4 %
6,5 %
DVjs
100 %
62 %
38 %
92 %
5,5 %
7,7 %
12,1 %
3,3 %
Gesamt
100 %
59 %
41 %
91 %
3,9 %
4,4 %
11,1 %
5,0 %
Esbjörn Nyström
Nur ein Teil eines Ganzen? Kleiner Denkanstoß zur libretto-, drehbuch- und drameneditorischen Debatte
Als die „allererste Arbeitsaufgabe“ eines Editors bezeichnet es Bodo Plachta in seinem Handbuch Editionswissenschaft, „einem Leser einen authentischen Text in seiner originalen historischen Gestalt zu präsentieren“.1 Dort wie in der neugermanistischen Editorik allgemein bezeichnet das Wort „Text“ spezifisch eine schriftsprachliche Entität, im Grunde genommen eine Sequenz aus „hauptsächlich alphanumerischen Zeichen“.2 Als Ausgangspunkt einer jeglichen Edition einer solchermaßen konstituierten Entität sollte ihre jeweilige Überlieferung dienen. Die Verabschiedung des Prinzips „letzte Hand“ hat die althergebrachte teleologische Sichtweise in Bezug auf literarische Texte in der Neugermanistik geschwächt. Nur wenige behaupten heutzutage, dass eine frühe Textfassung in erster Linie in Bezug auf spätere Fassungen von Interesse ist, dass diese späteren Fassungen erst das volle Potential und die Bedeutungen des frühen Textes freilegen. Vielmehr ist die frühere Fassung aus ganz einfachen historischen und kausalen Gründen von den späteren entstehungsgeschichtlich grundsätzlich unabhängig. Dagegen gilt das umgekehrte Verhältnis nicht; die späte Textfassung ist in verschiedenen Weisen von Vorgängern abhängig. Es geht also in der neugermanistischen Edition neben den bereits erläuterten Prinzipien der schriftsprachlichen Textetablierung auch darum, die Entwicklung, eine Entstehungsgeschichte der zu edierenden schriftsprachlichen Entität unter strikter Beachtung von zeitlichen und kausalen Zusammenhängen und unter Vermeidung von teleologischen Denkmustern zu zeichnen. Mein gegenwärtiges Projekt zur Begründung einer germanistischen Editionstheorie des Opernlibrettos3 hat zum Ziel, zum einen die Frage des Werkganzen des Opernlib–––––––— 1 2 3
Bodo Plachta: Editionswissenschaft: Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. 2., ergänzte und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2006 [1997], S. 8. Dieses Element einer Definition von ‚Text‘ findet sich außerhalb des germanistischen Spektrums in Paula Henrikson: Textkritisk utgivning: Råd och riktlinjer. Stockholm 2007, S. 153. Übersetzung E. N. Unter „Libretto“ verstehe ich in diesem Projekt und auch im Folgenden die Bedeutung „Text“ (bzw. „Textgattung“), nicht die sonst ebenfalls so genannte Publikationsform, die den etymologischen Ursprung des Wortes bildet. Zur Polysemie des Wortes „Libretto“ vgl. Albert Gier: Das Libretto: Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung. Darmstadt 1998, S. 3, und Cristina Urchueguía: Richard Wagners plurale Autorschaft: Überlegungen zur Edition von Richard Wagners Libretti am Beispiel von Tannhäuser. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Aachen, 20. bis 23. Februar 2002. Hg. von Thomas Bein u.a. Tübingen 2004, S. 293–306, hier S. 294.
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Esbjörn Nyström
rettos insbesondere die Stellung der sog. Partiturtexte darin zu klären4 und zum anderen, die Problematik der Vergleichbarkeit von Literaturtexten und Partiturtexten und die anschließenden editionstheoretischen und -praktischen Folgen eingehend zu analysieren. Jene Vergleichbarkeit ist aufgrund der Unterschiede in der semiotischen Struktur der beiden Formen begrenzt, doch die gemeinsame schriftsprachliche Komponente gibt immerhin Voraussetzungen für textsortenübergreifende Variantenverzeichnisse, wenn auch mit Vorbehalten und Sonderlösungen.5 Vor dem Hintergrund dieses Projekts werden in diesem Beitrag Auszüge aus einer vornehmlich editorischen Debatte über das Opernlibretto im Folgenden wird dabei nur der Literaturtext ins Auge gefasst und einige seiner nahen Verwandten, vor allem das Ballettlibretto, das Drehbuch und auch den Sprechdramentext6 kritisch beleuchtet. Es gibt selbstverständlich teilweise große Unterschiede zwischen den genannten Gattungen, aber auch auffällige Gemeinsamkeiten. Die Drehbuchforscher Alexander Schwarz und Birgit Schmid verstehen das Opernlibretto etwa als eine „Vorform“7 des Drehbuchs bzw. als eine „verwandte Textform“8. Gemeinsam9 für die Texte (im obigen Sinne: schriftsprachliche Entitäten) der genannten Gattungen ist, dass jeder von ihnen in seiner Textstruktur auf eine imaginierte bzw. potentielle Umsetzung der dargestellten Handlung in einer anderen künstlerischen Form als der schriftsprachlichen verweist. Normalerweise ist zudem eine Funktionsweise als Textgrundlage für mögliche andersartige künstlerische Kommunikate von Anfang an intendiert.10 Diese Funktionsweise muss durchaus nicht die einzige sein, und es ist für das betreffende Kriterium völlig belanglos, ob derartige Kommunikate mit dem Text als Grundlage tatsächlich zustande gekommen sind oder nicht.11 Die Unabhängigkeit einer ersten Fassung eines solchen Textes von eventuellen späteren Kommunikaten ist ebenso selbstverständlich wie die prinzipielle Unabhängigkeit einer frühen Fassung eines Romans von zum Zeitpunkt ihrer Entstehung noch nicht –––––––— 4 5
6
7 8 9 10
11
Vgl. Esbjörn Nyström: Wann gehören Partiturtexte zum ‚Werkganzen‘ eines Opernlibrettos? In: editio 26 (2012), S. 108122. Vgl. Esbjörn Nyström: Literaturwissenschaftliche Beobachtungen zum Problem der Vergleichbarkeit von Literaturtexten und Partiturtexten. [im Druck; erscheint im Tagungsband ,Perspektiven der Edition musikdramatischer Texte‘] Die Termini ‚Literaturtext‘ und ‚Partiturtext‘ gehen zurück auf Werner Breig: Überlegungen zur Edition von Richard Wagners musikdramatischen Texten. In: Der Text im musikalischen Werk. Der Text im musikalischen Werk. Editionsprobleme aus musikwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Sicht. Hg. von Walther Dürr u.a. Berlin 1998, S. 284–311, hier S. 286. Sehr am Rande werden auch das Pantomimenszenarium und der Hörspieltext angeschnitten, die beide ebenfalls sinnvoll zu dieser Gruppe von Gattungen zu zählen sind. Das Oratorienlibretto fällt dagegen als nicht-dramatischer Text (z. B. ohne Regiebemerkungen) teilweise aus dem Rahmen. Alexander Schwarz: Der geschriebene Film: Drehbücher des deutschen und russischen Stummfilms. München 1994, S. 41. Birgit Schmid: Die literarische Identität des Drehbuchs: Untersucht am Fallbeispiel „Agnes“ von Peter Stamm. Bern usw. 2004, S. 16. Es geht hier gerade um die Bestimmung einiger wichtiger Gemeinsamkeiten. Eine Definition z. B. des Opernlibrettos, des Ballettlibrettos oder des Drehbuchs enthält auch andere spezifische Elemente. Hier ist der Begriff der Potentialität (nicht der der tatsächlichen Ausführung) zentral. Thomas E. Porter spricht ausdrücklich vom Dramentext als „an event in potentia“ (Thomas E. Porter: Drama as text. Mythos and praxis. In: Word 37, 1986, H. 1/2, S. 93110, hier S. 94). Nicht zu übersehen ist die Existenz unvertonter und unaufgeführter Opernlibretti und Ballettlibretti, unaufgeführter Sprechdramentexte und unverfilmter Drehbücher. Diese weisen als Texte generell keine strukturellen Unterschiede gegenüber anderen Texten der jeweiligen Gattung auf.
Nur ein Teil eines Ganzen?
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vorgenommenen Umarbeitungen. Eine generellere Erklärung der Eigenständigkeit der Texte gegenüber nicht schriftlich fixierten Kommunikaten, eine Erklärung, die auch solche Texte betreffen, die vielleicht Einflüsse nicht schriftlich fixierter Kommunikate aufweisen, liegt eher in den unterschiedlichen Zeichensystemen und Kanälen, die hier benutzt werden. Im Folgenden liegt der Fokus besonders auf dem (germanistischen) editorischen Kontext, aber mit Ausblicken auf wichtige neuere Forschungsbeiträge u. a. zur Theorie der genannten Gattungen. Der Beitrag sollte, wie der Untertitel angibt, in erster Linie als ein Denkanstoß betrachtet werden.
Diskussion In einem editionswissenschaftlichen Aufsatz von 1991 diskutiert Klaus Kanzog unter anderem die Edition von Drehbüchern und Opernlibretti. Laut Kanzog sind Drehbücher „lediglich aufnahmepraktische Anweisungen für Regisseur, Schauspieler und Kameramann sowie für die Einrichtung der Szene und deshalb nur von konsultativem Wert“, und „sofern ein Drehbuch filmisch realisiert wurde“ wäre ihre Publikation „nur im Zusammenhang mit dem Protokoll des betreffenden Films sinnvoll“. Außerdem meint Kanzog zum Opernlibretto feststellen zu können: „Bei einem Opernlibretto weiß man von vornherein, daß der Text nur die Vorlage für die musikalische Realisation war.“12 Um die erhebliche Einengung der Sichtweite und die Ausschließlichkeit in der Argumentation Kanzogs bezüglich der beiden Textgattungen zu veranschaulichen, habe ich einige kennzeichnende Wörter kursiv gesetzt.13 Es ist auffallend, mit welcher Selbstverständlichkeit und Ausschließlichkeit das Drehbuch und das Opernlibretto bei Kanzog mit einigen ihrer Eigenschaften verknüpft werden und andere Möglichkeiten damit aus dem Blickfeld verschwinden. Kanzogs beschränkende Definition des Drehbuchs wird noch problematischer, wenn man sie mit den Einsichten neuerer internationaler Drehbuchforschung vergleicht. Bei Kanzog beherrscht eine teleologische Argumentation das Bild vom Drehbuch und vom Opernlibretto – nicht das, was es (als „fixierter“14 Text) ist, sondern nur ihre Beziehung zu tatsächlichen nicht-schriftlichen Kommunikaten, wird fokussiert. Die Erkenntnisse der späteren Drehbuchforschung und der Librettoforschung stehen der Sichtweise Kanzogs entgegen, etwa wenn Birgit Schmid feststellt: „Letztlich […] ist kein Filmskript ein nüchtern-technischer Anleitungsbericht […]“15. Steven Price bemängelt 2010 allgemein „the temporal confusion that bedevils certain teleological arguments, whereby the existence of a film provokes a reading of the screenplay as –––––––— 12
13 14 15
Klaus Kanzog: Fixierter Text – realisierter Text. Über eine vernachlässigte Aufgabe der Editionsphilologie. In: Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller. Hg. von Gunter Martens und Winfried Woesler. Tübingen 1991, S. 5–16, hier S. 10f. Meine Hervorhebungen. Dies wird umso notwendiger, da Perspektiven wie die Kanzogs oft m. E. völlig zu Unrecht mit einem Weitblick in Bezug auf die behandelten Erscheinungen gleichgesetzt werden. Vgl. Kanzog 1991 (Anm. 12), S. 5. Schmid 2004 (Anm. 8), S. 42.
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simply an anticipation of it“.16 Diese Charakteristik trifft auch genau Kanzogs Argumentation in Bezug auf das Drehbuch. Die Worte von Steven Price, einem leitenden Vertreter einer in den letzten Jahren aufblühenden Drehbuchforschung, sind auch für die Librettoforschung wesentlich. Immer noch hat die Forschung zu den genannten Erscheinungen mit weitgehend gemeinsamen Problemen, was die sonstige wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Wahrnehmung dieser Texte betrifft, zu kämpfen. Dabei ist das eigentliche Problem nicht, dass der jeweilige Text als nicht-literarisch betrachtet wird,17 sondern ein viel grundlegenderes, noch einmal mit den Worten Prices: „Indeed, the problem lies not with the screenplay as literature, but in the persistent failure to recognise it even as a text, in the broadest cultural sense of that word“.18 Price fügt hinzu, dass verschiedene „critical discourses, concepts, and metaphors […] have persistently pushed the screenplay text into a peculiar ontological state of non-being“.19 Es ist dies ein Problem, das nicht nur das Drehbuch sondern auch die anderen erwähnten Gattungen betrifft, in geringerem Maße tatsächlich auch den Sprechdramentext. In ihrer wichtigen Monografie zu Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts bemerkt Anke Detken zur gegenwärtigen Dramenforschung kritisch, dass Interpreten heutzutage häufig „Kurzschlüsse[ ]“20 zwischen Text und Aufführung machen. Mit solchen Kurzschlüssen nahe verwandt ist die generelle Sichtweise, dass man bei der Analyse (und der Edition) von Dramentexten immer auch deren angebliche „Realisierung“ auf der Bühne mit zu berücksichtigen hätte, wobei es aber häufig völlig unklar bleibt, auf welche einzelne Realisierung dabei Bezug genommen werden sollte. Es handelt sich um das sehr präsente, von Holger Korthals kritisch als „Aufführungskriterium“21 bezeichnete Element in der theoretischen Diskussion um das Drama. Von einem ausgeprägten „Aufführungskriterium“ ausgehend können auch Drameneditionen in diesem Sinn kritisiert werden. So schreibt der Anglist Ralf Hertel in einem Handbuchtext zur Dramenanalyse in Bezug auf Editionen von Dramentexten: Implizit werten sie […] den Text gegenüber der Aufführung auf, denn diese Ausgaben bringen zum Ausdruck, dass jede Feinheit der schriftlichen Fixierung – und sei es nur die Interpunktion – potenziell bedeutungsvoll ist.22
Ganz abgesehen davon, dass (um Hertels eigene Sichtweise auszuprobieren) die Interpunktion in einem schriftlich fixierten Text sehr wohl und sogar große Bedeutung für den mündlichen Vortrag auf der Bühne haben kann, beruht die Kritik Hertels an den Editionen meines Erachtens auf einer Vermischung von zwei wesensverschiede–––––––— 16 17 18 19 20 21 22
Steven Price: The Screenplay: Authorship, Theory and Criticism. Basingstoke/New York 2010, S. 50. Zur Diskussion um den literarischen Status des Drehbuchs, vgl. Ted Nannicelli: A Philosophy of the Screenplay. New York/London 2013, insbesondere S. 139161. Price 2010 (Anm. 16), S. 41f. Price 2010 (Anm. 16), S. 42. Anke Detken: Im Nebenraum des Textes: Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2009, S. 162. Holger Korthals: Zwischen Drama und Erzählung: Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur. Berlin 2003, S. 53. Ralf Hertel: „Dramentextanalyse“. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 2. Methoden und Theorien. Hg. von Thomas Anz. Stuttgart/Weimar 2007, S. 121–139, hier S. 123.
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nen Kommunikaten, einem, der mit ausschließlich visuellen Kanälen und schriftsprachlichen Mitteln arbeitet, und einem, in dem die Schriftsprache keine Rolle mehr spielt und in dem neben visuellen auch akustische Kanäle und entsprechende Darstellungsmittel grundlegend sind. Nur das Erstgenannte ist überhaupt sozusagen editionsfähig.23 Hertels Kritik an Drameneditionen steht in der Nachfolge des Anglisten Manfred Pfister, der die Aufführung, den „szenisch realisierten Text“ in den Mittelpunkt seiner Dramentheorie von 1977 stellte und den schriftlich fixierten Text dabei vielfach als „Substrat“ abtat24 – mit bedeutenden Folgen für die spätere Dramenforschung. Pfisters Befürchtung, dass durch gewisse Arten von Lektüre „dramatische[ ] Texte[ ] [...] um ihre Bühnendimension verkürzt“25 werden, hat Eike Muny folgendermaßen treffend widersprochen: [...] dieser Befürchtung [liegt] ein Zirkelschluss zugrunde: Die Aufführungsdimension, die verteidigt wird, ergibt sich nicht aus dem empirischen Befund der Dramentextstruktur, sondern erst durch die vorausgesetzte Definition des Dramas als Bühnenwerk.26
Auch die Theaterwissenschaft teilt interessanterweise nicht unbedingt die Auffassung Pfisters. Man beachte etwa das folgende Zitat von Erika Fischer-Lichte: Im Gegensatz zu Raszewski, Skwarczy�ska, Pfister u.a. gehe ich [...] nicht davon aus, daß das Drama nur als „Partitur“ für die Aufführung und in diesem Sinne andererseits selbst schon als plurimedialer Text anzusehen ist. Ich insistiere vielmehr mit allem Nachdruck auf der ästhetischen Eigenart und Autonomie beider.27
Diese starke Stellungnahme für die ästhetische Eigenart und Autonomie des Dramentextes dürfte vielen Lesern der betreffenden epochalen Studie, Semiotik des Theaters von 1983 entgangen sein, denn sie steht in einer Endnote. Dass Erika FischerLichte im genannten Werk eine Grundlage für die theatersemiotische Aufführungsanalyse darlegt, heißt nicht, dass sie die Eigenständigkeit des schriftsprachlichen Dramentexts missachten würde. Umgekehrt verbieten erstens die semiotische Ausrichtung bei Fischer-Lichte und zweitens die Einsicht in die Eigenständigkeit der Aufführung als Kommunikat effektiv eine derartige Schlussfolgerung.28 –––––––— 23
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Bei Filmen (und aufgeführten Hörspielen) liegt wegen der andersartigen Fixierung eine solche Möglichkeit vor, vgl. zu einigen Grundlagen der Filmedition Ursula von Keitz: Historisch-kritische Filmedition – ein interdisziplinäres Szenario. In: editio 27, 2013, S. 1537. Diese Edierbarkeit der „Realisierung“ ändert jedoch nichts an der semiotischen Inkongruenz in der Beziehung Drehbuch-Film. Manfred Pfister: Das Drama: Theorie und Analyse. 9. Auflage, erw. und bibliogr. aktualisierter Nachdruck der durchges. und erg. Auflage 1988. München 1997 [1977]. Pfister 1997 (Anm. 24), S. 34. Eike Muny: Erzählperspektive im Drama: Ein Beitrag zur transgenerischen Narratologie. München 2008, S. 25f. Vgl. auch die Kritik von Korthals 2003 (Anm. 21), S. 55f. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Bd. 3. Die Aufführung als Text. Tübingen 1983, S. 193, Endnote 68. Vgl. auch Fischer-Lichtes Stellungnahme gegen ein Element in Pfisters Dramentheorie in Erika FischerLichte: The Dramatic Dialogue Oral or Literary Communication? In: Semiotics of Drama and Theatre. New Perspectives in the Theory of Drama and Theatre. Hg. Herta Schmid und Aloysius van Kesteren. Amsterdam/Philadelphia 1984, S. 137173, hier S. 163, Endnote 8.
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Zweifellos sind die semiotischen und zumal aus editorischer Sicht relevanten Unterschiede zwischen einem schriftsprachlichen Kommunikat und einem theatralischen Kommunikat bereits gigantisch. Bei Texten anderer hier aktueller Gattungen sind die Unterschiede noch schwerwiegender. Wird etwa ein Sprechdramentext und ein Opernlibretto im selben Sinne „gespielt“, „aufgeführt“ bzw. „realisiert“? Und sind diese drei Verben überhaupt angemessene Bezeichnungen in diesem Zusammenhang? Klar ist in diesen Fällen eigentlich nur, dass ein schriftsprachlicher Text als Grundlage für ein theatralisches Kommunikat dient. Sowohl eine Theater- als auch eine Opernaufführung lassen mehr oder weniger ausführliche Segmente des schriftsprachlichen Textes, vor allem Regiebemerkungen, vermissen.29 Aber auch dem Dialog fehlen in dieser Form wegen des Wechsels vom Schriftlichen ins Mündliche grundlegende Eigenschaften ihrer schriftlichen Gestalt, sowie beispielsweise die Schreibweise von Namen und Wörtern, die bei Hertel erwähnte Interpunktion und gegebenenfalls die Versgliederung. Es kommen im theatralischen Kommunikat selbstverständlich andere Elemente hinzu, so wie der Bühnenraum und die „wahrnehmbare Physis“30 des Schauspielers einschließlich Stimme und Körper. Soweit lassen sich die Fälle Opernlibretto-Opernaufführung und Sprechdramentext-Theateraufführung in etwa parallelisieren. Vergleicht man aber den sog. Literaturtext eines Opernlibrettos mit einer Opernaufführung, fällt sofort auf, dass die letztere bekanntlich Musik enthält, die im schriftsprachlichen Text nicht präsent ist und die den Vortrag der Repliken häufig beeinflusst.31 Geht man noch weiter, und vergleicht das Verhältnis zwischen einem dialogfreien Ballettlibretto, das, wie Christina Thurner schreibt, einen „rein didaskalischen Diskurs“32 darstellt, und einer Ballettaufführung, wird deutlich, dass diese beiden vom editorisch relevanten Zeichenvorrat her äußerst wenige gemeinsame Eigenschaften haben. Die schon bei einem Sprechdramentext immensen Unterschiede gegenüber einer Aufführung im Theater nehmen also im Falle des Opernlibrettos und insbesondere des Ballettlibrettos sogar noch zu. Die entstehungsgeschichtlichen und kausalen Verhältnisse sind hier nicht entscheidend vielmehr handelt es sich also um ganz grundlegende Unterschiede im Zeichenvorrat, darum, dass die schriftsprachliche Sequenz, die einen Sprechdramentext, ein Ballettlibretto oder ein Opernlibretto konstituiert, in der angeblichen „Realisierung“ überhaupt nicht präsent ist.33 Bei Opernlibretti und Sprechdramentexten haben –––––––— 29 30 31
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Vgl. auch Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Mit einem Anhang von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel. Vierte, unveränderte Auflage. Tübingen 1972 [1931], S. 403. Fischer-Lichte 1983 (Anm. 27), S. 35. Auch im Falle von Sprechdramen kommt historisch betrachtet häufig Schauspielmusik hinzu; es handelt sich dort jedoch um kein obligatorisches Element, das meist auch das Vortragen der Repliken nicht beeinflusst. Christina Thurner: Auf den Leib geschrieben: Hugo von Hofmannsthals Ballettlibretti. Aus Anlaß des Erscheinens von Band XXVII der Kritischen Ausgabe. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 16 (2008), S. 87104, hier S. 92. Wenn man die drei Kommunikatformen Literaturtext, Opernpartitur und Opernaufführung miteinander vergleicht, wird deutlich, dass die Opernpartitur die schriftsprachliche Zeichensequenz des Literaturtextes enthält, wiewohl in musikalischer Notation integriert und mit kennzeichnenden Unterschieden in der
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wir es häufig auch mit Neuausgaben und ungedruckten Fassungen zu tun, in die Erfahrungen aus der Vertonung und tatsächlichen Aufführungen miteingeflossen sind. Auch diese Fassungen sind aber keine Protokolle oder Transkriptionen von Aufführungen, und selbst ein Protokoll (wie im Falle der sog. „Filmbücher“34) wäre als schriftsprachliches Kommunikat von der Aufführung bzw. vom Film wesensverschieden. Trotz der andersartigen „Realisierung“ des in anderer Weise fixierten Films ließe sich die obige Diskussion also auch auf das Drehbuch übertragen.35 Hier ist an zwei Feststellungen der Drehbuchforscher Ian W. MacDonald und Steven Price zu erinnern, zuerst MacDonald: „At no point in its development can the screenplay be said to truly reflect the final screenwork“36, dann Price als Ergänzung dazu: „The two media are simply different in kind, with the images in a screenplay possessing a textual rather than a visual or synaesthetic form“37. Ein Opernlibretto ist ebenfalls keine Wiedergabe und keine Widerspiegelung einer tatsächlichen Opernaufführung. Ein Ballettlibretto ist keine Wiedergabe und keine Widerspiegelung einer tatsächlichen Ballettaufführung. Insofern stimmt auch eine Beobachtung Heinz Hieblers in seiner Rezension38 des 27. Bandes der kritischen Hofmannsthal-Ausgabe, der Ballettlibretti, Pantomimenszenarien und Filmszenarien enthält.39 Hiebler bemerkt zu den dort edierten Ballettlibretti mit Hinweis auf deren Entstehung: „Das Textkorpus […] hat nicht selten den Stellenwert einer Verlegenheitslösung, die das eigentliche künstlerische Erlebnis, die konkrete Umsetzung, nur ungenügend wiedergibt“.40 „Das eigentliche künstlerische Erlebnis“, das hier in Frage käme, stelle also laut Hiebler die Aufführung des Balletts dar, und der schriftliche Text könnte diese kaum wiedergeben. Das ist unbestreitbar – so eine Wiedergabe würde allerdings in vielen Fällen auch aus rein kausalen und zeitlichen Gründen überraschen, da ein Ballettlibretto im Allgemeinen vor der ersten –––––––— 34 35
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Textpräsentation und mit ebenfalls kennzeichnenden Varianten gegenüber dem Literaturtext (vgl. Nyström [im Druck], Anm. 5). In einer Opernaufführung dagegen fehlt die Zeichensequenz normalerweise ganz. Zur begrifflichen Differenzierung zwischen „Drehbuch“ und „Filmbuch“, vgl. Schmid 2004 (Anm. 8), S. 28. Dies obwohl Ted Nannicelli eine scharfe Grenzlinie zieht zwischen u. a. Dramentexten und Partituren auf der einen Seite, die er als „work-determinative“ beschreibt, und Drehbüchern auf der anderen; Letztere sind laut Nannicelli „not ontolocigally tethered to any particular work in the way that scores and scripts are“ (Nannicelli 2013 (Anm. 17), S. 136). Nannicellis in den meisten Fällen sehr einleuchtende Argumentation sollte, was diese Stelle betrifft, etwas differenziert werden, wofür sich diese Fußnote jedoch nicht sehr gut eignet. Ian W. MacDonald: Disentangeling the screen idea. In: Journal of Media Practice 5, 2004, H. 2, S. 89– 99, hier S. 90. Price 2010 (Anm. 16), S. 50. Heinz Hiebler: Der Dichter im Gefängnis der Worte. (Rezension über: Hugo von Hofmannsthal: Ballette, Pantomimen, Filmszenarien. Hg. von Gisela Bärbel Schmid und Klaus-Dieter Krabiel. Frankfurt/M.: S. Fischer 2006.) In: IASLonline [05.02.2008]. URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=2639 (15.05.2014). Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. XXVII. Ballette, Pantomimen, Filmszenarien. Hg. von Gisela Bärbel Schmid und Klaus-Dieter Krabiel. Frankfurt/M. 2006. Hiebler 2008 (Anm. 38), Absatz 12.
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Aufführung entstanden und in einigen Fällen auch vor ihr gedruckt ist, d. h., wenn es überhaupt eine Aufführung gegeben hat.41 Noch einmal sind aber die zeitlichen und kausalen Gründe nicht entscheidend. Denn gilt nicht genau das Gleiche für das umgekehrte Verhältnis? Um dies zu veranschaulichen, kann die zitierte Formulierung Hieblers unter Ausnützung ihrer syntaktischen Ambiguität absichtlich fehlgelesen werden: Die Aufführung kann das Ballettlibretto auch höchstens „ungenügend“, beziehungsweise gar nicht, wiedergeben. Um einen ähnlichen Sachverhalt zu veranschaulichen, führt der Drehbuchforscher Ted Nannicelli eine interessante hypothetische Diskussion: Wäre Carl Foremans Drehbuch High Noon von 1952 verlorengegangen, würde man dieses Drehbuch über den Film High Noon keineswegs wiederherstellen können: The film High Noon cannot tell us exactly what settings, costumes, camera angles and movements, edits, sound effects, dialogue, and so forth that Foreman’s screenplay suggested. Or, more precisely, the film cannot tell us anything about the language Foreman used to suggest the film’s constitutive elements. And that language is an essential part of the identity of the screenplay.42
Der Druck, der damit auf die Sprachlichkeit des Drehbuchs gelegt wird, ist auch für die anderen hier behandelten Gattungen fruchtbar. Ein Drehbuch, ein Ballettlibretto, ein Opernlibretto und ein Dramentext werden alle durch ihre Sprachlichkeit, präziser: durch ihre Schriftsprachlichkeit, konstituiert. Hiebler zitiert in seiner Rezension den zeitgenössischen Kritiker Julius Hart, der Hofmannsthals Sprache im Filmszenarium Das fremde Mädchen (ursprünglich als Pantomimenszenarium entstanden) als „Kolportageromandeutsch“ bezeichnet hatte.43 Die an sich erstaunlich anmutende Behauptung, Hofmannsthal habe einen Text in Kolportageromandeutsch verfasst, ließe sich an der Hiebler zufolge eigentlichen „Realisierung“ dieses Textes, in diesem Fall auf der Leinwand, selbstverständlich nicht überprüfen, da sich diese sprachlich-stilistische Einschätzung auf einen ganz bestimmten schriftsprachlichen Text und nicht auf irgendwelche andere künstlerische Erzeugnisse, „Realisierungen“ oder nicht, bezieht. Das betrifft auch Herbert Jherings (ebenfalls bei Hiebler zitierten) Behauptung zu Das fremde Mädchen als Pantomimenszenarium, Hofmannsthal habe darin „metaphysische Stammeleien“ und keine „Bühnenanweisungen“ geschrieben44, was ja doch andeutet, dass Hofmannsthal dem Text bewusst oder unbewusst ein eigenes Profil jenseits praktischer Anweisungen verliehen hätte. Dafür spricht übrigens bereits die sonst seltsame Wahl des narrativen Präteritums in den ersten Sätzen des betreffenden Textes.45 Hofmannsthals eigene –––––––—
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Bei den Ballettlibretti in Bd. XXVII der Hofmannsthal-Ausgabe wurde Der Triumph der Zeit (vgl. Hofmannsthal 2006 (Anm. 39), S. 267f.) nicht als Grundlage für Ballettaufführungen zu Hofmannsthals Lebzeiten benutzt. Zählt man auch die Pantomimenszenarien und die unvollendeten Libretti bzw. Szenarien hinzu, betrifft dies sogar einen recht großen Teil der Produktion Hofmannsthals in den genannten Gattungen. Nannicelli 2013 (Anm. 17), S. 185. Hiebler 2008 (Anm. 38), Absatz 9. Hiebler 2008 (Anm. 38), Absatz 9. Hugo von Hofmannsthal: Das fremde Mädchen. In: Hofmannsthal 2006 (Anm. 39), S. 57–62, hier S. 57.
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Einstellung zu diesen Texten und zur Dichtung im Zusammenhang mit wortlosen Künsten überhaupt wechselte und war sicherlich, wie auch Hiebler schreibt, in vielen Fällen negativ. Entscheidend ist aber zuerst, dass Hofmannsthal diese Texte geschrieben und in vielen Fällen (unter eigenem Namen oder anonym) auch veröffentlicht hat (was die oben erwähnten Urteile erst ermöglichten) – schon durch die erstgenannte Eigenschaft sind die Texte relevante Objekte editorischer Tätigkeit. Offensichtlich läuft Hieblers Argumentation darauf hinaus, die mangelnde künstlerische Qualität der schriftsprachlichen Texte zu unterstreichen, um damit ihre mangelnde Eigenständigkeit gegenüber den „Realisierungen“ zu untermauern. Die eventuelle (in diesen Fällen von Kritikern behauptete) mangelnde künstlerische Qualität von gewissen Texten ist allerdings kein sinnvolles Argument gegen deren Eigenständigkeit gegenüber „Realisierungen“, zumal im editorischen Sinne. Die beiden Fragestellungen (Qualität und Eigenständigkeit gegenüber „Realisierungen“) befinden sich auf unterschiedlichen Diskursebenen, einer mehr im literaturkritischen, der anderen dagegen eindeutig im wissenschaftlichen Bereich, und sollten miteinander nicht verwechselt werden. Natürlich sind „Realisierungen“ bzw. präziser ausgedrückt: die Gelegenheiten, bei denen eine Textgrundlage der Edition oder eine frühere Fassung dieses Textes für andersartige künstlerische Kommunikate als Grundlage benutzt wurden in diesem Kontext nicht in jeder Hinsicht irrelevant. In ihren Eigenschaften als Elemente der Rezeption und gegebenenfalls auch der Textproduktion sollten sie im editorischen Kommentar Erwähnung finden, wie es die Herausgeber des betreffenden Bandes tatsächlich auch regelmäßig getan haben. Hiebler meint trotzdem „ein deutliches Defizit“46 festzustellen, indem er in der Edition die jeweiligen „Umsetzungen“47 oder „Realisierung[en]“48 der Ballettlibretti, Pantomimen- und Filmszenarien vermisst. Seine Rede von einer „Ausblendung des konkreten Aufführungszusammenhangs“49 ist meines Erachtens nur im Kontext des „Aufführungskriteriums“ bzw. einer sehr problematischen Totalitätsvorstellung mit einem starken teleologischen Impetus verständlich. Während die neugermanistische Editorik schriftsprachliche Entitäten präsentieren will, setzt sich die musikwissenschaftliche Editorik in vielen Fällen das Ziel, womöglich Erklungenes zu rekonstruieren und gleichzeitig Spielvorlagen für neues Musizieren herzustellen.50 Im Bereich der Librettoedition begegnen sich die beiden Disziplinen Germanistik und Musikwissenschaft und mit ihnen häufig die genannten Sichtweisen. –––––––— 46 47 48 49 50
Hiebler 2008 (Anm. 38), Absatz 13. Hiebler 2008 (Anm. 38), Absatz 13. Hiebler 2008 (Anm. 38), Absatz 11. Hiebler 2008 (Anm. 38), Absatz 29. Helga Lühning spricht 2002 von dem „(spielende[n]) Musiker“ als (neben dem Wissenschaftler) einem der zwei Adressaten einer musikwissenschaftlichen Edition und von der „Verbindung der beiden Pole Wissenschaft und Praxis [als] eine[r] Conditio der Musikedition“ (Helga Lühning: Vorwort. In: Musikedition: Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis. Hg. von Helga Lühning. Tübingen 2002, S. VIIf., hier S. VIII). Eine kritischere Einstellung gegenüber wenn nicht sogar eine Abwendung von der Ausrichtung auf die gegenwärtige musikalische Praxis war in mehreren musikwissenschaftlichen Vorträgen auf der Aachener Editorentagung 2014 zu hören.
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Die von den zwei Musikwissenschaftlern Irmlind Capelle und Joachim Veit gegründete, seit 2007 erscheinende Reihe Opernlibretti – kritisch ediert stellt die Aufführung in den Mittelpunkt, was die Wahl der Textgrundlage betrifft. Hier hat jedoch bereits zwischen dem ersten und dem zweiten Band eine gewisse Verschiebung stattgefunden. Laut dem Vorwort der Reihenherausgeber zum ersten Band 2007 sollen Libretti „auf der Grundlage ihrer authentischen Quellen“ ediert werden (also noch schriftorientiert); dabei befürworten sie jedoch „eine Wiedergabe der Libretti in der vom Komponisten (und dem Textdichter) für die Premiere oder eine andere wichtige Aufführung vorgesehenen Form“.51 Die Zielsetzung ist problematisch, denn es wird offensichtlich vorausgesetzt, dass jedes Libretto erstens einen Komponisten hat, d. h. vertont worden ist, dass zweitens jedes Libretto aufgeführt worden ist, dass es drittens für jedes Libretto autorisierte Quellen gibt, die im einigermaßen nahen Zusammenhang mit einer Aufführung entstanden ist. Eine große Anzahl von Opernlibretti wird damit implizit ausgeschlossen. Problematischer ist jedoch, dass der Grundsatz „in der für die Premiere […] vorgesehenen Form“ ein Ereignis fokussiert, das an sich nicht zur Überlieferung des schriftlichen Textes gehört: die Aufführung. Außerdem kann der Grundsatz besonders in der Musikwissenschaft so gedeutet werden, dass das Ziel der Edition die Rekonstruktion des auf der Bühne „Erklungenen“ sein soll. Nicht zufällig formuliert die Herausgeberin des ersten Bandes Solveig Schreiter ihre Zielsetzung tatsächlich auch so,52 obwohl die Edition von Friedrich Kinds Freischütz nach dem Handexemplar des Komponisten Weber (Grundschicht in der Handschrift eines Kopisten) dann doch fast ausschließlich schriftorientiert ist. Einige wenige Ausnahmen sind jedoch zu notieren, u. a. die Einfügung der „Romanze und Arie“ „Einst träumte meiner seel’gen Base“, die in der Textgrundlage de facto fehlt, in den Edierten Text,53 und die Aufnahme einer in der Textgrundlage gestrichenen Passage mit Hinweis auf die „Bühnentradierung“54. In solchen Einzelheiten, aber vor allem in der Zielsetzung ist eine Zwiespalt zwischen der germanistischen Präsentation eines authentischen Textes einerseits und der musikwissenschaftlichen Rekonstruktion von Erklungenem andererseits zu erkennen. Für den zweiten, 2013 erschienenen Band, haben die Reihenherausgeber Capelle und Veit ihr Vorwort einer gründlichen Revision unterzogen. Insgesamt zeugt das neue Vorwort von einer Einsicht in die Spezifizität von „Operntextbücher[n]“: diese „erfüllen […] bestimmte Funktionen und unterliegen in diesem Kontext eigenen Gesetzlichkeiten“, heißt es nun. Auch wurde die Reihenfolge Komponist-Librettist im
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Irmlind Capelle und Joachim Veit: Vorwort. In: Friedrich Kind: Der Freischütz: Romantische Oper in drei Aufzügen. Text von –. Musik von Carl Maria von Weber. Kritische Textbuch-Edition in Zusammenarbeit mit der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe herausgegeben von Solveig Schreiter. München 2007 (Opernlibretti – kritisch ediert. Bd. 1), S. 7. Solveig Schreiter: I. Zum vorliegenden Band. In: Kind 2007 (Anm. 51), S. 1519, hier S. 15f. Vgl. den Edierten Text in Kind 2007 (Anm. 51), S. 21–90, hier S. 68f. Solveig Schreiter: VI. Varianten, Lesarten und Anmerkungen. In: Kind 2007 (Anm. 51), S. 213–241, hier S. 239.
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Vorwort geändert;55 an der Stellung der Aufführung als Angelpunkt der Edition haben die Reihenherausgeber jedoch nicht gerüttelt: In der vorliegenden Reihe steht jeweils die Wiedergabe der Texte in der vom Librettisten und Komponisten für die Premiere oder eine andere wichtige Aufführung vorgesehenen Fassung im Mittelpunkt.56
Zu diesem zweiten Band, einer Edition von Wielands Alceste, spricht Bodo Plachta zwar vom Edierten Text als einem „Spieltext[ ]“.57 Wie oben ausgeführt, ist dies eine Bezeichnung, die sich problematisieren lässt. Ein Argument für die (gewiss kontroverse) Wahl der Textgrundlage, das Plachta anführt, ist das Folgende: „Das Libretto steht [...] der Uraufführung nahe, die den eigentlichen Erfolg des Singspiels als Bühnenwerk markierte und die breite öffentliche Rezeption in Gang setzte“.58 Hier wird die Wahl der Textgrundlage eigentlich anhand des oben genannten „Aufführungskriteriums“ begründet. Doch es ist gleichzeitig deutlich, dass Plachta die im Zusammenhang mit der Aufführung gedruckte Librettofassung auch als schriftsprachliche Textgestalt, rezipiert durch ein lesendes Publikum, betont.59 Die Präsentation eines authentischen Textes wird hier zweifellos gewährleistet und es gibt damit keine editorischen Eingriffe, die etwa durch die Bühnentradierung begründet wären. Schreiter und Plachta legen also die von den Reihenherausgebern gewünschte Aufführungsnähe teilweise unterschiedlich aus und der fachliche Hintergrund ist als Erklärung dafür nicht unwichtig. Beide messen jedoch, wie auch trotz deutlicher Fortschritte zwischen den Bänden die Reihenherausgeber, dem „Aufführungskriterium“ immer noch sehr großes Gewicht bei. Insofern trägt die Reihe trotz aller lobenswerter Ansätze und Leistungen zur weiteren Unsicherheit im Bereich der Abgrenzung des Librettos gegenüber dessen angeblichen „Realisierungen“ bei.
Zusammenfassung Das Bedürfnis einer besonderen, germanistischen Librettoeditionstheorie sehe ich in der verwickelten Frage der Abgrenzung des Werkganzen und in den Eigenarten der schriftsprachlichen Überlieferung von Libretti; Fragen, die ich, wie oben erwähnt, beide anderswo behandelt habe. Für diese Librettoeditionstheorie ist die neuere schriftorientierte Libretto-, Drehbuch- und Dramentextforschung deswegen von Bedeutung, weil sie mit Nachdruck unterstreicht, dass der Literaturtext eines Opernoder Ballettlibrettos, ein Drehbuch und ein Dramentext schon eine textuelle Größe an sich bildet, mit eigenen stilistischen, narrativen und fiktionalen Eigenarten, die die –––––––— 55
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Auf dem Umschlag ist in diesem Bereich ein weiterer Unterschied zu erkennen: Beim ersten Band findet sich ein Porträt des Komponisten (Weber), beim zweiten dagegen ein Porträt des Librettisten (Wieland). Irmlind Capelle und Joachim Veit: Vorwort. In: Christoph Martin Wieland: Alceste. Ein Singspiel in fünf Akten. Text von Christoph Martin Wieland. Musik von Anton Schweitzer. Text und Dokumentation. Hg. von Bodo Plachta. München 2013, S. 7f., hier S. 8. Bodo Plachta: Textgrundlage. In: Wieland 2013 (Anm. 56), S. 65f., hier S. 65. Ebd. Vgl. vor allem Bodo Plachta: Einleitung. In: Wieland 2013 (Anm. 56), S. 1115, hier S. 15.
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angeblichen „Realisierungen“ aufgrund der zahlreichen semiotischen Unterschiede gar nicht enthalten können. Ein solcher Text gibt auch nicht ihre „Realisierung“ wieder, wie allzu häufig angenommen, er stellt vielmehr mit rein sprachlichen Mitteln und auf einer von mehreren fiktionalen Ebenen eine potentielle, virtuelle „Realisierung“ dar, sei es einen virtuellen Film oder eine virtuelle Bühnenaufführung. Zuerst Gerhard Tschauder60, und nach ihm auch Roland Harweg61, Holger Korthals62 und Eike Muny63 haben, mit jeweils verschiedenen methodischen Zugriffen, die Frage der Erzählperspektiven in Dramentexten einleuchtend untersucht. Anke Detken hat in ebenfalls sehr überzeugender Weise die narrativen Qualitäten von Regiebemerkungen in der Dramatik des 18. Jahrhunderts freigelegt.64 Albert Gier erinnert durch seine Dreiteilung der Oper als „Spektaculum“ daran, dass Vertonung und Aufführung jeweils Interpretationen des Librettos darstellen.65 Die oben zitierte Drehbuchforschung, insbesondere die in den letzten Jahren aufblühende angelsächsische, betont stark den Status des Drehbuchs als „verbal object“66 im Unterschied zum Film. Diese Untersuchungen setzen einen Blick auf das spezifische kommunikative Potential der betreffenden Texte als schriftsprachliche Entitäten und eine strikte Vermeidung der Verwechslung mit andersartigen Kommunikaten wie tatsächlichen Bühnenaufführungen voraus. Eine teleologische Perspektive mit der Aufführung/dem Film als angeblich endgültigem Ziel wird vermieden. Auch eine Librettoeditionstheorie, die in anderer Weise – aber noch stärker – Druck auf die schriftsprachliche Überlieferung legt, wird dazu beitragen, das Opernlibretto als schriftsprachliche, eigenständige Größe aus dem Status des „Nichtseins“ im Schatten von tatsächlichen Aufführungen zu befreien.
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Gerhard Tschauder: Wer ,erzählt‘ das Drama? Versuch einer Typologie des Nebentexts. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 22 (1991), Nr. 68, S. 5067. Roland Harweg: Situation und Text im Drama: Eine textlinguistisch-fiktionsanalytische Studie am Beispiel von Friedrich Dürrenmatts tragischer Komödie Der Besuch der alten Dame. Heidelberg 2001. Korthals 2003 (Anm. 21). Muny 2008 (Anm. 26). Detken 2009 (Anm. 20). Gier 1998 (Anm. 3), S. 17. Nannicelli 2013 (Anm. 17), S. 14 und passim.
Bodo Plachta
Editionsreihen – Konzepte und Ziele einer Editionsform des 19. Jahrhunderts
1. Die historische Topographie von Textkritik und wissenschaftlicher Editionstätigkeit hat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entscheidende Prägungen erhalten. In diese Zeit fällt nicht nur die wissenschaftliche Ausdifferenzierung editorischer Operationen, sondern auch eine rege Editionstätigkeit. Aber bevor 1867 mit der SchillerAusgabe von Karl Goedeke die Zeit der großen historisch-kritischen Ausgaben anbrach,1 hatte sich ein anderes Phänomen herausgebildet, und zwar das der Editionsreihen. Diese, gern mit dem Attribut „altehrwürdig“2 versehenen Reihen stellten die textlichen Grundlagen für die Germanistik bereit, die sich im 19. Jahrhundert als Disziplin formierte. Doch auch andere Disziplinen – allen voran die Geschichtswissenschaft – widmeten sich dem Typus der Editionsreihe; zu nennen sind natürlich die Monumenta Germaniae Historica (1826ff.),3 aber auch die Denkmäler Deutscher Tonkunst (1892ff.), die Bibliothek der Kirchenväter (1869ff.) oder die Edition der Deutschen Reichstagsakten (1867ff.) können illustrieren, dass wir es nicht allein mit einem literaturwissenschaftlichen, sondern oftmals auch innerhalb der Editionsreihen selbst mit einem interdisziplinären Phänomen zu tun haben. Sämtliche Reihen begründeten auch einen Dokumentations- bzw. Editionsstandard, so dass die dort edierten Texte oder Noten noch heute mal mehr mal weniger gut benutzbar sind. Häufig müssen Forscher auf diese Reihen zurückgreifen, wenn für Autoren und Texte, insbesondere des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, keine modernen Editionen vorliegen. In vielen dieser Fälle ist mit einer Neuedition in Zukunft nicht zu rechnen. Wichtig sind diese Editionen häufig auch deshalb, weil ihre Texte auf Handschriften oder unikalen Drucken basierten, die heute verloren sind. Die Tradition der Editionsreihen hat im 20. und 21. Jahrhundert eine eingeschränkte, aber nicht unbedeutende Fortsetzung gefunden, sicherlich mit anderem editorischen Zugriff und wissenschaftlichen Selbstverständnis, aber nach wie vor mit der Absicht, Forschung und Lehre mit zuver–––––––— 1
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Ein Überblick über diese Editionen bietet der Sammelband: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 2). Vgl. etwa Hans-Gert Roloff: Editorische Desiderata zur Mittleren Deutschen Literatur. In: editio 1, 1987, S. 15–134, hier S. 26. Vgl. z. B. Geschichte der Monumenta Germaniae historica, im Auftrag ihrer Zentraldirektion bearb. von Harry Bresslau. In: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 42, 1921, S. 1– 769; Klaus Herbers: Die „Monumenta Germaniae Historica“ als ältestes deutsches Quelleneditionsunternehmen. In: Erlanger Editionen. Grundlagenforschung durch Quellenedition: Berichte und Studien. Erlangen, Jena 2009 (Erlanger Studien zur Geschichte. 8), S. 13–28.
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lässig edierten Texten zu versorgen. Wissenschaftsgeschichtlich sind Editionsreihen deshalb interessant, weil sie zum einen Einblick in die sich allmählich ausdifferenzierende Editionsmethodik, deren Zielsetzungen und Organisationsstrukturen sowie Informationen über Zielgruppen geben, und zum anderen, weil sie in Zeiten entstanden sind, in der Historismus und Nationalismus einen nachhaltigen Einfluss auf die Wissenschaft und ihre Produkte ausübten.4 Editionsreihen dienten nicht selten der kulturpolitischen Repräsentation und waren dementsprechend als langfristige Projekte geisteswissenschaftlicher Großforschung angelegt.5 Dass Editionsreihen außerdem einen nationalen Textkanon formten, steht vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund außer Frage. Editionsreihen sind daher kulturhistorische Phänomene von großer Bedeutung und in gewisser Weise „geradezu als ein Symptom für den wissenschaftlichen Veränderungsprozess“6 zu bewerten. Daher muss man sich wundern, dass sie allenfalls ansatzweise erforscht sind. Meine Ausführungen verstehen sich daher nur als eine erste Skizze. Sie wollen der „wissenschaftlichen Marke“7 Editionsreihe mit einigen Beobachtungen und naturgemäß aus germanistischer Perspektive ein wenig genauer auf den Grund gehen.
2. Die Aufmerksamkeit der Editoren im frühen 19. Jahrhundert richtete sich zunächst auf die mittelalterliche Literatur. Ausgelöst wurde diese Editionswelle durch den Umstand, dass viele Bibliotheken und Archive, die sich vorher in Kirchen- oder Klosterbesitz befanden, 1803 säkularisiert worden waren. Fachleute wie Dilettanten hatten nun zu diesen Beständen unbeschränkten Zugang und konnten die großen, oftmals unbekannten Handschriftenbestände benutzen und auswerten. Die Handschriften- und Textfunde veröffentlichte man in kurzlebigen Periodika, Sammelwerken oder Textsammlungen, deren phantasievolle Titel – Miscellaneen zur Geschichte der teutschen Literatur, Museum für altdeutsche Literatur und Kunst, Altdeutsche Wälder, LiederSaal, Denkmäler deutscher Sprache und Literatur – eher dem begeisterten Sammeleifer entsprachen, als dass sich dahinter ein stringentes wissenschaftliches Konzept verbarg.8 Viele dieser Publikationen sind daher Dokumente einer antiquarischen Gelehr–––––––—
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Vgl. die von Manuel Braun und Sandra Richter genannten zehn Untersuchungskriterien: „Professionalisierung und Bildungskultur“, „Marktförmige Finanzierung und Mäzenatentum“, „Sachlicher Fokus und kalkulierte Unschärfe“, „Person und editorisches Ethos“, „Werke- und Wertekanon“, „Langfristigkeit und Erfolg“, „Internationalität vs. nationale Orientierung“, „Impact“, „Konkurrenz im Wandel der Förderungsbedingungen“, „Wissenschaftswachstum“ (Manuel Braun, Sandra Richter: „Vergoldung vergeht, Schweinsleder besteht“. Die ‚Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart‘ als Beispiel für Editionsphilologie und Förderpolitik im 19. und 20. Jahrhundert. In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 37/38, 2010, S. 32–54, hier S. 52–54), sowie ergänzend zu diesem Beitrag Dirk Werle: Großforschung vor der Großforschung? Anmerkungen zum Beitrag von Sandra Richter und Manuel Braun. In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 37/38, 2010, S. 55–59. Vgl. Braun/Richter 2010 (Anm. 4), bes. S. 32f. Werkstattgespräch „Berliner Ausgaben“. Hg. von Hans-Gert Roloff. Bern, Frankfurt/M., Las Vegas 1981 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Kongressberichte. 9), S. 5. Braun/Richter 2010 (Anm. 4), S. 32. Vgl. Ulrich Hunger: Die altdeutsche Literatur und das Verlangen nach Wissenschaft: Schöpfungsakt und Fortschrittsglaube in der Frühgermanistik. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19.
Editionsreihen – Konzepte und Ziele einer Editionsform des 19. Jahrhunderts
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samkeit, die sich aus der zeittypischen romantisierenden Mittelalterbegeisterung speiste. In den meisten Fällen entsprachen sie noch nicht editorischen Standards und Verfahrensweisen, wie sie damals bereits auf verschiedenen Ebenen diskutiert wurden.9 Die Ausdifferenzierung editorischer Methoden und das Entstehen einer Systematik der Edition ging mit einem größer werdenden Bedürfnis nach wissenschaftlichen Textausgaben einher. Es wurde immer dringender, für diese Nachfrage geeignete Editionsformen zu finden. Diese Entwicklung verlief parallel zu einer Diskussion über editorische Standards und methodisches Vorgehen. Fragen der Textkonstitution und Kommentierung traten in den Vordergrund und gaben der aufstrebenden Germanistik mehr und mehr ein professionelles philologisches Profil.10 Während die griechischen und römischen Autoren der Antike schon lange in berühmten Gesamtausgaben vorlagen, fehlten vergleichbare Editionen für die deutsche Literatur, die zudem noch praktikabel für Lehre und Forschung sein sollten. Dieses Desiderat nahm der Quedlinburger Verleger Karl Basse 1835 zum Anlass, das Projekt einer Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit auf den Weg zu bringen, ein Projekt, das es bis 1875 immerhin auf 75 (Teil-)Bände gebracht hat.11 Ähnlich enzyklopädisch war auch die Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart angelegt, die seit 1842 erschien. Träger dieser Editionsreihe war ein bibliophiler Verein nach englischem und französischem Vorbild, der ausdrücklich betonte, sein Vereinsziel sei ein wissenschaftliches, „nicht Liebhaberei an Sonderbarkeiten oder Bibliomanie“.12 Diese einflussreiche und ausgesprochen nützliche Editionsreihe unterschied sich von anderen insofern, als sie die Literatur des 14. bis 17. Jahrhunderts bevorzugte. Der König von Württemberg übernahm „mit Vergnügen“ die Schirmherrschaft über dieses „gemeinnützige Unternehmen“,13 von dem er sich großen Gewinn für die Wissenschaft versprach. Natürlich hatte er auch das Image von Württemberg als Wissenschaftsstandort im Auge. Editionen waren damals automatisch Zeugnisse der fürstlichen Repräsentation, aber die Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart fällt gerade durch ihre breite soziale Verankerung auf, die letztlich ihre finanzielle, nicht-kommerziell ausgerichtete Basis bildete.14 Die Reihe wartete mit einer großen Bandbreite an edierten Texten auf, denn nicht nur deutsche, sondern auch lateinische, französische, spanische, portugiesische, italienische, katalanische und niederländische Werke wurden mit einbezogen, wenn auch im Vergleich mit –––––––— 9
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Jahrhundert. Hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart, Weimar 1994, S. 236–263, hier S. 247f. Vgl. Bodo Plachta: Dilettanten und Philologen. Debatten über den Umgang mit Texten in Editionen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Ästhetische Erfahrung und Edition. Hg. von Rainer Falk und Gert Mattenklott. Tübingen 2007 (Beihefte zu editio. 27), S. 59–71. Vgl. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989, S. 224f.; Johannes Janota (Hg.): Eine Wissenschaft etabliert sich. 1810–1870. Tübingen 1980, S. 32. Eine erste bibliographische Übersicht über diese Reihen ist zu finden bei Karl von Bahder: Die deutsche Philologie im Grundriss. Paderborn 1883, S. 31–42. Gründungsaufruf aus dem November 1839, zitiert nach Ursula Burkhardt: Germanistik in Südwestdeutschland. Die Geschichte einer Wissenschaft des 19. Jahrhunderts an den Universitäten Tübingen, Heidelberg und Freiburg. Tübingen 1976, S. 110; vgl. auch Braun/Richter 2010 (Anm. 4), S. 40. Zitiert nach Burkhardt 1976 (Anm. 12), S. 110. Braun/Richter 2010 (Anm. 4), S. 35f., 38.
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den deutschen in geringerem Maße. Es wurden außerdem nicht nur literarische, sondern auch historische Texte aufgenommen. Diese Reihe wollte in erster Linie den Textbestand rasch erweitern, legte allerdings großen Wert auf eine seriöse Textkonstitution, die sich am Überlieferungsbefund orientierte und sich damit gegen Lachmanns Methode der textkritischen Rekonstruktion eines Originaltextes wandte.15 Bis 1913 erschienen in dieser Editionsreihe 260 Bände; sie besteht nach wie vor, konzentriert sich allerdings nur noch auf die Barockzeit.16 Ausdrücklich historisch-kritische Ausgaben zu präsentieren, war das Ziel des Großunternehmens Deutsche NationalLitteratur von Joseph Kürschner. Zwischen 1882 und 1899 erschienen 164 Bände. Kürschners Deutsche National-Litteratur gilt als ehrgeizigstes editorisches Unternehmen der nationalen Kanonisierung deutscher Literatur im 19. Jahrhundert. Allerdings lag dieser Reihe kein einheitliches editionsmethodisches Konzept zugrunde. Was der Reihenherausgeber z. B. unter einer historisch-kritischen Edition verstand, blieb im Dunkeln. Die Editionsprinzipien wechselten daher von Edition zu Edition. Aber es gab auch andere Konzepte: Franz Pfeiffer startete 1864 die Deutschen Classiker des Mittelalters. Mit Wort und Sacherklärungen. Diese Reihe richtete sich nicht mehr nur an ein gelehrtes, sondern auch an das breite Publikum, dem die patriotisch inspirierte Mittelalterbegeisterung durch kommentierte Editionen vermittelt werden sollte. Die Texte erhielten Wort- und Sacherläuterungen, waren preiswert und ein Verkaufserfolg. Dieses Konzept, dem Leser alle denkbaren Hilfen zum besseren Verständnis an die Hand zu geben und Barrieren der Lektüre abzubauen, sollte Schule machen und in den ‚Klassikerausgaben‘ ein bis in die heutige Zeit hineinwirkendes Modell kommentierter Texteditionen finden.
3. Das Jahr 1867 markiert in der deutschen Verlagslandschaft einen entscheidenden Einschnitt und hatte fundamentale Verschiebungen auf dem Buchmarkt zur Folge. In diesem Jahr erlosch das so genannte „Ewige Verlagsrecht“, d. h. Texte wurden 30 Jahre nach dem Tod des Autors für jeden Verlag verfügbar. Das Copyright wurde für alle Autoren frei, die vor dem Stichtag 9. November 1837 verstorben waren. Betroffen waren nicht nur Goethe und Schiller, sondern auch Herder, Klopstock, Wieland, Lessing und viele andere Autoren. Ihre Texte wurden in rechtlicher Hinsicht Gemeingut. Der bis dahin marktführende Cotta-Verlag in Stuttgart, der u. a. die Werke Goethes und Schillers im Programm hatte, verlor seine Monopolstellung und traf auf die Konkurrenz anderer Verlage, die sich ebenfalls der frei gewordenen ‚Klassiker‘ annahmen. Eine Vielzahl neuer Editionsreihen kam auf den Markt, die nach unterschiedlichen editorischen Prinzipien erarbeitet wurden, in Preis und Ausstattung erheblich variierten und unterschiedliche Käuferschichten ansprachen. Es entstand ein regelrechter Klassikermarkt, der eigentlich noch heutzutage besteht. Die neuen Editionsreihen – –––––––—
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Braun/Richter 2010 (Anm. 4), S. 45, bezeichnen das Ergebnis als „vorlagennahe Ausgaben“. Ulrich Seelbach: Edition und Frühe Neuzeit. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H.T.M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S.99–119, hier S. 102f.
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als ‚Klassikerausgaben‘ in die Literaturgeschichte eingegangen – verfolgten auch programmatische Ziele, die bereits an ihren Titeln ablesbar sind: Nationalbibliothek Deutscher Klassiker (Hempel-Verlag, Leipzig), Bibliothek der Deutschen Nationalliteratur (Bibliographisches Institut, München, Wien), Meyers Klassiker-Ausgaben (Meyer, Leipzig) oder Universalbibliothek (Reclam, Leipzig). Diese Editionen wollten die ‚klassische‘ deutsche Nationalliteratur versammeln und verstanden sich als Mittel, die allgemeine Volksbildung zu verbessern. Interessant ist dabei, dass es damals keineswegs eine eindeutige Verwendung des Begriffs ‚Klassiker‘ im Sinne des Normbegriffs gab. Er traf nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, auf Autoren zu, die bestimmte Kriterien erfüllten, um mit diesem Attribut geehrt zu werden. Die Bezeichnung ‚Klassiker‘ wurde sehr großzügig verwendet. Als Klassiker wurden auch Autoren bezeichnet, die heute vergessen sind, aber seinerzeit als ‚Klassiker‘ gehandelt wurden. Ebenso wurden Autoren zu ‚Klassikern‘, die sich ausdrücklich gegen jede Form des Klassischen als Stil- bzw. Epochenbegriff ausgesprochen hatten, etwa Autoren der Romantik oder politische Autoren wie Heine. Häufig wurde die Bezeichnung ‚Klassiker‘ schlicht aus Marketinggründen gewählt, denn eine derart etikettierte Reihe suggerierte den Käufern in jeder Hinsicht Qualität und nationale Vorbildlichkeit. Das Etikett ‚Klassiker‘ garantierte den Verlagen finanziellen Gewinn. Klassikerausgaben galten in der aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaft als soziale Statussymbole und Ausdruck von Bildung.17 Daher ist ihre Ausstattung immer repräsentativ, manchmal sogar luxuriös, so dass sie im heimischen Bücherschrank sofort als solche erkennbar waren. Sie sollten, wie Julian Schmidt 1852 feststellte, „das Verhältnis des Privatmanns zu der Literatur seiner Nation“ verbessern.18 Einige editorische Prinzipien lassen sich in diesen Klassikerreihen erkennen, die sich häufig an der Weiterentwicklung der philologischen Diskussion orientierten: 1. Häufiges Editionsziel war es, vollständige Gesamtausgaben zu publizieren, wobei dieses Prinzip der „Vollständigkeit“ je nach Herausgeber und Reihe modifiziert werden konnte. In vielen Fällen reduzierte sich der Anspruch der Vollständigkeit jedoch auf eine repräsentative Auswahl. 2. Viele Ausgaben erschienen anfangs als reine Textausgaben, also ohne editorische Beigaben wie Hinweise zur Textkritik, Entstehungsgeschichten oder Kommentar. 3. Allmählich kristallisierte sich ein neuer Editionstypus, nämlich die kommentierte Textausgabe, heraus, die ergänzend eine Biographie des edierten Autors enthalten konnte. 4. Orthographie und Interpunktion wurden meistens modernisiert.
4. Auch im 20. und 21. Jahrhundert hatten sich weder die wissenschaftlichen Editionsreihen noch die Klassikerausgaben überlebt, obwohl inzwischen deutlich war, wie eng ihre Konzepte mit zeitgeschichtlichen kulturpolitischen Vorstellungen verknüpft waren und sie einen Kanon repräsentierten, dessen nationalistischer Zuschnitt obsolet geworden war. Die editorischen Konzepte von Editionsreihen änderten sich massiv, –––––––— 17 18
Vgl. Martina Reigl: Klassikerausgaben der Jahrhundertwende. Ein Vergleich anhand der Schillerausgaben des Jahres 1905. Wiesbaden 1990, S. 66–81. In: Die Grenzboten 11, 1853, Bd. 2, S. 102–109.
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die Auswahl der edierten Texte wurde differenzierter19 und ihre Funktion für den Kanon wurde ständig hinterfragt, zuletzt noch einmal ausführlich und kontrovers, als 1985 die Bibliothek deutscher Klassiker zu erscheinen begann. Dennoch standen diese Reihen im Schatten der großen historisch-kritischen Editionen, die bis in die 1990er Jahre das Editionsgeschehen in Deutschland prägten. Doch das ‚goldene Zeitalter‘ großer, hoch subventionierter historisch-kritischer Gesamtausgaben ist inzwischen vorbei. Realistischerweise muss man heute davon ausgehen, dass Gesamtausgaben nur noch im Einzelfall realisiert werden können, und auch dann nur, wenn „das Gesamtcorpus in überschaubare, in sich abschließbare Teilprojekte zerlegt“ wird.20 Heute wird zunehmend die Frage gestellt, ob wirklich alles, was ein Autor hinterlassen hat, mit dem gleichen editorischen Aufwand herausgegeben werden muss. Als Alternativen zu Großprojekten bieten sich daher benutzerorientierte historisch-kritische Editionen einzelner Werke an, wozu auch Editionen von Briefwechseln, Tagebüchern oder anderen Textsorten zu zählen sind. Es gibt eine Vielzahl von Werken oder Werkkomplexen, für die es keine zuverlässigen Textausgaben gibt oder von denen kaum etwas über deren Entstehung bekannt ist. Für solche Werke oder Werkkomplexe bietet sich die Form der Editionsreihe wieder an, wie ich sie mit den Exempla Critica seit 2004 zu realisieren versuche. In diese Reihe werden historisch-kritische Einzelausgaben von Texten seit dem 18. Jahrhundert aufgenommen. Der Reihentitel Exempla Critica ist Programm: Nicht zuallererst die Frage, ob ein Text zum aktuellen Kanon gehört, sondern vor allem das Exemplarische des zu edierenden Texts hinsichtlich seiner Überlieferung und Genese ist Kriterium für die Aufnahme in die Exempla Critica. Die Reihe will mit flexiblen Lösungen arbeiten, die für den jeweiligen – exemplarischen – Fall adäquat sind. Die Reihe schreibt keine Methode vor, will sogar ausdrücklich methodischen „Freiraum“ schaffen und versteht sich damit auch als ein „Diskussionsforum für editorische Fragen“.21 Wichtig ist immer auch, dass die Edition ihre Ergebnisse in einem diskursiven Teil zusammenfasst und dem Benutzer das edierte Material auf diese Weise ergänzend erschließt. Damit kann vielleicht dem Problem Rechnung getragen werden, dass viele Editionen deshalb keine Rolle in der Literaturwissenschaft spielen, weil sie als zu spezialisiert gelten und ihr Potential daher nicht genutzt wird. Als erster Band erschien eine Edition der verschiedenen Fassungen von Erich Maria Remarques Antikriegsroman Im Westen nichts Neues, in der das Wechselverhältnis von Textveränderungen und Werbestrategie des Ullstein-
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Vgl. u. a. Altdeutsche Textbibliothek (1882ff.), Deutsche Texte des Mittelalters (1904ff.), Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters (1960ff.), Neudrucke deutscher Literaturwerke (1961ff.). Hierzu auch Christian Kiening: Die Altdeutsche Textbibliothek. In: Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1. – 3. April 2004. Hg. von Martin J. Schubert. Tübingen 2005 (Beihefte zu editio. 23), S. 67–93. Thomas Wiemer: Der verlorene Glorienschein: Editionsförderung außerhalb der Akademien der Wissenschaften. In: Philologie und Philosophie. Beiträge zur VII. Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen (12.–14. März 1997 München). Hg. von Hans Gerhard Senger. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 11), S. 26–31, hier S. 30. Diese Aspekte hat Dieter Mehl in einer Rezension im Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen (243, 2006, S. 393) ausdrücklich hervorgehoben.
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Konzerns zu studieren ist.22 Gleichzeitig wird die Frage beantwortet, mit welchen Marketingstrategien der Roman zu einem Bestseller gemacht wurde und wie er sich von einem anfänglichen Text mit autobiographischem Hintergrund zu einem Antikriegstext mit starken fiktionalen Anteilen veränderte. 2007 folgte eine Edition des Bundesbuches des Göttinger Hains, in der exemplarisch die spannungsreiche Zusammenarbeit einer Literatengruppe am Ende des 18. Jahrhunderts dokumentiert und erläutert wird.23 In ein Bundesbuch trugen die Mitglieder ihre Gedichte ein, wodurch ein Dokument entstanden ist, das die literarischen Ergebnisse des Bundes zusammenfasst. Ferner ist das Bundesbuch das lyrische Manifest einer Autorengruppe, die sich die Erneuerung der Dichtkunst auf ihre Fahnen geschrieben hatte und sich damit in bewusste Konkurrenz zu einer ihrer Ansicht nach rückständigen älteren Autorengeneration setzte, die noch immer die Prinzipien der Aufklärung vertrat. 2013 erschien Klaus Manns Roman Mephisto erstmals in einer historisch-kritischen Edition, womit nicht nur die spezifische Überlieferung eines Exilromans als Zeitschriften- und Buchfassung dokumentiert, sondern auch alle Entwurfsmaterialien zur Verfügung gestellt wurden, die einen differenzierteren Blick auf einen Roman erlauben, der seit seinem Erscheinen als Schlüsselroman und weniger als politischer Roman gelesen worden war.24 Dieser spezifischen Lektüre, der der Autor nach Kräften durch Veränderungen in der Buchfassung entgegen zu wirken versuchte,25 war maßgeblich dafür verantwortlich, dass der Roman nach einer Reihe von bis heute nachwirkenden Prozessen verboten werden konnte. 2014 legte Thorsten Ries eine Faksimile gestützte Edition mit Gedichten Gottfried Benns aus den Jahren 1935 bis 1953 mit ausführlichen textgenetischen Studien vor.26 Obwohl Editionsreihen ein Produkt des 19. Jahrhunderts sind, haben sie sich nicht überlebt, als Klassikerreihen sind sie nach wie vor fester und erfolgreicher Bestandteil des Buchmarkts und erfüllen ihre nützliche Aufgabe durch die Versorgung der Leser mit zuverlässigen Textausgaben. Reihen waren schon immer Orte, an denen Verwandtes gesammelt und zusammengeführt wurde. Sie zeichneten sich durch inhaltliche oder thematische Flexibilität aus, waren in ihren editionspraktischen Prinzipien dagegen oftmals konsequent, auch wenn wir diese Prinzipien heute anders definieren. Konzeptionelle Flexibilität und methodische sowie praktische Stringenz sind zweifellos Kriterien, die Editionsreihen auch heute erfüllen sollten. Sie sind deshalb z. B. ein geeigneter Editionstyp für Texte oder Textcorpora, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht automatisch für eine wissenschaftliche Edition in Frage kommen. –––––––—
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Thomas F. Schneider: Erich Maria Remarques Roman ‚Im Westen nichts Neues‘. Text, Edition, Entstehung, Distribution und Rezeption (1928–1930). Tübingen 2004 (Exempla Critica. 1). Paul Kahl: Das Bundesbuch des Göttinger Hains. Edition – Historische Untersuchung – Kommentar. Tübingen 2006 (Exempla Critica. 2). Klaus Mann. Mephisto. Roman einer Karriere. Text und Dokumentation. Hg. von Bodo Plachta. Berlin, Boston 2013 (Exempla Critica. 3). Vgl. hierzu Bodo Plachta: Verbesserte Lektüre? Klaus Manns „Mephisto“ in der Zeitschriften- und in der Buchfassung (1936). In: Konjektur und Krux. Zur Methodenpolitik der Philologie. Hg. von Anne Bohnenkamp, Kai Bremer, Uwe Wirth und Irmgard M. Wirtz. Göttingen 2010, S. 321–334. Thorsten Ries: Verwandlung als anthropologisches Motiv in der Lyrik Gottfried Benns. Textgenetische Edition ausgewählter Gedichte aus den Jahren 1935 bis 1953. 2 Bde. Berlin, Boston 2014 (Exempla Critica. 4).
Ute Poetzsch
Zu welchem Nutzen werden Werke Telemanns ediert?
Da es sich bei Georg Philipp Telemann um einen Komponisten des 18. Jahrhunderts handelt – obwohl er noch im 17. geboren wurde und dort erste Prägungen erfahren hat, soll als Einstieg eine Definition von „Nutzen“ aus dem 18. Jahrhundert dienen. Das Große Universal-Lexicon beschreibt 1740 Nutzen als Folgerung aus dem Wesen eines Dinges, die wir vorher nicht bedacht haben, da wir es herfür zu bringen getrachtet. Z.E. der Erfinder der Uhren hat an seiner Absicht die Erkänntniß der Zeit. Unterdessen, da die Uhren gemacht worden, hat man sie auch gebraucht, einen Staat damit zu machen. Und da die Erkänntniß der Zeit in vielen Fällen nöthig befunden worden: so haben die Uhren vielfältigen Nutzen bekommen, daran der Erfinder der Uhren gar nicht gedacht hat.1
Das Digitale Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache erklärt den Nutzen als „Vorteil, Ertrag, den man aus der Anwendung eines Könnens oder dem Gebrauch einer Sache zieht“. Diese Definitionen des ,Nutzens‘ und die im Exposé der Tagung aufgeworfenen Fragen sollen nach einigen allgemeineren Bemerkungen auf die Telemann-Edition angewendet werden. Mit einem nützlichen Gegenstand ist eine Edition insofern vergleichbar, als Ausgaben mit einer bestimmten Absicht und Zielrichtung ins Leben gerufen werden. Editionen zielen auf Benutzer und stehen ihnen zur Verfügung. Dabei ist nicht vorauszusehen, in welcher Absicht und mit welchem Ziel die Edition genutzt oder benutzt wird; vielleicht wird ein Nutzen gesehen, der gar nicht impliziert war. Auch scheint es eher der Normalfall zu sein, dass die Macher einer Edition keine oder nur wenig Kenntnis von der Art der Nutzung und der Verwertung der darin mitgeteilten Informationen erlangen. Andererseits können sich auf der Seite der Editoren Aspekte einer Absicht oder Zielsetzung erübrigen oder durch das Fortschreiten der Arbeit an Relevanz verlieren oder auch neue hinzukommen. Man hat es mit vielen Unbekannten und Unwägbarkeiten zu tun. Somit ist es nur eingeschränkt abzuschätzen und vorauszusehen, wie die Edition oder ein spezieller Band genutzt wird und welchen Nutzen er stiftet, auch wenn man zu lenken bestrebt ist und im Generalvorwort eine Zielrichtung formuliert wird. Insofern dürfte sich die Edition der Kompositionen Telemanns nicht von der von Werken anderer Autoren unterscheiden und die Frage in der Überschrift dieses Beitrags auch andere Namen und –––––––— 1
Art. Nutzen. In: Großes Universal-Lexicon, Bd. 24, Leipzig 1740, Sp. 1725.
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Ute Poetzsch
Autoren betreffen, denen Editionsvorhaben gewidmet sind. Ebenso betrifft es die Edition von Werken anderer Autoren, dass es nützlicher ist und zur Klarheit in der Sache mehr beiträgt, wenn die betreffenden Werken wissenschaftlich fundiert herausgegeben werden, als dass sie – oft mit großem Enthusiasmus, aber begrenzter Professionalität – lediglich zu einem bestimmten Zweck, etwa einer Aufführung oder der Repräsentation einer bestimmten Sammlung oder eines Archivs erschlossen werden, wovon vor allem die ältere Musik betroffen ist und damit gelegentlich auch Telemann. Jedenfalls ist auch bei der TA im Vorhinein nicht abzuschätzen, welchen Nutzen eine spezielle Edition, etwa eines vom Herausgeber oder den Interpreten bevorzugten Werkes oder ein mit hohem Einsatz erarbeiteter Band im Einzelnen hat oder haben wird. Aufführungen oder Folgepublikationen sind zählbar, jedoch ist ein Nutzen daraus nur bedingt ablesbar, da dieser nicht messbar ist. Eine Quote sagt jedenfalls lediglich etwas über die Präsenz eines Werkes im Musikleben aus. Inwieweit die durch Editionen transportierten Informationen und Forschungsergebnisse Eingang in die akademische Lehre finden ist ebenfalls schwierig festzustellen, da dies auch von den Präferenzen und Forschungsinteressen der handelnden Personen abhängig ist. Doch insgesamt ist die heutige Situation nicht mehr so prekär wie sie sich Martin Ruhnke dargestellt hat;2 gerade durch seine Arbeit zuerst als Redakteur und später als Editionsleiter der Telemann-Ausgabe hat sich bei der Wahrnehmung des Komponisten Telemann vieles geändert. Trotz der Unsicherheiten in Bezug auf die Wahrnehmung und Benutzung von Editionen lassen sich einige Punkte benennen, die sich in der Rückschau auf die sich seit ungefähr 1900 entwickelnde Telemann-Edition im Vergleich zur heutigen Editionspraxis abzeichnen. Deren Entwicklung ist durch das laufende Projekt noch im Gang, Wirkung und Effekt werden daher wohl erst von der nächsten Generation festgestellt werden können. Die Telemann-Edition begann um 1900 innerhalb der Denkmäler deutscher Tonkunst. Einem systematischen Ansatz entsprechend sollte in dieser Reihe die Vielfalt des Komponierens und Musizierens vom 16. bis 19. Jahrhundert dargestellt werden. Im Zuge des Abrückens von der Heroenmusikgeschichtsschreibung wurden nun auch bislang nur namentlich bekannte Komponisten in den Blick genommen. Dabei war es vor allem Max Schneider, der im Umgang mit Telemann Maßstäbe setzte, die bis heute gültig sind.3 Angeknüpft wurde bei den frühen Telemann-Editionen des 20. Jahrhunderts an die Methoden der Quellenkritik wie sie für die großen Gesamtausgaben des 19. Jahrhunderts für Bach, Händel und Schütz entwickelt worden waren. Die wichtigste Persönlichkeit neben dem bereits erwähnten Schneider, später Ordinarius für Musikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität in Halle, war Max Seiffert. –––––––— 2
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Martin Ruhnke: In welchem Maße werden zur Zeit in der Musikwissenschaft die Ergebnisse der Quellenforschung benützt und gewürdigt? In: Quellenforschung in der Musikwissenschaft. Vorträge gehalten anläßlich des 2. Symposions der Freien Musikwissenschaftlichen Forschungsinstitute vom 19. bis 20. Oktober 1978 in der Herzog-August-Bibliothek. In Verbindung mit Wolfgang Rehm und Martin Ruhnke hg. von Georg Feder. Wolfenbüttel 1982 (Wolfenbütteler Forschungen 15), S. 123–144. Max Schneider: Einleitung und Revisionsbericht zu: Georg Philipp Telemann. Der Tag des Gerichts. Ino. Leipzig 1908 (Denkmäler deutscher Tonkunst 28).
Zu welchem Nutzen werden Werke Telemanns ediert?
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Seiffert strebte bis in die 1930er Jahre eine Gesamtausgabe an, die von einer zu diesem Zweck gegründeten Telemann-Gesellschaft herausgegeben werden sollte. Die Quellensichtung für die Vokalwerke durch Werner Menke ging auf diesen Impetus zurück. Insofern konnte die Nachwelt bereits einen Nutzen aus einer Vorarbeit ziehen, indem es möglich ist, auf diese Datensammlung zurückzugreifen, auf der die Listen des Telemann-Vokalwerkeverzeichnisses beruhen.4 Diese sind noch in Gebrauch, weil es noch kein nach modernen Gesichtspunkten erstelltes Werke- bzw. Quellenverzeichnis für dieses komplexe Korpus gibt. Für die Instrumentalwerke hat Martin Ruhnke, als er die Verantwortung für die Telemann-Ausgabe übernahm, ein dreibändiges, als Supplement zur Ausgabe erschienenes, Werkeverzeichnis herausgegeben.5 Einer der Aspekte, die in der Telemann-Edition des 20. Jahrhunderts eine Motivation waren, war die Zielrichtung auf eine Bereicherung der sogenannten ,Musikpraxis‘ oder des ,Musiklebens‘, ein pädagogischer Anspruch andererseits. So wollte Max Seiffert mit seiner Erstedition von 1914 der Singe-, Spiel- und GeneralbaßÜbungen (das Vorwort ist mit „3. Oktober 1913“ datiert) den angehenden „Gesangslehrern und -lehrerinnen an höheren Lehranstalten in Preußen“ ein Generalbasslehrbuch in die Hand geben, das von dem „neben Seb. Bach und Händel“ „bedeutendsten deutschen Komponisten“ verfasst wurde. Denn in Preußen wurde seinerzeit laut Seiffert von den Kandidaten auch die Aussetzung eines bezifferten Basses einer Arie von „Händel oder eines anderen Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts“ verlangt.6 Inwieweit die Ausgabe tatsächlich in dem von Seiffert formulierten Sinn Verwendung gefunden hat, ist zwar augenblicklich nicht bekannt, doch auch nicht auszuschließen. Ein anderer Effekt hat sich aber eingestellt, nämlich der, dass diese Ausgabe, ohne das einführende Vorwort, das den aktuellen Forschungsstand des frühen 20. Jahrhunderts festhält, im Bärenreiter-Verlag immer noch nachgedruckt wird. Der pädagogische Zug, Musiker oder Musikliebhaber mit ,älterer Musik‘ vertraut zu machen, wurde außerdem mit der Überformung von Seifferts Edition der Musique de Table als praktischer Ausgabe verwirklicht, die der Musikpraxis um 1930 Rechnung trug und den Werken den Weg in das Musikleben erleichtern sollte. Die auf der Partitur der Denkmäler deutscher Tonkunst beruhenden Einzelausgaben wurden dafür um Vorschläge für Phrasierung und Dynamik ergänzt und eine Stimme mit dem ausgesetzten Generalbass beigegeben. Diese Ausgabe ist zu großen Teilen bei Breitkopf und Härtel immer noch erhältlich; die Kompositionen gehören heute selbstverständlich zum Repertoire der historisch informierten Aufführungspraxis. Die ältere Telemann-Edition hatte demnach einen feststellbaren Nutzen. Sie hat auf Telemann aufmerksam gemacht und die weitere Beschäftigung mit seinem Werk, sei sie verlegerisch, editorisch, interpretatorisch und wissenschaftlich, vorbereitet. –––––––— 4 5 6
Werner Menke: Thematisches Verzeichnis der Vokalwerke von Georg Philipp Telemann. Bd. I: Cantaten zum gottesdienstlichen Gebrauch. Frankfurt/M. 1982, 2/1988; Bd. II, Frankfurt/M. 1988. Georg Philipp Telemann: Thematisch-Systematisches Verzeichnis seiner Werke. TelemannWerkverzeichnis (TWV) Instrumentalwerke. Bd. 1 bis 3. Hg. von Martin Ruhnke. Kassel 1984–1999. G. Ph. Telemann: Singe-, Spiel- und Generalbaß-Übungen (Hamburg 1733/34). Neu herausgegeben von Max Seiffert. Berlin 1914 (Veröffentlichungen der Ortsgruppe Berlin der Internationalen Musikgesellschaft 2), Einleitung, S. [VII]. Die Ausgabe ist übrigens dem Andenken Friedrich Chrysanders gewidmet.
