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German Pages [337] Year 2022
Andersheit – Fremdheit – Ungleichheit Erfahrungen von Disparatheit in der deutschsprachigen Literatur
Band 10
Herausgegeben von Paweł Zimniak und Renata Dampc-Jarosz
Andrey Kotin
Vladimir Nabokovs Eigenwelt Deutsche Bezugsfelder einer russischen Künstlerexistenz
Mit 7 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Zielona Góra. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Vladimir Nabokovs Eigenwelt. Coverabbildung von Paweł Maruszewski. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2699-7487 ISBN 978-3-7370-1456-4
Meinen Eltern
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der diskrete Charme der Verfremdung – Berlin als Handlungsraum in Nabokovs russischsprachiger Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Asyl- und Heimatreflexion im ›russischen Berlin‹ der ersten Emigrationswelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Sonderfall Nabokov – Fluch und Segen der Heimatlosigkeit . 1.3 Zeit vs. Raum – Zur Poetik des Vergangenen in Nabokovs Emigrantenprosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Van Vins Zeitphilosophie in Ada oder das Verlangen . . . . 1.3.2 Maschenka oder Die gezähmte Nostalgie . . . . . . . . . . . 1.3.3 Stadtführer Berlin – Die Poetik der Raumbemächtigung . . 1.3.4 Die Gabe oder Berlin als ›seltsamer‹ Ort der Wiedergeburt der russischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Banalität des Bösen und das Böse der Banalität – Vladimir Nabokov und Hannah Arendt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Nabokovs ›philosophische Antikrimis‹ . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Das blinde Dreieck in König Dame Bube und Gelächter im Dunkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Die Verzweiflung des Scheinkünstlers – Verbrechen als ästhetischer Fehlgriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Philosophie des Bösen und das Bild der totalitären Gesellschaft bei Vladimir Nabokov und Hannah Arendt . . . . 2.2.1 Das Konzept des Bösen im christlich-abendländischen Gedankengut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Hannah Arendts und Vladimir Nabokovs Visionen des Individuellen und Kollektiven – Der keimende Totalitarismus in Wolke, Burg, See . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
2.2.3 Literatur und Philosophie vs. Staat und Diktatur in Das Bastardzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Hannah Arendts und Vladimir Nabokovs Visionen des Totalitären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Das erzählte Unaussprechliche – Nabokov und die deutsche Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Durchsichtigkeit des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Das Problem des ›Romantischen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Die (neu)romantische Wortkunst zwischen Sprachmagie und Sprachskepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 ›Schacheinsamkeit‹ – Lushins Verteidigung als neuromantisches Schauermärchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Das Motiv der Wasserfrau bei Nabokov und in der deutschen romantischen Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Lilith, Lolita, Lenore – Nabokovs Mädchenfrauen zwischen Dies- und Jenseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Humanisierung des Nymphenmythos – Friedrich de la Motte Fouqués Undine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Lolita und Undine – Zusammenfassender Vergleich . . . . .
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Vladmir Nabokovs (Lebens)Kunst zwischen Idealismus und Weltbürgertum – Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vladimir Nabokovs Texte und Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . .
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4 Einladung zum Prozess – Vladimir Nabokov und Franz Kafka . . . . 4.1 Der Verhaftete und das Gesetz – Zu strukturellen und narrativen Besonderheiten von Vladimir Nabokovs Einladung zur Enthauptung und Franz Kafkas Der Prozess . . . . . . . . . . . . 4.2 Josef K. und Cincinnatus C. – Zu philosophischen und metaphysischen Unterschieden beider Romane . . . . . . . . . . 4.3 Individuum und Persona – Das erzählte Ich bei Nabokov und Kafka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Wissenschaftliche und publizistische Texte über Nabokov (+ eine Videovorlesung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftliche und publizistische Texte zu anderen Themen . Zitate aus der Bibel und Weltliteratur . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Informationen, Presseberichte u. Ä. . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, die wechselhaften, in diverse Kontexte eingebetteten Zusammenhänge, Konfliktsituationen sowie gegenseitige Einflüsse zwischen dem Schriftsteller Vladimir Nabokov und Deutschland als soziokulturellem Raum zu beleuchten. Das Biographische an sich spielt dabei nur eine geringe Rolle, da diese Thematik mehrmals besprochen und reichlich erforscht wurde.1 Das Anliegen besteht hingegen darin, aus der Gesamtheit der deutschen Kultur diejenigen Blickwinkel zu wählen, welche in der Verknüpfung mit Nabokovs Texten neue – interdisziplinäre und transkulturelle – Denkrichtungen eröffnen. Der 1899 in Sankt Petersburg geborene Vladimir Nabokov ist kurz nach dem Ausbruch der Oktoberrevolution mit seinen Eltern und Geschwistern vor der bolschewistischen Regierung nach Europa geflohen, und so blieb der bittersüße Vertreibungsschatten auch in den späteren amerikanischen und Schweizer Jahren Nabokovs ständiger Begleiter. Sein Leben war durch mehrfaches Exil geprägt. Jalta, London, Cambridge, Berlin, Paris, Cornell, Montreux – das sind nur einige Städte, in denen der Schriftsteller etliche Jahre verbracht hat. Er selbst betrachtete dieses ewige Wandern als äußerst inspirierend und plädierte gar für Gleichsetzung von Exil und Kunst.2 Das heißt keineswegs, dass Nabokov seine russische Heimat nicht vermisste. Im Gegenteil: Sein ganzes literarisches Werk ist durch ein enorm intensives, manchmal gar desperates Nostalgiegefühl gekennzeichnet. Es handelt sich dabei aber um keine Nostalgie im üblichen Sinne des Wortes. 1 Genaue Informationen über Nabokovs Leben in Berlin kann man unter anderem folgenden Monographien entnehmen: Urban, Thomas: Vladimir Nabokov – Blaue Abende in Berlin (siehe oben); Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag GmbH 1999; Schlögel, Karl: Das Russische Berlin. Ostbahnhof Europas. München: Pantheon 2007; Jörg, Natalia: Schreiben im Exil – Exil im Schreiben. München–Berlin: Verlag Otto Sagner 2012; Mierau, Fritz: Russen in Berlin 1918–1933. Eine kulturelle Begegnung. Weinheim-Berlin: Quadriga Verlag 1988. 2 https://meduza.io/feature/2015/03/11/ya-gotov-prinyat-lyuboy-rezhim-esli-razum-i-telo-bud ut-svobodny/ letzter Zugriff am 23. 04. 2016.
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Einleitung
Abb. 1: Marmorne Tafel an Nabokovs Geburtshaus (heute Nabokov-Museum) in Sankt Petersburg
Nicht das reale historische Russland war das wahre Objekt seiner reichlich stilisierten und romantisierten Sehnsucht, sondern das verlorene Paradies seiner Kindheit – das Land, wo er die frühesten, glücklichsten Jahre seines Lebens genießen durfte. In der Forschung wird Nabokovs Schaffen in zwei Perioden eingeteilt: die russisch- und die englischsprachige. Die wichtigsten russischsprachigen Texte von Nabokov entstanden hauptsächlich in Berlin, wo er in den Jahren 1922–1937 lebte. Mit der Emigration in die USA begann eine neue Phase in Nabokovs Schaffen, denn seit jener Zeit hat er kein einziges Prosastück auf Russisch verfasst (mit der Ausnahme der selbst erstellten Übersetzung seines englischsprachigen Romans Lolita ins Russische). Insgesamt hat Nabokov siebzehn vollendete Romane geschrieben: neun auf Russisch und acht auf Englisch. Vielleicht wäre er auch bis heute nur ein Geheimtipp-Autor, ein sogenannter ›Schriftsteller für Schriftsteller‹ geblieben, wenn nicht der sensationelle Erfolg seines berühmtesten und berüchtigtsten Werkes, das 1955 im französischen Erotik-Verlag OlympiaPress unter dem Titel Lolita veröffentlicht wurde. Der Roman erfreute sich eines internationalen Ruhmes, wurde mittlerweile wohl in alle Weltsprachen übersetzt und gilt heute als ein unbestrittener Klassiker der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Vladimir Nabokov stieg somit zu einem der bekanntesten und
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bedeutendsten Schriftsteller seiner Epoche auf. Stellt man sich die Frage, wieso ausgerechnet Lolita zu Nabokovs Durchbruch wurde und bis heute sein berühmtester Text bleibt, so wäre die umstrittene Thematik nur eine der Antworten darauf. Darüber hinaus kommt in Lolita wie wohl in keinem anderen Roman von Nabokov eine perfekt ausgewogene Mischung aus erzählerischer Zugänglichkeit und elitärer Intertextualität zum Ausdruck. Allerdings wurzelt dieser wirkungsvolle Form-Inhalt-Einklang in einer repräsentativen Besonderheit von Nabokovs Schreiben. Nabokovs Prosa ist nämlich nicht zuletzt deshalb so einzigartig und inkomparabel, weil sie die zwei Oberkategorien erzählender Texte, die man als handlungs- und ideenorientierte Literatur bezeichnen könnte, auf eine latente, unheimlich komplizierte Weise kombiniert. Beinahe in jedem seiner Romane gibt es eine ziemlich klare, zumindest nacherzählbare und manchmal gar verblüffend einfache Story, die stets um die ewige Liebes- und Todesthematik kreist. Fast in keinem findet man dagegen barockartig gestaltete psychologische Untersuchungsversuche à la Proust, den Nabokov bewunderte, oder lange philosophische Dispute à la Thomas Mann, der für ihn ein »schwafelnder Journalist und ein schludriger Komödiant«3 war. Die wohl einzige Ausnahme scheint die Erzählung Ultima Thule zu sein, deren Hauptteil ein angesichts des gesamten Textumfangs erstaunlich langes metaphysisches Gespräch bildet (obschon die darin enthaltenen Ideen dem Leser kaum bei Entschlüsselung des eigentlichen Rätsels helfen).4 Ansonsten werden solche Themen bei Nabokov selten behandelt. Trotzdem ist er ein zutiefst philosophischer Schriftsteller, und zwar einer der originellsten. Der Grund dafür liegt nicht etwa darin, dass philosophische bzw. metaphysische Fragen Nabokov fernlagen (eher das Gegenteil ist der Fall). Vielmehr geht es darum, dass die handlungs- und die ideenorientierten Ebenen seiner Texte eine parallele Koexistenz führen, ohne auf eine gewohnte Art und Weise verflochten zu sein (etwa mittels kommentierender Passagen oder Dialoge zwischen den Figuren). Koexistenz darf hier jedoch nicht mit willkürlicher Unabhängigkeit gleichgesetzt werden. Das Was der Handlung, das Was der Gesamtaussage und das Wie der Erzählform sind in diesem bis ins kleinste Detail durchdachten Dreieck aufs Engste miteinander verzahnt. Um es mit Jürgen Petersen auszudrücken: Nun existieren ästhetische Ausdrucksformen aber nicht an und für sich, sondern im Verbund mit dem, was man die Aussage, den Gehalt, den eigentlichen Sinn eines poetischen Textes nennen kann. Das ist nicht der »plot«, sondern das Ganze der auf bestimmte ästhetische Weise präsentierten Elemente der Handlung, der Probleme, der 3 Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993, S. 73. 4 Vgl. Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Полное собрание рассказов. (Gesammelte Kurzgeschichten). Moskau: Azbuka 2013, S. 502–527.
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Figurenkonstellationen etc. In einem sprachlichen Kunstwerk sind alle Elemente miteinander funktional verbunden und machen als diese Verbindung das artistische Gebilde aus.5
Diese auch im Allgemeinen aufschlussreiche Feststellung trifft auf Nabokovs Schaffen besonders zu, denn eben dasjenige ästhetisch untermauerte und doch nicht auf bloße Ästhetik reduzierte Ganze, das Petersen dem ›plot‹ zurecht gegenüberstellt, bildet den Kern aller von Nabokov kreierten Erzählwelten. Dennoch wurde seine Prosa relativ spät zum Phänomen der Weltliteratur. Von einigen Ausnahmen abgesehen, sah die Emigrantenkritik des ›russischen Berlin‹ in Nabokov, der damals unter dem märchenhaft-volksrussischen Pseudonym Wladimir Sirin6 publizierte, einen leichtsinnigen Adepten der ›Kunst um der Kunst willen‹ (l’art pour l’art). In der Sowjetunion waren alle seine Bücher strengst verboten. In den USA wurde sein Name, wie gesagt, erst nach der Veröffentlichung von Lolita allgemein bekannt. Ähnlich sah es in Europa aus, wobei man sagen muss, dass Nabokovs frühe Rezeption ausgerechnet in Deutschland einige markante Höhen erlebte. So liest man in Thomas Urbans Vladimir Nabokov – Blaue Abende in Berlin: Mit dem stattlichen Honorar, das ihm der Ullstein-Verlag für die Rechte an der deutschen Ausgabe des Romans König Dame Bube zahlte, finanzierte er eine fünfmonatige Reise nach Südfrankreich, während derer er seine Frau Vera in die Grundlagen der Schmetterlingskunde einwies.7
Bedenkt man die Tatsache, dass es sich dabei um den zweiten Roman des in Berlin lebenden jungen russischen Autors handelt, kann dies, wenigstens in kommerzieller Hinsicht, als Erfolg bezeichnet werden. Das Problem bestand jedoch darin, dass es nicht diejenige Art von Erfolg war, nach der Nabokov strebte. Sich an sein Leben und Schaffen in Berlin erinnernd, erwähnte er einzig die russische Leserschaft, übrigens in einem eher resignierten Ton: Unter den Emigranten waren gute Leser in genügender Zahl, um in Berlin, Paris und anderen Städten die Veröffentlichung russischer Bücher in verhältnismäßig großem Umfang zu gewährleisten; doch da keine dieser Schriften in der Sowjetunion verbreitet werden konnte, hatte das alles in gewisser Weise den Anschein einer hinfälligen Unwirklichkeit.8
5 Petersen, Jürgen H.: Erzählsysteme. Eine Poetik erzählender Texte. Stuttgart; Weimar: Verlag J.B. Metzler 1993, S. 3. 6 Vgl. Swerew, Alexei (Зверев, Алексей): Набоков (Nabokov). Moskau: Молодая Гвардия 2016, S. 98. 7 Urban, Thomas: Vladimir Nabokov – Blaue Abende in Berlin. Berlin: Propyläen Verlag 1999, S. 69. 8 Zitiert nach: ebd., S. 21.
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Desto hinfälliger war die (Un)Wirklichkeit des ›deutschen Berlin‹, in dem sich sowohl Nabokov als auch die meisten russischen Revolutionsflüchtlinge fremd und verloren fühlten. Um es mit Ulrike Goldschweer zu formulieren: »Wer emigriert, überschreitet mit der Ausreise einerseits physisch die Grenzen seines Landes, und erlebt andererseits eine existenzielle Verlust- und damit Grenzerfahrung.«9 Was Nabokov angeht, so konnte bzw. wollte er sich weder an deutsche Realien anpassen noch fand er in den Emigrantenkreisen die ihm verwandte Lebens- und Kunstempfindung. In seiner englischsprachigen Autobiographie Erinnerung, sprich! gibt er zu: Wirft man den Blick zurück, so bemerkt man mit Überraschung, daß diese freien Belletristen im Exil das unfreie Denken in ihrer Heimat nachäfften, indem sie verkündeten, daß es wichtiger wäre, der Vertreter einer Gruppe oder einer Epoche zu sein als ein unabhängiger Schriftsteller.10
Das Verhältnis des jungen Schriftstellers zu Deutschen und Deutschland zeichnete sich durch eine (zu) weit gehende Abneigung aus. Dieter Zimmer – der bedeutendste deutsche Nabokov-Übersetzter – pointierte dies mit folgenden Worten: Es ist nicht leicht für einen Deutschen, über Vladimir Nabokovs Verhältnis zu seinem Land und seinen Landsleuten zu sprechen. Für einen Deutschen, dem Nabokov viel bedeutet, ist es schmerzhaft. Nabokov war kein Mann der lauen Gefühle und der distanzierten, relativierenden, historisierenden Abwägung des Für und Wider. Die Gefühlsbasis seiner Urteile war immer stark polarisiert. Spontan zerfiel für ihn die Welt in zwei Teile: der eine mit einem positiven, der andere mit einem negativen Vorzeichen. […] Es lässt sich nicht übersehen, dass Deutschland und die Deutschen für ihn durchweg auf der Schattenseite rangierten. Gelinde gesagt, mochte er uns einfach nicht, ganz allgemein, und gerade darum konnte sich auch jeder Deutsche höchstpersönlich gemeint fühlen: ungemocht, abgelehnt, verachtet, von vornherein abgeurteilt.11
Darin mag der Grund dafür liegen, warum der multilinguale Weltkulturmensch, der Nabokov zweifelsohne war, während seines 15 Jahre dauernden Berliner Asyls weder die deutsche Sprache erlernt noch Kulturkontakte angeknüpft hat. Sein lebenslanger Sprach-, Denk- und Kulturraum bestand aus drei Teilräumen: Russland, England und Frankreich. Sogar Nabokovs ›amerikanische Odyssee‹ hat daran nicht viel geändert. Zwar schätzte er mehrere in den USA wirkende 9 Goldschweer, Ulrike: Von der Unbehaustheit des Exils. Prekäre Wohnsituationen im Werk Vladimir Nabokovs am Beispiel des Romans Masˇen’ka, 1926. In: Franz, Norbert; Kunow, Rüdiger (Hg.): Kulturelle Mobilitätsformen: Themen – Theorien – Tendenzen. Potsdam: Universitätsverlag 2011, S. 152. 10 Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie. 3. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2005, S. 387–388. 11 http://www.d-e-zimmer.de/PDF/nabokov+deutschland1999.pdf, S. 1 / letzter Zugriff am 25. 04. 2016.
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Autoren sehr hoch: John Updike, J.D. Salinger, John Barth, John Cheever, um nur einige prominente Namen zu nennen. Die meisten Elemente, die als feste Bestandteile des amerikanischen lifestyles anerkannt werden – z. B. alles, was unter den Sammelbegriff ›Popkultur‹ fällt – wurden aber von Nabokov vehement abgelehnt. Mit der beinahe dogmatischen Ablehnung Deutschlands kann sein teilweise distanziertes, generell jedoch ausgesprochen heiteres Verhältnis zu Amerika allerdings kaum verglichen werden. Dabei sollte man natürlich die politisch-historischen Faktoren nicht außer Acht lassen. Nabokovs Ehefrau war Jüdin, und so waren die Beiden gezwungen, zusammen mit ihrem Sohn Deutschland 1937 zu verlassen. Sein homosexueller Bruder Sergei, Lehrer und Dichter, starb im KZ Neuengamme, wo er 1945, vier Monate vor Befreiung, verhungerte. In Deutschland erfreut sich dagegen Nabokovs Werk einer, wenn nicht wachsenden, dann immerhin stabilen Beliebtheit, spätestens seit dessen (Wieder)Entdeckung durch Marcel Reich-Ranicki, der 1960 postulierte: »Man hätte es nicht für möglich gehalten. Da gibt es also in Amerika seit über zwanzig Jahren einen Schriftsteller, der hochinteressante, ja hervorragende Romane schreibt – und wir haben einfach nichts von seiner Existenz gewußt.«12 Man könnte behaupten, Ranickis Bewunderung für Nabokovs Schaffen kennzeichne gerade diejenige Unvoreingenommenheit, die Nabokov in Bezug auf Deutschland fehlte. Ranicki, der sich bekanntlich für die sozial und politisch engagierte Literatur aussprach, erkannte in Nabokov zwar ganz eindeutig den konträren Gegensatz zu derartiger Einstellung, lobte ihn und seine Erzählkunst trotzdem – ja gerade deshalb – über alle Maßen. Das Werk von Nabokov bezeichnet Ranicki treffend als »nicht etwa die Literatur eines Volkes oder einer Epoche, sondern die Literatur schlechthin«13 und stellt würdigend fest: »Nabokov, keiner Schule, keiner Richtung und keiner Gruppe zugehörig, ist einer der hervorragendsten Außenseiter der zeitgenössischen Literatur. Er kann auch schwerlich als Vertreter irgendeiner Nationalliteratur gelten.«14 Daraus resultiert die Bandbreite des analysierten Materials. Während im ersten Kapitel eine Brücke zwischen Nabokovs konfliktbehaftetem Verhältnis zu Deutschland und dem Schicksal der russischen sowie deutschen Hauptfiguren seiner Berliner Romane geschlagen wird, widmet sich das zweite Kapitel der Problematik des Bösen bei Vladimir Nabokov und Hannah Arendt. Den Ausgangspunkt bildet dabei kein nachweisbarer Einfluss, sondern die grundlegende Feststellung, das Böse sei immer banal, welche sowohl in Arendts kontroverser und einflussreicher Reportage Eichmann in Jerusalem als auch in den Romanen 12 Reich-Ranicki, Marcel: Vladimir Nabokov. Aufsätze. Zürich: Ammann Verlag 1995, S. 15. 13 Ebd., S. 14. 14 Ebd., S. 25.
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und Essays von Nabokov zum Ausdruck kommt. Selbstverständlich wird die Banalität des Bösen bei Arendt und Nabokov größtenteils unterschiedlich konzipiert, daher konzentriert sich der Vergleich eher auf die in diesem Zusammenhang entstehenden Divergenzen, obwohl auch einzelne Ähnlichkeiten ans Licht gebracht werden. Ein damit unmittelbar verbundenes Randthema ist auch Nabokovs ›Philosophie des Verbrechens‹, die am Anfang des Kapitels am Beispiel von drei Romanen verdeutlicht wird: König Dame Bube, Camera Obscura (auch als englischsprachige Überarbeitung unter dem Titel Laughter in the Dark bekannt) und Verzweiflung. Das dritte Kapitel verbindet das Böse mit dem Dunklen, um vorerst die (schwarz)romantischen Aspekte in Nabokovs Roman Lushins Verteidigung aufzuspüren. Die Geschichte eines wahnsinnigen bzw. wahnsinnig werdenden Schachspielers korrespondiert nämlich stellenweise mit den schaurig-schönen Erzählwirklichkeiten von Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann. In der zweiten Hälfte des Kapitels wird das Wasserfrauen- bzw. Nymphe(tte)nmotiv bei Nabokov und den deutschen Romantikern verfolgt. Das letzte Kapitel stellt eine vergleichende Analyse von zwei Romanen dar: Vladimir Nabokovs Einladung zur Enthauptung und Franz Kafkas Der Prozess. Die beiden Autoren wurden in der Forschung miteinander mehrmals verglichen.15 Dies nimmt kein Wunder, zumal Kafka zu Nabokovs Lieblingsautoren gehörte (ein absoluter Ausnahmefall unter den deutschsprachigen Schriftstellern) und Die Verwandlung in Nabokovs Vorlesungen über die europäische Literatur erzähltechnisch sowie interpretatorisch gründlich untersucht wurde. Ein präziser, zielorientierter Vergleich von Nabokovs und Kafkas Texten wurde jedoch bisher kaum durchgeführt ( jedenfalls im deutschsprachigen Raum). Diese Lücke versuche ich teilweise zu füllen. Als tertium comparationis gelten dabei strukturelle, narrative und semantische Elemente der untersuchten Romane sowie deren metaphysischer Sinngehalt, vor allem der Unterschied zwischen den Begriffen Individuum und Persona, was einen knappen Exkurs in die orthodoxtheologische Terminologie evoziert. Der Umstand, dass Kafka, streng genommen, kein deutscher, sondern österreichisch-tschechoslowakischer Schriftsteller war, ist im hier besprochenen Kontext nebensächlich. Nabokov, für den weder 15 Vgl. z. B. Engelking, Leszek: Nabokov a Franz Kafka [Nabokov und Franz Kafka]. In: Engelking, Leszek: Chwyt metafizyczny. Vladimir Nabokov – estetyka z sankcja˛ wyz˙szej rzeczywistos´ci. [Der metaphysische Griff. Vladimir Nabokov – Ästhetik mit Sanktion zur höheren Realität]. Łódz´: Wydawnictwo Uniwersytetu Łódzkiego 2011, S. 203–215; De La Durantaye, Leland: Kafka’s Reality and Nabokov’s Fantasy: On Dwarfs, Saints, Beetles, Symbolism, and Genius. Comparative Literature 59, no. 4: S. 315–331; Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre, S. 172, 415; Hyde, George M.: Vladimir Nabokov: America’s Russian Novelist. London: Prometheus Books 1977, S. 129, 146; Maar, Michael: Solus Rex. Die schöne böse Welt des Vladimir Nabokov. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2010, S. 89, 137.
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Einleitung
Staatsangehörigkeit noch Nationalfrage in der Literatur von Bedeutung war, betrachtete ihn lediglich als einen deutschen Autor.16 Das Buch schließt ein lapidares Resümee, in dem das für Nabokovs Schaffen zentrale Dilemma der (Lebens)Kunst im Spannungsfeld zwischen Idealismus und Weltbürgertum zusammenfassend thematisiert wird.
16 https://www.zeit.de/1959/16/wer-ist-der-lolita-autor/komplettansicht/ letzter Zugriff am 06. 01. 2021.
1.
Der diskrete Charme der Verfremdung – Berlin als Handlungsraum in Nabokovs russischsprachiger Prosa […] die Auswanderer halten sich in der Fremde bekanntlich vorzugsweise an ihresgleichen […].17 W.G. Sebald. Die Ausgewanderten Die Aufgabe, mich sprachlich abzuschotten, wurde erleichtert durch den Umstand, daß ich in einem geschlossenen Emigrantenzirkel von russischen Bekannten verkehrte und ausschließlich russischsprachige Zeitungen, Zeitschriften und Bücher las.18 Vladimir Nabokov im Interview mit Kurt Hofman (1971).
1.1
Asyl- und Heimatreflexion im ›russischen Berlin‹ der ersten Emigrationswelle
Das Problem der kulturellen Konfrontation gewinnt heutzutage, nicht zuletzt wegen der Flüchtlingsfrage, an Bedeutung. Die liberale Öffentlichkeit plädiert für die ›Politik der offenen Tür‹, während der rechtsradikale Flügel Alarm schlägt und meint, die europäische Kultur sei durch den Zustrom muslimischer Asylanten bedroht. Indessen wird ein wesentlicher Umstand ignoriert, auf den Karl Schlögel schon 2007 in Russisches Berlin. Der Ostbahnhof Europas hinweist: Wie benommen vom Horror des Krieges im Osten haben wir etwas übersehen, das vielleicht noch wichtiger ist als alle Greuel und Grausamkeiten: das Ende von etwas, das für Generationen fraglos und selbstverständlich gewesen war. Es handelt sich um kulturelle Nähe, die keiner umständlichen Übersetzung bedarf.19
In dieser authentischen (weil ontologischen) kulturellen Nähe, die sich von selbst versteht und daher gar nicht gerechtfertigt werden soll, sieht der Autor jene »Zivilisationsnormalität«20, die im vergangenen Jahrhundert verlorenging. Schuld dafür trägt, so Schlögel, nicht zuletzt die »Konstellation der ineinander verkrallten Totalitarismen, in der die Völker Europas zur Geisel selbstmörderischer Bewegungen wurden.«21 Mit anderen Worten: Das Konzept des ›guten alten Europas‹, dessen Untergang spätestens seit Oswald Spengler angekündigt und mittlerweile fieberhaft diagnostiziert wird, ist tatsächlich Geschichte geworden. Geführt dazu haben aber weder fremde Einflüsse noch immense Migrations17 Sebald, W.G.: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2015. 18 Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 294. 19 Schlögel, Karl: Das Russische Berlin, S. 13. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 18.
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Berlin als Handlungsraum in Nabokovs russischsprachiger Prosa
ströme, sondern innere Zerrissenheit und allumfassender soziokultureller Verfall, dessen blutige Auswirkungen in beiden Weltkriegen sowie unter diversen totalitären Regimen geerntet wurden. Wenn man also heute, sich auf einen Burka-Streit bzw. Weihnachtsskandal in einer multikulturellen Schule berufend, von einem Kulturkonflikt spricht oder, im Gegenteil, für multikulturelle Pluralität eintritt, so wird dabei ein folgenschweres Faktum missachtet. Und zwar: Es geht hier um den sog. ›Durchschnitt‹, d. h. weder um die europäische noch um die muslimische Kultur, sondern um eine höchst schablonenartige Massenkultur, welche aktuell sowohl den Westen als auch den Osten dominiert. Dasselbe betrifft gleichermaßen die postsowjetische russlanddeutsche Zuwanderung in der Zeitspanne nach der Perestroika bis zum heutigen Tag. Um dies mit Schlögel zu verdeutlichen: Die Generalität spricht weder Russisch noch Deutsch, sondern das Amerikanisch, das im europäischen headquarter üblich ist. Die Flüchtlinge, die das russische Berlin von einst gebildet hatten, sind abgelöst von den ›neuen Russen‹ im Berlin von heute. Business as usual am Ende eines Jahrhunderts der Katastrophen.22
Ob diese Massenkultur nun national-religiös oder international-säkular gefärbt ist, spielt eine zweitrangige Rolle. Viel wichtiger ist die Tatsache, dass ein syrischer Germanist und ein deutscher Islamforscher ganz gewiss zueinanderfinden (oder sich wenigstens verständigen), genauso wie ein Musikprofessor aus Japan und ein Pianist aus dem Iran. Dagegen kann es zwischen einem deutschen und einem russischen Jugendlichen bei einer Disco-Party in Berlin durchaus zu Spannungen bzw. Gewaltausbrüchen kommen. Das Schlüsselwort ist hier eben die Kultur in ihrem ursprünglichen, transnationalen Ausmaß (man sollte nebenbei bemerken, Letzteres sei auch für die Kulturlosigkeit kennzeichnend). Die russische Emigration der ersten Welle – nach der Oktoberrevolution 1917 bis in die Vierziger23 – bildet insofern eine Ausnahmesituation, als man in diesem Fall mit einer massenhaften Auswanderung kultureller Eliten zu tun hat. Vladimir Nabokov sprach 1964 in einem Playboy-Interview von der großen und noch unbesungenen Ära der russischen Intellektuellenvertreibung – grob gesagt zwischen 1920 und 1940.24 Nicht zufällig lautet der Untertitel von Fritz Mieraus Chronologie des russischen Berlins in den Jahren 1918–1933: Kulturelle Begegnungen25, was den Charakter des damaligen Emigrantenlebens treffend widerspiegelt. Denn Kultur war damals in den Kreisen russischer Flüchtlinge in der Tat 22 Ebd., S. 19. 23 Vgl. Baur, Johannes: Die russische Kolonie in München 1900-1945. Deutsch-russische Beziehungen im XX. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 1998, S. 17. 24 Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993, S. 65. 25 Mierau, Fritz: Russen in Berlin 1918-1933. Eine kulturelle Begegnung. Weinheim/Berlin: Quadriga Verlag 1988.
Asyl- und Heimatreflexion im ›russischen Berlin‹ der ersten Emigrationswelle
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allgegenwärtig und sogar in den schwierigsten Zeiten präsent. So liest man z. B. Ende 1923 im Brief eines hungernden Studenten, der sich an eine Hilfsorganisation wendet: Ich befinde mich in einer furchtbaren materiellen Lage, habe aber dennoch den sehnlichsten Wunsch, mein Studium fortzusetzen… ich bitte die Organisation inständig darum, mir mit einem monatlichen Stipendium zu helfen, damit ich meine sehr bescheidene Wohnung bezahlen kann und die Möglichkeit habe, mich wenigstens von Schwarzbot und Wasser zu ernähren […] Weiter bitte ich ergebenst darum, mir zumindest einen sehr einfachen Anzug zu geben, Schuhe und Wäsche… ich besitze eine umfangreiche Sammlung verschiedenster poetischer Werke: Mysterien, Dramen, Tragödien, Poeme, Kindermärchen, eine Masse lyrischer Gedichte. Doch in der gegenwärtigen alptraumhaften Zeit kann ich […] von der schriftstellerischen Arbeit nicht existieren, und für körperliche Arbeit bin ich wegen einer schweren Verletzung an der linken Hand ganz und gar ungeeignet.26
Die Erwähnung der »gegenwärtigen alptraumhaften Zeit« ist symptomatisch für denjenigen Zerfall der oben angesprochenen kulturellen Zivilisationsnormalität vergangener Jahrhunderte, auf die Schlögel in seiner Untersuchung mehrmals verweist. Heute würde ein künstlerisch begabter Flüchtling (egal aus welchem Land), eine Organisation um finanzielle Unterstützung bittend, seine literarischen Schriften, wenn schon, dann eher ausnahmsweise thematisieren. Anfang des 20. Jh. war dies die Norm, obwohl man daraus keine voreiligen Schlüsse ziehen sollte. Denn kulturelle Begegnung heißt nicht immer kulturelle Verschmelzung und bei weitem nicht Integration. Das kulturelle wie alltägliche Berlinleben russischer Emigranten der ersten Welle verlief nämlich parallel zur deutschen Wirklichkeit. In Nabokovs Berliner Biographie schreibt Thomas Urban: Die Organisatoren des Hauses der Künste bemühten sich, Brücken zur deutschen Kultur zu schlagen. So konnten sie im März 1922 Thomas Mann für einen Vortrag gewinnen. […] Derartige Begegnungen zwischen Russen und Deutschen blieben jedoch eine Seltenheit. Die meisten deutschen Intellektuellen suchten eher Kontakte zu Besuchern aus Sowjetrußland. Schriftsteller, beispielsweise Alfred Döblin, sahen in der sowjetischen Avantgarde eine Hoffnung für die Weltkultur. Die Emigranten waren hingegen vor allem mit sich selbst beschäftigt und suchten kaum den Kontakt zu Deutschen.27
Es war also eine interessante Sonderart einer kulturellen Apartheid, welche nicht staatlich festgelegt bzw. ›vertikal‹ organisiert wurde, sondern rein existenzielle Gründe hatte. Das Einsiedlerische, Eremitenhafte an dieser äußerst bunten, sich rasch entwickelnden Emigrantenkultur entsprang der tiefgreifenden Diskrepanz 26 In: Schlögel, Karl: Das russische Berlin, S. 122–123. 27 Urban, Thomas: Vladimir Nabokov – Blaue Abende in Berlin. Berlin: Propyläen 1999, S. 31.
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zwischen ihrem elitären, von Sehnsucht und Verfremdung geprägten Innenraum und dem urban-modernen Außenraum der deutschen Hauptstadt. Mit anderen Worten: »Die russische Diaspora […] erfüllte die Funktion einer Gegenkraft, die der Desorientierung und dem Entstehen des sprachlichen, kulturellen und literarischen Vakuums entgegenwirkte.«28 Ein bedeutungsvoller Aspekt sind dabei die von Urban angedeuteten extremen Meinungsverstimmungen zwischen den deutschen Intellektuellen und der Mehrheit russischer Flüchtlinge im Verhältnis zur Oktoberrevolution und allgemein zum Bolschewismus. Die soziopolitischen Umbrüche in Sowjetrussland, in denen Döblin »eine Hoffnung für die Weltkultur« erblickte, bedeuteten für einen gerade vor diesen Veränderungen flüchtenden Auswanderer genau das Gegenteil, nämlich ein abruptes, brutales Ende russischer Kultur als Teil der Weltkultur. Eine dezidierte, zurückhaltende Position gegenüber der Sowjetunion und Künstlerhetze nahmen auch andere bedeutende deutsche Autoren ein: Als Schmeljow 1932 Thomas Mann aufforderte, sich für in der Sowjetunion verfolgte Autoren einzusetzen, schrieb er ihm: »Ich als Nichtrusse […] kann und darf mir kein Urteil anmaßen über das heutige Rußland und den gewalttätigen sozialen Versuch, den es unternommen hat. Das Lebens- und Zukunftsrecht dieses neuen Staats- und Gesellschaftswesens muß durch die Zeit bewiesen oder widerlegt werden.«29
Die russischen Exilautoren waren da, gelinde gesagt, anderer Meinung. Was die Literatur betrifft, so behauptete Vladimir Nabokov (ein erklärter Thomas-MannVerächter), das Beste, was in der russischsprachigen Literatur im 19. Jh. geschaffen wurde, entstand außerhalb von Russland, wohingegen die sowjetische Prosa ihm als ständiges Verspottungsobjekt galt.30 Wie es nun oft der Fall ist: Wenn die Gegenwart versagt, so wird die Vergangenheit glorifiziert. Das vorrevolutionäre Russland wurde also für die aus ihrer Heimat verbannten Flüchtlinge zu einem märchenhaften, mythologisierten Wunschgemälde, dessen nebliges, erträumtes Bild mit der Idee des »Goldenen Zeitalters« in der deutschen Romantik vergleichbar ist. Auf einige markante Gemeinsamkeiten zwischen den deutschen Romantikern und den russischen Künstlern des sog. »Silbernen Zeitalters« (insbesondere Symbolisten) machte der Literaturwissenschaftler, Slawist und Altphilologe Sergei Awerinzew schon 2005 aufmerksam.31 Um diesen – auf den ersten Blick vielleicht überraschenden – Vergleich etwas zu konkretisieren und gleichzeitig zu 28 Jörg, Natalia: Schreiben im Exil, S. 45. 29 Zitiert nach: Koenen, Gerd; Kopelew, Lew (Hg.): Russen und Russland aus deutscher Sicht. Deutschland und die russische Revolution 1917–1924. München: Fink 1998. 30 Vgl. Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 98–99. 31 Vgl. Awerinzew, Sergei (Аверинцев, Сергей): Связь времен (Zeitbindung). Kiew: ДУХ I ЛIТЕРА 2005, S. 295.
Asyl- und Heimatreflexion im ›russischen Berlin‹ der ersten Emigrationswelle
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erweitern, würde ich vorschlagen, folgende konstitutive Stichpunkte zu postulieren: 1. Das von den Bolschewiken zerstörte alte (Zaren-)Russland erlebte im Bewusstsein vieler russischer Emigranten mutatis mutandis eine ähnliche Verwandlung (evtl. auch Neubewertung), wie das von der Aufklärung verspottete und verdammte Mittelalter im Bewusstsein deutscher Romantiker. 2. Dementsprechend könnte man auch zwischen der romantischen Abneigung gegenüber der Aufklärung und der kompromisslosen Verwerfung kommunistischer Ideologie seitens der russischen Revolutionsflüchtlinge gewisse psychologisch-ideologische Parallelen ziehen. Die Idealisierung des Damals ist ein genauso unausweichlicher Teil einer solchen Konstellation wie die Dämonisierung des Jetzt. Daher behauptet Monika Sidor zu Recht, der Gesamtcharakter russischer Emigrationsliteratur wurde gleichermaßen durch die Situation heimloser Abgeschnittenheit sowie durch die Isolation von den westlichen Gesellschaften beeinflusst.32 »Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo E i n e Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte […]. Ohne große weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte E i n Oberhaupt die großen politischen Kräfte«33 heißt es am Anfang des berühmten Essays von Novalis unter dem Titel Die Christenheit oder Europa aus dem Jahre 1799. Der Frühromantiker besingt darin das Mittelalter, doch mit denselben Worten konnte ein Iwan Schmeljow oder ein Boris Zajcew das monarchistisch regierte, orthodoxe Russland glorifizieren. Lob an die eigene Nation geht dabei seltsamerweise mit der scharfen Kritik an ihrem aktuellen geistigen Zustand einher. Vergleichen wir folgende zwei Aussagen. Die erste stammt wieder von Novalis: Deutschland geht einen langsamen aber sicheren Gang vor den übrigen europäischen Ländern voraus. Während diese durch Krieg, Spekulation und Parteigeist beschäftigt sind, bildet sich der Deutsche mit allem Fleiß zum Genossen einer höheren Epoche der Kultur, und dieser Vorschritt muß ihm ein großes Übergewicht über die anderen im Laufe der Zeit geben.34
Wie es sich dann »im Laufe der Zeit« entwickelte, soll hier nicht genauer besprochen werden. Die Geschichte kennt kein Erbarmen, wenn es um jegliche hurrapatriotische und nationalistische ›Volksprophezeiungen‹ geht. Als tref32 Sidor, Monika: Rosja i jej duchowos´c´. Proza »pierwszej fali« emigracji rosyjskiej (Russland und seine Geistigkeit. Die Prosa der »ersten Welle« der russischen Emigration). Lublin: Wydawnictwo KUL 2009, S. 12. 33 Novalis: »Die Christenheit oder Europa« und andere philosophischen Schriften. Werke in zwei Bänden. Band 2. Köln: Könemann 1996, S. 23. 34 Zitiert nach: Dilthey, Wilhelm: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Siebente Auflage. Leipzig und Berlin: Verlag B.G. Teubner 1921, S. 291.
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fende Illustration wäre aber ein Ausschnitt aus Michael Aschenbrenners Iwan Schmeljow. Leben und Schaffen des großen russischen Schriftstellers (1937) nicht unangebracht: Im Marxismus und Kommunismus, in den Weltanschauungen des Materialismus und Atheismus und in den praktischen Auswirkungen derselben sehen wir nicht den Ausdruck der russischen Volksseele, sondern der jüdischen, was durch Nachweis der Rassezugehörigkeit der Hauptvertreter dieser Weltanschauungen und der auf ihnen fußenden politischen Richtungen gezeigt wird.35
Iwan Sergejewitsch Schmeljow – ein nach dem Fall der Sowjetunion wiederentdeckter russischer Schriftsteller, der sein Heimatland 1922 für immer verlassen musste – würde allerdings dieser eindeutig antisemitischen Darlegung zweifelsohne zustimmen. Heute gilt er gerechterweise als ein leidenschaftlicher Eiferer der tradierten religiösen Ordnung des alten Russlands. Darüber hinaus war er aber auch judenfeindlich gestimmt, was unter anderem in seinem Briefwechsel mit dem russischen nationalreligiösen Philosophen Iwan Iljin zum Ausdruck kommt.36 Allgemein waren antisemitische Tendenzen unter den patriotisch engagierten, dem orthodox-monarchistischen Ideal ergebenen Exilrussen ziemlich verbreitet. Die naheliegende Analogie zu den (spät)romantischen nationalistischen Neigungen bildet einen weiteren ideentopographischen Kreuzpunkt zwischen dem romantischen Hang zum Vergangenen und der brennenden, mythologisch gefärbten Nostalgie russischer Revolutionsflüchtlinge. Was jedoch für den Durchschnitt gilt, erstreckt sich nicht auf die Ausnahme.
1.2
Der Sonderfall Nabokov – Fluch und Segen der Heimatlosigkeit
In ihrem Standardwerk Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik schreibt Aleida Assmann: Menschen sind als Individuen zwar ›unteilbar‹, aber keineswegs selbstgenügsame Einheiten. Sie sind immer schon Teil größerer Zusammenhänge, in die sie eingebettet sind und ohne die sie nicht existieren könnten. Jedes ›Ich‹ ist verknüpft mit einem ›Wir‹, von dem es wichtige Grundlagen eigener Identität bezieht. Auch dieses ›Wir‹ ist wie-
35 Aschenbrenner, Michael: Iwan Schmeljow. Leben und Schaffen des großen russischen Schriftstellers. Ost-Europa-Verlag 1937, S. 131. 36 Vgl. https://omiliya.org/article/perepiska-i-a-ilina-i-i-s-shmeleva.html/ letzter Zugriff am 28. 12. 2017.
Der Sonderfall Nabokov – Fluch und Segen der Heimatlosigkeit
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derum keine Einheitsgröße, sondern vielfach gestuft und markiert zum Teil ineinander greifende, zum Teil disparate und nebeneinander stehende Bezugshorizonte.37
Das Leben und Wirken des 1899 in Sankt Petersburg geborenen, 1917 aus Sowjetrussland ausgewanderten (im Berliner Exil hat er insgesamt 15 Jahre verbracht) und 1977 in Montreux (die Schweiz) verstorbenen Vladimir Nabokov scheinen im krassen Gegensatz zu der oben zitierten Behauptung zu stehen. Sowohl sein literarisches Schaffen als auch sein teilweise schicksalhaftes, zum größten Teil aber selbst erwähltes Außenseitertum sind von einem unnachgiebigen, oft extremen Individualismus gekennzeichnet. Das Wir-Konzept war ihm in allen denkbaren Ausprägungen (sozial, künstlerisch, religiös) tiefst zuwider. Es ist übrigens bemerkenswert, dass Assmann das menschliche »Ich« ausgerechnet mit einem »Wir« zu verknüpfen sucht und nicht etwa mit einem »Du« (wie es z. B. in der Philosophie von Martin Buber38 der Fall ist). Das PrivatIndividuelle wird demgemäß in eine endlose Kette des Allgemein-Kollektiven eingebettet, denn auch die Wir-Ebene ist, wie die Autorin ausdrücklich betont, nur Teil eines mehrstufigen, unermesslich verflochtenen Beziehungssystems. Die daraus folgende Erinnerungstheorie bleibt diesem Grundgedanken konsequent treu: »Das Gedächtnis des Individuums umfasst […] weit mehr als den Fundus unverwechselbar eigener Erfahrungen; in ihm verschränken sich immer schon individuelles und kollektives Gedächtnis.«39 Nabokov, »ein eingefleischter NichtGewerkschafter«40 sah dies ganz anders. Gefragt in einem BBC-Interview aus dem Jahre 1962, worin für ihn die Bedeutung der Erinnerung liege, antwortete er: Die Erinnerung ist – im Grunde, an sich – ein Werkzeug, eines der vielen Werkzeuge, die der Künstler benutzt; und manches Erinnerte – Erinnertes mehr intellektueller als emotionaler Art – ist sehr empfindlich und verliert unter Umständen das Aroma des Realen, wenn der Romancier es in sein Buch einfließen läßt […]. Andererseits zum Beispiel… sagen wir meinetwegen die Frische jener Blumen, die der Untergärtner gerade im kühlen Wohnzimmer unseres Landhauses aufstellte, als ich mit meinem Schmetterlingsnetz in der Hand an einem Sommertag vor einem halben Jahrhundert die Treppe hinunterrannte – derartiges ist ewig, unvergänglich […], es bleibt mein eigen und mir immer gegenwärtig; der rote Sand, die weiße Gartenbank, die schwarzen Tannen, alles, alles ist da, ein unverlierbarer Besitz. Meiner Meinung nach ist das alles eine Frage der Liebe: Je mehr man eine Erinnerung liebt, desto intensiver ist sie.41
37 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.K. Beck 2006, S. 21. 38 Siehe: Buber, Martin: Ich und Du. Ditzingen: Reclam 1995. 39 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 23. 40 Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2005, S. 405. 41 Nabokov, Vladimir. Deutliche Worte, S. 31.
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Berlin als Handlungsraum in Nabokovs russischsprachiger Prosa
Eine so verstandene, derlei aufgefasste Erinnerung ist erstens kein natürliches, sondern ein genuin künstlerisches und somit der Phantasie verpflichtetes Phänomen (nicht zufällig spricht Nabokov von Erinnerung »im Grunde, an sich«). Zweitens kann man dieses Phänomen einzig in persönlichen Kategorien betrachten. Eine »kollektive Erinnerung« würde in Nabokovs ästhetisch-philosophischem Normsystem deplaziert wirken. Die Parallele zur Liebe ist somit logisch, denn Liebe ist eine der intimsten menschlichen Empfindungen, die sich stets jeglichen Generalisierungsproben entzieht. Demzufolge dürfte man Nabokovs individualistische Erinnerungsphilosophie als eine Art Antithese zu Assmanns Konzeption des kollektiven Erinnerungsfundus sehen. Die auf dem Wir-Prinzip beruhende Gemeinschaftsidee erweist sich bei Nabokov als eine das Ich unterdrückende, es gar bedrohende Kraft. Das Ich wird durch das Wir weder ergänzt noch erweitert; nicht novelliert, sondern nivelliert. Im oben erwähnten Interview mit Nabokov kann man hierzu u. a. lesen: »Die Wirklichkeit ist eine sehr subjektive Angelegenheit. Ich weiß keine andere Definition für sie als die, daß sie in einer Art stufenweiser Informationsakkumulation besteht. Und in Spezialisierung.«42 1968, in einem anderen BBC-Gespräch, sagte er: »Gewiß, es gibt eine für jedermanns Wahrnehmung vorhandene Durchschnittsrealität, aber das ist nicht die wahre Realität: Es ist nichts weiter als die Realität der allgemeinen Ideen, […] der Leitartikel der Tagespresse.«43 Ähnlich war Nabokovs Einstellung zur Erinnerung. Das von Aleida Assmann servierte Konzept würde sich – nach diesen Maßstäben – auf eine Art »Durchschnittserinnerung« beziehen, nicht aber auf die »wahre« Erinnerung. Dies allerdings nur einerseits. Andererseits sind Nabokov die ich-überschreitenden Tendenzen nicht fremd, und Assmanns Vorstellung, »dass es die Erinnerungsfähigkeit ist, […] die Menschen erst zu Menschen macht«44, würde er in gewissem Sinne teilen (wenigstens insofern, als man dasselbe über die schöpferische Fähigkeit behaupten könnte). Das Transpersonale in Nabokovs Werk und Philosophie ist jedoch keineswegs mit dem Sozialen bzw. Kollektiven gleichzusetzen. Die soziale Wir-Dimension wird in seinen Texten durch die suprarealistische Vision eines allumfassenden, überindividuellen und gleichzeitig personal gestimmten Universums ersetzt. Ein schönes und durchaus illustratives Beispiel findet man in Nabokovs Autobiographie Erinnerung, sprich, wenn der Schriftsteller die Gefühle, welche die Geburt seines Sohnes bei ihm hervorgerufen hat, zum Ausdruck bringt: Immer wenn ich beginne, an meine Liebe zu einem Menschen zu denken, habe ich die Gewohnheit, von dieser Liebe aus […] – vom zarten Kern privater Materie aus – Radien 42 Ebd., S. 28. 43 Ebd., S. 188. 44 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 24.
Der Sonderfall Nabokov – Fluch und Segen der Heimatlosigkeit
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zu ungeheuerlich entfernten Punkten des Weltalls zu ziehen. Etwas zwingt mich, das Bewußtsein meiner Liebe an so unvorstellbaren […] Dingen wie dem Verhalten von Spiralnebeln zu messen (deren Entfernung allein schon die Form des Wahnsinns ist), an den furchtbaren Fallgruben der Ewigkeit, dem Unerkennbaren hinter dem Unbekannten, […] den kalten, Übelkeit bereitenden Involutionen und Durchdringungen von Zeit und Raum. […] Der ganze Weltraum, die ganze Zeit muß an meinem Gefühl teilhaben, an meiner sterblichen Liebe, so daß ihrer Vergänglichkeit die Spitze genommen wird und ich eher imstande bin, gegen die tiefe Erniedrigung, gegen die Lächerlichkeit […] der Einsicht anzukämpfen, in einem endlichen Leben eine Unendlichkeit an Fühlen und Denken hervorgebracht zu haben.45
Philosophisch gesehen handelt es sich dabei um eine äußerst eigenartige Mischung aus neuromantischem Personalismus und gnostisch gefärbtem Pantheismus (nicht aber Buddhismus, den Nabokov rigoros ablehnte). Das emotivgeistige Zentrum des transindividuellen Weltalls befindet sich zwar im individuellen Ich. Die schöpferische Liebesenergie des Letzteren (und Liebe ist ja für Nabokov mit Erinnerung aufs Engste verknüpft) beschränkt sich aber nicht allein auf die individuelle Sphäre, sondern strömt, den physisch-ermessbaren Zeitraum durchbohrend, ab ins Metaphysisch-Unbekannte, wo es, streng genommen, weder »Ich« oder »Du« noch »Wir« im gewohnten, alltäglichen Verständnis dieser Begriffe gibt. 1968 hat Nabokov die Frage des englischen BBC-Reporters – »Welche Bedeutung hat die Tatsache des Exils für Sie gehabt?«46 – folgenderweise beantwortet: Der Typus des Künstlers, der sich immer im Exil befindet, auch wenn er vielleicht niemals auch nur einen Schritt aus dem Stammsitz der Familie oder dem väterlichen Kirchspiel hinausgetan hat, ist einer aus der Biographik wohlbekannte Gestalt, der ich mich in mancher Hinsicht verwandt fühle […]. Meine sämtlichen Bücher sind in meinem Geburtsland verboten […]. Es ist Rußlands Schade, nicht meiner.47
Das bittere Bekenntnis sollte mitnichten als snobistischer Ausdruck indifferenter Arroganz missverstanden werden. Vielmehr geht es hier um eine aufrichtige (wenn auch keineswegs bescheidene) Perspektive eines Menschen, dem es gelang, seine private Doppeltragödie – den erzwungenen Abschied von Russland und später auch den intentionellen Verzicht auf russischsprachiges Schreiben – in literarische Kunst höchster Probe umzuarbeiten – eine Kunst, die erst mehrere Jahre nach Nabokovs Tod den ihr gebührenden Platz im literarischen Pantheon eingenommen hat und bis heute ein nahezu unerschöpfliches Forschungsfeld bietet, sei es in einer narratologischen, literaturhistorischen oder philosophischen Auffassung. Anders als die meisten russischen Autoren der 45 Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich, S. 405. 46 Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 187. 47 Ebd., S. 187–188.
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Berlin als Handlungsraum in Nabokovs russischsprachiger Prosa
ersten Emigrationswelle hat Vladimir Nabokov den mühsamen Kampf gegen Nostalgie letztendlich gewonnen. Der Schmerz der Entwurzelung wurde von trilingualer kreativer Freiheit und internationaler Anerkennung wenn nicht geheilt, so doch jedenfalls gelindert. Der Fluch der Heimatlosigkeit löste sich im sagenhaften Schöpfungssegen auf.
1.3
Zeit vs. Raum – Zur Poetik des Vergangenen in Nabokovs Emigrantenprosa
1.3.1 Van Vins Zeitphilosophie in Ada oder das Verlangen Als philosophische Kategorie scheint Zeit, im Vergleich zu Raum, eine größere Rolle in Nabokovs Werk zu spielen. Die Räumlichkeit wird eher künstlerisch bearbeitet bzw. poetisch bemächtigt, nicht aber problematisiert. Anders sieht es mit dem Zeitphänomen aus, welchem in Ada oder Das Verlangen,48 dem vorletzten vollendeten Roman von Nabokov, ein extra Kapitel (»Vierter Teil«49) gewidmet wird. Van Veen, der männliche Protagonist, versucht darin, die eigentliche Natur der Zeit – sowohl transpersonal als auch im »Sinn von individueller Wahrnehmungszeit«50 – zu erforschen: »Ich möchte das Wesen der Zeit untersuchen, nicht ihr Vergehen, denn ich glaube nicht, daß sich ihr Wesen auf ihr Vergehen reduzieren läßt. Ich möchte die ›Zeit‹ liebkosen.«51 Dabei macht er gleich am Anfang seiner Überlegungen eine klare und für seinen weiteren Gedankengang äußerst relevante Unterscheidung zwischen Zeit und Raum: Man kann ein Liebhaber des Raums und seiner Möglichkeiten sein: Nehmen wir, zum Beispiel […] die Glätte und das Schwertschwirren von Geschwindigkeit; […] den Freudenschrei der Kurve; und man kann ein Amateur der Zeit sein, ein Epikureer der Dauer. Ich erfreue mich sinnlich an Zeit, ihrem Stoff und ihrer Ausdehnung, ihrem Faltenentwurf, […] an der Kühle ihres Kontinuums. Ich möchte daraus etwas machen; mich einem Schein von Besitz hingeben. Ich bin mir bewußt, daß alle, die versucht haben, das verzauberte Schloß zu erreichen, sich in Dunkelheit verirrt haben oder in ›Raum‹ steckengeblieben sind.52
Die zeitliche und die räumliche Existenzebene werden somit einander gegenübergestellt: »Der blinde Finger des Raums stochert und reißt an der Textur der
48 Nabokov, Vladimir: Ada oder Das Verlangen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1994. 49 Ebd., S. 405. 50 Ebd., S. 407. 51 Ebd., S. 408. 52 Ebd.
Zeit vs. Raum – Zur Poetik des Vergangenen in Nabokovs Emigrantenprosa
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Zeit.«53 Interessant ist, dass die Kategorie der Geschwindigkeit in diesem Diskurs den räumlichen Charakteristika zugeschrieben wird. Auf den ersten Blick mag das paradox klingen. Wenn man dies aber in Verbindung mit dem vorigen Zitat bringt, so offenbart sich ein gewisser logischer Faden in Vans Zeitbetrachtung. Und zwar: Lässt sich »das Wesen der Zeit« nicht auf ihr Vergehen reduzieren, dann gehört »das Schwertschwirren von Geschwindigkeit« konsequenterweise eher zum Raum, denn es geht hier ums Zurücklegen einer bestimmten Strecke. Die Zeit (wie Van sie versteht und untersucht) ist dabei von sekundärer Bedeutung, da es sich in diesem Fall eben nicht um die reine Zeit an sich handelt, sondern einzig ums Zeitvergehen, also um einen mechanistischen Prozess, der Vans Gedanken kaum beschäftigt. Die Geschwindigkeit setzt sich zum Ziel, vom Punkt A zum Punkt B möglichst schnell zu gelangen, der Vorrang gilt hier jedoch dem »Freudenschrei der Kurve«, also dem Raum. Die Tatsache, ob die Zeit für den Menschen schneller oder langsamer vergeht, beeinflusst aber weder den ursprünglichen »Stoff« der Zeit noch die ontologische »Kühle ihres Kontinuums«. Wieso ist nun ausgerechnet die Zeit und nicht etwa der Raum für Van Veen so wichtig? Die Antwort auf diese Frage wird im oben angeführten Passus eigentlich bereits gegeben. Die Zeit gibt dem Protagonisten den »Schein von Besitz«, er will »daraus etwas machen«. Mit anderen Worten: Die Zeit eignet sich besser zur künstlerischen Wiederentdeckung bzw. Neuerschaffung der Welt. Der Raum ist nämlich einfach da: Man kann ihn bewundern, mit einigen neuen Elementen (Architektur, Technik usw.) ausstatten, aber damit sind seine Vorräte auch aufgebraucht. Demgegenüber stellt die Zeit – schon allein kraft ihrer nichtvisuellen, ungreifbaren Natur – etwas qualitativ Anderes dar. Ist der Raum ein gegebenes, handfestes Faktum, so erweist sich die Zeit als ein Abstraktum und gerade deshalb mit dem menschlichen Bewusstsein aufs Engste verbunden: […] während Raum betrachtet werden kann, naiv, vielleicht, aber direkt, kann ich der Zeit nur zwischen Anspannungen lauschen […], wachsam und wehmütig, mit der wachsenden Erkenntnis, daß ich nicht der Zeit selbst lausche, sondern dem Blutstrom, der durch mein Gehirn und von dort durch die Venen des Halses zum Herz läuft, zurück zum Sitz privater Agonien, die keine Beziehung zur ›Zeit‹ haben.54
In dieser Textpassage wird ein neues Begriffspaar sichtbar: Die Zeit-Tod-Parallele tritt deutlich in den Vordergrund, wenn der Ich-Erzähler vom menschlichen Herzen als einem »Sitz privater Agonien« spricht. Doch ähnlich wie beim verbreiteten Zeit-Raum-Tandem haben derartige Zeitvorstellungen mit der wahren, überpersönlichen Zeit wenig gemeinsam. Die Todesangst, deren Metaphorik in Nabokovs Texten häufig ausgesprochen zeitliche Merkmale trägt, hängt also
53 Ebd., S. 409. 54 Ebd., S. 409–410.
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Berlin als Handlungsraum in Nabokovs russischsprachiger Prosa
damit zusammen, dass man die tatsächliche Natur der Zeit nicht zu erkennen vermag. Die »Kausalverbindung Uhr – Tod […] drückt bildlich die Aufhebung der Kategorie der Zeit im Tod aus«,55 aber nur für diejenigen, die ein tiefgründigselbstloses Verhältnis zum Phänomen der Zeit haben. Bemerkenswert dabei ist, dass der Tod in gebräuchlicher religiöser Vorstellung eher mit dem Raum als mit der Zeit assoziiert wird. Man spricht vom Tod als einem Übergang ins Jenseits, d. h. in einen anderen Raum. Die Zeitproblematik wird in diesem Kontext nur selten berücksichtigt. Das Problem besteht nun, so Van, darin, dass der Mensch beide entgegengesetzten Kategorien allzu oft miteinander verwechselt bzw. vermischt. Daraus entsteht sein Versuch, Zeit von Raum abzugrenzen und als eine separate, in sich abgeschlossene Erscheinung zu analysieren. Das innere Wesen einer so verstandenen Zeit definiert Van zuerst negativ, indem er sagt, was diese Zeit nicht ist, um jegliche populäre Missverständnisse zu vermeiden (eines ähnlichen Verfahrens bedient sich die sog. »negative Theologie« bei der Beschreibung Gottes). Später geht er aber zu einer positiven Definition über, welche allerdings notwendigerweise metaphorisch gefärbt ist: Zeit ist Rhythmus: der Insektenrhythmus einer warmen, feuchten Nacht, Gehirnwellen, Atmen, das Pochen in meiner Schläfe – dies sind unsere treuen Zeitmesser; und Vernunft korrigiert den fiebrigen Pulsschlag. […] Vielleicht ist das einzige, was auf einen Zeitsinn hinweist, Rhythmus; nicht die wiederkehrenden Schläge des Rhythmus, sondern die Lücke zwischen zwei schwarzen Schlägen: das Zärtliche Intervall. Das regelmäßige Pochen an sich bringt bloß den elenden Gedanken vom Messen zurück, aber dazwischen, da lauert etwas wie die wahre ›Zeit‹.56
Vans Zeitverständnis ist infolgedessen ein Produkt künstlerisch-intellektueller Anstrengung. Falls diese »Lücke zwischen zwei schwarzen Schlägen«, von der er spricht, dem ursprünglichen Zeitstoff entspricht, wird sie dadurch zur Rettungslücke, die der vom Todesangst überwältigte Verstand als eine Art Trosterklärung nutzt. Darin zeigt sich das eigentliche Paradoxon von Vans Zeitverständnis. Einerseits strebt er nach einem transpersonalen, kühl-objektiven Zeitbild. Andererseits verfolgt er dabei aber ein höchst persönliches Ziel: die Endgültigkeit des Todes in Frage zu stellen. Die Zeitempfindungen von Autor und Erzähler sind, wie oft in Nabokovs Prosa, zwar einigermaßen verwandt, aber nicht identisch. So teilt Adas Protagonist mit seinem Autor die Idee der illusionären Natur der temporalen Lebensteilung.57 Anders als Van, über den sich Nabokov übrigens ziemlich abwertend äußerte58, sah er in der Zeit jedoch kein 55 Hüllen, Christopher: Der Tod im Werk Vladimir Nabokovs. Terra Incognita. München: Verlag Otto Sagner in Kommission 1990, S. 141. 56 Nabokov, Vladimir: Ada oder Das Verlangen, S. 409. 57 Vgl. Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 191–192. 58 Vgl. ebd., S. 192.
Zeit vs. Raum – Zur Poetik des Vergangenen in Nabokovs Emigrantenprosa
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Liebkosungsobjekt, sondern vielmehr ein Hindernis, welches mithilfe verbalisierter Phantasie bewältigt werden kann. Sehr prägnant artikuliert dies Brian Boyd in der Einleitung zu Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, dem ersten Band seiner Monumental-Biographie, die bis heute eine unerschöpfliche Fakten- und Interpretationsquelle für die Werkanalyse des russischamerikanischen Schriftstellers bildet: Kraft seiner Kunst beantwortet Nabokov die Frage […], die ihn, wie er bekennt, immer wieder verwirrt und bedrängt hat: Was liegt außerhalb des Gefängnisses der Menschenzeit, unseres Gefangenseins in der Gegenwart, unserer Unterwerfung unter den Tod? Bezeichnenderweise zieht er es vor, die Kraft des Verstandes zu demonstrieren und nicht zu verhehlen – eines Verstandes, der nicht spontan arbeitet und somit in der Lage ist, aus dem Alltäglichen ein Bild oder einen Gedanken zu erschaffen. Die Energie, die dem menschlichen Bewußtsein beim Überspringen der Zeitbarriere eignen kann, deutet mehr als alles andere auf die Verwandtschaft mit einer Bewußtseinsform, die jenseits menschlicher Grenzen verborgen liegt.59
Sowohl Nabokov als auch der von ihm erdachte Van Veen führen ihre Auseinandersetzung mit der Zeit unter ständiger Berücksichtigung der Todesproblematik. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch darin, dass, während Vans Zeitphilosophie streng ichorientiert, ja egozentrisch bleibt, es Nabokov gelingt, das Gefängnis der Zeit gerade dank der Verwerfung von Egogrenzen zu durchbrechen. Van ist zwar zweifellos ein begabter Mensch, aber – laut Nabokovs Axiologie – weder ein richtiger Wissenschaftler noch ein wahrer Künstler, da ihm die dafür unentbehrliche Selbstlosigkeit fehlt. Er fürchtet sich vor dem Tod, will ihn aber – ähnlich wie die Zeit – nicht bekämpfen, sondern liebkosend ignorieren bzw. neu interpretieren, um sich damit zu trösten. Dabei kümmert sich die maskuline Hauptfigur von Ada nur um ihre eigene Sterblichkeit. Die Zeit und der Tod erscheinen in diesem Kontext also als eng begriffene private Probleme, nicht etwa als ein allgemeinmenschliches Drama. Boyd sagt dazu Folgendes: Wenn Romanfiguren wie Humbert, Hermann, Axel Rex oder Van und Ada Veen behaupten, daß sie etwas Besonderes sind, daß sie Künstler sind, daß sie sich auf einer anderen Daseinsebene bewegen als ihre Umgebung, so überbetonen sie damit eine reale Bedingung des menschlichen Lebens. […] Nabokovs Künstler-Helden erheben Anspruch auf Dispens von der herkömmlichen Moral nur, weil sie sich nicht vorstellen können, daß andere ebenfalls etwas Besonderes sind, sich zumindest dafür halten. Nabokov gibt diesen »Künstlern« allen imaginären Spielraum, den sie benötigen, um ihre zweifelhafte Vergangenheit festzuhalten, aber zugleich verdammt er ihr Taktieren als bloße Vertuschung ihres Mangels an Vorstellungskraft […].60
59 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre, S. 23. 60 Ebd., S. 26–27.
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Berlin als Handlungsraum in Nabokovs russischsprachiger Prosa
Es ist also gerade der Mangel an Vorstellungskraft, der Nabokovs ›Antihelden‹ bzw. ›Nicht-Helden‹ (wie z. B. Hugh Person) beim letztendlichen Zugang zum Geheimnis der Zeit, des Lebens und des Todes stört. Denn eben die menschliche Phantasie (in der fortwährenden Zusammenarbeit mit dem Verstand) entdeckt hinter der alltäglichen Realitätsfassade immer neue, unerwartete Wirklichkeitsaspekte. Einer dieser Aspekte ist die Relativität menschlicher Zeitvorstellungen, über die schon Immanuel Kant reflektiert hat (Zeit als Bewusstseinskategorie). Dieses bloße Wissen, das auch Van Veen durchaus zugetraut wird, reicht aber nicht, um die Grenzen der Zeit aufzuheben. Geprägt von egoistischer Todespanik, bar jeglicher Würde und Menschenliebe, machen ihn seine Überlegungen zu einem, wie er sich selbst nennt, »Amateur der Zeit«.61 Für einen ›Zeitprofi‹ ist er jedoch zu selbstsüchtig. Kennzeichnenderweise bringt Boyd eben diese zwei Begriffe – Zeit und Selbstsucht – in Verbindung miteinander, indem er schreibt: Nabokov preist die Freiheit, die wir im Augenblick finden, den Reichtum unserer Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken. Dennoch sind wir alle in uns selber gefangen, in der Falle der Gegenwart, zum Tode verurteilt. […] Doch vielleicht weist uns im glücklichsten Fall das Bewußtsein da einen Ausweg. In Kunst und Wissenschaft, in der Erinnerung, im Aufbieten von Phantasie, Aufmerksamkeit und Güte scheint der Geist fast imstande zu sein, über die Gefängnismauern von Selbstsucht und Zeit zu spähen.62
Damit ist die Brücke zu einer der Hauptfragen von Nabokovs Schaffen gebaut, der Frage nach den Möglichkeiten und – wie überraschend es gerade bei diesem Autor auch klingen mag – Aufgaben literarischer Kunst. Denn eben Nabokov, der mehrmals betonte, reine Kunst verfolge keinerlei Ziele, drückte einmal die Hoffnung aus, eines Tages komme ein scharfsinniger Kritiker, die in ihm einen feurigen Moralisten erkennt, dessen Werke das Brutale und Vulgäre verdammen, das Gute und Zärtliche dagegen glorifizieren.63 Als einer der gründlichsten Nabokov-Interpreten schenkt Brian Boyd dieser Dimension seines Schaffens besondere Aufmerksamkeit. Daher weist er den vermeintlich gehaltlosen Ästhetizismus, der Nabokovs Texten oft vorgeworfen wurde, eindeutig ab: Kunst um der Kunst willen? Nein: Nabokov glaubte an Kunst des Lebens willen. […] die Kunst hat uns, so Nabokov, Qualitäten wie Detail, Einheit und Harmonie zu Bewußtsein gebracht, Qualitäten, die wir nur als Teil der dem Leben innewohnenden Artistik erkennen können. Sieht man die Welt auf diese Weise, so wird alles – ein zerknittertes Blatt, der Qualm über einem Aschenbecher – zu einem Wunder, einem Beweis für die unerschöpfliche Kreativität der Welt.64 61 Nabokov, Vladimir: Ada oder Das Verlangen, S. 408. 62 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 24–25. 63 Vgl. https://voplit.ru/article/ya-ne-byl-legkomyslennoj-zhar-ptitsej-a-naoborot-strogim-mo ralistom-publikatsiya-i-perevod-s-anglijskogo-d-babicha/ letzter Zugriff am 04. 01. 2021. 64 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 25.
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Diese Grundprämisse von Nabokovs Schaffen macht sich bereits in seinem ersten, 1926 veröffentlichten Kurzroman Maschenka erkennbar.
1.3.2 Maschenka oder Die gezähmte Nostalgie Die Handlung der in der Vossischen Zeitung unter dem Titel Sie kommt – kommt sie?65 gedruckten Geschichte spielt auf zwei verschiedenen, in jeder Hinsicht oppositionellen zeitlichen und räumlichen Ebenen. Das Gegensatzpaar ›Berlin der 20er Jahre vs. das vorrevolutionäre Russland‹ fungiert hier als räumliches Äquivalent des zeitlich markierten Gegensatzpaares ›Gegenwart vs. Vergangenheit‹. Der Protagonist Lev Ganin, ehemaliger russischer Offizier, fristet in erzwungener Emigration in Berlin ein fades, hermetisches Außenseiterdasein und kann weder im engen Kreis seiner Landsleute noch im sprachlich wie kulturell fremden Außenraum Verständnis oder Erfüllung finden. Sein uninspirierter Alltag bekommt erst dann Sinn, als Ganin sich bewusst wird, dass die von ihrem Ehemann sehnsüchtig erwartete junge Frau des Antiprotagonisten Alexej Alfjorow – die titelgebende Maschenka – Ganins erste Liebe sei, mit der er in Russland kurz vor der Revolution eine zarte, romantische (wobei gar nicht so unschuldige, wie es manche ForscherInnen behaupten66), dramatisch kurze Liebesgeschichte erlebt hat. Schließlich haben sich die Beiden voneinander geistig wie räumlich entfernt, sodass Maschenkas weiteres Schicksal Ganin nicht bekannt war. Mit der Tatsache, dass dieses bezaubernde, durch Ganins Gedächtnis so unerwartet und doch so exakt wiederbelebte Mädchen mit dem philiströsen, abstoßenden Alfjorow verheiratet ist, kann sich der Protagonist nicht abfinden. Also beschließt er, seinen ahnungslosen Gegner mittels Schlaftabletten und eines umgestellten Weckers zu überlisten und Maschenka vom Bahnhof abzuholen. In den letzten Minuten vor der Ankunft der Titelfigur (die in der erzählten Gegenwart des Romans kaum auftaucht) gibt Ganin seinen Plan jedoch auf, da es ihm plötzlich klar wird, daß seine Liebesgeschichte mit Maschenka für immer zu Ende war. Nur vier Tage hatte sie gedauert – vier Tage, die vielleicht die glücklichsten seines Lebens waren. Aber jetzt hatte er seine Erinnerung bis zur Neige ausgeschöpft, und sein Bild von Maschenka
65 Vgl. http://www.morgenpost.de/kultur/article102179634/Sehnsucht-nach-Jugend.html / letzter Zugriff am 02. 06. 2017. 66 Vgl. Celkowa, Lina (Целкова, Лина): Романы Владимира Набокова и русская литературная традиция. (Die Romane von Vladimir Nabokov und die russische literarische Tradition). Moskau: ›Русское Слово‹ 2011, S. 55.
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Berlin als Handlungsraum in Nabokovs russischsprachiger Prosa
blieb nun […] im Haus der Gespenster zurück, das selbst schon Erinnerung war. Außer diesem Bild gab es keine andere Maschenka; konnte es keine geben.67
Ganin verzichtet somit nicht nur auf den Versuch, Maschenkas Liebe wiederzugewinnen, sondern er verlässt auch seinen Aufenthaltsort, die russische Pension in Berlin (die im obenzitierten Abschnitt als »Haus der Gespenster« bezeichnet wird), und eröffnet ein neues Kapitel in seinem Leben, indem er sich in den Südwesten Deutschlands begibt, um später nach Frankreich zu gehen. Es ist vor allem eben die Finalszene von Nabokovs Debütroman, die zur Zeit seiner Veröffentlichung heftig diskutiert wurde (einer der russischen Kritiker behauptete, der Leser sei an derartige Schlussszenen nicht gewöhnt68), und bis heute Objekt diverser Interpretationen bleibt. So zieht Lina Celkowa in Die Romane von Vladimir Nabokov im Lichte der russischen literarischen Tradition Parallelen zu den stets zweifelnden, entscheidungsunfähigen männlichen Protagonisten von Anton Tschechow und insbesondere Iwan Turgenjew, obwohl sie zugleich Ganins letztendliche Entschlossenheit und lebensbejahenden Optimismus im Hinblick auf die Zukunft betont.69 Brian Boyd sieht in Maschenkas Ausklang dagegen einen Beweis dafür, dass Nabokovs Schaffen bereits in seinem Keim nicht spezifisch nationale, sondern gerade allgemein menschliche moralische Züge enthält: Der Schluß zeigt, daß in Nabokov sehr viel mehr steckt als ein simpler Verherrlicher Rußlands oder seiner eigenen Vergangenheit. Er freut sich an der Macht des Bewußtseins, an der Kraft und Leidenschaft von Ganins Erinnerungsvermögen. Aber er bleibt sich auch der gefährlichen Blindheit des Egos bewußt. Als er davon träumt, Maschenka am Bahnhof zu treffen, empfindet Ganin diesen Plan als einen Triumph. Er erkennt nicht, daß es ein Triumph der Selbstsucht ist: […] seiner nie in Frage gestellten Annahme, daß Maschenka mit ihm gehen werde. […] Erst als Ganin auf der letzten Seite des Romans seine Meinung ändert und erkennt, daß er seine ganze Vergangenheit bereits in sich trägt und die Gegenwart nicht besudeln muß, wird seine Geschichte wirklich zu einem Triumph.70
Ob Ganins letztendliche Entscheidung in der Tat selbstlos und von der »gefährlichen Blindheit des Egos« frei ist, muss eine umstrittene Frage bleiben: Die Befreiung von der Erinnerungslast scheint in erster Linie eben für den Protagonisten motivierend und erleichternd zu sein. Es sind ja nicht der Respekt für Maschenkas Lebens- und Liebeswahl und ganz bestimmt nicht die Empathie 67 Nabokov, Vladimir: Maschenka. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999, S. 172. 68 Vgl. Saharow, Wsewolod: В.В. Набоков – русский писатель. https://ostrovok.de/old/prose /saharov/essay013.htm/ letzter Zugriff am 28. 06. 2017. 69 Vgl. Celkowa, Lina (Целкова, Лина): Романы Владимира Набокова и русская литературная традиция, S. 61-63. 70 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 402–403.
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gegenüber Alfjorow, die Ganins egozentrische Handlungen bedingen.71 Vielmehr lässt er sich durch den spontanen Freiheitsdrang lenken sowie die bittersüße Erkenntnis, dass der Zauber der Vergangenheit unwiederbringlich ist. Diese Erkenntnis nimmt laut Boyd die zentrale Stelle im gesamten Problemkreis von Nabokovs Prosa ein: »Kein Thema sollte so unverwechselbar zu Nabokov gehören wie die absurde Tatsache, daß wir die wirkliche Vergangenheit, die wir durchlebt hatten, nicht zurückholen können.«72 Aus der kulturräumlichen Perspektive ist aber der Textanfang nicht weniger markant als sein Ende. Die im dunklen Fahrstuhl steckengebliebenen Ganin und Alfjorow führen ein erzwungenes Gespräch miteinander, aus dem der Leser erfährt, dass Alfjorows Frau in einigen Tagen aus Russland nach Berlin kommt, wobei Ganin sich noch nicht darüber im Klaren ist, um wen es sich eigentlich handelt. Allerdings werden alle drei Figuren, um die der Romanplot kreist, bereits auf der ersten Seite erwähnt, wobei Maschenka ihren im Laufe des Romans konsequent beibehaltenen Kosenamen gleich bei der ersten Erwähnung bekommt. Was dagegen die zwei Männer Ganin und Alfjorow angeht, so erfährt der Leser nicht nur ihre Namen und Vornamen, sondern auch die in Russland üblichen Vatersnamen. Dass dieses asymmetrische Namentrio, das Nabokovs ersten Roman eröffnet, kein Zufall sei, wird im Text deutlich unterstrichen: »Lew Glewo… Lew Glebowitsch? An so einem Namen, lieber Freund, kann man sich ja glatt die Zunge abbrechen.« »In der Tat«, bestätigte Ganin ziemlich kühl. […] Er […] ärgerte sich über die absurde Situation, in die sie beide geraten waren, und daß er mit diesem fremden Menschen nun wohl reden mußte. »Ich hab Sie nicht ohne Grund nach Ihrem Namen und Vatersnamen gefragt«, fuhr die andere Stimme unbeirrt fort. »Ich glaube nämlich, daß jeder Name…« »Soll ich nicht noch mal auf den Knopf drücken?« unterbrach ihn Ganin. »Bitte, drücken Sie. Nur fürchte ich, das hilft nicht viel. Also wie gesagt, jeder Name bringt gewisse Verpflichtungen mit sich. Und Lew und Gleb, das ist eine seltene Kombination, die sehr hohe Ansprüche stellt. Sie besagt, daß sie präzis, entschlossen und ziemlich exzentrisch sein müßten. Mein Name ist da bescheidener, und meine Frau heißt sogar schlicht und einfach Maschenka. Aber dabei fällt mir ein, daß ich mich nicht vorstellen muß: Alexei Iwanowitsch Alfjorow.73
Alfjorow ist der erste in der langen Reihe Nabokovscher Philister, die als musterhafte, ausdrückliche Verkörperung davon dienen, was in der russischen 71 Vgl. Osorgin, Michail. In: Melnikow, Nikolai (Мельников, Николай) (Hg.): Классик без ретуши. Литературный мир о творчестве Набокова. (Klassiker ohne Retusch. Die literarische Welt über Vladimir Nabokovs Schaffen). Moskau: Новое Литературное Обозрение 2000, S. 31–32. 72 Ebd., S. 406. 73 Nabokov, Vladimir: Maschenka. S. o., S. 11.
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Sprache mit dem stark abwertenden Wort poschlost‹ (пошлость) bezeichnet wird. Dieser eher umgangs- als fachsprachliche Begriff, für den es keine Eins-zueins-Übersetzung in der deutschen Sprache gibt, war für Nabokov bedeutend genug, um ihm einen kurzen Essay zu widmen.74 Nach Nabokov ist poschlost′ kein soziales, sondern vielmehr ein geistiges Phänomen, welches eine bestimmte Art von Menschen, oder besser: eine jedem Menschen innewohnende epistemologische Falschheit stigmatisiert. Ein erhöhtes Interesse für jegliche Namensoder Zahlensymbolik wie auch allgemeine Schwärmerei für die populäre Esoterik macht in Nabokovs Texten einen häufigen Bestandteil einer manierierten, phrasenhaften Philisterwelt aus. Erwähnenswert ist dabei aber, dass die Vertreter dieser Welt oft unbewusst durch ihre Aussagen oder Handlungen ins Schwarze treffen. So gelingt es Alfjorow, als er seine flache Namensphilosophie in einer dazu höchst ungeeigneten Situation treibt, Ganins Verhalten zufälligerweise ziemlich angemessen zu beschreiben. Und zwar nicht desjenigen vereinsamten, sich stets langweilenden, ja misanthropischen Ganin, wie der Leser ihn am Anfang des Romans kennenlernt, sondern des geänderten, inspirierten, entschlossenen Ganin, der durch Erinnerung an Maschenka zum Leben und Handeln geweckt wird. Die von Alfjorow servierte, auf den ersten Blick völlig danebenliegende Namensdeutung erweist sich im weiteren Handlungsablauf gewissermaßen als prophetisch, wobei Alfjorows primitives, reizloses Wesen sich sowohl in seinem Vor-, Nach- und Vatersnamen als auch in seiner ganzen Person zeigt. Nicht zu vergessen ist natürlich auch Maschenka, die ihr Ehemann bereits bei der ersten Nennung deutlich ironisch, geringschätzig behandelt. Eine russische Frau kann nämlich, streng genommen, nicht Maschenka heißen, sondern einzig so genannt werden, weil Maschenka – nach Nabokovs prägnanter Erklärung im Vorwort zu der englischsprachigen Ausgabe des Romans im Jahre 1970 – »eine sekundäre Verkleinerungsform von Maria«75 (also Maria – Mascha – Maschenka) ist. Der Name »Maria« ist allein kraft der für die christliche Kultur offensichtlichen Assoziations- und Bedeutungskette alles andere als »schlicht und einfach«, wie Alfjorows Missdeutung voraussetzt. Auch die »absurde Situation, in die sie beide geraten waren« ist in der Wirklichkeit noch viel absurder als es ihnen zu sein scheint – bedenkt man doch, dass Maschenka Alfjorows Ehefrau ist –, aber diese Absurdität ist am Anfang des Textes weder ihm noch Ganin bekannt und kann vom Leser nur während einer wiederholten Lektüre erfasst werden. Ungewollt prophezeiend wirkt auch diejenige leichtfertige Symbolsuche, der Maschenkas Antagonist verfallen ist. Weder Ganin noch Alfjorow 74 Vgl. Nabokov, Vladimir: Philister und Philistertum. In: Nabokov, Vladimir: Vorlesungen über russische Literatur. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2013, S. 630–639. 75 Nabokov, Vladimir: Vorwort des Autors zu englischsprachigen Ausgabe (1970). In: Nabokov, Vladimir: Maschenka, S. 173.
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wissen nämlich, wie wahr die Worte des Letzteren sind, als er behauptet: »Meinen Sie nicht auch, Lew Glebowitsch, daß unsere Begegnung hier etwas Symbolisches hat? Solange wir die terra firma unter den Füßen hatten, kannten wir uns nicht. Und nun will es der Zufall, daß wir zur gleichen Zeit nach Hause kommen und zusammen diesen Kasten betreten.«76 Der angesprochene »Zufall« ist natürlich der bis ins kleinste Detail durchdachten Struktur des Romans zu verdanken und könnte daher in der entworfenen Erzählwelt eher als Vorherbestimmung betrachtet werden. Diese Unwissenheit der fiktiven Gestalten über den ihrer textbegrenzten Realität überlegenen Autorwillen und -plan wird in den späteren Werken von Nabokov immer wieder aufscheinen und wird im narrativen Gesamtkonstrukt immer sorgsamer versteckt. Selbst die scharfsinnigsten von ihnen (Cincinnatus C., John Shade oder auch Adam Krug) können dieses endgültige Geheimnis ihrer Existenz kaum enthüllen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie andernfalls das Textgerüst verlassen sollten.77 Darüber hinaus ist die Szene im Fahrstuhl im Lichte soziologischer Überlegungen von Stefan Hirschauer zu betrachten, auf den sich Julia Reuter in Geschlecht und Körper beruft, indem sie über die »Inszenierung von Fremdheit im modernen Alltag«78 spricht. Hirschauer definiert den »Fahrstuhl als Schnittstelle einer Kreuzung sozialer Kreise, der im Sinne eines gesichtslosen ›Nicht-Ortes‹ […] zu einem Soziotop moderner Begegnungsstätten geworden ist«.79 Da aber Nabokovs Debütroman mit einem plötzlich kaputtgewordenen, stillstehenden Fahrstuhl eröffnet wird, ist das Verhalten beider Figuren anders als es in einer gewöhnlich-alltäglichen Situation wahrscheinlich der Fall wäre. Die von Hirschauer untersuchten »interpersonellen Rituale der Fahrstuhlinsassen untereinander […], die […] es schaffen, sich konsequent als nicht-zugehörig zu behandeln«,80 unterliegen hier einer gründlichen Metamorphose. Der ›unpersönliche‹ Fahrstuhlraum wirkt äußerst sozial, evoziert er ja den ersten Kontakt zwischen zwei russischen Emigranten, die dieselbe Pension bewohnen und im engen Verhältnis zur Titelfigur – Maschenka – stehen bzw. standen. Die Situation des »allgemeinen herrschenden Schweigegebotes«81 verwandelt sich in einen kurzen, aber bedeutungsschweren Dialog, ohne den die ganze weitere Romanhandlung nicht hätte zustande kommen können. Allerdings heißt die Bezeichnung »sozial« bei Weitem nicht, dass eine beiderseits engagierte, authentische 76 Nabokov, Vladimir: Maschenka. S. o., S. 13. 77 Vgl. Barabtarlo, Gennady (Барабтарло, Геннадий): Сочинение Набокова. (Nabokovs Schaffen). Sankt Petersburg: Издательство Ивана Лимбаха 2011, S. 243. 78 Reuter, Julia: Geschlecht und Körper. Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Bielefeld: transcript Verlag 2011, S. 56. 79 Siehe: ebd. 80 Ebd. 81 Ebd., S. 57.
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Interaktion zwischen den Figuren als Individuen entsteht. Ganin und Alfjorow bleiben einander fremd und ihr Gespräch hat rein informativen Wert, welcher erst später und nur einem von ihnen (dem Protagonisten nämlich) klar wird. Der steckengebliebene Fahrstuhl spielt hier eine funktionale Rolle, ohne die innere Isolation der Hauptfigur zu durchbrechen. Im Gegenteil: Das Gespräch mit Alfjorow illustriert sehr deutlich, wie einsam sich Ganin unter seinen Landsleuten fühlt. Diese existentielle, ontologische Einsamkeit, die sich auf keine nationale oder soziokulturelle Entwurzelung zurückführen lässt, ist eines der konstanten und kennzeichnendsten Merkmale aller Protagonisten Nabokovs. Gewiss sehnt sich Ganin nach Russland und kann mit der ihn umgebenden Berliner Realität nichts anfangen, aber auch das ›Mikro-Russland‹ des zahlreich repräsentierten Emigrantenmilieus bildet für ihn keinen integrationswerten Kulturkreis. Alfjorow, der ja sein Landsmann ist, wird bereits in der ersten Szene des Romans gleich als ein »fremder Mensch« abgestempelt, was auch die innere, geistige Entfremdung miteinbezieht. Düster und zurückhaltend ist auch die Beschreibung der russischen Pension, die das zweite Kapitel eröffnet: Die Pension war ein russisches Unternehmen und ausgesprochen unangenehm. Unangenehm vor allem deshalb, weil dort den ganzen Tag und einen großen Teil der Nacht die Stadtbahnzüge vorbeilärmten und den Eindruck erweckten, als bewege sich das gesamte Gebäude langsam vorwärts. Die Diele, in der ein trüber Spiegel […] hing […], verengte sich zu einem kahlen, bedrückend schmalen Korridor.82
Die Nähe der Eisenbahn spielt nicht nur auf das Romanende an, sondern unterstreicht auf eine unübersehbare Art die Unbeständigkeit des vermeintlichen Asyls, in dem die russischen Emigranten, damals noch vom naiven Glauben beflügelt, den ›Revolutionswahn‹ zu überdauern hofften. Eine Pension ist ja an sich schon kein bodenbeständiger Raum, in dem man wohnt, sondern häufig eher ein Zwischenraum, wo der Gast eine gewisse Zeit verbringt, bevor er das eigentliche Ziel seiner Reise erreicht. Allein die Tatsache, dass alle Romanfiguren ein Hotel bewohnen, ist also für das unübliche, vagabundenhafte Emigrantendasein charakteristisch. Durch den ständigen Lärm der Stadtbahnzüge wird dieser Vergänglichkeitsaspekt bei der Beschreibung der Pension deutlich verstärkt, sodass sie, wie etwa der Bahnhof in der Raumtypologie von Marc Auge, zu einer Art »Nicht-Ort« wird: Ort und Nicht-Ort sind fliehende Pole; der Ort verschwindet niemals vollständig, und der Nicht-Ort stellt sich niemals vollständig her – es sind Palimpseste, auf denen das verworrene Spiel von Identität und Relation ständig aufs neue seine Spiegelung findet. Dennoch sind die Nicht-Orte das Maß unserer Zeit, ein Maß, das sich quantifizieren läßt
82 Nabokov, Vladimir: Maschenka, S. 16.
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und das man nehmen könnte, indem man […] die Summe bildete aus den Flugstrecken, den Bahnlinien und den Autobahnen, den mobilen Behausungen, die man als ›Verkehrsmittel‹ bezeichnet (Flugzeuge, Eisenbahnen, Automobile), den Flughäfen, Bahnhöfen und Raumstationen […] und schließlich dem komplizierten Gewirr der verkabelten oder drahtlosen Netze, die den extraterrestrischen Raum für eine seltsame Art der Kommunikation einsetzen, welche das Individuum vielfach nur mit einem anderen Bild seiner selbst in Kontakt bringt.83
Eben eine solche Kommunikation bzw. Scheinkommunikation verbindet mehrere Figuren Nabokovs, nicht nur in Maschenka. ›Schuld‹ daran sind hier allerdings, anders als bei Auge, weder die rasche technologische Entwicklung noch die modifizierten zwischenmenschlichen Verhältnisse in einer globalisierten Welt, sondern die abgekapselte Natur des menschlichen Bewusstseins, welche nicht zuletzt auf zeiträumliche Begrenztheit zurückgeht. Nichtsdestotrotz ist der Begriff des Nicht-Ortes an die Analyse von Nabokovs ›Berliner Prosa‹ durchaus anwendbar. Sich auf Michel de Certeau berufend, erläutert der französische Anthropologe die Ort-Raum-Differenz folgendermaßen: Die Unterscheidung zwischen Orten und Nicht-Orten beruht auf dem Gegensatz von Ort und Raum. […] Nun hat aber Michel de Certeau für die Begriffe des Ortes und des Raumes eine Analyse vorgelegt, die wir hier nicht ignorieren können. Für ihn bilden »Orte« und »Räume« keinen Gegensatz wie »Orte« und »Nicht-Orte«. Der Raum ist in seinen Augen »ein Ort, mit dem man etwas macht«, ein »Geflecht von beweglichen Elementen«; erst die Fußgänger verwandeln die von der Stadtplanung geometrisch als Ort definierte Straße in einen Raum.84
Anders formuliert, ist der Raum ein ›vermenschlichter‹ Ort. In dieser Funktion treten Nabokovs Räume z. B. in Pnin auf, wo die tragikomische Titelfigur, ein russischer Professor an einer amerikanischen Universität, seine neue Mietwohnung zunächst gründlich »pninisieren«85, d. h. zu einem Privatraum machen muss, um erst danach in seinen dortigen Alltag zu starten. Galina Romanowa sieht in dieser ›Pninisierung‹ den Versuch, einem materiellen Raum ideelle, geistige Eigenschaften zu verleihen, das Dasein ins Sein zu verwandeln.86 Dem Protagonisten von Maschenka wird derartige Raumumgestaltung nicht gegönnt. 83 Vgl. Auge, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. http://swiki.hfbk-hamburg.de:8888/Medienoe kologie/uploads/auge-ortenichtorte.pdf, S. 94 / letzter Zugriff am 03. 01. 2017. 84 Ebd., S. 94–95. 85 Nabokov, Vladimir: Pnin. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999, S. 41. 86 Vgl. Romanowa, Galina (Романова, Галина): Философско-эстетическая система Владимира Набокова и ее художественная реализация: период американской эмиграции. (Vladimir Nabokovs philosophisch-ästhetisches System und dessen künstlerische Realisierung: amerikanische Emigrationszeit). http://cheloveknauka.com/filosofsko-esteticheskaya-siste ma-vladimira-nabokova-i-ee-hudozhestvennaya-realizatsiya-period-amerikanskoy-emigrat sii/ letzter Zugriff am 04. 01. 2017.