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Dabei bildete im Lauf des 20. Jahrhunderts der Bezug auf eine sogenannte ,musikalische Praxis‘ einen Schwerpunkt, während wissenschaftliche Aspekte zurückgenommen wurden. Noch mit der Gründung der Telemann-Auswahlausgabe, die auf Wissenschaftlichkeit fokussierte und mit Martin Ruhnke die Forderung Max Schneiders nach historischer Gerechtigkeit wieder aufgriff, wurde die Notwendigkeit eines Bezugs auf die ,Praxis‘ oder das Musikleben gesehen. Im ersten Reihenvorwort zur Telemann-Ausgabe, nachdem sie in die Reihe der Akademienprojekte aufgenommen wurde, scheint der Aspekt noch auf, indem davon die Rede ist, dass die Ausgabe eine Auswahl von Werken Telemanns der „Musikforschung und der musikalischen Praxis“ in „wissenschaftlich zuverlässiger Edition“ erschließen möchte.7 Inzwischen hat der Fokus auf die ,musikalische Praxis‘ aus unterschiedlichen Gründen an Bedeutung verloren. Sicherlich ist einer, dass es dem interessierten Musiker möglich ist, sich auch außerhalb von Ausgaben Zugang zu vielen Kompositionen zu verschaffen. Andererseits haben sich durch die bessere Kenntnis des Werkes Telemanns und seiner Überlieferung wie auch der neuen editorischen Erfahrungen modifizierte Fragestellungen ergeben, die nicht vordergründig auf die Bereicherung des Musiklebens zielen. Die Telemann-Edition hat eine Eigendynamik entwickelt, die heute konsequenter der Wissenschaftlichkeit als der künstlerischen Interpretation verpflichtet ist. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es nicht vorrangige Aufgabe einer Edition sein kann, der ,Praxis‘ in allen ihren Spielarten zu dienen, zumal der Editor diese und ihre Prämissen nur unzureichend kennt. Des Weiteren stellt die musikpraktische lediglich eine Möglichkeit der Nutzung einer Edition dar, auch wenn dies für die Vermittlung eine Rolle spielt. Im 2004 neu formulierten Vorwort zur Reihe wird nun vor allem der wissenschaftliche Anspruch der Edition benannt, und im seit 2011 gültigen Vorwort wird der Bogen gespannt von der „wissenschaftlichen Beschäftigung“ mit der Musik Telemanns bis zur „stilgerechten Interpretation“, für die die Edition einen verlässlichen und möglichst authentischen Notentext zu bieten hat.8 Damit ist das Ziel formuliert, breite und unterschiedliche Benutzerkreise anzusprechen. Denn nicht nur Musiker sind Interpreten, sondern auch Wissenschaftler, wobei hier vor allem an Musikhistoriker als Zielgruppe zu denken ist. Angesprochen werden außerdem auch diejenigen, die die Erkenntnisse der Grundlagenforschung anwenden – Dramaturgen, Musikjournalisten, Musiklehrer. Dazu kommen die Liebhaber und Freunde der Musik des Komponisten, die mehr wissen wollen, als ältere Lexika mitteilen. Eine Frage, mit der Musikeditoren insbesondere von großformatiger Vokalmusik des 18. Jahrhunderts oft entweder durch die Überlieferungslage oder die Spezifik einzelner Werke konfrontiert werden, ist tatsächlich die der Kategorie Werk bzw. die nach dem Verhältnis von Werk, Fassung und Aufführung. Wobei ,Fassung‘ im Sinne von Umarbeitung einer vorliegenden Komposition bei Telemann kaum eine Rolle spielt. –––––––— 7 8
Martin Ruhnke: Zur Ausgabe. In: Georg Philipp Telemann. Musikalische Werke. Kassel etc. 1992 bis 2004. [Wolfgang Hirschmann:] Zur Ausgabe. In: Georg Philipp Telemann. Musikalische Werke. Kassel etc. 2011ff.
Zu welchem Nutzen werden Werke Telemanns ediert?
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Es ist also der Werkbegriff zu reflektieren, um zu untermauern, dass derjenige des 19., im 20. Jahrhundert stark rezipierte, für eine frühere Zeit nur eingeschränkt tauglich ist. Insbesondere für die Oper hat sich inzwischen eine Anschauung etabliert, die das Performative wie auch das komplexe Zusammenwirken der unterschiedlichen Ebenen eines solchen Werks, von dem wir nur Fragmente haben – im besten Fall sind Musik und Libretto erhalten, mit denen editorisch umzugehen ist –, berücksichtigt bzw. in die Betrachtung einschließt.9 Dafür einige Beispiele: 1. Bei der Oper Orpheus gehören überlieferte Librettodrucke und die Musikquellen nicht zusammen, was eine methodische Herausforderung für die Gewinnung eines sinnvollen edierten Textes war. Die Lösung lag darin, die unterschiedlichen Quellengruppen quasi synoptisch zusammenzuführen und durch unterschiedliche Auszeichnung zu verdeutlichen, was zu welcher Quellenschicht gehört. Außerdem wurde eine Übersicht beigegeben, die darüber informiert, aus welchen Opern einzelne Bestandteile des Librettos stammen. Damit wurde zusätzlich auf den Pasticciocharakter der Oper hingewiesen.10 2. Anhand der erhaltenen Libretti ließen sich bei Telemanns erster Hamburger Oper Sieg der Schönheit unterschiedliche Bearbeitungsschichten nachweisen:11 Zuerst bearbeitete Telemann ein älteres Vorlagelibretto selbst, bald darauf wurde es erstmals gekürzt und im Verlauf der für die Hamburger Oper ungewöhnlich langen Aufführungsgeschichte durch aktuelle Anforderungen des Theaterbetriebs weiter überarbeitet. Die Übernahme der Oper nach Braunschweig setzte eine weitere Bearbeitungsfolge in Gang. Erhalten blieben auch hier mehrere Librettodrucke, die die Aufführungsgeschichte belegen. An vollständigen musikalischen Quellen ist nur eine Partitur aus Braunschweig überliefert, die offensichtlich neue, nicht von Telemann stammende, Rezitative enthält. In der Edition konnte nur diese einzig erhaltene Fassung wiedergegeben werden, ergänzt durch die Faksimilewiedergabe des Librettos der Hamburger Uraufführung von 1722 und des zur Partitur passenden Braunschweiger Librettos von 1728. Eine zweite Quelle mit Musik umfasst 21 für eine Standardbesetzung arrangierte Arien, die in Stimmen erhalten sind. Dazu gehören zwei Arien, die in Braunschweig offensichtlich ausgetauscht wurden und wohl aus Hamburg stammen. Die 21 Arien sind als „Ariensammlung“ im Band enthalten, in den Anhang wurde ein weiteres Beispiel für die Rezeption aufgenommen, nämlich ein Arrangement einer Arie für Stimme und Basso continuo. –––––––— 9
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Dazu exemplarisch Bernhard Jahn: Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680–1740). Tübingen 2005 (Thatron 45). Georg Philipp Telemann: Die wunderbare Beständigkeit der Liebe oder Orpheus. Musikalisches Drama (Hamburg 1726) TVWV 21:18. Unter Mitarbeit von Ulf Grapenthin hg. von Wolfgang Hirschmann, Kassel etc. 2011 (TA 50). Georg Philipp Telemann: Sieg der Schönheit. Singspiel in drei Akten (Hamburg 1722) TVWV 21:10. Braunschweiger Bearbeitung 1728 – Ariensammlung. Hg. von Wolfgang Hirschmann. Kassel etc. 2008 (TA 42).
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Aus der Braunschweiger Bearbeitung der Oper lässt sich die Gestalt der Uraufführung nur unvollständig erschließen, doch zeigt die Bearbeitung ein Werkverständnis, „das jederzeit für Modifikationen unter veränderten Aufführungsbedingungen offen war.“ Weiter heißt es, dass unter diesem Aspekt „die Braunschweiger Partitur nicht weniger wertvoll oder musikgeschichtlich aussagekräftig als die verloren gegangene Originalgestalt der Oper“ ist. Es konnte festgestellt werden, dass die Aufführungsgeschichte von Sieg der Schönheit für die Bearbeitungspraxis „auf den deutschen Bühnen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts [...] ein sprechendes Zeugnis“ ist.12 3. In den Kontext der Adaption von Opern gehören auch die Hamburger Aufführungen von Londoner Opern Händels. Mehrere davon wurden von Telemann mit neuen Rezitativen und Erweiterungen versehen. Zu diesen Stücken gehört Riccardo primo (HWV 23), in Hamburg unter dem Titel Der mißlungene Brautwechsel oder Richardus I. aufgeführt. Für die Übernahme wurde das Libretto umfassend bearbeitet, dramaturgisch stimmiger gemacht und inhaltlich den Hamburger Erfordernissen angepasst. Außerdem wurde eine komisch-moralische Nebenhandlung eingeführt. Die Hallesche Händel-Ausgabe als Gesamtausgabe, die die großen Vokalwerke möglichst in der Fassung der Erstaufführung ediert, berücksichtigt Übernahmen nicht. In der Telemann-Ausgabe wurde auf Grund des hohen Hamburger Anteils die Adaption von Riccardo primo ediert. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Bearbeitung keinesfalls auf einer Telemann durch Händel persönlich zugänglich gemachten Handschrift beruhte wie in der Händelforschung bislang immer wieder kolportiert, sondern man in Hamburg auf einen der leicht zugänglichen Londoner Ariendrucke zurückgriff. Die Adaption von Händels Riccardo primo ist als ein instruktives Beispiel für die Praxis der Hamburger Oper anzusehen, weshalb die Entscheidung für eine Edition des Werkes innerhalb der Telemann-Ausgabe fiel.13 Und die Telemann-Ausgabe hat mit dieser Edition einen Beitrag zur Händelforschung geleistet. Die Editionen von Telemanns Sieg der Schönheit und Händel/Telemanns Richardus I. können (und sollen) zur Kenntnis genommen werden, wenn das Thema Werk und Fassung im 18. Jahrhundert zu diskutieren ist. Denn beide zeigen, dass in einem gewissen Rahmen mit Werken umgegangen werden konnte und diese trotzdem in ihrer Gestalt wahrnehmbar bleiben. Außerhalb der Oper weist die Edition des Pariser Grand Motet Deus judicium tuum regi da (71. Psalm) auf die Problematik des ,Werks‘ hin.14 An wichtigen Quellen erhalten sind eine Abschrift des (verlorenen) Pariser Autographs, auf der die Uraufführung basierte, und eine Partitur mit eigenschriftlichen Korrekturen Telemanns, auf der die späteren Hamburger Aufführungen beruhten. Diese Quellen sind nicht identisch, und es ist nicht erkennbar, welcher „Authentizitätsstatus“ (Hirschmann) den differierenden Lesarten zuzugestehen ist. Da es sich beim 71. Psalm um ein zentrales Werk handelt, aber auch dadurch, dass ein ausländischer Komponist erfolgreich eine origi–––––––— 12 13
14
Hirschmann 2008 (Anm. 10), S. XVII. Georg Philipp Telemann: Der mißlungene Brautwechsel oder Richardus I., König von England. Singspiel in drei Akten TVWV 22:8 (nach: Georg Friedrich Händel, Riccardo I., Re d’Inghilterra HWV 23). Hg. von Steffen Voss. Kassel etc. 2008 (TA 46). Georg Philipp Telemann: 71. Psalm “Deus, judicium tuum regi da”. Grand Motet (Paris 1738) TVWV 7:7. Hg. von Wolfgang Hirschmann. Kassel etc. 2007 (TA 45).
Zu welchem Nutzen werden Werke Telemanns ediert?
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när französische Gattung bedient hat und damit ein in der Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts einzigartiges Werk hervorbrachte, wurden sowohl die Pariser wie auch die Hamburger ,Fassung‘ ediert. Dazu kommt eine Rezeptionsfassung des späteren 18. Jahrhunderts als Beispiel dafür, wie breit die Auseinandersetzung Telemanns mit französischer Musik zur Kenntnis genommen wurde und was im Zusammenhang mit den ästhetischen Diskursen der Zeit zu sehen sein dürfte.15 Die Fortsetzung des 2010 abgeschlossenen Akademienprojekts als Gemeinschaftsprojekt des Landes Sachsen-Anhalt und der Landeshauptstadt Magdeburg widmet sich nun vorrangig der Kirchenmusik Telemanns. Erschienen sind bisher zwei Bände. Dabei ist einer mit einem noch in Vorbereitung befindlichen inhaltlich verknüpft. Erschienen sind mit den Geistlichen Arien von 1727 die Auszüge von jeweils zwei Arien, die Telemann aus vollständigen, im Kirchenjahr 1726/27 aufgeführten, Kirchenmusiken entnommen hat.16 Der betreffende Jahrgang wird in einem Segment von zwölf Stücken repräsentiert. Liegt dieser Band mit den vollständigen Kirchenmusiken vor, ist es möglich, Telemanns Arbeitsweise bei der Übernahme der Arien in die Druckausgabe besser zu analysieren, als es bislang geschehen konnte, denn Telemann hat dafür teilweise noch einmal in seine Texte eingegriffen. In einem demnächst erscheinenden zusätzlichen Band wird eine Werkgruppe, die der Hochzeitsmusiken, repräsentiert, die bislang noch keine editorische Würdigung erfahren hat. Es handelt sich dabei um die deutsch-französisch-sprachige Pastorelle en Musique. Damit wird, abgesehen von der Bereitstellung einer bisher nur ungenügend bekannten Komposition und der Entwicklung einer Methode, ein nur in einer einzigen Partitur vollständig überlieferten Werk mit starken aus der französischen Musik entlehnten Zügen, das auf einem pasticcioartigen Libretto, dessen Originaldruck erhalten ist, beruht, ein Schlaglicht auf eine Kultur gerichtet, wie sie in Frankfurt von den großbürgerlich-aristokratischen Kreisen gepflegt wurde. Neben der latent aktuellen Diskussion des Werkbegriffs wird es auch immer wieder nötig sein, über terminologische Fragen zu reflektieren. Dies war zuletzt der Fall bei der Edition der fünf großen vokal-instrumentalen Choralbearbeitungen Telemanns.17 Diese Kompositionen wurden bisher unzutreffend und unzulänglich als „Choralkantaten“ bezeichnet. Doch von Telemann selbst wie den Kopisten wurden die Stücke als „Lied“, manchmal als „Ode“ bezeichnet. Mit der Edition wird dafür plädiert, die von den Komponisten und Zeitgenossen verwendeten Begriffe bei der Begriffs- und Modellbildung stärker zu berücksichtigen. Insofern ist diese Diskussion deutlich an Musikhistoriker adressiert. Außerdem wurde für die betreffende Werkgruppe die Datierungsfrage neu gestellt, der bisher angenommene Entstehungszusammenhang hinter–––––––—
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Darstellung der Überlieferungssituation mit anschließender Diskussion des Werkbegriffs und Begründung der editorischen Entscheidung für die vorliegende Quellenedition, ebd., S. XVIII–XXIV. Georg Philipp Telemann: Geistliche Arien (Druckjahrgang 1727). Hg. von Wolfgang Hirschmann unter Mitarbeit von Jana Kühnrich. Kassel etc. 2012 (TA 57). Georg Philipp Telemann: Choralbearbeitungen. Christus, der ist mein Leben TVWV 1:138; Du, o schönes Weltgebäude TVWV 1:394; Ich bin ja, Herr, in deiner Macht TVWV 1:822; Jesu, meine Freude TVWV 1:970; Jesus, meine Zuversicht TVWV 1:984. Hg. von Ute Poetzsch. Kassel etc. 2013 (TA 60).
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fragt und es wurden bisher unbeachtet gebliebene Rezeptionszusammenhänge aufgezeigt. Zusammenfassend ist zu resümieren, dass es noch am leichtesten festzustellen ist, welchen Nutzen die Edition der Werke Telemanns nach wie vor für die Repertoireerweiterung und das Musikleben hat, auch wenn es nicht mehr als ein Hauptziel formuliert wird. Vor allem erfreuen sich zunehmend die Opern an Beliebtheit und finden mit Aufführungsmaterialen, die auf Ausgabenbänden beruhen, ihren Weg auf die Bühne. Weniger leicht nachzuvollziehen ist, inwieweit die Editionsergebnisse Eingang in die akademische Lehre (außerhalb des Einflussbereichs des Editionsleiters) finden und dort Themenstellungen bestimmen. Doch durch die Stabilität der Ausgabe seit 1992 scheint sie auch hier kontinuierlich zumindest zur Kenntnis genommen zu werden. Augenblicklich kann der Nutzen der Edition von Kompositionen Telemanns, nachdem Beiträge zur Diskussion des Werkbegriffs geleistet wurden und alle erhaltenen Opern ediert vorliegen, vor allem in der Erweiterung der Kenntnis des kirchenmusikalischen Werks Telemanns gesehen werden. Damit werden Telemanns Äußerungen in Bezug auf Kirchenmusik als seines wichtigsten Arbeitsfeldes am Werk überprüfbar. Außerdem werden neue Aspekte zur Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts allgemein aufgezeigt. Dadurch besteht die Möglichkeit, das Musikgeschichtsbild der Kirchenmusik im 18. Jahrhundert, das dringend einer Revision bedarf, zu modifizieren und zu differenzieren. Wie überhaupt die Kenntnis über die Vielfalt und Komplexität des Telemannschen Werkes und seine Verflechtungen mit den geistigen Strömungen seiner Zeit, die weit über das bekannte Interesse des alten Telemann an ,junger‘ Literatur hinausgeht (z. B. bei den Oratorien des Spätwerks), dazu beitragen kann, ein neues Licht auf die Musikkultur des 18. Jahrhunderts zu werfen. Mit ihrem Anspruch, den Komponisten Telemann als gestaltende Persönlichkeit seiner Zeit wahrzunehmen und darzustellen, bietet die Telemann-Ausgabe zahlreiche Andockmöglichkeiten für andere Forschungsbereiche und wird anschlussfähig für literaturgeschichtliche, kirchengeschichtliche, theater-, medien- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen. Dass ein solches Großprojekt wie die Edition der Werke Telemanns, auch wenn es keine Gesamtausgabe ist, sich aus sich selbst heraus weiterentwickelt und damit einen internen Nutzen hat, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Dieser Nutzen ist zwar nicht zu beziffern, jedoch immens und zeigt sich immer wieder bei der Erarbeitung neuer Bände. Nachzutragen bleibt, dass neue Medien und digitale Editionsformate in der Telemann-Edition keine Rolle spielen und auch in absehbarer Zeit nicht an Bedeutung gewinnen werden. Sicherlich können dafür unterschiedliche Gründe genannt werden, wobei einer in der Natur der Erstausgabe, die nicht oder nur selten auf editorische Vorarbeiten zurückgreifen kann, gesucht werden kann. Es scheint zur Zeit vorrangig, mit bewährten Mitteln und weiter zu differenzierender Methodik eine Wissensbasis
Zu welchem Nutzen werden Werke Telemanns ediert?
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zu schaffen, auf deren Grundlage diverse weiterführende Fragestellungen entwickelt werden können. Ganz allgemein liegt der Nutzen der Edition von Werken Telemanns in der Bereitstellung von Material für unterschiedliche Benutzergruppen. Die Editionen ermöglichen eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Werk und eine Weiterentwicklung der Sicht auf den Komponisten. Darüber hinaus kann die Telemann-Edition allen nützlich sein, die sich für Telemann und das 18. Jahrhundert interessieren.
Gabriele Radecke, Heike Neuroth, Martin de la Iglesia, Mathias Göbel
Vom Nutzen digitaler Editionen Die Genetisch-kritische Hybrid-Edition von Theodor Fontanes Notizbüchern erstellt mit der Virtuellen Forschungsumgebung TextGrid
I Philologisches Konzept Notizbücher sind eine große editorische und technologische Herausforderung. Aufgrund ihrer materialen und medialen Eigenschaften sowie ihrer unterschiedlichen Aufzeichnungen verlangen Notizbücher komplexe Methoden der Textkritik und Kommentierung sowie ihrer editorischen Präsentation. Innerhalb der Editionstheorie werden Notizbücher nach wie vor nur am Rande und lediglich im Zusammenhang von Briefen und Tagebüchern als „sogenannte Lebenszeugnisse“1 in Abgrenzung von literarischen Werken behandelt, wie es Klaus Hurlebusch in seinem Aufsatz „Divergenzen des Schreibens vom Lesen“ formuliert hat. Innerhalb der Editionspraxis haben Notizbücher jedoch inzwischen eine Aufwertung erfahren. Nicht erst mit dem Aufkommen digitaler Methoden wurden in den vergangenen Jahrzehnten allmählich Editionskonzepte vorgelegt, die das Notizbuch als Objekt sui generis berücksichtigen.2 Bestimmten zunächst allein inhaltliche Schwerpunkte die Publikation ausgewählter Notizbuchaufzeichnungen, wie auch innerhalb der Fontane-Editorik, so rückten zunehmend ihre charakteristischen materialen und medialen Kennzeichen in den Vordergrund, weil diese Rückschlüsse auf die Funktionen und Inhalte von Notizbuchtexten ermöglichen. Hinzu kommt, dass Notizbücher editorisch allmählich nicht mehr nur als schlichte Lebensdokumente klassifiziert, sondern vielmehr als „selbständige Werke“3 oder zumindest als Teil eines Werks innerhalb von Gesamtausgaben veröffentlicht werden.4 Mit den vielfältigen digitalen Möglichkeiten ist inzwischen allerdings sehr deutlich geworden, dass insbesondere die konzeptionellen material- und medienbasierten Überlegungen zur Notizbuch-Edition nur sehr begrenzt und mit einem erheblichen Informationsverlust im Medium Buch umgesetzt werden können.5 –––––––— 1 2
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Klaus Hurlebusch: Divergenzen des Schreibens vom Lesen. Besonderheiten der Tagebuch- und Briefedition. In: editio 9, 1995, S. 18–36, hier S. 22. Vgl. Zinovij S. Papernyi: Das Notizbuch als Gegenstand der Textologie. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer. Berlin 1991, S. 169–181, hier S. 165. Joseph Jurt: Der neue Blick auf die Entstehungsbedingungen der Literatur. Textgenese/sozialgeschichtliche Genese. In: Die Herkulesarbeiten der Philologie. Hg. von Sophie Bertho und Bodo Plachta. Berlin 2008, S. 45–61, hier S. 50. Vgl. z. B. Gottfried Keller: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. unter der Leitung von Walter Morgenthaler. Bd. 16.2 Notizbücher. Hg. von Walter Morgenthaler u. a. Basel 2001 (HKKA. 16.2). Vgl. Gabriele Radecke: Notizbuch-Editionen. Zum philologischen Konzept der Genetisch-kritischen und kommentierten Hybrid-Edition von Theodor Fontanes Notizbüchern. In: editio 27, 2013, S. 149– 172, hier S. 149.
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Gabriele Radecke, Heike Neuroth, Martin de la Iglesia, Mathias Göbel
Vor diesem Hintergrund entstand das Konzept der Gesamtedition von Theodor Fontanes Notizbüchern als Hybrid-Ausgabe, zu dem erste Überlegungen u. a. 2008 im Rahmen der 13. Tagung der „Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition“ in Berlin vorgestellt wurden.6 Inzwischen wird das Projekt seit 2011 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Es entsteht an der Theodor Fontane-Arbeitsstelle der Universität Göttingen in enger Zusammenarbeit mit der Niedersächsischen Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen, Abteilung Forschung & Entwicklung und der Gruppe Metadaten und Datenkonversion. Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe setzt sich aus vier Literatur- und Editionswissenschaftlerinnen sowie aus einem Metadatenspezialisten und einem IT-Spezialisten zusammen.7 Die editionsphilologische Arbeit wird dabei maßgeblich durch digitale Methoden und den Einsatz der Virtuellen Forschungsumgebung TextGrid unterstützt.8 Diese personelle Voraussetzung und institutionelle Kooperation zwischen einer literatur- und editionswissenschaftlichen Forschungsstelle und einer Forschungsbibliothek sind notwendig, damit das zugrundeliegende philologische Konzept der Materialität und Medialität in einer digitalen Edition nach wissenschaftlichen Standards9 realisiert werden kann. Die erste Projektphase (Juli 2011–Juni 2014) hat die Erarbeitung der Editionsprinzipien, die Konzeption des Metadatenschemas, die Vorbereitung und Durchführung der Transkription, der Textauszeichnung, Codierung und Visualisierung sowie die Konzeption und Entwicklung des Fontane-Notizbuch-Portals zum Gegenstand. In der zweiten Projektphase (Juli 2014 bis Juni 2017) wird der philologische und digitale Kommentar erarbeitet, der aus autopsierten Überblicks- und Einzelstellenkommentaren sowie aus der annotierten Register- und Entitätencodierung besteht. Die Edition umfasst zwei komplementäre Teile, die unterschiedliche Lese- und Nutzungsanforderungen berücksichtigen werden: die digitale Edition mit den Notizbuchdigitalisaten in doppelter und einfacher Seitenansicht, die Transkriptionsansicht, den Edierten Text und die Überblicks- und Stellenkommentare10 sowie die Buchausgabe mit Ediertem Text und Kommentar (vgl. Abb. 1).
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Vgl. Gabriele Radecke: Theodor Fontanes Notizbücher. Überlegungen zu einer überlieferungsadäquaten Edition. In: Materialität in der Editionswissenschaft. Hg. von Martin Schubert. Berlin, New York 2010 (Beihefte zu editio. 32), S. 95–106. Die Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, ist als Eigentümerin der Notizbücher assoziierte Partnerin. Vgl. www.fontane-notizbuecher.de. TextGrid Konsortium: TextGrid. A Virtual Research Environment for the Humanities. Göttingen: TextGrid Konsortium 2006–2014. http://textgrid.de. Vgl. Roland S. Kamzelak: Empfehlungen zum Umgang mit Editionen im digitalen Zeitalter. In: editio 26, 2012, S. 202–209. Zu den Prinzipien des material- und medienbasierten Kommentars vgl. Radecke 2013 (Anm. 5), S. 169f.
Vom Nutzen digitaler Editionen
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Abb. 1: Notizbuch C07, Blatt 1r: Digitalisat, Transkription (oben) und Edierter Text (unten)
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Gabriele Radecke, Heike Neuroth, Martin de la Iglesia, Mathias Göbel
Die hybride Fontane-Notizbuch-Edition ist der neugermanistischen editionsphilologischen Tradition verpflichtet, die Editionen als Textausgaben definiert, die nach wissenschaftlichen Methoden erarbeitet wurden,11 wobei die Texte diplomatisch12 – zeichen-, zeilen-, seiten- und positionsgetreu – transkribiert und genetisch dokumentiert, aufgrund textkritischer Methoden zeichengetreu konstituiert und durch einen historischen und quellenfundierten Kommentar erläutert werden.13 Mit dem Aufkommen der vielfältigen digitalen Repräsentationsformen von Handschriften und Drucken – die Bereitstellung von Digitalisaten, digitalen Regesten und Nachlassdatenbanken sowie die Transkriptionen und textkritisch konstituierten und kommentierten Texte – hat der Editionsbegriff inzwischen eine Ausweitung erfahren und wird nunmehr auf alle digitalen Repräsentationen angewendet. Diese Beliebigkeit ist allerdings insofern problematisch, weil somit die entscheidenden Akteurinnen und Akteure innerhalb einer Edition, die Editorinnen und Editoren und ihre angewandten textkritischen Methoden, keine Rolle mehr spielen.14 Eine Fontane-Notizbuch-Gesamtedition ist ein bisher viel beklagtes Desiderat. Auch innerhalb der vier großen Fontane-Studienausgaben wurde auf eine Rubrik Notizbücher verzichtet, und es wurden lediglich ausgewählte Notizbuchaufzeichnungen aus ihrem Überlieferungs- und Entstehungskontext herausgelöst und auf verschiedene Abteilungen der Ausgaben zerstreut veröffentlicht. Diese Entscheidung ist einerseits nachzuvollziehen, weil somit eine Möglichkeit gegeben wurde, den Leserinnen und Lesern einen schnellen und übersichtlichen Zugang zu ausgewählten Notizbuchinhalten zu gewähren. Andererseits aber hat diese, einer Entkontextualisierung von Notizbuchaufzeichnungen gleichkommenden Vorgehensweise entscheidend dazu beigetragen, dass Fontanes Notizbücher in ihrer Gesamtheit keinen Eingang in das kulturelle –––––––—
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Der editionswissenschaftliche Textbegriff wird sehr weit definiert und umfasst neben den literarisch-ästhetischen und publizierten Texten auch nicht abgeschlossene Entwürfe, Konzepte und Niederschriften sowie Rechtstexte, Gebrauchstexte, musikalische Texte sowie zeichnerische Skizzen und Kunstwerke. Da mittlerweile unter ‚diplomatisch‘ sehr unterschiedliche Transkriptionsmethoden zu beobachten sind, scheint es hier, ebenso wie beim Editionsbegriff, notwendig, sich die wesentlichen Kennzeichen für die editorische Begriffsbildung in Erinnerung zu rufen. Im Unterschied zu ‚zeichengetreu‘ meint ‚diplomatisch‘ „die genaue urkundliche Wiedergabe einer Handschrift“, bei der „sämtliche Eigenheiten“ übernommen werden, u. a. die zeichen-, zeilen-, seiten- und positionsgetreue Wiedergabe des handschriftlichen Befundes, wie beispielsweise in den Historisch-kritischen Ausgaben von Hölderlins, Kafkas, Kellers und Trakls Werken im Stroemfeld-Verlag (vgl. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Dritte Auflage. Stuttgart 2013, S. 136). Ein Beispiel für diese problematische Begriffsaufweichung bietet die äußerst fehlerhafte und dem editionswissenschaftlichen Standard nicht genügende Edition der Korrespondenz zwischen Theodor Fontane und Philipp zu Eulenburg. Die Herausgeberinnen schreiben in ihrer editorischen Notiz, die Briefe „als diplomatische Lesetexte“ zu präsentieren, obwohl diese tatsächlich lediglich zeichengetreu abgedruckt werden. Vgl. Theodor Fontane und Philipp zu Eulenburg. Ein Briefwechsel. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen und Friederike Zelke. In: Fontane Blätter 92, 2011, S. 8–106, hier S. 18. Bodo Plachta: Edition. In: Lexikon Literaturwissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Hg. von Gerhard Lauer und Christine Ruhrberg. Stuttgart 2011, S. 66–70. Vgl. etwa Jutta Weber, die in ihrem Beitrag die „Erstellung und Langzeitarchivierung der Metadaten zum Gesamtnachlass sowie für [... die] Digitalisate“ als „erste Edition“ definiert, die von anderen Editionen, etwa von Historisch-kritischen Ausgaben, nachgenutzt werden. Jutta Weber: Briefnachlässe auf dem Wege zur elektronischen Publikation. Stationen neuer Beziehungen. In: Brief-Edition im digitalen Zeitalter. Hg. von Anne Bohnenkamp und Elke Richter. Berlin 2013 (Beihefte zu editio. 34), S. 25–35, hier S. 33f.
Vom Nutzen digitaler Editionen
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Gedächtnis gefunden haben. So wurden die Notizbücher nicht als Notizbücher, sondern lediglich als sogenannte Reisetagebücher rezipiert, obwohl sie bei weitem nicht nur Tagebuchaufzeichnungen, sondern darüber hinausgehende Aufzeichnungen enthalten.15 Im Unterschied zu allen bisherigen editorischen Bemühungen stellt das Konzept der Genetisch-kritischen und kommentierten Hybrid-Edition nunmehr die komplexe Überlieferung mit ihren materialen Kennzeichen und ihren medialen Rahmenbedingungen in den Mittelpunkt. So werden nicht mehr allein wie bisher nur einzelne Notizbuchnotate ediert, sondern die Gesamtheit der Notate im Zusammenhang mit ihrem jeweiligen Bezugsnotizbuch. Dieses Prinzip der Materialität und Medialität bildet somit die entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Notizbücher auch in einer Edition noch in ihrer sinnstiftenden Einheit von Text und Textmedium rezipiert werden können.16 Um dieses Projektziel nun zu erreichen, ist es erforderlich, die philologischen Methoden um digitale Methoden und Techniken zu erweitern.
II Materialautopsie Wie komplex sich die interdisziplinäre Arbeitsweise gestaltet, zeigt die WorkflowGrafik, die in Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen vom TextGridTeam für das Fontane-Notizbuch-Projekt erstellt worden ist (vgl. Abb. 2). Die Arbeitsabläufe lassen sich in drei große Abschnitte gruppieren: die Arbeit am und mit dem Material, die Arbeit in der Virtuellen Forschungsumgebung TextGrid und schließlich die Vorbereitung zur Publikation und nachhaltigen Nutzung der Edition im Portal, im Repository und als Buch.
Abb. 2: Workflow-Grafik zum Fontane-Notizbuch-Projekt
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Vgl. Radecke 2013 (Anm. 5), S. 164–166. Vgl. ebd., S. 149.
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Gabriele Radecke, Heike Neuroth, Martin de la Iglesia, Mathias Göbel
Überliefert sind 67 Notizbücher, die Fontane zwischen 1859/60 und Ende der 1880er Jahre geführt hat, und die heute in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt werden. Die Notizbücher sind etwa 10×17 cm groß und umfassen bis zu 180 beschriftete und unbeschriftete Blätter sowie Blattfragmente, Beilagen und auf- und angeklebte Blätter und Zeitungsausschnitte, also insgesamt etwa 10000 Seiten. Fontanes Notizbücher enthalten, wie die Notizbücher vieler anderer Autoren, eine Fülle fiktionaler und faktualer Einträge, die weder chronologisch noch thematisch angeordnet sind. Die Notizbücher dokumentieren die Produktivität und Vielfalt der schriftstellerischen Tätigkeit auf kleinem Schreibraum. Die Aura des ganzen Fontane ist in allen Notizbüchern gewissermaßen präsent: Fontane als Reisender, als Journalist, als Kriegsberichterstatter, als Theater- und Kunstkritiker, als Romancier und Lyriker, als Briefschreiber und Tagebuchchronist. Zu all seinen Werkkomplexen gibt es Notate, die gelegentlich durch Alltagsnotizen wie To-do-Listen, Zugabfahrtspläne, Vokabellisten und Kochrezepte sowie Vortragsmitschriften und Skizzen unterbrochen werden. Im Unterschied zu den anderen Fontane-Werkhandschriften, die als lose Blätter in Konvoluten aufbewahrt werden, dokumentieren die Notizbücher durch ihre Geschlossenheit die parallele Entstehung unterschiedlicher Texte und Werkideen. Auf der Grundlage einer philologischen Materialautopsie (vgl. Abb. 2, Abschnitt 1), die etwa ein Jahr gedauert hat, wurden die Editionsprinzipien und die Transkriptionsregeln sowie das Metadaten- und Visualisierungsschema erstellt. Für die Editionsund Codierungsprinzipien waren nicht nur inhaltliche Aspekte ausschlaggebend, sondern vor allem die Kennzeichen der Materialität und Medialität von Notizbüchern: etwa alle Blattfragmente von herausgerissenen und herausgeschnittenen Blättern (vgl. Abb. 3) sowie die Wiedergabe aller Schreiberhände, Schreibmedien und des unterschiedlichen Duktus (vgl. Abb. 4). Die einzelnen Editionsprinzipien und -richtlinien umfassen bisher nahezu 350 Seiten, die zusammen mit der digitalen Edition veröffentlicht werden sollen.17
–––––––— 17
Weitere Beispiele vgl. Radecke 2013 (Anm. 5), S. 157–161, und Gabriele Radecke, Mathias Göbel und Sibylle Söring: Theodor Fontanes Notizbücher. Genetisch-kritische und kommentierte Hybrid-Edition, erstellt mit der Virtuellen Forschungsumgebung TextGrid. In: Evolution der Informationsinfrastruktur. Kooperation zwischen Bibliothek und Wissenschaft. Hg. von Heike Neuroth, Norbert Lossau und Andrea Rapp. Glückstadt 2013, S. 85–105, hier S. 88–94.
Vom Nutzen digitaler Editionen
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Abb. 3: Blattfragmente
Abb. 4: Duktus
III Metadaten und TEI Editionen werden schon seit Längerem auf elektronische Weise erstellt, nämlich üblicherweise durch den Einsatz von Textverarbeitungssoftware, in der die Transkription niedergeschrieben und die Vorlage für die typografische Gestaltung geschaffen wird.18 „Digitale Edition“ im engeren Sinne bedeutet jedoch etwas anderes, und zwar die Herstellung, Veröffentlichung und Rezeption der Edition in digitaler Form.19 Im –––––––— 18
19
Vgl. Fotis Jannidis: Digitale Editionen. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 55, 2008, Heft 3, S. 317–332, hier S. 317. Zur Unterscheidung zwischen der allgemeinen digitalen Arbeitsweise, der Arbeitsweise bei born digital Editionen und digitalisierten Editionen werden hier die Begriffe elektronisch, digital und retrodigital verwendet. Nicht gemeint sind hier (retro-)digitalisierte Editionen, also elektronische Publikationen von ursprünglich gedruckten Editionen. Zu diesem Unterschied vgl. Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Teil 2: Befunde, Theorie
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Gabriele Radecke, Heike Neuroth, Martin de la Iglesia, Mathias Göbel
Hinblick auf ein digitales Produkt ist eine spezielle digitale Arbeitsweise von Projektbeginn an erforderlich. Für digitale Editionen hat sich die Auszeichnungssprache eXtensible Markup Language (XML) gemäß dem Regelwerk der Text Encoding Initiative (TEI)20 als Arbeitsund Speicherformat etabliert. Damit geht auch die Verwendung spezieller Software zur Erstellung und Bearbeitung der TEI/XML-Daten einher. Im Fontane-NotizbuchProjekt ist dies die Virtuelle Forschungsumgebung TextGrid (Virtual Research Environment, VRE) in Verbindung mit dem XML-Editor oXygen.21 Das TEI/XMLFormat weist einige Vorteile auf. Vor allem wäre die Langzeitarchivierbarkeit zu nennen, aber auch die Vielseitigkeit, oder präziser: die Leichtigkeit, mit der XMLDaten in andere Formate transformiert werden können, um sich beispielsweise verschiedenen Nutzungsanforderungen und Ausgabegeräten wie Computerbildschirm, Computerdrucker, Tablet, Smartphone oder E-Book-Reader anzupassen. Diese Anpassbarkeit ist außerdem vorteilhaft, um verschiedene Ansichten derselben Notizbuchseite, etwa in einem Webbrowser, anbieten zu können. Im Falle der Fontane-Notizbuch-Edition wird dies zum einen die als Lesehilfe dienende diplomatische Transkriptionsansicht sein, die die Notizbuchaufzeichnungen als Dokument in ihrer Materialität und Medialität erfasst und daher das Erscheinungsbild der Originalseite in einer Mischung aus exakter und relativer Genauigkeit nachahmt. Zum anderen wird der Edierte Text die Notizbuchaufzeichnungen in ihrer letzten gültigen, das heißt vom Autor nicht gestrichenen oder überschriebenen Textgestalt wiedergeben, wobei der textkritische Apparat über die innerhandschriftlichen Varianten informiert. Zusätzlich werden die Scans aller Original-Notizbuchblätter in ein- und doppelseitiger Ansicht sowie, zu Zwecken der maschinellen Analyse und Weiterverarbeitung, der TEI/XML-Code an sich zur Verfügung gestellt werden. Voraussetzung dafür ist, dass diese verschiedenen Aspekte der Präsentation bereits bei der Erstellung des TEICodes berücksichtigt werden. Für die Fontane-Notizbuch-Edition wurde entschieden, alle diese verschiedenen Aspekte in einem TEI-Dokument pro Notizbuch zu codieren, anstatt für jeden Präsentationsaspekt ein eigenes TEI-Dokument anzulegen. Um dies zu illustrieren, folgen nun einige Beispiele. Auf einer Notizbuchseite (vgl. Abb. 1, Nr. 2) ist der Ortsname „Eisleben“ unterstrichen. Allerdings erstreckt sich die Unterstreichungslinie nicht über die gesamte Länge des Worts, sondern sie befindet sich nur unter der Zeichenfolge „leb“ in der Mitte. Durch die Verwendung zweier unterschiedlicher TEI-Elemente wird nun einerseits gekennzeichnet, dass die Zeichenfolge „leb“ unterstrichen ist, und andererseits, dass dadurch das Wort „Eisleben“ als Ganzes hervorgehoben wird: Eisleben Auszug einer Zeile im TEI/XML-Dokument
–––––––— 20 21
und Methodik. Köln 2013 (Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik. Bd. 8), http://nbnresolving.de/urn:nbn:de:hbz:38-50127, S. 152. TEI P5. Guidelines for Electronic Text Encoding and Interchange. Version 2.6.0. Hg. vom TEI Consortium. Arlington, Massachusetts: TEI Consortium 2014. http://www.tei-c.org/Guidelines/P5/. Syncro Soft: oXygen XML Editor. Craiova: Syncro Soft 2002–2013. http://www.oxygenxml.com.
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In der diplomatischen Transkriptionsansicht wird dann das eine Element ausgewertet, um die Unterstreichung in ihrer zeichengenauen Position darzustellen, wohingegen in der Edierten Textansicht das andere Element ausgewertet wird, um die Hervorhebung des Wortes sinngemäß darzustellen, indem es in seiner vollen Länge unterstrichen angezeigt wird. Ebenfalls wird die Möglichkeit genutzt, textgenetische Aspekte herauszuarbeiten, indem der zeitliche Ablauf des Schreibvorgangs erfasst wird. Dies zu veranschaulichen, dient ein zweites Beispiel, Fontanes Formulierung: „Das thüringi�che Heer focht unter �einem landgräflichen Banner“ (vgl. Abb. 5). Zunächst stand dort „un�er“. Fontane hat dieses Wort korrigiert, indem er den Buchstaben „�“ zu einem „t“ umgewidmet hat.
Abb. 5: Notizbuch C07, Blatt 9r, Scan (Detail)
Durch den nachfolgend gezeigten TEI-Codierungsmechanismus kann dieser Befund wiederum auf verschiedene Arten dargestellt werden: In der diplomatischen Transkriptionsansicht erscheint das „�“ von einem „t“ überlagert, wobei zusätzlich ein Hinweis in Form eines Mouseover-Tooltips eingeblendet wird, der beschreibt, welcher Buchstabe in welchen umgewandelt worden ist. In der Edierten Textansicht hingegen erscheint die Beschriftung in ihrer letzten gültigen Textgestalt, also als „unter“ statt „un�er“, wobei auf die Umwidmung des Buchstabens im textkritischen Apparat hingewiesen wird. das thüringi�che Heer focht un � t er �einem landgräflichen Banner Auszug einer Zeile im TEI/XML-Dokument
Eine weitere Ebene, die durch die TEI-Codierung berücksichtigt werden soll, ist die semantische. In den Notizbüchern werden zahlreiche Personen, Orte, historische Ereignisse, literarische Werke oder andere Entitäten erwähnt. Das nächste Beispiel bezieht sich auf den Namen „Luther“ (vgl. Abb. 1). Um nun zu kennzeichnen, dass durch diesen Namen der Reformator Martin Luther gemeint ist und nicht etwa ein anderer Träger dieses Namens, wird ein Hyperlink im TEI-Code auf den entsprechenden
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Gabriele Radecke, Heike Neuroth, Martin de la Iglesia, Mathias Göbel
Datensatz in einer Normdatei – beispielsweise der Gemeinsamen Normdatei der Deutschen Nationalbibliothek (GND)22 – hinterlegt. Luther Auszug einer Zeile im TEI/XML-Dokument
Eine solche Normdatenverknüpfung ermöglicht nicht nur eine eindeutige Identifizierung, sondern auch die maschinelle Aggregation, Anreicherung, Analyse und Visualisierung der referenzierten Entitäten.23 Zusätzlich sollen editionsspezifische Register erstellt werden, die weiterführende, notizbuchbezogene Informationen über die Entitäten enthalten und die ggf. die Informationen in der GND ergänzen. Im Projekt ermittelte Informationen können auch direkt in der GND ergänzt und dadurch nachnutzbar gemacht werden. Die Berücksichtigung dieser verschiedenen Ebenen in der Codierung wird erst ermöglicht durch die Flexibilität des Regelwerks der Text Encoding Initiative. Dessen modularer Aufbau erlaubt das Erfassen materialer, textgenetischer, semantischer und vieler anderer Aspekte. Die Kehrseite dieser Flexibilität ist eine gewisse Komplexität und Weitschweifigkeit der TEI-Regeln. Oft scheint es für ein und denselben Befund mehrere gleichwertige Codierungsmöglichkeiten zu geben. Um dennoch eine konsistente Codierungspraxis zu erreichen, ist es daher erforderlich, dass jedes Editionsprojekt aus den TEI-Gesamtregeln ein eigenes editionsspezifisches Codierungsschema ausdifferenziert.
IV Visualisierung In den beiden vorangehenden Abschnitten wurde die Komplexität des Materials deutlich gemacht und mit den Guidelines der Text Encoding Initiative ein Rahmenwerk präsentiert, um die Notizbuch-Notate in das digitale Medium nicht bloß zu überführen, sondern auch Struktur und Semantik durchsuchbar und maschinenlesbar zu machen. Die Ziele innerhalb dieses Projektes sind klar definiert: Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie der breiten internationalen Öffentlichkeit sollen Fontanes Notizbücher mit dieser Edition als Digitalisate, Transkriptionen, Edierte Texte und textkritische Apparate sowie die ergänzenden Überblicks- und Stellenkommentare zur Verfügung gestellt werden. Dies soll in hybrider Form geschehen: Neben der Print-Ausgabe, die den kommentierten Edierten Text mit Apparat und damit nur einen Teil der digitalen Edition umfasst, wird online eine eigens für die Edition aufbereitete SADE-Instanz24 bereitgestellt, ein Programmpaket zur Aufbereitung und Darstellung von XML-Dokumenten, welches die technische Grundlage für das projekteigene Portal und damit die Umgebung für die digitale Edition bildet, und die Archivierung der Dokumente im TextGrid Repository ermöglicht. Dabei kann auf viele von TextGrid –––––––— 22 23 24
http://www.dnb.de/gnd. Martin de la Iglesia und Mathias Göbel: “From Entity Description to Semantic Analysis. The Case of Theodor Fontane’s Notebooks.” In: Journal of the Text Encoding Initiative. Im Erscheinen. Skalierbare Architektur für Digitale Editionen, http://www.bbaw.de/telota/software/sade/.
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zur Verfügung gestellte Werkzeuge zurückgegriffen werden, wie etwa zwei Tools, die der Publikation der Daten dienen. Eines davon leistet die Datenübertragung an die eXist-Datenbank25, die im SADE-Paket enthalten ist, das Zweite übernimmt die Metadatenvalidierung und den Transport der Dokumente in das öffentlich zugängliche Repository. Die Arbeit in der Virtuellen Forschungsumgebung beginnt mit der Einspielung der vorhandenen Digitalisate und Daten (Ingest) und endet mit der Publikation im Langzeitarchiv des Repositoriums (vgl. Abb. 2, Abschnitt 2 und 3). Im Folgenden wird nun dieser auf die Publikation zulaufende Arbeitsprozess beschrieben, der schließlich zu den drei Publikationszielen Portal, Repository und Buch führt. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Datenerarbeitung und Visualisierung, auf der Nutzung von TextGrid und der Visualisierung der XML-Daten. Nutzung der Virtuellen Forschungsumgebung TextGrid TextGrid ist ein Infrastrukturprojekt, welches sich dem geisteswissenschaftlichen Arbeiten in einer immer stärker digital arbeitenden Wissenschaftsgesellschaft widmet. Mit TextGrid ist der philologische Erschließungsprozess, wie er in Editionsprojekten immer wieder durchlaufen wird, exemplarisch in das digitale Medium übertragen. Dabei ist das zu Grunde liegende Modell ein in der Informatik bekanntes: Input, Prozessierung und Output. Dieser Dreigliedrigkeit folgt auch der spezifische Workflow im Fontane-Notizbuch-Projekt. Die Überführung der Dokumente in die VRE ist der erste Schritt in die digitale Welt. Hierbei gilt es zunächst, die Faksimiles einzuspielen, um diese allen Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeitern gleichermaßen und entsprechend des Rollen- und Rechtemanagementes zur Verfügung zu stellen. Damit einher geht eine technische Formatvalidierung der Dokumente und die automatische Erfassung einiger Metadaten zu den Bilddateien, wie zum Beispiel Rechteinhaber und Lizenzierung. Die Erfahrungen im Rahmen des Fontane-Notizbuch-Projekts sind dabei in einen Importleitfaden eingeflossen.26 Parallel dazu kann das XML-Validierungsschema, ein Extrakt aus den gesamten TEI Guidelines, hinterlegt werden. Dies dient nicht nur der Validierung der Dokumente; durch die Integration der Definitionen (übernommen aus den TEI Guidelines und angereichert mit Informationen aus kontrollierten Vokabularien) ist dies auch ein wichtiger Bestandteil der Langzeitarchivierung digitaler Daten. Die erstellten Transkriptionen, temporär abgelegt in WordDokumenten, werden mit Hilfe von OxGarage, einem von der TEI bereitgestellten Konversionswerkzeug,27 in XML konvertiert und anschließend in TextGrid eingespielt. Einige wenige Konventionen wurden im Vorfeld definiert, so dass grundlegende Strukturdaten nicht erst im XML-Dokument nachgetragen werden müssen. So wurde zum Beispiel der Absatzumbruch genutzt, um die Transkriptionen zeilengetreu nach den Originalnotizbüchern anzufertigen. OxGarage überführt diese Information in –––––––—
25 26 27
eXist Solutions GmbH: eXist-db. http://exist-db.org/. Vgl. Dokumentation und Leitfaden für den TextGrid-Import, http://textgrid.de/fileadmin/user_upload/ TextGrid_R4.4.1_FINAL.pdf /. http://www.tei-c.org/oxgarage/.
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Gabriele Radecke, Heike Neuroth, Martin de la Iglesia, Mathias Göbel
ein Absatzelement
, was dann mit Hilfe eines simplen regulären Ausdruckes durch ersetzt wird. Zu den wenigen vordefinierten Fällen gehören noch die Unterscheidung zwischen deutscher und lateinischer Schrift, die Differenzierung der zeitgenössischen und postumen Schreiberhände und die bereits zeichengetreu erfassten (einfachen) Unter- und Durchstreichungen sowie die Übernahme der Blatt- und Seitenangaben in grundlegende Struktureinteilungen in -Elemente und schließlich die nach Schema zugehörigen Attribute @n und @facs. Alle genannten Quellen fließen dann in diesen XML-Dokumenten zusammen. Nachdem die einzelnen Transkriptionen importiert wurden und eine Verknüpfung zum Metadatenschema angelegt wurde (@xsi:schemaLocation), beginnt nun der umfassendste Arbeitsbereich, die Tiefenerschließung und -codierung der Notizbuchbefunde.
Auszug der ersten Zeilen eines XML-Dokumentes: hinter den Referenzierungen „textgrid:“ verbergen sich XML-Dokumente innerhalb der TextGrid-Umgebung, hier Stylesheet und Schema.
Die eXtensible Stylesheet Language Transformation (XSLT) ist geeignet, um aus den TEI-Dokumenten eine Webseitenansicht zu generieren. Sowohl XSLT 2.0Prozessor28 als auch Webbrowser sind im TextGrid Laboratory verfügbar und können zusammen mit den erarbeiteten XML-Daten und Digitalisaten genutzt werden. Demnach muss die Prozessierungsinformation als zweite TextGrid-interne Verknüpfung im Kopf der XML-Datei stehen. Nutzung von XSLT mit dem TextGrid XML Editor („Vorschauansicht“) Mit Hilfe des TextGrid XML Editors können zwei wesentliche Funktionen komfortabel genutzt werden. Einerseits unterstützt dieser die Eingabe entsprechend des Schemas und gibt die jeweils gültigen Elemente und Attribute an. Verlässt man sich nur auf diese Auswahlmenüs, können keine nicht validen XML-Dokumente erzeugt werden. Zudem stehen die jeweils im Schema hinterlegten Definitionen zur Verfügung und können somit direkt aus dem Editor heraus konsultiert werden. Validierungsfehler werden direkt und für das gesamte Dokument am rechten Rand mittels roter Markierungen angezeigt. Im unteren Teil des Editors stehen verschiedene Ansichten zur Auswahl. Neben der typischen Ansicht des Quelltextes stehen ein sogenannter What You See Is What You Mean (WYSIWYM)-Editor, welcher eine einfache Visualisierung und gleichzeitig eine weitere Eingabemöglichkeit schafft, und eine Vorschauansicht bereit. Im Fontane-Notizbuch-Projekt wird auf die letztgenannte Ansicht zurückgegriffen. Bei einem Öffnen des Vorschau-Tabs wird der XSLT-Prozessor ge–––––––— 28
Vgl. Radecke/Göbel/Söring 2013 (Anm. 17), S. 101.
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startet und die XML-Daten in eine HTML-Datei gewandelt. Diese wird mit dem im Laboratory verfügbaren Browser29 geöffnet. Damit stehen alle Funktionen zur Verfügung, die ein moderner Browser mitbringt, und es gibt die Möglichkeit, via JavaScript weitere Funktionen zu integrieren, die wiederum die Codierungsarbeit unterstützen. Damit einher geht auch die Prüfung auf Wohlgeformtheit des XML-Dokumentes, denn nur gültige XML-Strukturen können verarbeitet werden. Werden dann Unregelmäßigkeiten in der Darstellung erkannt, gibt es zwei mögliche Ursachen. Entweder ist der Code fehlerhaft und muss nachgebessert werden, oder die Transformationsanweisung ist noch nicht erstellt. An diesem Punkt kommen editionsphilologische Erschließung und informationswissenschaftliches Arbeiten zusammen. Einerseits muss das Schema strikt umgesetzt werden. Dafür steht im XML-Editor eine Validierungsroutine zur Verfügung, die alle möglichen Verletzungen des Schemas aufdeckt und die entsprechenden Positionen im Quelltext markiert. Andererseits wird auch das Schema weiterentwickelt und entsprechende Anpassungen müssen vorgenommen werden. Dieser Prozess verläuft über weite Teile der Projektlaufzeit, da das hierfür entwickelte Auszeichnungsschema ein komplexes ist und zudem der Anspruch besteht, den gesamten Code menschenlesbar zu halten. Mögliche Redundanzen sollen vermieden, Informationen nicht doppelt vorgehalten werden. Ergibt sich zum Beispiel ein Attributwert aus der Reihenfolge zuvor genannter Elemente, kann auf dieses Attribut verzichtet werden. Zu Beginn der Tiefenerschließung wurde für jedes -Element ein Attribut @n vergeben. Da sich aber aus der Reihenfolge der Zonen und Zeilen – ggf. unter Berücksichtigung der Attributwerte aus @next und @prev – die Lesereihenfolge ergibt und daraus folgend auch die Zeilennummerierung zu berechnen ist, wurden diese Komponenten aus dem Code in das Stylesheet verlagert.
–––––––— 29
Nach Betriebssystem wird eine jeweils verfügbare Engine benutzt. Unter Windows ist dies der Internet Explorer, bei Linux wird auf webkitgtk+1.0 zurückgegriffen.
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0
Auszug aus dem XSLT 2.0-Dokument: Berechnung der Zeilennummerierung
Diese Zeilennummer kann der Nutzer bei Bedarf einblenden. Dazu werden eine Reihe von Buttons in die Webseitenansicht integriert (Abb. 6), die verschiedene Funktionen erfüllen und ebenfalls die Codierung unterstützen, gleichzeitig aber auch in dieser Form in das kommende Webportal integriert werden können.
Abb. 6: Buttons zur Hervorhebung bestimmter Elemente innerhalb der Vorschauansicht
Die mit jQuery30 realisierten Funktionen werden hauptsächlich genutzt, um nicht sofort sichtbare Bestandteile des Dokumentes hervorzuheben. Dazu gehören die Abbreviaturen, die bei Platzierung der Maus auf dem Text die entsprechende Auflösung in einem Tooltip anzeigen. Will man also den Code dahingehend überprüfen, vor allem auch die angegebenen Auflösungen kontrollieren, kann man sich alle betreffenden Stellen hervorheben lassen. Die Eingabe aller Informationen erfolgt dabei immer über den XML-Editor, den man sich auch neben der Vorschauansicht aufrufen kann. Innerhalb der Vorschau lässt sich auch die synoptische Ansicht, bestehend aus Bild und Transkription, aufrufen. Dazu wird der von TextGrid unterstützte Bildprozessor Di–––––––—
30
The jQuery Foundation: jQuery. https://jquery.org/.
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giLib31 angesteuert, der aus den Doppelseitenscans die betreffenden Scans ausschneidet und diese anschließend in einer für die Webseitenansicht ausreichenden Auflösung zurücksendet. Die Abfrage wird immer nur für den jeweiligen Bildausschnitt generiert und nur beim Scrollen aktualisiert, was den Server entlastet. Um auf allen Systemen die gleiche Ansicht zu erhalten und auch für bekannte Schriftarten kein Fallback nutzen zu müssen, wird auf GNU FreeFonts32 zurückgegriffen. Die zugehörigen Dateien liegen auf einem Server außerhalb der TextGridInfrastruktur, auf dem SADE installiert ist und der später die digitale Edition bereitstellt. Nutzung des Text-Bild-Link-Editors (TBLE) Der Text-Bild-Link-Editor dient der einfachen Verknüpfung von Faksimile und Markup. Im Notizbuch-Projekt wird das Tool genutzt, um die Koordinaten von zeichnerischen Skizzen festzuhalten. Mit Hilfe der grafischen Oberfläche wird ein XMLObjekt erstellt, welches alle pro Notizbuch codierten Verknüpfungen enthält.
Auszug aus einem TBLE-Objekt
Die um das Prozentzeichen bereinigten relativen Koordinaten können komplett an DigiLib weitergegeben werden, um diesen Ausschnitt dann in die Webseitenansicht –––––––— 31 32
http://digilib.sourceforge.net/. https://www.gnu.org/software/freefont/.
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zu integrieren. Diese Funktion steht im XSLT innerhalb des TextGrid Laboratorys zur Verfügung und wird innerhalb der XML-Datenbank systemweit zu nutzen sein.
V Publikation der digitalen Edition Die Hybrid-Edition wird in dreierlei Hinsicht publiziert: im Fontane-NotizbuchPortal, im TextGrid Repository und als Buch im Verlag Walter de Gruyter. Im Folgenden werden die beiden digitalen Publikationsorte vorgestellt. Projektportal TextGrid bietet eine erweiterte Version von SADE an, die zu den üblichen Komponenten (eXist-db, DigiLib, und Weitere) noch TextGrid-spezifische Erweiterungen umfasst. So kann man diese Instanz direkt aus dem TextGrid Laboratory ansprechen und Dokumente übertragen. Da zur Speicherung der Dokumente die XML-Datenbank eXist-db zum Einsatz kommt, welche ebenfalls einen XSLT-Prozessor mitbringt, kann das zuvor beschriebene Stylesheet mit nur minimalen Anpassungen übernommen werden. So gestaltet sich der Entwicklungsaufwand sehr effizient: Die Vorschauansicht im TextGrid Laboratory entspricht der später öffentlich zugänglichen Oberfläche. Daher werden auch weitere Informationen direkt von diesem Server abgerufen: CSS (Cascading Style Sheets) und das oben genannte jQuery. Auch die Ergebnisse der Nutzung des TextBild-Link-Editors33 können integriert werden. Das Design des Prototyps wurde auf eine möglichst große Arbeitsfläche ausgelegt. Notizbücher sind oft über die gesamte Doppelseite beschrieben und so muss die Ansicht der Doppelseiten gewahrt bleiben, will man die Medialität der Notizbücher digital abbilden. Betrachtet man den TEICode, besteht eine Doppelseite aus der Kombination zweier aufeinanderfolgender -Elemente, welche unterhalb von liegen. Um nun die Doppelseite darstellen zu können, kann man grundlegende Funktionen der XMLDatenbank nutzen. Das XML-Dokument muss nur präprozessiert und alle für die abgefragte Doppelseitendarstellung nicht benötigten -Elemente müssen entfernt werden. Auf das dann in einer Variable temporär abgelegte Dokument kann wiederum das gleiche Stylesheet angewendet werden, wie es für die reguläre Transkriptionsansicht auch genutzt wird. Eine Ausnahme gilt es zu definieren: die vertikale Anordnung der Einzelseiten muss in eine horizontale gewandelt werden. Dafür wird ein Parameter mit in die Transformation gegeben, der an entsprechender Stelle für das Umschalten sorgt. Die Arbeitsumgebung innerhalb TextGrids und die dort verfügbaren Tools lassen sich in Kombination mit der Datenbank also auf die Bedürfnisse der beteiligten Akteurinnen und Akteure einrichten. Die technischen Komponenten setzen auf den innerhalb TextGrids bereitgestellten Werkzeugen auf und dienen der Überführung auf –––––––— 33
Yahya Ahmed Ali Al-Hajj und Marc Wilhelm Küster: The text-image-link-editor. A tool for linking facsimiles and transcriptions, and image annotations. In: Literary and Linguistic Computing 28, 2013, Heft 2, S. 190–198.
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den eigenen Server und der Visualisierung der TEI-Dokumente. Hinzu kommt, dass innerhalb des Portals weitere eigene Adapter aufgesetzt und weitergehende Transformationen angeboten werden können. Dazu gehören Datenaggregationen mit Hilfe von Netzwerkvisualisierungen, Timelines und geo-temporalen Visualisierungstools, wie etwa dem DARIAH-DE Geo-Browser.34 TextGrid Repository Die erarbeiteten Daten stehen allen Projektmitarbeitern und ausgewählten Personen – je nach zugewiesener Rolle – im TextGrid Laboratory zur Verfügung. Dort können sie begutachtet und bearbeitet werden. Für Außenstehende sind sie jedoch erst mit der Veröffentlichung im Portal sichtbar. Auf dem zweiten digitalen Publikationsweg geht die Notizbuchedition in das TextGrid Repository ein. Die dort abgelegten Daten sind langzeitarchiviert. Sie werden auf Bitstream-Ebene gesichert und da Schema (inklusive Dokumentation) und Prozessierungsinformationen abgelegt werden, ist nicht nur die Erhaltung der Dokumente garantiert, sondern es wird auch die Interpretierbarkeit erleichtert. Das TextGrid Repository ist der Speicherort nach Projektabschluss; es ergänzt den projekteigenen Server und bietet Schnittstellen zu weiteren Portalen und Werkzeugen, wie den Voyant Tools35 zur Text- und Korpusanalyse. Zudem können auch andere Dienste hier via standardisierter Schnittstellen, wie OAI-PMH (Open Archives Initiative Protocol for Metadata Harvesting) und REST (Representational State Transfer), auf Daten und Metadaten zugreifen.
VI Der Nutzen der digitalen Fontane-Notizbuch-Edition Der vorliegende Beitrag hat wenigstens einen kleinen Einblick in das Editions- und Realisierungskonzept, in die komplexen Methoden und in die vielschichtige interdisziplinäre Arbeitsweise im Fontane-Notizbuch-Projekt gegeben, und es bleibt natürlich eine sehr berechtigte Frage am Schluss bestehen: Welchen Nutzen hat man letztendlich von einer digitalen Notizbuch-Edition, so dass sich der damit verbundene erhebliche Forschungs-, Kosten- und Zeitaufwand überhaupt lohnt? Insbesondere bei Fontanes Notizbüchern ist dieser Mehraufwand in vielerlei Hinsicht gerechtfertigt, nicht zuletzt, weil die Notizbücher in ihrer Geschlossenheit bisher als unedierbar galten und nur in wenigen entkontextualisierten Auswahlpublikationen vorliegen. Es zeichnen sich jetzt schon einige Forschungsaspekte ab, die noch kurz erwähnt werden sollen: Von der Edition der Notizbücher, die wie kein anderes Handschriftenkorpus die Arbeitsweise und die Entstehung der ganzen Bandbreite der Werke Fontanes dokumentiert, werden neue und entscheidende Impulse für die werkgenetische, literaturwissenschaftliche und biographische Forschung erwartet, denn bisher sind die Notizbücher in den Fontane-Nachschlagewerken und Chroniken nicht systematisch ausgewertet worden. Hinzu kommt, dass die Notizbücher mit ihren heterogenen Notaten auch für –––––––—
34 35
http://geobrowser.de.dariah.eu/. http://voyant-tools.org/.
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mentalitätsgeschichtliche und kulturwissenschaftliche Fragestellungen geeignet sind und neue Erkenntnisse zu Tage fördern werden. Schließlich könnte eine material- und medienbasierte Edition eine Grundlage bilden zu einer neuen und längst überfälligen Begriffsbestimmung von Notizbuchnotaten. Die Ergebnisse der Materialautopsie und das Metadaten- und Visualisierungsschema für die diplomatische Transkriptionsansicht können zudem unter Wahrung der geistigen Urheberschaft nachgenutzt werden. So sind etwa für die positionsgetreue Wiedergabe der interlinear oder marginal platzierten Zeichen bereits codierte und visualisierte standardisierte Lösungen erarbeitet worden, die auch anwendbar sind für eine digitale Edition der Briefe und Werke Theodor Fontanes. Auch aus informationswissenschaftlicher Sicht besteht ein Interesse an den Ergebnissen des Projekts. So hat man in der TEI-Community das Problem erkannt, dass die Flexibilität der TEI Guidelines zu sehr unterschiedlichen Datenmodellen für TEIcodierte Editionen führt, was ihre Nachnutzung erschwert. Beispielsweise ist die editionsübergreifende maschinelle semantische Analyse durch die verschiedenen Ausprägungen des TEI-Codes derzeit noch mit Schwierigkeiten verbunden.36 Die TEIDatenmodellierung der Fontane-Notizbuchedition verfolgt das Ziel, vollständig kompatibel zu den TEI Guidelines zu bleiben und diese nicht durch eigene XMLElemente oder -Attribute zu erweitern, und zugleich die angestrebte Erschließungstiefe und -präzision zu gewährleisten. Dies soll bewirken, dass die Daten der Edition tatsächlich nachgenutzt werden, zum Beispiel durch automatisches Retrieval, Aggregation und als Bestandteil textübergreifender Analyse. Es ist geplant, derartige weiterverarbeitende Tools von exemplarischem Charakter in die Edition zu integrieren und mitzuveröffentlichen. Ferner lassen sich auch aus dem Einsatz der Virtuellen Forschungsumgebung TextGrid Erkenntnisse gewinnen. Im Fontane-Notizbuch-Projekt wird TextGrid, wie bereits beschrieben, zum kollaborativen Erstellen und Bearbeiten sowie zum Speichern, Publizieren und Langzeitarchivieren der Daten eingesetzt. Durch die enge Zusammenarbeit mit dem TextGrid-Entwicklerteam wurde und wird die Software kontinuierlich im Praxiseinsatz getestet und verbessert, wovon letztendlich die gesamte Community der textbasierten Digital Humanities profitiert. Schließlich ist dieses Projekt durch die gleichzeitige Veröffentlichung der Edition als digitale Open-Access-Publikation einerseits und gedrucktes Buch andererseits auch als Beitrag zur Diskussion um das sich im Umbruch befindliche geisteswissenschaftliche Publikationssystem zu werten. Während das traditionelle Buch für die lineare und zusammenhängende Lektüre weiterhin gebraucht wird, ist zugleich der grundsätzliche Mehrwert digitaler Publikationsformen unbestritten. Was die konkrete Ausprägung von Online-Veröffentlichungen angeht, hat sich jedoch noch kein allgemein akzeptierter Standard etabliert. Verschiedene Vorstellungen über Datenformate und Lizenzmodelle konkurrieren zurzeit miteinander, über die im Fontane-NotizbuchProjekt erst noch Entscheidungen getroffen werden müssen. Es wird spannend sein zu beobachten, wie die Nutzerinnen und Nutzer der Notizbuch-Edition auf diese Ent–––––––—
36
Vgl. de la Iglesia und Göbel (Anm. 23).
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scheidungen reagieren und auf welche Weisen sie mit den angebotenen Daten und Inhalten in ihren verschiedenen Formen umgehen werden. Auch die aus diesem Projekt hervorgehenden Softwarelösungen werden frei zur Verfügung gestellt und können als Prozessierungsmodell für anknüpfende Editionen dienen. So kann das hier etablierte Konzept von der Materialautopsie bis zur Publikation nachgenutzt werden, zum Beispiel für eine Gesamtedition der Briefe Fontanes, aber auch für jede andere Edition von komplexen handschriftlichen Aufzeichnungen.
Federica Rovelli
Skizzeneditionen zu Beethoven Nutzen und Aufgaben im wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick
Jede musikwissenschaftliche Edition ist, wie Carl Dahlhaus gezeigt hat, Ergebnis von Überlegungen, Entscheidungen und Kompromissen, die immer in einem größeren ideengeschichtlichen Kontext gesehen werden müssen.1 Skizzeneditionen bilden da keine Ausnahme. Innerhalb der Skizzenforschung zu Beethoven kann man unterschiedliche Editionspraktiken und -formen feststellen: Neben reinen Faksimiles gibt es diplomatische und historisch-kritische-Ausgaben in Transkription und Mischungen dieser Editionstypen.2 Diese hoch spezialisierten Veröffentlichungen stehen außerdem in einer langen Tradition, die im 19. Jahrhundert wurzelt und die anfangs noch nicht auf klare epistemologische Überlegungen oder philologische Zielsetzungen gegründet war. Die frühen Skizzeneditionen beeinflussen bis heute sowohl die editorischen Ergebnisse dieses Forschungsbereichs als auch die Ausrichtung der Skizzenforschung insgesamt. Die Wirkmacht dieser Tradition ist so stark, dass – wie aufzuzeigen sein wird – nicht nur die wissenschaftliche Basis der Skizzenforschung nur schwer zu definieren ist, sondern auch eine Geschichte der Skizzeneditionen schwierig zu schreiben wäre, weil man die gesamte Beethoven-Forschung in den Blick zu nehmen hätte. Die frühen Skizzeneditionen zu Beethoven sind wissenschaftsgeschichtlich die ersten Schritte und Vorbilder einer neuen musikwissenschaftlichen Disziplin, die später auch auf andere Komponisten angewendet wurde. Die erste Veröffentlichung einer Skizze Beethovens stammt aus dem Jahr 1832, erschien also fünf Jahre nach dem Tod des Komponisten: Ignaz Ritter von Seyfried nahm in sein Buch Beethovens Studien einen Teil des Skizzenblattes zu Adelaide –––––––— 1 2
Carl Dahlhaus: Zur Ideengeschichte musikalischer Editionsprinzipien. In: Fontes artis musicae 25, 1978, S. 19–27. Reine Faksimile-Edition: Engelmann-Skizzenbuch, Recueil Thématique de L. v. Beethoven. Leipzig 1913. Beispiele diplomatischer Ausgaben: Joseph Schmidt-Görg: Beethoven, Drei Skizzenbücher zur Missa Solemnis: I Ein Skizzenbuch aus den Jahren 1819/20. Vollständige mit einer Einleitung und Anmerkungen versehene Ausgabe von Joseph Schmidt-Görg. Beethovenhaus. Bonn 1952 (Beethoven. Skizzen und Entwürfe. Erste kritische Gesamtausgabe, Bd. 34); Dagmar von Busch-Weise: Ein Skizzenbuch zur Pastoralsymphonie op. 68 und zu den Trios op. 70, 1 und 2. Beethoven. Vollständige, mit einer Einleitung und Anmerkungen versehene Ausgabe von Dagmar Weise. Beethovenhaus. Bonn 1961 (Beethoven. Skizzen und Entwürfe. Erste kritische Gesamtausgabe, Bd.13). Beispiele für „Mischlösungen“: Joseph Kerman: Autograph miscellany from circa 1786 to 1799: British Museum additional manuscript 29801, ff. 39–162; the „Kafka sketchbook“. Ludwig van Beethoven. The trustees of the British Museum und the Royal Musical Association. London 1970; Sieghard Brandenburg: Ludwig van Beethoven. Keßlersches Skizzenbuch. Verlag Beethoven-Haus. Bonn 1976–1978 (1. Reihe Beethoven. Skizzen und Entwürfe, Bd.5); William Kinderman: Artaria 195: Beethoven’s sketchbook for the “Missa solemnis” and the Piano sonata in E Major, opus 109. University of Illinois Press. Urbana and Chicago 2003.
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op. 46 als Faksimile auf.3 Wie der vom Verleger Tobias Haslinger veranlasste Subskriptionsaufruf erkennen lässt,4 wurde die Skizzenblatt-Reproduktion aus kommerziellen Gründen eingebunden und man darf vermuten, dass sie als Illustration für Beethovens eigenwillige Schrift diente5 und zugleich das Interesse am Buch erhöhen sollte.6 Dass der Reproduktion neben einer Erklärung (»Dieser Brouillon ist höchst wahrscheinlich der allererste Entwurf«) kein weiterer Kommentar beigegeben ist, scheint diese Annahme zu bestätigen. Die Publikation des Buchs verfolgte aber vornehmlich ein anderes Ziel. Mit der Dokumentation von Beethovens Kompositionsstudien vermittelte sie implizit, dass nicht nur vollständige Werke interessant seien, sondern dass die von Beethoven nicht zur Veröffentlichung bestimmten Materialien wie Studien und Skizzen vielleicht die „Geheimnisse“ von Beethovens Kompositionen offenbaren könnten. Es ist kein publizistischer Zufall, dass man unter den ausgewählt veröffentlichten Studien-Dokumenten auch Materialien zu unvollendet gebliebenen Werkvorhaben finden kann, denn die zitierte verlegerische Vorankündigung weist ausdrücklich auf diese „Fragmente“ hin.7 In diesem weiteren Sinne ist also Seyfrieds Buch auch als erster entscheidender Schritt der Skizzenforschung zu verstehen, weil es den Ausgangspunkt der Tradition darstellt. Auch Anton Schindler befasste sich wenige Jahre nach Seyfried mit Beethovens Skizzen. Er beschäftigte sich in seiner Biographie von Ludwig van Beethoven insbesondere mit den Skizzen zur 9. Symphonie und nahm ein faksimiliertes Skizzenblatt zur Vertonung von Schillers „Ode an die Freude“ in sein Buch auf. Im Unterschied zu Seyfried kommentiert Schindler die veröffentlichten Skizzen, allerdings vornehmlich, um sich selbst als Zeuge des Schaffensprozesses und als Teilhaber eines Mythos zu inszenieren: Im November 1823 begann Beethoven die neunte Sinphonie zu componieren, wozu er viele Skizzen vom Lande nach der Stadt brachte, und schon im Februar 1824 war dieser Coloss fertig aufgebaut. […] Eines Tages, als ich in’s Zimmer trat, rief er mir entgegen: „Ich hab’s, ich hab’s!“ indem er mir das Skizzenbuch vorhielt, wo ich las: „Lasst uns das Lied des un-
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Ludwig van Beethovens Studien im Generalbasse, Contrapuncte und in der Compositions-Lehre. Aus dessen handschriftlichem Nachlasse gesammelt und herausgegeben von Ignaz Ritter von Seyfried, Haslinger, Wien 1832. Die Abbildung wurde nach S. 352 vor dem Anhang eingefügt. Das originale Skizzenblatt wird heute im Beethoven-Haus Bonn (HCB Mh 62) aufbewahrt. Tobias Haslinger: Im Verlage der K. K. Hof- und priv. Kunst- und Musikhandlung […]. In: Allgemeine musikalische Zeitung 32/34, 1830, Intelligenz Blatt X, Sp. 30–31), und in der Anzeige des Erscheinens (Ludwig van Beethoven’s Studien […]. In: Allgemeiner musikalischer Anzeiger 4/29, 1832, S. 116) Im Subskriptionsaufruf werden „2 Fac-Simile“ erwähnt. Siehe hierzu auch Julia Ronge: Gustav Nottebohm, Beethoven’s Studien. Erster Band. Beethoven’s Unterricht bei J. Haydn, Albrechtsberger und Salieri. Mit einer Einleitung herausgegeben von Julia Ronge (Quellenkataloge zur Musikgeschichte, herausgegeben von Richard Schaal. 47). Wilhelmshaven 2009, S. XIII–XIX. Thomas Whelan: Towards a History and Theory of Sketch Studies. UMI Research Press. Ann Arbor 1990, S. 34. »Hier wurde intimes Material herausgegeben, das Beethoven für sich aufbewahrt und vor den Blicken der Öffentlichkeit verborgen hat. Dieser Blick ins Private trug entschieden zur Attraktivität des Buches bei.« Ronge 2009 (Anm. 4), S. XVII. Anzeige des Erscheinens (Anm. 4), S. 116.
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sterblichen Schiller singen.“ – „Freude“ etc. welche Einleitung er aber späterhin mit: „Freunde nicht diese Töne“ etc. vertauschte. (Man findet die erste Idee in dem Facsimile der Beilage No. 2).8
Thomas Whelan beurteilt Schindlers Absichten folgendermaßen: Schindler, despite his many inaccuracies, was the first to base a discussion of the compositional history of a musical work on a composer’s sketches. […] And the story of Beethoven’s trouble over the theme of the Ninth Symphony became a significant part of the Beethoven myth, to the extent that it has become nearly impossible to speak of Beethoven’s method of composing without referring to a “creative struggle”.9
Auch andernorts zeigt sich Schindlers starkes Interesse an diesem Thema. Im Jahr 1844 publizierte er unter dem Titel Aus Beethoven’s Skizzenbüchern weitere Skizzen, nun aber zum ersten Mal in Form von Übertragungen.10 Diese Skizzen, die vor allem Spuren der 10., unvollendet gebliebenen Symphonie darstellen, waren der Ausgangspunkt für eine später einsetzende längere Diskussion.11 In unserem Zusammenhang interessiert allerdings nicht das hinter dieser Debatte stehende Problem, sondern vielmehr Schindlers Übertragungspraxis. Seine Transkriptionen besitzen aus heutiger Sicht viele Mängel und folgen nicht den diplomatischen Praktiken, die nachmals und für lange Zeit dominierend werden sollten. Schindler fügte seinen Umschriften viele Ergänzungen ohne explizite Hinweise hinzu, nahm zahlreiche substantielle Veränderungen vor und berücksichtigte nicht einmal die Anordnung der Notate Beethovens. Sie bieten dem Leser jedoch einen unproblematischen und lesbaren Text.
„In the beginning was Gustav Nottebohm – or so it seems“12 Obwohl die beiden erwähnten Beispiele als wegweisend angesehen werden können und danach noch zahlreiche Übertragungen und Editionen von Beethovens Skizzen publiziert wurden,13 gilt Gustav Nottebohm als Begründer der modernen Skizzenforschung. Seine wichtigsten Skizzen betreffende Publikationen umfassen fast alle überlieferten Skizzenbücher Beethovens.14 In einem Fall liefert Nottebohm als einziger die –––––––— 8 9 10
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Anton Schindler, Biographie von Ludwig van Beethoven. Münster: Aschendorff 1840 (zweite Ausgabe 1845), S. 139. Whelan 1990 (Anm. 5), S. 36. Anton Schindler: Aus Beethoven’s Skizzenbüchern. In: Musikalisch-kritisches Repertorium 1, 1844. S. 1–5. Die originalen Skizzen werden heute in der Staatsbibliothek zu Berlin (Autograph 9/1) aufbewahrt. Siehe hierzu: Robert Winter: Noch einmal: Wo sind Beethovens Skizzen zur zehnten Symphonie? In: Beethoven-Jahrbuch 9, 1977, S. 531–552 und Barry Cooper: Newly identified sketches for Beethoven’s tenth symphony. In: Music and letters 66, 1985, S. 9–18; vgl. auch Whelan 1990 (Anm. 5), S. 37–39. Douglas Johnson: Beethoven Scholars and Beethoven’s Sketches. In: 19th-Century Music 2, 1978, S. 4. Siehe hierzu Whelan 1990 (Anm. 5), S. 37–72 (Kapitel: Articles on Sketches and Autographs in the 1840’s and 1850’s und Otto Jahn’s Studies of Sketches and Autographs). Gustav Nottebohm: Ein Skizzenbuch von Beethoven, Beschrieben und in Auszügen dargestellt von G. Nottebohm. Leipzig: Breitkopf und Härtel 1865 (betrifft vornehmlich das Keßlersche Skizzenbuch); Gustav Nottebohm: Beethoveniana. Aufsätze und Mittheilungen von Gustav Nottebohm, Leipzig und Winterthur 1872 (enthält 29, zuvor schon in der Allgemeinen musikalische Zeitung publizierte
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Beschreibung eines heute verschollenen oder zerstörten Skizzenbuchs.15 Nottebohms Aufsätze wurden in der Vergangenheit ausführlich diskutiert,16 deshalb genügt es, an dieser Stelle nur die wichtigsten Punkte dieser Auseinandersetzung hervorzuheben. Der oft beklagte Mangel in Nottebohms Forschungen betrifft die fehlenden Kriterien bei Transkriptionen und die inkonsequente Transkriptionspraxis: Seine in der Regel nicht begründete Auswahl ist häufig durch die Lesbarkeit der Skizzen und der Texte des Komponisten motiviert und die Umschriften enthalten sehr oft stillschweigende Ergänzungen und Weglassungen. Kurz: Die editorischen Maßnahmen sind nicht transparent und die Transkriptionen deshalb mithin nicht verlässlich, wie Lewis Lockwood zu Recht feststellt: First, the material is by no means complete and lacks all indication of the basis for selecting some items but omitting others. Second, there is no hint of the basis on which the order of the transcriptions was decided, beyond a tacit common-sense inference that they probably occur on the sketchbook pages in a top-to-bottom, left-to-right order, corresponding to what Nottebohm gives us […]. Third, the entries are not given in diplomatic transcription: stems are reversed, clefs are tacitly entered without indication of whether they were in the original or not, there are no footnotes indicating doubtful readings (this may be the fault of Nottebohm’s editor, Mandyczewski), and words of text are regularly included whether or not they appear in the original.17
Die Ungenauigkeiten der Übertragungen sind vergleichbar mit denen, die in Schindlers Transkriptionen zu beobachten sind. Schon die ungenauen Quellenbeschreibungen beeinträchtigen die heutige Forschung: Sie sind oft oberflächlich und man erfährt nichts oder zu wenig über den kodikologischen Zustand der Manuskripte, so dass ein Vergleich mit dem heutigen Überlieferungszustand nicht sicher möglich ist. Lockwood wies außerdem auf die methodologische Gefahr hin, die in der von Nottebohm praktizierten Vereinfachung liegt, die Entwicklung von Beethovens Schaffensweise als kontinuierlichen, linear verlaufenden Prozess zu beschreiben. In dieser organischen Vorstellung spiegeln sich sicherlich auch allgemeine, gängige, d. h. nicht weiter reflektierte Ansichten des 19. Jahrhunderts.18 Noch zwei Merkmale müssen hier aufgeführt werden, um Nottebohms Prinzipien zu definieren und ihre bis heute beobachtbaren Auswirkungen zu erkennen. Systematisch betrachtet teilen sich Nottebohms Aufsätze in zwei Gruppen mit jeweils eigener epistemologischer Ausrichtung: die erste orientiert sich an Werken und die zweite an Skizzenbüchern. Der ersten Gruppe gehören jene Aufsätze an, die sowohl vollendete –––––––—
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Untersuchungen); Gustav Nottebohm: Ein Skizzenbuch Beethovens aus dem Jahre 1803. In Auszügen dargestellt von G. Nottebohm. Leipzig 1880 (berühmt geworden wegen der darin enthaltenen Beschreibung des Eroica-Skizzenbuchs); Gustav Nottebohm: Zweite Beethoveniana. Nachgelassene Aufsätze von Gustav Nottebohm. Leipzig 1887 (postum veröffentlicht von Eusebius Mandyczewski). Die einzigen Erkenntnisse zum heute verschollenen sog. Boldrini-Taschenskizzenbuch mit Entwürfen zur Hammerklaviersonate op. 106 vermittelt Gustav Nottebohm: Ein Taschenskizzenbuch aus dem Jahre 1817. In: Nottebohm 1887 (Anm. 14), S. 349–355. Siehe hierzu zusammenfassend Lewis Lockwood: Nottebohm Revisited. In: Current Thought in Musicology. Hg. von J. W. Grubbs. Austin 1976, S. 139–191. Lewis Lockwood: Beethoven’s Sketches for Sehnsucht (WoO 146). In: Beethoven Studies 1, 1971, S. 103. Whelan 1990 (Anm. 5), S. 101–119 (Kapitel: Nottebohm, Romantic Historiography, and Organicism).
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als auch unvollendete Werken behandeln: Die Titel lauten zum Beispiel Skizzen zur Ouverture op. 115 oder Ein unvollendetes Klavierkonzert.19 In diesen Fällen gilt das Werk bzw. das Werkfragment als „logische Einheit“ und Nottebohms Bemerkungen setzen verschiedene Quellen zueinander in Beziehung, um eine schaffensgenetische Entwicklung ausgehend von anfänglichen Skizzen bis hin zum mehr oder weniger „perfekten Endresultat“ zu rekonstruieren. Die Aufsätze der zweiten Gruppe sind dagegen Beschreibungen und Kommentierungen entweder einzelner oder mehrerer Skizzenbücher. Ihre Titel lauten dann beispielsweise Ein Skizzenbuch aus dem Jahre 1817 oder Drei Skizzenhefte aus den Jahren 1819 bis 1822.20 Sie verraten also unmittelbar, dass sie sich dem als Überlieferungseinheit betrachteten physischen Dokument (Buch bzw. Heft) widmen. Hier lenken die „physischen Einheiten“ den Blick der Forschung: Inhalte und manuskriptinterne Zusammenhänge stehen im Vordergrund. Welche Erkenntnisziele verfolgen diese Skizzenuntersuchungen? Nottebohm selbst benannte sie in der von Mandyczewski zusammengefassten Einleitung des Auswahlbands Zweite Beethoveniana: Ihre Beitragsfähigkeit [die der Skizzen] lässt sich […] als eine dreifache bezeichnen. Erstlich kann man mit ihrer Hilfe die genaue Compositionszeit sehr vieler Werke, die Zeit, in der sie begonnen und beendigt wurden, bestimmt werden; dann machen sie uns in nicht ausgeführten Skizzen, in liegengebliebenen Arbeiten und in allerhand Bemerkungen mit künstlerischen Absichten Beethoven’s bekannt, von denen wir auf einem anderen Wege nichts erfahren; endlich gewähren sie bis auf einen gewissen Punkt einen Blick in Beethoven’s Werkstätte.21
In Nottebohms Vorstellung hat die Skizzenforschung folgende Aufgaben: die Chronologie der Werke zu bestimmen oder zu präzisieren, neue Kenntnisse über unvollendet gebliebene kompositorische Projekte zu liefern sowie eine – wenn auch begrenzte – Einsicht in Beethovens Schaffensweise zu geben. Die Grenzen, die der Erkenntnis zur Schaffensweise gesetzt sind, erläutert Nottebohm wie folgt: Ohne das Geheimnis des Genius zu verrathen, geben die Skizzen Beethoven’s eine Vorstellung von seinem Produciren. […] Für uns nun hat diese Art des Schaffens etwas Räthselhaftes. Das Räthselhafte liegt in erster und letzter Instanz in dem Kampf Beethoven’s mit seinem Dämon, in dem Ringen mit seinem Genius. In diesen Skizzenbüchern hat der Dämon gehaust. Der Dämon aber ist entwichen. Der Geist, der ein Werk dictirte, erscheint nicht in den Skizzen. Die Skizzen offenbaren nicht das Gesetz, von dem sich Beethoven beim Schaffen leiten ließ. Von der Idee, die nur im Kunstwerk selbst zur Erscheinung kommt, können sie keine Vorstellung geben. […] Damit ist gesagt, dass sie zum Verständniss und rechten Genuss eines Kunstwerkes nicht beitragen.22
Die starke Abwehr gegenüber der Erkenntniserwartung, in den Skizzen irgendein „Schaffensgeheimnis“ zu entdecken, und die Verwendung der Begriffe „Dämon“ und „Geist“ klingen gewissermaßen ideologisch. Man könnte in Nottebohms Zurückwei–––––––— 19 20 21 22
Nottebohm 1872 (Anm. 14), S. 37–44; Nottebohm 1887 (Anm. 14), S. 223–224. Nottebohm 1887 (Anm. 14), S. 349–355 und S. 460–475. Nottebohm 1887 (Anm. 14), S. VII. Nottebohm 1887 (Anm. 14), S. VIII–IX.
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sung außerdem auch einen impliziten Bezug auf die hohe Erwartungen weckenden Äußerungen Haslingers und Seyfrieds sehen, die – wie oben ausgeführt – mit privaten bzw. kommerziellen Interessen verbunden waren. Im letzten Zitat verbindet Nottebohm mit der dritten Forschungsperspektive noch ein weiteres, hypothetisches Erkenntnisziel, das er allerdings für nahezu unerreichbar hält – nämlich die an Skizzen gewonnenen Einzelerkenntnisse über den Schaffensprozess auf vollständige Werke zu übertragen. Obwohl diese Erkenntnisperspektive von Nottebohm nicht gänzlich ausgeschlossen wurde, zeigen einige seiner Aufsätze, dass seine Beobachtungen nicht selten auch eine analytische Bedeutung haben: so zum Beispiel in seinem Aufsatz, der dem vierten Klavierkonzert op. 58 und der fünften Symphonie op. 67 gewidmet ist. Das aus vier Noten bestehende Hauptmotiv des ersten Satzes der Symphonie in C-moll ist, seiner rhythmischen Form nach, auch in dem Hauptthema des ersten Satzes des PianoforteConcertes in G-Dur enthalten. Dort erscheint es als Motiv in sich abgeschlossen, in einer primitiven Fassung; hier als Glied eines grösseren melodischen Ganzen. Dass nun jene primitive Fassung die frühere war und der anderen, zusammengesetzteren vorherging, das zeigen uns die Skizzen.23
Dieser immer wieder zu beobachtende Widerspruch zwischen theoretischer Bescheidenheit und weitgreifender wissenschaftlicher Praxis prägte die Geschichte der Skizzenforschung stark. In den 1970er Jahren geriet sie geradezu in eine vorübergehend lähmende Krise. In den Jahren nach Mandyczewskis edierten nachgelassenen Arbeiten Nottebohms wurde der von Nottebohm aufgezeigte Weg vorbildhaft. Dass Nottebohms Einfluss anhaltend stark blieb, wurde früh bemerkt und kritisiert: Karl Lothar Mikulicz war der erste, der 1927 Nottebohms Hegemonie beklagte und zugleich einen eigenständigen Gesamtblick auf die Skizzen forderte: […] die Forschung darf nicht wie bisher nur oder fast nur auf den Veröffentlichungen Nottebohms beruhen. Was in Bibliotheken und Privathänden an Skizzen Beethovens erhalten ist, stellt, da ja große Teile verloren, andere schwer oder gar nicht lesbar sind, eine durch den blinden Zufall diktierte Auswahl dar; […]. Als größte aber auch wichtigste Aufgabe der Beethoven-Forschung des 20. Jahrhunderts ist eine Gesamtausgabe der Skizzen Beethovens in die Wege zu leiten.24
Mikulicz� Kritik wurde oft wiederholt, zeitigte aber zunächst keine Konsequenzen. Mikulicz� editorisches Konzept wurde – wie eine genauere Betrachtung zeigt – von Nottebohms Praxis und Vorstellungen geprägt. Nottebohms Vorgaben lassen sich auch etwa im Plan einer Skizzen-Gesamtausgabe erkennen, wo Mikulicz beide epistemologischen Richtungen, die der „physischen“ und die der „logischen“ Erkenntnisperspektive aufgreift: –––––––— 23 24
Nottebohm 1872 (Anm. 14), S. 10. Karl Lothar Mikulicz: Skizzen zur III. und V. Symphonie und über die Notwendigkeit einer Gesamtausgabe der Skizzen Beethovens. (Auszug) In: Beethoven-Zentenarfeier. Wien, 26. bis 31. März 1927. Veranstaltet von Bund und Stadt unter dem Ehrenschutz des Herren Bundespräsidenten Dr. Michael Hainisch. Internationaler musikhistorischer Kongress. Universal-Edition. Wien 1927, S. 95.
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Die ideale Lösung dieser Aufgabe [eine Gesamtausgabe der Skizzen zu erstellen], die natürlich nicht die Arbeit eines einzelnen sein kann, wäre eine Gliederung in drei Reihen: Faksimilierungen; Druckausgaben in der Art, wie der Referent [= Mikulicz] eine solche von einem umfangreichen Skizzenbuch der Berliner Staatsbibliothek veranstaltet hat (u. a. Vollständigkeit und getreue Wiedergabe, auch in Format und Anordnung!) und schließlich mit Lesebehelfen versehene Einzelausgaben nach Werken geordnet (alle auf ein bestimmtes Werk beziehbare Skizzen werden aus ihrer Umgebung gelöst und soweit es möglich in den organischen Zusammenhang gestellt, so daß der Werdegang eines Werkes unmittelbar anschaulich gemacht ist).25
Die von Mikulicz vorgeschlagene Edition wurde allerdings erst nach dem zweiten Weltkrieg im Beethoven-Haus Bonn begonnen.
20. Jahrhundert Über Skizzenbuch-Ausgaben wurde seit Anfang des 20. Jahrhunderts reflektiert, sie wurden aber erst seit den fünfziger Jahren in die Tat umgesetzt. Bevor auf diese Editionen eingegangen wird, soll zunächst umrissen werden, was sich zu diesem Zeitpunkt verändert hat und was geblieben ist. Bis heute sind nur 18 Ausgaben von Beethovens Skizzenbüchern erschienen; das heißt, nur ein kleiner Teil der mehr als 70 Skizzenbücher Beethovens ist bislang editorisch aufgearbeitet worden. Wie schon erwähnt, sind diese Ausgaben sehr unterschiedlich; ihre Andersartigkeit erfährt man unmittelbar, wenn man an ihre „impliziten Leser“ denkt. Die Zielgruppe dieser Editionen wird u. a. von den Verlagen mitbestimmt und mit wacher Aufmerksamkeit behandelt, denn diese Ausgaben erreichen stets nur ein eingeschränktes, kleines Publikum. Zu den Rezipienten par excellence, nämlich Musikwissenschaftlern, kommt ein kleiner Kreis von Musikern, Liebhabern und Sammlern hinzu. Auch wenn in den Editionen hierzu nicht explizit Stellung genommen wird, zeigen gewisse Merkmale eine klare Tendenz. Man kann z. B. ausschließen, dass die diplomatischen Übertragungen der Ausgaben an Musiker gerichtet sind. Diese in den Jahren zwischen 1927 und 1974 veröffentlichten Editionen umfassen die bereits genannte singuläre Ausgabe von Mikulicz und die Editionen, die in der heute noch existierenden Reihe des Verlags Beethoven-Haus Beethoven. Skizzen und Entwürfe erschienen sind.26 Die Bonner Editionen versuchen, eine getreue graphische, aber „lesbare Wiedergabe“ der Manuskrip–––––––— 25
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Mikulicz 1927a (Anm. 24), S. 95. In dem Zitat bezieht sicht Mikulicz auch auf seine Ausgabe: Ein Notierungsbuch von Beethoven: aus dem Besitze der Preussischen Staatsbibliothek zu Berlin. Vollständig hg. und mit Anmerkungen versehen von Karl Lothar Mikulicz. Leipzig 1927. Mikulicz 1927b (Anm. 25); Schmidt-Görg 1952 (Anm. 2); Dagmar von Busch-Weise: Ein Skizzenbuch zur Chorfantasie op. 80 und zu anderen Werken. Beethovenhaus. Bonn 1957 (Beethoven. Skizzen und Entwürfe. Erste kritische Gesamtausgabe, Bd. 15); von Busch-Weise 1961 (Anm. 2); Joseph SchmidtGörg: Drei Skizzenbücher zur Missa solemnis: II Ein Skizzenbuch zum Credo. Beethovenhaus. Bonn 1968–70 (Beethoven. Skizzen und Entwürfe. Erste kritische Gesamtausgabe, Bd. 35); Joseph SchmidtGörg: Drei Skizzenbücher zur Missa solemnis: III Ein Skizzenbuch zum Benedictus. Beethovenhaus. Bonn 1968–70 (Beethoven. Skizzen und Entwürfe. Erste kritische Gesamtausgabe, Bd. 36); Joseph Schmidt-Görg: Ein Skizzenbuch zu den Diabelli-Variationen und zur Missa solemnis. Beethovenhaus. Bonn 1968–72 (Beethoven. Skizzen und Entwürfe. Erste kritische Gesamtausgabe, Bd. 33); Wilhelm Virneisel: Ein Skizzenbuch zu Streichquartetten aus op. 18. Beethovenhaus. Bonn 1972–74 (Beethoven. Skizzen und Entwürfe. Erste kritische Gesamtausgabe, Bd. 6).
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te herzustellen.27 Ihr Ziel sowie die dabei angewandten Transkriptionstechniken hat Joseph Schmidt-Görg, der Begründer der Bonner Editionsreihe, in ihren Grundzügen beschrieben: 1. Nach originalgroßen Photographien sämtlicher Seiten wird eine Abschrift angefertigt, gemäß der Vorlage seiten- und zeilengetreu. 2. Die fertige Abschrift wird mit der Originalhandschrift verglichen; die angegebenen Mängel und Vorzüge der Photographie treten hierbei klar hervor. Die Abschrift wird nach der Originalhandschrift korrigiert. […] 7. Die nunmehr fertige Vorlage wird auf Cellophanpapier, das nach den Maßen des Originals vorrastriert ist, über dem Original übertragen, so daß jede Note und jedes Zeichen genau an die Stelle kommt, wo es sich im Original befindet. 8. Nach dieser Cellophan-Abschrift wird der Notenstich angefertigt.28
Die photographische und drucktechnische Herstellung der Faksimile-Reproduktionen war in den Nachkriegsjahren noch außerordentlich teuer, weshalb diese Editionen anfangs kein Faksimile enthielten. Die diplomatischen Übertragungen hatten demnach die Aufgabe, das Manuskript fast photographisch getreu wiederzugeben, um den Mangel an Faksimiles zu kompensieren. Dieses Ziel graphischer Quellentreue ging allerdings zu Lasten der Verstehbarkeit der Übertragung: Im Gegensatz zu Nottebohms stillschweigenden Zusätzen werden in der frühen Bonner Reihe keine editorischen Maßnahmen angewendet, um z. B. die von Beethoven aus schreibökonomischen Gründen weggelassenen Schlüssel, Taktvorzeichen, Akzidenzien usw. zu ergänzen. Folglich sind diese Ausgaben von Musikern nicht als aufführungsfähige Texte nutzbar. Es ist anzunehmen, dass sie sich erfolgreich an andere Leser wenden, nämlich neben Musikwissenschaftlern an die vermutlich ungleich größere Gruppe von Liebhabern, Kennern, Sammlern und Bibliophilen, die keinen Zugang zu originalen Manuskripten haben und die in diesen Editionen ein willkommenes, für den Leser aufbereitetes „ikonisches Surrogat“ sahen. Unter diesem Gesichtspunkt kann man zu diesen besonderen Ausgaben auch die früheste und für lange Zeit singuläre Faksimileausgabe eines Skizzenbuchs von Beethoven aus dem Jahr 1913 zählen: Die Ausgabe des sogenannten Engelmann-Skizzenbuchs, die als reine Faksimile-Edition konzipiert wurde und allenfalls bibliophile, kaum aber inhaltliche Interessen befriedigen konnte.29 Joseph Kermans Ausgabe des in London aufbewahrten Kafka-Konvoluts (die im Jahr 1970 publiziert wurde und die von der Edition Natan Fišmans aus dem Jahr 1962 inspiriert war)30 kann man dagegen für den ersten Versuch halten, auch Musikinterpreten und eben nicht nur Musikwissenschaftler und -Liebhaber zur Lektüre zu motivieren. Kermans Übertragungen, die die später nachfolgenden Skizzenausgaben stark geprägt haben, fügen den Transkriptionen Schlüssel, Akzidenzien und weitere Sym–––––––—
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Joseph Schmidt-Görg: Bericht über die kritische Gesamtausgabe der Skizzenbücher Beethovens. In: Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen – Mitteilungsblatt 6, 1956, S. 5. Schmidt-Görg 1952 (Anm. 2), S. 9. Engelmann-Skizzenbuch 1913 (Anm. 2). Natan L. Fišman: Kniga �skizov Betchovena za 1802–1803 gody [Das Skizzenbuch der Jahre 1802– 1803], Moskva 1962.
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bole hinzu, um den musikalischen Sinn der Skizzen zu rekonstruieren. Obwohl es von Kerman selbst explizit ausgeschlossen wurde,31 rückt diese Edition quasi in die Nähe von praktisch-instruktiven Werk-Ausgaben. Die ersten Versuche, Beethovens Skizzen auch klingend zu rezipieren, stammen allerdings schon aus dem Jahr 1927, als die Londoner Schallplatten-Fabrik Columbia eine Platte mit dem Titel Beethoven Sketches. Illustrated on the Pianoforte veröffentlicht hatte. Deshalb ist gut vorstellbar, dass sich hinter Kermans methodologischem Vorgehen eine praxisorientierte Absicht versteckte.32 Kermans Ausgabe besitzt auch ein anderes, für Musiker attraktives Merkmal: die Übertragung wird zweimal wiedergegeben; das erste Mal als Werk (oder unvollendetes, aber erkennbares Werk-Projekt), das zweite Mal in der tatsächlichen Folge des Konvoluts. Die kodikologischen Merkmale des Kafka-Konvoluts rechtfertigen diese besondere editorische Darstellung. Kerman selbst äußert sich hierzu folgendermaßen: The degree of availability to be sought in an edition obviously depends on the sort of readers who are envisaged. […] An edition can be designed that will be available – that is, intelligible without the need for laborious and sophisticated prior analysis – to a circle of musicians wider than a small group of specialists.33
Wenn man im allgemeinen, umfassenden Sinn von Skizzeneditionen spricht, sind nicht nur Skizzenbuch-Editionen zu berücksichtigen, sondern auch viele andere Veröffentlichungen, die ebenfalls Skizzeneditionen enthalten. Diese Publikationen bieten oft einen singulären Zugangsweg zu diesen Texten. Gelegentlich sind sie auch umfassend bis vollständig. Diese Veröffentlichungstradition greift Lewis Lockwood in seiner in den 1980er Jahren begründeten Publikationsreihe Studies in Musical Genesis and Structure auf. Die darin aufgenommenen Monographien, in der Regel mit Übertragungen von Skizzen und Werkstattmanuskripten ausgestattet, sind nicht nur auf Beethoven konzentriert, sondern beziehen auch andere Komponisten ein. Sie haben eines gemeinsam: die Rekonstruktion der Schaffensweise in Bezug auf ein einziges Werk. Für die Beethoven-Forschung bedeutsam sind zum Beispiel die Monographien von William Kinderman, den Diabelli-Variationen op. 120 gewidmet, von Martha Frohlich zur Klaviersonate op. 57 und von Nicholas Marston, der sich auf die Klaviersonate op. 109 konzentriert. Viele andere ähnliche Projekte wurden in diesem Zeitraum begonnen.34 Die Publikationen bieten ausführliche Analysen und viele Übertragungen, aber nur selten Reproduktionen von Manuskripten; der Versuch, einen vollständigen Skizzenkorpus zu edieren, wurde in einigen wenigen Fällen angestrebt: Frohlichs Monographie ist hier stellvertretend zu nennen. Ein Abschnitt des –––––––— 31 32 33 34
Kerman 1970 (Anm. 2), Bd. II, S. X. Michel Rouch: The First Recording of Beethoven Sketches (Columbia L 1934 – 9 February 1927) in: Arietta. Journal of the Beethoven Piano Society of Europe 7/2010, S. 9–14. Kerman 1970 (Anm. 2), Bd. II, S. XI, XIII. William Kinderman: Beethoven’s Diabelli Variations. Clarendon Press. Oxford 1989; Martha Frohlich: Beethoven’s “Appassionata” Sonata. Clarendon Press. Oxford 1991; Nicholas Marston: Beethoven’s Piano Sonata in E, Op. 109. Clarendon Press. Oxford 1995. Aber auch Robert S. Winter: Compositional origins of Beethoven’s opus 131. UMI Research Press. Ann Arbor 1982 und Donald T. Greenfield: Sketch studies for three movements of Beethoven’s string quartets, opus 18, 1 and 2. UMI Research Press. Ann Arbor 1983.
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Buchs ist den Skizzenübertragungen und den entsprechenden Faksimiles gewidmet.35 Die im 20. Jahrhundert betriebenen und weiter entwickelten Skizzeneditionen gehen offenbar, mit all ihren Nachteilen und Vorteilen, auf Nottebohm zurück. Sie folgen den beiden genannten epistemologischen Richtungen: die erste richtet sich nach der „logischen Einheit“ (nach dem einzelnen Werk) und die zweite nach der „physischen Einheit“ (nach den Skizzenbüchern). Eine wirklich neue, dritte Richtung ist bisher noch nicht entwickelt worden, während der Gegensatz zwischen den beiden Untersuchungsperspektiven im Verlauf der Geschichte immer deutlicher und schärfer zutage getreten ist. Die heute geradezu kanonisch gewordene Publikation The Beethoven Sketchbooks. History – Reconstruction – Inventory,36 die sich mit den Problemen der „materiellen Philologie“, also insbesondere mit der Rekonstruktion der „physischen Einheit“ befasst, kann als Beleg dieser Tendenz gesehen werden. In Zusammenhang mit den von Nottebohm beschriebenen Aufgaben und in Bezug auf den analytischen Nutzen der Skizzeneditionen gibt es ein weiteres Thema, das kontrovers diskutiert wird. In den 1970er Jahren wurde darüber gestritten, ob Beethovens Skizzen und Entwürfe nutzbringend herangezogen werden können, um das Verständnis abgeschlossener Kompositionen zu vertiefen. Philipp Gossett nannte drei besondere Wege, um Skizzen für analytische Fragestellungen zu nutzen: The first category is “confirmatory”: sketches provide evidence for compositional intent with respect to relationships perfectly obvious to us before. […] A second category is “suggestive”: sketches provide evidence for compositional intent with respect to relationships which, while present, we may have overlooked or undervalued. […] A third category is “conceptual”: sketches provide evidence for compositional intent behind relationships which seem remote in the piece.37
Vier Jahre nach diesem Statement hielt Douglas Johnson die ersten beiden Wege für unnötig und den dritten sogar für gefährlich, weil eine „versteckte Intention“ geeignet sei, den Willen des Komponisten in Frage zu stellen. Die Debatte war lang und die Frage nach dem analytischen Nutzen der Skizzen verkehrte sich bald in eine Grundsatzfrage nach Sinn, Zweck und Notwendigkeit der Skizzenforschung.38 Kerman gab darauf folgende Antwort: It is worth stressing that the consensus among commentators who have considered the genesis of works of art as material for analysis and criticism is thumbs down on the whole idea. Thought it is with some sense of paradox that one sees so many of the same commentators engrossed in sketch materials themselves. […] Sketch studies focus our understanding of a
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Frohlich 1991 (Anm. 34), S. 145–196. Alan Tyson, Douglas Johnson und Robert Winter: The Beethoven Sketchbooks. History – Reconstruction – Inventory. Oxford: Clarendon Press 1985. Philip Gossett: Beethoven’s Sixth Symphony: Sketches for the First Movement. In: Journal of American Musicological Society XXVII / 2, 1974, S. 261, 263, 268. Johnson 1978 (Anm. 12), S. 16. Um die ganze Debatte zu verstehen, siehe auch die Reaktionen auf diesen Beitrag von Sieghard Brandenburg (S. 270–274) und William Drabkin (S. 274–276), die folgende Stellungnahme von Douglas Johnson (S. 276–279) sowie Sieghard Brandenburg: Über die Bedeutung der Skizzen Beethovens. In: Bericht über den Internationalen Beethoven-Kongress 20. Bis 23. März 1977 in Berlin. Hg. von H. Goldschmidt, K.-H. Köhler und K. Niemann. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1978, S. 39–51.
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work of art by alerting us to certain specific points about it, certain points about it that worried the composer. […] We should not leave any obvious stones unturned in this investigation, any more than we do in any other line of musicological inquiry.39
Das Problem blieb aber nach wie vor ungelöst. Es ist nicht übertrieben, hier von einer temporären Krise der Skizzenforschung zu sprechen, deren Wurzeln man wiederum in Nottebohms Forschung erkennen kann, denn er schließt in seinen theoretischen Überlegungen, wie oben dargelegt, den analytischen Nutzen der Skizzenforschung aus, leitet aber in seinen Aufsätzen durchaus analytische Befunde aus ihr ab.
Neue Wege? Nottebohms Einfluss zu reduzieren und gleichzeitig praktikable neue Alternativen zu finden, stellt sich nicht einfach dar. Nottebohms Dichotomie von „logischer Einheit“ und „physischer Einheit“ ist z. B. kaum zu ersetzen. Dabei sind Erkenntnisgrenzen deutlich festzustellen: Einerseits messen auch aktuelle Forschungen den Skizzen keinen eigenen, unabhängigen Wert bei, weil sie diese Materialien lediglich als provisorische Zwischen- und Vorstufen vollendeter Komposition betrachten, andererseits nähren sie die verwirrende Illusion, dass aus einem Skizzenheft, dessen Nutzung sich zeitlich abgrenzen lässt, auch der Schaffensprozess dieses Zeitraums vollständig und in klarer Chronologie erfasst werden kann. Schon die einseitige Festlegung auf eine von beiden Untersuchungsperspektiven lenkt vom Verstehen der Schaffensweise Beethovens ab. Die gegenwärtige Forschungspraxis lässt zwei Richtungen erkennen, die sich als fruchtbar erweisen könnten. Ein Versuch, die Differenz zwischen den Perspektiven der „logischen Einheit“ und der „physischen Einheit“ zu überbrücken, wurde 2003 von William Kinderman unternommen. In seiner Ausgabe des Skizzenbuchs Artaria 195 bietet er zwei erklärende Tabellen:40 die erste setzt das Skizzenbuch mit einer begrenzten QuellenGruppe in Verbindung, in der dieselben Werke skizziert sind. Die zweite Tabelle enthält eine vollständigere Liste dieser korrelierenden Quellen und kann, wie Kinderman selbst hervorhebt, als „basic list“ verstanden werden, die aufzeigt, wie viele Materialien mit einem einzelnen Skizzenbuch in Verbindung stehen. Beide Tabellen zeigen, wie und warum die Dichotomie der beiden Perspektiven Nottebohms überschritten werden sollte. Sie zeigen aber auch, wie schwer dieses Ziel in der Praxis einzulösen ist. Die Probleme bestehen vor allem in der graphischen Darstellung dieses QuellenNetzes: je mehr Quellen damit verbunden sind, desto labyrinthischer werden solche Tabellen. Die von Kinderman vorgeschlagene Lösung ist hilfreich und zeigt eine Richtung, die man zukünftig nicht mehr außer Acht lassen kann. In approaching Beethoven’s creative process, we would do well to extend the effort toward historical reconstruction that is embodied in The Beethoven Sketchbook. On the basis of what is now known about the inventory of the sources, the paper types, and the structures of Beethoven’s various manuscripts, it has become feasible to place a single chosen document
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Joseph Kerman: Sketch Studies. In: 19th-Century Music VI/2, 1982, S. 177, 179. Kinderman 2003 (Anm. 2), Bd. I, S. 13–14.
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– such as A 195 – into an astonishingly rich context. […] These sources allow us to reconstruct aspects of Beethoven’s creative activity and occasionally offer vivid glimpse of his personal life and his attitudes toward projects and colleagues. The presence of several different compositional formats – portable pocket sketchbooks and loose sketchleaves as well as the main sketchbook and various autograph scores – is especially revealing.41
Die Frage nach dem Nutzen der Skizzeneditionen und die Möglichkeit, etwas über Beethovens Schaffensweise und Biographie durch Skizzen-Analyse zu gewinnen, tauchen nun nochmals auf. Einige Präzedenzfälle zeigen, wie stark das Interesse für Beethovens Schaffensweise schon vor Kindermans Ausgabe war. Sieghard Brandenburg, der u. a. das Keßlersche-Skizzenbuch edierte,42 bemühte sich umsichtig, die Aufgabe der überlappenden Schreib-Schichten (Varianten und Korrekturen) befriedigend zu lösen, d. h., er bemühte sich um das Problem, wie man die dem Schreibprozess innewohnende zeitliche Dimension editorisch angemessen darstellen kann. Der Frage stellte sich bereits Kerman, als er die verschiedenen Schichten der Skizzen in seinen Übertragungen trennte. Brandenburg entwickelte die Darstellungsweise weiter und setzte sie als erster sehr konsequent um. Damit schlug er eine neue Richtung ein, die wiederum zu neuen Kompromissen nötigte.43 Die Idee, verschiedene, sich überlappende Schichten editorisch voneinander zu trennen, eröffnete nicht nur die Möglichkeit, eine gewisse Zeitlichkeit der Textentstehung wiederzugeben, sondern verursachte auch neue Probleme, die ebenfalls mit den graphischen (bzw. drucktechnischen) Darstellungsmöglichkeiten verbunden sind und die bis heute keine überzeugende Lösung gefunden haben.44 Die Auswirkungen von Brandenburgs Editionspraxis bleiben unmittelbar sichtbar, weil nun keine Transkription mehr vorgenommen werden konnte, ohne die Varianten-Schichten zu trennen. Diese neue Aufmerksamkeit hinsichtlich der Schaffensweise – die Nottebohm für vernachlässigbar, weil sekundär hielt – ist nicht überraschend, denn ähnliche Fragen wurden inzwischen in der Literaturwissenschaft geprüft und entwickelt. Die Wendung, die in diesem Bereich seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts vollzogen wurde und als Durchgang von „Manuscript studies“ hin zur „critique génétique“ definiert wird,45 hat einige Prioritäten in Form von Gegensatzpaaren formuliert: Die der Produktion gegenüber dem Produkt, des Schreibens gegenüber dem Geschriebenen, der Textualisierung gegenüber dem Text, des Vielfältigkeit gegenüber dem Einzigartigen, des Möglichen gegenüber dem Abgeschlossenen, des Virtuellen gegenüber dem ne varietur,
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Kinderman 2003 (Anm. 2), Bd. I, S. 11–12. Brandenburg 1976–1978 (Anm. 2). Siehe hierzu Sieghard Brandenburg: Ludwig van Beethoven Sechs Bagatellen für Klavier, op. 126: Faksimile der Handschriften und der Originalausgabe mit einem Kommentar. Bonn 1984 (3. Reihe Ausgewählte Handschriften in Faksimile-Ausgabe, Bd.4), S. 22. Beispielsweise verändert die Hinzufügung zusätzlicher Notenzeilen zwecks separater Darstellung geschichteter Lesarten die Topographie von Beethovens Notaten, wobei auch andere metatextliche Botschaften (Untersatz, Überschreibungszusammenhänge etc.) verloren gehen. Daniel Ferrer und Michael Groden: Introduction: A Genesis of French Genetic Criticism. In: Genetic Criticism: Textes and Avant-textes. Hg. von Jed Deppman, Daniel Ferrer, Michael Groden. Philadelphia 2004, S. 36–68.
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des Dynamischen gegenüber dem Statischen, des Vollbringens gegenüber dem Vollbrachten, der Genese gegenüber der Struktur, der Äußerung gegenüber der Aussage, der bewegenden Kraft des Schreibens gegenüber der festgefrorenen Form des Gedruckten.46
Den epistemologischen Zielen der „critique génétique“ und ihrer möglichen Anwendung im Bereich der musikalischen Skizzenforschung widmete sich in jüngerer Zeit Bernhard R. Appel. Er formulierte einige für die Musikwissenschaft erstrebenswerte Ziele: 1) Eine komparatistisch betriebene Schreibforschung diente vor allem der Entmythologisierung kompositorischer Schaffensprozesse. Auch wenn wir es ungern eingestehen, bestimmen insgeheim Mythologeme populäre musikgeschichtliche Vorstellungen. […] 2) Eine systematische, d. h. eine historisch und personell übergreifend betriebene Schreibforschung würde skripturale Konstanten und individuelle Schaffensweisen herausarbeiten und gleichzeitig eine Terminologie zur Analyse von Handschriften bereitstellen, welche den komparatistischen Diskurs über die Schaffensweise einzelner Musikpersönlichkeiten erlaubte. […] 3) „Wer den Künstler erforschen will, besuche ihn in seiner Werkstatt.“ Diskursfähiges Verstehen von Musik bedeutet, wissen, wie Musik gemacht ist. […] Die prozessorientierte Schreibforschung vermag das aufzuhellen, was die produktorientierte Werkedition verdunkelt […]. 4) Aus einer systematischen Schreibforschung resultierte ein neuer Ansatz für eine Kompositionsgeschichtsschreibung, in der die Poiesis, die konkrete Denk- und Schreibhandlung, die Entwicklungslinien vorgäbe […]. 6) Auch die Geschichte der Notation könnte unter dem Aspekt des Schreibens auf neue Weise betrieben werden. […] 7) Umgekehrt wäre die Notation als kategoriale Formung kompositorischen Denkens zu befragen, denn komponierendes Schreiben findet innerhalb historisch vorfindlicher Notationssysteme statt, woraus folgt, dass das System selbst Schreiben und Denken lenkt.47
Hier wird deutlich, dass das Thema „Schaffensweise“, obwohl es bereits seit ca. 1869 reflektiert und von zahlreichen Forschern behandelt wurde, nach wie vor ein offenes Thema ist. Zukünftige Skizzeneditionen werden sich mit den genannten Problemen auseinandersetzen müssen.48
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Almuth Grésillon: Was ist Textgenetik? In: Schreiben: Prozesse, Prozeduren und Produkte. Hg. von Jürgen Baurmann und Rüdiger Weingarten. Opladen 1995, S. 288. Bernhard R. Appel: Über die allmähliche Verfertigung musikalischer Gedanken beim Schreiben. In: Die Musikforschung 56/4, 2003, S. 364–365. Die Verfasserin arbeitet derzeit im Beethoven-Haus Bonn, gefördert durch ein Post-doc-Stipendium der Alexander von Humboldt Stiftung, an einer historisch-kritische Edition von Ludwig van Beethovens sog. Scheide-Skizzenbuch. Die auf Vorarbeiten von Dagmar von Busch-Weise gestützte Edition soll in der Reihe „Beethoven. Skizzen und Entwürfe“ des Verlags Beethoven-Haus erscheinen. Neue Forschungsimpulse für die Beethoven-Skizzenforschung sind von dem 2014 begonnenen Projekt „Beethovens Werkstatt: Genetische Textkritik und Digitale Edition“ zu erwarten. Das von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz geförderte Forschungsvorhaben ist eine Kooperation des Beethoven-Hauses Bonn mit der Universität Detmold/Paderborn.
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Franz Kafkas Process-Konvolute als autoreflexiver Schreib-Prozess Ein Promotionsprojekt basierend auf dem Studium der historisch-kritischen Faksimile-Ausgabe (FKA)
Franz Kafkas im August 1914 begonnener und im Januar 1915 endgültig für gescheitert erklärter Versuch, einen episodischen, den Gattungsprinzipien des Romans verwandten Prosatext unter dem Titel Der Process zu verfassen, gehört zu den meistuntersuchten Gegenständen der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft. Zahlreiche Interpreten haben – dem Paradigma der theologischen Allegorese Max Brods, des Nachlassverwalters Kafkas und Erstherausgebers des Process-Textes, folgend – dem Process ein in sich geschlossenes Sinnangebot zu entlocken versucht. Dass ein solches Unterfangen in einer Prosa, deren Widerspenstigkeit gegen ihre eigene hermeneutische Auslegung bereits an der Textoberfläche evident wird, letztlich zum Scheitern verurteilt ist, ist durch Walter Benjamin früh vorweggenommen und von den verschiedenen Schulen der hermeneutikkritischen Kafka-Forschung hinreichend aufgezeigt worden.1 Doch auch den VertreterInnen dieses Lagers lag, sofern ihnen der Zugang zu den Original-Manuskripten verwehrt war, Der Process jahrzehntelang als in sich geschlossener „Roman“ mit einer festen Textgestalt, einem Anfang, einem Ende, und einem vom Autor scheinbar intentional geplanten und verfolgten Handlungsablauf vor. Den Blick für den fragmentarischen Charakter des Romanansatzes und die einzigartige Melange aus Unergründlichkeit und teilweiser Nachvollziehbarkeit des historischen Entstehungsprozesses hat erst die in den 80er-Jahren entstandene kritische Kafka-Ausgabe Malcolm Pasleys (KKA)2 ernst genommen, ohne jedoch allzu konsequente editorische Schlüsse daraus zu ziehen. So bleibt es dem von Roland Reuß besorgten, 1997 erschienenen „Gegenprojekt“ der historisch-kritischen Franz KafkaAusgabe (FKA)3 vorbehalten, die von Kafka hinterlassenen Process-Manuskripte als Faksimiledrucke mit diplomatischer Umschrift einsichtig zu machen und so detaillierte Einblicke in den Entstehungsprozess des Textkonvoluts zu ermöglichen. Dies eröffnet vor allem einer textgenetisch orientierten Literaturwissenschaft, die betont, dass Kafka „weniger am Endprodukt der literarischen Phantasie, dem fertigen
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Einen Überblick hierzu liefert etwa Detlef Kremer: „Kafka und die Hermeneutikkritik“, in: Bettina von Jagow und Oliver Jahraus (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 336–352. Franz Kafka: Der Proceß, hg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/M.: Fischer 1990. (Kritische Ausgabe). Ders.: [Der Prozeß] Der Process / Franz Kafka. – Faks. Ed. / hg. Von Roland Reuß. Unter Mitarb. von Peter Staengle. Basel; Frankfurt/M.: Stroemfeld 1997 (Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte) (Roter Stern) (Eine Edition des Instituts für Textkritik e.V.).
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Text, interessiert [ist] als an der ‚lebendigen‘ Bewegung der Schrift, am Schreiben“4, die Möglichkeit, neue Kafka-Lesarten zu lancieren, die sich daran messen lassen können und wollen, inwieweit sie die Voraussetzungen Kafkaschen Schreibens berücksichtigen und so der Verlockung widerstehen, seinen zumeist Fragment gebliebenen Schreibexperimenten ein in sich geschlossenes Sinnangebot entlocken zu wollen – oder genauer, ihnen ein solches Sinnangebot einzuhauchen. Den aus meiner Sicht konsequentesten Gegenentwurf zu derartigen InterpretationsIrrwegen liefert eine von Gerhard Neumann bereits 1982 für das Gesamtwerk Kafkas vorgeschlagene, von Detlef Kremer später präzisierte Lesart, die in der Selbstreferenz des Schreibens den Kerngegenstand der Texte Kafkas sieht: Demnach müsse, so Neumann, „[w]as Kafkas Texte als Vorgänge einer universellen Rechtsmaschinerie phantasieren, […] als Metapher des Schreibprozesses gelesen werden“ 5, während es in Kremers weniger „hermeneutik-verdächtigen“ Worten heißt, man müsse „auf jeder zweiten oder spätestens dritten Seite Halt machen“, wolle man alle Wegmarken zur „Selbstreferenz des Schreibens“ im Process herausarbeiten.6 Im Zuge meines Promotionsprojektes unterziehe ich dieses von Kremer in Umlauf gebrachte Desiderat erstmals einer systematischen philologischen Überprüfung und generiere aus ihm dazu folgende These: Franz Kafkas Romanansatz Der Process und das mit diesem untrennbar verwobene Konglomerat aus weiteren Erzählansätzen, Briefen, Tagebucheinträgen und Notizen aus der Process-Entstehungszeit haben die Reflexion über ihr eigenes Zustandekommen, über ihren eigenen Schreibprozess als von materiellen, instrumentellen, physischen und sozialen Begleitumständen dominierten Akt zum Kerngegenstand. Das Promotionsprojekt avisiert dabei den Nachweis dieser These in drei Schritten, wobei die ersten beiden im Rahmen dieser Tagung nur kurz angeschnitten werden sollen, ehe der dritte Arbeitsschritt – in seiner (freiwillig eingegangen) Abhängigkeit von Reuß� und Staengles Faksimile-Ausgabe – in den Fokus gerückt wird. Zuerst gilt es, den radikalen Fokus der Arbeit auf den Begriff des Schreibens angesichts der auf der Oberfläche der Textsemantik gänzlich anderen Bedeutungssphären verpflichteten Bildgewalt des Romanansatzes zu legitimieren. Hier sei etwa auf Walter Müller-Seidels wegweisende Lektüre des Kafkaschen Schreibens als für den Schreiber und Menschen Kafka einzig denkbare Form „geistige[r] Existenzgewinnung“7 verwiesen, dessen Zuordnung dieser Denkfigur „zur Signatur der Moderne“ jedoch im Zuge dieses Arbeitsschrittes relativiert wird, denn in Kafkas Aufzeichnungen meldet sich kein typischer moderner Décadent aus der Komfortzone des freiwillig erklommenen Elfenbeinturms zu Wort, sondern ein Schreiber, der Einblick in zu-
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Detlef Kremer: „Die endlose Schrift. Franz Kafka und Robert Musil“, in: Rolf Grimminer, Jurij Murasov, & Jörn Stückrath (Hg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995, S. 425–452, hier S. 439. Gerhard Neumann: „Der verschleppte Prozeß: Literarisches Schaffen zwischen Schreibstrom und Werkidol. [Zu Rechtsordnung und Schreibprozeß bei Franz Kafka]“. In: Poetica: Zeitschrift für Sprachund Literaturwissenschaft - München, [Amsterdam] – 14 (1982), S. 92–112, hier S. 96. Detlef Kremer: „Franz Kafka, Der Proceß“. In: Hans-Dieter Zimmermann: Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas Der Process. Würzburg: Königshausen & Neumann 1992, S. 185–199, hier S. 190. Walter Müller-Seidel: „Kafkas Begriff des Schreibens und die moderne Literatur“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Lili 17, 1987, Nr. 68, S. 104–121, hier S. 106.
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gleich lust- und qualvolle innere Prozesse gewährt, die eine Existenz außerhalb der Literatur, außerhalb des eigenen Schreibens, geistig wie körperlich unmöglich erscheinen lassen. Vor diesem Hintergrund erfolgt der Zugang zu den Process-Konvoluten im zweiten Arbeitsschritt über einen Abgleich der Romanepisoden mit den für den ersten Schritt so zentralen biographischen Aufzeichnungen Kafkas: Mithilfe des Intertextualitätsbegriffs, wie ihn etwa Manfred Pfister handhabbar vorgelegt hat8, zeigt die Studie unter Rückgriff und in Erweiterung der hierzu bereits angestellten Untersuchungen Malcolm Pasleys9 auf, wie ungefiltert die Begleitumstände der Romanentstehung, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis von bürgerlicher Berufs- und künstlerischer Tätigkeit, Eingang in den Romantext selbst gefunden haben. Im dritten Arbeitsschritt liegt die Aufmerksamkeit sodann auf der expliziten Thematisierung des Schreibens und seiner Begleitumstände auf der Handlungsebene des Romanansatzes. Als Kategorisierungshilfe dieser Textstellen bedient sich die Arbeit des von Martin Stingelin in Anlehnung an Rüdiger Campes ‚Schreibszene‘ geprägten Begriffs der ‚Schreib-Szene‘, welche immer dann vorliegt, wenn sich das Zusammenspiel aus Semantik, Technologie und Körperlichkeit des Schreibens „in seiner Heterogenität und Nicht-Stabilität an sich selbst aufzuhalten beginnt, thematisiert, problematisiert und reflektiert.“10 Gerade solche Textstellen finden sich in den ProcessManuskripten zuhauf, jedoch gewährt häufig erst die Faksimile-Ausgabe Einblick in die Problematisierung des Schreibens, in das Sich-Aufhalten des Schreibens an sich selbst im Romanansatz, denn vielsagende Stellen hierzu finden sich zumeist in den von Kafka gestrichenen Passagen, die in der kritischen Ausgabe Pasleys zwar schon verzeichnet sind, jedoch im komplexen Apparatband „untergehen“ und keinen intuitiven Zugriff für den literaturwissenschaftlichen „Textarbeiter“ zulassen. Wie meine Studie den Nachweis führt, dass Der Process bei aller Mannigfaltigkeit seines Sinnangebots vor allem ein Text über sein eigenes Erschreiben seitens seines Autors ist, möchte ich durch eine Beispielanalyse der ersten Manuskriptseiten des berühmten „Verhaftungs“-Kapitels demonstrieren: Das von Brod und Nachfolgern als Auftaktkapitel behandelte, ohne Einschlagblatt überlieferte Konvolut, das in der FKA unter dem Incipit „Jemand musste Josef K. verläumdet haben […]“ firmiert11, begann in seiner ursprünglichen Fassung mit einem anderslautenden zweiten Teilsatz des berühmten Auftaktsatzes: Die Ersetzung von
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Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, in: Ulrich Broich & Manfred Pfister: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Max Niemeyer 1985 (Konzepte der Sprachund Literaturwissenschaft 35), S. 1–30. Malcolm Pasley, „Der Proceß. Wie der Roman entstand“, in: Ders.: „Die Schrift ist unveränderlich …“ Essays zu Kafka. Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1995, S. 181–204, hier S. 185. Martin Stingelin: „‚Schreiben‘. Einleitung“, in: Ders. (Hg.): „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München: Wilhelm Fink 2004. (Zur Genealogie des Schreibens 1), S. 7–21, hier S. 15. Roland Reuß: „Detaillierte Beschreibung des Blattkontextes“, in: Franz Kafka: [Der Prozeß] Der Process / Franz Kafka. – Faks. Ed. / hg. von Roland Reuß. Unter Mitarb. von Peter Staengle. Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld 1997 (Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte) (Roter Stern) (Eine Edition des Instituts für Textkritik e.V.), „Jemand musste Josef K. verläumdet haben […].“, S. 103ff.
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„war […] gefangen“ zu „wurde […] verhaftet“12 entpuppt sich bei einem Blick in das Faksimile des Manuskripts deutlich als bewusster redaktioneller Eingriff, denn die mit einem geraden Strich vollführte Streichung mit in kleinerer Schrift ergänzter Neuformulierung grenzt sich klar von Spontankorrekturen ab, die sich ihrerseits – wie etwa die im Folgesatz vorzufindende, semantisch viel weniger bedeutsame Ersetzung von „Bedienerin“ durch „Köchin“13 – durch ein offenbar schnell vollführtes, zackenförmiges Durchstreichen auszeichnen. Nach Karlheinz Fingerhuth macht diese erste Ersetzung im Manuskript deutlich, „daß es dem Autor in diesem ersten Satz auf den Wechsel von Factum zu Prozeß der Verhaftung ankam“.14 Doch was hat es mit diesem Prozess auf sich, und worin bestehen konkret die „Lebens- und Überlebensfragen“, um die es offensichtlich gehen soll? Ruft man sich Kafkas Verständnis des Schreibens als Möglichkeit geistiger wie körperlicher Existenzgewinnung ins Bewusstsein, ist man geneigt, Detlef Kremer zu folgen, wenn er bemerkt, dass nicht nur Josef K. von der obskuren Gerichtsbarkeit verhaftet worden ist, sondern „der Schreiber Kafka […] allerdings auch seinem Proceß, seinem Roman verhaftet“ ist.15 Das Zusammenwirken des Wissens um Kafkas radikale Priorisierung des Schreibens mit Fingerhuths scharfer Beobachtung der semantischen Implikationen des hier diskutierten Ersetzungsvorgangs im Auftaktsatz rechtfertigt aus meiner Sicht Kremers Lesart des berühmten ersten Satzes. Schon die gleiche Manuskriptseite liefert ein weiteres Beispiel eines Ersetzungsvorgangs, der deutlich macht, wie viel Kafka offenkundig daran lag, dass es im Verhaftungs-Konvolut eben nicht primär um Fragen von Macht und Autorität gehen sollte, die das semantische Feld von Verhaftung und Anklage, in dem sich der Text bewegt, eigentlich nahelegt: So ersetzt Kafka – in der Art der Ausführung analog zur oben beschriebenen Ersetzung im ersten Satz und somit höchstwahrscheinlich als bewusste redaktionelle Änderung – das fordernd-unfreundliche „Was wollen Sie?“ des Wächters an K., nachdem dieser die Schelle in seinem Schlafraum betätigt hat, durch ein geradezu dienstbares „Sie haben geläutet?“, was der befremdlich genug anmutenden Verhaftungssituation in K.s Bett einiges an Bedrohlichkeit nimmt.16 Derartige Eingriffe treten gerade auf den ersten Seiten des Konvoluts immer wieder auf: Statt „[s]eine[r] Zimmervermieterin“ möchte Josef K. „Frau Grubach“ auf die morgendliche Störung ansprechen, was den amtlich-offiziellen Charakter der Verhaftungssituation unterminiert17; in der Sequenz, in der sich K. demonstrativ von den Wächtern losreißen will, um Frau Grubach sprechen zu können, deutet sich in einer ersten Stufe der Niederschrift durch den offenbar abgebrochenen Relativsatz „die ihn aber gar
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Franz Kafka: „Jemand musste Josef K. verläumdet haben […]“, in: Ders.: [Der Prozeß] Der Process / Franz Kafka. – Faks. Ed. / hg. von Roland Reuß. Unter Mitarb. von Peter Staengle. Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld 1997 (Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte) (Roter Stern) (Eine Edition des Instituts für Textkritik e.V.), S. 3 Ebd. Karlheinz Fingerhut: „Annäherung an Kafkas Roman ‚Der Prozeß‘ über die Handschrift und über Schreibexperimente“, in: Hans-Dieter Zimmermann (Hg.): Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas „Der Proceß“, Würzburg: Königshausen & Neumann 1992, S. 35–65, hier S. 38. Kremer 1992 (Anm. 6), S. 188. Franz Kafka 1997 (Anm. 12), S. 3 Ebd., S. 4.
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nicht“ noch eine allzu „gewollt“ daherkommende Negation der durch die Gesamtsituation anzunehmenden körperlichen Bedrohung K.s an: Die Verwendung des direkten Objekts, sprich des Personalpronomens im Akkusativ, spielt trotz, oder gerade aufgrund allzu vehementer Verneinung mithilfe der Abtönungspartikel „gar“, einen direkten, körperlichen Zugriff der Wächter auf K. zumindest als Möglichkeit durch – man denke hierbei etwa an den apologetischen, die Richtigkeit der Aussage doch stark in Zweifel ziehenden kindlichen Ausspruch „Ich war das gar nicht!“. Um aber selbst den Gedanken an diese Möglichkeit gar nicht erst in den Text einfließen zu lassen, streicht Kafka sowohl das Personalpronomen als auch die abgetönte Negationspartikel und ersetzt die gesamte Aussage durch die von vornherein weitaus neutralere Formulierung „weit von ihm entfernt“, sodass das Moment des Freiheitsentzugs durch eine eventuelle körperliche Bedrohung K.s deutlich relativiert wird.18 Stattdessen sind es rein sprachliche Mittel, hier mündlicher Natur, die K. vom Aufsuchen der Vermieterin abhalten und so in seiner Bewegungsfreiheit einschränken: Der „Mann beim Fenster“ sagt schlicht und ergreifend „Nein“.19 Durch die Abmilderung der Aussagen und des Verhaltens der Wächter als Vertreter der Gerichtsbarkeit verlieren diese durch Kafkas Ersetzungen den Charakter offizieller und in systematischer Weise bedrohlicher Verlautbarungen zugunsten einer ambivalenten Haltung zwischen Freundlichkeit und Unerbittlichkeit, welche die gesamte Anfangsszenerie des Verhaftungs-Konvoluts kennzeichnet. Hierin jedoch nur die Vermengung einer scheinbar alltäglichen Situation mit einer Atmosphäre der Undurchschaubarkeit und Absurdität zu erblicken, greift deutlich zu kurz. Denn das Manuskript kann nicht verbergen, dass mit dem merkwürdigen Verhaftungsvorgang ein Prozess initiiert wird, dessen Dynamik sich in erster Linie aus seinem eigenen Zustandekommen speist: Immer wieder säumen Schriftträger und Schreibvorgänge den Weg K.s, und nicht selten knüpfen sich daran (teils gestrichene) Reflexionen über die Umstände des Schreibens Kafkas zur Process-Zeit. So veranlasst der Anblick des Wächters, „der beim offenen Fenster mit einem Buch sass“20, K. zu folgendem Gedanken: „[E]r fühlte sich, ohne beso eigentlich besorgt gewesen zu sein, doch erleichtert, da [a]jetzt das Unmögliche ausgesprochen war und seine Unmöglichkeit desto einleuchtender wurde.“21 Diese merkwürdige Form der Erleichterung kann, auch angesichts der vorangestellten Beobachtung des Wächters mit dem Buch, nur als Ausdruck der Freude über den in Fahrt gekommenen Schreibprozess gelesen werden; schließlich gibt es erstens auf textsemantischer Ebene keinen anderen plausiblen Anlass für K., über seine Verhaftung „erleichtert“ zu sein, und zweitens spricht die K. in den Kopf (wenn schon nicht in den Mund) gelegte Erleichterung auch aus Kafkas eindrücklichem Kommentar zur Auftaktphase des Schreibens am Process, das seinem „irrsinnige[n], junggesellenmässige[n] Leben“ nach langer Zeit endlich wieder „eine Rechtfertigung“ verleihe.22 So verwundert es in der Folge kaum, dass K., da seine
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Ebd., S. 7. Ebd. Ebd. Ebd., S. 8. Franz Kafka: Tagebücher, hg. von Max Brod. Frankfurt/M.: Fischer 1965, S. 422.
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Freiheit zur Disposition steht, ausgerechnet „die Schubladen seines des Schreibtisch auf[reißt]“, um dort die „Legitimationspapiere“ zu suchen und mit diese den Wächtern seine Aufwartung zu machen, in der Hoffnung, dass dies rasch Aufklärung in seinen Fall bringen könnte – doch vergebens: Mit dem Verweis auf ihren niedrigen Status innerhalb der Gerichtsbehörde wehren die Wächter jeden Diskussionsversuch K.s ab, sodass dieser „mit seinen Papieren in der Mitte des Zimmers“ wie entblößt vor einem Tribunal steht, dass für seine Rechtfertigungsversuche zunächst nur ein Schulterzucken übrig hat23 – das gleiche Schulterzucken, mit dem Kafka seine persönlichen „Legitimationspapiere“, sprich seine Process-Manuskripte, für sein Lebtag in der Schreibtischschublade belassen sollte. Franz Kafkas redaktionelle Eingriffe in das Auftaktmanuskript zu seinem Romanversuch – das haben meine Beispielanalysen aufzeigen können – offenbaren eine Doppelstrategie des Autors im Umgang mit dem Sujet des Schreibens: Einerseits nimmt er Streichungen vor, die dem Geschehen rund um Josef K.s frisch in Gang gekommenen Prozess den Charakter einer unmittelbar bedrohlichen Verhaftungssituation nehmen und so den Text für andere Bedeutungssphären wie etwa die Schreibprozessreflexion öffnen; letztere tritt dann auch rasch in den Vordergrund, wenn Schriftstücke geradezu leitmotivisch die Beschreibungen der Figuren und Örtlichkeiten flankieren. Andererseits streicht Kafka jedoch solche Passagen, die mit Blick auf die Autoreflexion des Schreibens allzu „verräterisch“ daherkommen, so etwa den Verweis auf Josef K.s obskures Erleichterungsgefühl angesichts seiner Verhaftung. Doch gerade diese Streichungen bezeugen, welchen Stellenwert diese Autoreflexion des Schreibens für den Romanversuch innehat. Sie ist – und das offenbart erst ein Studium der historisch-kritischen Faksimileausgabe mit ihrem raschen Zugriff auf alle noch erkennbaren Textstufen – bei aller Anerkennung der weiteren Bedeutungsangebote, die hermeneutische und rezeptionsästhetische Lektüren dem Text abzugewinnen vermögen, ihr Kerngegenstand.
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Franz Kafka 1997 (Anm. 12), S. 15f.
Simone Schultz-Balluff
Kreatives Schreiben im Mittelalter – editorische Herausforderung heute Zum Umgang mit Varianten im Editionsprozess am Beispiel von St. Anselmi Fragen an Maria
Einleitung Überlieferungsvarianten werden im Rahmen einer kritischen Edition in Buchform meist mit dem Ziel erfasst, den Apparat lesbar zu halten und ihn nicht zu überlasten. Bei den verzeichneten Abweichungen handelt es sich um sinnrelevante Lesarten, syntaktische Abweichungen, umfangsverändernde und lexikalische Varianten, zusammenfassend also um „signifikante Varianten“.1 Nicht berücksichtigt werden i.d.R. „lautliche und geringfügige morphologische Varianten [...] sowie nicht signifikante Verschreibungen“2, rein graphische Varianten sowie schreibsprachliche Besonderheiten (also Varietäten).3 Die Maßstäbe zur Entscheidung über die Aufnahme in den Apparat sind Signifikanz, Bedeutung, Relevanz. Mit Blick auf eine lesbare kritische Edition ist ein solches Vorgehen unbedingt notwendig und so, wie Elisabeth Lienert und Gertrud Beck es in der Textausgabe von Dietrichs Flucht dokumentieren, äußerst transparent und nachvollziehbar. Die Editionswissenschaft versteht unter ‚Varianten‘ die in einzelnen Überlieferungszeugen eines Textes vorkommenden Abweichungen; dies deckt sich mit der linguistischen Auffassung, dass es sich bei Varianz um eine Abweichung von der Norm handelt. Während in Editionen Varianten lediglich erfasst werden, wollen sprachwissenschaftliche Ansätze diese systematisieren und erklären. Die Untersuchung von Varianz basiert auf der Annahme, dass die sprachliche Äußerung etwas ist, „das immer mannigfaltiger wird, ohne ein Einheitlichkeit garantierendes Zentrum“.4 Varianten als einen bewusst flexiblen Umgang mit sprachlichen Elementen in spezifischen Funktionen und Interaktionen zu sehen, öffnet den Zugriff über handlungstheoretische wie auch kognitivistische Ansätze. Vor diesem Hintergrund erscheinen das Bestreben der klassischen Editionsphilologie, einen lesbaren Text unter Verweis auf Varianten zu bieten, und das Ziel der historischen Sprachwissenschaft, eine jede Abweichung zu –––––––— 1
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Als Beispiel ist hier mit ‚Dietrichs Flucht‘ die erste Textausgabe der Reihe ‚Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik‘ gewählt: Elisabeth Lienert/Gertrud Beck (Hgg.): Dietrichs Flucht. Textgeschichtliche Ausgabe. Tübingen 2003, S. XXVf. Lienert/Beck 2003 (Anm. 1), S. XXVI. Lienert/Beck 2003 (Anm. 1), S. XXVII. Beate Henn-Memmesheimer: Sprachliche Varianz als Ergebnis von Handlungswahl. Tübingen 1998, S.XIf. Der Beitragsband widmet sich gegenwartsdeutschen sprachlichen Variationen bzw. Varietäten, die theoretische Grundlegung bietet einen soliden, auf historische Phänomene übertragbaren Ansatz, vgl. ausführlicher ebd., S. VII–XVII.
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dokumentieren und in Erklärungszusammenhänge bringen zu wollen, als zwei gegensätzliche Pole. Hier möchten die folgenden Überlegungen ansetzen, davon ausgehend, dass eine Bewertung von Varianten im Sinne überholter Varianztheorie als lediglich „funktional äquivalente sprachliche Alternativen“5 auch im Hinblick auf Editionen als veraltet angesehen werden muss. Motiviert von Andrea Hofmeister-Winters Konzept der ‚Dynamischen Edition‘ soll hier ein Brückenschlag versucht werden, der nicht nur editorische und sprachhistorische, sondern auch insgesamt philologische sowie kulturhistorische Interessensgebiete vereint: Das Konzept einer ‚Dynamischen Edition‘ geht aus von der Idee, dass es doch möglich sein müsse, im Rahmen der Editionsaufgabe nicht nur das Endergebnis (in der Regel einen in irgendeiner Weise graphisch standardisierten und textkritisch bearbeiteten Drucktext) zu präsentieren, sondern auch die vorgelagerten Zwischenschritte von der Entzifferung der Handschrift bis zur Lesetextfassung zu dokumentieren und damit der Forschung für Spezialuntersuchungen zur Verfügung zu stellen.6
Hofmeister-Winter wünscht sich aktuell eine Basis für ‚Spezialuntersuchungen‘, deren Ausrichtung vielfältig sein kann, aber eines ist hinlänglich bekannt: In Editionen finden sprachhistorisch Interessierte kaum eine angemessene Basis für Untersuchungen.7 Im vorliegenden Beitrag werden – nach einer kurzen Einführung in das zugrunde liegende Textmaterial – ausgewählte Ebenen von Varianz am Beispiel der Gesamtüberlieferung des bislang nur in Ansätzen erforschten spätmittelalterlichen Passionsdialogs St. Anselmi Fragen an Maria vorgestellt, um einen Einblick in die Textsituation zu geben. Daran schließen sich die Skizzierung der Erfassung der Textdynamik mittels unterschiedlicher Annotationsebenen sowie Überlegungen zu möglichen Editionsformen an. Am Beispiel der ‚philologischen Distanzmessung‘ wird dann ein Mehrwert der systematischen Auszeichnung von Varianten (im Sinn einer ‚Spezialuntersuchung‘) vorgestellt: Unter Zuhilfenahme des ‚Taggings‘ von ‚Keywords‘ sollen Erkenntnisse über die Textzusammenhänge und mögliche Überlieferungsgruppen möglich werden. Abschließend erfolgen Überlegungen zur Rolle und Position des Edierens im Rahmen komplexer Texterfassung.
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Beate Henn-Memmesheimer 1998 (Anm. 5), Text auf dem Buchrücken. Jede Variante sollte ernst genommen werden: „Varianz im Kontext von Handlungswahl heißt also: auf der Äußerungsebene das andere sagen, eine neue Verwendung initiieren oder aufnehmen und damit auf der Makroebene den Wandel, die neue Unterscheidung initiieren oder zu ihrer Etablierung beitragen.“ (ebd., S. XI). Andrea Hofmeister-Winter: Alte Bits in neuen Codes: Gedanken zur Weiterentwicklung der ‚Grazer dynamischen Editionsmethode‘ am Beispiel eines Editionsprojektes in Fortsetzungen. In: Anne Bohnenkamp: Medienwandel/Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Berlin/Boston 2013, S. 193–206, hier S. 192 (Beihefte zu editio 35). Klaus-Peter Wegera: Grundlagenprobleme einer mittelhochdeutschen Grammatik. In: Werner Besch u.a. (Hgg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2., vollst. überarb. u. erw. Auflage. Berlin/New York 2000, S. 1304–1320.
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Ein Glücksfall?! – St. Anselmi Fragen an Maria Mit dem einzigen deutschsprachigen Passionsdialog des Mittelalters St. Anselmi Fragen an Maria (auch Interrogatio Sancti Anselmi de Passione Domini; im Folgenden St. Anselm) liegt, so möchte man meinen, ein einmaliger Glücksfall mittelalterlicher Textüberlieferung vor: Die (derzeitig bekannte) Überlieferung umfasst 199 Handschriften und 33 Drucke in lateinischer (162), deutscher (65), niederländischer (4) und englischer (1) Sprache vom 14.–16. Jahrhundert und macht den Text zu einem der am reichsten überlieferten religiösen Texte des Spätmittelalters.8 Die volkssprachige Überlieferung der 65 deutschsprachigen und der 5 niederländischen Textzeugen sowie der mittelenglischen Handschrift beginnt im frühen 14. Jahrhundert und endet in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts.9 Der Erhaltungszustand ist recht hoch: 48 Handschriften und 9 Drucke überliefern den Text vollständig, 10 Handschriften und 2 Drucke fragmentarisch. Aus der Fülle der die Passion beschreibenden Texte aus der Reformzeit bzw. der vorreformatorischen Zeit sticht St. Anselm deshalb besonders hervor, da hier versucht wird, die Zentralstellung Marias und die außerordentliche Betonung ihres Leids zu regulieren:10 Dem inbrünstig bittenden und betenden Anselm von Canterbury erscheint schließlich die Gottesmutter Maria und durch gezieltes Fragenstellen lenkt er den Blick auf das Passionsgeschehen. Anselm befragt Maria zu den Geschehnissen der Passion und vertraut dabei ihrer Augenzeugenschaft. Marias Bericht beginnt mit dem letzten Abendmahl und dem Verrat durch Judas und endet – je nach Fassung – mit der Auferstehung Jesu und seiner Erscheinung bei Maria oder der Rache durch Titus und Vespasian 40 Jahre später. Der Text liegt in zwei unterschiedlichen Typen vor: in einer Vers- und einer Prosaversion,11 deren formale und inhaltliche Gestaltung sich deutlich voneinander unter–––––––— 8
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Stand der Zahlen: August 2014. Vgl. hierzu ausführlicher Simone Schultz-Balluff/Stefanie Dipper: ‚St. Anselmi Fragen an Maria‘ – Schritte zu einer (digitalen) Erschließung, Auswertung und Edition der gesamten deutschsprachigen Überlieferung (14.–16. Jh.). In: Anne Bohnenkamp-Renken (Hg.): Medienwandel und Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Berlin/New York 2013, S. 173–191 (Beihefte zu editio 35); aktuell Klaus-Peter Wegera: Interrogatio Sancti Anselmi de Passione Domini, deutsch. Überlieferung – Edition – Perspektiven der Auswertung. Veröffentlichungen der NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Paderborn 2014. 14. Jahrhundert: 13 deutschsprachige und 1 mittelniederländische Handschrift; 15. Jahrhundert: 39 deutsche, 2 mittelniederländische und 1 mittelenglische Handschrift, 5 deutschsprachige Drucke; 16. Jahrhundert: 3 deutschsprachige Handschriften, 5 deutschsprachige und 1 mittelniederländischer Druck. Seit dem Hochmittelalter werden das unglaubliche Leiden und der unermessliche Schmerz der Gottesmutter Maria über die Marter und die Leiden Jesu literarisch dahingehend verarbeitet, dass die Figur Marias letztlich zentral im Fokus steht. So findet die Ausformung ihres Leidens als Mutter in Marienklagen, Passionstraktaten, Marienleben und Passionsspielen ihren literarischen Raum. Diese Zentralstellung bleibt nicht unkritisiert, was letztlich mit der Reformation darin mündet, die Marienverehrung und damit die Tradierung entsprechender Texte weitgehend aufzugeben. Vgl. hierzu die Fallstudie zum Wolfenbütteler Rapiarium Cod. Guelf. Helmst. 1082, Simone Schultz-Balluff: Auf dem Wandbord einer Nonne – Ein Passionstraktat in täglichem Gebrauch. In: Britta-Juliane Kruse (Hg.): Rosenkränze und Seelengärten. Bildung und Frömmigkeit in niedersächsischen Frauenklöstern (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 95).. Wiesbaden 2013, S. 147–155. Die Terminologie wird seit langem in der Textphilologie debattiert, mit Blick auf die spezielle Form spätmittelalterlicher geistlicher Literatur wird hier noch eine Diskussion erfolgen müssen; vgl. grundlegend Joachim Bumke: Der unfeste Text. Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): Aufführung und Schrift in Mittelalter und
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scheidet. Die weit häufigere Prosaversion (55 Texte) lässt sich weiter in unterschiedliche Fassungen differenzieren (lange, mittlere und kurze Prosafassung), die schließlich Redaktionen zeigen. Bei den Versbearbeitungen (15 Texte), die homogener sind und formbedingt dichter beieinander liegen, sind eine Handschriftenfassung und eine Druckfassung mit je zwei Redaktionen anzunehmen. Die buchstäbliche Wiederentdeckung des zu einem nicht abgeschlossenen Dissertationsprojektes der späten 1970er Jahre gehörenden Materials12 und das Neu- und Wieder-Auffinden von Textzeugen konfrontierte das auch auf eine Edition (digital wie in Buchform) hinarbeitende Projekt13 mit Tatsachen, auf die Tobias Kemper längst verwies: Die lateinische wie die volkssprachige Passionsliteratur des hohen und späten Mittelalters aber ist weithin – von wenigen Ausnahmen angesehen – noch immer eine terra incognita. Zahlreiche Texte liegen entweder nur in völlig unzureichenden Editionen vor oder sind bislang überhaupt nicht im Druck zugänglich, ihre Überlieferung ist nicht hinreichend erfaßt und aufgearbeitet, und häufig fehlen selbst fundamentale Informationen zu ihrer Datierung, Verbreitung und ihren Autoren.14
Die die Passion beschreibenden Texte sind überwiegend greifbar „in unkritischen Ausgaben des 19. Jahrhunderts nach frühneuzeitlichen Vorlagen – oder bislang überhaupt nicht ediert [...]“15 – ein Zustand, der sich nicht geändert hat und 2010 von Sabine Griese bestätigt wird, wenn sie darauf hinweist, dass „die Passions-Texte selbst erst annähernd gesichtet, kaum in wissenschaftlichen Textausgaben zur Verfügung gestellt“ sind.16 Im 19. Jahrhundert wird St. Anselm drei Mal ediert, dann 1943 und 1982 – jeweils liegen einzelne Textträger zugrunde.17 In keinem dieser Fälle wurde eine kritische –––––––—
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Früher Neuzeit. Stuttgart/Weimar 1996, S. 118–129, Hans-Jochen Schiewer: Fassung, Bearbeitung, Version und Edition. In: Martin J. Schubert (Hg.): Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.–3. April 2004. Tübingen 2005, S. 35–50, Ralf-Henning Steinmetz: Bearbeitungstypen in der Literatur des Mittelalters. Vorschläge für eine Klärung der Begriffe. In: Elizabeth A. Andersen (Hg.): Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 2005, S. 1–64 (Trends in Medieval Philology 7). Detmar Grubert sammelte Kopien der ihm bekannten und zugänglichen Handschriften und Drucke und hatte bereits mit der Auswertung begonnen. Das unveröffentlichte Material steht zur Verfügung und diente als Basis für die Ausarbeitung des nun von der DFG geförderten Projektes [vgl. Anm. 14]. Seit 2010 wird das Projekt „St. Anselmi Fragen an Maria – (digitale) Erschließung, Auswertung und Edition der gesamten deutschsprachigen Überlieferung (14.–16. Jh.)“ von der DFG gefördert (Förderzeichen SCHU 2524/2-1 und 2524/2-2) und unter der Leitung von Simone Schultz-Balluff und KlausPeter Wegera an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt. Tobias A. Kemper: Die Kreuzigung Christi. Motivgeschichtliche Studien zu lateinischen und deutschen Passionstraktaten des Spätmittelalters. Tübingen 2006, (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 131), hier S. 6f. Tobias A. Kemper 2006 (Anm. 14), S. 52. Sabine Griese: „Regularien“. Wahrnehmungslenkung im sogenannten Leben Jesu der Schwester Regula. In: Carla Dauven-van Knippenberg/Cornelia Herberichs/Christian Kiening (Hgg.): Medialität des Heils im späten Mittelalter. Zürich 2010, S. 297–316 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 10), hier S. 297. 1854 ediert Oskar Schade einen Kölner Druck (N1514), 1869 ediert August Lübben eine nddt. Handschrift (O), 1890 ediert Christoph Walther einen Lübecker Druck (HA1521), 1943 ediert Käthe Zeller eine nddt. Handschrift (Wo) und 1982 ediert Drahoslava Cepkova eine omd. Handschrift (D3). Fragmente und Textproben werden durchgängig verzeichnet und auch ediert.
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Edition angestrebt, sodass für ein geplantes Editionsvorhaben gewissermaßen ganz von vorn begonnen werden muss. Die auffällig variierende Textlänge von 4.500 bis 9.000 Wortformen verpflichtet geradezu, im Sinne einer „überlieferungs- und textorientierte[n] Textkritik“18, alle Textzeugen zu berücksichtigen und auszuwerten, denn – so Thomas Bein (mit Verweis auf Karl Lachmann): „Das ‚Kritische‘ des editorischen Tuns besteht u. a. im wohlüberlegten Sortieren der Textzeugen (Handschriften), in der Gruppierung von Handschriften, in ihrer Hierarchisierung, in der Erstellung eines Stemmas [...].“19 Diese einzelnen Schritte – Sortieren, Gruppieren, Hierarchisieren – stehen im Zentrum der folgenden Ausführungen und sollen ausgehend von der Erfassung von Varianten exemplarisch vorgeführt werden.