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Die zwar eigenartige, von der allgegenwärtigen Popkultur dominierte, aber trotzdem – oder eben dank ihrer harmlosen Naivität – anziehende amerikanische Wirklichkeit scheint dafür geeigneter zu sein als das bleierne, befremdende Berlin der 1920er Jahre. Deutschlands Hauptstadt wird von Ganin, ähnlich wie von mehreren anderen Emigrantenfiguren im Roman, eindeutig als ein »NichtOrt« empfunden. Einen naheliegenden Grund dafür bildet die Sprachbarriere. Die Räumlichkeitsproblematik ist nämlich mit »der Sprache und dem Akt des Sprechens«87 durchaus verbunden und vergleichbar, was Marc Auge überzeugend illustriert, indem er, Michel de Certeau zitierend, folgende metaphorische Parallelen ans Licht bringt: Im Verhältnis zum Ort wäre der Raum ein Wort, das ausgesprochen wird, nämlich von der Ambiguität einer Realisierung ergriffen und in einen Ausdruck verwandelt wird, der sich auf viele verschiedene Konventionen bezieht; er wird als Akt einer Präsenz (oder einer Zeit) gesetzt und durch die Transformationen verändert, die sich aus den aufeinanderfolgenden Kontexten ergeben« […].88
Transponiert man de Certeaus Vergleich aufs Emigrantenmilieu in Maschenka, so kann man zur folgenden Konklusion kommen: Der Berlin-Raum als ausgesprochenes Wort bleibt von den russischen Einwanderern unverstanden, und zwar unter anderem aus dem trivialen Grund, dass sie – ähnlich wie Nabokov selbst – die deutsche Sprache kaum beherrschen. Es gibt natürlich auch andere, bedeutendere Entfremdungsfaktoren, die aber ebenfalls im engen Verhältnis zur Sprache stehen, welche sowohl den Kulturraum Nabokovscher Erzählwelten als auch das Bewusstsein seiner Protagonisten bedingt. Die Sprachbeherrschung erweist sich daher in Nabokovs Universum als eine obligatorische Voraussetzung für Raum-Mensch-Interaktion. Man sollte betonen, dass es sich dabei nicht nur um zwischenmenschliche Kommunikation handelt (dies wäre ja ohnedem offensichtlich). Nicht minder wichtig sind hier solche erweiterten, auf keine beziehungspragmatischen Aspekte reduzierten Funktionen der Sprache, wie beispielsweise ihr Benennungspotenzial, Strukturierungsvermögen oder auch der kreative Denk- bzw. Schreibprozess. Es gibt in der Pension zwar »die homosexuellen Tänzer, denen es besser geht, da sie eine Kunst ausüben, die […] nicht auf der Sprache beruht.«89 Den meisten russischsprachigen Emigranten, die Maschenkas Berlin bewohnen, wird dieser Luxus jedoch verweigert. Unter diesen Umständen kann der Raum weder als »Akt einer Präsenz« noch als »Akt einer Zeit« fungieren und degradiert folgerichtig zu einem »Nicht-Ort«. Ganin, der seiner nächsten Umgebung emotional wie intellektuell überlegen ist, nimmt 87 Vgl. Auge, Marc: Orte und Nicht-Orte. http://swiki.hfbk-hamburg.de:8888/Medienoekologie /uploads/auge-ortenichtorte.pdf, S. 95 / letzter Zugriff am 04. 01. 2017. 88 Ebd., S. 95 / letzter Zugriff am 04. 01. 2017. 89 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 399.
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diese identifikatorische Raumverlorenheit besonders intensiv und schmerzhaft wahr. Nichts kann ihn an seiner Berliner Existenz erfreuen, nichts scheint sinnoder wertvoll zu sein. Doch die Erinnerung an Maschenka ändert Ganins bisheriges ›Schattenleben‹ grundlegend. Die längst vergangene, aus dem Gedächtnis verdrängte Liebesgeschichte wird zu einer Art geistigen Schutzmechanismus, der den gegebenen fremden Zeitraum durch den idealisierten Erinnerungsraum der russischen Jugend ersetzt. Die Einmaligkeit des Augenblicks, da Ganin am Ende des zweiten Kapitels das Photo von Alfjorows Frau sieht und sich seine entschwundene Liebe vergegenwärtigt, wird im Roman ausdrucksvoll pointiert. Das kurze dritte Kapitel beginnt nämlich mit einer scheinbar nebensächlichen Beschreibung, die in keiner direkten Verbindung zum neulich bekanntgegebenen Leitmotiv der Geschichte steht: In dieser Nacht schleppte sich, wie jede Nacht, ein kleiner alter Mann, der einen schwarzen Umhang trug und seinen Knotenstock bei jedem Schritt fest in den Asphalt bohrte, dicht am Rinnstein die lange, menschenleere Straße entlang und suchte nach Zigarettenkippen […] Hin und wieder brauste, rührend wie ein Hirsch, ein Auto vorbei, oder es geschah etwas, das kein Fußgänger in der Stadt je bemerkt: daß geschwinder als ein Gedanke und lautloser als eine Träne ein Stern vom Himmel fiel. Denn protziger und lustiger als die Sterne strahlten die feuerroten Leuchtbuchstaben, die einer nach dem anderen über einem schwarzen Dach hervorsprudelten, im Gänsemarsch vorbeidefilierten und plötzlich in der Finsternis verschwanden.90
Das Bild eines anonymen Obdachlosen, der die nächtlichen Straßen Berlins regelmäßig auf der Suche nach Zigarettenresten durchwandert, sowie der unempfindlichen Fußgänger, deren Blicke, von leuchtender Werbung aufgezehrt, die traurige Schönheit eines fallenden Sterns kaum bemerken, hat nur auf den ersten Blick mit Maschenka und Russland nichts zu tun. Schon im nächsten Absatz taucht eine dezent und gekonnt eingeführte Analogie auf: »Ist das… tatsächlich… möglich?« fragten die Buchstaben in diskretem Neonflüsterton, doch dann fegte die Nacht sie mit einem samtigen Schlag davon. Und schon begannen sie aufs neue über den Himmel zu kriechen: »Ist das… tatsächlich…« Und wieder brach Dunkelheit herein. Doch die Wörter flammten beharrlich noch einmal auf, und schließlich strahlten sie, statt jäh zu verschwinden, ganze fünf Minuten hintereinander, wie es die Werbeagentur und der Fabrikant ausgemacht hatten.91
Die Frage, welche auf dem Neonwerbeschild erscheint, illustriert natürlich die Gedanken von Ganin, seine fiebrige, zweifelhafte Erkenntnis, dass das Fahrstuhltreffen mit Alfjorow in der Tat nicht zufällig war. Dies bestätigt folgende Textpassage:
90 Nabokov, Vladimir: Maschenka, S. 47. 91 Ebd., S. 47–48.
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Und über diese Straßen, die jetzt so breit sind wie glänzende schwarze Meere, zu dieser späten Stunde, da die letzte Kneipe längst zugemacht hat, läuft ein Mann aus Rußland, bar der Fesseln des Schlafs, hutlos und ohne Jacke unter dem alten Regenmantel, in hellseherischer Versunkenheit umher; zu dieser späten Stunde zogen über diese breiten Straßen Welten, die einander vollkommen fremd waren: nicht mehr irgendein Nachtschwärmer, keine Frau, kein einfacher Passant, sondern jeder eine völlig abgeschlossene Welt, jeder eine Ganzheit aus Wundersamem und Bösem. Fünf Pferdedroschken standen hintereinander auf der Straße neben der riesigen Trommel eines Pissoirs: fünf schläfrige, warme graue Welten in Kutscherlivreen und fünf andere Welten auf schmerzenden Hufen, die schliefen und im Traum nur Hafer sahen, der mit leisem Knistern aus einem Sack strömte.92
In diesem meisterhaft skizzierten Nachtstadtentwurf, einem der schönsten in Nabokovs Frühprosa, macht der Erzähler einen kunstvollen Sprung von distanzierter, unpersönlicher Beschreibung des äußeren Raumes zum Innenraum des Protagonisten. Ganins liebevolle Erinnerung (hier im ganz direkten Sinn eine von Liebe erfüllte Erinnerung) aktiviert nicht nur sein Gedächtnis, sondern verschärft auch die allgemeine Realitätswahrnehmung. Die einst fremde, unzugängliche Umgebung gewinnt nun persönliche, unverkennbare Züge, wird zu einer nuancenreichen, bewährten, Vertrauen erweckenden Ganzheit. Sogar die Tierwelt – fünf Pferde »auf den schmerzenden Hufen«, deren Träume vom Erzähler bzw. vom Protagonisten erkannt werden –, scheint am seligen Erinnerungsprozess teilzunehmen. Neben jenem neuen, intimen und vertrauten Zugang zur ihn umkreisenden Gegenwart wird Ganin auch ein diskreter Einblick in die Zukunft genehmigt. Nicht zufällig ist hier die Rede vom Zustand »hellseherischer Versunkenheit«, d. h. einer konzentrierten Erinnerung, die das Vorgefühl künftiger Freude miteinbezieht. Diese Glücksahnung wird am Ende des Romans verwirklicht, obwohl anders als es sich Ganin erhofft: nicht etwa im Treffen mit Maschenka, sondern im Gegenteil durch die Erkenntnis der Unmöglichkeit jeglicher Vergangenheitsreanimierung. Der angeführte Passus markiert allerdings erst den Anfang permanenter räumlicher Metamorphosen, die von nun an den Protagonisten stets begleiten. Die vergangene, nicht mehr existente, aber, wie es sich herausstellt, keineswegs vergessene Welt übt einen unmittelbaren, höchst intensiven Einfluss auf die jetzige Realität der Hauptfigur aus. Bildet das Kapitel 3 des Romans ein kurzes poetisches Intermezzo, eine inspirierte Straßenskizze, die das Gefühl des inneren Erwachens des Protagonisten in das Bild nächtlicher Großstadt gekonnt hineinkomponiert, so fängt das nächste Kapitel mit einer ausgesprochen prosaischen, sachlichen Beschreibung an, die den spontanen Wandel in Ganins Alltag
92 Ebd., S. 48.
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zwar noch nicht beim Namen nennt, aber keine Zweifel bezüglich seines wiederbelebten Lebenswillens lässt: Er sprang mit entschlossenem Schwung aus dem Bett und begann sich zu rasieren. Heute machte ihm das ein besonderes Vergnügen. Wer sich rasiert, wird jeden Morgen einen Tag jünger. Und Ganin hatte das Gefühl, daß er heute ganze neun Jahre jünger geworden war. […] Während des Rasierens bewegte Ganin immer wieder die Augenbrauen, und als er sich danach in der Badewanne aus dem Waschkrug mit kaltem Wasser übergoß, strahlte er vor Freude.93
Entschlossen wirkt nicht allein der Schwung des Aufstehens, sondern das ganze neue Leben von Ganin. Noch an demselben Morgen besucht er Ljudmila, seine derzeitige Geliebte, um ihr zu gestehen: »Es scheint, ich bin in eine andere Frau verliebt. Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden.«94 Ganin muss sich von Ljudmila nicht nur aus dem naheliegenden, von ihm erwähnten Grund trennen, dass sein Herz einer anderen Frau gehört. Alles, was nicht mit Maschenka und der Vergangenheit verbunden ist, erweist sich in seinem aktuellen Zustand als Störfaktor, eine Scheidelinie zwischen ihm und seinen kostbaren Erinnerungen, die sich in eine Art Doppelgänger personifizieren: Er setzte sich in einem Park auf eine Bank, und sofort streckte sich sein behutsamer Begleiter, der ihn die ganze Zeit verfolgt hatte, sein grauer Frühlingsschatten, zu seinen Füßen aus und fing an zu sprechen. Jetzt, da Ljudmila fort wahr, hatte er die Freiheit, ihm zuzuhören.95
An dieser Stelle tritt im Text die erste ausführliche Analepse hervor – ein Erzählmittel, das den weiteren Handlungsablauf des Romans bestimmen wird. Ganin erinnert sich dabei an die Zeit »vor neun Jahren, im Sommer 1915«96, als er, nach einer Typhuserkrankung langsam genesend, eine süßneblige, prophetische Vision hatte, die für das neuromantische Liebeskonzept in Nabokovs Erzählwerk sehr charakteristisch ist: In diesem Zimmer, wo Ganin mit sechszehn vom Typhus gesundete, hatte er jenes Glück empfangen, das Bild jenes Mädchens, dem er einen Monat darauf in Wirklichkeit begegnen sollte. […] Schließlich war es ja nichts weiter als eine jugendliche Vorahnung, ein köstlicher Nebel. Doch heute wollte es Ganin scheinen, als wäre solch eine Vorahnung noch nie so vollständig erfüllt worden.97
Ein ähnliches Vorgefühl naher Erfüllung tritt bei Nabokov öfters auf. So z. B. im 1921, fünf Jahre vor Maschenka geschriebenen Gedicht, wo das lyrische Ich einen 93 94 95 96 97
Nabokov, Vladimir: Maschenka, S. 50. Ebd., S. 52. Ebd., S. 54. Ebd. Ebd., S. 57.
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derart nachhaltigen Spürsinn für Liebe entwickelt, dass die spätere Begegnung mit dem erträumten Ideal geheimnisvolle, mystische Züge trägt: Seit langer Zeit habe ich so oft von dir geträumt,/ mehrere Jahre vor unserem Treffen,/ als ich alleine saß und die Nacht sich durchs Fenster heranschlich/ und die Kerzen vielsagend einander zuzwinkerten./ […] Ich rief nach dir, ich wartete. Jahre vergingen. Ich wanderte/ die steinernen Abhänge hinunter/ und entdeckte inmitten bitterer Stunden dein Bild/ in entzückenden und reinen Versen./ Und nun hast du, o Zarte, meine Wirklichkeit besucht,/ sodass ich mich heute abergläubisch/ jener Spiegel entsinne,/ die dich richtig vorhergesagt haben.«98
Zwar ist Lew Ganin weder Dichter noch Romantiker, aber auch ihm sind, wie der Text explizit zeigt, derartige Zustände nicht ganz fremd. Die Intensität vormaliger Gefühle, gepaart mit entflammter Gedächtnisschärfe, machen aus Maschenkas Protagonisten einen ungewollten bzw. unbewussten Künstler, der die Wirklichkeit um sich herum so werkgerecht umzugestalten vermag, dass sie sich von einem leblosen Nicht-Ort in einen blühenden Erinnerungsraum verwandelt. Nassim W. Balestrini fasst diese Zeit-Raum-Modifikation in ihrer Einführung in Nabokovs Erzählwerk prägnant zusammen: Er verliert sich so sehr in Erinnerungen an Maschenka und Rußland, daß er die Berliner Umgebung kaum noch wahrnimmt […] und die Vergangenheit zur überwältigenden Pseudo-Realität erblühen läßt. […] Daher wird […] die Erinnerung zum »wahre[n] Leben« und das Exil zum »Traumleben«, bevölkert mit »Gespenster[n]«.99
Zu betonen ist dabei, dass der gespenstische Charakter des Exillebens einzig durch die Erinnerung an Maschenka intensiviert wird, denn Ganin empfindet die Berliner Wirklichkeit von Anfang an als neblige, theater- bzw. filmhafte Raumimitation. Diese Einstellung zur fremden, illusorisch wirkenden Realität wird auch in Nabokovs Autobiographie beinahe in gleichen Bildern präsentiert, die eine genaue Illustration dafür liefern, wie sich die meisten russischen Emigranten damals in Berlin fühlten: Wenn ich auf jene Jahre des Exils zurückschaue, sehe ich mich und Tausende anderer Russen ein seltsames, aber keineswegs unangenehmes Leben in materieller Armut und intellektuellem Luxus führen, ein Leben unter völlig belanglosen Fremden, geister-
98 http://www.askbooka.ru/stihi/vladimir-nabokov/mechtal-ya-o-tebe-tak-chasto-tak-davno.h tml/ letzter Zugriff am 06. 01. 2017: »Мечтал я о тебе так часто, так давно,/ за много лет до нашей встречи,/ когда сидел один, и кралась ночь в окно,/ и перемигивались свечи.// Я звал тебя, я ждал. Шли годы. Я бродил/ по склонам жизни каменистым/ и в горькие часы твой образ находил/ в стихе восторженном и чистом.// И ныне, наяву, ты лёгкая пришла,/ и вспоминаю суеверно,/ как те глубокие созвучья-зеркала/ тебя предсказывали верно.« [Übersetzt von A.K.]. 99 Balestrini, Nassim W.: Vladimirs Nabokovs Erzählwerk. Eine Einführung. München – Berlin: Verlag Otto Sagner 2009, S. 43.
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haften Deutschen und Franzosen, in deren mehr oder minder unwirklichen Städten wir, die Emigranten, zufällig unser Domizil genommen hatten.100
Abb. 2, Abb. 3: Berliner Haus, in dem Nabokov von 1932 bis 1937 wohnte.
Das Gefühl des Illusorischen an der so genannten objektiven Wirklichkeit war für Nabokovs Lebensempfindung allgemein durchaus üblich. Die jahrelangen Exilerfahrungen haben mutmaßlich diese tiefe Kluft zwischen dem inneren Ichund dem äußeren Weltraum intensiviert. Interessant ist allerdings, dass Nabokov seine persönlichen Gefühle und Eindrücke bewusst generalisiert und auf mehrere russische Auswanderer überträgt. Bei der Beschreibung des Europaexils benutzt einer der größten und konsequentesten Außenseiter der Weltliteratur ausnahmsweise die Form »wir«, die außer dem Emigrantenkontext nur noch im Finale von Einladung zur Enthauptung erscheint, als die Seele des Protagonisten sich nach seiner Exekution in die Richtung bewegt, »wo, nach den Stimmen zu urteilen, ihm verwandte Wesen standen.«101 Daraus ist natürlich keineswegs zu schließen, dass sich Nabokov mit den Asylantenkreisen bzw. mit irgendwelchen anderen soziokulturellen Gruppen innerlich identifizierte. Derlei Konformitäten waren ihm eher fremd. Was hier aber offensichtlich anerkannt und markiert wird, ist das gemeinsame Schicksal sämtlicher Revolutionsflüchtlinge, deren 100 Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2005, S. 375. 101 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999, S. 253.
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vagabundenartiger Lebensweg ein etwas argwöhnisches, spezifisch reserviertes Verhältnis zur Wirklichkeit bewirkte. Besonders beachtenswert sind in diesem Bezugsrahmen die paradigmatischen Macht- und Unterwerfungsbeziehungen zwischen Neuankömmlingen und Ureinwohnern, deren Beschreibung die oben zitierte Stelle aus Nabokovs Autobiographie folgenderweise fortsetzt: Diese Einheimischen schienen genauso flach und durchsichtig wie aus Zellophanpapier geschnittene Figuren, und obwohl wir ihre Einrichtungen benutzten, ihren Clowns Beifall klatschten und am Straßenrand ihre Pflaumen und Äpfel pflückten, bestand zwischen uns und ihnen keine wirkliche Beziehung von der herzlichen, menschlichen Art, wie sie in unserer eigenen Mitte so verbreitet war. Zuzeiten schien es, als ignorierten wir sie so, wie ein entweder arroganter oder aber sehr dummer Eroberer eine form- und gesichtslose Menge von Eingeborenen ignoriert, doch gelegentlich, recht häufig sogar, überkam ein schrecklicher Krampf diese Geisterwelt […] und sie zeigte uns, wer der immaterielle Gefangene war und wer der wahre Herr. Unsere völlige physische Abhängigkeit von dieser oder jener Nation, die uns kühl politisches Asyl gewährt hatte, wurde schmerzlich offenbar, wenn irgendein erbärmliches »Visum«, irgendein teuflischer »Personalausweis« beantragt werden mußte, denn dann versuchte die gierige bürokratische Hölle, sich um den Bittsteller zu schließen, und er mochte alt und grau werden, während seine Akte in den Schreibtischen von Konsuln und Polizeibeamten mit Rattenbärten praller und praller anschwoll.102
Dieses aufrichtige, zwischen Stolz und Wehmut balancierende Bekenntnis (das erstaunlich aktuell klingt, denke man ja an die zahlreichen Migranten und Flüchtlinge im heutigen Europa) zeigt die ganze Palette wechselseitiger Relationen unter den ›Hiesigen‹ und den ›Fremden‹. Die Letzteren sind – wie Nabokov ausdrücklich unterstreicht – von der Empfangsseite zwar physisch abhängig, desto stärker ist aber ihr Drang danach, geistige bzw. kulturelle Freiheit aufzubewahren. Dieses abgekapselte Dasein wird kaum idealisiert oder gar mit Zuneigung dargestellt, sondern kühl und unparteiisch analysiert. Nicht zufällig vergleicht Nabokov die Haltung der Emigranten den ›Eingeborenen‹ gegenüber mit der eines arroganten ›Eroberers‹, was übrigens eine genauso paradoxe wie treffende Formulierung ist, denn auch heute betrachten viele Vertreter der russischen Diaspora im Ausland das westliche Gesellschafts- und Wertesystem kritisch bzw. abwertend. Dieser Hochmut lässt sich nicht zuletzt eben durch jene Machtlosigkeit erklären, die einen permanenten Bestandteil des Emigrantenalltags bildet. Die ohnehin diffizile tagtägliche Existenz im flüchtigen Zwischenraum eines provisorischen Asyls, voller unausweichlicher Probleme sprachlicher und kultureller Natur, wird überdies noch durch bürokratische Rigorosität zahlloser Ämter und Behörden gestört. In Maschenka wird diese demütigende Ratlosigkeit in der tragischen Gestalt eines alten russischen Dich102 Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich, S. 375–376.
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ters namens Podtjagin personalisiert, dessen größter, inbrünstig ersehnter Traum ist, das französische Visum zu bekommen. Die erniedrigende, kafkaeske Beamtenwirklichkeit ›erzieht‹ den von ihr abhängigen Asylanten zu einem nicht nur gehorsamen, sondern auch erschrockenen und entwürdigten ›Gefangenen‹. Dadurch wird die einst gewonnene Asylfreiheit wesentlich relativiert, denn sie erweist sich in hohem Maße als bloße Kehrseite von Heimatlosigkeit. Daraus resultieren Podtjagins erschütternd naive Zukunftsvisionen, in denen er eine bessere künftige Welt erhofft, wo die quälende Absurdität seiner jetzigen Leiden nicht mehr vorhanden ist: »Unsere Enkel werden diesen ganzen Unsinn mit den Visa nicht begreifen«, sagte Podtjagin und betrachtete ehrfürchtig seinen Paß. »Sie werden nie und nimmer begreifen, wieviel menschliche Ängste mit so einem simplen Stempelabdruck verbunden waren. Aber was glauben Sie?« fügte er besorgt hinzu. »Ob die Franzosen mir jetzt wirklich ein Visum geben?«103
Das Schicksal spielt mit Podtjagin ein böses Spiel. Mit Hilfe von Ganin, der die deutsche Sprache wesentlich besser beherrscht, bekommt der Dichter das Visum, verliert aber auf dem Rückweg von dem Amt in die Pension seinen Reisepass und stirbt bald danach an einem Herzschlag. Die kurze Szene seines Verlöschens, dessen einziger Zeuge der Protagonist ist, zeigt abermals mit ergreifender Aussagekraft diese totale, den verzweifelten Emigranten bis zum letzten Hauch begleitende Panik: Als Ganin an das Kopfende des Bettes trat, schlug Podtjagin die Augen auf. Einen Moment lang fand sein Herz in dem Abgrund, in den er immer tiefer fiel, einen schwachen Halt. Da war noch so vieles, was er sagen wollte – daß er nun nie mehr nach Paris kommen und erst recht die Heimat nicht mehr wiedersehen würde, daß sein ganzes Leben stumpf und fruchtlos gewesen sei und daß er nicht wisse, warum er gelebt habe und warum er sterbe. Er rollte den Kopf zur Seite, sah Ganin verblüfft an und murmelte: »Sehen Sie – ohne jeden Paß.« Ein Anflug von Heiterkeit verzog seine Lippen. Dann verlor sich sein Blick wieder, und abermals sog ihn der Abgrund hinunter […].104
Die erbarmungswürdige Diskrepanz zwischen der im wahrsten Sinne des Wortes todernsten Situation und den letzten Worten des Sterbenden verdeutlicht, wie tief das visumorientierte Denken in der allseits schutzlosen Innenwelt eines Emigranten verankert ist. Kennzeichnend ist hier auch das ungezähmte Gedankenchaos, in dem jegliche Logik aufgehoben wird, sodass Podtjagin einerseits bereut, er werde seine Heimat nie mehr wiedersehen, andererseits tut es ihm aber leid, dass er nicht nach Paris kommen kann, das sich noch viel weiter von Russland befindet als die deutsche Hauptstadt. 103 Ebd., S. 126. 104 Ebd., S. 165.
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Auch Ganin fühlt sich in der neuen Berliner Realität machtlos, bis seine Erinnerungen an Russland und Maschenka ihm die verlorene Lebens- und Willenskraft zurückerstatten. Erst dann wird der Protagonist aus dem leblosen Schatten eines willensschwachen Statisten zum eifrigen, kreativen Mitgestalter der ihn umgebenden Realität: Er war ein Gott, der eine untergegangene Welt noch einmal erschuf. Stück für Stück ließ er diese Welt wiederauferstehen, und zwar einem Mädchen zuliebe, das er dort nicht eher hineinzusetzen wagte, als bis das Werk vollendet war. […] Er hatte Angst, dabei einen Fehler zu machen und sich im strahlenden Labyrinth der Erinnerung zu verlieren, und so ließ er sein vergangenes Leben nur zögernd und behutsam wiedererstehen […].105
Kennzeichnend ist dabei Ganins Furcht, sich im selbsterrichteten Erinnerungsmosaik zu verlieren, woraus deutlich folgt, dass sein eigentliches Ziel nicht in der Flucht in die Vergangenheit besteht. Vielmehr erstrebt er eine solche Neuorganisation gegebener Wirklichkeit, die den externen Berlin-Raum zum internen Geistesparadies veredelt, zu einem poetisierten Lebensraum also, mit dem man sich, im Gegensatz zum beziehungslosen Nicht-Ort, emotiv identifizieren kann. Der Erinnerungsprozess in Maschenka ist daher kein amorphes, wirklichkeitsfremdes Abstraktum, sondern ein bewusster und höchst aktiver, handlungstragender Vorgang. Die zweidimensionale Struktur des Romans, die mit der ersten RusslandErinnerung beginnt und danach konsequent beibehalten bleibt, verleiht dem Text eine innere Dynamik, die dem statischen, leb- und aussichtslosen Berliner Alltag fehlt. Die eigentliche Handlung verläuft in der Gedankenwelt der Hauptfigur. Auf der bloßen Plotebene bleibt Maschenka beinahe ereignis- und somit auch sujetlos, denn ein Ereignis ist nach Lotman »die kleinste unzerlegbare Einheit des Sujetaufbaus«106, die »Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes«.107 In diesem Sinne gibt es in Nabokovs Roman keine richtigen Ereignisse, denn alle im Text handelnden Figuren wurden bereits vor Beginn der erzählten Zeit über die Grenze ihres semantischen bzw. kulturellen Feldes versetzt. Das Treffen mit Maschenka – das einzige potentielle Ereignis, das den logischen Höhepunkt der ganzen Geschichte ausmachen sollte –, findet überhaupt nicht statt. Desto faszinierender ist die Tatsache, dass es Nabokov trotz vermeintlicher Sujetlosigkeit gelingt, seinen Text äußerst abwechslungsreich und dynamisch zu gestalten. Dieser Eindruck permanenter Bewegung, der beim Lesen von Maschenka paradoxerweise entsteht, ist zwei konstanten Elementen erzählter Wirklichkeit zu verdanken. Zum einen geht es dabei um die 105 Ebd., S. 58. 106 Lotman, Jurij: Die Struktur künstlerischer Texte. Stuttgart: UTB 1993, S. 330. 107 Ebd., S. 332.
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mehrmals exponierte Nähe der Eisenbahn, die sich direkt an der russischen Pension befindet, sodass die ständige Hin- und Herfahrt der Züge den Asylantenalltag alleweil zu durchdringen scheint. Zum anderen sind es Ganins Erinnerungen, die nicht als realitätsfremde Fiktion fungieren, sondern mit der Berliner Wirklichkeit stets korrespondieren. So spiegelt sich die bereits erwähnte Jugenderinnerung an die lange Genesung nach einer schweren Erkrankung in der aktuellen geistigen Wandlung des Protagonisten wider: Und während er an diesem Frühlingsdienstag in Berlin umherwanderte, gesundete er aufs neue, spürte am eigenen Leib, wie es war, wenn man zum ersten Mal das Bett verlassen durfte, und empfand noch einmal die Schwäche in den Beinen. […] Als er das Ende der Allee erreicht hatte, wo zwischen dem dunklen Grün der Tannennadeln eine weiße Bank leuchtete, drehte er um und erblickte jetzt, weit vor sich in einer Lücke zwischen den Linden, den orangenen Sand der Gartenterrasse und die glitzernden Scheiben der Veranda. Die Krankenschwester fuhr nach Petersburg zurück.108
Eine Allee in Berlin überquerend, gerät Ganin plötzlich auf die Gartenterrasse seiner russischen Kindheit. Dies geschieht selbstverständlich nur in seiner von Erinnerung inspirierten Phantasie, hat aber einen unmittelbaren Einfluss auf den aktuellen physischen und geistigen Zustand des zum Leben erwachten Protagonisten. Der letzte Satz der zitierten Passage bezieht sich wiederum auf die Vergangenheit und versetzt die Handlung in einen anderen Zeitraum. Man könnte also behaupten, die angesprochene Bewegung sei illusorisch, denn in der Realzeit der Romanhandlung gebe es weder Entwicklung noch Dynamik. Dies stimmt jedoch nur teilweise, denn der Innenraum der Hauptfigur erlebt ständige, aufeinanderfolgende Modifikationen, bewegt sich unaufhörlich zwischen zwei entgegengesetzten Wirklichkeiten – dem vergangenen, aber immer noch lebendigen Russland auf der einen Seite und dem kontemporären, jedoch matten und verblassten Berlin auf der anderen. Seltsamerweise verflochten, bilden diese Wirklichkeiten jedoch nicht nur weit voneinander entfernte, sondern auch schwer vereinbare Welten: »Als er zum Essen gekommen war, hatte er nicht im entferntesten daran gedacht, daß die Leute hier, diese Gespenster seines Traumlebens im Exil, über sein wahres Leben sprechen würden – über Maschenka.«109 Über das Lyrisch-Amouröse des erzählten Einzelfalls hinaus wird dieses beklemmende Gefühl auf der kollektiven Ebene durch den erzwungenen Charakter der ersten Emigrationswelle intensiviert. Folgende trostlose Worte Podtjagins drücken die ganze sehnsüchtige Bitternis dieses schmerzvollen Verlustes deutlich aus: »Wir sollten Rußland lieben. Ohne unsere Emigrantenliebe
108 Ebd., S. 58–59. 109 Nabokov, Vladimir: Maschenka, S. 86.
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ist es aus mit Rußland. Drüben liebt es niemand.«110 Ganins Sehnsucht ist allerdings viel individueller gestimmt. Die persönliche Wandlung spielt bei seinem Vergangenheitshang eine bedeutendere Rolle als liebevolle Aufbewahrung des unbefleckten Russlandbildes: Äußerlich betrachtet wurde Ganins Tageslauf nach seinem Bruch mit Ljudmila noch leerer, doch andererseits langweilte es ihn jetzt nicht mehr, daß er nichts zu tun hatte. Seine Erinnerungen beanspruchten ihn so sehr, daß er die Zeit gar nicht mehr wahrnahm. Nur sein Schatten hauste in Frau Dorns Pension; er selbst hingegen war in Rußland und durchlebte seine Erinnerungen, als ob sie Wirklichkeit wären. […] Es war nicht einfach nur ein Wiedererinnern, sondern ein richtiges Leben, das viel wirklicher, viel intensiver war als das seines Schattens in Berlin: ein märchenhaftes Abenteuer, das sich mit ernster, zarter Behutsamkeit entspann.111
Dieses verzückte Nichts-zu-tun-Haben sowie der ereignisarme und doch glückselige Tageslauf werden vom Erzähler nicht zufällig unterstrichen. Es handelt sich dabei nämlich nicht um eine klassisch konzipierte Erinnerung, die ein melancholisches Gedenken einer besonders gelungenen Lebensetappe, der sogenannten ›guten alten Zeiten‹, voraussetzt. Ganins Erinnerungen führen dazu, dass der Protagonist – und zusammen mit ihm der Leser – die Zeit schließlich kaum wahrnimmt und somit gewissermaßen überwältigt. Eben mit dieser Zeitaufhebung beginnt das richtige, wirkliche Leben von Ganin, dessen frühere Schattenexistenz sich nun in ein vollkräftiges märchenhaftes Abenteuer verwandelt. Zu beachten ist dabei, dass die äußeren Umstände sich gar nicht verändern. Er führt sein übliches alltägliches Leben in Berlin fort und wartet auf Maschenkas Ankunft, denkt jedoch von Anfang an nicht an die geplante gemeinsame Zukunft mit seiner Jugendliebe, sondern vergegenwärtigt die im Gedächtnis aufgeblühte Vergangenheit. Daher scheint die Feststellung, Nabokovs Prosadebüt bestimmen »Nostalgie und der Rückzug in die Vergangenheit«112, ein etwas schablonisiertes Urteil zu sein, das zwar auf mehrere Textstellen zutrifft, die Endaussage von Maschenka aber kaum erfasst. Nostalgie ist nämlich ein Gefühl, und dazu eines der irrationalsten, denn man erinnert sich oft sehnsüchtig an Zeiten bzw. Epochen, die, objektiv betrachtet, äußerst schwierig oder gar dramatisch waren. Daher bildet dieser weit verbreitete menschliche Drang nach dem Vergangenen einen äußerst schlauen Bewusstseinstrick, was Nabokov, sei es in seinem ersten Roman oder in der zum Bestseller gewordenen Lolita, immer wieder darzustellen pflegt. Allgemein wird die Rolle der willkürlichen Gefühlsbezogenheit in seinem Werk stark überschätzt. Natürlich hat man im Fall von 110 Ebd., S. 88. 111 Ebd., S. 90. 112 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/nabokov-im-schwarzwald-wie-koennte-ich-den-verst and-nicht-verlieren-14438228.html, S. 5. / letzter Zugriff am 01. 06. 2017.
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Nabokov nicht nur mit einem Schriftsteller (als Hersteller von Prosatexten), sondern vorzugsweise mit einem Dichter (als Wortkünstler) zu tun, und zwar im wahrsten neuromantischen Sinne des Wortes. Nabokovs Prosa – die dank ihrer poetischen Sprachmagie den trügerischen Eindruck erwecken mag, die semantische Aufladung seiner Texte sei eher gering, – lebt jedoch vor allem vom intensiven, unaufhörlichen Denkprozess. Einer der Hauptgedanken von Nabokovs Debütroman ist nämlich, dass eine intensive, fruchtbare Zusammenarbeit von Erinnerungs- und Vorstellungskraft sowohl die Zeit als auch den Raum überwinden und neugestalten kann. Aus der räumlichen Perspektive betrachtet, bildet das Ende von Maschenka das Gegenteil zum Romananfang: »Anders als das unerwartete Steckenbleiben im Aufzug, das ein oft erzwungenes Verweilen an einem Exilort andeuten mag, entfernt die Eisenbahn den Emigranten noch weiter von seiner Heimat.«113 Der enge Fahrstuhl, dessen plötzliche Betriebsstörung die bevorstehende Story in Gang setzt, steht somit in der Opposition zum unbestimmt-unbegrenzten Reiseraum, in dem sich der seiner Vergangenheitslast ledig gewordene Protagonist in der Finalszene erwartungsvoll auflöst. Bemerkenswert ist dabei folgende strukturbildende Bewegungsdichotomie: Der Fahrstuhl hält an – die Geschichte fängt an; der Zug fährt ab – die Geschichte endet. Ganin hat nicht nur »seine Erinnerung bis zur Neige ausgeschöpft«114, sondern auch seine Berliner Gegenwart. Die Beziehung der russischen Hauptfigur zur deutschen Hauptstadt erlebt diverse Entwicklungsstufen: von leb- und kompromissloser Abneigung durch liebevoll-kreatives Verwandeln des Daseins ins Sein bis hin zum friedlichen, freundlichen Abschied. Um es mit Frank Göbler literaturhistorisch kurz zu fassen: »Wenn es also übertrieben wäre, von einer russischen Berlin-Literatur zu sprechen, so steht Nabokov doch mit seiner Gestaltung Berlins in einem literarischen Kontext.«115
1.3.3 Stadtführer Berlin – Die Poetik der Raumbemächtigung Es gibt – je nach dem ästhetischen Credo, soziopolitischen Engagement sowie den stilistischen und philosophischen Besonderheiten eines Autors – diverse Möglichkeiten des Umgangs mit der Räumlichkeit im literarischen Text. Raum kann sozial bzw. soziokritisch, ethnisch, politisch, phantastisch oder gar metaphysisch konzipiert werden. Bemerkenswert ist jedoch, dass der Raumbegriff in der Narratologie, im Vergleich zu anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen 113 Balestrini, Nassim W.: Vladimirs Nabokovs Erzählwerk, S. 45. 114 Nabokov, Vladimir: Maschenka, S. 172. 115 Göbler, Frank: Vladimir Nabokovs Berlin: Zwischenreich und flüchtige Wirklichkeit. Zeitschrift für Slawistik, 39, 1994, 4, S. 582.
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(besonders zur Soziologie), sich durch einen wesenhaften Unterschied kennzeichnet. Der literarische Raum bildet nämlich ein strukturtragendes Element des Textgerüstes, das vom Autor dieses Textes entworfen und eingerichtet wird. Jene »Differenz zwischen dem einzigartigen Ort und dem institutionalisierten Raum«116, auf die Martina Löw in ihrer Raumsoziologie hinweist, kann in einem fiktionalen Werk zwar auch existent sein, aber nur in Bezug auf die den Raum bewohnenden Figuren. So wird z. B. die Provinz oft als vertrauter Heimatort, die Großstadt dagegen als fremdartiger, bedrohlicher, aber auch erotisch anziehender Raum empfunden.117 Auch in den Frühromanen von Hermann Hesse (Peter Camenzind, Demian) betrachten die Protagonisten ihre ›kleine Heimat‹ bzw. ihr Familienhaus eben als einen – nach Löws exakter Formulierung – »einzigartigen Ort«, welcher oppositionell zum unbekannten, schaurigen, doch gerade deswegen anlockenden Außenraum begriffen wird. Allen diesen räumlich bedingten Figurenempfindungen und -erlebnissen ist jedoch die Autorenperspektive überlegen. Die von Löw vertretene Idee, »die Entstehung des Raums« sei »ein soziales Phänomen und damit nur aus gesellschaftlichen Entwicklungen […] zu begreifen«118, betrifft nämlich den Raum in der Soziologie. Auf eine im literarischen Text entworfene Räumlichkeit kann eine solche Raummethodik nur partiell und relativ übertragen werden. Einige Aspekte mögen zusammenpassen, aber sämtliche Orte und Räume, die in einem literarischen Text vorhanden sind, entspringen letztendlich der Phantasie sowie dem künstlerischen Vorhaben ihres Schöpfers, d. h. des Schriftstellers. Dostojewskijs Petersburg ist, erzähltechnisch gesehen, kein soziales, sondern vielmehr ein ästhetisches bzw. sprachliches Phänomen, das sich wiederum von Gogols oder Belys Petersburg essenziell unterscheidet. Immerhin entsteht in den meisten Fällen eine mehr oder weniger intensive (manchmal beinahe unsichtbare, aber trotzdem auf diskrete Art und Weise markierte) Figur-Raum-Beziehung, deren Auswirkungen auf die literarische Räumlichkeit enorm sind.119 Nabokovs Kurzgeschichte unter dem ironisch-irreführenden Titel Stadtführer Berlin bietet eine äußerst interessante, untypische Möglichkeit der Raumperspektivierung bzw. Raumbeherrschung. Brian Boyd betont das Innovativ-Experimentelle des Textes, indem er ihn mit Nabokovs Debütroman vergleicht: »Im Dezember 1925 schrieb er, kaum hatte er Maschenka revidiert, die Erzählung 116 Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 42. 117 Vgl. Würzbach, Natascha: Raumerfahrung in der klassischen Moderne. Großstadt, Reisen, Wahrnehmungssinnlichkeit und Geschlecht in englischen Erzähltexten. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2006, S. 188. 118 Ebd., S. 263. 119 Mehr zur Raum-Figur-Problematik siehe in: Kotin, Andrey: Literarischer Außenseiter in der deutschen und russischen Prosa. Narratologische Fallstudien. Saarbrücken: SVH 2012, S. 70– 101.
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›Putewoditel po Berlinu‹ (›Berlin, ein Stadtführer‹) und entdeckte im bewußt zusammenhanglosen Aufbau der Geschichte einen Weg, den braven Realismus des Maschenka-Romans zu vermeiden.«120 Der Text enthalte, so Boyd, »ein halbes Dutzend untereinander scheinbar nicht verbundener Vignetten, wunderlich persönlicher Beobachtungen zum Berliner Leben, die eindeutig nicht als praktischer Führer durch die Straßen der Stadt gedacht sind.«121 Der Erzähler, ein anonymer russischer Emigrant, sitzt mit seinem Bekannten (»mein ständiger Trinkgenosse«122) in einer Bierkneipe mit dem blauen Schild »Löwenbräu«123 und erzählt »von Röhren, Straßenbahnen und anderen wichtigen Dingen«124, wie er selbst bereits im dritten Satz ankündigt. Danach folgen dementsprechend fünf knappe, sujetlose Kapitel: Die Röhren, Die Straßenbahn, Straßenarbeiten, Eden und schließlich Die Kneipe125 (der letzte Teil versetzt den Leser ins Hier-und-Jetzt des Erzählens zurück). »Die Erzählung wird zu einer Sammlung von Stadtskizzen und es werden reichlich Stadtmetapher gebraucht, welche Berlin als Stadt des Wohlstandes und des technischen Forstschrittes erscheinen lassen«126, so Natalia Jörg. Insgesamt sind es acht Seiten einer Reclam-Taschenbuchausgabe und somit eine der kürzesten russischsprachigen Erzählungen von Nabokov. Und doch postuliert Nassim Balestrini völlig zurecht: »Berlin, ein Stadtführer« (1925) gilt unter Nabokovkritikern als zentraler Text für eine frühe Darstellung der Sichtweise desjenigen Künstlers, der auch in scheinbar banalen Details ästhetischen Genuß findet und der besonders die Momente schätzt, in denen er sich die künftigen Erinnerungen eines anderen Menschen bereits in der Gegenwart vorstellen kann. Während »Berlin, ein Stadtführer« von Eindrücken lebt und keine Handlung im herkömmlichen Sinne hat, da der Erzähler hauptsächlich seinem Gegenüber seine Beobachtungen zu Berlin mittelt […].127
Tatsächlich wird in diesem kurzen, für Nabokovs Frühschaffen aber sehr bedeutenden Text der Berlin-Raum ganz beabsichtigt jeglicher Dimension beraubt außer einer einzigen, nämlich der Empfindungsdimension eines beobachtenden Individuums. Die Beobachtung sollte dabei nicht als Synonym des bloßen Sehens verstanden werden. Den Unterschied zwischen beiden Begriffen erklärt der russische Philosoph Alexander Piatigorsky (1929–2009) in Denken und Beobachten durch die einfache Tatsache, dass das Beobachten, im Gegensatz zum Sehen, immer intentional und nicht etwa spontan bzw. ziellos auf ein Objekt 120 121 122 123 124 125 126 127
Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre, S. 406–407. Ebd., S. 410. Nabokov, Vladimir: Stadtführer Berlin. Fünf Erzählungen. Stuttgart: Reclam 1986, S. 8. Vgl. ebd., S. 3. Ebd. Ebd., S. 3, 4, 6, 7, 8. Jörg, Natalia: Schreiben im Exil, S. 164. Balestrini, Nassim W.: Vladimirs Nabokovs Erzählwerk. Eine Einführung, S. 225.
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gerichtet wird.128 Außerdem ist die Sehpraxis unerlässlich mit jener SubjektObjekt-Differenzierung verbunden, die Julia Reuter in ihrer sozio- und kulturologischen Raumstudie folgendermaßen präzisiert: Wenngleich das Auge als Medium der Wirklichkeitserfahrung im Gegensatz zur Sprache […] die Realität in ihrer Gesamtheit wiederzugeben scheint, täuscht die vermeintliche Nähe der wahrgenommenen Bilder leicht darüber hinweg, dass das Auge eine Trennung zum Objekt voraussetzt, ohne die keine sinnliche Wahrnehmung möglich wäre. […] Sehen als Praxis meint also Wahr-Nehmen, etwas ins Auge fassen, sich ein Bild machen […].129
Derartiges Sehen ist ein weitgehend passiver Prozess, bei dem der Sehende als bloßer Zuschauer fungiert, ohne bewusst bzw. kreativ in den Vorgang, der sich vor seinen Augen abspielt, involviert zu sein. Einsicht und Verständnis werden dabei durch naturreine Wahrnehmung substituiert. Der Erzähler von Stadtführer Berlin ist aber weder gelangweilter und teilnahmsloser Wirklichkeitszuschauer noch ein typischer Großstadtflaneur auf der Suche nach (hauptsächlich sinnlichen) Vergnügen, wie er in Natascha Würzbachs Raumstudien dargestellt und analysiert wird.130 Die einführende Bemerkung, der Erzählakt betreffe verschiedene »wichtige Dinge«, sollte zweierlei verstanden werden. Einerseits ironisch, denn der Erzählende ist sich natürlich bewusst, dass Röhren und Straßenbahnen – als Erzählobjekten – normalerweise Randbedeutung zugeschrieben wird; in einem narrativen Text erscheinen sie lediglich in der Setting-Rolle. Andererseits sind diese Dinge für den konkreten Erzähler, der mit seinem Freund in einer Bierkneipe sitzt, viel wichtiger als soziopolitische oder urbane Themen, Klassenproblematik usw. Was er in der Kurzgeschichte entwirft, ist sein eigener, persönlicher Stadtführer, der uns mehr über den Sprechenden sagt als über die Stadt Berlin im historischen, sozialen oder gar kulturellen Sinn. Dem Titel zum Trotz, bietet ausgerechnet dieser Text, im Unterschied zu solchen Berlin-Romanen wie Maschenka oder Die Gabe, keinen unmittelbaren »Niederschlag der Berliner Erfahrungen in Nabokovs literarischem Werk.«131 Man könnte die These wagen, der hier skizzierte Bericht lade den Leser zu einer Rundreise durch das Bewusstsein eines in Berlin lebenden russischen Künstlers ein (obschon seine Herkunft in diesem Fall, anders als z. B. in Die Gabe, eher irrelevant ist). Dabei 128 Vgl. Piatigorsky, Alexander (Пятигорский, Александр): Мышление и наблюдение. Четыре лекции по обсервационной философии (Denken und Beobachten. Vier Vorträge über die Observationsphilosophie), Moskau: Azbuka-Klassika 2016, S. 31: »›Наблюдение‹ […] обозначает определенную и целенаправленную умственную активность.« 129 Reuter, Julia: Geschlecht und Körper, S. 35. 130 Vgl. Würzbach, Natascha: Raumdarstellung. In: Nünning, Vera; Nünning, Ansgar (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies. Unter Mitarbeit von Nadyne Stritzke. StuttgartWeimar: Verlag J.B. Metzler 2004, S. 50. 131 Urban, Thomas: Vladimir Nabokov – Blaue Abende in Berlin, S. 11.
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sollte unter Künstler nicht unbedingt ein Dichter in wortwörtlicher Bedeutung verstanden werden, sondern es geht vielmehr um jene spezifische Weltempfindung, die jeden bewussten, denkengagierten und begeisterten Anblick der Wirklichkeit in einen künstlerischen Akt verwandelt. Nora Scholz, die einen höchst originellen (obwohl nicht immer berechtigten) Versuch macht, Nabokovs Prosa mithilfe von indischer Philosophie zu explizieren, schreibt: »Das Eins-Sein (das Non-Duale) blickt auf die in ihm erscheinenden, aus ihm hervorgehenden und wieder in es zurückfallenden Phänomene und verleiht diesem ›reinen Sehen‹ verschiedene Perspektiven mit verschieden starken Filtern.«132 Wie aber oben angemerkt wurde, bedarf dieses »reine Sehen« einer wesentlichen Erläuterung und Konkretisierung, denn es handelt sich dabei um kein ich- und zielloses Sehen in buddhistischen Kategorien (wie sie von Scholz gedeutet werden), sondern um ausgesprochen individuelles Beobachten, dessen Objekte zwar willkürlich, aber nicht zufällig gewählt werden. Schließlich ist es ja der Erzähler, der ausgerechnet Röhre, Straßenbahnen, den Berliner Zoo und letzten Endes das Kind hinter dem Spiegel jenseits des Durchgangs der Kneipe zu den zentralen Gegenständen seiner Beobachtung macht. Bedeutend ist allerdings nicht nur der Beobachtende, sondern auch das Beobachtete. Nicht zufällig wird hier die Großstadt Berlin und nicht etwa eine malerische Dorf- bzw. Naturlandschaft beobachtet. Die Metropole ist nämlich – nicht zuletzt dank ihrer Anonymität – wesentlich individualistischer markiert. Reuter geht darauf im oben erwähnten Buch sehr anschaulich ein: Die Großstadt ist […] nicht nur eine Zusammenbildung vieler Menschen auf engstem Raum. Ihre physisch reale Struktur, ihre Größe, Dichte und Heterogenität ist geradezu die Matrix solcher Sozialformen, die nicht mehr auf die Ähnlichkeit der Menschen untereinander abstellen, sondern die Einmaligkeit und Kontingenz als Eigenwert anerkennen.133
Die Art des Raums ist daher relevant, denn sie hat einen unmittelbaren Einfluss darauf, wie dieser Raum von seinen Bewohnern empfunden und erlebt wird. Eine nicht weniger entscheidende Rolle fällt aber dem agierenden Subjekt zu. Zweifelsohne hat also Scholz Recht, wenn sie Nabokovs Künstlerfiguren »das Sehen, korreliert auf perfekte Weise mit der Fülle, aus welcher Nabokovs Werk hervorgeht«134, zuschreibt. Ähnliches behauptet Boyd, obschon ohne fernöstlich gesinnten philosophischen Hintergrund: »Über ›Berlin, ein Stadtführer‹ hat Nabokov gelernt, sogar eine Straßenbahn aus den Gleisen der Routine springen zu lassen. Als junger Dichter versuchte er zu zeigen, daß man die Welt am besten 132 Scholz, Nora: »… essence has been revealed to me«. Umkreisungen des Nondualen im Prosawerk von Vladimir Nabokov. Berlin: Frank & Timme 2014, S. 12. 133 Reuter, Julia: Geschlecht und Körper, S. 46. 134 Ebd., S. 13.
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sah, wenn man beiseite trat, vielleicht sogar, wenn man sich ganz aus ihr entfernte.«135 Immerhin sieht der Erzähler von Stadtführer Berlin deutlich mehr als ein durchschnittlicher Großstadtpassant. Dies ist jedoch ein intentionales, selektives Sehen mit stark markierten personalen Zügen – und somit eher künstlerische Beobachtung als spirituelle Meditation, eher transegoistischer Personalismus als impersonale Ich-Auflösung.136 Was ist nun das Ziel bzw. die individuelle Intention dieser Beobachtung? Darauf gibt der Text eine ziemlich klare, beinahe direkt formulierte Antwort: Die Pferdestraßenbahn ist verschwunden, die Elektrische wird verschwinden, und ein exzentrischer Berliner Schriftsteller in den zwanziger Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts, der unsere Zeit schildern möchte, wird in ein historisches Technikmuseum gehen und dort einen hundertjährigen, gelben, klobigen Straßenwagen mit altmodisch geschwungenen Sitzen ausfindig machen […] Dann wird er nach Hause gehen und eine Beschreibung der Straßen Berlins in vergangenen Zeiten zusammenstellen. Alles, jede Einzelheit wird dann Wert und Bedeutung haben […] – alles wird geadelt durch sein Alter. Ich meine, daß hierin der Sinn schöpferischer Literatur besteht: alltägliche Dinge so zu schildern, wie sie sich in den freundlichen Spiegeln künftiger Zeiten darbieten werden; in den Dingen unserer Umwelt jene duftige Zartheit aufzuspüren, die erst unsere Nachkommen erkennen und zu schätzen wissen werden […].137
Im letzten Satz des Zitats wird die Kernmessage der vom Erzähler unternommenen ›Berlinführung‹ nahezu programmatisch ausgedrückt. Das aufmerksame, auf kleinste Details gerichtete Beobachten des äußeren Raums gibt dem Künstler die Möglichkeit, »das Bewusstsein in den Zustand zu versetzen, in dem Zeitlosigkeit erfahrbar wird«138, um es mit Nora Scholz zu formulieren. Allerdings spricht Scholz vom Zustand, bei dem das »reine Sehen der Essenz der Dinge, wie sie wirklich sind – jenseits der Interpretation durch den menschlichen Verstand und die Begriffsbildung«139 erreicht wird. In Stadtführer Berlin geht der Erzähler einen Schritt weiter und unternimmt den Versuch (diese intentionelle innere Denkanstrengung ist von großer Bedeutung), die Dinge so zu betrachten, wie sie erst nach mehreren Jahren und Jahrzehnten betrachtet werden. »Dadurch werden«, so Balestrini, »Erfahrungen und Wahrnehmungen, an die sich jemand in der Zukunft als vergangene Momente erinnern wird, ästhetisch überhöht und die oft als verstörend empfundene Gegenwartsexistenz [wird] in ihrer Härte gelindert«.140 Dass die Prognose der Erzählers, nach der die elektrische Straßenbahn 135 136 137 138 139 140
Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre, S. 408. Mehr dazu siehe im letzten Kapitel der vorliegenden Arbeit (Nabokov und Kafka). Nabokov, Vladimir: Stadtführer Berlin, S. 5. Scholz, Nora: »… essence has been revealed to me«, S. 39. Ebd., S. 85. Balestrini, Nassim W.: Vladimir Nabokovs Erzählwerk, S. 223.
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bald verschwindet und im kommenden Jahrhundert nur in Museen vorhanden sein wird, sich, aus heutiger Perspektive gesehen, nicht bestätigt hat, spielt dabei keine Rolle. Mehr noch: Für Nabokovs Schaffen sind gerade solche Überraschungen kennzeichnend, die davon zeugen, dass das Leben alle menschlichen Erwartungen und Vorstellungen stets übersteigt. Daher kann behauptet werden, die aktuelle Berliner Realität mit ihren allgegenwärtigen elektrischen Straßenbahnen sei eine durchaus ›Nabokovsche‹ Antwort auf die oben zitierte Stelle aus Stadtführer Berlin. Denn was hier eigentlich zählt, ist nicht die potentielle Richtigkeit der Prophezeiung, sondern der Perspektivenwechsel an sich. Natalia Jörg schreibt dazu Folgendes: Der Ich-Erzähler ist ein Fahrgast, der das Fremde aus nächster Nähe, aus der Perspektive von Fortbewegungsmitteln wie Straßenbahn, Zug oder Autos erkundet. Die Verwendungen dieser Transportmittel kann aber einem anderen Zweck dienen, indem ihnen eine metaphorische Bedeutung zukommt.141
Mit anderen Worten: Der Erzähler von Stadtführer Berlin geht mit der gegebenen Wirklichkeit so um, als bilde der äußere Erlebnisraum eine Art Fortsetzung bzw. Ergänzung des inneren Denk- und Empfindungsraums. Die Grenze zwischen Innen und Außen wird immer fließender bis zu ihrem letztendlichen Verschwinden (was wiederum mit den buddhistisch inspirierten Thesen von Scholz in Einklang steht) im Bewusstsein des Sehenden/Sprechenden. Derartiges Sehen sollte jedoch als absoluter Ausnahmefall betrachtet werden. Die Reaktion des Freundes weist deutlich auf die merkwürdige Einzigartigkeit einer solchen Haltung hin, betrachtet aus der Perspektive eines ›Normalmenschen‹: »Das ist ein mieser Stadtführer«, sagt mürrisch mein ständiger Trinkgenosse. »Es interessiert doch keinen Menschen, wie du die Straßenbahn nimmst und ins Berliner Aquarium fährst.« […] »Das interessiert doch keinen« wiederholt mein Freund mit kummervollem Gähnen. »Was sollen schon Straßenbahnen und Schildkröten? Und das Ganze ist sowieso einfach langweilig. Eine langweilige fremde Stadt, und teuer ist es hier auch noch…«.142
Der »Trinkgenosse« betrachtet den Raum pragmatisch, d. h. egozentrisch. Die Attribute »langweilig« und »fremd« beziehen sich auf seine emotionale Rezeption der Stadt, darüber hinaus ist Berlin auch »teuer« und somit unzugänglich, wenn es um tagtägliche, konsumorientierte Lebensweise geht. Kurz: Der Freund des Erzählers steht für diejenige soziologische Raumkonzeption, die in Martina Löws Raumsoziologie exakt dargestellt wird: »Raum ist eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern.«143 Im Gegensatz dazu zeigt der Er141 Jörg, Natalia: Schreiben im Exil, S. 165. 142 Ebd., S. 8. 143 Löw, Martina: Raumsoziologie, S. 154.
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zähler eine völlig andere, poetische Raumwahrnehmung, bei der die Dinge ihre alltäglich-praktische Bedeutung verlieren und entweder zum Gegenstand philosophischer Reflexion, wie im zitierten Straßenbahn-Passus, oder zum Objekt rein ästhetischer Begeisterung werden, wie z. B. in Die Röhren, dem ersten Teil der Kurzgeschichte: Vor dem Haus, wo ich wohne, liegt an der Kante des Bürgersteigs eine riesige schwarze Röhre. Etwa einen halben Meter daneben liegt in einer Reihe mit ihr eine zweite, dann eine dritte, eine vierte: die eisernen Eingeweide der Straße, noch arbeitslos, noch tief unter den Asphalt versenkt. […] Heute hat jemand mit dem Finger »Otto« in den Streifen jungfräulichen Schnees geschrieben, und mir schien, dieser Name mit seinen beiden weichen Os, die das sanfte Konsonantenpaar flankieren, passe wunderbar zu der stillen Schneeschicht auf jener Röhre mit ihren beiden Öffnungen und ihrem verschwiegenen Tunnel.144
Das von Scholz postulierte »reine Sehen« der Dinge »so wie sie sind« ist also bei Nabokov mit derjenigen Anstrengung der Vorstellungskraft, dem leidenschaftlichen Aufschwung künstlerischer Phantasie verbunden, welche in der indischen Mystik, von der die Autorin ihre Hauptkategorien ableitet, eher unwillkommen ist. Indem der Erzähler die verschneite Röhre vor seinem Haus betrachtet, zieht er gleichzeitig eine Parallele zu dem darauf geschriebenen Namen »Otto«, der ihn an die Röhrenöffnung erinnert. Diese latente, nur durch das Auge des Künstlers registrierbare Harmonie bildet einen weiteren Beweis für die diskrete, jedoch erkennbare Lebendigkeit bzw. Beseeltheit des Raums, der für einen aufmerksamen Beobachter immer neue Überraschungen bereithält, deren kostbare Schönheit umgekehrt proportional zu ihrem praktischen Wert ist. Natalia Jörg behauptet zwar, es werden hier »zwei Erlebniswelten inszeniert […], sodass das Fremde im Eigenen hervortritt und der eigene Erfahrungsraum im fremden seine Entsprechung findet.«145 Jene vom Erzähler gelegentlich registrierten Übereinstimmungen zwischen Berliner Gegenwart und Petersburger Vergangenheit sind aber eher im Sinne freischwebender Phantasie zu deuten und nicht etwa als soziologisch bzw. psychologisch verstandene Inszenierungsstrategien, deren Ziel darin besteht, fremde Wirklichkeit durch »aus den Erinnerungen entstehendes Russland«146 zu ersetzen. Nach Jörg verdränge die »heitere und feierliche Stimmung […] das Gefühl der unheimlichen Fremde«.147 Diese Interpretation mag viele andere in Berlin angesiedelte Texte von Nabokov betreffen, in Stadtführer Berlin findet man aber fast keine Spuren vom Verfremdungsgefühl, welches in Maschenka, Lushins Verteidigung und vor allem in Die Gabe demonstrativ zum 144 145 146 147
Nabokov, Vladimir: Stadtführer Berlin, S. 3. Jörg, Natalia: Schreiben im Exil, S. 163. Ebd. Ebd., S. 164.
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Ausdruck kommt. Im Allgemeinen treten die Anspielungen auf Russland und Vergangenheit in der Kurzgeschichte sehr selten hervor, und wenn schon, dann eher in sanft-lyrischer Färbung: An der Endstation koppelt sich der Triebwagen los, fährt auf ein Nebengleis. Passiert den zurückgebliebenen Anhänger und nähert sich ihm von hinten. Es hat etwas von der Ergebenheit eines Weibchens, wie der Anhänger wartet, daß der vordere, männliche Wagen unter Funkengeknister herangerollt kommt und sich ankuppelt. Und ich erinnere mich (ohne die biologische Metapher), wie achtzehn Jahre zuvor in Petersburg die Pferde ausgespannt und um den dickbäuchigen blauen Trambahnwagen herumgeführt wurden.148
Bezeichnend ist, dass der Sprechende seine eigenen stilistischen Eingriffe als solche enthüllt, wie z. B. »die biologische Metapher«, woraus man gleich schlussfolgern kann, man habe mit einem literarisch bewanderten Erzähler bzw. mit einem professionellen Künstler zu tun. Allerdings lassen sich in der Erwähnung der Petersburger Pferdekutsche keinerlei exiltypische Nostalgie- oder Sehnsuchtsstimmungen konstatieren. Das Motiv wird in den Text eingeführt, um das eigentliche Thema – das vom Erzähler prophezeite baldige Verschwinden der elektrischen Straßenbahn – elegant einzuleiten. In früheren Kurzgeschichten erprobte Nabokov oft Erzählmethoden, strukturelle Innovationen oder auch Themen, die er später in seinen Romanen verkomplizierte und verfeinerte. Textanalytisch betrachtet leistet Nabokovs Kurzprosa dem Forscher eine große Hilfe, indem man an deren Beispiel sämtliche für den Autor charakteristischen ›Tricks‹ verfolgen kann, die bei wesentlich umfänglicheren Romanformen leicht verlorengehen. So werden in Stadtführer Berlin die einzelnen Kapitel – entsprechend den im Text beschriebenen Straßenbahnwagen – sorgsam aneinander angekoppelt, sodass manchmal evidente Motivwandlung stattfindet, wie z. B. am Ende des dritten Kapitels (Straßenarbeiten), wo es heißt: Doch vielleicht am schönsten sind die chromgelben Tierkörper mit rosa Flecken und Arabesken, die auf einem Lastwagen gestapelt sind, und der Mann mit der Schürze und der Lederkapuze mit ihrem langen Nackenschutz, der Körper für Körper auf den Rücken wuchtet und ihn vorübergebeugt über den Bürgersteig in den roten Laden des Fleischers schleppt.149
Die Beschreibung wirkt etwas provokativ. Tote Tierkörper werden als das schönste Element des vom entzückten Erzähler beobachteten Stadtpanoramas zelebriert. Das sprechende Ich versucht die Dinge so zu sehen, wie sie aus der Perspektive reiner Beobachtungsästhetik dastehen und wahrgenommen werden. Daher fehlt der zu erwartende humane bzw. soziokritische Kommentar seitens 148 Nabokov, Vladimir: Stadtführer Berlin, S. 5. 149 Ebd., S. 6–7.
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eines sensiblen Dichters. Das in diesem Kontext übliche, ja (besonders für die europäische Literatur) signifikante Beweinen der allgegenwärtigen Gewalt- und Mordkette, die das menschliche/gesellschaftliche Leben festhält, wird hier durch die unbeschränkte Akzeptanz geheimer Harmonie des Daseins ersetzt. Diese Harmonie offenbart sich ihrerseits nur denjenigen ›auserwählten‹ Wirklichkeitsbeobachtern, welche die schillernde Fülle des Seins sowohl bemerken als auch mithilfe eigener Phantasie weiterentfalten und dadurch vervollständigen. Daher stimmt Boyds Feststellung, Nabokov versuchte in Stadtführer Berlin »zu zeigen, daß man die Welt am besten sah, wenn man beiseite trat, vielleicht sogar, wenn man sich ganz aus ihr entfernte«150, nur zum Teil. Der Wahrnehmende ist nicht weniger bedeutend als die Wahrnehmung, zumal diese erst durch ihre Objektivierung im individuellen Bewusstsein überhaupt zustande kommen kann. Das beobachtende und empfindende Ich gilt zwar als eine Art Prisma, durch das Berlin registriert und erlebt wird. Eine zweitrangige Bedeutung des wahrnehmenden Subjekts sollte daraus jedoch keineswegs geschlussfolgert werden. So wird die in den letzten Sätzen des dritten Kapitels fehlende Stellungnahme zur beschriebenen Realität bereits im nächsten Kapitel – Eden – gewissermaßen nachgeholt. Das vierte Kapitel beginnt (ähnlich wie das zweite) nicht mit einer kommentarlosen Beschreibung, sondern mit den Gedanken des Erzählers. Letztere betreffen eben die Koexistenz von verschiedenen Lebewesen innerhalb des urbanen Raums: Jede große Stadt hat ihr eigenes Eden, von Menschen geschaffen. Wenn Kirchen uns vom Evangelium erzählen, so erinnern uns die Zoos an den feierlichen und zarten Anfang des Alten Testaments. Schade nur, daß dieses künstliche Eden ganz hinter Gittern liegt, obwohl mich ohne die Gitter allerdings der erstbeste Dingo anfallen würde. Trotzdem ist es schon ein Eden, soweit der Mensch es wiederzuerschaffen vermag, und mit gutem Grund heißt das große Hotel gegenüber dem Berliner Zoo nach jenem Garten.151
Das im Text beschriebene Eden ist also kein paradiesischer Garten, sondern ein künstliches Menschengeschöpf. Der Zoo bildet lediglich einen a priori beschränkten menschlichen Versuch, das wahre, von Gott erschaffene Eden wiederherzustellen. Dieses ›Projekt‹ ist aber in der gegebenen, durch Zeit und Raum (und somit durch den Tod) beherrschten Wirklichkeit nur »hinter Gittern« möglich. Bemerkenswerterweise heißt es in der russischen Originalversion: »[…] не будь оград, лев пожрал бы лань«152, also: »[…] gäbe es keine Gittern, würde der Löwe den Damhirsch auffressen.« Die deutsche Version basiert auf der 150 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre. S. o., S. 408. 151 Nabokov, Vladimir: Stadtführer Berlin, S. 7. 152 Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Полное собрание рассказов. (Gesammelte Kurzgeschichten). Moskau: Azbuka 2013, S. 209.
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englischsprachigen Übersetzung des Autors, und so könnte man annehmen, der späte Nabokov wollte den individuellen Aspekt des entzückten Berlinbeobachters durch einen im Original nicht vorhandenen Verweis auf die Person des Erzählers unterstreichen: »[…] obwohl mich ohne die Gitter der erstbeste Dingo anfallen würde.«153 Die Anwesenheit des Sprechenden sowie sein subjektives Wahrnehmen des skizzierten Wirklichkeitsauszugs werden somit noch stärker markiert. Die Anspielung auf den Eden-Garten kann aber auch in einem anderen, äußerst interessanten Licht betrachtet werden. Der Zoo ist nämlich ein typischer Raum-im-Raum, der von den Stadtbewohnern errichtet wird. Seine Künstlichkeit, von der der Erzähler mit eindeutigem Bedauern spricht, ist – normalerweise – eine viel zu offensichtliche Tatsache, um darüber zu reflektieren. Für den Erzähler von Stadtführer Berlin sieht es jedoch anders aus. Dank seinem zutiefst persönlichen Empfinden betrachtet er den Zoologischen Garten als eine Art Erinnerung an denjenigen Garten, der am »feierlichen und zarten Anfang des Alten Testaments« von Gott kreiert wurde. Jegliche Versuche, dieses ursprüngliche Paradies unter anderen, nicht-paradiesischen Umständen aufzubauen, führen zur Entstehung eines Schein-Edens, das vom Beobachter trotzdem bewundert wird, weil es ihn immerhin an das verlorene ›Original‹ erinnert. Man könnte hierbei Parallelen ziehen zum ›russischen Berlin‹ – einem zwar existenziell-historisch entstandenen, aber auch durchaus künstlichen Raum, gebildet von den russisch(sprachig)en Revolutionsflüchtlingen. Wie im vorhergehenden Kapitel erwähnt wurde, bildeten die erste Welle der russischen Diaspora in Berlin nicht freiwillige Emigranten, sondern politische Flüchtlinge und Vertriebene.154 Ihr Entschluss, Russland zu verlassen, wurde von der neuen, sowjetischen bzw. bolschewistischen Regierung erzwungen. Das Entstehen desjenigen hermetischen, aber äußerst lebendigen und vielfältigen Kulturraums, den man auch heute noch ›russisches Berlin‹ nennt, war somit ein natürliches, zugleich aber intendiert etabliertes Phänomen. Die Exilanten kreierten eine Art ›Russland in Deutschland‹, indem sie zahlreiche russische Verlage, Kulturzentren, Cafés und Restaurants in Berlin eröffneten, um dort das von der Revolution zerstörte ›alte Russland‹ weiterleben zu lassen. Für Nabokov bedeutete aber die Trennung von der Heimat in erster Linie den Abschied vom Kindheitsparadies, was er in seinen Erinnerungen und Interviews mehrmals betont hatte.155 Soziale Solidarität, politisches Regime, ja sogar Kultur im üblichen Sinne des Wortes – dies alles spielte eine eher zweitrangige Rolle im Vergleich zur Vertreibung aus dem privaten Eden 153 Kursiv von A.K. 154 Vgl. Kühn, Natalia: Die Wiederentdeckung der Diaspora. Gelebte Transnationalität russischsprachiger MigrantInnen in Deutschland und Kanada. Wiesbaden: Springer 2012, S. 112. 155 Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 27, 52–53, 236.
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seiner Petersburger Kindheit. Daher erweisen sich mehrere seiner Protagonisten (Ganin in Maschenka, Fjodor in Die Gabe, Martin in Die Mutprobe oder eben der Ich-Erzähler in Stadtführer Berlin) als Außenseiter unter ihren Landsleuten, die sich in der neuerrichteten Exilrealität sehr wohl fühlen, ohne das IllusorischKünstliche daran zu erkennen. Ein kompromissloser Einzelgänger, wäre Nabokov weder als Mensch noch als Schriftsteller imstande, seine Sehnsucht nach Russland durch aktive Teilnahme am soziokulturellen Leben des ›russischen Berlins‹ zu ersetzen. Ähnlich wie der Zoo, kann eine Diaspora inmitten des fremden Raums äußerst intensiv und fruchtbar funktionieren, doch die Anwesenheit der Gitter ist sowohl dem Erzähler von Stadtführer Berlin als auch seinem Autor viel zu spürbar, um übersehen bzw. ignoriert zu werden. Daraus sollte allerdings kein voreiliger Schluss gezogen werden, dass Nabokov, hätte die bolschewistische Revolution nicht stattgefunden, in seiner ursprünglichen Heimat als russischer Nationalautor gefeiert worden wäre. Dies wäre wohl vor allem für Nabokov selbst ein eher unerwünschtes Schicksal gewesen. Wie Michael Maar treffend bemerkt: »Fremd blieb er letztlich überall, seitdem er aus den Parks der Petersburger Kindheit vertrieben war. Ob in Cambridge oder in Berlin, an der amerikanischen Ostküste oder dem Genfer See, richtig zu Hause war der einmal Vertriebene nirgends.«156 Die Flucht aus Russland wurde für ihn sozusagen zur Metapher der Vertreibung aus jenem Kindheitseden, nach dem auch die entsetzlichsten Figuren seiner Romane (Humbert Humbert in Lolita, Van Veen in Ada) vergeblich streben. Wichtig ist dabei aber, das eigene Selbst in banalfruchtloser Nostalgie nicht zu verlieren; erst recht nicht in der kollektiven, patriotisch gefärbten Russland-Sehnsucht, die von vielen, in Nabokovs Texten stets ironisch dargestellten, Exilanten mit nahezu masochistischem Genuss erlebt und dadurch teilweise geheilt wird. Gewiss fühlt sich der Sprechende in Stadtführer Berlin in dieser fremden Wirklichkeit etwas verloren, aber auch bei seinem ›Zechgenossen‹ findet er keinerlei Verständnis: Dort unter dem Spiegel sitzt immer noch das Kind allein. Doch jetzt blickt es zu uns herüber. Von seinem Platz aus kann es die Kneipe sehen […] Es hat sich längst an diese Szene gewöhnt […]. Eines jedoch weiß ich. Was immer ihm im Leben auch zustoßen wird, immer wird er sich an das Bild erinnern, das es […] in seiner Kindheit Tag für Tag sah. Immer wird es sich an den Billardtisch erinnern […], den Lärm der Stimmen, meinen leeren rechten Ärmel […] und den Vater hinter der Theke, der mir ein Bier zapft. »Ich begreife nicht, was du da siehst«, sagt mein Freund und wendet sich mir wieder zu. Ja was auch! Wie kann ich ihm begreiflich machen, daß ich jemandes künftige Erinnerungen geschaut habe?157 156 Maar, Michael: Leoparden im Tempel. Nachrichten aus der Weltliteratur. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2010, S. 79. 157 Nabokov, Vladimir: Stadtführer Berlin, S. 9.
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Der Freund des Erzählers lebt, wie die meisten russischen Flüchtlinge in Nabokovs Prosa, in einer zweidimensionalen Welt: Der idealisierte Erinnerungsraum sorgt für unnachgiebige Nostalgie, wohingegen der aktuelle Lebensraum als fremd und gespenstig empfunden wird. Entweder sehnen sie sich nach dem Vergangenen oder sie wenden sich von der bizarren, abstoßenden Gegenwart ab. Im Gegensatz zu dieser Haltung hat man in Stadtführer Berlin mit einer zukunftsorientierten Betrachtungsperspektive zu tun, deren Endziel darin besteht, die Zeit-Raum-Grenzen mittels schöpferischer Denk- und Einbildungskraft zu überwinden, worauf Natalia Jörg exakt hinweist: Die Stadterfahrung Berlin ist von den zeitlichen als auch räumlichen Überlagerungen durchsetzt, die Momente der Dislozierung im Exil beinhalten. Gleichzeitig distanziert sich der Ich-Erzähler bewusst von einer lethargischen Darstellungsweise des Erlebten, dessen Bedeutung in einem vom Ich-Erzähler in der Ecke einer Berliner Kneipe erblickten Kleinkindes, das offenbar seiner Einbildung entsprungen ist, nachempfunden wird […].158
Statt die Vergangenheit zu beweinen oder zu beschwören, richtet der Erzähler seine künstlerische Aufmerksamkeit auf das Einzelne, das sich im Hier-und-Jetzt offenbart und dadurch alle zeitlichen Stufen miteinander verknüpft: Die Gegenwart der Beobachtung wird zur späteren, noch nicht vollzogenen Erinnerung des Kindes, während die vom Beobachter erahnte bzw. erratene Zukunft zur rezent empfundenen Gegenwart wird. Jene poetische Verschiebung von Zeit- und Raumebenen wird – statt des konventionell begriffenen Plots – zum eigentlichen Inhalt der Kurzgeschichte. »Die Sujetlosigkeit, die mit einer solchen Sicht notwendigerweise einhergeht, bedeutet in letzter Konsequenz ›Stillstand‹ – jedoch in diesem Stillstand entfaltet sich der gesamte Reichtum der Erscheinungen der Welt, die Nabokov heilig sind […]«159, so Nora Scholz. Aus dieser Perspektive erweist sich Stadtführer Berlin nicht als chaotische Aneinanderreihung willkürlicher Bilder, sondern im Gegenteil als ein zwar knappes, aber präzise und planvoll strukturiertes Werk. Nach Brian Boyd lässt Nabokov den Leser, »hinter dem bruchstückhaft vorhandenen Rahmen des Orts […] eine andere Struktur erkennen, in der die räumliche Welt nur als Vorwand für verschiedene mögliche Verbindungen zur Zeit dient.«160 Einsteins Raumkonzept zusammenfassend, sagt Martina Löw, der Raum sei für ihn »eine begriffliche Konstruktion zum Verständnis der Welt«161 gewesen. Bei Nabokov entpuppen sich schließlich auch die zeitlichen Grenzen als schattenhaft, fließend und – alles in allem – wesenslos. Aus dem Gefängnis der Zeit befreit, verliert der Raum eines seiner konstitutiven 158 159 160 161
Jörg, Natalia: Schreiben im Exil, S. 166. Scholz, Nora: »… essence has been revealed to me«, S. 336. Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre, S. 410. Löw, Martina: Raumsoziologie, S. 23.
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Elemente, nämlich die Grenze. Zeitüberwindung führt zur Raumbemächtigung – und vice versa.
1.3.4 Die Gabe oder Berlin als ›seltsamer‹ Ort der Wiedergeburt der russischen Literatur Die zwei letzten russischsprachigen Romane Nabokovs entstanden nahezu gleichzeitig: Der Autor hat die Arbeit an seinem Großwerk Die Gabe unterbrochen, um die wesentlich kürzere, aber nicht weniger bedeutende Einladung zur Enthauptung »in vierzehn Tagen voll herrlicher Erregung und anhaltender Inspiration«162 niederzuschreiben. Desto auffälliger ist die Tatsache, dass sich beide Texte voneinander stark unterscheiden, und zwar in jeder Hinsicht. Während die ein- bzw. zweistimmig getönte, semantisch homogene, knapp und kompakt erzählte Einladung ein phantasmagorisch-groteskes Bild antiutopischer totalitärer Zukunftsgesellschaft entwirft, ist die motiv- und themenreiche, hochgradig polyphone Gabe, ähnlich wie Nabokovs Debütroman Maschenka, im »russischen Berlin« der ersten Emigrationswelle lokalisiert. Jedoch begrenzt sich der Roman keineswegs auf die Emigrantenthematik. In Die Gabe, seinem letzten russischen Roman, dessen Entstehungszeit sich über mehrere Jahre erstreckte […], verbindet Nabokov Themen, die er in den anderen acht russischen Romanen behandelt hatte: die Sehnsucht des Emigranten nach dem vorrevolutionären Rußland, das Vermächtnis der russischen Literatur, das Bewußtsein und die ethische Verantwortung des Künstlers, die innere Verbindung zwischen Liebenden, die Beziehung zwischen diesseitiger und jenseitiger Existenz.163
Auf strukturell-semantischer Ebene bildet der Text eine aus fünf langen Kapiteln bestehende, teilweise chaotische und doch harmonische Synthese eines Künstlerund Entwicklungsromans, eines literarhistorischen Essays und einer zarten, obgleich mutwillig unsentimentalen Liebesgeschichte. »Mit Die Gabe präsentiert Nabokov, gleichsam im Gegenzug, eine Kapitale und einen Kontinent – Berlin und Eurasien – in einem Roman so voll […] rasch wechselnder Bilder wie eine Großstadtstraße im Zentrum […]«164, so Brian Boyd. Man könnte die These riskieren, es sei dem »amerussischen Klassiker«165 in diesem Buch gelungen, den großen romantischen Traum eines »universalpoetischen« Romans zu verwirklichen, der das Lyrische mit dem Epischen und Philosophischen vereine und 162 163 164 165
Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 113. Balestrini, Nassim W.: Vladimir Nabokovs Erzählwerk, S. 118. Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 717. Siehe in: Jörg, Natalia: Schreiben im Exil – Exil im Schreiben. München–Berlin: Verlag Otto Sagner 2012, S. 46.
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dessen Abrissversuche in den unvollendeten Romanen von Novalis (Heinrich von Ofterdingen, Die Lehrlinge zu Sais) und vor allem in Friedrich Schlegels Lucinde unternommen würden. Zweifelsohne finden sich zwischen Nabokovs und Schlegels Kunst- und Lebensempfindungen nur wenige Überschneidungspunkte. Was jedoch die Struktur des von Schlegel geplanten revolutionären Werkes sowie den allgemeinen frühromantischen Wunsch, die Welt zu romantisieren166, betrifft, so haben die Kunsttheorien der deutschen Romantiker einen unbestrittenen Einfluss auf den ganzen europäischen Modernismus ausgeübt167 – und somit auch auf die russische Literatur des »Silbernen Jahrhunderts« (Nabokov bezeichnete sich selbst in einem der Privatbriefe als »Produkt dieser Periode«168). Sowohl in Lucinde als auch in Die Gabe hat man mit einer metaphysisch gefärbten Liebesgeschichte zu tun, die allerdings nur das narrative Kernmotiv ausmacht, um das sich mehrere andere Themen kreisen. Schlegel eröffnet seinen Text mit einem feurigen, erotisch konnotierten Liebesbrief, den Julius an Lucinde schreibt, die im weiteren Romanverlauf seine ständige Gesprächspartnerin bleibt. Bei Nabokov erscheint die Geliebte des Protagonisten auf der Romanbühne frühestens in der zweiten Hälfte (nach etwa hundert Seiten wird ihr Name flüchtig erwähnt), die letztendliche Verbindung beider Figuren wird dagegen erst im Finalkapitel zelebriert (und sogar dies nicht vorbehaltlos). Weiterer, noch bedeutenderer Unterschied besteht darin, dass Schlegels Lucinde ein Romanfragment geblieben ist (nur der erste Teil des Romans wurde abgeschlossen), sodass der ursprüngliche Ansatz des Autors im real existenten Text keine unmittelbare Widerspiegelung findet. Als narrative Prosa leidet Lucinde an Sujet- und Ereignislosigkeit der erzählten Geschichte sowie an der psychologischen Unglaubwürdigkeit agierender Figuren, die eigentlich keine Figuren im strikten Sinne des Wortes sind, sondern vielmehr mit Namen versehene Ideen. Nichtsdestotrotz ist es, literaturhistorisch betrachtet, ein äußerst signifikantes Dokument, dessen strukturelle Zerstreutheit und andere künstlerische Makel dank ideenreicher Essayistik, originell-tapferer Liebesphilosophie (wenigstens für die Entstehungszeit) und einigen innovativen Erzählgriffen gewissermaßen ›entschuldigt‹ werden kann. Nabokovs Die Gabe wirkt hingegen nur so, als ob der Text keine übersehbare Struktur besäße und sich lediglich aus einzelnen Szenen aus dem Emigrantenleben eines jungen russischen Dichters in Berlin zusam-
166 Vgl. Novalis: Die Welt muss romantisiert werden. In: Schmitt, Hans-Jürgen (Hg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Romantik I. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 2003, S. 57. 167 Siehe dazu beispielsweise Hillebrand, Bruno: Die Ästhetik des Nihilismus: Von der Romantik zum Modernismus. Stuttgart: J.B. Metzler 1993. 168 Nabokov, Vladimir: Briefwechsel mit Edmund Wilson. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 476.
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mensetze. In Wirklichkeit ist dieses Scheinchaos bis aufs kleinste Detail durchdacht und wird von seinem Schöpfer permanent kontrolliert: Nabokov ließ sich auf ein gewagtes Spiel ein, als er es hinnahm, daß sein Roman bis kurz vor dem Schluß den Eindruck eines ungestalten, ungefügen Monstrums macht, aber er nahm das damit verbundene Risiko auf sich, weil er wußte, daß nicht selten das Leben selbst sich so gestaltlos und unordentlich, so ganz entschieden nicht wie maßgeschneidert präsentiert. Doch allen Widrigkeiten in seinem Leben zum Trotz – trotz Emigration, Armut, Einsamkeit […] – eignet Fjodor die Veranlagung zum Glücklichsein.169
Dieses »Glücklichsein« ist für die Hauptfigur mit zwei Arten von Liebe verknüpft, die zugleich auch zwei zentrale Themen des Romans bestimmen: Die Liebe zu Sina und die Liebe zur (russischen) Literatur. Interessanterweise werden beide Themen im stark markierten Kontrast zum Land, wo sich die Liebenden aktuell befinden, – zu Deutschland also – aufgearbeitet. In keinem anderen Roman von Nabokov wurde seine Abneigung gegen das Deutsche so heftig und bitter, so unverschämt aufrichtig expliziert. Es ist allgemein ziemlich verwunderlich – wenn man Nabokovs liberale Gesinnung und kosmopolitische Wesensart bedenkt – wie oft und nachdrücklich in Die Gabe das Nationale akzentuiert wird. Dies sollte natürlich keineswegs heißen, Nabokov habe mit seinem letzten russischen Werk dem Vaterland, aus dem er verbannt wurde, ein feuriges patriotisches Denkmal gesetzt: Die monarchistisch-nationalistischen Emigrantenkreise mit ihrer klischeehaften Nostalgie und schlecht verstecktem Antisemitismus werden in der Gestalt von Sinas Stiefvater Boris Schtschjogolew erbarmungslos karikiert und als grobe Philister abgestempelt. Ein pro-russischer Roman ist Die Gabe ganz gewiss nicht ( jedenfalls nicht im soziopolitischen Sinn), wohl aber ein antideutscher. Einerseits treten Deutschland und Russland immer wieder als Oppositionspaar auf, andererseits geht es dabei eher um bestimmte Kulturkonzepte, die von diesen zwei konträren Räumen metaphorisiert werden. Dies zeigt sich bereits im ersten langen Satz, der Die Gabe eröffnet: An einem bewölkten, gleichwohl hellen Tag, dem ersten April 192– (ein ausländischer Kritiker bemerkte einmal, daß zwar viele Romane – die meisten deutschen zum Beispiel – mit einem Datum beginnen, daß aber nur russische Autoren – mit der unserer Literatur eigenen Aufrichtigkeit – die letzte Ziffer auslassen), hielt gegen vier Uhr nachmittags ein sehr langer und sehr gelber Möbelwagen […] vor dem Haus Tannenbergstraße 7 im Berliner Westen.170
Es ist bemerkenswert, dass das im Weiteren stets wiederkehrende Thema ›Deutschland vs. Russland‹ gleich zu Beginn des Romans eingeführt wird. Beide 169 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 723. 170 Nabokov, Vladimir: Die Gabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999, S. 7.
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Länder werden jedoch einander weder auf der staatlichen noch auf der gesellschaftlichen Ebene gegenübergestellt, sondern auf der literarischen. Es handelt sich nämlich um deutsche und russische Literatur, genauer gesagt um die Art und Weise, einen Roman anzufangen. Der Erzähler (und zugleich die Hauptfigur des Textes) entscheidet sich für die als typisch russisch eingestufte Einleitungsform, bei der die letzte Ziffer des angegebenen Datums ausgelassen wird, und bekennt sich somit ganz bewusst zur Tradition des klassischen russischen Erzählens. Das in diesem Kontext angeführte Zitat eines angeblichen »ausländischen Kritikers« (der eine von Nabokovs zahlreichen Erfindungen sein mag) ist, literaturhistorisch betrachtet, ziemlich fragwürdig. So fängt zum Beispiel E.T.A. Hoffmanns Novelle Spielerglück, in dessen Spielsuchtproblematik Nikolai Karpow einige Parallelen zu Lushins Verteidigung findet171, folgenderweise an: »Mehr als jemals war im Sommer 18. Pyrmont besucht«172 (hier werden sogar zwei letzte Ziffern ausgelassen). Selbstverständlich bemüht sich Nabokov in seiner Eröffnungssequenz weniger um faktologische Korrektheit als um stilistisches Geschick. Genauso gut wie sein Protagonist weiß er, wie irreführend Stereotype und Gemeinplätze sein können. Ein perfektes Beispiel dafür wird im Kapitel 2 der Gabe gegeben, als Fjodor, ein junger russischer Dichter, der »darunter leidet, in dem als abstoßend erfahrenen Deutschland leben und sich hier, statt sich ganz seiner Kunst widmen zu können, mit Sprachunterricht über Wasser halten zu müssen«173, auf dem Weg zu einem seiner Schüler die auftauchenden Berlineindrücke sowie die ein- und aussteigenden Straßenbahnpassagiere registriert: […] wie gewöhnlich erwachte in ihm ein unbestimmter, bösartiger, bedrückender Haß auf die schwerfällige Trägheit dieses unbegabtesten aller Verkehrsmittel, auf die hoffnungslos vertrauten, hoffnungslos häßlichen Straßen, die am nassen Fenster vorüberzogen, vor allem aber auf die Füße, die Seiten und die Nacken der einheimischen Fahrgäste. Sein Verstand wußte, daß unter ihnen auch wahre, vollkommen menschliche Individuen vorkommen konnten, mit selbstlosen Leidenschaften, echtem Kummer, ja selbst mit Erinnerungen, die ihr Leben durchglänzten, aber aus irgendeinem Grund gewann er den Eindruck, daß alle diese kalten, flinken Augen, die ihn anschauten, als trüge er einen unrechtmäßigen Schatz bei sich (was seine Gabe ja im wesentlichen auch war), einzig Klatschbasen und unehrlichen Krämerseelen zugehörten. Die Überzeugung der Russen, daß die Deutschen in kleinen Mengen vulgär, in großen unerträglich vulgär
171 Vgl. Karpow, Nikolai (Карпов, Николай): Романтические контексты Набокова. SanktPetersburg: Издательство Санкт-Петербурского Государственного Университета 2018, S. 62, 66. 172 Hoffmann, E.T.A.: Spielerglück. In: Hoffmann, E.T.A.: Der unheimliche Gast. Phantastische Geschichten. Berlin: Neues Leben 1980, S. 359. 173 Jörg, Natalia: Schreiben im Exil – Exil im Schreiben, S. 729–730.
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seien, war, das wußte er genau, eine Überzeugung, die eines Künstlers unwürdig war; und dennoch überlief ihn ein Zittern […].174
Zwei Aspekte sind im zitierten Abschnitt von besonderer Bedeutung. Erstens ist es natürlich die unverhohlene, ja ausdrücklich übertriebene Abneigung gegen Deutschlands Hauptstadt und deren Bewohner. Gleichzeitig reflektiert Fjodor aber weiter über seinen rein instinktiven, automatischen Ersteindruck hinaus. Es heißt im Text, er wisse ja, sein Denken sei in diesem Moment stereotyp, denn es werde durch die für Exilrussen typische antideutsche Schablonenüberzeugung geprägt, denn »die Repräsentationen des Fremden rekurrieren sich«, so die Kultursoziologin Julia Reuter, »nicht auf eine objektive Qualität des Fernen, Ausländischen oder Seltenen, sondern verdeutlichen die Qualifizierung ihrer Beziehung zum Eigenen.«175 Trotzdem muss Fjodor aufrichtig zugeben, er fühle so und nicht anders. Sein objektives Wissen und sein subjektives Empfinden stehen also gewissermaßen in Konflikt, dessen er sich völlig bewusst ist. Hinzu kommt die grotesk-boshafte Annahme, es könnten unter den »einheimischen Fahrgästen« potentiell auch wahre Menschen vorkommen. Diese Entmenschlichung der Deutschen entspringt demselben, oben besprochenen Stereotypdenken. Das Wichtigste in dieser sarkastischen Vermutung ist jedoch etwas Anderes, und zwar diejenigen knapp, aber explizit aufgelisteten Eigenschaften, welche ein vollkommen menschliches Individuum kennzeichnen. Dies sind, so Fjodor (und sein Schöpfer scheint diese Vorstellung zu teilen): selbstlose Leidenschaft, echter Kummer sowie Erinnerungskraft. Über die Fähigkeit, sich selbst zu vergessen, das eigene »Ich« zu transzendieren, spricht Nabokov auch in seinen Vorlesungen über die europäische Literatur, indem er einem »guten Leser« das selbstlose Bewundern literarischer Kunst zuschreibt, im Unterschied zum banal-dilettantischen Wunsch, sich mit einer fiktiven Figur bzw. mit bestimmten Autorengedanken zu identifizieren.176 Beim »echten Kummer« weist das Beiwort »echt« darauf, dass es weder um alltägliche Sorgen noch um materielle Probleme geht. Ein »echter« Kummer ist in diesem Kontext kein konkretes Ereignis (z. B. Krankheit oder Tod), das einem anderen, weniger tragischen Ereignis (z. B. Schulden oder hohe Miete) entgegengesetzt werden könnte, sondern ein inneres, geistiges Leid, d. h. die Art und Weise, wie Trauer und Schmerz von einem Menschenwesen empfunden und durchlebt werden. Was das Erinnerungsvermögen angeht, so sollte es im kreativ-reflektierenden Sinn und nicht etwa mechanistisch bzw. psychologisch verstanden werden. Jeder Mensch erinnert sich 174 Nabokov, Vladimir: Die Gabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999, S. 131–132. 175 Reuter, Julia: Geschlecht und Körper, S. 24. 176 Vgl. http://www.en.utexas.edu/amlit/amlitprivate/scans/goodre.html/ letzter Zugriff am 04. 01. 2021.