Arten von Varianten: lexematisch – syntaktisch – inhaltlich Die für die sog. ‚Gebrauchsprosa‘ angenommene Offenheit, die Volker Mertens als Texte unterwegs20 beschreibt, trifft auch auf Texte mit erbaulicher Intention und damit ebenfalls auf St. Anselm zu; diese Offenheit schlägt sich in den Varianten nieder. Auf die Forderung, „[d]er Philologe [...] muß die begegnenden Varianten zu systematisieren versuchen“,21 folgt zwingend 1. das Bestimmen von geeigneten Kategorien zur Systematisierung der Varianz und 2. das Festlegen von Bewertungsmaßstäben für eine Hierarchisierung mit Blick u. a. auf die Edition(sform). Es sind die inhaltliche, die sprachliche (d. h. lexematische, syntaktische, graphematische, morphologische) und die dialektale Varianz (Varietätenreichtum), die die Gestaltung des Variantenapparates und den Umgang mit Varianz allgemein als Herausforderung erscheinen lassen, denn „mit der Varianz in rechter Weise umzugehen, stellt vielleicht das entscheidende, grundlegende Problem aller (mediävistischer) Editionswissenschaft dar“.22 Varianten dieser drei Varianzbereiche können als Marker für Kreativität und Ausdruck einer bewussten Arbeit mit und am Text gelten,23 die bei der Erfassung, Aufbereitung und Weiterverarbeitung des Textmaterials (u. a. in Editionen) Berücksichtigung finden sollten. –––––––—
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Thomas Bein: Die mediävistische Edition und ihre Methoden. In: Rüdiger Nutt-Kofoth/Bodo Plachta/H.T.M. van Vliet/Hermann Zwerschina (Hg.): Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Berlin 2000, S. 81–98, hier S. 81. Ich greife hier bewusst auf eine etwas ältere Publikation zurück, die noch vor den Überlegungen zu digitalen Editionen (auf diese sei hier nur indirekt verwiesen) steht, um noch einmal die Grundsätze des Edierens – und zwar angefangen bei Überlegungen zum Umgang mit Varianz – unabhängig von der avisierten Editionsform vor Augen zu führen. Bein 2000 (Anm. 19), S. 81. Volker Mertens: „Texte unterwegs“. Zu Funktions- und Textdynamik mittelalterlicher Predigten und den Konsequenzen für ihre Edition. In: Danielle Buschinger/Wolfgang Spiewok: Mittelalterforschung und Edition. Actes du Colloque Oberhinrichshagen bei Greifswald 29 et 30 Octobre 1990. Amiens 1991, S. 75–85. Bein 2000 (Anm. 19), S. 89. Bein 2000 (Anm. 19), S. 89. Zum Spracharbeitsbegriff vgl. Klaus-Peter Wegera: ‚Spracharbeit‘ im Mittelalter. Veröffentlichungen der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Paderborn 2011; hier sei verwiesen auf: Eckart C. Lutz (Hg.): Finden – Gestalten – Vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Berlin 2012 (Wolfram-Studien XXII).
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Neben den i.d.R. an einem Lexem ablesbaren Varianten (graphisch, morphologisch, lexematisch), beziehen sich die inhaltliche und die syntaktische Varianz auf größere Texteinheiten. Im Folgenden werden die für St. Anselm besonders markanten Formen der lexematischen, syntaktischen und inhaltlichen Varianz an Beispielen24 gezeigt. Dabei ist die Varianz der Prosatexte größer als die der Verstexte (dennoch ist die Varianz der Verstexte höher als bislang angenommen). Das Beispiel für die lexematische Varianz ist den Verstexten entnommen; es handelt sich um die erste Ansprache Anselms an Maria, in der Maria als ‚blühende Rose‘, ‚Lilie‘, ‚Zeitlose‘ und als ‚Gottes Balsamschrein‘ angesprochen wird. Der Zusatz von mnddt. dure ‚teuer‘, Adj. zu Balsamschrein, findet sich in vier Handschriften, die zeitlich (2. Hälfte 14. bis Ende 15. Jh.) wie sprachräumlich recht weit gestreut sind:25 he �prak ma�ia blugende ro�e lilia vn� czelho�e gode� dure bal�em �crin (D2, 67v,21–23)
Der beständige Gebrauch von dure in der Mehrzahl der Texte kann als ein Hinweis auf denselben Zweig der Überlieferung gelesen werden. Markant ist der zusammen mit D2 in einer geistlichen Sammelhandschrift26 überlieferte Text D, der eine deutliche Abweichung zeigt: he �prak ma�ia bloyende ro�e. lylia vn� tzetheloze Ghodes derne bal�eme �chr��n (D, 2r,9–11)
Das Adj. dure ist der mnddt. Nominalform dern(e) gewichen. Der Wortartwechsel führt dazu, dass sich eine Lesart als Aufzählung ergibt: ‚Gottes Tochter‘, ‚Balsamschrein‘. Während der frühere Lübecker Druck von 1495 die gleiche Form wie D zeigt, ergänzt der spätere Lübecker Druck von 1521 zu Ungunsten des Metrums die Konjunktion vnd, um inhaltlich Deutlichkeit zu erzeugen: He �prack Maria blo�yende ro�e Du lylie vnd tzidelo�e. Godes deerne vnd balzamen �chryn (HA1521, AIv,11–13)
Hans Arndes bezieht sich auf den Vorgängerdruck seines Vaters und betont, sein Druck sei vp dat nyghe ghedrucket (HA1521, AIr,3f.). Dieser deutliche Bezug auf die Vorlage lässt die Vermutung zu, dass der sprachliche Eingriff ganz bewusst getätigt wurde. –––––––— 24
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Die Textbeispiele zeigen die transkribierte Form im Sinne eines diplomatischen Abdrucks, Sonderzeichen werden nicht aufgelöst; im Rahmen der Erschließung wurden neue Siglen vergeben, die hier verwendet werden, vgl. die Gesamtliste im Anhang. Neben D2 (elbostfälisch) auch O (ostfälisch), Kh und SP (beide nordniederdeutsch): he �prak maria bloygende ro�a/ Lylia vn� �ittilo�a/ Goddes dure bal� men �chrin (O, 1r,9–11), he �prak marya blogende ro�e/ Beyde lyllye und tzittelo�e/ lat my hute werden �chin/ Godes dure bal�men �chryn (Kh, 232r,9–12), He �prack maria blogende ro�e/ Eyn lilie vnde en cittelo�e/ Godes dure bal�emes �chrin (SP, 141r,9–11). Der Codex (Hs. Georg. 73.8°) zeigt neben den beiden Anselm-Texten zahlreiche Gebete, einige Gedichte und Legenden; die Texte stammen von unterschiedlichen Händen und können ins 14. und 15. Jahrhundert datiert werden, eine genaue Untersuchung des Codex steht indes aus.
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Parallel zu Wortartwechsel, syntaktischer Anpassung und metrischer Veränderung in den niederdeutschen Texten zeigen die Kölner Drucke27 einen Lexemwechsel unter Beibehaltung der Wortart, sodass keine syntaktische Anpassung notwendig wird. Das möglicherweise nicht mehr verständliche dure wird durch köstlich ersetzt, wobei die metrische Veränderung in Kauf genommen wird: He �prach Maria bloende ro�e. Du werde lilie vnd zijdelo�e. Godes koe�tliche bal��em �chrijn (KÄ1492, AIIr,9–11)
Die beschriebenen Lexemvarianten lassen sich noch ohne Weiteres in einem Variantenapparat abbilden – wenn auch zum tieferen Verständnis das weitere Textumfeld und Informationen zur Überlieferung herangezogen werden müssen. Anders ist dies bei der syntaktischen Varianz insbesondere der Prosatexte. Ohne hier zu ausführlich in eine Fachdiskussion einzusteigen – dies ist an anderer Stelle bereits in Ansätzen erfolgt28 –, soll an einem Beispiel die Varianz im Aufbau und in der Abfolge der Phrasen verdeutlicht werden, deren Abbildung ein Apparat nicht mehr leisten kann (und auch nicht soll). Auf dem Weg zur Kreuzigungsstätte folgen Jesus einige Frauen, die sein Schicksal beweinen, und einige Kinder, die ihn mit Steinen und Unrat bewerfen. Jesus wendet sich den Frauen mit den Worten zu (in Anlehnung an Lk 23,28): Ir tohteran v� ierlm weinont niht v�b� mich. weinont v�b� ivch �elbe. vn� v�b� ivwerv� kint. die daz hor vn� die �teine an mich werfent. vn� niht wizen dc �v� al�e vnrehte tvnt.29 (Ka, 161r,7–13)
In Ka, einem der ältesten Texte aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, wird im Relativsatz zunächst vom Werfen von Unrat und Steinen berichtet, nebenordnend angeschlossen (mit und) wird der Hinweis auf das Unwissen der Kinder. Ein Zusammenhang zwischen dem Werfen und dem Unwissen (Werfen aus Unwissenheit heraus) ergibt sich somit nicht. Erst im sich anschließenden mit daz eingeleiteten Nebensatz wird die Handlung als unrecht bewertet. Eine ähnliche Abfolge zeigt T, der Variation im Anschluss (ob) entsprechend werden zwei Möglichkeiten geboten: die daz haer vnd die �tain avf mich w�fent. vnd nicht wizzen ob �i rech� oder vnrecht tvent. (T, 139v,15–18)
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Neben KÄ1492 auch die anderen Kölner Drucke KJ1499, N1500, N1509, N1514. Stefanie Dipper erprobt die Phrasenalignierung an einem ausgewählten Beispiel (S. 32f.) und wertet die Positionierung der einzelnen Konstituenten aus (S. 36–38), vgl. Dipper/Schultz-Balluff 2013 (Anm. 9). An einem anderen Beispiel der Anselmusüberlieferung führt Wegera vor, inwiefern die Phrasenabfolge Hinweise auf Überlieferungsbündel liefern kann, vgl. Wegera 2014 (Anm. 9). Zur besseren Vergleichbarkeit erfolgt die Wiedergabe nach Phrasen, der Zeilenfall der Handschrift wurde aufgegeben.
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Eine weitere Variante ist die Umstellung der Satzteile: dy� nicht wizzen waz �i tu�nt vnd �ta� vnd hor auf mich werfent (M9, 267r,5–7)
In allen Fällen besteht über vnd eine nebenordnende Verknüpfung der beiden Nebensätze im Sinne einer Aufzählung. Inhaltlich enger, weil nicht neben-, sondern über die Partizipialkonstruktion unterordnend, zeigt sich die Variante in D4: die kat vnnd �tein an mich werffen nit wi��ent was �y thu�nt (D4, 124v,9–10)
Im Nachtrag wird das Werfen als nit wi��ent klassifiziert. Einen erneuten relativischen Satzanschluss bietet Ba2, wodurch sich eine bloße Aneinanderreihung ergibt: die nicht wi��n� was �ie thun Die �tain vnd har auf mich werffn� (Ba2, 104r,3–5)
Die Umstellung von ganzen Phrasen oder Teilen der Aufzählung (Unrat und Steine vs. Steine und Unrat) sowie die Wahl unterschiedlicher Satzanschlüsse, die entweder neben- oder unterordnen, sind syntaktische Marker, deren Auszeichnung und Auswertung relevant ist für historisch-linguistische, aber auch überlieferungsbezogene Fragestellungen, denn den oben aufgeführten syntaktischen Varianten lassen sich jeweils mehrere Texte zuordnen, sodass hier möglicherweise Überlieferungsbündel vorliegen. Die inhaltliche Varianz betrifft eine (größere) textliche Einheit unter Fokussierung einzelner Elemente, die im Lauf der Tradierung deutlich verändert (gekürzt, komprimiert, ausgeschmückt) werden. Dies ist insbesondere dort der Fall, wo die Bibelstelle nur sehr kurz ist, wie im Fall der Übergabe Marias durch Jesus in die Obhut des Johannes, die dadurch erfolgt, dass Jesus in ganz kurzen Ansprachen an Maria und Johannes deren neues Mutter-Sohn-Verhältnis begründet.30 In der von der Bibel vorgegebenen Kürze verfährt B331: weib �ih an dein �un darnach �prach er czu �andt Johanns nym war dein muter (B3, 129r,1–3)
Da dies in St. Anselm von Maria erzählt wird, wird der Text dementsprechend angepasst: Er �prach zcu mir Ioh�nes �al dyn �ohn� �yn czu Ioh�nes �prach er �ich dy mutir (D3, 123r,17–20)
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cum vidisset ergo Iesus matrem et discipulum stantem quem diligebat dicit matri suae mulier ecce filius tuus deinde dicit discipulo ecce mater tua (Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter!), Joh 19,26f. So auch zwei weitere Texte: Siech wa dein �vn. dar nach �prach er tzv Iohanni. Siech wa dein mvet�. (T, 145v,19–21); frawe �ich wa dein �wn Darnach �prach er czwe Iohame Sich wa dein mueter (M2, 220v,2–4).
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Im Text einer Nürnberger Handschrift geht Jesus zusätzlich auf Marias vorhergehende Klage ein: all� lib�te mut� ich clage dir daz ich nicht bey dir bliben mag ich muz v� groz�ir pein �terbin � dor v�me gebe ich dir Ioh�n� an myn� �tat czu eyme �une vn� �p� ch czu Ioh�ny lib� fr�t ich gebe � dir meyne mut czu eyner muter vn� befele ich dir vf deyne truwe (N, 181v,17–22)
Angereichert um eine direkte Ansprache an den Rezipienten erhält die Szene in M8 einen deutlich (ab-)wertenden Zusatz: Muter ich gib dir iohannem zu ain� �on an mein �tat Vnd �prach zu iohannes Ioh�nes liber freund meiner Ich gib dir mein libe muter zu ainer muter vnd bevyl �ie dir in deyn trew Eya �elger m��ch nym in dein hercz dy�e i�merliche weg�l�g das vn�er libe fraw mu�t nemen ioh�nem fu�r ih�m e� lauttern men�chn� fu�r got vn�ern hern Ain le�rkint fu�r ain mey�ter. ain �lechter freünd fu�r ain kint. (M8, 65r,7–65v,11)
Diese kreativen Eingriffe einzelner Schreiber(innen) spiegeln den Umgang mit Textvorlagen wider und verraten unglaublich viel über die Arbeit an einem Text, für den biblische Vorlagen zwar ein Gerüst bieten, aber einen recht großen Spielraum zu lassen scheinen. Spätestens bei dem oben angeführten Beispiel stößt der klassische Editionsvorgang an seine Grenzen. Alle skizzierten Arten von Varianz lassen sich über Variantenapparate nur in Teilen abbilden, eine vollständige Erfassung ist unmöglich. Zu massiv müsste im Vorfeld eingegriffen und entschieden werden, welche Varianten erfasst werden sollen bzw. abgebildet werden können. Die Auswahl würde somit weniger von der Relevanz, etwa mit Bezug auf philologische oder linguistische Fragestellungen, als mehr von der Umsetzungsmöglichkeit abhängen. Somit bleibt hier festzuhalten, dass für St. Anselm eine kritische Edition a) die Überlieferungslage nicht angemessen dokumentieren und damit b) bestimmte Sachverhalte nicht sichtbar machen kann.
Textdynamik, Annotationsebenen und Editionstypen Eine „dynamisch-produktive Offenheit“32, wie sie die Textzeugen von St. Anselm zeigen, stellt für den Edierenden eine Herausforderung dar, wenn Kreativität durch Edition nicht unsichtbar, sondern gerade sichtbar gemacht werden soll; hier ist Volker Mertens zuzustimmen, dass es „ [...] deshalb darum gehen [sollte], die Textbewegung als Bewegung zu dokumentieren“33. Mertens fordert weiter: „Deskriptive Elemente gehen auch in den Apparat ein, der so angelegt ist, daß er die Textdynamik sichtbar macht“.34 Wie aber kann eine komplexe Dynamik – lexematisch, syntaktisch, inhaltlich –, die zum ‚Fingerabdruck‘ eines Textzeugen gehört, angemessen in einer Edition berücksichtigt werden? Ist die Edition überhaupt der geeignete Ort dafür? Und wenn ja, welche Editionsmöglichkeiten bieten sich an? –––––––—
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Bein 2000 (Anm. 19), S. 87. Mertens 1991 (Anm. 21), S. 84. Mertens 1991 (Anm. 21), S. 84.
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Mit dem Fortschreiten der Digitalisierung von Bibliotheksbeständen und der Möglichkeit zur Aufbereitung der Textmaterialien über Annotationen auf unterschiedlichen Ebenen35 liegt gegenwärtig eine Angebotspalette vor, die die Frage nach der Rolle und dem Stellenwert von Bucheditionen wie digitalen Editionen (wieder) neu aufwirft. Indem Texte inzwischen – wie am Beispiel der Referenzkorpora36 – nach ihrer Erfassung normalisiert und z. B. morphologisch und syntaktisch annotiert werden (können), rückt das Erstellen der Edition im Gesamtprozess weiter nach hinten. Es kann aber schließlich auf das aufbereitete Material zurückgegriffen werden und das Design der jeweiligen Edition – gedruckt wie digital – darauf aufbauend entstehen. Bereits in den ersten Aufbereitungsschritten werden z. B. graphische und morphologische Varianten erfasst. Eine auf der übergeordneten Ebene erfolgende Normalisierung bereitet die Texte für die Alignierung auf, d. h., später kann über eine normalisierte Form (Lemmaansatz) gesucht werden und man bekommt die handschriftliche Variante angezeigt. Das verwendete Annotationstool ist lernfähig und unterbreitet Annotationsvorschläge, die manuell kontrolliert werden. Über dieses semiautomatische Verfahren ist es möglich, dass alle Handschriften und Drucke auf dieser Ebene annotiert werden können.37 Zeitaufwändiger gestaltet sich die Annotation komplexerer Varianten, wie z. B. der oben angeführten lexematischen, syntaktischen und inhaltlichen Varianz. Hier kann nicht jedes Phänomen erfasst werden, für den Einstieg genügt jedoch eine geeignete Auswahl, die nach sprachlichen wie philologischen Gesichtspunkten getroffen wird. Zur Erfassung der lexematischen Varianz werden häufig vorkommende oder markante Wörter bzw. Phrasen bestimmt, wie die wiederkehrende Bezeichnung der Personen, und zunächst mit einem sog. Hyperlemma verknüpft: Die Varianten vner frawn (Me, 347,2), vner liebe frauwe (B2, 48r,6), vner frawen von hymelreich (Hk, 118r,2f.) und marian dy reyne mait (D3, 103v,16f.) bekommen zunächst alle das Lemma ‚MARIA‘ zugewiesen, in einem weiteren Schritt wird spezifiziert zu ‚Frau‘ oder ‚Maria‘, dann ‚unsere Frau‘, ‚unsere liebe Frau‘ oder ‚unsere Frau aus dem Himmelreich‘ auf der einen Seite, ‚Maria reine Jungfrau‘ auf der anderen Seite usw. –––––––— 35
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Vgl. hierzu als Vorläufer für die Referenzkorpora das Korpus der Mittelhochdeutschen Grammatik (http://www.mittelhochdeutsche-grammatik.de/DE/korpus_bonn.php) sowie die Referenzkorpora zum Altdeutschen, Mittelhochdeutschen, Frühneuhochdeutschen und Mittelniederdeutschen/ Niederrheinischen. Für Informationen zu den Korpora vgl. folgende Präsenzen: http://www.deutschdiachrondigital.de (Altdeutsch), http://referenzkorpus-mhd.uni-bonn.de und http://www.ruhr-unibochum.de/wegera/rem (Mittelhochdeutsch), http://www.ruhr-uni-bochum.de/wegera/ref (Frühneuhochdeutsch), https://vs1.corpora.uni-hamburg.de/ren/ (Mittelniederdeutschen/ Niederrheinisch). Geeignete Tools sind inzwischen seit einigen Jahren erfolgreich im Einsatz (beispielhaft sei hier auf die annotierten Referenzkorpora verwiesen, in deren Rahmen Tools entwickelt und eingesetzt und auch die auch für die Anselm-Überlieferung verwendet und angepasst werden). Notwendigerweise arbeiten in diesen Projekten Linguisten, Literaturwissenschaftler und Computerlinguisten bewusst eng zusammen mit dem Ziel der größtmöglichen Erfassung des handschriftlichen Befundes. Zum Annotationstool vgl. Marcel Bollmann/Florian Petran/Stefanie Dipper/Julia Krasselt: CorA: A web-based annotation tool for historical and other non-standard language data. In: Proceedings of the EACL Workshop on Language Technology for Cultural Heritage, Social Sciences, and Humanities (LaTeCH). Gothenburg 2014, S. 86–90; zum Tagset ausführlich Stefanie Dipper/Karin Donhauser/Thomas Klein/Sonja Linde/Stefan Müller/Klaus-Peter Wegera: HiTS: ein Tagset für historische Sprachstufen des Deutschen. In: Journal for Language Technology and Computational Linguistics, Special Issue, 28, 2013, Heft 1, S. 85–137.
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Die Erfassung syntaktischer Varianz kann in zwei Richtungen vorgenommen werden: Fokussiert auf ein Phänomen wie z. B. Verneinung, Genitivkonstruktionen, paraund hypotaktische Satzgefüge, können alle Textzeugen semi-automatisch ausgewertet werden (die morphologische Annotation unterstützt dabei die manuelle Arbeit). Besonders markante und mit Blick auf die Abhängigkeit der Texte relevante syntaktische Strukturen können jedoch nur manuell ausgewählt werden. Hier wäre die Hyperlemmatisierung hilfreich, indem für das oben angeführte Beispiel das Hyperlemma ‚Töchter Jerusalems‘ lautet und die weitere Unterteilung z. B. die Satzanschlüsse berücksichtigt. Auf diese Weise können auch inhaltsbezogene Lemmata vergeben werden, die sich auf größere Textabschnitte beziehen, wie z. B. ‚Übergabe Marias in die Obhut des Johannes‘. Eine Erweiterung kann hier mit weiteren Begriffen vorgenommen werden ‚Klage Jesu‘, ‚Treue‘, ‚Bewertung‘ usw. Diese weiterführenden Annotationen und ihre Verschlagwortung machen die variantenreiche Überlieferung fassbar, geben Strukturen vor und wollen den Blick des Benutzers maßvoll lenken, denn im Rahmen einer digitalen Präsentation braucht es Angebote zur weiterführenden Forschungsarbeit. Der Nutzer sollte zwischen unterschiedlichen Zugriffen und Bearbeitungsstufen wählen können: der diplomatische Abdruck und die Verknüpfung zum Digitalisat der Handschrift bzw. des Drucks bieten eine geringe Bearbeitungsstufe, der Zugriff über normalisierte Formen oder morphologische Phänomene bedient sich einer intensiven Bearbeitungsstufe des gesamten Textmaterials, der Zugriff über ausgewählte syntaktische Strukturen, thematische Abschnitte, einzelne Lexeme oder Lexemgruppen bedient sich einer intensiven Bearbeitungsstufe nur ausgewählter Textteile. Parallel dazu können weitere Filter, wie ‚Vers‘, ‚Prosa‘ und weitere unterordnenden Einheiten sowie Zeitspanne und Sprachraum angewendet werden. Damit kann die Gesamtüberlieferung nach bestimmten Auswahlkriterien zur Bildung kleinerer Gruppen der Textzeugen benutzt werden. Ein so aufbereitetes, strukturiertes und durchsuchbares Textmaterial als digitale Edition spricht historisch-linguistisch wie literaturwissenschaftlich interessierte Nutzer gleichermaßen an. Eine kritische Edition in Buchform erscheint nicht nur nicht realisierbar, sondern vor dem Hintergrund komfortabler digitaler Abfragemöglichkeiten geradezu überflüssig. Eine lesbare Textausgabe mit Normalisierung und Übersetzung, die im akademischen Unterricht Einsatz findet und einen komfortablen Erstzugriff auf die disparate Überlieferung bietet, erscheint hingegen erstrebenswert. Aufgrund der relativen Kürze der Texte ist der Abdruck eines Vertreters der Versfassung und mehrerer Prosaversionen möglich und wünschenswert, damit die Texte nicht, wie in den Vorgängereditionen, für sich stehen, sondern in einem Zusammenhang präsentiert werden. Die augenscheinliche Abweichung führt im Idealfall zu weiterführenden Fragestellungen, denen mit Hilfe der digitalen Präsentation nachgegangen werden kann. Hier korrespondieren Textausgabe und digitale Edition.
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Der Mehrwert: ‚Philologische Distanzmessung‘ Die zeitintensiven Spezialannotationen erfreuen schließlich (dies bleibt zu hoffen) den Benutzer, sie dienen aber auch der Beantwortung grundlegender Fragen der Überlieferung auf dem Weg zu einer digitalen Edition. So kann die Systematisierung und Bewertung ausgesuchter Varianten bei noch unklarer Zugehörigkeit von Textzeugen zu Gruppen bzw. Fassungen zu einer zuverlässigen Zuordnung beitragen. Markante Elemente (Begriffe, Phrasen u. ä.) werden in einem Textzeugen zunächst manuell festgelegt und jeder neu hinzugenommene Textzeuge wird ausschließlich im Vergleich zu den bestehenden gesehen und bewertet. Über die Alignierung und damit die Ermittlung der Nähe (oder Entfernung) zueinander sollen Bündelungen sichtbar werden, die Auskunft über Gruppen und Untergruppen der Textgestalt liefern. Letztlich sollen alle Textzeugen zueinander im Raum platziert werden können; enger beieinander stehende Textzeugen bilden dann Überlieferungsbündel. Die Summe aller Marker eines Textzeugen oder eines Bündels lässt Aussagen über die Art der Bearbeitung mit Blick auf die Klärung von Varianten, Fassungen und Bearbeitungen zu. Dieses Vorgehen orientiert sich an dem aus der Computerlinguistik stammenden Verfahren zur Messung von Abständen (‚computing distance‘), mit dem Ähnlichkeiten linguistischer Parameter ausschließlich über das Verhältnis der ausgewählten Daten zueinander bestimmt werden.38 Diese Methode kann zur Fassungsbestimmung eingesetzt werden, indem die Nähe bzw. der Abstand von (Text-)Größen mittels philologischer Parameter zueinander ermittelt wird. Die ausgewählten Keywords sind Begriffe oder Phrasen, die in möglichst allen Texten vorkommen und als besonders markant anzusehen sind. Exemplarisch wird dieses Verfahren an zwei Beispielen vorgestellt: 1. Erstbezeichnung von ‚Anselm‘, ‚Maria‘ und ‚Jesus‘, 2. Petrus� Erkenntnis, Jesus verleumdet zu haben.39 Die Erstbezeichnungen für ‚Anselm‘, ‚Maria‘ und ‚Jesus‘ können sehr variieren, wie die Gegenüberstellung aus einem Vers-, einem langen und einem kurzen Prosatext zeigt: –––––––— 38
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Auf eine virtuelle Vergleichsgröße wird dabei verzichtet, d. h. die Vergleichsmasse ergibt sich ausschließlich aus sich selbst. In Anlehnung an dieses Verfahren soll über die Messung von Distanzen der Grad der Ähnlichkeit von Textzeugen bestimmt werden; vgl. John Nerbonne/Wilbert Heeringa/Eric van den Hout/Peter van de Kooi/Simone Otten/Willem van de Vis: Phonetic distance between dutch dialects. In: Proceedings of the Sixth CLIN Meeting. Antwerpen 1996, S. 185–202; Anke Lüdeling: Using corpora in the classication of language relationships. In: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik. Special Issue on ‘The Scope and Limits of Corpus Linguistics’, 2006, S. 217–227; Stefanie Dipper/Bettina Schrader: Computing Distance and Relatedness of Medieval Text Variants from German. In: Angelika Storrer (Hg.): Text Resources and Lexical Knowledge. Selected Papers from the 9th Conference on Natural Language Processing. Berlin 2008, S. 39–52. (Text, Translation Computational Processing 8) Für einzelne Marker ist dies bereits manuell erprobt worden, vgl. Dipper/Schultz-Balluff 2013 (Anm. 9), Wegera 2014 (Anm. 9). Gegenstand der Untersuchung sind 51 Texte, von denen der Anfang überliefert ist, d. h. zwölf Verstexte, 20 PL, 15 PS, die drei bislang noch nicht zugeordneten mnl. Texte und ein Fragment mit nur 175 Wortformen, dessen Anfang überliefert ist, das bisher aber noch nicht zuverlässig zugeordnet werden konnte. In 17 Fällen beginnt der Text ohne Überschrift oder sonstige Vorbemerkung direkt mit der Einleitung, 34 Mal gehen dem Textanfang Überschriften oder Vorbemerkungen voraus, die aber überwiegend späteren Abschreibe- oder Überarbeitungsstufen angehören.
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langer Prosatext: Sante an�helm der bad vn�er liebe frauwe von hymelriche [...] daz �ie yme künd wolde dün yres eyngebornes kindes martele (B2, 48r,5–17) kurzer Prosatext: Ein hocher lerer hiez an�helmus Der pat vn�er fraw�n [...] Daz �i im zerkennen gebe wie vn�er h�re gemartert wer (M10, 58v,8–59r,2) Verstext: ANcelmus was ein heilich man/ De hadde langhe dar na �tan/ Dat he gherne hedde weten/ Wat vn�e here hedde be �eten/ [...]/ he �prak maria bloygende ro�a/ Lylia vn� �ittilo�a/ Goddes dure bal� men �chrin (O, 1r,1–14)
Die Verstexte sind sehr homogen, d. h. im Gegensatz zu den Prosatexten sind die Abweichungen hinsichtlich der Lexik (und auch der Syntax) sehr gering. So zeigt diese Gruppe durchgängig die Kombination ‚Heiliger Mann Anselm‘ + ‚Maria, Rose, Lilie und Zeitlose‘ + ‚Herr‘. Die Prosatexte zeigen sich disparater: Die größere Anzahl der Texte zeigt zwei stabile Kombinationen in erweiterter oder reduzierter Form (Abb. 1), eine kleinere Anzahl zeigt singuläre Kombinationen, aus denen sich aber Kerne abstrahieren lassen (Abb. 2). Die folgenden Abbildungen versuchen die Ergebnisse so abzubilden, dass Bezüge der Fassungen und Bearbeitungen und damit mögliche Überlieferungsbündel deutlich werden.
Abb. 1: Kombination der Erstbezeichnungen für ‚Anselm‘, ‚Maria‘ und ‚Jesus‘ – Kern 1 und 2
Je zwei größere Gruppen zeigen die gleichen Formulierungen, sodass diese als zwei stabile Kerne gelten können. Daran schließen sich erweiterte, reduzierte oder im Detail variierte Formen einzelner oder weniger Texte an. Markant ist die Kombination aus Elementen beider Kerne. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass Kern 1 und Kern 2 primär sind und sich alle weiteren Formen aus ihnen ergeben haben. Eine größere Gruppe von Texten zeigt singuläre Kombinationen, aus denen sich wiederum Kerne abstrahieren lassen:
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Abb. 2: Kombination der Erstbezeichnungen für ‚Anselm‘, ‚Maria‘ und ‚Jesus‘ – Kern 3, 4 und 5
Die Texte zeigen Kombinationen von Grundelementen – jedoch nie in ‚Reinform‘ –, aber auch hier sind Zusammenhänge anzunehmen, die durch die Abstraktion sichtbar werden und als virtuelle Bezugsgrößen anzusehen sind. Damit bleiben Einzelfälle nicht isoliert stehen, sondern lassen sich im Gesamtgefüge platzieren. Im Beispiel der Verleumdung Jesu durch Petrus lässt sich die Anzahl der Hahnenschreie und der Verleugnungen als Hinweis auf die (mögliche) Vorlage lesen. Aus den Textstellen lassen sich zunächst zwei Kerne abstrahieren, neben denen es einige Varianten gibt, denen mit einer Ausnahme (D3) aber mindestens zwei Textzeugen folgen:
Abb. 3: Petrus� Erkenntnis – Kombination ‚Hahnenschrei‘ und ‚Verleugnung‘
Während die Varianten sich möglicherweise aus den Kernen ableiten lassen und eine eigene Formung der Textstelle nahelegen, lassen die Kerne deutliche Korrespondenzen mit den Evangelien erkennen: Der einmalige (unbestimmte) Hahnenschrei in Kombination mit dreimaliger Verleugnung findet sich im Matthäus- und Lukasevan-
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gelium, der zweimalige Hahnenschrei und die dreimalige Verleugnung im Markusevangelium.40 Wie die beiden Beispiele (in aller Kürze) zeigen, können mit Hilfe von KeywordAnnotationen Bündelungen sichtbar werden, die Hinweise auf Textgenese und Überlieferungszusammenhänge bieten und in einigen Fällen auch den Zusammenhang mit den Evangelien erhellen. Der hohen Varianz und damit der Kreativität im Schreiben soll mit dieser Methode einer ‚philologischen Abstandmessung‘ Rechnung getragen werden und eine angemessene Bewertung erfolgen. Diese Schreibkreativität spiegelt sich in einer entsprechenden Fassungsvarianz wider, die sich aber glücklicherweise in Gruppen, sog. Bündeln, zusammenfassen lässt, deren Ränder zwar zum Teil recht unscharf sind, aber immerhin eine Kernzuordnung ermöglichen. Zu hoffen ist, mit diesem Verfahren eine solide Basis zu schaffen, auf der aufbauend weitere textkritische sowie literatur- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse eine Einbindung erfahren und so das Ziel verfolgen, für die äußerst disparate Überlieferung eines Textes wie St. Anselm tragbare Bezugsstrukturen nachzuzeichnen.
Resümee Dass eine derart variantenreiche Überlieferung wie die von St. Anselm nur angemessen im Rahmen einer digitalen Edition präsentiert werden kann, ist unstrittig. Das Design der Edition basiert dabei deutlich auf Verfahrensweisen der Computerlinguistik zur Annotation, denen ein historisch-linguistisches Interesse zugrunde liegt. Nur auf diesem Weg, d. h. aufbauend auf etablierten Methoden und eng am Text arbeitend, kann das Material so aufbereitet werden, dass auch weiterführende – u. a. editionsphilologische und literaturwissenschaftliche – Fragestellungen zur Beantwortung kommen. Für alle weiteren Arbeitsschritte bilden die digitale Erfassung und insbesondere die Annotationen den Ausgangspunkt. Darauf aufbauend liegt es nahe, zunächst die digitale Edition zu erstellen. So rückt das Edieren insgesamt nach hinten und die Erstellung einer gedruckten Edition bzw. Textausgabe ist der letzte Schritt. Die Vorteile liegen darin, dass sich aufbauend auf eine umfassende digitale Präsentation eine Textausgabe deutlich verschlanken und zudem unter Rückgriff auf das aufbereitete Material vergleichsweise schnell erstellen lässt. Ein aufwändiges Verfahren – aber: Erst wenn das Ziel erreicht ist, mit einem „multiperspektivischen Zugriff“41, wie Thomas Bein es nennt, an komplexe Überlieferungen zu gehen, kann eine Edition – digital wie gedruckt – den Interessen unterschiedlicher Fachrichtungen entgegen kommen, ‚Spezialuntersuchungen‘ (HofmeisterWinter) ermöglichen und letztlich signifikante qualitative und quantitative Aussagen für Fragestellungen der Linguistik, Literatur- und Kulturwissenschaft ermöglichen. –––––––— 40
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priusquam gallus cantet ter me negabis, Mt 26,75 und Lk 22,61; priusquam gallus cantet bis ter me negabis, Mk 14,72. Im Johannesevangelium leugnet Petrus zwei Mal bevor der Hahn kräht (Joh 18,27), diese Kombination kommt in St. Anselm nicht vor. Bein 2000 (Anm. 19), S. 96.
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Primärquellen Handschriften: au Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 2° Cod 438 (Federprobe); B Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms germ. octav 183; b Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fragm. 4; b2 Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 736; B2 Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. qu. 2025; B3 Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1714; Ba Staatsbibliothek Bamberg, Msc. Lit. 176; Ba2 Staatsbibliothek Bamberg, Msc. Lit. 176; Be Burgerbibliothek Bern, Mss. h.h. X.50; D Anhaltische Landesbücherei Dessau, Hs. Georg 73.8°; D2 Anhaltische Landesbücherei Dessau, Hs. Georg 73.8°; D3 Anhaltische Landesbücherei Dessau, Hs. Georg. 24.8° (4°); D4 Anhaltische Landesbücherei Dessau, Hs. Georg. 65.8°; f Dombibliothek St. Marien Fürstenwalde [Fragment ohne Signatur]; H Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt Halle, Quedl. Cod. 141; hb Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Cod. in scrin. 17 Frgm. 15; Hk Bibliothek des Zisterzienserstiftes Heiligenkreuz, Cod. 339; Hk2 Bibliothek des Zisterzienserstiftes Heiligenkreuz, Cod. 541; Hz Stiftsbibliothek Herzogenburg, Cod. 69; Ka Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. Donaueschingen 116; Kh Det Kongelige Bibliotek Kopenhagen, Cod. Thott. 109,4°; M Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 23371; M2 Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 839; M3 Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 485; M4 Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 484; M5 Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 4698; M6 Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 486; M7 Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 473; M8 Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 134; M9 Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 4701; M10 Staatsbibliothek München, Clm 14945; Me Stiftsbibliothek Melk, Cod. 55 (178; D 15); (N Stadtbibliothek Nürnberg Cod. Cent. VI, 44); n Stadtbibliothek Nürnberg, Cod. Cent. VII, 55; N2 Stadtbibliothek Nürnberg, Cod. Cent. VI, 46f; N3 Stadtbibliothek Nürnberg, Cod. Cent. VI, 86; N4 Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Hs. 23212; O Landesbibliothek Oldenburg, Cim. I.74; Sa Benediktiner-Kollegium Sarnen, Cod. chart. 125; Sa2 Benediktiner-Kollegium Sarnen, Cod. membr. 33; Sb Bibliothek der Bendiktinerinnenabtei Nonnberg Salzburg, Cod. 23 A 22; s Landeshauptarchiv Schwerin [Fragment ohne Signatur]; SG Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sang. 1006; sl Pfarrarchiv St. Leonhard, Passeiertal/Südtirol [Fragment ohne Signatur]; SP Russische Nationalbibliothek St. Petersburg, Fond 955 op. 2 Nr. 51 (ehemals Lübeck, Stadtbibliothek Ms. theol. germ. 8° 42); St Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg, ms. 2267; St2 Stadtbibliothek Straßburg, Cod. A 100 [Abschrift von Ms. 489 (verbrannt) aus dem 18. Jh.]; Stu Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. bibl. 2° 35; T Slezské Museum Opava (Troppau), RA-6; W Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. 2969; We Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, Cod. Oct. 4; Wo Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 1082 Helmst.; Verluste: Br Stadtbibliothek Wroc�aw Cod. M 1374; fb Andreas-Möller-Bibliothek Freiberg VIII 2° 72. Drucke: StA1495 Lübeck um 1495 bei Steffen Arndes (Exemplar Halle Universitäts- und Landesbibliothek, Ink Il 2196, 4º (7), ehemals Quedlinburg Stifts- und Gymnasialbibliothek, ohne Signatur) und HA1521 Lübeck 1521 bei Hans Arndes (Exemplar Hamburg SUB, Inc. App. A/106); KÄ1492 Köln 1492 (5. März) bei Johann Koelhoff d. Älteren (Exemplar Paris BN, Res-D 9903); KJ1499 Köln 1499 (21. März) bei Johann Koelhoff d. Jüngeren (Exemplar
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Darmstadt ULB, Inc. I/2); N1509 Köln 1509 (5. Mai) bei Heinrich von Neuss (Exemplar Göttingen SUB, 8° Poet. Germ. II, 2019 Inc. Rara); N1514 Köln 1514 bei Heinrich von Neuss (Exemplar Köln UStB, ADbl 155); N1500 Köln nach 1500/ um 1514 bei Heinrich von Neuss (Exemplare: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Inc. 709 Nr. 5 und Kopenhagen Kgl. NB, 21, 274); s1495 Augsburg 1495 bei Hans Froschaur (Schaur) (T1: Goslar Marktkirchenbibliothek, Nr. 1606; T2: Abtei Maria Laach Bibliothek der Abtei, FF 14); s1496/7 Augsburg 1496/97 bei Johann Froschaur (Schaur) (Basel ÖBU, Wack 562 Nr. 2); verschollen: K1522 Köln 1522 bei Servais Kruffter (Aachen Stadtbibliothek, Nr. 163).
Jakub Šimek
Archiv, Prisma und Touchscreen Zur Methode und Dienlichkeit einer neuen Text-Bild-Edition des Welschen Gastes1
Es bedarf wohl einer Rechtfertigung, dass mit der in Heidelberg angesiedelten Neuedition des Welschen Gastes Thomasins von Zerklaere bereits die vierte Ausgabe dieser mittelhochdeutschen Tugendlehre erarbeitet wird.2 Allerdings kann man den Welschen Gast angesichts seiner Entstehungszeit (1215–1216) und seiner Verbreitung (bisher 25 bekannte Handschriften und Fragmente) vielleicht zu denjenigen ‚klassischen‘ oder gar ‚kanonischen‘ Texten zählen, bei denen man auf Verständnis für den Aufwand einer Neuausgabe hoffen kann. Das an die 14760 Verse umfassende und in den allermeisten Handschriften von einem relativ festen Bildzyklus begleitete Werk,3 das die erste ausführliche höfische Verhaltenslehre in deutscher Sprache darstellt, wurde von dem aus dem Friaul stammenden und ursprünglich romanischsprachigen Kleriker Thomasin verfasst. Thomasin gehörte vermutlich zum Hof des Patriarchen von Aquileia (von 1204 bis 1218 hatte dieses Amt der deutschstämmige Kirchendiplomat, Literaturmäzen und frühere Passauer Bischof Wolfger von Erla inne) und war in dessen Diensten wohl auch in deutschsprachigen Reichsgebieten unterwegs. Die bisher vorgelegten drei Editionen des Welschen Gastes weisen – ungeschmälert ihrer jeweils besonderen Verdienste – in ihrer Dokumentationsmethode und Systematik aus heutiger Sicht gravierende Mängel auf. Die Ausgabe Heinrich Rückerts von 1852 – mit einem Vorwort Friedrich Neumanns 1965 nachgedruckt – bietet einen angesichts ihrer schmalen Handschriftenbasis und der Entstehungsumstände überraschend zuverlässigen Text und wird auch heute noch dankbar benutzt.4 Freilich ver–––––––— 1
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Bei der Aachener Tagung habe ich diesen Beitrag unter dem Titel Multimedial, dynamisch und zitierbar. Eine neue Text-Bild-Edition zum „Welschen Gast“ Thomasins von Zerklaere vorgetragen. Für die Drucklegung habe ich ihn um einen theoretischen Rahmen erweitert. Die Edition entsteht seit 2011 unter der Leitung von Christian Schneider im Rahmen des Teilprojekts Materiale Präsenz des Geschriebenen und ikonographische Rezeptionspraxis in der mittelalterlichen Lehrdichtung. Text-Bild-Edition und Kommentar zum Welschen Gast des Thomasin von Zerklaere am Sonderforschungsbereich 933 Materiale Textkulturen der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Eine zweite Laufzeit des Projekts von 2015 bis 2019 mit einer stärkeren kunsthistorischen Fokussierung ist angedacht. Es sind insgesamt 25 Handschriften(fragmente) bekannt; 15 davon sind illustriert, in weiteren vier sind Leerräume für Illustrationen freigelassen. Für eine aktuelle Übersicht der Handschriften vgl. den Handschriftenzensus (http://www.handschriftencensus.de/werke/377; 15. 6. 2014). Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hg. von Heinrich Rückert. Mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann. Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke. Texte des Mittelalters). Rückert stellte seine Ausgabe auf der Grundlage der Abschriften und Kollationen Karl Frommanns her (diese Materialien aus dem Nachlass Frommanns befinden sich als vierbändiges Konvolut im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg unter der Signatur Hs. 135316 und werden in absehbarer Zeit im Auftrag unseres Editionsprojekts und dank des Entgegenkommens von Bibliotheksdirektor Dr. Johannes
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langte allein schon die seit dem 19. Jahrhundert deutlich angestiegene Anzahl bekannter Handschriften nach einer Revision der Ausgabe. Die von der Fachgemeinschaft mit Enttäuschung aufgenommene vierbändige Edition Friedrich Wilhelm von Kries’ von 1984–85 bietet im vierten Band immerhin eine über die Übersicht Adolf von Oechelhäusers5 weit hinausgehende vergleichende und kommentierte Bestandsaufnahme des Bildzyklus und schließt – teilweise zuvor separat veröffentlicht – grundlegende, wenn auch nicht über alle Zweifel erhabene, Studien zur Überlieferung ein.6 Angesichts der viel kritisierten Entscheidung von Kries’, die Handschrift G (Gotha, Forschungsbibl., Cod. Memb I 120) zur Editionsbasis zu wählen, und der bedauerlichen Fehlerhaftigkeit dieser Ausgabe war das Vorhaben Raffaele Disantos nachvollziehbar, mit einer nur geringfügig angepassten und um G-Lesarten angereicherten Umschrift der ältesten Heidelberger Handschrift A (Cod. Pal. germ. 389), die schon Rückert als Textgrundlage gedient hatte, einen einfachen, aber immerhin auf die zwei wichtigsten Überlieferungssäulen gestützten Text zu bieten.7 Ergänzt hat Disanto die Textausgabe um einen kommentierten Bildband mit allen Illustrationen der Handschrift A.8 Bereits zuvor hat Ewald Vetter im Begleitband zum Faksimile der Handschrift A den Bildzyklus kurz beschrieben und erläutert.9 Der (vollständigere) Bildzyklus der Handschrift G ist jedoch erst jüngst durch Kathryn Starkey in Farbe reproduziert worden.10 Besonders zur ersten Orientierungslektüre und für die Verwendung in der Lehre eignet sich die von Eva Willms vorgelegte zweisprachige Auswahlausgabe des Welschen Gastes, die auf der Grundlage von A und unter Einbeziehung der Lesarten von G und D (Dresden, Landesbibl., Mscr. M 67) einen neuen Lesetext herstellt.11 Als –––––––— 5
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Pommeranz digitalisiert werden können). Nach eigenen Angaben standen Rückert so insgesamt 12 Handschriften zur Verfügung, davon allerdings nur A, G, E und Gr als vollständige Abschriften. Adolf von Oechelhäuser: Der Bilderkreis zum Wälschen Gaste des Thomasin von Zerclaere nach den vorhandenen Handschriften. Heidelberg 1890. Online verfügbar unter: http://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/oechelhaeuser1890 (15. 6. 2014). Thomasin von Zerclaere: Der Welsche Gast. Hg. von F[riedrich] W[ilhelm] von Kries. 4 Bde. Göppingen 1984–1985 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 425); ders.: Textkritische Studien zum Welschen Gast Thomasins von Zerclaere. Berlin 1967 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. N. F. 23 [147]); ders.: Zur Überlieferung des ‚Welschen Gasts‘ Thomasins von Zerclaere. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 113, 1984, S. 111–131. Rezensionen zur Ausgabe: Edgar Papp. In: Germanistik 27, 1986, S. 573f.; Joachim Bumke. In: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 98, 1987, S. 13–20; Thomas Kerth. In: Speculum 62, 1987, S. 484–486; Werner Williams-Krapp. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 109, 1987, S. 449–453. Thomasin von Zerklære: Der Welsche Gast. Secondo il Cod. Pal. Germ. 389, Heidelberg con le integrazioni di Heinrich Rückert e le varianti del Membr. I 120, Gotha (mit deutscher Einleitung). Hg. von Raffaele Disanto. Trieste 2002 (Quaderni di Hesperides. Serie testi. 3). Raffaele Disanto: La parola e l’immagine nel ciclo illustrativo del Welscher Gast di Thomasin von Zerklære. Trieste 2003 (Hesperides. Serie gold. 1). Ewald Vetter: Die Handschrift und ihre Bilder. In: Der Welsche Gast des Thomasîn von Zerclaere. Codex Palatinus Germanicus 389 der Universitätsbibliothek Heidelberg. Wiesbaden 1974 (Facsimilia Heidelbergensia. 4), S. 67–190. Im Anhang (S. 196–351) des v.a. aus älteren Aufsätzen der Verfasserin bestehenden Bandes: Kathryn Starkey: A Courtier’s Mirror. Cultivating Elite Identity in Thomasin von Zerclaere’s Welscher Gast. Indiana 2013. Thomasin von Zerklaere: Der Welsche Gast. Text (Auswahl), Übersetzung, Stellenkommentar. Hg. von Eva Willms. Berlin 2004 (De Gruyter Texte).
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Verständnishilfe kann neuerdings auch die englische Übersetzung des gesamten Rückert-Textes von Marion Gibbs und Winder McConnell konsultiert werden.12 In Anbetracht dieser Erschließungslage und der seit Langem von der Forschung geforderten grundlegenden Neuedition des inhaltlich und medial nach wie vor herausfordernden Werkes besteht die Aufgabe unseres Projekts in einer vollständigen Neuausgabe des Welschen Gastes auf der Grundlage der gesamten erhaltenen Überlieferung. Dabei sollen alle handschriftlichen Texte und Bilder erschlossen und verfügbar gemacht sowie ein kritisch hergestellter Text und ein Text-Bild-Kommentar vorgelegt werden. Viele Herausgeber, die vor der Aufgabe der Neuausgabe eines bereits einmal oder mehrfach edierten Werkes stehen, stellen sich vermutlich die Frage, ob sinnvoll auf Vorarbeiten der Vorgänger zurückgegriffen werden kann. Besonders dann, wenn das neue Projekt den Anspruch erhebt, direkt aus den Quellen zu edieren und nicht lediglich ältere Lesartenapparate auszuwerten, und wenn die gewählte Editionsmethodik Volltranskriptionen der Überlieferung erforderlich macht, wäre es angesichts des mit solchen Arbeiten verbundenen zeitlichen und personalen Aufwands überaus hilfreich, auf früher angefertigte Transkriptionen zurückgreifen zu können. Transkriptionen von Handschriften wurden in der Altgermanistik seit ihren Anfängen erstellt, allerdings in der Regel als Vorstufe des kritisch zu konstituierenden Textes. Diese Situation hat sich in den letzten Jahrzehnten in zweierlei Hinsicht geändert: Zum Einen wird die Berechtigung editorischer Eingriffe in überlieferte Texte stärker und häufiger hinterfragt, wobei der Publikation gesamter Texttraditionen im digitalen Medium gleichzeitig keine Grenzen mehr gesetzt sind und kritisch hergestellte Texte dadurch sowohl paradigmatisch als auch praktisch in neue Relationen zu Handschriftentranskriptionen gerückt werden. Zum Anderen ermöglicht das digitale Medium eine direkte Wiederverwendung einmal erarbeiteter Daten,13 sodass die Hoffnung besteht, dass gewisse Basisarbeiten vornehmlich dokumentarischer Natur (wie Handschriftentranskriptionen) zwar kaum ‚ein für allemal‘ gemacht werden können,14 doch immerhin künftig nicht immer ganz von vorne begonnen werden müssen. Angesichts der offensichtlichen Zeitgebundenheit auch der besten Ausgaben und neuerer paradigmatischer Hinwendung zu Zusammenhängen zwischen Texten und den sie tragenden Artefakten werden die Gültigkeitsansprüche kritisch hergestellter Texte immer mehr angezweifelt, wenngleich deren Stellung im Lesealltag allen ‚neuen‘ Philologien zum Trotz unvermindert hoch bleibt. Wo es die digitale Editionspraxis (gemeint ist hier nicht das Endmedium, sondern der Arbeitsprozess) möglich macht, erscheint es vor diesem Hintergrund umso sinnvoller, Editionen mehrschichtig –––––––— 12
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Thomasin von Zirclaria: Der Welsche Gast (The Italian Guest). Translated with introduction and notes by Marion Gibbs and Winder McConnell. Kalamazoo 2009 (Medieval German texts in bilingual editions. 4). So stellt die handschriftennahe Publikationsreihe Deutsche Texte des Mittelalters seit einigen Jahren die während der Edition angefertigten Handschriftentranskriptionen ins Internet (http://dtm.bbaw.de/publikationen/transkriptionen; 15. 6. 2014), „beispielsweise für sprachwissenschaftliche Untersuchungen“ (ebd.). Allerdings handelt es sich dabei um PDF-Dateien, deren computerlinguistische Auswertung schwierig ist. Auch schon die ‚bloße‘ Transkription ist hochgradig interpretativ, vgl. unten Anm. 29.
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anzulegen.15 Eine mehrschichtige Edition, deren eine Ebene Basistranskriptionen beinhaltet, kann dabei nicht nur schreib- und sprachhistorisch verwertbares, da in den Transkriptionen weitgehend handschriftengetreues Material liefern und der leichten Nachprüfbarkeit editorischer Entscheidungen in anderen Schichten der Editionsstruktur dienen, sondern auch für ihre langfristige Nützlichkeit und damit ihr eigenes Überleben sorgen. Diesem Paradigma der Mehrschichtigkeit ist die Methodik unserer Neuausgabe des Welschen Gastes verpflichtet. Hingeführt wurden wir dazu durch mehrere Umstände: Die Ausgabe war von vornherein vor allem wegen praktischer Vorteile bei der Erschließung des umfangreichen Bildmaterials digital konzipiert. Bereits früh begannen wir auch mit Volltranskriptionen der Handschriften im XML/TEI-Format16 samt einer Struktur mit Versen der Rückert-Ausgabe als Rückgrat, um das sich Vers für Vers entsprechende handschriftliche Versionen ranken. Nachdem die philologische Aufbereitung der Handschriftentranskriptionen festere Konturen angenommen hatte, wurde uns deutlich, dass für Darstellungszwecke in einer Online-Ausgabe und für den Buchsatz die aufbereiteten Texte nicht nur exportiert und formatiert, sondern auch in vielerlei Hinsicht transformiert werden könnten oder müssten. Diese Transformationsebene ist aber immer noch von der Materialisierung und Präsentation in einem Endmedium verschieden. Als (gewiss teilweise verzerrende) Metaphern für die Bezeichnung dieser einzelnen Editionsebenen verwende ich im Folgenden die Begriffe ‚Archiv‘,17 ‚Prisma‘ und ‚Touchscreen‘.
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Einen wesentlichen Vorstoß zu einem radikal mehrschichtigen Editionsmodell hat in der Altgermanistik Wernfried Hofmeister geleistet, vgl. z. B. Wernfried Hofmeister: Die Edition als ‚offenes Buch‘: Chancen und Risiken einer Transponierungs-Synopse, exemplarisch dargestellt an der Dichtung Von des todes gehugede des sog. Heinrich von Melk. In: Produktion und Kontext. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition im Constantijn Huygens Instituut, Den Haag, 4. bis 7. März 1998. Hg. von H. T. M. van Vliet. Tübingen 1999 (Beihefte zu editio. 13), S. 23– 39; ders.: Mehrschichtiges Edieren als neue Chance für die Sprachwissenschaft. In: Edition und Sprachgeschichte. Baseler Fachtagung 2.–4. März 2005. Hg. von Michael Stolz in Verbindung mit Robert Schöller und Gabriel Viehhauser. Tübingen 2007 (Beihefte zu editio. 26), S. 73–88. Zu einem Mehrschichtigkeitsmodell aus stärker bibliothekarischer Sicht vgl. Manfred Thaller: Digital manuscripts as base line for dynamic editions. In: Linguistica Computazionale 20–21, 2004, S. 489–511. Vgl. TEI: Text Encoding Initiative. http://www.tei-c.org (15. 6. 2014). Die Bezeichnung einer Edition als ‚Archiv‘ ist bislang besonders für webbasierte Portale in Verwendung, vgl. z.B. The Complete Writings and Pictures of Dante Gabriel Rossetti. Hg. von Jerome J. McGann. http://www.rossettiarchive.org (15. 6. 2014). Zu der problematischen Berechtigung dieser Bezeichnung für Editionen vgl. Peter Robinson: Towards a Theory of Digital Editions. In: Variants 10, 2013, S. 105–131, hier S. 107 und 111. In unserem Editionskonzept stellt das ‚Archiv‘ nur eine Ebene der Edition dar.
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‚Archiv‘ Der Gegenstand unserer Edition ist das Werk Welscher Gast. Der Edition liegen die mittelalterlichen Artefakte,18 die Handschriften des Welschen Gastes, zugrunde. Diese zunächst auf den Textbegriff verzichtende Positionierung impliziert, dass unser Interesse einer Sache gilt, die nicht von vornherein als textuell im Sinne linguistisch verstandener Zeichensequenzen begriffen wird, sondern deren Charakter erst erschlossen werden muss, und zwar ausgehend von den erhaltenen materiellen Ausformungen des Werkes. Dabei handelt es sich um greifbare Artefakte, die aus zusammengebundenen Lagen strukturierter, beschriebener und ggf. bemalter Beschreibstoffe bestehen. Nähme man etwa die Handschrift F des Welschen Gastes, die im oberösterreichischen Zisterzienserstift Schlierbach als Cod. 28 aufbewahrt wird, in die Hand, könnte einem zunächst am Kopfschnitt die Aufschrift Manigerley Ratt in die Augen springen (am übermalten Rücken des schlichten Ledereinbands befindet sich nur ein modernes Signaturschild). Läse man den neuzeitlichen Inventarisierungvermerk an der Rückseite des Vorderdeckels nicht, fände man auf der ersten aufgeschlagenen Papierseite ein Liniengerüst vor, das zwei größere beschriebene Blöcke enthält sowie im linken Block ein kleineres Rechteck mit einer blauen Initiale. Man könnte auch bemerken, dass jeder der beiden größeren Blöcke links eine durch eine weitere Linie abgegrenzte Spalte enthält, in welche jeweils die ersten Buchstaben der Zeilen eingeschrieben sind, die zudem durch rote Striche hervorgehoben werden. Auf der Rückseite des ersten Blattes fände man eine ähnliche Struktur vor, wobei einem auch ein im unteren Bereich des linken Blocks ausgelassener und den Textlauf unterbrechender Freiraum auffiele (der nach unserem Wissen für eine nie realisierte Illustration vorgesehen war). Keine Überschrift, nur jenes Manigerley Ratt außen am Buchschnitt, würde den Inhalt dieses Objekts erhellen. Suchte man bei weiterem Blättern nach einer Unterteilung der vermuteten ‚Ratschläge‘, fände man noch häufig ähnliche Freiräume wie auf Blatt 1v in unterschiedlichen Positionen in den beiden großen immer wiederkehrenden Blöcken, aber kaum noch Initialen und nur sehr selten einzelne freigelassene Zeilen, die den Text ähnlich unterbrechen wie die größeren Freiräume. Gelegentlich könnten einem beim Blättern durchschimmernde Umrisse dreier verschiedener Wasserzeichenformen auffallen, sonst nur wenig mehr. Man könnte freilich anfangen zu lesen und fände sich dann mit einer Ich-Stimme konfrontiert, die auf Blatt 1v ihren Namen als Toman�en von zettare nennt, den Leser mit Deucz�chew lant anspricht und ihm Di�en dein� wa�li�chen ga�t zueignet. Man könnte sich dann kundig machen und würde vielleicht den Namen des Autors und den üblichen Titel des Werkes in Erfahrung bringen. Etwas anders könnte es einem ergehen, wenn man die Gelegenheit bekäme, die Gothaer Handschrift G in den Händen zu halten. Schlüge man den am Einband mit –––––––— 18
Unter ‚Artefakt‘ verstehen wir mit Markus Hilgert ein „kulturell modifiziertes Objekt“ (Markus Hilgert: ‚Text-Anthropologie‘: Die Erforschung von Materialität und Präsenz des Geschriebenen als hermeneutische Strategie. In: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft zu Berlin 142, 2010, S. 87–126, hier S. 87, Anm. 2).
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reichem Blindstempelschmuck verzierten Kodex auf, bekäme man – von modernen Inventarisierungsspuren einmal mehr abgesehen – dicht beschriebene Flügelfälze, spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Besitzer- und Bibliothekseinträge, Federübungen u. a. zu Gesicht, ab Blatt 2 dann aber wieder einen auf vorliniierten Seiten zweispaltig geschriebenen Text, hier allerdings mit einer systematisch anmutenden roten Seitenüberschrift A, roten Initialen in verschiedenen Größen, verbunden mit ebenfalls roter römischer Nummerierung. Weiter im Buch könnten einem auch rote Paragraphenzeichen am Textrand sowie die Linksausrückung und Rubrizierung jeder zweiten Zeile auffallen, vor allem aber ab Blatt 7v bunte Deckfarbenmalereien mit Beischriften und Spruchbändern, dort einmal ganzseitig, ab Blatt 8v dann verschiedentlich in den Textblöcken platziert. Auf Blatt 8v würde man links oben in einem leeren Rechteck eine größere Initiale vermissen, dafür aber gleich darüber die rote Überschrift Hie heuet �ich an d�� welhi�che ga�t lesen und auf der Rückseite dieses Blattes nebst zwei weiteren Bildern die Darstellung eines Boten betrachten, der kniend einer mit D�v tv�t�che zvnge überschriebenen thronenden Dame ein mit D� h�ez well��ch��ga��t beschriftetes Buch übergibt. Würde man das Spruchband der Dame lesen, könnte man den mutmaßlichen Urheber toma�in des ihr zugeeigneten Werkes erfahren.19 Beim weiteren Blättern könnte man nicht nur zahlreiche Illustrationen bewundern, sondern auch eine komplexe Struktur von Seitenüberschriften, Initialen, römischen Ziffern und Paragraphenzeichen entdecken. Finge man mit der Textlektüre an, ließe man sich beim Lesen unwillkürlich durch diese Elemente steuern. Mit dieser (sehr lückenhaften) Beschreibung der materiellen Überliefertheit und der Demonstration möglicher Unterschiede bei der Rezeption der beiden Handschriften möchte ich die Spannung zwischen einem mit Geschriebenem versehenen Artefakt und einem Werk aufzeigen, wobei beide Pole durch die Instanz des Textes (und in unserem Fall meistens auch des Bildes) verbunden sind. Unter ‚Werk‘ verstehe ich hier die Summe aller Artefakte, die mit oder ohne ausdrückliche paratextuelle Auszeichnung, jedenfalls aber mit fundamentaler gegenseitiger Ähnlichkeit als Welscher Gast (u. Ä.) erhalten sind. Dies schließt eine ideelle Dimension ein, die auf einer mutmaßlichen Intention des Autors und der Redaktoren sowie den Intentionen jeweiliger Kopisten basiert und in der Abhängigkeit einzelner variierender Versionen voneinander besteht (und also auch Verluste mit anzunehmenden missing links einschließt).20 Die Artefakte, die vom Anfang an und während der bis ins 15. Jahrhundert andauernden und überaus dynamischen Überlieferung den Welschen Gast trugen, wurden mehr oder weniger getreu bzw. kreativ voneinander kopiert im Bewusstsein dessen, dass es sich um eben dieses Werk handelt. Dieses Werkverständnis, das sich unsere Edition zu eigen macht, schließt also die ‚werktragenden‘ Artefakte nicht nur –––––––— 19 20
Die bisher vielfach falsch gelesene Beischrift über dem Boten bezeichnet mit c[aus]a efficiens in aristotelischer Manier die Wirkursache, also den Autor des Werkes. Vgl. in Anlehnung an Peter Shillingsburg jüngst Johnny Kondrup: Text und Werk – zwei Begriffe auf dem Prüfstand. In: editio 27, 2013, S. 1–14, hier S. 5: „Das Werk ist also gewissermaßen die Summe seiner Varianten mit einer zusätzlichen ideellen Dimension, die zum Teil in den notwendigen Korrekturen am Realtext zutage tritt, zum Teil als Beziehung zwischen den Varianten.“ Auf das Intentionalitätskonzept wollen wir bei aller Vorsicht ausdrücklich nicht verzichten, vgl. unten Anm. 52.
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ein, sondern betont deren gegenseitige Relationen.21 Die Artefakte und deren Relationen konstituieren das Werk. Die Dokumentation und Präsentation des Werkes mit seinen Artefakten und den Relationen der Artefakte untereinander setzt eine hermeneutische Auseinandersetzung voraus, die notwendig über die Erfassung der Materialität der Artefakte hinausgeht. Die gegenseitigen Relationen zwischen den Artefakten bestehen nämlich auch und vornehmlich auf ikonischer und textueller Ebene, die beide ohne eine Sinnzuschreibung vonseiten der Kopisten und der Rezipienten undenkbar sind. Man muss also Verstehensprozesse der Texte und Bilder (und der Ikonizität der Seiten22), man muss verstehende Lektüre und verstehendes Betrachten bemühen, um Relationen zwischen den Artefakten auszumachen. Aus diesen Prämissen ergibt sich die Methodik, mit der wir die Handschriften des Welschen Gastes mit deren Texten und Bildern erfassen, um das Werk Welscher Gast sichtbar zu machen. Der Photographie vergleichbar – und technisch tatsächlich zuerst auch mittels derselben –, nehmen wir ‚Abdrücke‘ der Handschriften und legen diese in einer archivähnlichen Struktur ab. ‚Objektiv‘ im Sinne einer von Entscheidungen freien, unverfälschenden Wiedergabe ist dieses Verfahren genauso wenig wie die photographische Ablichtung.23 Der Charakter des aufgenommenen Artefakts verändert sich – im Derrida’schen Sinne – beim Eingang in das ‚Archiv‘ durch das ‚Abdruck-Nehmen‘ und Ablegen.24 Das Artefakt wird zum Dokument bzw. zu einer Reihe von Dokumenten.25 –––––––— 21
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Nebenbei erübrigt sich – zumindest im Hinblick auf die Editionsmethodik – bei diesem Werkverständnis auch die kaum jemals mit letzter Sicherheit zu klärende alte Frage der Thomasin-Forschung, ob der Bildzyklus auf den Autor zurückgeht oder nicht. Zum ‚Werk‘ gehört er allemal. Vgl. zu diesem Begriff die beiden Sammelbände The Iconic Page in Manuscript, Print, and Digital Culture. Hg. von George Bornstein und Theresa Tinkle. Ann Arbor 1998 sowie Iconic Books and Texts. Hg. von James W. Watts. Sheffield/Bristol 2013. Zum Einen sind wir in der Regel auf Photoaufnahmen angewiesen, die durch Bibliotheken nach unterschiedlichen Standards angefertigt werden. Daraus ergeben sich leider erhebliche Unterschiede in den Farbprofilen und der Detailgenauigkeit. Darüber hinaus kann herkömmliche Photographie zahlreiche Aspekte der materialen Beschaffenheit der Artefakte weder aufnehmen noch reproduzieren. Einstichlöcher (eines der wichtigsten Hilfsmittel für die mise en page im Mittelalter) werden beispielsweise häufig erst im Seitenlicht sichtbar; Wasserzeichen im Papier müssten entweder mit Durchlicht oder mit Radiographie aufgenommen werden; beschädigte, ausradierte oder überschriebene Schrift kann unter Umständen mit UV- oder IR-Licht sichtbar gemacht werden. Diese Technologien stehen vielen Bibliotheken gar nicht zur Verfügung und deren Einsatz ist bei der Handschriftendigitalisierung, wenn überhaupt, bisher nur stichprobenweise üblich. Die Dreidimensionalität und Haptik mittelalterlicher Kodizes wird bisher nur beschreibend festgehalten. Derrida verwendet den Begriff ‚Abdruck‘ (empreinte) an einigen Stellen (z. B. S. 150, deutsch S. 170) seiner Abhandlung Mal d’Archive. Une impression freudienne, in der er sonst eher mit dem im Untertitel erscheinenden Wort ‚Eindruck‘ arbeitet. Für unsere Zwecke schien ‚Abdruck‘ passender. Vgl. Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin 1997 (franz. Paris 1995). In diesem Punkt und dem Verständnis des Begriffs ‚Dokument‘ lehnen wir uns konzeptuell an Michel de Certeaus Analyse der historiographischen Praxis an: „In der Geschichte beginnt alles mit der Geste […] der Umwandlung bestimmter, anders klassifizierter Gegenstände in ‚Dokumente‘. Diese neue kulturelle Aufteilung ist die erste Aufgabe. In Wirklichkeit besteht sie darin, derartige Dokumente durch Kopieren, Transkribieren oder Photographieren dieser Gegenstände zu produzieren, da sie gleichzeitig ihren Ort und ihren Status verändert. Diese Geste besteht – wie in der Physik – im ‚Isolieren‘ eines Körpers und im ‚Denaturieren‘ der Dinge, um sie in Teile zu verwandeln, die die Lücken in einem a priori gesetzten Ganzen füllen werden. […] Sie verbannt sie aus der Praxis, um sie als ‚abstrakte‘ Erkenntnisgegenstände zu etablieren. Weit davon entfernt, ‚Daten‘ zu akzeptieren, konstituiert diese Geste sie“ (Michel de Certeau: Das Schreiben der Geschichte. Aus dem Französischen von Sylvia M. Schom-
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Wir streben nicht eine reine (reproduktive) Abbildung an, sondern eine (produktive) Erschließung durch die strukturelle und funktionale Analyse des Layouts, eine möglichst zeichengenaue Transkription der Texte einschließlich deren tiefgehender philologischer Analyse sowie eine graphische und semantische Ordnung und Annotation der Bilder. Allerdings gilt es bei dieser Hervorhebung des Hermeneutischen gleich zuzugeben, dass gewisse Aspekte der Artefakte sich diesem Zugang a priori versperren bzw. dass Versuche, sie auf einem solchen Weg zu erfassen, ins Leere laufen. Dies betrifft insbesondere die Ikonizität der Seite, deren Ausgestaltung und Schmuck sowie die Ornamentalität der Schrift, die jenseits der Dialektik der funktionalen Textpräsentation des bibliographical code26 zu verorten sind und sich semiotischen Lesezugängen verweigern. Es besteht jedoch kaum Zweifel daran, dass dieser Aspekt bei einer Handschrift einer (anders gearteten) Funktionalität nicht entbehrt und auf den Leser und Betrachter ‚wirkt‘. Er ist ‚rein ästhetisch‘ im bestgemeinten Sinne dieses Ausdrucks, nämlich insofern er die Sinne anspricht und weder vordergründig rationalisiert werden will noch bei der Apperzeption des Textes direkt hilft. Als ein besonders eingängiges Beispiel kann die mittelalterliche Initialenmalerei angeführt werden, deren Ornamentik und ggf. Figuralität häufig in keiner eindeutigen Sinn-Beziehung zur Semantik des ‚eigentlichen‘ Textes (und ggf. Bildes) steht, ja den Text teilweise unleserlich(er) macht. Beim Welschen Gast könnte man etwa an die noch romanischen Dracheninitialen M der Handschrift A (z. B. Blatt 89v) denken. Wir staunten nicht schlecht, als wir in der Abschrift dieser Handschrift, die 1825 Wilhelm Grimm angefertigt hat, sahen, dass genau solche Aspekte dem Begründer der deutschen Philologie die Nachzeichnung wert waren (vgl. Abb. 1).
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burg-Scherff. Mit einem Nachwort von Roger Chartier. Frankfurt/M./New York/Paris 1991 [Historische Studien. 4], S. 93f.). Insofern unterscheidet sich unsere Begrifflichkeit von derjenigen der ‚dokumentorientierten‘ Editionsmethodik, wo keine terminologische Unterscheidung zwischen historischem Originalobjekt und dessen dokumentarischer ‚Abbildung‘ vorgenommen wird, vgl. z. B. Hans Walter Gabler: The Primacy of the Document in Editing. In: Ecdotica 4, 2007, S. 197–207. Allerdings spricht auch Gabler von einer ‚Transposition‘ des Textes eines Originaldokuments bei dessen (diplomatischer) Übertragung in ein Editionsdokument: „Even so-called documentary editing cannot, and does not, avoid transposing text from one document to a second, however ‚diplomatic‘ the coded references back to the first, or original, document be in their design“ (ebd., S. 198). Zu den Begriffen bibliographical code und linguistic code vgl. Jerome J. McGann: The Textual Condition. Princeton 1991, besonders S. 57–60, und Peter Shillingsburg: Manuscript, Book, and Text in the 21st Century. In: Variants 1, 2002, S. 19–31, hier S. 23.
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Abb. 1: Wilhelm Grimms seiten- und zeilengetreue Abschrift des Cod. Pal. germ. 389, fol. 89v. Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. oct. 317, fol. 89v. Vgl. die Vorlage unter http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg389/0190 (15. 6. 2014).
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Man bewegt sich begrifflich auf dünnem Eis beim Versuch der Unterscheidung zwischen vordergründig funktionalen Aspekten der sinnbeladenen Seitengestaltung, die wir hermeneutisch erschließen wollen, und dieser schwer greifbaren Ebene der ‚Sinnlichkeit‘. Bei einem schrifttragenden Artefakt wie einer mittelalterlichen Handschrift findet gewiss eine Oszillation zwischen Sinn- und Präsenzeffekten statt.27 Das aber, was durch seine Präsenz die Sinne anspricht und nicht den ‚Sinn‘, kann schwer diskursiv erschlossen, es muss gezeigt, evident gemacht werden. Man könnte die mittelalterliche Handschrift ausstellen oder als Faksimile anbieten, doch so wird man weder den hermeneutisch greifbaren ‚Inhalten‘ noch dem Werk mit seinen konstituierenden Relationen zwischen den Artefakten gerecht. Was tut man in einer Edition, wenn man bei gezwungener physischer Absenz der Artefakte deren Präsenz vermitteln will? Ich komme auf diese schwierige Frage mit einigen vorläufigen Lösungsvorschlägen später im Abschnitt ‚Touchscreen‘ zurück. Die Grundlage für die Erfassung der leichter greifbaren Aspekte der mise en page ist die – auch für andere Zwecke essenzielle – Speicherung der Photographien im unkomprimierten, nach heutigen Standards langfristig haltbaren TIFF-Format. Diese Bilder haben jeweils eine feste Pixelgröße, wodurch sich über Koordinaten Bildteile eindeutig adressieren lassen. Diese Adressierung ist dann auch bei der Umwandlung in andere, platzsparende Formate, die im Internet zum Einsatz kommen, gültig bzw. kann bei der Skalierung oder Drehung der Bilder umgerechnet werden. In einer aus Gründen des Eingabekomforts eigens entwickelten, aber auf freien und offenen Technologien basierenden Arbeitsumgebung markieren wir ‚über‘ den Abbildungen der Handschriften die Formen der jeweiligen Seiten, Textblöcke, Überschriften, Initialen, Marginalien usw. und weisen die markierten Formen diesen Kategorien zu (Abb. 2).28 Die Koordinaten und Kategorien werden erst einmal in Tabellen einer relationalen Datenbank gespeichert und können später, um eine langfristige Archivierung zu garantieren, in andere Formate, z. B. XML/TEI, exportiert werden.
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Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt/M. 2004, S. 12. Die auf Heidegger zurückgehende Gumbrecht’sche Präsenztheorie steht unseren Überlegungen zur Seite, auch wenn keine konkreten Zitate angegeben werden. Den Ausdruck ‚Präsenzeffekt‘ hat Roland Barthes mit effet de réel vorgezeichnet: L’Effet de Réel. In: Communications 11, 1968, S.84–89. Für die dabei unverzichtbare professionelle IT-Unterstützung haben wir dem Informatik-Teilprojekt unseres SFB zu danken, insbesondere Christoph Forster.
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Abb. 2: Webbasierter Formeneditor zur Auszeichnung von Layoutelementen auf Handschriftendigitalisaten. Dasselbe, vom Informatik-Teilprojekt des SFB 933 entwickelte Tool verwenden wir auch zur Auszeichnung und Kategorisierung der Illustrationen und ihrer Bestandteile.
Ganz auf die Auszeichnungssprache TEI setzen wir bei der Transkriptionsarbeit und der philologischen Aufbereitung der Transkripte. Bevor jedoch mit dem Transkribieren überhaupt angefangen wird, erfolgt eine paläographische Analyse der jeweiligen Schrift, um ein geeignetes Zeicheninventar auszuwählen (wenn möglich im Rahmen des Unicode-Standards, zur Not aber auch mit gewissen Erweiterungen, die paläographisch und technisch dokumentiert werden). Eine Transkription ist immer eine interpretierende Übersetzung,29 was durch die Verwendung elektronischer Technologien noch deutlicher als zuvor geworden ist,30 ist ja die digitale Schrift im Grunde das Ergebnis der Kombination von Nummern in Codetabellen mit mathematisch beschriebenen Vektorpfaden. Bereits die Überführung des handschriftlich Geschriebenen in –––––––— 29
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Bei der Transkription sind einerseits kognitive und hermeneutische Prozesse im Spiel, sodass dasselbe Schriftbild von verschiedenen Personen unterschiedlich gelesen und transkribiert werden kann und das tatsächliche Kriterium für die Semiose des Geschriebenen die (mehrheitliche) kollektive Übereinkunft über das semiotische System der jeweiligen ‚Textquelle‘ ist, auch wenn man von klaren Fehlern absieht (vgl. zum Kriterium des ‚agreement‘ Peter Robinson: What text really is not, and why editors have to learn to swim. In: Literary and Linguistic Computing 24, 1, 2009, S. 41–52, hier S. 43–45, und dort die prägnante Feststellung „An ‘i’ is an ‘i’ not because it is a stroke with a dot over it. An ‘i’ is an ‘i’ because we all agree that it is an ‘i’“ [S. 44]). Andererseits ist die Transkription technisch immer mit einem Kodierungsverfahren verbunden, das aufgrund editorischer Entscheidungen subjektiv gewählt wurde und nie alternativlos ist. Vgl. Kondrup 2013 (Anm. 20), S. 3.
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ein typographisches Schriftsystem impliziert eine Vereinheitlichung und Typisierung der Graphe und Grapheme,31 die eine Voraussetzung maschineller Reproduktion ist, und damit auch die Verwischung vieler Spezifika handschriftlicher Notation. Wir versuchen diesen Verlusten zumindest teilweise entgegenzusteuern, indem wir nach Möglichkeit Allographe differenziert festhalten, und zwar nicht nur durch die Unterscheidung zwischen langem und rundem s, sondern bei bestimmten Handschriften auch durch das Auseinanderhalten gerader und runder Formen von d und r, durch die Differenzierung verschiedener Supraskripte u. Ä. Diese teils recht aufwendige und viel Augenmaß erfordernde Akkuratesse ist kein Selbstzweck, sondern soll neben der genauen Erfassung der Texte und damit einhergehenden analytischen Möglichkeiten Vergleichsmaterial liefern für über die Edition hinausgehende materialphilologische Untersuchungen, etwa zu geographisch und chronologisch stratifizierten Entwicklungstendenzen des Schreibens vom 13. bis zum 15. Jahrhundert. Der handschriftliche Text enthält zahlreiche Eingriffe der Schreiber und späterer Rezipienten. Selbstkorrekturen der Schreiber wie Ergänzungen, Tilgungen, Umstellungen und Ersatzfälle sowie eventuell dazugehörige Metazeichen halten wir so detailliert wie möglich mit entsprechenden TEI-Tags fest, genauso wie Marginalien und Glossen. Ebenso gehört die Markierung graphischer Hervorhebungen wie Initialbuchstaben, farbigen oder rubrizierten Textes und Einrückungen zum Arbeitsprozess. Abgekürzte Wörter werden jeweils doppelt, in Originalgestalt und mit einem Auflösungsvorschlag, abgelegt und die abgekürzten bzw. aufgelösten Wortteile markiert. Textsegmente, die als graphische Formen zuvor markiert wurden, werden mit diesen verknüpft.32 Da das Rückgrat der Editionsstruktur die Einheit des idealen Verses (vorläufig der Rückert-Ausgabe entnommen) bildet, wird der transkribierte Text jeweils Vers für Vers in diese vorgegebene Struktur eingetragen. Dieser Transkription folgt ein linguistisch folgenreicher Schritt, die Tokenisierung, also eine Aufspaltung der jeweils zu einem idealen Vers für eine Handschrift verzeichneten und um die erwähnte Kodierung angereicherten Zeichenketten in wortäquivalente Segmente (w-Elemente nach dem TEI-Standard) und Interpunktionszeichen (pc-Elemente). Dies geschieht zunächst automatisiert, indem jede Zeichenkette nach den enthaltenen Leerzeichen aufgespalten wird (vorher aufgelistete Interpunktionszeichen werden explizit gesucht und markiert). In einem manuellen Korrekturgang wird dann diese Aufteilung philologisch angepasst. Doch was ist ein wortäquivalentes Textsegment bzw. ein Wort? Diesem nur scheinbar banalen Problem, mit dem Schreiber seit dem Aufgeben der scriptura continua zu kämpfen hatten und das sie mangels sprachlicher Normen recht individuell und auch dann meist uneinheitlich durch die Spatiensetzung lösten, begegnen wir in Anlehnung an zwei verschiedene linguistische Systematiken der aktuellen Mittelhochdeutsch-Forschung. Da dieser Schritt direkte Auswirkungen auf die Texterschließung durch Lemmatisierung und –––––––—
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Vgl. Elvira Glaser: Von der Transkription bis zur lauthistorischen Interpretation. In: Edition und Sprachgeschichte (Anm. 15), S. 25–41, hier besonders S. 27f. Wenn im laufenden Text keine besonderen Layoutelemente vorkommen, ist für uns das kleinste zu markierende Layoutelement der Textblock, also in der Regel eine Textspalte. Auf eine graphische Auszeichnung einzelner Wörter oder Zeilen in den digitalen Bildern verzichten wir vorerst.
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weitere linguistische Annotation hat, orientiert sich die Tokenisierung zum Einen an unserem Referenzsystem für die Lemmatisierung, der Lemma-Liste des neuen Mittelhochdeutschen Wörterbuchs.33 Dort werden Lexeme, die aus mehreren potenziell in Distanzstellung vorkommenden Teilen bestehen, wie Pronominaladverbien und Verben mit trennbaren Präfixen, in einem Lemma zusammengefasst (z. B. dar inne oder abe gân). Bei der Tokenisierung stehen wir in solchen Fällen vor einem Problem.34 Die weitere linguistische Annotation durch Wortarten-Tagging und morphologisches Tagging, die wir planen, spaltet nämlich in solchen Fällen – und zwar auch bei Zusammenschreibung in den Quellen – nach dem jüngst vorgestellten HiTS-Standard,35 an dem wir uns auf dieser Ebene orientieren wollen, solche ‚Wörter‘ jeweils in zwei Tokens auf. Das ist in Distanzstellung in gewisser Hinsicht auch technisch notwendig, es bleibt aber dennoch die Frage, ob man beide Teile nicht durch eine ‚Klammer‘ auf einer abstrakten Beschreibungsebene zusammenfasst. Da wir durch die doppelte Orientierung am Mittelhochdeutschen Wörterbuch einerseits und am HiTS andererseits ohnehin zwei Ebenen der Annotation benötigen, lösen wir diese Spannung, indem wir beim Tokenisieren nach dem ‚analytischeren‘ Ansatz des HiTS lieber kleinere Segmente ansetzen, welche für Lemmatisierungszwecke aber wieder zusammengefasst werden können. Auch andere zusammengeschriebene Formen wie in den Handschriften häufig vorkommende Präposition-Nomen-Verbindungen lösen wir für die philologische Aufbereitung durch ein dafür gewähltes TEI-Tag () auf und setzen zwei Tokens an, wodurch die Information über die Zusammenschreibung explizit dokumentiert wird, die beiden ‚Wörter‘ jedoch linguistisch getrennt verarbeitet werden können. Andererseits setzen wir jedoch bei getrennt geschriebenen Formen, die nach beiden genannten Systematiken als ein Lemma bzw. Token angesehen werden, auch nur ein Token an (XML-technisch ein w-Element), wobei das in der Handschrift erscheinende Spatium in der Transkription bewahrt bleibt. –––––––—
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Auch wenn das Mittelhochdeutsche Wörterbuch, ein von Kurt Gärtner begründetes Vorhaben der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (vgl. http://www.mhdwb-online.de; 15. 6. 2014), bislang nur zum Lemma êvrouwe fortgeschritten ist, besteht eine mit dauerhaften Identifikationsnummern versehene Lemmaliste, die zugleich als Konkordanz zu den älteren mittelhochdeutschen Wörterbüchern dient (für die freundliche Bereitstellung dieser Konkordanz sowie für einen hilfreichen Gedankenaustausch danke ich Frau Ute Recker-Hamm von der Trierer Arbeitsstelle des Projekts). Wir haben uns nach Abwägung anderer Alternativen (v.a. des Mittelhochdeutschen Handwörterbuchs von Matthias Lexer) dafür wegen der hier gegebenen philologischen Forschungsaktualität und Zukunftsorientierung entschieden, obwohl dies bis zur vollständigen Ausarbeitung des Wörterbuchs auch mit gewissen Nachteilen verbunden ist (nicht alle in der Lemmaliste vorhandenen Lemmata erhalten künftig tatsächlich einen ausgearbeiteten Eintrag im Wörterbuch; dank der Konkordanz werden in solchen Fällen aber die älteren Wörterbücher als Ersatzreferenz verfügbar bleiben). Vgl. dazu Ralf Plate: Zum Lemmastatus und Buchungsort der trennbaren Partikelverben im neuen Mittelhochdeutschen Wörterbuch. In: Ein neues Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Prinzipien, Probeartikel, Diskussion. Hg. von Kurt Gärtner und Klaus Grubmüller. Göttingen 2000 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-historische Klasse. Jg. 2000, 8), S. 113–139. Stefanie Dipper et al.: HiTS: ein Tagset für historische Sprachstufen des Deutschen. In: Journal for Language Technology and Computational Linguistics 28, 1, 2013, S. 85–137. Ich danke Stefanie Dipper herzlich für Hintergrundinformationen zu diesem neuen Standard.
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Zu dieser Annotation kommt eine Auszeichnung der Reime einschließlich ihrer Quantitäten in den jeweils letzten Wörtern einzelner Verse hinzu. Die Lemmatisierung, also die Zuordnung flektierter und/oder unterschiedlich geschriebener Formen zu ihren jeweiligen Grundformen,36 ist ein Schritt, der traditionell als Vorarbeit zur Erstellung eines editionsbegleitenden Wörterbuchs vorgenommen wird. Dabei stellt sich bei handschriftennahen Ausgaben u. a. die Frage der Normalisierung jeweils anzusetzender Grundformen. Unsere Methode unterscheidet sich davon insofern, als Grundformen gar nicht explizit verbalisiert werden, sondern in unserem ‚Archiv‘ allein durch den Verweis auf Lemmata des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs (und über Konkordanzen auf andere Wörterbücher im Trierer Wörterbuchnetz) mithilfe der dortigen Identifikationsnummern verzeichnet werden.37 Nur für (im Welschen Gast seltene) Fremdwörter und Eigennamen, die nicht im Wörterbuch verzeichnet sind, legen wir ein Glossar mit einem eigenen Referenzsystem an. Eigennamen werden zudem in vielen Fällen mit Einträgen in einer Personen- bzw. Akteurliste verknüpft, die auch zur Annotation der Figuren in Illustrationen verwendet wird. Eine solche Annotation der Handschriftentranskriptionen erweitert das ‚Archiv‘ der Transkriptionen um eine Dimension, welche die Editionsarbeit enger mit der historischen Sprachwissenschaft und der Korpuslinguistik verbindet. Doch nicht nur Textkritik (und die auf ihren Produkten aufbauende Literaturwissenschaft) und Linguistik rücken so einander näher:38 Durch die sehr differenzierte Typisierung des Zeichenbestands bei der Transkription und den dadurch entstandenen hohen Wert der Transkripte für schreibgeschichtliche Untersuchungen gehen in den auf diese Weise ausgezeichneten Daten auch die Paläographie und Graphologie eine Verbindung mit der Sprach- und Literaturwissenschaft ein.39 Die linguistische Annotation der Tran–––––––— 36
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Zur Lemmatisierung vgl. Martin J. Schubert: Glossargestaltung und Glossarnutzung. Editorische, sprachhistorische und andere Perspektiven. In: Edition und Sprachgeschichte (Anm. 15), S. 213–227, hier S. 222f. Praktisch gehen wir in Ermangelung zuverlässiger Lemmatisierungsprogramme für historische Sprachstufen des Deutschen so vor, dass wir zunächst Formen der normalisierten Rückert-Ausgabe anhand einer zuvor überwiegend manuell abgearbeiteten Wortformenliste annotieren. Dabei bedarf insbesondere die Disambiguierung von Homonymen philologischer Aufsicht. Im Laufe der feinkörnigen Alinierung auf Tokenebene, die mit der Markierung von Übereinstimmung oder Differenz einhergeht und zur Grundlage von Variantenapparaten wird (s. u.), werden bei Übereinstimmung die Lemmatisierungsinformationen von den Rückert-Formen zu den handschriftlichen Formen kopiert, bei Differenz nach und nach ergänzt. Eine ähnliche Methode, bei der sich die Datenmatrix während der Texterschließung mosaikartig füllt (wenn eine Form einmal annotiert ist, wird diese Annotation auch für gleiche oder sehr ähnliche Formen vorgeschlagen), ist auch für das Wortarten-Tagging und das morphologische Tagging vorgesehen. Zum automatisierten Tagging vgl. Stefanie Dipper: Morphological and Part-of-Speech Tagging of Historical Language Data: A Comparison. In: Journal for Language Technology and Computational Linguistics 26, 2, 2011, S. 25–37. Vgl. das Plädoyer von Manuel Braun: Kodieren, Annotieren, Theoretisieren. Zur Wiederannäherung von Literatur- und Sprachwissenschaft über Korpora. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 43, 172, 2013, S. 83–90. Auch das von Florian Kragl, Manuel Braun und Sonja Glauch geplante kollaborative Editionsprojekt Lyrik des hohen Mittelalters (LHM) sieht eine linguistische Annotation (und die Entwicklung dafür geeigneter automatisierter Programme) vor (für diese Information danke ich Sonja Glauch und Manuel Braun). Zu den Möglichkeiten praktischer Anwendung einer solchen Datenbasis vgl. z. B. Andrea HofmeisterWinter: Die Grammatik der Schreiberhände. Versuch einer Klärung der Schreiberfrage anhand der mehrstufig-dynamischen Neuausgabe der Werke Hugos von Montfort. In: Edition und Sprachgeschichte (Anm. 15), S. 89–116.
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skripte, die ihrerseits mit der Materialität der Artefakte (über die Ebene der den Artefakten abgenommenen ‚Dokumente‘) verknüpft ist, bedeutet nichts weniger als eine Semantisierung der Materialität der Schrift. Vielfältige Recherchemöglichkeiten werden damit eröffnet: Traditionelle korpuslinguistische Statistiken wie Wortformenfrequenzen und Kollokationen können so – wie auch in modernen annotierten Korpora üblich – auf der Ebene der Lemmata, Wortarten und grammatischen Formen durchgeführt werden, sie erstrecken sich nun aber auch auf die Verwendung bestimmter Grapheme und Graphe in Texten oder einzelnen Lexemen und reichen bis zur Ebene des Seitenlayouts einerseits (Fragestellungen wie: Werden in Wörtern oder Zeilen, die mit einer Initiale beginnen, bestimmte Graph[em]e bevorzugt? Wie wirkt sich vorgesehene Rubrizierung auf die Wahl der Graph[em]e aus? Werden in den jeweils letzten Zeilen einer Textspalte bestimmte Allograph[em]e bevorzugt?) und der Reimtechnik und Metrik andererseits (Werden in bestimmten Handschriften in Reimpositionen bestimmte Lexeme bevorzugt? Tritt e-Apokope bestimmter Lexeme vermehrt eher am Anfang, in der Mitte oder am Ende der Verse auf?). In dem Maße, in dem künftig vielleicht auch semantische Bezüge zwischen einzelnen Lemmata des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs nach und nach hergestellt werden (nach Synonymie, Antonymie, Superordination oder Sachfeldern), werden auch verstärkt semantische Recherchen möglich. Durch eine solche Anreicherung begegnet unser ‚Archiv‘ dem Vorwurf eines „Wortlautfundamentalismus der Textsequenzierung“ und der Behandlung von „Wortfolgen als technische Bilder“ „diesseits aller Sinnzuschreibung“.40 Es bewegt sich vielmehr unentwegt diesseits und jenseits der Hermeneutik41 und ermöglicht ausgedehnte analytische Grenzgänge im durch eine solche Semantisierung erschlossenen Text-BildGefüge. Die Sinnsuche verbündet sich mit numerischen Möglichkeiten der Statistik.42 Eine andere Ebene der inneren Verknüpfung des ‚Archivs‘ betrifft die Alinierung der Handschriften zueinander, also die gegenseitige Zuordnung (auch: Synchronisierung) einander entsprechender Textsegmente, welche die Voraussetzung für textkritische Kollationierung ist. Bereits unsere grundlegende Datenstruktur schließt eine Alinierung auf Versebene ein, indem Transkriptionen einzelner Handschriften zu entsprechenden Zeilen der Rückert-Ausgabe eingetragen werden. Wir streben jedoch eine feinkörnigere Zuordnung auf der Ebene einzelner Tokens an, in begründeten Fällen auch von Wortteilen unterhalb der Tokenebene. Technisch realisieren wir diese Art der Verknüpfung nicht durch eine tatsächliche Zusammenstellung zugehöriger Segmente im TEI-Code, die sich mit unserer Versstruktur nicht vertragen würde, sondern anhand einer einfachen Nummerierung in einem der Attribute einzelner wElemente, welche die gemeinsame Zugehörigkeit von Wortteilen, Wörtern und Wort–––––––— 40
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So über die „schleichende Verschiebung von (hermeneutischer) Textauslegung zu (digitaler) Textsequenzierung“ in den aktuellen Textualitätsvorstellungen Peter Strohschneider: Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur. Heidelberg 2014 (Germanischromanische Monatsschrift. Beiheft. 55), S. 21. Vgl. Gumbrecht 2004 (Anm. 27). Das muss nicht ein ‚distant reading‘ im Sinne Morettis (vgl. z. B. Franco Moretti: Distant reading. London/New York 2013) bedeuten, sondern führt potenziell zum ‚close reading‘ kleinster Textdetails.
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gruppen quer über die Handschriften festhält. Auch Umstellungen innerhalb eines Verses sind so übersichtlich kodierbar, für (seltene) Wortumstellungen, die den Versrahmen sprengen, und für Umstellungen ganzer Verse setzen wir einen expliziten Verweismechanismus ein. Auf die Alinierung folgt mit der Kollation der nächste Schritt der philologischen Aufbereitung, die Bewertung der Übereinstimmung oder Differenz der einander zugeordneten Textsegmente. Dabei stehen für uns diejenigen Differenzmerkmale im Vordergrund, die über einen automatisierten Zeichenabgleich (noch) nicht festgestellt werden können, zumindest dort nicht, wo noch keine Lemmatisierung und keine weitere linguistische Annotation vorliegt. Das betrifft insbesondere morphologische und semantische Unterschiede. Ähnlich wie bei der Alinierung versehen wir die vorher festgelegten Textsegmente mit Zahlen, deren Übereinstimmung oder Differenz diesen Sachverhalt in den Texten abbildet. Der erklärte Zweck dieser formalisierten Vollkollation ist die Verfügbarmachung der so kodierten Textdaten für algorithmische Auswertung der Überlieferungskonstellationen durch phylogenetische Methoden sowie die regelbasierte Generierung von Variantenapparaten (s. u. S. 359 und 360f.). Manuell ist eine solche philologische Aufbereitung der Transkriptionen äußerst zeitaufwendig und mühsam. Um die Gesamtkollation aller Handschriften zu bewältigen, die von Kries noch als „fast eine technische Unmöglichkeit“43 bezeichnete, entwickeln wir ein webbasiertes graphisches Drag-and-Drop-Tool, das Basisdateien einliest, semiautomatisch eine Alinierung und eine Variantenbewertung vorschlägt und die vom Philologen ausgewählte und korrigierte Auswertung zurück in die Basisdateien einträgt.44 Die einmal vorgenommenen philologischen Bewertungen sollen als Regeln gespeichert und beim nächsten Vorkommen eines identischen Falls als Vorschlag angezeigt werden. Auf diese Weise kann die Kollationsarbeit hoffentlich künftig mit einer vertretbaren Geschwindigkeit voranschreiten.45
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Von Kries 1967 (Anm. 6), S. 158. Für den automatisierten Schritt der Alinierung und Kollation wollen wir das Programm CollateX (http://collatex.net; 15. 6. 2014) serverbasiert einsetzen. Dabei sollen nicht nur Algorithmen zum Tragen kommen, die auf Identitäts- und Ähnlichkeitsabgleich (mithilfe der Levenshtein-Distanz) von Zeichenketten basieren, sondern auch solche, die philologisch festgelegte Regeln zur Austauschbarkeit von Zeichen zwecks Generierung möglicher Äquivalente und deren anschließenden Abgleichs verwenden. Wir hoffen, dabei auch von den Ergebnissen des seit 2012 unter der Leitung von Paul Molitor laufenden Forschungsprojekts Semi-automatische Differenzanalyse von komplexen Textvarianten (http://www. informatik.uni-halle.de/SaDA; 15. 6. 2014) profitieren zu können. Zu CollateX und dessen Einsatz vgl. zuletzt Ronald Haentjens Dekker et al.: Computer-supported collation of modern manuscripts: CollateX and the Beckett Digital Manuscript Project. In: Literary and Linguistic Computing, Advance Access seit 19. 3. 2014 (doi: 10.1093/llc/fqu007), 2014. Würde die linguistische Annotation im von uns vorgesehenen Umfang bereits vorliegen, wäre die Alinierung deutlich einfacher und die Kollation weitgehend automatisierbar, da zu jedem Token in jeder Handschrift bereits dessen Lemma, Wortart und grammatische Form bekannt wären. Eine weitgehend manuell zu bewältigende linguistische Annotation erscheint uns aber aufwendiger als eine semiautomatische Kollation. Deshalb setzen wir – nach der linguistischen Annotation des Rückert-Textes – zunächst auf die Kollation, von der ausgehend anschließend die Annotation der Handschriften leichter erfolgen kann.
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Abb. 3: Beispiel für unsere TEI-Kodierung der Transkriptionen von Handschrift A und G zu Vers 6111. Der Text der Handschriften ist hier jeweils fett hervorgehoben, den Rest bilden die Metadaten.
Analog zur beschriebenen Analyse der jeweiligen Haupttexte der Handschriften verfahren wir mit der Dokumentation und Aufbereitung der in den Illustrationen enthaltenen Beischriften und Spruchbänder. Allerdings werden diese zunächst über unsere graphische Eingabeoberfläche auf den Digitalisaten in ihren Konturen umrissen, wobei deren Zugehörigkeit zu Figuren (Akteuren) und anderen Objekten auf den Bildern angegeben wird. Anknüpfend an die durch von Kries entworfene Systematisierung der Bildmotive und deren Komponenten ordnen wir jede konkrete Illustration in einer Handschrift einem abstrakt gedachten Motiv zu, das seinerseits in abstrakt gedachte Komponenten (z. B. Personen) zerfällt. Diesen abstrakten Komponenten weisen wir dann konkrete Ausformungen einzelner Bestandteile der Illustrationen in den Handschriften zu, die – ähnlich wie Layoutobjekte – mit ihren Bildkoordinaten und mit beschreibenden Metadaten in unserer relationalen Datenbank gespeichert werden und später ins XML-Format exportiert werden können. Die künftige inhaltliche Erschließung des Werkes zum Zweck besserer ‚Navigation‘ und des Aufbaus eines Textstellenkommentars wird mithilfe einer – durch Verweise von außerhalb der Basisdateien realisierten – Aufteilung des Textes in kleine ‚Cluster‘ erfolgen,46 die einzelnen Aussagen und Argumenten entsprechen sollen. –––––––— 46
Dabei stüzten wir uns dankbar auf die Vorarbeiten von Susanne Höfer: Thomasin von Zerklaere, „Der Welsche Gast“. Gesellschaftliche Werte und Normen und deren Umsetzung in Muster praktischen Handelns für den höfischen Adel nebst Traditionszusammenhang. Übersicht über die Vorrede, die Bücher 1–3 und 9. http://www.uni-muenster.de/SFB496/Projekte/b4-thomasin/Thomasin_Vorrede_13u9.pdf (15. 6. 2014).
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Durch ein inhaltliches Tagging dieser Cluster werden eine effektive Sachsuche sowie alineare Lektürezugänge möglich. Durch die gerade skizzierten Ablage- und Analyseverfahren entsteht ein ‚Archiv‘, das in Dokumenten textueller, numerischer und graphischer Natur die den Welschen Gast tragenden Artefakte und deren gegenseitige Relationen abbildet, speichert und auf vielfältige Weise auf unterschiedlichen Ebenen neu miteinander verknüpft. Das ‚Archiv‘ ist komplex und auf Komplexität ausgelegt. Es soll keine Komplexität reduzieren, sondern sie ermöglichen und produzieren, sofern sie das ‚Werk‘, dessen Zeichensysteme und die darauf aufbauenden hermeneutischen und nicht-hermeneutischen (‚evidenzbasierten‘) Verstehens- und Perzeptionsprozesse wiedergibt und fördert. Die komplexen Inhalte des ‚Archivs‘ sollen nicht im Verborgenen bleiben, sondern spätestens am Ende der Projektförderung als XML-Dateien elektronisch öffentlich gemacht werden. Deren einzige Eingangshürde wird künftig – und das ohne Absicht, sondern als notwendige Begleiterscheinung – nur ihre Komplexität sein. Daher sind sie kaum für die menschliche ‚Lektüre‘ geeignet. Der Zweck der technologischen Formalisierung des ‚Archivs‘ ist dessen maschinelle Lesbarkeit, die es ermöglichen soll, effektiv mit Komplexität umzugehen. Ohne hier aufgrund der in der Forschung mittlerweile weit fortgeschrittenen Reflexion des Archivbegriffs eine breitere Theorie des Archivs bemühen zu wollen, scheint es mir dennoch angebracht, vor dem Hintergrund der beschriebenen praktischen Methodik einige theoretische Aspekte unseres Konzepts des ‚Archivs‘ zu benennen.47 Einerseits wird das Archiv durch die Beschaffenheit und Struktur der in es eingehenden Akten in seiner eigenen Beschaffenheit und Struktur bestimmt und gesteuert. Zum Anderen gehört zum Wesen des Archivs eine Registratur,48 welche die eingehenden und abzulegenden Akten verzeichnet und ordnet, und das nicht unbedingt immer mit Rücksicht auf deren natürliche Strukturierung, sondern im Hinblick auf eine übergreifende materielle oder ideelle Ordnung.49 In unserer ‚Archivierungspraxis‘ –––––––—
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Die erste Orientierung in der Archivtheorie verdanke ich der Anthologie: Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten. Hg. von Knut Ebeling und Stephan Günzel. Berlin 2009 (Kaleidogramme. 30). Für den freundlichen Hinweis darauf danke ich meinem Heidelberger SFBKollegen Michael Ott. Der Begriff ‚Registratur‘ ist hier direkt aus praktischem Grundlagenwissen zur Archivkunde übernommen (vgl. z. B. Ahasver v. Brandt: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. Mit aktualisierten Literaturnachträgen und einem Nachwort von Franz Fuchs. 17. Auflage. Stuttgart 2007, S. 111–116; Eckhart G. Franz: Einführung in die Archivkunde. 7., aktualisierte Auflage. Darmstadt 2007, S. 87–92) und setzt keine spezielle Theorie voraus. Etymologisch heißt er so viel wie ‚Verzeichnis‘, vgl. Wolfgang Ernst: Das Archiv als Gedächtnisort. In: Archivologie (Anm. 47), S. 177–200, hier S. 191. Insofern bekennen wir uns auch zum diskurssteuernden und wissensproduktiven Gesetzlichkeitscharakter des Foucault’schen Archivbegriffs, vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Übers. von Ulrich Köppen. Frankfurt/M. 1981, z. B. S. 187: „Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht. Aber das Archiv ist auch das, was bewirkt, daß all diese gesagten Dinge sich […] in distinkten Figuren anordnen, sich aufgrund vielfältiger Beziehungen miteinander verbinden […].“ Noch prägnanter bringt Derrida (1997 [Anm. 24], S. 38) die Veränderung der ‚Akten‘ durch das Archivieren zum Ausdruck: „Sie [d. h. die Archivtechnik] bedingt nicht bloß die eindrückende Form oder Struktur, sondern den eingedrückten Inhalt des Eindrucks: der Druck des Eindrucks vor der Spaltung zwischen dem Eingedrückten und dem Eindrückenden.“
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spiegelt sich diese Dichotomie (und die daraus resultierende Spannung) in der Bestrebung, artefaktorientiertes und werkorientiertes Edieren zu vereinen. Das Archiv hat daher im Wesentlichen zwei ‚Registraturen‘, eine, die sich an der Struktur der Artefakte ausrichtet (deren Seiten- und Zeilenumbrüche, Einzelbilder mit deren Bestandteilen usw.) und eine, die von einer ideellen Werkstruktur ausgeht (u. a. Bücher, Kapitel, Verse und Bildmotive). Hinzu kommen weitere abgeleitete Strukturen und Hierarchien, die sich aufgrund der verzeichneten Lemmata, der ermittelten Stemmata oder der im Text und Bild identifizierten und typisierten Akteure bilden. Zu betonen gilt es, dass die im Archiv abgelegten ‚Akten‘ nicht nur textueller Natur sind, sondern in unserem Fall auch Bilder, deren Erschließung potenziell auch andere Zugänge ermöglicht als textbasierte (etwa algorithmische Bildanalyse und -statistik). Ein anderer Aspekt unseres ‚Archivs‘ ist sein dekonstruierender Charakter, der sich in der Typisierung, Zerlegung und listenartigen Anreicherung der transkribierten Textzeichenketten sowie in der formalisierten Segmentierung der Bilder äußert. In diesem Prozess hören Texte auf, Texte zu sein, sie halten gleichsam in einem zeitlosen (weil virtuellen) Moment an. Sie werden zu Listen, dieser archaischen Wissensform,50 die so viel mit unseren heutigen Datenbanken gemeinsam hat und durch tabellenartige Anordnung schnellen Zugriff auf so abgelegte epistemische Einheiten bietet. Die Grenzen der Dekonstruktion werden durch Eigenheiten des Materials, durch das Forschungsinteresse sowie durch pragmatische Entscheidungen des ‚Archivars‘ bestimmt. Erst durch die (Re)Konstruktion im ‚Prisma‘ werden aus den so zerlegten Text- und Bildbausteinen wieder sequenzielle Texte und zusammenhaltende Bildgefüge,51 werden die Zeichen wieder zu ‚Organismen‘. Dennoch ist auch schon unser Archivkonzept gleichzeitig prozessual geprägt, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass – etwa mit dem Festhalten produktionstechnischer und kopierpraxeologischer Merkmale der Handschriften (Entwurf und Herstellungsreihenfolge der Seitenelemente, Korrekturen usw.) – entstehungschronologische Aspekte der Artefakte dokumentiert werden, sondern dass wir das ‚Archiv‘ selbst als ‚Archivarbeit‘, als einen dynamischen Prozess begreifen, der sich mittels der Selbsterweiterung und Selbstvertiefung in heuristischen und hermeneutischen Spiralen vollzieht. Wenn Transkripte verschiedener Handschriften miteinander verglichen und einzelne Textsegmente aliniert werden, kann einmal Gelesenes mitunter klarer und besser gelesen werden als zuvor. Einmal Dokumentiertes wird verbessert, das ‚Archiv‘ erneuert sich. Durch die hergestellte Alinierung – einschließlich der nun zutage tretenden Verknüpfungen zwischen Textteilen und graphischen Bildsegmenten – werden zuvor verborgene Beziehungen zwischen Handschriften deutlich, auch auf der Ebene der Seitengestaltung, beispielsweise beim Größenvergleich von Initialen. Festgestellte Relationen werden wiederum im ‚Archiv‘ dokumentiert, werden in das ‚Archiv‘ eingeschrieben: Das Werk gewinnt an Kontur. Zugleich eröffnet das transformatorische und analytische Potenzial des ‚Prismas‘, etwa durch Filterung oder phylogenetische –––––––—
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Vgl. dazu aus materialkultureller Perspektive Markus Hilgert: Von ,Listenwissenschaft‘ und ,epistemischen Dingen‘. Konzeptuelle Annäherungen an altorientalische Wissenspraktiken. In: Journal for General Philosophy of Science 40, 2009, S. 277–309, mit grundlegender und weiterführender Literatur. Vgl. Gabler 2007 (Anm. 25), S. 199: „to edit texts critically means precisely this: to construct them.“
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Analytik, neue Perspektiven auf das Werk, die ihrerseits schrittweise ins ‚Archiv‘ abgelegt werden können. Ebenso wird der sukzessive entstehende ‚kritisch‘ edierte Text, der aus dem ‚Substrat‘ des ‚Archivs‘ und aus unserer Arbeit hervorwachsen wird, selbst zum ‚Archivgut‘. Selbst wenn unsere editorische Arbeit mit dem Ende der Projektförderung in einigen Jahren abgeschlossen und das ‚Archiv‘ als eine Dokumentensammlung auf dem Server einer Bibliothek oder einer nationalen Plattform (z. B. TextGrid) gespeichert und dauerhaft referenzierbar (und damit als Ganzes oder in beliebigen Teilen zitierbar) gemacht wird, schließt dies die Entstehung weiterer, erweiterter oder umgewandelter Versionen nicht aus, die ebenfalls dauerhaft gespeichert und adressierbar gemacht werden können. Das ‚Archiv‘ schreibt sich fort.
‚Prisma‘ Das ‚Prisma‘ ist ein Ort für Rollenspiele. Wenn wir versuchen, einen auktorialen oder redaktionellen Text zu rekonstruieren, übernehmen wir eine Rolle, wir tun so, ‚als ob‘ wir der Autor oder der Redaktor wären, wir spielen den Autor und den Redaktor und ahmen deren mutmaßliche Intentionen nach. Das tun wir im Bemühen um historische Angemessenheit und Wahrscheinlichkeit, doch im Grunde nicht anders, als wenn bei der historischen Aufführungspraxis der Barockmusik ein Interpret versucht, die – nach historischen Vorbildern zeitgetreu nachgebaute oder gar im Original erhaltene – Violine gemäß der historischen Spielweise zu spielen. Der heutige Interpret wird dabei nicht zum historischen Interpreten (Zeitreisen sind nicht möglich), sondern übernimmt dessen Rolle, die er nach seinem besten Wissen und Gewissen auszufüllen bestrebt ist. (Der Unterschied zwischen der Rolle eines Interpreten und der eines kreativen Autors verzerrt die Gültigkeit dieses Vergleichs nicht wesentlich, da beide Rollen intentionaler Natur sind, worauf es hier ankommt.) Die Rollenhaftigkeit des Edierens gilt ebenfalls für editorische Präsentationsverfahren von einzelnen Artefakttexten (diplomatische Abdrücke bzw. Transkriptionen einer Handschrift), nur übernehmen wir dann die Rolle des Schreibers und versuchen dessen Schreibintentionen zu replizieren. Auch die Tätigkeit eines Herausgebers, der auf Rekonstruktion weitgehend verzichten will, Überlieferungstreue schwört und unter diesen Prämissen einen Text präsentiert, kann als ‚Rolle des zurückhaltenden Editors‘ bezeichnet werden. Ein und dieselbe editorisch tätige Person kann ja an ein und demselben Artefakt/Text/Werk mehrmals, jedes Mal auf unterschiedliche Weise, ihre herausgeberische Rolle wahrnehmen. Viele tun das ganz selbstverständlich, indem sie als Ergebnis eines Editionsprojekts mehrere handschriftengetreue oder mehr oder weniger rekonstruierte Texte des einen Werks bieten. Sich beim rekonstruierenden Edieren zur Rollenhaftigkeit des eigenen Tuns explizit zu bekennen, macht die editorische Tätigkeit aus unserer Sicht ehrlicher und damit befreiend. Außerdem kann so auch der mitunter verpönte Intentionalitätsbegriff wieder salonfähig werden. Wenn nämlich ausdrücklich gesagt wird, dass die Veröffentlichung einer diplomatischen Umschrift oder der Konstruktion einer mutmaßlich autornahen Textgestalt nicht mit dem Anspruch auftritt, als die neueste quasi-verbindliche
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Wiederherstellung eines Schreiber- oder Autortextes (gemäß der Intention des Schreibers oder Autors) aufgenommen zu werden, sondern sich versteht als eine an den Leser und Benutzer gewandte Intention des Herausgebers, der unterschiedliche Rollen annehmen kann,52 dann entsteht Raum für innovative Experimente. Der Herausgeber erhält die Freiheit, aus dem Schatten herauszutreten und mit ‚rhetorischem‘ Impetus seinem Leser lesbare, weil persönlich verantwortete Texte zu überreichen. Die Betonung der Rollenhaftigkeit editorischer Tätigkeit soll also nicht als Versteckspiel vor der Verantwortung, sondern im Gegenteil als Plädoyer für verantwortungsvolles, weil persönliches und personengebundenes Edieren verstanden werden, das nicht nur um seine dokumentatorische Treue, sondern auch um seine Verpflichtung gegenüber der Rezipierbarkeit durch sein Zielpublikum, den heutigen Leser, weiß.53 Diese Freiheit entsteht allerdings nur dann, wenn man sich nicht dem Vorwurf aussetzt, die ‚Original‘-Texte, also die artefaktisch verbürgte Überlieferung, zu verändern und damit zu verfälschen. Sicher, auch das vom Anspruch her rein dokumentarische Edieren, das nach unserem Verständnis im ‚Archiv‘ stattfindet, ‚archiviert‘ nicht die –––––––— 52
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Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte. Frankfurt/M. 2003 (das der Edition gewidmete Kapitel [S. 44–68] stützt sich auf Gumbrechts früheren Aufsatz Play Your Roles Tactfully! In: Editing Texts = Texte Edieren. Hg. von Glenn W. Most. Göttingen 1998 [Aporemata. 2], S. 237–250), S. 49f.: „Was den Herausgeber oder die Herausgeberin bei diesen [Auswahl-, J. Š.] Entscheidungen leitet, ist […] seine oder ihre Vorstellung von der möglichen Intention des Verfassers des jeweiligen Texts. […] Hier möchte ich jedoch betonen, daß sich das editorische Subjekt in diesen vielfältigen Entscheidungsakten zugleich selbst konstituiert. Denn die Wahl zwischen einer Vielfalt von Elementen ist genau das, was man als ‚Sinnproduktion‘ bezeichnen kann – unter der einen Bedingung allerdings, daß alle Elemente, die nicht gewählt werden, potentiell präsent bleiben anstatt verlorenzugehen oder unterdrückt oder gar zerstört zu werden. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, produziert die Textedition Sinn nicht nur als ‚Nebenwirkung‘, sondern sie ist Sinnproduktion par excellence, denn die Erhaltung und Dokumentation des Nichtgewählten gehört zu den maßgeblichen Funktionen der philologischen Praxis. Sobald der Sinn produziert ist, können wir jedoch unmöglich der Versuchung widerstehen, nach einem etwaigen Urheber dieses Sinns zu suchen. So können wir einfach keinen edierten Text seinem Variantenapparat gegenüberstellen, ohne uns zu überlegen, wer der Herausgeber hätte sein können und nach welchen Grundsätzen er sich bei der Herstellung des Texts womöglich gerichtet hat. Hier, in der Phantasie des philologisch bewanderten Lesers, ist der Ort, an dem die Rolle des Herausgebers zum erstenmal zur sozialen, d. h. zur gemeinschaftlich akzeptierten Realität wird.“ Ferner (ebd., S. 54), in Absetzung von der Historisierung des Autorbegriffs bei Michel Foucault: „Der von mir in Anspruch genommene Autorenbegriff ist nachgerade universell, denn es ist offenbar schwierig (wenn nicht gar unmöglich), nicht an einen Akteur, einen Urheber oder einen Autor zu denken, wenn man irgendwelche menschlichen Artefakte erblickt, zu denen beispielsweise auch Texte gehören. […] Außerdem setzt diese Editorenrolle die zugleich von ihr gestaltete Hervorbringung einer hypothetischen Autorenrolle voraus; anders gesagt, die Editorenrolle enthält im Keim immer schon eine Autorenrolle. Dabei liegt es auf der Hand, daß die Editorenrolle auch immer schon vielfältige Leserrollen in sich birgt.“ Gumbrecht fragt im Hinblick auf die editorischen Maximen Menéndez Pidals nach der Vereinbarkeit einer emphatischen ‚Sängerrolle‘, in der ein Herausgeber alte Werke der heutigen Welt vorlegen, ja vortragen möchte, mit philologischen Grundsätzen und antwortet mit der begrifflichen Ansetzung von ‚Rollen‘ als ‚Subjektivitätskonstruktionen‘: „Aber ist es wirklich möglich, zur gleichen Zeit die Rolle des Philologen und die des Sängers (oder auch die des Dichters) zu spielen? Und kann man etwa gar im Hinblick auf ein und dasselbe Textkorpus gleichzeitig Philologe und Sänger sein? […] Jede der Rollen, die sich die Editoren zu eigen machen können (auf zwei verschiedenen Ebenen: Autorenrollen und Editorenrollen), kann unter verschiedene Typen von Subjektivitätskonstruktionen subsumiert werden, und solche Affinitäten der verschiedenen Herausgeberrollen zu verschiedenen Subjektivitätskonstruktionen werden dazu beitragen, daß wir die unterschiedlichen philologischen Stilrichtungen verstehen, auf die wir in unserer professionellen Umgebung stoßen“ (Gumbrecht 2003 [Anm. 52], S. 46f.).
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Artefakte selbst, sondern transformiert sie in vielfältiger Weise in Dokumente. Doch hält man sich dabei, soweit es eben nur geht, von eigenen Eingriffen zurück. Wenn der Editor aber ‚konturierte‘ Rollen einnehmen will, was spätestens dann nötig wird, sobald man Lesetexte überzeugend präsentieren möchte, und zugleich seinen dokumentatorischen Verpflichtungen nachgeht, wird mehrschichtiges Edieren unumgänglich. Unter ‚Prisma‘ verstehen wir also metaphorisch den Ort, an dem die Umwandlung der ‚Archivdokumente‘ zum Zweck der wissenschaftlichen Analyse, der Visualisierung und der editorischen Präsentation in finalen Medien stattfindet. Das ‚Prisma‘ ist konzeptuell vom ‚Archiv‘ verschieden, es dient nicht primär der Dokumentation, sondern der Transformation54 des Dokumentierten und orientiert sich an Bedürfnissen der Zielgruppen der Edition (beim Welschen Gast z. B. andere Editoren, Literaturwissenschaftler, Linguisten, Paläographen, Kunsthistoriker, Studenten der genannten Fächer, interessierte Öffentlichkeit) sowie der eigenen Recherche des Editors. Viele der an den Zielgruppen ausgerichteten Produkte dieser Transformation verlangen nach einer Reduktion der im ‚Archiv‘ vorliegenden Komplexität. Deshalb gehört zu den wichtigsten Aufgaben der vom Herausgeber im ‚Prisma‘ einzunehmenden ‚Rollen‘ das Auswählen.55 Wenn wir das ‚Archiv‘ als einen chiffrierten Code betrachten, ist das ‚Prisma‘ ein Dechiffrierungsinstrument, im einfachen Fall mit der Fleißnerschen Schablone vergleichbar, die durch vorgefertigte Löcherung auswählt, was von einer darunterliegenden Matrix sichtbar werden soll und was verdeckt bleibt. Die Anordnung der Löcherung konstruiert aus einer kodierten Chiffre erst einen lesbaren Text. Auf die Struktur unseres ‚Archivs‘ übertragen, kann dies heißen, dass nach einer definierten Anweisung die analytisch (im etymologischen Sinne: ‚auflösend‘) voneinander getrennten Wortteile, Wörter und Verse wieder zu einem sequenziellen Text verknüpft werden und Textteile einer Handschrift wieder zueinander finden. Das ‚Prisma‘ steuert die (Re-)Konstruktion des für die Analyse Zerlegten, es kann nicht nur Texte und Bilder als konturierte und profilierte Einheiten wieder auferstehen lassen, sondern kann zur Konstruktion des ‚Werkes‘ dienen, zum Aufzeigen der Einheit in der Vielheit. In unserer Editionsmethodik sind das ‚Prisma‘ bzw. die ‚Prismen‘ Sätze digitaler Transformationsanweisungen für die Umwandlung der ‚Archiv‘-Daten. Mehrere oder viele solcher ‚Prismen‘ sind ein- und ausschaltbar und unterschiedlich miteinander kombinierbar. Prismen sind vor allem Leiter. Doch sie können das am Artefakt kaum oder schwer Sichtbare sichtbarer machen. Sie können brechen, (zer-)streuen, reflektieren, polarisieren, bündeln; dekonstruieren, umstrukturieren, lenken, filtern, hervorheben. Das, was sie generieren, wird dem Präsentations- und Interaktionsmedium, der –––––––— 54
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Vgl. zum Konzept ‚Edition als Transformation‘ den Artikel Edition von Kay Joe Petzold, Joachim Friedrich Quack und mir im 2015 erschienenen Sammelband Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken. Hg. von Michael Ott, Thomas Meier und Rebecca Sauer. Berlin/Boston (Materiale Textkulturen. 1). Vgl. Gumbrecht 2003 (Anm. 52), S. 49: „Das Edieren von Texten ist, wie jeder weiß, ein vielschichtiger Prozeß des Wählens. Herausgeber wählen zwischen Varianten von Stellen, die nach ihrem Dafürhalten äquivalent sind und aus Texten stammen, die nach ihrer Kenntnis ein und derselben Überlieferung angehören. […] Sogar die Korrektur bestimmter ‚Fehler‘ in einem ohne Varianten überlieferten Text beinhaltet eine Entscheidung, nämlich die Wahl einer einzigen unter vielen möglichen Formen, die als grammatisch korrekt hineinpassen könnten.“
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Schnittstelle mit dem Leser und Benutzer, nach der Metaphorik dieses Beitrags: dem ‚Touchscreen‘, zugeführt. Dieses Produkt des ‚Prismas‘, das anschließend medial ‚inkarniert‘ werden soll,56 kann als Ergebnis digitaler Verfahren auf zweifache Weise entstanden sein: durch Verfahren des Samplings oder der Simulation.57 Beim Sampling werden analoge Daten in digitale umgewandelt, wie etwa beim Scannen von physisch vorliegenden Bildern; die Simulation hingegen lässt genuin digitale Daten durch Algorithmen transformieren – um vielleicht der realen Welt täuschend ähnlich aussehende Gebilde aufzubauen, wie etwa bei der simulierenden Computergraphik, die mathematisch beschriebene Formen mit Farboberflächen und/oder Texturen einkleidet, sodass sie zwei- oder dreidimensionale Objekte nachahmen. Ähnlich lassen sich digitale Technologien auch zu editorischen Zwecken einsetzen: Während beispielsweise bei der Herstellung eines digitalen Variantenapparats dem Sampling die Digitalisierung (und vielleicht hypertextuelle Verknüpfung zum Haupttext) eines bereits gedruckten Variantenapparates entsprechen könnte, würde eine Simulation die automatisierte Generierung des Lesartenapparates aufgrund genau festgelegter Regeln bedeuten, wie es etwa heute die Programme Juxta oder CollateX leisten.58 Als Philologe wird man gegenüber einer vollständigen Automatisierung solcher Aufgaben zu Recht misstrauisch sein, doch genau festgelegte computerisierte Regeln können einem nicht nur Unmengen ohnehin mechanischer Arbeit abnehmen, sondern auch zur Konsistenz- und Vollständigkeitskontrolle dienen und sich so mit der ‚manuellen‘ philologischen Arbeit ergänzen.59 Der Wert philologischer Kompetenz ist unersetzlich; übrigens auch nur mit ihrer Hilfe können computerlinguistische Algorithmen geschrieben werden, die der Sache wirklich gerecht werden. Die ‚Prismen‘, wie sie uns im editorischen Sinne vorschweben, könnten diverse Aufgaben erfüllen: Sie könnten Transkriptionen von Handschriften für eine sehr handschriftennahe Ausgabe aufbereiten, indem sie beispielsweise den entsprechenden Text zusammenstellen, für Abbreviaturen jeweils aufgelöste Formen setzen, Allographe vereinheitlichen, aus einem kritisch hergestellten Text (wenn sinnvoll) dessen Interpunktion übernehmen und alle als Eigennamen annotierten Wörter am Anfang großschreiben. Solche Umwandlungen sind relativ einfach programmierbar, deren einzelne Aspekte sehr flexibel kombinierbar und daher bestens geeignet, Texte für dynamische Online-Ausgaben vorzubereiten. Aber auch ein kritischer Text lässt sich selbstredend anhand vordefinierter Regeln automatisch herstellen und könnte beim Vorliegen philologisch überprüfter Kollation als Grundlage von oder zum Vergleich mit einem manuell edierten Text dienen. So könnte man beim Welschen Gast, wenn –––––––— 56 57
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Zur Diskussion der (Re-)Inkarnationsmetapher im editorischen Kontext vgl. Shillingsburg 2002 (Anm. 26), S. 21f. Vgl. zur näheren Erläuterung Jens Schröter: Intermedialität, Medienspezifik und die universelle Maschine. In: Performativität und Medialität. Hg. von Sybille Krämer. München 2004, S. 385–411, hier S.389–392. Zu Juxta vgl. http://www.juxtasoftware.org (15. 6. 2014), zu CollateX vgl. Anm. 44. Vgl. Tara L. Andrews: The Third Way. Philology and Critical Edition in the Digital Age. In: Variants 10, 2013, S. 61–76, hier S. 68, über die Herstellung eines kritischen Textes: „Here too the computer may assist, primarily by ensuring consistency of decision throughout the text and by ensuring that any departure from the given witnesses is marked out and commented upon.“
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man (wie wir) auf einen kritisch hergestellten Text anhand der Handschrift A abzielt, den Wortlaut von A immer dann durch eine G-Lesart ersetzen (und als ersetzt markieren) lassen, wenn A mit seiner Lesart in der gesamten Überlieferung allein stehen würde. Die Aufstellung und Kombination solcher Regeln könnte man auch den Experten unter den (wissenschaftlichen) Benutzern der Ausgabe überlassen, die über die Oberfläche des ‚Touchscreens‘ oder direkt über eigene Skripte mit dem ‚Archiv‘ interagieren würden und sich so nach eigenen Kriterien eine maßgeschneiderte Ausgabe erstellen ließen, etwa mit dem Text einer mutmaßlichen Redaktionsstufe. Die im ‚Prisma‘ gebundenen editorischen Umwandlungsanweisungen könnten Schreiberrollen simulieren, indem sie Selbstkorrekturen der Schreiber dem Text einverleiben oder graphische Merkmale (Initialen usw.) der Handschriften nachahmen lassen. Sie könnten zu Editorenrollen (z. B. als stark rekonstruierender vs. bewahrender Herausgeber) und Leserrollen (z. B. Studierende vs. Fachleute) gebündelt werden. Im Sampling-Modus könnten sie manuelle Einzeleingriffe zum Zweck eines vom Herausgeber stärker subjektiv rekonstruierten Textes in einer Anweisungsliste vereinen, die dann den Text für eine Leseausgabe generieren würde (wie wir es vorhaben). Simulierend – und eine entsprechende sprachhistorische Kompetenz voraussetzend – könnte man aber auch versuchen, dialektale Merkmale anhand von algorithmisch ausgedrückten Lautgesetzen aus dem Text zu entfernen, in den Text einzubauen oder durch andere zu ersetzen (etwa zur Rekonstruktion einer dialektal geprägten Autoroder Redaktorrolle). In Verbindung mit der im ‚Archiv‘ vorhandenen linguistischen Annotation könnte man – bei entsprechender Entwicklung der computerlinguistischen Lexikographie und Grammatik im Bereich des Mittelhochdeutschen, die sich vor dem Hintergrund aktueller Forschungsprojekte abzeichnet – Handschriftentexte regelbasiert sprachlich normalisieren und sie etwa der Lemmasprache des neuen Mittelhochdeutschen Wörterbuchs angleichen lassen. Die Anweisungssätze oder gleich deren fertige Produkte könnte man als Dokumente ins ‚Archiv‘ aufnehmen und sie zu dessen Bestandteil werden lassen, als Dokumentation unserer Forschung und der Leseweise des Werkes Welscher Gast in unserer Zeit. All das hat die Editionsphilologie ohnehin bislang getan. Die simulierende Computertechnologie kann uns helfen, dies – wenn begründet und gewollt – schneller, einfacher und zuverlässiger zu tun, sie führt uns aber zugleich die Relativität und Ersetzbarkeit unserer ‚Prismen‘ vor Augen: All along, we have believed that we were trying to edit an ever-older and more reliable form of the text. Yet all that we have succeeded in doing is creating fresh forms of an old text, by our habit of editing eclectically, with a reading from here and a reading from there. We shake the kaleidoscope, and a new pattern emerges.60
Die ‚prismatische‘ Komponente unseres Editionskonzepts dient allerdings nicht nur der Konstruktion von Texten (und Bildern) für die Veröffentlichung, sondern schließt explorative Werkzeuge und Zugriffsmechanismen auf das ‚Archiv‘ mit ein, die sich wiederum in die Konstruktion des edierten Werkes einbinden lassen. Eine privilegier–––––––—
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D.C. Parker: The Quest of the Critical Edition. In: Variants 1, 2002, S. 33–42, hier S. 41.
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te Rolle kommt dabei der phylogenetischen Analyse zu,61 für deren Zwecke zum Teil auch die Struktur des ‚Archivs‘ modelliert wurde. Die philologisch überprüften und numerisch kodierten Informationen über Übereinstimmung oder Differenz miteinander alinierter Textsegmente lassen sich direkt in für die computergestützte Stemmatologie benötigte Matrizen exportieren, ohne dass eine mühsame sprachliche Angleichung der zu vergleichenden Texte vorgenommen werden müsste. Dabei ließe sich auch flexibel einstellen, welche Ebenen der Varianz (Lexik, Morphologie, Schreibweise) als analytisch relevant übernommen werden sollen. Die Ergebnisse phylogenetischer Analyse, vornehmlich genetische Baumgraphen und Ähnlichkeitsnetzwerke, gehen mit einer Reihe nützlicher Metadaten einher (etwa Wahrscheinlichkeitswerte für Stemmaverzweigungen), die eine sehr brauchbare Ergänzung herkömmlicher Stemmatologie sind. Außerdem lässt sich die computergestützte Stammbaumanalyse ohne großen Aufwand auch auf die Untersuchung der Abhängigkeitsverhältnisse in der Bildüberlieferung und der Layoutgestaltung anwenden, indem etwa das Vorhandensein oder das Fehlen bestimmter Motivkomponenten in den Illustrationen oder der Seitenstruktur in phylogenetisch analysierbaren Tabellen numerisch ausgedrückt werden. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wirken selbstverständlich auf textkritische Entscheidungen zurück und vereinfachen diese durch anschauliche Visualisierungen. Im Bereich der Textexploration sind außerdem Reimanalysen und korpuslinguistische Abfragen von Belang, für die das ‚Archiv‘ offen steht. Frequenz- und Kollokationsstatistiken auf diversen Ebenen (Graphie, Morphologie, Lexik) unterstützen die editorische Arbeit, verhelfen zum besseren Verständnis des Werkes und können für eine editionsbegleitende Veröffentlichung, auch in dynamischer und benutzergesteuerter Form, zur Verfügung gestellt werden.
‚Touchscreen‘ Für die Veröffentlichung der Edition des Welschen Gastes planen wir eine im Internet verfügbare dynamische Plattform sowie gedruckte Buchausgaben. Im Druckbereich haben wir einerseits (wenn der technische und finanzielle Aufwand vertretbar sein wird) eine großformatige Gesamtausgabe mit einem auf A basierenden kritischen Text, einer philologischen Übersetzung und umfassenden Variantenapparaten sowie einer bildlichen und beschreibenden Dokumentation aller Illustrationen vor, andererseits eine kleinere Leseausgabe, wobei beide Ausgaben Verknüpfungen zu dauerhaft referenzierbaren digitalen Text- und Bildobjekten enthalten sollen. Intermedialität ist dem Welschen Gast durch die Omnipräsenz der (meist beschrifteten) Illustrationen und die paratextuelle mise en page bestimmter Handschriften ohnehin schon in die Wiege gelegt. Aber auch der (Haupt-)Text selbst ist mit seiner assoziativen und iterativen inhaltlichen Struktur nicht das, was man sich unter einem li–––––––— 61
Zur Einführung vgl. Johanna Nichols und Tandy Warnow: Tutorial on Computational Linguistic Phylogeny. In: Language and Linguistics Compass 2, 5, 2008, S. 760–820. In der Altgermanistik ist mit der Anwendung solcher Analysen bislang v.a. das Parzival-Projekt von Michael Stolz in Erscheinung getreten.
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nearen Text vorstellt. Die erwähnten Versuche der Gothaer Handschrift, dieses alinearen Textcharakters durch Gliederungs- und Verweismechanismen Herr zu werden, werfen die Frage auf, ob das Format des Buches wirklich das beste ist, was einem Werk wie dem Welschen Gast ‚passieren‘ kann. Und ist lineare Lektüre, wie sie das Buchformat grundsätzlich nahelegt, wirklich der angemessene Perzeptionszugang zu diesem Werk? Hypertextuelle Hilfsmittel wie Marginalien, Fußnoten, Inhaltsverzeichnisse und Register sind traditionelle Mechanismen der alinearen ‚Navigation‘ in gedruckten Büchern, sie sind allerdings selten intuitiv zu erfassen. Wir können uns die digitale Darstellung des Welschen Gastes auch als Einladung an den Leser vorstellen, sich auf andere, nach den im ‚Archiv‘ abgelegten thematischen Clustern (s. o.) assoziativ geknüpfte und ‚rhizomatisch‘62 miteinander verbundene Leserouten zu begeben, die ihn bei der Lektüre etwa entlang eines gewählten Themas führen würden, anstatt linear den natürlichen Textverlauf zu verfolgen. Auch wenn unsere Konzeption des ‚Archivs‘ und des ‚Prismas‘ ohne Medien nicht denkbar ist, zumal man für jede zeichenhafte Äußerung ein Tragendes, eine Vermittlungsinstanz, voraussetzen muss, ist der primäre und sichtbarste Ort des Medialen der ‚Touchscreen‘ als wichtigste Schnittstelle zum Leser und Benutzer der Edition.63 Mit diesem Begriff ist keine konkrete Technologie gemeint (aber auch nicht ausgeschlossen), sondern er dient zur Veranschaulichung der Aspekte der Materialität und Haptik, Portabilität und Beweglichkeit sowie Wechselseitigkeit und Kommunikation. So gesehen sind auch Bücher im traditionellen Sinne ‚Touchscreens‘ par excellence, da sie nicht nur wegen ihrer hohen Stabilität und Zuverlässigkeit, sondern auch für ihre Tragbarkeit und Adaptationsfähigkeit geschätzt werden. Zu den wichtigsten Argumenten für die häufige Bevorzugung des Buches im digitalen Zeitalter zählen nach wie vor bessere optische Lesbarkeit, unkomplizierte Annotierbarkeit sowie Abgeschlossenheit.64 Hinzu kommt, besonders im wissenschaftlichen Bereich, die zuverlässige Zitierbarkeit. Diese Maximen lassen sich in einer materiell gefestigten Form am besten erfüllen. Trotz ihrer potenziell längerfristigen (aber immer temporären) Stabilität zeichnen sich allerdings Medien allgemein gerade durch ihre substanzielle Flexibilität und Konfigurierbarkeit aus. In Anlehnung an eine Charakterisierung des Mediums von Niklas Luhmann als lose Kopplung von Elementen, die durch ein hohes Maß an „Auflösevermögen mit Aufnahmefähigkeit für Gestaltfixierung“ gekennzeichnet ist,65 kann man die materiellen Ausformungen von Texten und Bildern auch als mediale ‚Ereignisse‘ bezeichnen, auch weil sie grundsätzlich wiederholbarer Natur sind.66 Auch gedruckte Bücher, ja gerade in ihrer ‚festen‘ Materialität als Artefakte, tragen –––––––— 62 63
64 65 66
Zum Rhizom-Bild des ahierarchischen und polyzentrischen Wissensmodells vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Rhizom. Berlin 1977. Die Wahl dieser Metapher mag ungewohnt technophil erscheinen, doch im Vergleich mit sonstiger sexueller und letaler Metaphorizität der Textkritik ist sie eher unschuldig (vgl. Marcus Walsh: Go Figure: Metaphors of Textuality. In: Variants 1, 2002, S. 1–17). Vgl. z. B. Peter Robinson: Digital Manuscripts and Electronic Publishing. In: Produktion und Kontext (Anm. 15), S. 337–346, hier S. 339. Niklas Luhmann: Das Medium der Kunst. In: Delfin 4, 7, 1986, S. 6–15, hier S. 6. Vgl. Joseph Grigely: The Textual Event. In: Devils and Angels. Textual Editing and Literary History. Hg. von Philip Cohen. Charlottesville/London 1991, S. 167–194.
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diesen Charakter und wirken sich darüber hinaus durch ihre Präsenz als „effektive Komponente[n]“ von Objekt-Akteur-Netzwerken67 ‚ereignishaft‘ auf menschliche Handlungsräume aus. Dieser dynamische und soziale Aspekt ist aber gerade auch vom ‚Web 2.0‘ nicht wegzudenken. Aus editorischer Sicht stellt sich uns einerseits die Frage, wie man das ‚Werk‘ in seiner Konstitution aus Artefakten und deren gegenseitigen Relationen einschließlich dessen im ‚Prisma‘ geschärften Konturen dem Leser und Benutzer am besten ‚vor Augen‘ führt, wie man ihm aber andererseits eine greifbare, weil zuverlässige und möglichst selbstevidente Ausgabe ‚zur Hand‘ gibt. Aus unserer Sicht lässt sich diese scheinbare Dichotomie nicht eindeutig bipolar auf digitale Präsentation und gedrucktes Buch verteilen. Zwar gibt es die Meinung, dass die Praktik des konzentrierten Lesens – die unbedingt zu verteidigende Grundfeste der Literaturpraxis und -theorie – nach wie vor nur im gut (!) gedruckten Buch möglich sei.68 Einmal abgesehen von den explorativen Möglichkeiten des Digitalen sollte man aber auch das immersive Potenzial elektronischer Darstellungsformen nicht unterschätzen. Es sollte doch möglich sein, mit digitalen Mitteln die ‚Welten‘ der von uns edierten Werke ‚greifbar‘ nah an den Leser und Benutzer zu bringen. Die (Kunst-) Werke sollten sich zeigen, sollten aufleuchten können. Aus der intermedialen ‚Immersion‘ (‚Tauchgang‘) zurück am Schreibtisch, muss aber der Wissenschaftler auch etwas ‚Festes‘ halten können, worauf er sich verweisend und diskursiv berufen kann. Diesem Bedürfnis möchten wir neben der Herausgabe gedruckter Buchausgaben und der Veröffentlichung des ‚Archivs‘ auch durch die Bereitstellung einer Reihe fest referenzierbarer (und daher bedenkenlos zitierfähiger) PDF-Dateien mit einzelnen Handschriftentranskriptionen, verschiedenen Synopsen und nicht zuletzt dem kritisch hergestellten Text im Open Access entsprechen. Das immense analytische und synthetische Potenzial der digitalen Edition soll aber insbesondere durch dynamische Funktionen der Online-Ausgabe zur Geltung kommen. In Planung sind vorerst – ähnlich wie bei den Editionsproben des ParzivalProjekts –69 vom Benutzer frei konfigurierbare Synopsen, allerdings zusätzlich mit einer gewissen Flexibilität in der Textgestalt (aufgelöste oder beibehaltene Abbreviaturen, optionale Vereinheitlichung der Allograph[em]e, abwählbare Längenmarkierung mittelhochdeutscher Vokale beim kritisch hergestellten Text, Setzung der Interpunktion), wie dies auch bei dem entstehenden LHM-Projekt (vgl. Anm. 38) angedacht ist. In Anlehnung an einige visionäre Ideen Peter Robinsons70 entwickeln wir aber darüber hinaus Variantenapparate, die – anders als die im Druckmedium üblichen Auswahlformen – die mouvance des mittelalterlichen Text-Bild-Werkes dem Benutzer intuitiv vor Augen führen. Hier kann die Alinierung und Vollkollation der Texte auch in der Präsentation neuartige Erkundungsmöglichkeiten schaffen. So möchten wir Darstellungen programmieren, bei denen dem Benutzer beim Überfahren einzelner Textsegmente mit der Maus die Varianten dieser Segmente in allen anderen verfügbaren –––––––— 67 68 69 70
Hilgert 2010 (Anm. 18), S. 99. Vgl. z. B. Roland Reuß: Ende der Hypnose. Vom Netz und zum Buch. 2. Auflage Frankfurt/M. 2012, S.84 und 94. Vgl. http://www.parzival.unibe.ch/editionen.html; 15. 6. 2014. Vgl. Peter Robinson: Where We Are with Electronic Scholarly Editions, and Where We Want to Be. In: Jahrbuch für Computerphilologie 5, 2003, S. 123–143, hier v. a. S. 128–132.
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Handschriften an den Ästen eines für diese Textpassage ermittelten Stemmas eingeblendet werden, mit gleicher oder unterschiedlicher Einfärbung je nach Übereinstimmung oder Differenz (vgl. Abb. 4). Die mutmaßliche Verortung des jeweiligen Textes in der Überlieferung müsste so nicht mühsam gedanklich rekonstruiert werden, sondern würde direkt evident. Eine technisch ähnlich realisierbare Visualisierung wäre die Projektion von Varianten auf eine geographische Karte je nach Entstehungsort (vgl. Abb. 5) bzw. auf eine Zeitachse je nach Entstehungszeit der Handschriften. Dabei könnte gerade auch jene Art der Varianz interessante heuristische Möglichkeiten vor Augen führen, bei der ‚nur‘ schreibsprachliche oder dialektale Unterschiede im Spiel wären.
Abb. 4: Dynamischer Variantenapparat zum kritisch hergestellten Text mit Darstellung von handschriftlichen Varianten am hypothetischen Stemma (Skizze).
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Abb. 5: Dynamischer Variantenapparat zum kritisch hergestellten Text mit Darstellung von handschriftlichen Varianten auf einer geographischen Karte nach Entstehungsorten der Handschriften (Skizze).
Die Illustrationen sollen auf der Grundlage der auf zwei Ebenen im ‚Archiv‘ abgelegten Text-Bild-Verknüpfungen durch Farbbalken neben dem Text (bei inhaltlicher Zugehörigkeit) und durch kleine Ikons (für die physische Verortung im Textverlauf einer konkreten Handschrift) mit den Texten visuell verlinkt werden. Beim Anklicken würde der Benutzer in eine für die Bilddarstellung optimierte graphische Umgebung wechseln, wo man sich Bildsynopsen nach einem gemeinsamen Motiv anzeigen lassen könnte. Beim Überfahren eines im Bild enthaltenen Textes mit der Maus würde nicht nur dieser graphisch hervorgehoben, sondern gleichzeitig würden auch die entsprechenden Textelemente in anderen angezeigten Handschriften eingefärbt, und in einer Seitenleiste würden Transkriptionen, Übersetzungen und Beschreibungen dieser Bildkomponenten erscheinen (vgl. Abb. 6). Identische Bildakteure könnten gleichzeitig in mehreren Abbildungen hervorgehoben und vielleicht auch in ihren Interaktionen untereinander sichtbar gemacht werden.
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Abb. 6: Vergleichende digitale Darstellung eines Bildmotivs in vier Handschriften (Skizze). Beim Überfahren eines Spruchbands mit der Maus werden entsprechende Äquivalente in anderen Handschriften hervorgehoben und rechts Transkriptionen und Übersetzungen der jeweiligen Texte angezeigt.
Eine erschließende Darstellung des Textes einer Handschrift zusammen mit dessen Abbildung sollte über eine Synopse von Text und Faksimile hinausgehen, indem über dynamische graphische Auszeichnung und Verlinkung von Layoutelementen mit dem Text nicht nur die Topographie (absolute Position) und der bibliographical code (relative Position),71 sondern auch die Funktionalität des Textes am Artefakt sichtbar gemacht werden.72 Ersteres könnte etwa beim Platzieren des Kursors in eine Textstelle durch das Erscheinen eines Pop-Up-Fensters mit dezent farbig pulsierender Kontur des jeweiligen Elements auf einer verkleinerten Seitenabbildung realisiert werden, während andererseits die (semantischen) textfunktionalen Aspekte möglicherweise durch bei einzelnen Layoutelementen dynamisch wechselnde lemmabasierte Wortwolken ansatzweise visualisiert werden könnten. Eine andere Möglichkeit wäre eine Darstellung der thematischen Cluster zusammen mit den sie enthaltenden Layoutelementen, wobei die Entsprechungen und Überlappungen inhaltlicher Aussagen und der Seitengestaltung sichtbar werden könnten. Auch der zeitliche Aspekt der Entstehung einer Handschriftenseite könnte – bei einer entsprechenden Festlegung einzelner Herstellungsphasen im ‚Archiv‘ – angezeigt werden, indem auf Benutzerwunsch einzelne –––––––— 71 72
Vgl. Gabler 2007 (Anm. 25), S. 201. Vgl. das Konzept des Textes als Funktion des Dokuments (d. h. Artefakts nach unserem Verständnis) bei Hans Walter Gabler: Das wissenschaftliche Edieren als Funktion der Dokumente. In: Jahrbuch für Computerphilologie 8, 2007, S. 55–62.
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Elemente vom Liniengerüst über Textblöcke bis zu Initialen, Illustrationen und Glossen zeitlich abgestuft auf dem Bildschirm erscheinen würden.73 Im ‚Touchscreen‘ wird die Edition des auf Artefakten basierenden Werkes selbst zum Artefakt. Die den historischen Artefakten abgenommenen Texte und Bilder kehren durch die Kopplung (inter-)medialer Komponenten ‚ereignishaft‘ zu ihrer Körperlichkeit – auch in der ephemeren Erscheinung auf einem elektronischen Bildschirm – zurück, durch die allein sie ‚präsent‘ werden können. Deren gewissermaßen optionale Präsenz74 wird leicht mit Unverbindlichkeit konnotiert, da die flüchtige Erscheinung des digitalen Mediums mit deutlich größerem Aufwand als das Buch erst von seiner eigenen Zuverlässigkeit überzeugen muss. Wenn das Zeichen keinen festen materialen Träger hat, beruht seine Wirkung auf Vertrauen.75 Es ist eine der größten Herausforderungen der digitalen Editionstechnik, Editionen zu schaffen, die nicht in wenigen Jahren der digital oblivion zum Opfer fallen, die ‚Präsenz‘ zeigen, ohne durch zu komplizierte Präsentation zu verwirren, und die nicht nur zum zerstreuten Benutzen, sondern auch zum konzentrierten Lesen einladen. Weniger ist bei der Präsentation vielleicht mehr, doch die Versuchung der Technologie ist groß. Wo liegen die Grenzen? Als mein zweieinhalbjähriger Sohn, ein digital native, mich einmal bei der Arbeit beobachtete und ich gerade den ‚Tanz der Untugenden‘ der Handschrift G (Abb. 7) als Farbbild auf dem Bildschirm vor mir hatte, meinte er: „Papa, schalte es ein!“ Das Rad sollte sich in seiner Apperzeption des Bildes drehen. Waren solche Bilder in der Wahrnehmung und Imagination der mittelalterlichen Betrachter vielleicht auch bewegt? Machen wir uns als Herausgeber sofort lächerlich, wenn wir versuchen würden, sie – etwa als Cinemagramme – tatsächlich zu animieren? Die Zeit wird es zeigen.
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75
Vgl. zu diesem Ansatz Gabler 2007 (Anm. 25), S. 200f. Vgl. das Konzept des ‚optionalen Körpers‘ für die Beschreibung der Internetkommunikation bei Christiane Funken: Über die Wiederkehr des Körpers in der elektronischen Kommunikation. In: Performativität und Medialität (Anm. 57), S. 307–322, hier S. 311. Das Medium sollte „ontologische Sicherheit“ vermitteln, also „das Zutrauen der meisten Menschen [...] zur Konstanz der sie umgebenden sozialen und materialen Handlungsumwelt. Grundlegend für die Empfindungen der ontologischen Sicherheit ist ein Gefühl der Zuverlässigkeit von Personen und Dingen [...]“ (Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne. Übersetzt von Joachim Schulte. 2. Auflage. Frankfurt/M. 1995, S. 118). Das ist für digitale Medien denkbar schwierig, während Bücher einfach ‚da‘ sind.
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Abb. 7: ‚Tanz der Untugenden‘. Gotha, Forschungsbibliothek, Memb. I 120, fol. 100v, Ausschnitt.
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Quellenkritik und Quellenstudium Der Nutzen von Brief-Editionen oder: Von den Mühen der Ebene Jede Wissenschaft hat ihre Lehrmeinungen, ihre Axiome und ebenso ihre ungelösten Fragen, und dies gilt natürlich auch für die Literaturwissenschaft. Manche ihrer älteren Aussagen, ursprünglich entstanden aus unreflektierten Erinnerungen, sind mittlerweile zu unhinterfragten Gewissheiten geronnen. Einige davon verbergen sich beispielsweise in dem folgendem Tableau, das in seinen Einzelteilen heute in der Forschung zum Naturalismus als weitgehend gesichert zu den Grundlagen für zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zählt: Die Zeitschrift Freie Bühne für modernes Leben wurde Ende 1889 von Samuel Fischer und Otto Brahm gegründet; Redakteure waren im ersten Halbjahr 1890 Arno Holz und Hermann Bahr, im Sommer wurden sie dann durch Wilhelm Bölsche ersetzt. Zusammen mit Bruno Wille und den Brüdern Heinrich und Julius Hart gehörte er zu den führenden Köpfen des Friedrichshagener Dichterkreises, der sich in nächster Nachbarschaft zu dem in Erkner wohnhaften Gerhart Hauptmann gegründet hatte und von diesem ideell und finanziell unterstützt wurde. Brahm blieb der Spiritus Rector der Zeitschrift, bis Oscar Bie 1894 die nun unter dem Namen Neue deutsche Rundschau firmierende Monatsschrift als Herausgeber übernahm. In Friedrichshagen und in Tempelhof, wo Lou Andreas-Salomé mit ihrem Mann wohnte, wurden mittlerweile von den Mitgliedern des „Jüngsten Deutschland“ rauschende Feste gefeiert. In den jeweiligen Themenbereichen der literaturwissenschaftlichen Forschung: Naturalismus, Freie Bühne, Friedrichshagener Dichterkreis, Gerhart Hauptmann und Lou Andreas-Salomé wird immer wieder auf jeweils verschiedene Elemente dieses Tableaus zurückgegriffen, zumeist jedoch ohne die Plausibilität der Fakten auch nur im Ansatz zu überprüfen. Deshalb vorab kurz eine Richtigstellung: Hermann Bahr war – zumindest offiziell – niemals Redakteur der Freien Bühne; Otto Brahm bestimmte ihre inhaltliche Ausrichtung nur bis Ende 1890; Anfang 1892 wurde er als Herausgeber von dem Wiener Philosophen Christian von Ehrenfels abgelöst, der eine stille Teilhaberschaft mit dem Verleger Samuel Fischer eingegangen war. Der Friedrichshagener Dichterkreis entwickelte sich erst allmählich und keinesfalls vor dem Herbst 1890, zu einem Zeitpunkt also, als Gerhart Hauptmann längst nicht mehr in Erkner lebte. Und zuletzt: die führenden Köpfe des Kreises standen zu diesem Zeitpunkt alle in Lohn und Brot und bedurften keinerlei finanzieller Unterstützung. Nachfolgend soll zunächst kurz aufgezeigt werden, wie einige dieser Versatzstücke entstanden sind, die im Laufe vieler Jahre von nicht wenigen Autoren zu dem vorgestellten Tableau zusammengefügt wurden, um diese dann am Beispiel dreier neuerer Editionsprojekte zu korrigieren. Zu den ersten, die an diesem falschen Bild gewoben haben, gehörte der Berliner und nachmalige Wiener Journalist Franz Servaes; obwohl er die Betroffenen alle per-
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sönlich kannte, obwohl er oft genug in Friedrichshagen gewesen war und auch mehrfach für die Freie Bühne geschrieben hatte, ist sein 1896 in der Wiener Zeit erschienener Bericht Jung Berlin keineswegs frei von Fehlern. Nach einer kurzen Beschreibung der stark divergierenden ästhetischen Vorstellungen von Brahm, Bahr und Holz aus der Frühzeit der Freien Bühne resümiert Servaes lapidar: „Kurz, es kam zum Krach. Bahr und Arno Holz traten aus der Redaction aus.“1 Lag es daran, dass Hermann Bahr mittlerweile Redakteur der Zeit war, dass Servaes ihn auch noch zum vormaligen Redakteur der Freien Bühne beförderte? Bahr auf jeden Fall ließ es sich unwidersprochen gefallen. Korrekt an Servaes’ Darstellung ist lediglich die Anordnung der Namen: Denn obwohl Bahr nicht der Redaktion angehörte, war er die treibende Kraft für den Bruch mit Brahm, von dem er sich als Autor verkannt fühlte, und es gelang ihm, den passiveren Holz mitzureißen. Der nächste, der, weitaus nachhaltiger als Franz Servaes, das Friedrichshagener Leben der 1890er Jahre beschrieb, war der Journalist und Theaterkritiker Julius Bab. Erst 1880 geboren und damit gut 20 Jahre jünger als die Beteiligten, kannte er das in die Literaturgeschichte eingegangene Friedrichshagen wohl nur vom Hörensagen, als er 1904 mit seiner Berliner Bohème ein mehrfach aufgelegtes Portrait der Bewohner des „Musenhofs am Müggelsee“2 verfasste. Seine Aussagen prägen heute noch immer das Bild des Friedrichshagener Dichterkreises, insbesondere in der Beziehung seiner Mitglieder zu Gerhart Hauptmann: Was im speziellen für den Ort Friedrichshagen entschied, war, daß die dem Kreise nahestehenden Brüder Kampf[f]meyer schon dort ansässig waren, und da[ß] wenige Stationen weiter, in Erkner, ein guter Freund der Hartschen Genossen, ein damals noch ganz unbekannter Dichter angesiedelt war: Gerhart Hauptmann. So zogen denn im Sommer 1888 zwei erst später hinzugetretene aber den Führern eng liierte Mitglieder der Hartschen Schar hinaus: Bruno Wille und Wilhelm Boelsche [...] Manche Leute erzählen auch, daß Hauptmann, der nicht bloß der Dramatiker, sondern auch der Kapitalist unter den schlechtbegüterten Friedrichshagenern war, außer durch seinen Ruhm noch durch seine Monatswechsel, deren jedesmaliges Eintreffen ein weihevoller Moment für weitere Kreise gewesen sei, eine hervorragende Rolle in der Kolonie gespielt habe.3
Keine der hier gemachten Aussagen ist inhaltlich richtig, und vielleicht bleiben Babs Quellen auch deshalb ungenannt – es scheint sich um die gleichen Erzählungen zu handeln, gegen die Bölsche schon einige Jahre zuvor polemisiert hatte, als er im Vorwort zu seinem Sammelband Hinter der Weltstadt im März 1901 schrieb, dass gerade „bei Unbeteiligten die putzige Legende entstanden ist von einer geschlossenen naturalistischen Dichterschule, die, mit Gerhart Hauptmann an der Spitze, eines Tages IN 4 CORPORE nach Friedrichshagen übergesiedelt sei“. Hat Bab sich mit seiner Äußerung gar, nur leicht modifiziert und gegen dessen Intention, auf Bölsche bezogen? Für eine –––––––– 1 2 3 4
Franz Servaes: Jung-Berlin. Zehn Jahre Literatur-Bewegung. In: Die Zeit, drei Folgen ab H. 112 vom 21. November 1896, S. 141. So eine Charakterisierung von Franz Mehring, in: Bourgeois-Anarchistisches. In: Die Neue Zeit, XII. Jg., Bd. I, S. 675. Julius Bab: Die Berliner Bohème. Berlin/Leipzig 1904, S. 34ff. Wilhelm Bölsche: Vorwort. In: Hinter der Weltstadt. Leipzig 1901, S. X.
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später geplante, jedoch nicht realisierte Überarbeitung bat Bab dann Bölsche im Sommer 1905 um eine Stellungnahme zur Berliner Bohème; doch dessen Erwiderung bestand in einem vehementen Protest gegen zahlreiche in dem Werk enthaltene Passagen: vieles in Babs kleinem Buch sei „fast in jedem Wort bis in’s Unsinnige verkehrt dargestellt“, Einiges wäre gar „hellster Blödsinn“.5 War Bab beeindruckt von Bölsches Wortwahl? Sein gesamtes Friedrichshagen-Kapitel hätte er umarbeiten müssen, nichts wäre so geblieben, wie es war, und dies war ihm offenbar nicht der Mühe wert. Oder war es der Verlag, der sich sperrte, eine neunte, überarbeitete Auflage zu drucken? Bislang waren bereits acht Auflagen unverändert erschienen, 1994 kam gar noch ein Reprint heraus – und alles voll von „Unsinnigem“ und ‚Blödsinnigem‘.6 Bölsches Brief an Bab verweist auf eine Vielzahl von Fehlern, verzichtet freilich auf eine präzise Gegendarstellung: Hauptmann hat in der Zeit von 90–93 nur noch ganz vorübergehend in Erkner gewohnt. In Friedrichshagen ist er in der Zeit fast nie gewesen. Zu Harts hatte er gar keine Beziehungen. Er verkehrte ab und zu freundschaftlich mit Wille und Bölsche, Bölsche war stets mit ihm einigermaßen durch die Zeitschrift (deren Verleger S. Fischer und deren Chef anfangs noch Brahm war) in Verbindung, aber an größeren geselligen Zusammenkünften in Friedrichshagen, die etwa einen gewissen Bohemiencharakter besaßen, hat er nie teilgenommen. [...] Hauptmann ist nie für irgend jemand in Friedrichshagen mit seiner Kasse eingesprungen, alles hier davon erzählte ist der offensichtliche Schwindel.7
In der Wissenschaft jedenfalls leben Babs phantastische Erzählungen fort: kaum eine Arbeit zum Naturalismus und zu den Friedrichshagenern, die sich nicht – direkt oder indirekt – auf seine Angaben stützt.8 Es kann hier nicht das Ziel sein, Servaes’ eher kleine und Babs eher große Spuren durch die Literaturwissenschaft zu verfolgen, denn bald schon mussten sie sich den fragwürdigen Ruhm, mehr oder weniger bedeutende Zulieferer in Sachen Mythenbildung zum Umfeld der Freien Bühne und des Friedrichshagener Dichterkreises zu sein, mit anderen teilen – und es wurden immer mehr, die sich ein Stück vom Kuchen des ‚Unsinnigen‘ und ‚Blödsinnigen‘ abschnitten. Zuerst meldeten sich die Protagonisten selbst zu Wort. Mittlerweile bereits in die Jahre gekommen, berichteten sie seit den 1920ern in schneller Folge in zahllosen Artikeln und Büchern von ihrer Zeit als Berliner Stürmer und Dränger in den frühen 1890ern.9 Sie berichteten über ihre einstigen Ideale und Ziele, über Personen und Per––––––––
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„G. Hauptmanns Stellung zu dem Friedrichshagener Kreis ist von S. 35 an fast in jedem Wort bis in�s Unsinnige verkehrt dargestellt.“ und „Die Anekdote S. 36 [...] ist hellster Blödsinn.“ So Wilhelm Bölsche in einem Brief an Julius Bab am 9. Juli 1905; Akademie der Künste Berlin, Julius Bab Archiv. Babs Berliner Bohème war zunächst in einer Artikelserie in der Berliner Volkszeitung veröffentlicht worden, im Herbst des Jahres erschien er dann erstmals im Verlag von Hermann Seemann Nachf. als Buch. Wilhelm Bölsche an Julius Bab, 9. Juli 1905. So beispielsweise auch die insgesamt verdienstvolle Arbeit von Gertrude Cepl-Kaufmann / Rolf Kauffeldt: Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterkreis. o. O. [München] 1994. Um nur einige wenige zu nennen: Heinrich Hart: Die Literatur-Bewegung von 1880–1900. Nach persönlichen Erlebnissen. In: Der Tag. Illustrierte Zeitung, 15 Folgen ab 26. Juni 1903 (Nachdruck in: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Julius Hart u. a. Berlin 1907); Wilhelm Bölsche: Friedrichshagen in
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sonengruppen, über die Ereignisse und literarischen Gruppenbildungen ihrer Jugend – kurz: sie zeichneten Bilder, so wie sie ihnen ihre bereits verblassende Erinnerung vorgab. In der Autobiographie-Forschung gelten solche Beschreibungen „als Zeugnis der Lebensstimmung einer Zeit, als Kundgabe der ungeschminkten Gefühle, Ansichten und Aussichten an einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt“10, und all dies lässt sich auch ohne große Mühen in den zahlreichen Berichten wiederfinden. Es ging den Autoren dabei aber – und in diesem Punkt ist sich die Autobiographie-Forschung ebenfalls einig – nicht um ihre Lebensbeschreibung als exakte historische Darstellung, sondern vielmehr um eine Art „höhere Wahrheit“11, um die Schilderung einer „subjektiven Innenperspektive“12. Es wird daher nicht überraschen, dass die Verfasser persönlicher Erinnerungen von ihrer jeweiligen Bedeutung für das literarische und kulturelle Leben im Berlin der 1890er Jahre fest überzeugt waren; unterschwellig stehen diese Passagen aus heutiger Sicht alle unter einem gleichlautenden Motto: ‚Schaut her, das habe ich erlebt, diese alle waren meine Freunde, ich habe sie sehr gut gekannt, mit manchen war ich eng befreundet.‘ Und wenn diese Freunde auch viele Jahre später immer noch zu den Großen der Literatur gehörten wie etwa Gerhart Hauptmann oder August Strindberg, um so mehr fiel dann an Glanz auch für den Schreiber ab. Allein auf diese „höhere Wahrheit“ sollte sich ein Literaturwissenschaftler jedoch nicht stützen, sondern bei der Lektüre autobiographischer Schriften etwa von Julius Hart, von Hermann Bahr oder von Lou Andreas-Salomé diese unbedingt auf faktische Plausibilität überprüfen, denn – so ebenfalls ein Topos der AutobiographieForschung –: zu leicht vermischen sich Erinnerungsbilder, die realiter zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden sind. Schon Goethe schrieb am 15. Februar 1830 an Zelter, dass die Einbildungskraft im Prozess der Rückerinnerung „mehr die Resultate [...] als die Einzelheiten, wie sie sich damals ereigneten, ausstellen und hervorheben werde“.13 Dieses Phänomen der Vermischung zeitlicher Ebenen – in Autobiographien keine Seltenheit – lässt sich beispielhaft an Julius Harts feuilletonistischer Erinnerung Sibirien in Preußen (1930) nachweisen. Er beschreibt dort ein eher ungewöhnliches Fest: Gegen Abend um 7 Uhr hielten die Gäste ihren Einzug. Damen und Herren im bunten Gemisch. Es fehlte nicht an internationalen Gästen. August Strindberg, Arne Garborg und seine
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der Literatur. In: Moderne Kunst, H. 6, Februar 1907, S. 165–168; Bruno Wille: Aus Traum und Kampf. Mein 60jähriges Leben. Berlin 1920; Max Dreyer: Aus der Frühzeit des deutschen Naturalismus. In: Aufbau, 2/ 1946, S. 1259–1262. Werner Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus. Berlin 1919, S. 8. Hans Glagau: Das romanhafte Element der modernen Selbstbiographie im Urteil des Historikers. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1989, S. 65. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiografie. Stuttgart/Weimar 2000, S. 41. Johann Wolfgang von Goethe: Weimarer Ausgabe. München: 1987, Abt. IV, Bd. 46, S. 242.