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nämlich an gewisse Geschehnisse in seinem Leben, nicht jeder weiß aber damit so umzugehen, dass das Vergangene zur lebendigen Gegenwart erweckt, die sogenannte objektive Realität dagegen mit unumgänglichen Anführungszeichen versehen wird. Im Weiteren entwickelt sich die Szene nach dem antideduktiven Schema. Das am Anfang der Straßenbahnfahrt skizzierte Deutschenbild wird nun anhand einer Fallstudie sorgfältig überprüft: An der zweiten Haltestelle setzte sich ein hagerer Mann Fjodor gegenüber […]. Als er sich niederließ, stieß er mit seinem Knie und der Ecke einer dicken Aktentasche […] gegen ihn, und dieser belanglose Vorfall verwandelte Fjodors Gereiztheit in reine Wut, so daß er […] augenblicklich seinen ganzen sündhaften Haß (gegen diese arme, klägliche, aussterbende Nation) auf ihn konzentrierte, sehr wohl wissend, warum er ihn haßte: wegen dieser niedrigen Stirn […]; wegen Vollmilch und extrastark […]; wegen der pulcinellhaften Gebärdensprache (Kindern droht man nicht, wie wir es tun, mit aufgerichtetem Zeigefinger, als ständige Mahnung an das göttliche Gericht, sondern mit einem waagerechten Zeigefinger, Symbol des Stockschwingens); wegen der Vorliebe für Zäune […], Mittelmäßigkeit; […] wegen der Klosettwitze […]; […] wegen der Katze, die man […] mit einem Draht durchbohrt, um sich am Nachbarn zu rächen, und der Draht ist geschickt an einem Ende gekrümmt; wegen der selbstzufriedenen, selbstverständlichen Grausamkeit in allem; […] wegen… So reihte er die Punkte seiner voreingenommenen Anklage aneinander und betrachtete dabei den Mann gegenüber – bis dieser ein Exemplar von Wassiljews Zeitung aus der Tasche zog und unbekümmert mit russischem Tonfall hustete.177
Auch in diesem Ausschnitt fällt auf, wie eng Fjodors Reaktion mit beinahe gleichzeitiger Reflexion verknüpft wird. Er empfindet einen augenblicklichen, instinktiven Hass gegenüber dem zugestiegenen hageren Herrn und schätzt diesen Hass simultan als sündhaft ein; er macht eine gnadenlos ausführliche, sämtliche Lebensbereiche betreffende Schuldspruchliste für das Deutschtum, weiß aber zugleich, seine Anklage sei voreingenommen, was schließlich durch die tatsächliche nationale Identität des Fahrgastes bestätigt wird. Wäre jedoch die gesamte Stelle nur um der Überraschungswendung willen da, so entsteht die Frage: Wozu denn eine derart exakte, ausgedehnte Aufzählung von allem, was Fjodor an Deutschland und den Deutschen verachtet? Die Antwort ist naheliegend. Aus den sorgfältig aufgezählten Delikten kann geschlussfolgert werden, welche Charakterzüge und Merkmale menschlichen Verhaltens den Gegensatz zum oben besprochenen vollkommenen menschlichen Individuum ausmachen. Da aber Fjodors impulsives, chaotisch gestaltetes Urteil im Moment seiner Entstehung weder durchdacht noch berechtigt ist, sondern erst im Nachhinein, während des Schreibprozesses entsprechend geregelt wird, gehört es zur Aufgabe des Lesers, das Harmlos-Alltägliche (z. B. Vollmilch) vom Primär-Relevanten
177 Ebd., S. 132–134.
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(Grausamkeit, Vorliebe für Mittelmäßigkeit) zu unterscheiden. Wie oft bei Nabokov, taucht eine der wichtigsten Bemerkungen in Klammern auf. Es heißt im Text nämlich, man drohe den Kindern in Deutschland nicht mit dem aufgerichteten Zeigefinger, »wie wir es tun«, sondern mit dem waagerechten. Dieses »wie wir es tun« ist für den erklärten Individualisten Nabokov sehr untypisch. Generell erscheint der Wir-Bezug in seiner Prosa nur selten, obwohl es zwei beachtenswerte Ausnahmen gibt. Die erste bezieht sich auf das Finale von Einladung zur Enthauptung, wo der Geist des Protagonisten nach dessen Hinrichtung dorthin geht, »wo, nach den Stimmen zu urteilen, ihm verwandte Wesen standen.«178 Die zweite Ausnahme bilden hingegen sowohl Nabokovs frühpoetische Versuche (z. B. das Gedicht Нас мало, юных, окрылённых…179 (Es gibt nur wenige von uns, den Jungen, den Beflügelten…)) als auch diejenigen Texte, die von russischen Emigranten im Westen handeln, wie z. B. die bereits angeführten Stellen aus Nabokovs Autobiographie Erinnerung, sprich! Das Emigrantendasein und die damit verbundenen Selbst- und Fremdenbetrachtungen bilden also einen in Nabokovs Schaffen seltenen Fall, wo die nationale Zugehörigkeit des sprechenden Ich zwar keineswegs ideologisch manifestiert, aber jedenfalls stillschweigend akzeptiert wird. In der analysierten Straßenbahnszene ist es allerdings keine bloße, sachliche Konstatierung. Der im russischen Kulturraum zur Warnung des Kindes aufgerichtete Zeigefinger gilt als »ständige Mahnung an das göttliche Gericht«, wohingegen der deutsche waagerechte Zeigefinger als »Symbol des Stockschwingens« gedeutet wird. Die russische Erziehung steht somit für Metaphysik, sie übergibt die letztendliche Gerechtigkeit bzw. Strafe einer höheren, der materiellen Welt überlegenen Instanz, während deutsche Rechts- und Moralvorstellungen entschieden diesseitszentriert sind. Trotzdem endet dieser Teil mit einer für die Hauptfigur unerwarteten – und gerade deswegen wertvollen – Entdeckung: Die angebliche Verkörperung des ›deutschen Übels‹ entpuppt sich als Fjodors Landsmann. Der junge russische Dichter fühlt sich dadurch kaum enttäuscht; er freut sich im Gegenteil über die weise Ironie des Lebens: Das ist wunderbar, dachte Fjodor und lächelte fast vor Vergnügen. Wie gescheit, wie anmutig schlau und im innersten gut ist doch das Leben! Jetzt unterschied er in des Zeitungslesers Zügen – den Augenwinkeln, den großen Nasenlöchern, dem Schnurrbart russischen Schnitts – solch eine heimatliche Weichheit, daß es mit einem Male sowohl komisch als auch unverständlich wurde, wie jemand sich hatte täuschen lassen können.180
178 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 253. 179 Vgl. Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Стихотворения и поэмы (Gedichte und Poeme). Moskau: Ast 2001, S. 183. 180 Nabokov, Vladimir: Die Gabe, S. 134.
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Das Täuschungsmotiv ist eines der zentralen Motive in Nabokovs Werk. Fast alle seine Figuren täuschen sich auf diese oder jene Weise. Man kann aber folgende Interdependenz beobachten: Während die sogenannten »Durchschnittsmenschen« (Franz in König Dame Bube, Kretschmar in Gelächter im Dunkel) bzw. eindeutige Antagonisten (Hermann in Verzweiflung, Humbert in Lolita) sich ihrer eigenen Verblendung in der Regel nicht bewusst sind und schließlich eben daran scheitern, wissen die wahren Künstler und Lebenskenner (Fjodor, Sebastian Knight, John Shade, teilweise auch Cincinnatus C.) jene sinnbildlichen Täuschungen rechtzeitig zu erkennen und lassen sich vom segenhaften, freundlichen Schicksalshauch inspirieren. Ihr Bewusstsein schwankt stets zwischen Reflexion und Dankbarkeit: »Denn es gibt wirklich etwas, es gibt etwas! Und man möchte danken, aber es ist niemand da, dem man danken könnte. Die Liste der bereits empfangenen Spenden: 10 000 Tage – von Unbekannt«181, wie es Fjodor an einem Sommermorgen in Grunewald zum Ausdruck bringt. Inwiefern man dabei die Figur mit dem Erzähler bzw. Autor identifizieren oder wenigstens in Verbindung bringen dürfte, ist nicht leicht festzustellen. Wie Dieter Zimmer im Nachwort zu der deutschsprachigen Übersetzung von Die Gabe richtig schreibt: Die Frage, inwieweit Fjodor Godunow-Tscherdynzew überhaupt ein Selbstporträt seines Autors ist, läßt sich nicht mit einem Satz beantworten. Zweifellos teilt er mit ihm nicht nur die unmittelbare Umgebung, sondern auch gewisse Aspekte seiner russischen Vergangenheit; zweifellos teilt er einige seiner Interessen […], zweifellos ist die ästhetische Standortbestimmung, die Fjodor in der Gabe vornimmt, in etwa auch die seines Autors.182
Dieser Anmerkung könnte man hinzufügen, dass auch auf rein narrativer Ebene die Grenze zwischen der jeweils erzählenden und agierenden Instanz fließend ist. Dies liegt zum Großteil an einer durchaus ungewöhnlichen, für die russischsprachige Literatur damaliger Epoche gar revolutionären Erzählform, welche im Laufe des ganzen Romans konsequent verwendet wird. Nabokov spielt mit andauerndem Perspektivenwechsel zwischen erster und dritter Person, wobei es nicht immer klar ist, wer genau ein Ereignis oder eine Person betrachtet bzw. kommentiert. Da aber der ganze Roman, nach Brian Boyds treffender Bemerkung, davon handelt, »wie Fjodor soweit kommt, Die Gabe zu schreiben«183, könnte man annehmen, die meisten im Text dargestellten Ereignisse sowie Gedanken, die vom Erzähler ausgedrückt werden, würden zugleich der schöpferischen Phantasie der Hauptfigur entstammen. Einen ähnlichen ›Trick‹ benutzte Marcel Proust, als in Eine Liebe von Swann – dem zweiten Teil von In Swanns 181 Ebd., S. 535. 182 Zimmer, Dieter E.: Nachwort des Herausgebers. In: Nabokov, Vladimir: Die Gabe, S. 620. 183 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 756.
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Welt – die narrative Perspektive plötzlich von der Ich-Form zur ›pseudoauktorialen‹ Erzählsituation wechselt.184 Ähnlich wie Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, ja vielleicht sogar in höherem Grade, ist Nabokovs Die Gabe ein ausgesprochen autorefentieller Roman, dessen literarische Werkstatt mehrmals und auf verschiedene Art und Weise markiert wird. Nabokov selbst sagte einmal, die eigentliche Hauptfigur des Buches sei die russische Literatur.185 Desto interessanter ist die Tatsache, dass auch auf dieser Textebene das Gegensatzpaar ›Russland-Deutschland‹ zur Geltung kommt, wie man aus dem oben angeführten Romananfang schließen kann. Das Motiv des Literarischen entwickelt sich auf den nächstfolgenden Seiten des Kapitels 1 weiter, sodass bald sogar der Berliner Raum, in dem sich der Protagonist bewegt, einer einfallsreichen ›Literarisierung‹ unterliegt. Eine scheinbar unbedeutende Straße wird z. B. folgendermaßen beschrieben: Von Linden mittlerer Größe gesäumt, über deren verschlungene schwarze Zweige herabhängende Regentröpfchen verteilt waren (morgen würde jeder Tropfen eine grüne Pupille enthalten), durchgängig versehen mit einer glatten, geteerten Oberfläche von etwa zehn Metern Breite und abwechslungsreichen (von Hand verlegten und den Füßen schmeichelnden) Gehsteigen, stieg sie in einem kaum wahrnehmbaren Winkel an, beginnend mit einem Postamt und endend mit einer Kirche, wie ein Briefroman.186
Die schablonenhafte Vorhersehbarkeit eines klassischen Briefroman-Schemas (kirchliche Trauung als Resultat eines vertrauten Briefwechsels) korrespondiert hier mit der öden Banalität neuer Wirklichkeit, die auf Fjodor deprimierend und befremdend wirkt. Nichtsdestotrotz beobachtet er die ihn umgebende Berliner Realität äußerst aufmerksam und gar liebevoll, wenn es um solche leicht übersehbaren Details wie die Regentropfen oder der Gehsteig geht (die in Klammern gesetzten Bemerkungen sind in Nabokovs Werk meistenteils sehr signifikant). Thomas Urban macht daraus sogar eine etwas zu weit gehende (obschon nicht ganz falsche) Schlussfolgerung: Eine Art Liebeserklärung an die Stadt, deren Einwohner in der Regel unsympathisch dargestellt sind, findet sich in einem beiläufigen Nebensatz versteckt. Während der Erzähler auf ein Rendezvous wartet, »kam heraus, daß selbst Berlin geheimnisvoll sein konnte. Duft. Stille. Nacht. Vom Prellstein dringt der Schatten der Passanten wie ein Zobel, der über einen Baumstumpf springt«. Keineswegs schwankt der Autor nur zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung gegenüber der Stadt. Die Gabe, geschrieben
184 Vgl. Proust, Marcel: In Swanns Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erster Teil. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 251ff. 185 Vgl. Nabokov, Vladimir: Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe. In: Nabokov, Vladimir: Die Gabe, S. 601. 186 Nabokov, Vladimir: Die Gabe, S. 9.
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in den dreißiger Jahren, ist der große Roman über das russische Berlin der zwanziger Jahre.187
Dieser kurze Abschnitt ist in der Tat eine Liebeserklärung nicht aber an die Stadt Berlin, sondern vielmehr an die unzerstörbare, latente Zärtlichkeit (ein Wort, das beinahe in jedem Text von Nabokov mehrmals benutzt wird) des Seins, welche sogar an denjenigen Orten, die dafür am wenigsten geeignet zu sein scheinen, präsent und wirkend bleibt. Nicht zufällig heißt es ja, »selbst Berlin« könne manchmal »geheimnisvoll sein«, was an die bereits zitierte Annahme Fjodors erinnert, es gäbe auch unter den Deutschen menschliche Individuen im wahren Sinne des Wortes. Die lyrische Begeisterung betrifft hier eher das Naturhafte – »Duft. Stille. Nacht« – als das Urbane. Wurde in Maschenka die unverhoffte Großstadtpoesie auch an den glühenden nächtlichen Werbeschildern entdeckt, so erwähnt der Erzähler von Die Gabe dieselbe Berliner Werbung in einem völlig anderen Kontext und zu einem entgegengesetzten Zweck: »Fjodor saß […] nahe bei einem breiten Fenster, hinter dem die Nacht feuchtschwarz schimmerte, mit zweifarbiger (weiter reichte die Berliner Phantasie nicht) Lichtreklame […].«188 Die Zweifarbigkeit der schimmernden Reklame entspricht wiederum dem flachen, zweidimensionalen Raum deutscher Hauptstadt, in dem die Hauptfigur gefangen ist, ähnlich wie die vorhersehbare Straße die schemenhaften Briefromanmuster nachahmte. Das Gefühl der Gefangenschaft wird in Fjodors Brief an seine Mutter besonders exzessiv artikuliert: […] Im großen und ganzen würde ich lieber heute als morgen dieses Land verlassen, das bedrückend ist wie ein Kopfschmerz – wo alles mir fremd und widerwärtig ist, wo ein Roman über Blutschande oder irgendein plumpes Geschwätz, irgendeine unangenehm phrasenhafte, pseudobrutale Geschichte über den Krieg als Krone der Literatur gilt; wo es in Wirklichkeit überhaupt keine Literatur gibt und schon lange nicht mehr gegeben hat; wo aus dem Nebel der ödesten demokratischen Dumpfheit – ebenfalls pseudo – derselbe alte Stiefel und Stahlhelm hervorstechen; wo der bei uns zu Hause erzwungene »soziale Auftrag« in der Literatur durch sozialen Opportunismus ersetzt worden ist – und so weiter und so weiter… […] es ist amüsant, daß vor einem halben Jahrhundert jeder russische Denker mit einem Reisekoffer genau dasselbe zu kritzeln pflegte – eine Anklage, so augenfällig, daß sie schon banal geworden ist. Früher hingegen, in der goldenen Mitte des vorigen Jahrhunderts, du liebe Güte, was für Freudenschreie! ›Kleines gemütliches Deutschland‹ – ach, Backsteinhäuschen, ach, die Kinderchen gehen zur Schule, ach, das Bäuerlein schlägt sein Pferd nicht mit einem Knüppel… Keine Sorge, er hat seine eigene deutsche Art, es zu quälen, in einem versteckten Winkel, mit rotglühendem Eisen.189
187 Urban, Thomas: Vladimir Nabokov – Blaue Abende in Berlin. Berlin: Propyläen 1999, S. 130. 188 Nabokov, Vladimir: Die Gabe, S. 520–521. 189 Ebd., S. 570–571.
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Das ekel- und schreckenerregende Land-und-Nation-Bild, das in diesem feurigen antideutschen Manifest geschildert wird, zeigt einige Gemeinsamkeiten mit dem vermeintlich deutschen, sich aber schließlich als russisch entpuppten Straßenbahnpassagier auf. Zwei Schlüsselbegriffe sind dabei markant: Banalität und Brutalität.190 Im Fall vom »hageren Mann« in der Straßenbahn war es eine mit dem sorgfältig gekrümmten Draht durchbohrte Katze, hier stellt Fjodor den naiven russischen Vorstellungen aus dem 19. Jh., der deutsche Bauer schlage sein Pferd nicht, eine grausame Erklärung entgegen: Er quält es heimlich und auf eine sadistisch-raffinierte Art und Weise, welche als »seine eigene deutsche Art« bezeichnet wird. Daraus folgt nun, dass jene kultivierte, verfeinerte Gewalt für Nabokov – jedenfalls in der Entstehungszeit der Gabe – zu einem der charakteristischen Merkmale des »deutschen Wesens« gehörte. Dabei soll natürlich der historische Kontext nicht unbeachtet bleiben. Nabokov konzipierte den Roman 1933 und beendete ihn 1938. Ein Jahr vorher, 1937, ist er zusammen mit seiner jüdischen Ehefrau Vera und dem dreijährigen Sohn aus dem Nazi-Deutschland erst nach Paris und dann in die USA geflohen. Bedenkt man dazu, dass auch die Flucht aus Russland von einem totalitären (bolschewistischen) Regime erzwungen wurde, so wird klar, wie tief Nabokov »derselbe alte Stiefel und Stahlhelm« verhasst war, dessen Erblühen und Triumph er nun aufs Neue (diesmal in nationalsozialistischer Version) beobachten und miterleben musste. Daher wird auch die Politisierung der Literatur sowohl in Fjodors Heimat- als auch in seinem Asylland angesprochen. Der »soziale Auftrag« sowjetischer Literatur (die Nabokov ebenfalls kompromisslos ablehnte) wurde, so Fjodor, in Hitler-Deutschland durch »sozialen Opportunismus« ersetzt. Dieser Feststellung sollte jedoch eine kurze Ergänzung beigefügt werden. Der Autor von Die Gabe schien – ähnlich wie deren Protagonist – das Aktuell-Jetzige auf das KonstantImmerwährende zu transponieren und daraus ein grauenvolles, dämonisiertes Bild des Ewig-Deutschen als Synonym des absoluten Banal-Bösen kreiert zu haben. So behauptet Fjodor nicht nur, dass es im zeitgenössischen Deutschland keine wirkliche Literatur mehr gibt, sondern schon lange nicht mehr gegeben hat. Es entsteht der Eindruck, er könne und wolle es einfach nicht zulassen, dass es in jenem Land, dessen kontemporäre kulturelle und politische Lage in ihm nur Abstoß und Widerwillen hervorruft, jemals große Künstler und gute Literatur gegeben hätte. Die Vermutung läge nahe, die totale Abneigung gegen alles Deutsche (und zwar in fast jeder Lebenssphäre) sollte nicht von Fjodor auf seinen Autor übertragen werden. Die Wirklichkeit widerspricht jedoch diesem Wunschdenken, denn es lassen sich in Nabokovs nichtfiktionalen Texten immer wieder identische Aussagen finden. Thomas Urban schreibt dazu:
190 Ihr ontologischer Zusammenhang wird im Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit besprochen.
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Von Anfang an interessierte Nabokov die deutsche Mentalität. Für ihn waren die Deutschen, denen er im Alltag begegnete, die personifizierte poschlost. Das russische Wort umfaßt eine ganze Palette von Bedeutungen: angefangen von ›Grobheit‹, ›Gemeinheit‹, ›Plattheit‹, ›Kleinkariertheit‹ über ›Abgeschmacktheit‹ und ›Banalität‹ bis hin zu ›Trivialität‹. Diese poschlost machte Nabokov sowohl in der deutschen Gesellschaft insgesamt wie auch im Geistesleben aus: »Unter den Völkern, mit denen wir in Berührung kamen, schien uns immer Deutschland der Ort zu sein, wo die ›poschlost‹ – anstatt dem Gelächter preisgegeben zu sein – einen wesentlichen Bestandteil des Nationalgefühls, der Sitten und Gebräuche und der allgemeinen Atmosphäre bildete, obwohl gleichzeitig gutmütige russische Intellektuelle des romantischen Typs bereitwillig, viel zu bereitwillig, die Legenden von der Größe der deutschen Philosophie und Literatur akzeptierten; denn es brauchte schon einen Superrussen, um zuzugeben, daß sich eine fürchterliche Strähne von poschlost durch Goethes »Faust« zieht.191
Hierin sieht man, dass die generalisierende Übertragung der feindlichen Einstellung Deutschland gegenüber auf frühere Epochen sowie auf die gesamte deutsche Kultur nicht nur Fjodor, sondern im gleichen Maße auch seinem Erfinder eigen war. Weder die unbestrittene, ja unbestreitbare, von Nabokov aber als Legende dementierte »Größe der deutschen Philosophie« noch sogar Goethes Faust werden in diesem skrupellosen ›Zweikampf‹ begnadet. Letzteres ist, literaturhistorisch betrachtet, besonders kontrovers, da Faust zu denjenigen Werken westeuropäischer Literatur gehört, welche das russischsprachige Schrifttum nachhaltig beeinfluss(t)en. So widmet z. B. Olga Sedakowa – eine bedeutende russische Dichterin, Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin der Neuzeit192 – ihren Essay Symbol und Kraft der Widerspiegelung und Weiterentfaltung der Faust-Philosophie in Boris Pasternaks Doktor Schiwago.193 Selbst Nabokov (der übrigens auch Pasternaks Nobelroman konsequent und heftig kritisierte194) versuchte einmal, Goethes Zueignung ins Russische zu übersetzen (die bekannteste, als klassisch geltende russischsprachige Version wurde eben von Pasternak verfasst). Andererseits waren es ja die deutschen Romantiker, die Goethes Kunst und Metaphysik geistiges Philistertum und das Besingen der »bürgerlich-adligen Welt« vorwarfen195, während die russischen Romantiker ein beinahe sakrales Verhältnis zu Goethe manifestierten (insbesondere Wassili Schukowski196). Man muss daher nicht unbedingt ein Russe sein, um den Wei191 Urban, Thomas: Vladimir Nabokov – Blaue Abende in Berlin, S. 142–143. 192 Im deutsch-russischen kulturellen Raum ist sie vor allem durch ihre Übersetzungen von Paul Celans Gedichten bekannt. 193 Vgl. Sedakowa, Olga (Седакова, Ольга): Апология разума (Apologie der Vernunft). Moskau: МГИУ 2009, S. 44–119. 194 Vgl. Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 97, 184, 319. 195 Vgl. Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer 2015, S. 105. 196 Vgl. http://zhukovskiy.lit-info.ru/zhukovskiy/stihi/stih-206.htm/ letzter Zugriff am 12. 07. 2018.
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marer Klassiker als banal einzuschätzen. Sehr wohl muss man aber Vladimir Nabokov sein, um jene »fürchterliche Strähne von poschlost« als Kerneigenschaft des weit verstandenen Deutschtums abzustempeln. Daher erscheint sein letzter russischsprachiger Roman unter anderem als eine Art Finalabrechnung mit dem »deutschen Wesen«, wie es Nabokov damals verstanden und empfunden hat. Um es mit Urban nochmals zu unterstreichen: In der Gabe, dem Hauptwerk der Berliner Zeit, führt der Autor ein weiteres Beispiel dieser deutschen poschlost an, dieser Mischung aus sentimentalem Kitsch und kleinkarierter Ordnung: In dem Roman wirbt ein Berliner Bestattungsunternehmen mit dem Modell eines Krematoriums im Schaufenster: »Vor einer kleinen Kanzel Reihen kleiner Stühle, auf denen kleine Puppen […] saßen, und vorn, ein wenig abseits, erkannte man die kleine Witwe an dem Quadratzentimeter Taschentuch, den sie vor das Gesicht hielt. Das Deutsche an der Verführungskunst dieses Modells hatte Fjodor seit jeher belustigt.«197
Was Fjodor beim Beobachten des Schaufensters empört, ist nicht allein die ›Kommerzialisierung des Todes‹, sondern »das Deutsche an der Verführungskunst dieses Modells«. Das Kompositum »Verführungskunst« ist vielsagend, denn es weist darauf hin, dass dem Tod durch diese atmosphärisch-gemütliche Ausstattung harmlose und sogar attraktive Züge verliehen werden; es wird sozusagen fürs Sterben geworben. Die Szene erinnert nämlich an die groteskgeistlose Erzählwelt von Einladung zur Enthauptung, einen Roman, dessen Titel einen ähnlichen stilistischen Eingriff enthält wie die Bezeichnung »Verführungskunst« in Bezug auf den Abschied von einer gestorbenen Person. Der Tod bzw. das Böse attackiert dabei nicht mit grober Gewalt, sondern verführt oder lädt den Gefangenen in sein listiges Reich ein, mit »kleinkarierter Ordnung«, »sentimentalem Kitsch« und anderen Attributen des Ewig-Banalen. Das Berliner Bestattungsunternehmen ›verführt‹ seine potentiellen Kunden zum Sterben, während der totalitäre Alptraumstaat den undurchsichtigen Außenseiter-Protagonisten zur Enthauptung »einlädt«. Das Motiv der banal-infernalen Wirkung der Werbung auf den menschlichen Geist wird bereits am Anfang der Gabe eingeführt, als Fjodor einen Tabakladen betritt und zu sich selbst bzw. zum Leser sagt: Mein Gott, wie ich das alles hasse – die Sachen in den Schaufenstern, den stumpfsinnigen Anblick der Waren und vor allem das Zeremoniell des Geschäftsvorgangs, das Austauschen übertriebener Höflichkeitsbezeigungen vorher und hinterher! Und jene gesenkten Wimpern der bescheidenen Preise… der Edelmut des Rabatts… die Nächstenliebe der Reklame… diese ganze abstoßende Mimikry des Guten, die eine seltsame Anziehungskraft auf gute Menschen ausübt: Alexandra Jakowlewna zum Beispiel hat mir gestanden, sie werde, wenn sie in den ihr vertrauten Geschäften Ein197 Urban, Thomas: Vladimir Nabokov – Blaue Abende in Berlin, S. 143.
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käufe macht, moralisch in eine besondere Welt versetzt, wo sie sich berauscht fühlt vom Wein der Redlichkeit, von der Süße gegenseitiger Gefälligkeiten, und wo sie das fleischfarbene Lächeln des Verkäufers mit einem Lächeln strahlender Verzückung erwidere.198
Wie im Fall von der ideenreichen, aber geistarmen Werbung eines Bestattungsunternehmens, wird auch an dieser Stelle dem Alltäglich-Banalen durch schonungslose Ironie (»die Nächstenliebe der Reklame«) eine pseudometaphysische Dimension verliehen. Die spöttische Veredelung des Kaufprozesses wird mit Alexandra Jakowlewnas Geständnis gekrönt, das Einkaufen in ihren Lieblingsgeschäften versetze sie »moralisch in eine besondere Welt«. Auf ein ähnliches Geständnis stößt man, als Fjodors Geliebte Sina ihm über ihre Mitarbeiter erzählt. Darunter wird »eine verheiratete dralle Blondine« erwähnt, »deren Seele kaum mehr als eine Spiegelung ihrer Wohnung war und die rührend erzählte, wie sie nach einem Tag geistiger Arbeit solch ein Verlangen nach Entspannung durch körperliche Betätigung empfand, daß sie bei ihrer Heimkehr alle Fenster aufriß und sich begeistert an die Wäsche machte«.199 Unter der »geistigen Arbeit« wird dabei nämlich die Arbeit in einem Berliner Büro gemeint (daher auch die Sondermarkierung dieser Formulierung im Romantext). Es wäre interessant, die Aussagen von Alexandra Jakowlewna und der unbenannten deutschen Blondine mit dem Auszug aus Lolita-Nachwort zu vergleichen, wo der Autor sein Verständnis bzw. seine private Empfindung der sogenannten schönen Literatur folgendermaßen erklärt: Für mich existiert ein Werk der Fiktion nur in dem Maße, wie es mir gewährt, was ich rundheraus ästhetische Lust nennen möchte – ein Gefühl, irgendwie, irgendwo mit anderen Seinszuständen in Berührung zu sein, bei denen Kunst (Neugier, Zärtlichkeit, Güte, Harmonie, Leidenschaft) die Norm ist.200
Auch Nabokov kannte also das Gefühl, in eine »besondere Welt« versetzt zu werden, bloß sorgte in seinem Fall dafür kein »Zeremoniell des Geschäftsvorgangs«, sondern die Rezeption oder das Schaffen eines Kunstwerks. Indem Alexandra Jakowlewna die gehobene, ja fast religiös gefärbte Sprache benutzt, um die »Süße gegenseitiger Gefälligkeiten« beim Kauf von Lebensmitteln zu beschreiben, unternimmt sie (natürlich völlig unabsichtlich) eine Art ›Anti-Romantisierung der Welt‹, also das Gegenteil davon, was Novalis in seinem Programmtext Die Welt muss romantisiert werden forderte. Der deutsche Frühromantiker postulierte:
198 Nabokov, Vladimir: Die Gabe, S. 11. 199 Ebd., S. 308. 200 Nabokov, Vladimir: Über ein Buch mit dem Titel »Lolita«. In: Nabokov, Vladimir: Lolita. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2010, S. 520.
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Romantisieren ist nichts als eine qualit[ative] Potenzierung. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – […] es bekommt einen geläufigen Ausdruck.201
In der obenzitierten Szene aus Nabokovs Die Gabe bekommt das Gewöhnliche, ja Triviale zwar ein geheimnisvolles Ansehen, »die Würde des Unbekannten«, aber es wird dadurch kaum romantisiert. Im Gegenteil: Die Potenzierungsoperation führt dazu, dass die »abstoßende Mimikry des Guten« in ihrer ganzen ungeschminkten Banalität bloßgestellt wird. Nebenbei macht Fjodor eine bedeutende Randbemerkung, indem er behauptet, die »seltsame Anziehungskraft« jener Banalität habe ausgerechnet auf »gute Menschen« eine besonders starke Auswirkung. Generell bleibt die Tabakladen-Szene, trotz ihres eindeutig sarkastischen Charakters, frei von derjenigen nationalkritisch getönten Voreingenommenheit, die den Roman ansonsten stark markiert. Dennoch heißt es auch hier: »Der Laden führte keine russischen Zigaretten mit Mundstück, wie er sie bevorzugte […].«202 Die unerfüllte Hoffnung, im Berliner Laden die wohlbekannten einheimischen Zigaretten zu kaufen, wird somit in den Exil- und Verfremdungsdiskurs eingebettet. Dies ist aber nur ein kleines Vorspiel zur weiteren Entwicklung dieses häufig auftretenden und durchaus relevanten Motivs. Es geht dabei um das Motiv der grundsätzlichen Unrealisierbarkeit menschlicher Träume. Man könnte die These wagen, dass die gesamte DeutschlandRussland-Opposition nur eine besonders bildhafte Metapher dieses eigentlichen Kernthemas des Romans bildet. Ganz nach seinen mehrmals formulierten Kunstvorstellungen und Idealen erzeugt Nabokov seine eigene Wirklichkeit, wo die gewöhnliche soziale Hierarchie willkürlich umgedreht wird: »Deutsche sind nur Randfiguren: Bahnschaffner, Briefträger, Beamte, Hauswirte – nicht Individuen, sondern lediglich Funktionsträger, deren einzige Aufgabe zu sein scheint, den Emigranten mit ihren Formularen und Vorschriften das Leben möglichst schwer zu machen.«203 Urbans Worte korrelieren dabei mit Julia Reuters These, die »Generalisierung der Fremdheit« beziehe sich »in der modernen Gesellschaft […] auf die Tatsache, dass Personen in der Moderne nicht als ganze Personen, sondern in erster Linie als FunktionsträgerInnen in verschiedene arbeitsteilige Systeme inkludiert sind.«204 Auch Julia Kristeva behauptete: »In den Augen des Fremden haben die, die es nicht sind, kein Leben: sie existieren nur, prachtvoll oder kümmerlich, aber außerhalb des Rennens und daher 201 Novalis: Die Welt muß romantisiert werden. In: Schmitt, Hans-Jürgen: Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Romantik I. Stuttgart: Reclam 2003, S. 57. 202 Nabokov, Vladimir: Die Gabe, S. 11. 203 Urban, Thomas: Vladimir Nabokov – Blaue Abende in Berlin, S. 122–123. 204 Reuter, Julia: Geschlecht und Körper, S. 48.
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beinahe schon in Leblosigkeit erstarrt.«205 In der von Nabokov geschaffenen Erzählwelt der Gabe wird die reale Rollenverteilung nicht nur ignoriert, sondern bewusst vertauscht. Der Autor schildert die abgestuften Verhältnisse zwischen dem Emigrantenmilieu und den Wurzelberlinern so, wie sie von den russischen Asylanten empfunden werden, und nicht etwa nach dem tatsächlichen, objektiven Stand der Dinge (der für den Schriftsteller Nabokov eher zweitrangig war). In dieser seltsamen, geisterhaften ›Zwischenwelt‹ leben die Revolutionsflüchtlinge einen einzigen großen Traum: Die Rückkehr nach Hause. Dieser Traum kann jedoch nicht verwirklicht werden, und zwar aus dem einfachen Grund, dass das ersehnte Zuhause nicht mehr existiert. Das vorrevolutionäre Russland ist verschwunden, es wurde von Lenin und den Bolschewiken in jene Sowjetunion verwandelt, die für Nabokov zum Inbegriff all dessen wurde, was er leidenschaftlich hasste. In dieser Situation – geprägt einerseits von unerfüllbarer Sehnsucht nach Vergangenem, andererseits vom Verfremdungsgefühl gegenüber Gegenwärtigem – erlebt der reale, alltägliche Exil-Raum eine bemerkenswerte Metamorphose bzw. Inszenierung. Das deutsche Berlin wird zur bloßen Bühne, über die Thomas Urban sehr treffend sagt: »Die Berliner Kulisse nutzt Nabokov als »deutschen Beitrag zum Atmosphärischen«: die Parkanlagen, die teilweise abstoßend häßlichen Wohnhäuser, den Grunewald mit seinen Schmetterlingen und den nassen Asphalt der Straßen, in dem sich in der Nacht die Lichter der Stadt widerspiegeln.«206 Das ›russische Berlin‹ breitet sich hingegen zu einer neuen, zwar künstlich aufgerichteten, für ihre Bewohner aber einzig realen Wirklichkeit aus. Es entsteht ein selbstgeschaffener Innenraum: Nicht etwa im psychologischen Sinne, sondern nach dem topographischen ›MatrjoschkaPrinzip‹, d. h. als ein Raum, der in einem anderen Raum verborgen bleibt. Ironischerweise kommt es im Emigrantenalltag zur permanenten Vermischung sämtlicher Haupt- und Teilräume. Jenes bunte Chaos wird in einer besonders dynamischen, rasant pulsierenden Großstadtszene geschildert, als der Protagonist von einem Sprachschüler zum anderen eilt. Das Deutsche wird dabei stets mit dem Russischen konfrontiert, obschon beides von Fjodors Auge im rastlosen Vorbeilaufen nur fragmentär registriert (und kommentiert) wird: Er überquerte den Wittenbergplatz, auf dem, wie in einem Farbfilm, rund um eine antike, zu einem Untergrundbahnof führende Treppe Rosen im Winde zitterten, und lenkte seine Schritte zu der russischen Buchhandlung […] Wie jedes Mal, wenn er zu dieser Straße kam (die unter der Schirmherrschaft eines riesigen Warenhauses begann, das alle Arten einheimischer Geschmacklosigkeit verkaufte, und nach einigen Straßenkreuzungen in bürgerlicher Stille endete […]), traf er einen älteren, krankhaft verbitterten Schriftsteller aus St. Petersburg, der im Sommer einen Mantel trug, um die 205 Zitiert nach: Jörg, Natalia: Schreiben im Exil – Exil im Schreiben, S. 14. 206 Urban, Thomas: Vladimir Nabokov – Blaue Abende in Berlin, S. 122.
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Fadenscheinigkeit seines Anzugs zu verbergen […] Fjodor hatte ihn kaum abgeschüttelt, als zwei weitere Schriftsteller in sein Blickfeld gerieten, ein gutmütiger trübsinniger Moskowiter […], und ein satirischer Dichter von der in Berlin erscheinenden russischen Emigrantenzeitung, ein gebrechlicher kleiner Mann mit freundlichem Witz und ruhiger heiserer Stimme.207
Jene hektische, montageartige Beschreibung scheint eine perfekte Illustration zu Karl Schlögels Bemerkung zu sein: »Das Tempo der Stadt wird kenntlich gemacht durch das Anhalten der flüchtenden und flüchtigen Bewegung.«208 Beachtenswert ist allerdings, dass die Bewegung sich hier zwar im Berliner Raum vollzieht, aber stets von russischen Einwanderern markiert wird. Es entsteht der Eindruck, die zentralen Straßen der deutschen Hauptstadt seien überwiegend mit Russen überfüllt. Die »einheimische Geschmacklosigkeit«, also das Fremde, zeigt sich dagegen in der äußeren Kulisse der Warenhaus-Werbung. Deutsche Passanten werden dabei kaum erwähnt. In Raumsoziologie schreibt Martina Löw über das kontextuelle Raum-Konzept bei Einstein, wo der Raum als »eine begriffliche Konstruktion zum Verständnis der Welt«209 aufgefasst wird. Einen vergleichbaren Prozess, bloß auf soziohistorischer Ebene, kann man auch in Nabokovs Roman beobachten. Räume, so Löw, »bringen Verteilungen hervor, die in einer hierarchisch organisierten Gesellschaft zumeist ungleiche Verteilungen bzw. unterschiedliche Personengruppen begünstigende Verteilungen sind.«210 Wie bereits erwähnt wurde, durchleben diese Verteilungen in Nabokovs Emigrantenromanen, und vor allem in Die Gabe, eine immense Umwandlung. Der allwissende Erzähler »begünstigt« (um es mit Löws Terminologie auszudrücken) die den Text-Raum bewohnenden Figuren nach seiner eigenen künstlerischen Willkür und stellt sie ins semantische Erzählzentrum, während sie in der realen historischen Hierarchie damaliger Zeit am Rande der Gesellschaft postiert wurden. Der Emigrantenraum und der Raum der Einheimischen funktionieren hier allerdings, gemäß Löws Raumkonzeption, als »Gegenstände sozialer Auseinandersetzungen«211, obschon man bei Nabokov eher von geistig-kulturellen als von strikt sozialen Auseinandersetzungen reden sollte. Jedenfalls lässt sich Löws These, ein (Menschen)Raum sei in erster Linie soziokulturell und nicht etwa geographisch bzw. ortsgebunden zu verstehen, am Phänomen des ›russischen Berlins‹ der ersten Emigrationswelle sehr gut bestätigen. »Menschengruppen können«, so Löw, »einen Raum konstituieren, der nicht nur an die Fläche, auf der sie stehen,
207 208 209 210 211
Nabokov, Vladimir: Die Gabe, S. 269–270. Schlögel, Karl: Das Russische Berlin, S. 217. Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 23. Ebd., S. 272. Ebd.
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gebunden ist.«212 Dies ist genau der Fall russischer Revolutionsflüchtlinge, die den (weitgehend erfolgreichen) Versuch unternahmen, ihr eigenes ›Mikrorussland‹ inmitten des Berliner Raumes aufzubauen. Es bleibt nun die Frage, ob diese Raumkonstitution rein intentional oder aber existentiell betrachtet werden sollte. Nach Löw geschieht nämlich die Raumkonstitution »in der Regel aus einem praktischen Bewußtsein heraus, das zeigt sich besonders darin, daß Menschen sich selten darüber verständigen, wie sie Räume schaffen.«213 Einerseits kann man beim Entstehen des ›russischen Berlins‹ natürlich keinen dokumentierten Beweis für eine bewusste, von allen Beteiligten willentlich unternommene Raumerrichtung finden. Andererseits wurden ja die unzähligen russischen Gast- und Speisehäuser, Verlagsorte, Kulturzentren und politische Parteien bezweckt und gewollt erschaffen. Man kann also ›russisches Berlin‹ als ein zwar aus praktischem Bewusstsein, aber keineswegs unreflektiert entstandenes, im hohen Grade artikuliertes Phänomen deuten. Das Wichtigste ist allerdings, dass Nabokovs Protagonist in Die Gabe, wie auch Ganin in Maschenka, sich in diesem künstlich aufgebauten Emigrantenrussland weiterhin einsam und unverstanden fühlt. Es gibt nur wenige Ausnahmepersonen, mit denen Fjodor eine gewisse geistige Verwandtschaft empfindet. Dies bezieht sich vor allem auf den Dichter Kontschejew, dessen Werke Fjodor bewundert, ohne jedoch die Möglichkeit zu haben, ihn persönlich kennenzulernen und ein längeres Privatgespräch zu führen. Im letzten Kapitel des Romans kommt es plötzlich zu einem Treffen mit Kontschejew, obwohl es ein äußerst untypisches, ja irreales Treffen ist. Nicht minder bedeutend sind aber die Umstände, unter denen dieses (Schein)treffen stattgefunden hat. Die Hauptfigur sonnt sich an einem See in Grunewald und gerät durch den Anblick der sie umgebenden deutschen Badegäste in eine ekelnd-verzweifelte Empörung: Graue Beine alter Männer, mit Wucherungen und geschwollenen Venen bedeckt; […] braungelbe Hornhaut von Hühneraugen; rosige Schweinsbäuche; […] die Kugeln der Brüste; dicke Hintern; schlaffe Oberschenkel; bläuliche Krampfadern; Gänsehaut; die pickligen Schulterblätter krummbeiniger Mädchen; die fetten Nacken und Gesäße muskulöser Rowdys; die hoffnungslose, gottlose Leere zufriedener Gesichter; […] Gelächter, Geplansche – all das fügte sich zusammen zu einer Apotheose jener berühmten deutschen Gutmütigkeit, die mit Leichtigkeit jeden Augenblick in rasendes Geschrei umschlagen kann. Und über alledem herrschte [..] ein unvergeßlicher […] Geruch von Staub, Schweiß, Schlamm, […] von gedörrten, geräucherten, eingemachten Seelen, pro Stück einen Groschen. Doch der See selber, mit leuchtend grünen Baumgruppen auf der anderen Seite und einer sich kräuselnden Sonnenspur in der Mitte, gab sich würdevoll.214 212 Ebd., S. 53. 213 Ebd., S. 161–162. 214 Nabokov, Vladimir: Die Gabe, S. 547–548.
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Betrachtet man diese Beschreibung kontextfrei, so mag sie noch härter und rücksichtsloser erscheinen als die früher zitierte Szene in der Straßenbahn, denn hier wird der Deutschenhass des Protagonisten auf keinen konkreten Menschen, sondern auf alle Sonnenanbeter gerichtet: Männer, Frauen, Jugendliche usw. Darüber hinaus ist Fjodors Abneigung keineswegs rein physiologischer oder gar ästhetischer Natur. Die »gottlose Leere zufriedener Gesichter« sowie die Erwähnung »jener berühmten deutschen Gutmütigkeit«, deren Kehrseite durch herzlose Brutalität gekennzeichnet sei, weisen auf eine innerliche, geistige Aversion, die von einem bestimmten Welt- und Menschenbild untermauert ist. Worum es sich dabei handelt, kann man am ehesten begreifen, wenn man eine äußerst vielsagende zeitgenössische Rezension liest, welche in einer russischsprachigen Zeitschrift (dies sollte man mehrmals unterstreichen) Новое слово (Neues Wort) vom 20. 03. 1938 (auch dieses Erscheinungsdatum ist von großer Bedeutung) gedruckt wurde. Die Gabe wurde in Paris beendet, und so schreibt der Rezensent in seinem zorn- und hasserfüllten Text Folgendes über den Roman und dessen Autor: Paris ist der Sumpf, in den die – oft reinen und frischen – Bäche literarischen Schaffens aus allen Ländern unserer Zerstreuung münden. Doch sobald sie in diesen Sumpf geraten, stecken sie sich selbst mit dem Gestanke an, den die dort fest eingenistete literarische Clique verbreitet, die eine Politik betreibt, welche weder mit russischer Literatur noch mit russischem Gedankengut etwas Gemeinsames hat, – die Politik der antifaschistischen, genauer antideutschen Propaganda. […] richtet sich das Werk auf etwas, was irgendwie am Nationalismus nagt, so kann man beruhigt sein […]: es wird unbedingt erscheinen. Man muss nur bluffen, jammern und sich sehnen. Was aber am wichtigsten ist – man muss Deutschland beschimpfen. […] Der diesem Rezept treue Sirin »beschreibt« nun den Badestrand in Grunewald. Im gegenwärtigen Deutschland, wo Sport zum Nationalkult geworden ist, wo die Jugendlichen so trainieren wie nirgendwo sonst auf der Welt, in Deutschland, das so gut wie in allen Sportarten Sieger ist, – hat Sirin nichts außer »Busengloben und schwerer Gesäße […]« und dergleichen erblicken können. Der Autor hat damit – ohne es zu wissen – ein realitätsnahes Bild des Grunewalder Strandes gegeben, doch nicht etwa im heutigen, sportlich abgehärteten Deutschland, sondern vielmehr im Deutschland der Inflationszeit, als die Strände von Vertretern der Rasse überfüllt waren, welche sich weder durch Sportlichkeit noch durch körperliche Wohlgeformtheit auszeichnete […]. 215 215 Zitiert nach: Melnikow, Nikolai (Мельников, Николай) (Hg.): Классик без ретуши, S. 150. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »В Париж, как в болото, стекаются из всех стран нашего рассеяния ручьи литературного творчества, ручьи часто чистые и свежие. Но, попадая в болото, cами заражаются зловонием, которое распространяет плотно засевшая там литературная клика, ведущая политику, ничего общего ни с русской литературой, ни с русской мыслью не имеющую, – политику антифашистской, вернее, антигерманской пропаганды. […] если творчество направлено на дело, в какойто степени национализм подтачивающие, – то будьте покойны […], выход в свет ему обеспечен. Нужно только кривляться […], ныть и тосковать. А главное – нужно ругать
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Der Autor der Rezension, ein gewisser A. Gref, gehörte also zu den Anhängern des Nationalsozialismus, wozu er sich in seinem Text offen bekennt. Das Deutsche ist für ihn lediglich eine Konkretisierung des Faschistischen, wobei Letzteres als etwas durchaus Positives, ja Vorbildliches besungen wird. Es ist ja markant, dass Nabokov in der Grunewald-Szene keinerlei politische, sondern ausschließlich moralisch-ontologische Anknüpfungen benutzt.216 Fjodor betrachtet die Badegäste zwar eindeutig ablehnend, aber seine Empfindungen bleiben im Rahmen des Privat-Subjektiven, das zum Großteil auf gängigen Stereotypen beruht (was man auch im Straßenbahn-Passus beobachten konnte). Es sieht jedoch danach aus, als hätte der tendenziös-rassistische Rezensent den eigentlichen Hintergrund des Textes intuitiv erspürt. Man könnte sehr wohl annehmen, der trügerisch harmlose Sonntagsstrand verberge in sich tatsächlich das Bild des »sportlich abgehärteten« Hitler-Deutschlands, das zur Zeit der Romanentstehung schon omnipräsent genug war, um sich in allen Lebenssphären (samt der erholungsfamiliären) zu manifestieren. Der russische Literaturtheoretiker Grigorij Hassin macht bei der Analyse dieser Szene eine weitere bedeutende Ergänzung, indem er die Rolle von Scham und Individuation in Nabokovs Weltbild thematisiert. Scham und Bewusstsein sind nämlich, so Hassin, eng miteinander verbunden. Das Gleichgewicht individueller Existenz gerate gleich aus den Fugen, sobald die Fähigkeit, sich selbst im Anblick des Anderen zu fixieren, verlorengeht.217 Dies ist eine ziemlich unerwartete Bemerkung, da Nabokov gewohntermaßen – und zwar zurecht – als radikaler Individualist betrachtet wird. Dennoch heißt es für Hassin: »Diese Gesichter sind hoffnungslos, denn sie sind nicht für uns da. Man kann von ihnen nichts erwarten, es gibt nichts, worauf man hoffen kann, weil alles, was mit ihnen geschieht zur Für-Sich-Selbst-Sphäre gehört.«218 Die dargestellten Badenden verfügen über kein Selbstbewusstsein, weil sie sich des Beobachterauges nicht bewusst sind und ihr nacktes, autonomes,
Германию. […] Верный этому рецепту Сирин ›описал‹ пляж в Груневальде. В современной Германии, где спорт стал национальным культом, где молодежь проходит такую тренировку, как нигде в мире, в Германии, оказавшейся победительницей почти во всех видах спорта, – Сирин не увидел ничего, кроме ›[…] глобусы грудей и тяжелые гузна […]‹ и проч. Автор, сам того не ведая, дал верную картину груневальдского пляжа, но не современной, спортивно закаленной Германии, а Германии периода инфляции, когда пляжи были сплошь заполнены представителями расы, никогда ни спортивностью, ни красотой форм не отличавшейся […].« 216 Vgl. Hassin, Grigorij (Хасин, Григорий): Театр личной тайны. Русские романы В. Набокова (Das Theater des privaten Geheimnisses. Die russischen Romane von V. Nabokov), Moskau – St. Petersburg: Letnij Sad 2001, S. 60. 217 Vgl. ebd., S. 61. 218 Ebd., S. 60. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »Эти лица безнадежны, ибо они не для нас. Мы не можем ничего ожидать от них, нам не на что надеяться, так как все что с ними происходит, принадлежит к области для-себя.«
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aber ich- und geistloses Dasein schamlos explizieren.219 Es geht somit um kein übliches, milieuorientiertes Schamgefühl, welches aus untertäniger Anpassungsbestrebung resultiert, sondern um dasjenige selbsttranszendierende Du-Bewusstsein, ohne das jegliches Ich-Bewusstsein verschlossen und unvollständig bleibt. Gefangen in dieser paradoxen Stimmung zwischen poetischer Naturbewunderung und verächtlichem Befremdungsgefühl gegenüber seiner menschlichen Umgebung, geht Fjodor schwimmen und erreicht schließlich das andere Seeufer. Die erste (und zugleich einzige) Person, die er dort bemerkt, ist »ein gebeugter junger Mann in einem schwarzen Anzug.«220 Ehe noch der Unbekannte beim Namen genannt wird – es ist nämlich Kontschejew – wird er folgendermaßen beschrieben: »Zwischen den Ecken des gestärkten Kragens ( jenes Typs, den man einst in Rußland »Hundefreude« nannte) glänzte ein Kragenknopf über dem lockeren Knoten seiner Krawatte.«221 Das Russische an dem von Fjodor hochgeschätzten Dichter bekommt somit eine vorläufige Markierung, um diesen Menschen von der abstoßenden Menschenmasse am Strand abzugrenzen. Darauf folgt ein längeres Gespräch zwischen beiden Autoren. Diskutiert wird vor allem über Literatur, seien es die russischen Klassiker wie Puschkin, Fet und Dostojewskij, oder Fjodors »Schwäche für Flaubert«222, die von Kontschejew kritisch kommentiert wird, übrigens wie auch seine »obszöne sportliche Nacktheit«.223 Nichtsdestoweniger muss Kontschejew zugeben, »[…] daß irgendwo – nicht hier, sondern in einer anderen Dimension, von deren Winkel Sie übrigens eine noch so verschwommenere Idee haben als ich –, irgendwo am Rande unserer Existenz, sehr fern, sehr geheimnisvoll und unaussprechlich, eine fast göttliche Bindung zwischen uns heranwächst. Aber vielleicht empfinden Sie und sagen Sie das alles nur, weil ich Ihr Buch schwarz auf weiß gelobt habe – wissen Sie, das kommt auch vor.« »Ja, ich weiß. Ich habe selber daran gedacht. Besonders deshalb, weil ich Sie früher um Ihren Ruhm beneidet habe. […] «Ruhm?« unterbrach Kontschejew. »Daß ich nicht lache. Wer kennt denn meine Gedichte? Eintausend, eintausendfünfhundert, allerhöchstens zweitausend intelligente Emigranten, von denen wiederum neunzig Prozent sie nicht verstehen. Zweitausend, unter drei Millionen Verbannter! Das ist ein provinzieller Erfolg, aber kein Ruhm.224
In diesem kurzen Auszug aus Fjodors Konversation mit Kontschejew ist zweierlei wichtig. Erstens die von Beiden geteilte Überzeugung oder, besser gesagt, der 219 220 221 222 223 224
Vgl. ebd. Nabokov, Vladimir: Die Gabe, S. 550. Ebd. Ebd., S. 556. Ebd. Ebd.
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Glaube daran, dass die geistige Affinität zwischen ihnen »nicht hier«, d. h. weder auf sozialer noch auf historischer Ebene, sondern »in einer anderen Dimension« besteht (es geht also um gewisse metaphysische Berührungspunkte). Zweitens ein ähnliches, wenn nicht identisches Verständnis der Begrenztheit eigener Anerkennung: »Ich bin nur ein armer Russe, der den Überschuß einer vornehmen Erziehung verkauft und in seiner Freizeit Verse kritzelt – das ist meine ganze kleine Unsterblichkeit. Aber selbst diese Nuance facettenreichen Denkens, dieses Spiel des Geistes mit sich selbst hatte keine Aussicht auf Schüler«225, fasst Fjodor sein Emigrantendasein und poetisches Schaffen an einer anderen, wesentlich früheren Stelle des Romans zusammen. Das Entscheidende stellt sich jedoch am Ende ihres Gesprächs heraus. Nach einem langen, höchst inspirierten Monolog von Fjodor folgt: »Herrliches Wetter – in der Zeitung steht aber, daß es morgen bestimmt regnen wird«, sagte schließlich der junge Deutsche, der neben Fjodor auf der Bank saß und auf ihn gewirkt hatte, als sehe er Kontschejew ähnlich. Also wieder Einbildung – aber was für ein Jammer! […] Warum kann eine Unterhaltung mit ihm einfach nicht zur Realität erblühen, zur Wirklichkeit durchstoßen? Oder ist dies eine Verwirklichung, und etwas Besseres ist gar nicht nötig… da eine echte Unterhaltung nur enttäuschend sein würde mit dem Stammeln des Stotterns, […] dem Geröll kleiner Worte? »Da kommen die Wolken schon«, fuhr der kontschejewoide Deutsche fort und deutete dabei mit dem Finger auf eine vollbrüstige Wolke, die im Westen emporstieg.226
Anders als in der Straßenbahnszene – und zugleich in evidenter ästhetischer Korrespondenz damit – verwandelt sich nun der vermeintliche russische Dichter in einen realen, ziemlich durchschnittlichen deutschen Spaziergänger. Dadurch wird das Täuschungsmotiv konsequent weiterentwickelt, und zwar nicht bloß spielerisch, um einen weiteren Überraschungseffekt zu erreichen, sondern semantisch oder gar philosophisch begründet. Diese Semantik bzw. Philosophie ist allerdings etwas doppelsinnig. Einerseits geht es darum, dass das reale Leben stets eine schlaue, aber doch freundlich gestimmte Weisheit aufweist, die allen menschlichen Vorstellungen und Phantasien übergeordnet ist. Andererseits entpuppt sich der Wunsch, das Erträumte zu verwirklichen – jene hastige, ungeduldige Aktualisierungsbestrebung – als trügerisch, ja gerade unnötig. Die Unterhaltung mit dem ideellen Gesprächspartner kann »nicht zu Realität erblühen«, weil die Realität höchstwahrscheinlich völlig anders aussehen würde. Dies ist aber nur die erste, naheliegende Erklärung, die auch Fjodor gleich in den Sinn kommt. Eine tiefgehende Erkenntnis besteht darin, dass die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit ausschließlich im Außenraum besteht. Für den 225 Ebd., S. 267. 226 Ebd., S. 559.
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inneren Raum des menschlichen Geistes – und somit auch für die (literarische) Kunst – gibt es keine derartigen Abgrenzungen, sodass eine sogenannte ›fiktive‹ Konversation dasselbe Wirklichkeitsrecht beansprucht wie eine, wiederum sogenannte, ›reale‹. Literatur stellt nämlich denjenigen Zwischenraum, diejenige »andere Dimension« dar, wo das Tatsächliche und das Erdachte ein unzertrennbares Nebeneinanderdasein führen. Das metaphysische Ausmaß der von Nabokov durchgehend benutzten Täuschungselemente kulminiert in der Beschreibung des Todes von Alexander Jakowlewitsch Tschernyschewskij. Diese scheinbare Nebenfigur tritt stellenweise im Text auf, wobei ihre erste Erwähnung, bereits am Anfang vom Kapitel 1, auch mit einer Täuschung verbunden ist. Alexander Jakowlewitsch liest dem Protagonisten per Telefon einen Teil aus einer euphorisch-positiven Rezension von Fjodors frisch veröffentlichtem Gedichtband vor. In der Mitte des Vorlesens bricht er aber ab und lädt Fjodor zu sich und seiner Frau zum Abendessen ein, wo er ihm verspricht, die Zeitschrift zu zeigen.227 Beflügelt eilt Fjodor zum älteren Ehepaar, um gleich nach dem Betreten ihrer Wohnung zu erfahren, die erwartungsfrohe Rezension wurde von Alexander Jakowlewitsch erdacht (als Aprilscherz), um den ansonsten nicht besonders kontaktfreudigen Fjodor bei sich zu Gast begrüßen zu können.228 Nun – d. h. im letzten Romankapitel, also vierhundert Seiten nach dem Erstauftritt dieser Figur – liegt Alexander Jakowlewitsch im Sterben und macht sich folgende Gedanken: Diese Kneifzange hinten und dieser stählerne Schmerz sind ganz verständlich. Der Tod schleicht sich von hinten heran und packt dich an den Seiten. Komisch, daß ich mein ganzes Leben lang an den Tod gedacht habe, und wenn ich gelebt habe, so nur auf den Seitenrädern eines Buches, das zu lesen ich nie fähig war. […] Es ist furchtbar schmerzlich, den Schoß des Lebens zu verlassen. Die Todesangst der Geburt.229
Der Tod kann somit als Tor zu einer neuen Geburt verstanden werden. Interessanterweise wäre aber die daraus resultierende Schlussfolgerung, der Sterbende glaube an Jenseits im christlichen Sinne, eine falsche Interpretation. Der Vergleich des Sterbens mit dem Austritt aus dem »Schoß des Lebens« ist – für Alexander Jakowlewitsch – eher eine Metapher seines schmerzvollen Leidens und seiner absoluten, verzweifelten Hilflosigkeit im Angesicht des sich nähernden Todes: »Im großen und ganzen gab es im Leben nichts außer der Vorbereitung auf eine Prüfung – auf die man sich gar nicht vorbereiten kann.«230 Alexanders Vorstellungen über das Schicksal nach dem Tode tendieren immer-
227 228 229 230
Vgl. ebd., S. 15–16. Vgl. ebd., S. 54. Ebd., S. 505. Ebd., S. 506.
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hin, insbesondere in den letzten Sekunden seines (bewussten) Lebens, zu Atheismus. Eine Seite später heißt es nämlich: Tags drauf starb er, doch zuvor hatte er noch einen Moment der Klarheit; er klagte über Schmerzen und sagte dann (im Zimmer war es dämmerig wegen der heruntergelassenen Rollos): »Was für ein Unsinn. Natürlich kommt danach nichts.« Er seufzte, horchte auf das Tropfen und Trommeln vor dem Fenster und wiederholte mit ungewöhnlicher Deutlichkeit: »Da kommt nichts. Das ist so klar wie der Umstand, daß es regnet.«231
Sein ganzes Leben lang glaubte Alexander Jakowlewitsch, einen unmittelbaren Kontakt mit seinem Sohn Jascha zu haben, der sich, infolge einer unglücklichen Liebe (deren Umstände mehrere deutsch-romantische Muster vereinen und parodieren) in Grunewald erschoss. Die permanente Anwesenheit von Jaschas Geist in Tschernyschewskijs Wohnung machte den Sinn seines Lebens aus. Kurz vor dem Tode hat er »einen Moment der Klarheit« und wird sich plötzlich der absurden Unsinnigkeit jeglicher Jenseitsbilder bewusst. Doch damit endet das Täuschungsmotiv nicht, sondern gleich darauf folgt der Kernkommentar seitens des Erzählers: »Und währenddessen spielte draußen die Frühlingssonne auf den Ziegeln des Daches, der Himmel war träumerisch und wolkenlos, die Bewohnerin des oberen Stockwerks goß die Blumen am Geländer ihres Balkons, und das Wasser floß prasselnd nach unten.«232 Wiederum sind es keine mystischen Ereignisse, sondern die Wirklichkeit selbst, die sämtliche menschlichen Gesinnungen und Behauptungen übersteigt und sprengt. Kurz: Der Mensch sei sogar nicht imstande, festzustellen, ob es draußen regnet, geschweige denn, ob es ein Leben nach dem Tode gibt. Dieser Darlegung könnte entgegengehalten werden, dass Alexander Jakowlewitschs Täuschung einzig durch die heruntergelassenen Rollos verursacht wurde. Wäre es im Zimmer nicht dunkel gewesen, so hätte er keinen Trugschluss darüber ziehen können, was für ein Wetter draußen herrschte. Das menschliche Leben ist aber ein solches dunkles Haus – wenigstens wird es so in Die Gabe metaphorisiert – das von einer anderen, stets anwesenden, aber unsichtbaren, anonymen Realität umkreist wird: […] Das unglückliche Bild eines »Weges«, an das der menschliche Geist sich gewöhnt hat (das Leben als eine Art Reise), ist eine dumme Illusion: Wir gehen nirgends hin, wir sitzen zu Hause. Die andere Welt umgibt uns immer und liegt keineswegs am Ende irgendeiner Pilgerfahrt. In unserem irdischen Haus sind die Fenster durch Spiegel ersetzt; die Tür ist bis zu einer bestimmten Zeit geschlossen; aber durch die Ritzen dringt Luft herein.233
231 Ebd., S. 507. 232 Ebd. 233 Ebd., S. 503.
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So denkt Alexander Jakowlewitsch, bevor er zur finalen Schlussfolgerung kommt, dieses Denken sei eine Täuschung gewesen. Inzwischen erweist sich überraschenderweise eben diese letzte Schlussfolgerung als täuschend, jedenfalls auf der metaphorischen Ebene, denn der vorgenommene Vergleich entspricht nicht dem wirklichen Stand der Dinge. Es bleibt noch eine bedeutende Frage: Wer registriert und erzählt die Gedanken des sterbenden Alexander Jakowlewitsch? Ist es Fjodors Vorstellungskraft, die sich ins fremde Bewusstsein hineinlebt, oder spricht hier vielleicht die textexterne Stimme eines auktorialen, allwissenden Erzählers bzw. Autors, der, wie Gennady Barabtarlo behauptet, mit dem Protagonisten nicht gleichgestellt werden dürfte?234 Die narrative Struktur des Romans ist so polyphonisch und dabei so extrem verwickelt, dass man wohl keine eindeutige Antwort auf diese Frage geben kann. Für die vorliegende Untersuchung ist es in erster Linie von Bedeutung, dass das metaphysisch gefärbte Täuschungsmotiv mit der romantisch angehauchten Traum-und-WirklichkeitProblematik im ganzen Verlauf des Textes aufs Engste verbunden bleibt. Einer der Hauptgedanken, die in der Gabe latent ausgedrückt werden, lautet: Weder der Traum noch das Nicht-Verwirklichte (bzw. Unrealisierbare) sollten vernachlässigt und als irreal betrachtet werden. Mehr noch: Manche Gedanken, Gefühle und Bestrebungen sind einzig dazu da, um in der menschlichen Phantasie ausgelebt zu werden, denn ihre tatsächliche, materielle Verwirklichung würde bestenfalls in eine skurrile Parodie oder aber sogar in eine Katastrophe münden. Damit kehren wir zum Ausgangsthema – Russland vs. Deutschland – zurück. Das negative Deutschlandbild, das in Fjodors Emigrantenbewusstsein entsteht, richtet sich nämlich auf einen realen Lebensraum, mit konkreten sozialen, historischen und politischen Besonderheiten. Das erinnerte und zugleich ersehnte Russlandbild ist dagegen eine Art Traummetapher, denn dieses Russland gibt es nicht mehr. Wichtig ist dabei, dass weder Fjodor noch sein Autor – anders als viele monarchistisch gestimmte Asylanten – die ›gute alte‹ Zarenzeit beweinen. Wonach sie sich sehnen, ist das Russland ihrer Kindheit, die russische Natur, Puschkin und Tolstoi, Gogol und Tschechow. In enger Zusammenarbeit von Erinnerung und Phantasie wird somit ein bestimmtes ›inneres Russland‹ errichtet, frei von jeglicher historischer bzw. politischer Konkretisierung. Auch ist es keine mythische »Heilige Rus« im religiösen, orthodoxen Sinne dieses Begriffs. Bei Nabokov handelt es sich vielmehr um ein höchst individuelles, objektloses Sehnen, das zur »romantischen Sehnsucht« wohl am nächsten steht. Fjodor unterscheidet ja selbst zwischen dem typisch-russischen Emigrantendenken, das auch ihm eigen ist, und der individuellen Begabung, welche nur ihn auszeichnet, um ihn schließlich von einem talentierten russischen Dichter zu einem großen, 234 Vgl. http://magazines.russ.ru/zvezda/2012/8/b13.html/ letzter Zugriff am 17. 07. 2018.
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universellen Künstler zu erheben. In der realen, alltäglichen Berlin-Wirklichkeit fühlt sich Fjodor, um es mit Julia Reuters Schilderung eines sozialen Fremdlings zu vergleichen, »als Eindringling in eine stabile Struktur […], der durch seine Unvertrautheit oder Nicht-Zugehörigkeit krisenhafte Begegnungen provoziert«.235 Auf der sozialen Ebene folgen die Verhältnisse zwischen ihm und seiner Umgebung dem Prinzip gegenseitiger »Interaktionsstrategie der ›höflichen Nichtbeachtung‹«.236 Nicht aber auf der kreativen Ebene von Fjodors literarischer Kunst, wo »die Inszenierung der Entdeckung des Fremden als Fortsetzung der Entdeckung des Eigenen«237 erscheint. Bleiben die Berliner vom Emigranten Fjodor tatsächlich unbeachtet (es bestehen kaum Privat- und Kulturkontakte zwischen ihnen), so beobachtet sie der Künstler Fjodor äußerst aufmerksam und eifrig. »So hat denn auch Berlin seinen Fremdheitscharakter für Fedor längst eingebüßt […]«238, postuliert Nora Scholz in ihrem Buch über die Umkreisungen des Nondualen im Prosawerk von Vladimir Nabokov. Das stimmt jedoch nur in Bezug auf Fjodor als Schriftsteller bzw. transnationales Menschenwesen, denn als russischer Emigrant ist er – was im Roman mehrmals unterstrichen wird – vom stereotypen Deutschlandbild genauso dominiert wie die Mehrheit anderer in Berlin angesiedelter Russen. Sehr repräsentativ ist in diesem Kontext folgender Satz, der schon teilweise besprochen wurde: »Der Laden führte keine russischen Zigaretten mit Mundstück […] und er wäre mit leeren Händen wieder hinausgegangen, wenn nicht die getüpfelte, mit Perlmuttknöpfen besetzte Weste des Tabakhändlers und der kürbisfarbene kahle Fleck auf seinem Kopf gewesen wären.«239 Die hier verwendete Metapher ist natürlich nicht zufällig, denn in Wirklichkeit hat Fjodor den Laden doch »mit leeren Händen« verlassen. Die ›Entschädigung‹, die er dafür bekommt, ist hingegen keine materielle, sondern eine künstlerische: Er sieht, bewahrt in der Erinnerung und beschreibt später die Kleidung des Händlers sowie seinen befleckten Kopf. Anders gesagt, ›bekommt‹ der Protagonist statt seiner Lieblingszigaretten denjenigen Romansatz, den der Leser gerade genießt. Ein greifbares soziales Gut (Zigaretten) wird also durch ungreifbares ästhetisches Gut (schöne, treffende Menschenbeschreibung) ersetzt. Ähnlich sieht es mit dem erinnerten Russland und dem erlebten Deutschland aus. Letzteres kann erst durch die bewusste, einer gründlichen Reflexion unterzogene Distanz als Fremdraum konzipiert und skizziert werden. Reuter schreibt dazu: »Fremdheit […] nimmt […] eine doppelte Funktion ein: Als 235 236 237 238
Reuter, Julia8: Geschlecht und Körper, S. 44. Ebd., S. 56. Ebd., S. 37. Scholz, Nora: »… essence has been revealed to me«. Umkreisungen des Nondualen im Prosawerk von Vladimir Nabokov. Berlin: Frank & Timme 2014, S. 125. 239 Nabokov, Vladimir: Die Gabe, S. 11.
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Darstellungsraum bietet sie einerseits Raum für die Darstellung des Fremden, andererseits kann dieser Raum erst durch die Darstellung, das heißt durch den praktischen Vorgang entstehen.«240 Jene Duplizität betrifft im selben Maße das Eigene, denn auch der Russland-Raum – nicht etwa der real-historische, sondern der ideell-poetische – wird erst durch dessen literarische Inszenierung existent. Daher fragt sich der Protagonist einmal: Mußte man die Sehnsucht nach dem Heimatland nicht ein für allemal verwerfen, nach jeder Heimat außer der einen, die bei mir, in mir ist, die wie der silberne Meeressand an der Haut meiner Fußsohlen haftet, in meinen Augen, meinem Blut lebt, die dem Hintergrund einer jeden Lebenshoffnung Tiefe und Weite verleiht? Eines Tages werde ich, wenn ich meine Schreibarbeit unterbreche, aus dem Fenster schauen und einen russischen Herbst erblicken.241
Der russische Herbst ist also nicht ortsgebunden, sondern kann von einem künstlerisch begabten, poetisch inspirierten Bewusstsein auch in einem entfernten, fremden Raum zum Leben erweckt werden. Das Russlandbild in Die Gabe kann man daher als Synonym des Traumhaft-Erhabenen betrachten, wohingegen das Deutschlandbild für das Aktuell-Banale steht, sodass die Opposition ›Deutschland vs. Russland‹ als semantisches Äquivalent der Opposition ›Jetzt vs. Damals‹ bzw. ›Wirklichkeit vs. Traum‹ hervortritt. Das ›Jetzt‹ bezieht sich nämlich nicht so sehr auf die Gegenwart im Sinne einer bestimmten Epoche, sondern eher auf das Handgreifliche, das Objektiv-Reale, während das ›Damals‘ nicht nur mit dem Vergangenen, sondern vielmehr mit dem Erdichteten einhergeht. So gesehen ist die Meinung, dass Die Gabe zum Großteil vom »Elend der Vertreibung aus dem Paradies« handelt242, berechtigt. Nur sollte man dabei entsprechend Akzente setzen, d. h. dem Romanautor keine Idealisierung des ›alten Russlands‘ zuschreiben: Dasjenige Russland, das die Hauptfigur verloren hat, war ganz gewiss kein utopischer Staat im sozialpolitischen Sinne, wohl aber ein ›Kindheits- und Jugendparadies‹ des jungen Fjodor (und gleichsam Nabokov). Beide Daseinsaspekte des Protagonisten – sowohl seine Erinnerungen als auch die gegenwärtige Wirklichkeit – können unter gewissen Umständen ihre illusorische Kehrseite unerwartet enthüllen. Jedoch birgt der Traum als solcher keine Enttäuschungsgefahr in sich, wogegen der Wunsch, das Erträumte zu realisieren, in eine geistige Sackgasse führt. Dieser Gedanke ist auch im Liebesmotiv des Romans leicht erkennbar. Nehmen wir als Beispiel die Szene, in der Fjodor eine Sprachschülerin zum Hausunterricht besucht: […] jetzt kam er an seinem Ziel an – der Wohnung einer alleinstehenden und einsamen jungen Frau, sehr hübsch trotz ihrer Sommersprossen, stets im schwarzen Kleid, das am 240 Reuter, Julia: Geschlecht und Körper, S. 24. 241 Nabokov, Vladimir: Die Gabe, S. 285. 242 http://www.zeit.de/1993/49/die-frechheit-der-sehnsucht/ letzter Zugriff am 18. 07. 2018.
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Hals offen war, und mit Lippen wie Siegellack auf einem Brief, in dem nichts steht. […] Selbst jetzt – oder besser gesagt, gerade jetzt und mit größerer Erregung als zuvor fragte sich Fjodor (obgleich in eine andere verliebt, deren Zauber und Intelligenz unvergleichlich waren), was geschehen würde, wenn er seine Handfläche auf diese leicht zitternde Hand mit den spitzen Fingernägeln legte, die der seinen so einladend war, und da er wußte, was dann geschehen würde, begann sein Herz plötzlich zu klopfen, und seine Lippen wurden sofort trocken. […] Das war eine wertlose, verschlagene Frau mit einer trägen Seele; doch selbst jetzt, als die Stunde vorüber war und er schon auf der Straße stand, überkam ihn ein bestimmtes Gefühl des Ärgers. […] er verspürte das banalste Gefühl der Welt: den Stich einer verpassten Gelegenheit.243
Die verpasste Gelegenheit wird hier als »banal« bezeichnet, wobei man nicht vergessen sollte, dass die Banalität in Nabokovs ethischer Hierarchie fast eine Todessünde ist. Man kann sich diverse Was-wäre-wenn-Fragen stellen, doch die Wirklichkeit darf weder versucht noch herausgefordert werden. Daher heißt es einige Zeilen weiter: Nein, so war das nicht – er hatte nichts verpaßt. Die einzige Freude an diesen nicht verwirklichten Umarmungen war ihre leichte Vorstellbarkeit. Während der vergangenen zehn Jahre einer einsamen und zurückhaltenden Jugend […] hatte er sich an den Gedanken gewöhnt, daß es zwischen der Täuschung einer beiläufigen Affäre und der Süße ihrer Verlockung eine Leere gab, […] das Fehlen jeglichen wirklichen Handelns seinerseits, so daß er gelegentlich, wenn er im Vorübergehen ein Mädchen ansah, sich gleichzeitig sowohl die überwältigende Möglichkeit des Glücks und den Widerwillen gegen dessen unvermeidliche Unvollkommenheit ausmalte […].244
Mit anderen Worten: Das Träumen mag aus rein praktischer Sicht naiv und unfruchtbar sein, doch die vermeintliche Verwirklichung des Traums wird auf jeden Fall täuschen, »weil die Forderungen der Vorstellungskraft unerfüllbar«245 sind. Fjodor, der seine eigenen Liebesphantasien nicht nur mehrmals erlebt, sondern auch sorgfältig reflektiert hat, weiß das sehr gut und muss daher immer wieder aufpassen, um die lyrische Zärtlichkeit des Fiktiven in der verzerrten Vulgarität des Wirklichen nicht zu verlieren. Dies führt ihn letztendlich zu seiner eigentlichen wahren Liebe, der halbjüdischen Russin Sina, die Fjodors Kunst versteht und bewundert und ihn stets zur weiteren Entfaltung seines außergewöhnlichen literarischen Talents motiviert. Auch was die intim-erotische Dimension ihrer Beziehung angeht, wird das Verlangen des Protagonisten, seine Begierde zu stillen, immer wieder auf die Probe gestellt. Folgende Beschreibung eines missglückten Kusses beim abendlichen Rendezvous mit Sina steht in grundsätzlicher Opposition zur oben angeführten Textpassage, wo die »verpasste
243 Ebd., S. 267–268. 244 Ebd., S. 268–269. 245 Ebd., S. 269.
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Möglichkeit« einer sexuellen Annährung an die deutsche Sprachschülerin thematisiert wurde: Dicht vor seinem Gesicht war ihre zart aschgraue, von einem Schatten durchschnittene Wange, und als Sina sich plötzlich mit geheimnisvoller Verwirrung und Quecksilberglanz in den Augen ihm zuwandte […], machte er sich die absolute Freiheit in dieser Welt der Schatten zunutze, um sie bei ihren geisterhaften Ellbogen zu fassen; sie aber entschlüpfte dem Muster und stellte mit einem flinken Stoß ihres Fingers das Licht wieder her. »Warum?« fragte er. »Das erkläre ich Ihnen ein andermal«, erwiderte Sina, ohne die Augen von ihm zu lassen. »Morgen«, sagte Fjodor. »Gut, morgen.«246
Nassim Balestrini unterzieht diese Szene einer interessanten Analyse und vergleicht Fjodors Verhalten (und Scheitern) mit Ganins nostalgischer Verliebtheit. Balestrini unterstreicht, dass Sina, im Unterschied zu Maschenka, eine reale, nicht bloß in der Erinnerung bzw. Phantasie existierende Person ist, weshalb das Liebesverhältnis zwischen Fjodor und Sina im entscheidenden Kontrast zu Nabokovs Debütroman steht: Fjodors Versuch, »die absolute Freiheit in dieser Welt der Schatten zu nutze[n]«, um Sina zu küssen, scheitert an Sinas Entschlossenheit, sich ihm gegenüber im Hause Schtschjogolew wie eine Fremde zu verhalten. Im Gegensatz zu Ganin, der in seiner schattenhaften Welt der Erinnerung Maschenkas Bild seinen Bedürfnissen entsprechend manipuliert, steht Fjodor eine ideale Partnerin gegenüber, deren Selbständigkeit, Intelligenz uns Sensibilität erstmals in Nabokovs Romanen eine Heldin erscheinen lassen, mit der der Protagonist eine ausgewogene Beziehung eingehen kann. Sinas Verhalten sprengt romantische Klischees, da sie trotz der verlockenden Zweisamkeit im Halbdunkel ihrem Entschluß treu bleibt […].247
Sinas Versprechen, den Grund ihrer Zurückhaltung zu erklären, wird allerdings gehalten, sodass am nächsten Abend Fjodor die erwünschte Antwort auf seine Frage bekommt. Diese Antwort ist im Lichte der besprochenen Motive – Deutschland und Russland, Traum und Wirklichkeit – äußerst bedeutungsvoll: Sie vereinbarten, sich nach dem Abendessen bei einer Bank zu treffen, die er am Abend zuvor ausgekundschaftet hatte. »Nun, warum?« fragte er, als sie sich hingesetzt hatten. »Aus fünf Gründen«, sagte sie. »Erstens, weil ich keine Deutsche bin; zweitens, weil ich erst letzten Mittwoch mit meinem Verlobten gebrochen habe; drittens, weil es – nun ja, sinnlos wäre; viertens, weil Sie mich überhaupt nicht kennen, und fünftens…« Sie
246 Ebd., S. 297–298. 247 Balestrini, Nassim W.: Vladimir Nabokovs Erzählwerk, S. 116.
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verfiel in Schweigen, und Fjodor küßte behutsam ihre brennenden, schmelzenden, kummervollen Lippen. »Darum« sagte sie, und ihre Finger glitten über die seinen und preßten sie fest zusammen.248
»Keine Deutsche« heißt in diesem Kontext so viel wie »nicht derart zugänglich«. Auch Sinas Verhältnis zum Deutschtum deckt sich also mit den Ansichten ihres Geliebten. Darauf wird im Text mehrmals verwiesen, z. B.: »Zu Hause war sie unglücklich, und dieses Unglück verachtete sie. Auch ihre Arbeit verachtete sie, obwohl ihr Chef Jude war – jedoch ein deutscher Jude, das heißt, in erster Linie ein Deutscher, so daß sie keine Bedenken hatte, in Fjodors Gegenwart über ihn zu schimpfen.«249 Der Roman endet in dem Moment, als der Protagonist seiner Geliebten die Idee mitteilt, einen großen quasirealistischen Roman zu schreiben, in dem private Erfahrungen bzw. Erlebnisse einer solch raffinierten Mystifizierung unterzogen würden, »daß von der Autobiographie nichts als Staub übrigbleibt – jene Art von Staub natürlich, aus dem der allerorangefarbenste Himmel besteht.«250 Danach gehen beide Verliebten zusammen nach Hause, wo sie jetzt endlich zum ersten Mal zu zweit bleiben können (Sinas Stiefvater Schtschjogolew hat eine Arbeitsstelle andernorts bekommen und mit seiner Frau, Sinas Mutter, Berlin verlassen). Bisher mussten Fjodor und Sina ihre Liebe geheim halten, denn Schtschjogolew durfte keineswegs etwas davon erfahren. Nun sind sie in Berlin allein geblieben und haben die lang ersehnte Chance, die Nacht zusammen zu verbringen. Die letzten zwei Seiten des Romans sind von dieser bebenden Erwartung durchflutet: Wird es wirklich heute nacht geschehen? Die Last und die Drohung der Seligkeit. Wenn ich so mit dir gehe, ganz langsam, und dich bei der Schulter halte, schwankt alles ein wenig, summt mir den Kopf, und ich möchte meine Füße nur nachziehen […]. Und eines Tages werden wir uns an all dies erinnern – an die Linden und den Schatten an der Wand und die ungestutzten Krallen eines Pudels, die über die nächtlichen Steinplatten tappen. Und an den Stern, den Stern. Und da ist der Platz und die dunkle Kirche mit dem gelben Licht ihrer Uhr. Und da, an der Ecke, das Haus.251
Der Eintritt in dieses Haus – dasjenige Haus, wo Fjodor sein Einzelzimmer mietet – wird den Figuren jedoch verweigert, wovon der Text nicht direkt berichtet (weder Fjodor noch Sina wissen davon). Jene Unmöglichkeit resultiert aber aus den früher beschriebenen Umständen, denn Fjodors Schlüssel ist in der Wohnung geblieben, den zweiten dagegen hat Sinas Mutter aus Versehen mitgenommen (nach Schlögel ist der Umzug die »wichtigste Form innerstädtischer 248 249 250 251
Ebd., S. 298–299. Ebd., S. 306. Ebd., S. 594. Ebd., S. 596.
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Berlin als Handlungsraum in Nabokovs russischsprachiger Prosa
Mobilität«252). Auch dem Liebestraum wird somit nicht gestattet, realisiert zu werden. Daher klingt der Roman mit einem in Prosaform niedergeschriebenen Gedicht aus, in dessen semantischem Zentrum das Thema des Unvollendeten steht: Leb wohl, Buch! Eine Todesstundung ist auch Visionen nicht vergönnt. Onegin wird nicht länger knien, da sich sein Schöpfer von ihm trennt. Sich jäh von der Musik zu wenden, vermag kein Ohr, so rasch zu enden kein Text… und selbst das Schicksal klingt noch nach. Vom wachen Geist erzwingt mein Text, der so geendet hat, nicht, diesen Punkt als Schluß zu sehen: Des Daseins Truggestalten wehen blauschimmernd übers schwarze Blatt wie Morgenwolken ohne Eile, und niemals endet eine Zeile.253
Das Gedicht ahmt in der Originalversion das (in Russland) berühmte Versmaß, den vierfüßigen Jambus nach, den Alexander Puschkin für sein Hauptwerk, den Versroman Eugen Onegin, verwendete. In der deutschen Version wird zwar das Metrum beibehalten, nicht aber das Reimschema. Als Gedicht würde die oben zitierte Stelle nämlich folgendermaßen aussehen: Leb wohl, Buch! Eine Todesstundung Ist auch Visionen nicht vergönnt. Onegin wird nicht länger knien, da sich sein Schöpfer von ihm trennt. Sich jäh von der Musik zu wenden, vermag kein Ohr, so rasch zu enden kein Text… und selbst das Schicksal klingt noch nach. Vom wachen Geist erzwingt mein Text, der so geendet hat, nicht, diesen Punkt als Schluß zu sehen: Des Daseins Truggestalten wehen blauschimmernd übers schwarze Blatt wie Morgenwolken ohne Eile, und niemals endet eine Zeile.254 252 Schlögel, Karl: Das Russische Berlin, S. 219. 253 Ebd., S. 597. 254 Das Ende der ersten Zeile – die »Todesstundung« – reimt in der deutschen Übersetzung auf kein anderes Wort. Im Original steht es dagegen: Прощай же, книга! Для видений – Oтсрочки смертной тоже нет. С колен поднимется Евгений, – Hо удаляется поэт. (Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Дар (Die Gabe). Moskau: Соваминко 1990, S. 348). »Для видений« (»für die Visionen«) reimt bei Nabokov auf »Евгений« (»Eugen«) und verweist somit unmittelbar auf Puschkins Versroman. Der Verweis ist auch in der deutschen Version gut lesbar, aber die Form des Gedichts (das sogenannte ›Onegin-Versmaß‹, wie es in der russischen Literatur offiziell bezeichnet wird) musste einer exakten Sinnentsprechung geopfert werden. Am bedeutendsten sind immerhin die letzten vier Zeilen.
Zeit vs. Raum – Zur Poetik des Vergangenen in Nabokovs Emigrantenprosa
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Der Roman über einen russischen Literaten im Berliner Asyl endet mit einer Art Huldigung an den größten russischen Dichter und resümiert in poetischer Form eine seiner grundlegenden Ideen. Während die »objektive Wirklichkeit« von »des Daseins Truggestalten« bewohnt wird und genauso wie jene Gestalten flüchtig und vergänglich ist, lebt die künstlerische Fiktion ewig, denn »niemals endet eine Zeile«. So erblüht das als Fremdraum empfundene Berlin zum seltsamen, aber doch völlig realen Widergeburtsort der russischen Literatur, der russischen Literatur, deren unbestrittenes Meisterwerk unter dem Titel Die Gabe als vollständiges Buch erst 1952 von einem russischen Verlag in New York herausgegeben wurde.
2
Die Banalität des Bösen und das Böse der Banalität – Vladimir Nabokov und Hannah Arendt
Ich gehöre nicht in den Kreis der Philosophen. Mein Beruf – wenn man davon überhaupt noch sprechen kann – ist politische Theorie.255 Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Grass (1964). Ich war niemals Mitglied einer politischen Partei, verabscheue und verachte jedoch seit eh und je Diktaturen und Polizeistaaten sowie jegliche Form von Unterdrückung.256 Vladimir Nabokov im Interview mit Jane Howard (1964).
2.1
Nabokovs ›philosophische Antikrimis‹
2.1.1 Das blinde Dreieck in König Dame Bube und Gelächter im Dunkel Vladimir Nabokov mochte weder Krimis noch Deutschland. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – sind alle drei Hauptfiguren seines zweiten russischsprachigen Romans König Dame Bube Deutsche, und im Zentrum der Handlung steht ein geplanter Mord. Der Plot an sich ist so simpel, dass er sich in einem Satz zusammenfassen lässt. Franz, jung und arm, kommt aus seiner provinziellen Heimatstadt nach Berlin, um im Laden seines wohlhabenden Onkels Dreyer zu arbeiten, verliebt sich in dessen Frau Martha, verfällt ihrem gefährlichen Charme, beschließt zusammen mit ihr (unter ihrem dominierenden Einfluss), Dreyer zu töten, aber der Versuch scheitert, und schließlich stirbt Martha an einer äußerst schicksalhaften Lungenentzündung. Auf den ersten Blick mag Nabokovs Abneigung gegen Krimiliteratur typisch für einen ›großen Autor‹ scheinen – ein Verhalten, das immer eine Prise Snobismus in sich hat. So liest man z. B. in einem seiner Interviews: »Es gibt einige Art erzählender Prosa, die ich nie anrühre – Kriminalromane beispielsweise, die mir ein Greuel sind.«257 Nichts wäre jedoch falscher als darin das übliche schriftstellerische Misstrauen gegenüber der Unterhaltungsliteratur zu sehen. Nabokov war ja selbst der Meinung, die Kunst sei ein »göttliches Spiel« – ein Spiel, weil jedes literarische Werk eine Fiktion sei; göttlich, weil der Schaffensprozess den
255 https://www.rbb-online.de/zurperson/interview_archiv/arendt_hannah.html / letzter Zugriff am 06. 11. 2021. 256 Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 82. 257 Ebd., S. 76.
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Vladimir Nabokov und Hannah Arendt
Menschen seinem Schöpfer näher bringt.258 Er lehnte das Krimigenre also keineswegs deshalb ab, weil die Kriminalromane sich nicht mit ernsten Themen beschäftigen, etwa den sozialen oder politischen Problemen. Nichts war Nabokov so fremd wie die ›engagierte Literatur‹ mit ihrem hervorstechenden humanistischen Pathos und kühnen Weltveränderungsambitionen. Was er aber nicht leiden konnte, waren sämtliche Erzählungsschemata – alles, was sich unter dem Oberbegriff der Banalität versteckt. Dabei geht es mehr um die Form des Erzählens als um die im Text behandelte Problematik, wobei man unterstreichen sollte, dass Form und Inhalt in Nabokovs Kunstvision eng verzahnt sind. Den Kriminalromanen warf er nicht die Oberflächlichkeit ihrer Handlung vor, sondern das ›Genrehaftige‹ und damit Banale (nach Nabokovs Kriterien). Interessant ist, dass Bertolt Brecht (den Nabokov, in einer Reihe mit Faulkner und Camus, als »reines Nichts« stigmatisierte259) eben aus demselben Grund das Kriminalgenre zur sogenannten ›hohen‹ bzw. ›schönen‹ Literatur zählte: Die Tatsache, daß ein Charakteristikum des Kriminalromans in der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente liegt, verleiht dem ganzen Genre sogar das ästhetische Niveau. Es ist eines der Merkmale eines kultivierten Literaturzweigs. […] Es gibt eine Menge von Schemata für den Kriminalroman, wichtig ist nur, daß es Schemata sind.260
Diese »Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente« war genau das, was Nabokov als öde Schablonenmixtur zu entlarven suchte, indem er behauptete, Kriminalliteratur sei, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine »Art Collage, die mehr oder weniger originelle Rätsel mit konventioneller und mittelmäßiger künstlicher Technik kombiniert.«261 Das Schlüsselwort lautet: Technik. Nabokov sagt nichts über der Inhalt von Kriminalromanen. Die Technik ist ihm aber wichtig, und zwar kritisiert er an dieser Technik diejenigen Kunstgriffe, die für Brecht das Kennzeichen eines »kultivierten Literaturzweigs« ausmachen. Nach Brecht ist das ›Kreieren von Schemata‹ eine der wichtigsten Aufgaben der Literatur; nach Nabokov besteht ihre Kraft in ihrer eigensinnigen Originalität. Nabokovs Kunstcredo lautet somit: Je freier von jeglichen Erzählungsmustern, desto literarischer. Peter Nusser postulierte 1980, die Kriminalliteratur sei von der sogenannten Verbrechensliteratur abzugrenzen. Im Unterschied zu einem Krimi, der sich um die bloße logische Aufklärung eines Mordes bemüht, sucht die Verbrechensli258 Vgl. Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Лекции по русской литературе [Vorlesungen über die russische Literatur], St. Petersburg: Азбука 2009, S. 176. 259 Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 162. 260 Brecht, Bertold: Über die Popularität des Kriminalromans. In: Vogt, Jochen (Hrsg.): Der Kriminalroman II. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. München: Wilhelm Fink Verlag, 1971, S. 316. 261 Nabokov, Deutliche Worte, S. 206.