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gütige, liebenswerte Gattin, Ola Hansson kamen als Vertreter der nordgermanischen Literaturen, die besonders enge Verbindungen mit dem Friedrichshagener Kreis verknüpften14.
Diese Feier fand 1895 im Friedrichshagener Gefängnis statt, das in einem Seitenflügel des Lokals „Zum Preußischen Adler“ untergebracht war. Bruno Wille, der den Konfirmanden der Berliner Freireligiösen Gemeinde entgegen der Anordnung des Kultusministeriums Unterricht erteilt hatte und deshalb verurteilt worden war, verbüßte dort gerade seine Haftstrafe.15 Allerdings hatten Strindberg, Garborg und Hansson Friedrichshagen bzw. Berlin zu diesem Zeitpunkt längst wieder verlassen. Sie zählten demzufolge nicht zur illustren Schar der Gäste, die in den folgenden Absätzen aufgezählt werden. Und noch in einem anderen Punkt ist Harts Erinnerung fehlerhaft: Strindberg und Garborg sind sich während ihres jeweiligen Deutschland-Aufenthaltes nämlich überhaupt nicht begegnet.16 Die „besonders enge[n] Verbindungen“ zu den Skandinaviern datieren vielmehr in die Jahre 1890 bis 1893 und werden von Julius Hart in diversen Erinnerungen auch ausführlich beschrieben. Die wohl letzte dieser autobiographischen Reminiszenzen erschien posthum erst 1951: Lou Andreas-Salomés Lebensrückblick, zu einem Zeitpunkt also, als die früheste Dissertation zur Freien Bühne17 bereits wieder vergessen war. Seither ist nur wenig neues Quellenmaterial hinzugekommen, und die Literaturwissenschaft mühte sich, vor allem im Zuge der Naturalismus-Forschung, die diversen vorliegenden Erinnerungen zu einem schlüssigen Bild zusammenzufügen. Begonnen hat es in den frühen 60ern, als Fritz Schlawe mit seiner Übersicht über die Literarischen Zeitschriften der Jahre 1885–1910 sich vergeblich bemühte, die Redaktionsmitglieder der Freien Bühne chronologisch zu ordnen.18 Fragwürdiger Höhepunkt seiner Ausführungen ist die Behauptung, dass selbst Brahm zeitweise zu den ‚Sezessionisten‘ zählte – etwa um Bahr und Holz?19 1972 versuchte dann Katharina Günther in ihrer Untersuchung zur Literarischen Gruppenbildung im Berliner Naturalismus, zum großen Teil gestützt auf die Lebenserinnerungen der Beteiligten, unter anderem auch denen von Julius Hart, ein Bild der vielfältigen Beziehungen und der ––––––––
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Die zahlreichen Lebenserinnerungen Julius Harts finden sich gesammelt in Heinrich Hart / Julius Hart: Lebenserinnerungen. Rückblicke auf die Frühzeit der literarischen Moderne (1880–1900). Hg. von Wolfgang Bunzel. Bielefeld 2006; zit. S. 163. – In den Kommentaren des Herausgebers wurde auf die sachlichen Fehler in den Hartschen Erinnerungen nicht hingewiesen. Wille hatte seinerzeit unter dem später von Julius Hart verwendeten Titel seinen Gefängnisaufenthalt publik gemacht: Sibirien in Preußen. Auf administrativem Wege, ohne Richterspruch, als religiöser und politischer Ketzer hinter Schloß und Riegel gebracht. Ein Weckruf aus dem Gefängnis. Stuttgart 1896. Vgl. dazu die Anmerkungen in den entsprechenden Briefen der Korrespondenzen Bölsches mit Garborg und Strindberg in: Wilhelm Bölsche: Briefwechsel mit Autoren der Freien Bühne. Hg. von GerdHermann Susen. Berlin 2010. Die Heidelberger Dissertation von Albrecht Bürkle aus dem Jahre 1941 gehört aus heutiger Sicht eher zu den Kuriosa: „Die Zeitschrift ‚Freie Bühne‘ und ihr Verhältnis zur literarischen Bewegung des deutschen Naturalismus“ analysiert die Beiträge der Zeitschrift und ihre Autoren aus nationalsozialistischer Perspektive. Fritz Schlawe: Literarische Zeitschriften. Teil I. 1885–1910. Stuttgart 1961; für Schlawe zählt auch Julius Hart, der Bölsche zweimal kurzfristig vertrat, zu den Redakteuren der Zeitschrift (S. 27). Ebd., S. 28; leider führt Schlawe seine irritierende Aussage nicht näher aus, so dass sie in der Literatur zu Brahm und zur Freien Bühne – zu Recht! – völlig unbemerkt geblieben ist.
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zahlreichen Initiativen der frühen 90er Jahre zu entwerfen.20 Da schon Schlawe in Bezug auf die Freie Bühne unpräzise war, führt sie wegen ihres Verzichts auf neue Primärquellen diese Unsauberkeit fort; Günther zählt nicht nur Paul Schlenther (wohl wegen seiner engen Freundschaft zu Brahm) zu den Mitherausgebern der Zeitschrift, sie datiert sogar die Redaktionszeit Julius Harts auf das Jahr 189021, obwohl eine einfache Überprüfung der Angaben im Impressum sie über den richtigen Sachverhalt hätte aufklären können. In diese Darstellungen, deren unbestrittenes Verdienst es ist, die Fülle des gedruckt vorliegenden Materials auszuwerten und in überschaubarer Form der Forschung zugänglich zu machen, sind somit viele der erinnerungsbedingten Fehler mit eingegangen; gelegentlich haben die Autoren sich auch, bei offenkundigen Widersprüchen, für die ihnen am plausibelsten scheinende Version entschieden. Nutzten diese Arbeiten noch im Wesentlichen bereits veröffentlichtes Material, so wurde in einigen der bedeutendsten Arbeiten jener Zeit auch eine Fülle bislang unpublizierten Quellenmaterials verwendet, doch blieben auch hier die gedruckten Quellen eine unverzichtbare und scheinbar verlässliche Stütze: dies gilt etwa für Peter de Mendelssohns beeindruckende Monographie S. Fischer und sein Verlag22 wie auch für die von Corinna Fiedler und Dierk Rodewald betreute und für die einschlägige Forschung unverzichtbare Auswahl-Ausgabe von Samuel und Hedwig Fischers Briefwechsel mit Autoren des Verlags.23 Das Quellenmaterial, das Letztere mit dieser Publikation bereitstellten, hatte bereits Mendelssohn für seine Untersuchung genutzt, und umgekehrt basieren die Anmerkungen der Briefedition häufig auf den Angaben Mendelssohns. Ohne die Bedeutung dieser umfang- und materialreichen Bände schmälern zu wollen, bleibt doch festzuhalten, dass auch sie beispielsweise an der fehlerhaften Darstellung der Rollen von Brahm, Bahr und Bölsche im Kontext der Freien Bühne festgehalten und wesentlich zu ihrer weiteren Verbreitung beigetragen haben. Der Grund für diese partielle Unschärfe liegt im Umfang der beiden Bände: derart umfassende Arbeiten können schlechterdings nicht überall so in die Tiefe gehen, wie es notwendig gewesen wäre, um die hartnäckig tradierten Bilder und Selbstbilder als fehlerhaft zu erkennen: die schiere Quantität des ausgewerteten bzw. publizierten Materials ließ die weitergehende Beschäftigung mit Einzelaspekten nicht zu – und schien in vielen Fällen wohl auch überflüssig zu sein, denn die in den autobiographischen Büchern und Aufsätzen genannten Fakten waren bislang noch nirgends angezweifelt worden. Generell werden die Aussagen autobiographischer Schriften nur selten hinterfragt – und ohne Hinzuziehung von weiterem Quellenmaterial sind solche Zweifelsfälle al––––––––
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Katharina Günther: Literarische Gruppenbildung im Berliner Naturalismus. Bonn 1972. „Nachdem dann [nach dem Weggang von Arno Holz; GHS] Julius Hart kurze Zeit Redakteur war, übernahm Bölsche 1891–1894 die Redaktion“; ebd., S. 93. Julius Hart, der erstmals im November 1890 einen Beitrag für die Freie Bühne verfasst hatte, fungierte für fünf Ausgaben im August und September 1891 als Urlaubsvertretung Bölsches. Peter de Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt/M. 1970. Samuel Fischer / Hedwig Fischer: Briefwechsel mit Autoren. Hg. von Dierk Rodewald / Corinna Fiedler. Frankfurt/M. 1989.
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lenfalls zu benennen, aber nicht aufzuklären. So berichtet beispielsweise Hermann Bahr in seinem Selbstbildnis von einer an ihn gerichteten Aufforderung zur Mitarbeit bei der Freien Bühne, ohne ein Datum für diesen für die Literaturwissenschaft und für die Forschung zur Freien Bühne bedeutsamen Brief von Arno Holz zu nennen: Hurra, in Berlin geht’s endlich los, wir haben eine Freie Bühne gegründet, das Alte kracht in allen Fugen, ein junger Verleger ist gefunden, dieser tapfere S. Fischer will eine revolutionäre Zeitschrift gründen, sie soll auch Freie Bühne heissen, Brahm zeichnet als Herausgeber, wollen Sie sie mit mir redigieren?24
Durch das gewählte Tempus scheint eine zeitliche Einordnung deutlich vor der Zusammenstellung des ersten Heftes, das Ende Januar 1890 gedruckt vorlag, naheliegend: „dieser tapfere S. Fischer will eine revolutionäre Zeitschrift gründen, sie soll auch Freie Bühne heissen“. Gregor Streim hat als erster und bislang auch einziger die Problematik erkannt, die diese Datierung aufwirft, denn neben diesem scheinbar frühen Brief gibt es einen zweiten vom 25. April 1890, in dem Bahr seinem Vater von einem Schreiben Arno Holz� „mit dringender Aufforderung“ berichtet, „nach Berlin zu kommen: 100 Mark sind Ihnen von der ‚Fr. B.‘ monatlich garantiert, sofort. Ich antwortete ohne Besinnen: wenn Sie mir 150 monatlich bieten, komme ich mit wendender Post.“ Streim schließt daraus, es müsse zwischen diesen beiden Aufforderungen von Holz weitere Briefe gegeben haben, die schließlich den Erfolg zeitigten, dass Bahr ab Mai 1890 der Redaktion der Freien Bühne beigetreten sei.25 Mit dieser Überlegung geht Streim sehr viel weiter als zwei renommierte Vorgänger: So stützt Mendelssohn seine Beschreibung von Bahrs Tätigkeit als Redakteur allein auf den im Selbstbildnis erwähnten Brief und lässt Fragen nach einer exakten Datierung gar nicht erst aufkommen, wenn er seine Geschichte der Freien Bühne nach dem fraglichen Zitat fortführt mit dem Satz: „Bahr war mit dem gleichaltrigen Holz aus seiner ersten Berliner Zeit befreundet. Er nahm die Aufforderung an“26. Ähnlich ist auch der HolzBiograph Helmut Scheuer bereits ein Jahr vor Mendelssohn verfahren. Er zitiert ebenfalls das von Bahr erwähnte Schreiben, um unmittelbar danach fortzufahren: „Otto Erich Hartleben antwortet Holz auf dessen Bitte um Mitarbeit am 8. Januar 1890“.27 Bahr, so ließe sich daraus schließen, dürfte wohl ebenfalls etwa zu diesem Zeitpunkt auf Holz� Aufforderung geantwortet haben. Beide – Mendelssohn wie Scheuer – ignorieren die zeitliche Diskrepanz zwischen dem vermeintlichen Schreiben von Arno Holz und dem ersten, offenkundig noch in Paris entstandenen Beitrag Bahrs für die Freie Bühne, der erst im April 1890 erschienen ist.28 Betrachtet man beider Arbeiten zusammen, so erscheint ihre Darstellung dennoch plausibel: Holz war mit Bahr wie ––––––––
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Hermann Bahr: Selbstbildnis. Berlin 1923, S. 254. Peter Sprengel / Gregor Streim: Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik. Wien 1998, S. 47. Vgl. auch Martin Anton Müller detailreich in ders.: Das Selbstbildnis als Quelle (in: Hermann Bahr: Österreichischer Kritiker europäischer Avantgarden. Hg. von Martin Anton Müller, Claus Pias und Gottfried Schnödl. Bern u. a. 2014, S. 165–184). Mendelssohn (wie Anm. 22), S. 111. Helmut Scheuer: Arno Holz im literarischen Leben des ausgehenden 19. Jahrhunderts (1883–1896). Eine biographische Studie. München 1971, S. 142 Es handelt sich dabei um die Kritik einer Inszenierung des Pariser Théâtre des Variétés. Hermann Bahr: Monsieur Betsy. In: Freie Bühne, H. 9 vom 2. April 1890, S. 265f.
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mit Hartleben seit 1887 bekannt; wenn Hartleben sich Anfang Januar 1890 zur Mitarbeit bei der Freien Bühne bereit erklärt hat, dann scheint es naheliegend, dass Holz zeitgleich mit ihm auch Bahr (und eine Reihe weiterer Bekannte) in der gleichen Angelegenheit angeschrieben haben könnte. Zu fragen bliebe dann aber immer noch, weshalb ausgerechnet der zu dieser Zeit noch in Paris lebende Bahr zur Mitarbeit in der Redaktion aufgefordert worden wäre, während alle anderen, wie auch Hartleben, nur als Autoren der Zeitschrift in Erscheinung treten. Aufklärung kann hier nur durch die Auswertung bislang unbekannten Quellenmaterials erwartet werden. Und da sieht es für das späte 19. bzw. frühe 20. Jahrhundert noch immer recht dürftig aus: Nur wenige Autoren dieser Zeit sind bislang durch wissenschaftliche Ausgaben nobilitiert worden. Dabei stellen vor allem Tagebuch- und Briefeditionen der Forschung wertvolles Quellenmaterial zur Verfügung, das für sich allein schon geeignet sein kann, Bekanntes zu ergänzen oder Fehlerhaftes zu korrigieren. Häufig sind es aber nicht nur die edierten Texte selbst, sondern das für ihre Kommentierung herangezogene zusätzliche Quellenmaterial, das die eigentliche Überraschung bereit hält. So sind die Korrekturen an dem eingangs vorgestellten Tableau Ergebnis dreier Editionen und, als wäre diese Arbeit nicht mühsam genug, das Aufklärung bietende Material fand sich in zwei Fällen auch noch an gänzlich unerwarteter Stelle. Wilhelm Bölsches Bedeutung für die Freie Bühne wird, wie es zu nicht anders zu erwarten war, durch die mittlerweile edierte Korrespondenz mit den Autoren der Freien Bühne29 deutlich – erkennbar wird dadurch auch, dass Brahm ihm, schon bald nach Aufnahme der Redaktionstätigkeit im August 1890, in vielen Belangen freie Hand gelassen hat, so dass Bölsche – obwohl im Impressum nur als Vertreter Brahms aufgeführt – in vielen Angelegenheiten in eigener Verantwortung handeln konnte, ehe er ab Mitte Januar 1891 auch offiziell als leitender Redakteur genannt wurde. Bölsche hat dies, wenngleich er einen wesentlichen Punkt verschwieg, rückblickend richtig beschrieben: er habe „damals die Leitung der grünen Wochenhefte der ‚Freien Bühne‘ anvertraut bekommen. Brahm behielt noch eine Weile formell die Oberleitung; tatsächlich allein redigiert habe ich die Zeitschrift fast vom ersten Tage meines Eintritts an.“ Bölsche nutzte seine Freiheiten auch für eine inhaltliche Neuorientierung, denn das „rein Ästhetische des Naturalismus langte nicht“30, und daher brachte die Freie Bühne schon bald nach Beginn seiner Tätigkeit vermehrt Beiträge zu natur- und sozialwissenschaftlichen Themen. Was Bölsche verschwiegen hat und was auch seiner die Redaktionsarbeit betreffenden Korrespondenz nicht zu entnehmen ist, ist der Umstand, dass der Wiener Philosoph Christian von Ehrenfels seit 1891 finanziell an der Freien Bühne beteiligt war und in dieser Eigenschaft 1892 Otto Brahm als Herausgeber abgelöst hat. Zwei Faktoren kamen zusammen, um diesen für die Geschichte der Zeitschrift und des S. Fischer Verlags nicht unwesentlichen Sachverhalt aufzudecken: Die anhaltende Irritation des Editors darüber, dass Brahms Konflikte mit Samuel Fischer sich nicht in seiner Kor––––––––
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Wilhelm Bölsche (wie Anm. 16). Wilhelm Bölsche: Friedrichshagen in der Literatur. In: Moderne Kunst, H. 6 vom Februar 1907, S. 166.
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respondenz mit Bölsche niedergeschlagen haben31 – und die Erwähnung von Ehrenfels in einem Brief, der zwar für die Edition selbst nicht vorgesehen war, aber doch einen so merkwürdigen Zusammenhang anzudeuten schien, dass es sich lohnte, dem nachzugehen. Carl Hauptmann schrieb am 23. Dezember 1891 an Wilhelm Bölsche: Als ich an Ehrenfels meine Bedenken äusserte, hatte ich keine genaue Kenntniss von der ganzen Sachlage, andererseits hatte mich wohl die bittere Empfindung über einen von mir nicht geahnten persönlichen Conflict zwischen Ehrenfels und Brahm geneigt gemacht, die Form, in der die Angelegenheit der fr. B. ausgetragen worden war, weniger hoffnungsvoll anzusehen, als sie es verdient. Ehrenfels’ und Ihr lieber Brief zu gleicher Zeit mit dem heut angekommenen Heft d. f. B. hat meine Skrupel ziemlich behoben; und was die Zukunft des Unternehmens in der neuen Form anlangt, so hege ich heute die besten Hoffnungen. Leid thut es mir immer sehr, dass ein Bruch mit Brahm in dieser Weise hat kommen müssen, denn ich unterschätze ebenso wenig seine tiefe litterarische Bildung und vorzügliche Befähigung, wie ich andererseits bestimmt weiss, dass nicht aus seinen Absichten entspringt, was Sie und Ehrenfels ihm zum Vorwurf machen.32
Allein aus dem Nachlass Bölsche heraus ist dieser Brief nicht zu verstehen, der Kontext bleibt weitgehend unverständlich. Zur Klärung musste also an anderen Orten gesucht werden. Jedoch in dem Nachlass, der für eine solche Recherche am naheliegendsten wäre, dem von Samuel Fischer, finden sich keinerlei Hinweise auf Christian von Ehrenfels. Ein Nachlass Brahm ist nicht überliefert, und im Nachlass Bölsche ist der Wiener Philosoph zwar mit einigen Briefen vertreten, die Freie Bühne wird jedoch in keinem davon erwähnt. Erst weitere Recherchen in den Nachlässen von Carl Hauptmann und Christian von Ehrenfels förderten daher den seinerseits sorgsam verschwiegenen Sachverhalt zu Tage. Ein zeitraubender Umweg, der ebensogut im Nirgendwo hätten enden können, führte in diesem Fall zum Erfolg.33 Durch diese Entdeckung erschienen auch einige Briefe von Brahm an Bölsche in einem anderen Licht, worauf nun im Kommentar aufmerksam gemacht wird. Nach herkömmlicher Darstellung hat Bölsche die Nachfolge von Hermann Bahr und Arno Holz angetreten, nachdem diese gemeinsam mit einigen Autoren wegen konzeptioneller Unstimmigkeiten mit Brahm Ende Juli 1890 die Freie Bühne verlassen hatten.34 Dennoch wird Bahr 1892 wieder als Autor für die Zeitschrift tätig und –––––––– 31
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Der Streit lässt sich ansatzweise verfolgen in Rodewald / Fiedler (wie. Anm. 22), S. 191; Bölsche hat zweifellos eine Reihe von organisatorischen Briefen im Umfeld der Freien Bühne sekretiert: dazu zählen nicht nur diejenigen von Brahm und Fischer, sondern auch die von Ehrenfels. Dieser Brief aus dem Nachlass Bölsche ist Teil seiner Korrespondenz mit Carl und Gerhart Hauptmann, die von Edith Wack im Rahmen der Edition der Werke und Briefe Wilhelm Bölsches herausgegeben wird; der Band wird demnächst erscheinen. Die Edition der Korrespondenz zu Finanzierung der Freien Bühne wird gegenwärtig für den Druck vorbreitet; sie enthält u. a. Briefe von Otto Brahm, Samuel Fischer, Christian von Ehrenfels, Carl Hauptmann und Wilhelm Bölsche. Vgl. Berliner Tageblatt bzw. Vossische Zeitung vom 26. Juli 1890: „Die Unterzeichneten erklären, daß sie jede Verbindung mit der von Herrn Dr. Otto Brahm in Berlin herausgegebenen Wochenschrift Freie Bühne für modernes Leben abgebrochen haben und dieses Blatt nicht als Organ ihrer Anschauungen anerkennen. Hermann Bahr, O. J . Bierbaum, Paul Ernst, Arno Holz , Iven Kruse, Detlev Freiherr von Liliencron, Bernhard Maenicke, Johannes Schlaf. Da Hermann Bahr auch als Karl Linz, B. Schwind, GlobeTrotter und Schnitzel, Johannes Schlaf auch als Karl Benda und Paul Köchlin an der Freien
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gehört somit auch zu den Korrespondenzpartnern des Redakteurs Wilhelm Bölsche. Da der Briefwechsel zwischen beiden erst im Dezember 1891 einsetzt, war die Vorgeschichte für den Herausgeber nur von untergeordneter Bedeutung, so dass er sich für die Vorstellung Bahrs ebenso wie für die Darstellung der Freien Bühne vor Bölsches Eintritt in die Redaktion auf die einschlägige Literatur gestützt und folglich Bahr als ehemaligen Redakteur betrachtet hat, ohne die oben vorgestellten Datierungsprobleme weiter zu verfolgen. Erst drei Jahre nach Erscheinen von Bölsches Briefwechsel mit Autoren der Freien Bühne stieß er im Austausch mit Martin Anton Müller auf von der Forschung bis zu diesem Zeitpunkt unbeachtet gebliebenes Quellenmaterial, das einen neuen Blick auf Bahrs Rolle in der Freien Bühne eröffnet: Bahr wurde offenbar erst einige Wochen später als bislang angenommen von Holz angeschrieben, denn er bedankt sich am 1.März 1890 für die Aufforderung zur Mitarbeit und verspricht, künftig Aufsätze über französische Literatur zu schreiben, was dann mit der bereits erwähnten Kritik zu Monsieur Betsy auch geschehen ist. Erst ein Brief vom 26. April 1890 verdeutlicht jedoch Bahrs tatsächliche Position in der Freien Bühne. Er schreibt darin an Holz: „Ich akzeptiere 4 feuilletons pr. Monat contre 150 Mark, ohne Bindung auf irgend einer Seite. Ich komme um den 6. Mai herum und schreibe Ihnen noch.“35 Demnach war Bahr also nicht Redakteur, sondern lediglich Autor der Freien Bühne – freilich mit dem Privileg eines festen Honorars (das zudem das des Redakteurs Holz um 50 Prozent übertraf) und der garantierten Abnahme seiner Feuilletons, was letztlich zum Streit mit Brahm führen sollte. All diese Informationen befinden sich nicht etwa in der in Berlin überlieferten Sammlung Holz, wo sie vermutlich längst gefunden worden wären, sondern im Nachlass Bahr, der in Wien aufbewahrt wird. Doch auch dort wäre der Ausgang einer Recherche in der Korrespondenz mit Holz ohne Erfolg geblieben, denn die erwähnten Briefe sind nur als Abschrift überliefert, die nach Bahrs Tod von dessen Witwe Anna Bahr-Mildenburg veranlasst wurden und demzufolge bis vor kurzem auch nur unter den von ihr hinterlassenen Materialien zu finden waren. Die unübersichtliche Überlieferungssituation war allerdings nur ein Grund, warum Bahrs Briefe an Holz nicht bereits für die Edition von Bölsches Briefwechsel ausgewertet wurden. Ein anderer Grund liegt in der Konzeption des Bandes, der die Korrespondenz von insgesamt 70 Personen enthält, so dass es unmöglich gewesen wäre, in allen heute noch auffindbaren Nachlässen Recherchen anzustellen, die weit über den engeren zeitlichen oder personellen Kontext hätten hinausführen müssen. Im Falle von Bölsches Briefwechsel mit Carl und Gerhart Hauptmann, der als nächster Band im Rahmen der Bölsche-Edition erscheinen wird, ist die Ausgangssitu–––––––– 35
Bühne theilgenommen, verliert das Blatt durch diese Erklärung 14 seiner Mitarbeiter.“ (Die Hervorhebungen sind im Original gesperrt.) Österreichisches Theatermuseum Wien, NL Bahr, AM 67240 BA; eine erste Analyse der Korrespondenz Bahrs mit Arno Holz im Umfeld der Freien Bühne findet sich in Gerd-Hermann Susen: „Das Alte kracht in allen Fugen!“ Hermann Bahr und die Freie Bühne für modernes Leben. In: Hermann Bahr 2014 (Anm. 25), S. 39–54. Die Edition des Briefwechsels Bahr – Holz wird demnächst von GerdHermann Susen und Martin Anton Müller herausgegeben; die Arbeit befindet sich gegenwärtig in der Korrekturphase.
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ation eine deutlich andere.36 Die begrenzte Anzahl der Korrespondenzpartner ermöglichte es, umfangreiche Recherchen in den Nachlässen Wilhelm Bölsches sowie Carl und Gerhart Hauptmanns anzustellen. Als besonders ergiebig erwies sich die Auswertung des Hauptmann-Familienbriefwechsels, der auf mehrere Archive verteilt ist. Hier konnten nicht nur für den Kommentar wesentliche Zusammenhänge aufgedeckt werden, es fanden sich auch etliche Informationen, die für die Erarbeitung der BölscheEdition zwar auch von einem gewissen Wert waren, ihre eigentliche Bedeutung aber sehr viel stärker in anderen Kontexten entfalten. Zu diesen gehört auch ein Umstand, der das eingangs vorgestellte Tableau betrifft: die Verbindung Lou Andreas-Salomés mit dem Kreis der Naturalisten, insbesondere den Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung mit Gerhart Hauptmann. Dieser Phase ihres Lebens widmet Lou Andreas-Salomé in ihrem Lebensrückblick insgesamt nur wenig Raum. In einer kurzen Passage stellt sie ihren damaligen Bekanntenkreis vor; zu den frühesten Begegnungen gehörten danach: Gerhart Hauptmann in Erkner, mit seiner Ehefrau Marie [...] In Friedrichshagen saßen Bruno Wille, Wilhelm Bölsche und die beiden Brüder Hart, bald einen ganzen Menschenschweif hinter sich dorthin nachziehend [...] Ich besinne mich noch auf das erste Zusammensein bei uns, auf der umblühten Terrasse und im Eßzimmer dahinter, sehe Max Halbe, noch sehr jugendlich schlank neben seiner kleinen Braut, die wie eine Psyche ausschaute, Arno Holz, Walter Leistikow, John Henry Mackay, Richard Dehmel, der sich am eigenen Namen noch ärgerte, und sonstige.37
Schon ein flüchtiger Blick wirft Fragen bezüglich der Datierung auf: Wille und Bölsche „saßen“ erst ab Juli 1890 in Friedrichshagen, die Harts gar erst ab 1891. Hauptmann wiederum hatte nur bis September 1889 in Erkner gelebt und 1890 dort lediglich von April bis Juli eine Sommerwohnung gemietet. Arno Holz wiederum sah sich nach seinem Rückzug aus der Redaktion der Freien Bühne Ende Juli 1890 vom Kreis der jungen Literaten entfremdet. Lassen diese Eckdaten immerhin noch ein erstes Zusammentreffen im Juli 1890 möglich erscheinen, so kippen alle derartigen Überlegungen durch den Umstand, dass Lou Andreas-Salomé nachweislich erst im August 1890 mit dem Kreis um die Freie Bühne in Berührung38 gekommen ist, als Bölsche sie nämlich gleich zu Beginn seiner Amtszeit als Autorin für die Zeitschrift gewinnen konnte. Und mit Garborg wurde sie erst im Januar 1891 bekannt.39 Es handelt sich al––––––––
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Vgl. hierzu Gerd-Hermann Susen/Edith Wack: Arbeitsbericht zur Edition der Korrespondenz Wilhelm Bölsches. In: editio 24, 2010, S. 241–247. Lou Andreas-Salomé: Lebensrückblick. Grundriß einiger Lebenserinnerungen. Zürich/Wiesbaden 1951, S. 120f. Das früheste überlieferte Zeugnis einer Verbindung von Lou Andreas-Salomé zu Wilhelm Bölsche und seinen Freunden ist eine Karte vom 21. August 1890 von Heinrich Hart an Richard Dehmel: „Soeben melden uns Dr. Andreas u. Frau, daß sie am Sonntag zur Stadt kommen und uns heimsuchen wollen. Da sie in Tempelhof hausen, können wir sie nicht gut einen vergeblichen Besuch machen lassen“ (Staatsund Universitätsbibliothek Hamburg, Dehmel-Archiv DA : Br. : H : 130). Die förmliche Nennung des Namens und der Hinweis auf den ‚entlegenen‘ Wohnort erwecken den Eindruck einer erst kürzlich gemachten Bekanntschaft. (Vgl. dazu ausführlich Gerd-Hermann Susen: ‚Dichtung‘ und ‚Wahrheit‘. Lou Andreas-Salomés literarische Anfänge im Spiegel der überlieferten Korrespondenz (mit Abdruck ihrer Briefe an Hulda und Arne Garborg). In: text & kontext 34/2012, S. 63–96.) Ebd., S. 80.
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so auch bei dem im Lebensrückblick gegebenen Erinnerungsbild um ein nachträgliches Konstrukt, das zu vielen Spekulationen über einzelne Konstellationen Anlass gegeben hat. Von besonderem Interesse für die Forschung war die Frage, wann Lou AndreasSalomé mit Gerhart Hauptmann bekannt geworden ist. Jede der biographisch orientierten Arbeiten nennt hier einen anderen Termin – woraus allein schon gefolgert werden kann, dass keine leicht zugänglichen und verlässlichen Aussagen über das erste Zusammentreffen vorliegen. Heinz Frederick Peters legt in seiner der Literaturwissenschaft eher weniger verpflichteten Arbeit den Termin ohne jede weitere Begründung in die Jahre von Gerhart Hauptmanns mehrjährigem Aufenthalt in Erkner und folgt damit vermutlich Andreas-Salomés Angaben im Lebensrückblick40; auf diesen gründet sich offenbar auch Rudolph Binion, der das erste Treffen, Andreas-Salomé recht frei auslegend, sehr präzise in die Zeit der Uraufführung von Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, also in den Oktober 1889 verortet, dabei jedoch außer Acht lässt, dass Hauptmann zu dieser Zeit nicht mehr in Erkner, sondern bereits in Charlottenburg wohnte.41 Nimmt man Hauptmanns Wohnort Erkner als alleinige Richtschnur, so lässt sich der Zeitpunkt, den Stéphane Michaud angibt, bereits auf das Frühjahr 1887 fixieren: die Bekanntschaft hätte demnach im literarischen Debattierclub „Durch!“ begonnen.42 Die Fixierung auf einen derart frühen Zeitpunkt des ersten Treffens zwischen Lou Andreas-Salomé und Hauptmann hat für einige Forscher noch einen zusätzlichen Reiz: so gibt es vereinzelte Spekulationen darüber, Andreas-Salomé habe für die Figur der emanzipierten jungen Studentin Anna Mahr in Gerhart Hauptmanns drittem Drama Einsame Menschen Pate gestanden.43 Das 1890 entstandene Stück erlebte am 11. Januar 1891 seine Uraufführung – wenn Hauptmann also tatsächlich, wie im Lebensrückblick angedeutet, zu den frühesten Bekannten Lou Andreas-Salomés zählte, so wäre dies a priori nicht auszuschließen. Der systematischen Auswertung der Hauptmann-Familienbriefe ist es zu verdanken, dass mittlerweile der Beginn der Bekanntschaft von Lou Andreas-Salomé und Gerhart Hauptmann zweifelsfrei feststeht: Im Widerspruch zu allen früheren diesbezüglichen Überlegungen datiert eine von Hauptmanns Ehefrau Marie geschriebene Postkarte die erste (zufällige) Begegnung auf den 7. November 1891: –––––––– 40 41 42 43
Heinz Frederick Peters: Lou Andreas Salome. Das Leben einer außergewöhnlichen Frau. München 1962, S. 200. Rudolph Binion: Frau Lou. Nietzsche’s Wayward Disciple. Princeton/NJ 1968, S. 143f. Stéphane Michaud: Lou Andreas-Salomé: l´Alliée de la vie. Paris 2000, S. 86. Für die Mitgliedschaft von Andreas-Salomé in diesem Kreis gibt es allerdings keinerlei Anzeichen. So Gra�yna Barbara Szewczyk, die den Beginn der Bekanntschaft in die Erkner-Jahre Gerhart Hauptmanns verlegt (Lou Andreas-Salomé und Gerhart Hauptmann. Geschichte einer Freundschaft. In: Carl und Gerhart Hauptmann-Jahrbuch, 2/2007, S. 62). Es kämen damit immerhin drei Jahre in Frage, in denen sich Hauptmann in seinen Überlegungen für die Rolle der Anna Mahr an Andreas-Salomé hätte orientieren können. Die Forschung kennt allerdings noch zwei weitere Vorbilder für Anna Mahr: die Autorin Laura Marholm und die Philosophin Josepha Krzy�anowska (vgl. hierzu Edith Wack: Laura Marholm und die ›Frauenfrage‹. Zur Vorgeschichte von Gerhart Hauptmanns Drama »Einsame Menschen«. In: Carl und Gerhart Hauptmann Jahrbuch, 6/2012, S. 135–179).
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Gestern waren wir in Friedrichshagen trafen Wille nicht zu Hause nur seine Frau. Bei Bölsches wären Dr. Andreas mit Frau was uns natürlich sehr lieb war da wir sie auf diese Weise kennen lernten. Wir sind von beiden auf das angenehmste berührt worden u. haben uns vorgenommen sie auch aufzusuchen.44
Hauptmann und seine Frau, die mittlerweile in Schreiberhau (in Schlesien) lebten und nur zu einem kurzen Besuch nach Berlin gekommen waren, gehörten also keineswegs, wie es der Lebensrückblick nahelegt, zu den ersten, die Andreas-Solomé aus dem Kreis der jungen Berliner Literaten kennenlernte. Als Autorin der Freien Bühne war sie im Gegenteil längst zu einem festen Bestandteil der verschiedenen literarischen Zirkel geworden, bevor sie das erste Mal mit Gerhart Hauptmann zusammentraf. – Auch diese Information kam zu spät, als dass sie in den Briefband zur Freien Bühne hätte Eingang finden können. Dort wäre sie freilich auch nur am Rande von Bedeutung gewesen – wie diese Frage übrigens auch in der Korrespondenz Bölsches mit den Brüdern Hauptmann keinesfalls von zentralem Interesse ist. Die Beispiele, die hier vorgestellt wurden, zeigen somit zweierlei: die Notwendigkeit der Erschließung und Auswertung von Quellenmaterial und zugleich die damit verbundene Problematik, dass nämlich der wissenschaftliche Ertrag dieser langwierigen Tätigkeit im Vorhinein nicht exakt zu bestimmen ist. Man kann diesen, zumal für geförderte Projekte, ungünstigen Effekt dadurch versuchen einzugrenzen, dass man sich als Herausgeber auf die zu edierenden Briefe, Tagebücher oder autobiographischen Aufzeichnungen konzentriert und für deren Kommentierung auf bereits gedruckt vorliegende Primär- oder Sekundärtexte zurückgreift. Die für diese Arbeit zu veranschlagende Zeit ist einigermaßen überschaubar, und der wissenschaftliche Nutzen publizierter Quellentexte wird zumindest als Grundlage für die weitere Forschung wohl jedem einleuchten. Wie wir gesehen haben, sind Quellentexte jedoch nicht immer zuverlässig und häufig auch aus sich heraus nur unvollkommen zu verstehen. Wer sich im Kontext der eigenen Forschungsarbeit auf sie berufen will, tut gut daran, die für ihn wesentlichen Punkte auf ihre Plausibilität hin zu befragen. Das wiederum kann, wie oben gezeigt wurde, schwierig werden, wenn gedruckt vorliegende Quellentexte sich widersprechen oder über die entscheidende Frage nur unzureichend Auskunft geben. Dagegen ist der Vorteil einer wissenschaftlichen Edition, die für die Kommentierung weiteres Quellenmaterial heranzieht, darin zu sehen, dass sie, abhängig von der jeweiligen Quellenlage, das edierte Material in einen größeren Zusammenhang stellen und damit dessen Wert für die Forschung erhöhen kann. Dieser Weg ist jedoch mühsam und zeitaufwendig, und obendrein ist den jeweiligen Recherche-Schritten nicht immer Erfolg beschieden. Die gesuchten Informationen oder Zusammenhänge sind oftmals nicht dort zu finden, wo man sie mit einiger Berechtigung erwarten kann – und umgekehrt findet man hin und wieder Hinweise, die zwar für andere Kontexte durchaus wertvoll sind, aber eben nicht für die augenblickliche Arbeit. Wenn man Pech hat, erkennt man deren Bedeutung jedoch nicht einmal, oder es kommt einem bei der Mitteilung dieser Funde ein anderer Forscher zuvor. –––––––– 44
Postkarte an Martha Hauptmann vom 8. November 1891 (Gerhart Hauptmann Museum Erkner, Archiv).
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Erschwerend kommt hinzu, dass die im wissenschaftlichen Kommentar präsentierten Erkenntnisse nur sehr langsam in die Forschung Eingang finden, denn die Rezeption eines ausführlichen Kommentars stellt für den Leser durchaus eine Herausforderung dar. Die Lektüre von Überblicksdarstellungen ist wesentlicher einfacher und beansprucht zudem weniger Zeit. Dennoch bleibt festzuhalten: Das Studium bislang unberücksichtigter Quellen kann die vorliegenden Erkenntnisse zu einzelnen Personen oder Epochen ergänzen und vertiefen – und mitunter auch korrigieren.
Herbert Wender
Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition
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Herbert Wender
Vorzüge und Nachteile jeweils abwägend, die Zweckmäßigkeit verschiedener Editionsstrategien im elektronischen Medium diskutiert werden. Darum soll es aber im Folgenden nicht oder allenfalls indirekt gehen, denn wir hatten seinerzeit eine Perspektive außerhalb des skizzierten Feldes eingenommen, vergleichbar etwa der Neugier des Hackers, der fragt, inwiefern die Nutzung einer gegebenen informationstechnischen Struktur über den Normalbetrieb hinaus möglich ist. Interessant erscheint mir dabei nicht nur die technische Spielerei, die dazu beitragen kann, der Editorik neue Präsentationsformen experimentell zu erschließen (1.), sondern auch die Übertragung einer zentralen editionswissenschaftlichen Forschungsstrategie auf die Editorik selbst: Der Blick ‚hinter die Kulissen‘, in die Werkstatt des Dichters, ist modernen Editoren eines der wichtigen Anliegen; soweit die Analyse des Quelltexts digital realisierter Editionen einen Blick in die Werkstatt der Editoren erlaubt, sollten wir diese Möglichkeit nutzen (2.), was dem grundsätzlicheren Ziel, im Rahmen einer Open DataInitiative den Zugang zu editorischen Datensammlungen zwecks Nach- und Neunutzung zu ermöglichen, keinen Abbruch tun soll.
1. Das obskure Objekt der Begierde: Editionen auf CD (1990er Jahre) Zur Sekundärnutzung editorischer Daten in exemplarischen Test-Installationen griffen wir3 auf ganz unterschiedliche Produkte zu; dazu gehörten insbesondere: die vom Rowohlt-Verlag besorgte CD-ROM-Edition von Robert Musils literarischem Nachlass mit ihren beiden Zugangswegen, der von Karl Eibl verantworteten WordCruncher-Version und dem von einer Projektgruppe in Klagenfurt entwickelten Philologischen Erschließungs-Programm (PEP),4 die SGML-konform codierte Digitalisierung der Weimarer Sophien-Ausgabe von Goethes Werken (ausgeliefert als CD-ROM; für die Einzellizenz verlangte Chadwyck-Healey damals mehr als 10.000 DM),5 aber auch die PDF-Version der Edition von Franz Kafkas Process-Handschrift,6 ein Desktop-Publishing-Produkt in der Nachfolge von Sattlers Hölderlin-Edition bei Stroemfeld.
–––––––— 3
4
5 6
Die im Folgenden beschriebenen Experimente habe ich fast durchweg gemeinsam mit Robert Peter durchgeführt, der seinerzeit als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl Richter beschäftigt war. Er war insbesondere für das Design der von uns aus den Originaldaten entwickelten ,Eigenprodukte‘ zuständig. Seit meiner vorzeitigen Verrentung ist davon im Netz fast nichts mehr zu sehen, nur unsere HypertextVersion des Divan-Erstdrucks ist in einer Augsburger Datensammlung noch zugänglich (http://www.hsaugsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/18Jh/Goethe/goe_di00.html; 14.5.2014). Robert Musil: Der literarische Nachlaß (CD-ROM). Hg. von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frisé. Reinbek 1992. Zur Neuartigkeit des Produkts vgl. Michael Bauer: Ein Kampf um CDROM. In DIE ZEIT 4.12.1992 (http://www.zeit.de/1992/50/ein-kampf-um-cd-rom/komplettansicht; 14.5.2014). Johann Wolfgang Goethe: Werke auf CD-ROM. Weimarer Ausgabe. SGML-Datenbank. Cambridge 1995. Vgl. die Rezension von Fotis Jannidis in: Arbitrium 16,2 (1998), S. 192–201. Franz Kafka: Der Process. Faksimile-Edition. Hg. von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staen-gle. 16 einzeln geheftete Entwurfs-Kapitel im Schuber zus. mit Beiheft u. CD-ROM. Basel, Frankfurt/M. 1997.
Vom potentiellen Nutzen des Quelltexts digital distribuierter Editionen
383
a) Musil-Daten Der Zugriff auf die Musil-Daten war problemlos, weil das Ergebnis der Transkription in transparenter ASCII-Codierung vorlag7 und damit die grundlegenden editorischen Informationen ohne Einschränkung für die Weiterverarbeitung zur Verfügung standen. Die Schichtung der Überarbeitungsstufen war von den Herausgebern in einem hierarchischen System verschiedener Klammerungen und Farbcodierungen verzeichnet worden, und diese strikt lineare Darstellung des editorischen Befunds fungierte als Input8 einer Pipeline von UNIX Standardtools, für die wir die zur Steuerung des Ablaufs nötigen Anweisungen programmiert hatten. Da sich jeweils aus der Hierarchie der Klammerungen die relative, stellenbezogene Chronologie der Textänderungen ergibt, waren die Prozeduren so angelegt, dass zunächst der Zeichenstrom entlang der Klammer-Symbole segmentiert und dabei den Segmenten die Information zur Überarbeitungsstufe explizit zugeordnet wurde, so dass anschließend die gewissermaßen atomisierte Transkription in einer zweidimensionalen, partiturähnlichen Struktur neu zusammengesetzt und damit übersichtlicher dargestellt werden konnte.9 Der Output wurde in Form einer HTML-Datei generiert, und der gesamte Prozess konnte via Internet angestoßen werden und lieferte das Ergebnis auf dem gleichen Weg zurück. Ausgehend von diesem Zeichenstrom war es möglich, mit Hilfe eines eigenen Transformationsprogramms die Schreibarbeit der einzelnen Überarbeitungsstufen zu isolieren und in einem übersichtlicheren zweidimensionalen Feld auf je eigener Zeile so anzuordnen, dass die Eingriffe in den vorhandenen Text vor dem Hintergrund des in den darüberliegenden Zeilen sichtbaren Stands der Textentwicklung leichter nachvollziehbar sind. Das Hauptproblem war dabei der Umbruch der mehrzeiligen Struktur auf Bildschirm- bzw. Papierbreite. b) Goethe-Daten Auch bei den Goethe-Daten von Chadwyck-Healey spielt es keine Rolle, dass sie in einer proprietären Textdatenbank gespeichert sind, denn wenn man nur die zu einzelnen Texten gespeicherten editorischen Informationen weiterverwenden will – in unserem Fall etwa Text und Apparat zu Divan-Gedichten, zu Die Leiden des jungen Werthers oder zu Briefe aus der Schweiz –, ist die Möglichkeit des Exportierens SGML-konform codierter Textbereiche völlig ausreichend. Ziel unserer informationstechnischen Experimente war dabei, aus den gegebenen editorischen Informationen eine Hypertext-Darstellung der Text-Varianz maschinell zu erzeugen. Das in der Weimarer Ausgabe verwendete traditionelle Referenzsystem für die Zuordnung der im Apparat verzeichneten Varianten – Seite, Zeile und Lemma – ist für die maschinelle Verarbeitung bei weitem nicht so bequem wie die heute in genuin di–––––––—
7 8
9
Vgl. unten im Anhang zu Teil 1 das erste Beispiel. Notwendig war allerdings eine vorauslaufende Prüfung der kodierten Strukturen auf formale Korrektheit, die für das Funktionieren der Anschlussprozeduren zwingende Voraussetzung ist. Heutzutage wäre solche Strukturkorrektheit bei sachgerechter Verwendung eines XML-Editors von vornherein garantiert. Vgl. auch dazu das Beispiel im Anhang.
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gitalen Editionen üblichen Segment-Identifikatoren, die im Zuge der Erstellung in den Quelltext eingebettet werden. (Die Mühe einer solchen zusätzlichen Verknüpfung von Apparat und Text hatte sich Chadwyck Healey erspart.) Bei Anwendung geeigneter Segmentierungs- und Sortierprozeduren ist es aber durchaus möglich, die Lesarten dem Text so zuzuordnen, dass im Programmablauf beide Seiten synchron mit reziproken Anker-Markierungen angereichert werden können. Damit war die Voraussetzung geschaffen, um in der intendierten Frame-Darstellung von Text und Apparat in ein und demselben Bildschirmfenster die zum Synchronisieren der Frame-Inhalte erforderlichen Hyperlinks realisieren zu können. Die Ergebnisse dieser Studien sind publiziert,10 brauchen also hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. c) Kafka-Daten Die maßstabsetzenden Faksimile-Editionen des Heidelberger Instituts für Textkritik werden, wie bereits erwähnt, im Desktop Publishing-Verfahren hergestellt, 11 die mitgelieferten CDs bieten Dateien, denen die Spezifikation der Seitenbeschreibungssprache PDF zugrunde liegt. Während bei Verwendung einer Auszeichnungssprache wie XML von der typographischen Erscheinungsform des Textes abstrahiert wird, um eine möglichst breite Wiederverwendbarkeit der Daten zu gewährleisten, geht es den Anwendern eines Desktop Publishing-Programms wie InDesign gerade um maximale Kontrolle der visuellen Erscheinungsform des gedruckten oder auf dem Bildschirm angezeigten Texts. Die dargestellten editorischen Informationen bleiben so also zunächst einmal fest eingebunden in die gewählte Veröffentlichungsform, eine Wiederverwendung der transkribierten Textsegmente in anderen Verwendungszusammenhängen ist eigentlich nicht vorgesehen. Es ist indessen nicht unmöglich, die gewünschten Informationen aus einer im offenen PDF-Format gelieferten Datei zu gewinnen. Wir gingen den Weg über die Konvertierung in das für den Datenaustausch zwischen Texteditoren gebräuchliche RTF-Format mit Hilfe eines entsprechenden Tools, das seinerzeit im Netz frei verfügbar war. Das Ergebnis war formal nicht korrekt, so dass die erzeugten RTFDateien in keinem Texteditor darstellbar waren. Die nähere Betrachtung der enthaltenen Codierungen zeigte aber brauchbare Strukturen. Die relevanten editorischen Informationen sind in einem Strom von Zeichenketten – von Wortfragmenten bis zu Textsegmenten – gegeben, die mit Positionsangaben versehen und typographisch differenziert sind. Die vielleicht bekannteste Zeile der Romanhandschrift erscheint dann (hier in verkürzter Darstellung) folgendermaßen:
–––––––— 10
11
Vgl. Robert Peter und Herbert Wender: Variantenapparate als Hypertext im Internet. Perspektiven einer Computer-Edition. In: Textproduktion in elektronischen Umgebungen, hg. von Dagmar Knorr u. EvaMaria Jakob. Frankfurt/M. 1997 (Textproduktion und Medium Bd. 2), S. 141–154 (online: [http://www.prowitec.rwth-aachen.de/p-publikationen/band-pdf/band2/band2_peter_wender.pdf; 15.5.2014)]. Vgl. den DFG-Antrag zur Kafka-Ausgabe für den Zeitraum 2007–2009 (http://www.textkritik.de /presse/antrag.pdf; 15.5.2014), Pkt. 3.1.e.
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Anhang zu Teil 1. Beispiel 1 (aus Musils literarischem Nachlass) Original-Codierung des editorischen Befunds: |Z2
#Aber# #w#\#W# \[«64» Aber w¦ährend er \#aber#¦ noch auf #diese
|Z3 vertrauten Andeutungen# \alles das¦ achtete, wurd##en sie \aber¦ durch
|Z4 eine #klare# \harte¦ Bewegung der Vernunft## ¦\°e es durch einen
|Z5 natürlichen Einfall°«12»¦¦ unterbrochen; #und es verblüffte ihn der |Z6 natürliche Einfall, daß sich alle die# ¦\°#denn# \\des Inhalts, daß
|Z7 sich¦¦ die #vielartigen# vielgestaltigen°«12»¦¦ Versuchungen des Gefühls,
|Z8 die #er# ihm durcheinander \vor¦schwebten wie der Schatten, den bei |Z2
#Aber# #w#\#W# \[®64¯ Aber w||ährend er \#aber#| noch auf #diese
|Z3 vertrauten Andeutungen# \alles das| achtete, wurd##en sie \aber| durch
|Z4 eine #klare# \harte| Bewegung der Vernunft## þ\øe es durch einen
|Z5 natürlichen Einfallø®12¯|þ unterbrochen; #und es verblüffte ihn der
Text der Grundschicht: Aber während er noch auf diese vertrauten Andeutungen achtete, … Ergebnisse der Überarbeitung Während er aber noch auf diese vertrauten Andeutungen achtete, … Während er aber noch auf alles das achtete, … Aber während er noch auf alles das achtete, …
Automatisch aus den Ausgangsdaten erzeugte Darstellung der Arbeit am Text: [Aber] [w]
{[W]
{[®64¯ Aber w}
vertrauten Andeutungen]
}
ährend er
{alles das}
{[aber]}
achtete,
noch auf [diese
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a (x)
388
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2. Vor aller Augen: Editionen im Netz Wer heute als Philologe qualitativ hochwertige, von wissenschaftlichen Projekten erarbeitete Textdaten aus dem Internet schöpft, kann mit sehr verschiedenen Situationen konfrontiert sein. Das sei an zwei Beispielen gezeigt:15
Das Deutsche Textarchiv (DTA)16 bietet neben der Lesefassung, in der die faksimilierte Seite eines Erstdrucks jeweils neben der zeilengenauen Transliteration dieser Seite steht, auch die zugrundeliegenden Dateien zum Herunterladen: einerseits die nach den TEIRichtlinien aufbereitete XML-Basisdatei zum jeweiligen Text, andererseits auch alternative Formate, die für linguistische Analysen annotiert sind. Das Heinrich-Heine-Portal (HHP)17 bietet (u. a.) die Werk- und Apparattexte der Düsseldorfer Heine-Ausgabe in einer dem Druckbild der Buchausgabe entsprechenden Darstellung, nämlich in einer tabellarischen Struktur, die das Seiten/Zeilen-Raster der seit langem im Druck vorliegenden Bände nachbildet. Wer die editorischen Daten in eigenen Anwendungen nutzen möchte, muss aus dieser Struktur erst einmal einen Fließtext zurückgewinnen.
a) Lachmann im Deutschen Textarchiv Die Bestimmung von und der Umgang mit Textfehlern haben in der Fachgeschichte zu weitläufigen Diskussionen Anlass gegeben, worauf hier nicht näher einzugehen ist. In Zeiten avancierter Informationstechnik und im Windschatten von ,Big Data‘Projekten in den ‚Digital Humanities‘ erhält die Frage nach der Zuverlässigkeit von Textquellen jedenfalls eine völlig neue Dimension. Sofern nämlich das Standardverfahren struktureller Textauszeichnung in einem der SGML-konformen Dialekte angewandt wird, tritt neben die Frage nach Erfassungs- bzw. Digitalisierungsfehlern, die den sogenannten Content unmittelbar betreffen, die Frage nach der Adäquatheit der strukturellen Beschreibung. Denn wenn die Daten maschinell verarbeitet werden – und sei es nur im Kontext von Suchoperationen – können Auszeichnungsfehler zu kaum erkennbaren Folgefehlern führen. Beispielhaft wird im Folgenden das DTA betrachtet, denn es ist von der Konzeption her auf Nachnutzung der Daten, und zwar fachgrenzenübergreifend, angelegt. Laut eigenem Anspruch unterscheidet sich das DTA von anderen „Textsammlungen durch die sorgfältige Auswahl der Texte und Ausgaben, die sehr hohe Erfassungsgenauigkeit, die strukturelle und linguistische Erschließung der Textdaten sowie die Verlässlichkeit der Metadaten“. Durch den freien Zugang zu den Dateien „sind die Texte sowohl für Sprachwissenschaftler als auch für Philologen vielfältig nachnutzbar“.18 Im –––––––— 15
16 17 18
Im Unterschied zu den bisher referierten Experimenten setzen die folgenden Beobachtungen nicht mehr voraus als eine Standard-PC-Ausstattung, denn seit meinem Ausscheiden aus dem Berufsleben (2004) verfolge ich die Entwicklungen im Bereich digitaler bzw. digitalisierter Editionen nur noch rezeptiv. URL: http://www.deutschestextarchiv.de (15.5.2014). URL: http://www.hhp.uni-trier.de (15.5.2014); vgl. Christian Liedtke: Die digitale Edition im HeinrichHeine-Portal – Probleme, Prinzipien, Perspektiven. In: editio 19 (2005), S. 106–121. DTA-Projektüberblick, Nrn. 1 u. 8 (http://www.deutschestextarchiv.de/doku/ueberblick; 15.5.2014)
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Ergebnis stellt das DTA „einen disziplinen- und gattungsübergreifenden Grundbestand deutschsprachiger Texte aus dem Zeitraum von ca. 1600 bis 1900 bereit“.19 Das im Folgenden zu besprechende Beispiel ist mehr oder weniger zufällig gewählt: Beim Stöbern nach Netzquellen für den auf dem Tagungsplakat gezeigten Ausschnitt aus der Lachmannschen Ausgabe der „Lieder und Sangsprüche Walthers von der Vogelweide“ stieß ich im Deutschen Textarchiv auf den einzigen dort erfassten Lachmann-Text: „Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth“ im Erstdruck von 1816,20 ein Grundlagenwerk der deutschen Philologie, dem eine entsprechend sorgfältige digitale Darstellung angemessen wäre. Insbesondere stellt sich im Kontext der Erstellung eines neuhochdeutschen Referenzkorpus die Frage, wie die Sprachebenen in Lachmanns Text, der zahlreiche Zitate aus den erörterten mittelhochdeutschen Texten enthält, voneinander abgegrenzt sind, z. B. an folgender Stelle:
In der parallel angezeigten Transliteration zeigen sich zunächst einmal zwei Unterschiede gegenüber dem Druckbild: Als Kriemhild zu Etzel rei�t, kommt �ie durch Baiern; da noch ein klo�ter �tat, Und da daz In mit fluzze in du T�nowe gat, In der �tat ze Pazzowe �az ein bi�chof. Es i�t der Bi�chof Pilgrin, der ihr entgegen reitet. Sie
(1) Der erste, nur halb zitierte Vers ist nicht eingerückt, und (2) die Einrückung nach dem Zitat signalisiert gegen die Vorlage eine Absatzgrenze. Um die Auszeichnungsfehler zu erkennen, muss man nicht auf die XMLBasisdatei zurückgehen, denn auch der Quelltext der im normalen Online-Zugriff gelieferten HTML-Seite gewährt hinreichenden Aufschluss:
​​​​​Als Kriemhild zu Etzel reiſt, kommt ſie durch Baiern;
da noch ein kloſter ſtat,
–––––––— 19 20
http://www.deutschestextarchiv.de/doku/referenzkorpus; 22.5.2014. Die im Folgenden betrachteten Daten sind über den Link http://www.deutschestextarchiv.de /book/show/lachmann_nibelungen_1816 (22.5.2014) zugänglich.
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Und da daz In mit fluzze in du̓ Tůnowe gat,
In der ſtat ze Pazzowe ſaz ein biſchof.
Es iſt der Biſchof Pilgrin, der ihr entgegen reitet. Sie
Zugrundeliegender XML-Code:
Als Kriemhild zu Etzel reiſt, kommt ſie durch Baiern; da noch ein kloſter ſtat, Und da daz In mit fluzze in du̓ Tůnowe gat, In der ſtat ze Pazzowe ſaz ein biſchof.
Es iſt der Biſchof Pilgrin, der ihr entgegen reitet. Sie
Abgesehen davon, dass hier fälschlicherweise Lachmann-Text als Content eines Knotens erscheint, der als Zitat () markiert ist, fällt auf, dass die Zitate nicht näher charakterisiert sind, was die Vermutung nahelegt, dass der mittelhochdeutsche Text bei der weiteren linguistischen Bearbeitung nicht ausgeklammert wird. Folgerichtig laufen dann die automatisierten Verfahren der Lemma-Zuordnung und Wortartbestimmung bei mittelhochdeutschen Formen wie „stat“ oder „saz“ aus dem Ruder:21 Kloster statt … statt ze pazzowe Satz … NN PTKVZ … APPR XY XY NN … NN PTKVZ [abgetrennter Verbzusatz wie in 'findet … statt'] … APPR [Präposition] XY XY NN
–––––––—
21
Ausschnitte aus der Datei „lachmann_nibelungen_1816 (tcf-token).xml“.
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telten Tabelle der Zeilenzähler der Seite nicht unter Kontrolle zu halten ist.28 Wer mit eigenen Formen zur Darstellung der Textentwicklung experimentieren will, ist jedenfalls gut beraten, nur die innere Tabelle zu extrahieren, wenn es sich, wie bei dem von mir gewählten Beispiel, um den komplexen Variantenapparat zu einer ganzen Strophe handelt. Im Übrigen gilt bei diesem Modell der seitengenauen Übernahme aus einer im Medium Buch veröffentlichten historisch-kritischen Ausgabe, dass die Schwächen der Vorlage nur sehr begrenzt ausgeglichen werden können. So könnte man sich vorstellen, dass der in der gewählten Apparatform nicht zur Darstellung kommende Bezug zwischen der Lesart zur zweiten Strophe:29 5–8 Sie wandern bis hält sie auf.] (1) Es tragen diese Ratten Geschoren ihre (2) Sie wandern viel tausend Meilen Ganz ohne
und der ersten Fassung der vierten Strophe (vgl. Tab. 2) in der Online-Version durch einen Hyperlink angezeigt würde. Das aber würde eine kritische Sichtung des erreichten Forschungsstands implizieren, was aber anscheinend bei diesem Konzept nicht vorgesehen ist. Ganz zu schweigen von der notwendigen Erörterung der Frage, ob es überhaupt angemessen war, als integralen Text eines Gedichts zu drucken, was im überlieferten Konvolut als Nebeneinander der ersten Fassung – bei der über die endgültige Gestalt der vierten Strophe noch nicht entschieden, die Schlussstrophe indessen definitiv verworfen wurde – und des Fragments einer Neufassung mit variantem Versbau erscheint. Doch ist dies keine Frage der Digitalisierungsstrategie und bleibt deshalb einer Erörterung an anderer Stelle vorbehalten.
–––––––— 28 29
In dem von mir gewählten Beispiel aus der oberen Hälfte von Seite 1435 habe ich deshalb die Zeilenangabe „25“ aus der ersten Spalte der äußeren Tabelle gelöscht. DHA Bd. 3/2, S. 1434. – Bei der Portierung sind offenbar die ersten vier Zeilen der Folgeseite verloren gegangen (Stand: 28.5.2014).
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Anhang zu Teil 2 Tab. 1. Ausschnitte aus der Textdarstellung auf den Seiten DHA 3, 334–336. H [p. 1] Die Wanderratten. Es giebt zwey Sorten Ratten Die hungrigen und satten Die Satten bleiben vergnügt zu Haus, Die Hungrigen aber wandern aus 5
Sie wandern viel tausend Meilen
Ganz ohne Rasten und Weilen … [DHA 3, 334/335] H [p. 4] Es haben diese Käutze Gar fürchterliche Schnäuze 15
Sie tragen die Köpfe geschoren egal Ganz radikal, ganz rattenkahl Die radikale Rotte Weiß nichts von einem Gotte. Sie lassen nicht taufen ihre Brut
20
Die Weiber sind Gemeindegut. H [p. 2] Der sinnliche Rattenhaufen Er will nur fressen und saufen,
... 35
Der Bürgermeister und Senat, Sie schütteln die Köpfe und keiner weiß Rath. H [p. 3] Die Bürgerschaft greift zu den Waffen, Die Glocken läuten die Pfaffen. Gefährdet ist das Paladium
40
Des sittlichen Staats, das Eigenthum. H [p. 4] Nicht Glockengeläute, nicht Pfaffengebete
...30
Nicht hochwohlweise Senatsdekrete
–––––––— 30
Es folgen noch 3 weitere Strophen (Z. 45–56 ; vgl. DHA 3/1, 336,).
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3. Ausblick Nach meiner Erfahrung ist der Blick hinter die Kulissen digitaler Textangebote nicht weniger aufschlussreich als das Studium von Archivalien ,aus der Werkstatt der Dichter‘. Deshalb wird der Nutzen nicht gering sein, wenn die Projektdateien heutiger Editionsvorhaben nicht als Datenmüll entsorgt, sondern als editionshistorische Quellen aufbewahrt werden, aus denen man lernen kann: nicht zuletzt manches über Validität und (Nach-)Nutzbarkeit des bislang Erreichten. Dabei halte ich Fragen der Standardisierung digitaler Textdaten für weniger bedeutsam: Wer sich zutraut, Hieroglyphen zu entschlüsseln oder Dichterhandschriften zu entziffern, sollte vor obskuren Datenformaten nicht zurückschrecken. Und angesichts der gegenwärtigen Bemühungen, die Beschreibung verworrener Handschriften in den engen formalen Rahmen strukturorientierter Auszeichnungssprachen einzupassen, ist vor der Gefahr zu warnen, dass hinter den (Struktur-)Bäumen der Wildwuchs kreativer Vertextungsprozesse aus dem Blick gerät. Auf der anderen Seite ist es zu bedauern, wenn Transparenz nur im Binnenraum der Projekte herrscht, von außen aber kein Zugriff auf die Basisdateien möglich ist. Gelegentlich fühlt man sich an die frühen Zeiten der kommerziellen EDV erinnert, als Software-Entwickler sogenannte Obfuskatoren eingesetzt haben, um die Funktionsweise ihrer Prozeduren vor dem zudringlichen Blick der Konkurrenz zu schützen. Im Wissenschaftskontext jedenfalls sollte sich die freie Verfügbarkeit der in aller Regel unter Einsatz nicht unerheblicher öffentlicher Mittel erarbeiteten editorischen Daten auf alle Datenquellen erstrecken und nicht nur auf die vom jeweiligen Projekt präferierte abgeleitete Darbietungsform. Was schließlich die Konkurrenz solcher Formen der Darstellung editorischer Erkenntnisse betrifft, mag mancher nach einem Jahrhundert streitbarer Debatten um Vorzüge und Nachteile verschiedener Apparatkonzeptionen am Sinn solchen Bemühens zweifeln. Das Bild, das Jean Paul gegen Schelling-Adepten im Feld der Ästhetik gerichtet hatte und das von Georg Büchner auf die apriorisch verfahrende Naturphilosophie übertragen wurde, passt wohl auch hier: Der Weg ist weit aus der Wüste atomistischer Lesarten-Verzeichnung bis zum frischen grünen Leben dichterischer Schaffensprozesse, deren Dynamik darzustellen in aller Regel dem editorischen Narrativ vorbehalten ist. Es bleibt zu wünschen, dass nach dem Auftürmen gigantischer Textdatenberge eine Phase der Rückbesinnung auf das Kernanliegen genetischer Editorik folgen möge, eine Phase, in der dem Experimentieren mit Prozessdarstellungen der Vorzug gegeben würde. Indessen ist in dieser Hinsicht von den zuständigen Institutionen wenig zu hoffen: Wenn in der Mitte des Jahres 2014 der Startschuss zur Portierung der umstrittenen Marburger Büchner-Ausgabe fällt, um diese spezifische Sicht auf die editorischen Daten – nach dem Muster des Heine-Portals – auch im Internet zu etablieren, dann ist das als Zeichen der Zeit wohl doch eher als Bemühen um ein Zementieren des Status quo zu deuten, als neuerliches Bekenntnis zu dem „Weiter so!“, das sich die in den letzten dreißig Jahren etablierte deutsche Editionswissenschaft auf die Fahnen geschrieben hat. Es ist vielleicht ein Zufall, dass die Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition gerade jetzt, mit der Tagung 2014, die Arbeit ihrer Kom-
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mission „Edition und Computer“ eingestellt hat, weil mit diesem Thema heute ohnehin alle Gremien befasst seien. Doch es war eben dieses Thema, das Martin Ehrenzeller am Herzen lag, als er mich der Arbeitsgemeinschaft zuführte, und es war eben diese Kommission „Edition und Computer“, in deren Sitzung 1994 in Weimar ich über die EDV-Konzeption unseres Projekts referierte. Es scheint an der Zeit, Adieu zu sagen, zumal die Diskussion von Fragen der Büchneredition – ein anderes Herzensthema31 – seit der Mitgliederversammlung im Jahre 2004 tabu ist.32
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32
Vgl. zuletzt Herbert Wender: An den Grenzen der Konjekturalphilologie. Zu einigen offenen Fragen der Büchneredition. In: Commitment and Compassion. Essays on Georg Büchner. Festschrift for Gerhard P. Knapp. Ed. by Patrick Fortmann and Martha B. Helfer. Amsterdam/New York, 2012 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Bd. 81), S. 303–324. Zwischen Manuskriptschluss und Fahnenkorrektur wurde am 27. Juni 2014 die Website „Georg Büchner | PORTAL“ offiziell freigeschaltet. Als Lobredner der Marburger Ausgabe fungierte der Sprecher der Arbeitsgemeinschaft (Bodo Plachta: Editionswissenschaft auf guten Wegen: Die Marburger Büchner-Ausgabe; vgl. http://buechnerportal.de/aufsaetze/81bodo-plachta-editionswissenschaft-aufguten-wegen-die-marburger-buechner-ausgabe; 16.9.2014). Wer sich nie die Mühe machte, meine Kritik an den zuerst erschienenen Danton-Bänden (Rezension in: Forum Vormärz Forschung. Jahrbuch 2000 [6. Jg., 2001], S. 339–350) im Einzelnen zu prüfen, und wer verschweigt (oder nicht weiß), dass die Marburger Herausgeber sich gezwungen sahen, die von mir behauptete Fehldeutung von Tintendifferenzen in der Danton-Handschrift einzuräumen (in einer Fußnote des WoyzeckEditionsberichts), der sollte sich in dieser Auseinandersetzung zurückhalten und nicht vorschnell unterstellen, es gehe den Kritikern nicht um „philologische Prinzipien und Verfahren“, sondern um „Interpretationshoheit“.
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mittelbar nach Erscheinen der zweiten, allerdings nur unwesentlich veränderten Auflage im Jahre 1987 gab man sich auf Initiative des Innsbrucker Forschungsinstituts Brenner-Archiv an ein neues Editionsprojekt des Werks von Trakl. Herausgegeben von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina wurden unter dem Titel Sämtliche Werke und Briefwechsel von 1995 bis 2014 bereits fünf Bände bei Stroemfeld/Roter Stern in Basel und Frankfurt a.M. vorgelegt; geplant sind insgesamt sechs und zwei Supplementbände.4 Das Faksimile – damals eher Schmuckbeilage – und die diplomatische Umschrift rücken ins Zentrum der Edition. Die Orientierung auf die Endfassung weicht einem textgenetischen Ansatz, das ‚futurische‘ Prinzip dem ‚präsentischen‘.5 Die oben skizzierte Konkurrenzsituation bedeutet nicht zwangsläufig das Ablösen einer alten durch eine neue Edition, im Gegenteil: Begreift man eine Edition im Sinne Paul Eggerts als begründeten Standpunkt zu einem Werk und begreift man den Editor nicht als Präparator dieses Werks, sondern als dessen Vermittler, stehen der Nutzung durch die Literaturwissenschaft mehrere Vorschläge zu einer historisch-kritischen Sicht auf ein Werk zur Verfügung.6 Eine solche Auffassung als die dem Aufsatz zugrunde liegende These – und damit verbunden auch die Wertschätzung früherer Editionen – widerspricht eher der gängigen Auffassung, wenn z. B. neue Editionen als „Revolution“ bezeichnet werden.7 Ob aber – ganz im Gegenteil – solche als veraltet und damit implizit als falsch verurteilte Editionen auch heute noch einen wichtigen Beitrag für die literaturwissenschaftliche Praxis leisten können, mag exemplarisch eine vergleichende Analyse prüfen.8 Sie hat die Darstellung der Genese von Trakls Gedichts „Untergang“ in den beiden oben genannten historisch-kritischen Ausgaben –––––––— 4 5
6
7
8
Im Folgenden zitiert unter der Sigle SZ. Vgl. die schon 1970 von Hans-Georg Kemper geäußerte Kritik an dem auf die Endfassung ausgerichteten Editionsprinzip der Salzburger Trakl-Ausgabe und an der auf einer bestimmten Interpretation, hier: die Prämisse der Nichtverstehbarkeit, gegründeten Art der Variantendarstellung. In: Hans-Georg Kemper. Georg Trakls Entwürfe. Aspekte zu ihrem Verständnis. Tübingen 1970, S. 106ff. „[...] scholarly editors, like all editors, are agents in the ongoing life of the work, not its embalmers. Editions are one form of argument about the work.“ Paul Eggert. „Brought to Book: Bibliography, Book History and the Study of Literature”. In: The Library. 7. Folge, Bd. 13, Nr. 1, 2012, S. 3–32, hier: S. 32. Vgl. auch Rüdiger Nutt-Kofoths Rezension der Innsbrucker Ausgabe, Bd. II. In: Bodo Plachta / Winfried Woesler (Hg.). editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft. 12 (1998), S. 218– 224, hier S. 218. Vgl. u. a. die Würdigung des Verlegers Karl Dietrich Wolff: „Ohne Beispiel und Vorbild war einst Wolffs und Sattlers Entscheidung, Hölderlins Handschriften in immer besseren Faksimiles als genuinen Bestandteil der Edition zu begreifen, die Schwierigkeiten ihrer Entschlüsselung also nicht einem Anmerkungsapparat anzuvertrauen, über den ein scheinbar allwissender und deshalb auch über alles entscheidender Herausgeber herrschte. Dies hat nicht nur den Umgang mit Hölderlins fernhintreffenden Gedichten revolutioniert, sondern ganz gewiss auch die gesamte germanistische Editionsphilologie.“ Jochen Hieber. „Karl Dietrich Wolff, genannt KD. Mehr als ein Verleger.“ FAZ, 27.2.2013. (27.12.2013). Zum Nutzen von Paralleleditionen vgl. Bernhard Fetz / Klaus Kastberger (Hg.). Von der ersten zur letzten Hand. Theorie und Praxis der literarischen Edition. Wien und Bozen 2000, S. 6 und Rüdiger NuttKofoth. „Abmalen vs. Lesen oder Handschriftentranskription vs. Textedition. Zwei neue GrimmBriefausgaben als Konkurrenzunternehmen“. In: IASL Online 2002. (26.02.2013).
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„Am Abend, wenn“
zum Gegenstand. Dabei konzentriere ich mich auf die Frage: Welche Auskunft geben die Editionen darüber, wo das Gedicht seinen Anfang genommen hat, d. h., welche Handschrift wird jeweils als das erste überlieferte materiale Zeugnis der Genese dieses Gedichts betrachtet? Da erst die Typoskripte den Titel „Untergang“ tragen, kann der Blick auf die handschriftlichen Entwürfe ein ergebnisoffener sein. Das Gedicht wurde 1915 in der von Trakl vorbereiteten, aber nicht mehr zu Lebzeiten des Autors erschienenen Gedichtsammlung Sebastian im Traum veröffentlicht und kann über die Thematik hinaus in seiner Lakonie und Dichte als zentral für Trakls Œuvre betrachtet werden. Untergang AN KARL BORROMÄUS HEINRICH Über den weißen Weiher Sind die wilden Vögel fortgezogen. Am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind.
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Über unsere Gräber Beugt sich die zerbrochene Stirne der Nacht. Unter Eichen schaukeln wir auf einem silbernen Kahn. Immer klingen die weißen Mauern der Stadt. Unter Dornenbogen 9 O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.
10
Dies ist der Text, um den es geht und den ich zunächst unter poetologischen Gesichtspunkten in den Blick nehmen möchte, da sich hieraus entscheidende Konsequenzen für die Beurteilung der vorliegenden historisch-kritischen Ausgaben und für den Vorschlag einer neuen Lektüre der Entstehungsprozesse ergeben, der sich den Erkenntnissen beider Ausgaben trotz ihrer scheinbar unvereinbaren editorischen Entscheidungen verdankt.10 Was Rilke über Trakls Helian-Gedicht schreibt, besitzt auch für das Gedicht „Untergang“ Gültigkeit: [...] es ist gleichsam auf seine Pausen aufgebaut, ein paar Einfriedungen um das grenzenlos Wortlose: so stehen die Zeilen da. Wie Zäune in einem flachen Land, über die hin das Eingezäunte fortwährend zu einer unbesitzbaren großen Ebene zusammenschlägt.11
In drei kurzen Strophen setzt Trakl ein poetisches Programm um, das er selbst als „bildhafte“, als „heiß errungene Manier“12 beschreibt, mit der er ein „infernalisches Chaos von Rythmen [sic] und Bildern“13 zu strukturieren sucht, indem er das Dispara–––––––— 9
10 11 12 13
Zitiert nach KS 1, 116. Textidentisch mit: Georg Trakl, Sebastian im Traum. Leipzig 1915, S. 44. Aktuelle Interpretationsansätze in: Hanna Klessinger. Krisis der Moderne. Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis. Würzburg 2007. Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe. Salzburg 1959, 2. Auflage, S. 10 (Erstauflage 1926). Georg Trakl. Brief an Erhard Buschbeck. In: KS 1, 478 datiert auf Wien, zweite Hälfte Juli 1910. In SZ V.I, 126 datiert auf . Georg Trakl. Brief an Erhard Buschbeck. In: KS 1, 479 datiert auf Wien, zweite Hälfte Juli 1910. In SZ V.I, 131 datiert auf .
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te „zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet“.14 Da wäre einmal die stringente dreistrophige Gliederung, die in der raumzeitlichen Struktur deutlich akzentuiert ist, vgl. das Fortschreiten der Zeit „Am Abend“ (1. Strophe) – „der Nacht“ (2. Strophe) – „gen Mitternacht“ (3. Strophe) und die Isolation der Lokaladverbialen aus dem Satzkontext, denen jeweils ein auffallend knapper Vers zugewiesen wird: „Über den weißen Weiher“ (1. Strophe) – „Über unsere Gräber“ (2. Strophe) – „Unter Dornenbogen“ (3. Strophe), und ferner die regelmäßige Wiederholung einer festen Anzahl von Hebungen in den Versen jeder Strophe, deren Abfolge Trakl in der letzten Strophe variiert, sowie die durchgängige Bindung der Sprache in dem fallenden Rhythmus des Trochäus – bis auf eine bezeichnende Ausnahme im fünften Vers, der jambisch mit „Am Abend“ beginnt und auf den ich zurückkommen werde.15 Da wäre aber auch der große Gestus des Sprechens in den sich korrespondierenden Bewegungszügen: Vom Sprecher weg in die Horizontale: „Über den weißen Weiher“ (V. 3) und zurück zum Sprecher hin: „Von unseren Sternen“ (V. 5), von der vertikalen Bewegung des Beugens über Gräber (vgl. V. 6/7) zu der des nach oben gerichteten Klimmens gen Mitternacht (vgl. V. 10/11), während es gleichzeitig Momente des Innehaltens, einer nicht zielgerichteten Bewegung gibt: „schaukeln wir“ (V. 8) und „Immer klingen“ (V. 9). Die Kontinuität dieses poetischen Programms bestätigt sich in einer späteren Aussage Trakls über sein Gedicht „Klagelied“, in der ein weiterer, unter poetologischer Perspektive entscheidender Aspekt hinzukommt: „Anbei das umgearbeitete Gedicht. Es ist umso viel besser als das ursprüngliche als es nun unpersönlich ist, und zum Bersten voll von Bewegung und Gesichten.“16 Rhythmen und Bilder, Bewegung und Gesichte sind nach Selbstaussage des Dichters maßgebliche Orientierungspunkte in seinem Schreibprozess. Umgekehrt fordert deren drängende Dichte geradezu die „Pausen“, die Rilke als prägend für Trakls Lyrik beschreibt.17 Von großer Bedeutung ist der in der kleinen Bemerkung: „als es nun unpersönlich ist“ durchscheinende rigide Wahrheitsanspruch, unter den Trakl seine Dichtung stellt. Du magst mir glauben, daß es mir nicht leicht fällt und niemals leicht fallen wird, mich bedingungslos dem Darzustellenden unterzuordnen und ich werde mich immer und immer 18 wieder berichtigen müssen, um der Wahrheit zu geben, was der Wahrheit ist.