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teratur nach dem Ursprung, dem Sinn des Verbrechens.262 Ihr Ziel ist, »die Motivationen des Verbrechers, seine äußeren und inneren Konflikte, seine Strafe zu erklären. Zur Verbrechensliteratur gehören Kunstwerke wie der »König Ödipus« von Sophokles oder Dostojewskis »Schuld und Sühne«[…].«263 Es ist äußerst interessant, dass Nusser ausgerechnet Dostojewski als Paradebeispiel der Verbrechensliteratur erwähnt, denn Nabokovs Verhältnis zum russischen Klassiker schwankte zwischen herablassender Ironie und vehementer Abneigung. Hier einige seiner Aussagen über Dostojewski: Habe wieder Tolstoj und Dostojevskij gelesen. Letzterer ist ein drittklassiger Schriftsteller, und sein Ruhm ist mir unbegreiflich.264 Er war ein Prophet, ein schwafelnder Journalist und ein schludriger Komödiant. Ich räume ein, daß einige seiner Szenen, einige seiner gewaltigen, farcenhaften Streitereien außerordentlich lustig sind. Aber seine empfindsamen Mörder und gemütvollen Huren hält man keinen Augenblick aus – ich jedenfalls nicht.265
Für Nabokov gibt es also keinen Unterschied zwischen Kriminal- und Verbrechensliteratur. In seinem ästhetisch-philosophischen System erweist sich die Suche nach dem Sinn des Verbrechens als fruchtlos, denn ein Verbrechen ist, streng genommen, immer sinnlos und banal. Er glaubt an keine »empfindsamen Mörder«, weil ein empfindsamer Mensch (welcher mit einem sentimentalen Menschen nicht verwechselt werden darf) zu einem Mord einfach nicht fähig wäre: sowohl aus ästhetischen als auch aus moralischen Gründen. Daher war Dostojewskis Prosa für Nabokov eine Art verschleierte Kriminalliteratur, deren psychologische Unglaubwürdigkeit dank steigender Spannung, unerwarteten Handlungswendungen und ein Paar metaphysischen Dekorationen verdeckt wird. In seinem zweiten Roman König Dame Bube führt Nabokov alle möglichen Genreschablonen ins Feld, nicht nur die eines mustergültigen Krimis. Banal ist allein das erprobte Dreieck ›Mann-Frau-Liebhaber‹. Dazu kommt die Tatsache, dass Franz viel jünger und viel ärmer als Dreyer ist. Gekrönt wird der Klischeeweihnachtsbaum schließlich mit dem geplanten Mord des Ehemannes, obwohl diese Idee erst ungefähr in der Mitte des Romans auftaucht. Der Erzählstil ist dagegen alles andere als banal, wovon bereits der einladende, prophetisch-poetische Anfang zeugt: Der riesige schwarze Uhrzeiger steht noch still, wird aber gleich seine Einmal-proMinute-Geste vollziehen; und dieser federnde Ruck wird eine ganze Welt in Bewegung setzen. Das Zifferblatt wird sich langsam abwenden, voller Verzweiflung, Verachtung 262 263 264 265
Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart, Metzler, 1980, S. 1. Ebd. Ebd., S. 384. Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 73–74.
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Abb. 4: Erstausgabe von König, Dame, Bube. Berlin 1928.
und Langeweile, so wie einer nach dem anderen die Eisenpfeiler vorbeiwandern und das Gewölbe der Bahnstation als gleichmütige Gebälkträger fortschleppen werden […]. Es waren mehr Frauen da als Männer, wie immer bei den Abschieden. Franzens Schwester, die Blässe der frühen Stunde auf ihren schmalen Wangen […] und seine Mutter, klein, rundlich, wie ein kompakter kleiner Mönch. Sieh die Taschentücher, wie sie zu flattern beginnen.266
Bereits der erste Satz überrascht mit seiner erfrischenden Doppeldeutigkeit. Der »federnde Ruck« wird nämlich nicht nur »eine ganze Welt«, sondern zwei Welten »in Bewegung setzen«. Erstens ist es derjenige künstlerische Raum, in dem sich der Protagonist Franz befindet, d. h. der abfahrende Zug; zweitens, ist es die Welt des Romans, die Story selbst, die erst mit dieser Zugabfahrt ihren Lauf nimmt.267 Gleich danach bekommt man eine klare Vorstellung davon, was für ein Mensch Franz ist. Franz erreichte das Ende des Wagens und blieb dann, von einem außerordentlichen Gedanken durchzuckt, stehen. Dieser Gedanke war so süß, so kühn und aufregend, daß er seine Brille abnehmen und sie putzen mußte. »Nein, kann ich nicht, kommt nicht in 266 Nabokov, Vladimir: König Dame Bube, S. 7-8. 267 Vgl. Lee, Lawrence: Vladimir Nabokov. London: Twayne 1976, S. 41.
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Frage«, flüsterte Franz und war sich doch bereits klar, daß er der Versuchung nicht widerstehen konnte. Dann prüfte er den Knoten seiner Krawatte mit Daumen und Zeigefinger […] und betrat mit einem auserlesenen sackenden Gefühl in der Magengrube den nächsten Wagen. Es war ein Schnellzugwagen zweiter Klasse, und für Franz war die zweite Klasse etwas strahlend Anziehendes, sogar leicht sündig. […] Von der ersten Klasse konnte man nicht einmal träumen – die war Diplomaten, Generälen und nahezu unirdischen Schauspielerinnen vorbehalten! Die zweite aber… die zweite…268
Ein junger Mann aus der Provinz, der nicht nur dem stereotypen Denken verfallen ist (»unirdische Schauspielerinnen«), sondern das Leben ausschließlich in dessen materiellen, lieferbaren Dimension zu schätzen weiß. Nicht die Reise an sich regt ihn an, sondern die damit verbundenen gesellschaftlichen Privilegien, die manchmal eine beinahe lyrische, pseudoromantische Färbung bekommen, wie z. B. im erbarmungslos ironischen Ausruf: »Berlin! Schon in dem Namen der noch unbekannten Hauptstadt, im Gerumpel und Geratter der ersten Silbe und im leichten Klingen der zweiten war etwas, das ihn erregte wie die romantischen Namen guter Weine und schlechter Frauen.«269 Die erste Klasse eines Schnellzuges macht den Gipfel seiner Bestrebungen aus. Als Franz dieser ersten Versuchung nachgibt, gerät er in die Falle der zweiten Versuchung, diesmal ausgesprochen sinnlicher Natur: Das Abteil, in das Franz mit einer schweigenden unbeachteten Verbeugung eintrat, war von nur zwei Personen besetzt – einer schönen Dame mit strahlenden Augen und einem mittelalten Mann mit getrimmtem lohfarbenem Schnurrbart. […] Betäubt vom Luxus hielt er die ausgebreitete Zeitung vor sich und betrachtete hinter ihr hervor seine Mitreisenden. Oh, sie waren bezaubernd. Die Dame trug ein schwarzes Kostüm und einen winzigen schwarzen Hut mit einer kleinen diamantenen Schwalbe. Ihr Antlitz war ernst, ihr Auge kalt, ein feiner dunkler Flaum, das Zeichen der Leidenschaft, schimmerte über ihrer Oberlippe […].270
Es ist äußerst wichtig, dass das sinnliche Verlangen aus der allgemeinen prachtvollen Atmosphäre resultiert. Franz betrachtet Martha »betäubt von Luxus«. Sein Verhältnis zu ihr ist von Anfang an rein physiologisch, von einem tieferen Gefühl oder gar emotionaler Bindung ist keine Rede. Es handelt sich dabei aber auch um keine primären, animalischen Instinkte. Weder unaufhaltsame Wollust noch wilde Leidenschaft führen ihn zu seiner späteren Liebhaberin. Martha bildet einen Teil jener großen, glühenden, reichen Welt, von der Franz schon immer geschwärmt hat. Nun ahnt er die Möglichkeit voraus, diese
268 Nabokov, Vladimir: König Dame Bube, S. 12–13. 269 Ebd., S. 23. 270 Ebd., S. 14.
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Welt zu erobern, die von der anziehenden Frau im »winzigen schwarzen Hut« verkörpert wird. Franz, der sich bisher hinter seiner Zeitung in einem Zustand glückseliger Nichtexistenz versteckt […] hatte, begann nun, sich bemerkbar zu machen, und blickte die Dame offen und fast arrogant an. […] In dem Augenblick, da er der Macht, die seinen Gaumen aufzwängen wollte, nicht mehr widerstehen konnte und krampfhaft den Mund aufriß, geschah es, daß Martha ihn ansah, und unter Zähnefletschen und Weinen wurde ihm bewußt, daß Martha bewußt wurde, daß er sie angeschaut hatte. Die morbide Glückseligkeit, die er kurz zuvor empfunden hatte, als er ihr sich auflösendes Gesicht betrachtete, wandelte sich in scharfe Verlegenheit. […] Als sie sich abwandte, berechnete er im Geiste, als ob seine Finger sich über die Zahlenrillen eines geheimen Rechenbrettes bewegten, wie viele Tage seines Lebens er dafür gäbe, diese Frau zu besitzen.271
Das Verb besitzen wird dabei natürlich nicht zufällig benutzt. Martha ist für Franz eine Art Ware im exklusiven Einkaufszentrum – eine Ware, die er sich früher nie hätte leisten können; jetzt aber fühlt er sich selbstsicher und bereit, die zweite Klasse der Existenz hinter sich zu lassen und ein neues, glanz- und qualitätsvolles Leben zu feiern. Ein Menschentypus, wie man ihn aus mehreren Werken europäischer und amerikanischer Literatur kennt. Auch Martha stellt als Figur eine hoffnungslos banale Variante gelangweilter, unerfüllter Ehefrau dar. Ihren Mann hat sie nie richtig geliebt, aber die Ehe mit einem erfolgreichen Geschäftsmann schien ihr vernünftig und vorschriftsmäßig zu sein.272 Dass ihre Ehe unglücklich ist, wird bereits aus dem ersten wortkargen Dialog zwischen den Beiden klar: Franz hängte seinen Regenmantel auf und setzte sich sorgsam nieder. Der Mann mußte, nach dem weichen Kragen und dem Tweedanzug zu schließen, ein Ausländer sein. Hier aber irrte Franz. […] »Ich habe Durst«, sagte der Mann mit Berliner Akzent. »Schade, daß wir kein Obst haben. Diese Erdbeeren waren wirklich zu lecker.« »Da bist du selber schuld«, antwortete die Dame mit unzufriedener Stimme. […] Dreyer warf einen kurzen Blick himmelwärts, antwortete aber nicht. […] »Egal«, sagte sie, »es lohnt sich nicht, darüber zu reden.« Dreyer wußte, daß sein Schweigen Martha unsagbar irritierte.273
Ein Meister prägnanter Schilderungen, braucht Nabokov keine weiteren Erläuterungen vorzuweisen. Der Leser sieht gleich ein, dass es hier um keinen üblichen Familienstreit geht, sondern um eine permanente Lage. Die Ausgangssituation zusammenfassend könnte man den Eindruck bekommen, mit einem klassischen Dreieck zu tun zu haben: Langweiliger Ehemann, liebesdurstige Ehefrau und 271 Ebd., S. 20–21. 272 Vgl. ebd. 273 Ebd., S. 14–15.
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junger Liebhaber. Schenkt man jedoch den drei Hauptfiguren einen näheren, aufmerksameren Blick, so kommen einige bedeutende Nuancen zum Vorschein. Um diese bemerken und textadäquat bewerten zu können, sollte man sich der in kleinsten Einzelheiten durchdachten Figurenkonstellation und Erzählsituation zuwenden. Dabei ist ein kurzer Satz aus der oben zitierten Passage durchaus relevant: »Franz irrte sich.« Diese scheinbar nebensächliche Bemerkung, die sich darauf bezieht, dass Marthas Mann kein Ausländer, sondern ein gebürtiger Berliner ist, bezieht sich zugleich auf alle im Abteil sitzenden Personen. Dies bringt Grigorij Hasin, ein russischer Literaturwissenschaftler und Übersetzer aus New York, ausführlich auf den Punkt: »Unsere Passage zeichnet sich dadurch aus, dass alle drei Passagiere sich ständig gegenseitig betrachten. […] Der grundlegende Faktor, der die Analyse auf dieser Ebene bereichert, besteht im Folgenden: Alle drei Figuren täuschen sich in Wahrnehmung und Bewertung von einander.«274 Dabei ist Franz’ Irrtum der harmloseste. Am meisten täuscht sich Dreyer, indem er glaubt, Franz, der Dreyers Frau heimlich und gierig mustert, lese nur die Zeitung. Auch Martha täuscht sich, denn Dreyer ist ein langweiliger und ›steifer‹ Mensch nur aus ihrer – stark begrenzten – Perspektive. Sparsame, aber vielsagende Informationen, die dem Leser über Marthas Ehemann serviert werden, deuten auf eine nicht nur gebildete, sondern auch interessante und feine Person: Er las aufmerksam und mit Vergnügen. Nichts existierte außerhalb der sonnenbeschienenen Buchseite. […] Für Martha war jenes fröhliche Strahlen nur die stickige Luft in einem schaukelnden Eisenbahnwagen. Es wird vorausgesetzt, daß sie in einem Wagen stickig ist: Das ist so üblich und daher gut. Das Leben sollte nach Plan vorgehen, streng und strikt und ohne launische Drehungen und Zuckungen. Ein elegantes Buch auf einem Tisch im Salon, das ist in Ordnung. Im Eisenbahnwagen kann man gegen die Langeweile irgendwelche billige Illustrierte durchfliegen. Aber etwas dermaßen einzusaugen und zu genießen… Gedichte auch noch… in kostbarem Einband… Wer sich selber Geschäftsmann nennt, kann, soll, darf so etwas nicht tun. […] Wie schön das wäre, ihm das Buch aus der Hand zu reißen und im Koffer einzuschließen.275
Ab dieser Stelle nimmt das Banale langsam und diskret ab. Die reizvolle, nach sexueller Erfüllung strebende Ehefrau sowie der sie bewundernde junge Mann erscheinen wesentlich oberflächlicher, prosaischer und trivialer als der enthu274 Hasin, Grigorij [Хасин, Григорий]: Teatr lichnoj tajny. Russkie Romany V. Nabokova [Das Theater des privaten Geheimnisses]. Moskau – St. Petersburg: Letnij Sad 2001, S. 8, 11. [Übersetzt von A.K.] Russische Originalfassung: »Наш эпизод выделяется тем, что все три персонажа постоянно наблюдают друг за другом […] Фундаментальный факт, немедленно открывающийся анализу на этом уровне, состоит в следующем: все три персонажа ошибаются в своих восприятиях и оценках друг друга.« 275 Nabokov, Vladimir: König Dame Bube, S. 18–19.
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siastische mittelalte Geschäftsmann mit Sinn für Poesie und heiterem, abenteuerlichem Lebensgefühl. Sein einziger, aber schwerwiegender Mangel ist seine geistige Blindheit gegenüber nächster Umgebung. So denkt er z. B., seine Frau sei frigid, wobei Martha eine überaus leidenschaftliche Frau ist, deren sexuelle Bedürfnisse zu erwecken und zu befriedigen Dreyer einfach nicht imstande ist. Diese dreifache gegenseitige Blindheit analysierend, kommt Hasin zu einem innovativen narratologischen Schluss, der sich auf die Art und Weise bezieht, wie Nabokov diesen Effekt der totalen Täuschung erreicht, ohne dabei zu gängigen Erzählmethoden zu greifen. Die Unwahrheit […] erscheint dadurch, dass das Erzählen aus begrenzten Gesichtspunkten geführt wird. In Gennettes terminologischem System ist hier die unzuverlässige Instanz nicht die Stimme (das Erzählen), sondern der Modus (das Sehen). […] Den Stimmen der Figuren kann man völlig vertrauen, ihre Perspektiven sind dagegen begrenzt und werden als falsch enthüllt. In unserer Passage haben wir mit der unzuverlässigen Fokalisierung zu tun. […] Es geht nicht um eine beabsichtigte Täuschung, sondern um natürlicherweise begrenzte Points of View.276
Mit dieser bahnbrechenden Bemerkung zeigt Hasin, wie in Nabokovs Roman eine völlig neue Erzählstrategie fast unbemerkbar, jedoch gezielt und konsequent eingesetzt wird. Nicht der Erzähler, sondern die Fokalisierung erweist sich als unzuverlässig. Mehr noch: Der Text signalisiert dadurch die globale Unzuverlässigkeit sämtlicher Fokalisierungen, denn jede individuelle Betrachtungsperspektive ist immer begrenzt. Eben diese unüberwindliche Begrenztheit menschlicher Beobachtungs- und Bewertungsweise führt sowohl zu diversen Anziehungen und Neigungen als auch zu sämtlichen Missverständnissen und Konflikten zwischen den agierenden Figuren: Manchmal führt sie auch zum Verbrechen. Im zehnten Kapitel des Romans gibt es nämlich eine Szene, die für ein besseres Verständnis von Dreyers Persönlichkeit sowie für die Gesamtaussage der erzählten Geschichte essenziell ist. Die Hauptstadt durchwandernd, besucht Marthas Ehemann eine Kriminalausstellung, die in einem Gerichtsgebäude organisiert wurde. Dabei reflektiert er das, was er sieht, auf eine äußerst originelle Art und Weise, indem er über die Essenz, die eigentliche Natur des Verbrechens nachsinnt: Dreyer, der immer befürchtete, etwas Unterhaltsames zu versäumen, bummelte durch alle Räume. Er untersuchte die Gesichter von Verbrechern, vergrößerte Photographien 276 Hasin, Grigorij: Teatr lichnoj tajny, S. 14–15, 19. [Übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »Неистинность […] возникает из-за того, что повествование ведется с ограниченных точек зрения. В терминах теории Женетта, ненадежной инстанцией здесь является не Голос (рассказывание), а Модус (видение). […] Голосам персонажей можно полностью доверять, но их перспективы ограничены и выявлены как ложные. В нашем эпизоде мы имеем дело с ненадежной фокализацией. […] Мы имеем дело не с намеренным обманом, но с естественными ограничениями точки зрения.«
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von Ohren, verschmierte Fingerabdrücke, Küchenmesser, Stricke […] und alles war so schäbig, so geistlos, daß Dreyer lächeln mußte. Wie talentlos, dachte er, mußte man sein, was für ein schlechter Denker oder hysterischer Narr, um seinen Nachbarn umzubringen. Das Todesgrau der Ausstellungsgegenstände, die Banalität des Verbrechens, bürgerliche Möbelstücke […] Ach, der amerikanische Zahnarztstuhl. […] Der Strom wird eingeschaltet. Hopp-hopp, wie über eine holprige Straße. Was für trübsinnige Narren! Eine Sammlung idiotischer Gesichter und gequälter Dinge.277
Dreyers Gedanken über die »Banalität des Vebrechens« (30 Jahre vor Hannah Arendts Bericht von der Banalität des Bösen278) sind nicht nur ein weiterer Beweis für sein überdurchschnittliches geistiges Vermögen. Fernerhin stehen seine Bemerkungen in signifikanter Übereinstimmung mit dem, was Nabokov selbst zu diesem Thema in seinem Essay Literarische Kunst und gesunder Menschenverstand schreibt: Verbrecher sind in der Regel Menschen ohne Einbildungskraft, deren Entwicklung sie, selbst nach dürftigen Gesetzen des gesunden Verstandes, vom Bösen abwenden würde, indem sie einen Kupferstich mit realen Handschellen in ihrem Bewusstsein schildern würde; künstlerische Einbildungskraft würde sie dagegen zur Trostsuche in der Fiktion bewegen, sodass sie ihre Figuren zum Erfolg in demjenigen Unternehmen führen würden, bei dem sie selber im realen Leben gescheitert waren. Diejenigen, die aber einfallslos sind, begnügen sich mit schwachsinnigen Banalitäten wie triumphaler Einzug nach Los-Angeles in einem schicken gestohlenen Wagen mit einer ebenso schicken Blondine, die bei der Zerstückelung des Autobesitzers geholfen hatte.279
Nabokov sagt einem Mörder jegliche psychologische Tiefe ab. In seinem Weltbild ist das Verbrechen immer durch triviale materielle Motivationen untermauert. Das Böse und das Banale bleiben stets ein unzertrennliches Zwillingspaar. Es geht dabei um zwei bedeutsame Aspekte. Erstens fehlt dem Traum eines Verbrechers an Originalität. Teures Auto, schicke Blondine – alles lauter Schablonen aus derjenigen Unterhaltungsliteratur, wo das Triviale klischeeartig romantisiert wird. Zweitens ist das Streben, die erträumte Wirklichkeit ins reale Leben umzusetzen, als solches banal. In König Dame Bube gelingt es Dreyer, die Banalität 277 Nabokov, Vladimir: König Dame Bube, S. 274–277. 278 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper Verlag 1986. 279 Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Набоков о Набокове и прочем [Nabokov über Nabokov und Sonstiges]. Nezavisimaja Gazeta 2002, S. 472–473. [Übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »Преступники – обычно люди без воображения, поскольку его развитие, даже по убогим законам здравого смысла, отвратило бы их от зла, изобразив гравюру с реальными наручниками; а воображение творческое отправило бы их на поиски отдушины в вымысле, и они вели бы своих персонажей к успеху в том деле, на каком сами бы погорели в реальной жизни. Но, лишённые подлинного воображения, они обходятся слабоумными банальностями вроде триумфального въезда в Лос-Анджелес в шикарной краденой машине с шикарной же блондинкой, поспособившей искромсaть владельца машины.«
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des Bösen zu erblicken, aber trotzdem bleibt er zu ›blind‹, um die wahren potenziellen Verbrecher zu entdecken. Nach dem Besuch der Kriminalausstellung macht Dreyer einen kurzen Spaziergang durch die Berliner Straßen, der in eine tragikomisch kurzsichtige Feststellung mündet. Es war herrlich draußen, ein satter Wind wehte. […] Wie schön und blau und voller Wohlgerüche ist unser Berlin im Sommer. […] Arbeiter besserten faul das Pflaster aus. Wieviel Spaß es machen würde, dachte er, in den Gesichtern dieser Arbeiter, dieser Fußgänger nach den Gesichtsausdrücken zu suchen, die er gerade in ungezählten Photographien gesehen hatte. Und zu seiner Überraschung erkannte Dreyer in jedem, der ihm begegnete, einen früheren, gegenwärtigen oder künftigen Verbrecher; bald hatte ihn dieses Spiel dermaßen in seinen Bann gezogen, daß er begann, sich für jeden ein besonderes Verbrechen auszudenken. […] Dann wurde er des Spiels müde, fühlte Hunger und Durst und beschleunigte den Schritt. Als er sich der Pforte näherte, bemerkte er im Garten seine Frau und seinen Neffen. […] Und er empfand eine angenehme Erleichterung, endlich zwei bekannte, zwei vollkommen normale menschliche Gesichter zu sehen.280
Das Irrtum-Motiv, das bereits in der Anfangsszene im Zugabteil seinen Anfang nimmt, durchpulst den ganzen Roman und kulminiert in dieser SchwarzhumorSzene, als das potentielle Opfer seinen potentiellen Mördern mit dem Gefühl angenehmer Erleichterung begegnet und sie, im Gegensatz zu allen anderen Straßenpassanten, als »normale menschliche Gesichter« betrachtet. Auch Dreyer ist also ›blind‹, auch er – obwohl lebensoffen und ethisch tadellos – betrachtet die Wirklichkeit durch den unentbehrlichen Schleier seines Wunschdenkens. Sein einziger beträchtlicher Fehler liegt in der Weigerung, anzuerkennen, dass seine Vorstellungen und Vermutungen einen winzigen und oft täuschenden Realitätsausschnitt darstellen. Diese sture Blindheit unterscheidet ihn von solchen Protagonisten wie Fjodor Godunow-Tscherdyncew (Die Gabe), Cincinnatus C. (Einladung zur Enthauptung) oder John Shade (Fahles Feuer), die sich ihrer begrenzten Wahrnehmungskapazität stets bewusst sind. Dreyer lässt den Gedanken nicht zu, er sei kein Schöpfer, sondern lediglich ein Akteur in dieser entzückend-abenteuerlichen Mikrowelt, die er als reales Leben empfindet. In der Tat existiert und funktioniert diese Welt nach den strengen Gesetzen ihres Schöpfers, der schließlich hinter einer leicht zu enthüllenden Maske einer scheinbar unbedeutenden Nebenfigur auftaucht. Im zwölften Kapitel fahren die drei Hauptfiguren – Dreyer [König], Martha [Dame] und Franz [Bube] – ans Meer, wo Marthas Mordplan realisiert werden sollte (die Liebhaber beschließen letztendlich, Dreyer ertrinken zu lassen). Beachtenswert ist die Beschreibung ihres Beisammenseins im Café Blaue Terrasse:
280 Nabokov, Vladimir: König Dame Bube, S. 277.
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Als sie dort gestern Schokolade tranken, hatte Martha in der Menge wenigstens drei Ausländer gezählt. Der eine war, nach seiner Zeitung zu urteilen, ein Däne. Die beiden anderen waren ein weniger leicht bestimmtes Paar: Das Mädchen versuchte vergeblich, die Aufmerksamkeit der Cafékatze auf sich zu lenken […]. Ihr Begleiter, ein sonnengebräunter Bursche, rauchte und lächelte. In welcher Sprache unterhielten sie sich? Polnisch? Estnisch? In ihrer Nähe lehnte eine Art Netz an der Wand: ein Beutel aus blaßblauer Gaze an einem Ring, der an einer Rute aus leichtem Metall befestigt war.281
Das geheimnisvolle Paar sind natürlich Nabokov in eigener Person und seine Frau Vera. Neben der falschen Annahme, die Beiden unterhalten sich vermutlich in polnischer oder estnischer Sprache, gibt der Autor dem Leser einen weiteren Tipp, der alle möglichen Zweifel hinsichtlich der dargestellten Ausländer zerstreut: »Krabbenfischer«, sagte Martha. »Ich möchte heute zum Abendessen Krabben.« […] »Nein«, sagte Franz. »Das ist kein Fischnetz. Damit fängt man Mücken.« »Schmetterlinge«, sagte Dreyer und hob den Zeigefinger. »Wer will schon Schmetterlinge fangen?« bemerkte Martha. »Ach, das muß ein schöner Sport sein«, sagte Dreyer. »Ich glaube wirklich, eine Leidenschaft für etwas ist das größte Glück auf Erden.« »Trink deinen Kaffee aus«, sagte Martha. »Ja«, sagte Dreyer. »Ich finde es faszinierend, welche Geheimnisse in den gewöhnlichsten Menschen stecken. […]« »Wir wollen gehen«, sagte Martha. »Diese arroganten Ausländer starren dich an.«282
Dieser soufflierte Hinweis kann vom modernen Nabokov-Kenner sogar als allzu direkt empfunden werden. Dass Schmetterlingskunde bzw. Lepidopterologie neben Literatur die zweite große Leidenschaft des Autors war, weiß heute wohl jeder, der sich mit Nabokovs Werk beschäftigt, ob wissenschaftlich oder hobbymäßig. Man sollte allerdings bedenken, dass König Dame Bube der zweite Roman des neunundzwanzigjährigen, damals fast nur in Emigrantenkreisen bekannten Schriftstellers war. Man könnte also annehmen, derartiges ›transtextuelles Augenzwinkern‹ wurde entweder an die nächsten Verwandten und Bekannten gerichtet oder aber an die kommenden Lesergenerationen. Stimmt die letztere Annahme, so zeugt dies davon, dass Nabokov seinen späteren Weltruhm schon am Anfang der schriftstellerischen Laufbahn vorahnte. Auf der Ebene der Figurenkonstellation ist es von Bedeutung, dass Dreyer als Einziger die ungewöhnliche Urlaubsbeschäftigung des seltsamen Ausländerpaars durchaus positiv, ja begeistert bewertet. Mit der Behauptung, die Besitzer der Schmetterlingsnetze seien »gewöhnliche Menschen«, liegt er jedoch falsch, denn einer von ihnen ist ja sein ›Erfinder‹. Während Dreyer also glaubt, in einem durch281 Ebd., S. 307–308. 282 Ebd., S. 308.
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schnittlichen Café-Gast verblüffende Geheimnisse zu entdecken, wird er in Wirklichkeit gerade von demjenigen Autor beobachtet, dessen Roman Dreyers Schicksal bestimmt. Dies wird (natürlich unbewusst) von Martha registriert, als sie bemerkt, dass die »arroganten Ausländer« ihren Mann »anstarren«. Ihre instinktive Abneigung gegen das Paar ist demzufolge ganz logisch, wenn man Marthas Stellung und Rolle im Text bedenkt. Darüber hinaus sollte man betonen, dass Martha – die entsetzlichste und grausamste Figur des Romans – eine fleißige Krimileserin ist. Als sie mit Franz verschiedene Methoden besprach, wie ihr Ehemann beseitigt werden könnte und unter anderem die Vergiftung durch Zyankali in Betracht zog, sagte sie: »Ich habe in einem Kriminalroman von zwielichtigen kleinen Cafés gelesen, in denen man mit Kokainhändlern in Kontakt kommt.«283 Auch andere, brutal-vulgäre Mordmethoden findet sie anziehend. Nach einem Geschlechtsverkehr mit Franz schwärmt sie von der Möglichkeit, Dreyer eigenhändig zu töten: »… ihn erwürgen«, murmelte sie. »Wenn wir ihn einfach erwürgen könnten. Mit unsern bloßen Händen.«284 Marthas Hass ihrem Mann gegenüber scheint an solchen Textstellen übertrieben, beinahe grotesk. Man könnte sich fragen, woher diese Aggression kommt und wie es überhaupt zur Ehe von Martha und Dreyer kam. Der Text gibt darauf eine genaue Antwort in Form von Marthas erlebter Rede: Na schön – sie hätte niemals einwilligen sollen, diesen Clown […] zu heiraten; na schön – sie hätte sich nicht von seinem Geld beeindrucken lassen sollen, sie hätte nicht in jugendlicher Naivität hoffen sollen, daß sie aus diesem Witzbold einen gewöhnlichen, würdigen, gehorsamen Ehemann machen könne. Aber wenigstens hatte sie ihr Leben doch so geordnet, wie sie es sich wünschte. Fast acht Jahre grimmigen Kampfes. Er hatte mit ihr nach Ceylon oder Florida fahren wollen, man stelle sich vor, statt diese elegante Villa kaufen. Sie brauchte einen gesetzten Ehemann. Einen gezähmten und ernsthaften Ehemann. Sie brauchte einen toten Ehemann.285
Der erste Grund war also finanzieller Natur. Dreyer war ein (erfolg)reicher Mensch und schien Martha ein vielversprechender Ehepartner zu sein. Darüber hinaus hoffte sie aber, ihn zu verändern, an ihre Lebensvorstellungen und eigene Regeln anzupassen. Im zitierten Ausschnitt – insbesondere an dessen Ende – verwendet Nabokov denjenigen Sprachstil, der für Kriminalromane äußerst charakteristisch ist. Kurze, emotionslose Sätze mit grausamem Inhalt, der durch die ›flotte‹ Ausdrucksform gelindert bzw. relativiert wird. Wenn aber in einem typischen Krimi hinter solchen narrativen Handgriffen keine zusätzliche semantische Aufladung steht, so sieht es bei Nabokov anders aus. Und zwar: Die Adjektive »würdig«, »gehorsam« und »gesetzt« werden in diesem kurzen Ge283 Ebd., S. 219. 284 Ebd., S. 263. 285 Ebd., S. 262.
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dankenstrom schließlich zu Synonymen für »tot«. Martha meint es zwar ganz wortwörtlich, denn sie möchte Dreyer mit Hilfe von Franz ermorden. Laut der Textlogik heißt es aber, diejenigen Werte und Lebensideale, die für Dreyers Frau vorrangig sind, seien nur unter einer grundsätzlichen Bedingung erfüllbar, nämlich: Man sollte tot sein, genauso wie Martha selbst und ihr Liebhaber, obschon es diesmal um keinen physischen, sondern um einen geistigen bzw. intellektuellen Tod geht. Daher sieht ein solcher – geistig toter – Mensch keinen anderen Weg, seine spießigen Ziele zu erreichen, als einem anderen, ihm übergeordneten Menschen das Leben zu nehmen. Das Böse ist banal, die Banalität führt früher oder später zum Bösen – so lautet Nabokovs unausgesprochene Maxime. Nach einem tieferen Ursprung eines Mordes zu suchen, heißt, den Mörder gewissermaßen zu rechtfertigen, und damit das Verbrechen, und dadurch das Banale. Deshalb würde ein wahrer Künstler, so Nabokov, eigene kriminelle Phantasien in ein packendes, spannendes Buch verwandeln. Dieses Buch wäre aber kein klassischer Krimi, sondern eben eine diskrete Verurteilung des Verbrechens – ein moralisches Urteil, das mittels ästhetischer Demaskierung vollzogen wird. Ein solches Buch, ein Antikrimi schlechthin, ist König Dame Bube. Eine ähnliche, obwohl anders akzentuierte Geschichte spielt sich im englischsprachigen Roman Gelächter im Dunkel (1938) ab. Das Buch hat eine etwas verwickelte Entstehungsgeschichte. Einerseits ist es Nabokovs Übersetzung seines fünften, 1932 publizierten russischsprachigen Romans Camera Obscura. Andererseits wurde der Text vom Autor so gründlich bearbeitet und modifiziert, dass nicht nur die Namen der Hauptfiguren und einige Handlungswendungen verändert (ausgelassen, um- bzw. neugeschrieben) wurden, sondern auch der englische Titel mit der ursprünglichen russischen Version wenig gemeinsam hat. Dabei sollte man unterstreichen, dass beide Sinnakzentuierungen im Hinblick auf die erzählte Geschichte völlig berechtigt sind. Während sich Camera Obscura auf die im Text dominierende Filmthematik bezieht, betont Laughter in the Dark (Gelächter im Dunkel) das Blindheits- bzw. Verblendungsmotiv des Romans. Beide Elemente sind im Roman sowohl struktur- als auch sinnstiftend, sodass zahlreiche Anspielungen auf die Filmthematik und das Motiv der Dunkelheit die erzählte Welt durchströmen. »All die Bilder für Kunst – Graphik, Malerei, Film –, in denen der Roman schwelgt, vermischen sich«, so Brian Boyd, »mit Bildern von Dunkelheit und Licht, von Sehkraft und Blindheit, sei es im buchstäblichen, metaphorischen oder gar übersinnlichen Sinn.«286 Die Häufigkeit und Konsequenz dieser Erwähnungen können mittels folgender Tabelle veranschaulicht werden:
286 Brian, Boyd: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 593.
110 FILM Als der Protagonist Albert Albinus den schicksalhaften Kinobesuch unternimmt, heißt es: »So schlenderte er ziellos umher und kam an einem kleinen Kino vorbei, dessen Lichter einen scharlachroten Schein über den Schnee warfen.«287 Der Film, den sich Albinus anschaut, verweist auf das Ende seiner Liebesaffäre und seines Lebens, wessen er sich natürlich nicht bewusst ist: »Er war zum Ende des Films hereingekommen: Zwischen umgestürzten Möbelstücken wich ein Mädchen vor einem maskierten Mann mit einer Schußwaffe zurück. Er fand nicht das geringste Interesse daran, Geschehnisse zu betrachten, die er nicht verstand, weil er ihren Anfang nicht kannte.«289 Genauso, obschon in einer entgegengesetzten Reihenfolge, versteht auch der Leser ( jedenfalls beim ersten Lesen) nicht den proleptischen Sinn der beschriebenen Filmszene.
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DUNKELHEIT Im Kino trifft Albinus zum ersten Mal seine künftige Geliebte Margot, die dort arbeitet und ihm den Weg zum Sitzplatz zeigt: »Kaum hatte er die seidene Dunkelheit betreten, als auch schon der ovale Strahl der Taschenlampe auf ihn zuglitt […].«288 Im letzten Kapitel des Romans droht Albert seiner jungen Geliebten mit der Pistole: »Nachdem er den Ausgang versperrt hatte, fühlte er sich freier, und wieder spürte er mit dem Lauf der Pistole in der Dunkelheit ein lebendes, zitterndes Etwas auf. […] Er schwenkte die Pistole […] mit einem wilden Stöhnen drückte er den Abzug. Der Schuß zerriß die Dunkelheit […].«290 Bedenkt man das Filmfragment aus dem zweiten Kapitel, so wird die kreisförmige Struktur von Nabokovs Roman und Alberts Schicksal in all ihrer gnadenlosen, aber konsequenten Unentrinnbarkeit sichtbar.
»So träumte auch Margot davon, Modell zu »Sie ging fort, wurde von der Dunkelheit werden, und dann Filmstar.«291 verschluckt, und plötzlich fühlte er sich gelangweilt und traurig.«292 »In ihrem Kummer ging sie in ein Tanzlo- »Halb ausgezogen […], saß sie in der zukal, wie es verlassene Edelfräulein im Film nehmenden Dunkelheit auf dem Bettrand tun.«293 Generell wird das Filmmotiv im und rauchte endlose Zigaretten.«294 Auch Text eng an Margots Figur geknüpft. Ihr diese Beschreibung mutet sehr ›filmisch‹ ganzes Verhalten scheint den gängigsten an. Nicht zufällig steht es zwei Seiten später: Filmklischees zu entsprechen. »Sie stand im Dunkel gegen eine Wand gelehnt und sah Greta Garbo zu.«295 Albinus, ein Taxi verlassend: »Er kam an, sprang heraus, bezahlte, wie es Männer im Film tun – blindlings ein Geldstück hinwerfend.«296 Das Wort blindlings, hier nur nebenbei und metaphorisch benutzt, deu-
Im Theater: »Margot tappte durch die Dunkelheit zum ersten Treppenabsatz hinauf und war im Begriff weiterzugehen, als sie sich plötzlich schwach werden fühlte.« Und kurz danach, zwischen ihren zwei
287 Nabokov, Vladimir: Gelächter im Dunkel. 3. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2013, S. 21. 288 Ebd. 289 Ebd., S. 22. Alle Hervorhebungen von A.K. 290 Ebd., S. 269. 291 Ebd., S. 28. 292 Ebd. 293 Ebd., S. 37–38. 294 Ebd., S. 39. 295 Ebd., S. 41. 296 Ebd., S. 75. 297 Ebd., S. 129.
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(Fortsetzung) FILM DUNKELHEIT tet auf die spätere reale Erblindung Alberts Liebhabern, Albert Albinus und Axel Rex, hin. sitzend: »Sie wischte sich die Nase am Ärmel ab, tastete in der Dunkelheit umher und drückte wieder auf den Knopf.«297 Der Grund, warum sich Margot für die Als Alberts kleine Tochter Irma krank wird Liebesbeziehung mit Albert entscheidet, (bald nachdem er seine Familie verlässt), wird folgenderweise zusammengefasst: versucht sie erfolglos, einzuschlafen: »[…] »Und Albinus gefiel ihr ganz gut […]. Er sogleich drehte sie das Gesicht zur Wand. war nicht nur wohlhabend, sondern geDer Raum wurde wieder dunkel. Alles war hörte auch zu der Welt, die einen leichten warm, gemütlich und irgendwie absurd Zugang zur Bühne und zum Film ver[…]. Das Zimmer kam ihr dunkler vor als schaffen konnte.«298 Somit ist er nur ein sonst.«301 Später schaut die kranke Irma aus Mittel zur Erreichung des eigentlichen dem Fenster ihres Schlafzimmers, denn sie Zwecks, nämlich der Filmkarriere: »(›Und glaubt (irrtümlicherweise), draußen die übers Jahr heiratest du mich‹, dachte Stimme ihres Vaters gehört zu haben: »Sie Margot, während sie gekonnt weiteröffnete das Fenster, und ein köstlicher, schluchzte, ›du heiratest mich, falls ich eiskalter Luftzug drang ins Zimmer. Auf dann nicht schon im Hollywood bin – in der Straße stand jemand in der Dunkelheit diesem Fall kannst du zum Teufel geund starrte zum Haus hoch. Sie sah eine hen.‹).« Aus professioneller Sicht erweist ganze Weile zu ihm hinunter, aber zu ihrer sich Margot als eine völlig untalentierte großen Enttäuschung war es nicht ihr VaSchauspielerin, was auch ihr selbst nicht ter.«302 Als Albert dann Irma kurz vor ihrem entkommt, als sie sich schließlich in ihrem Tod doch besucht, wird das DunkelheitsDebütfilm erblickt: »Margot war so entmotiv konsequent fortgesetzt: »Im Kinsetzt, daß sie ihre Hand von Rex löste. […] derzimmer sah Albinus den Rücken seiner Das Ungeheuer da auf der Leinwand hatte Frau, die bewegungslos und gespannt über nichts mir ihr gemein, es war schrecklich, das Bett gebeugt war […]. Die Krankenschrecklich!«299 Im realen Leben spielt sie schwester legte den Arm um ihre Schultern ihre Rolle allerdings gut genug, um Albinus und führte sie in die Düsternis.«303 Danach stets zu überlisten. Sie selbst fühlt auch kehrt der Protagonist zurück in seine neue diese filmische Künstlichkeit ihrer alltäg- Wohnung und »in der Ferne, in Richtung lichen Existenz: »Während sie zwischen der Gedächtniskirche, wo die großen Kidiesen beiden Männern saß, die an ihrem nopaläste waren, zerschmolz die DunkelLeben teilhatten, kam sie sich wie die heit zu einem warmen, rotbraunen Hauptdarstellerin in einem mysteriösen Glanz.«304 und leidenschaftlichen Filmdrama vor.«300 »Margot hatte sich so in das Leben verliebt, Im Kapitel 29 wird Albinus langsam klar, das Albinus ihr bieten konnte – ein Leben dass Margot ihn mit Axel Rex betrügt: »Er
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Ebd., S. 65 Ebd., S. 174. Ebd., S. 137–138. Ebd., S. 147–148. Ebd., S. 148–149. Ebd., S. 162. Ebd., S. 163. Ebd., S. 270–271.
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(Fortsetzung) FILM voll vom Glanz eines erstklassigen Filmes, mit schwankenden Palmen und schaudernden Rosen (denn es ist immer windig im Filmland) […], daß sie sich kein Risiko einzugehen traute.« Die Bezeichnung erstklassig spiegelt natürlich Margots Empfindung derartiger Filmproduktionen wider. Der allwissende Erzähler hat dagegen ein völlig anderes, äußerst skeptisches Verhältnis zu solchen klischeehaften Filmen, wovon die in Klammern gemachte Bemerkung zeugt. Zum Schluss, als der blinde Albinus versucht, Margot zu erschießen und dabei selbst ums Leben kommt, verwandelt sich die erzählende Instanz nichtsdestotrotz in eine Art Drehbuchautor, der sich, kühl und distanziert, an den potentiellen Regisseur wendet: »Er saß mit gesenktem Kopf auf dem Boden, kippte dann langsam nach vorn und fiel auf die Seite wie eine große, weiche Puppe. Regieanweisungen für die letzte stumme Szene: Tür – weit offen. Tisch – von der Tür fortgeschleudert. Teppich – in einer erstarrten Welle am Fuß des Tisches ausgebaucht. Stuhl – liegt dicht bei männlicher Leiche in rotbraunem Anzug und Filzpantoffeln. Revolver nicht sichtbar. Liegt unter ihm. Auf dem anderen (kleinen) Tisch, auf dem vor Ewigkeiten eine Porzellanballerina stand […], liegt ein Damentaschentuch, außen schwarz, innen weiß. […] Die Tür vom Flur zum Treppenhaus steht ebenfalls weit offen.«305 Interessanterweise bleibt diese Beschrei306 307 308 309 310 311 312
Ebd., S. 206. Ebd., S. 213. Ebd., S. 226–228. Ebd., S. 234. Ebd., S. 240. Ebd., S. 245. Ebd., S. 241.
DUNKELHEIT hatte das dunkle Gefühl, daß alles plötzlich umgekehrt war, sodaß er es rückwärts lesen mußte, wenn er verstehen wollte. Es war ein Gefühl ohne Schmerz oder Erstaunen. Es war einfach etwas Dunkles und Drohendes […].«306 Als er seinen Verdacht Margot offenlegt, sagt er: »Conrad hat euch gesehen. Dieser französische Oberst hat euch gesehen. Nur ich war blind.«307 Bald danach erblindet er, infolge eines Autounfalls, tatsächlich: »[…] das Zimmer blieb weiterhin ganz dunkel. […] Albinus tastete auf dem Nachttisch umher, bis er die kleine elektrische Lampe fühlte. Er knipste sie an, […] aber die Dunkelheit blieb […].[…] es war unmöglich, einen Weg durch diese dichte Dunkelheit zu finden […].«308 Wenn es um seine eventuelle Heilung geht, so heißt es im Text: »[…] die Chancen waren dunkel«.309 Das neue, blinde Leben Alberts wird dagegen folgenderweise beschrieben: »Das undurchdringliche schwarze Leichentuch, das Albinus jetzt umhüllte, verlieh seinen Gedanken und Gefühlen eine Note von kargem Ernst und geradezu Edelmut. Dunkelheit trennte ihn von jenem früheren Leben, das an seiner schärfsten Kurve plötzlich ausgelöscht worden war.«310 Andere Menschen müssen sich an »den eisernen Vorhang seiner Blindheit«311 gewöhnen. Alberts größte Leidenschaften – Kunst und Margot – sind für ihn nun visuell unerreichbar: »[…] jetzt war nichts übrig von ihr als eine Stimme, ein Rascheln und ein Parfüm; es war, als wäre sie in die Dunkelheit des kleinen Kinos zurückgekehrt, aus der er sie einst herausgeholt hatte«312 – hier vermischen sich wiedermal das Filmische und das Dunkle. Dies hat auch eine symbolische
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(Fortsetzung) FILM DUNKELHEIT bung, trotz der kurzen, konkret pointierten Bedeutung, denn die Film- und BühnenDrehbuchform, immerhin auch sehr litera- welt bekommen im Roman eine eindeutig pejorative, dunkle semantische Färbung. risch gestaltet. So lässt sich z. B. mittels filmischer Erzähltechnik eher schwer zeigen, dass auf dem Tisch »vor Ewigkeiten eine Porzellanballerina stand«. Natürlich ist es zwar möglich, aber nicht so knapp und ,authentisch‘, wie in einem aufgeschriebenen, literarischen Satz, wo die Vergangenheit der Gegenwart auf eine natürliche Art und Weise beiwohnt, ohne dass man dabei zu Spezialeffekten greifen muss.
Das Film- und Kinomotiv, das den Roman zweifelsohne durchströmt und von Donald E. Morton »als dominierende Metapher im Leben«313 beider Hauptfiguren (Albinus und Margot) gedeutet wird, sollte andererseits nicht überschätzt werden. So kann z. B. die oft geäußerte Meinung, die damalige Popkultur Deutschlands – in erster Linie der deutsche Filmexpressionismus – sei für Nabokov ein viel relevanterer Bezugspunkt als die Literatur der europäischen Moderne (Marcel Proust, Thomas Mann)314 gewesen, nur bedingt geteilt werden. Eine unmittelbare Anspielung auf Proust ist im russischsprachigen Original des Buches kaum zu übersehen315, wohingegen das Schaffen von Thomas Mann nicht den geringsten inspirierenden Einfluss auf Nabokovs Werk hatte (im Weiteren wird dies genauer besprochen). Andererseits wird die Welt des Films im Text nicht nur skeptisch bzw. gar negativ bewertet, sondern sie hat hier eine eher symbolische Bedeutung, die auf das eigentliche Thema des Romans hinweist. Besonders klar macht dies der lateinische Titel der russischsprachigen Ausgabe, »denn eine c a m e r a o b s c u r a ist«, so Morton, »schließlich eine ›dunkle‹ Kammer, wie sie zum Fotografieren benutzt wird. Nabokov gefällt dieses Bild besonders gut, weil es […] die Kammer des menschlichen Bewußtseins symbolisiert, jene Kammer, in der sich Erkenntnis vollzieht.«316 Letzten Endes geht es daher um philosophische bzw. existentielle Fragen. Der Film als Medium oder als soziales Phänomen wird im Text kaum problematisiert. Nassim Balestrini sieht darin eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit dem Motiv der Macht: 313 Morton, Donald E.: Vladimir Nabokov, S. 41. 314 Vgl. Lewing, Jurij (Левинг, Юрий ); Soschkin, Jewgenij (Сошкин, Евгений) (Hg.): Империя N. Набоков и наследники. (Imperium N. Nabokov und Erben). Moskau: Новое Литературное Обозрение 2006, S. 189. 315 Vgl. Burt Foster Jr., John: Nabokov’s Art of Memory and European Modernism. New Jersey, Princeton: Princeton University Press 1993, S. 76. 316 Morton, Donald E.: Vladimir Nabokov, S. 39.
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»Die Filmthematik bleibt eng verbunden mit der Frage nach unterschiedlichen Welten und nach den Machtverhältnissen innerhalb des fiktiven Universums.«317 Während Margot und Rex an der Oberfläche der Geschehnisse ständig Triumph feiern, ist dieser Triumph nur illusorisch, denn auf der höheren bzw. tieferen Textebene, nämlich der ethischen, werden die Beiden in die Sphäre des BanalBösen verbannt und vom scheinbar distanzierten Erzähler andeutungsweise zum trüben Höllendasein verurteilt. Balestrini vergleicht die Figurenkonstellation des Romans mit König Dame Bube und kommt zum folgenden interessanten Schluss: Axel Rex’ grausame Freude am Leiden anderer erinnert zwar an Marthas Herzlosigkeit in König, Dame, Bube, aber Nabokov setzt in Gelächter im Dunkel dem von Selbstsucht und Lust besessenen Dreieck Albinus-Margot-Rex ein altruistisch geprägtes Dreieck entgegen: Elisabeth-Irma-Paul. Dabei entwickeln sich Elisabeth, Irma und Paul von farblos wirkenden Figuren zu Vertretern einer moralischen Wertewelt, die Nabokovs Auffassung vom Künstlertum näher steht als die verdorbene Denkweise der anderen drei Charaktere.318
Auch Boyd sieht das ähnlich, indem er Alberts Ehefrau und ihrem Schwager sowohl »tiefes Mitgefühl«319 als auch »Hellsichtigkeit«320 (in Bezug auf Elisabeth) zuschreibt und meint, sie haben »mit wahren Werten der Einbildungskraft« mehr gemeinsam »als die drei Hauptfiguren des Romans« (Albert Albinus, Margot Peters, Axel Rex) »mit ihrer Perversion des künstlerischen Impulses«.321 Gelächter im Dunkel, das der Autor selbst für sein schwächstes Buch hielt,322 kann somit als eine zwar überaus sinnliche, ja erotisch konnotierte, dennoch aber zutiefst ethische, ja beinahe moralistische Parabel betrachtet werden. Der Auftakt ist für Nabokovs Werk immerhin unikal (in der russischen Originalversion fällt er nämlich aus), denn gleich am Anfang kommt die Erläuterung des Erzählers, dass die bloße Sujet-Ebene hier eher zweitrangig sei. Was hingegen zähle, seien diejenigen Nuancen, welche die eigentliche Hauptstory begleiten. Der Anfang des Romans lautet nämlich: Es war einmal ein Mann, der hieß Albinus und lebte in der deutschen Stadt Berlin. Er war reich, angesehen und glücklich; um eines jungen Mädchens willen verließ er eines Tages seine Frau; er liebte; wurde nicht geliebt; und sein Leben endete in einer Katastrophe. Das ist schon die ganze Geschichte, und wir hätten es dabei bewenden lassen, läge nicht 317 318 319 320 321 322
Balestrini, Nassim W.: Vladimir Nabokovs Erzählwerk, S. 66. Ebd., S. 95. Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 592. Ebd., S. 594 Ebd., S. 593. Vgl. Nabokovs Gespräch mit Roberto Cantini (1973): https://www.rulit.me/books/naboko v-o-nabokove-intervyu-1932-1977-godov-read-412584-78.html, / letzter Zugriff am 22. 11. 2018.
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Nutzen und Vergnügen im Erzählen; und wenn auch auf einem Grabstein Raum genug ist, die gekürzte, in Moos gebundene Fassung eines Menschenlebens aufzunehmen, so sind doch Einzelheiten stets willkommen.323
Dies sollte man natürlich nicht vorbehaltslos als Nabokovs direkten Appell an die Leserschaft verstehen. Die Ironie macht sich bereits im ersten Satz sichtbar, denn die Präzisierung, Berlin sei eine deutsche Stadt, ist in informativer Hinsicht selbstverständlich überflüssig. Diese kurze Zusammenfassung, die man nach heutigen Kriterien als eine Art »Spoiler« klassifizieren könnte, ahmt eine typische Filmannonce nach. Der Plot enthält ja alles, was für einen spannenden abendfüllenden Thriller erforderlich ist: Einen wohlhabenden, aber unglücklich verliebten Protagonisten, einen Ehebruch und ein dramatisches Finale. Nicht zufällig unterstreicht Nabokov in einem Brief an den amerikanischen Verlag Huntington Press, die russischsprachige Fassung des Romans sei, stilistisch gesehen, Parodie sensationeller Trivialliteratur.324 Jedoch wendet sich plötzlich der Erzähler an seine Leser und gesteht offen, es komme gar nicht darauf an, was den Figuren zustößt, sondern es gehe um den Erzählprozess an sich. Die Einzelheiten – erklärt uns die distanzierte Erzählerstimme – seien bedeutend und sollten daher beachtet werden, denn eben darin bestehe der ursprüngliche Sinn der »Belles Lettres« (»Schönen Literatur«). Überraschenderweise ruft dieser narrative Trick, der bereits am Ausgangspunkt des Romans verwendet wird, Assoziationen (oder eher Anti-Assoziationen) mit dem berühmten Beginn von Thomas Manns Der Zauberberg hervor: Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen, – nicht um seinetwillen (denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch recht ansprechenden jungen Mann in ihm kennenlernen), sondern um der Geschichte willen, die uns in hohem Grade erzählenswert scheint (wobei zu Hans Castorps Gunsten dennoch erinnert werden sollte, daß es seine Geschichte ist, und daß nicht jedem jede Geschichte passiert): diese Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen.325
Beiden Romananfängen ist die autoreferentielle Reflexion über das Erzählte und das Erzählen gemeinsam. Die Schlüsse, die daraus gezogen werden, sind allerdings völlig verschieden. Während bei Mann das Individuelle (und damit auch das Detail) beiseite tritt, um dem gewaltigen Sinngerüst der »Geschichte« Platz frei zu machen, ist im Fall von Nabokov der narrative Akt als solcher von entscheidender Bedeutung für die Erzählkunst. Die Geschichte Alberts Albinus’ 323 Nabokov, Vladimir: Gelächter im Dunkel, S. 9. 324 Vgl. Nabokovs Brief an Altagracia de Jannelli in: Иностранная Литература (Fremdsprachige Literatur). Literaturzeitschrifft. 6/2017, S. 20. 325 Mann, Thomas: Der Zauberberg. 15. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. 2002, S. 9.
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wird – nach der Behauptung des Narrators – weder seinetwillen noch um der Geschichte willen, sondern um des Erzählens willen dargestellt. Dieser Ansatz wird auch im Laufe des Erzählprozesses ab und zu praktisch angewandt. In der Regel wird dazu die Stimme in Klammern benutzt, die dem Leser gewisse vermeintlich bedeutungslose Nuancen nahebringt, von denen die Figuren keine Ahnung haben. So heißt es z. B. in einer Szene, wo Albinus sich fürchtet, Margot habe sich in seiner Wohnung versteckt: »Beim Abendessen war er so damit beschäftigt, seine Ohren nach jedem verdächtigen Rascheln zu spitzen, daß er nicht bemerkte, was er aß (kaltes Rindfleisch mit Mixed Pickles).«326 Oder an einer anderen Textstelle, als Alberts Tochter Irma sich im dunklen Kinderzimmer bewegt: »Sie streifte die Bettdecke ab und ging auf Zehenspitzen zum Fenster. Dabei stieß sie gegen einen Stuhl, und ein Weiches (ihr Elefant) fiel plumpsend und quiekend herunter […].«327 Beide Mitteilungen – Alberts Abendessengericht sowie Irmas Spielzeug, das sie in der Dunkelheit aus Versehen fallen lässt, – haben einen eher geringen bzw. überhaupt keinen informativen Wert. Darin besteht aber nicht ihre Funktion. Sowohl das kalte Rindfleisch als auch der Plüschelefant werden vom Erzähler aus einem völlig anderen Grund erwähnt. Sie sollen den Leser nämlich nicht informieren, sondern die bloße Anwesenheit des Erzählers unterstreichen. Dadurch wird man daran erinnert, dass es die Erzählstimme bzw. die den Text übersteigernde Erzählperspektive gibt; es gibt Jemanden, der sämtliche Einzelheiten und Verhältnisse, die den Romanfiguren kaum bewusst sind, beleuchten kann. Das Erzählerische dominiert das Informative. Werden also im Zauberberg die Wer- und Was-Kategorien oppositionell betrachtet, stellt der Erzähler des Gelächters im Dunkel die Wie-Kategorie in den Vordergrund. Man sollte aber betonen, dass die Form, in Nabokovs Verständnis, nicht als aussagelose ›Hülle‹ missverstanden werden sollte. Diejenigen »Einzelheiten«, die ein Grabstein nicht umfassen kann, die aber in einem künstlerischen Text »stets willkommen« sind, lassen den Lebenslauf eines Menschen (hier: das Leben von Albert Albinus) in einem neuen, unerwarteten Licht erscheinen. Das Einzelne ist wichtig, weil es sowohl das Individuelle bzw. Persönliche als auch die mehrstufigen und raffinierten Verwicklungen des Schicksals sichtbarer macht. Beachtenswert ist auch die märchenhafte Formel »Es war einmal ein Mann…«, die von Nabokov gleich im ersten Satz verwendet wird und somit auf das Fiktionale, Erfundene am erzählten Stoff aufmerksam macht. Auch Thomas Mann erwähnt im Anfang von Zauberberg die Märchenthematik, obschon zu einem ganz anderen Zweck:
326 Nabokov, Vladimir: Gelächter im Dunkel, S. 62–63. 327 Ebd., S. 148.
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Aber ist der Vergangenheitscharakter einer Geschichte nicht desto tiefer, vollkommener und märchenhafter, je dichter »vorher« sie spielt? Zudem könnte es sein, daß die unsrige mit dem Märchen auch sonst, ihrer inneren Natur nach, das eine und andre zu schaffen hat. Wir werden sie ausführlich erzählen, genau und gründlich, – denn wann wäre je die Kurz- oder Langweiligkeit einer Geschichte abhängig gewesen von dem Raum und der Zeit, die sie in Anspruch nahm? Ohne Furcht vor dem Odium der Peinlichkeit, neigen wir vielmehr der Ansicht zu, daß nur das Gründliche wahrhaft unterhaltend sei.328
Ähnlich wie im ersten Teil der epischen Romantetralogie Joseph und seine Brüder, konzentriert sich Mann auf den zeitlichen Aspekt des Erzählens. Der Vergleich mit dem Märchen bezieht sich in diesem Fall nicht auf das Phantastische (wie etwa bei den Romantikern) oder das Freierdachte, sondern eben auf den »Vergangenheitscharakter« alter, märchen- bzw. mythenartiger Geschichten. Es ist nämlich kennzeichnend, dass Nabokov im Gelächter im Dunkel von den »Einzelheiten« des Erzählprozesses spricht, wohingegen der Zauberberg-Erzähler »das Gründliche« unter die Lupe nimmt. Dies illustriert deutlich die tiefe Kluft zwischen Manns und Nabokovs Kunstkonzepten. Dieses Thema wird vom polnischen Kulturwissenschaftler Michał Szyman´ski im kurzen, aber scharfsinnigen Artikel Dlaczego Nabokov nie lubił Manna? (Warum Nabokov Mann nicht gemocht hatte?)329 eingehend beleuchtet. Der Text bildet einen äußerst interessanten Versuch, Thomas Manns berühmtesten Roman Der Zauberberg aus Nabokovs Perspektive zu lesen. Den Anlass dazu gibt die Tatsache, dass dieses Buch in einer frühen russischen Erzählung von Nabokov erwähnt wird.330 Basierend auf ausgewählten Zitaten aus den Literaturvorlesungen, Interviews und Essays, resümiert Szyman´ski Nabokovs Kunstideal als etwas, was im alltäglich-pragmatischen Sinn völlig ›nutzlos‹ ist. Ferner kreiert ein wahres Kunstwerk, so Nabokov, eine absolut autonome, ›märchenhafte‹ Welt, deren strukturell-stilistische Vollkommenheit und Originalität sie aber realer erscheinen lässt als die sogenannte objektive Wirklichkeit mit ihren trüben deterministischen Kausalgesetzen, die im puren Reich freier schöpferischer Phantasie (über)mütig aufgehoben werden.331 Nach Szyman´ski ist Nabokovs Antipathie gegenüber Thomas Mann anderer Natur als seine Abneigung in Bezug auf durchschnittliche literarische Handwerker, die einfach nicht imstande sind, eine nagelneue, souveräne Erzählwelt zu errichten. Szyman´ski glaubt, Nabokov habe Manns erzählerisches Talent und Vorstellungskraft anerkannt. Desto gnaden- und kompromissloser seien seine Angriffe darauf, was Mann aus diesem 328 Mann, Thomas: Der Zauberberg, S. 9-10. 329 Szyman´ski, Michał: Dlaczego Nabokov nie lubił Manna? (Warum Nabokov Mann nicht gemocht hatte?). In: Zeszyty Literackie 119, Warszawa 2012, S. 44–51. 330 Vgl. ebd., S. 45. 331 Vgl. ebd., S. 46–47.
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Talent macht, indem er das Künstlerische/Unbrauchbare zugunsten des Sozialen/Politischen (für Nabokov: Banalen) preisgibt. Auf diese Weise degradiert der Künstler – in Nabokovs Augen – vom inspirierten Wortzauberer zum ideologisch engagierten Moralprediger.332 Diese oppositionellen Kunstauffassungen – die klassisch-epische (Mann) und die romantisch-poetische (Nabokov) – werden im Gelächter im Dunkel nicht nur in der Eröffnungspassage angedeutet, sondern auch direkt problematisiert. Im Kapitel 28 kommt es zum Dialog zwischen Albinus und seinem alten Bekannten Udo Conrad, dem er plötzlich in Frankreich während der gemeinsamen Urlaubsreise mit Margot und Axel Rex begegnet. In der Zwischenzeit ist Udo ein bekannter Autor geworden, allerdings im Ausland (der Nachname »Conrad« ist in diesem Kontext natürlich nicht zufällig und verweist auf den aus Polen stammenden englischsprachigen Romancier und Klassiker der englischen Literatur des 20. Jh. Joseph Conrad): »Komisch, Udo hier zu treffen«, dachte Albinus. […] Wann haben wir uns zuletzt gesehen? Vor sechs Jahren. Bin ich begeistert, ihn zu sehen? Überhaupt nicht. Ich dachte, er lebt in San Remo. Ein schrulliger, gebrechlicher, nicht ganz geheurer und nicht sehr glücklicher Mann. Junggeselle, Heuschnupfen, haßt Katzen und tickende Uhren. Ein guter Schriftsteller. Ein witziger Schriftsteller. Komisch, er hat nicht die geringste Ahnung, daß sich mein Leben geändert hat.333
Udo Conrads Rolle im Roman entspricht gewissermaßen der Rolle des älteren Ehepaares in König Dame Bube. Zwar darf er nicht als eine den Text transzendierende allwissende Instanz betrachtet werden, sehr wohl aber als einer derjenigen »Agenten« des Autors, von denen Gennady Barabtarlo behauptet, sie seien, mehr oder weniger diskret, in fast jedem von Nabokovs Romanen präsent.334 Davon zeugt nicht nur die allzu offensichtliche Schicksalsparallelität zwischen dem aus Deutschland ausgewanderten Udo Conrad und dem Revolutionsflüchtling Vladimir Nabokov. Auch das Problem des Sprachwechsels, das Nabokov als seine »private Tragödie, die niemanden etwas angehen kann«335, bezeichnete, wird von Udo flüchtig, aber mit Nachdruck erwähnt: »Ich fürchte«, sagte Udo, »daß unser Vaterland sich nicht ganz auf dem rechten Niveau befindet, meine Schriften zu würdigen. Ich würde gern französisch schreiben, aber mir ist der Gedanke verhaßt, mich von den Erfahrungen und den Reichtümern zu trennen, die ich im Laufe des Umgangs mit unserer Sprache angesammelt habe.«336 332 Ebd., S. 47. 333 Nabokov, Vladimir: Gelächter im Dunkel, S. 195. 334 Vgl. Барабтарло, Геннадий: Сочинение Набокова. (Tworzenie Nabokova). Sankt-Petersburg: Издательство Ивана Лимбаха 2011, S. 296. 335 Nabokov, Vladimir: Über ein Buch mit dem Titel »Lolita«. In: Nabokov, Vladimir: Lolita, S. 524. 336 Nabokov, Vladimir: Gelächter im Dunkel, S. 201.
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Es scheint im Fall von Nabokov gerade verwunderlich, dass er für sein ›Alter Ego‹ ausgerechnet einen Deutschen wählt, der sich, in Frankreich lebend und schaffend, innerlich zerrissen fühlt, weil er seine Muttersprache weder aufgeben will noch in ihr weiterschreiben kann. Wesentlich bedeutsamer ist aber Conrads Verhältnis zu Kunst und Literatur, das mit mehreren Äußerungen aus Nabokovs Interviews und Essays durchgängig zusammenfällt. Als Albert versucht, seinen alten Bekannten zu trösten, entwickelt sich die Meinungsauseinandersetzung in eine beinahe programmatische Richtung: »Nun sei nicht so«, sagte Albinus. »Es gibt eine Menge Leute, die deine Bücher schätzen.« »Nicht so, wie ich sie schätze«, sagte Conrad. »Es wird eine ganze Zeit dauern – vielleicht ein ausgewachsenes Jahrhundert –, bis man meinen Wert erkennt. Das heißt, wenn die Kunst des Schreibens und Lesens nicht ganz vergessen ist bis dahin; und ich fürchte, sie wurde im letzten Jahrhundert in Deutschland schon ziemlich gründlich vergessen.« »Wieso das?« fragte Albinus. »Nun, wenn sich eine Literatur fast ausschließlich vom Leben und von Lebensläufen nährt, bedeutet es, daß sie stirbt. Und ich halte nicht viel von freudschen Romanen oder Romanen über das einfache Landleben. […]« »Nein«, sagte Albinus. »Da bin ich ganz und gar nicht deiner Ansicht. Wenn unser Zeitalter sich für soziale Probleme interessiert, sehe ich nicht ein, warum talentierte Autoren nicht versuchen sollten, ihren Beitrag zu leisten. Der Krieg, die Nachkriegsunruhe…« »Bitte nicht«, stöhnte Conrad leise.337
Das, was Udo über Literatur und soziale Probleme sagt, deckt sich vollständig damit, was auch Nabokov zu diesem Thema mehrmals gesagt bzw. geschrieben hat. Auch war sich Nabokov der Bedeutung seiner Werke für die Weltliteratur durchaus bewusst, meinte er doch 1968 im Interview mit Nicholas Garnham, der Umstand, dass alle seine Bücher im sowjetischen Russland verboten sind, sei ein Verlust für Russland und nicht etwa für ihn.338 Bemerkenswerterweise kann Albinus diese »eigensinnigen Ansichten« nicht teilen. Sein knappes Plädoyer für sozial engagierte Kunst zeigt dem in Nabokovs Erzählwelt bewanderten Leser, wie weit Alberts Vorstellungen über Kunst und Leben von denen seines Schöpfers bleiben. Nicht also der Protagonist des Romans, sondern eine scheinbar unbedeutende, nur für kurze Zeit auf der Textbühne erscheinende Figur drückt Nabokovs Ideen aus und betont somit, Albert Albinus sei zwar kein untalentierter Zeichner, zugleich aber ein trivial denkender Kunstrezipient, ein banaler Mitläufer, dessen individueller Geschmack von den herrschenden Trends reflexionslos bestimmt wird. Dazu kommt noch die nationale Frage, die für Albinus viel relevanter als für Conrad ist: 337 Ebd., S. 201–202. 338 Vgl. Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 188.
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»Aber kommst du dir nicht beinahe wie ein Ausgestoßener vor, wenn du dauernd im Ausland lebst?« fragte Albinus […]. »Sehnst du dich nicht nach dem Klang von deutschen Stimmen?« »Naja, hin und wieder treffe ich schon mal Landsleute; und es ist manchmal ganz amüsant. Ich habe zum Beispiel beobachtet, daß deutsche Touristen der Ansicht zu sein scheinen, kein Mensch verstehe ihre Sprache.« »Ich könnte nicht dauernd im Ausland leben«, sagte Albinus […]. »An dem Tag, als wir uns trafen«, sagte Conrad […] »haben mir deine beiden Bekannten im Bus zu einem ganz faszinierenden Erlebnis geholfen. Du kennst sie doch, nicht wahr?« »Ja, flüchtig«, erwiderte Albinus mit einem kurzen Lachen. »Das hab ich mir gedacht – aus ihrer Freude zu schließen, als du zurückbliebst.«339
Die Freude kam natürlich davon, dass Margot und Axel Rex (denn das waren diejenigen »beiden Bekannten«) Albinus hinter seinem Rücken stets betrügen und eine heimliche Liebesaffäre miteinander treiben. Doch Albert schenkt dieser Schein-Bagatelle keine dem Anstand entsprechende Aufmerksamkeit und beginnt erst nach der Konversation mit einem französischen Oberst, Margots Treue immer intensiver zu bezweifeln. Sowohl in seiner Kunst- und Weltempfindung als auch im privaten Leben bleibt Albinus blind (bis diese Blindheit schließlich aus der Sphäre des Metaphorischen ins Physisch-Schmerzhafte wandelt). Er gehört zwar zur sog. Künstlerwelt, ist aber lediglich ein Durchschnittsmensch, der sich von eigenen, höchst beschränkten (und falschen) Ansichten kaum befreien kann. Daher identifiziert er sich auch so stark mit seiner Heimat, ganz nach Arthur Schopenhauers Behauptung, das Gefühl des Nationalstolzes sei eines der banalsten Gefühle überhaupt und trete besonders bei denjenigen Menschen hervor, deren individuelle Talente und Leistungen sehr gering sind.340 Udo Conrad ist dagegen zwar ein mit der deutschen Sprache aufs Engste verbundener Schriftsteller, aber keineswegs ein Patriot. Letztendlich meint er sogar: »Es ist seltsam: Je mehr ich darüber nachdenke, desto überzeugter werde ich, daß im Leben eines Künstlers eine Zeit kommt, da er sein Vaterland nicht mehr braucht. Weiß du, wie diese Tiere, die zuerst im Wasser leben und dann auf trockenem Land.«341 In Vladimir Nabokovs Leben ist diese Zeit tatsächlich gekommen. Dies geschah zwei Jahre nach der Erscheinung von Gelächter im Dunkel, als er 1940 zusammen mit seiner Frau und dem kleinen Sohn Dmitrij in die USA übersiedelte und ab diesem Moment keinen einzigen russischsprachigen Prosatext (mit Ausnahme der Lolita-Übersetzung) jemals verfasste.
339 Nabokov, Vladimir: Gelächter im Dunkel, S. 202–203. 340 Vgl. Schopenhauer, Arthur: Sämtliche Werke. Band 4. Parerga und Prolegomena. München: R. Piper & Company Verlag 1913, S. 398. 341 Ebd., S. 203.
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2.1.2 Die Verzweiflung des Scheinkünstlers – Verbrechen als ästhetischer Fehlgriff In einem Interview vom 3. 11. 1932 wurde Nabokov gefragt, warum die meisten Hauptfiguren seiner Romane »alle nicht ganz richtig im Kopf«342 seien. Die Antwort lautete: Nicht ganz richtig im Kopf ? Na ja, vielleicht haben Sie Recht. Das ist schwer zu erklären. Ich glaube, menschliches Leid ist bedeutungsvoller und interessanter als ein ausgeglichenes Leben. Die menschliche Natur öffnet sich vollständiger. […] Leiden hat etwas Anziehendes. Ich schreibe gerade an dem Roman Verzweiflung. Der Ich-Erzähler ist ein russifizierter Deutscher. Es ist die Geschichte eines Verbrechens. Noch einer, der nicht ganz richtig im Kopf ist…343
Die Beispiele, die der Interviewer Andrej Sedych dabei nannte, waren allerdings sehr heterogen und reichten vom paranoiden Schachspieler Alexander Lushin (Lushins Verteidigung) und abenteuerdurstigen Martin Edelweiss (Mutprobe) bis zum durchaus ephemeren, obschon nicht talentlosen Kretschmar (Camera Obscura), dessen einziger Wahnsinn sich in der blinden »Leidenschaft für eine Straßendirne«344 äußert. Sowohl Martin als auch Lushin sind – trotz gravierender Unterschiede zwischen ihnen – interessante, auffallende Persönlichkeiten mit intensivem Innenleben. Dagegen werden diejenigen Romane, deren Handlung ausschließlich im deutschen Kulturraum spielt, nur selten mit unkonventionellen, geschweige denn frappanten Gestalten geschmückt. Sei es das titelgebende Dreieck Franz-Martha-Dreyer in König Dame Bube oder eben Kretschmar/Albinus in Camera Obscura/Gelächter im Dunkel – die eigentliche Spannung wird hier nicht dank den Figuren an sich erzeugt (die eher fade und wesenlos sind), sondern hauptsächlich dank den Situationen, in welche sie geraten. Man könnte demnach behaupten, diese Texte seien situations- und nicht etwa figurenzentriert. Bei den russischen Protagonisten sieht dies diametral anders aus. Weder die Erinnerung an eine beinahe vergessene Jugendliebe noch das Schachspiel oder der romantische Mut stellen als solche etwas Außergewöhnliches dar. Dennoch ist die Art und Weise, wie die Figuren mit ihren Leidenschaftsobjekten umgehen – Ganin mit seiner Liebe zu Maschenka, Lushin mit seinem Schachwahn, Martin mit seiner Russlandsehnsucht – einzigartig und faszinierend. Vergleicht man Nabokovs Emigrantenromane mit seinen »deutschen« Texten, so gibt es in den Ersteren beinahe keine Handlung (wenigstens nicht im herkömmlichen belletristischen Sinn), wohingegen die Letzteren streng sujetori342 Nabokov, Vladimir: Eigensinnige Ansichten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2004, S. 15. 343 Ebd. 344 Ebd.
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entiert sind und die kriminelle Komponente stets einbeziehen. In Verzweiflung, die 1934 im russischen Emigrantenjournal Современные записки (Zeitgenössische Notizen) als Serienroman erschien und 1936 in Buchform veröffentlicht wurde, kann man eine gewisse Synthese dieser zwei Figuren- und Handlungstypen beobachten.
Abb. 5: Schild am Berliner Haus, in dem Nabokov während der Arbeit an Verzweiflung wohnte.
Hermann Karlovich, der deutsch-russische Antagonist des Romans, »der deutschstämmige Russe, nunmehr Schokoladenfabrikant in Berlin«345, kommt auf die Idee, seinen vermeintlichen Doppelgänger – den einfältigen Landstreicher Felix – umzubringen und somit den eigenen Tod vorzutäuschen. Die Doppelherkunft der Hauptfigur scheint für den kriminell-moralischen Kontext des Romans nicht ohne Bedeutung zu sein. In der kurzen Selbstdarstellung, die wie eine Parodie von Kurzbiographien in Iwan Turgenews klassischen Romanen aussieht, beschreibt Hermann seinen bisherigen Lebenslauf folgenderweise: Mein Vater war ein russischsprachiger Deutscher aus Reval, wo er eine berühmte landwirtschaftliche Hochschule besuchte. Meine Mutter, eine reinblütige Russin, entstammte einem alten Fürstengeschlecht. […] Während des Krieges wurde ich als 345 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 617.
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deutscher Staatsbürger interniert… ein ziemliches Pech, wenn man bedenkt, dass ich gerade erst die Universität von St. Petersburg bezogen hatte. Von Ende 1914 bis Mitte 1919 las ich genau eintausendundachtzehn Bücher… habe sie gezählt. Auf dem Weg nach Deutschland blieb ich drei Monate in Moskau hängen und heiratete dort. Seit 1920 lebte ich in Berlin.346
Einige Zeilen weiter gibt Hermann allerdings zu, die von ihm mitgeteilten Informationen seien falsch, denn: »[…] die Sache mit meiner Mutter – das war eine bewusste Lüge. In Wirklichkeit war sie eine Frau aus dem Volke, einfach und derb […], aber ich lasse es mit Absicht stehen – als Beispiel für einen meiner wesentlichen Charakterzüge: meine leichtherzige, einfallsreiche Lügenhaftigkeit.«347 Das Lügnerische und Irreführende an Hermanns Erzählweise wird im Weiteren noch näher besprochen. An dieser Stelle sei vor allem auf den russischdeutschen Faden in Hermanns Biographie hingewiesen, der von ihm mehrfach markiert wird. Ähnlich wie sein Vater heiratet Hermann eine russische Frau, muss aber wegen des Ersten Weltkrieges seinen Wohnort ständig wechseln. Diese Tatsache ruft natürlich Assoziationen mit Nabokov hervor, der 1917 wegen Revolution seine Heimat verlassen musste. Daraus sollte jedoch keineswegs geschlussfolgert werden, dass Hermann Karlovich und sein Autor auch unter anderen Aspekten einander ähnlich seien. Im Gegenteil: Die Hauptfigur von Verzweiflung bildet eine anschauliche Antithese zu Nabokovs Kunst- und Lebensempfindung. Davon zeugen beinahe alle Aussagen des Antagonisten, insbesondere aber dessen politische Ansichten. Anders als seine Frau348 – und anders als sein Schöpfer – ist Hermann nämlich ein ausgesprochener Verfechter des Bolschewismus und der Oktoberrevolution. Er behauptet, »der Kommunismus sei auf die Dauer eine große und notwendige Sache, das junge neue Russland leiste Hervorragendes, auch wenn das für westliche Gehirne und für mittellose und verbitterte Emigranten unannehmbar sei […].«349 Nabokov selbst war hingegen eben einer dieser mittelosen, die kommunistische Ideologie radikal verwerfenden Emigranten, über die sich sein Antagonist so spöttisch und verachtungsvoll äußert. Hermann ist fest davon überzeugt, »[…] dass der Kommunismus wirklich eine wunderbar ausgerichtete Welt von identischen Kerlen mit breiten Schultern und winzigen Köpfen schaffen wird und dass eine feindselige Einstellung ihm gegenüber ebenso kindisch wie voreingenommen ist […].«350 Im Lichte des den Romanplot bildenden Motivs eines (Schein)Doppelgängers gewinnen diese Überlegungen eine ironische Bedeutung, deren sich Hermann 346 Nabokov, Vladimir: Verzweiflung. 3. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2017, S. 10. 347 Ebd., S. 10–11. 348 Vgl. ebd., S. 32. 349 Ebd., S. 32–33. 350 Ebd., S. 33.
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selbstverständlich unbewusst ist. Zwar sehen sich Hermann und Felix gerade vom Äußeren her überhaupt nicht ähnlich, aber es gibt trotzdem etwas, was sie verbindet, nämlich die Banalität. Als Hermann ihn fragt, ob er Auto fahren kann (dies ist für seinen Mordplan von Bedeutung), antwortet Felix: »Und ob ich das kann! Ich war mal dick befreundet mit einem Chauffeur, der auf dem Schloss in der Nähe von meinem Dorf in Stellung war. Eines schönen Tages haben wir eine Sau überfahren. Gott, hat die gequickt!«351 Ein einfacher ›Mann aus dem Volk‹, benutzt Felix freilich eine simple, oft derbe Sprache und verhält sich im Allgemeinen ziemlich barsch. Er zeichnet sich, genauso wie Hermann, durch egozentrische, reflexionslose Denkbegrenztheit und fehlendes Mitgefühl gegenüber dem Leiden anderer Lebewesen aus. Sogar ihre Herkunft weist gewisse Gemeinsamkeiten auf: »Sind Sie Deutscher?«, fragte er in dieser Sprache, während seine Finger die Zigarette drehten und pressten. Ich bejahte und ließ mein Feuerzeug unter seiner Nase aufschnappen. […] »Ich bin auch Deutscher«, sagte er nach den ersten Zügen. »Das heißt, mein Vater war Deutscher, aber meine Mutter war Tschechin, aus Pilsen.«352
Diese Parallelen werden im letzten Romankapitel besonders intensiviert, als der desperate, leerstehende Hermann kurz vor seiner Festnahme plötzlich sagt (oder eher schreibt): »Vielleicht ist das Ganze nur eine Scheinwirklichkeit, ein böser Traum; und gleich werde ich irgendwo aufwachen; auf einem Flecken Gras in der Nähe von Prag.«353 Die Wahnvorstellung von der absoluten, ans Identische grenzenden körperlichen Ähnlichkeit zwischen ihm und Felix malt in Hermanns Bewusstsein das Traumbild einer utopischen Gesellschaft aus, wo alle Menschen wortwörtlich gleich sind: In meiner Phantasie stelle ich mir eine Welt vor, in der alle Menschen einander so ähnlich sehen wie Hermann und Felix; eine Welt von Helixen und Fermännern; eine Welt, wo ein Arbeiter, der zu Füßen seiner Maschine tot umfällt, sofort durch seinen vollkommenen Doppelgänger ersetzt wird, der das heiter-gelassene Lächeln des vollkommenen Sozialismus auf den Lippen trägt. Deshalb glaube ich, sowjetische Jugendliche von heute müssten beträchtlichen Nutzen aus meinem Buch ziehen, wenn sie es unter der Aufsicht eines erfahrenen Marxisten studieren […]. Jawohl, mögen auch andere Nationen es in ihre jeweilige Sprache übersetzen, auf dass die amerikanischen Leser ihre Gier nach blutrünstigem Blendwerk befriedigen, die Franzosen in meiner Vorliebe für einen Vagabunden päderastische Anklänge entdecken und die Deutschen die Unberechenbarkeiten einer halbslawischen Seele genießen. Lesen Sie es, lesen Sie es, meine Damen und Herren! Ich heiße Sie alle als meine Leser willkommen.354 351 352 353 354
Ebd., S. 111–112. Ebd., S. 19. Ebd., S. 278. Ebd., S. 208.
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Diejenige (Anti)utopie, welche im zitierten Auszug skizziert wird, erinnert paradoxerweise zugleich an die idyllisch-konfliktlose Erzählwirklichkeit sowjetischer Propagandaromane sowie an die Anfangsszene von Charlie Chaplins Filmklassiker Modern Times, wo wiederum die kapitalistische Mechanisierung des Menschen in einer Großfabrik ad absurdum geführt wird. Bemerkenswert sind auch die nationalen Vorlieben, die Hermann in Bezug auf die Rezeption seines Werks aufzuspüren versucht. Während den Amerikanern die oberflächliche Jagd nach Spannung, den Franzosen dagegen das Interesse für eventuelle homoerotische Konnotationen zugeschrieben werden, findet die deutsche Leserschaft, so Hermann, in erster Linie ausgerechnet an der Exotik seiner »halbslawischen Seele« ihr Vergnügen. Darin lässt sich eine latente, aber immerhin ziemlich böse Ironie im Verhältnis zu Dostojewski-Rezeption im Westen erkennen. Werden die tragisch-grotesken, zwischen Himmel und Hölle balancierenden Mörder in Schuld und Sühne oder Die Brüder Karamasow von westeuropäischen Rezipienten sozusagen ›von außen her‹ als typisch slawisch etikettiert, so weiß Hermann Karlovich selber ganz genau, was das lesende Publikum in Deutschland von seinem Buch erwartet und wie sein verbrecherisches Verhalten (miss)interpretiert wird. In der Tat verbergen sich aber hinter seinen Mordabsichten keinerlei seelische Abgründe oder metaphysische Rebellion, sondern reine Geldgier mit leichtem Anhauch pseudokünstlerischen Strebens nach einem perfekten Verbrechen: Als Mordgeschichte und Erzählung über Doppelgänger bezieht sich Verzweiflung immer wieder auf den ›alten Dosto‹, auf Dostojewski. […] Nabokov kritisiert Dostojewskijs Faszination mit dem Kriminellen und sein Vertrauen darauf, daß die Hand, die sich in den Schlamm von Schande und Erniedrigung versenkt, eine vergeistigte Perle daraus hervorholen mußte.355
Hermanns Plan besteht nämlich darin, dass seine Ehefrau – sobald Felix getötet und von der Polizei für Hermann gehalten wird – die Lebensversicherungsprämie bekommt und beide andernorts ein neues, sorglos-luxuriöses Leben beginnen. Diese Idee hat Nabokov – ähnlich wie der im Roman mehrmals verspottete Dostojewski – einem realen Kriminalfall entnommen, welcher »1929 und 1931 (beim Prozess) durch die deutsche Presse ging.«356 In Verzweiflung stellt sich jedoch heraus, dass die Ähnlichkeit zwischen Hermann und Felix nur in seiner Phantasie bestand, sodass kein Mensch gar auf die Idee kommt, den Ermordeten mit dem Täter zu verwechseln. Kurz bevor er enthüllt und verhaftet wird, schreibt Hermann seine Geschichte nieder, indem er sie als einen tragischen Versuch darstellt, ein detailliert durchdachtes Idealmord zu vollbringen. Die Schuld da355 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 618–619. 356 Freise, Matthias (Hg.): Kindler Kompakt: Russische Literatur. XX. Jahrhundert. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2017, S. 149.
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für, dass sein geniales Kunstwerk letztendlich scheitert, trägt – so Hermann – die stumpfe Blindheit der Durchschnittsmenschen, welche nicht imstande sind, das zu bemerken, was nur einem wahren Künstler offenbart werden kann. Die meisten Menschen um sich herum betrachtet er dagegen als Pöbel, wobei er auch seine Landsleute keineswegs schont. So spricht er z. B. von der »Rückständigkeit der unteren Volksschichten in Deutschland«357 und behauptet, der deutsche Bauer sei »altmodisch und prüde.«358 Desto grotesker wirkt die einzige Szene im Buch, wo Hermann Karlovich einen plötzlichen hysterischen Ausbruch patriotischer Gefühle erlebt. Dies geschieht in der französischen Kleinstadt, wo sich Hermann nach dem Mord unter Felix’ Namen aufhält. Als die Nachricht über sein Verbrechen in allen Zeitungen veröffentlicht wurde, kam es zu einer durchaus komischen Auseinandersetzung. »Wir sprachen gerade«, sagte der Doktor, »von diesem Mordfall […] in Deutschland. Was für ein Monstrum muss ein Mensch sein«, fuhr er fort […], »der auf sein eigenes Leben eine Versicherung abschließt und dann einem anderen das Leben nimmt…« Ich weiß nicht, was über mich kam, aber plötzlich hob ich die Hand und sagte: »He, hören Sie auf«, und ich ließ die geballte Faust auf den Tisch niedersausen […]. »Hören Sie auf, aufhören! […] Wie können Sie es wagen… Über mein Land, mein Volk … schweigen Sie! Seien Sie still«, ich schrie immer lauter: »Sie! … Sie wagen es, mir ins Gesicht zu sagen, dass in Deutschland … Schweigen Sie!«359
Eine derart zornige, ja aggressive Reaktion kann nicht nur unerklärlich, sondern auch etwas schizophren vorkommen, wenn man Hermanns frühere Äußerungen über sein Land und sein Volk bedenkt. Letzteres lese ja, so Hermann, diejenigen »winzigen, affektierten und leicht frivolen Geschichten«360, die er selbst ab und zu aus höhnischem Spaß bereitstellte. Das deutsche Volk betrachtet Hermann Karlovich, ähnlich wie sämtliche Menschen allgemein, als eine ungeschickte, grobe Masse, die weder imstande ist, sein künstlerisches Genie zu erkennen noch es entsprechend einzuschätzen. In Wirklichkeit ist aber die Hauptfigur des Romans kein wahrer Künstler, sondern gerade dessen Gegenpol, eine »Antithese des Künstlers«361 und darüber hinaus ein äußerst unzuverlässiger Erzähler, dessen zahlreiche Lügen und Fehltritte erst im Nachhinein ans Licht treten. Allerdings bedarf dieser relevante narrative Aspekt von Verzweiflung einer näheren, präzisen Betrachtung. Hermanns Geschichte ist nämlich ein besonderer Fall des unzuverlässigen Erzählens. Es handelt sich keineswegs um einen Erzähler, der den Leser bewusst
357 358 359 360 361
Nabokov, Vladimir: Verzweiflung, S. 124. Ebd. Ebd., S. 241–242. Ebd., S. 146. Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940., S. 621.
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und konsequent in die Irre zu führen versucht, sei es aus verbrecherischer List (wie etwa in Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd362), aus angeborenem Hang zum Phantasieren (wie in Rudolph Erich Raspes Münchhausens Abenteuer363) oder aus anderen intentional konnotierten Gründen.364 Was Nabokovs »Verbrechenskünstler«365 von derartigen Schwindlern und Hochstaplern unterscheidet, ist die Tatsache, dass Hermann an seine Wirklichkeitsdarstellung nicht nur ernsthaft glaubt, sondern eine eventuelle alternative Wahrheitsversion völlig ausschließt, ja kaum darüber reflektiert. Nach Tom Kindt »steht hinter dem Begriff der erzählerischen Zuverlässigkeit weder die Idee integraler Welterkenntnis noch die Vorstellung moralischer Vorbildlichkeit.«366 Kindts Definition des unzuverlässigen Erzählens lautet wie folgt: Der Erzähler N in einem literarischen Werk W ist genau dann mimetisch zuverlässig, wenn es als Teil der Kompositionsstrategie […] zu verstehen ist, dass Ns Äußerungen im Hinblick auf die fiktive Welt […] ausschließlich korrekte und alle relevanten Informationen enthalten; N ist genau dann mimetisch unzuverlässig, wenn es als Teil der Kompositionsstrategie […] zu verstehen ist, dass Ns Äußerungen im Hinblick auf die fiktive Welt […] nicht ausschließlich korrekte oder nicht alle relevanten Informationen enthalten.367
Die Schlüsselbegriffe sind hier: »die fiktive Welt« und die »Kompositionsstrategie«. Darauf machen auch Matias Martinez und Michael Scheffel in ihrer Einführung in die Erzähltheorie aufmerksam: »Einerseits erheben die in fiktionaler Rede geäußerten Sätze, als Imaginationen eines realen Autors, keinen Anspruch auf Referenz in unserer Welt; andererseits erheben sie, als Behauptungen eines fiktiven Erzählers, durchaus einen Wahrheitsanspruch in der erzählten Welt.«368 Die Diegese bleibt von der ihr übergeordneten Komposition stets abhängig, sodass die erzählten Vorfälle (seit der Erzählprozess an sich existiert) niemals abgetrennt von der Absicht des Autors rezipiert werden dürfen. Um dies zu unterstreichen, bemerkt Kindt zutreffend, eine »präzise Definition ›mimetischer Unzuverlässigkeit‹ sollte […] der Vorstellung Rechnung tragen, dass die Merkmale eines Berichts, die zur Skepsis gegenüber seiner Angemessenheit führen, nicht genetisch bedingt, sondern strategisch begründet sind.«369 362 Christie, Agatha: The Murder of Roger Ackroyd. New York: Harper Collins Publishers 2016. 363 Raspe, Rudoplh Erich: Münchhausens Abenteuer. Frankfurt am Main: Stroemfeld 2015. 364 So gesehen können Baron Münchhausens phantastische Lügengeschichten natürlich nur bedingt als Beispiel eines unzuverlässigen Erzählens in moderner Begriffsbedeutung gelten. 365 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 619. 366 Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne: Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2008, S. 52. 367 Ebd., S. 51. 368 Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 7. Auflage. München: Verlag C. H. Beck 2007, S. 95. 369 Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne, S. 50.
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So betrachtet ist Hermann Karlovich ein mustergültiger unzuverlässiger Erzähler, denn seine pathologische Blindheit gegenüber den augenscheinlichen Gegebenheiten seines alltäglichen Lebens kann (und soll) einzig strategisch gedeutet werden. Interessanterweise geht es dabei nicht so sehr um die Strategie des Ich-Erzählers, der seine eigene Geschichte zielbewusst und erstaunlich aufschlussreich dem Leser mitteilt (sogar diejenigen Lügen, die er ab und zu serviert, werden von ihm gleich erläutert und korrigiert). Das Einzige, was Hermann verschweigt, ist sein aktuelles (zum Moment des Niederschreibens des Textes) Wissen darüber, die Ähnlichkeit zwischen ihm und Felix sei keinem anderen Menschen aufgefallen. Dies ist nun aber logisch, denn anders als das schreibende Ich hat das agierende Ich noch keinerlei Ahnung davon. Doch das fehlende bzw. – nach Hermann – missachtete Doppelgängertum ist bei Weitem nicht das Einzige, was von der Hauptfigur nicht wahrgenommen wird. Mehr noch: Ist Hermann schließlich dazu gezwungen, »der frustrierenden Welt der Tatsachen«370 ins Auge zu sehen, so wird der Rest seines Wunschdenkens keinerlei erschüttert (wenigstens im vorliegenden Erzählrahmen). Um es mit Boyd auf den Punkt zu bringen: Vieles von der Komik des Romans entspringt der Kluft zwischen Hermanns Meinung über sein Genie […] und der grotesken Wirklichkeit. Geblendet von der Brillanz seines Plans, sieht er nicht, was jeder andere in seiner Welt zu sehen in der Lage ist […]. Am absurdesten ist vielleicht Hermanns ungebrochenes Vertrauen in seine Ehe und seine Ahnungslosigkeit über die unübersehbare Affäre zwischen seiner Frau und ihrem Cousin, dem Maler Ardalion.371
Ähnlich wie Dreyer in König Dame Bube, lässt Hermann nicht mal den Gedanken zu, seine Frau könnte ihm untreu sein. Diese Blindheit beider Figuren ihren Ehefrauen gegenüber ist vor allem deshalb so verblüffend, weil der ansonsten lebensoffene, scharfsinnige und gutmütige Dreyer mit dem krankhaft egozentrischen, geistlosen Hermann nichts gemeinsam hat: Dreyers »Abscheu vor Verbrechen basiert auf der Überzeugung, Kriminalität und Begabung schlössen einander aus«372; Hermann hingegen empfindet »sein Verbrechen als ein Kunstwerk«.373 Während aber der Erzähler von König Dame Bube dem Text stets transzendent bleibt und die Schicksalswendungen innerhalb des titelgebenden Liebesdreiecks aus auktorialer Distanz berichtet, herrscht in Verzweiflung die absolute Ich-Erzählsituation. Dennoch entpuppt sich der Erzählprozess als weitgehend unzuverlässig, und zwar zweierlei: Erstens erzählt Hermann die Geschichte seines Fehlverbrechens, ohne den Leser über ihren Ausgang vorzeitig 370 371 372 373
Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 627. Ebd., S. 622–623. Balestrini, Nassim W.: Vladimirs Nabokovs Erzählwerk, S. 49. Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 620.
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zu informieren (wie es z. B. im Auftakt von Gelächter im Dunkel gemacht wird); zweitens bemerkt man mehrere von Hermann kaum registrierte Tatsachen, denen gegenüber der Erzähler selbst total blind bleibt. Diese inhaltlich sekundäre, semantisch jedoch durchaus konstitutive Unzuverlässigkeit stammt also, streng genommen, nicht von Hermann (denn er weiß ja nichts darüber), sondern – die Erzählerinstanz als bloßes Medium benutzend – vom Autor des Textes, sodass der ganze Roman als ein »Duell zwischen dem wahren und dem falschen Dichter«374 betrachtet werden kann. Matias Martinez und Michael Scheffel betrachten die Problematik des unzuverlässigen Erzählens im Zusammenhang mit den stilistischen Mitteln und Autorenabsichten des ironischen Erzählverfahrens und schreiben dazu: Der unzuverlässige Erzähler läßt sich am besten mit dem Begriff der Ironie erklären. Ironische Kommunikation verdoppelt das Kommunikat zwischen zwei Gesprächspartnern in eine explizite und eine implizite Botschaft. Die implizite Botschaft widerspricht der expliziten und soll vom Hörer als die ›eigentlich gemeinte‹ aufgefaßt werden. […] Freilich können der fiktionale Erzähler oder die Figuren auch in diesem Sinne ironisch sein. Die besonderen Möglichkeiten fiktionaler Texte werden jedoch erst dann genutzt, wenn die doppelte Botschaft der Ironie auf zwei verschiedene Sender verteilt ist. In diesem Fall kommuniziert der unzuverlässige Erzähler eine explizite Botschaft, während der Autor dem Leser implizit, sozusagen an dem Erzähler vorbei, eine andere, den Erzählerbehauptungen widersprechende Botschaft vermittelt. Die explizite Botschaft des Erzählers ist die nicht eigentlich gemeinte, die implizite des Autors hingegen die eigentlich gemeinte.375
Genau diese Art von Ironie durchströmt Nabokovs Verzweiflung, die von Schamma Schahadat als »Hypertext«376 definiert wird. Der Autor serviert dem Leser gewisse Andeutungen bzw. gibt ganz offensichtliche Signale dafür, dass Hermann Karlovich als Perspektivträger über eine nicht nur extrem begrenzte, sondern verzerrte, inadäquate Weltsicht verfügt (es geht dabei selbstverständlich um die erzählte Welt des Romans). Man sollte dabei hervorheben, Hermanns Unzuverlässigkeit sei nicht nur mimetisch (Menschen und Geschehnisse betreffend)377, sondern auch theoretisch auf axiologischer bzw. philosophischer Ebene378 irreführend. Ein treffendes Beispiel dafür bilden Hermanns (anti-)metaphysische Betrachtungen, die das Kapitel 6 eröffnen:
374 Schmid, Anna: Zwischen Heilung und Wahnsinn: Potentielle Dichter in den frühen Romanen Vladimir Nabokovs. Hamburg: Diplomica Verlag 2012, S. 65. 375 Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, S. 100–101. 376 Schahadat, Schamma: Das Ich ist (nicht) der Andere. Fehllektüren in Andrej Belyjs Serebrjanyj golub‹ (Die silberne Taube) und Vladimir Nabokovs Otcˇajanie (Verzweiflung). In: Smirnov, Igor (Hg.): Hypertext »Отчаяние »/ Сверхтекст »Despair«. München 2000, S. 195. 377 Vgl. ebd., S. 102. 378 Vgl. ebd., S. 101.
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Die Nichtexistenz Gottes ist leicht zu beweisen. Zum Beispiel kann man unmöglich bejahen, dass ein ernsthafter Jahwe, allwissend und allmächtig, seine Zeit mit so unsinnigen Dingen wie dem Spielen mit Menschlein hinbringen könnte und […] dass er niemals […] sein Gesicht zeigte […]. Die Idee Gottes wurde in den Morgenstunden der Geschichte von einem Schurken erfunden, der ein Genie war […]. Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum ich nicht an Gott glauben kann oder will: Das Märchen über ihn ist nicht wirklich mein Eigentum, es gehört Fremden, allen Menschen; es ist durchtränkt von den übelriechenden Ausdünstungen Millionen anderer Seelen […]; ich höre darin das Brausen und Schnaufen der Orgel, das Gebrüll des orthodoxen Diakons, […] jammernde Neger, die glatte Beredsamkeit des protestantischen Predigers, […]; es ist mir fremd und verhasst und absolut nutzlos für mich.379
Wichtig ist auch, was diesen für Hermann generell eher untypischen philosophischen Überlegungen vorangeht. Am Ende des vorigen Kapitels beschreibt der Ich-Erzähler nämlich seine plötzlichen moralischen Zweifel an dem Mordplan, der dem Leser allerdings noch nicht verraten wurde. Dort heißt es: So wie sich ein Jüngling, nachdem er wieder einmal einem einsamen und schändlichen Laster nachgegeben hat, mit übermäßiger Kraft und Klarheit sagt: »Jetzt ist Schluss, ein für alle Mal; von diesem Augenblick an soll mein Leben rein sein, ein Rausch der Reinheit«, so war ich jetzt […], abergläubisch darauf erpicht, mich für immer von der Versuchung abzuwenden.380
Bezeichnenderweise vergleicht Hermann die Idee, die (Schein-)Ähnlichkeit zwischen ihm und Felix verbrecherisch auszunutzen, mit dem »einsamen Laster«, d. h. der jugendlichen Masturbation. Das ganze Leben des Antagonisten kann als ein weitverstandener Selbstbefriedigungsakt gedeutet werden. Anderen Menschen wird in diesem Akt eine rein mechanische, dem ichbezogenen Selbstrealisierungswunsch untergeordnete Rolle zugeschrieben. So ist z. B. seine Frau Lydia, die er für »wenig gebildet und wenig aufmerksam«381 hält, in Hermanns Augen nur wegen ihrer (vermeintlichen) Liebe zu ihm anziehend und bedeutend, was er unverblümt bestätigt: »[…] wahrscheinlich liebte ich sie […] deshalb, weil sie mich liebte. Für sie war ich der ideale Mann […].«382 Zwar behauptet Hermann, »Spiegel« sei »ein Wort, das ich verabscheue, ein schauderhaftes Ding«383, aber in Wirklichkeit lebt er in einer selbsterschaffenen, hermetisch-illusorischen Spiegelwelt, in der alle restlichen Lebewesen lediglich entstellte Versionen seines megalomanen Egos bilden. Boyd bemerkt dazu: »Hermann, der für die Welt außerhalb seiner selbst zu blind ist, um das Einzigartige an irgend jemandem […] zu bemerken, versteift sich darauf, daß nur er 379 380 381 382 383
Nabokov, Vladimir: Verzweiflung, S. 137. Ebd., S. 133. Ebd., S. 36. Ebd., S. 40. Ebd., S. 33.
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allein zählt, daß nur er allein so brillant ist, das perfekte Verbrechen zu ersinnen.«384 Man könnte dem hinzufügen, dass jene Selbstbezogenheit in Nabokovs Erzählwelt nicht immer entsprechend negativ konnotiert ist. Vieles, was man von Hermann Karlovichs ichorientierter Weltsicht behaupten kann, trifft ja auch, zumindest teilweise, auf Fjodor Godunow-Tscherdyncew, den Protagonisten der Gabe, zu. Während aber Fjodor ein wahrer Künstler ist, stellt Hermann dessen widerliches Zerrbild dar. Der entscheidende Unterschied besteht in der Tatsache, dass Fjodor niemals dem Wahn verfällt zu glauben, er sei der eigentliche Schöpfer der ihn umgebenden Wirklichkeit. Vielmehr vertritt er Nabokovs Meinung, ein »schöpferischer Schriftsteller« müsse »die Werke seiner Rivalen sorgfältig studieren, eingeschlossen die des Allmächtigen«385, also die von Gott erschaffene Welt. Hermann sagt dagegen, die Idee Gottes sei eine lügenhafte Erfindung eines genialen Schurken, was wiederum davon zeugt, dass er in jedem Menschen und jedem fremden Gedanken bzw. Gefühl nur die Widerspiegelung seines eigenen, intriganten und verlogenen Selbst sieht. Wieso bereut aber der von Hermann beispielhaft erwähnte Jüngling seine einsame Sünde? Wie und woraus entsteht Reue? Woher kommt dieser entschlossene Wunsch, im »Rausch der Reinheit« zu leben? Eine allgemeine, obligatorische Antwort auf diese Fragen kann natürlich nicht gegeben werden. Im Kontext des analysierten Romans liegt jedoch die Konklusion nahe, es handle sich um das metaphysische Ausmaß des Schuldgefühls. Der masturbierende Jüngling will mit seinem »Laster« schlussmachen, weil er die Existenz einer anderen, höheren Wirklichkeit vorahnt, zu welcher seine schamvolle Selbstsucht nicht passt. In seinen Vorlesungen über die russische Literatur wirft Nabokov Dostojewski vor, die Schlüsselszene von Schuld und Sühne – wo Raskolnikow (der aus halbideologischen Gründen eine alte Pfandleiherin ermordet) und Sonja (die sich aufgrund von Geldnöten ihrer Familie prostituiert) beim gemeinsamen Lesen des Evangeliums eine innere Verbindung fühlen – sei moralisch und ästhetisch misstönend. »I suggest that neither a true artist nor a true moralist […] should have placed, side by side […], a killer together with whom? – a poor streetwalker, bending their completely different heads over that holy book«386, stellt Nabokov fest. In Verzweiflung werden das Sexuelle und das Verbrecherische mehrmals nebeneinandergestellt. Einerseits geht es dabei um eine ziemlich offensichtliche und in der Forschung häufig erwiesene Polemik mit Dostojewski, dessen Name, Werk und Ideen – direkt oder indirekt – im Laufe der Handlung immer wieder zitiert, parodiert oder kommentiert werden. Brian Boyd summiert 384 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 627. 385 Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 58. 386 Nabokov, Vladimir: Lectures on Russian Literature. New York/London: Harcourt 1981, S. 110.
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dies einleuchtend in einem Satz seiner Nabokov-Biographie: »Nabokov kritisiert Dostojewskijs Faszination mit dem Kriminellen und sein Vertrauen darauf, daß die Hand, die sich in den Schlamm von Schande und Erniedrigung versenkt, eine vergeistigte Perle daraus hervorholen mußte.«387 Ein Verbrechen bzw. das Böse an sich sei nach Nabokov immer banal. Wie es Christopher Hüllen auf den Punkt bringt: »Das Groteske in der Darstellung von Gewalt und Leid ist in Nabokovs Werken nicht ausschließlich funktional im Hinblick auf die Schaffung von Distanz. Er ist vielmehr davon überzeugt, daß das Verbrechen selbst […] in seiner ständigen Wiederholung zum »Triumph des Banalen« […] wird.«388 Dass einem Kriminellen jegliche psychologische bzw. philosophische Tiefe abgesprochen werden, schließt aber die objektive metaphysische Dimension des Bösen keineswegs aus. Aus dieser Perspektive besteht zwischen Hermann und Raskolnikow freilich eine bedeutende Disproportionalität, auf die Nassim Balestrini zurecht hinweist: Raskolnikow und Hermann führen ein finanzielles und ein abstrakteres Mordmotiv an: Beide wollen durch ihr Verbrechen ihre Überlegenheit anderen Menschen gegenüber beweisen. […] Der Hauptunterschied zwischen Verzweiflung und Schuld und Sühne liegt darin, daß Hermann keine Bekehrung zur Sühne durchmacht, sondern […] in Nabokovs fiktionaler Welt diese Gnade durch seinen unmenschlichen Mord verwirkt.389
Es ist daher kennzeichnend, dass sich der nächste Schritt in Hermanns atheistischen Überlegungen auf das jenseitige Leben bezieht. Nachdem er, wenigstens in seiner Überzeugung, bewiesen hat, es gäbe keinen Gott, geht Hermann zur weiteren Kernvoraussetzung des religiösen Glaubens über und beschließt nun konsequenterweise, die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele, d. h. deren weiterer Existenz nach dem Verwesen des physischen Körpers, zu dementieren. Er stellt fest: […] Gott existiert nicht, genauso wenig wie unser Leben nach dem Tod, jenes zweite Schreckgespenst, das sich ebenso mühelos abtun lässt wie das erste. In der Tat, stellen Sie sich vor, Sie seien gerade gestorben – und plötzlich sind Sie hellwach im Paradies, wo, von Lächeln umkränzt, Ihre lieben Toten Sie willkommen heißen. Jetzt sagen Sie mir bitte, welche Garantie besitzen Sie dafür, dass diese geliebten Geister echt sind; dass es wirklich Ihre liebe tote Mutter ist und nicht irgendein kleiner Teufel, der Sie, in der Maske Ihrer Mutter, hinters Licht führt und Ihre Mutter mit höchster Kunst und Natürlichkeit nachahmt? […] ewig, ewig, ewig wird Ihre Seele im Zweifel bleiben und jeden Augenblick irgendeine schreckliche Wandlung erwarten, irgendein diabolisches Grinsen, welches das geliebte Gesicht, das sich über Sie beugt, entstellt. […] Lasst mich in Ruhe, ich werde nicht das geringste Zeichen von Zärtlichkeit dulden, ich warne euch, 387 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 619. 388 Hüllen, Christopher: Der Tod im Werk Vladimir Nabokovs. Terra Incognita. München: Verlag Otto Sagner in Kommission 1990, S. 162–163. 389 Balestrini, Nassim W.: Vladimirs Nabokovs Erzählwerk, S. 102.
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denn alles ist Täuschung, ein billiger Zaubertrick. Und trotz meines Unglaubens bin ich doch von Natur aus weder finster noch schlecht.390
Der Übergang von der »Nichtexistenz Gottes« zur materiell abgegrenzten, absoluten Endlichkeit des irdischen Lebens hat zweierlei Bedeutung. Erstens bestätigt dies Hermanns frühere These, die Welt samt allen Menschen sei nicht kreiert worden und könne von ihm daher auf beliebige Weise gestaltet und pervertiert werden. Zweitens geht die Nichtexistenz der Seele – und somit das letztendliche Verschwinden des Individuums nach dessen Tod – mit der sichergestellten metaphysischen Straflosigkeit einher (dass sein Verbrechen auf diesseitiger Ebene ungeklärt bleibt, ist sich Hermann beinahe bis zu den letzten Romanseiten völlig sicher). Versuchen wir nun diejenigen exemplarischen Romanpassagen, in denen Hermann über Gott und Jenseits philosophiert, hinsichtlich der von Martinez/Scheffel vorgeschlagenen Teilung in explizite und implizite Botschaft zu untersuchen. EXPLIZITE BOTSCHAFT (HERMANN) Die Existenz Gottes ist eine Lüge, die von einem genialen Schurken erfunden wurde, denn ein realer Gott würde seiner Schöpfung keinerlei Aufmerksamkeit schenken.
IMPLIZITE BOTSCHAFT (NABOKOV) Als zwanghafter Lügner und Betrüger ist Hermann nicht imstande, daran zu glauben, dass irgendetwas, geschweige denn Gott, wirklich bzw. objektiv existieren könnte.
Da es keinen Gott gibt, gibt es auch kein jenseitiges Leben, und sogar wenn es ein solches Leben gäbe, wäre dies unerträglich, denn man würde niemals erfahren können, ob dieser scheinbar glückselige Zustand vielleicht nur ein böser dämonischer Trick sei.
Hermann ist in eigene Lügengeschichten und ständige Verfälschungen so hoffnungslos verwickelt, dass er sich kein authentisches Jenseits vorstellen kann. Derjenige listige Dämon, der die menschliche Seele, nach Hermann, ewig täuschen könnte, ist in der Tat seine ›höllische‹ Selbstprojektion. Hermann ist ein heiterer und ethisch taHermann ist ein extrem selbstsüchtiger, delloser Mensch, dessen künstlerische Be- schonungsloser und irrsinniger Verbregabung und Empfindlichkeit ihn über die cher, »ein brutaler Kerl und ein Lump«391, Anderen erhebt. wie ihn Ardalion in seinem Brief nennt.
Beachtenswert ist, dass die von Nabokov verwendete Art des unzuverlässigen Erzählens einigen markanten Aspekten des aktuellen Forschungsdiskurses zu diesem Thema deutlich widerspricht. So stellt z. B. Felicitas Menhard, sich auf Culler, Yacobi und Nünning berufend, fest: Die verstärkte Fokussierung auf kognitive Parameter, sogenannte frames of reference, die vom Leser bei der Zuweisung erzählerischer Unzuverlässigkeit angewandt werden, weist die Strategie der unrealiable narration folglich nicht (nur) als Texteigenschaft aus, 390 Ebd., S. 138–139. 391 Nabokov, Vladimir: Verzweiflung, S. 270.
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sondern begreift sie als zwischen Text und Leser gelagertes, von Interpretations- und Bewertungsstrategien des Lesers abhängiges Phänomen.392
In Nabokovs Texten erweisen sich die im obigen Zitat erwähnten frames of reference als irrelevant. Die Rolle des Lesers besteht nämlich nicht darin, den Text nach eigener Interpretationslust mitzugestalten (im Sinne von Umberto Ecos Theorie des »offenen Kunstwerks«393), sondern ihn zu entziffern, um derjenigen verbindlichen und ›unantastbaren‹ Bedeutung, die vom Autor festgesetzt und hinter den Zeilen versteckt wurde, näherzukommen. Ein perfektes Beispiel dafür bietet Nabokovs berühmte englischsprachige Erzählung Die Schwestern Vane, deren finaler Absatz eine Chiffre enthält, welche die richtige Lese- und Deutungsart des ganzen Textes erst ermöglicht. Nach einigen mühsamen Versuchen, sich mit dem Geist der Diana Vane, der Schwester von ebenfalls vor kurzem verstorbener Sybil Vane, zu kontaktieren, gibt der Protagonist (und zugleich IchErzähler) seine Versuche auf, indem er ratlos zugeben muss: Eine irrsinnige, schmerzvolle, zwecklose Anstrengung. Pedantisches Forschen ergab nur verschwommenen, obstinaten, nichtentzifferbaren Dämmer. Ihre albernen, närrischen Akrostichen, phantastischen Aurae, rührenden Klopfgeistauftritte, unverifizierbaren hellseherischen Raisonnements versprachen Offenbarungen, neckten mit ihrem rätselhaften Sinn. Yerbagelbe Beleuchtungseffekte, intrikate Lügengewebe.394
Das Wort »Akrostichen« kommt im Text nicht zufällig vor, denn der Absatz bildet eben ein solches, in Prosa verfasstes Akrostichon, bei dem die Summe von Anfangsbuchstaben einen separaten Satz ergibt. So gelesen, bekommt der Text eine brandneue Bedeutung, welche dem äußeren bzw. expliziten Sinn widerspricht, und zwar: »Eiszapfen von Diana. Parkuhr von mir. Sybil.« Was in der heutigen Nabokov-Forschung ein längst bekannter (und anerkannter) Fakt ist, bereitete es dem Autor bei der Erstveröffentlichung 1958/59 einige Probleme, sodass Nabokov den eigentlichen Sinn seiner Erzählung schließlich selbst erklären musste: »In dieser Geschichte soll der Erzähler nicht merken, daß sein letzter Absatz von zwei toten Mädchen akrostisch benutzt wurde, um ihren geheimnisvollen Anteil an der Geschichte geltend zu machen.«395 Eine andere Interpretation seitens des Lesers wäre in diesem Fall zwar möglich, aber falsch. Entweder erblickt man die in dem Absatz kodierte Botschaft – oder die wirkliche Bedeutung des Textes bleibt unbemerkt und nicht entschlüsselt. Man könnte jedoch die Erzählung auch als eine realistische Geschichte über die Nichtigkeit 392 Menhard, Felicitas: Conflicting reports: Multiperspektivität und unzuverlässiges Erzählen im englischsprachigen Roman seit 1800. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2009, S. 15. 393 Vgl. Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch 1977. 394 Nabokov, Vladimir: Die Schwestern Vane. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 169. Hervorhebungen von A.K. 395 Nabokov, Vladimir: Die Schwestern Vane. Bibliographische Nachweise, S. 197.
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spiritualistischer Bestrebungen lesen. Die Offensichtlichkeit der vom Autor sorgsam vorbereiteten und mit Absicht angewandten Täuschungsmethode – sobald sie fixiert wird – führt jedoch dazu, dass diese zwei Lesemöglichkeiten nicht als gleichwertig betrachtet werden können. Der Leser, der Nabokovs Code nicht versteht, befindet sich in der gleichen (verblendeten) Situation wie der unzuverlässige Erzähler der Geschichte. Dagegen gibt das ›plangerechte‹ Verständnis dem Leser die einzigartige Chance, die Erzähler- und Figurendimension des Textes zu verlassen und sich dessen Autor zu nähern. Einmal erkannt, ist und bleibt die Wahrheit unwiderlegbar. Um es mit dem Schlusssatz der NabokovAutobiographie Erinnerung, sprich zu bewahrheiten: Dort vorne, wo eine unterbrochene Häuserreihe zwischen uns und dem Hafen stand und das Auge vielerlei irreführende Dinge entdeckte […], könnte man mit größter Befriedigung zwischen den wirren Winkeln der Dächer und Mauern einen prachtvollen Schiffsschornstein ausmachen […], den man, hatte man ihn einmal gefunden, nicht mehr ungesehen machen konnte.396
Auf die Erzählwelt literarischer Fiktion übertragen, werden sowohl der Autor als auch der aufmerksame Leser zu faszinierten Zeugen derjenigen ›höheren‹ Wahrheit, die den Text bewohnenden Gestalten verschlossen bleibt. Ähnlich sieht dies in Verzweiflung aus, dessen Ich-Erzähler genauso blind ist wie die oben erwähnte Hauptfigur von Die Schwestern Vane. Auch Hermann versteht nicht, w a s er eigentlich schreibt bzw. geschrieben hat. Für ihn ist sein Roman die Geschichte eines genialen, vom Pöbel unterschätzten Künstlers, dessen hervorragende Leistung wegen einiger ärgerlicher Kleinigkeiten zerstört und verkannt wurde: »Und deshalb, um Anerkennung zu finden, um die Frucht meines Geistes zu rechtfertigen und zu retten, um der Welt die ganze Tiefgründigkeit meines Meisterwerks zu erklären, verfiel ich darauf, die vorliegende Geschichte zu schreiben.«397 Der französische Literaturwissenschaftler und Slawist Jean-Philippe Jacquard, der den autoreferentiellen bzw. intertextuellen Aspekten von Verzweiflung einen ausführlichen und eingehenden Artikel gewidmet hat398, betrachtet den Moment, in dem Hermann den Entschluss fasst, sein Buch niederzuschreiben, als Wendepunkt des ganzen Romans. Seit diesem Augenblick hat man nämlich mit zwei Zeitebenen inmitten derselben erzählten Wirklichkeit zu tun – Vergangenheit und Gegenwart, wobei die Distanz zwischen ihnen mit der Entwicklung der Handlung immer kürzer wird, sodass sich die beiden Er-
396 Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich, S. 423. 397 Nabokov, Vladimir: Die Verzweiflung, S. 256. 398 Vgl. Jacquard, Jean-Philippe (Жаккар, Жан-Филипп): Литература как таковая. От Набокова к Пушкину. (Literatur als solche. Von Nabokov zu Puschkin). Moskau: Новое Литературное Обозрение 2011, S. 68.
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zähldimensionen letztendlich, im Anschlusskapitel, vollständig decken.399 Diejenige Schrift, die von Hermann als seine künstlerische Rechtfertigung geplant wurde, entartet zum Plädoyer der Anklage und nicht etwa zu einem Tagebuch, wie Hermann mit Bedauern feststellt.400 Diese Anklage sollte allerdings vielmehr im künstlerischen als im rechtlich-kriminellen Sinn verstanden werden. Nicht die Unvermeidbarkeit der Strafe treibt Hermann in Depression hinein, sondern die schmerzhafte Erkenntnis, dass seine Selbstbewertung als Ausnahmekünstler und Verbrechensgenie falsch war. Darüber hinaus lässt sich der begangene Fehler nicht wieder gut machen, sodass Hermanns geplantes Meisterwerk zum ewigen, kompromisslosen Scheitern verurteilt wird: Ich saß im Bett und starrte mit hervorquellenden Augen auf das Blatt […] und deutlich sah ich, wie irreparabel das war. Nicht die Tatsache, dass sie seinen Stock gefunden und so unseren gemeinsamen Namen entdeckt hatten […] o nein, nicht das ließ mir die Galle überlaufen, sondern der Gedanke, dass mein gesamtes Meisterwerk, das ich mit so penibler Sorgfalt entworfen und ausgearbeitet hatte, jetzt im Kern zerstört war […]. Hören Sie, hören Sie! Selbst wenn Sie seinen Leichnam für den meinen gehalten hätten, hätten sie trotzdem diesen Stock gefunden und mich gefangen, in der Meinung, sie hätten ihn geschnappt – das ist die größte Schande! Denn mein ganzes Gedankengebäude gründete ja auf der Unmöglichkeit eines Fehlers, und jetzt stellte sich heraus, dass mir ein Fehler unterlaufen war – und einer von den gröbsten, komischsten, abgedroschensten Sorte. […] ich lächelte das Lächeln des Verdammten und schrieb mit einem stumpfen, vor Schmerz aufschreienden Bleistift rasch und unerschrocken auf die erste Seite meines Werks: »Verzweiflung«; nicht nötig, nach einem besseren Titel zu suchen!401
Der endgültige Romantitel kommt also erst mit der verspäteten Einsicht, der ganze Plan sei von Anfang an fehlerhaft gewesen, zustande. Der bekannte amerikanische Autor und Kritiker der Kriminalromane W.H. Wright (der seine Bücher unter dem Pseudonym S.S. Van Dine veröffentlichte) schrieb über eines der Hauptmerkmale des Genres: »The truth must at all times be in the printed word, so that if the reader should go back over the book he would find that the solution had been there all the time if he had had sufficient shrewdness to grasp it.«402 Anders aber als der Leser, der die Buchlektüre logischerweise eben mit dem Titelblatt anfängt, erfährt der Antagonist von Verzweiflung, wie sein Roman heißen wird, nachdem das Manuskript schon fertiggestellt ist und mit eifriger Aufmerksamkeit aufs Neue durchgelesen wurde: »Vielleicht hat das Publikum recht, durchfährt es Hermann: Vielleicht ist er am Ende doch kein genialer
399 400 401 402
Vgl. ebd. Vgl. Nabokov, Vladimir: Die Verzweiflung, S. 273. Ebd., S. 266–267. Zitiert nach: Davydov, Sergej: Teksty–Matreski Vladimira Nabokova, S. 74.
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Verbrecher, sondern ein verrückter Narr.«403 Somit reiht sich Hermann Karlovich unter diejenigen Figuren Nabokovs ein, über die Nora Scholz zurecht schreibt: »[…] der Autor erschafft seinen Helden allerhand Rätsel und sonstige Hindernisse, die sie verzweifelt zu lösen versuchen, ohne […] je zu einer Lösung zu kommen – das enthüllte Rätsel wäre das Ende der […] Welt und mit ihr: des Textes.«404 Bei Verzweiflung kann man das sehr gut beobachten, denn der Text endet kurz nachdem das »Rätsel«, wenigstens teilweise, gelöst wird, d. h. nachdem es Hermann klar wird, sein Scheinmeisterwerk sei misslungen und sollte daher eben Verzweiflung heißen. Dieser Titel hat jedoch eine mehrfach symbolische Bedeutung. Nicht zufällig gilt eben Verzweiflung in der christlichen Religion als die allergrößte Sünde. Hermann glaubt nicht an Gott, daher klingt die Bezeichnung »das Lächeln des Verdammten«, welches er natürlich rein metaphorisch benutzt, im Lichte seiner atheistischen Überzeugungen sowohl komisch als auch – für den Leser – wegweisend. Hermanns Geschichte ist nicht nur die eines gescheiterten Kunstwerks, sondern auch eines gescheiterten Lebens bzw. einer gescheiterten Seele, ein ethisches wie metaphysisches Fiasko. Anna Schmid verweist darauf, dass die Ursache dieses Scheiterns »nicht zuletzt auch dem Wahnsinn Germans zuzuschreiben«405 sei, und zieht dabei Parallelen zum Essay über die literarische Kunst und den Alltagsverstand (The Art of Literature and Commonsense), worin Nabokov die These vertritt, »der Unterschied zwischen dem Dichter und dem Irren bestehe darin, dass der Dichter in seinem Schaffen von der Inspiration geleitet werde, während der Wahnsinnige der Obsession verfalle.«406 Sergej Davydov meint hingegen, Hermann habe mehr mit einem Dichter als mit einem Mörder gemeinsam, und beruft sich – interessanterweise – auf Goethes Geständnis, es gäbe kein Verbrechen, das er nicht fähig zu begehen wäre.407 Der Kernunterschied besteht allerdings darin, dass Hermanns Mordbereitschaft über keinerlei reflexive bzw. selbstzerstörerische Merkmale verfügt. In seiner Gewaltstudie schreibt der amerikanisch-kanadische Psychologe Steven Pinker: »Menschen, die zerstörerische Handlungen begehen – von der alltäglichen Kleinkriminalität bis zu Serien- und Völkermord –, glauben selbst nicht, dass sie etwas Unrechtes tun.«408 Hermanns Fall ist etwas komplizierter, denn er denkt überhaupt nicht in Recht403 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 618. 404 Scholz, Nora: »… essence has been revealed to me«. Umkreisungen des Nondualen im Prosawerk von Vladimir Nabokov. Berlin: Frank & Timme 2014, S. 335. 405 Schmid, Anna: Zwischen Heilung und Wahnsinn, S. 70. 406 Ebd. 407 Davydov, Sergej: Teksty-Matreski Vladimira Nabokova. München: Verlag Otto Sagner 1982, S. 61. 408 Pinker, Steven: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2016, S. 721.
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Unrecht-Kategorien. Die moralische Seite seiner Handlungen interessiert ihn kaum, sie scheint für ihn gar nicht zu existieren. Höchstwahrscheinlich hat Goethe von der dunklen Seite des eigenen Selbst (oder des Menschen allgemein) gesprochen. Daher liest man auch in Viktor Langes Goethe Studien: »Seine Verzweiflung war echt und tief, aber sie führte nicht zu fragmentarischen Äußerungen der Ironie, zum Schweigen – oder gar zum Selbstmord, sondern auf die Suche nach [adäquaten] Sprech- und Ausdrucksformen.«409 Hermann entscheidet sich dafür, den einfältigen Landstreicher zu töten, ohne jegliche Zweifel. Auch nach dem Verbrechen empfindet er keine Reue und erwartet auch kein Mitgefühl seitens seiner Leserschaft: »Halt, ihr Leute – ich hebe eine riesige weiße Hand wie ein deutscher Schutzmann, halt! Halt, Anteilnahme! Ich nehme euer Beileid nicht an; denn bestimmt sind unter euch ein paar Seelen, die mich bedauern werden – mich, einen verkannten Dichter.«410 Wahnsinn wäre also noch eine Art ›Entschuldigung‹ für Hermanns Mordtat und sein abwertendes Verhältnis zu den Mitmenschen. Der Autor selbst nahm jedoch eine gnaden- und kompromisslose Haltung gegenüber Hermann Karlovich ein, indem er 1965 im Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe schrieb: Ich kann unmöglich die unvermeidlichen Versuche […] abwehren, in den Retorten von Verzweiflung etwas von jenem rhetorischen Gift zu entdecken, das ich in einem sehr viel späteren Roman in den Ton des Erzählers einfließen ließ. Hermann und Humbert gleichen sich nur in dem Sinne, wie zwei Drachen einander ähnlich sehen, die von demselben Künstler in verschiedenen Abschnitten seines Lebens gemalt wurden. Beide sind neurotische Schurken; doch gibt es im Paradies einen grünen Pfad, wo Humbert einmal im Jahr zur Dämmerzeit lustwandeln darf; die Hölle dagegen wird Hermann nie auf Bewährung entlassen.411
Nabokov, der generell ein äußerst skeptisches Verhältnis zu sämtlichen auf seine Werke bezogenen Vergleichsversuchen hatte, scheint dabei auch eine andere Absicht zu verfolgen. Er verneint nämlich – verständlicherweise – jegliche potentielle Andeutungen, der Autor habe seine Hauptfigur mit eigenen Vorstellungen und Ansichten ausgerüstet. Immerhin gibt es im Text wenigstens eine Stelle, die nicht nur oft zitiert, sondern auch als besonders kennzeichnend für Nabokovs Kunstverständnis betrachtet wird. In dieser Szene beschreibt Hermann sein erstes Treffen mit dem Pseudo-Doppelgänger und macht nebenbei einige interessante Bemerkungen zum allgemeinen Wesen des Schrifttums: […] ich fürchte, dass Wörter, aufgrund ihrer besonderen Natur, allein nicht imstande sind, eine derartige Ähnlichkeit anschaulich zu vermitteln: Die beiden Gesichter 409 Lange, Viktor: Bilder – Ideen – Begriffe. Goethe Studien. Würzburg: Königshausen und Neumann 1991, S. 35. 410 Nabokov, Vladimir: Verzweiflung, S. 232. 411 In: ebd., S. 284.
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müssten Seite an Seite abgebildet werden, in echten Farben, nicht in Worten; dann und nur dann würde der Zuschauer sehen, worum es mir geht. Es ist der Lieblingstraum eines Schriftstellers, den Leser in einen Zuschauer zu verwandeln; aber wird dies je erreicht? […] im gegenwärtigen Augenblick brauche ich nicht literarische Methoden, sondern die ganz gewöhnliche, grobschlächtige Deutlichkeit der Malerei.412
Der Erzähler postuliert hier, das Wort bzw. die Sprache seien »aufgrund ihrer besonderen Natur« dazu unfähig, bestimmte Sachverhalte bzw. Schattierungen wiederzugeben. Konsequenterweise stellt sich die Frage: Worin besteht nun jene »besondere Natur« sprachlicher bzw. schriftlicher Äußerungen? Oder: Ist die erwähnte Nicht-Präzision ein ursprünglicher Bestand- und zugleich Nachteil der Sprache, da das unvermeidbare Scheitern eigentlicher Vermittlung in jeder (Wort)Benennung ontologisch impliziert wird? – wie dies etwa der russische Dichter des 19. Jh. F.Tjuttschew formulierte: »Gedanken, ausgedrückt, sind Lug.«413 Hermann beantwortet diese Frage mit einem eindeutigen »Ja«, ohne auf kommentierende Einzelheiten einzugehen. Es wäre aber zu voreilig, Hermanns Überlegungen auf Nabokovs Schreibkonzept zu übertragen. Dies sollte allein deshalb vermieden werden, weil der Text des Romans sich einer solchen Gleichsetzung bereits auf der Sujet-Ebene widersetzt, indem die Genese der Veröffentlichung von Hermanns Manuskript genau erklärt wird: Dieses Buch ist durcheinander in allen meinen fünfundzwanzig Handschriften geschrieben, sodass […] jener bestimmte, von mir auserwählte Mann, jener russische Schriftsteller, dem, wenn die Zeit gekommen ist, mein Manuskript zugeschickt wird, auf den Gedanken verfallen könnte, an der Niederschrift meines Buches hätten mehrere Personen Anteil gehabt […].414
Man braucht gar kein Nabokov-Kenner zu sein, um durchblicken zu können, welcher »russische Schriftsteller« dabei gemeint ist, nämlich der wahre Verfasser des Romans: Vladimir Nabokov.415 Hermann glaubt der einzige Autor seines Lebens zu sein, während er in der Tat nur einer jener »Galeerensklaven«416 ist, die dem unbeugsamen Willen ihres diktatorischen Erzeugers gehorchen. Gegen dieses Autorendiktat richtet sich der Antagonist mit engagierter Entschlossenheit. Bezeichnenderweise weist er gerade dabei auf die politische Message seines Manuskripts hin, indem er den Text plötzlich als eine soziale Allegorie bzw. eine kommunistische Fabel zum Lesen und Publizieren offeriert:
412 Ebd., S. 21. 413 Eliasberg, Alexander: Russische Literaturgeschichte in Einzelportraits. Bad Griesbach: Classic Library 2017, S. 96. 414 Ebd., S. 109–110. 415 Vgl. Davydov, Sergej: Teksty-Matreski Vladimira Nabokova. S. o., S. 78. 416 Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 151.
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[…] ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass mein Auserwählter (Sie, mein erster Leser) ein emigrierter Schriftsteller ist, dessen Bücher unmöglich in der UdSSR erscheinen können. Vielleicht wird man jedoch bei diesem Buch eine Ausnahme machen, mit Rücksicht darauf, dass ja in Wahrheit nicht Sie es geschrieben haben. […] Es scheint mir […] zuweilen, als habe mein Grundthema, die Ähnlichkeit zwischen zwei Personen, eine tiefe allegorische Bedeutung. Diese bemerkenswerte physische Gleichheit sagte mir wahrscheinlich (unterbewusst!) als Versprechen jener idealen Gleichheit zu, die in der klassenlosen Gesellschaft der Zukunft die Menschen verbinden soll […].417
Auf den ersten, sujetbezogenen Blick geht es hier natürlich ganz einfach darum, dass Hermann sein ›Lebenswerk‹ mit allen möglichen (und unmöglichen) Mitteln verteidigen will. Er wendet sich an Nabokov – einen Schriftsteller, den Hermann nicht sehr hoch schätzt – um nicht nur den literarischen Wert, sondern vor allem auch den gesellschaftlichen Nutzen, der aus seinem Buch resultiert, hervorzuheben. Dazu fühlt er sich völlig berechtigt, weil »in Wahrheit nicht Sie es geschrieben haben.« Diese Worte sind aber auch in einem anderen, textübergreifenden Sinn bedeutend, denn Nabokov h a t ja das Buch geschrieben, und somit gehört das letzte Wort, auch wenn es um die Auslegung der Romanbotschaft geht, eben ihm, dem wahren Autor. Bereits in Verzweiflung beginnt also ein für das spätere Schaffen von Nabokov besonders kennzeichnendes Motiv, d. h. die Auseinandersetzung zwischen dem Schöpfer und dessen Schöpfung: »Selbstreflexivität und Parodie sind zum ersten Mal in Nabokovs Stil frei entfaltet und dürfen sich weitere vierzig fruchtbare Jahre lang ausbreiten.«418 Man sollte allerdings bemerken, dass diese ›Zweidimensionalität‹ der erzählten Welt in Nabokovs Romanen mit der Zeit immer komplexer wurde. So ist z. B. die Titelfigur des 1957 veröffentlichten englischsprachigen Pnin, der in Amerika lebende russische Literaturprofessor, zwar der eindeutige Protagonist, aber kein Erzähler. Sein Leben wird dem Leser von einem ziemlich eigenwilligen und eher unzuverlässigen Ich-Erzähler berichtet, gegen dessen ›Scheinfakten‹ Pnin ganz entschlossen rebelliert und behauptet, viele seiner Informationen seien völlig falsch. Dieser Erzähler sollte wiederum, nach Gennady Barabtarlos treffender Bemerkung, nicht mit Nabokov identifiziert werden.419 Vielmehr stellt er eine zumindest doppelgesichtige (und manchmal recht bösartige) Demiurg-Instanz dar, von dessen Diktat sich Professor Pnin am Ende des Buches befreit. Auch der wohl exzentrischste unzuverlässige Erzähler in Nabokovs Œuvre, der geisteskranke Charles Kinbote in Fahles Feuer, einer »Reflexion über den Prozess ästhetischer Schöpfung«420, verzerrt die Biographie und das Werk vom Dichter John Shade zugunsten seines ich-orientierten 417 418 419 420
Nabokov, Vladimir: Verzweiflung, S. 207. Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 620. Vgl. Barabtarlo, Gennady (Барабтарло, Геннадий): Сочинение Набокова, S. 199–200. Menhard, Felicitas: Conflicting reports, S. 204.
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Wunschdenkens. Verglichen mit diesem wesentlich späteren, an der Postmoderne grenzenden Roman, ist Verzweiflung, auch was die narrative Rollenverteilung betrifft, relativ einfach komponiert. Auf der internen Textebene sieht die Situation nämlich so aus, dass Hermann Karlovich, ein abstoßender Mensch und herzloser Mörder, die Geschichte seines gescheiterten perfekten Verbrechens an einen bekannten russischen Schriftsteller im Exil (also an Vladimir Nabokov) in der Hoffnung schickt, der Roman werde veröffentlicht, wenn auch in einer modifizierten Form: […] ich habe Sie erwähnt, Sie, meinen ersten Leser, Sie, den weithin bekannten Verfasser psychologischer Romane. Ich habe sie gelesen und fand sie sehr verkünstelt, obwohl nicht schlecht gebaut. Was werden Sie empfinden, wenn Sie meine Geschichte in Angriff nehmen? Freude? Neid? Oder gar … wer weiß? … Sie nutzen vielleicht meine bedingungslose Beseitigung dazu, mein Zeug als Ihr eigenes auszugeben … […] Diebstahl ist das beste Kompliment, das man einer Sache überhaupt machen kann. Und wissen Sie, was das Allerkomischste ist? Ich nehme als sicher an, dass Sie, sobald Sie sich zu dieser angenehmen Räuberei entschlossen haben, die kompromittierenden Zeilen streichen werden, genau die Zeilen, die ich gerade schreibe, und dass Sie überdies gewisse Stellen nach Ihrem Geschmack umarbeiten werden (was ein weniger angenehmer Gedanke ist), genauso wie ein Autodieb den gestohlenen Wagen neu anstreicht.421
Ironischerweise erweist sich Hermanns Verdacht, dass ausgerechnet diese »kompromittierenden Zeilen« vom Herausgeber weggestrichen werden, als haltlos: Davon zeugt einfach die Tatsache, dass man sie lesen kann. Die Anwesenheit der oben zitierten Passage bildet somit einen weiteren Beweis für ihre Authentizität. Was ist nun aber mit dem Rest des Textes? Möglicherweise ist Hermanns Vermutung, sein Herausgeber könnte »gewisse Stellen« des Manuskripts nach eigenem Geschmack »umarbeiten«, nicht ganz falsch. Dann wäre es durchaus verständlich, dass Hermanns glänzender Schreibstil seiner bei weitem nicht glänzenden Persönlichkeit so auffällig widerspricht. Mehr noch: Es wäre auch eine Erklärung dafür, wie das Böse und das Geniale in einem künstlerischen Werk doch nebeneinander existieren können. Als lebenslanger Verehrer Puschkins teilte Nabokov ohne Zweifel die berühmte, im russischsprachigen Kulturraum bis heute oft zitierte Sentenz des großen russischen Dichters aus seiner »kleinen Tragödie« Mozart und Salieri: »Genie und Missetat / Sind völlig unvereinbar.«422 In Verzweiflung findet Nabokov allerdings die Lösung dafür, wie sich die hohe literarische Kunst mit dem Banal-Bösen doch vereinen lässt, und zwar rein erzähltechnisch, indem der vermeintliche Ich-Erzähler den
421 Nabokov, Vladimir: Verzweiflung, S. 110. 422 Puschkin, Alexander: Mozart und Salieri. Nachdichtung: Eric Boerner. http://illeguan.de /mozart.htm/ letzter Zugriff am 25. 01. 2019.
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Vladimir Nabokov und Hannah Arendt
Leser auf den Gedanken bringt, einige Textstellen mögen von einem anderen Schriftsteller verändert bzw. neugeschrieben worden sein. Damit wird auch der von Hermann (oder vielleicht doch von Nabokov) artikulierte Zweifel an der Authentizität und den Ausdrucksmöglichkeiten der geschriebenen Sprache teilweise gelöst. Was man mittels klassischer erzählender Sprachformen nicht erreichen kann, lässt sich mithilfe innovativer narrativer Strategien zum Ausdruck bringen. Dies alles ereignet sich allerdings auf der textinternen Ebene. Auf der textexternen Ebene existiert dagegen nur eine Erzählinstanz – Vladimir Nabokov – tatsächlich, während Hermann Karlovich nur eine von ihm kreierte fiktive Gestalt ist. Brian Boyd macht dazu eine sehr interessante Bemerkung: Vielleicht kann die Seele jenseits des Todes außerhalb ihrer selbst stehen (im buchstäblichen Sinne von Ekstase) und sich im Geiste der Neugier, Zärtlichkeit und Güte in jede mißachtete Kleinigkeit hineinversetzen, in jedes angeschlagene und verwundete sterbliche Herz. Ein Werk von Fiktion kann solch einen Zustand vorwegnehmen, indem es diese Art von Reaktion im Leben hervorruft […].423
Aus dieser, die erzählte Wirklichkeit übersteigenden, ja transzendierenden Perspektive kann der Verzweiflung-Text als ein philosophischer bzw. metaphysischer Antikriminalroman über die Verzweiflung eines Verbrechers, der sich seinem Schöpfer widersetzt, gelesen werden.
2.2
Die Philosophie des Bösen und das Bild der totalitären Gesellschaft bei Vladimir Nabokov und Hannah Arendt
2.2.1 Das Konzept des Bösen im christlich-abendländischen Gedankengut Bevor man sich der vergleichenden Analyse von Hannah Arendts und Vladimir Nabokovs Konzepten des Bösen widmet, sollte die Bedeutung sowie die hierarchische Stellung dieses Begriffs in dessen philosophischer Ausprägung erörtert werden. Weder das Böse noch der Totalitarismus (sei es im politischen, psychologischen oder gar metaphysischen Sinn) manifestieren sich außerhalb ihrer Auswirkung auf das wahrnehmende Subjekt. Im jüdisch-christlichen Weltbild wird diese ontologische Interdependenz am Beispiel des basalen Bibelmythos von Adam und Eva gut sichtbar. Der grundlegende (und gelungene) Versuch, die von Gott gestiftete Lebensordnung zu zerstören, besteht bekanntlich darin, dass die Schlange, als Verkörperung des Bösen auf die ersten Menschen zukommend, Gottes Warnungen in Frage stellt, indem sie behauptet, das Essen von den Früchten des verbotenen Baumes bringe nicht Tod, sondern Wissen darüber, 423 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940, S. 621.
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»was gut und böse ist.«424 Gleich danach erkennt die Frau, »dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte.«425 Der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant betont in diesem Zusammenhang die unterschiedliche Rolle der Sprache bei Benennung der Dinge und in der zwischenmenschlichen Kommunikation: »Die Namengebung Adams war nur eine Verdoppelung der Schöpfung Gottes, ein Nachhall der Kreation. Das Sprechen der Schlange und Evas dagegen schafft Adams Tat (»er aß«) und das aus ihr resultierende Wissen.«426 Daraus resultiert erstens, dass die Klugheit bzw. Intelligenz – in biblischer Auffassung – auf dem Wissen von Gut und Böse beruht, und zweitens, dass dieses Wissen sowohl anlockend als auch gefährlich ist. Gott sagt nämlich, dass derjenige, der von diesem Baum isst, »des Todes sterben«427 wird. Die Schlange widerspricht dem und versichert die Frau, sie werde nicht sterben, sondern das Verborgene erkennen und »wissen, was gut und böse ist.«428 Diese Versuchungsmethode, die neulich vom Papst Franziskus als »Urheber der ersten Fake News«429 und Quelle sämtlicher Desinformierungen interpretiert wurde, ist allerdings gar nicht so desinformierend, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte. Betrachtet man die konsequente Entwicklung der Eden-Geschichte genauer, so wird klar, dass weder Gott noch sein schlauer Antipode den Menschen belogen hatten. Denn Adam und Eva bekommen tatsächlich das versprochene Wissen. Auf einmal schämen sie sich ihrer Nacktheit und erkennen ihre eigene (Menschen)Natur. Auch das Schuldgefühl und das damit unzertrennbar verbundene Gewissen erwachen plötzlich im wissenden Bewusstsein. Deshalb wurde der Sündenfall aus der Perspektive der aufklärerischen Philosophie äußerst positiv, ja beinahe enthusiastisch – im Sinne einer weiteren, höheren Stufe menschlicher Entwicklung – bewertet. So sieht z. B. Immanuel Kant darin die Befreiung von primitiven animalischen Trieben: Der Instinkt, diese Stimme Gottes, der alle Tiere gehorchen, mußte den Neuling anfänglich allein leiten. […] Weigerung war das Kunststück, um von bloß empfundenen zu
424 https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lutherbibel-1984/bibeltext/bibelstelle/gen% 203/ / letzter Zugriff am 05. 02. 2018. Hervorhebungen von A.K. 425 Ebd., letzter Zugriff 05. 02. 2018. Hervorhebungen von A.K. 426 Trabant, Jürgen: Mithridates im Paradies – kleine Geschichte des Sprachdenkens, München: Beck 2003, S. 19. 427 Ebd., letzter Zugriff am 05. 02. 2018. 428 Ebd., letzter Zugriff am 05. 02. 2018. 429 http://www.vaticannews.va/de/papst/news/2018-01/franziskus-ueber-fake-news-papst-nim mt-journalisten-in-die-pfli.html / letzter Zugriff am 05. 02. 2018.
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Vladimir Nabokov und Hannah Arendt
idealischen Reizen, von der bloß tierischen Begierde allmählich zur Liebe und mit dieser vom Gefühl des bloß Angenehmen zum Geschmack für Schönheit […] überzuführen.430
Kants rationalistische Umdeutung der Geschichte vom Sündenfall erster Menschen bildet eine perfekte Illustration zu der Behauptung des russischen Philosophen Alexander Piatigorsky, ein Text werde zum Mythos erst durch dessen Interpretation bzw. im Verlauf des Interpretationsprozesses.431 Kants Analyse bemüht sich um eine Art Demythologisierung bzw. Humanisierung des Erbsündenmythos. Was man jedoch im Endergebnis bekommt, ist das Errichten einer weiteren, zeitgemäßen Mythologie. Mit anderen Worten: Kant interpretiert den biblischen Text im Geist und Kontext der Aufklärungsepoche, was gleichzeitig das Mythologische an diesem Text sowohl markiert als auch aufrechterhält, denn ein Mythos ist eben eine Geschichte, die nicht etwa buchstäblich wahrgenommen, sondern auf bestimmte Art und Weise interpretiert wird. Die Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten ist natürlich immens. Während Kant den Sündenfall als einen revolutionären Befreiungsakt in der Entwicklung menschlicher Vernunft betrachtet, vertritt beispielsweise Thomas Hobbes eine konträre Meinung und schlägt folgende, nicht weniger »mythologische« Auslegung vor: Nachdem beide davon gegessen hatten, nahmen sie in der Tat Gottes Amt auf sich, nämlich die Beurteilung von gut und böse, aber sie erlangten keine neue Fähigkeit, um sie richtig unterscheiden zu können. […] Und Gott sagte darauf: »Hast du nicht gegessen« usw., als wollte er sagen: »Maßest du dir an, der du mir Gehorsam schuldest, Richter über meine Befehle zu sein?« Hierin kommt klar zum Ausdruck, wenn auch allegorisch, daß die Befehle derer, die ein Recht zum Befehlen haben, von ihren Untertanen weder zu tadeln noch anzufechten sind.432
Am Beispiel von beiden Interpretationsversuchen sieht man deutlich, wie das analysierte Genesisfragment im ersten Fall als Aufklärungsmythos dargelegt wird, im zweiten hingegen als Fundament der von Hobbes formulierten und propagierten Mythologie der »absoluten Herrschaft« dient. Besonders markant sind daher solche Einwendungen seitens Hobbes, wie z. B. »als wollte er sagen« oder »hierin kommt klar zum Ausdruck«, bezogen auf die Worte Gottes. Im Genesisbuch stellt Gott an Adam zwei Fragen: »Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du nicht gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?«433 Beide Fragen sind miteinander eng verbunden, denn die 430 Kant, Immanuel: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte. In: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Band 11. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, S. 87, 90. 431 Vgl. Piatigorsky, Alexander (Пятигорский, Александр): Философская Проза (Philosophische Prosa). Moskau: Новое Литературное Обозрение 2014, S. 372. 432 Hobbes, Thomas: Leviathan. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 200–201. 433 https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lutherbibel-1984/bibeltext/bibelstelle/gen% 203/ letzter Zugriff am 06. 02. 2018.
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Erkenntnis des Nacktseins folgt unmittelbar aus Adams Ungehorsam. In keiner der beiden Fragen ist aber die Rede vom »Recht zum Befehlen«, das für Hobbes zum unbestrittenen semantischen (und wiederum mythologischen) Gehalt des Bibeltextes gehört. Eins steht immerhin fest: Die »schlaue Schlange« hat die ersten Menschen nicht wirklich belogen, als sie sagte, das Essen vom Baum der Erkenntnis gebe ihnen das Wissen von Gut und Böse, denn dieses Wissen erhalten sie, und zwar momentan. Aber auch Gottes Warnung – »Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet!«434 – erweist sich überraschenderweise als wahr. Zwar sterben Adam und Eva nicht gleich nach der begangenen Sünde, aber sie werden danach aus dem Eden-Garten verbannt und somit sterblich. Selbsterkenntnis könnte hier als Gegensatz zu Unsterblichkeit verstanden werden. Bemerkenswert ist dabei, dass die Frau, anders als Adam, erst nach dem Sündenfall mit einem Namen benannt wird. Diesen gibt ihr der Mann, was nämlich auch als ein Erkenntnisakt verstanden werden kann: »Und Adam nannte seine Frau Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben.«435 Darin wird Adams intuitives Wissen von der symbolischen Bedeutung des Namens »Eva« impliziert. Es wäre aber voreilig, daraus den Schluss zu ziehen, das Gebären an sich sei eine unmittelbare Folge des Sündenfalls. Dagegen spricht allein die Tatsache, dass Gott gleich nach der Schöpfung von ersten Menschen, also noch vor dem Begehen der sogenannten Erbsünde (obschon jegliche zeitlichen Kategorien hier mit großer Vorsicht betrachtet werden sollten), gebietet: »[…] Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde.«436 Darüber hinaus heißt es im zweiten Genesis-Kapitel: »Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch«437 (eine Stelle, die später Jesus im Matthäus-Evangelium 19:5 wortwörtlich zitiert438). Dies bedeutet, dass die Prokreation zum ursprünglichen göttlichen Willen gehörte, nur wäre sie in einem vom Sündenfall unbefleckten Paradies wahrscheinlich anders verlaufen. Daher spricht Gott zu Eva, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hat: »Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein.«439 Der Ungehorsam gegenüber Gottes Anweisungen bewirkt also zwei grundsätzliche Konsequenzen: Leid und Macht. Das Leid bezieht sich auf die Art und Weise, wie die neuen Menschen zur Welt kommen werden, und begleitet 434 435 436 437 438 439
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. http://bibeltext.com/matthew/19–5.htm / letzter Zugriff am 06. 02. 2018. https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lutherbibel-1984/bibeltext/bibelstelle/gen% 203/,06. 02. 2018 / letzter Zugriff am 07. 02. 2018.
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sie ihr ganzes Leben lang bis zum Höhe- und zugleich Endpunkt des Leidens, dem Tod. Die Macht kennzeichnet ihrerseits die neuen, »post-paradiesischen« Beziehungen, denen die Geschlechter seit dem Sündenfall unterworfen sind. Die oft diskutierte »patriarchalische Weltordnung« sowie generell Gewalt (in weitester Auffassung des Wortes) erscheinen im Bibelmythos von Adam und Eva als Folge der Erbsünde und nicht etwa als Teil anfänglicher Absicht Gottes. In der Weltliteratur und -kultur sind Macht und Leid jedenfalls zu Zentralmotiven geworden. Die im Weiteren besprochenen Texte bzw. Denkkonzepte von Vladimir Nabokov und Hannah Arendt bilden besonders ausdrucksstarke Beispiele dafür.
2.2.2 Hannah Arendts und Vladimir Nabokovs Visionen des Individuellen und Kollektiven – Der keimende Totalitarismus in Wolke, Burg, See Hannah Arendt (1906–1975) und Vladimir Nabokov (1899–1977) zählen zweifelsohne zu den größten Individualisten und Außenseitern ihrer Epoche. Auch in ihren Biographien finden sich einige signifikante Affinitäten. Beide mussten aus ihren Heimatländern aus politischen Gründen emigrieren: Nabokov als Jugendlicher, zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern; Arendt im wesentlich reiferen Alter von 31 Jahren. Darüber hinaus sollte man erwähnen, dass Nabokov, der 15 Jahre im Berliner Exil verbrachte (1922–1937), Deutschland in demselben Jahr wie Arendt verlassen hat, um sich in den USA anzusiedeln und dort zu einem der bedeutendsten Schriftsteller seiner Generation zu werden. Auch Arendt wurde erst in Amerika zur weltbekannten, einflussreichen Politphilosophin. Beide Autoren haben ihre erklärte Nicht-Zugehörigkeit zu Gruppen und Organisationen mehrmals deklariert. Als besonders aussagekräftiges Beispiel dafür können zwei folgende Zitate dienen: Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv ›geliebt‹, weder das deutsche noch das französische, noch das amerikanische, noch etwa die Arbeiterklasse oder was es sonst so noch gibt. Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig.440 (Hannah Arendt) Ich bin stolz darauf, keine publikumswirksame Persönlichkeit zu sein. […] Ich war niemals in einem Büro tätig, habe niemals in einem Kohlenbergwerk gearbeitet. Ich war nie Mitglied eines Clubs oder einer Gruppe. Kein Dogma, keine Schulrichtung hat mich je auch nur im mindesten beeinflußt.441 (Vladimir Nabokov)
440 Prinz, Alois: Hannah Arendt oder Die Liebe zur Welt. 12. Auflage. Berlin: Insel Verlag, S. 201. 441 Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1993, S. 17.
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Obwohl Nabokov und Arendt ausgesprochene Gegner jeglicher Kräfte und Ideologien waren, »die Individualität durch Gleichschaltung ersetzen wollen«442, unterscheiden sich ihre eigenen Individualitätskonzepte (vor allem ihre Vorstellungen von den Verhältnissen zwischen Individuum und Gesellschaft) in mehreren entscheidenden Punkten diametral voneinander. So ist für Arendt das Individuelle zuerst wegen seinem Potenzial zum Handeln relevant. Das Handeln ist seinerseits mit sozialen Veränderungen und aktivem Einfluss aufs politische Leben verbunden. Arendt definiert den Menschen als »ein gesellschaftliches oder ein politisches Wesen«443, wobei das menschliche Leben erst durch das »Tätigsein«444 sinnvoll und gerechtfertigt wird: Die Vita activa, menschliches Leben, […] bewegt sich in einer Menschen- und Dingwelt, aus der es sich niemals entfernt und die es nirgends transzendiert. Jede menschliche Tätigkeit spielt in einer Umgebung von Dingen und Menschen; in ihr ist sie lokalisiert und ohne sie verlöre sie ihren Sinn. […] Es gibt kein menschliches Leben, auch nicht das Leben des Einsiedlers in der Wüste, das nicht […] in einer Welt lebt, die direkt oder indirekt von der Anwesenheit anderer Menschen zeugt. […] Die Tätigkeit des Arbeitens als solche bedarf nicht der Gegenwart anderer Menschen, wiewohl ein in völliger Einsamkeit arbeitendes Wesen kaum noch ein Mensch wäre; er wäre ein animal laborans in des Wortes wörtlichster und furchtbarster Bedeutung.445
Einsamkeit und Ausgrenzung sind also für Arendt ausdrücklich negative Elemente menschlicher Existenz. Als positive Antithesen fungieren hingegen gutgesinnter Pluralismus und solidarische Kooperation. Werden bestimmte Staatsbürger bzw. Menschengruppen vom soziopolitischen Leben ausgeschlossen (wie beispielsweise die Juden im Dritten Reich), so ist es ein signifikantes Zeichen totalitärer Systeme. Diese Einstellung würde Nabokov, der sich für Politik so gut wie gar nicht interessierte, jedoch seine allgemeine Position zu diesen Themen als »altmodischen Liberalismus unbestimmter Couleur«446 etikettierte, höchstwahrscheinlich teilen. In ihren Überlegungen geht Arendt aber wesentlich weiter und kritisiert das abgekapselte, heteronome menschliche Dasein nicht nur im Sinne gesellschaftlicher Diskrimination bzw. staatlicher Gewalt, die sich in Verfolgung von Andersdenkenden und -lebenden äußert, sondern sie greift auch diejenige ichbezogene Einzelgänger-Haltung an, welche vom Individuum selbst erwählt wird: Ein Wesen, das Dinge herstellt und eine nur von ihm bewohnte Welt erbaut, wäre zwar noch ein Hersteller, aber schwerlich Homo faber; es hätte seine spezifisch menschliche 442 Balestrini, Nassim W.: Vladimirs Nabokovs Erzählwerk. Eine Einführung. München – Berlin: Verlag Otto Sagner 2009, S. 81. 443 Arendt, Hannah: Mensch und Politik. Ditzingen: Reclam 2017, S. 7. 444 Ebd. 445 Ebd. 446 Vgl. Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, 179.
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Eigenschaft verloren und gliche eher einem Gott – zwar nicht einem Schöpfergott, aber doch dem göttlichen Demiurg, wie ihn Plato in einem seiner Mythen beschreibt. Handeln allein ist das ausschließliche Vorrecht des Menschen; weder Tier noch Gott sind des Handelns fähig.447
Diese Behauptung ist für die Gegenüberstellung von Arendts und Nabokovs Ansichten über den Individualismus von besonderem Interesse. Auch Nabokov macht nämlich einen ähnlichen Vergleich zwischen Gott und Mensch, allerdings mit einer komplementären Pointe. Nach ihm nähert sich ein genialer Künstler, der seine eigene Welt kreiert, dem souveränen, freischaffenden Gott, und zwar keinem göttlichen Demiurg ( jene Rolle könnte man übrigens dem Antikünstler Hermann aus Verzweiflung zuschreiben), sondern eben demjenigen »Schöpfergott«, der das menschliche Leben unter verschiedenen Pseudonymen – mal als Schicksal, mal als Zufall – spielerisch, aber behutsam steuert. In einem im Januar 1964 erschienenen Playboy-Interview äußerte sich Nabokov dazu folgendermaßen: »Ein schöpferischer Schriftsteller muß die Werke seiner Rivalen sorgfältig studieren, eingeschlossen die des Allmächtigen. Er muß die angeborene Fähigkeit besitzen, die vorhandene Welt nicht nur neu zu kombinieren, sondern neu zu erschaffen.«448 Ein Jahr später, in einem Kamera-Interview für das Kulturprogramm von Television 13 in New York, sagte Nabokov, der wahre Künstler sei im ewigen Exil, ob er sich in seinem Arbeits- oder Schlafzimmer befindet, denn obwohl er absolut einsam ist, so vertraut er doch gleichzeitig einem unbekannten Anderen seine tiefsten Geheimnisse und seinen persönlichen Gott.449 Der potentielle Rezipient wird somit zwar impliziert oder wenigstens angenommen, aber nicht als konkreter Leser, dessen Wünsche und Erwartungen der Autor berücksichtigen, geschweige denn erfüllen sollte. Vielmehr geht es hier eben um diejenige »nur von ihm bewohnte Welt«, welcher Hannah Arendt finstere Entmenschlichungsfaktoren vorgeworfen hat. Daher beantwortete Nabokov 1962 die Frage der BBC-Journalisten – Für wen schreiben Sie? Für welches Publikum?450 – mit einer Art Kurzmanifest, das eine – wenngleich unbeabsichtigte – Anti-Arendt-Perspektive aufweist: Ich finde nicht, daß ein Künstler sich mit Gedanken an sein Publikum inkommodieren sollte. Sein bestes Publikum ist der Mensch, dessen Gesicht er allmorgendlich im Rasierspiegel erblickt. Ich glaube, das Publikum, das der Künstler sich in seiner Phantasie ausmalt […], ist ein Saal voller Leute, die alle seine eigene Maske tragen.451
447 Arendt, Hannah: Mensch und Politik, S. 7–8. 448 Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 59. 449 Vgl. http://nabokov-lit.ru/nabokov/intervyu/teleintervyu-hyuzu-1965.htm / letzter Zugriff am 21. 02. 2018. 450 Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 39. 451 Ebd., S. 39–40.
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Dass derartige Kreativität zweifellose illusorische Züge trägt, macht sie in Nabokovs Augen nicht weniger wertvoll. Im Gegenteil: Weil die vom Künstler errichtete Erzählwelt kein bloßes Wirklichkeitsabbild darstellen, sondern eine in sich geschlossene, einwandfrei strukturierte und autonome Realität bilden sollte, wäre es, so Nabokov, unbegründet und gar absurd, von einem literarischen Werk soziologische bzw. politische Botschaft zu erwarten. Auch sein eigenes Schaffen betrachtete er demnach als höchst persönliche, für keine Gemeinschaften vorgesehene, für die sogenannte »Gesellschaft« völlig nutzlose, jedoch ästhetisch vollkommene Wortzauberei: Meine Mirage wird in meiner Privatwüstenei produziert, einer trockenen, aber flammendheißen Lokalität, vor der am Stamm einer einsamen Palme ein Schild mit der Aufschrift »Für Karawanen gesperrt« prangt. Natürlich gibt es durchaus fähige Köpfe, die mit ihren Karawanen von allgemeinen Ideen bei irgendwelchen Zielen anlangen […]: Aber ein auf seine Freiheit und Unabhängigkeit bedachter Romanschreiber hat in Wahrheit nicht viel davon, wenn er irgendwo mit- oder irgendwem hinterhertrabt.452
Noch radikaler erklingt derselbe Gedanke im oben bereits erwähnten und zitierten Interview mit Martin Essler aus dem Jahre 1968, wo Nabokovs vernichtende Ironie und skeptische Abneigung gegenüber gesellschaftskritischem Engagement und politischer Korrektheit zum Ausdruck kommen: Ich fühle mich gelangweilt von Schriftstellern, die den gesellschaftlichen Rummel mitmachen. Ich verabscheue den abgedroschenen Banausendreh, sich mit deftigen Vulgarismen dickzutun. Ich weigere mich zudem, an einem Roman Vorzüge zu entdecken, nur weil er von einem tapferen Schwarzen in Afrika oder einem tapferen Weißen in Rußland stammt – oder von einem Vertreter irgendeiner x-beliebigen Gruppe in Amerika. Offen gesagt, schon der geringste Anhauch von Kollektivgeist an einem Roman – sei es Nationalismus, Volkstümelei, Klassenbewußtsein, Freimaurertum, Religiosität oder was auch immer – nimmt mich automatisch gegen ihn ein […].453
Die von Nabokov aufgezählten Begriffe sind weder zufällig noch bloß um des Widerspruchs willen gewählt worden. Nationalismus als eine der Hauptstützen rechtsorientierter Weltanschauung steht in ideologischer Opposition zum marxistisch gefärbten Klassenbewusstsein; traditionelle Religiosität steht sämtlichen Geheimgesellschaften und vor allem dem Freimaurertum äußerst kritisch gegenüber. Diese augenfällige Mannigfaltigkeit angesprochener Ideologien weist also darauf hin, dass es keine bestimmte organisierte Denkrichtung bzw. Strömung ist, die Nabokov abschreckt, sondern das Gemeinsam-Sein als solches. Das Kollektive an sich bedroht das Individuelle und führt letztendlich zu dessen Auflösung oder gar Vernichtung. Das Gefühl bzw. Faktum der Zugehörigkeit – ganz egal, worauf sie sich bezieht – empfindet Nabokov als destruktiv. Be452 Vgl. ebd., S. 179. 453 Ebd., S. 180.
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merkenswert ist, dass Hannah Arendt, ohne eine Nabokov-Expertin oder gar eine bewanderte Leserin seiner Werke zu sein, diese einschneidende Diskrepanz zwischen ihrer eigenen und Nabokovs Individuums- und Weltsicht – wohl anhand einer flüchtigen Lektüre – intuitiv verspürte. In einem Brief an ihre enge Freundin, die amerikanische Schriftstellerin Mary McCarthy, bekennt Arendt nämlich: Es gibt etwas an N., das mir zutiefst missfällt. Als ob er Dir dauernd zeigen wolle, wie intelligent er ist. Und als ob er von sich selbst in den Begriffen des ›intelligenter als‹ denkt. Es ist etwas Vulgäres in seiner Verfeinerung, und ich bin ein bisschen allergisch gegen diese Art von Vulgarität, weil ich sie so gut kenne, so viele Leute kenne, die unter ihrem Fluch stehen.454
Die unverhohlene Intensität der Antipathie gegenüber Nabokov (dessen Namen sie nur einmal abgekürzt erwähnt) führt dazu, dass Arendt sich einer für sie eher untypischen Generalisierungsmethode bedient, indem sie behauptet, viele Leute zu kennen, die unter demselben Fluch stehen würden, und dabei die definitiv eigenartige, mit anderen Autoren schwer vergleichbare Verfeinerung Nabokovs bewusst oder unbewusst auf bloße Arroganz zurückführt. Hannah Arendt, eine der größten Individualistinnen des vorigen Jahrhunderts, spricht dem russischamerikanischen Schriftsteller nicht nur Bescheidenheit bzw. Anständigkeit, sondern auch Originalität ab. In Nabokovs extrem individualistischer Haltung sieht Arendt diejenige Art von Vulgarität, welcher gegenüber sie allergisch sei, ähnlich wie Nabokov gegenüber dem von ihm verhassten Kollektivgeist. Trotz solch gravierender Unterschiede lassen sich jedoch, wenn es um das Problem des Bösen geht, auch einige beachtenswerte Gemeinsamkeiten in Nabokovs und Arendts Denken feststellen. Die »Banalität des Bösen« ist einer der bekanntesten und zugleich ziemlich ambivalenten Begriffe in der Philosophie des 20. Jh. Die Bezeichnung entstammt ursprünglich der berühmt-kontroversen Eichmann-Prozess-Reportage von Hannah Arendt, die sich selbst übrigens nicht als Philosophin, sondern eher als Politologin und Historikerin identifizierte.455 Das Buch unter dem Haupttitel Eichmann in Jerusalem und dem Untertitel Ein Bericht von der Banalität des Bösen456 bildet nämlich eine ausführliche, sachgerechte Beschreibung des Prozessverlaufs, welcher durch Arendts meistens kritische, oft überraschende oder gar provokative Kommentare erörtert wird. So wird im Text z. B. behauptet, »das 454 https://kopkastagebuch.wordpress.com/2018/02/12/klare-kante / letzter Zugriff am 22. 02. 2018. 455 Vgl. Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus. Philosophie Magazin. Sonderausgabe 06. 06. 2016, S. 17. 456 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper Verlag 1986.
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jüdische Establishment […] habe durch die Kooperation mit den Nationalsozialisten die massenhafte Ermordung der europäischen Juden erleichtert«457, was konsequenterweise zum »Bruch mit einer Reihe von jüdischen Institutionen und auch mit einigen alten Freunden«458 führte. Als nicht weniger strittig erwies sich auch die Idee von der titelgebenden »Banalität des Bösen«. Diesem sarkastisch wirkenden, in der Tat jedoch zutiefst präzisen und durchdachten Urteil warf man Verharmlosung der Nazi-Verbrechen und deren exaltierter Entsetzlichkeit vor.459 Arendt ging es dagegen um etwas ganz Anderes, ja gerade Konträres, denn ihre Absicht bestand eben darin, die beispiellose Außergewöhnlichkeit von Eichmanns Haltung und Handlungen sowie von der gesamten soziopolitischen Ordnung des Dritten Reiches zu betonen: Für Hannah ist das Urteil »recht enttäuschend«. Nicht wegen der Todesstrafe, daran führt für sie kein Weg vorbei. Aber man hätte, so meint sie, im Urteil deutlich machen sollen, dass man Recht sprechen muss, auch wenn man diesem Fall mit den herkömmlichen Vorstellungen von Recht und Strafe nicht gerecht wird.460
Die Übeltaten der Nationalsozialisten lassen sich, so Arendt, nach allgemeingültigen, an klassischen Gut-Böse-Konzepten orientierten Maßstäben kaum bewerten. Die Menschen, welche diese schrecklichen, schwer vorstellbaren Verbrechen begangen haben, waren schließlich ›nur‹ einfallsarme Karrieristen und keine Bösewichte, wie Eichmanns Beispiel in Arendts Überzeugung eindeutig bewiesen hat. Daher bedeutet ›banal‹ in diesem Fall keineswegs ›akzeptabel‹ oder ›verzeihbar‹. Was dabei herabgesetzt wird, ist nicht etwa das unbestritten immense Ausmaß des Bösen, sondern dessen mythologisch-ontologische Größe, »selbst wenn es nur eine dämonische Größe ist.«461 Um dies mit Hannah Arendts Worten aus ihrem bekannten Brief an Gershom Scholem zu illustrieren: Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt vernichten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber und radikal ist immer nur das Gute.462
Das Böse zu mythologisieren, ihm metaphysisch-dämonische Züge zu verleihen, hieße also, es zu romantisieren (wenn auch ungewollt) und als eine mit dem Guten komparable Invariante zu betrachten. Darin verstecke sich ein nicht nur politischer, sondern auch philosophischer Fehler, dessen weitreichende Folgen 457 Vowinckel, Annette: Hannah Arendt. 2. durchgesehene und ergänzte Auflage. Ditzingen: Reclam 2014, S. 257. 458 Ebd. 459 Vgl. ebd., S. 250. 460 Prinz, Alois: Hannah Arendt oder Die Liebe zur Welt, S. 241. 461 Ebd. 462 Ebd., S. 249–250.
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im schlimmsten Fall zur immer weiteren, triumphalen Entfaltung des Bösen führen könnten. Ein erprobtes Mittel im Kampf gegen diese allgewaltigen dunklen Mächte, denen man hilflos ausgeliefert zu sein scheint, sieht Arendt unter anderem darin, die stumpfsinnige Vulgarität barbarischer Grausamkeit als fruchtlos auszulachen: »Darum nennt sie Eichmann einen ›Hanswurst‹ und das Böse, das er verkörpert, ›banal‹.«463 Vladimir Nabokovs 1928 veröffentlichter zweiter Roman König Dame Bube bringt beinahe analoge Gedanken zum Ausdruck. Die Banalität des Bösen betrifft bei ihm nicht nur die kriminelle, sondern z. B. die sinnlich-erotische Sphäre. Ein klassisches Beispiel wäre hier Gustav Flauberts Madame Bovary, einer von Nabokovs Lieblingsromanen. In seinem Literaturkurs über die Meisterwerke der europäischen Literatur ›beschuldigt‹ Nabokov Emma Bovary vor allem der Tatsache, dass sie keine »gute Leserin« war und den schlimmsten Fehler beging, den man bei der Lektüre eines künstlerischen Textes machen kann: Sie identifizierte sich nämlich mit fiktiven, vom Autor erfundenen Figuren, anstatt Stil und Struktur des literarischen Werkes zu bewundern.464 In König Dame Bube vereinen sich die beiden Manifestationsebenen des Banalen, indem die triviale, durch Trieb und kleinbürgerliches Luxusstreben gekennzeichnete Affäre zwischen Dreyers Ehefrau Martha und seinem Neffen Franz bald in den von Martha initiierten Plan mündet, Dreyer physisch zu beseitigen. Vielmehr als um die gängige Freudsche Synthese von Sex und Gewalt (das Ideengut des österreichischen Psychoanalytikers wurde von Nabokov verachtet und immer wieder ausgelacht465) geht es dabei um die listige Totalität des Banalen, das alle Bereiche menschlicher Existenz durchdringt bzw. dominiert. Weder die in den Werken von Dostojewski (dessen »Ertrag an Seele, Sündigkeit, Sentimentalität und Zeitungsschreiberstil«466 Nabokov ebenfalls ablehnte) problematisierten »verfluchten Fragen«467 noch das oben besprochene »radikale Böse« im Sinne einer intentionalen luziferischen Bestrebung bilden für Nabokov den Kern der meisten menschlichen Übeltaten, sondern kleinkrämerische materielle Motivationen sowie dumpfe Geist- und Einfallslosigkeit. Beinahe dieselbe Meinung äußert Hannah Arendt in ihren Vorlesungen Über das Böse: »In jeder Gemeinschaft gibt es, wie wir sehr wohl wissen, eine Reihe von Kriminellen, und da die meisten unter ihnen an einem eher beschränkten Einbildungsvermögen leiden, sei zugestanden, daß einige nicht weniger begabt sind als Hitler und manche seiner 463 464 465 466 467
Ebd., S. 249. Vgl. Nabokov, Vladimir: Lectures on Literature, S. 136. Vgl. Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 47. Ebd., S. 235. Siehe: Poljakova, Ekaterina: Differenzierte Plausibilitäten. Kant und Nietzsche, Tolstoi und Dostojewski über Vernunft, Moral und Kunst (Monographien und Texte zur NietzscheForschung, Band 63), Berlin: De Gruyter 2013, S. 329.
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Handlanger.«468 Auch Steven Pinker hebt, sich auf Hannah Arendt berufend, das Banal-Alltägliche an der Motivation entsetzlichster Verbrecher hervor: Die Philosophin Hannah Arendt prägte in ihren Schrift über den Prozess gegen Adolf Eichmann wegen seiner Mitwirkung an der logistischen Organisation des Holocaust den Begriff von der »Banalität des Bösen«. Damit meinte sie, dass er in ihren Augen ein ganz normaler Mann mit ganz normalen Motiven war. Ob sie damit im Hinblick auf Eichmann recht hatte […] oder nicht: In jedem Fall nahm sie den Mythos des reinen Bösen mit großer Weitsicht auseinander. Wie wir noch genauer erfahren werden, sprechen die sozialpsychologischen Forschungsergebnisse aus vier Jahrzehnten […] nachdrücklich dafür, dass meist ganz banale Motive zu schädlichen Folgen führen.469
Interessanterweise wird in demselben, dem Gewaltphänomen gewidmeten Buch von Pinker auch ein Fragment aus Nabokovs Lolita erwähnt: »Nabokovs Humbert Humbert, der mit Lolita quer durchs Land flüchtet und dabei die amerikanische Kultur in vollen Zügen in sich aufnimmt, genießt die »ochsenbetäubenden Faustschläge« der Cowboyfilme […].«470Als Beispiel dafür zitiert Pinker diejenige Passage aus Nabokovs Skandalbestseller, wo sich Lolita und Humbert einen Western im Kino anschauen. Der Ich-Erzähler (Humbert) listet also typische Elemente dieser für ihn etwas fremdartigen Filmgattung auf: […] die Terrakottalandschaft, die blauäugigen Reiter mit den gesunden Gesichtern, die spröde, hübsche Schullehrerin […], das sich bäumende Pferd, […] die durch die klirrende Fensterscheibe gesteckte Pistole, der stupende Faustkampf, […] und unmittelbar nach einem Übermaß an Schmerz, der einen Herkules ins Krankenhaus gebracht hätte […] war von alldem nicht mehr zu sehen als die recht kleidsame Schramme auf der Bronzewange des warm gewordenen Helden, der seine prächtige Wildwestbraut umarmt.471
Was Pinker hier größtenteils übersieht, ist das Vernichtend-Ironische an der obigen Beschreibung. Von einem »Genießen« kann hier nur schwerlich die Rede sein. Sowohl das »Übermaß an Schmerz, der einen Herkules ins Krankenhaus gebracht hätte« als auch die »prächtige Wildwestbraut« (welche an die »schicke Blondine« aus Nabokovs Essay erinnert) weisen eindeutig darauf hin, dass die dargestellte Bilderreihe von dem Erzähler satirisch, ja sarkastisch betrachtet und bewertet wird. Besonders folgenreich ist hier aber eine andere Nuance, nämlich »die blauäugigen Reiter mit den gesunden Gesichtern« – eine kaum zufällige Formulierung, welche sogar heute noch, geschweige denn 1955, ganz evidente Assoziationen hervorruft. Der darin implizierte Vergleich amerikanischer Cowboys mit dem von der Nazi-Ideologie kreierten Bild des »wahren Ariers« ist somit 468 469 470 471
Arendt, Hannah: Über das Böse. München/Zürich: Piper Verlag 2012, S. 16. Pinker, Steven: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, S. 734. Ebd., S. 163. Zitiert nach: Nabokov, Vladimir: Lolita, S. 163–164.
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ein gewagter, aber konsequenter Schritt, denn die Gewalt war eine der grundlegenden Triebkräfte sowohl im filmisch-fiktiven »Wilden Westen« als auch im Dritten Reich. Die zanksüchtigen und nicht selten rücksichtlosen Cowboys sind nicht nur diejenigen ›Normmenschen‹ der auf dem Bildschirm präsentierten uramerikanischen Gesellschaft, sondern werden in vielen Filmen mystifiziert und glorifiziert. Es geht natürlich nicht darum, dass zwischen der Cowboy- und der Nazi-Welt ideologische Ähnlichkeiten bestehen. Der Schlüsselbegriff ist hier eben die animalische Denklosigkeit der Gewalt als konstanter Bestandteil des Banal-Bösen, obwohl es auch andere symptomatische Komponenten gibt. Nach internationalen und überzeitlichen Gewaltwurzeln forschend, schlägt Steven Pinker folgende Unterscheidung vor: Die erste Kategorie der Gewalt kann man als […] instrumental, ausbeuterisch oder räuberisch bezeichnen. Dies ist die einfachste Form der Gewalt: Sie dient als Mittel zum Zweck. […] Die zweite Wurzel der Gewalt ist das Dominanzstreben […]. Die dritte Gewaltursache ist Rache – das Bestreben, gegenüber den Rivalen die Oberhand zu behalten […] Die vierte Wurzel ist der Sadismus, die Freude, anderen Schmerzen zuzufügen. […] Als fünfte und folgenreichste Ursache der Gewalt kommt die Ideologie hinzu […].472
In Nabokovs Oeuvre findet man alle von Pinker aufgelisteten Gewalttypen. Die erste, praktisch-instrumentale Gewalt signiert die frühen Romane: König Dame Bube, Gelächter im Dunkel und Verzweiflung (obschon im dritten Text neben den rein materiellen bzw. finanziellen Beweggründen auch pseudokünstlerische, größenwahnsinnige Aspirationen auftreten). Was die zweite und die dritte Gewaltursache betrifft, so findet man in Lolita eine Art Synthese von beiden: Humbert bringt seinen Rivalen einerseits aus Rache, andererseits aus Dominanzstreben um (der unerträgliche Gedanke, Lolita könnte einem anderen Mann gehören, treibt ihn bis zum Äußersten). Besonders interessant sind jedoch die letzten zwei Punkte. Ideologische Gründe erweisen sich – wenigstens auf der dargestellten Liste – als der einzige Gewaltanstoß, der zwar pseudophilosophische, aber immerhin systematisierte kognitive Grundlagen aufzeigt. Desto überraschender wirkt Pinkers These, gerade die Ideologie (als Gewaltquelle) sei mit dem vierten Punkt, d. h. dem Sadismus, eng verbunden: Sadismus kann aus instrumentalisierter Gewalt erwachsen. Mit der Androhung von Folter kann man politische Gegner erschrecken, und zumindest gelegentlich muss sie auch angewandt werden, damit die Drohung glaubwürdig bleibt. […] Viele Polizeibehörden und nationale Sicherheitskräfte bedienen sich einer mäßigen Form der Folter unter beschönigenden Überschriften wie »das dritte Stadium« oder »mäßiger körperlicher Druck« oder »verschärftes Verhör«; tatsächlich erreichen solche Strategien 472 Pinker, Steven: Gewalt, S. 751–752.
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manchmal ihren Zweck. […] Eines der vielen Argumente gegen die Anwendung der Folter lautet jedoch: Sie bleibt nur in seltenen Fällen längere Zeit zweckgebunden. Folterer lassen sich mitreißen.473
Vladimir Nabokovs Erzählwerk bietet mehrere beträchtliche Beispiele für diesen wechselseitig beeinflussten Zusammenhang zwischen totalitärer Ideologie und sadistischer Gewalt. Dabei sollte man allerdings nicht vergessen, dass Totalitarismus hier, anders als bei Hannah Arendt, nicht auf sozial-politischer Ausgrenzung, sondern vielmehr auf dem Kollektivgeist beruht. Nabokovs Protagonisten streben kaum danach, in diese oder jene Gesellschaftsgruppe integriert zu werden. Im Gegenteil: Sogar diejenigen von ihnen, die hauptsächlich in Emigrantenkreisen des ›russischen Berlins‹ verkehren, fühlen sich unter ihren eigenen Landsleuten einsam und verloren. Problematisch bzw. dramatisch wird die Situation erst dann, wenn eine von außen aufgedrängte Integration erzwungen wird. Die Beweggründe können dabei unterschiedlich und nicht unbedingt bösartig sein. So will z. B. die Ehefrau der Titelfigur in Lushins Verteidigung aus dem genialen, aber wahnsinnig werdenden Schachspieler einen normalen Menschen machen, indem sie ihn in die kleinbürgerliche Welt ihrer Familie zu integrieren versucht, was jedoch tragische Folgen hat. Die Hauptfigur von Die Gabe – der im Berliner Exil lebende hochbegabte russische Schriftsteller Fjodor Godunow-Tscherdynzew – fällt nach der Veröffentlichung seiner kritisch-parodistischen Tschernyschewski-Biografie bei allen russischen Schriftstellergruppen in Ungnade. Besonders effektvoll wirkt die Dämonisierung des Kollektiv-Totalitären, der »Tyrannei des Kollektivs über den Einzelnen«474, in der Kurzgeschichte Wolke, Burg, See, wo die individuelle Weigerung, sich den Forderungen einer Gruppe unterzuordnen, mit schockierend-gewaltsamer Reaktion seitens dieser Gruppe bestraft wird. Thomas Urban bezeichnet den Text als »eine Abrechnung mit den Deutschen, die die Nazis an die Macht gebracht hatten und ihnen zujubelten.«475 Das Verhalten des Einzelnen ist dabei völlig harmlos und unverhältnismäßig zur schrecklichen Strafe. Wassilij Iwanowitsch (so heißt die Hauptfigur) will nämlich in einem gemütlichen Gasthaus am See für den Rest seines Lebens bleiben. Sein Hotelzimmer, wie der allwissende Ich-Erzähler (eine auffallend untypische Narrativinstanz) berichtet, ist übrigens ganz gewöhnlich, »aber vom Fenster aus konnte man deutlich den See mit seiner Wolke und seiner Burg sehen, in einer reglosen und vollkommenen Wechselbeziehung des Glücks.«476 Trotzdem er473 Ebd., S. 810–811. 474 Schmid, Ulrich M.: Im Laboratorium des Meisters. In: Neue Zürcher Zeitung. 06. 06. 2015, Nr. 128, S. 60. 475 Urban, Thomas: Vladimir Nabokov – Blaue Abende in Berlin. Berlin: Propyläen 1999, S. 151. 476 Nabokov, Vladimir: Stadtführer Berlin. Fünf Erzählungen. Stuttgart: Reclam 1985, S. 34.
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kennt der Protagonist, »daß hier, in diesem kleinen Zimmer mit dem Ausblick, der bis an den Rand der Tränen schön war, das Leben endlich sein würde, wie er sich immer gewünscht hätte.«477 Seinen Wunsch darf er aber nicht umsetzen, denn die Antwort des Reiseführers lautet: »Sie machen mit uns eine Vergnügungsreise. Morgen – sehen Sie auf Ihre Fahrkarte – werden Sie laut festgelegter Reiseroute mit uns nach Berlin zurückfahren. Es kommt gar nicht in Frage, daß jemand – in diesem Falle Sie – sich weigert, an dieser gemeinsamen Reise weiter teilzunehmen.«478 Eine andere Konfliktsituation entsteht, als während der Zugfahrt ein fröhliches Wanderlied von der gesamten Reisegesellschaft gesungen wird. Der Text dieses Liedes ist im Lichte des angedeuteten Ich-und-Wir-Konflikts durchaus repräsentativ: Spinne nicht, sei unverdrossen, Nimm den Knotenstock zur Hand, Such dir muntre Weggenossen Und durchstreife Feld und Land. Gras und Stoppeln untern Sohlen, Muntre Burschen um dich her: Sorgen soll der Teufel holen. Sei kein Eigenbrötler mehr! Es marschiert und schwitzt ein jeder, Und die Feldmaus stirbt und schreit. Kerle ganz aus Stahl und Leder In der Heideeinsamkeit.479
Das simple, inhaltlich scheinbar unbedeutende Reiselied bildet eine Art Hymne an denjenigen Kollektivgeist, das fröhlich-obligatorische Beisammensein, dessen dunkle Seite erst in der zweiten Hälfte der Kurzgeschichte in ihrer ganzen angriffslustigen Unbarmherzigkeit entlarvt wird. Im emotiven Zentrum des Liedtextes steht das beglückende, unreflektierte Gefühl der Zugehörigkeit. Schon im ersten Vierzeiler wird der Reisende dazu bewogen, sich »muntre Weggenossen« auszusuchen und erst danach sich auf den Weg zu machen. Dieses Motiv klingt im zweiten Vers mit erneuter Kraft wieder: »Muntre Burschen um dich her« sorgen für Gesellschaft, die sich an den potentiellen Individualisten mit dem Appell wendet: »Sei kein Eigenbrötler mehr!« Schließlich werden Eigensinn und Alleinsein im dritten und letzten Vers des Liedes vollkommen besiegt: »Es marschiert und schwitzt ein jeder«, heißt es im Text. Erwähnenswert ist, dass in der deutschen Übersetzung subtile, aber gut lesbare Anspielungen auf die da477 Ebd., S. 34. 478 Ebd., S. 35. 479 Ebd., S. 30.
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malige politische Situation viel radikaler als in Nabokovs Originalversion ertönen. Im russischsprachigen Text steht am Ende nämlich: »[…] вместе с солнцем, вместе с ветром, вместе с добрыми людьми«,480 was so viel heißt wie: »[…] zusammen mit der Sonne, zusammen mit dem Wind, zusammen mit guten Menschen.« Der Unterschied zwischen »guten Menschen« und »Kerlen ganz aus Stahl und Leder« spricht für sich selbst. Es ist allerdings interessant, wieso sich Nabokov für einen schlicht-besonnenen, jeglicher Symbolik baren Liedtext entschieden hat. Einerseits wollte er vielleicht derartig offensichtliche Parallelen, wie sie in der deutschen Übersetzung manifestiert werden, vermeiden. Andererseits könnte man aber annehmen, dass in seiner Vorstellung auch in einem anspruchs- und arglosen, ja beinahe romantischen Wanderlied bereits der latente böse Keim verborgen sei, und zwar gerade in jener pseudogesunden, unheilvollen Kollektivgeiststimmung. Im ersten, den russischen Jahren gewidmeten Teil seiner Nabokov-Biografie stempelt Brian Boyd diesen Text als Nabokovs »ersten direkten Angriff gegen das deutsche Wesen«481 ab und schreibt: »Bereits 1937 und 1938, unmittelbar nachdem er sich mit seiner Familie mit heiler Haut aus Nazideutschland hatte absetzen können, ging Nabokov mit dem Land, in dem er die letzten fünfzehn Jahre verbracht hatte, unbarmherzig ins Gericht.«482 In der grotesk-verstörenden Kurzgeschichte sieht Boyd »eine Art Fabel, die aus gutem Grund in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort angesiedelt war: Deutschland, 1936 oder 1937.«483 Ihren Inhalt fasst er folgendermaßen zusammen: »Nur weil er irgendwie anders ist, wird ein junger Emigrant, der eine Vergnügungsreise gewonnen hat, auf der Rückfahrt von den kernigen Deutschen verprügelt und mißhandelt.«484 Ähnlich wie in Nabokovs vorletztem russischem Roman Einladung zur Enthauptung, wird das bloße Anderssein des Protagonisten zu seinem einzigen »Verbrechen« und führt somit zu seinem Untergang. Wenn aber im Fall von Cincinnatus C. der sadistische Aspekt höchstens darin liegt, dass er trotz dringender Bitten nicht erfährt, wann genau die Enthauptung stattfinden soll, so kommt es in Wolke, Burg, See zu einer skurril-makabren, beinahe surrealistischen Prügelei mit unübersehbaren Anspielungen auf die Kreuzigung Jesu: »Sobald alle in den Wagen gestiegen waren und der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, fingen sie an, ihn zu schlagen – sie schlugen ihn lange und mit großer Erfindungsgabe. Es fiel ihnen unter anderem ein, einen Korkenzieher an seinen 480 Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Полное собрание рассказов. (Gesammelte Kurzgeschichten). Moskau: Azbuka 2013, S. 441. 481 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899–1940. Reinbek bei Hamurg: Rowohlt Verlag 1999, S. 792. 482 Ebd. 483 Ebd., S. 705. 484 Ebd.