–––––––— 14 15 16
17
18
Georg Trakl. Brief an Erhard Buschbeck. Siehe Anm. 12. Dagegen analysiert Hanna Klessinger das Metrum als „Zitat des elegischen Pentameters“. Siehe Klessinger 2007 (Anm. 7), S. 25. Georg Trakl. Brief an Erhard Buschbeck. In KS 1, 485 datiert auf Salzburg (?), Spätherbst (?) 1911. In SZ V.I, 174 datiert auf . Zur Deutung des Briefs vgl. auch Hermann Zwerschina. „Georg Trakl. Untergang. Das Gedicht verstehen aus der Arbeitsweise Trakls“. In: Mitteilungen aus dem Brenner Archiv 18, 1999, S. 33–60, hier S. 45ff. Vgl. dazu den Hinweis aus erkenntnistheoretischer Perspektive, dass Erkennbarkeit in einem „verwischten Flux“ nicht möglich, sondern vielmehr „auf das richtige Maß von Stillstand und Bewegung“ angewiesen sei. Siehe Markus Gabriel. „Zum philosophischen Ansatz Wolfram Hogrebes“. In: Jens Halfwasser und Markus Gabriel (Hg.). Wolfram Hogrebe. Die Wirklichkeit des Denkens. Vorträge der Gadamer Professur. Heidelberg 2007, S. 82. Georg Trakl. Brief an Erhard Buschbeck (Anm. 16).
„Am Abend, wenn“
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Die Genese des Gedichtes „Untergang“ bietet sich für die dem Aufsatz zugrunde liegende Fragestellung nach dem Nutzen von Paralleleditionen insofern an, als sich die materiale Überlieferung weitgehend auf einen Handschriftenkomplex konzentriert und die Innsbrucker Ausgabe zudem keine neuen Dokumente im Vergleich zur Salzburger Ausgabe erschlossen hat. Somit beruht die Darstellung der Entstehung dieses Gedichts in beiden historisch-kritischen Editionen auf einer identischen Materialgrundlage (vgl. die Synopse auf S. 389). Es handelt sich dabei um drei Drucke, zwei Typoskripte und einen handschriftlichen Entwurf auf einem Umschlag, vor allem aber um einen eng beschriebenen Doppelbogen (G 59–65 und G 72–79) aus der Sammlung Maria Geipel (Salzburg Museum), den Trakl zwischen dem 3. Januar und Mitte Februar 1913 benutzt und offensichtlich viel bei sich getragen hat.19 Für diese Kategorie von Entwürfen hat Paulius V. Subaius den anschaulichen Titel „Folded to fit into a pocket …“ geprägt.20 Besser lässt sich das Blatt von Trakl nicht charakterisieren. Der Doppelbogen ist, so Killy, „infolge häufiger Faltung durchlöchert“21 und liegt als in zwei Einzelbögen zerrissenes, längs und quer gefaltetes Dokument vor. Dankenswerterweise hat das Salzburg Museum neue Fotografien dieses Textzeugen aus der dort aufbewahrten Sammlung Maria Geipel angefertigt. Auf ihnen kann man nicht nur die Gebrauchsspuren, sondern auch Schrift und Schreibwerkzeug gut erkennen, ein offensichtlich mit dem Messer gespitzter Bleistift mit charakteristischer Strichführung. (Vgl. die Abbildungen auf S. 405ff.) Die Seiten sind zweispaltig beschrieben, und zwar bis auf die Seite 3 jeweils von oben und unten zur Mitte hin, so dass die Entwürfe auf dem Kopf zueinander stehen. Die beiden inneren Spalten der Innenseiten (S. 2 und 3) sind frei geblieben.
–––––––— 19 20 21
Vgl. „[...] das Dbl. oder eine Hälfte davon hat Trakl Ende Jänner 1913 nach Salzburg mitgenommen“. SZ II, 495. Paulius V. Subaius. „Folded to fit into a pocket … Delivering a sermon without a pulpit and a cassock“. In: Variants 11 (2014), S. 155–170. KS 2, S. 48.
402
Gabriele Wix
Vergleichende Gegenüberstellung der Zuordnung der Textzeugen im Hinblick auf die Genese des Gedichtes „Untergang“ Salzburger Ausgabe ordnet 12 Entwürfe/Dokumente dem Gedicht „Untergang“ zu (zusätzlich genannt wird ein verschollenes Dokument, mit X 10 bezeichnet)
Innsbrucker Ausgabe ordnet diese 12 Entwürfe/Dokumente drei verschiedenen Gedichten zu, die mit den Anfangsworten der ersten Zeile in der letztgültigen Version der letzten Textstufe betitelt werden, wenn kein eigener Titel vorhanden ist
„Untergang“
„Wenn wir durch unserer Sommer purpurnes Dunkel...“
5 Fassungen
5 Textstufen (umfassen die 1.–3. Fassung der Salzburger Ausgabe)
1. Fassung: H 1 (G 76)
1. Textstufe: 1 H (G 76)
2. Fassung: H 2 (G 4) und H 3 (G 65)
2. Textstufe: 2 H (G 4)
3. Fassung: H 4 (G 64) und H 5 (G 79)
3. Textstufe: 3 H (G 65) 4. Textstufe: 4 H (G 64) 5. Textstufe: 5 H (G 79) „Untergang“ 7 Textstufen
4. Fassung: H 6 (G 78) und H 7 (Typoskript)
1. Textstufe: 1 H (G 78)
5. Fassung: H 8 (G 77), (H) 9 (Typoskript), E 1, E 2, X 10, E 3
2. Textstufe: 2 H (G 77a) (entspricht G 77 in KS ohne die ersten beiden Zeilen unter der Falz) 3. Textstufe: 3 T (entspricht H 7 in KS) 4. Textstufe: 4 T (entspricht H 9 in KS) 5. Textstufe: 5 D (entspricht E 1 in KS) 6. Textstufe: 6 D (entspricht E 2 in KS) 7. Textstufe: 7 D (entspricht E 3 in KS)
in G 77 enthalten (es handelt sich um die ersten beiden Zeilen unter der Falz)
„Schweigend durch dunkles Zauberhasel-gebüsch...“ 1 Textstufe: 1 H (G 79 a)
„Am Abend, wenn“
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G 59–65/72–79 (1) – Georg Trakl. Faksimile des Doppelbogens G 59–65 und G 72–79 aus der Sammlung Maria Geipel. Besitzer: Salzburg Museum (HS 2483).
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G 59–65/72–79 (2)
„Am Abend, wenn“
G 59–65/72–79 (3)
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G 59–65/72–79 (4)
„Am Abend, wenn“
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Die Anordnung der handschriftlichen Entwürfe sowie ihre jeweilige Identifikation erweisen sich als so komplex, dass der Bogen bereits in der Salzburger Ausgabe unter der Rubrik „Sammelhandschriften“ (KS 2, 45) separat beschrieben ist, ebenso in der Innsbrucker Ausgabe unter der Bezeichnung „kombinierte Handschriften“ (SZ II, 483). Letztere druckt darüber hinaus nicht nur die einzelnen Gedichtentwürfe, sondern auch den gesamten Doppelbogen als Faksimile ab, um die komplizierte Anordnung der verschiedenen handschriftlichen Entwürfe zu veranschaulichen.22 Dennoch bleibt die Frage nach einer angemessenen Präsentation solcher – und das ist ein entscheidender Punkt – im Falle Trakls offensichtlich zu einem großen Teil im gefalteten Zustand beschriebener Dokumente. Zitiert sei aus der Schlusspassage des oben erwähnten Aufsatzes von Suba�ius: So in closing – what would the ideal form of the edition be, one “that represents the editor’s best thinking” (Shillingsburg 2004, 419)? I personally dreamed of publishing Gimžauskas’ writings as a portfolio containing papers folded several times so they would fit in a pocket. The act of un-folding the papers, which is different from the act of opening a book in preparation for silent reading, to reveal the sermon would be symbolic of their oral nature. This type of edition, moreover, would solve the problem of consistency in arranging the textual units: readers would be able to rearrange the pages at their own discretion, according to the liturgical calendar or any other principle. Finally, it would easily allow the placing together of two or more renditions of sermons on the same topic for convenient comparison, which would relieve the editor of the necessity to judge the individuality/variation of the texts. Certainly, such an experiment would be a deviation from mainstream scholarly editing, but it would entail a reversion to a sophisticated archaic documentary state.23
Dieses von Suba�ius vorgeschlagene Experiment trifft im Zuge des „material turn“ auf ein stetig wachsendes Interesse an materialorientierten Editionen.24 Vieles spricht dafür. Im gefalteten Zustand gewinnt die in einer Beschreibung nur mühsam zu vermittelnde Anordnung der Entwürfe eine unmittelbare Logik, im Akt des Entfaltens und Drehens des Bogens stellt sich der in der Darstellung von aus dem materialen Kontext heraus gelösten Entwürfen ebenfalls nur schwer zu vermittelnde Zusammenhang des Schreibprozesses in immer wieder neuen Variationen her. Hinsichtlich der in unserem Zusammenhang zentralen Frage, welche handschriftlichen Entwürfe für die Genese des Gedichtes „Untergang“ überhaupt als relevant erachtet werden, vertreten die beiden historisch-kritischen Trakl-Ausgaben gänzlich unterschiedliche Thesen, was aus der Synopse (vgl. S. 404) ersichtlich wird. Während die Salzburger Ausgabe den Entstehungsprozess auf der Basis von sieben handschriftlichen Entwürfen – hinzu kommen zwei Typoskripte und drei Drucke25 – in fünf so genannten Fassungen zu dokumentieren sucht, präsentiert die Innsbrucker Ausgabe die Genese auf der Basis von nur zwei handschriftlichen Entwürfen in zufällig eben–––––––— 22 23 24 25
Zur Darstellung der Genese des Gesamtkomplexes vgl. KS 2, S. 189–197; SZ II, S. 342–374. Suba�ius 2014 (Anm. 20), S. 168. Vgl. aktuell zum Beispiel: Ursula Kocher / Isabel Schulz / Sprengel Museum Hannover (Hg.). Kurt Schwitters. Alle Texte. Bd. 3: Die Sammelkladden 1919–1923. Berlin, Boston 2014. Der von Salzburger Ausgabe aufgeführte verschollenen Textzeuge (X 10) auf, nach Brunner textidentisch mit E 3 (vgl. KS 2, 190), wird in der Synopse (und auch in der Innsbrucker Ausgabe) nicht berücksichtigt.
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falls fünf so genannten Textstufen, die aber gänzlich anders gelagert sind; hinzu kommen hier ebenfalls die beiden Typoskripte und drei Drucke. Die fünf handschriftlichen Entwürfe, die nach Auffassung der Salzburger Ausgabe den material überlieferten Beginn der Genese und entsprechend dort die Grundlage der 1.–3. Fassung des Gedichts bilden, fasst die Innsbrucker Ausgabe als eigenständigen Gedichtentwurf unter dem von den Herausgebern gesetzten Titel „Wenn wir durch unserer Sommer purpurnes Dunkel ...“ zusammen. Ferner isoliert sie ein zweizeiliges Fragment, das Trakl vor dem Entwurf G 79 durch eine Linie abgetrennt hat, unter dem Titel „Schweigend durch dunkles Zauberhaselgebüsch ...“ von dem handschriftlichen Entwurf G 77 und kennzeichnet es als eigenständigen Gedichtentwurf (G 79a). Eine Zugehörigkeit der beiden Zeilen zu einem der vorangehenden bzw. nachfolgenden Entwürfe wird „trotz partieller Textidentität“ explizit verneint.26 Ungeachtet der Zuordnung zu verschiedenen Gedichten herrscht in beiden Editionen weitgehend Einigkeit über die Chronologie innerhalb der Entwürfe, was ebenfalls aus der Synopse hervorgeht.27 Wie kann die Literaturwissenschaft das in den beiden Ausgaben sehr unterschiedlich aufbereitete Material nutzen? Nach heutigem, prozessualem Textverständnis wäre das Vorgehen der Salzburger Ausgabe, den Entstehungsprozess eines literarischen Textes in sog. ,Fassungen‘ still zu stellen, auf den ersten Blick inakzeptabel, während das Verfahren der Innsbrucker Ausgabe, den Entstehungsprozess in sog. Textstufen zu gliedern, weitgehend auf Akzeptanz trifft. Dennoch ist es lohnend – lassen wir fragwürdige Kriterien wie Abgeschlossenheit u. a. außen vor – der Frage nachzugehen, was eigentlich in der Erstellung einer Fassung geschieht. Der Editor überführt einen oder kompiliert mehrere Entwürfe zu einer Textgestalt, die der Autor selbst so nie gesehen hat, wenn er in diesem Stadium keine ,Reinschrift‘ angefertigt hat. Er wird vielmehr nur ein Chaos von Streichungen, Einfügungen und Überschreibungen vor sich gehabt haben, in dem zu orientieren auch ihm nicht leicht gefallen sein muss. Das ist ein entscheidender Faktor, dem die Rekonstruktion des Schreibprozesses Rechnung zu tragen hat. Interessanterweise entsprechen solche vom Editor konstruierten ,Fassungen‘ in gewisser Weise den Abspeicherungen in digitalen Schreibprozessen. Denn im digitalen Medium hat der Autor auf dem Desktop oder Monitor in der Regel nur eine von allen Schreibversuchen bereinigte „Fassung“ vor sich, auf deren Basis er – seine verworfenen Schreibversuche vielleicht noch im Kopf – weiter schreiben wird. Es besteht also eine völlig andere Ausgangsbasis für den Vorgang der „ré-écriture“, einer der Punkte, weshalb sich digitale Schreibprozesse fundamental von den analogen unterscheiden. –––––––—
26 27
Vgl. SZ II, S. 371. Es gibt in der Innsbrucker Ausgabe lediglich die Korrektur einer ohnedies nur schwer nachvollziehbaren Entscheidung der Salzburger Ausgabe, den handschriftlichen Entwurf H 8 (in SZ 2 H) zeitlich zwischen den beiden Typoskripten anzusetzen. Die Innsbrucker Ausgabe ordnet ihn vor Abfassung des ersten Typoskripts ein.
„Am Abend, wenn“
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Zurück zum handschriftlichen Entwurf. Festzuhalten ist, dass die Präsentation einer ,Fassung‘ in einer historisch-kritischen Edition zwar keine Rekonstruktion eines Schreibprozesses darstellt, aber als heuristisches Instrument dem Leser in der Fülle des Materials durchaus eine Orientierungshilfe bietet. Denn natürlich fragt sich der Leser: Wie hätte das Gedicht jetzt ausgesehen? Die Fassung liefert ihm sozusagen eine Zwischenreinschrift und zieht ein Resümee aus den bisherigen Änderungen. Als solche halte ich sie nach wie vor für ein legitimes Mittel von heuristischem Wert, das Überschaubarkeit in das Material zu bringen vermag. Was aber leisten die beiden vorliegenden historisch-kritischen Trakl-Ausgaben, wenn ich an Schreibprozessen interessiert bin, auf die vor allem die critique génétique unserer Aufmerksamkeit gelenkt hat? Hier ist die Innsbrucker Ausgabe mit den Faksimiles der Sammelhandschriften einen entscheidenden Schritt gegangen, der jedoch noch weitaus mehr Möglichkeiten birgt. Dazu bedarf es eines genaueren Blicks auf die Bewertung der fünf handschriftlichen Entwürfe auf dem Doppelbogen, die im Gegensatz zur Salzburger Ausgabe nicht der Entstehung von „Untergang“ zugeschrieben werden (G 76, G 4, G 65, G 64 und G 79).28 Die Entscheidung der Herausgeber erscheint nicht ohne Widersprüche. Einerseits versucht die Innsbrucker Ausgabe, diese Entwürfe als einen zusammenhängenden Handschriftenkomplex auf das Schreiben eines bestimmten, aber nicht überlieferten oder von Trakl nicht weiter verfolgten Gedichtes hin festzuhalten, weshalb sie alle fünf unter e i n e r, von den Herausgebern gesetzten Überschrift versammelt sind: „Wenn wir durch unserer Sommer purpurnes Dunkel ...“ (SZ II, 342). Das stellt einen beträchtlichen Eingriff des Editors in das Material dar. Andererseits räumt man ein, dass es von diesem postulierten Gedicht keine Reinschrift gebe und Trakl das Material wohl als ‚Steinbruch‘ für mehrere Gedichte genutzt habe.29 Genau diese Beobachtung scheint mir der entscheidende Punkt zu sein, an dem ein neuer Blick auf die Genese von „Untergang“ ansetzen kann. Aus der Erfahrung unserer Faksimile-Edition zu dem Manhattan-Gedichtkomplex von Thomas Kling30 würde man im Hinblick auf Trakl den Schritt, den die Innsbrucker Ausgabe mit der Präsentation des gesamten Doppelbogens als Faksimile gegangen ist, gerne konsequenter verfolgen. Das bedeutet im Sinne eines materialorientierten Edierens eine intensive Auseinandersetzung mit den Handschriften, so wie sie material auf –––––––— 28
29
30
Die Zählung der Entwürfe durch Felix Brunner ist für die Rekonstruktion der Genese nicht relevant, so dass die unregelmäßige Abfolge der Zahlen nicht irritieren sollte. Vgl. KS 2, S. 19: „die Zählung ist ohne Wert für Chronologie und Ordnung“. Auch Zwerschinas Ausführungen zu „Untergang“ vermögen diese Widersprüche nicht auszuräumen, da er sich allein auf das nach Auffassung der Innsbrucker Ausgabe relevante Material konzentriert und auf einen möglichen Bezug der von der Genese des Gedichtes „Untergang“ abgetrennten Entwürfe als möglichen ‚Steinbruch‘ nicht eingeht, vgl. Zwerschina 1999 (Anm. 16), S. 53ff., auch wenn er auf die Motivverknüpfung auf dem Doppelblatt verweist, vgl. ebd., S. 57. Vgl. ferner die Anmerkung zu der Darstellung der Genese von Trakls Gedicht „Abendland“ in Gunter Martens’ Rezension zu den Bänden IV.I und IV.II der Innsbrucker Ausgabe: „Die Separierung der Entwürfe zu den Einzelteilen dieses Zyklus als eigenständige ‚Gedichte‘ spiegelt freilich die Unsicherheit eines Werkbegriffs, dessen Klärung zu den Desiderata der Editionsphilologie gehört.“ In: Germanistik 44 (2003), Nr. 3139, S. 463. Kerstin Stüssel / Gabriele Wix (Hg.). Thomas Kling. Zur Leitcodierung. Schreibszene Manhattan. Göttingen 2013.
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dem zerrissenen Doppelbogen aus der Sammlung Maria Geipel überliefert sind.31 Wir wissen, dass Trakl – wie Thomas Kling – gleichzeitig an vielen unterschiedlichen Gedichten gearbeitet hat, wobei diese Formulierung im Prinzip irreführend ist: Es haben sich im Arbeitsprozess vielmehr unterschiedliche Gedichte herausgebildet, während andere Entwürfe aufgegeben oder später wieder aufgegriffen wurden. Diesem komplexen Schreibprozess haben wir bei der Faksimile-Edition von Thomas Klings Manhattan-Gedichtkomplex dadurch Rechnung zu tragen versucht, dass wir die Handschriftenkonvolute – es handelt sich im Wesentlichen um einen Schreibblock und ein Notizbuch – zusammenhängend präsentiert und nicht auf Dokumente mit unmittelbarem Bezug auf die in unserem Kontext relevanten Manhattan-Gedichte reduziert haben. Wie sehr dies der literaturwissenschaftlichen Arbeit zugute gekommen ist, und damit wären wir von einer ganz anderen Richtung aus wieder bei der Leitfrage der Tagung nach dem Nutzen der Editionen, zeigt „New York State of Mind“, Marcel Beyers akribische Analyse der materialbasierten Faksimile-Edition.32 Der Nutzer der Innsbrucker Ausgabe wird – und dies vermutlich ganz entgegen der Intention der Herausgeber – deutlich weniger die Komplexität der Trakl�schen Entwürfe wahrnehmen. Der mögliche Zusammenhang weiterer handschriftlicher Entwürfe mit dem Gedicht „Untergang“, von der Innsbrucker Ausgabe ausdrücklich als „‚Steinbruch‘“ (SZ II, 342) bezeichnet, kann sich dem Benutzer so ohne weiteres nicht erschließen. Denn den Hinweis auf die der Salzburger Ausgabe konträre Entscheidung findet er nicht unter dem Titel „Untergang“, sondern unter der von den Herausgebern gesetzten Überschrift „Wenn wir durch unserer Sommer purpurnes Dunkel ...“, unter der, wie oben erläutert, die fünf handschriftlichen Entwürfe versammelt sind, die nach Auffassung der Salzburger Ausgabe zu der Genese des Gedichtes „Untergang“ gehören. Typografisch ist die von den Herausgebern gesetzte Überschrift identisch mit den Originaltiteln der Gedichte Trakls, wodurch der Eingriff der Herausgeber auf den ersten Blick nicht erkennbar ist. Ferner stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien diese Überschrift gebildet wurde. Maßgeblich für die Herausgeber war die letzte Version des ersten Verses auf dem Textzeugen G 79: „Wenn wir durch unser Sommer purpurnes Dunkel nach Hause gehn“ (SZ II, 355), dem eine Fülle von Varianten zugrunde liegt. Für die Untersuchung von Schreibprozessen haben diese editorischen Entscheidungen gravierende Folgen; hier geht es um die Schlüsselfrage nach dem in den beiden Ausgaben postulierten Beginn der materialen Überlieferung des Gedichts „Untergang“, den die Salzburger Ausgabe bereits in dem ersten Vers des Textzeugen G 76 sieht: „Am Abend, wenn wir Dunkle nach Hause gehn“ (KS 2, 191; SZ II, 347). Trotz vieler Varianten greift Trakl in den Entwürfen wiederholt auf die explizite, temporale Einleitung zurück. Der Nutzer der Innsbrucker Ausgabe hingegen wird auf die Formel „Am Abend, wenn“ kaum aufmerksam werden. Sie geht einmal wegen der an dem –––––––— 31
32
Ein offener Blick auf Trakls Handschriften wird erschwert durch die dominante Zählung der Einzelentwürfe, die von Felix Brunner mit rotem Stift und roter Tinte erfolgte, die in den S/W-Reproduktionen der Innsbrucker Ausgabe als Grau und tiefes Schwarz erscheint. Marcel Beyer. „New York State of Mind.“ In: Sprache im technischen Zeitalter. Heft 209. März 2014, S. 123–135.
„Am Abend, wenn“
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jeweils letzten und nicht ersten Stadium der Entwürfe orientierten Überschrift der Herausgeber unter, zum andern an der von vorneherein gar nicht dargestellten möglichen Relevanz dieser Entwürfe für „Untergang“. Dabei scheint „Am Abend, wenn“ für Trakl so etwas wie eine Startformel für das Schreiben bereitgestellt zu haben. Wenn nach der Salzburger Ausgabe damit die materiale Überlieferung der Entstehung des Gedichtes „Untergang“ beginnt, gibt es dafür gute Gründe, verfolgt man die Entfaltung der eingangs aufgezeigten Struktur unter weitgehender Kontinuität des Motivbestands, das Zusammenschmieden disparater Bilder zu „einem einzigen Eindruck“. Die Startformel wirkt bis in die endgültige, radikal verkürzte Gestalt des Gedichtes hinein, in der „Am Abend“ eine exponierte Stellung besitzt, einmal durch die Isolation der Wörter in einem Vers, zum anderen in dem von den übrigen Versen abweichenden jambischen Metrum. Gleichzeitig kommt dieser Formel auch in früher erschienenen Gedichten eine Schlüsselstellung zu; sie stellt damit ebenso ein Bindeglied auf der syntagmatischen Ebene bereit. Das mit „Untergang“ thematisch und motivisch verwandte Gedicht „Verfall“ beginnt mit der Strophe: Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten, Folg ich der Vögel wundervollen Flügen, Die lang geschart gleich frommen Pilgerzügen 33 Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.
„Abendlied“, ebenfalls bereits in dem 1909 erschienenen Band Gedichte veröffentlicht, beginnt mit den Versen: Am Abend, wenn wir auf dunklen Pfaden gehn, 34 Erscheinen unsere bleichen Gestalten vor uns.
Der in „Untergang“ gegenüber den früher veröffentlichten Gedichten und auch gegenüber den Entwürfen zu beobachtende Verzicht auf die in der Formel „Am Abend, wenn“ angelegte Narration gewinnt nicht nur im Hinblick auf Trakls Aussage, ein Gedicht sei „besser“, wenn es „unpersönlich“ sei, poetologische Relevanz. Durchgängig scheint es in Trakls Schreibprozessen gerade der Entzug der narrativen Elemente zu sein, der einen Text „zum Bersten voll mit Bewegung und Gesichten“ in dieser Lakonie und Dichte möglich macht. Ein Blick von der Salzburger Ausgabe auf das in der Faksimile-Edition der Innsbrucker Ausgabe akribisch aufgeschlüsselte archivalische Material liefert einen ersten, deutlichen Beleg. Bei Trakl gibt es noch viel zu entdecken – da bin ich mir sicher.
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Zitiert nach KS 1, 59. Textidentisch mit: Georg Trakl. Gedichte. Leipzig 1913, S. 51; in der Sammlung 1909 unter dem Titel „Herbst“ verzeichnet. Zitiert nach KS I, 65. Textidentisch mit Trakl 1913 (Anm. 33), S. 57. Der handschriftliche Entwurf von „Abendlied“ (G77) befindet sich auf der Rückseite des Doppelblatts, kopfstehend zu G 76, dem ersten Entwurf von „Untergang“ (KS) bzw. „Wenn wir durch unserer Sommer ...“ (SZ).
Winfried Woesler
Deutsch-chinesisch: Zweisprachige Editionen von Studierenden
Zweisprachige Editionen von Literaturwerken sind für den Unterricht an auswärtigen Universitäten und dort auch für das Selbststudium besonders wichtig. Im Gegensatz zu den gebräuchlichen Übungs-/Lesebüchern in China, wo aus langen fremdsprachigen Texten nur häppchenweise Ausschnitte geboten werden, geht es hier um die Gründung einer zweisprachigen Editionsreihe von Ganzschriften der Literatur.1 Ein literarisches Werk erscheint durch die vollständige, kommentierte Edition nicht mehr nur als Sprach- und Übungsmaterial. Die sonst in Übungsbüchern ausgewählten Passagen, vermeintliche „Highlights“, erlauben nur ein sehr eingeschränktes eigenes Urteil, keine eigene Wertung. Erst die Kenntnis eines Werkes in seiner Gänze ermöglicht den Studierenden, dieses zu begreifen. Gerade das fundierte eigene Urteil sollte immer auch ein Unterrichtsziel bei der Begegnung zweier so unterschiedlicher Kulturen wie der Chinas und der des Westens sein. Es soll über ein entsprechendes deutsch-chinesisches Editionsprojekt an der AnhuiUniversität in Hefei (Anda) und an der Universität Osnabrück berichtet werden. Eröffnet wurde hier eine entsprechende Literaturreihe mit Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (2011),2 und Goethes „Iphigenie“ (2014).3 Als nächstes geplant ist Droste-Hülshoffs „Die Judenbuche“.
1. Grundsätzliches und Organisatorisches Der organisatorische Ablauf war folgender: Als muttersprachlicher Gastwissenschaftler der Universität Osnabrück – ohne Chinesisch-Kenntnisse – brachte der Projektleiter je 25 Exemplare des von ihm in Deutschland edierten und kommentierten „Wintermärchens“ und der „Iphigenie“ mit. Jeweils innerhalb ca. eines Monats wurden 2009 und 2012 die Studierenden mit den Texten gründlich vertraut gemacht; gleich zu Anfang wurde ihnen eine Inhaltsangabe als Überblick an die Hand gegeben. Der Lehrende stand ihnen auch außerhalb des Unterrichts für Rückfragen und Beratung zur –––––––—
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Von zweisprachigen Editionsreihen dieser Art seien erwähnt: die rostbraunen Bändchen in Reclams Universal-Bibliothek; darunter auch Nr. 8803: Chinesische Lyrik der Gegenwart. Chinesisch/Deutsch. Ausgewählt, kommentiert und herausgegeben von Lu Yuan und Winfried Woesler unter Mitwirkung von Zhang Yushu, Stuttgart 1992. In Frankreich gibt es die Serie von Gallimard: folio bilingue. Heinrich Heine. Deutschland. Ein Wintermärchen. Eine Studienausgabe mit chinesischer Übersetzung, Erläuterungen und Materialien. Hg. von Rahel Rutetzki, Winfried Woesler, Yang Yang. Bochum 2011. Johann Wolfgang von Goethe. Iphigenie.Studienausgabe mit chinesischer Übersetzung und Erläuterungen. Hg. von Yuan Gao, Winfried Woesler, Yang Yang. Bochum 2014.
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Verfügung, unterstützt von zwei Lektorinnen. Die Studierenden übernahmen später in Zweiergruppen die Übersetzung je eines Abschnitts. Während Ziel des Unterrichts ein möglichst umfassendes Verständnis des Gesamtwerkes war, überprüften bei der Übersetzung der einzelnen Passagen die Studierenden noch einmal im Detail, ob sie alles verstanden hatten. Anreiz für die Studierenden sollte auch eine namentliche Kennzeichnung ihrer Mitarbeit in der Edition sein. Ziel war im Unterschied von üblichen Literaturübersetzungen eine Übersetzung möglichst nahe am Text, die Studierenden sollten den Sinn in ihren eigenen, in Raum und Zeit distanten Kulturraum vermitteln, keine literarische Übersetzung schaffen. So konnten weder die Reime des „Wintermärchens“ noch der Blankvers der „Iphigenie“ nachgeahmt werden. Auch zahlreiche Assonanzen waren kaum „übersetzbar“. Um das Verständnis der Studierenden zu überprüfen, fertigten diese z. B. von Goethes Text zunächst eine Übertragung in heutiges Umgangsdeutsch an, das von den Lehrenden überprüft wurde, ehe die Studierenden dann mit der eigentlichen Übersetzung begannen. Auch konnten die Studierenden schon vorhandene Übersetzungen beider Werke vergleichend heranziehen, was sich aber erst in einem fortgeschrittenen Arbeitsstadium als sinnvoll erwies. Bei der „Iphigenie“ gab es größere Schwierigkeiten, gab es z. B. mehr mythologische Namen.
2. Aufbau der Bände Die Bände der Reihe enthalten ein Vorwort, ein Inhaltsverzeichnis, den Text auf der linken Seite in Chinesisch, auf der rechten im Original. Es folgen die Erläuterungen, die sich gliedern in: Editionsprinzipien des deutschen Textes, übergreifende Erläuterungen und Einzelstellenerläuterungen. Bei der „Iphigenie“ war zusätzlich dringend eine ausführliche Schilderung des Mythos notwendig, die noch durch ein kleines Register der mythologischen Namen ergänzt wurde. Bei Heines „Wintermärchen“ erwies sich eine ausführliche Schilderung der deutschen politischen Zustände 1843/44 als sinnvoll. Jeder Band konnte durch einige Materialien ergänzt werden: Z. B. beim „Wintermärchen“ die Einzeichnung der realen und der fiktiven Reise Heines in eine Landkarte, eine Abbildung des Kölner Doms im damaligen Bauzustand, ein Entwurf zum Hermannsdenkmal, ein Kupferstich zum Barbarossa-Mythos und schließlich ein Blatt der heute in der Bibliothèque Nationale liegenden Reinschrift, das die Auseinandersetzungen Heines mit der Zensur veranschaulicht. Es können in Zukunft – bei Fortsetzung der Reihe – noch Hinweise zum damaligen und heutigen Verständnis eines Werkes folgen, gewissermaßen Ansätze zu Interpretationen. Keinesfalls fehlen darf ein aktuelles, ausführliches Literaturverzeichnis, das berücksichtigt, dass zum einen die neueste einschlägige Sekundärliteratur selbst in Provinz-Bibliotheken in der VR China nicht vorhanden ist, und zum anderen, dass auch ein Internetzugang zu auswärtigen Publikationen den Studierenden dort oft versagt ist.
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3. Zum deutschen Text Die Textgrundlage wurde vom deutschen Projektleiter nach wissenschaftlichen Kriterien ausgewählt. Im Fall des „Wintermärchens“ war es der 1844 erschienene Erstdruck mitsamt der mit Rücksicht auf die Zensur gestrichenen Passagen, im Falle der „Iphigenie“ der letzte von Goethe autorisierte Druck in seinen „Sämtlichen Werken“ (1827/1828). Da eine zeilenparallele Übersetzung nicht praktikabel ist – denn sie fällt im Chinesischen mal kürzer, mal länger aus –, sollte nur der deutsche Text mit einem Zeilenzähler versehen werden. Damit aber keine größeren Verschiebungen im Layout eintraten, sollten zumindest möglichst die Strophen („Wintermärchen“) oder Repliken („Iphigenie“) oder auch die Seiten einer künftigen Edition („Judenbuche“) parallelisiert werden. Die Orthographie wurde aus didaktischen Gründen für die Deutsch-Studierenden modernisiert, grundsätzlich wurden aber Grammatik, Wortformen, Lautstand der Schriftsprache und originale Interpunktion beibehalten. Das Erstere ist für den Fremdsprachenunterricht dringend empfehlenswert – mögen auch germanistische Rigoristen anderer Meinung sein. Die Schwierigkeiten freilich einer verantwortungsvoll durchgeführten Modernisierung im Deutschen sind durchaus bekannt, einige seien aufgezählt: Groß- und Kleinschreibung, Zusammen- und Getrenntschreibung, soll man und ggf. wie soll man z. B. eine Schreibung Goethes „eng-gebunden“ auflösen usw.? Die Modernisierung der Orthographie darf die Semantik möglichst wenig verschieben.
4. Zur Übersetzung Neben dem genannten Ziel einer Nähe der Übersetzung zur chinesischen Umgangssprache galt es zunächst, die bekannten Schwierigkeiten beim Übersetzen ins Chinesische zu meistern, von den Formen der Konjugation im Deutschen bis zu den unterschiedlichen Assoziationen des heutigen Lesers, die in der nationalen Kulturtradition begründet sind. Beim Übersetzen von Goethes Text stieß sich das Sprachempfinden der chinesischen Studierenden oft an den komplizierten Satzgefügen. Sie stellten deshalb gern Haupt- und Nebensätze um, wobei leider öfter auch die ein oder andere Nuance verloren ging. Schwierig war die möglichst adäquate Wiedergabe von Goethes uneigentlichem Sprechen in Metaphern und Allegorien; z. B. V. 1351–1353: Wenn in den Tropfen frisch erquickter Blätter Die neue Sonne tausendfach sich spiegelt Und Iris freundlich bunt mit leichter Hand Den grauen Flor der Wolken trennt:
Besonders schwer waren, wie gesagt, die mythischen Bezüge zu vermitteln; die Studierenden konnten kein Lexikon einer verbindlichen Transkription mythologischer Namen in chinesische Zeichen ermitteln.
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Es bleibt trotz allen Verdiensten der das Projekt begleitenden Lektorinnen ein Problem bei dieser aus didaktischen Gründen von allen Seminarteilnehmern erarbeiteten Übersetzung bestehen: Qualität und Stil der einzelnen Passagen sind entsprechend dem unterschiedlichen Engagement und Leistungsvermögen der einzelnen Studierenden unterschiedlich. Es entstand keine Übersetzung aus einem Guss, es bleibt eine Edition einer Gruppe einzelner Studierender für Studierende. Sicher hat das Projekt die chinesischen Studierenden an der Anda motiviert; inwieweit aber die hier erarbeiteten zweisprachigen Textausgaben an anderen Universitäten gebraucht werden können, wird sich zeigen.
5. Der Kommentar Der Kommentar bringt keine übergreifenden Erläuterungen zum Autor, sondern welche zum historischen Hintergrund des Werkes, zur Entstehung, zur Form und vielleicht zur zeitgenössischen Aufnahme. Zu prüfen war, inwieweit etwas zur Aussage und zur Aktualität des Werkes gesagt werden sollte. Die chinesischen Studierenden interessieren literarische Texte nicht nur als Dokumente der westlichen Kulturgeschichte, sondern sie wollen auch wissen, was heute ihren Wert und ihre Bedeutung ausmacht. Gelten die durch das Werk vermittelten Maßstäbe auch heute noch? Die Frage z. B., ob Iphigenie zur Wahrung ihrer ethischen Unversehrtheit, ihren Bruder Orest der Gnade des Herrschers ausliefern dürfe oder müsse, wurde dabei sowohl in einem Seminar in Deutschland als auch in einem in China von fast allen Teilnehmern verneint, der Konflikt also anders als bei Goethe gelöst. So etwas kann natürlich nicht in einer Edition ausgeführt werden, aber diese bildet für solche Diskussionen im Unterricht eine solide Basis. Weniger interessant für die chinesischen Studierenden ist die Rezeptionsgeschichte im deutschen Sprachraum, deren Darstellung deshalb in einer zweisprachigen Edition entfallen kann. In den Einzelstellenerläuterungen kommentiert werden müssen mehr als für Muttersprachler „veraltete“ Wortformen, geänderte Wortinhalte, Anspielungen. Das bedeutet aber keine allzu große Aufschwemmung des Kommentars, denn chinesische Studierende wissen – auch während des Unterrichts – mit Taschencomputern umzugehen. Selbstkritisch ist anzumerken, dass der Einzelstellenkommentar vielleicht besser als Fußnoten unter den Text gesetzt worden wäre. Eine weitere Funktion des Kommentars könnte sein, schwer adäquat zu übersetzende Stellen zu erläutern. Der Kommentar soll nicht nur einem muttersprachlichen Benutzer Dunkelheiten – „sekundäre und primäre“ – erläutern, sondern zusätzlich auf den neuen Adressaten Rücksicht nehmen. Freilich: Ideal und philologische Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Biblische Bezüge, die in einem Wort einen ganzen Kontext mit aufrufen, z. B. „Dreikönige“, „Samariter“ usw., sind den chinesischen Studierenden oft unbekannt und können mit einer phonetischen (sa-ma-li-ta) oder „wortgetreuen“ Übersetzung allein meist nicht vermittelt werden. Namen, Begriffe aus der Welt der Kultur, der Geschichte und der Gesellschaft können ein ganzes Programm bedeuten, das bei der Übersetzung nicht mit aufgerufen werden kann.
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Ein Aspekt ist für den Deutsch-Studierenden in China besonders interessant, der natürlich bei deutschen Germanistikstudenten fehlt: Welche Parallelen gibt es in dem deutschen Werk zwischen der westlichen und der chinesischen Kultur. Im Falle der „Iphigenie“ stellte man z. B. fest, dass das Motiv der Kindestötung, um höhere Mächte zu besänftigen – in der Vorgeschichte des Dramas die Opferung der Iphigenie durch Agamemnon –, auch in der chinesischen Erzähltradition bekannt ist.
6. Finanzielle Förderung In wirtschaftlicher Hinsicht stellten sich verschiedene Probleme. Abgesehen davon, dass es de facto nicht erlaubt ist, deutsche Druckerzeugnisse in der VR zu vertreiben, wären solche Erzeugnisse dort auch viel zu teuer, um von den Studierenden gekauft werden zu können, man denke nur an die zusätzlichen Transportkosten. Deshalb wurde für das „Iphigenie“-Projekt versucht, einen chinesischen Verlag für ein Jointventure-Abkommen zu finden: Der „Kunst und Kultur-Verlag“ der Provinz Anhui hat vom „Europäischen Universitätsverlag“ Bochum in einem solchen Rahmen die Daten zum Nachdruck in China erhalten. Mittel für solche kommentierten Editionsprojekte sind schwer einzuwerben. Die Universitätsgesellschaft Osnabrück stellte für das Heine-Projekt Mittel für den Ankauf eines „Klassensatzes“ – entsprechend der Organisation der chinesischen Hochschulen – und für Belegexemplare für die Lektorinnen zur Verfügung. Hinzu kamen die namhafte Spende eines Mitglieds der Osnabrücker Universitätsleitung sowie die Großzügigkeit des „Europäischen Universitätsverlags“ Bochum. Da eine Kooperation zwischen dem Land Niedersachsen und der Provinz Anhui vertraglich vereinbart ist, wurden für das „Iphigenie“-Projekt Mittel für die internationale Zusammenarbeit vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst bereitgestellt.
Roundtable Normalisierung und Modernisierung der historischen Graphie Mit Beiträgen von: Thomas Bein (Aachen), Kurt Gärtner (Trier), Andrea HofmeisterWinter (Graz), Ulrike Leuschner (Darmstadt), Wolfgang Lukas (Wuppertal), HansGert Roloff (Berlin), Claudia Schumacher (Aachen), Winfried Woesler (Osnabrück, Koordinator) In Aachen fand am 21.02.2014 ein Roundtable statt, der sich dem Problem der Normalisierung und Modernisierung der historischen Graphie – ohne die Interpunktion – widmete. Es zeichnete sich ab, dass die damit zusammenhängenden Fragen einer eingehenderen Diskussion bedürfen. Grundsätzlich lässt sich die Umwandlung einer Graphie in einer andere oder die Anpassung einer Orthographie an eine andere leicht erfassen, in der editorischen Praxis treten jedoch vielfach Probleme auf; denn schon die bloße Umwandlung einer Graphie bedeutet meist eine Modernisierung. Hans-Gert Roloffs, aber auch Wolfgang Lukas’ Beiträge zeigen, dass ältere Texte von ihrer historischen Substanz verlieren, wenn ihre Graphie vereinheitlicht wird, z. B. Suprascripta, Kürzel, Abbreviaturen aufgelöst werden. Um der Lesbarkeit und der Zitierbarkeit willen werden aber nicht nur die Graphien verändert, sondern es liegt auch nahe, die moderne Orthographie einzuführen. Wie sich graphisch nicht-normalisierte Texte besonders gegenüber einem Leser sperren können, zeigt der S. 452 angeführte Text von Elisabeth von Nassau-Zweibrücken. Aber wo sind die Grenzen? Prinzipiell dort, wo die Semantik tangiert wird, war die allgemeine Auffassung. Thomas Bein schlägt für die mediävistische Edition u. a. Folgendes vor: Kein Eingriff, außer graphischen Adaptationen, sollte dort vorgenommen werden, wo die Handschrift quasi Dokumentcharakter hat. Wenn sich aber ein mhd. Text, der heute von Germanistikstudenten gelesen wird, auf mehrere Überlieferungsträger stützt, muss man da alle orthographischen, gegebenenfalls auch mundartlichen Varianten mitteilen, die nur Sicheres über den oder die Schreiber aussagen, während die Sprache und die originale Orthographie des Autors bzw. seines Schreibers weiter mehr oder minder im Dunkeln bleiben? Da fast alle wichtigen originalen Überlieferungsträger heute im Internet zur Verfügung stehen, sollte man prüfen, inwieweit Nachrichten über deren Graphie oder Orthographie noch mitgeteilt werden müssen. Kurt Gärtner fasst seine Erfahrungen mit mittelhochdeutschen Editionen, besonders den „Deutschen Texten des Mittelalters“ (DTM), in knapp formulierten Grundsätzen zusammen. Claudia Schumacher arbeitet in ihrem Dissertationsprojekt die heutigen Schwierigkeiten heraus, die der Idee einer ,normalmittelhochdeutschen‘ Edition entgegenstehen. Kurt Gärtner legt eine knappe Liste der Editionsprobleme mhd. Texte vor und macht editionstechnische Verfahrensvorschläge. Andrea Hofmeister-Winter bekennt sich
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zwar zur graphischen Regulierung bzw. Standardisierung im Bereich älterer Texte, doch hält sie weiterhin an der strengen Trennung von Befund und Deutung fest und schlägt daher eine mehrstufige Edition vor: Text als dokumentierende Basistransliteration und als ,Leseausgabe‘. Dort, wo wir es in der Neuzeit mit originalen Autorhandschriften, die Zeugen der Entstehung, aber auch der begleitenden Weiterarbeit des Autors sind, zu tun haben, haben Graphie und historische Graphie ein ganz anderes Gewicht. Hier sollten Eingriffe minimiert werden. Hans-Gert Roloff beschäftigt sich mit Neudrucken besonders von frühneuhochdeutsch gedruckten Texten und kann dabei auf seine umfangreichen Erfahrungen mit den „Ausgaben Deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts“ (ADL) zurückgreifen; er zeigt die erheblichen Schwierigkeiten bei der Normalisierung bzw. Modernisierung dieser Texte auf. Ulrike Leuschner macht noch auf ein weiteres Problem aufmerksam. So wenig einheitliche Ansichten unter den Germanisten herrschen, umso empfehlenswerter ist im Bereich der Normalisierung die Abstimmung mit den Historikern. So hat die Archivschule in Marburg Regeln formuliert, die keineswegs mit den neugermanistischen Prinzipien übereinstimmen. Dabei ist z. B. bei der Edition von Egodokumenten eine Abstimmung durchaus sinnvoll und möglich. Dort, wo wir es mit Kurrentschrift zu tun haben, sollten Historiker und Neuphilologen gemeinsame Regeln empfehlen. Winfried Woesler macht in seinem Beitrag konkrete Vorschläge, wie Texte seit dem 18. Jh. wissenschaftlich verantwortet – behandelt werden könnten, wenn sie einem heutigen Publikum vorgelegt werden, ausgehend von der Feststellung, dass heute selbst viele literarische Texte von den Verlagen in modernisierter Form reediert werden. Demgegenüber betont Wolfgang Lukas, dass sich die Editionswissenschaft auch in dieser Frage von der aktuellen Theoriedebatte nicht abkoppeln dürfe. Er mahnt, dass der Editor sich dabei auf der Skala zwischen den Polen Textualitätsorientierung (mit weitgehendem Verzicht auf Normalisierung) und Rezipientenorientierung bewusst positionieren müsse. Letztlich plädiert er dafür, die Frage nach der Zumutbarkeit formaler, d. h. graphischer, Fremdheit literarischer Texte nicht vorschnell negativ zu beantworten. Hier folgen die in Aachen abgegebenen, zum größten Teil kaum veränderten, das heißt – abgesehen von den Beiträgen Thomas Beins und Kurt Gärtners – noch nicht aufeinander abgestimmten „statements“, in denen Editoren aus ihrer Arbeit berichten, ohne dass schon ein Erfahrungsaustausch stattfand, geschweige denn, dass es zu Empfehlungen gekommen wäre. Die Beiträge sind unabhängig voneinander entstanden, die editorischen Gegenstände unabhängig voneinander gewählt worden. Das heißt, das Dargebotene ist sehr heterogen, weist Überschneidungen auf, stützt sich auch auf unterschiedliche, zum Teil sich widersprechende Reflexionen. Die hier trotzdem mitgeteilten „statements“ sind aus der Editionspraxis abgeleitet, ihre Vielfältigkeit könnte andere Editoren zu weitergehenden Reflexionen und damit zur Überprüfung eigener Verfahren anregen, um
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schließlich gemeinsam das Feld abzustecken, das künftig besser geordnet werden sollte. Es wurde vorgeschlagen, auf einer späteren Tagung der „Arbeitsgemeinschaft für germanistischen Edition“ das Thema neu zu behandeln.
1. Einleitung (Winfried Woesler) 1.1. Normalisierung ist Realität Nicht diskutiert wurde an dem Roundtable die Frage, ob Normalisierung nötig ist oder nicht. Einigkeit bestand darin, dass Studierenden der Literaturwissenschaft die volle Historizität der Texte zugemutet werden kann. Schätzungsweise werden aber über 90% aller historischen literarischen Texte für Leseausgaben, Unterrichtsbücher etc. normalisiert. Nur überlassen die germanistischen Editoren, die historisch-kritisch gearbeitet haben, die Normalisierung und Modernisierung für Leseausgaben oft den Lektoren, die dann u. U. mehrere hundert Seiten täglich bearbeiten. Dabei sind Abwägungen kaum möglich, doch Normalisieren und Modernisieren sollte nach wissenschaftlichen Vorgaben geschehen. Andere Sprachgemeinschaften modernisieren die historische Graphie ,rücksichtslos‘, z. B. die Altphilologien, die Franzosen. Bände der Pleiade sind normalisiert. Kein Latinist käme auf die Idee, lateinische Texte im Studium oder auch den Kollegen in der Capitalia quadrata oder der Lectio continua zu präsentieren. Und wenn die Studierenden nichtnormalisierte mittelhochdeutsche Texte lesen müssten, sondern in der historische Graphie der einzelnen Überlieferungsträger, dann würden sie immer weniger Texte lesen. Man erinnere sich an das Kuddelmuddel nach der letzten Rechtschreibreform; der heutige Leser findet in den Buchhandlungen, aber auch in privaten Bücherregalen sehr viele Bücher, die ,behutsam‘ in eine heute schon veraltete Orthographie modernisiert wurden. In Frankreich ist übrigens die letzte Orthographiereform gescheitert, weil die Bevölkerung sie nicht mitmachte. 1.2. Begrifflichkeit Die Druckschrift der Frühen Neuzeit z. B. sei Fraktursatz und die Schrift der Gegenwart moderner Schriftsatz genannt, man kann auch von unterschiedlichen Graphien oder Graphiesystemen sprechen. Es gibt dazu nicht nur Druck-, sondern auch Kurrentschriften. Die Bezeichnungen Modernisierung und Normalisierung werden oft nicht scharf getrennt. Modernisierung bedeutet im Folgenden: Anpassung an das heutige Orthographiesystem, Normalisierung: Vereinheitlichung der historischen Graphie (etwa im Mittelhochdeutschen). Zu unterscheiden ist zwischen der Modernisierung eines früheren Orthographiesystems und der bloßen Transponierung eines früheren Drucksatzes (z. B. Fraktur) in den modernen Schriftsatz, also einer alten Graphie in eine neue. Letzteres besonders dient der Leseerleichterung.
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1.3. Grenzen der Modernisierung Die Semantik sollte beim Modernisieren möglichst nicht beeinträchtigt und Wortformen, Grammatik, Lautstand der Schriftsprache sollten nicht berührt werden, auch wenn die von den Autoren gesprochene Sprache im Einzelfall von ihr abweichen sollte. Namensschreibungen und Fremdwortschreibungen werden nach Möglichkeit nicht angetastet. Es folgen die vorgetragenen „statements“.
2. Mittelhochdeutsche Texte 2.1. Kursorische Bemerkungen zum Verfahren der ‚Normalisierung‘ in der altgermanistischen Editionspraxis (Thomas Bein) 2.1.1. Was versteht man unter ,Normalisierung‘?1 Vom Wort her betrachtet ist eine ,Normalisierung‘ die Hinführung von etwas zu einer ,Norm‘. Lat. norma bedeutet zunächst das ,Winkelmaß‘, im übertragenden Sinn auch die ,Richtschnur‘ und ,Regel‘. Vorauszusetzen ist, dass das zu Normierende zuvor keiner ,Norm‘ entsprochen hat, sich ‚chaotisch‘, ‚ungeordnet‘, ‚willkürlich‘ zeigte. Im Kontext der Editionswissenschaft bezieht sich ,Norm‘ vornehmlich auf die sprachliche Gestalt eines Textes, zuweilen aber auch auf die metrische. Während seit dem späteren 18. Jahrhundert, dann sich mehr und mehr durchsetzend seit dem 19. Jahrhundert, die schriftsprachliche Kommunikation orthografischen (und zur ‚Norm‘ erhobenen grammatikalischen) Regeln unterworfen wird, kann in der Zeit des deutschsprachigen Mittelalters von einer Normierung der Schriftsprache noch so gut wie nicht gesprochen werden. In gewissen Grenzen gilt dies auch für die Grammatik, ganz besonders aber für das Graph- bzw. Graphemsystem, das seinerseits in Abhängigkeit zu einer bunten Fülle volkssprachlicher Lautvarietäten steht. Eine Art ,Standarddeutsch‘ (mit staatlich verordneter Orthografie) hat es bis weit in die frühe Neuzeit hinein nicht gegeben. 2.1.2 Die Handschriften, die uns Texte des Mittelalters überliefern, sind als menschliche Artefakte Unikate; keine Handschrift gleicht einer anderen, jeder Schreiber (jede Schreibstube) hat ihr je eigenes Erscheinungsbild. Insbesondere die PhonemGraphem-Zuordnung weist eine breite Varianz auf. So schreibt der eine ,vater‘ mit ,v‘, der andere mit ,f‘ (,fater‘); der eine schreibt ,freude‘, der andere ,fröide‘, ein dritter ,vrœide‘; der im südlichen deutschen Sprachraum (Oberdeutsch) tätige Schreiber schreibt statt ,baum‘: ,paum‘ (und trägt divergierender Lautung Rechnung); der aus dem langen î entstandene Diphthong wird einmal als ,ei‘ und einmal als ,ai‘ ver–––––––— 1
Vgl. auch den Aufriss bei Winfried Woesler: Die Normalisierung historischer Orthographie als wissenschaftliche Aufgabe. In: ZfdPh 105, 1986, Sonderheft, S. 69–83. – Vgl. ferner Norbert Oellers: Angleichung, Normalisierung, Restitution. Die Editio hybrida als Schicksal der deutschen Klassiker? In: ZfdPh 101, 1982, Sonderheft, S. 29–42.
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schriftlicht (möglicherweise in Abhängigkeit regionalsprachlicher Artikulation). Grundsätzlich herrscht im Mittelalter die Kleinschreibung in den Handschriften vor. Wörter werden zumeist nicht mit Blick auf ihren grammatischen Status groß geschrieben, sondern eher als Gliederungsmerkmal oder zur Hervorhebung sog. nomina sacra (z.B. ,Got‘)2. Das lateinische Alphabet musste mit Blick auf die Lautveränderungen der (hoch-) deutschen Sprache um einige Sonderzeichen erweitert werden. Besonders prominent sind die deutschen Umlaute ä, ö, ü, die erst ab dem 9./10. Jahrhundert durch Lautkombinationen entstanden sind. In der einen Handschrift wird z. B. der aUmlaut durch ein auf den Stammvokal folgendes ,e‘ gekennzeichnet (ae), in der anderen durch ein über dem Vokal notiertes ,e‘ (), in der dritten durch einen Strich über dem Vokal (á), in der vierten durch zwei Striche, in der fünften durch zwei Punkte usw. usw. Im Früh- und Hochmittelalter wurde auf Pergament geschrieben, und dieser Beschreibstoff war teuer. Also musste man sparsam mit dem Platz umgehen (allerdings gibt es nicht wenige Ausnahmen, dann, wenn hinter Handschriften reiche Auftraggeber stehen). Bereits die lateinische und mittellateinische Schriftsprache hatte ein überaus komplexes und umfangreiches Abkürzungsinventar hervorgebracht. In (allerdings sehr) überschaubarem Ausmaß weist auch die mittelalterliche deutsche Schriftsprache Abbreviaturen auf, die ein spontanes Lesen – zumindest heute – erschweren (Beispiele s. u.). Und weiter: Eine Interpunktion in modernem Sinne kennen die Handschriften bis in das 15. Jahrhundert hinein so gut wie nicht. Lediglich finden sich in metrisierten Texten Punkte, die Reimgrenzen markieren, hin und wieder auch schon Punkte oder andere Zeichen (Schrägstriche, Virgeln), die Sprechpausen signalisieren, die ihrerseits häufig mit syntaktischen Einschnitten einhergehen. 3 Kurzum: Während moderne schriftsprachliche Texte einer verbindlichen (wenn auch in sich keineswegs logischen) Norm folgen, stellt sich dies für das Mittelalter grundsätzlich anders dar. 2.1.3. Die ersten Philologen-Generationen (seit dem späten 18. Jahrhundert) standen vor der Frage, wie sie mit den bunten schriftsprachlichen Bildern umgehen wollten und sollten. Eine Möglichkeit wäre gewesen, die Eigenarten der Handschriften getreu zu übernehmen. Dies aber war nicht der Weg der ersten Stunde. Eine nicht zuletzt geschichtsphilosophische Sicht auf den Erkenntnisgegenstand spielte hier eine wichtige Rolle: die Annahme nämlich, dass Sprache in ihrem Urzustand ,sauber‘ und ‚rein‘ gewesen und im Laufe von Jahrhunderten mehr und mehr verderbt worden sei. Die frühen Philologen verstanden sich als Restauratoren von Sprache, Form und Sinn.
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2
3
Vgl. zur ersten Orientierung Rolf Bergmann: Zur Herausbildung der deutschen Substantivgroßschreibung. Ergebnisse des Bamberg-Rostocker Projekts. In: Das Frühneuhochdeutsche als sprachgeschichtliche Epoche. Werner Besch zum 70. Geburtstag. Hg. von Walter Hoffmann [u. a.]. Frankfurt/M. [u. a.] 1999, S.59–79. Vgl. u.a. Werner Besch: Zur Entwicklung der deutschen Interpunktion seit dem späten Mittelalter. In: Interpretation und Edition deutscher Texte des Mittelalters. Festschrift für John Asher. Hg. von Kathryn Smits [u. a.]. Berlin 1981, S. 187–206.
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Von daher verwundert es nicht, dass der erste große und bis heute nachwirkende Altgermanist, Karl Lachmann (1793�1851), der Meinung war, dass es einstmals ein „bestimmtes unwandelbares Hochdeutsch“ gegeben habe.4 Mit Lachmann beginnen die wissenschaftliche Textkritik und die Editionswissenschaft. Er ediert u.a. ,Klassiker‘ des deutschsprachigen Mittelalters wie das ,Nibelungenlied‘, den ,Parzival‘ und den Liederdichter Walther von der Vogelweide. Er versteht sich als ,Anwalt‘ der Dichter und setzt das philologische Mittel der Emendation und Konjektur ein, um, wie er selbst sagt, „manche grammatische Unrichtigkeit“, „Schreibfehler“ oder „Mißbrauch“ zu korrigieren. Aber auch darüber hinaus geht sein „Hauptbestreben“ dahin, „eine alterthmliche, aber genaue Rechtschreibung einzufhren“. 5 2.1.4. Lachmann hat nicht systematisch über seine „genaue Rechtschreibung“ Rechenschaft abgelegt. Man kann aber durch Vergleich seiner Editionen mit den zugrunde liegenden Handschriften die wesentlichen Operationen nachvollziehen; die folgende Liste stellt die wichtigsten Fälle in deutschsprachigen Handschriften kurz vor: v / u-Graphematik wird vereinheitlicht zu u, wenn der Vokal gemeint ist; v steht nurmehr für den Reibelaut; Beispiel: handschriftlich (hsl.) uater > normalisiert (norm.) vater; hsl. vns > norm. uns wird aufgelöst zu -nnd(t)e (oder zu -nd(t), je nach metrischer Erfordernis); Beispiel: u > norm. unt/und(e) wird aufgelöst zu -er; Beispiel: hsl. d > norm. der und s wird vereinheitlicht zu s bzw. z (gemäß Lautgeschichte: Lautverschiebungs-s > z); Beispiele: hsl. unne > norm. sunne; hsl. da > norm. daz wird aufgelöst zum Diphthong uo wird aufgelöst zu -an wird aufgelöst zu -ö wird aufgelöst zu -on dc wird aufgelöst zu daz wird aufgelöst zu -iu -b wird im Auslaut zu -p wird aufgelöst zu -en Die Verteilung von Lang- und Kurzvokalen hat sich vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen verändert. Daher zählt zu Lachmanns Normalisierung auch das Hinzufügen von Zirkumflexen zur Kennzeichnung von Langvokalen (in wenigen Fällen bereits in Handschriften vorhanden); Beispiel: hsl. wit > norm. wît (das lange î verändert sich später zum Neuhochdeutschen hin zum Diphthong -ei).
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Karl Lachmann: Auswahl aus den hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts. Berlin 1820, S. VIII. Ebd., S. VIIIff.
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Ähnlich dem allgemeinen methodengeschichtlichen und -systematischen Erscheinungsbild der heutigen (germanistischen) Literaturwissenschaft, das sich durch Pluralismus auszeichnet, zeigen sich aktuelle Textausgaben in vielfältiger Ausgestaltung. a. Nach wie vor gibt es Ausgaben, die – ggf. etwas modifiziert und ausführlicher dargelegt und begründet – Lachmanns Operationen umsetzen bzw. beibehalten. Beispiel: Die 15. Auflage der Lieder Walthers von der Vogelweide aus dem Jahr 2013 in der Tradition von Karl Lachmann.12 b. Sodann gibt es Ausgaben, die bemüht sind, einen gewissen Mittelweg zu gehen: einerseits durch Vereinheitlichungen benutzerfreundlich zu sein, andererseits aber doch auch graphematische Eigenarten der Handschriften zu respektieren. Beispiel: Die Auswahlausgabe ‚Walther von der Vogelweide‘ von Horst Brunner von 2012.13 Während Brunner bestimmte graphematische Eigenarten einebnet (normalisiert), andere aber handschriftengetreu übernimmt, hat Karl Stackmann in seiner 2003 erschienenen Mügeln-Ausgabe das Problem indes so gelöst, dass er die Edition in eine Synopse aufspaltet: links eine diplomatische Wiedergabe, rechts eine normalisierte Fassung.14 c. Schließlich gibt es Ausgaben, die sich zwar nicht ‚diplomatische Transkription‘ nennen mögen, deren Textwiedergabe aber doch stark an der zugrundeliegenden Basishandschrift orientiert ist. Beispiel: Die ‚Lucidarius‘-Ausgabe von 1994.15 Hier finden sich noch ungeübte Leser nur schwer zurecht. Unterschiedliche s-Grapheme stehen nebeneinander, konsonantisches ‚v‘ wird nicht von vokalischem geschieden, Diphthonge (z. B. uo) werden vertikal dargestellt (wie in der Handschrift: ). 2.1.8. Wie mag die Zukunft ausschauen? Angesichts der inzwischen schon recht weit fortgeschrittenen Digitalisierungstechnik in den Geisteswissenschaften wird die Zukunft zweifellos genuin digital angelegten Editionen gehören, auf die im Internet zugegriffen werden kann. Seriöse Projekte solcher Art werden einem Benutzer den Quellentext in unterschiedlichen Aufbereitungszuständen präsentieren, die man ggf. synoptisch in Fenstern anordnen kann. Hier wird man wohl immer auch einen ‚normalisierten‘ Textzustand finden wollen – für Studierende, für ‚Liebhaber‘, für fachfremde Kollegen. Und da handschriftennahe Transkriptionen und/oder farbige Digitalisate der Quellen nur einen Mausklick entfernt sind, ist einem großen Vorwurf, den sich normalisierte Texte in den letzten 50 Jahren ausgesetzt sahen, der Wind aus den Segeln genommen: einem Benutzer einen unhistorischen Textzustand zu vermitteln.
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13 14 15
Vgl. Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränderte und um Fassungseditionen erweiterte Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns, aufgrund der 14., von Christoph Cormeau bearbeiteten Ausgabe neu herausgegeben, mit Erschließungshilfen und textkritischen Kommentaren versehen von Thomas Bein. Edition der Melodien von Horst Brunner. Berlin 2013. Vgl. Walther von der Vogelweide. Gedichte. Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg., übersetzt und kommentiert von Horst Brunner. Stuttgart 2012. Vgl. Die Kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Zweite Abteilung. Mit Beiträgen von Michael Stolz. Hg. von Karl Stackmann. Berlin 2003. Vgl. Der deutsche ‚Lucidarius‘. Kritischer Text nach den Handschriften. Hg. von Dagmar Gottschall und Georg Steer. Tübingen 1994.
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2.2. Normalisierung in den Editionen mittelhochdeutscher Texte (Kurt Gärtner) 2.2.1. Aspekte der Normalisierung: a) Leichte Regulierung der Orthographie und Morphologie eines Textes in Anlehnung an moderne Lesegewohnheiten (Beispiel: DTM-Ausgaben: u/v und i/j- Ausgleich; Groß- und Kleinschreibung; ferner: Interpunktion in Anlehnung an aktuelle Verfahren, rhetorische Verfahren im 19. Jh., syntaktische im 20. Jh.); b) Rekonstruktion eines älteren Sprachzustandes auf der Basis der Reimgrammatik und der autornahen Überlieferung. 2.2.2. Die Differenz zwischen Entstehungszeit und Überlieferungszeit ist für die Normalisierung von mhd. Texten das Hauptproblem (Beispiel: Hartmanns Erec). 2.2.3. Für die mhd. Klassiker sind die örtlich und zeitlich dem Autor am nächsten stehenden Hss. zusammen mit der Reimgrammatik Grundlage für die Normalisierung und das sogenannte Normalmittelhochdeutsche (Beispiele: Hartmanns Iwein nach Gießen, UB, Hs. 97; Wolframs Parzival und Willehalm, Nibelungenlied u. a. nach St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 857). 2.2.4. Die Normalisierung sollte diatopische und diachrone Befunde stets berücksichtigen: mittelhochdeutsche Texte sollten daher nicht über den oberdeutschen Kamm (Lexers Hauptlemmata) geschoren werden (Beispiel: Hartmanns Armer Heinrich, Fassung A oberdeutsch, Fassung B mitteldeutsch). 2.2.5. Die Normalisierung erfordert von einem Editor ein hinreichendes Maß an Sprachwissen, das beim Rückgang der Sprachstudien immer weniger selbstverständlich ist; der Editor sollte sich nicht ,drücken‘ z. B. vor der Unterscheidung von Langoder Kurzvokalen in der Edition eines Klassikers um 1200 ( negative Beispiele: Rankes Tristan und Schröders Willehalm). 2.2.6. Die Regulierung der Graphien hat auch in einer Edition nach dem Leithandschriftenprinzip den ,urkundlichen‘ Befund zu berücksichtigen (Beispiele: Wolframs Parzival: Lachmann immer mit D frou/frouwe(n)/frowe(n), freude(n)/fröude(n); dagegen Leitzmann und Fassungstexte des Berner Parzival-Projekts immer mit Lexers Hauptlemmaformen vrou/vrouwe(n), vreude(n)). 2.2.7. Besonders deutlich geben späte Handschriften nach alten Vorgaben zu erkennen, dass sich die Schreiber um die Aneignung des Textes bemühen; Abschreibeprozesse sind Aneignungsprozesse (Beispiel: Hans Ried im Ambraser Heldenbuch; instruktive Beispiele in der Urkundenüberlieferung, die aber von den Editoren nur ganz selten zur Kenntnis genommen wird). 2.2.8. Auch Varianten im Bereich der Synsemantica (Pronomina, Konjunktionen, Präpositionen und Negationswörter) spiegeln oft gravierende Probleme der Schreiber bei der Aneignung eines Textes (Beispiele: obsolete Formen wie anlautendes sw- statt jüngerem w-, zusammengesetzte statt einfacher Demonstrativa wie diser (dirre), di-
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siu, diz (ditze), statt der, diu, daz; einschränkend-exzipierende Sätze mit einfachem ne, Konjunktiv des finiten Verbs und Hauptsatzwortstellung; Wandel der Negation überhaupt usw.). Varianten aus diesem Bereich bedürfen auch bei geringfügiger Normalisierung eines Textes der Erläuterung durch den sprachgeschichtlich kompetenten Editor; sie als iterierende Varianten zu ignorieren, ist fahrlässig. Zu den Regeln, nach denen die graphische, lautliche, morphologische und metrische Normalisierung eines Textes aus der Zeit der mhd. Klassik erfolgen kann, vgl. die Auflistungen in: Konrad von Heimesfurt, ,Unser vrouwen hinvart‘ und ,Diu urstende‘. Mit Verwendung der Vorarbeiten von Werner Fechter hg. von Kurt Gärtner und Werner J. Hoffmann (ATB 99). Tübingen 1989, S. LXXVII–LXXXVII.
2.3. Normalisierung und Neuedition – ein Fallbeispiel: Die namenlosen Lieder und Strophen aus der Sammlung ,Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts‘ von Carl von Kraus (Claudia Schumacher) Bei dem von mir vorgestellten Dissertationsprojekt handelt es sich um eine Neuedition der namenlos überlieferten Lieder und Strophen, die Carl von Kraus in seine Sammlung Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts aufgenommen hat.16 Zuerst möchte ich kurz darauf eingehen, was Carl von Kraus� Ausgangspunkt für seine Normalisierungsideen bei den Liederdichtern war, bevor ich seine Normalisierungskriterien ausdifferenziere, um schließlich die Ausgangslage und die damit einhergehenden Normalisierungsideen meines Projektes näher zu erläutern. Es sei mir verziehen, wenn ich dadurch für einige Leser Dinge erläutere, die ihnen durch ihre langjäh–––––––— 16
Im weiteren Verlauf des Textes werden die namenlosen Lieder und Strophen aus der Sammlung „Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts“ von Carl von Kraus „das Œuvre der Namenlosen“ genannt. Das Œuvre der Namenlosen ist in 15 Handschriften überliefert. Die Lieder und Strophen sind mit 13 Handschriftensiglen versehen und nach dem Schema: Namenlos a; Namenlos D; Namenlos Li in die ,Liederdichter‘ aufgenommen. Die Texte sind nicht immer fortlaufende, zusammenhängende Gefüge in den Handschriften und nicht alle Lieder und Strophen sind unikal überliefert. Die älteste Handschrift ist ein lateinischer Codex aus dem 11. Jahrhundert. Der Codex ist eigentlich eine liturgische Sammelhandschrift von Texten aus dem 9. bis 12. Jahrhundert. Das Manuskript ist in karolingischer Minuskel (schrägovaler Stil) verfasst. Die mittelhochdeutsche namenlose Strophe, welche in Kraus� Liedersammlung aufgenommen worden ist, ist im 13. Jahrhundert als Randnachtrag eingefügt worden. Innerhalb des Œuvres der Namenlosen finden sich zusammengenommen zwei Randnachträge bei lateinischen Codices und einmal eine Strophe, die als Federprobe überliefert ist. Sie ist zu finden auf der letzten Seite der alten Heidelberger Liederhandschrift. Es finden sich vier neumierte Texte. Der Beschreibstoff ist bis auf eine Ausnahme durchweg Pergament. Insgesamt sind die namenlosen Lieder und Strophen größtenteils in gotischen Minuskelschriftarten überliefert – meist in klassischer Textualis, manchmal in manierierter. Zwei Codices sind in Bastarden geschrieben. – Vgl. Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung. 2. überarbeitete Auflage. Tübingen: Max Niemeyer 2009, S. 38–55 und S. 66–79. Die Handschriften stammen in der Regel aus dem 13. oder 14. Jahrhundert. Ausnahmen bilden ein Codex aus dem 11. Jahrhundert und einer aus dem 15. Die Texte weisen unterschiedliche regionalsprachliche Besonderheiten auf sowie zum Teil deutlich unterschiedliche Sprachstände. Entsprechend kann man festhalten, dass dem Œuvre der Namenlosen eine disparate Überlieferungslage zugrunde liegt. Eine derartige Überlieferung erfordert diverse Überlegungen, was editorische Prinzipien und Normalisierungsrichtlinien anbelangt.
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rige Praxis als Editoren bekannt sind. Auch sei mir verziehen, dass ich aufgrund der gebotenen Kürze nicht alle Details wiedergeben kann – manches also nur kursorische Darstellung findet oder schlicht fortgelassen werden muss. Carl von Kraus stand in der Nachfolge Karl Lachmanns17 und hat – ebenso wie Lachmann – angenommen, eine Edition mittelhochdeutscher Texte müsse darauf ausgelegt sein, das originäre Dichterwort aus der als verderbt bewerteten handschriftlichen Überlieferung herauszuextrahieren18 und durch Stemmabildungen19 zu rekonstruieren; wenn das dichterische Original aus der Überlieferung nicht zu rekonstruieren war, dann sollte ein Archetypus20 erreicht werden. Weiter nahmen Kraus und Lachmann an, die mittelhochdeutschen Dichter hätten sich einer besonderen ‚Hochsprache‘21 bedient. Diese Sprache, die nicht in den durch regionalsprachliche Besonderheiten geprägten Handschriften aufzufinden war, wurde konstruiert. Somit war es für die Editoren der Lachmann-Schule selbstverständlich, dass regionalsprachliche Besonderheiten der Handschriften in der Edition zu tilgen seien. Da Lachmann das Bild der Altgermanistik und auch die altgermanistische wissenschaftliche Praxis stark geprägt und seine textkritische Methode weit über ein Jahrhundert Anwendung gefunden hatte,22 hat seine Idee des Normalmittelhochdeutschen auch Wörterbücher und Grammatiken geprägt. Zu nennen seien beispielsweise Hermann Pauls mittelhochdeutsche Grammatik23 und Matthias Lexers mittelhochdeutsches Wörterbuch.24 Beide Werke sind auch heute noch Standardwerke für den universitären Unterricht zur Erschließung mittelhochdeutschen Textgutes. Damit beein–––––––— 17
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Karl Lachmann war „der Begründer der altgermanistischen Textkritik“. – Günther Schweikle (Hg.): Die mittelhochdeutsche Minnelyrik I. Die frühe Minnelyrik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, S. 1. „Der germanistische Textkritiker [in Lachmanns Folge] fühlte sich aufgerufen (...) hinter den mutmaßlich verderbten handschriftlichen Fassungen das Wort des Dichters aufzuspüren“. – Ebd., S. 3. „Ein Stemma ist das graphisch dargestellte Beziehungsgeflecht von verschiedenen Textträgern, an dessen Spitze das Original und ihm folgend der Archetyp steht.“ – Thomas Bein: Textkritik. Eine Einführung in Grundlagen germanistisch-mediävistischer Editionswissenschaft. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Peter Lang 2011, S. 107. Es „war nur Raum für ein einmaliges dichterisches Original. Das erklärte Ziel war dessen Wiederherstellung oder zumindest die des vermuteten alleinigen Ausgangspunktes aller Überlieferung, des Archetypus, mit Hilfe der erprobten Methoden der altphilologischen Textkritik.“ – Günther Schweikle (Hg.): Die mittelhochdeutsche Minnelyrik I. Die frühe Minnelyrik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, S. 2f. Karl Lachmann schuf eine Sprache, welche die Dichtersprache des Hochmittelalters darstellen sollte. Lachmann beschreibt sein Programm wie folgt: „Denn wir sind doch eins, daß die Dichter des dreizehnten Jahrhunderts, bis auf wenig mundartliche Einzelheiten, ein bestimmtes unwandelbares Hochdeutsch redeten, während ungebildete Schreiber sich andere Formen der gemeinen Sprache, theils ältere, theils verderbte, erlaubten.“ Zu für ihn auftretende Ungereimtheiten in den Handschriften hat Lachmann folgende Erklärung: „endlich manche grammatische Unsicherheit ist zum Theil vielleicht Schreibfehler, anderes Mißbrauch, den man dem Dichter selbst zuzuschreiben kein Recht hat“. Sein generelles Anliegen drückte Lachmann wie folgt aus: „Mein Hauptbstreben ging darauf, eine alterthümliche, aber genaue Rechtschreibung einzuführen.“ – Karl Lachmann: Auswahl aus den hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts, Berlin: Reimar 1820, VIII. Lachmann hatte aber auch bereits unter seinen Zeitgenossen Kritiker. „[B]ereits im 19. Jahrhundert erhob sich Kritik an Lachmanns Verfahren, so vor allem von Friedrich Pfeiffer (1815–1868, Wien).“ – Hans-Gert Roloff: Karl Lachmann, seine Methode und die Folgen. In: Hans-Gert Roloff (Hg.): Geschichte der Editionsverfahren vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick. Berlin: Weidler Buchverlag 2003, S. 76. Die 1. Auflage erschien 1881. Die 1. Auflage erschien 1897.
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Bevor man ein neues Editionsprojekt beginnt, sollte man sich darüber im Klaren sein, was man mit der Edition erreichen möchte. Wählt man als Normalisierungsprinzip das Normalmittelhochdeutsche, suggeriert man dem Rezipienten, dass man in lachmannscher Tradition eine normalmittelhochdeutsche ‚Dichterhochsprache�30 zugrunde legt. Beschränkt man sich auf das Auflösen von Abbreviaturen und Superskripten sowie u/v-Ausgleich und erhält alle weiteren Handschriftenbesonderheiten, dann resultiert eine Ausgabe mit einem sehr uneinheitlichen Textbild, die aber die Überlieferungslage getreu wiedergibt. Für die Realisierung einer solchen Ausgabe habe ich mich entschieden. Die Quellen des Œuvres der Namenlosen sind disparat31 und, da ich alle Quellen gleich behandeln wollte, habe ich, nach eingehender Prüfung des handschriftlichen Materials, entschieden, die Editionstexte getreu den handschriftlichen Aufzeichnungen wiederzugeben. Dabei habe ich mich an den Empfehlungen zur Edition frühneuzeitlicher Texte32 orientiert. Vorgenommen werden: ein u/v-Ausgleich und die Auflösung von Nasalstrichen und er-Abbreviaturen; und s werden als s dargestellt; die Groß- und Kleinschreibung wird zugunsten der Kleinschreibung geregelt – nur Strophenanfänge, Eigen- und Ortsnamen beginnen mit einer Majuskel, die Zusammen- und Getrenntschreibung wird nach dem Usus der gängigen Wörterbücher (Schiller-Lübbens mittelniederdeutsches Wörterbuch33, Lexers mittelhochdeutsches Wörterbuch34 etc.) geregelt. Bei den von Kraus�schen Editionen zum Œuvre der Namenlosen fallen einige Diskrepanzen zwischen dem handschriftlich überlieferten und dem von ihm edierten Text auf. Besonders an diesen Stellen werden sich Unterschiede zwischen der von Kraus�schen Edition und meiner eigenen zeigen. Nach eingehender Prüfung des Inhaltes der Texte bleibe ich nahe am handschriftlichen Wortlaut; Divination wird weitestgehend vermieden. Am folgenden Beispiel (aus cpg 357, Blatt 42v–43r) lässt sich dies verdeutlichen: Edition Carl von Kraus Für daz ungevelle daz mich nu hie bestât. für herzeleit und ungemüete, dâ ist dîn umbevanc mir senden guot und ouch dîn kus. sus kanst dû vor leide tuon mich frî.‘ 35 –––––––— 30 31 32 33 34 35
Edition Claudia Schumacher Fur daz ungemach daz man heisit herzeleit und ungemuete, da fur ist din guote mir guet und och din kus sus kanst du droestin mich; vor leide tuostu mich fri.“
Diese Hochsprache ist mit der handschriftlichen Überlieferung nicht zwingend in Einklang zu bringen. Vgl. Anm. 16. Diese Empfehlungen werden/wurden vom Arbeitskreis „Editionsprobleme der Frühen Neuzeit“ der Universität München herausgegeben. August Lübben und Karl Schiller: Mittelniederdeutsches Wörterbuch. Münster: Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung 1969 [Fotomechanischer Neudruck der Ausgabe von 1875]. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Stuttgart: Hirzel 1979 [reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1872]. Carl von Kraus (Hg.): Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Bd. I. Text. 1. Auflage. Tübingen: Max Niemeyer 1952, S. 257.