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Handflächen zu probieren; dann an seinen Füßen.«485 Allerdings schlägt Boyd mehrere Interpretationsmöglichkeiten vor. Die Geschichte könnte seiner Meinung nach »als vernichtendes Urteil über die Deutschen, die Hitler gewählt hatten, als gezielte Kritik an dem ›Kraft durch Freude‹-Programm der Nazis, […] als Darstellung der Unvereinbarkeit des Wunsches, auf seine eigene Weise glücklich zu sein, und der Grausamkeit, anderen die eigene Glücksvorstellung aufzuzwingen«486 verstanden werden. Unabhängig davon, für welche Lesart man sich entscheidet, steht der in Nabokovs Werk stets präsente Ich-Wir-Konflikt im semantischen Zentrum des Textes. Dass sich hinter der Wir-Maske diesmal die nationalsozialistische Gemeinschaftsideologie versteckt, mag unstrittig sein. Wichtiger scheint jedoch die abstruse, mit Absicht verzerrte Schilderung des Kollektiv-Banalen, aus dem schließlich das Bestialisch-Böse entsteht. Was mit dem harmlosen Wunsch anfängt, einen mitreisenden, aber alleinstehenden Fremdling zum gemeinsamen Singen zu ermuntern, endet in sadistischer Misshandlung. Diese exzessive Freveltat bildet jedoch einen zwar unerwarteten, aber spontanen, nichtorganisierten Gewaltausbruch, dessen totalitärer Hintergrund sich einzig aus dem Integrationsdruck ableiten lässt, welcher auf den Einzelnen von der Gruppe ausgeübt wird. Zweifelsohne hat man hier mit einer expliziten Figuration des Bösen zu tun.
2.2.3 Literatur und Philosophie vs. Staat und Diktatur in Das Bastardzeichen Das rein totalitäre, systematisch eingesetzte und institutionalisierte Böse wird allerdings nicht in Wolke, Burg, See, sondern in zwei Romanen thematisiert, deren unübersehbare Gemeinsamkeiten (sowohl stilistische als auch semantische) in der Forschung mehrmals betont wurden, nicht zuletzt wegen des für Nabokov eher untypischen soziopolitischen Kontexts: Sein sechster russischer Roman, Einladung zur Enthauptung, und sein zweiter englischer Roman, Das Bastardzeichen, sprengen diesen selbst gesetzten Rahmen des Apolitischen insofern, als sie Protagonisten schildern, die der Unterdrückung durch ein nicht auf ein bestimmtes Land festgelegtes totalitäres Regime ausgeliefert sind. Im Unterschied zu anderen Romanen […] befassen sich diese beiden Werke direkter mit dem Konflikt zwischen einem Nabokovschen Individuum und einer auf Gleichmacherei und Abstumpfung ausgerichteten gesellschaftlichen Ideologie.487
485 Nabokov, Vladimir: Stadtführer Berlin. Fünf Erzählungen. Stuttgart: Reclam 1985, S. 35–36. 486 Ebd., S. 706. 487 Balestrini, Nassim W.: Vladimirs Nabokovs Erzählwerk. Eine Einführung. München – Berlin: Verlag Otto Sagner 2009, S. 74–75.
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Interessant sind allein schon die Entstehungs- und Veröffentlichungsdaten. Die russischsprachige Einladung zur Enthauptung (Приглашение на казнь) wurde 1935–1936 in der russischen Literaturzeitschrift Современные Записки (Zeitgenössische Notizen) als Fortsetzungsroman publiziert und erschien als Einzelausgabe 1938, d. h. kurz vor Kriegsbeginn, im Pariser Verlag Дом Книги (Haus des Buches). Das war das vorletzte Buch, das Nabokov auf Russisch geschrieben hat. Das Bastardzeichen (Bend Sinister) war Nabokovs zweiter englischsprachiger Roman, der 1947, drei Jahre nach Kriegsende, in den USA veröffentlicht wurde. Beide Texte könnte man als Antiutopien bezeichnen, obwohl jegliche Parallelen zu Orwell, Huxley oder sogar Jewgeni Samjatin hier kaum behilflich wären. Für Nabokov ist die Antiutopie an sich (wie auch jedes andere Genre) eher unbedeutend. Die erwähnten Romane sind daher zwar antiutopisch in dem Sinne, dass die Handlung in einer unbestimmten Zukunft bzw. Parallelwelt (Das Bastardzeichen) unter totalitärer Herrschaft spielt, aber politische bzw. gesellschaftskritische Untertöne werden hier (besonders in der Einladung zur Enthauptung) vorsätzlich marginalisiert. In diesem Sinne hatte Wladislaw Chodassewitsch (den Nabokov, nebenbei bemerkt, für den begabtesten russischen Dichter seiner Generation hielt488) Recht, als er in einer Rezension zu Einladung zur Enthauptung schrieb, das Antiutopische im Roman gehöre nicht zu dessen Stärken, denn für eine düstere Voraussage sei der Text zu grotesk und realitätsfern.489 Nabokovs Ziel bestand aber nicht darin, die Leserschaft (geschweige denn »die Welt«) vor irgendetwas zu warnen oder eine realitätsnahe Zukunftsvision zu schildern. Prophetisch-didaktische Funktionen des Schriftstellers lehnte er demonstrativ ab, unter anderem auch im Vorwort zum Bastardzeichen: »Ich habe mich nie für ›gesellschaftskritische‹ Literatur interessiert […]. Ich bin kein Didaktizist und kein Allegorisateur. Politik und Ökonomie, Atombomben, […] die Zukunft der Menschheit und so fort sind mir egal.«490 Andererseits zitiert Dieter Zimmer in der Nachbemerkung zur deutschen Übersetzung des Romans den Brief von Vera Nabokov an den Oberst Joseph I. Greene vom Infanty Journal in Washington, wo es steht: »Mein Mann hofft, dass sein Buch beim Re-education-Programm der Regierung von Nutzen sein kann […]«.491 Allerdings fügt Nabokovs Frau gleich danach hinzu: »[…] obwohl wir so, wie wir die Deutschen kennen, einige Zweifel daran hegen, dass sie einer Umerziehung zugänglich sind.«492 Das Wichtigste kommt aber in den nächsten Sätzen des Briefes:
488 Vgl. Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 343. 489 Siehe in: Melnikow, Nikolai (Мельников, Николай) (Hg.): Классик без ретуши, S. 139. 490 Nabokov, Vladimir: Das Bastardzeichen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1987, S. 322–323. 491 Ebd., S. 333. 492 Ebd.
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An dieser Stelle hält mein Mann es für unerlässlich, Ihnen folgende Überlegungen vorzutragen: Eins der Hauptthemen von Bend Sinister ist die durchaus emphatische Anklage gegen eine Diktatur – jede Diktatur, und obwohl die im Buch tatsächlich geschilderte Diktatur imaginär ist, weist sie dennoch absichtlich Merkmale auf, die (a) dem Nazismus, (b) dem Kommunismus, (c) jedem diktatorischen Trend auch in einer ansonsten nicht diktatorischen Gesellschaftsordnung eigen sind. […] Das sollte bei der Wahl eines deutschen Übersetzers bedacht werden.493
Einerseits könnte man dasselbe über diejenige Gesellschaftsordnung behaupten, welche in Einladung zur Enthauptung geschildert wird, einem Roman, den Christopher Hüllen »als Auseinandersetzung mit dem Faschismus«494 betrachtet (obschon die Handlung zwar in einer abstrakten Zukunft, aber eindeutig in Russland spielt). Andererseits werden die ideologischen Grundlagen des herrschenden politischen Systems kaum thematisiert. Der Leser erfährt nur, dass die »Transparenz«495 in dieser bizarren neuen Wirklichkeit rechtswirksame Allgemeinpflicht ist, wogegen die »Opazität«496, d. h. mangelnde Durchsichtigkeit, zum schwersten Verbrechen erklärt und mit höchster Vergeltungsmaßnahme (der titelgebenden Enthauptung) bestraft wird. Darüber hinaus ließe sich das im Roman skizzierte Milieu als ein ad absurdum geführtes Bild künftiger Konsumgesellschaft bezeichnen. Die bitterböse Groteske gipfelt in der Rede des Stadtverwalters einige Minuten vor der öffentlichen Hinrichtung des Protagonisten: »Ich möchte auch bekanntgeben, daß übermorgen auf dem Ersten Boulevard Ecke Brigadierstraße eine Möbelausstellung eröffnet wird, und ich hoffe aufrichtig, Sie alle dort sehen zu können.«497 Das Bastardzeichen entwirft dagegen eine Welt – das dystopische Reich Padukgrad – deren nationale Attribute zwar nicht konkretisiert werden; desto genauer und systematisierter sind aber die ideologischen, ja gerade philosophischen Grundzüge der im Buch dargestellten Diktatur pointiert. Die geltende politische und soziale Ordnung beruht nämlich auf dem philosophischen System von Fradrik Skotoma – einem unglaublich naiven und oberflächlichen Denker, dessen Nachname unüberhörbare Assoziationen mit dem russischen Wort »скот«, d. h. »Vieh«, hervorruft. Im Text werden Skotomas Hauptideen folgendermaßen zusammengefasst: Seine neuergrübelte Weltanschauung drückte er mit jener Feierlichkeit aus, die einer ungeheuren Entdeckung ziemt. In jedem beliebigen Augenblick der Weltzeit, sagte er, 493 Ebd., S. 333–334. 494 Hüllen, Christopher: Der Tod im Werk Vladimir Nabokovs. Terra Incognita. München: Verlag Otto Sagner in Kommission 1990, S. 64. 495 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999, S. 23. 496 Ebd. 497 Ebd., S. 250.
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sei ein gewisses, errechenbares Maß menschlicher Bewußtheit auf die Weltbevölkerung verteilt. Die Verteilung sei ungleichmäßig, und darin liege die Wurzel aller Übel. Die Menschen seien nichts als Gefäße, die jeweils ungleiche Mengen dieser qualitativ gleichartigen Bewusstheit enthielten. Es wäre jedoch durchaus möglich, so behauptete er, ihre Aufnahmefähigkeit zu regulieren. […] Er führte den Gedanken des ›Gleichgewichts‹ als Grundlage allgemeiner Glückseligkeit ein und nannte seine Theorie ›Ekwilismus‹.498
In keinem anderen Text hat Nabokov die weltanschaulichen Prinzipien, nach denen ein (fiktiver) totalitärer Staat funktioniert, so eingehend und detailliert ausgelegt. Und ausgerechnet diesem Buch hat Vera Nabokov im oben zitierten Brief an Joseph Greene nicht nur pädagogisches Potenzial zugeschrieben, sondern sie bestand gar darauf, dass ihr Mann der Meinung war, ausgerechnet dieser Roman könnte ein nützlicher Beitrag zum Umerziehungsprogramm im Nachkriegsdeutschland werden. Daraus (und insbesondere aus weiterfolgenden Anmerkungen über Nazismus und Kommunismus) könnte man schließen, dass Das Bastardzeichen – trotz dringender antipolitischer Beteuerungen, die der Autor im Vorwort macht – doch eine beachtenswerte Ausnahme in Nabokovs Gesamtwerk bildet, wenn es um die Auseinandersetzung mit der Essenz des Totalitären (und somit des Bösen) geht. Interessanterweise wird dabei Skotoma vom auktorialen Erzähler nicht der auf seiner Philosophie beruhenden Gesellschaftsordnung beschuldigt: Es ist wichtig festzustellen, dass der Verfasser zwar anregte, die Menschen auf einen wohlausgeglichenen Zustand hin umzuformen, dass er aber klugerweise sowohl unterließ, die Art und Weise anzugeben, in der das in der Praxis zu geschehen hätte, als auch den Menschen oder den Menschenschlag zu definieren, der das Unternehmen planen und leiten sollte. […] Er starb bald nach dem Erscheinen seiner Abhandlung, sodass ihm die Unannehmlichkeit erspart blieb, seinen vagen und gutwilligen Ekwilismus (unter dem gleichen Namen) in eine gewalttätige, bösartige politische Lehre verwandelt zu sehen, die es sich zum Ziel gemacht hatte, seiner Heimat mit Hilfe des am stärksten normierten Teils ihrer Einwohner, nämlich der Armee, und unter der Aufsicht eines aufgeschwollenen und gefährlich vergötzten Staatsapparats geistige Gleichförmigkeit aufzuzwingen.499
Die Parallelen zu Marxismus sowie anderen links- und rechtsradikalen Tendenzen der Epoche liegen hier selbstverständlich auf der Hand. Als Philosoph (wenn auch ein äußerst primitiver Philosoph) musste Skotoma wenigstens zugeben, dass seine Ideen nicht dazu geeignet waren, ins Leben umgesetzt zu werden bzw. nicht zu diesem Zweck formuliert wurden. Der von ihm angestrebte »Ekwilismus« wies eher auf einen Idealzustand des menschlichen Bewusstseins 498 Nabokov, Vladimir: Das Bastardzeichen. 3. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2017, S. 105. 499 Ebd., S. 106–107.
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hin und sollte daher von jedem einzelnen Menschen zunächst begriffen und reflektiert werden und erst danach die gesamte Menschheit ergreifen. Jegliche von außen aufgedrängte Gewalt wäre in Skotomas Denksystem undenkbar. Es ist aber auch nicht so – wenigstens nicht bei Nabokov – dass jede beliebige Philosophie in eine »bösartige politische Lehre verwandelt« werden könnte. Nicht zufällig werden die Ideen von Skotoma sowohl »gutwillig« als auch »vage« (mit anderen Worten: banal) genannt. Die Tatsache, dass er für ein bestimmtes Allgemeingut plädiert und dabei keine totalitären Ansprüche verfolgt, bedeutet noch bei weitem nicht, Skotomas Philosophie sei mit ihrer späten soziopolitischen Entartung kaum verwandt. Im Gegenteil: Es gibt zwar keinen intentionalen Zusammenhang zwischen dem »vagen« Denker und der »gewalttätigen« Diktatur Paduks (so heißt nämlich der Herrscher von Padukgrad), aber auf der rein ideellen, philosophischen Ebene sind sie miteinander aufs Engste verbunden. Das Schlüsselwort ist dabei wiederum das verhängnisvolle Wir-Konzept, die von der Obrigkeit postulierte und sanktionierte Überlegenheit der Gemeinschaft dem Individuum gegenüber. Das Gegenstück zu Skotoma bildet die Hauptfigur des Romans Adam Krug, ebenfalls ein Philosoph. Während aber Skotomas Ansichten sehr präzise aufgezeichnet werden, so wird im Roman über Krugs Philosophie (im Sinne eines geschlossenen Denksystems) beinahe gar nichts berichtet. Es steht im Text sogar: »Zwar pflegte man ihn einen der hervorragendsten Philosophen seiner Zeit zu nennen, doch er wusste, dass niemand die Züge seiner Philosophie genau definieren konnte oder auch nur zu sagen wusste, was ›hervorragend‹ und ›seine Zeit‹ heißen sollte […].«500 Adam Krug ist also ein absoluter Außenseiter, der sogar in den Schriften seiner angeblichen »Schüler« nichts zu finden vermag, »was dem Stil und Charakter seines Denkens […] nur im entferntesten entsprach.«501 Äußerst markant ist auch die darauf folgende Bemerkung des Erzählers: Etwas Ähnliches muss in Romanen passieren, wenn der Autor und seine positiven Figuren vom Helden behaupten, er sei ein ›großer Künstler‹ oder ›großer Dichter‹, ohne dafür irgendwelche Beweise beizubringen (Reproduktionen seiner Gemälde, Beispiele für seine Dichtungen); ja, sie hüten sich vor solchen Beweisen, denn jeder Beweis müsste mit Sicherheit hinter den Erwartungen und Vorstellungen des Lesers zurückbleiben.502
Einem bewanderten Nabokov-Leser wird gleich klar, dass diese Stelle autoreferentiell zu verstehen ist, d. h., sie bezieht sich unmittelbar auf den vorliegenden Text. Es fällt dem Autor also gerade deshalb so schwer, Krugs Philosophie darzustellen, weil der Protagonist – im Gegensatz zu Skotoma – kein durchschnittlicher, sondern ein genialer Denker ist. Jeglicher Versuch, sein Ideengut 500 Ebd., S. 230. 501 Ebd. 502 Ebd.
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systematisch zu erfassen oder mit kurzen Beispielszitaten zu illustrieren, würde diese Philosophie ihrer persönlichen Tiefe, ihres einzigartigen Eigensinns berauben. Daher wäre es sinnvoll, eine der wenigen Romanpassagen, wo Krugs Gedankenwelt besser als an anderen Stellen beleuchtet wird, etwas näher zu betrachten und mit Skotomas metaphysischen Überlegungen zu vergleichen. Es geht dabei um den Anfang vom Kapitel 14: Niemals hatte er sich auf die Suche nach der wahren Substanz eingelassen, dem Einen, Absoluten, dem Diamanten, der vom Weihnachtsbaum des Kosmos herabhängt. Er hatte es immer ein wenig lächerlich gefunden, wenn ein begrenzter Verstand durch die Gitterstäbe der ganzen Zahlen den Blick auf das schillernde Unsichtbare richtete. Und selbst wenn das Ding gefasst werden konnte, warum sollte er oder sonst jemand den Wunsch haben, das Phänomen seiner Locken, seiner Maske, seines Spiegels zu berauben und zum kahlköpfigen Noumenon zu machen?503
Dies ist natürlich keine strukturierte Weltanschauung, geschweige denn ein philosophisches System, wohl aber eine ganz konkrete, individuelle geistige Gesinnung, aus der sich einige bedeutende, ziemlich untypische Aspekte von Krugs Denk- und Lebensart schlussfolgern lassen. Es wird ja in der Regel stillschweigend angenommen, jeder Philosoph suche nach der Wahrheit, worunter oft absolute, metaphysische Wahrheit bzw. Gott (egal, ob mono- oder polytheistisch, persönlich oder transpersonal konzipiert) verstanden werde. Es wird selbstverständlich eine Ausnahme sowohl für den permanenten agnostischen Zweifel als auch für den ausgesprochenen Atheismus gemacht, wo die letztendliche Wahrheit nicht etwa mit dem göttlichen Ursprung des Seins, sondern mit rein wissenschaftlicher Wirklichkeitserkenntnis gleichgesetzt wird. Der Fall von Adam Krug scheint aber gerade deshalb so interessant und einmalig zu sein, weil die Hauptfigur von Bastardzeichen weder Atheist noch sogar Agnostiker ist. Krug zweifelt nicht daran, dass »das schillernd Unsichtbare« existiert. Was er allerdings in Frage stellt, ist die Notwendigkeit, ja die Möglichkeit, dieses »Ding« (dem man das Kantsche »an sich« hinzufügen möchte) mit dem begrenzten menschlichen Verstand zu begreifen. Krug geht aber einen Schritt weiter und fragt sich, welche Vorteile eine derartige Demaskierung – angenommen, sie wäre doch denkbar – mit sich bringen könnte. Als »Phänomen« ist das Absolute bzw. Göttliche, so Adam Krug, viel anziehender. Die unerkannte Wahrheit kann sich in jedem einzelnen freidenkenden Gemüt immer aufs Neue offenbaren. Ein erkanntes »Noumenon« wäre hingegen »kahlköpfig« und allzu offensichtlich, für alle Menschen gleich. Diese Einstellung bildet eine konträre Opposition zu den idealistisch-pragmatischen Vorsätzen von Fradrik Skotoma, dessen Denken auch einige bemerkenswerte metaphysische Elemente beinhaltet. Als Beweis
503 Ebd., S. 228.
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dafür könnte folgender Passus dienen, aus dem klar wird, dass der Begründer des Ekwilismus nicht nur um die irdischen Lebensbedingungen bzw. die soziale Ungerechtigkeit bekümmert war: Gewiss, auf ökonomischer Ebene wäre der Sozialismus für Gleichheit eingetreten, und die Religion hätte sie auf geistiger Ebene unbarmherzig als den unvermeidlichen Zustand jenseits des Grabes in Aussicht gestellt. Aber der Ökonom hätte übersehen, dass ein erfolgreiches Nivellieren des Besitzes weder möglich noch überhaupt von Belang war, solange es Menschen gab, die gescheiter oder tatkräftiger waren als der Rest; und ähnlich wäre dem Priester entgangen, wie überflüssig seine metaphysische Verheißung für alle jene Menschen sein musste (Männer vom bizarren Genie […], ungeheuer robuste und vielseitige Liebhaber, die strahlende Frau, die nach einem Ball die Halskette abnimmt), für die diese Welt schon ein Paradies ist und die immer um einen Punkt voraus wären, gleichgültig, was im Schmelztiegel der Ewigkeit mit den anderen geschähe. Und selbst wenn die Letzten die Ersten würden und umgekehrt, stelle man sich nur das herablassende Lächeln des einstigen William Shakespeare vor, wenn er mit ansieht, wie jemand, der früher hoffnungslos schlechte Stücke zusammenstoppelte, zum poeta laureatus des Himmels aufblüht.504
Hierin werden Skotomas eigentliche Intentionen in ihrer umfassenden Fülle erst sichtbar. Ökonomische bzw. soziale Ungleichheit kann, wenigstens theoretisch, irgendwann beinahe vollkommen beseitigt werden. Auch im Angesicht des für jeden Menschen unumgänglichen Todes sind ja alle Individuen gleich, weil jedes von ihnen – begabt oder talentlos, einfältig oder intelligent – sterben muss. Was Skotomas Denken jedoch belästigt, ist das jenseitige Schicksal menschlicher Seelen, deren ontologische Divergenz auch nach dem physischen Tod ihrer Körper beibehalten bleibt. Der evangelische »Trost«, nach dem die Letzen die Ersten werden, klingt für Skotoma unglaubwürdig, denn die ursprüngliche, fundamentale Ungleichheit könne dadurch weder bekämpft noch annulliert werden. Seine »ekwilistische« Lehre lässt sich demnach als eine Art »metaphysischer Sozialismus« gedeutet werden, welcher die marxistische Idee von der ungleichen Verteilung materieller Güter auf das geistige Kapital im Jenseits transponiert. Da aber eine solche spirituelle Gleichheit sogar für Skotoma ein eher unerreichbares Ideal blieb, ist diejenige soziopolitische Ordnung, die aus dem Ideengut des Ekwilismus unter der Regierung von Paduk hergeleitet wurde, überwiegend diesseitig orientiert. In einem »naiven Volkslied«505, welches in das »ekwilistische Repertoire«506 aufgenommen wurde, heißt es: »[…] kein Musikant ohne Orchester/ keine Welle ohne Meer/ und kein Leben ohne Tod.«507 Der Tod wird somit als etwas nicht nur Natürliches, sondern – mehr noch – Gerechtes und 504 505 506 507
Ebd., S. 105–106. Ebd., S. 108. Ebd. Ebd.
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daher Willkommenes angesehen. Was dagegen das eventuelle »Leben nach dem Tod« betrifft, so wird diese Möglichkeit überhaupt nicht thematisiert, denn, während der (materialistisch begriffene) Tod den Menschen entpersonalisiert, ist die ( jenseitige) Unsterblichkeit eher ein Antonym von Gleichheit, da derjenige »Rest«, welcher nach dem Körpertod in die Ewigkeit übergeht, ausgerechnet persönlich und nicht etwa »gemeinschaftlich« konzipiert ist. Aus dieser Perspektive enthält folgende Beschreibung der populären Comic-Serie, die in einer Padukgrad-Zeitung regelmäßig publiziert wird, wesentlich mehr als eine treffsichere Satire auf konsumorientierte, geistlose Gesellschaft: In jenen Tagen veröffentlichte eine penetrant bürgerliche Zeitung eine Serie von Karikaturen, die das Privatleben von Herrn und Frau Etermon (Jedermann) schilderte. Mit einfallslosem Humor und einer Sympathie, die ans Obszöne grenzte, folgte man Herrn Etermon und seiner Ehehälfte aus der guten Stube in die Küche und vom Dachboden in den Garten durch alle erwähnbaren Stadien ihres Alltagslebens, das sich trotz des Vorhandenseins komfortabler Sessel, aller möglichen elektrischen Gerätschaften und eines Dinges-an-sich (eines Autos) nicht wesentlich von dem eines Neandertalpärchens unterschied. Herr Etermon […] stellte, ohne es zu wissen, eine wandelnde Widerlegung individueller Unsterblichkeit dar, denn sein ganzes Wesen war eine Sackgasse, in der sich nichts befand, was imstande oder auch nur wert war, über die Sterblichkeit hinauszugelangen. Ebenso wenig jedoch konnte man sich vorstellen, dass Etermon tatsächlich starb, […] weil […] in dem Rahmen, in dem sich das Ganze abspielte, nichts, gar nichts […] an die Tatsache erinnerte, dass der Tod etwas absolut Unvermeidliches ist […].508
Beide Elemente der in Padukgrad herrschenden ›Popkultur‹ – sowohl das obenerwähnte Volkslied als auch die einfallslos-obszönen Jedermann-Karikaturen – sind hinsichtlich der von Nabokov postulierten Banalität des Bösen (und deren metaphysischer Dimension) sehr bedeutend. Die totalitäre Vorherrschaft des Allgemeinen über das Individuelle wird im Lied auf lyrisch-melancholische, in der Comic-Serie dagegen auf komisch-familiäre Art und Weise verkündigt. Anders sieht es aber mit dem Tod aus. Fordert der Text des Volksliedes eine bis ans Lebensende reichende Gleichheit, die schließlich ins allverpflichtende Sterbegesetz mündet, so ist in der amüsanten, technisch hochentwickelten und sorglosen Jedermann-Welt der Todesgedanke ein eher unbekannter Gast. Das Bewusstsein der Unvermeidbarkeit des Todes wird durch die möglichst komfortable und zugleich völlig geistlose Hier-und-Jetzt-Existenz verdrängt. Das Geistig-Philosophische (»Ding-an-sich«) entartet zum Materiell-Pragmatischen (»ein Auto«). Die Welt um den Menschen herum wird weder studiert bzw. erkannt noch gar bewundert, sondern gierig in Besitz genommen und gewohnheitsmäßig benutzt. Eine Reflexion über die Tatsache, dass Jedermanns Leben 508 Ebd.
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einmal endet, könnte den Rezipienten zum Gedanken über den eigenen Tod bringen – und somit das Individuelle an ihm erwecken, was eine direkte Gefahr für die existierende Gesellschaftsordnung bilden würde. Wieso wurde dann das Volkslied mit den finalen Worten »und kein Leben ohne Tod« in das »ekwilistische Repertoire« doch aufgenommen? Die Antwort auf diese Frage ist plausibel. Im Liedtext wird nämlich von keinem konkret-persönlichen, sondern von einem abstrakt-universalen Tod gesprochen. Leben und Tod werden hier metaphorisch aufgefasst, genauso wie Welle und Meer, Musiker und Orchester usw. Herr Etermon/Jedermann (dessen Name übrigens an Hugo von Hofmannsthals Drama Jedermann erinnert509) ist jedoch, abgesehen von seiner geläufigen Anspruchslosigkeit, eine zwar fiktive, aber immerhin erkennbare, populäre und beliebte Figur. Etermons/Jedermanns potenzieller Tod würde seiner tagtäglichen Existenz diejenigen individuellen Züge verleihen, deren Vorhandensein im ontologischen Widerspruch zum Banal-Bösen steht. Außerdem ist sein von allen möglichen Zivilisationswundern umgebenes, aber trotzdem innerlich leeres, animalisches Leben, streng genommen, ein Synonym des Todes.
2.2.4 Hannah Arendts und Vladimir Nabokovs Visionen des Totalitären Das geist- und willenlose, rein automatische Existieren von Etermon/Jedermann bildet eine Art Musterbeispiel für einen perfekten Durchschnittsbürger eines totalitären Staates. Perfekt ist ein solcher Bürger zum Großteil wegen dessen Individualitätslosigkeit, denn diese Letztere setzt auch geringes bzw. gar fehlendes Unterscheidungsvermögen, wenn es um Gut und Böse geht, voraus. In ihren Vorlesungen Über das Böse schreibt Hannah Arendt: In der Moral geht es um das Individuum in seiner Einzigartigkeit. Das Kriterium von Recht und Unrecht, die Antwort auf die Frage: Was soll ich tun?, hängt in letzter Instanz weder von Gewohnheiten und Sitten ab, die ich mit Anderen […] teile, noch von einem Befehl göttlichen oder menschlichen Ursprungs, sondern davon, was ich im Hinblick auf mich selbst entscheide. Mit anderen Worten: Bestimmte Dinge kann ich nicht tun, weil ich danach nicht mehr in der Lage sein würde, mit mir selbst zurechtzukommen.510
Um das jedoch nachvollziehen zu können, muss man dieses ›Selbst‹ in sich erstmals finden bzw. erkennen. Was aber, wenn dieses einzigartige, zu Entscheidungen und Verantwortung fähige ›Selbst‹ nicht vorhanden ist? Das oben angesprochene Problem des inneren Zurechtkommens wird in diesem Fall kaum auftauchen. Die von Arendt in den Mittelpunkt gestellte Frage »Was soll ich tun?« taucht bei einem Etermon/Jedermann gar nicht auf, weil es in dieser Situation 509 Hofnmanstal, Hugo von: Jedermann. Frankfurt am Main: Fischer 1962. 510 Arendt, Hannah: Über das Böse. München: Piper 2015, S. 81.
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kein eigentliches Ich gibt. Weder Eichmann (oder den großen Diktatoren, seien es nun Hitler oder Stalin) noch denjenigen Mitläufern, welche das langjährige Funktionieren totalitärer Regimes stillschweigend unterstützten und somit ermöglichten, ist diese, philosophisch gesehen, zentrale Aufgabe des menschlichen Lebens gelungen. Diese im Sumpf des Unreflektierten versunkene Ich-Losigkeit macht einen gewaltsamen, ideologisch geblendeten Machthaber bzw. Revolutionär mit einem einfallslosen, geldgierigen Schurken aus Nabokovs Antikrimis verwandt. Dasjenige kollektive Schein-Ich, das die menschliche Persönlichkeit verdrängt, muss sich nicht fragen, was es tun soll, denn sämtliche Impulse zum Handeln – ob in Form einer Erlaubnis oder eines Befehls – kommen stets von außen und sind bereits eindeutig formuliert. Schon am Anfang von Arendts Vorlesungen stellt sie ihre Hörer bzw. Leser vor das folgende Dilemma: Entweder stehen hinter den moralischen Problemen »jene Fragen, die individuelles Betragen und Verhalten betreffen«511, oder sie seien lediglich »ein Kanon von […] Sitten und Manieren […], der gegen einen anderen ausgetauscht werden konnte, ohne daß das mehr Mühe gekostet hätte, als die Tischmanieren eines Einzelnen oder eines ganzen Volkes zu verändern.«512 Arendt gibt keine absolute, kontextlose Antwort. Einerseits verweist sie, am einfachen Beispiel vom Gerichtssaal, auf die Unumgänglichkeit individueller Schuld- und Verantwortungsauffassung.513 Andererseits stellt sie jedoch fest, dass traditionelle Vorstellungen von Gut und Böse, Moral und Verbrechen spätestens nach den Holocaust-Erfahrungen nicht weiter gelten können, denn das, was im Dritten Reich unter der Nazi-Regierung zum soziopolitischen Alltag, ja zur verpflichtenden Norm gehörte, entzieht sich nicht nur dem gewöhnlichen Verständnis, sondern auch jeglicher ethischer Bewertung nach üblichen moralischen Kriterien. Als zweites ›Musterexemplar‹ eines totalen ethischen Niedergangs nennt Arendt das sowjetische Stalin-Regime, obwohl mit einer Randbemerkung, die in Bezug auf Nabokov besonders signifikant ist: Wir […] haben in den 1930er und 1940er Jahren den totalen Zusammenbruch aller geltenden moralischen Normen im öffentlichen und privaten Leben miterlebt, nicht nur […] in Hitlers Deutschland, sondern auch in Stalins Rußland. Die Unterschiede zwischen beiden allerdings sind signifikant genug, um erwähnt zu werden. […] Von einem streng moralischen Standpunkt aus waren Stalins Verbrechen sozusagen altmodisch. Wie ein gewöhnlicher Verbrecher hat er sie niemals zugegeben, sondern mit einer Wolke aus Heuchelei und Doppelzüngigkeit umgeben, während seine Gefolgsleute sie als temporäre Mittel im Verfolg der ›guten Sache‹ rechtfertigten […]. In dieser Hinsicht sind die deutschen Entwicklungen viel extremer und vielleicht auch enthüllender. […]. Mit Blick auf die Tatsachen, glaube ich, ist es gerechtfertigt zu behaupten, daß das Nazi511 Ebd., S. 10. 512 Ebd., S. 11. 513 Vgl. ebd., S. 21.
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Regime moralisch, nicht gesellschaftlich, extremer gewesen ist als das Stalin-Regime in seiner schlimmsten Gestalt. Das Nazi-Regime hat in der Tat einen neuen Wertekanon angekündigt und ein ihm entsprechendes Rechtssystem eingeführt.514
Arendt zeigt sich hierin als eine scharfe Beobachterin politischer Realität bzw. eine dekonstruktiv eingestellte Moralphilosophin. Für Nabokov, mit seiner ausgesprochen ästhetischen Weltempfindung, waren dagegen die soziopolitischen Unterschiede zwischen Hitlers Deutschland und Stalins Sowjetunion weniger relevant als diejenigen primären Ähnlichkeiten, welche jedem totalitären System eigen sind und weder Recht noch Staat betreffen, sondern das Verhältnis der Machthaber zur kreativen Freiheit des Einzelnen. Daher lenkt Nabokov in der Einführung zu seinen Vorlesungen über die russische Literatur die Aufmerksamkeit der amerikanischen Studenten auf unübersehbare ideologische Parallelen, indem er Alfred Rosenbergs und Wladimir Lenins Aussagen zu der Rolle des Künstlers in der Gesellschaft nebeneinanderstellt: It is interesting to ponder the fact that there is no real difference between what the Western Fascists wanted of literature and what the Bolsheviks want. Let me quote: »The personality of the artist should develop freely and without restraint. One thing, however, we demand: acknowledgement of our creed.« Thus spoke one of the big Nazis, Dr. Rosenberg, Minister of Culture in Hitler’s Germany. Another quotation: »Every artist has the right to create freely; but we, Communists, must guide him according to plan.« Thus spoke Lenin. Both of these are textual quotations, and their similitude would have been highly diverting had not the whole thing been so very sad.515
Auf die enge geistige Verwandtschaft von Kommunismus uns Nationalsozialismus hat Nabokov auch in seinen Interviews und Essays sowie in einigen Werken (obschon viel seltener und eher diskret) hingewiesen. Der Drang danach, die UdSSR mit dem Dritten Reich konsequent zu vergleichen, wurde vor allem nach der Übersiedlung in die USA intensiv. Dies könnte man, abgesehen von der bereits erwähnten Spezifik von Nabokovs Kunst- und Wertesystem, am ehesten durch folgende treffende Bemerkung von Brian Boyd erklären: Im streng linksorientierten intellektuellen Klima der Vereinigten Staaten der dreißiger Jahre gab es innerhalb der Intelligenzija nur wenige, die von den Greueln des sowjetischen Lebens – wenn auch längst nicht von seiner blutigen Wahrheit – eine […] klare Vorstellung hatten […]. Stalin hatte, indem er sich als einzigen Widersacher des Faschismus präsentiert, die internationale Meinung so erfolgreich manipuliert, daß Millionen von Amerikanern in den dreißiger Jahren bereit waren, sich der Sowjetunion allen Mängeln zum Trotz anzuschließen. Durch die Schauprozesse von 1937–1938 und den Pakt mit Hitler hatte er zwar die Unterstützung der amerikanischen Bevölkerung
514 Ebd., S. 14–15. 515 Nabokov, Vladimir: Lectures on Russian Literature, S. 7.
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verloren, doch ein Großteil der Intelligenzija billigte nach wie vor alles, was Stalin tat, und diffamierte jeden, der die Sowjetunion kritisierte.516
Es lag Nabokov also daran, die Ursprünge der sowjetischen Unfreiheit aufzuspüren, um die sowohl die amerikanischen als auch die europäischen Intellektuellenkreise beherrschenden Vorurteile abzubauen und zu beweisen, der stalinistische Terror »sei kein Verrat an Lenins Prinzipien, sondern der natürliche Erbe seines der totalen Staatskontrolle dienenden Apparats.«517 Einen eifrigen Versuch, die allerersten Quellen des russischen Totalitarismus zu bestimmen, trifft man schon in Nabokovs letztem russischsprachigem Roman Die Gabe, dessen Protagonist über dasselbe Thema nachdenkt: Plötzlich verspürte er einen schmerzhaften Stich – warum war in Rußland alles so erbärmlich, so verdrießlich und grau geworden, wie hatte es sich so betören und übertölpeln lassen können? Oder hatte der alte Drang ›zum Licht‹ einen verhängnisvollen Makel verborgen, der mit fortschreitender Entwicklung auf das Ziel zu deutlicher geworden war, bis sich herausstellte, daß dieses ›Licht‹ im Fenster eines Gefängnisaufsehers brannte und weiter nichts? Wann war zwischen dem Zunehmen des Durstes und der Verschmutzung der Quelle plötzlich diese seltsame Abhängigkeit entstanden?518
Die Fragestellung, die in der zitierten Passage formuliert wird, ist ganz entscheidend, denn es wird darin suggeriert, es könnte eine (wenn auch potenzielle) Verbundenheit bestehen zwischen zwei Elementen russischer soziokultureller Realität, welche üblicherweise als konträr betrachtet werden. Es geht dabei um den reaktionären monarchistischen Absolutismus und die revolutionären Aufklärungstendenzen des 19. Jh. Das russische Wort für »Aufklärung« lautet nämlich »просвещение« und stammt von »свет«, d. h. »Licht«. Letzteres entpuppt sich jedoch als ›Scheinlicht‹, das – wie es sich herausstellt – im Fenster des Gefängnisaufsehers brennt. Das kann man als Sammelmetapher für sämtliche sozial und politisch engagierten Autoren und Kritiker (Wissarion Bielinski, Nikolai Tschernyschewski, Dmitrij Pissarew) verstehen, die von einem Schriftsteller oder Dichter in gewissem Sinne dasselbe verlangten, worauf auch in Lenins und Rosenbergs Aufrufen insistiert wird: Die Aufgabe der Kunst bestehe darin, einer konkreten, klar artikulierten Idee zu dienen, die ihrerseits zur Umgestaltung herrschender gesellschaftlicher Ordnung sowie ungerechter Machtverhältnisse führen soll (in Deutschland waren komparable Entwicklungslinien für die »neue
516 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die amerikanischen Jahre 1940–1977. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag GmbH 2005, S. 34–35. 517 Ebd., S. 36. 518 Nabokov, Vladimir: Die Gabe, S. 285.
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Literatur« des Vormärz charakteristisch519). Fing also die globale Massenversklavung, die als unmittelbare Nachwirkung bolschewistischer Revolution folgte, mit einem ›gutgemeinten‹, individualistisch gestimmten Widerstand gegen die absolutistische Willkür an? – So lautet die Frage, welche sich die Hauptfigur der Gabe stellt. Nicht zufällig wird hier von einem »verhängnisvollen Makel«, gesprochen, d. h. einem ursprünglichen, rein ideellen und nicht etwa soziopolitischen Denkfehler. In Das Bastardzeichen bekommt diese Annahme eine weitere Bestätigung. Einerseits trägt Fradrik Skotoma keine unmittelbare Verantwortung dafür, wie seine Schriften und die Ekwilismus-Theorie von der totalitären Regierung des Padukgrads ausgenutzt wurden. Andererseits widerspricht die Bestrebung, das ganze Menschengeschlecht gleichzuschalten (und somit zu banalisieren), nicht nur dem natürlichen Lauf der Dinge, sondern in erster Linie dem Recht auf Freiheit und persönliche Entfaltung, die in jedem einzelnen Fall anders verläuft und oft überraschende, gar unvorstellbare Ergebnisse hat. Politisches Übel beginnt also mit einem philosophischen Missgriff. Interessanterweise erinnern Nabokovs Überlegungen zu diesem Thema an die Gedanken des von ihm unbeliebten Dostojewski, dessen berühmte Romane Schuld und Sühne und Die Dämonen gerade davon handeln, wie eine scheinbar harmlose oder sogar edle Idee bzw. eine fundierte Theorie zu Mord, Terror und Unterdrückung führen. Das Problem der Gut-Böse-Unterscheidung wird somit aus dem soziokulturellen Handelsraum in den individuellen Denk- und Gewissensraum transponiert. Private – und nicht etwa gesellschaftliche bzw. kollektive – Verantwortung für eine Missetat ist daher genauso unumgänglich, wie die individuelle Natur der Tugend oder die exzeptionelle Einzigartigkeit eines Genies. Auch für Arendt gehören das Gute und die Moral allgemein zur Privatsphäre des menschlichen Geistes bzw. Gewissens, obwohl man sich dabei in jener Denkdimension bewegt, wo Ethik und Recht unzertrennbar verbunden sind: »Rechtliche und moralische Fragen sind keineswegs gleichzusetzen, aber es ist ihnen gemeinsam, daß sie es mit Personen zu tun haben und nicht mit Systemen oder Organisationen.«520 Anders als Nabokov unterscheidet sie jedoch zwischen Einsamkeit und Isoliertheit. Während die Letztere, wie oben bereits erwähnt wurde, bei Arendt eindeutig negativ – im Sinne von Ausgeschlossenheit und Diskriminierung – geprägt wird, versteht sie Einsamkeit keineswegs als abgekapseltes Alleinsein eines selbstgenügsamen Demiurgen, sondern als eine Art nonverbales Gespräch bzw. ein intensiver innerer Kontakt mit sich selbst: Einsamkeit bedeutet, daß ich, obwohl allein, mit jemandem (das heißt, mir selbst) zusammen bin. Sie bedeutet, daß ich Zwei-in-Einem bin, wohingegen Verlassenheit und 519 Vgl. Rosenberg, Rainer: Verhandlungen des Literaturbegriffs: Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft. Berlin: de Gruyter 2003, S. 155. 520 Arendt, Hannah: Über das Böse, S. 21.
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Isoliertheit diese Art von Schisma, diese innere Zweiheit, in der ich mir selbst Fragen stellen und von mir Antworten erhalten kann, nicht kennen.521
Arendt geht es also darum, dass der Einzelne bzw. das Ich die Welt bzw. den Anderen niemals vernachlässigen oder ignorieren sollte. Es muss stets ein Dialog stattfinden, bei dem Meinungspluralität vorhanden sei. Nach Arendt ist dies auch in der Situation eines Selbstgesprächs möglich, allerdings unter der Bedingung, dass das Individuum, indem es eine bestimmte Meinung vertritt, auch eine Gegenposition zulassen und darüber reflektieren kann/will. Die Isoliertheit hingegen führt zur sogenannten ›negativen Einsamkeit‹, welche auf den Menschen sowie auf die Gesellschaft nicht produktiv, sondern im Gegenteil zerstörerisch wirkt. Um es mit der Autorin zu konkretisieren: »Das Wesen des Alleinseins, die ich Isoliertheit […] nannte, ereignet sich dann, wenn ich weder mit mir selbst zusammen noch in Gesellschaft mit Anderen bin, wenn ich mich vielmehr mit Weltdingen befasse.«522 In einem überraschenden und gleichzeitig signifikanten Aphorismus von Franz Kafka heißt es: »Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt.«523 Das Paradoxe liegt aber daran, dass diese Einstellung nur von einem Individuum vertreten werden kann. Kafkas Worte klingen viel persönlicher als der populäre Aufruf ›Sei einfach du selbst!‹, welchen man sowohl in fast jedem psychologischen Ratgeber als auch in mehreren Werbespots antreffen kann. Bei derartigen Slogans geht es eben vielmehr um das Banal-Kollektive, denn je eigensinniger und ausgereifter ein Individuum ist, desto besser weiß es, mit welchen Schwierigkeiten und Widersprüchen das eigentliche Sich-Selbst-Sein zusammenhängt. Sowohl Hannah Arendt als auch Vladimir Nabokov haben also die Idee geteilt, das Böse – egal, ob im historisch-politischen oder alltäglich-kriminellen Ausmaß – sei immer mittelmäßig, zweitrangig und somit nicht absolut. Beim näheren Blick lassen sich jedoch erhebliche Unterschiede feststellen, die sich auf die Quellen des Bösen beziehen. Da Arendt sich hauptsächlich mit der politischen Theorie und dem sozialen Ordnungssystem befasst, transponiert sie den Begriff des Bösen stets auf die Gesellschaftsstruktur. Sogar wenn es sich z. B. um die Analyse des Alten Testaments handelt, tendiert die Politphilosophin zur diskursiven Generalisierung des Kain-und-Abel-Mythos und sieht die tragische Geschichte zweier Brüder als eine Art politische Parabel dar, welche weit über das Private oder gar Religiöse hinausgeht: […] Kain erschlug Abel, Romulus erschlug Remus; Gewalt stand am Anfang, woraus zu folgen scheint, daß kein Anfang ohne Gewaltsamkeit möglich ist, daß jeder Neubeginn
521 Ebd., S. 82. 522 Ebd., S. 83. 523 https://www.zeit.de/1953/42/kafka-konnte-lachen/seite-2/ letzter Zugriff am 07. 05. 2018.
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etwas vergewaltigt. […] Die Legende sprach es klar aus: Am Anfang aller Brüderlichkeit steht der Brudermord, am Anfang aller politischen Ordnung steht das Verbrechen.524
Das Böse ist also nach Arendt zwar nicht absolut, aber durchaus ontologisch existent. Mehr noch: Es steht am Anfang sozialer bzw. politischer Ordnung und ermöglicht die Macht eines Menschen oder einer Menschengruppe über andere Menschen und Menschengruppen. Die Gewalt – und somit das Böse – gehört zur menschlichen Natur und ist in diesem Sinne ›normal‹. Die Gewaltlosigkeit – und somit das Gute – funktioniert dagegen nicht automatisch, sondern kann erst durch einen intensiven Denk- und Selbsterkenntnisprozess erlangt werden. Ohne diese innere Anstrengung, die nicht auf einer übergeordneten Autoritätsinstanz beruht, sei ein wahrlich ethisches Verhalten nicht möglich. In Arendts Vorlesungen Über das Böse heißt es: Freilich gab es schon einige Wenige, die vorher gewußt hatten, daß da mit dieser Annahme, moralische Gebote seien selbstverständlich, etwas nicht stimmte, und bezweifelten, daß ›Du sollst nicht falsch Zeugnis reden‹ je die gleiche Geltung beanspruchen könnte wie die Behauptung: Zwei und zwei ist vier.525
Dieser Gedanke scheint für die Denkerin eine besondere Bedeutung zu haben. Zehn Seiten später wiederholt Arendt mit derselben Exaktheit, dass »niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, weiterhin behaupten kann: Das Moralische versteht sich von selbst – eine Annahme, mit der die Generation, zu der ich gehöre, noch aufgewachsen ist.«526 Mit anderen Worten: So sehr uns das Böse irrational und normabweichend erscheinen mag, bedeutet dies noch bei weitem nicht, das Gute sei urschriftlich oder naturgemäß. Prädisponiert ist der Mensch eher zum Bösen als zum Guten; eher zum Mord, der aus rein animalischem Instinkt resultieren kann, als zum Mitleid, das wenigstens minimale Reflexion und Vorstellungskraft erfordert. Um das Böse in sich selbst zu bekämpfen, muss man es allererst erkennen, und zwar völlig individuell und unabhängig von sämtlichen äußeren Quellen, seien es alte Schriften oder der aktuelle ideologische Diskurs. Aus dieser Erkenntnis entspringt eben diejenige moralische Überlegenheit des Guten, die Arendt erlaubt, die Gewalt als »das Kennzeichen des Bösewichts«527 abzustempeln, den Gewaltverzicht dagegen auf den Gipfel geistiger Selbstentfaltung zu platzieren. Indem Arendt also dem Bösen jegliche Absolutheit verweigert, betrachtet sie es aus subjektiver humanistischer Perspektive.
524 525 526 527
Arendt, Hannah: Über die Revolution. München: Piper Verlag 1994, S. 21. Arendt, Hannah: Über das Böse, S. 11. Ebd., S. 26. Arendt, Hannah: Über die Revolution, S. 111.
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Für Nabokov hingegen ist das Gute ein objektiver Bestandteil, ja Fundament des Seins. ›Gut‹ ist nicht nur derjenige selbst- und moralbewusste Mensch, der in Einklang mit seinem Gewissen lebt, sondern die Welt an sich. Der inspirierte Künstler oder das verwunderte Kind flüchten nicht weg vor der abschreckenden Wirklichkeit in den träumerischen Innenraum, sondern sie erkennen vielmehr die wahre Lebensessenz in ihrer unbefleckten ontologischen Güte, frei von sämtlichen Totalitarismen und Kulturkatastrophen. Dies spielt eine entscheidende Rolle im Vergleich zu Arendts Ethik, die sich vor allem auf Toleranz und Solidarität in den zwischenmenschlichen Beziehungen stützt. Während bei Arendt das Gute, trotz allem Verfall naiver traditioneller Vorstellungen, stets mit dem Rationalen bzw. Vernünftigen einhergeht, fällt Nabokovs Einstellung einerseits wesentlich radikaler528, andererseits aber auch romantischer aus. In seiner Empfindung ist das Gute eindeutig irrationaler Natur, das Böse lässt sich dagegen durchaus vernünftig rechtfertigen. In seinem Essay The Art of Literature and Commonsense betrachtet Nabokov unter anderem die Frage, ob ein großes und mächtiges Volk sein kleineres und schwächeres Nachbarland überfallen dürfte, und kommt zur Schlussfolgerung, eine bejahende Antwort wäre ja völlig berechtigt, wenn man sich ausschließlich nach der rationalen Vernunftlogik richtete.529 Pure Logik kennt weder Mitleid noch Erbarmen und sagt, der Stärkere könne bzw. solle den Schwächeren unterdrücken, sobald es ihm die Umstände erlauben. »Den Alltagsverstand definiert Nabokov folglich als ein Konglomerat von primitiven und vulgären Vorstellungen der Masse, die für jede originell denkende Persönlichkeit eine Gefahr darstellen.«530 Nach Nabokov ist nicht das Böse irrational, sondern im Gegenteil – das Gute: […] the irrational belief in the goodness of man (to which those farcical and fraudulent characters called Facts are so solemnly opposed) becomes something much more than the wobbly basis of idealistic philosophies. It becomes a solid and iridescent truth. This means that goodness becomes a central and tangible part of one’s world, which world at first sight seems hard to identify with the modern one of newspaper editors and other bright pessimists, who will tell you that it is, mildly speaking, illogical to applaud the supremacy of good at a time when something called the police state, or communism, is trying to turn the globe into five million square miles of terror, stupidity, and barbed wire.531
528 Vgl. Brodski, Anna: »Лолита« Набокова и послевоенное эмигрантское сознание. (Nabokovs »Lolita« und das Nachkriegsbewusstsein der Emigranten). http://magazines.russ.r u/nlo/2002/58/brod.html / letzter Zugriff am 12. 10. 2018. 529 Vgl. Nabokov, Vladimir: The Art of Literature and Commonsense. In: Nabokov, Vlaidmir: Lectures on Literature. Harcourt: New York/London 1980, S. 372. 530 Schmid, Anna: Zwischen Heilung und Wahnsinn, S. 24. 531 Nabokov, Vladimir: The Art of Literature and Commonsense. https://pl.scribd.com/doc /24008084/The-Art-of-Literature-and-Commonsense / letzter Zugriff am 20. 01. 2019.
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Vladimir Nabokov und Hannah Arendt
Es ist dabei bemerkenswert, dass Nabokov, ohne sich auf Arendt zu berufen, eben mit derjenigen Denkart polemisiert, welche in den obenzitierten Vorlesungen Über das Böse präsentiert wird. Aus der alttestamentlichen Legende zieht die Philosophin die Schlussfolgerung, am Anfang aller menschlichen Ordnung stehe Gewalt, und die schrecklichen, beispiellosen Erfahrungen totalitärer Systeme des 19. Jh. (insbesondere der Holocaust) bezeugten die Absurdität der Idee, der Mensch sei ursprünglich gut. Dem stimmt auch Nabokov zu, aber gerade weil diese Idee absurd ist, verdient sie es, mit allem Ernst betrachtet zu werden, denn: »[…] I can very well imagine that my fellow dreamers, thousands of whom roam the earth, keep to these same irrational and divine standards during the darkest and most dazzling hours of physical danger, pain, dust, death.«532 Dieses »I can very well imagine« – »Ich kann es mir sehr gut vorstellen« – heißt in Nabokovs Sprache so viel wie »es ist durchaus möglich« oder sogar »es verhält sich so«, was abermals den romantischen Charakter seiner Weltempfindung markiert (Phantasie = Wirklichkeit). Personale Vorstellungskraft bzw. künstlerische Phantasie (die auf diese oder andere Weise jedem Menschen eigen ist) steht in einer derart aufgebauten Hierarchie viel höher als die »farcical and fraudulent characters called Facts«. Das von Nabokov gemeinte und bewunderte Individuum verhält sich nicht nach logisch einwandfreien, aber oft gnadenlosen Gesetzen des Alltagsverstandes, sondern nach irrationalen und bewundernswerten Normen seiner kreativen Intuition. Im Weiteren präzisiert der Schriftsteller, um welche Normen es sich dabei handelt: What exactly do these irrational standards mean? They mean the supremacy of the detail over the general, […] of the little thing which a man observes and greets with a friendly nod of the spirit while the crowd around him is being driven by some common impulse to some common goal. I take my hat off to the hero who dashes into a burning house and saves his neighbour’s child; but I shake his hand if he has risked squandering a precious five seconds to find and save, together with the child, its favourite toy. I remember a cartoon depicting a chimney sweep falling from the roof of a tall building and noticing on the way that a sign-board had one word spelled wrong, and wondering in his head long flight why nobody had thought of correcting it. In a sense, we all are crashing to our death from the top story of our birth to the flat stones of the churchyard and wondering with an immortal Alice in Wonderland at the patterns of the passing wall. This capacity to wonder at trifles […], these footnotes in the volume of life are the highest forms of consciousness, and it is in this childishly speculative state of mind, so different from commonsense and its logic, that we know the world to be good.533
Damit kehren wir zum Grundunterschied zwischen Hannah Arendts und Vladimir Nabokovs Visionen des Individuellen und Totalitären zurück. Für Arendt
532 Ebd. 533 Ebd.
Die Philosophie des Bösen und das Bild der totalitären Gesellschaft
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liegt der höchste Wert des Menschen in seiner freigewählten, verantwortungsbewussten Tätigkeit. Das Individuum wird somit als ein zwar selbständiger und unabhängiger, jedoch unbedingt aktiver, selbst- und pflichtbewusster Teil des Ganzen (sei es eine einzelne soziale Gruppe, die gesamte Gesellschaft oder gar das Menschengeschlecht) verstanden. Kurz: Arendt spricht vom Menschen als einem sozialen und politischen Wesen. Nabokov negiert zwar keineswegs diese Dimension des menschlichen Daseins, aber sie liegt sozusagen außerhalb des Interessenbereichs seiner ästhetischen und philosophischen Untersuchungen. Das Bild des Lebens als eines im Zeitraum gedehnten Niederfalls, der sich »from the top story of our birth to the flat stones of the churchyard« vollzieht, mag auf den ersten Blick dekadent und ausweglos vorkommen. Allerdings wird der in den Tod permanent fallende Mensch nicht zufällig mit der unsterblichen Alice im Wunderland verglichen. Die Fähigkeit, sich an den vergänglichen, herbeieilenden Kleinigkeiten des Lebens bewusst zu erfreuen, ihre flüchtige Schönheit zu bemerken und zu bewundern, wird von Nabokov nicht nur wegen des zeitweiligen entzückenden Trosts gelobt. Hinter dieser sehnsüchtigen Entzückung, die sich im irrationalen Zustand des Kinderbewusstseins – »childishly speculative state of mind« – offenbart, erblickt er Umrisse einer anderen Wirklichkeit, welche der von uns empfundenen, rational erklärbaren Realität deutlich übergeordnet ist. Der irrationale (und daher vertrauenswürdige) Glaube an das Gute im Menschen war also nur eine Zwischenstufe in Nabokovs neuromantischer Mensch- und Lebenserkenntnis. Es wird schließlich postuliert, nicht nur der Mensch, sondern – was in diesem Kontext viel wichtiger ist – die Welt an sich sei gut. Dies zu erkennen bedeutet zugleich, die ursprüngliche Schönheit des von der Erbsünde noch unerschütterten Edens wahrzunehmen und somit das Böse samt dessen lügenhaft-illusorischer Natur zu überwinden.
3
Das erzählte Unaussprechliche – Nabokov und die deutsche Romantik Die Transzendentalphilosophie reicht die Theologie darin weiter, daß sie die Welt, wie sie wirklich ist, für unerkennbar erklärt.534 Gerhard Gamm. Der deutsche Idealismus. Wir werden den Ursprung des Lebens nie ergründen, den Sinn des Lebens, die Natur von Raum und Zeit, die Natur der Natur, die Natur des Denkens.535 Vladimir Nabokov im Interview mit Alvin Toffler (1964).
3.1
Die Durchsichtigkeit des Seins
3.1.1 Das Problem des ›Romantischen‹ Das Verhältnis eines Schriftstellers zur Romantik bzw. zum ›Romantischen‹ sowie romantische Spuren und Motive in der Literatur des 20. Jh. sind immer ein kontroverses, von Widersprüchen beherrschtes Thema. So wird z. B. bis heute heftig diskutiert, ob Hermann Hesse als Neuromantiker eingeordnet werden kann. Die Kurze Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur von Isa Schikorsky ordnet den deutsch-schweizerischen Nobelpreisträger eindeutig als »Vertreter der Neuromantik« ein.536 Eine derart schematische Explikation war für die frühere Hesse-Rezeption durchaus charakteristisch, wovon allein schon die Titel einiger Beiträge zeugen, vor allem Heta Baatens Der Romantiker Hermann Hesse537 (1934), Hans Horst Lehners Nachwirkungen auf die Prosadichtung Hermann Hesses538 oder Kurt Weibels Hermann Hesse und die deutsche Romantik, wo Hesse, neben Friedrich Nietzsche, der romantischen Schule zugewiesen wird.539 Heutzutage gilt diese Ansicht eher als eindimensional, ja sogar obsolet. Wie Georg Wenzel in seinem Artikel Letzter Ritter der Romantik präzise zeigt, waren Hesses Romantik-Rezeption und -inspiration viel zu kompliziert
534 Gamm, Gerhard: Der deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling. Ditzingen: Reclam Verlag 2019, S. 95. 535 Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 78. 536 Schikorsky, Isa: Kurze Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur. Norderstedt: Books on Demand GmbH 2012, S. 86. 537 Baaten, Heta: Der Romantiker Hermann Hesse. Bochum: Pöppinghaus 1934. 538 Lehner, Hans Horst: Nachwirkungen der Romantik auf die Prosadichtung Hermann Hesses. Dissertation. Würzburg 1954. 539 Vgl. Weibel, Kurt: Hermann Hesse und die deutsche Romantik. Winterthur: P.G. Keller 1954, S. 36.
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Das erzählte Unaussprechliche – Nabokov und die deutsche Romantik
und ambig, um auf vereinfachte Lehrbuch-Termini reduziert zu werden.540 Mehr oder weniger vergleichbar sieht es auch im Fall anderer Autoren aus, deren Werk im Hinblick auf das ›Romantische‹ untersucht wird. Das Grundproblem scheint dabei zwei Hauptaspekte zu haben. Erstens weist die Bezeichnung an sich einige Deutungsschwierigkeiten auf. Um es mit Hermann Hesse zu pointieren: »Was das Wort ›romantisch‹ eigentlich bedeutet, weiß niemand.«541 Das beinahe unüberschaubare semantische Spektrum des – insbesondere im aktuellen Sprachgebrauch – als ›romantisch‹ Geltenden wird auch in der Sekundärliteratur immer wieder unterstrichen, so z. B. bei Johan Huizinga (»Die Romantik hat soviel Gesichter wie sie Ausdrucksformen gehabt hat«542) oder in Heinz-Georg Helds Romantik-Schnellkurs: »Romantisch – das sind und waren nicht nur Caspar David Friedrichs Landschaften im Mondschein, Schuberts Winterreise und Eichendorffs Taugenichts, sondern auch […] parfümierte Liebesbriefe, […] vaterländische Gesinnung und Heidelberger Schloss.«543 Die romantische Naturempfindung bzw. Raumdarstellung kommentierend, macht Held eine interessante topographische Bemerkung: »Das Wort ›romantisch‹ bedeutet einerseits unrealistisch, phantastisch, irrational, wirklichkeitsfremd, bezeichnet aber andererseits konkrete Orte oder Landschaften als malerisch oder idyllisch […].«544 Daraus folgt, dass ein realer Ort in romantischer Kunst – sei es Malerei oder Literatur – zum sichtbaren Symbol eines unsichtbaren, transzendenten Idealraumes wird, der weder materiell noch geistig ist, sondern beide Ebenen des Seins in sich mystisch vereint. Generell nimmt die Idee der Einheit im romantischen Denken den zentralen Platz ein: »Dieser sehnsüchtige Drang nach Einheit ist romantisch, und er ist um so romantischer, je weniger es gelingt, die absolute Einheit zu erreichen, und je mehr die gewonnenen Einheiten zueinander im Widerspruch stehen«545, wie es Julius Petersen treffend auf den Punkt bringt. Die oft angesprochene idealistische Grundlage der Romantik manifestiert sich eben in dieser tragischen und zugleich inspirierenden, zum unaufhörlichen künstlerischen Schaffen motivierenden Kluft zwischen dem chaotischen Durch540 Siehe: Wenzel, Georg: Letzter Ritter der Romantik. Das Verhältnis von Hesses früher RomantikRezeption zur Aussenseiter-Problematik. In: Limberg, Michael: Zwischen Eigen-Sinn und Anpassung. Aussenseitertum im Leben und Werk von Hermann Hesse. Bad Liebenzell/Calw: Verlag Bernhard Gengenbach 1999, S. 70–89. 541 Zitiert nach: Klaus, Johann: Grenze und Halt: der Einzelne im »Haus der Regeln«. Zur deutschsprachigen Internatsliteratur. Heidelberg: Winter Verlag 2003, S. 175. 542 Huizinga, Johan: Homo ludens. Hamburg: Rowohlt 1956, S. 181. 543 Held, Heinz-Georg: Romantik. Literatur, Kunst und Musik 1790–1840. DuMont Schnellkurs. Köln: DuMont Literatur und Kunstverlag 2003, S. 8. 544 Ebd., S. 10. 545 Petersen, Julius: Die Wesensbestimmung der Deutschen Romantik. Eine Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1968, S. 8.
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einander der sogenannten ›objektiven Realität‹ und der ersehnten Einheit der zwar subjektiv wahrgenommenen, aber als durchaus objektiv betrachteten ›wahren Wirklichkeit‹. Daher hat Petersen Recht, wenn er behauptet: »Die Romantik ist also von der Klassik nicht zu trennen; sie trägt zunächst die ganze Klassik in sich, so wie die Klassik bereits die Romantik im Keim in sich trägt.«546 Die Romantiker empfanden sich nämlich als Realisten, bloß war dies kein mimetischer Realismus, sondern ein Realismus ›höherer Art‹, dessen Aufgabe darin bestand, die Wirklichkeit in ihrer ganzen unerforschten Erscheinungs- und Bedeutungspluralität aufzuzeigen. Das vernunftzentrierte aufklärerische Realitätsbild war für ein solches Unterfangen freilich zu eng und schien den romantischen Dichtern zu eindimensional zu sein, denn es entsprach nicht ihrer Realitätsreflexion. Dieser entscheidende Unterschied sollte jedoch nicht zu voreiligen Vereinfachungen führen. Das gängige Gegensatzpaar ›Romantik vs. Klassik‹ findet natürlich mehrfach Bestätigung in romantischen Texten, sei es August Schlegels Programmessay Kritik an der Aufklärung547, Ludwig Tiecks autoreferentielles Theaterstück Der gestiefelte Kater548 oder die phantastischen Erzählungen E.T.A. Hoffmanns, wo das nüchterne, die aufklärerischen Lebensideale nachäffende Philistertum »weniger durch seine sozialen Merkmale als vielmehr durch seine Oppositionshaltung zur poetischen Welt und zum Künstler gekennzeichnet ist.«549 Nichtsdestoweniger sollte das ›Romantische‹ nicht als dogmatischer Gegenpol zum ›Klassischen‹ verstanden werden. Vielmehr war es eine auf dem kulturphilosophischen Boden der Aufklärung gewachsene neue Denk- und Kunstform. Sie suchte zwar von der Klassik wegzukommen, wäre wohl aber ohne diese überhaupt nicht entstanden. Deshalb wäre es eine denkökonomische Übertreibung, von einer ›romantischen Revolution‹ zu sprechen, jedenfalls im literaturhistorischen Sinn. Die Bestrebungen der Romantiker sowie ihr Kunst- und Lebensideal mögen durchaus revolutionär konzipiert werden, worauf Rüdiger Safranski im WELT-Interview vom 16. 09. 2007 hinweist.550 Als Geschichts- und Denkphänomen entstand aber das ›Romantische‹ eher evolutionsmäßig aus dem ›Klassischen‹ (wenn auch in Form von dessen Verneinung). Dafür spricht auch die Tatsache, dass die Romantik in Deutschland von der politisch engagierten, revolutionären Literatur des Vormärz, des Realismus und 546 Ebd., S. 161. 547 Schlegel, August Wilhelm: Kritik an der Aufklärung. In: Schmitt, Hans-Jürgen (Hg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Romantik I. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 2003, S. 25–57. 548 Tieck, Ludwig: Der gestiefelte Kater. Köln: Anaconda Verlag GmbH 2009. 549 Schneider, Karl Ludwig: Künstlerliebe und Philistertum im Werk E.T.A. Hoffmanns. In: Steffen, Hans (Hg.): Die deutsche Romantik. Poetik, Formen und Motive. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967, S. 200. 550 Vgl. https://www.welt.de/kultur/article1187529/Romantik-verzaubert-die-Wirklichkeit.ht ml / letzter Zugriff am 04. 03. 2019.
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schließlich des Naturalismus vielmehr abgelöst als fortgesetzt wurde. Der essentielle Unterschied zwischen Hauptmann und Tieck ist wesentlich größer als zwischen Tieck und Goethe. Erst in der ersten Hälfte des 20. Jh. erlebt die ›romantische Sehnsucht‹ eine Art Wiederbelebung in den Werken der weit gefassten Moderne (Symbolismus, Impressionismus, Expressionismus usw.). So sieht z. B. Julius Petersen in Stefan George und Hugo von Hofmannsthal Autoren, die von der Romantik eindeutig beeinflusst wurden.551 Damit verbindet sich der zweite Aspekt, der für die analytische Auseinandersetzung mit (neu)romantischen Elementen in Nabokovs Prosa besonders relevant ist. Wie oben bereits hervorgehoben wurde, bildet die Vorstellung von der prinzipiellen Unerreichbarkeit des Idealen den grundlegenden Ausgangspunkt des romantischen Denkens und der gesamten romantischen Welt- und Kunstauffassung. Dies wird in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Artushof prägnant und zugleich poetisch geschildert, indem der Erzähler, sich an den Rezipienten wendend, sagt: Glaubst du nicht, lieber Leser, daß das, was aus dem höhern Reich der Liebe in unsre Brust hinabgekommen, sich und zuerst offenbaren müsse im hoffnungslosen Schmerz? – Das sind die Zweifel, die in des Künstlers Gemüt stürmen. – Er schaut das Ideal und fühlt die Ohnmacht, es zu erfassen, es entflieht, meint er, unwiederbringlich. – Aber dann kommt ihm wieder ein göttlicher Mut, er kämpft und ringt, und die Verzweiflung löst sich auf in süßes Sehnen, das ihn stärkt und antreibt, immer nachzustreben der Geliebten, die er immer näher und näher erblickt, ohne sie jemals zu erreichen.552
Das Idealbild, die im Bewusstsein schwebende Vorstellung von einem perfekten Kunstwerk sei also für das romantische Denken und Empfinden gerade deshalb so wertvoll, weil der Traum nie völlig in Erfüllung gehen könne. Ein realisiertes Ideal hätte für den romantischen Dichter seinen metaphysischen Reiz verloren. Es ist daher kein Zufall, dass die bedeutendsten Romane der Frühromantiker unabgeschlossene Fragmente geblieben sind (Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und Die Lehrlinge zu Sais, Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen, Friedrich Schlegels Lucinde). Einer der strittigsten, stets aufs Neue (um)interpretierten Begriffe der deutschen Romantik, die romantische Ironie, wie sie von Friedrich Schlegel formuliert und definiert wurde553, ist ohne diesen Kerngedanken von der grundsätzlichen Undurchschaubarkeit letztendlicher Wahrheit über Welt und Mensch kaum verständlich. Nicht zufällig bekannte der erwähnte Begriffserfinder im Brief an seinen Bruder August Schlegel, »er könne ihm die 551 Vgl. Petersen, Julius: Die Wesensbestimmung der Deutschen Romantik, S. 3. 552 Hoffmann, E.T.A.: Der Artushof. In: Hoffmann, E.T.A.: Auswahl. Moskau: Verlag »Raduga« 1984, S. 182–183. Hervorhebungen von A.K. 553 Vgl. Schmitt, Hans-Jürgen (Hg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Romantik I, S. 100–204.
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Erklärung des Wortes ›romantisch‹ nicht schreiben, weil sie hundertfünfundzwanzig Bogen umfassen würde.«554 In ihrem Artikel über die romantische Ironie stellt Ingrid Strohschneider-Kors zurecht fest, die Bezeichnung sei »manchen Mißdeutungen ausgesetzt gewesen«, indem sie unter anderem als eine »zügellose, subjektivistische Willkür«, »Zynismus« oder gar »Destruktion – die Bettelsuppe des glaubens- und weltunfähigen Intellekts«555 – ausgelegt wurde. Dagegen sollte Schlegels romantische Ironie, so Strohschneider-Kors, mit sämtlichen (post)modernen, dekonstruktiv orientierten Ansätzen kaum verwechselt werden, denn: Für eine der ersten Formulierungen, mit denen Schlegel die Ironie in poetischen Werken charakterisiert, wählt er sofort auch ein Schlüsselwort der kritischen, dialektischen Philosophie seiner Zeit: ›transcendental‹. […] In Werken, die vom Hauch der Ironie durchatmet seien, lebe »eine wirklich transcendentale Buffonerie«. […] Die Ironie »ist die freyeste der Licenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg«. Das Denkmodell, das hinter dieser Vorstellung steht, ist unschwer zu erkennen: es ist der von Fichte in der Wissenschaftslehre erörterte Gedanke vom Handeln der Intelligenz, von der Aktion des Selbstbewußtseins. […] Schlegel wandelt diesen Gedanken zu einem poetologischen Postulat; der Künstler habe sich kraft seines Bewußtseins aus einem »illiberalen Zustand« zu befreien.556
Auf literarische Tätigkeit übertragen, ermöglicht dieses Über-sich-selbst-Hinwegsetzen, von dem Schlegel spricht, eine für das romantische Mensch- und Weltkonzept äußerst bedeutende Operation. Mithilfe romantischer Ironie vermag der (romantische) Künstler das zu vollbringen, was in sämtlichen anderen Fällen undenkbar wäre. Er kann sich nämlich jener unaussprechlichen, dem physischen Auge und dem analytischen Verstand gleichmäßig entzogenen Wirklichkeit annähern, und zwar nicht etwa durch ihre vermeintliche Erfassung (die nur ein selbstsicherer Irrtum, ein bedauernswertes Wahrheitsphantom wäre), sondern eben durch ständige Postulierung ihrer Unerreichbarkeit sowie durch obligatorische Selbstdistanz. Volkmann-Schluck bemerkt dazu (in einem etwas Hegelschen Ton): »Der Geist, der Inbegriff der Realität, vermag sich selbst nur zu begreifen, wenn er einen Teil seiner Realität auf das Nicht-Ich überträgt, sich so am Nicht-Ich begrenzt und dadurch sich allererst als Ich erfaßt.«557 Die Bezeichnung »transzendental«, die von Schlegel in diesem Kontext gerne benutzt 554 Strohschneider-Kohrs, Ingrid: Zur Poetik der deutschen Romantik II: Die romantische Ironie. In: Steffen, Hans (Hg.): Die deutsche Romantik. Poetik, Formen und Motive. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967, S. 75. 555 Ebd., S. 75. 556 Ebd., S. 78. 557 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: Novalis‹ magischer Idealismus. Steffen, Hans (Hg.): Die deutsche Romantik. Poetik, Formen und Motive. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967, S. 46.
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wird, ruft metaphysische bzw. religiöse Assoziationen hervor, und zwar nicht ohne Grund. So wird in der »negativen« bzw. »apophatischen« Theologie Gott mittels diverser Verneinungsformen beschrieben, da man von der Prämisse ausgeht, dass das höchste Sein durch positive Aussagen nicht beschränkt werden darf (das Wort »positiv« sollte dabei nicht wertend verstanden werden, sondern im Sinne einer sprachlich festgelegten Definition). Strohschneider-Kohrs beruft sich allerdings auf Johann Gottlieb Fichte, dessen enormer Einfluss auf die frühromantischen Autoren unbestreitbar ist, und meint: Schlegel beschreibt diesen Akt der Erhebung über sich selbst mit Begriffen, die […] an Fichtes Denken erinnern: auf die »Selbstschöpfung« müsse eine »Selbstvernichtung« folgen, dadurch gelange der Künstler zu freier, besonnener Selbstbeschränkung. […] Die Ironie verlangt vom Künstler, daß nicht Enthusiasmus allein, nicht nur Hingabe und Interesse ihn leiten, sondern daß er sie aus der Kraft des Bewußtseins modifiziere, daß er sich in freiem Verhalten zu sich selbst distanziere und damit selbst bestimme.558
Was Fichte also vom denkenden, selbstreflektierenden Ich behauptete, wird in Schlegels Kunstphilosophie nach Strohschneider-Kors auf den Künstler projiziert. Fichte verstand nämlich die Ich-Kategorie nicht substanziell und griffbereit, sondern eher operativ, d. h. als Produkt des Denkvorgangs bzw. eine gewisse Einheitlichkeit des Selbstbewusstseins (wobei unter Selbstbewusstsein wiederum diejenige Denkoperation verstanden werden sollte, welche den Ich-Begriff erst entstehen lässt559). Genauso behandelt Schlegel das schöpfende, künstlerische Ich. Auch der Künstler (geschweige denn ein Kunstwerk) ist kein gegebenes, ›natürliches‹ Phänomen, sondern Resultat einer völlig bewussten, beabsichtigten Selbstkreierung im strengsten Sinne des Wortes. In einem anderen, von der Romantik fern liegenden Kontext befasst sich mit dieser Frage der georgische Philosoph Merab Mamardaschwili (1930–1990) in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Antike und kommt schließlich zu derselben Feststellung, dass es im Grunde genommen keinen Schriftsteller außerhalb seines Schrifttums – und schon gar nicht vor dessen Entstehung – gibt. Ein Schriftsteller bzw. Künstler kommt sozusagen erst durch sein Schreiben bzw. seine Kunst zustande. Daher könnte man, so Mamardaschwili, das Leben eines Autors mithilfe seiner Werke vielleicht einigermaßen erklären oder wenigstens besser verstehen, keineswegs aber umgekehrt, was auch den interpretatorischen Fehlschlag jeglicher autobiographisch geprägter Textanalyse bedingt.560
558 Ebd., S. 81. 559 Vgl. Piatigorsky, Alexander (Пятигорский, Александр): Свободный философ Пятигорский (Der freie Philosoph Piatigorsky). Sankt-Petersburg: Издательство Ивана Лимбаха 2015, S. 230. 560 Vgl. Mamardaschwili, Merab (Мамардашвили, Мераб): Лекции по античной философии (Vorlesungen über die Philosophie der Antike). Sankt-Petersburg: Азбука 2014, S. 95–97.
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Daher legt Strohschneider-Kors Schlegels Ironie-Begriff als selbsttranszendierende, befreiende Geistesoperation aus, und nicht etwa als bloß dekonstruktive Wort- und Gedankenspielerei. Der Divergenz-These, welche sie daraus ableitet und unter Verweis auf Hugo Friedrich verficht, würde ich allerdings nur teilweise zustimmen: »Gerade das Problem ›Romantik und Moderne‹ sollte Anlaß geben, Differenzen wahrzunehmen und deutend zu erkunden; eben vor allem die Differenz, die Hugo Friedrich mit einem treffsicher-paradoxen Wort genannt hat: ›Modernes Dichten ist entromantisierte Romantik‹.«561 Interessanterweise wird diese Meinung – indirekt – auch von Alexander Piatigorsky geteilt, der in seinem Kurzessay über Nabokov behauptet, Letzterer sei definitiv kein Romantiker, sondern ein Modernist gewesen.562 Der Weg von Romantik zu Nabokov enthält jedoch eine relevante ›Zwischenstation‹, nämlich das sogenannte »Silberne Jahrhundert« der russischen Literatur, das sich zeitlich mit der europäischen Moderne deckt und über das der Historiker und Schriftsteller Kirill Kobrin im Vorwort zu Piatigorskys Hauptwerk Denken und Beobachten Folgendes schreibt: Das russische Silberne Jahrhundert ist eine der nationalen Varianten der »Spätromantik«; allerdings ist manchen seiner Vertreter der Sprung in die Hochmoderne und sogar in die Avantgarde gelungen. Die Problematik der Suche nach einem unzerlegbaren geistigen Rest, […] hinter dem sich derselbe von Nietzsche getötete Gott versteckt, ist das Hauptmerkmal jener Zeit.563
Wie bereits betont wurde, war die Literatur des »Silbernen Jahrhunderts« eine der wenigen Inspirations- und Einflussquellen, zu denen sich Nabokov bekannte. Das Romantische dem Modernen gegenüberzustellen wäre daher genauso ungerecht wie in Romantik und Klassik lediglich zwei angefeindete, einander ausschließende Denkmuster zu sehen. Um es mit Heinz-Georg Held zu formulieren: »Die Romantik ist nicht nur der Beginn der Moderne, sie ist in vieler Hinsicht auch Vorwegnahme der Postmoderne.«564 Es wäre hierbei nicht unangebracht, eine Passage aus Nabokovs Die Gabe zu zitieren, in der romantische und moderne Erzählmethoden sehr anschaulich miteinander verflochten sind:
561 Strohschneider-Kohrs, Ingrid: Zur Poetik der deutschen Romantik, S. 78. 562 Vgl. http://izbrannoe.com/news/mysli/aleksandr-pyatigorskiy-chut-chut-o-filosofii-vladi mira-nabokova / letzter Zugriff am 11. 02. 2019. 563 https://www.svoboda.org/a/25365468.html / letzter Zugriff am 12. 02. 2019. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »Русский Серебряный Век есть одна из национальных разновидностей ›позднего романтизма‹; впрочем, некоторые из его героев смогли перескочить и в высокий модернизм – и даже в авангард. Проблематика поиска неразложимого духовного остатка – внеположной ценности, – за которым прячется тот же самый убитый Ницше Бог, – главная черта того времени.« 564 Held, Heinz-Georg: Romantik. Literatur, Kunst und Musik 1790–1840, S. 7.
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Lebewohl für immer an einem Wintertag, mit großen Schneeflocken von morgens an, die in alle Richtungen trieben – senkrecht nach unten, schräg und sogar himmelwärts. Ihre großen Überschuhe und der winzige Muff. Sie nahm absolut alles mit, auch den Park, in dem sie sich im Sommer getroffen hatten. […] Die Liebe, um es schlicht zu sagen, wiederholt beim letzten Abschied das musikalische Thema der Schüchternheit, das ihrer ersten Erklärung vorangeht. […] Auf dem Bahnhof herrschte gemeine, tierische Geschäftigkeit […]. Jetzt ist sie herangereift. Rußland ist von Sonnenblumen bevölkert. Es ist die größte, breitgesichtigste und dümmste Blume von allen.565
Ist es eine romantische Beschreibung? Ohne Zweifel. Das lyrisch gesinnte, an die ehemalige Geliebte und zugleich an das Vergangene gerichtete »Lebewohl« am Anfang des ersten Satzes; die träumerisch-visionäre Verschmelzung von Damals und Jetzt; der Vergleich von Liebe und Musik (besonders überraschend bei Nabokov, der seine fehlende Empfindsamkeit für Musik häufig betonte566) – all dies entspricht dem romantischen Kunstprogramm ganz und gar. Gleichzeitig ist es aber auch eine moderne Beschreibung – wiederum im literaturhistorischen Sinn – wovon das stürmische ›Switchen‹ zwischen erster und dritter Person der erzählenden Instanz, der verblüffende, stimmungsbrechende letzte Satz der Passage und andere für die Erzählweise der Moderne charakteristische Elemente zeugen. Eine äußerst treffende Bemerkung zu den Ähnlichkeiten zwischen der Romantik und der Moderne macht auch Nikolai Karpow in seiner Monographie über romantische Kontexte in Nabokovs Schaffen: Das Streben danach, die Wirklichkeit nicht zu widerspiegeln, sondern aufs Neue zu schaffen, der Glaube an das Transzendente sowie an die lebensumwandelnde Rolle der Kunst, gattungsspezifische und kompositionell-strukturelle Experimente […] – all dies war sowohl für die Romantik als auch für die weit gefasste Literatur der Moderne im gleichen Grad charakteristisch.567
Darüber hinaus geht es auch darum, dass die Romantik bereits in ihrem philosophisch-programmatischen Kern die Überwindung des ›Romantischen‹ beinhaltet und voraussetzt. Das Sich-selbst-Überwachsen sowie die spielerischautoreferentielle Distanz (Schlegels Ironie) sind in die romantische Idee ursprünglich ›hineinmontiert‹. Die »Entromantisierung des Romantischen«, von der Strohschneider-Kors spricht, ist somit ein konsequenter, ja schicksalhafter 565 Nabokov, Vladimir: Die Gabe, S. 250. 566 Vgl. http://reprints.longform.org/playboy-interview-vladimir-nabokov / letzter Zugriff am 12. 02. 2019. 567 Karpow, Nikolai (Карпов, Николай): Романтические контексты Набокова (Romantische Kontexte bei Nabokov). Sankt-Petersburg: Издательство Санкт-Петербурского Государственного Университета 2018, S. 15–16. Russische Originalfassung: »Стремление не к отражению, а пересозданию реальности, вера в трансцендентное, в жизнепреображающую роль искусства, эксперименты в области жанровой и композиционной структуры произведений […] – все это в равной степени было характерно как для романтизма, так и для модернистской литературы в широком смысле слова.«
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Schritt in der Weiterentwicklung der Romantik, d. h. in ihrer vorbestimmten Wandlung in andere, neuromantische Ausdrucksformen, zu denen mutatis mutandis sowohl die Moderne als auch gewissermaßen die Postmoderne gehören. Diese ästhetisch-philosophische Kontinuität wird insbesondere im romantischen und modernen Verhältnis zur literarischen Sprache, ihren Möglichkeiten und Grenzen auffällig.
3.1.2 Die (neu)romantische Wortkunst zwischen Sprachmagie und Sprachskepsis Was kann, was soll durch die Kunst, durch die Dichtung gegenständlich werden? Das ist die ausdrückliche allererste Frage der Ästhetik, seitdem sich diese, um 1750, begründet hat, indem sie Kunst und Dichtung als einen eigenständigen Bereich der Welterfahrung und Weltaneignung statuierte. […] Es muß genügen, daß seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland die Diskussion des Grundsatzes, die Kunst ahme Natur nach, immer mehr davon abkam, Natur als natura naturata und Nachahmung als Wiedergabe von Naturgegebenem auszulegen. Mehr und mehr sah man vor allem die Dichtung als ein Werk an, das nicht nur die Natur nachahmt, sondern in dem sich auch die schöpferische Macht des Menschen und die Reflexion auf diese schöpferische Macht erweist.568
Diese pointierte Passage aus dem ersten Band der Studien Zur Poetik der deutschen Romantik von Wolfgang Preisendanz formuliert nicht nur eines der umstrittensten literaturtheoretischen Probleme, nämlich die Rolle bzw. Position der Kunst zwischen Mimesis und Erfindung, sondern verdeutlicht, dass selbst die Begriffe »Dichtung« oder »Natur« keineswegs selbstverständlich und semantisch fixiert sind. Die primitive Vorstellung von einem literarischen Werk als einer getreuen Eins-zu-eins-Reproduktion gewisser objektiver, ›natürlicher‹ Zusammenhänge mag zwar postuliert, aber kaum realisiert werden, da »Natur« als etwas Gegebenes und »Kultur« als etwas Gemachtes in einem semantischen wie ontologischen Gegensatz zueinander stehen. Außerdem hängt viel von der individuellen Einstellung des jeweiligen Autors zum Naturbegriff ab. Ein Schriftsteller mit ausgesprochen mechanistischem bzw. atheistischem Weltbild wird die fiktionale Wirklichkeit seiner Texte womöglich anders gestalten als ein religiös gesinnter Autor, der das literarische Schaffen als einen sakralen Akt betrachtet (wie z. B. Novalis, Wackenroder oder Eichendorff). Der Realismus eines Textes ist in hohem Maße durch das Realitätskonzept von dessen Verfasser bedingt.
568 Preisendanz, Wolfgang: Zur Poetik der deutschen Romantik I: Die Abkehr vom Grundsatz der Naturnachahmung. In: Steffen, Hans (Hg.): Die deutsche Romantik. Poetik, Formen und Motive. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967, S. 55–56.
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Die von den Klassikern angestrebte Nachahmung ist aber auch aus einem anderen Grund fragwürdig. Man könnte behaupten, die erzählende Literatur bilde eine besondere Art geistiger Tätigkeit, welche – kraft ihres extrem sprachfixierten Ausdrucksinstrumentariums – immer wieder mehrere autoreferentielle Züge aufweist. Um es mit Preisendanz auszudrücken: »Dichtung ist auf ein Medium angewiesen, an dem sie nur partizipiert, auf die Sprache.«569 Gleichzeitig lässt sich aber ein quasi Gegenstreben beobachten. Literatur – insbesondere in ihrer romantischen und neuromantischen Ausprägung – tendiert nämlich dazu, die Beschränktheit eigener Bezeichnungsmittel zu überwinden. Die Verzweiflung eines Dichters, der die stumpfe Nichtigkeit des Wortes ratlos beweint und der ärgerlichen Beengtheit literarischer Kunst die lebendig-expressive Ausdruckskraft der Musik gegenüberstellt, ist sowohl üblich als auch nachvollziehbar. Dies trifft auf die meisten deutschen Romantiker zu, die Musik generell wesentlich höher als Literatur schätzten. So liest man z. B. in E.T.A. Hoffmanns Rezension zur Fünften Symphonie Beethovens: Wenn von der Musik als einer selbstständigen Kunst die Rede ist, sollte immer nur die Instrumental-Musik gemeint seyn, welche, jede Hülfe, jede Beymischung einer andern Kunst verschmähend, das eigenthümliche, nur in ihr zu erkennende Wesen der Kunst rein ausspricht. Sie ist die romantischste aller Künste, – fast möchte man sagen, allein rein romantisch.570
Bemerkenswerterweise hebt Hoffmann ausgerechnet Instrumentalmusik hervor und nicht etwa Zauberoper oder romantisches Kunstlied. Je weiter ein Musikstück vom Text entfernt sei, desto musikalischer (und somit romantischer) sei sein Wesen. Geht es darum, das Unaussprechliche auszudrücken (und eben darin bestand ja eines der Hauptziele von Romantikern), so eignet sich die Musik – laut gängigen Vorstellungen – viel besser dazu als die Literatur. Auch darin unterscheidet sich Nabokovs (Neu)Romantik von ihren Vorgängern. Es findet sich unter den Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts wohl kein anderer Autor, der seine an Abneigung grenzende Unempfindlichkeit für Musik dermaßen offen, ja rigoros zum Ausdruck brachte. »Der herrlichste Pedant der Weltliteratur«571, wie ihn Uli Hufen nennt, teilte die romantische Musikbewunderung kaum, sondern betonte im Gegenteil mehrmals, die Musik sei, wenn man sie mit Literatur vergleicht, eine primitivere, animalistische Kunstform. Auch in seiner Autobiographie musste er einstehen: »Musik wirkt auf mich leider nur als eine
569 Ebd., S. 68. 570 http://etahoffmann.staatsbibliothek-berlin.de/leben-und-werk/musiker / letzter Zugriff am 06. 03. 2019. 571 https://www.deutschlandfunk.de/der-herrlichste-pedant-der-weltliteratur-100.html / letzter Zugriff am 10. 12. 2021.
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willkürliche Folge mehr oder weniger irritierender Klänge.«572 Dies macht aber Nabokovs Texte paradoxerweise umso musikalischer. Das geschriebene Wort und sein innerer Rhythmus, der keiner weiteren Vertonung bedarf, ›rivalisiert‹ mit typisch romantischer Skepsis der Sprache gegenüber, welche ihrerseits das Anhimmeln der Musik bedingte. Letzteres beruhte vor allem auf der Vorstellung, nach der die musikalische Dichtung der Natursphäre näher stehe als die schriftstellerische. Außerdem war das Unaussprechliche für die Romantiker zweifellos Teil der Natur, wie sie diesen Begriff verstanden und reflektierten: »Die Kunst ist der Zauber, welcher den gegenständlichen erstarrten Geist zum Leben befreit und die Natur erst in ihrem wahren Wesen enthüllt.«573 Abgesehen von dem Naturkonzept sollte man allerdings folgende Frage stellen: Was versteckt sich eigentlich hinter dem Begriff des Unaussprechlichen? Handelt es sich dabei um bestimmte, jenseits der menschlichen Sprache existierende/empfundene Phänomene, die man mittels sprachlicher Zeichen kaum ausdrücken kann? Oder sind unter dem ›Unaussprechlichen‹ vielleicht gerade diejenigen Grenzen der Sprache zu verstehen, die nur von der Sprache selbst erkannt und fixiert werden können? Anders formuliert: Verhält es sich nicht so, dass erst die Sprach- und Sprechfähigkeit es dem Menschen überhaupt ermöglicht, das Konzept des Unaussprechlichen zu erarbeiten? So gesehen wird das Unaussprechliche zur bloßen Metapher ursprünglicher sprachlicher Begrenztheit, welche mit der erwähnten sehnsüchtigen Tendenz zur Transzendierung der Sprache unzertrennlich verbunden ist. Um Nietzsches Übermenschen-Appell in einer modifizierten Form aufzugreifen: Die Sprache ist etwas, was überwunden werden muss. In der Literatur der Moderne und insbesondere in den Texten derjenigen Autoren, die zur sog. ›Neuromantik‹ gezählt werden, entfaltet sich dieses Streben zu einem viel diskutierten Problem. Einer der konstitutiven Aspekte moderner Welt- und Kunstauffassung besteht ja in jenem unwiederbringlich verlorenen Vertrauen in die Erkenntnisfunktion der Sprache, welches in Hugo von Hofmannsthals exemplarischem Brief des Lord Chandos an Francis Bacon (1902) ebenso prägnant und aussagekräftig wie poetisch manifestiert wird (übrigens gehörte Hofmannsthal zu den wenigen deutschsprachigen Autoren, die Nabokov schätzte574): Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir 572 Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich, S. 42. 573 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: Novalis‹ magischer Idealismus, S. 48. 574 Vgl. https://www.zeit.de/1959/16/wer-ist-der-lolita-autor/seite-2 / letzter Zugriff am 21. 04. 2020.
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allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ›Geist‹, ›Seele‹ oder ›Körper‹ nur auszusprechen.575
Was in Hofmannsthals Erzählung entscheidend bezweifelt wird, ist gerade diejenige für das mimetisch-realistische Schreiben charakteristische Erschließung der Wahrheit aus der Sprache, welche fruchtbare Kommunikation, Freiheit und Solidarität ermöglicht. Daher fühlt sich Lord Chandos sowohl unfrei als auch von seiner nächsten Umgebung total abgekapselt und zu keinerlei Kommunikation fähig. Sein wachsender Zweifel an der Sprache führt ihn konsequenterweise zum radikalen Entschluss, auf sämtliche sprachlichen Kontakte gar zu verzichten. Kurz: Das sprachliche System wird nicht mehr als »Kommunikationsstruktur, die zwischen Individuum und Wirklichkeit vermittelt«576, betrachtet, sondern vielmehr als Störfaktor, der jegliche Welt-Mensch-Beziehung verdunkelt bzw. verhindert. Aus der romantischen Sicht tendieren sowohl der Mensch als auch die Sprache – ihrer ontologischen Natur nach – zur Selbstüberwindung und Selbst-Transzendierung. Um diese möglichst erfolgreich zu vollziehen, muss sich aber der Sprechende/Schreibende dem sogenannten »Unaussprechlichen« zuwenden, um schließlich in der Dichtung den Höhepunkt artikulierter Manifestation zu finden. Der Dichtungsbegriff sollte dabei allerdings nicht im engen Sinn von Lyrik verstanden werden, sondern als Inbegriff für Sprachgebrauchsformen, welche einen hohen autoreferentiellen Grad aufweisen, wie z. B. die von Friedrich Schlegel propagierte »progressive Universalpoesie«577, welche die Barriere zwischen Poesie und Prosa aufzuheben suchte, oder eben Hugo von Hofmannsthals Brief. Nicht zufällig meinte Nabokov, jedes große Literaturwerk sei in erster Linie ein Sprach- und nicht etwa ein Ideenphänomen.578 Dies gilt aber auch für andere sprachorientierte Disziplinen. So stellt Wladimir Bibichin, einer der »einflussreichsten russischen Philosophen des letzten Jahrhunderts«579 (in Deutschland vor allem als Heidegger-Übersetzer bekannt), am Ende seines Essays Die Sprache der Philosophie fest, die Titelformulierung sei tautologisch, denn »Philosophie ist
575 Hofmannsthal, Hugo von: Der Brief des Lord Chandos und andere Schriften. Köln: Anaconda Verlag GmbH 2015, S. 37. 576 Torsy, Klaus: Unser alltäglicher Wahnsinn. Zum Begriff der Kommunikation bei Dieter Wellershoff. Marburg: Tectum Verlag 1999, S. 29. 577 Schlegel, Friedrich: Progressive Universalpoesie. In: Schmitt, Hans-Jürgen (Hrs.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Romantik I, Stuttgart 2003, S. 22. 578 Vgl. Johnson, Carol: The Disappearance of Literature. Amsterdam: Editions Rodopi N.V. 1980, S. 106–107. 579 https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/der-andere-anfang.html?lid=3 / letzter Zugriff am 06. 03. 2019.
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eben Sprache«.580 Man durfte demnach daran zweifeln, ob der Sprechende bzw. der Autor als ›Sprachbenutzer‹ bezeichnet werden kann, denn die Frage, wer bzw. was hier von wem bzw. wovon benutzt wird – die Sprache von dem Menschen oder vielleicht andersrum – bleibt offen. In Bezug auf Nabokov muss man dabei allerdings bemerken, dass sein Verhältnis zur literarischen Sprache sich von der romantisch geprägten demütigen ›Huldigung‹ des Unaussprechlichen in einigen relevanten Aspekten unterscheidet. Das Problem des sprachlichen Ausdrucks von Gefühlen und Gedanken wird in seinen Romanen häufig markiert. So verschafft beispielsweise Die Gabe einen detaillierten Einblick in den mühsamen Entstehungsprozess eines literarischen Werkes (sei es Lyrik oder Prosa) bereits im allerfrühesten Anfangsstadium, d. h. im Inneren des Dichters:581 […] in jenem Augenblick, bei dem hastigen und unbeholfenen Versuch, die Gemütsbewegung umzusetzen, klammerte ich mich an die ersten besten abgedroschenen Wörter, an ihre konventionellen Verbindungen, so daß alles […] in einem tödlichen Wortschwall unterging, dieweil ich fortfuhr, Attribute rotieren zu lassen, Reime abzustimmen, ohne […] den Verrat zu bemerken – wie ein Mensch, der seinen Traum erzählt […], ihn dabei jedoch, ohne daß er selber und seine Zuhörer es merken, […] nach der Mode der abgedroschenen Wirklichkeit kleidet, und, wenn er dann anhebt: »Ich träumte, daß ich in meinem Zimmer sitze«, die Kunstgriffe des Traums ungeheuerlich banalisiert, indem er es für selbstverständlich hielt, daß das Zimmer genau so eingerichtet war wie sein Zimmer im wirklichen Leben.582
Fjodor nutzt in der oben zitierten Passage die personale Erzählsituation in Bezug auf das eigene Ich aus, um dem Leser die verworrene, oft misslingende Suche nach entsprechenden Artikulationsmitteln nahezubringen. Doch die daraus entstehende Ratlosigkeit samt allen ihren Fehltritten und Verzweiflungsmomenten bildet keineswegs eine ausweglose Sackgasse, sondern sie ist eher eine Art komplizierte Schachkomposition, welche gelöst werden soll. Der Protagonist zweifelt nicht im Geringsten daran, dass es eine Lösung gibt; es kommt nur darauf an, diese zu finden und möglichst vollkommen in Worte zu fassen. Daher heißt es auch einige Zeilen später:
580 Vgl. Bibichin, Wladimir (Бибихин, Владимир): Мир. Язык философии (Die Welt. Die Sprache der Philosophie), Sankt-Petersburg: Азбука 2015, S. 444: »Заглавие ›язык философии‹, как уже говорилось, тавтология. Философия и есть язык.« [Ins Deutsche übersetzt von A.K.] 581 Allerdings sollte der Roman nach Nabokovs ursprünglichem Plan aus zwei Teilen bestehen. Doch seine Fortsetzung ist, ganz in der romantischen Tradition unbeendeter mehrteiliger Künstler- und Liebesromane (Heinrich von Ofterdingen, Franz Sternbalds Wanderungen, Lucinde), ein Fragment geblieben (vgl. u. a. Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre, S. 839. 582 Nabokov, Vladimir: Die Gabe, S. 249–250.
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Die häufig wiederholten Klagen der Dichter, daß leider keine Worte zur Verfügung stünden, daß Worte blutlose Leichen, daß sie unfähig seien, unsere soundso gearteten Gefühle auszudrücken (und zum Beweis wird ein Strom trochäischer Hexameter losgelassen), kamen ihm genau so sinnlos vor wie die unerschütterliche Überzeugung eines Dorfältesten irgendwo im Gebirge, daß jenen Berg dort drüben noch nie jemand bestiegen habe und auch nie besteigen werde; an einem schönen kalten Morgen erscheint ein langer hagerer Engländer – und kraxelt fröhlich auf den Gipfel.583
Diejenige neuromantisch gefärbte Sprachbarriere, an der Hofmannsthals Lord Chandos scheiterte, tritt hier, im Gegenteil, als ein starker Motivationsimpuls auf. Ähnlich wie Fjodor, einer seiner Lieblingsprotagonisten, glaubte Nabokov fest an die unerschöpfliche Kraft derjenigen individuellen, vom Autor erfundenen Wortmagie, die in seiner Vorstellung mit dem gängigen (obschon in der Regel allzu eng aufgefassten) Stilbegriff gleichzusetzen sei. Dieser Glaube zeigt eine relevante Ähnlichkeit mit den romantischen Vorstellungen auf. Julius Petersen schreibt: »Die Natur, der verzauberte Geist, bedarf eines Wortes, das die Kraft hat, den Zauber zu brechen und die Natur in ihr wahres Wesen zu befreien. Dieses die Natur aus ihrer transzendentalen Verzauberung erlösende Wort ist das dichterische Wort.«584 In einem Gedicht von Novalis kommt diese Überzeugung direkt zum Ausdruck: Wenn nicht mehr Zeilen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen, Wenn die, so singen oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, […] Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu echter Klarheit werden gatten, […] Dann fliegt von einem geheimen Wort das ganze verkehrte Wesen fort.585
Eine vergleichbare Offenbarung erlebt auch der Protagonist einer russischsprachigen Kurzgeschichte von Nabokov, die übrigens den Titel Das Wort trägt. Der knappe Text bildet eine Zusammenfassung des Traumes, den der Ich-Erzähler hatte. In diesem Traum sieht er eine sich rasch bewegende Engelschar, die an ihm teilnahmslos vorbeifliegt, ohne seine Anwesenheit zu bemerken. Plötzlich wendet sich einer der Engel an den Träumenden – einen einsamen, in fremde Gegend verbannten Menschen – mit einem magischen Trostwort, welches sämtliche Zweifel löst und das früher Unfassbare auf eine wunderbare Weise klarmacht. Ein einziges Wort ist es, wodurch der ganze Schmerz des Protagonisten geheilt wird.
583 Ebd., S. 251. 584 Petersen, Julius: Die Wesensbestimmung der Deutschen Romantik, S. 46–47. 585 Novalis: Wenn nicht mehr Zeilen und Figuren… . In: Frühwald, Wolfgang (Hg.): Gedichte der Romantik. Stuttgart: Reclam 2009, S. 142.
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Danach erwacht er, möchte das geheime Wort laut vor sich hin schreien, es in die Welt senden und diese somit heilend umwandeln – doch gerade in diesem Moment muss der Erwachte mit bitterer Verwunderung feststellen, er habe das heilige Wort vergessen.586 Dieses Schlüsselwort – welches hier nicht etwa als Metapher zu verstehen ist, sondern explizit als ein Wort, dass alles (sprich: Lebens- und Leidenssinn) entschlüsseln bzw. erklären kann – wird der Hauptfigur nicht gegeben. Aber der Text ist trotzdem da, er wurde ja aufgeschrieben, womit die Aufgabe des Künstlers – auf das Unnennbare hinzuweisen, ohne es auszusprechen – erfüllt wird. Die Sprache der Literatur ist also zwar nicht allmächtig, aber kraftvoll genug, um das scheinbar Reale ins Schwanken zu bringen und den Schleier zwischen Dies- und Jenseits zwar nicht zu zerreißen, aber immerhin sichtbar zu machen. Daraus resultiert unter anderem eine der ausdrucksvollsten Besonderheiten von Nabokovs Schreibstil, die in Nikolai Karpows Analyse der Zusammenhänge zwischen Nabokov und der Romantik eingehend beleuchtet wird. Am Beispiel der erzählten Welt in Einladung zur Enthauptung zeigt Karpow, wie das Phantastische in Nabokovs Romanuniversum – anders als in der romantischen Literatur – funktioniert, nämlich nicht (bzw. nicht nur) auf der Was-Ebene des Inhalts, sondern vor allem mittels der verwendeten Sprache. Die Tatsache, dass die im Roman dargestellte Wirklichkeit in eine unbestimmte Zukunft versetzt wird, ist für den phantastisch-absurden Eindruck, den der Text auslöst, bei weitem nicht so bedeutend wie der seltsame, mit keiner literarischen Tradition vergleichbare Erzählstil. Karpow schreibt dazu: […] bei näherer Betrachtung erweist sich die Romanlandschaft als »quasiphantastisch«, wovon die folgende relevante Besonderheit zeugt. Das, was beim ersten Annäherungsversuch als phantastisch empfunden werden kann, ist oft ein strikt linguistisches Phänomen, ein authentischer Bestandteil des Autorenstils. Das Phantastische wird somit reduziert, indem es den Ereignisstatus verliert und sich aus einem Element des »Weltbildes« in einen unüblich realisierten Tropus bzw. eine Stil- bzw. Redefigur umwandelt. […] In den Vordergrund tritt für den Schriftsteller die ursprüngliche Natur des Logos sowie das Spiel mit dessen Bedeutungspalette.587
586 Nabokov, Vladimir: The Word (ins Englische übersetzt von Dmitry Nabokov): https:// www.newyorker.com/magazine/2005/12/26/the-word-3 / letzter Zugriff am 07. 03. 2019. 587 Karpow, Nikolai (Карпов, Николай): Романтические контексты Набокова (Romantische Kontexte bei Nabokov), S. 162. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »[…] на поверку пейзаж романа оказывается ›квазифантастичен‹, о чем свидетельствует следующая важная особенность. То, что при первом приближении может быть воспринято как фантастическое, часто является феноменом сугубо лингвистическим, принадлежностью стилевой манеры автора. Фантастика редуцируется, теряя статус события и трансформируясь из элемента ›картины мира‹ в троп, получающий неожиданную реализацию, или в фигуру речи. […] На первый план для писателя выходит сама природа логоса и игра его значениями.«
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Anders sieht es bei den romantischen Autoren aus, deren Werke zwar durchaus märchenhaft und phantasiereich auf der Inhaltsebene sind, sprachlich gesehen jedoch der klassischen Tradition verpflichtet bleiben. So sind z. B. in Peter Schlemihls wundersame Reise alle erzählstilistischen Konventionen sentimentaler Romane des 18. Jh. beibehalten, obschon die abschließende Botschaft dieser Märchennovelle ausgesprochen romantisch und aufklärungskritisch geprägt ist. Es gibt natürlich bemerkenswerte Ausnahmen: In einigen experimentfreudigen Novellen von Ludwig Tieck und Novalis, in Bonaventuras Nachtwachen, stellenweise auch in Friedrich Schlegels Lucinde beobachtet man erzähltechnischstilistische Modernisierungsspuren, welche für die Entstehungszeit dieser Texte eher untypisch waren und einige Stilwandlungen des 20. Jh. vorwegnehmen. Lyrik und Epik, Literatur und Philosophie, Fiktion und Essayistik sind hier – sprachlich wie strukturell – auf eine innovative Weise verflochten. Im Großen und Ganzen bezieht sich jedoch das Romantische in erster Linie auf das Was des Erzählten, d. h. auf die im Text dargestellte Wirklichkeit, nicht aber auf die sprachlichen Nuancen ihrer Darstellung. Daher wird die Romantik in der Forschung zurecht als eine der bedeutenden Inspirationsquellen der späteren Science-Fiction- bzw. Fantasy-Literatur betrachtet. Bei Nabokov erlebt hingegen die literarische Form als solche – nach Karpows aufschlussreicher Anmerkung – eine entscheidende, revolutionäre Metamorphose. Kraft ihrer sprachlichen Darstellung wirkt die im Roman kreierte Wirklichkeit unbegreiflich fremd: […] da die Referenz zur außertextuellen Wirklichkeit fehlt, befindet man sich im Reich der fiktionalen Literatur par excellence, für die es weder etwas Phantastisches noch Nicht-Phantastisches, »Normales« oder »Unnormales« geben kann, denn der Text gibt sich genau dafür aus, was er a priori ist, indem er ursprünglich keinerlei Ansprüche auf jegliche realistische Wahrhaftigkeit erhebt. Mit dem Mimesis-Prinzip kardinal brechend, geht die Ästhetik des Romans nicht davon aus, dass irgendeine Norm jenseits des Romanraumes überhaupt existiert.588
Die radikale Unterlassung des Mimesis-Prinzips – jener gewagte ästhetische Schritt, welcher für die Romantiker so erstrebenswert war und von Goethe im Gegenteil als kunstwidrig und gar »krank« empfunden wurde589 – erlebt somit in Nabokovs Werk eine Art ›revidierte Wiederbelebung‹. Wollten die romantischen Dichter durch ihr Schaffen gewisse verborgene (Nacht)Seiten des Seins (sowie des Bewusstseins) entlarven und zur Schau stellen, so versetzt Nabokov den Realitätsbegriff gänzlich in die Erzählsphäre des Textes. Laut Karpow wird das, was in der romantischen Literatur im Rahmen eines einzigen strukturell-sinnstiftenden Ganzen funktionierte, von Nabokov in Ein588 Ebd., S. 161. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. 589 Vgl. https://www.goethe-gesellschaft-erfurt.de/goethes-romantik-kritik/ letzter Zugriff am 14. 02. 2019.
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zelteile zerlegt.590 Die wirkliche Welt samt allen darin herrschenden Relationen und Strukturen spielt allerdings eine durchaus bedeutende Rolle, nicht aber im Sinne einer objektiven Realität, die widergespiegelt werden soll, sondern vielmehr als ein ›Aufbaumodell‹, ein Schöpfungsmuster, nach dem sich der Romanautor mit begeisterter Aufmerksamkeit richtet. Selbstverständlich ist diese Einstellung allein deshalb romantisch gesinnt, weil es hierbei davon ausgegangen wird, die Welt wäre von einer höheren (personifizierten) Kraft kreiert worden, wodurch das künstlerische Schaffen als Rivalität mit dem Allmächtigen591 betrachtet wird. Auch seine eigene ›ewige Verbannung‹ hat Nabokov, nach Karpows berechtigter Behauptung, im romantischen Geiste – d. h. als Metapher menschlicher Existenz auf der Erde – betrachtet.592 So wird das romantische Verfahren in Nabokovs Oeuvre mittels diverser Modernisierungselemente konsequent erweitert und neu bestimmt. In einem unveröffentlichten Gespräch mit seinem ehemaligen Studenten Stephen Parker wählte Nabokov aus dem beachtlichen Gesamtwerk eigener Kurzprosa vier Erzählungen, die er besonders hoch schätze, da sie, so der Autor, sein künstlerisches Vorhaben am exaktesten darstellen und dasjenige daran offenbaren, was dessen größte Kraft bildet, nämlich seinen immensen romantischen Glanz.593 Es ging dabei um zwei russische (Frühling in Fialta und Wolke, Burg, See) sowie zwei spätere, englischsprachige Texte (Zeichen und Symbole und Die Schwestern Vane). Dies sind in der Tat markanteste Beispiele einer höchst spezifischen Auffassung des ›Romantischen‹, die sich in Nabokovs Werk manifestiert. Wird aber in Wolke, Burg, See die romantische Sehnsucht des Einzelnen durch deren dunklen Gegensatz, d. h. durch die totalitäre Banalität der Menge, rücksichtlos unterdrückt594, so treten die romantischen Elemente der Nabokovschen Kunst in anderen erwähnten Erzählungen, trotz ihrer strukturellen wie inhaltlichen Differenzen, deutlicher ans Licht. Das Schlüsselwort, das man als eine Art semantisches Kettenglied, welches alle drei Texte verbindet, betrachten kann, heißt: Durchsichtigkeit. Dieser Begriff funktioniert bei Nabokov auf 590 Karpow, Nikolai (Карпов, Николай): Романтические контексты Набокова (Romantische Kontexte bei Nabokov), S. 162. Russische Originalfassung: »[…] поскольку референция к внетекстовому миру отсутствует, мы оказываемся лицом к лицу с фикциональной литературой par excellence, для которой не может быть ничего фантастического или нефантастического, ›нормального‹ или ›ненормального‹ – текст выдает себя именно за то, чем априори и является, изначально не претендуя на какое-либо жизненное правдоподобие. Кардинально нарушая приципы мимесиса, эстетика романа не подразумевает обязательного наличия нормы вне его пространства.« 591 Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 58. 592 Karpow, Nikolai (Карпов, Николай): Романтические контексты Набокова (Romantische Kontexte bei Nabokov), S. 11. 593 Vgl. http://ilgalinsk.narod.ru/nabokov/n_best.htm / letzter Zugriff am 14. 02. 2019. 594 Mehr dazu siehe im Kapitel 2.2.3 der vorliegenden Arbeit.
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mehreren Bedeutungsebenen. Die Durchsichtigkeit kann sowohl verhängnisvoll als auch segensreich wirken: je nachdem, ob sie sich auf das wahrnehmende Subjekt oder auf die wahrgenommene Wirklichkeit bezieht. Das Ich muss stets undurchsichtig bleiben, denn seine innere Einsamkeit ist sein heiliges Recht, mehr noch – seine primäre, ontologische Eigenschaft, welche allein durch Liebe überwunden werden kann (und soll). Der äußere Lebensraum bildet in Nabokovs Erzählwelt dagegen eine Rätselkette, die dem Menschen gegeben wird, um sie zu entziffern. Von der Geburts- bis zur Todesstunde werden Nabokovs Figuren von unzähligen Schatten, Geistern und Zeichen begleitet, die auf eine andere, höhere Realität hindeuten. Daher kann man jeden Sympathie bzw. Empathie oder Bewunderung hervorrufenden Protagonisten in Nabokovs Texten als ein ›undurchsichtiges‹ Einzelsubjekt in einer durchsichtigen Objektwelt bezeichnen. Darunter ist eine Figur zu verstehen, deren Seelenautonomie im harmonischen Einklang mit der verborgenen, aber andauernd präsenten Durchsichtigkeit des Seins bleibt. Dies geschieht freilich nicht automatisch. Dazu gehört eine gewisse intellektuelle sowie geistige Anstrengung, die allerdings nicht zum vollkommenen Wissen über die letzten Geheimnisse des Lebens führt, sondern eher einer stillen, dankbaren Hoffnung auf den metaphysischen Ursprung der Schöpfung sowie auf die Unzerstörbarkeit der Seele Halt gibt. Mit der romantisch angehauchten Transparenz der Wirklichkeit ist in Nabokovs Werk auch die Durchsichtigkeit der erzählten Welt seiner Texte verbunden. Dabei handelt es sich keinesfalls um strukturelle und semantische Schlichtheit. Ganz im Gegenteil: Wie oben mehrmals gezeigt wurde, zeichnet sich Nabokovs Prosa durch enorm komplexen Aufbau sowie abwechslungsreiche Stimmen- und Bedeutungspolyphonie aus. Nichtsdestoweniger gibt es in seinen Romanen und Erzählungen stets eine andere, der (scheinbaren) Haupthandlung beiwohnende Dimension – eine Art ›narrative Tiefenstruktur‹, die nicht direkt thematisiert wird; aber der Text weist darauf mittels gewisser verborgener Signale hin (so geschieht es z. B. in der Erzählung Die Schwestern Vane). Einerseits kann die eigentliche Mitteilung der dargestellten Geschichte nur von einem auf Nabokovs Erzählwelt entsprechend vorbereiteten bzw. ihr kongenialen Leser entschlüsselt werden. Andererseits offenbart sich der Text als ›durchsichtig‹ im beinahe wortwörtlichen Sinn, denn hinter der letzten Passage verbirgt sich eine transzendente Wirklichkeit, deren Existenz der direkten Bedeutung niedergeschriebener Sätze nachhaltig widerspricht. Die vom enttäuschten Ich-Erzähler artikulierte Leugnung jenseitiger Welt wird gleichzeitig zum Manifest der unbeschränkten Macht des allgegenwärtigen Jenseits, das die (er)fassbare Daseinsebene latent durchringt. Da die angemessene Lösung des entworfenen metaphysischen Rätsels, wie gesagt, eine extrem schwierige Aufgabe ist, hat der Autor selbst – ausnahmsweise – die eigentliche Erklärung im Nachhinein vorgelegt: »In dieser Geschichte soll der Erzähler nicht merken, daß sein letzter
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Absatz von zwei toten Mädchen akrostisch benutzt wurde, um ihren geheimnisvollen Anteil an der Geschichte geltend zu machen. Es ist ein Trick, den man nur einmal in tausend Jahren belletristischer Prosa versuchen kann. Ob er funktioniert hat, ist eine andere Frage.«595 Die den menschlichen Sinnen zugängige materielle Wirklichkeit ist bei Nabokov demnach gewissermaßen transparent, denn hinter jedem Phänomen, das man mittels Sprache beschreiben kann, bleibt etwas Anderes, Unaussprechliches verborgen. Dieses Etwas ist aber – genauso wie der als Individuum verstandene Mensch und die als Kosmos verstandene Welt – in seinem tiefsten Wesen undurchsichtig. Darüber hinaus sollte das Jenseitige mit dem Guten bzw. Göttlichen nicht – jedenfalls nicht immer – gleichgesetzt werden. So hat man in zwei anderen Erzählungen, die von Nabokov im Kontext des ›Romantischen‹ hervorgehoben wurden, – dem russischsprachigen Frühling in Fialta und dem englischsprachigen Zeichen und Symbole – mit einer eher tragisch-warnenden bzw. gleichgültig schweigenden Ewigkeit zu tun. Besonders der zweite Text, den Brian Boyd als »[…] Triumph der Ökonomie und Kraft, des minutiösen Realismus und schimmernden Geheimnisses«596 bezeichnet, gibt ein sehr beunruhigendes Jenseitsbild. Diesmal geht es zwar nicht um Geister, sondern um eine gewisse seltene Geistesstörung, die in der Erzählung unter dem Namen »Beziehungswahn«597 auftaucht. So lautet wenigstens die Diagnose eines gewissen »Hermann Brink«598, der im Text nur einmal erwähnt wird. Offensichtlich handelt es sich um einen deutschen Therapeuten, was wiederum ziemlich kennzeichnend ist, wenn man Nabokovs durchaus skeptisches Verhältnis sowohl zur Psychotherapie als auch zu Deutschland bedenkt. Der Betroffene ist ein junger Mann, dessen Eltern aus Weißrussland kommen und infolge der Oktoberrevolution zuerst nach Leipzig und Berlin, danach in die USA fliehen mussten. Ein Flüchtling bzw. Geflüchteter also, wie man ihn heute bezeichnen würde. Die seltene Krankheit, die seine Psyche plagt, wird durch den auktorialen Erzähler ziemlich exakt beschrieben, obschon man nicht sicher sein kann, ob die benutzten Formulierungen unmittelbar von der Erzählinstanz kommen oder aber in Form einer dezent markierten erlebten Rede die Schlussfolgerungen des deutschen Arztes wiedergeben: In diesen sehr seltenen Fällen bildet sich der Patient ein, alles, was um ihn her geschieht, stehe in verschleierter Beziehung zu seiner Person und seiner Existenz. Wirkliche, lebende Personen schließt er von der Verschwörung aus, weil er sich für viel intelligenter hält als andere. Die Welt der Naturerscheinungen beschattet ihn, wohin er auch geht. Die Wolken am starrenden Himmel übermitteln einander durch langsame Zeichen
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In: Nabokov, Vladimir: Die Schwestern Vane, S. 197. Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die amerikanischen Jahre, S. 182. Nabokov, Vladimir: Die Schwestern Vane, S. 109. Ebd.
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unglaublich genaue Auskünfte über ihn. Seine geheimsten Gedanken werden bei Einbruch der Nacht von dunkel gestikulierenden Bäumen in ihrem Fingeralphabet diskutiert. […] Alles ist Chiffre, und er ist der Gegenstand von allem. […] Er muß ständig auf der Hut sein und jede Minute und jeden Modul seines Lebens dazu benutzen, die Schwingungen der Dinge zu entziffern.599
Der Eindruck, dass die oben zitierte Beschreibung keine objektive, vom Erzähler geteilte Meinung bildet, wird durch mehrere relevante Nuancen, welche den ganzen Text durchdringen, verstärkt. Betrachtet man die dargestellte Geschichte aus einer textübergreifenden Perspektive, d. h. nicht aus der Sicht der darin agierenden Figuren, sondern von dem diese Figurenkonstellation transzendierenden Standpunkt aus, so entdeckt man eine nicht zu übersehende Häufung von bedrohlichen Naturerscheinungen und technischen Störungen diverser Art, die als kodierte Voraussage einer sich nähernden Tragödie gelesen werden könnten. »An diesem Freitag schlug alles fehl«, heißt es bereits am Anfang des dritten Absatzes. »Der Untergrundbahn ging zwischen zwei Stationen der Lebensstrom aus […]. Der Bus, mit dem sie anschließend fahren mußten, ließ eine Ewigkeit auf sich warten […]. Es goß in Strömen, als sie den braunen Pfad zum Sanatorium hinaufgingen.«600 Im Krankenhaus angekommen, erfährt das alte Ehepaar von einem weiteren Selbstmordversuch ihres Sohnes. Die Krankenschwester, »die sie kannten, aber nicht besonders mochten«, versichert ihnen, »ein Besuch könne ihn aufregen«601, und so erweist sich der lange und anstrengende Weg zum Sanatorium – einerseits – als sinnlos. Andererseits bestand der eigentliche Sinn vielleicht eben in jenen Zeichen und Symbolen (so gesehen, wirkt auch der Titel der Erzählung wegweisend), die sie zwar bekommen, aber nicht bemerkt haben. Auf dem Rückweg aus dem Krankenhaus gibt es ein weiteres markantes Zeichen: »Ein paar Meter weiter, unter einem windgeschüttelten, tropfenden Baum, zuckte ein winziger, halbtoter Vogel hilflos in einer Pfütze.«602 Im zweiten Kapitel erfährt man, dass der kranke Junge im Alter von sechs Jahren »wundersame Vögel zeichnete, mit menschlichen Händen und Füßen.«603 Der ertrinkende Vogel könnte demnach den leidenden Sohn symbolisieren und die Eltern – wären sie aufmerksame Realitätsbeobachter – vor einer ihm drohenden Gefahr warnen. Doch daran denkt der Vater erst in der Nacht, als er nicht schlafen kann und seiner Frau vorschlägt, den Sohn am nächsten Morgen nach Hause zu holen. Kurz danach klingelt aber das Telefon und die »matte, kleine Stimme eines Mädchens«604 fragt, ob sie Charlie sprechen dürfe. Ein Falschalarm, der sich 599 600 601 602 603 604
Ebd. Ebd., S. 107. Ebd. Ebd., S. 108. Ebd., S. 111. Ebd., S. 114.
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jedoch wiederholt, als dasselbe Mädchen sie zum zweiten Mal anruft. Es stellt sich heraus, sie wähle »den Buchstaben O statt der Null.«605 Nun scheint die Sache geklärt zu sein, und die Eltern sind beruhigt, aber im letzten Satz der Erzählung läutet das Telefon aufs Neue und lässt den Leser in ängstlicher Unwissenheit. Ist es also schon zu spät, die vom unbekannten Sender geschickten Zeichen entsprechend zu interpretieren? Es taucht dabei eine Frage eher theologischer als narratologischer Art auf: Wer ist nun dieser geheimnisvolle, anonyme Weltherrscher, der mit seiner Schöpfung derart erbarmungslose Spielchen treibt? Brian Boyd beantwortet dies mit einer dualistischen Vermutung: Aus der Sicht seiner Eltern erscheint der Tod des Sohnes schlicht als eine Glasscherbe mehr auf dem Haufen Elend, der ihr Leben ausmacht. Doch außerhalb dieses Blickwinkels wird uns klar, daß die Geschichte, wenn der Junge tatsächlich gestorben ist, von einer zarten Anteilnahme geprägt ist, die jedes winzige Detail einer in sich offenkundig unerlösten, absurd tragischen Welt durchwirkt. […] Wird unser Tod vielleicht auch plötzlich enthüllen, daß unser Leben von einem zarten Sinn geprägt ist? Oder werden wir dies niemals erfahren – sowenig wie wir jemals erfahren, ob jener Telephonanruf einen Tod meldet oder wieder eine irritierende falsche Verbindung darstellt, wieder eine unnötige Störung?606
Ausgerechnet in dieser Erzählung scheint das Leben der Figuren vielmehr von Spuren einer unbenannten Anwesenheit geprägt als »von einem zarten Sinn«. Somit würde ich eher dazu tendieren, den Tod des geisteskranken Jungen – angenommen, er sei gestorben, wovon der dritte Telefonanruf berichten sollte, – als eine Art Flucht aus der gnostisch konzipierten Erzählwelt zu deuten. Damit wäre auch die Bezeichnung »geisteskrank« relativ. Sollte man dies tatsächlich als geistige Störung betrachten oder doch als eine – wenn auch schreckliche – Offenbarung? Um es mit den Worten des Professors aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung Rat Krespel zu formulieren: »Es gibt Menschen […], denen die Natur oder ein besonderes Verhängnis die Decke wegzog, unter der wir andern unser tolles Wesen unbemerkter treiben. Sie gleichen dünngehäuteten Insekten, die im regen, sichtbaren Muskelspiel mißgestaltet erscheinen […].«607 Eine solche Vorstellung wäre freilich etwas grausam, aber gerade das Grausame bildet ein bedeutendes, beinahe unentbehrliches Element des Romantischen. Im Folgenden wird die ›Nachtseite‹ von Nabokovs Romantik am Beispiel seines dritten Romans unter dem Titel Lushins Verteidigung näher besprochen.
605 Ebd., S. 115. 606 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die amerikanischen Jahre, S. 184–185. 607 Hoffmann, E.T.A.: Rat Krespel. Die Fermate. Don Juan. Stuttgart: Reclam 2016, S. 19.
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3.2
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›Schacheinsamkeit‹ – Lushins Verteidigung als neuromantisches Schauermärchen
Wie die meisten Romane von Vladimir Nabokov, ist auch sein drittes, 1930 veröffentlichtes Buch Lushins Verteidigung608 eher arm an Ereignissen im üblichen, Spannung aufbauenden Sinn, sodass sich die Handlung in einem Satz zusammenfassen lässt. Erzählt wird die Geschichte eines dem Wahnsinn langsam verfallenden genialen Schachspielers Alexander Lushin, der sein eigenes Leben als ein verhängnisvolles Spiel zu betrachten beginnt und schließlich Selbstmord begeht, indem er aus dem Fenster der neuen Wohnung springt, in die er kurz davor mit seiner jungen Ehefrau (sie bleibt im Text anonym) einzieht. Strukturell teilt sich der Roman in drei Lebensphasen von Lushin – Kindheit, Verliebtheit/Heirat, Ehe – die alle mit dem Schachspiel untrennbar verbunden sind. Lushin wächst als ein äußerst einsames, eigenartiges Kind auf, das aber – den Erwartungen seines Vaters zum Trotz – keinerlei Talente aufzeigt, bis der Junge eines Tages die faszinierende, ja gerade magische Schachwelt kennenlernt, welche ihn immer weiter in ihren Bann zieht. Diese Leidenschaft dominiert nicht nur die ganze Denk- und Lebensweise der Hauptfigur, sondern zeigt sich bald von ihrer abtrünnigen, folgenschweren Seite. Lushins Verliebtheit – obwohl man dieses Wort in Bezug auf seine Person nur behutsam verwenden sollte – und das scheinbar glückliche Zusammensein decken sich zeitlich mit einer radikalen Krise in seinem Schachwahn. Leben und Spiel werden in Lushins Bewusstsein zu einer gefährlichen Einheit, während in der realen Wirklichkeit die Situation völlig entgegengesetzt aussieht, sodass er zwischen einem ›normalen‹, d. h. realitätsadäquaten Leben und dem Schachspielen wählen muss. Von seiner selbstlosen Verlobten (später auch Ehefrau) zart und liebevoll unterstürzt, versucht Lushin, die ihn zerstörende Schachmanie aufzugeben bzw. zu vergessen, was ihm jedoch nur für kurze Zeit gelingt. Ein scheinbar unbedeutendes, für Lushin allerdings kennzeichnendes, schicksalhaftes Treffen führt zum Rückfall in den Wahnsinn und letztendlich zum tragischen Finale. Das als Geburtsstunde und »Schlüsseltext«609 der deutschen Frühromantik geltende Kunstmärchen Der blonde Eckbert von Ludwig Tieck kreiert und entwickelt ein mit Lushins Verteidigung korrespondierendes Motiv- und Handlungsschema, das sowohl in Tiecks späteren Märchennovellen (Der Runenberg, Die Elfen) als auch in gespenstischen Wahngeschichten anderer Autoren, vor allem in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann, fortgeführt und erweitert wurde. 608 Nabokov, Vladimir: Lushins Verteidigung. 4. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2014. 609 Hölter, Achim: Über Weichen geschickt und im Kreis gejagt. In: Kremer, Detlef (Hg.): Die Prosa Ludwig Tiecks. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2005, S. 69.
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Dieses Schema sieht ungefähr folgendermaßen aus: Eine sensible oder gar überempfindliche, vereinsamte und – nach durchschnittlichen Maßstäben geurteilt – eigenartige Hauptfigur bekommt den Zugang zu einer anderen, geheimnisvollen und phantastischen Wirklichkeit, was schließlich zu geistiger Verwirrung, physischer Krankheit, Tod bzw. Selbstmord führt. Innerhalb dieser Rahmengrenzen sind natürlich mehrere Alternativen möglich. So wird z. B. Marie in Tiecks Elfen erst nach dem Elfenreichbesuch melancholisch und einsam, vorher verhält sie sich eher als ein durchaus hyperaktives und weltoffenes Kind. Auch die Elfenwelt an sich zeigt keine bedrohlichen, geschweige denn dämonischen Züge, sondern »erweist sich im Innern als paradiesische Welt mit eigenen (Natur-)Gesetzen«610, wobei Letztere für die Menschen nicht immer vorteilhaft wirken und weder logisch noch axiologisch erklärt werden können; aber gerade darin sind Volks- und Kunstmärchen aufs engste miteinander verzahnt, weil »die Märchenlogik keine Moral kennt.«611 Ein Handlungselement bleibt jedoch konstant: Der schicksalhafte Kontakt mit einer übernatürlichen Realität (die Frage danach, ob diese nur die Einbildung der Protagonisten/-innen sind, sei an der Stelle außer Diskussion gelassen) endet für die ›auserwählte‹ Figur immer tragisch. Eine seltene Ausnahme aus dieser traurigen Regel bildet Hoffmanns Der goldne Topf, wo die reale (bürgerliche) Dresden-Welt und der ideale (phantastische) Atlantis-Raum nach einer abenteuerlichen und angestrengten Auseinandersetzung letztendlich eine friedliche, für die meisten Menschen kaum bemerkbare Parallelexistenz weiterführen. Eines der Hauptprinzipien des romantischen Kunstmärchens bleibt auch hier in Kraft, nämlich: Jedes Mal, wenn Anselmus versucht, seiner nächsten Umgebung die magische Welt, die er leibhaftig erlebt hat, näherzubringen, wird er missverstanden, ausgelacht und entweder als betrunken612 oder gar besessen613 betrachtet. Deutlicher und zugleich grausamer manifestiert sich diese Anonymität des Übernatürlichen bei Ludwig Tieck in Der blonde Eckbert und Die Elfen. Erst als Bertha ihre märchenhafte Kindheitsgeschichte einem Familienfreund erzählt, nehmen die signifikanten schrecklichen Ereignisse ihren Lauf. In den Elfen ist Maries Schweigen über das Elfenreich die Voraussetzung dafür, dass eine konfliktlose Koexistenz beider Wirklichkeiten weiterhin erhalten bleibt. Als sie das Geheimnis verrät – und zwar aus gutgemeinten Beweggründen – müssen die Elfen die Menschenwelt (wenigstens dasjenige Dorf, wo die Handlung spielt) verlassen, worauf der Tod aller weiblichen Figuren (Maries, ihrer Mutter Brigitte und 610 Meißner, Thomas: Erinnerte Romantik. Ludwig Tiecks »Phantasus«. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 348. 611 Ebd., S. 75. 612 Vgl. Hoffmann, E.T.A.: Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 17. 613 Ebd., S. 19.
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Tochter Elfride) sowie das allgemeine Absterben der Natur folgen. Die den Alltag durchbrechende transzendente Erfahrung des Wunderbaren setzt ein Schweigegebot voraus. Interessant wäre also, die Gründe dieses Schweigegebots zu hinterfragen. Zwei Möglichkeiten sind dabei anzunehmen: 1) Das Wunderbare ist (in menschlicher Sprache) unaussprechlich, daher führt jeder Versuch, es trotzdem in Worte zu fassen, zur semantischen Verzerrung des berichteten Inhalts. 2) Die üblichen Bewohner der realen Welt dürfen von der nebenbei existierenden anderen Wirklichkeit nicht erfahren, weil diese Existenz eben nur unter der Bedingung ihrer totalen Anonymität geführt werden kann. In gewissem Sinn handelt es sich sozusagen um eine Schattenseite desjenigen »Zwei-Welten-Modells« von Anna Krüger und Ruth Koch, welches man heute vor allem mit Kinder- und Jugendliteratur assoziiert614, obschon es bereits in den frühesten romantischen Texten aktiv verwendet wurde (die oben genannten Beispiele bilden nur ausgewählte, besonders markante Illustrationen dazu). Unabhängig davon, welche der vorgeschlagenen Deutungsoptionen man wählt – das Unaussprechliche des Wunderbaren oder dessen erwünschtes Inkognito –, bleibt eine allzu dichte Annäherung an jene ›andere Wirklichkeit‹ nicht ohne Folgen. Um diese Problematik herum kreisen auch drei für die Romantik maßgebende Motive: 1) ein geheimnisvoller Außenseiter, dessen Alleinsein entweder intentionale (Tiecks Der blonde Eckbert), existentielle (Friedrich de la Motte Fouqués Undine) oder gemischte (Adelbert Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte) Züge trägt; 2) eine romantische Liebesbeziehung zwischen dem romantischen Helden und einer ihm geistig verwandten – oder, im Gegenteil, fremden – Frau, die ihn entweder unterstützt und inspiriert (Friedrich Schlegels Lucinde) oder aber zu seinem Untergang beiträgt (E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann); 3) eine (häufig unbeabsichtigte) Interaktion mit einer anderen – parallelen oder transzendenten – Wirklichkeit (otherworld), welche oft mit der Todes- und Jenseitsthematik eng verbunden ist. Alle drei Aspekte finden ihren Ausdruck auch in Lushins Verteidigung, und zwar auf eine durchaus interessante, für die klassische Romantik eher untypische Weise. Dies zeigt sich z. B. an der Figur des romantischen Einzelgängers, dessen wesentlich modifiziertes (und modernisiertes) Bild bei Nabokov oft in einer raffiniert verkleideten Gestalt auftaucht. Seine Hauptfiguren – unter denen es an 614 Vgl. Naglik, Sarah: Das wiederkehrende Motiv des Bösen in phantastischer Kinder- und Jugendliteratur. Hamburg: Diplomica Verlag 2014, S. 19.
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seltsamen, devianten und ausgesprochen wahnsinnigen Personen nicht mangelt – sind nur selten Dichter im strikten Sinne des Wortes. Weder Ganin (Maschenka) noch Franz oder Dreyer (König Dame Bube), Hermann (Verzweiflung) noch Pnin (aus dem gleichnamigen Roman), Hugh Person (Durchsichtige Dinge) noch Van Veen (Ada) können als Künstler bezeichnet werden. Ihre Denk- und Verhaltensweise mag edel oder niederträchtig, tugend- oder lasterhaft sein, manchmal (besonders wenn die Narration in der Ich-Form geführt wird) sind sie ziemlich talentierte Erzähler, jedoch keine Künstler im strengen Sinne des Wortes. Fahles Feuer handelt zwar von einem Dichter, aber dessen Leben und Werk werden von einem verrückten Literaturwissenschaftler – und gleichzeitig dem unzuverlässigen Erzähler – Charles Kinbot unerkennbar verzerrt. Humbert (Lolita) ist wiederum Literaturprofessor, aber kein Schriftsteller. Kretschmar/Albinus (Camera Obscura/Gelächter im Dunkel) ist gar eine Künstler-Parodie, wohingegen der Schriftsteller Udo Conrad nur episodisch als Nebenfigur auftritt. Es gibt allerdings zwei Ausnahmen: Fjodor GodunowTscherdyncew – der Protagonist und Ich-Erzähler von Die Gabe; Vadim Vadimowitsch – die Hauptfigur von Nabokovs letztem vollendetem Roman Siehe doch die Harlekine!615 Ansonsten sind die meisten zentralen Gestalten bei Nabokov zwar fast immer Menschen mit einer untypischen Ich- und Weltempfindung, aber doch keine Künstler. Einige von ihnen könnten als ›verschleierte‹ Künstler betrachtet werden, deren prosaische, alltägliche Berufe – Geschäftsmann, Hochschullehrer usw. – ihr inneres Außenseitertum gewandt maskieren. Fragt man sich nach den Gründen, warum sich Nabokov nur in Ausnahmefällen auf sog. »Künstlernaturen« konzentriert, so könnte folgende Bemerkung von Alexander Dolinin darin Einiges klären: Nabokov, der in hohem Maße ein Fortsetzer romantischer und symbolistischer Traditionen war und von beiden das grundsätzliche »Zwei-Welten-Konzept« übernommen hatte, teilte keineswegs ihre […] Vorstellung über die Synthese von Kunst und Leben bzw. die Verschmelzung von der realen Biographie eines Künstlers und seinen fiktionalen Texten.616
Die insbesondere von den Frühromantikern vertretene Idee der Unzertrennlichkeit von dichterischem Schaffen und Leben findet in Nabokovs Kunstauf615 Dieser Roman wird wegen der thematischen Beschränkung der vorliegenden Untersuchung – Nabokov und Deutschland – nicht besprochen. 616 Dolinin, Alexander (Долинин, Александр): Истинная жизнь писателя Сирина. Работы о Набокове. (Das wahre Leben des Schriftstellers Sirin. Beiträge zu Nabokov). Sankt-Petersburg: Академический проект 2004, S. 303. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »Набоков, во многих отношениях продолжатель романтической и символистской традиций, принявший у них основополагающую концепцию ›двоемирия‹, решительно расходился с ними […] в вопросе о жизнетворчестве, о тождестве художественной биографии и художественного текста.«
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fassung tatsächlich keinerlei Unterstützung. Andererseits war ihm die Vorstellung von der Welt als einem Kunstwerk durchaus nicht fremd. Heinz-Georg Held fasst diese romantische Weltbetrachtungsweise sehr knapp zusammen: »Wer sich auf Romantik einläßt, muß mit unerwünschten Nebenwirkungen rechnen. Es besteht das Risiko, daß man dazu übergeht, nicht nur die Kunst, sondern auch die Wirklichkeit mit anderen Augen zu betrachten.«617 Man könnte also behaupten, die romantische Kunst-Leben-Synthese erlebe in den Romanen von Nabokov eine gewisse ästhetisch-philosophische Modulation. Sie wird nicht vollkommen abgestritten, sondern eher umgeformt und korrigiert. Dies findet beinahe auf allen Sinn- und Strukturebenen statt, also auch auf der Ebene des sogenannten romantischen Helden. So ist Alexander Iwanowitsch Lushin (dessen Vor- und Vatersname erst auf den letzten Romanseiten bekanntgegeben werden) zwar ein genialer Schachspieler, aber auf keinen Fall eine romantische Figur, die man mit Tiecks Eckbert, Hoffmanns Nathanael oder Chamissos Schlemihl vergleichen könnte. Nicht zufällig widmet Nabokov einen Großteil dieses nicht allzu langen Buches der expliziten Beschreibung von Lushins Kindheit. Auf den ersten Blick werden dabei alle romantischen Klischees beibehalten. Der Roman beginnt mit dem für Lushins Eltern äußerst schweren Versuch, den Jungen auf die bevorstehende Abreise aus dem Elternhaus in die Schule vorzubereiten: Am tiefsten traf ihn, daß er ab Montag Lushin sein sollte. Sein Vater – der richtige Lushin, der an Jahren fortgeschrittene Lushin, der Bücher geschrieben hatte – verließ lächelnd das Kinderzimmer, rieb sich die Hände […] und tappte mit seinem abendlichen, wildlederweichen Gang ins Schlafzimmer zurück. Seine Gattin lag im Bett. Sie richtete sich halb auf und fragte: »Nun, wie war’s?« Er legte seinen grauen Morgenrock ab und antwortete: »Es ist glatt gegangen. Er hat es ruhig aufgenommen. Uff… Mir ist direkt ein Stein vom Herzen gefallen.« […] Es war wirklich eine Erleichterung. Den ganzen Sommer über […] hatten sie die Frage debattiert, wann und wie man es ihm eröffnen solle […].618
Das Verlassen des Familienhauses und die Fahrt in eine Großstadtschule markieren das Ende einer gewissen Etappe im Leben von Lushin, welche im Roman zwar außerhalb der Handlung bleibt, aber von dem Protagonisten als Inbegriff von Ruhe und Geborgenheit empfunden wurde. Den ersten Satz könnte man folgenderweise umformulieren: »Am tiefsten traf ihn, dass er ab Montag erwachsen ist.« Der »richtige Lushin« ist ja sein Vater, also ein erwachsener Mensch, dazu noch ein Schriftsteller (wie oft bei Nabokov, eine Randfigur). So gesehen fängt der Roman mit einer Verbannung aus dem Paradies an. Die naheliegende Schlussfolgerung, dass der Roman dann logischerweise mit der 617 Held, Heinz-Georg: Romantik. Literatur, Kunst und Musik 1790–1840, S. 7. 618 Nabokov, Vladimir: Lushins Verteidigung, S. 9-10.
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Rückkehr in dieses Paradies enden sollte – zumal Lushin schließlich Selbstmord begeht – wäre allerdings zu optimistisch. Wie bereits in den vorigen Kapiteln unterstrichen wurde, lautet eines der Schlüsselwörter für ein besseres Verständnis von Nabokovs Erzählwelt: Täuschung. In Lushins Verteidigung täuschen sich in erster Linie die Eltern, und zwar nicht nur die Eltern von Lushin, sondern auch die Eltern seiner künftigen Geliebten (dazu komme ich später). Schon aus dem ersten Romansatz wird klar, dass die vom Vater übermittelte Nachricht den Jungen tief getroffen hat. Sein Vater bemerkt dies aber kaum und meint, alles sei »glatt gegangen«, sodass sich auch die Mutter froh und erleichtert fühlt. Ein seltsamer, untypischer, zu jeglicher Umgebung unpassender Mensch ist überall fremd, sogar in seiner eigenen Familie – diese ursprünglich romantische Vorstellung wurde am Anfang des 20. Jh. von den Modernisten weiterentwickelt. Als Vergleichsprobe könnte hier ein auffälliger Auszug aus Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) dienen: Zu dieser Zeit verloren sich die leidenschaftlichen Spuren der im Erwachen gewesenen Seele wieder aus seinen Briefen, und an in ihre Stelle traten ausführliche Beschreibungen des Lebens im Institute […]. Er selbst fühlte sich dabei verarmt und kahl […]. Seine Eltern aber waren es zufrieden. […] Die unbeholfene Rührung und leidenschaftliche, trotzige Trauer seiner Briefe beschäftigte sie schmerzlich […]; der heitere, zufriedene Leichtsinn, der darauf folgte, machte auch sie wieder froh […]. Weder in dem einen noch in dem anderen erkannten sie das Symptom einer bestimmten seelischen Entwicklung […].619
Abgesehen von rasanten Unterschieden in Musils und Nabokovs Schreibweise, bleibt der Kerngedanke ähnlich: Es gibt etwas im tiefsten Inneren des Individuums, was sämtlichen anderen Menschen, sogar seinen Nächsten – vielleicht gerade ihnen – entgeht. Deshalb ist Lushins Trennung vom vertrauten Kindheitsasyl so schmerzhaft, denn er kann dieses Gefühl des abrupten Abschieds, die panische Angst des in der Erwachsenenwelt verlorenen Kindes mit keinem teilen. In diesem Kontext spielt die Eisenbahn eine symbolische Rolle. Musils Törleß, der ja auch mit der Abreise des Protagonisten anfängt, eröffnet folgende Passage: Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Rußland führt. Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben Kies des breiten Fahrdammes […]. Machten es diese traurigen Farben, machte es das bleiche, kraftlose, durch den Dunst ermüdete Licht der Nahtmittagssohne: Gegenstände und Menschen hatten etwas Gleichgültiges, Lebloses, Mechanisches an sich, als seien sie aus der Szene eines Puppentheaters genommen.620
619 Musil, Robert: Die Verwirrungen des Zöglings Törless. Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun. 1986, S. 10–11. 620 Ebd., S. 7.
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Das Bild der Eisenbahn weist auf eskapistische Neigungen des jungen Außenseiter-Protagonisten hin, dessen innerer (Er)Lebensdrang im deutlichen Kontrast zu mechanischen Menschen und Gegenständen um ihn herum steht. Gleich mehreren Hauptfiguren von Nabokovs Romanen (Cincinnatus, Fjodor, Sebastian Knight) fühlt sich Törleß nicht bloß einsam, sondern anders, fremd. Bei Nabokov: Die Bahnstation lag zwei Werst vom Gutshof entfernt, dort, wo eben noch sanft und hallend durch den Tannenwald führende Landstraße die St. Petersburger Chaussee kreuzte und sich dann über die Gleise hinweg, unter der Schranke hindurch ins Unbekannte verlor. »Wenn du willst, kannst du die Marionetten tanzen lassen«, sagte Lushin senior schmeichlerisch, als sein Sohn aus der Kutsche gesprungen war […]. Schweigend nahm der Sohn das Zehnkopekenstück. Ganz allein auf dem Bahnsteig, trat Lushin an den Glaskasten heran, in dem fünf Puppen mit nackten, herabhängenden Beinen darauf warteten, daß ein Geldstück sie zum Leben erwecken und sich im Kreise drehen lassen werde; aber ihre Erwartung wurde heute enttäuscht, der Automat war kaputt, das Zehnkopekenstück verloren. […] Plötzlich wurde das alles von einem Tränenschleier verdeckt […]; zu ertragen, was unmittelbar bevorstand, erschien unmöglich […].621
Die Übereinstimmungen zwischen beiden Zitaten aus den Texten von derart ungleichen Autoren – Übereinstimmungen, die bis ins solche Details wie etwa die Puppentheater-Metaphorik reichen – sind erstaunlich. Denkt man aber an den romantischen (und postromantischen, in Phantastik und Gruselliteratur gut erkennbaren) Hang zur Mystifizierung bzw. Dämonisierung des Mechanischen, so kann man darin bestimmte literaturgeschichtliche Nachwirkungen sehen. In Lushins Verteidigung funktioniert die oben zitierte Szene außerdem – wie immer bei Nabokov – strukturbildend. Die vom Geldstück belebten Puppen im Automaten drehen sich nämlich »im Kreise« – und gerade zu dieser kreisförmigen Auffassung seines eigenen Lebens kommt der Protagonist in der zweiten Hälfte des Romans, als Lushin nach einer plötzlichen Begegnung mit einem alten Bekannten furchtsam feststellen muss: Etwas war zurückgeblieben – ein Rätsel, ein Splitter. Nachts begann er darüber nachzudenken, warum ihn diese Begegnung so mitgenommen hatte. […] Doch nicht die Begegnung selbst war es, die ihm angst machte, sondern etwas anderes – der geheime Sinn dieser Begegnung, den er herausfinden mußte. Nachts begann er angestrengt daran nachzudenken […] – und langsam wurde ihm klar, daß die Kombination noch viel komplexer war, als er anfangs geglaubt hatte, daß die Begegnung mit Petrischtschew nur die Fortsetzung von etwas anderem war und daß er genauer hinsehen, zurückkehren und von der Krankheit bis zu diesem Ball alle Züge seines Lebens noch einmal spielen mußte.622 621 Nabokov, Vladimir: Lushins Verteidigung, S. 14–15. 622 Ebd., S. 231.
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Der zentrale Gedanke, der Lushin allmählich in den Wahnsinn treibt, ist die Wiederholung gewisser Einzelheiten – für ihn sind es mit dem Schachspiel vergleichbare »Züge« – deren Dekodierung zu seinem aufdringlichen, doch unerreichbaren Ziel wird. Dies geschieht aber viel später. Als Kind ist sich aber der Protagonist weder jener geheimen Schicksalskräfte bewusst, die mit ihm ein gnadenloses Spiel spielen, noch seiner einzigen, aber außerordentlichen Begabung. Er fühlt sich einfach erschrocken vor der Zukunft und verloren in dieser neuen Welt, die seinen üblichen Alltag so unerwartet ersetzt hat. Daher unternimmt er das Einzige, was man in dieser Situation hätte machen können, nämlich die Flucht: »Er erreichte schlendernd das Ende des Bahnsteigs und rannte plötzlich rasch davon, eilte die Stufen hinab – ein ausgetretener Pfad, der kleine Garten des Stationsvorstehers, ein Zaun, eine Pforte, Tannen, geradeaus eine kleine Schneise und dann unvermittelt dichter Wald.«623 Der prompte, in einem Satz vollbrachte Raumwechsel vom Bahnsteig zum Wald sollte im Kontext der romantischen Literatur auch nicht ohne Kommentar bleiben, denn damit ändert sich nicht bloß das Setting, sondern zugleich die ganze Stimmung des Erzählten: »Im Wald war es still und feucht. Nachdem er sich ausgeweint hatte, spielte er etwas mit einem Käfer, dessen Fühler unruhig zuckten, und während er sich Mühe gab, das ursprüngliche, saftige Knackgeräusch zu wiederholen, zerquetschte er ihn lustvoll mit einem Stein.«624 Es ist eine äußerst markante und widersprüchliche Stelle, an der sowohl das ›Romantische‹ als auch das ›Moderne‹ aufeinanderstoßen. Einerseits ein beruhigendes Abschalten, harmonisches Zusammensein mit der Natur, Wald vs. Bahn im Sinne von Naturwelt vs. Mechanik. Andererseits die plötzliche Tötung des Käfers, mit dem der Junge vorher so sensibel gespielt hatte. Lushins »Waldeinsamkeit« ist zwar romantisch, aber keineswegs paradiesisch gestimmt, denn das Paradies (seine Kindheit) wurde ihm bereits weggenommen. Übrigens war auch der Erfinder des Waldeinsamkeit-Begriffs – Ludwig Tieck – alles andere als ein heiterer, mit Gott und der Welt versöhnter Autor. Sein Märchen Der blonde Eckbert625, in dem das Wort »Waldeinsamkeit« zum ersten Mal in der deutschsprachigen Literatur verwendet wird, bildet ein frühzeitliches Beispiel einer düsteren und perversen Horrorgeschichte, deren nicht zahlreiche Hauptfiguren entweder sterben (Bertha) oder wahnsinnig werden (Eckbert). Schon am Anfang demontiert Tieck das übliche Märchenschema, indem der Handlungsraum der Rahmengeschichte geographisch konkretisiert wird. Statt des traditionellen Auftakts – »Es war einmal« oder »Hinter den sieben Bergen, 623 Ebd., S. 16. 624 Ebd., S. 17. 625 In: Tieck, Ludwig: Die schönsten Märchen. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag 2003, S. 9-31.
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bei den sieben Zwergen« – wird der Leser gleich informiert, der Protagonist bewohne das Harzgebirge.626 Tieck geht aber noch einen Schritt weiter und bereichert seinen Erzählbeginn um ein kurzes, aber sehr deutliches psychologisches Porträt des Ehepaars. »Eckbert war alsdann heiter und aufgeräumt, nur wenn er allein war bemerkte man an ihm eine gewisse Verschlossenheit, eine stille zurückhaltende Melancholie.«627 Nicht zufällig akzentuiert Achim Höller im scharfsinnigen Artikel über die »Eckbert«-Rezeption das Modernisierungspotenzial des Textes, dessen Autor sich eher an kommende denn zeitgenössische Leserschaft wende.628 Jenem zukünftigen bzw. implizierten, textimmanenten Rezipienten schlage Tieck »das selbstreferentielle Spiel des Texts, der seinen Leser verschluckt«629, vor. Weitere spezifische Merkmale eines derart modernisierten Märchens sind »die im Vergleich mit Fabeln und Exempeln unbedeutende Rolle des belehrenden Elements und das Miteinander von Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit.«630 Auch auf der Ebene der Figurenkonstellation revolutioniert der »König der Romantik«631 die gewohnten Volksschablonen. Traditionelle Märchenfiguren verkörpern zwar bestimmte Eigenschaften wie etwa Mut, List oder Hilfsbereitschaft. Die Vorliebe für Einsamkeit passt aber nicht in diese Reihe – gerade deshalb, weil jene Neigung per definitionem ausgesprochen individuelle, ja individualistische Züge trägt. Intentionelle Einsamkeit bezieht sich weder auf eine Gruppe noch auf ein beliebiges Wir-Prinzip, sondern einzig auf das konkrete Ich. Interessanterweise wurde dies durch die rasche Popularität romantischer Ideen zum Teil verändert. Es geht dabei um die Entstehung des »romantischen Typus« – eines geheimnisvollen, in sich selbst zerrissenen, einsamen Einzelgängers. Obwohl in einer stark verallgemeinerten und vereinfachten Form, entspricht dieses Bild nichtsdestoweniger einer gewissen neuen Tendenz in der Schilderung von Protagonisten, die bereits in der Sturm-und-Drang-Literatur ihre Anfänge findet und in der Romantik ihren eindeutigen Höhepunkt erreicht. Nimmt man aber diesen Höhepunkt unter die Lupe, um ihn auf die endgültige Selbstrealisierung des romantisch konzipierten Individuums hin zu prüfen, so stellt sich heraus, die Selbstverwirklichung habe im romantischen Kontext erstaunlich viel mit der Selbstzerstörung gemeinsam. Letztere beginnt bemerkenswerterweise mit Eckberts Entscheidung, die hermetische Zweisamkeit 626 Vgl. ebd., S. 9. 627 Ebd. 628 Vgl. Hölter, Achim: Über Weichen geschickt und im Kreis gejagt. Wie Tiecks »Blonder Eckbert« den modernen Leser kreiert. In: Kremer, Detlef (Hg.): Die Prosa Ludwig Tiecks. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 80–81. 629 Ebd., S. 80. 630 Lüthi, Max: Märchen. 7. Auflage. Stuttgart: Metzler 1979, S. 3. 631 Vgl. Gebhardt, Armin: Ludwig Tieck. Leben und Gesamtwerk des »Königs der Romantik«. Marburg 1997.
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des abgeschiedenen Lebens mit Bertha zu überwinden und ihre Kindheitsgeschichte mit Walther zu teilen.632 Warum das so ist bzw. sein muss, bleibt im Text ein Geheimnis. Zwar meinte Novalis, im Märchen herrsche »echte Naturanarchie«633, aber in den meisten als ›klassisch‹ geltenden Märchentexten findet man normalerweise keine Spuren davon. Es gibt natürlich zahlreiche wundersame Geschehnisse, Mensch-Tier-Metamorphosen usw. All dies wird jedoch ganz konkreten Daseinsbzw. Jenseitsgesetzen, einer universalen, kosmischen Weltordnung unterworfen, welche genauso wenig anarchisch funktioniert, wie eben die Natur selbst. Daher wird der Wahnsinn als Geisteszustand in traditionellen Märchentexten nur selten thematisiert. Außerdem hat das Verrücktwerden der Titelfigur mehr mit ihrer ursprünglichen Unvernünftigkeit zu tun als mit psychischer Störung in moderner Auffassung dieses Begriffs. Die Thematisierung des Wahnsinns wird dagegen zur Domäne postaufklärerischer Schreibkunst: »Was seit der Neuzeit als ›Literatur‹ verstanden wird, lässt den Wahnsinn explizites Thema ihrer Darstellungen werden.«634 Genauso verhält es sich mit Eckbert, der seine Sinne – und somit auch sein Selbst – wortwörtlich verliert.635 Das schreckliche Schicksal, das ihm schließlich widerfährt, ist keine Vergeltung für eine bestimmte Missetat, sondern die unvermeidliche Konsequenz des durchaus verständlichen Wunsches, ein altes Geheimnis mit seinem engsten Freund zu teilen. Das Streben nach der Überwindung des abgeschlossenen Ich-Raumes führt in Der blonde Eckbert zur existentiellen Katastrophe. Dass jener Ich-Raum im Fall von Tiecks Horrormär aus zwei Figuren besteht – Eckbert und Bertha – ändert nichts an der Kernproblematik, denn erstens sind die vermeintlichen Ehepartner, wie es sich herausstellt, Bruder und Schwester, und zweitens fragt sich ja Eckbert in der oben angeführten Passage, ob seine Bekanntschaft und Ehe mit Bertha vielleicht ein Traum gewesen sei, aus dem er erst jetzt mühsam erwacht, ähnlich wie sich William Lovell aus dem gleichnamigen Debütroman von Tieck, »in einer heillosen Vervielfältigung seines Ichs [verwirrt].«636 Die »Ununterscheidbarkeit von Traum und Wirklichkeit und die Auflösung der Figurenidentitäten«637 sowie die »Implantation eines radikalen Zweifels an den Kategorien der eigenen Welt-
632 Vgl. Tieck, Ludwig: Die schönsten Märchen, S. 3. 633 Zit. nach: Hanak, Miroslav; Andreeva-Popova, Nadezhda: Folkore and Romantic Drama. In: Gillespie, Gerald (Hg.): Romantic Drama. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins Publishing Company 1994, S. 120. 634 Bogen von, Helene; Mayer, Therese; Meyer, Shirin; Schierke, Daniel; Schnorr, Simon (Hg.): Literatur und Wahnsinn. Berlin: Frank & Timme 2015, S. 7. 635 Tieck, Ludwig: Die schönsten Märchen, S. 29–30. 636 Safranski, Rüdiger: Romantik, S. 93. 637 Kremer, Detlef (Hg.): Die Prosa Ludwig Tiecks. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 56.
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wahrnehmung, des eigenen Verstandes und der Definition des eigenen Ich«638 prägen die Gesamtatmosphäre und vor allem den Ausklang des Märchens. Weder das eigenwillige Verlassen der Phantasiewelt (Berthas Hauptsünde) noch das Heraustreten aus dem ›Schneckenhaus‹ des eigenen Ich (Eckberts Fehltritt) enden für den/die Protagonisten mit der ersehnten Integration in die Außenwelt; stattdessen offenbart sich dem fassungslosen Individuum ein schockierendschlagartiges Wissen über seine eigene Natur. Jenes Wissen ist aber so unerträglich, dass es sich im Rahmen des menschlichen Innenraumes kaum beibehalten werden kann, ohne diesen bis auf die Grundmauern der Vernunft zu zerstören. Eine ähnliche Regel herrscht auch in Nabokovs Erzählwelt. Wie Gennady Barabtarlo in seiner Monographie treffend bemerkt, müssen bei Nabokov sämtliche Figuren, denen der Zugang zur letztendlichen Wahrheit über Mensch und Welt erlaubt wird, dieses – oft unerwünschte – Wissen entweder mit ihrer psychischen Gesundheit (Falter in der Erzählung Ultima Thule) oder gar mit dem Tod (Adam Krug und John Shade in den Romanen Das Bastardzeichen und Fahles Feuer) bezahlen.639 Lushin ist allerdings weder Poet noch Philosoph. Sein Streben, das eigene Leben zu verstehen und unter Kontrolle zu bringen, hängt mit der blinden Spielleidenschaft zusammen. Im Unterschied zu Tiecks Eckbert und den meisten Hauptfiguren der deutschen romantischen Dichtung fehlen dem Protagonisten von Nabokovs Schachroman sowohl das Geheimnisvolle als auch das Besondere. Wäre Lushin nicht wahnsinnig geworden, hätte man über ihn nichts Erwähnenswertes berichten können, außer dass er ein ausgezeichneter Schachspieler war. Ja, sogar dieses Talent kommt in gewissem Sinn zufällig ans Licht (obschon es in Nabokovs Romanen keine Zufälle gibt). Kennzeichnend sind dabei die Erwartungen des Vaters, der sehnsüchtig hofft, sein Sohn werde in der Zukunft ein ungewöhnlicher, kunstbegabter Mensch, und diese Hoffnungen literarisch sublimiert: Lushin senior, der Lushin, der Bücher geschrieben hatte, dachte oft darüber nach, was aus seinem Sohn einmal werden würde. In seinen Büchern – sie waren alle, mit Ausnahme des vergessenen Romans Dunst, für Knaben, Jünglinge und Schüler mittleren Lehranstalalters geschrieben […] – erschien immer wieder die Gestalt eines blondgelockten Knaben, »trotzköpfig«, »verträumt«, der dann zum Geiger oder Maler heranreifte, ohne hierdurch seine moralische Reinheit zu verlieren. Die kaum wägbaren Eigentümlichkeiten, durch welche sich sein Sohn von allen jenen Kindern unterschied, die seiner Meinung nach zu völlig unbemerkenswerten Menschen werden mußten
638 Hölter, Achim: Über Weichen geschickt und im Kreis gejagt. Wie Tiecks »Blonder Eckbert« den modernen Leser kreiert. In: Kremer, Detlef (Hg.): Die Prosa Ludwig Tiecks. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 75. 639 Vgl. Barabtarlo, Gennady (Барабтарло, Геннадий): Сочинение Набокова, S. 13–14.
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(vorausgesetzt, daß es solche überhaupt gab), deutete er als unbewußte Regungen von Talent […].640
Lushins Vater hat eine durchaus romantische Vorstellung von seinem Sohn, welche in seinen Büchern, die man gattungsspezifisch als Entwicklungsromane bezeichnen könnte, Ausdruck findet. Musiker und Maler werden ja sehr häufig zum Inbegriff eines romantischen Helden, sei es bei Tieck (Franz Sternbald) oder Hoffmann (Johannes Kreisler). Interessant ist auch die in Klammern gesetzte Erläuterung seitens des Erzählers, der die Überzeugung von Lushins Vater, es gäbe unbemerkenswerte Menschen, unterschwellig in Frage stellt. Daraus lässt sich leichte Ironie gegenüber dem pathetischen ›Übermenschenbild‹ erlesen. Noch wichtiger ist jedoch die Tatsache, dass »Lushin senior« seinen Sonn eigentlich gar nicht kennt, was in folgender Passage nochmals hervorgehoben wird, als der Vater nach langer und aufgeregter Erwartung endlich die Möglichkeit bekommt, über den Jungen mit dem Lehrer zu sprechen: […] statt all jener Worte freudigen Erstaunens, die er im stillen erwartete […], bekam er deprimierende, kaltherzige Worte zu hören, die ihm zeigten, daß der Lehrer seinen Sohn noch weniger verstand als er selber. Von irgendwelchen Talenten war keine Rede. […] Er sagte, der Knabe könne besser lernen, es sehe so aus, als vertrage sich der Knabe nicht mit seinen Kameraden, der Knabe laufe in den Pausen nicht herum…641
Diese Erkenntnis ist für Lushins Vater so inakzeptabel und schmerzhaft, dass er die Worte des Lehrers überhaupt nicht als objektiv bzw. wahr betrachtet. Gleich vielen anderen Figuren Nabokovs zieht er sein eigenes Wunschdenken dem realen Stand der Dinge vor. So wie Hermann in Verzweiflung die fehlende Ähnlichkeit zwischen ihm und Felix nicht akzeptieren wollte/konnte, so will/ kann auch Lushins Vater nicht zulassen, dass sein Sohn keinerlei künstlerische Talente besitzt. So versucht er im Kapitel 2 wenigstens in der Familiengeschichte eine Bestätigung für seine Überzeugung zu finden: […] er klammerte sich fest an den Umstand, daß sein verstorbener Schwiegervater Komponist gewesen war (übrigens ein wenig schöpferischer Komponist, der sich in reiferen Jahren im zweifelhaften Glanz von Virtuosität gesonnt hatte). So manches Mal stieg er nachts im Traume mit einer Kerze ins Wohnzimmer hinunter, wo, einer Lithographie nicht unähnlich, das Wunderkind in weißem, bis zu den Fersen reichendem Hemd auf einem mächtigen schwarzen Flügel spielte.642
Man sieht also, dass Nabokov bereits in seinem Frühwerk dem strukturellen Romanaufbau eine enorme Rolle beimisst. Beinahe zweihundert Seiten später,
640 Nabokov, Vladimir: Lushins Verteidigung, S. 21. 641 Ebd. S. 23. 642 Ebd. S. 21–22.
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im Kapitel 11, taucht dasselbe Bild wieder auf, als die Wohnung, welche der frisch verheiratete Lushin mit seiner Ehefrau bezieht, detailliert beschrieben wird: Die Lampe erwies sich im Stil als mauretanisch, die Fenstervorhänge waren gelb und verhießen morgens also trügerischen Sonnenschein – und ein Holzschnitt an der Wand zwischen den Fenstern zeigte ein Wunderkind in einem bis auf die Fersen reichenden Nachthemd, das auf einem riesigen Flügel spielt, während der Vater in grauem Schlafrock mit einer Kerze in der Hand gebannt in der halboffenen Tür steht.643
Gemeint ist höchstwahrscheinlich das Bild The Child Handel der englischen Malerin Margaret Dicksee (1858–1903), welches mit der oben zitierten Traumund Holzschnittbeschreibung ausdrücklich übereinstimmt. Was diese plötzliche Motivwiederkehr bedeutet, ist natürlich eine andere Frage. Barabtarlo beruft sich auf Brian Boyd und vermutet, der verstorbene Vater des Protagonisten versuche in Lushins Verteidigung nach seinem Tod am Leben seines Sohnes teilzunehmen und somit die ehemaligen Fehler wiedergutzumachen.644 Da er dafür (ausnahmsweise) keine genauen Beispiele nennt, könnte man annehmen, es handle sich eben um derartige transzendente Reminiszenzen, die der Hauptfigur selbstverständlich nichts sagen, dem wachsamen Leser aber zu denken geben können (zur Zeit, als Lushin mit seiner Frau die neue Wohnung besichtigt, ist sein Vater längst gestorben). Immerhin hat sowohl Dicksees Bild als auch der Traum von Lushins Vater einen spürbar romantischen Anklang. Doch die Vorstellung vom jungen Lushin als einem nicht anerkannten Künstler erweist sich als falsch. Weder Literatur noch Musik werden zu seiner obsessiven Neigung, sondern das Schachspiel. Alla Slochewskaja macht darauf aufmerksam, dass Nabokov selbst den Wettbewerb-Aspekt eher misstrauisch betrachtete und dem bloßen Schach-Spielen die Erstellung von Schachaufgaben bzw. Schachproblemen bevorzugte – im Gegensatz zu Lushin, den die theoretische, rein kompositorische Seite des Schachuniversums kaum interessierte.645 Zweifellos ist er überdurchschnittlich begabt, aber es fehlt ihm sowohl an inspirierter Kreativität als auch an einer poetischen Weltempfindung, welche für die Romantik so relevant ist. Ausgesprochen romantische Züge weist dagegen eine andere Romanfigur auf, nämlich Lushins Geliebte. Damit kehren wir zum oben bereits angedeuteten Thema der ontologischen, unüberbrückbaren Vereinsamung des Individuums und dessen Unzugänglichkeit vor allem für die scheinbar nächsten Personen, d. h. die Verwandten, zurück. Die im Roman unbenannte junge Dame gehört zu 643 Ebd. S. 200. 644 Vgl. Barabtarlo, Gennady (Барабтарло, Геннадий): Сочинение Набокова, S. 76. 645 Vgl. Slochewskaja, Alla (Злочевская, Алла): Роман »Защита Лужина« – первая »бабочка« мистической метапрозы В. Набокова. The Novel »Defence of Luzhin« – the First »Butterfly« of V. Nabokov’s Mystical Metaprose. In: Новая Русистика. No. 1/2017 (X), S. 20.
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den reizvollsten Frauengestalten in Nabokovs Werk, wo man am häufigsten entweder auf herzlos-banale Verführerinnen stößt (Martha in König Dame Bube, Magda/Margot in Camera Obscura/Gelächter im Dunkel, das Hausmädchen in Das Bastardzeichen) oder auf Figuren, die man nur durch ein verdrehtes Bewusstseinsprisma eines wahnsinnigen Ich-Erzählers beobachten kann (Charlotte und Dolores Haze in Lolita, John Shades Ehefrau in Fahles Feuer, Hermanns Ehefrau in Verzweiflung). Folgendes Kurzporträt gehört somit zu den seltenen äußerst positiven und ungewöhnlich ausdrucksstarken Frauenbildern in Nabokovs Romanschaffen: Die jungen Russen, die bei ihnen in Berlin verkehrten, hielten sie für ein nettes, aber nicht sehr interessantes junges Mädchen, während die Mutter […] von ihr sagte, sie vertrete in der Familie »Intelligenzija und Avantgardeliteratur« […]. Dem Vater gefielen ihre Selbständigkeit […], Ruhe und ihre besondere Art, die Augen beim Lächeln niederzuschlagen. Doch das, was an ihr wirklich einnehmend war, hatte bisher noch niemand zu vernehmen vermocht: Es bestand in einer geheimnisvollen Fähigkeit, in ihrem Herzen nur für das im Leben empfänglich zu sein, was sie schon in ihrer Kindheit angezogen und gequält hatte, zu einer Zeit, wenn der Instinkt der Seele noch untrüglich ist; Ergötzliches und Ergreifendes aufzuspüren; […] auf tausend Kilometer Entfernung zu fühlen, wie irgendwo in Sizilien ein dünnbeiniges Eselchen mit struppigem Fell roh behandelt wurde. Begegnete sie einem Geschöpf, dem weh getan wurde, dann brach um sie jene biblische Finsternis herein, bei der es Nacht wird, ein Aschenregen niedergeht und Blut aus den Wänden sickert, und es kam ihr vor, als hielte ihr Herz es nicht aus, als müßte sie sterben, wenn sie […] nicht sofort der fremden Qual ein Ende machen konnte. Sie lebte deshalb in ständiger heimlicher Erregung, jederzeit in Erwartung einer neuen Freude oder eines neuen Mitleids […].646
Die Tatsache, dass diese Beschreibung in der dritten Person eines allwissenden Erzählers geführt wird, ist von Bedeutung. Dadurch gewinnen Mitteilungen wie z. B. »das, was an ihr wirklich einnehmend war, hatte bisher noch niemand zu vernehmen vermocht« an objektiver Glaubwürdigkeit. Dieses »wirklich« bezieht sich also auf Etwas in der dargestellten Figur, dessen sich weder ihre Eltern noch die »jungen Russen« bewusst sind (leider weiß es auch Lushin kaum entsprechend zu schätzen). Allein der Erzähler oder, genauer gesagt, ihr Schöpfer, d. h. der Autor, kann darüber Auskunft geben. Eine ähnliche Stelle gibt es in der oben erwähnten Kurzgeschichte Zeichen und Symbole, als die Mutter des am »Beziehungswahn« leidenden Sohnes sich abends die alten Photographien anschaut: Sie dachte an die endlosen Wogen des Schmerzes, die ihr Mann und sie aus welchem Grund auch immer ertragen mußten; an die unsichtbaren Riesen, die ihren Jungen so unvorstellbar quälten; an das unabschätzbare Maß von Zärtlichkeit, das in der Welt enthalten ist; an das Schicksal dieser Zärtlichkeit, die entweder zerdrückt oder verschwendet oder in Wahnsinn verwandelt wird; an vernachlässigte Kinder, die in 646 Nabokov, Vladimir: Luscins Verteidigung, S. 118.
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schmutzigen Winkeln vor sich hin summen; an schöne wilde Pflanzen, die sich vor dem Bauern nicht verstecken können und hilflos zusehen müssen, wie sein Schatten, affenartig vornübergebeugt, verstümmelte Blumen in den Fußstapfen zurückläßt, da die ungeheuerliche Dunkelheit naht.647
Die inneren Qualen, zu denen beide Frauen – die Mutter in Zeichen und Symbole und die künftige Verlobte von Lushin – verurteilt sind, bilden die dunkle Kehrseite derjenigen transindividuellen Euphorie, die Nabokov in seiner Autobiographie beschreibt, auf dem Weg ins Krankenhaus, um seinen neugeborenen Sohn nach Hause zu bringen.648 Auch dort wurden die Privatsphäre des eigenen Gefühlsraumes sowie der materielle Zeitraum dank offenbarungsartiger Imaginationskraft gesprengt und ins Überpersönliche umgewandelt. Hier geschieht dasselbe, bloß in einem sozusagen negativen Ausmaß. Es geht dabei um eine äußerst spezifische, seltsame Gabe, nicht nur die persönliche Freude in transpersonalen Kategorien zu betrachten, sondern auch das Leid der Anderen als eigenes Leid zu empfinden. Dass man diese Gabe auch als Fluch bezeichnen könnte, ist für das romantische Weltbild durchaus charakteristisch, denn Fluch und Segen sind da stets eng miteinander verbunden. Dies wird bereits beim ›vorromantischen‹ Jean Paul merklich, nämlich in Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele – einer unbeendeten Erzählung, der das für die Romantik kennzeichnende Wort »Weltschmerz« seine Existenz verdankt: »Nur sein Auge sah alle die tausend Qualen der Menschen bei ihren Untergängen. Diesen Weltschmerz kann er, so zu sagen, nur aushalten durch den Anblick der Seligkeit, die nachher vergütet.«649 Ähnliche Zustände sind auch der Geliebten von Lushin nicht nur bekannt, sondern sie bilden den Kern ihres Menschenwesens. Nicht zufällig spricht Nabokov über eine »biblische Finsternis«, welche – genauso wie bei Jean Paul – beinahe unerträglich zu sein scheint. Relevant ist auch der Satz, in dem die Kindheit als »Zeit, wenn der Instinkt der Seele noch untrüglich ist«, definiert wird, denn auch diese Feststellung passt in die romantische Kindheitswürdigung schlechthin. Lushin wird für seine Verlobte eben zu einem solchen Mitleid erregenden »Geschöpf, dem weh getan wurde« (obwohl natürlich nicht im direkten Sinne einer realen Misshandlung). Das ist auch der Hauptgrund, warum sie sich in ihn verliebt, denn Liebe und Mitleid werden in diesem Fall wortwörtlich gleichgesetzt: »Mein armer Lushin«, sagte sie mit zärtlich gespitzten Lippen, »mein armer, armer Mann.« Und Lushin rieb seine Wange an ihre Schulter, und dunkel war ihr bewußt, daß 647 Nabokov, Valdimir: Zeichen und Symbole. In: Nabokov, Vladimir: Die Schwestern Vane. Erzählungen, S. 112–113. 648 Siehe Kapitel 1.2 der vorliegenden Arbeit. 649 Paul, Jean: Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele. In: Paul, Jean: Sämtliche Werke. Dreiunddreißigster Band. Berlin: Verlag von Georg Reimer 1862, S. 256.
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es vermutlich noch andere Freuden gab als die des Mitleids, daß diese aber sie nicht betrafen. Sie kannte nur eine Sorge im Leben, nämlich die unaufhörliche Anstrengung, Lushins Interesse für die Dinge der Welt zu wecken und seinen Kopf über dem dunklen Wasser zu halten, damit er atmen konnte.650
In der Märchenforschung gibt es den Begriff »magische Helfer«, die dem Helden bzw. der Heldin im Kampf gegen ihre Antagonisten aufrecht beistehen. Außerdem unterstützen sie die Hauptfigur bei der Bewältigung gestellter Aufgaben: »Wann immer die Handlung eines Märchens in eine Sackgasse zu geraten droht, kann plötzlich ein kleiner magischer Helfer auftauchen, der einen entscheidenden Tipp hat oder mithilfe von Magie eine neue Handlungsoption herbeizaubert.«651 Eine ähnliche Rolle spielt in Lushins Verteidigung die Geliebte des Protagonisten. Sie erscheint gerade in (oder sogar vor) dem Moment, da Lushins Leben in eine Sackgasse gerät und versucht – vergebens – alles Mögliche zu machen, um ihn vom fortschreitenden Schach-Wahn zu befreien. Dieses typisch märchenhafte Motiv wurde bereits von den Romantikern gerne favorisiert. So führen beispielsweise bei E.T.A. Hoffmann die Frauengestalten grundsätzlich zwei fest bestimmte Funktionen aus: Entweder sind es magische Helferinnen im traditionellen Sinn (wie etwa die Zauberschlange Serpentina in Der goldne Topf) oder sie versuchen zwar aufrichtig, ihrem Geliebten zu »helfen«, in der Tat aber stehen sie dem Haupthelden vielmehr im Wege und hemmen seine – romantisch konzipierte – Selbstentfaltung. Letztere Situation widerholt sich in Hoffmanns Texten besonders häufig. In Der goldne Topf wird diese Rolle der Verlobten des Studenten Anselmus Veronika zuteil. Sie unterstützt ihn bei allem, was mit seiner Juristenkarriere und künftigen Stelle als Hofrat verbunden ist, und bemüht sich gleichzeitig darum, das Träumerisch-Phantastische aus seinem Leben und Denken zu verbannen. Den für Anselmus so bedeutenden, ja schicksalhaften Kontakt zur magischen Welt der Atlantis hält Veronika für Wahnvorstellungen. Interessanterweise bedient sie sich nichtsdestoweniger der Hilfe einer Hexe, um Anselmus’ Liebe wiederzugewinnen: »[…] sie wußte selbst nicht, welch eine fremde Stimme im Innern ihr immer und ewig wiederholte, daß sein Widerstreben von einer ihr feindlichen Person herrühre, die ihn in Banden halte, welche Veronika durch geheimnisvolle Mittel der magischen Kunst zerreißen sollte.«652 Das Magische an sich wird von ihr also nicht geleugnet, falls es einem rationalen, diesseitsorientierten Ziel dient. Veronika verkörpert die aufklärerische Vernunft, welche bei Hoffmann zugleich kleinbürgerlich und christlich gefärbt ist und dem romantisch-pantheistischen Streben nach zweck650 Nabokov, Vladimir: Lushins Verteidigung, S. 219. 651 http://www.maerchenpaedagogik.de/maerchen_abc.php, 01. 10. 2019. 652 Hoffmann, E.T.A.: Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 60.
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und schrankenloser künstlerischer Freiheit entgegengesetzt wird. Das zeigt sich unter anderem auf der Onomastik-Ebene: Der christliche Name Veronika steht hier für die kleinkarierte, ›profane‹ Verlobte von Anselmus, wogegen seine wahre Liebe – diejenige Partnerin, die ihn versteht und ermuntert – den heidnischen Namen Serpentina trägt und konsequenterweise in Gestalt einer Schlange auftritt (was aus der Sicht der christlichen Symbolik strikt pejorative Konnotationen haben sollte). Ein weiteres weltbekanntes Beispiel einer derartigen Figurenkonstellation findet man in Hoffmanns Gruselnovelle Der Sandmann aus der Sammlung Nachtstücke. Auch dort geht es um einen Studenten – Nathanael –, der zwischen zwei Frauenfiguren zerrissen ist. Allerdings sieht das Liebesdreieck diesmal wesentlich düsterer und aussichtsloser als in Der goldne Topf aus, denn die scheinbare »Helferin« Olympia entpuppt sich (hier im direkten Sinn des Wortes) als ein mechanisches, vom gewissen Professor Spalanzini konstruiertes Automat, d. h. eine Puppe.653 Nachdem diese schreckliche Wahrheit ans Licht kommt, kehrt Nathanael zu seiner Verlobten Clara zurück, jedoch ihr kurzweiliges Glück endet bald mit seinem tragischen Tod. Claras Figur folgt demselben, oben skizzierten Schema mit dem gattungsspezifischen Unterschied (Der Sandmann ist ja kein Märchen, sondern eher ein psychologischer Horrorthriller), dass diejenige Welt, die Nathanael an sich zieht, mit der traum- und märchenhaften Schönheit der Atlantis in Der goldne Topf nichts gemeinsam hat. Nathanaels Obsession heißt nämlich der Sandmann, eine Schrecken erregende Gestalt aus grausamen Geschichten, die ihm in seiner Kindheit erzählt wurden, um den allzu impulsiven Jungen zum Schlafen zu bringen. Nach diesen Gruselmären sei der Sandmann ein Bösewicht, der den ungehorsamen Kindern, die nicht rechtzeitig ins Bett gehen wollen, Sand in die Augen streut, um diese danach herauszureißen und seine eigenen, monsterhaften Kinder damit zu füttern. Das fiktive Bild des Sandmannes fällt in Nathanaels Bewusstsein mit der realen Person des hochwüchsigen, widerlichen und kinderfeindlichen Alchemisten Coppelius, der mit seinem Vater geheime Experimente durchführt, zusammen. Nachdem der Vater unter unklaren Umständen bei einer Explosion ums Leben kommt und Coppelius spurlos verschwindet, wird die Coppelius-Sandmann-Gestalt für den Protagonisten zum Inbegriff des Bösen in dessen verkörperter Form. Mehr noch: Dieses Böse sei in Nathanaels Vorstellung mit seinem Leben und Schicksal unzertrennbar verbunden. Es ist nicht allein Angst, sondern auch Faszination, die der Sandmann bei dem bereits erwachsenen Nathanael hervorruft: Er versank in düstere Träumereien, und trieb es bald so seltsam, wie man es niemals von ihm gewohnt gewesen. Alles, das ganze Leben war ihm Traum und Ahnung geworden;
653 Vgl. Hoffmann, E.T.A.: Nachtstücke. Wiesbaden: Marixverlag GmbH 2013, S. 32–33.
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immer sprach er davon, wie jeder Mensch, sich frei wähnend, nur dunklen Mächten zum grausamen Spiel diene, vergeblich lehne man sich dagegen auf, demütig müsse man sich dem fügen, was das Schicksal verhängt habe. […] Der verständigen Clara war diese mystische Schwärmerei im höchsten Grade zuwider, doch schien es vergebens, sich auf Widerlegung einzulassen. Nur dann, wenn Nathanael bewies, dass Coppelius das böse Prinzip sei […] und dass dieser widerwärtige Dämon auf entsetzliche Weise ihr Liebesglück stören werde, da wurde Clara sehr ernst und sprach: »Ja Nathanael! Du hast recht, Coppelius ist ein böses feindliches Prinzip, er kann Entsetzliches wirken, wie eine teuflische Macht, die sichtbarlich in das Leben trat, aber nur dann, wenn du ihn nicht aus Sinn und Gedanken verbannst. So lange du an ihn glaubst, ist er auch und wirkt, nur dein Glaube ist seine Macht.«654
Die darin und dadurch implizierte Kernfrage, die im gesamten Kontext der Schwarzromantik relevant ist, lautet: Verfügt das Böse über eine objektive, vom menschlichen Bewusstsein unabhängige Existenz oder geht es einzig um »Sinn und Gedanken«, sodass ein vernünftiger Mensch sich keinerlei Sorgen darum machen sollte? Der Sandmann lässt diese Frage ohne eindeutige Antwort. Tatsache bleibt jedoch, dass Nathanaels Vorahnungen in Erfüllung gehen: Das Liebesglück wird gestört und er selbst muss sterben. Darüber, ob dieses tragische Finale durch bewusste Selbstablenkung vom obsessiv gewordenen Sandmannbild hätte verhindert werden können, kann man nur spekulieren. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die künstlerische Selbsterkenntnis bzw. Selbstverwirklichung hier offensichtlich destruktive Züge tragen und dennoch, dem romantischen ›Urteil‹ zufolge, erwünschter seien als die missliebige kleinbürgerliche Vernunft. Davon zeugt der bitterironische letzte Absatz der Novelle, wo der Leser über Claras Leben nach Nathanaels schrecklichem Tod kurz informiert wird: Als Nathanael mit zerschmettertem Kopf auf dem Steinpflaster lag, war Coppelius im Gewühl verschwunden. – Nach mehreren Jahren will man in einer entfernten Gegend Clara gesehen haben, wie sie mit einem freundlichen Mann, Hand in Hand vor der Türe eines schönen Landhauses saß und vor ihr zwei muntre Knaben spielten. Es wäre daraus zu schließen, dass Clara das ruhige häusliche Glück noch fand, das ihrem heitern lebenslustigen Sinn zusagte und das ihr der im Innern zerrissene Nathanael niemals hätte gewahren können.655
Der ästhetische Missklang zwischen »zerschmettertem Kopf« und der unmittelbar darauf folgenden Notiz über »zwei muntre Knaben« und »das ruhige häusliche Glück« ist selbstverständlich nicht zufällig. Einer ähnlichen Abschlussmethode bediente sich ein Jahrhundert später Franz Kafka in seiner bekanntesten Novelle Die Verwandlung. Nachdem der »zu einem ungeheuren
654 Ebd., S. 21. 655 Ebd., S. 36.
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Ungeziefer«656 verwandelte Gregor Samsa von seiner eigenen Familie liquidiert wird, heißt es am Ende: Während sie sich so unterhielten, fiel es Herrn und Frau Samsa im Anblick ihrer immer lebhafter werdenden Tochter fast gleichzeitig ein, wie sie in der letzten Zeit trotz aller Plage, die ihre Wangen bleich gemacht hatte, zu einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war. Stiller werdend und fast unbewußt durch Blicke sich verständigend, dachten sie daran, daß es nun Zeit sein werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen. Und es war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte.657
Vladimir Nabokov, der Kafkas Verwandlung zu den fünf besten literarischen Werken des 20. Jh. zählte658, wendet sich dem Problem einer asymmetrischen, zum ständigen Unverständnis verurteilten Liebesbeziehung zwischen einem begabten, aber geistesgestörten Mann und einer gutmütigen, aber allzu vernünftigen Frau aus einem neuen Blickwinkel zu. Auf den ersten Blick könnte man den trügerischen Eindruck bekommen, es handle sich in Lushins Verteidigung um eine typisch romantische Konfliktsituation: Der geniale Schachspieler trete hier als eine Art verschleierter Künstler auf, dessen zwar verrückte, dafür aber einzigartige, faszinierende Innenwelt der vernünftigen Diesseitigkeit seiner Geliebten gegenübersteht. Der Text gibt sogar einige Belege für diese naheliegende These. So heißt es z. B. an einer Stelle: Anfangs versuchte sie ihn auf die eine oder andere Art in den Kreis ihrer Verwandten einzupassen, in ihre Umgebung, ja sogar in ihre Wohnungseinrichtung: Sie malte sich aus, wie Lushin ins Zimmer kommen, mit ihrer Mutter sprechen, die hausgemachten Pasteten kosten und wie sich sein Bild in dem prächtigen, im Ausland erstandenen Samowar spiegeln würde – und diese imaginären Besuche endeten allesamt mit einer ungeheuren Katastrophe, Lushin warf mit einer ungeschickten Schulterbewegung das ganze Haus um wie eine wankende Kulisse, die einen Staubseufzer ausstieß. Sie hatten eine teure und gediegen eingerichtete Wohnung in der Beletage eines riesigen Berliner Mietshauses.659
Eine Analogie mit Clara und Viktoria aus den oben erwähnten Novellen von Hoffmann scheint geradezu unübersehbar zu sein. Dieselbe Angst darum, wie der seltsame »Fremdling« im »normalen«, kleinbürgerlichen Familienkreis empfangen wird; erfolglose Bemühungen, das Seltsame dem Alltäglichen anzupassen; die Fokussierung auf das Materielle (teure Wohnung, riesiges Haus) – all dies entspricht tatsächlich den gebräuchlichen romantischen Mustern, bei denen 656 Kafka, Franz: Die Verwandlung. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2006, S. 7. 657 Ebd., S. 71–72. 658 Vgl. http://www.openculture.com/2015/01/vladimir-nabokov-names-the-greatest-novels-o f-the-20th-century.html / letzter Zugriff am 08. 11. 2019. 659 Nabokov, Vladimir: Lushins Verteidigung, S. 116.