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3. Texte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit 3.1. Zur graphischen Regulierung beziehungsweise Standardisierung von Texten des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Andrea Hofmeister-Winter) Die nachfolgenden Überlegungen resultieren in erster Linie aus der Beschäftigung mit deutschsprachiger Überlieferung des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, sollten jedoch unter Berücksichtigung der sich wandelnden Bedingungen des Literaturbetriebs auch auf die Zeit davor und danach übertragbar sein. Wenn hier der seit Lachmann eingeführte Terminus ‚Normalisierung‘ stets unter Anführungszeichen verwendet wird, dann deshalb, weil mehr noch als für Lachmanns ‚Normalmittelhochdeutsch‘ der höfischen Literatur speziell in Texten der nachfolgenden Zeit keine ‚Normen‘ im neuzeitlichen Verständnis eines verbindlichen Regelwerks auszumachen sind, ja (außer eventuell in der Druckersprache) noch nicht einmal regionale ‚Standards‘, sondern lediglich Tendenzen mit einem hohen Grad an Individualität. Ich bevorzuge daher für die glättenden Eingriffe des Editors den Begriff ‚graphische Standardisierung‘ (i. S. einer Angleichung an – synchron gesehen – tendenziell mehrheitlich akzeptierte Schreibweisen) 36 oder ‚Regulierung‘ (i. S. des individuellen Schreiber-Usus). 37 Als Folge der ‚Literaturexplosion‘ im Spätmittelalter ist nicht nur eine Ausdifferenzierung der literarischen Gattungen und Texttypen, sondern auch der Aufzeichnungsstrategien zu beobachten: Menschen mit zunehmend heterogenem Bildungshintergrund greifen zur Feder, um literarische Texte und noch mehr pragmatisches Wissen in ihrer vormodernen nicht standardisierten Sprache in ebenfalls nicht standardisierter Graphie entweder zu vervielfältigen oder überhaupt erstmals festzuhalten, wobei der graphische Variantenreichtum der Produkte in reziprokem Verhältnis zur Routine der jeweiligen Schreiberpersönlichkeit steht.38 Schon aus diesem Grund muss eine konsistente graphische Regulierung eines spätmittelalterlichen/frühneuzeitlichen Textes als im Grunde aussichtsloses Unterfangen erscheinen. Wohl aus diesem Grund hat sich für die editorische Erschließung unikal überlieferter literarischer Texte und solcher aus dem Bereich der Artes-Literatur im Großen und Ganzen die Form des di-
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Dass unsere Vorstellung vom Erscheinungsbild mittelalterlicher Texte maßgeblich von der Editionspraxis des 19. Jhs. ‚standardisiert‘ wurde, betont Martin Schubert: Interpunktion mittelalterlicher deutscher Texte durch die Herausgeber. In: editio 27, 2013, S. 38–55, hier S. 46. Vgl. Andrea Hofmeister-Winter: Das Konzept einer ‚Dynamischen Edition‘ dargestellt an der Erstausgabe des „Brixner Dommesnerbuches“ von Veit Feichter (Mitte 16. Jh.). Theorie und praktische Umsetzung. Göppingen 2003 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 706), Kap. 4.7: Die Regulierung des Befundes. Vgl. Norbert R. Wolf: Phonetik und Phonologie, Graphetik und Graphemik des Frühneuhochdeutschen. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Halbbd. 2. Hg. von Werner Besch, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger. Berlin, New York 1985 (HSK. 2,2), S. 1305–1313, hier S. 1306; Oskar Reichmann: Editionsprinzipien für deutsche Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Halbbd. 1. Hg. von Werner Besch, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger. Berlin, New York 1984 (HSK. 2,1), S. 693–702, hier S. 696.
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plomatischen Abdrucks mit den bekannten mechanisch anzuwendenden Regulierungsmaßnahmen39 als Methode der Wahl etabliert. 40 Von wissenschaftlicher Texterschließung wird jedoch mehr gefordert als bloß der Transfer aus der Handschrift in typographische Form. So hat etwa der benutzerseitige Ruf nach der „ordnenden Hand des Editors“41 durchaus seine Berechtigung, zumal wenn Editionen für weitere Rezipientenkreise als die unmittelbare Fachwissenschaft von Nutzen sein sollen. Allerdings kann das oft angeführte Argument der Kompatibilität der Edition mit philologischen Werkzeugen wie Wörterbuch und Grammatik allenfalls für den akademischen Unterricht, keinesfalls jedoch für die Forschung gelten. Schließlich muss der Erkenntnisstrom aus den Quellen in die Werkzeuge fließen und nicht umgekehrt, und diese Werkzeuge sind noch längst nicht als fertig entwickelt zu betrachten, sondern müssen mit fortschreitender Erschließung weiterer Quellen sukzessive neuere, verfeinerte Erkenntnisse aufnehmen. Der wichtigste Grundsatz, der über allem editorischen Tun stehen sollte, lautet: Befund und Deutung sind klar zu trennen.42 Dabei ist nicht der Verlust der „Aura des Einmaligen“43 durch die editorische Bearbeitung das Problem – diese könnte notdürftig durch die Beigabe eines Faksimiles ersetzt werden; viel bedeutsamer ist der Umstand, dass es sich bei jeglichem Versuch der „Übertragung von Texten aus bestimmten Erscheinungsweisen in andere“44 bereits unweigerlich „um bereits verarbeitete[n] Befund“45, also Interpretation, handelt.46 Insofern ist das Edieren eines überlieferten Textes ohne ‚Normalisieren‘ schlichtweg unmöglich, denn bereits die Wiedergabe von handschriftlichen Allographen durch typographische Symbole stellt einen im Grunde unumkehrbaren Akt der Abstraktion dar. Jegliche Transponierung eines handschriftlichen Textes in typographische Form nimmt damit in gewisser Weise eine ‚Regulierung‘ des Befundes vor und ist mit einem Informationsverlust verbunden. Normalisierung umfasst eine Reihe von teils sehr heterogenen Vereinheitlichungsmaßnahmen. Diese bestehen etwa in Maßnahmen – der Informationsreduktion (Vereinfachung durch Beseitigung von Varianz, z. B. durch Eliminierung des Schaft-s), –––––––— 39
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Vgl. Johannes Schultze: Richtlinien für die äußere Textgestaltung bei Herausgabe von Quellen zur neueren deutschen Geschichte. In: Richtlinien für die Edition landesgeschichtlicher Quellen. Hg. von Walter Heinemeyer. Marburg, Köln 1978, S. 25–36. Vgl. Klaus Grubmüller: Edition. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. 2., völlig neu bearb. und stark erw. Auflage. Hg. von Heinrich Beck [u. a.]. Bd. 6. Berlin, New York 1986, S. 447–452, hier S. 452. Hans Werner Seiffert: Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte. Berlin 1963 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 28), S. 165. Vgl. Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 45–89. Ulrich Joost: „Als müßte ich es mir übersetzen“ – Prolegomena zu einer editionskritischen Untersuchung der deutschen Zweischriftigkeit. In: Text und Edition. Hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth [u. a.]. Berlin 2000, S. 353–368, hier S. 355. Ebd., S. 354. Zeller, S. 80. Vgl. Andrea Hofmeister-Winter: Textkritik als Erkenntnisprozeß: sehen – verstehen – deuten. In: editio 19, 2005, S. 1–9.
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schen Methoden den Usus scribendi der Schreiberpersönlichkeit zu ermitteln. Das sollte im Zeitalter der digitalen Edition zwar grundsätzlich machbar sein, wenn auch mit enormem Aufwand, aber was wäre damit gewonnen? Das Ergebnis wäre doch jedenfalls eine „Editio hybrida“. 48 Als Beispiel für den Umgang mit dem handschriftlichen Befund sei hier der Bereich der Interpunktion herausgegriffen, wo besonders oft auch gegen die Überlieferung vorgegangen wird: Damit wird der Aussagewert missachtet, den das Erscheinungsbild einer Handschrift per se besitzt. Das originale Layout prägt nämlich im Verbund mit den Auszeichnungs- und Textgliederungsmitteln die Makrostruktur49 des Textes. Da diese komplexen Strukturen auf der Basis von ‚normalisierten‘ Editionen nicht untersucht werden können, herrscht in diesem Bereich noch großer Forschungsbedarf. 50 Freilich sind die Funktionen der in handschriftlichen Textüberlieferungen enthaltenen graphischen Gliederungssignale und Auszeichnungen nicht immer leicht ‚auszulesen‘, weil sie mehrfache (einander oft überschneidende) Funktionen ausüben können: 51 Zur Abgrenzung von sprachlichen und textlichen Einheiten dienen neben den bekannten sekundären Schriftelementen Virgel, Punkt und Terminatoren (Schlusszeichen in frei gestaltbaren Ausführungen) zur Markierung von (Teil-)Satz-, Absatz-, Kapitel- oder Vers-Ende zunächst auch das in diesem Zusammenhang oft außer Acht gelassene Spatium (die Leerstelle zwischen zwei Wörtern) sowie der Textumbruch am Zeilenende. Häufig sind die genannten makrostrukturellen Grenzen unmarkiert, wenn sie mit dem Zeilenende zusammenfallen. Ergänzt wird dieses graphische Strukturierungssystem durch eine Reihe von Anfangssignalen: Initialen, Majuskeln oder Minuskeln mit und ohne roten Zierstrich (nicht nur an syntaktischen Grenzen, sondern auch zur Hervorhebung inhaltlich relevanter Wörter/Eigennamen). Ein weit verbreitetes Phänomen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handschriften sind die von mir so genannten ‚relativen‘ Majuskeln, Allographe, die sich einer exakten Zuordenbarkeit zu den Kategorien Großund Kleinbuchstaben auf Basis formaler Kriterien (Form und Größe) entziehen, jedoch in diesem System der Gliederungsmittel ebenfalls eine Rolle spielen dürften.52 Eine einheitliche Linie bei der Behandlung von Interpunktionszeichen in Editionen gibt es bis heute nicht, vielfach wird jedoch versucht, die historischen Gliederungs–––––––— 48 49
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Vgl. Norbert Oellers: Angleichung, Normalisierung, Restitution. Die Editio hybrida als Schicksal der deutschen Klassiker. In: ZfdPh 101, 1982, Sonderheft, S. 29–42. Vgl. Franz Simmler: Makrostrukturen in lateinischen und deutschen Textüberlieferungen der Regula Benedicti. In: Regulae Benedicti Studia. Annuarium Internationale 14/15, 1985/86 [recte: 1988], S. 219–305; ders.: Prinzipien der Edition von Texten der Frühen Neuzeit aus sprachwissenschaftlicher Sicht. In: Probleme der Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Beiträge zur Arbeitstagung der Kommission für Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Hg. von Lothar Mundt, Hans-Gert Roloff und Ulrich Seelbach. Tübingen 1992 (Beihefte zu editio. 3), S. 36–127. Eine solche Untersuchung auf Basis einer speziell für solche Zwecke vorbereiteten Edition mit überraschenden Ergebnissen präsentiert Andrea Hofmeister-Winter: Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ – Graphetische Syntax-Marker am Beispiel frühneuzeitlicher Autographe. In: Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen. Bd. 2. Hg. von Arne Ziegler und Christian Braun. Berlin, New York 2010, S. 875–895. Vgl. Andrea Hofmeister-Winter (Anm. 37), Kap. 8.1.2: Textgliederungsmittel, und Kap. 8.1.2: Auszeichnungsmittel. Vgl. ebd., Kap. 8.1.7.3: Relative Größe von Schriftzeichen.
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mittel in das uns vertraute Interpunktionssystem zu ‚übersetzen‘: Satzanfangsgroßschreibung, Komma, Strichpunkt, Punkt (als hierarchisch gestuftes System zur Markierung von Satz- und Sinneinheiten) etc. Die vielfältigen Auszeichnungsmittel finden dabei hingegen so gut wie keine Berücksichtigung, weil ihnen eher eine ‚ornative‘ Funktion, aber keine Relevanz für die Textaussage beigemessen wird. Eine Kompromisslösung zur Wahrung der Interessen der Syntaxforschung einerseits und einer eher auf den Inhalt konzentrierten, auf ‚Leseerleichterung‘ hoffenden Leserschaft bietet die Form einer mehrstufigen ‚Dynamischen Edition‘53 an, die den Editionstext auf zumindest zwei unterschiedlichen Bearbeitungsstufen präsentiert: Eine elektronische Basistransliteration dokumentiert den handschriftlichen Befund so getreu wie möglich (einschließlich aller originalen Gliederungs- und Auszeichnungsmittel) und sichert so die Grundlage für Analysen der Schreibereigenheiten und der Makrostrukturen des Textes sowie für jede weitere editorische Erschließungsmaßnahme. Diesen bemüht ‚interpretationsarmen‘54 Rohtext für das inhaltliche Textverständnis optimal aufzubereiten durch Emendation von Fehlern, Regulierung oder Standardisierung der Graphie sowie durch weitere Maßnahmen zur Erleichterung der Sinnentnahme, wird einer darauf aufbauenden separaten Präsentationsschicht überantwortet, der textkritisch bearbeiteten ‚Lesefassung‘. Nach diesem Konzept ist die 2005 erschienene Hugo von Montfort-Edition von Wernfried Hofmeister aufgebaut und liefert damit ein Musterbeispiel für die klare Trennung von Befund und Deutung:55 Die Basistransliteration aller Überlieferungszeugen steht auf einer editionsbegleitenden Webseite sogar als interaktive ‚Augenfassung‘ zur Verfügung, d. h., sie leistet nicht nur eine minuziöse Dokumentation der Überlieferung, sondern dazu absolute Transparenz in maximaler Benutzerfreundlichkeit durch zeilenweise Verlinkung der Transliteration mit dem digitalen Faksimile.56 Im Gegenzug darf die als Studienausgabe gedruckte Lesefassung getrost stärkere Eingriffe in die originale Textstruktur wagen, ohne dass eine Verschleierung des Befundes droht: Der Editor beschränkt sich im konkreten Fallbeispiel nicht auf eine ‚behutsame‘ moderne Interpunktion, sondern spricht sich für eine „modern und differenziert interpungierte Edition“57 aus und nützt bewusst die vielfältigen Möglichkeiten des modernen Interpunktionssystems zur Steuerung des Leseverständnisses wie z. B. Doppelpunkt als Ersatz für nicht verbalisierte Konnektoren, Gedankenstrich zur Kennzeichnung von Ellipsen, Klammern zur Abgrenzung gedanklicher Einschübe, Kennzeichnung von direkter Rede oder Zitaten durch Anführungszeichen etc. Auch wenn diese Form der editorischen Textbearbeitung hoch interpretativ ist – sie zwingt mitunter zur Vereindeutigung von Syntagmen, die womöglich vom Autor bewusst in –––––––— 53 54 55 56 57
Vgl. ebd. Zum Problem der Subjektivität editorischen Handelns vgl. ebd., Kap. 4.5: Theoretische Überlegungen zur Dokumentation des Befundes. Hugo von Montfort: Das poetische Werk. Hg. von Wernfried Hofmeister. Mit einem Melodie-Anhang von Agnes Grond. Berlin, New York: de Gruyter 2005 (de Gruyter Texte). . Wernfried Hofmeister: Die Praxis des Interpungierens in Editionen mittelalterlicher deutschsprachiger Texte. Veranschaulicht an Werkausgaben zu Hugo von Montfort. In: Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen. Bd. 1. Hg. von Arne Ziegler und Christian Braun. Berlin, New York 2010, S. 589–604, hier S. 603.
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Schwebe gehalten wurden –,58 ist gegen ein solches Texterschließungs-Experiment nichts einzuwenden, weil dadurch die Editionsbasis nicht angetastet wird und den Benützer/innen durch die hybride Editionsform die Möglichkeit offensteht, hinter „den editorischen Schatten“ 59 zu blicken und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Dank dieser gesplitteten Editionsweise könnte die Normalisierungs- bzw. Standardisierungsdebatte ohne Sorge um die Authentizität des nun transparenten Überlieferungsbefundes geführt werden und auch für die übrigen Teilbereiche der historischen handschriftlichen Graphie benützerfreundliche Lösungsvorschläge erarbeiten. 3.2. Zu den Problemen ,Normalisierung‘ bzw. ,Modernisierung‘ der Graphie bei deutschsprachigen Texten der Mittleren Deutschen Literatur (1400–1750) (HansGert Roloff) Die überlieferten Handschriften und Drucke aus dem Zeitraum zwischen 1400 und 1750 weisen generell keine Anzeichen für eine allgemein verbindliche, geregelte Graphie auf. Groß- und Klein-Schreibung, Diphthong-Schreibung, einfache oder doppelte Konsonanz stehen nebeneinander und gehen anscheinend nach momentaner Gelegenheit durcheinander, und zwar in Privathandschriften noch mehr als in Drucken. Gewisse Ordnungsprinzipien lassen sich nur beim Schrifttum aus Kanzleien oder bei Texten größerer Druckereien beobachten. Wenn z. B. Drucke aus dem alemannischen Sprachbereich im west- oder ostdeutschen Sprachbereich nachgedruckt werden, so sind sie weniger verbal als in der Graphie modifiziert. Der Ausgleich der Druckersprachen erfolgte erst nach und nach im 17. Jahrhundert und war eher ökonomisch als linguistisch begründet. Dabei zeigt sich, dass ganzheitlich tradierte Texte trotz unterschiedlicher Druckersprachen keine Einbußen an ihrer intendierten literarischen Information und der Zielrichtung ihrer Aussagen aufweisen. Aber sie haben ihre Abweichungen vor allem in der Graphie. Sofern textliche Umarbeitungen vorliegen, gehören sie in die Kategorie der Rezeption. Die Werkstatt-Usancen der Druckersprachen können zwar für Fragen der Textüberlieferung, der Textortung und Textdatierung aufschlussreich sein, sind es aber kaum für die literarische Konstitution der Texte. Für sprachhistorisch versierte Philologen dürften Texte so schwankender Graphien keine Probleme bereiten, sondern eher einen Reiz auslösen, Gründe und Tragweite derartiger Schreibusancen herauszufinden. Die ältere Erforschung des frühneuhochdeutschen Sprachstandes ist darin leider versackt und hat nur wenig Einsichten zum eigentlichen Wesen dieser sehr wichtigen Sprachstufe des Deutschen hervorgebracht. Der Editor frühneuhochdeutscher Texte sieht sich meistens einer mehr oder weniger großen, chaotischen Anordnung von Zeichen gegenüber, deren lautliche Verbindung ein Wort ergeben. Hinzu kommt, dass in dieser Zeit die Graphie noch durch regional bedingte eigentümliche Lautung bedingt ist. Im Gegensatz dazu ist unsere derzeitige Orthographie – trotz ihrer vielfältigen, aber letztlich minimalen Reformschus–––––––— 58 59
Schubert (Anm. 36), S. 38, sieht in dieser Mehrdeutigkeit zwar ein Deutungspotenzial, jedoch keinen „erhaltenswerte[n] Wert an sich“. Zeller (Anm. 42), S. 89.
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terei – von den Usancen der Schreiber und Drucker der Mittleren Periode weit, ja sehr weit entfernt. Die Gegenüberstellung der frühneuhochdeutschen und der neuhochdeutschen Graphie führt unweigerlich zur Frage: lässt sich die Distanz durch ,Normalisierung‘ oder ,Modernisierung‘ der Zeichen und ggf. der Laute überbrücken, und zwar in der anti-philologischen Absicht, frühneuhochdeutsche Texte dem unerfahrenen Leser unserer Tage leichter zugänglich zu machen? Die Entscheidung in dieser Frage ist kaum eindeutig zu fällen. Für die Graphie des ausgehenden 18. Jahrhunderts mag es noch kaum von Belang sein wenn i statt y etwa in sei/sey geschrieben wird, oder Träne statt Thraene. Berührt davon wäre nur die Entwicklung der Druckersprachen. Aber im Bereich des Frühneuhochdeutschen, sofern man eine Modernisierung durchführen wollte, käme man sehr rasch zu der Nötigung, semantische Verschiebungen vorzunehmen, die nicht mehr statthaft wären. Auch wenn der Eigenwert der Graphie für den Text in semantischer Hinsicht gegenüber der vom Text transportierten Problemvielfalt minimal sein dürfte, so ist die mentale Distanz zwischen ,damals‘ und ,heute‘ nicht zu übersehen. Auch wenn man dazu neigt, Texte in zwei Graphie-Formen vorzulegen – in einer den wissenschaftlich-historischen Ansprüchen genügenden und einer modernisierten für den ,interessierten‘ Leser, wird man in letzterem Fall die Enthistorisierung durch Modernisierung der Graphie – auch ohne Eingriffe in die überlieferte Lautung, grammatische Formen, Semantik – nicht verhindern können. Der modernisierte Text wird dann leicht zu einem Tragelaphen, dessen Aussagen dann unverbindlich werden. Es ist bei dieser Diskussion auch daran zu erinnern, dass es bekanntlich beachtenswerte Fälle von prinzipiell durchgeführter Symbol-Graphie etwa im 16. Jh. gibt: Als Beispiel sei nur an Rörers Symbol-Graphie der lutherischen Bibel-Ausgabe von 1546 erinnert60. Luther selbst hatte schon in der Vorrede zum Alten Testament (1523) darauf hingewiesen, dass seine Versalien-Schreibung von HERR und HErr nicht orthographisch, sondern theologisch begründet ist.61 Auch wenn man gewiss nicht jedem frühneuhochdeutschen Text solche immanente Buchstabensymbolik wird zuerkennen dürfen, mahnt dieses tatsächliche Verfahren doch zur Vorsicht gegenüber achtloser Modernisierung. Jedem Editor eines Neudrucks eines frühneuhochdeutschen gedruckten Textes stellt sich die Frage: Faksimile oder Neusatz? Im Hinblick auf die vollständige Text-Identität zwischen Vorlage und Vervielfältigung ist die Faksimile-Ausgabe natürlich am sichersten. Aber: trotz aller möglichen editorischen Beigaben ist sie nur von Fachleuten zu bewältigen. Für handschriftlich überlieferte Texte gilt ohnehin nur die Aufgabe, den Text zu transkribieren, abgesehen davon, dass kaum ein Text dieser Zeit frei von Fehlern ist und der textkritischen Bearbeitung bedarf. Die heute über Internet zugänglichen Texte sind an sich nur von Fachleuten akzeptierbar – und da auch nur von jenen, die eine entsprechende philologische und paläographische Ausbildung haben. Im Rahmen der Globalisierung der –––––––— 60 61
Vgl. dazu Hans-Gert Roloff: Das Neue Testament. Bd. 2. Entstehung. Varianten. Glossar. Bibliographie. Nachwort. Stuttgart 1988, S. 2428; 37072. Ebd., S. 371.
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Zugänglichkeit dieser Texte ist die Rezeption infolge der Schwierigkeiten, Zugang zu den Textfassungen zu finden, nicht unbeträchtlich. Insofern ist die erste Aufgabe des Editors, das Zielpublikum seiner Edition auszumachen und für dessen Rezeption eine leserfreundliche Textfassung mit möglichst wenigem historischen Informationsverlust zu erstellen. Die Probleme, in welchem editorischen Aggregat-Zustand ein frühneuhochdeutscher Text seinen Lesern zu bieten ist, werden seit der Erstellung der großen wissenschaftlichen Ausgaben und Textreihen seit dem 19. Jh. diskutiert. Im Nachhinein zeigt sich: die mediävistischen Verfahrensweisen Carl Lachmanns und seiner Schule waren für die Edition frühneuhochdeutscher und neulateinischer Quellentexte ungeeignet, ja eigentlich gegenüber dem historischen Befund verfälschend. Die Antwort auf die Zentralfrage jeder Edition: Für wen wird ediert? zielte hier auf den akademisch gebildeten Historiker von Literatur, Sprache, Kultur- und Geistesgeschichte, kaum auf den historisch interessierten Leser des Bildungsbürgertums. Die von verschiedenen Disziplinen seit dem 19. Jahrhundert vorgelegten Modelle, etwa seit Böckhings Hutten-Ausgabe, verdienten im Rahmen der hier geführten Diskussion eine Darstellung und kritische Würdigung. Dabei wäre vor allem darauf zu achten, warum gewisse Prinzipien im Laufe der Jahrzehnte modifiziert worden sind, andererseits gewisse Grundprinzipien eisern verteidigt wurden. Die Veränderungen wissenschaftlicher Handhabungen der Historie dürften auch hierauf von Einfluss gewesen sein. Hinzu kommt, dass durch die zunehmende Popularisierung von prägnanten Quellentexten im Zuge progressiver Ideologisierung im 20. Jh. Versuche einer Modernisierung vorgenommen wurden, die sich vom Original weit entfernten. Auch heute ist die Diskussion um angemessene Wiedergabe frühneuhochdeutscher Texte nicht abgeschlossen; ein allgemein verbindliches Verfahrensprinzip liegt weder für die deutschen noch für die neulateinischen Originaltexte der Mittleren Deutschen Literatur vor. So mussten für die seit Mitte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts im Verlag de Gruyter (Berlin) neu konstituierte Reihe „Ausgaben Deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts“ (ADL) die Editionsprinzipien neu aufgestellt werden, und zwar unter der Vorgabe des Verlages, dass als Leser dieser Texte zwar Literatur- und Sprachhistoriker angesprochen werden sollten, aber ebenso auch Historiker der anderen Fachgebiete der Mittleren Periode, die von einer allzu diplomatischen Wiedergabe der Vorlagen nicht abgeschreckt werden sollten. Verlag und Herausgeber wollten eine globale Benutzbarkeit der Editionen erreichen. Aber in der Spannung zwischen Erhaltung der historisch-wissenschaftlichen Beschaffenheit der Vorlagen und einer nichtenthistorisierenden Form der Wiedergabe des edierten Textes in seinem AggregatZustand ergaben sich nur geringe Modernisierungen im Bereich der Graphie. Der überlieferte Befund von Laut, Form, Syntax, Struktur und Zeichensetzung blieb strikt unantastbar, ausgenommen bei textkritisch fundierter Fehlerberichtigung. Für die ADL gilt seit ihren Anfängen, dass der ,beste‘ Zeuge der Überlieferung für den Abdruck als Vorlage genommen und ,genauestens‘ abgedruckt werden sollte, wobei das ,genauestens‘ gewisse Einschränkungen erfuhr: Grundsätzlich werden die in Fraktur überlieferten deutschen Texte in Antiqua wiedergegeben, um sie dem internationalen verlegerischen Usus anzupassen, wofür ökonomische Gründe entscheidend waren.
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i/j u/v ieman bawen yij vvndvnndvndtvnndt m mm mb m ¡ ¢
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Seiten- bzw. Spaltenangaben der Vorlage werden dem laufenden Text kursiv in spitzen Klammern < > eingefügt. Jedem Text wird ein Zeilenzähler beigegeben: bei Prosa: in Fünfergruppen pro Seite, bei Verstexten durchlaufend; Strukturhinweise wie Überschriften oder Akthandlung und Spielhinweise werden nicht mitgezählt. Die Schriftarten recte und kursiv sind in den ADL generell festgelegt: recte nur für Autorentext, Varianten, Zitate aus der Primärliteratur; kursiv für alle Zufügungen des Herausgebers im laufenden Text, für Kolumnentitel, Seitenangaben der Vorlage und Inhaltsverzeichnis, sofern es nicht aus der Vorlage entnommen ist. Auch die Grundschrift des Realienbandes wurde auf kursiv festgelegt. Im Ganzen versuchen die ADL eine Balance zwischen dem geschichtlichen Sprachund Zeichenzustand und einer eingängigen Textform zu bieten, die eine leichte Textrezeption gestattet. Im Rahmen der laufenden Graphie-Diskussion ist festzustellen, dass Texte, die nach den Prinzipien von ADL ediert werden, für alle Fragen im Bereich von Laut, Form, Syntax, Struktur, Interpunktion sprachgeschichtlich authentisch sind, nicht aber wegen der bedingten graphischen Normalisierung mit der Textvorlage nur teilweise identisch sind. Fraglich ist, ob bzw. wieweit diese Einbuße den wissenschaftlichen Informationswert des neu-edierten Textes schmälert, denn der gesamte Problemkomplex der Druckersprachen lässt sich daran nicht mehr hundertprozentig beschreiben und analysieren. Dafür dürften nur die Originalausgaben zuständig sein. Sie aber können wieder so schwierig zu lesen sein, dass sie durch ihre Druckform für umfangreiche Textrecherchen sehr beschwerliche Hindernisse bereitstellen und den Leser an einer zügigen Lektüre behindern. Gegenüber den ADL sind die Editionen der Parallelreihe Berliner Ausgaben62 in der Behandlung der Graphie wieder konservativer verfahren: Zwar werden auch hier die Fraktur-Texte in Antiqua umgesetzt und Antiqua der Vorlage erscheint im Neu-Satz in Kapitälchen, aber Graphie und Lautung bleiben konsequent erhalten. Nicht konserviert werden: rundes r, frnhd z, Schaft-s; die Interpunktion genau nach Vorlage. Die Kürzel (Nasal-, Geminations-, d- und b/p-Strich) und Abbreviaturen werden aufgelöst; u/v und i/j werden nach Vorlage übernommen. Hierfür gebe ich ein Beispiel, das der Erstausgabe von Sebastian Francks Paradoxa (ca. 1534) entnommen ist. Unter Umständen ist Sebastian Franck an dieser Ausgabe als Setzer beteiligt gewesen. Die Originalstelle sieht folgendermaßen aus:
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Zuerst: Verlag Peter Lang AG, Bern, dann Verlag frommann-holzboog, Stuttgart: Sebastian Franck. Sämtliche Werke. Bd. 1: Frühe Schriften. Textredaktion Peter K. Knauer. Bern 1993.
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Gegenüber diesem Druckzustand sind für den Aggregatzustand des edierten Textes folgende ,Normalisierungen‘ vorgenommen worden: Eigenheiten des Satzes wie unregelmäßige Abstände zwischen einzelnen Wörtern bzw. Wortteilen und drucktechnisch bedingte Kürzungen durch Nasalstriche (für n / mm / mb) sind – gemäß dem Verfahren des Setzers an ungekürzten Stellen – aufgelöst worden. Aus Gründen der leichteren Texterfassung für den Leser werden Francks Stellen-Angaben, die er unmittelbar in den laufenden Text eingefügt hat, in petit vom laufenden Text abgehoben, soweit sie unverbunden zur Satzlogik stehen. Im Ganzen also: Graphie und Interpunktion der Vorlage sind unverändert übernommen worden; Emendationen dazu sind äußerst selten erforderlich gewesen. Der folgende Text entspricht dem Abdruck der Fassung der Paradoxa in der Wissenschaftlichen Ausgabe, die sich in Arbeit befindet. Franck, Paradoxa (Ulm 1534), f. 39v Darumb ob wol der Mensch ain gt gemcht gottes ist/ nach seinem bild formiert/ so ist er doch also verderbt/ beülendt/ vnd vnge stalt worden/ durch die sünd/ das in Gott nimmer kent/ vnd weder wissen noch hren wil/ er werde dann wider auff ainen hauffen ge= schlagen/ zurlassen/ vnd auff ain neües gedreet/ gegossen/ vnd inn Christo vollendt aus gemacht. Wie eerlich es nu vor was ain msch genent werden/ so oneerlich ist es itzt/ vnd ist ain rechter lasterman vnd schand tittel/ als der in sich schleüßt alle laster/ abgtterei/ vnd gottlos wesens namen. Also das ain mensch genent werden vor got so vil ist/ als ain Gottsschalck/ ertzdieb/ todtfeindt/ gottloser bb/ flaischbatz/ Teüffeiskindt/ bßwicht/ Heüchler/ gleißner/ vnnd al= les das man bß nennen mag/ so gar das disen gefallen/ vnnd von
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Menschmenschseinemsei=nemvnd/vnndvngevnge=injnGott gottvndvnnd,hrenhredanndaaineneinen
Mensch mensch Menschgott/gottesGottesbeülendtbeülendtbeulendin Gottjn gottjn Gott hren wilhre wilhren willdannda / dann, neües / newes /newes, gedreet / gedreet / gedret
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beülendt] fehlt was] war lasterman] lesternam so gar das disen gefallen/] Auch alles was disen tht gefallen/ von jn gelobt werden/] von jnen geehret vnd gelobt wird/ vneer vnd schand] vnehr mißgefallen vnd schand
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Paradoxa
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Christus Wolf und er heißt, sich vor den Menschen hüten.63 (Matth. 10.)
Das Franck-Beispiel zeigt: Für eine populäre Informationsvermittlung intellektuell anspruchsvoller Texte dürfte eine mehr oder weniger mechanische Modernisierung der Graphie nicht hinlänglich ausreichen. Sie könnte allenfalls durch Paraphrasierungen und Erläuterungen zum Verständnis führen. Für erkenntnisorientierte Diskurse sind aber solche Textmanipulationen eigentlich sinnlos. Texte vom Karat-Gehalt wie die aus der Feder Sebastian Francks können und sollten nicht anders als in einem philologisch einwandfreien Aggregatzustand die Originalfassungen mit hinreichenden Erläuterungen für alle daran interessierten Leserschichten vorlegen. Francks hohe eigenwillige Gedankengänge und deren schriftliche Fixierung können nicht anders als in ihrem originalen sprachlich-gedanklichen Konzept wieder rezipiert werden. Nur so lassen sich Anliegen und Gehalt des Autors angemessen erschließen. Die Editionswissenschaft trägt dafür volle Verantwortung. Der Umgang mit den Texten der frühneuhochdeutschen Periode bringt aber auch Texte ans Licht, deren sprachlich-materialer Zustand ein ganz anderer ist als der Francks: leichter, vordergründiger, narrativer, unterhaltender. Gäbe es hier die Möglichkeit, dem historisch interessierten Leser, dem es an historischen Sprachkenntnissen mangelt, durch ,Normalisierung‘ bzw. ,Modernisierung‘ der sprachlichen Darbietungsform den Text nahezubringen, so dass er ihn genussvoll aufnehmen kann? Die Beantwortung der Frage ist wichtig, denn dahinter steht ein großer welthaltiger Erzählkosmos. Es ist eine Frage, ob in Form einer paraphrasierenden Nacherzählung des Textes Zugang zu dieser Welt angemessen gewährt werden kann; im 19. Jahrhundert ist es oftmals praktiziert worden, aber für den Leser geht dabei der historische Nimbus verloren und die Freude an der eigenen Bewältigung bzw. Eroberung eines Textes einer fernen Lebenswelt käme nicht zur Wirkung, Es wären im Grunde genommen nur unlebendiger Stoff, Problem- und Vorgangsrezeption. Wie schwer das Problem zu entscheiden ist, möchte ich an einem weiteren Beispiel in die Diskussion bringen: Ziel ist, die unter historischem Aspekt sehr reizvollen Romane der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken (15. Jh.) einem weiten Lesepublikum in ihrer mentalen Eigenart erfahrbar zu machen. Dabei zeigt sich, dass eine philologischhistorisch, sog. wissenschaftliche Ausgabe mit allem Drum und Dran einem normalen wissenschaftlichen Generierungsablauf unterworfen ist. Aber die sog. ,Popularisierung‘ der Texte des 15. Jahrhunderts bereitet Schwierigkeiten, die sich wohl kaum sinnvoll lösen lassen – außer man greift zur erzählerischen Paraphrase. Freilich sind Übersetzungen solcher Texte ins moderne Hochdeutsch, wie wir wissen, meist trocken, mental wenig inspirierend und wegen ihrer Vorlagentreue stilistisch langweilig. Ich lege hier einen Abschnitt aus dem Roman Herpin der Elisabeth von NassauSaarbrücken vor, der auf eine Chanson-de-Geste zurückgeht. Die Umschrift des Textes lässt sofort die Uneinheitlichkeit der Graphie erkennen: er ist mehrheitlich mit –––––––—
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Vgl. Sebastian Franck: Paradoxa. Hg. u. eingel. v. Siegfried Wollgast. Berlin 1966, S. 110f.
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Minuskel am Wortanfang geschrieben, die Majuskeln scheinen zur Kennzeichnung von Anfängen von Sätzen oder Satzteilen verwendet worden zu sein, aber es gibt dazu Ausnahmen, sowohl in der syntaktischen Richtung als auch in der einfachen Gleichsetzung von Minuskel und Majuskel. Eine Zeichensetzung ist bis auf einige Virgeln unterblieben. Keine Frage: der Text ist in dieser vorlagengetreuen Transkription nicht ganz leicht zugänglich, auch für den philologisch geschulten Leser: Aus: Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: Herpin (15. Jh.) DEr hertzog von calaber Rante czum torney czu vnd slug frieslich czum torney Vff den dag verlosse manig gut geselle sin Rosse Sy rieffen alle sant gergen an vmb hulffe Die herolde gebarten frolich vnd sprachen lieben gesellen Tornnyeret fryschlich ir verdient eynen schonen blen Sehent vff dem huse die schone florentyne Die wil sich geben dem künesten der hie ist Darvmb tornyert künlich Eyn gantz kunigrich ist nit czuuersümen lewe slug fryslich czum torney Der wiß Ritter vnd gerna enfelten auch nit/ Was lewe gewan das furten die czwene czum banner Wer lewen begent den slug er nyeder yederman floch vor yme als vor eyme rasende diere czwenzig herolde lieffen lewen nach / Die rieffen mit luder stymme/ Sehent das ist der an dem alle ere steet künheit vnd eyn blme der Ritterschafft Er ist gut uber alle guden vnd straffet boßheit Er ist der die Liebe meystert Er ist der abentturer der den schonen blen verdient Er ist der Der den prejß gewonnen hat Also rieffen die herolde lewen alles nach Da das lewe hort syn hertze wart erfraüwet/ Er sprach lieben gesellen habt gten mt uwer yglichem wil ich eyn gut rosse geben/ Da dancketen die herolde lewen alle sere/ vnd ryeffen viel me dan vor Das müweten die fursten vnd die ritterschafft gar sere/ Sy sprachen das ist czu male der dufel/ Das eyn armer Ritter den prijß sol gewynnen blibet er yme n so ist die schult vnser Da mit Ranten sy gemeinlich ber lewen/ Das sy yme den danck genemen Aber lewe werte sich als eyn kne man/ Der wiß Ritter stund yme alles czu helffe Er verließe yne níe in synen nöden / lewe vnd der wiß ritter werten sich als künlich das yme nieman nüst gedn konde / Dan er hatt got vnd gluck czu helffe/ Da kame hertzog Symon von venedige mit großer geselschafft/ Er reyt dem pabest von Rome entgein
Die Hauptfrage an den Editor ist nun: Wie kann man einen solchen Text, der für uns in einer Art Rohfassung überliefert ist, ohne großen historischen Informations- und Signalverlust Lesern in einer wissenschaftlichen Ausgabe goutierbar machen? Die in Vorbereitung befindliche Edition erlaubt sich folgende Eingriffe in die handschriftliche Überlieferung, in der Hoffnung, dem Leser dadurch den Zugang zu erleichtern und rezeptionelle Schwierigkeiten, die ein diplomatischer Abdruck bietet, zu umgehen:
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3. 4.
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Namen und Titel werden groß geschrieben Die Großschreibung zur Kennzeichnung von Anfängen von Sätzen oder Satzteilen wird beibehalten; sie lässt auf ein Prinzip des Schreibers (oder seiner Vorlage) schließen. Nötigenfalls wird sie vom Editor sinnvoll ergänzt, wobei der Eingriff belegt wird. Der laufende Text, an dem die Grundtendenz zur Klein-Schreibung zu erkennen ist, wird einheitlich daraufhin ausgeglichen. Direkte Reden werden durch doppelte Anführungszeichen kenntlich gemacht, direkte Gedankengänge bzw. innere Monologe bzw. Selbstgespräche werden in einfache Anführungszeichen zwecks besserer Aufnahme durch den Leser gesetzt. Die Interpunktion des edierten Textes verlangt vom Editor gewisse strukturierende Entscheidungen, die letztlich seiner strukturanalytischen Vorstellung entsprechen. Dabei scheidet aber die Möglichkeit aus, den Text nach modernen, grammatisch-syntaktischen Vorstellungen zu strukturieren und das System durch Komma, Semikolon, Punkt, Frage- und Ausrufezeichen deutlich zu machen.
Die vorliegende Handschrift bietet als Hinweise für die Interpunktion die Großschreibung am Anfang von Sätzen oder Satzteilen, manchmal rubriziert, dann gelegentlich die Virgel, in größeren Abständen, gewissermaßen als Zeichen für eine sinnvolle Atempause beim Vorlesen. Die Handschrift kennt keinen Punkt. Der Editor hat sich entschieden, für diesen Aggregat-Zustand des Textes die Großschreibung am Anfang von Sätzen bzw. Satzteilen zu übernehmen, ebenso die in der Handschrift gesetzten Virgeln. Ergänzend eingeführt wird der Punkt am Ende einer erkennbaren Satzeinheit. Sofern die Handschrift an dieser Position eine Virgel aufweist, hat diese den Vorzug vor dem vom Editor hinzugefügten Punkt. Da der Punkt in diesem Text generell als editorische Zutat gilt, wird dessen Einfügung auch nicht unter den „Eingriffen“ notiert. Im ganzen dürfte diese Verfahrensweise die sprachlich-formale und syntaktische Historizität der handschriftlichen Überlieferung weitgehend im Aggregat-Zustand einer wissenschaftlichen Edition bewahren. DEr Hertzog von Calaber rante czum torney czu vnd slug frieslich czum torney. Vff den dag verlosse manig gut geselle sin rosse. Sy rieffen alle Sant Gergen an vmb hulffe. Die herolde gebarten frolich vnd sprachen „lieben gesellen tornnyeret fryschlich. ir verdient eynen schonen blen. Sehent vff dem huse die schone Florentyne. Die wil sich geben dem künesten der hie ist. Darvmb tornyert künlich. Eyn gantz kunigrich ist nit czuuersmen.“ Lewe slug fryslich czum torney. Der wiß Ritter vnd Gerna enfelten auch nit/ was Lewe gewan das furten die czwene czum banner. Wer Lewen begent den slug er nyeder. Yederman floch vor yme als vor eyme rasende diere. Czwenzig herolde lieffen Lewen nach / Die rieffen mit luder stymme/ „Sehent das ist der an dem alle ere steet künheit vnd eyn blume der ritterschafft. Er ist gut uber alle guden vnd straffet boßheit. Er ist der die liebe meystert. Er ist der
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abentturer der den schonen bulen verdient. Er ist der Der den prejß gewonnen hat.“ Also rieffen die herolde Lewen alles nach. Da das Lewe hort syn hertze wart erfraüwet/ Er sprach „lieben gesellen habt gten mt uwer yglichem wil ich eyn gut rosse geben“/ Da dancketen die herolde Lewen alle sere/ vnd ryeffen viel me dan vor, Das müweten die fursten vnd die ritterschafft gar sere/ Sy sprachen „das ist czu male der dufel/ Das eyn armer Ritter den prijß sol gewynnen. Blibet er yme n so ist die schult vnser.“ Da mit ranten sy gemeinlich ber Lewen/ Das sy yme den danck genemen. Aber Lewe werte sich als eyn kne man/ Der wiß Ritter stund yme alles czu helffe. Er verließe yne nie in synen nöden / Lewe vnd der wiß Ritter werten sich als künlich das yme nieman nüst gedn konde / Dan er hatt got vnd gluck czu helffe/ Da kame Hertzog Symon von Venedige mit großer geselschafft/ Er reyt dem Pabest von Rome entgein
Im Rahmen der Diskussion stellt sich nun die Frage, ist ein solcher Text als Lesetext an ein Publikum zu vermitteln, das zwar an älteren Texten interessiert, dem es aber an einer fachlich-historischen Sprachkenntnis fehlt, um den Text ohne Irritationen leicht beschwingt goutieren zu können. Bedarf es da tatsächlich einer vordergründig modernisierten Textfassung, die um der Modernität willen einige dekorative Elemente der Historizität ausblendet? Machen wir den Versuch und wagen wir an diesem Textstück eine Modernisierung seines historisch bedingten Aggregat-Zustandes. Der Herzog von Calabrien rannte zum Tornei zu und schlug freislich zum Tornei. Auf den Tag verlor manch guter Geselle sein Ross. Sie riefen alle Sankt Georgen an um Hilfe. Die Herolde gebarten sich fröhlich und sprachen: „Liebe Gesellen, tornieret frischlich! Ihr verdient einen schönen Buhlen! Sehet auf dem Hause die schöne Florentine! Die will sich geben dem Kühnsten, der hie ist. Darumb torniert kühnlich. Ein ganzes Königreich ist nicht zu versäumen“. Löwe schlug freislich zum Tornei. Der Weiße Ritter und Gerna fehlten auch nicht! Was Löw gewann, das führten die zwei zum Banner. Wer Löwen begieng, den schlug er nieder. Jedermann floh vor ihm als vor einem rasenden Tier. Zwanzig Herolde liefen Löwen nach. Die riefen mit lauter Stimme: „Sehet, das ist der, an dem alle Ehre steht, Kühnheit und eine Blume der Ritterschaft. Er ist gut über alle Guten und straft Bosheit. Er ist es, der die Liebe meistert. Er ist der Abenteurer, der den schönen Buhlen verdient. Er ist der, der den Preis gewonnen hat.“ Also riefen die Herolde Löwen alles nach. Da das Löwe hörte, sein Herz ward erfreuet. Er sprach: „Lieben Gesellen, habt guten Mut! Euer jeglichem will ich ein gutes Ross geben.“ Da dankten die Herolde Löwen alle sehr und riefen viel mehr denn vorher. Das mühete die Fürsten und die Ritterschaft gar sehr. Sie sprachen: „Das ist zumal der Teufel, dass ein armer Ritter den Preis sol gewinnen! Bleibet er ihm, nun so ist die Schuld unser.“ Damit rannten sie gemeinsam über Löwen, dass sie ihm den Dank genehmen. Aber Löwe wehrte sich als ein kühner Mann. Der Weiße Ritter stand ihm alles zu Hilfe. Er verließe ihn nie in seinen Nöten. Löwe und der Weiße Ritter wehrten sich als kühnlich, dass ihm niemand nichts tun konnte, denn er hatte Gott und Glück zu Hilfe. Da kam Herzog Symon von Venedig mit großer Gesellschaft. Er ritt dem Papst von Rom entgegen.
Die sprachlich-narrativen Gepflogenheiten unserer Tage forderten für diesen Modernisierungsprozess Folgendes:
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1. 2. 3. 4.
Groß- und Kleinschreibung wird den heutigen Prinzipien angepasst. Die Lautung des Textes wird auf die heutige neuhochdeutsche Schreibung umgesetzt, also: blibet � bleibet, dufel � Teufel, ber � über, kne � kühn usw. Der Text wird nach modernem System syntaktisch strukturiert; moderne Satzzeichen finden allenfalls Verwendung. Allerdings ergibt sich bei dieser vordergründigen Umsetzung ein gravierendes Problem auf der semantischen Ebene. Wenn man „gten mt“ der graphischen Modernisierung entsprechend mit „gutem Mut“ wiedergäbe, entstünde ein Missverständnis, denn in semantischer Hinsicht sind ,mt‘ und ,Mut‘ trotz graphischer Identität nicht bedeutungsgleich. Löws Ansprache an die Herolde „habt gutenMut“ bedeutet ,seid freundlichen Sinnes‘ oder ,seid freundlich gesonnen‘. Das neuhochdeutsche ,Mut‘ wäre missverständlich. Das ist eins der Beispiele von sehr vielen, bei denen ahnungslose Modernisierung zur Verfälschung der Aussage werden kann. Man könnte allenfalls derartige Missverständnisse durch Paraphrasierung und Einfügung der veränderten Bedeutung in den laufenden Text oder durch eine Anmerkung, die die veränderte Semantik erklärt, umgehen, aber damit wird auch der Text zum Tragelaphen. Dieses kleine Beispiel macht deutlich, wie problematisch die Herstellung älterer Lesestoffe für Leser unserer Zeit durch Modernisierung der Graphie der Texte ist.
Zum Schluss dieses Diskussionsbeitrages, der nur ein paar Bagatellen behandeln konnte, ist zu sagen, dass die Diskussion auf jeden Fall weitergeführt werden muss, weil sie für die Editionswissenschaft in ihrer wissenschaftlichen Aufgabe der umfassenden Quellenerschließung älterer Texte grundlegend wichtig ist und weil sie im Hintergrund gravierende Fragen zu mangelhafter akademischer Ausbildung birgt: wer kann diese Texte noch lesen, wenn sich die universitären Lehrprogramme der Ausbildung in Frühneuhochdeutsch, Neulatein und den praktischen Kenntnissen des Textumganges verweigern? Die Internet-Bibliothek wird sinnlos, wenn ihre Texte in Zukunft kaum noch lesemäßig wahrgenommen werden können. Andererseits trägt nichts so sehr zur Korrektur überalterter Vorstellungen bei als die Integration neuer Quellen.
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Winfried Woesler
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4.1.2. Umwandlung der – älteren – Kurrentschrift Kurrentschrift wird wie der Druck behandelt. Der Suspensionsschleife entspricht im modernen Schriftsystem ein Punkt und sollte als solcher wiedergegeben werden. Hinzu kommen neue, auch spezielle Kürzel, die aufgelöst werden sollten: In der Datumsangabe – meist unter den Briefen – das Zeichen vor dem Datum, das als „dem“ oder „den“ aufgelöst werden kann; die verschiedenen Schreibweisen der flektierten Ordnungszahl besonders im Datum werden vereinheitlicht als z. B. 1 ten, 1ter u. ä. Die abgekürzten oder flüchtigen Schreibungen für die Konjunktion „und“ können vereinheitlicht werden. Undeutliche Schreibungen, Verschleifungen, die eindeutig aufgelöst werden können, werden recte aufgelöst, wo sie nicht eindeutig aufgelöst werden können, werden sie als fraglich gekennzeichnet: „W“. Großgeschriebene Minuskeln werden als Majuskeln behandelt, in Zweifelsfällen wird in Richtung der modernen Orthographie entschieden. Da das anlautende D oder d des Personal- oder Possessivpronomens „Du“, „Dein“, zum Beispiel in Briefen oft nicht eindeutig zu unterscheiden sind, kann eine generalisierende Vorbemerkung auf eine mögliche Vereinheitlichung hinweisen. Der folgende Beitrag von Ulrike Leuschner zeigt, dass auch bei anspruchsvollen Editionen im Bereich der Kurrentschrift normalisierende Regeln notwendig sind. 4.2. Die Liebesbriefe zwischen Henriette von der Malsburg und Georg Ernst von und zu Gilsa (Ulrike Leuschner) Der kleine Bestand wechselseitiger Liebesbriefe, dessen Edition mir übertragen wurde, tauchte 2007 in einem der Stammschlösser der nordhessischen Adelsfamilie Gilsa im gleichnamigen Dorf auf. Bevor auf die Probleme der Normierung eingegangen wird, sei kurz der historische Hintergrund erhellt. Der größere Teil der bei Aufräumarbeiten in der Bibliothek entdeckten Manuskripte war für die Historiker des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde von großem Interesse: das Tagebuch Georg Ernst von und zu Gilsas (1748�1767), das nahezu lückenlos die Ereignisse von 1754, dem Jahr seines Eintritts in den Kasseler Militärdienst im Alter von 14 Jahren, bis wenige Monate vor seinem Tod 1798 festhält, und ein großes Konvolut von Briefen, darunter viele, die ihm seine Offiziersfreunde aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gesandt hatten. Da Gilsa im Siebenjährigen Krieg den linken Arm verloren hatte, konnte er an dem Einsatz der hessischen Subsidientruppen nicht teilnehmen, absolvierte ersatzweise ein Studium in Herborn und Marburg und trat in die Verwaltungsdienste der Landgrafschaft HessenCassel. Das Tagebuch und die Briefe wurden bald nach der Entdeckung der Autogra-
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phen am Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde ediert,64 die Liebesbriefe lagen außerhalb des historischen Forschungsinteresses der Historiker. Während des Studiums in Marburg lernte Gilsa Henriette von der Malsburg (17401798), die Tochter des dortigen Festungskommandanten, kennen. Der schriftliche Austausch setzt am 16. August 1765 ein, als Gilsa sich auf seinem Familiengut aufhielt. Schon die ersten Briefe zeugen von großer gegenseitiger Sympathie, die sich bald zu leidenschaftlicher Liebe steigerte. Standesgrenzen standen ihrer Verbindung nicht im Wege, Ende Mai 1766 verlobten sie sich. Viele kurze Nachrichten gingen innerhalb Marburgs von Haus zu Haus, während einiger Reisen Gilsas und Henriette von der Malsburgs längerem Aufenthalt bei Verwandten in Escheberg im Sommer 1766 ergaben sich längere Schreiben. Nach der Hochzeit in Gilsa am 31. Dezember 1766 lebte das Paar auf dem dortigen Gut. Da Georg Ernst in Kassel seinen Dienst versehen musste, wechselten sie bis Oktober 1767 weiterhin Briefe. Durch die ungewohnten Aufgaben, die Henriette als Gutsherrin während seiner Abwesenheit zu übernehmen lernt, durch die ausführlichen Erzählungen aus der Kasseler Gesellschaft, mit denen Georg Ernst ihr die Trennung erträglich macht, illustrieren die Briefe den Alltag des hessischen Adels in Stadt und Land über ein Zeitraum von zehn Monaten. Anfang November konnte Georg Ernst einen längeren Urlaub erwirken, am 5. Dezember 1767 starb Henriette im Wochenbett. Der besondere Wert der Liebesbriefe liegt in der Geschlossenheit des Bestandes, der die Annäherung durch erste Liebesbriefe, die Braut- und die Ehezeit umfasst. Bei einer Gesamtzahl von 134 Schreiben unterschiedlichen Umfangs sind nur wenige rekonstruierbare Verluste auszumachen. Erhalten hat sich damit ein seltenes, vermutlich singuläres Dokument der Gefühlskultur aus der Mitte des 18. Jahrhunderts: Für ihre große Liebe, für ihre lustvoll erlebte Sexualität finden die beiden eine Sprache; auch die Begleiterscheinungen der Schwangerschaft werden in aller Offenheit angesprochen. Die literaturwissenschaftlichen Leitfragen richten sich auf die Besonderheiten des epistolarischen Stils wie auf die literarischen Muster, die in den beiderseitigen Briefen und den Briefbeilagen des jungen Mannes aufgegriffen werden. 2011 hatte ich bei einer von Renate Stauf und Jörg Paulus an der Technischen Universität Braunschweig durchgeführten der Tagung „SchreibLust“ eine erste Gelegenheit, den außerordentlichen Bestand vorzustellen.65 Die in der Aufsatzform des Vortrags eingebrachten Zitate befinden sich editorisch in einem vorläufigen Zustand. Für eine nach editionsphilologischen Standards durchgeführte Herausgabe des Gesamtbestandes aber ergeben sich spezielle Probleme. Erscheinen soll das Buch in der Publi–––––––—
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Holger Th. Gräf, Lena Haunert, Christoph Kampmann (Hg.): Adliges Leben am Ausgang des Ancien Régime. Die Tagebuchaufzeichnungen (1754–1798) des Georg Ernst von und zu Gilsa. Marburg 2010 (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte herausgegeben vom Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Bd. 26); Dies. (Hg.): Krieg in Amerika und Aufklärung in Hessen. Die Privatbriefe (1772–1784) an Georg Ernst von und zu Gilsa. Marburg 2010 (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte herausgegeben vom Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Bd. 27). Ulrike Leuschner: „[…] ein gar zu kostbares pfand“. Modulationen der Zärtlichkeit in den Liebesbriefen des Georg Ernst von und zu Gilsa und der Henriette von der Malsburg. In: Renate Stauf, Jörg Paulus (Hg.): SchreibLust. Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin, Boston 2013, S. 99–116.
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kationsreihe des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde, bewegt sich also im historischen Terrain. Das hat Konsequenzen. Die Archivschule Marburg hat für den Fachbereich „Historische Hilfswissenschaften“ Regeln erlassen,66 die mit denen der neugermanistischen Editionsphilologie nicht immer konvenieren. So werden „Satzanfänge, Namen und alle Bezeichnungen für Gott […] stets groß“, „alle übrigen lateinischen Worte unabhängig von der Entstehungszeit der Texte klein geschrieben“,67 Punkte nach Ordnungszahlen „stillschweigend ergänzt“,68 „Kürzungen und Zerschreibungen […] stillschweigend“ aufgelöst,69 für Streichungen und Verschreibungen, Einfügungen und Korrekturen immerhin ist ein textkritischer Apparat zugelassen.70 Meine Einwände, dass angesichts der individuellen Eigenheiten der Briefe damit den Prinzipien neugermanistischer Editionsphilologie nicht Genüge getan werde, wurden jedoch zugelassen: Die Edition wird strengere Richtlinien befolgen. Ein Hauptproblem bilden die Schreibgewohnheiten Georg Ernst von und zu Gilsas: Während Henriette von der Malsburg weitgehend regelgerecht schreibt, verfährt Gilsa absolut willkürlich. Eine Erklärung findet sich in seiner Erziehung, die nach den adligen Gewohnheiten der Zeit der französischen Kultur verhaftet war. Im Manuskript erhalten hat sich eine Art Briefsteller des fünfzehnjährigen Gilsa, Recueil / De toutes Sortes der lettres francoises et / Allemagne Commeaussi des nouvelle / ans, Obligations, assignation, quittances, / Congé, attestation, Passeport / Appartient a moi / George Ernest de Gilsa / Gilsa Le 10me Juillet L’anneè 1755 / Livre 1re,71 der diese Sozialisation im Detail belegt.72 Der literarisch interessierte Georg Ernst von Gilsa trug im Lauf seines Lebens eine umfangreiche Bibliothek zusammen, zu der er selbst ein Verzeichnis von über 800 Titeln anlegte. Untypisch für eine adelige Bibliothek im 18. Jahrhundert,73 enthält Gilsas Büchersammlung größtenteils deutschsprachige
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Siehe unter http://www.archivschule.de/DE/ausbildung/transkriptionsrichtlinie/ (16. Juli 2014). Ebd., unter II.2.a und b. Ebd., unter II.3.d. Ebd., unter II. 7 Ebd., unter II.8 und II. 9. „Sammlung von allen Sorten französischer Briefe und deutscher wie auch Neujahrsschreiben, Schuldverschreibungen, Erbbestimmungen, Quittungen, Urlaub, Bescheinigung, Passeport gehört mir Georg Ernest de Gilsa den 10. Juli 1755. Erstes Buch.“ Manuskript im Familienbesitz; vgl. Jochen Schäfer: Adeliger Buchbesitz in der Zeit des bürgerlichen Wandels. Die Bibliothek von Georg Ernst von und zu Gilsa (1740–1798). In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 67 (2012), S. 19–105, hier S. 56, 72 (Nr. 110). In Gilsas Bibliothek befand sich zudem die Musterbriefsammlung von Pierre Richelet, Les plus belles Lettres françoises sur toutes sortes de sujets, Teil 1, Den Haag 1699 (vgl. Schäfer, S. 68 [Nr. 13]), aber mit Christian Junckers Wohlunterwiesenem Briefsteller, zum Gebrauch der Jugend auf Gymnasien, Leipzig [1708] (vgl. ebd., S. 40 und 89 [Nr. 477] auch ein Lehrbuch, dem, sollte es ihm schon während der Schulzeit zur Hand gewesen sein, die Regeln der deutschen Sprache zu entnehmen gewesen wären. Aus späteren Jahren ist als prominentestes Beispiel die Deutsche Sprachlehre für die Damen. In Briefen, Berlin 1782, von Karl Philipp Moritz zu nennen (vgl. ebd., S. 70 [Nr. 48]). Das „typische Profil einer deutschen adeligen Privatbibliothek im 18. Jahrhundert“ weist einen „verschwindend geringe[n] Anteil der deutschen Literatur“ und einen „fast ausschließliche[n] Bestandteil französischer Literatur“ auf; Walter Erhart: Von Warthausen nach Kozel. Die Bibliothek des Friedrich Grafen von Stadion, in: Euphorion 86 (1992) H. 2, 131–147, hier S. 138.
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Werke, mit 218 Titeln das größte Fachgebiet bildet die Belletristik.74 Bei der Titelaufnahme war er sichtlich um zeichengetreue Wiedergabe bemüht. Auf seine übrige Rechtschreibung hatte die Lektüre deutscher Werke offensichtlich keinen Einfluss. In den 1760er Jahre waren Gilsa – was für diese Zeit in Briefen nicht ungewöhnlich ist – Regeln der Groß/Kleinschreibung im Deutschen nicht geläufig. Ganz unbekannt scheint ihm die Konvention nicht zu sein, doch behandelt er sie unmotiviert. Auch bei Abschriften und Nachdichtungen aus Werken Albrecht von Hallers, Friedrich Rudolf Ludwig von Canitz’, Johann Ulrich von Königs und Ewald von Kleists verfährt er völlig sorglos. Hinzu kommt, dass Gilsas Schreibung einiger Buchstaben individuelle Eigenheiten aufweist. So erscheint das B im Anlaut unabhängig von der Wortart als Majuskel, mit einer Schlaufe links unten und hochgezogenem offenem Bogen. Im Wortinneren hat es die gewöhnliche Form des kleinen b der Kurrentschrift, kommt aber auch, zumindest der Größe nach, als Binnenmajuskel vor. Z im Anlaut ist auch bei kleinzuschreibenden Wörtern überwiegend mit einem Graphem wiedergegeben, das sich sowohl in der Ausprägung als auch in der Schriftgröße als Majuskel darstellt; gelegentlich doch auftauchende kleine z-Grapheme machen den Unterschied deutlich. Ähnlich verhält es sich beim G, wenn auch nicht in so großer Häufung. Während beim W Groß- und Kleinschreibung in Ausprägung und Größe erkennbar variiert, wieder ohne Rücksicht auf die Wortarten, kommt das graphisch ähnliche V auch im Wortinneren nur in vergrößerter Form vor. Das D dagegen erscheint auch am Satzanfang meist in Minuskelform, mit hochgezogener Verbindung zum nachfolgenden Buchstaben. Das aus diesen Besonderheiten resultierende unruhige Schriftbild betont so reizvoll die Individualität des Schreibers, dass es erhalten bleiben sollte. Ob dies auch noch für den Gebrauch der Binnenmajuskeln gilt oder ob hier im Interesse einer ungestörten Lektüre eine Normierung angebracht wäre, verlangt eine editorische Entscheidung. Eine vergleichbare Entscheidung hatte Regina Nörtemann bei der Herausgabe des Briefwechsels zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim zu treffen. In den Fällen, in denen in der Kurrentschrift nur ein Graphem für Majuskelwie Minuskelwiedergabe eines Buchstabens auftrat, glich sie in der Transkription die Zeichen wortartengetreu an; sind beide Zeichen vorhanden, folgte sie zeichengetreu der Handschrift.75 Dieses Modell einer moderaten, begründeten Normalisierung könnte auch für die Gilsa-Briefe brauchbar sein. Der Editorische Bericht sollte in jedem Fall in der hier probeweise vorgelegten Form summarisch die Probleme und die daraus resultierenden Entscheidungen beschreiben. Abbildungen einiger Handschriftenseiten könnten zusätzlich die Vorgehensweise plausibel machen.
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Dies allerdings hat Gilsas Bibliothek mit den üblichen Adelsbibliotheken gemein; vgl. ebd. – In Gilsas Bibliothek sind unter den Werken der Schönen Literatur nur zwei englische und neun französische; vgl. Schäfer (Anm. 8), S. 48. Regina Nörtemann (Hg.): „Mein Bruder in Apoll“. Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Bd. 1: Briefwechsel 1761–1768. Göttingen 1996, S. 512.
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4.3. Historische Orthographie im Kontext von Textualität, Materialität und Medialität (Wolfgang Lukas) Auf den ersten Blick mag die Neuauflage der Diskussion um die Frage der Bewahrung oder Normalisierung historischer Orthographie in literarischen Werkeditionen etwas überraschen: ist denn in den Stellungnahmen für oder wider eine Normalisierung, die in einschlägigen Artikeln der letzten 30 Jahre vorgetragen wurden, nicht schon alles gesagt worden? 76 Die folgenden knappen Überlegungen wollen in dieser Kontroverse keine Position Für oder Wider beziehen, sondern beschränken sich darauf, einige argumentative Begründungen zu hinterfragen, und machen einen Vorschlag für eine pragmatische Neuverortung der Diskussion. 4.3.1. Der Textbegriff als Prämisse Im Zuge der in den letzten Jahrzehnten vorgenommenen Erweiterung des traditionellen Textbegriffs um dessen materielle und mediale Dimensionen wurden immer mehr Aspekte jenseits des bloßen ‚linguistischen Textes‘77 – u. a. bestimmte non- bzw. paraverbale Merkmale des überlieferten historischen Dokuments – als potentiell bedeutungstragend, d.h. als integraler Bestandteil des Werks (bzw. hier: des Texts im erweiterten Sinn) ‚entdeckt‘, die somit in einer (historisch-kritischen) Edition zu berücksichtigen sind. Stellvertretend sei hier nur die Diskussion über die Semantik der Typographie genannt, 78 die bis zur Forderung nach der Unterscheidung typographischer –––––––—
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Siehe vor allem: Norbert Oellers: Angleichung, Normalisierung, Restitution. Die Editio hybrida als Schicksal der deutschen Klassiker? In: ZfdPh, 101. Bd., 1982, Sonderheft: Probleme neugermanistischer Edition, S. 29–42; Winfried Woesler: Die Normalisierung historischer Orthographie als wissenschaftliche Aufgabe. In: ZfdPh, 105. Bd., 1986, Sonderheft: Editionsprobleme der Literaturwissenschaft, S. 69–83; Hans Zeller: Wem nützt die Modernisierung der historischen Orthographie in unsern Klassiker-Ausgaben? In: editio 4, 1990, S. 44–56; Gunter Martens: Der wohlfeile Goethe. Überlegungen zur textphilologischen Grundlegung von Leseausgaben. In: Edition als Wissenschaft. Hg. G.M. und W. Woesler. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio. 2), S. 72–91. Vgl. zur Dichotomie „linguistic vs. material text“ Peter Shillingsburg: Resisting Texts. Authority and Submission in Constructions of Meaning. Ann Arbor 1997, S. 101–103. Siehe etwa Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 69); Rüdiger Nutt-Kofoth: Text lesen – Text sehen: Edition und Typographie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78, 2004, S. 3–19; Text. Kritische Beiträge, Heft 11, 2006: Edition & Typographie, darin: Thomas Rahn: Druckschrift und Charakter. Die Semantik der Schrift im typographischen Fachdiskurs und in der Textinszenierung der Schriftproben, S. 1–31; Rainer Falk: Literatur aus dem Winkelhaken. Zur literatur- und editionswissenschaftlichen Bedeutung der Typographie, S. 33–53; Roland Reuß: Spielräume des Zufälligen. Zum Verhältnis von Edition und Typographie, S. 55–100; Stephan Kurz: Jean Paul: Fibel und Stefan George. Anmerkungen zu Typographie und Edition, S. 101–124; ferner Thomas Rahn: Werkschriften. Gestalten des Textes in der Edition. In: Ästhetische Erfahrung und Edition. Hg. von Rainer Falk und Gert Mattenklott. Tübingen 2007 (Beihefte zu editio. 27), S. 233–258; Annika Rockenberger, Per Röcken: Vom Offensichtlichen. Über Typographie und Edition am Beispiel barocker Drucküberlieferung (Grimmelshausens Simplicissimus). In: editio 23, 2009, S. 21–45; Dies.: Typographie als Paratext? Anmerkungen zu einer terminologischen Konfusion. In: Poetica 41, 2009, S. 293–330; Text – Material – Medium. Hg. von Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth und Madleen Podewski. Berlin 2014 (Beihefte zu editio, 37), darin bes.: Thomas Rahn: Gestörte Texte. Detailtypographische Interpretamente und Edition, S. 149–172.
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Werkfassungen geführt hat. 79 Die in der – semiotisch orientierten – interpretierenden Literaturwissenschaft längst aufgehobene traditionelle Dichotomie ‚Inhalt‘ vs. ‚Form‘ wurde somit auch in der Editionswissenschaft geschleift: sie besitzt keinerlei ontologischen Status mehr, denn auch die ‚Form‘ transportiert ihrerseits einen ‚Inhalt‘. Die Bedeutung resultiert dabei allerdings stets aus den historischen semiotischen Codes und darf nicht etwa an die Intentionalität eines auktorialen Subjekts – etwa den künstlerischen (z. B. typographischen) Gestaltungswillen des Autors – gebunden werden. 80 Ein gegebenes literarisches Werk, das (re-)ediert werden soll, bildet demzufolge zusammen mit dem historischen Dokument, in dem es überliefert ist und das als Basis der Textkonstitution fungiert – also etwa ein Erstdruck – ein hochkomplexes semiotisches System, in dem ‚Text‘, ‚Dokument‘ und ‚Medium‘ eine (potentiell) bedeutungstragende Gesamteinheit repräsentieren. Das Werk besteht in diesem Sinne nicht nur aus dem puren, d. h. abstrakten und immateriellen Text – d. h. einer Menge bestimmter Wörter in einer bestimmten linearen Abfolge –, sondern darüber hinaus auch in dessen Struktur – der gattungs- bzw. genrespezifischen Gliederung in bestimmte, als Sinneinheiten fungierende Segmente (wie Absätze, Kapitel, Akte und Szenen, Strophen und Verse etc.) – sowie in der äußeren Gestalt, in der sich dieser segmentierte Text präsentiert. Letztere umfasst wiederum verschiedene Aspekte wie eine bestimmte Graphie der Signifikanten, deren materielle Realisation in einer bestimmten Typographie und schließlich die räumliche Anordnung und Verteilung der Zeichen in einem bestimmten Layout. Letzteres kann u. U. mediengebunden auftreten (etwa Buchvs. Zeitschriftendruck). Jede Reedition, ob bewusst oder nicht bewusst, trifft notwendig eine Auswahl aus der Fülle dieser textuellen, materiellen und medialen Parameter, die sie für ihre Zwecke als relevant (somit als zu edieren bzw. zu dokumentieren) setzt und situiert sich damit auf der Skala zwischen den beiden Polen maximaler Textualitäts- und Rezipientenorientierung, verbunden mit einer Normalisierungspraxis (Vereinheitlichung und Modernisierung), zum einen und maximaler Materialitäts/Medialitäts- und Dokumentorientierung, verbunden mit dem weitgehenden Verzicht auf Normalisierung, zum anderen.81 Sie tut dies in Funktion des jeweils zugrundegelegten Textbegriffs und, in Korrelation hiermit, des intendierten Ausgabetyps (diplomatisch, semidiplomatisch, normalisierend etc.).82 Die Frage nach dem Umgang mit der vorgegebenen historischen Orthographie situiert sich genau in diesem Kontext und lässt sich als Frage reformulieren, wie weit der ‚Text‘ zu fassen sei: gehört seine äußere, in diesem Fall graphische Gestalt, mit dazu, und ist diese somit als potentiell bedeutungstragend mitzuedieren? Während Bodmer und Breitinger in ihrer ersten historisch-kritischen neuphilologischen Edition avant la lettre (Martin Opitzens von Boberfeld Gedichte. Erster Theil. Zürich 1745) auf der –––––––— 79 80 81 82
Siehe Rahn 2014 (Anm. 78). So hingegen Reuß 2006 (Anm. 74). Deshalb ist auch die Frage, wer eine gegebene Orthographie in letzter Instanz verantwortet (Autor? Setzer? Verleger?), eigentlich irrelevant. Vgl. Klaus Hurlebusch: Divergenzen des Schreibens vom Lesen. Besonderheiten der Tagebuch- und Briefedition. In: editio 9, 1995, S. 18–36, hier S. 18–21. Vgl. auch M.J. Driscoll zur Unterscheidung verschiedener Transkriptionsniveaus (bei Manuskripten): Levels of Transcription. In: Electronic Textual Editing. Hg. von Lou Burnard, Katherine O’Brien O’Keeffe und John Unsworth. New York 2006, S. 254–261.
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Basis eines ästhetisch normativen Ansatzes die Orthographie ganz selbstverständlich modernisierten, da diese ihrem Urteil nach zu „den Sachen der Natur“ gehöre, d. h. nicht Bestandteil des künstlerischen Werkes sei,83 und während noch Franz Muncker im Vorwort zu Bd. 1 der 3. Auflage von Lachmanns Lessings (1886) beteuert, „[n]ur wirkliche Varianten [seien] angemerkt, nicht aber gleichgültige Unterschiede der Interpunction oder Orthographie, […]“, hat sich heute zumindest für historisch-kritische Ansprüche die Bewahrung der historischen Orthographie als weitgehend selbstverständlich durchgesetzt.84 Im vorliegenden Kontext interessiert primär die Legitimation, die beide Positionen für ihre Praxis anführen: sie war und ist nämlich nach wie vor jeweils mit einem Postulat von (In-)Signifikanz verbunden. So liegt der weithin praktizierten ‚behutsamen Modernisierung‘, die historisierende Hybrideditionen herstellt,85 eben die (phonozentristische) Annahme zugrunde, dass nur die auch hörbaren Differenzen relevant seien; dagegen wurde argumentiert, dass umgekehrt auch die bloß graphisch-visuelle Abweichung durchaus bedeutungstragend sein könne.86 Aus dem oben Gesagten resultiert, dass das Insignifikanzpostulat als Rechtfertigung für eine Normalisierungspraxis, zumindest im Bereich der Orthographie,87 nicht taugt. Denn jede Normalisierung (Vereinheitlichung oder Modernisierung) geht notwendig mit einem Bedeutungsverlust einher. Es gibt hier keine ‚sinnneutralen Eingriffe‘ (bzw. eben nur unter der Prämisse eines reduktionistischen Textbegriffs). Auch da, wo wir – zumindest im Augenblick, was sich freilich ändern kann! – keine primäre Bedeutungsdifferenz zu erkennen vermögen und daher von „Restbereiche[n]“ semantischer Irrelevanz ausgehen,88 konnotieren diese Schreibungen auf sekundärer Ebene immer auch ihre eigene Historizität. 4.3.2. Für eine pragmatische Neuverortung der Diskussion Folgt aus dem bisher Gesagten, dass eine Normalisierung der historischen Orthographie somit doch unter allen Umständen zu verwerfen ist? Keineswegs. Ich möchte hier vielmehr für eine bewusste und illusionslose Haltung plädieren: anstatt unhaltbare Behauptungen über die angebliche Insignifikanz bestimmter orthographischer Schreibungen aufzustellen, sollte der notwendig einhergehende Bedeutungsverlust prinzipiell bejaht und die Arbitrarität und historische Bedingtheit des als romantisches Erbe überkommenen Primats der Phonie über die Graphie erkannt werden. Jede Reedition kann – und sollte – sich diesbezüglich auf der erwähnten Skala der ‚Originaltreue‘ bzw. ‚Authentizität‘ explizit positionieren und den Grad des jeweils von ihr gezielt in Kauf genommenen Bedeutungsverlustes affirmativ benennen. Damit wird –––––––— 83 84 85 86 87
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Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger: Vorrede. In: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005, S. 1–6, hier S. 5. Franz Muncker: Vorrede [zu Bd. 1 der 3. Auflage von Karl Lachmanns Lessing-Ausgabe] 1886. In: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition (Anm. 83), S. 36–47, hier S. 39. Oellers 1982 (Anm. 72). So z.B. Zeller am Beispiel ‚Eltern‘ vs. ‚Aeltern‘: Zeller 1990 (Anm. 72), S. 52. Damit wird natürlich nicht behauptet, dass es im Bereich der materiellen Parameter nicht auch kontingente und akzidentelle, somit bedeutungslose Phänomene geben könne: vgl. etwa Reuß 2006 (Anm. 74) am Beispiel des Zeilenfalls in gedruckten Prosawerken. So Zeller bzgl. der „th-, ey- und -niß-Schreibungen“: Zeller 1990 (Anm. 72), S. 55.
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der Blick frei auf die pragmatischen Funktionen oder ‚Zwänge‘, denen Normalisierung überhaupt dienen soll bzw. kann. Denn jede Reedition eines historischen Werks stellt immer auch einen Akt der kulturellen Adaption und Aneignung dar; dies gilt a fortiori natürlich für jedwede Normalisierung. Kulturelle Adaption reduziert die historische Fremdheit und Differenz, mit dem Ziel, das betreffende Werk leichter rezipierbar zu machen – freilich um den Preis der Reduktion von (historischer) Erkenntnis, für die ihrerseits Fremdheit eine unerlässliche Voraussetzung ist. 89 Beides ist nicht im gleichen Maße zu haben. Auch hier gilt es, eine bewusste Abwägung vorzunehmen, wieviel an Assimilation und wieviel an Fremdheit zu welchem Zweck gewünscht wird. Als Kriterien fungieren üblicherweise u.a. die Frage nach dem jeweiligen kanonischen Rang eines Werks – Kanonizität und Normalisierungsdruck gehen hier in der Regel direkt proportional – sowie der jeweilige Grad der Fremdheit, der zwischen der fremden und der aneignenden Kultur besteht. Im Falle der Auslandsgermanistik, in der Sprach- und Literaturunterricht in aller Regel zusammenfallen und wo Literaturvermittlung ganz unmittelbar dem Spracherwerb dient, erscheint eine Normalisierung sinnvoll.90 Doch nicht nur der ausländischen Kultur, auch ‚der (eigenen) Jugend zuliebe‘ wird Normalisierung praktiziert, wie das Phänomen der Editionen für Schüler belegt.91 Die „volle Historizität“ eines literarischen Werks sei, so wurde argumentiert, allenfalls Studenten, nicht indes Schülern zumutbar, denen sie nur ansatzweise und in einem langfristigen Lernprozess nahegebracht werden könne.92 Bedenkt man die Tatsache, dass Fremd- und Muttersprachenunterricht sich absehbar wohl nur mehr graduell voneinander unterscheiden werden, wird man dieser Maxime unbedingt zustimmen wollen. Der Versuch, den bestehenden Wildwuchs heterogenster Normalisierungspraktiken zu regulieren, indem präzise und detaillierte Vorschläge formuliert werden, ist die eine, ohne jeden Zweifel sinnvolle und höchst verdienstvolle Reaktion auf diese Situation. Andererseits darf aber vielleicht auch grundsätzlich gefragt werden, ob die Frage nach der zumutbaren Fremdheit nicht manchmal zu restriktiv und damit vorschnell negativ beantwortet wird. Die pädagogische Antwort kann nämlich auch die Form einer entmündigenden Schonhaltung annehmen. So bietet die in der Schule vielbeklagte aktuelle Koexistenz verschiedener praktizierter orthographischer Systeme – alte, neue, Schweizer Rechtschreibung und diverse Verlags- und Redaktionsorthographien – z. B. auch die große Chance, sich der Relativität und historischen Wandelbarkeit nicht nur der einzelnen historische Graphien, sondern darüber hinaus auch unseres Normierungsbedürfnisses als solchem bewusst zu werden. Vergessen wir nicht, dass dieses überhaupt erst jüngeren historischen Datums ist! Eine Rückkehr zu pränormativen Zeiten ist zwar nicht möglich, gleichwohl würde ich mir ein Stück von vormoderner Haltung für uns zurückwünschen: damit würde Orthographie wieder zu etwas Kon–––––––—
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Vgl. Oellers 1982 (Anm. 1), S. 33, Zeller 1990 (Anm. 72), S. 54f. Siehe die von Winfried Woesler zusammen mit Yuan Gao und Yang Yang besorgte Ausgabe von Goethes Iphigenie: Iphigenie auf Tauris. Studienausgabe mit chinesischer Übersetzung und Erläuterungen. Berlin u. a. 2014. Zur Diskussion: Der Jugend zuliebe? Literarische Texte, für die Schule verändert. Hg. von Peter Eisenberg. Göttingen 2010. So Christine Ruhrberg: Sägen am Stuhl des „Thronfolgers“. Zur orthographischen Modernisierung von Klassiker-Ausgaben des Reclam-Verlags. In: editio 23, 2009, S. 147–158, hier S. 149–151.
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tingentem, Äußerlichem – freilich im ganz anderen Sinn, nicht mehr in Bezug auf den historischen Text, dessen integraler Bestandteil sie ist, vielmehr nun in Bezug auf uns als aktive Kulturteilnehmer und Benutzer dieser Sprache.
5. Ausblick Diese „statements“ haben weniger aus der Theorie als aus der Praxis gewonnene Erfahrungen und Empfehlungen beim Normalisieren und Modernisieren von historischen Schreibweisen gesammelt. Die Probleme sind vielfältiger, als es zunächst den Anschein hatte, und sollten eher noch mehr epochenspezifisch angegangen werden. Es wäre wünschenswert, in absehbarer Zukunft eine eigene Spezialisten-Tagung zum Thema ,Normalisierung‘ zu organisieren. Weitere Berichte mit Beispielen aus der praktischen Arbeit sollten hinzukommen, sodass aus der größeren Sammlung dann Empfehlungen oder eine Systematisierung erwachsen könnten.