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der Außenseiterprotagonist mit routinierter Common-Sense-Wirklichkeit konfrontiert wird. Diese Ähnlichkeit wirkt außerdem noch dadurch stärker, dass sowohl in Hoffmanns Der goldne Topf als auch in Lushins Verteidigung die inneren Wirrungen der Hauptfigur von anderen, ›normalen‹ Menschen als Alkoholrausch missverstanden werden. Bei Hoffmann: Der Familien-Vater, der […] mit Verwunderung dem Studenten zugehört und zugeschaut hatte, […] sprach […]: »Lamentier‹ der Herr nicht so schrecklich in der Finsternis und vexier‹ er nicht die Leute, wenn ihm sonst nichts fehlt, als daß er zu viel ins Gläschen gekuckt – geh‹ er fein ordentlich zu Hause und leg‹ er sich aufs Ohr!« Der Student Anselmus schämte sich sehr, er stieß ein weinerliches Ach! aus. Nun nun, fuhr der Bürgersmann fort: »laß es der Herr nur gut sein, so was geschieht dem Besten, und am lieben Himmelfahrtstage kann man wohl in der Freude seines Herzens ein Schlückchen über den Durst tun.660
Bei Nabokov: »Gratuliere, er ist blau«, sagte die Dame des Hauses und blickte auf Lushin, der halb ausgekleidet und mit einem Plaid bedeckt wie ein Toter auf einem Sofa im Salon lag. »Gratuliere.« Und seltsam, es gefiel ihr, daß Lushin betrunken war, weckte bei ihr ein warmes Gefühl für ihn. In so einer Saufpartie fand sie etwas Menschliches, Natürliches und vielleicht sogar eine gewisse Beherztheit, ja Seelengröße. In solchen Zustand gerieten Leute, die sie kannte, tüchtige, lebenslustige Leute. […] Doch als sich herausstellte, daß Lushin überhaupt nicht nach Wodka oder Wein roch und ganz seltsam, überhaupt nicht wie ein Betrunkener schlief, war sie enttäuscht und schalt sich, daß sie Lushin auch nur eine einzige natürliche Regung zugetraut hatte.661
Bemerkenswerterweise wird die vermeintliche Trunkenheit von den Vertretern des Kleinbürgertums nicht allzu streng verurteilt, denn ein betrunkener Mensch – besonders an einem Feiertag bzw. nach einer gelungenen Schachpartie – passt immerhin in gewisses normorientiertes Verhaltensmuster, das rational erklärt und gerechtfertigt werden kann. Lushins künftige Schwiegermutter fühlt sich enttäuscht, weil sie ihrer Tochter vielmehr einen durchschnittlichen Mann wünscht, der ab und zu mit seinen Kameraden ausgeht und sich ein Gläschen zu viel erlaubt, als einen realitätsfernen Wahnsinnigen, dem die Grenzlinie zwischen Leben und Schach verlorengeht. Wie oben angedeutet wurde, sollte man jedoch den grundsätzlichen Fehler vermeiden, das Schachspiel als Metapher der Kunst zu betrachten. Alexander Piatigorsky weist zurecht darauf hin, das Spiel an sich sei böse bzw. gar dämonisch und funktioniere im Roman analog zum unbewussten Sein, das Lushin in einen monothematisch Besessenen verwandle, wobei Valentinov – Lushins Schachmentor – zu seinem »Dämon« wird. Das Spiel 660 Hoffmann, E.T.A.: Der goldene Topf, S. 16–17. 661 Nabokov, Vladimir: Lushins Verteidigung, S. 170–171.
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erweist sich, so Piatigorsky, einerseits als ziellos (für Lushin), andererseits aber als zweckmäßig und gewinnbringend (für Valentinov). Auch den Ausklang des Romans betrachtet der russische Philosoph dichotomisch: Das Leben triumphiert über Lushins Person, weil er letztendlich sterben muss; gleichzeitig triumphiert jedoch Lushins Denken über das Leben, denn seine gnostische innere Askese führt ihn konsequenterweise zur Flucht aus dem Lebensgefängnis, worin er sich verhaftet fühlt. Für Lushin seien Denken und Schach einander identisch, das Schachbrett und die darauf angeordneten Figuren bilden seinen Denkraum.662 Manche Forscher machen daraus eine zwar einigermaßen logische und sinnfällige, aber trotzdem falsche Konklusion, die Grundidee des Romans bestehe in trivialer Leben-Spiel-Metaphorik. So postuliert z. B. Nikolai Karpow, das Motiv des Lebens als eines Schachspiels sei in Lushins Verteidigung zentral.663 Dies stimmt jedoch nur insofern, als man die Gleichsetzung Schach = Leben nur auf Lushins gestörtes Bewusstsein überträgt. Karpow hat zweifelsohne Recht, indem er sagt: Die Wirklichkeitszersplitterung in Lushins Bewusstsein […] korreliert mit der romantischen Zwei-Welten-Idee (»das Reale« – »das Ideale«) […]. Das Schachdasein bildet für Lushin die einzig wahre und bedeutende Realität, wohingegen die Alltagswelt als etwas Illusorisches, Unwahres erscheint […]. Die ihn umgebende Wirklichkeit verliert klare Umrisse und ähnelt schließlich einer Art Traumerlebnis.664
Es ist allerdings sehr wichtig zu betonen, dass diejenige Realitätsverzerrung, die von Karpow beschrieben wird, keineswegs als eine romantische »Message« missdeutet werden sollte. Im Gegenteil: Nicht das kalte, verhängnisvolle Schachspiel, sondern eben das wahre Leben um Lushin herum, das von ihm unbeachtet und – vor allem in der Person seiner Geliebten – unterschätzt wird, verbirgt in sich das eigentlich ›Romantische‹. Daher muss man Alla Slochewskaja zustimmen, dass Lushins Leben in dem Augenblick endet, als er das Schachspiel kennenlernt.665 Zwar gewinnt er dadurch, so Piatigorsky, den Kontakt zu der »Welt der Dinge«, die ihm vorher verschlossen blieb.666 Dieser Kontakt führt aber nicht zu Lushins 662 Vgl. http://izbrannoe.com/news/mysli/aleksandr-pyatigorskiy-chut-chut-o-filosofii-vladi mira-nabokova / letzter Zugriff am 07. 10. 2019. 663 Vgl. Karpow, Nikolai (Карпов, Николай): Романтические контексты Набокова (Romantische Kontexte bei Nabokov), S. 49. 664 Ebd., S. 50. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »Расщепление действительности в сознании Лужина […] соотносится с идеей романтического двоемирия (›реальное‹ – ›идеальное‹) […]. Шахматное бытие является для Лужина единственно истинным и значимым, а обыденный мир предстает как что-то иллюзорное, ненастоящее […]. Окружающая действительность все более утрачивает четкие контуры для Лужина и наконец уподобляется сну.« 665 Vgl. Slochewskaja, Alla (Злочевская, Алла): Роман ›Защита Лужина‹, S. 18. 666 Vgl. http://izbrannoe.com/news/mysli/aleksandr-pyatigorskiy-chut-chut-o-filosofii-vladi mira-nabokova / letzter Zugriff am 07. 10. 2019.
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Befreiung bzw. Selbstverwirklichung, auch nicht im autodestruktiven Sinn, denn weder seine Persönlichkeit noch sein Selbstmord korrespondieren mit dem romantisch konzipierten, das Individuum ›entbindenden‹ Suizid. Nichtsdestoweniger ist Karpows Versuch, die Hauptfigur von Lushins Verteidigung in einer Reihe mit Anselmus667 und Nathanael668 zu platzieren, einigermaßen gerechtfertigt. Besonders auffallend sind die Übereinstimmungen zwischen dem Finale von Hoffmanns Der Sandmann und der letzten Szene in Nabokovs Roman. In beiden Texten sterben die Hauptfiguren infolge eines Sturzes: Bei Hoffmann stürzt Nathanael von einem Aussichtsturm, nachdem er seine Braut in einem Wut- und Wahnanfall beinahe hinunter gestoßen hat; bei Nabokov springt Lushin aus dem Fenster der neugekauften Wohnung, wo er ein sorgloses Eheleben mit einer liebenden und ihm restlos ergebenen Frau hätte führen können.669 Der signifikante Unterschied besteht jedoch darin, dass Hoffmann seinen Protagonisten als die einzig romantische – und somit programmatische – Figur in der Novelle skizziert. In einem solchen Modell muss die vernünftige, rational denkende Clara nolens volens schematisch dargestellt und auf das Gegenbild des ›Romantischen‹ reduziert werden. Auf diese Spezifik des romantischen künstlerischen Denkens macht Michail Bachtin in seiner bekannten DostojewskiMonographie aufmerksam: »[…] die Romantiker geben eine unmittelbare Darstellung ihrer Sympathien und Wertungen innerhalb der dargestellten Erzählwirklichkeit, womit sie all das objektivieren und vergegenständlichen, wozu sie den Akzent ihrer eigenen Stimme nicht beisteuern können.«670 Nabokovs (Neu)romantik hat dagegen kein dogmatisches Kunstprogramm und wendet sich dem tragischen Liebeskonflikt zwischen normabweichender Eigenart eines inspirierten Sonderlings und den alltäglichen Bestrebungen seiner Geliebten aus einer erweiterten, für die übliche romantische Denkweise unerwarteten Perspektive. Slochevskaja schreibt dazu: Den Grund von Lushins Tragödie sehen die Forscher in der Regel darin, dass der Protagonist der Welt des »Schachjenseits« gänzlich angehört und demnach durch Berührung mit der »Wirklichkeit« stirbt. Doch dem Finale von Lushins Verteidigung kann man deutlich ablesen, dass für Lushins Tod keineswegs die Wirklichkeit verantwortlich sei, sondern die »Abgründe des Schachspiels«. Die Gründe des Wahnsinns von Na667 Vgl. Karpow, Nikolai (Карпов, Николай): Романтические контексты Набокова (Romantische Kontexte bei Nabokov), S. 45. 668 Vgl. ebd. 669 Vgl. ebd. 670 Bachtin, Michail (Бахтин, Михаил): Проблемы поэтики Достоевского (Probleme der Poetik von Dostojewskij), Sankt-Petersburg: Азбука 2017, S. 19. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »[…] романтики дают непоспредственное изображение в самой изображаемой действительности своим художественным симпатиям и оценкам, объективируя и опредмечивая все то, во что они не могут вложить акцента собственного голоса.«
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bokovs Hauptfigur sind nicht materiell-physischer, sondern vollkommen anderer Art; sie sind nämlich irrational.671
Auch Karpow unterstreicht, dass man den Eindruck bekommt, Lushin verfüge nicht über seine Gabe, sondern – im Gegenteil – die Gabe »verfüge« über ihn und mache ihn zu ihrem Häftling.672 Diese Besessenheit ist tatsächlich eine Haft, welche mit der von Tieck und Wackenroder lancierten Idee der heiligen Kunst, der man sowohl durch das Dichten als auch durch das alltägliche Leben dienen muss673, nicht im Geringsten zusammenhängt. Auch Lushin dient dem Schachspiel mit sklavischer Ergebenheit, aber seine Persönlichkeit wird infolgedessen kaum bereichert, sondern zerstört. Aus dieser Perspektive betrachtet, könnte man den Dichter Fjodor Godunow-Tscherdyncew – die Hauptfigur von Die Gabe – als Lushins »ästhetischen Kontrahenten« bezeichnen. Fjodors Gabe ist nämlich weder Fluch noch Verhängnis, sondern ein durchaus heiterer – und eindeutig romantisch gefärbter – Segen, der den Protagonisten durch mehrere Irrwege des Schicksals schließlich zur glücklichen, geistig erfüllten Liebesvereinigung mit Sina führt. Außer der Tatsache, dass Fjodor Gedichte und Prosa schreibt, ist auch sein aufmerksames, dankbares, ja beinahe sakrales Verhältnis zur Natur bemerkenswert. Man denke in Kontrast dazu an Lushins mehrmals unterstrichene Gleichgültigkeit gegenüber allem, was sich jenseits der Schachwirklichkeit befindet. Daher scheint allerdings eine weitere These von Karpow gerade im Lichte seiner früheren Feststellung fragwürdig. Karpow sieht nämlich in Lushin eine typisch romantische Figur und im Roman einen Beweis dafür, dass Nabokovs Schaffen der romantischen Tradition verpflichtet sei: […] Lushins Verteidigung gehört zu denjenigen Werken von Nabokov, an denen die Verbindung des Schriftstellers zu romantischer Tradition besonders erkennbar wird. […] selbst die »Genialität« des Protagonisten hat deutlich literarischen Charakter und geht genetisch auf die romantische Tradition der Darstellung einer begabten Persönlichkeit zurück.674
671 Slochewskaja, Alla (Злочевская, Алла): Роман ›Защита Лужина‹, S. 17. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »Причину трагедии Лужина исследователи чаще всего видят в том, что тот всецело принадлежит миру ›шахматной потусторонности‹, а погибает от соприкосновения с ›действительностью‹. Но в финале ›Защиты Лужина‹ ясно сказано, что погиб Лужин от соприкосновения отнюдь не с действительностью, а с ›шахматными безднами‹. Причины безумия набоковского героя, как и его гибели, отнюдь не материально-физического, а совсем иного порядка – они иррациональны.« 672 Vgl. Karpow, Nikolai (Карпов, Николай): Романтические контексты Набокова (Romantische Kontexte bei Nabokov), S. 36. 673 Vgl. Tieck, Ludwig: Die Ewigkeit der Kunst. In: Schmitt, Hans-Jürgen (Hg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Romantik I, S. 88–91. 674 Ebd., S. 34–35. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »[…] ›Защита Лужина‹ принадлежит к числу произведений, убедительнее всего свидетельствующих о связях писателя с романтической традицией. […] сама ›гениальность‹ набоковского
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Diejenige romantische Tradition, von der Karpow spricht, erlebt in Lushins Verteidigung eine gravierende Metamorphose. Schilderten die Romantiker ihre Protagonisten als leidenschaftliche Einzelgänger, die Kunst und Leben, Ich und Welt zusammenbringen, so fehlen Nabokovs Lushin sämtliche erwähnten Eigenschaften. Das Wort »Leidenschaft« könnte dabei ausschließlich in Bezug auf Schach verwendet werden – und sogar dies eher metaphorisch, denn es besteht ein signifikanter Unterschied zwischen »leidenschaftlich« und »besessen«. Lushin ist kein Künstler, sondern ein Spieler. Seine Spielobsession ist jedoch von einer besonderen Art, wenn man sie beispielsweise mit der Kartenspielbesessenheit in E.T.A. Hoffmanns Spielerglück675 vergleicht. Das Leben von Chevalier Menars, der Hauptfigur dieser Erzählung, ist zwar überwiegend vom Glücksspiel dominiert, aber es gibt darin Platz genug auch für Liebesaffären und zahlreiche andere Abenteuer. Kurz: Er ist ein Lebemann. Lushin hat hingegen mehr mit einem Autisten gemeinsam als mit dem »Byronschen Helden«676, wie er in der soziohistorischen Kulturwissenschaft verstanden wird. Seine Geliebte und Ehefrau erweist sich als wesentlich leidenschaftlicher und erotisch engagierter. Kennzeichnend ist in diesem Zusammenhang die Differenz zwischen der Vorstellung der Mutter über die Sexualität ihrer Tochter und dem tatsächlichen Stand der Dinge. Als die Mutter nämlich einsehen muss, die Vermählung sei unvermeidlich, heißt es im Text: Sie mußte sich […] überlegen, wie man den Bräutigam ihrer Tochter ansehnlicher herrichten und ihn vorstellen konnte, ohne sich vor den Leuten schämen zu müssen, und sie mußte sich ein Herz fassen und auf der Hochzeit lächeln, die zufriedene Mutter spielen, die Lushins Ehrlichkeit und Herzensgüte preist. Sie dachte auch daran, wieviel Geld schon für Lushin draufgegangen war […] und bemühte sich, ein grausiges Bild aus ihren Gedanken zu verscheuchen: Lushin völlig entkleidet, von Leidenschaft entflammt, ein Makak, und ihre aus Eigensinn gefügige, kalte, kalte Tochter.677
Die Tochter ist allerdings alles andere als kalt, sodass die reale Hochzeitsnacht völlig anders aussieht als in den Vorahnungen ihrer Mutter. Es ist nämlich eben Lushins Gemahlin, die ihre sexuelle Vereinigung sehnsüchtig (obwohl nicht ohne Unruhe) erwartet und sich dem frischgebackenen Ehemann von ihrer besten Seite zeigen möchte. Die Szene in der Badewanne und die danach kommende Enttäuschung zeigen dies sehr explizit:
героя носит отчетливо литературный характер, генетически восходя прежде всего к романтической традиции изображения одаренной личности.« 675 Hoffmann, E.T.A.: Spielerglück. Leipzig: Insel Verlag 1989. 676 Siehe: Hauser, Arnold: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. München: Verlag C.H. Beck 1953, S. 735. 677 Nabokov, Vladimir: Lushins Verteidigung, S. 198.
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Bis an den Hals ins Wasser tauchend, sah sie durch das schon leicht seifige Wasser sich selber, ihren dünnen und fast durchsichtigen Körper, und als ein Knie knapp aus dem Wasser hervorkam, überraschte sie diese runde, glänzende, rosa Insel durch ihre unbestreitbare Körperlichkeit. »Das ist schließlich nicht meine Sache«, sagte sie sich, nahm einen naßglänzenden Arm aus dem Wasser und strich sich die Haare aus der Stirn. […] »Eine hübsche Türkin«, sagte sie, als sie nur mit der seidenen Pyjamahose bekleidet vor dem leicht verschwitzten Spiegel stand. »Im großen und ganzen gut gebaut«, fügte sie nach einer Weile hinzu. Unverwandt weiter in den Spiegel blickend, zog sie langsam das Pyjamaoberteil über. »Ein bißchen füllig in den Hüften«, sagte sie. […] Unter lautem Pfeifen ging sie zurück zum Schlafzimmer, doch augenblicks brach es ab: Bis zur Hüfte mit einem Federbett zugedeckt, die gestärkte Hemdbrust aufgeknöpft und aufgebauscht, die Hände unter den Kopf gesteckt, lag Lushin auf dem Bett und gab schnurrende Schnarchlaute von sich.678
Als kalt und ausgesprochen unerotisch ( ja asexuell) erweist sich somit nicht Lushins Ehefrau, sondern er selbst (was einen weiteren Gegensatz zum temperamentvollen Fjodor aufweist). Übrigens ist dies eine bei Nabokov häufig vorkommende Situation, bei der die nächsten Familienmitglieder ein falsches Bild von einer jungen, scheinbar passiven bzw. unempfindlichen jungen Frau haben. In König Dame Bube ist Dreyer davon überzeugt, seine Frau (die mittlerweile eine Liebesaffäre mit seinem Neffen erlebt) sei frigid; in Verzweiflung behauptet Hermann dasselbe über seine Gattin (die mit dem Maler Ardalion fremdgeht), in Lushins Verteidigung täuscht sich dagegen die Mutter über ihre eigene Tochter – genauso wie Lushins Vater über seinen eigenen Sohn. Lushins Konflikt mit der Realität geht allerdings weit über das Körperliche hinaus. Die Beziehungen zwischen ihm und der materiellen Welt beruhen im Großen und Ganzen auf gegenseitiger Abneigung. Das einzige Bindeglied zwischen dem Protagonisten und der greifbaren Dinge-Wirklichkeit sind das Schachbrett und die darauf agierenden Schachfiguren. Auch dieses Bindeglied entpuppt sich jedoch als täuschend, denn es verbindet Lushin nicht mit realem Leben und realen Menschen, sondern mit derjenigen geheimnisvollen (und keineswegs wohlwollenden) Dimension des reinen Spiels, welche seine Person schließlich unwiederbringlich verschlingt.679 In ihrer russischsprachigen Monographie Владимир Набоков. Русские романы (Vladimir Nabokov. Die russischen Romane) legt die französische Literaturwissenschaftlerin Nora Bukhs einen besonderen Akzent auf Lushins Weltverschlossenheit und sieht darin eine künstlerische Darstellung des autistischen Verhaltens:
678 Ebd., S. 210–211. 679 Bukhs, Nora (Букс, Нора): Владимир Набоков. Русские романы. (Vladimir Nabokov. Die russischen Romane). Moskau: ACT 2019.
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Das Modell des autistischen isolierenden Bewusstseins, welches in der Medizin kurz vor der Entstehung des Werks artikuliert und beschrieben wurde, wird vom Schriftsteller künstlerisch wiedergegeben und bildet die strukturierende Dominante des Romans.680
Bukhs beruft sich vor allem auf die Arbeiten des Schweizer Psychiaters Eugen Bleuler (1857–1939), der hauptsächlich für seine Untersuchungen auf dem Gebiet der Schizophrenie bekannt ist und mehrere in der modernen Psychiatrie gängige Fachbegriffe geprägt hat, unter anderem auch den Begriff des Autismus.681 1911 veröffentlichte Bleuler eines seiner Hauptwerke, in dem Autismus als eines der Schizophrenie-Symptome genannt wird.682 Signifikant dafür sei, so Bleuler, die Flucht vor der Realität, gekoppelt mit temporärer oder permanenter Dominanz des inneren Lebens über das äußere.683 Da es allerdings keine eindeutigen, auf Fakten beruhenden Nachweise dafür gibt, dass sich Nabokov in Bleulers Schriften auskannte, darf man eine intentionelle literarische Autismus-Manifestierung zwar vermuten, aber nicht postulieren. Daher scheint mir Bukhs’ Feststellung, der Roman Lushins Verteidigung bilde Bleulers Konzept der pathologischen Einsamkeit nach684, etwas rigoros und überspannt zu sein. Darüber hinaus widerspricht dies Nabokovs künstlerischer Methode, welcher er Zeit seines Lebens (und Schaffens) treu geblieben ist. Nabokov glaubte nämlich fest daran, die Kunst solle die Realität nicht wiedergeben, sondern aufs Neue erschaffen. Was Heinz-Georg Held über die romantische Kunstmethode behauptet, könnte man auch auf Nabokovs Dichtungsphilosophie übertragen: Die Romantik nobilitiert […] die sogenannten niederen Gattungen (Sage, Märchen, Ballade, Volksbuch); sie distanziert sich mit ihren phantastischen, grotesken, exzentrischen Ausdrucksformen auf provokante Weise von einer Klassik, die einem strengen Nachahmungsprinzip […] verpflichtet ist, und behauptet sogar recht unmoralisch zu sein, indem sie dem traditionellen Gebot der »Nützlichkeit« (eigentlich der didaktischen Nutzanwendung von Kunst und Literatur) zuwiderhandelt.685
Auf eine ähnliche Art und Weise ›nobilitierte‹ Nabokov die Krimi- bzw. ThrillerGattung in seinen russischsprachigen Romanen (König Dame Bube, Verzweiflung, Camera Obscura), den erotischen Roman in Lolita (kombiniert mit dem »Roadmovie-Effekt«) bzw. den Geisterroman in seinem vorletzten beendeten Buch Durchsichtige Dinge. Es ist also natürlich durchaus möglich (obwohl, wie 680 Ebd., S. 181. Russische Originalfassung: »Модель аутистического изоляционирующего сознания, заявленная и описанная в медицине незадолго до создания произведения, воспроизводится писателем художественно, становится организующей доминантой романа.« 681 Vgl. http://de.housepsych.com/autizm_default.htm / Zugriff am 20. 10. 2019. 682 Vgl. Bukhs, Nora (Букс, Нора): Владимир Набоков, S. 182. 683 Vgl. ebd., S. 183. 684 Vgl. ebd., S. 187. 685 Held, Heinz-Georg: Romantik, S. 13.
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gesagt, unbewiesen), dass sich Nabokov während der Arbeit an Lushins Verteidigung mit diesem oder jenem Werk aus dem Bereich der Psychiatrie im Rahmen seiner Recherche beschäftigte, um das Benehmen seines Protagonisten präzise und glaubwürdig genug zu gestalten. Von einer bildgetreuen Wirklichkeitswiedergabe im Sinne des klassischen Realismus kann aber keine Rede sein, jedenfalls nicht bei diesem Autor. Zwar kann man Bukhs aber zustimmen, dass der für Autismus typische Riss zwischen dem innerlich-emotionalen und dem äußerlich-realen Leben des Kranken im Text zum Ausdruck kommt.686 Derselbe Riss lässt sich auch in zahlreichen Werken der Romantiker beobachten: sowohl in den frühromantischen Märchen von Tieck und Novalis als auch in spätromantischen Novellen und Romanen E.T.A. Hoffmanns (es sei denn, man schreibe sämtlichen romantischen Protagonisten autistische Symptome zu). Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass, während sich Lushins Verhalten in psychologischen bzw. psychopatischen Kategorien gut beschreiben lässt, die Gründe dieses Verhaltens dennoch eher metaphysischer Natur sind. Der Roman protokolliert nicht einen Krankheitsvorgang, sondern es wird darin vielmehr eine philosophisch angehauchte Schauergeschichte erzählt, deren Hauptfigur von einer ihr übergeordneten fatalen Macht ergriffen und gesteuert wird – bis in den unausweichlichen selbstmörderischen Tod. Der polnische Übersetzer und Literaturwissenschaftler Leszek Engelking erblickt darin mögliche Referenzen zum dualistischen Weltbild des Gnostizismus, indem er schreibt: Bei Nabokov werden gnostische Berufungen vor allem in Einladung zur Enthauptung sichtbar […], es ist aber durchaus wahrscheinlich, dass sie sich auch woanders aufspüren lassen, z. B. in Lushins Verteidigung […]. In diesem Werk trägt eine der Nebenfiguren den Nachnamen Valentinov, was mit dem Gnostiker Valentinus assoziiert werden könnte. Dies mag selbstverständlich ein Zufall sein, jedoch gibt es in diesem Roman (nur in der russischen Version) die Gestalt des Lehrers des jungen Lushin, der V a l e n t i n I v a n o v i t s c h heißt und eine ziemlich bedeutende, obwohl für ihn selbst unbewusste Rolle in der Entwicklung des Protagonisten spielt und ihm zum Eintritt in die rein geistige, von der Materie völlig losgelöste Schachwirklichkeit verhilft.687
Auch Alexander Piatigorsky akzentuiert einige gnostische Elemente im Roman und macht dabei eine sehr interessante Bemerkung über den Hauptunterschied 686 Ebd. 687 Engelking, Leszek: Chwyt metafizyczny, S. 11. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Polnische Originalfassung: »U Nabokova widac´ odwołania gnostyckie przede wszystkim w Zaproszeniu na egzekucje˛ […], ale jest rzecza˛ prawdopodobna˛, z˙e dałoby sie˛ je wys´ledzic´ równiez˙ gdzie indziej, np. w Obronie Łuz˙yna […]. W utworze tym jedna z drugoplanowych postaci nosi nazwisko Walentinow, co moz˙e sie˛ skojarzyc´ z gnostykiem Walentynem. Rzecz jasna, mógłby to byc´ przypadek, ale mamy jeszcze w tej powies´ci ( jedynie w wersji rosyjskiej) postac´ nauczyciela Łuz˙yna, W a l e n t i n a I w a n o w i c z a , który pełni istotna˛, choc´ dla siebie nies´wiadoma˛, role˛ w dochodzeniu bohatera do idealnej, całkowicie wyzbytej materii rzeczywistos´ci szachowej.« [Sperrungen im Original].
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zwischen der Gnosis und dem traditionellen Christentum. Dieser besteht, so Piatigorsky, nicht im Verhältnis zu Gott und Mensch, sondern eher in der Betrachtung des irdisch-materiellen Lebens, welches in der gnostischen Philosophie ausdrücklich negativ empfunden und bewertet wird.688 So gesehen kann Lushins Selbstmord als befreiende Flucht aus dem obskuren, einengenden Weltgefängnis erscheinen. Diese Interpretation lässt sich ohne Zweifel aufgrund einiger Romanaspekte und der Namenssymbolik bestätigen. Im Gesamtkontext des Buches – und besonders im Gesamtkontext von Nabokovs Oeuvre – ist sie jedoch meines Erachtens wenig überzeugend. Liest man sich in die finale Passage des Romans präzise hinein, kann die zumindest zweideutige, düster gefärbte Schlussfolgerung kaum unbemerkt bleiben: […] Die Fensterreflexe rückten zusammen und richteten sich aus, der ganze Abgrund schien sich in dunkle und bleiche Quadrate einzuteilen, und in dem Augenblick, da Lushin seinen Griff löste, in dem Augenblick, da ihm eisige Luft in den Mund schoß, sah er genau, was für eine Ewigkeit sich entgegenkommend und unerbittlich vor ihm ausbreitete.689
In der Forschung konzentriert man sich in der Regel auf die darauf folgenden letzten Sätze des Romans: »Die Tür wurde eingeschlagen. »Aleksander Iwanowitsch, Alexander Iwanowitsch«, brüllten mehrere Stimmen. Doch da war kein Alexander Iwanowitsch.«690 Dies ist natürlich ein technisch wie semantisch brillantes Ende (die Hauptfigur wird hier zum ersten Mal mit dem Vornamen genannt), in dem man zurecht den Verweis darauf sieht, dass Lushins Persönlichkeit auch früher, von Anfang an nicht da war; wenigstens vom Anfang des Buches und der Verbannung des kleinen Lushin aus dem Kinderparadies.691 Für die metaphysische Dimension des Romans ist aber die oben zitierte Stelle von einer nicht minderen Bedeutung. Die Straße, die Lushin in den letzten Sekunden seines Lebens erblickt, verwandelt sich in seinem Bewusstsein ins Schachbrett und wird im Text als dunkelbleicher »Abgrund« bezeichnet. Die wohl erste gedankliche Verbindung, die dabei auftaucht – jedenfalls im europäischen Kulturkreis – ist die Hölle. Im russischen Originaltext verwendete Nabokov das Wort »Ewigkeit«: »[…] он увидел, какая именно вечность угодливо и неумолимо
688 Vgl. http://izbrannoe.com/news/mysli/aleksandr-pyatigorskiy-chut-chut-o-filosofii-vladi mira-nabokova / letzter Zugriff am 08. 11. 2019. 689 Nabokov, Vladimir: Lushins Verteidigung, S. 294–295. 690 Ebd., S. 295. 691 Vgl. Strelnikowa, Larisa (Стрельникова, Лариса): Роман Набокова »Защита Лужина« как игровая модель шахматной гиперреальности. (Vladimir Nabokovs Roman »Lushins Verteidigung« als Spielmodell der Hyperrealität des Schachs). https://cyberleninka.ru/article /n/roman-v–v-nabokova-zaschita-luzhina-kak-igrovaya-model-shahmatnoy-giperrealnost i / letzter Zugriff am 08. 11. 2019.
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Das erzählte Unaussprechliche – Nabokov und die deutsche Romantik
раскинулась перед ним.«692 Die in der englischsprachigen Übersetzung (die von Nabokov in Zusammenarbeit mit Michael Scammell gemacht wurde) verwendete Bezeichnung »abyss« erscheint auch früher an mehreren Stellen des Romans, worauf Leona Toker in ihrem Buch Nabokov: The Mystery of Literature Structures verweist: »The abyss is a reccurent motif in Luzhin’s life.«693 Am Ende breitet sich dieser Abgrund vor dem fallenden Protagonisten einerseits entgegenkommend, andererseits »unerbittlich« aus – eine äußerst bemerkenswerte, ja gerade vielsagende Diskrepanz. Eine paradiesische Überwelt, welche ihren Gast »unerbittlich« willkommen heißt, wäre etwas kaum Denkbares. Der von Engelking (und ebenfalls von Toker694) vorgeschlagene Vergleich zwischen Lushins Verteidigung und Einladung zur Enthauptung markiert diesen entscheidenden Unterschied nur noch schärfer. Jene ›andere Welt‹, die Lushin kurz vor seinem Sturz vor seinen (inneren?) Augen sieht, ist nämlich definitiv nicht dasselbe gesegnete, vertraute Jenseits, das Cincinnatus C. gleich nach dessen Enthauptung offenbart wird.695 Viel näher zum Paradies als der weltfremde, wahnsinnige Schachspieler stehen in Nabokovs eigenartiger Phantasiewelt – überraschenderweise – die Wasserfrauen.
3.3
Das Motiv der Wasserfrau bei Nabokov und in der deutschen romantischen Dichtung
3.3.1 Lilith, Lolita, Lenore – Nabokovs Mädchenfrauen zwischen Dies- und Jenseits Die Seejungfrauen »tummeln sich«, so Michael Maar, in Nabokovs Werk.696 D. Barton Johnson wiederholt Maars Bemerkung fast mit denselben Worten: »[…] the figure of the drowned woman occurs throughout Nabokov’s work.«697 Zwar konzentriert sich Johnson mehr auf das Bild der ertrunkenen Frau als auf dessen romantisch-phantastische Untermalung, aber die von ihm vorgebrachten Bei-
692 Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Машенька. Защита Лужина. Приглашение на казнь. Далёкие берега. (Maschenka. Lushins Verteidigung. Einladung zur Enthauptung. Andere Ufer). S. 238. 693 Toker, Leona: Nabokov: The Mystery of Literature Structures. Cornell: Cornell University Press 1989, S. 77. 694 Vgl. ebd., S. 72. 695 Mehr dazu siehe im Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit. 696 Vgl. Maar, Michael: Solus Rex, S. 36. 697 Johnson, D. Barton: L’Inconnue de la Seine and Nabokov’s Naiades. Comparative Literature 44, 3: 1992, S. 225–248; S. 243.
Das Motiv der Wasserfrau
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spiele weisen eindeutig auf den stets wiederkehrenden Seejungfer-Hintergrund hin: Beginning as the stock Russian folklore figure, the rusalka, the image evolves into l’inconnue with its admixture of Blok’s neznakomka, and finally into Shakespeare’s Ophelia. The introduction of these three images very approximately coincides with the three stages of Nabokov’s creative life: the rusalka with the Russian period; the l’inconnue with the Continental stage; and Ophelia with the Anglo-American.698
Das Nymphenmotiv tritt bei Nabokov in der Tat ziemlich häufig auf, und zwar sowohl in der russisch- als auch in der englischsprachigen Etappe seines Schaffens, als seine ehemalige, der Sirin-Periode verpflichtete Vorliebe für das Volkstümlich-Märchenhafte zugunsten einer komplexen, vielschichtigen, obwohl stets höchst poetischen und mystischen Weltauffassung verlorenging. Nur ironisch erinnert sich der ältere Nabokov an seine von Feen und Engeln überfluteten Jugendgedichte sowie an die stilistische Schwärmerei für das Byzantinische, die manche Leser und Kritiker aus damaligen russischen Emigrationskreisen als eine religiöse Faszination missverstanden.699 Das Interesse an Mythos der Seejungfrauen ist somit ein äußerst rarer Nachlass jener längst vergangenen Zeiten, dem der Schriftsteller bis hin zu Ada, seinem großen Alterswerk, treu geblieben ist. Das Nymphenbild in Nabokovs Texten erlebt jedoch einen bemerkenswerten Wandel. 1928 schreibt der 29-Jährige eines seiner erotischsten und zugleich düstersten Gedichte – das bösartig-infernale Lilith. Das lyrische Ich ist ein gerade verstorbener Mann, welcher, durch das jenseitige Reich flanierend, von Ahornbäumen und Faunen umkreist, zufrieden feststellt: »Ich bin im Paradies, wie schön.«700 Im Zentrum der Beschreibung steht aber nicht das gewöhnliche Bild eines christlich konnotierten Himmels, sondern eine entzückende und geheimnisvolle weibliche Figur: Da trat ein Mädchen auf die Schwelle, die Hand schützt’ sie vorm Licht, und heiß glänzt ihre Achselhöhle. Welche Helle ihr Haar: ein Strom von Lilienweiß. Nackt war sie, wohlgebaut, es blühte die Warze zärtlich – und ich sah, was mir im Leben einst geschah: versteckt stand ich am Ufer, glühte, denn ganz von nahem nahm ich’s wahr – 698 Ebd. 699 Siehe: Melnikow, Nikolai (Мельников, Николай): Набоков о Набокове и прочем. Интервью. Рецензии. Эссе. Москва: Издательство ›Независимая Газета‹ 2002, S. 294. 700 Nabokov, Vladimir: Lilith. In: Maar, Michael: Solus Rex. Die schöne böse Welt des Vladimir Nabokov, S. 128.
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des Müllers Jüngste kam vom Flusse, ihr Körper war aus goldnem Gusse, und unten glänzte feucht ihr Haar.701
Die Wasserfrau-Elemente sind bei dieser Schilderung kaum übersehbar. Die mysteriöse Schöne im Totenreich erinnert den erregten Mann (die Seele des Verstorbenen trägt hier nämlich eindeutige körperliche Züge) an ein reales Mädchen, das er im Laufe seines irdischen Lebens einmal mit heimlichem Begehren beobachtete. Dass es sich dabei ausgerechnet um die jüngste Tochter eines Müllers handelt, ist natürlich kein Zufall. Vierzehn Jahre später, 1942, unternimmt Nabokov den Versuch, Alexander Pushkins Rusalka, ein 1832 verfasstes Dramafragment, zu Ende zu schreiben.702 Das Theaterstück des größten russischen Dichters erzählt die klassische Geschichte eines armen Mädchens, einer Müllertochter, die sich in einen Fürsten verliebt. Nach einer kurzen Liebesbeziehung verlässt sie der Adlige zugunsten einer Frau aus einer gleichrangigen wohlhabenden Familie. Verzweifelt springt die einzige Tochter des alten Müllers vom Felsen und verschwindet für immer in dunklen Gewässern des Dnjeprs. In der magischen Wasserwelt wird sie aber zur Königin-Russalka (d. h. NymphenKönigin). Nach einigen Jahren gibt sie ihrer Tochter, einer Seejungfer, folgenden Befehl: Russalka. […] Es wird zu uns ans Ufer kommen Ein Mann, den laß nicht aus den Augen – geh Ihm gleich entgegen. Wiss’, er steht uns nah, Er ist dein Vater! Tochter. Ist’s derselbe, der Dich einst verließ und dann ein Weib gefreit? Russalka. Derselbe. Zärtlich schmiege dich an ihn, Erzähle alles ihm, was du durch mich Von deiner Herkunft weißt – desgleichen auch Von mir. Und wenn er dir die Frage thut, Ob ich ihn wohl vergessen oder nicht – So sag’ ihm, daß ich stets noch sein gedenke, Ihn liebe und erwarte. Hast verstanden? 703
701 Ebd. 702 Vgl. Anastasjew, Nikolai (Анастасьев, Николай): Владимир Набоков. Одинокий король. (Vladimir Nabokov. Der einsame König). Moskau: Центрополиграф 2002, S. 340–341. 703 Puschkin, Alexander: Die Russalka. Übersetzt von Ferdinand Löwe. http://gutenberg.spie gel.de/buch/die-russalka-3599/1 / letzter Zugriff am 05. 01. 2016.
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Puschkins unvollendeter Text klingt mit der Szene aus, wo der melancholisch gestimmte Fürst während eines nostalgischen Spaziergangs plötzlich seine Nymphen-Tochter vor sich sieht: Fürst. Zu diesen schauerlichen Ufern zieht mich Unwiderstehlich eine dunkle Macht. Hier mahnt mich Alles an vergangne Dinge, An meiner freien schönen Jugendzeit So holdes und so trauriges Erlebnis. Hier war es, wo in jenen Tagen mich, Den Freien, freie Liebesglut umfing. Da war ich glücklich! Und ich Rasender, Ich konnte frevelnd dieses Glück verscherzen Es hat die schwermutsvollen Bilder mir Die gestrige Begegnung aufgefrischt. […] (Die kleine Russalka kommt ans Ufer.) Was erblick’ ich? Von wannen kommst du, wunderlieblich Kind? 704
Nabokov, ein feuriger Verehrer, ja beinahe Anbeter Puschkins, setzt die Geschichte genau an dieser Stelle fort und beendet sie so, wie man es hätte erwarten können und wie sie auch der ursprüngliche Autor höchstwahrscheinlich beendet hätte. Erst wundert sich die kleine Russalka darüber, dass der Fürst Angst vor ihr hat, denn ihre Mutter, die Königin des Dnjepr, hat ihn immer als einen tapferen und netten Mann dargestellt.705 Danach sagt sie, er solle sie unbedingt besuchen, denn nur ein Mensch fürchtet sich vor den Geistern, der Fürst sei aber kein Mensch, er gehöre zur Wasserwelt, seit er seine Geliebte (Russalkas Mutter) verlassen hat. Dort, im dunklen Wasserreich, werde er, so die kleine Russalka, seine Heimat erkennen, wo das ersehnte Leben sorglos fließt (»Только человек боится нежити и наважденья,/ а ты не человек. Ты наш, с тех пор/ как мать мою покинул и тоскуешь./ На темном дне отчизну ты узнаешь,/ где жизнь течет, души не утруждая.«706). Der zugleich beängstigte und faszinierte Fürst folgt seiner gespenstigen Tochter und verschwindet demnächst im Dnjepr. Das Stück schließt dagegen ein an den Ausgangstext anlehnender volkstümlicher Nymphen-Gesang sowie das Erscheinen des mit den Achseln zuckenden Puschkins (der einzige intertextuelle Modernisierungstrick, den sich Nabokov hier erlaubt).707 704 705 706 707
Ebd. Vgl. http://nabokov.niv.ru/nabokov/stihi/387.htm, Zugriff am 5. 01. 2016. Ebd. Vgl. ebd.
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Der Fürst wird somit von der kleinen Russalka ins Wasserreich entführt, was der alten Tradition von Schauergeschichten über die hartherzigen, rachesüchtigen Seejungfern gänzlich entspricht. Der Tod und der spätere Übergang in die niedere Welt der Wassergeister ist ja der übliche Preis, den der lüsterne Mann für seine erbarmungslose Untreue bezahlen muss. Die Einladungsform, in der die wortwörtlich bezaubernde Nymphe ihren Vater zu sich bittet, enthält aber einige interessante Nuancen. »Du bist einer von uns« (»Ты наш«), sagt die kleine Russalka zu ihrem Vater708 und deutet dadurch mehr als eine nur familiäre Verwandtschaft an. In einigen Analysen wird dieser Aspekt derart weit gedeutet, dass das Dnjepr-Ufer als Erinnerungsraum mit Russland als Nabokovs verlorener Heimat sowie mit seiner ersten Liebe in Verbindung gebracht wird (den komparatistischen Anstoß dazu gibt dem Interpreten die Tatsache, dass Nabokovs unvergessene Jugendliebe, mit der er einst die russischen Wälder durchwanderte, in seinen Memoiren als eine »kleine russische Russalka« bezeichnet wurde).709 Diese äußerst kreative Deutung mag man natürlich etwas skeptisch betrachten. Der Autor selbst, ein erklärter Gegner jeglicher eigenwilliger Verallgemeinerungen710, würde sie bestimmt ablehnen. Eins steht aber fest: Der Protagonist, der Kontakt zur Nymphenwelt aufnimmt, fühlt sich in der sogenannten ›normalen‹, alltäglichen Wirklichkeit fremd. Die Masken der Verfremdung sind variabel. Einmal ist es ein einsamer melancholischer Dichter, wie im romantischen, sechs Jahre nach Lilith entstandenen Berliner Gedicht L’Inconnue de la Seine.711 Es kann aber auch ein psychisch kranker Mensch, der pädophile Humbert Humbert sein oder die sexuellen Außenseiter Ada und Van, die ihre unschuldige Schwester Lucette (eine der markantesten Seejungfern in Nabokovs Prosa) zwar ungewollt, aber dennoch herzlos in den Selbstmord durchs Ertrinken treiben. So oder anders gehören alle erwähnten Figuren zur dunklen Seite des Daseins, sodass ihr endgültiges Treffen bzw. eine unbewusste Verbindung mit einer Nymphe kein unvorbereitetes phantastisches Ereignis, sondern eher ein logisches Ergebnis ›entgleister‹ Persönlichkeitsentwicklung bildet. Außer der erwähnten Neigung zu jungen Mädchen erfährt man in Lilith über das irdische Leben des lyrischen Ichs nicht viel. Allerdings heißt es im Text, der Verstorbene betrete den Jenseitsraum in einem Frack, und zwar »in jenem gleichen, in dem man gestern mich erschlug.«712 Es handelt sich also um einen vermutlich wohlhabenden, eleganten Mann, dessen Tod kein natürlicher war. Ob 708 Ebd. 709 Vgl. http://lib.pushkinskijdom.ru/LinkClick.aspx?fileticket=4 mJ_EcZCO40 %3D&tabid=1 0183 / letzter Zugriff am 5. 01. 2016. 710 Siehe in: Nabokov, Vladimir: Lolita, S. 519. 711 Vgl. http://nabokov.niv.ru/nabokov/stihi/226.htm, Zugriff am 01. 03. 2016. 712 Ebd., S. 129.
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seine Ermordung etwas mit seiner fatalen Perversion zu tun hatte, weiß man nicht, aber im Lichte früherer Bekenntnisse über das Spähen nach der jüngsten Müllertochter gewinnt diese Erklärung an Wahrscheinlichkeit. Bemerkenswert ist vor allem, dass das Bild des reizenden Lilith-Mädchens das Erste ist, was dem erschlagenen Mann nach seinem Tod begegnet. Sanft und unwiderruflich zieht die heranwachsende Sirene den überraschten Überweltgast zu sich mit jener gewandten Unschuld, die die höchste Verführungskunst kennzeichnet, um ihn später inmitten der triumphierenden Lust, kurz vor dem ersehnten Höhepunkt, erbarmungslos wegzustoßen: Sie sah zurück mit grünen Blicken, sie sah zu mir, und ich, ich sah’s – die Kleider lohten vor Entzücken, zerfieln zu Asche. Da gescha’s: Ein weiches Sofa stand ganz hinten, es leuchteten Granatfruchtrinden, ein Tischchen, Wein, ein lockres Bild. Da griff sie mit zwei kühnen Fingern fast kindlich noch nach meinem Züngeln: »Hierher«, so murmelte sie mild. […] Und dann begannen die Scharmützel, an sie gefesselt, sank ich tief, ein Tier im Tier, schon kam der Kitzel, die baldige Erfüllung rief, da rückte sie ganz sacht zur Seite, sprang von mir mit geschlossnen Knien, zog einen Schleier zu sich hin und schützte sich vor meinem Reiter.713
Diese überraschende Wendung bringt nicht nur bittere Enttäuschung und verzweifeltes Flehen mit sich, sondern auch diejenige metaphysische Erkenntnis, die den semantischen Kern des Gedichtes ausmacht: Und voll des Safts – fast war es mein, das Glück! – stand ich mit leeren Händen, ich schwankte, hielt mich an den Wänden, so blies der Wind. »Lass mich hinein!« schrie ich und merkte mit Entsetzen: ich stand, wie erst, am Straßenrand, und Kinder hatten ihr Ergötzen an dem, was mächtig von mir stand.
713 Vgl. ebd.
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»Lass mich hinein!« – die Zwergewesen Vermehrten sich. »Lass mich genesen, komm raus zu mir, komm, schneller, schneller!« Die Tür blieb stumm. Und alles gafft, und qualvoll leerte sich mein Schaft, und ich begriff: das war die Hölle.714
Auf einmal wird dem lyrischen Ich klar, dass das süße Jenseits, das von ihm fälschlicherweise als Paradies eingeschätzt wurde, sich nun als Hölle entpuppt. Bedeutend ist dabei aber, dass diese Hölle eigentlich keine traditionell begriffene Strafe für die bösen Taten des ertappten Sittenstrolches repräsentiert. Vielmehr ist sie eine folgerichtige Fortsetzung seines früheren Lebens bzw. dessen geistiges Abbild, ganz im Sinne von Meister Eckharts Höllendefinition: »Hölle ist nichts als ein Wesen. Was hier das Wesen der Leute ist, das bleibt ihr Wesen in Ewigkeit, so wie sie drin gefunden werden.«715 Eine relevante Frage, die man dabei stellen sollte, lautet: Worauf beruht eigentlich die sozioethische Verurteilung des pädophilen Verlangens? Es geht offensichtlich darum, dass ein solches Verlangen auf der emotiv-mentalen Ebene im Falle eines Kindes kaum realisierbar ist. Die Alterskluft und die damit verbundenen Unterschiede biologischer bzw. psychischer Natur bedingen hier die Unmöglichkeit einer wahren sexuellen Vereinigung, deren allererste Bedingung die gleiche Einstellung beider Beteiligten ist. Was das lyrische Ich in Lilith im Jenseitsreich gleich nach seiner Ermordung erlebt, ist nichts anderes als die metaphysische Kehrseite dessen, was dem Mann in seinem irdischen Leben den größten Genuss brachte. Darin liegt die Grausamkeit und die tiefe Tragik des Gedichts. Auch Humbert Humbert, der berühmteste Mädchenschwärmer, den Nabokovs Phantasie erschaffen hat, musste Einiges in seinem Leben (und Sterben) zu spät für sich begreifen. Das Bild von Lolita ist mit mehreren Nymphenfacetten geschmückt, und zwar von Anfang an, d. h. von der ersten Szene, in der das zwölfjährige Mädchen namens Dolores Haze auf der Handlungsbühne des Romans erscheint: Ich ging noch immer hinter Mrs. Haze her durch das Esszimmer, als es plötzlich grün um uns wurde. »Die Piazza«, sagte meine Geleiterin, und ohne die geringste Warnung schwoll eine blaue Meereswelle unter meinem Herzen, und auf einer Binsenmatte in einem Sonnenteich kniete halbnackt meine Rivieraliebe, drehte sich auf den Knien zu mir her und sah mich über dunkle Brillengläser forschend an. Es war das gleiche Kind – die gleichen zerbrechlichen, honigfarbenen Schultern, der gleiche seidige, geschmeidige nackte Rücken, der gleiche kastanienbraune Haarschopf.
714 Vgl. ebd. 715 http://www.aphorismen.de/zitat/180891 / letzter Zugriff am 13. 03. 2016.
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Ein gepunktetes schwarzes Tuch, um ihren Oberkörper geknotet, verbarg meinen alternden Gorillaaugen, nicht aber den Blicken junger Erinnerung die jugendlichen Brüste, die ich eines unsterblichen Tages liebkost hatte. […] Es bereitet mir die größte Schwierigkeit, dies Aufleuchten, dies Erschauern, diesen Schock leidenschaftlichen Wiedererkennens mit angemessener Kraft zu schildern. […] Etwas später natürlich hatte sie, diese nouvelle, diese Lolita, meine Lolita, ihr Urbild völlig verdunkelt. Ich will nur eines unterstreichen, nämlich dass ihre Entdeckung für mich die schicksalhafte Konsequenz jenes »Prinzenreichs am Meer« aus meiner gemarterten Vergangenheit bildete.716
Schon die »blaue Meereswelle« gibt den ersten Anstoß, dem sämtliche romantische Umschreibungen der ehemaligen »Rivieraliebe« des Protagonisten folgen. Immer wieder bemüht sich der Ich-Erzähler darum, den Leser zu überzeugen, dass sein unwiderstehlicher Hang zu Lolita durch diesen retrospektiven Glanz des verlorenen Kindheitsparadieses (das er mit der märchenhaften Metapher eines »Prinzenreichs am Meer« dekoriert) bedingt ist. Humbert macht aus den traumatischen Erlebnissen seiner frühen Jugend kein Geheimnis – er markiert es sogar bei jeder Gelegenheit. Es geht dabei um die schöne Annabel, mit der den 12jährigen Humbert eine zarte, obwohl erotisch konnotierte Freundschaft verband. Das Mädchen ist bald darauf an Typhus gestorben, aber ihr gespenstiger, schicksalhafter Reiz verfolgt Humbert bis zu seiner letzten Stunde. Seitdem lauscht der Unglückliche dem verstummten Echo von Annabel, sucht es zu beleben. So entwickelt sich seine widrige Kinderfrauen-Neigung, die jedoch in Anbetracht des tragisch-romantischen Hintergrunds eine gewisse Rechtfertigung bzw. empathische Untermalung bekommt. Dazu kommt noch die Tatsache, dass Humbert trotz seiner kranken Vorliebe sich stets zu kontrollieren weiß und, wenigstens nach seiner Behauptung, niemals einen sexuellen Missbrauch begangen hat. Die junge Dolores betrachtet er als eine Art Inkarnation Annabels, wobei der Unterschied selbstverständlich gravierend ist. Damals waren sowohl er als auch Annabel Kinder oder wenigstens gleichaltrige Jugendliche. Die Alterskluft zwischen Professor Humbert und Lolita beträgt dagegen 25 Jahre. Das Wiedererkennen, von dem der Ich-Erzähler spricht, ist demnach scheinbar. Dies markiert zwei bedeutende Themen, die im Roman beleuchtet werden: 1) Die Verbannung aus dem Paradies; 2) Die verblendende Leidenschaft. Beide Motive haben eine stark romantische Ausprägung, beide laufen wie ein roter Faden durch das Gesamtwerk von Nabokov. Humbert strebt danach, den zum Alptraum gewordenen Traum aus seiner Vergangenheit wiederzubeleben, weil seine unschuldige, obwohl nicht unbedingt platonische Jugendliebe unerfüllt blieb. Seitdem sucht der Protagonist in allen Frauen, die er während seines Lebens trifft, nach dem Anklang jener romantischen Gefühle. 716 Nabokov, Vladimir: Lolita, S. 62–64. Hervorhebungen von A.K.
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Ich bin jedoch überzeugt, dass Lolita auf eine gewisse magische und schicksalhafte Weise mit Annabel begann. Ich weiß auch, dass der Schock, den Annabels Tod mir verursachte, das darbende Verlangen jenes Alptraumsommers fixierte. Lange bevor wir uns begegneten, hatten wir die gleichen Träume. […] 717
Der letzte Satz ist insofern relevant, als darin das Problem der Unerfülltheit wieder auftaucht. Die Liebe zu Annabel scheiterte, weil das Mädchen starb. Die Liebe zu Lolita scheitert, weil sie nicht erwidert wird. Daher klingt Humberts Anspielung auf Gottfried August Bürgers Lenore im 14. Kapitel des zweiten Teils von Lolita so grausam ironisch.718 »Und jetzt hopp-hopp-hopp, Lenore, sonst wirst du klitschnass«719, ermuntert der Protagonist das Mädchen zur schnellen Heimkehr. In Bürgers berühmter Ballade heißt es nämlich: Und hurre hurre, hopp hopp hopp! Ging’s fort in sausendem Galopp, Dass Ross und Reiter schnoben, Und Kies und Funken stoben.720
Diese Worte spricht Lenores toter Bräutigam Wilhelm aus, als sein Geist sie nach ihrem Selbstmordversuch besucht und ins Totenreich führt. Der unheimliche Totentanz am Ende der Ballade schließt mit der Warnung vor Gotteslästerung und Suizidsünde ab: Geduld! Geduld! Wenn’s Herz auch bricht, Mit Gott im Himmel hadre nicht! Des Leibes bist du ledig; Gott sei der Seele gnädig! 721
Lenore nimmt sich das Leben, weil ihr Geliebter aus der Prager Schlacht nicht zurückkommt und das Leben ohne Wilhelm für die junge Braut keinen Sinn mehr hat. Sogar das ewige Leid nach dem Tod ist für Lenore kein Argument, und so spricht sie zu ihrer Mutter: O Mutter! was ist Seligkeit? O Mutter! was ist Hölle? Bei ihm, bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Hölle! – […]
717 Nabokov, Vladimir: Lolita, S. 21. 718 Vgl. Appel, Alfred Jr.: Notes. In: Nabokov, Vladimir: The annotated Lolita. New York: Vintage Books 1991, S. 408. 719 Nabokov, Vladimir: Lolita, S. 341. 720 Bürger, Gottfried August: Lenore. In: Deutscher Balladenborn für jung und alt. Wiesbaden: F. Englisch Verlag 1979, S. 13. 721 Ebd., S. 15.
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Ohn ihn mag ich auf Erden, Mag dort nicht selig werden.722
Dies ist genau diejenige Art von Liebe, die Humbert von Lolita vergebens ersehnt. Die einzige Ähnlichkeit zu Bürgers Text besteht allerdings darin, dass Lolita von Humbert tatsächlich in die Hölle mitgenommen wird – in die Hölle seiner hemmungslosen Gier. Als Mensch und als Geliebte bildet Lolita somit einen totalen Gegensatz sowohl zur treuen, verzweifelten Lenore als auch zur (angeblichen) Annabel-Widerspiegelung. Seine Versuche, sie mit der großen Literatur vertraut zu machen, missglücken; seine väterliche Fürsorge wirkt wegen permanenter sexueller Belästigung heuchlerisch und abstoßend; schließlich kann Humbert auch als Liebhaber, trotz all seiner Erfahrung und Gewandtheit, Lolita kaum befriedigen. Es geht dabei freilich nicht nur um den Altersunterschied, denn der dämonische (und banale, wie alles Dämonische bei Nabokov) Clare Quilty, in den sich Lolita tatsächlich verliebt, ist auch nicht jung. Das Schlüsselwort lässt sich also ganz einfach formulieren: Liebe – diejenige frühe, entgegnete Liebe, die den Teenager Humbert mit der gleichaltrigen Annabel verband – empfindet Lolita zu Quilty, nicht aber zu Humbert. Dies ist übrigens ein Paradoxon, das zum Nachdenken anregt. Denn das ichbezogene und oft rücksichtlose Verhalten von Humbert kann mit Quiltys ungerührtem, boshaftem Zynismus nicht verglichen werden. Wählt man zwischen den zwei »Ungeheuern«, von denen der eine (Humbert) Lolitas Kindheit vernichtet, der andere dagegen (Quilty) ihr Herz zerbrochen hat723, so liegt an Clare Quilty zweifelsohne eine größere Schuld. Auch auf der geistig-intellektuellen Ebene kann der drittklassige Filmdramatiker, der Lolita mittels banaler Hollywood-Karriere-Versprechungen in ein Orgien- und Drogeninferno hineinlockt, mit dem alternden europäischen Literaturprofessor kaum mithalten. Lolitas Liebe zu Quilty ist demnach völlig irrational und somit romantisch, aber eben nicht im philosophischen, sondern im gängigen, saloppen Sinne des Wortes. Naiv und unerfahren, sieht sie in einem mittelmäßigen, talentlosen Schurken einen bewundernswerten Künstler, dem sie sich aufrichtig hingibt. Er, sagt Humberts »Herbstnymphe«724, ist »der einzige Mann, nach dem sie je verrückt gewesen sei.«725 Anders ist der hinterlistige schwarzromantische Glanz, mit dem Humbert sein Verlangen nach Lolita achtsam umgibt, ein Mittel, den Leser und vor allem sich selbst zu betrügen. Mehrmals versucht der Ich-Erzähler, seine Handlungen durch die Geißelung scheinheiliger gesellschaftlicher Moral, die einzig auf kulturellen Besonderheiten bestimmter Völker bzw. Epochen beruht, zu rechtfertigen. Auch seine Nym722 723 724 725
Ebd., S. 12. Vgl. Nabokov, Vladimir: Lolita. S. 461 Ebd., S. 448. Ebd.
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phetten-Theorie hat vor allem den Zweck, den ausschlaggebenden Unterschied zwischen einem durchschnittlichen Menschen und einem eingeweihten Kenner, der dem dämonischen Zauber der Mädchenfrauen verfallen ist, zu markieren. Und eben dieses romantisierende Theoretisieren wird, ethisch betrachtet, zum extremen Reinfall, der Humberts geistige Falschheit entblößt. Interessant ist dabei, dass die Suche nach den Wurzeln solcher selbstrechtfertigender Theorien tatsächlich zur Romantik führen kann, und zwar in ihrer klassischen, mustergültigen Ausprägung, wie etwa in der heute etwas vergessenen, seinerzeit aber äußerst bekannten und provokanten Lucinde. Das Romanfragment von Friedrich Schlegel sollte ursprünglich einen, modern ausgedrückt, hybriden Text bilden, in dem sich eine erotische Liebesgeschichte, ein lyrisches Essay, ein sentimentaler Briefroman und sogar eine Art soziales Theaterstück zu einem chaotischen und doch kohärenten romantischen Teppich aus Prosa, Poesie und philosophischem Traktat verweben. Zwar wurde Schlegels Vorhaben nicht vollständig realisiert, aber der erhaltene erste Teil von Lucinde enthält Einiges, was hinsichtlich oben thematisierter Lolita-Motive geringstenfalls erwähnenswert zu sein scheint. So z. B. folgender Auszug aus der Charakteristik der kleinen Wilhelmine, wo der junge Protagonist seine gewisse Freizügigkeit in der Behandlung sexueller Fragen mithilfe einer ziemlich überraschenden Metaphorik zu begründen versucht: Betrachtet man das sonderbare Kind nicht mit Rücksicht auf eine einseitige Theorie, sondern wie es sich ziemt, im Großen und Ganzen: so darf man kühnlich von ihr sagen […]: Sie ist die geistreichste Person ihrer Zeit oder ihres Alters. Und das ist nicht wenig gesagt: wie selten ist harmonische Ausbildung unter zweyjährigen Mädchen? Der stärkste unter vielen starken Beweisen für ihre innere Vollendung ist ihre heitere Selbstzufriedenheit. […] Habe ich etwa Unrecht, wenn ich die Sittlichkeit bey Kindern, Zartheit und Zierlichkeit in Gedanken und Worten vornehmlich beym weiblichen Geschlecht suche? […] Und nun sieh! diese liebenswürdige Wilhelmine findet nicht selten ein unaussprechliches Vergnügen darin, auf dem Rücken liegend mit den Beinchen in die Höhe zu gesticulieren, unbekümmert um ihren Rock und um das Urtheil der Welt. Wenn das Wilhelmine thut, was darf ich nicht thun, da ich doch bey Gott! ein Mann bin, und nicht zarter zu seyn brauche wie das zarteste weibliche Wesen? O beneidenswürdige Freyheit von Vorurtheilen! Wirf auch du sie von dir, liebe Freundin, alle die Reste von falscher Schaam, wie ich oft die fatalen Kleider von dir riß und in schöner Anarchie umherstreute.726
Die von mir fettgedruckten Sätze kann man als seltsam benachbarte Anhaltspunkte im Gedankengang des Ich-Erzählers betrachten. Was mit einer scheinbar selbstlosen Überlegung zur zarten Freiheit der Kinder und öden sozialen
726 Schlegel, Friedrich: Lucinde. Stuttgart: Reclam 2001, S. 20–23. Hervorhebungen von A.K.
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Grenzsetzungen anfängt, endet mit dem Appell an die Geliebte des Erzählers, der sie dazu bewegen möchte, sich etwas leichtlebiger und aufgeschlossener zu verhalten: Diesmal schon in einem ausgesprochen erotischen Sinne. Als Verhaltensmuster für eine erwachsene Frau (Lucinde ist im Roman sogar älter als ihr Geliebter) wählt Schlegels Protagonist ein zweijähriges (!) Mädchen. Bemerkenswert: Es geht hier um kein beliebiges zweijähriges Mädchen, sondern ausgerechnet um Wilhelmine, die – dies wird im Text mutwillig unterstrichen – eine beachtliche Ausnahme aus den Kindern ihres Alters bildet. In völligem Einklang mit den romantischen Prämissen verbindet Schlegel in seinem Text Philosophie mit Lyrik, Wissenschaft mit Kunst, d. h. das Selbstlos-Allgemeine mit dem Selbstbezogen-Individuellen. Der scheinbar einfache Plot bekommt durch dessen Romantisierung eine neue, philosophische Dimension. Julius liebt Lucinde und will sie verführen, aber eine solche Formulierung wäre im romantischen Diskurs stilistisch wie semantisch fehl am Platz. Genauso weigert sich Goethes Werther, die Liebe zu Charlotte auf der rein emotiven Ebene zu lassen, und rüstet sein wachsendes Gefühl mit philosophischer Untermauerung aus (ein feuriger Mix aus Pantheismus und Fatalismus), sodass die Tatsache, dass er sich ausgerechnet in eine verlobte Frau verliebt, schließlich die logische Konsequenz seines Welt- und Lebenskonzepts zu sein scheint.727 In beiden Fällen misslingt die zwar anziehende, aber äußerst gefährliche Synthese von Herz und Verstand, denn die vermeintlich freie philosophische Generalisierung basiert auf einem höchst persönlichen Interesse und entpuppt sich somit als eine Art theoretische Basis für einen kunstgerecht verschleierten Besitzwunsch. Man sollte dabei betonen, dass die ›Schuld‹ daran nicht die Idee der romantischen Liebe an sich trägt (die war auch Nabokov sehr nahe), sondern ihre nicht immer beabsichtigte und dennoch oft auftretende Instrumentalisierung durch das menschliche Ego. Auch in Humberts einseitigem, egoistischem Gefühl zu Lolita erlebt das romantische Liebesideal eine groteske, verzerrte Wandlung. Das Wunder des Vergangenen, die kindliche Reinheit ist einmalig und unwiederholbar. Jeder Reanimierungsversuch muss hier erstens zur Täuschung und zweitens zur Tragödie führen. Diese tragische Täuschung funktioniert nicht nur auf der inhaltlich-semantischen Ebene, sondern auch auf der Ebene der Erzählsituation. Lolitas Narrator ist, zumindest an vielen Textstellen, das Musterbeispiel eines unzuverlässigen Erzählers. Er täuscht den Leser gekonnt und konsequent, aber Humberts eigenes sexuelles Begehren beruht auch auf einer Täuschung. Alles, was Lolita als Person betrifft, erfahren wir von ihm. Wir sehen Lolita nur mit seinen Augen, d. h. mit den Augen eines Pädophilen. Dies darf niemals vergessen werden und alle Missverständnisse, die der Roman bis heute hervorruft, sind in 727 Mehr dazu siehe in: Kotin, Andriej: J.W. Goethes »Die Leiden des jungen Werther« – ein Adoleszenzroman? In: Orbis Linguarum 2011, Vol. 37, S. 153–166.
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der Regel eben damit verbunden, dass manche Leser bzw. Kritiker nicht nur zwischen Autor und Erzähler kaum unterscheiden, sondern auch dem Ich-Erzähler ein wesentlich größeres Vertrauen schenken als er verdient. Zwei wichtige Aspekte resultieren daraus. Der erste lässt sich im folgenden Statement zusammenfassen: Wenn uns Humbert manchmal mitleidswert oder gar sympathisch zu sein scheint, so ist dies keine Bewertung des Autors, sondern Humberts erfolgreiche Mystifikation. Der zweite Aspekt betrifft das Problem der so genannten »Nymphette« (ein von Nabokov erfundener Neologismus728). Daher wäre es sinnvoll, diejenige Begriffsauslegung aufzufrischen, die Lolitas Protagonist Humbert Humbert an einer durchaus markanten Textstelle exakt zum Ausdruck bringt: Zwischen den Altersgrenzen von neun und vierzehn gibt es Mädchen, die gewissen behexten, doppelt oder viermal so alten Wanderern ihre wahre Natur enthüllen; sie ist nicht menschlich, sondern nymphisch (das heißt dämonisch); und ich schlage vor, diese auserwählten Geschöpfe als »Nymphetten« zu bezeichnen. […] Sind innerhalb der angegebenen Altersgrenzen alle Mädchenkinder Nymphetten? Natürlich nicht. Sonst hätten wir, die Eingeweihten, wir einsamen Wanderer, wir Nympholeptiker längst den Verstand verloren. Das hübsche Äußere ist ebenfalls kein Kriterium, und Vulgarität […] beeinträchtigt bestimmte geheimnisvolle Merkmale auch nicht unbedingt […]. Ein normaler Mann, dem man ein Gruppenbild von Schulmädchen oder Pfadfinderinnen mit der Aufforderung zeigt, er solle die Reizvollste aussuchen, wird nicht unbedingt die Nymphette unter ihnen wählen. Man muss ein Künstler sein, und ein Wahnsinniger obendrein, […] um an unbeschreibbaren Anzeichen […] sofort den tödlichen kleinen Dämon unter den normalen Kindern zu entdecken… Da steht sie, von ihnen unerkannt und ihrer mythischen Macht selbst nicht bewusst.729
Der »gute Leser«, von dem Nabokov so oft in seinen Literaturvorlesungen sprach730 und an den alle seine Texte gerichtet sind, sollte sich durch den kristallklaren Klang und poetischen Glanz dieser Aussage nicht irreführen lassen. Schon in den letzten Worten gibt es nämlich einen evidenten Widerspruch zum oben Gesagten. Wenn die angeblichen »Nymphetten« ihrer mythischen Macht nicht bewusst sind, wie kann man dann von ihrer »dämonischen« Natur oder überhaupt von einer richtigen Nymphette reden? Und dies ist ja eben die Kernfrage. Denn außer der kränklich-hermetischen Phantasie von Humbert gibt es gar keine Nymphetten. Schließlich muss er selber zugeben, ein »normaler Mann« würde die »auserwählten Geschöpfe« kaum erkennen. Der gängige Begriff »Kindfrau« bzw. »Lolita« ist demnach ein Missverständnis, das aus einer oberflächlichen, unaufmerksamen Lektüre von Nabokovs Roman resultiert. 728 Siehe in: Melnikow, Nikolai (Мельников, Николай): Набоков о Набокове и прочем., S. 80. 729 Nabokov, Vladimir: Lolita, S. 28. 730 Vgl. https://www.brainpickings.org/2013/01/21/nabokov-on-what-makes-a-good-reader / letzterZugriff am 08. 01. 2016.
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Es bleibt aber eine andere Frage, die für eine komparatistische Untersuchung des Nymphen-Motivs bei Nabokov und in der deutschen romantischen Dichtung nicht weniger bedeutsam ist. Wieso schreibt Humbert seinen »Nymphetten« ausgerechnet dämonische Züge zu? Warum bekommt ihre »wahre Natur«, ihre »mythische Macht« solch bösartige Konnotationen? Der wichtigste Grund dafür scheint ihre unwiderstehliche Anziehungskraft zu sein, die den männlichen Protagonisten in ihren höllischen Bann zieht. Diese Hölle bildet jedoch keinen separaten Außenraum, sondern sie existiert, wie oben am Beispiel vom LilithText gezeigt wurde, bereits in Humbert, macht seinen Innenraum aus. Was Cezary Lipin´ski über das Schaffen des deutschen Romantikers Carl Wilhelm SaliceContesse behauptet, trifft auch auf die Prosa von Vladimir Nabokov, insbesondere auf die Werke wie Gelächter im Dunkel, Das Bastardzeichen, Lolita oder Der Zauberer (Lolitas Vorläufer aus dem Jahre 1939) zu: »Das Sexuelle erscheint hier […] in ein Gewand des Dämonischen eingehüllt. Es raubt die Sinne, nimmt den Verstand und lässt die bisherige Wirklichkeit zu fernen Träumen und Träume zur virtuellen Wirklichkeit werden.«731 Eine bessere Beschreibung von Humberts psychisch-geistigem Zustand könnte man sich kaum vorstellen. Die wirkliche Lolita, ein durchschnittliches zwölfjähriges amerikanisches Mädchen, wird zum virtuellen Traumbild, das nur in Humberts Bewusstsein präsent ist. Die traumatische, sehnsüchtige Erinnerung an Annabel wird dagegen mittels eigenwilliger und perverser Einbildungskraft des Protagonisten ins reale Leben gerufen und findet in Lolitas Körper (ihr Inneres interessiert Humbert kaum) die scheinbar vollkommene Kopie des begehrten Urbildes. Diese Selbst- und Lesertäuschung kann selbstverständlich nicht ewig dauern – und so scheitert schließlich der Imaginationstrick, sobald klar wird, dass Humberts Gefühle ganz einfach unerwidert bleiben. Ehe das geschieht und der Protagonist in die pure, unheilbare Verzweiflung versinkt, kommt es zu einer relevanten Bewertungsumkehr. Da Humbert trotz seines krankhaften Egoismus kein gewissensloser Mensch ist, weiß er seine Neigungen und Handlungen aus moralischer Sicht entsprechend zu verurteilen. Kurz: Er ist sich völlig im Klaren, dass seine Wünsche und Taten ein moralisches, mehr noch – ein geistiges – Verbrechen seien (Nabokov selbst gab in einem Lolita-Interview zu, die Natur sei hier – leider – auf der Seite der Kirche732). Er transponiert bloß den Schwerpunkt des Bösen weg von der eigenen Seele in die Figuren so genannter »Nymphetten«, indem er ihnen dämonische Züge zuschreibt. Dies befreit ihn einerseits von Schuldgefühlen oder erleichtert wenigstens deren unerträgliche Last. Anderer731 Lipin´ski, Cezary: Der Triumph des Mythos. Zur mythisch-archetypischen Distribution im narrativen Werk von Carl Wilhelm Salice-Contessa. Wrocław: Oficyna Wydawnicza ATUT 2001, S. 173. 732 Siehe in: Melnikow, Nikolai (Мельников, Николай): Набоков о Набокове и прочем, S. 100.
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seits werden seine Aufzeichnungen dadurch deutlich romantisiert: Das BanalKörperliche bzw. Psychopathische nimmt ein schaurig-mythisches bzw. metaphysisches Ausmaß an. Doch Humbert liegt falsch. Lolita ist kein verführerischer Racheengel, ebenso wenig wie alle anderen Mädchen, die in seiner verzerrten Vorstellung mit der schaurig-schönen Etikette »Nymphetten« abgestempelt werden. Mehr noch: Auch der ›Urprototyp‹ aller anderen Nymphen der europäischen Literatur des 19.–20. Jh. war keineswegs ein lüsterner Bösewicht. Und er kam übrigens aus Deutschland.
3.3.2 Die Humanisierung des Nymphenmythos – Friedrich de la Motte Fouqués Undine Friedrich de la Motte Fouqué (1777–1843) könnte man, die Terminologie der modernen Musikbranche benutzend, als ein ›One-Hit-Wonder‹ der deutschen Romantik bezeichnen. Von den zahlreichen Ritterromanen, die er verfasste und die sich seinerzeit einer beachtlichen Popularität erfreuten, hat allein Undine die Zeitprobe bestanden, und zwar mit einem Riesenerfolg. Das Liebesmärchen wurde in alle Weltsprachen übersetzt733 und mehrmals in verschiedensten Formen – darunter auf der Grundlage späterer literarischer Vorlagen –wiederbelebt bzw. uminterpretiert, sei es in den gleichnamigen Opern von E.T.A. Hoffmann, Antonin Dvorˇak und Alexander Dargomyzˇskij, in Jean Giraudouxs Theaterstück Ondine, Ingeborg Bachmanns Erzählung Undine geht oder in den Filmen von Andy Warhol (The Loves of Ondine) und Neil Jordan (Ondine), geschweige denn von mehreren Gemälden europäischer Künstler des 19. Jh. Ebenso bemerkenswert ist, dass die als Märchenklassiker geltende Die kleine Meerjungfrau von Hans Christian Andersen (die u. a. die mittelbare Vorlage für die oben erwähnte Oper von Dvorˇak war) sowie Oscar Wildes weniger bekanntes Märchen Der Fischer und seine Seele wesentlich später als Fouqués romantische Umgestaltung des wohlbekannten Nymphenmythos entstanden. Letzterer ist aufs engste mit dem »Motiv der gestörten Mahrtenehe«734 verbunden, bei dem es sich um ein Liebesverhältnis zwischen einem der Menschenwelt gehörenden Mann und einer aus der mythologisch aufgefassten Wasserwelt stammenden Nymphe bzw. Nixe oder eben Undine handelt. In ihrer Arbeit Meerjungfrauen in der Literatur schreibt Melanie Komorowski, eine derartige Bindung bestehe 733 http://www.stadt-brandenburg.de/bildung/fouque-bibliothek/fouque / letzter Zugriff am 12. 09. 2015. 734 Komorowski, Melanie: Meerjungfrauen in der Literatur. http://www2.hhu.de/mythos-maga zin/mythosforschung/mk_meerjungfrauen.pdf / letzter Zugriff am 12. 09. 2015., S. 2.
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aus zwei Komponenten: Erstens der Verbindung eines Menschen mit einem Geistwesen und zweitens den Bedingungen, unter denen diese steht. Letztere können unterschiedlicher Natur sein, etwa das Treuegebot […], das Sichtverbot […] oder das Verbot über die […] Herkunft des übernatürlichen Wesens zu sprechen oder es an bestimmten Orten zu beschimpfen.735
Bei Fouqué spielen das Treuegebot und das Beschimpfen-Verbot eine schicksalhafte Rolle im tragischen Finale seines zutiefst traurigen Märchens. Dagegen wird ein anderer klassischer Bestandteil der Wasserfrauenmythologie vom Autor stark modifiziert. Nach Komorowski sind die Meerjungfrauen in der Vergangenheit »meist mächtige Wasserfrauen, die eine Verbindung zu einem Menschenmann nicht aus Liebe anstreben, sondern weil beide davon profitieren.«736 In Undine liebt die Titelnymphe ihren Ehemann, den Ritter Huldbrand, mit einer treuen, selbstlosen und leidenschaftlichen Liebe, zu der wohl keine Menschenfrau aus seiner Umgebung fähig gewesen wäre.737 Daraus resultiert Undines bittere Verwunderung über die rücksichtslose menschliche Härte, als sie an Bertalda folgende verzweifelte Worte richtet: »Ihr Leute, die ihr so feindlich ausseht und so verstört […], ach Gott, ich wusste von euern törichten Sitten und eurer harten Sinnesweise nichts, und werde mich wohl mein Lebelang nicht drin finden.«738 Seltsamerweise wird dies in der Forschung oft übersehen, indem man das Undine-Motiv dem »Komplex der femme fatale«739 zuschreibt und Fouqués zarte, obwohl natürlich durchaus erotisch anziehende Nymphe mit Brentanos Lore Lay und Heines Lorelei vergleicht.740 Auch die feministisch orientierte Kritik scheint den philosophischen Kern des im Text dargestellten Liebesdreiecks nicht erfasst zu haben. So schreibt z. B. Stephan Inge, das Weibliche in Undine werde »nicht befreit, sondern ähnlich wie in klassischen Texten mythologisiert und ästhetisch funktionalisiert.«741 Ähnliche Einstellung zeigt sich bei Isabel Koester: »Für Fouqué ist Undine ein Zwischenwesen, das es zu missionieren gilt.«742 Noch radikaler drückt sich Andreas Kraß aus, als er die Beziehungen zwischen Huldbrand und Undine folgendermaßen interpretiert: »Im Sinne der romanti735 Ebd., S. 5-6. 736 Ebd., S. 1. ˇ awcˇanidze, Julietta: Romanticheskaja skazka Fuke. (Das romantische Märchen von 737 Vgl. C Fouqué). http://forlit.philol.msu.ru/lib-ru/chavchanidze-article1-ru / letzter Zugriff am 15. 09. 2015. 738 Fouqué, Friedrich de la Motte: Undine. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 2010., S. 61. 739 Hoffmeister, Gerhart: Deutsche und europäische Romantik. Stuttgart: Metzler 1978., S. 158. 740 Vgl. ebd. 741 Inge, Stephan: Kunstepoche. In: Beutin, Wolfgang u. a. (Hrsg.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 7., erweiterte Auflage, Stuttgart 2008 (S. 182– 238), S. 207. 742 Gutiérrez Koester, Isabel: »Ich geh nun unter in dem Reich der Kühle, daraus ich geboren war…« Zum Motiv der Wasserfrau im 19. Jh. Berlin: Logos Verlag 2001., S. 84.
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schen Geschlechterordnung, die Fouqué propagiert, empfängt die Jungfrau ihre Seele erst in der Hochzeitsnacht. Erst durch die Liebe des Mannes wird sie zur Frau und somit zum vollgültigen Menschen.«743 Problematisch bei der Polemik mit derartigen Feststellungen ist die Tatsache, dass die Letzteren zwar eine Bestätigung an manchen Textstellen finden, jedoch im Gesamtkontext des Werkes, wenn überhaupt, dann nur eine zweitrangige Bedeutung haben. So ist höchst fragwürdig, ob Fouqué irgendeine Geschlechterordnung propagiert. Vielmehr benutzt er einfach diejenigen mythologischen Gesetze, nach denen die Menschen- und die Nymphenwelt miteinander in Verbindung kommen können. Dabei stützt sich Fouqué u. a. auf die Schriften von Paracelsus, vor allem auf das Liber de Nymphis, Sylphis, Pygmaeis et Salamandris, et de caeteris spiritibus744, das auch für Ludwig Tieck bei der Arbeit an Die Elfen sowie für E.T.A. Hoffmann in Der Goldne Topf als Inspirations- und Informationsquelle diente. Einige geschichtlich bedingte patriarchalische Darstellungsnuancen kommen in Undine zweifelsohne vor. Von jeglichen gendergefärbten propagandistischen Tendenzen bleibt sein Liebesmärchen aber glücklicherweise frei. Dagegen lassen sich im Text mehrere äußert interessante und überraschende Gedanken zum Thema Christenheit und Heidentum finden. Das zentrale Problem der Mahrtenehe von Undine und Huldbrand ist nämlich das Problem der Seele. Als eine Wasserfrau ist Undine nämlich seelenlos, ganz im Geiste der Elementenlehre von Paracelsus745, was sie ihrem künftigen Ehemann aufrichtig gesteht: »Wir, und unseresgleichen in den andern Elementen, wir verstieben und vergehn mit Geist und Leib, dass keine Spur von uns rückbleibt […] Darum haben wir auch keine Seelen.«746 Bemerkenswert ist, dass hier die Seele etwas anders verstanden wird, als z. B. bei Baumgarten, der die Seele mit dem Bewusstsein gleichsetzt747 und auch von den Seelen der Tiere spricht, die jedoch, im Unterschied zu Menschenseelen, nicht unsterblich sind.748 Fouqués Undine ist sich zweifellos ihrer Existenz bewusst und verhält sich im Großen und Ganzen genauso wie ein normales achtzehnjähriges Mädchen. Eine Seele hat sie aber nicht, was hier vor allem bedeutet, dass Undine nicht christlich ist, d. h., ihr Inneres sei mit dem mythisch-heidnischen Naturraum und nicht mit dem 743 Kraß, Andreas: Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe. Frankfurt a. M.: Fischer 2010, S. 301. 744 Vgl. Komorowski, Melanie: Meerjungfrauen in der Literatur. http://www2.hhu.de/mytho s-magazin/mythosforschung/mk_meerjungfrauen.pdf / letzter Zugriff am 12. 09. 2015., S. 22. 745 Ebd., S. 16. 746 Fouqué, Friedrich de la Motte: Undine. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 2010., S. 47. 747 Vgl. Baumgarten, Aleksander Gottlieb: Metafizyka. Übersetzt ins Polnische von Jacek Surzyn. Ke˛ty: Marek Derewiecki Verlag 2012., S. 177. 748 Vgl. ebd., S. 285.
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evangelisierten Menschenraum des deutschen Mittelalters verwandt. Es gibt allerdings auch für eine Wasserfrau die Möglichkeit, einer Seele teilhaftig zu werden: »Eine Seele aber kann unsresgleichen nur durch den innigsten Verein der Liebe mit einem eures Geschlechtes gewinnen.«749 Man sollte hier unterstreichen, dass unter dem »innigsten Verein der Liebe« weder das reine Gefühl an sich noch die christliche Trauung verstanden wird, sondern eben die physische, körperliche Vereinigung, kurz: sexueller Kontakt mit dem geliebten Menschen. Der Text lässt da keine Zweifel, indem darin von den Ereignissen nach der Hochzeit eindeutig berichtet wird: »[…] der von Liebe berauschte Ritter […] löschte die Kerzen, und trug seine schöne Geliebte unter tausend Küssen, vom Monde, der hell durch die Fenster hereinsah, anmutig beleuchtet, zu der Brautkammer hinein.«750 Erst danach kommt es zum entscheidenden Wandel in Undines Innerem: […] alle wollten ihr entgegengehn, und alle blieben voll Verwunderung stehen, so fremd kam ihnen die junge Frau vor, und doch so wohlbekannt. […] Sie blieb den ganzen Tag so; still, freundlich und achtsam, ein Hausmütterlein, und ein zart verschämtes, jungfräuliches Wesen zugleich. Die Dreie, welche sie schon länger kannten, dachten in jedem Augenblick irgendein wunderliches Wechselspiel ihres launischen Sinnes hervorbrechen zu sehn. Aber sie warteten vergebens darauf. Undine blieb engelmild und sanft.751
Undines Verhalten überrascht ihre Pflegeeltern und ihren Ehemann, weil das Mädchen früher äußerst launisch und selbstbezogen war. Unter anderem schockierte sie den alten Fischer und seine Frau mit provokanten Äußerungen, wie: »[…] jeder ist sich doch selbst der Nächste und was gehen einen die andern Leute an.«752 Die Reaktion des Fischers auf diese schonungslose Sentenz ist genauso verständlich wie vorhersehbar: »Als ob dich Heiden und Türken erzogen hätten, klingt ja das […]«753, klagt er ratlos. Interessant ist, was Undine darauf antwortet: »Ja, aber mir ist doch nun einmal so zumute […] habe mich erzogen, wer da will, und was können da all eure Worte helfen.«754 Vieles kann man der eigenwilligen Undine in der vorehelichen Phase ihres Lebens vorwerfen, mit Ausnahme von Heuchelei. Sie verhält sich nämlich so, wie es ihr zumute ist. Was auch immer sie tut oder sagt, sie bleibt im Einklang mit ihrer inneren Natur. Um es mit Andreas Kraß auf den Punkt zu bringen: »Undine repräsentiert die Prinzipien der Poesie, Genialität und Natürlichkeit«755, und diese Prinzipien lassen sich keinem normalisierten Wertesystem zuordnen. 749 750 751 752 753 754 755
Ebd., S. 48. Ebd., S. 43. Ebd., S. 44–45. Ebd., S. 33. Ebd., S. 34. Ebd. Kraß, Andreas: Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe, S. 309.
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Nun bekommt Undine aber durch Liebesvereinigung mit ihrem Ehemann, dem Ritter Huldbrand, eine Seele und wird somit zum Menschen. Die Versuchung, darin ein typisches Beispiel patriarchalischer Frauenunterwerfung zu sehen, ist natürlich groß. Viel wichtiger als Huldbrands Geschlecht ist dabei jedoch die Tatsache, dass er ein Christ ist. Die sexuelle Initiation führt Undine nicht nur in die Menschenwelt, sondern – und in erster Linie – in die Christenwelt. Nicht als Frau, sondern als Nymphe, d. h. ein heidnisches Wesen, bedarf sie einer Missionierung. Die Seele fungiert in diesem Kontext als dasjenige Abzeichen, das einen Christenmenschen von einem zwar lebendigen, aber nichtchristlichen, also nicht für die Ewigkeit vorherbestimmten Naturwesen, unterscheidet. Höchst bedeutend ist Undines Verhältnis dazu, das sie an einer der ergreifendsten und zugleich relevantesten Textstellen äußert: »Es muss etwas Liebes, aber auch etwas höchst Furchtbares, um eine Seele sein. Um Gott, mein frommer Mann, wär es nicht besser, man würde ihrer nie teilhaftig?«756 Woher kommt diese Angst vor dem Seelenbesitz, der Undine doch andererseits der größte Segen zu sein scheint? Der Wunsch, eine Seele zu haben, ist klar, denn die Seelenlosigkeit heißt auch kein Leben nach dem Tod. Wieso aber »etwas höchst Furchtbares«? Die Antwort auf diese Frage ist sinnstiftend für das Verständnis der zentralen Aussage von Fouqués Märchentragödie. Das ewige Leben gehört zu transzendenten, den physischen Lebensraum übergreifenden Profiten. Auch während des irdischen Lebens muss sich aber ein beseeltes Wesen von einem seelenlosen unterscheiden. Dieser Unterschied bezieht sich auf das tagtägliche Verhalten des Menschen, auf dessen Taten und Gefühle und somit natürlich auf die wichtigste Sphäre des menschlichen Daseins, nämlich auf die Liebessphäre. In Undine stößt man dabei auf eine äußerst sonderbare Konstellation. Undine ist die einzige Figur im Text, die man als ein »Zwischenwesen«757 bezeichnen kann. Einerseits entstammt sie der heidnischen, niederen758 Welt der Elemente; andererseits gelingt es ihr, sich in die Welt der Christenmenschen zu integrieren. Huldbrand und Bertalda gehören dagegen von Anfang an dem christlichen Raum des romantisierten Mittelalters (im Sinne »fiktionsinterner Realität«759). Vergleicht man aber Undine mit anderen Figuren des Märchens, so wird die geistige Überlegenheit der zum Menschen gewordenen 756 Fouqué, Friedrich de la Motte: Undine. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 2010., S. 41. 757 Gutiérrez Koester, Isabel: »Ich geh nun unter in dem Reich der Kühle, daraus ich geboren war…« Zum Motiv der Wasserfrau im 19. Jh., S. 84. 758 Kaschafutdinowa, Zoja: Osobennosti romanticheskoj poetiki v povesti Fuke »Undina« i poeticheskom perevode Zhukovskogo. Die Besonderheiten der romantischen Poetik in Fouqués Erzählung »Undine« und in der poetischen Übersetzung von Zhukovskij. http://www. rfp.psu.ru/archive/2.2009/kashafutdinova.pdf, / letzter Zugriff am 12. 08. 2015. 759 Durst, Uwe: Theorie der phantastischen Literatur. Berlin: Lit Verlag Dr. W. Hopf 2010, S. 69.
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Wasserfrau offensichtlich. Dies bestätigt Huldbrand selbst, indem er in einer weiteren höchst markanten Textpassage zugibt: »Wenn ich ihr eine Seele gegeben habe, musst er bei sich selber sagen, gab ich ihr wohl eine bessre, als meine eigne ist […].«760 Anders formuliert ist Undine – ein frisch missioniertes Heidenwesen – eine viel bessere Christin als ihr Ehemann, ja vielleicht die einzige wahre Christin in der entworfenen Erzählwelt. Davon rührt auch die tiefe Trauer her, mit der sich Undine an Bertalda wendet, als es sich herausstellt, die Letztere sei kein richtiges Königskind, sondern die vor langer Zeit verlorene Tochter des alten Fischers und seiner Frau. Bertalda wird rasend, schreit Undine an, nennt sie eine »Hexe«761 und will von ihren biologischen Eltern nichts wissen. Undines Gegenreaktion lautet: »Hast du denn eine Seele? Hast du denn wirklich eine Seele, Bertalda? schrie sie einige Male in ihre zürnende Freundin hinein […].«762 Eine Nymphe wirft einer Christenfrau Seelenlosigkeit vor, und zwar zurecht! Eine wahrlich unglaubwürdige Szene für einen Autor, der als Verkörperung eines kompromisslos konservativen, ja stockkatholischen Weltbildes betrachtet wird.763 Hat man es in Undine mit der »Gegenüberstellung christlicher und heidnischer Frauen«764 zu tun, so fällt das Urteil für die Ersteren nicht sehr günstig aus. Zweifelhaft ist auch die Annahme, dass die Mahrtenehe zwischen dem Ritter und Undine deshalb scheitert, weil »Huldbrand die Andersartigkeit seiner Frau beängstigt und er die Regeln ihrer Kultur nicht akzeptieren kann«765, denn nach der Hochzeitsnacht fängt Undine doch an, nach den Regeln der christlichen Kultur zu leben, und macht darin einen so raschen Fortschritt, von dem ihre christlich erzogene Umgebung nur hätte träumen können. Wie Natalja Werba treffend feststellt: Die Synthese der Naturphilosophie und der ethischen Dimension des Christentums ist hier wohl sehr prägnant dargestellt: Das feurige Verlangen eines »andersartigen« Wesens, die kostbare Seele zu bewahren, scheint eine Art Musterbeispiel für den Menschen zu sein, der leider den Wert des Schatzes, den er besitzt, nicht zu schätzen weiß.766 760 761 762 763
Fouqué, Friedrich de la Motte: Undine, S. 63. Ebd., S. 61. Ebd. Vgl. Komorowski, Melanie: Meerjungfrauen in der Literatur. http://www2.hhu.de/mytho s-magazin/mythosforschung/mk_meerjungfrauen.pdf / letzter Zugriff am 12. 09. 2015, S. 24–25. 764 Hoffmeister, Gerhart: Deutsche und europäische Romantik. Stuttgart: Metzler 1978, S. 158. 765 Ebd., S. 20. 766 Werba, Natalja: »Undina«: ot Fuke k Gofmanu. (»Undine«: von Fouqué zu Hoffmannf.) http://cyberleninka.ru/article/n/undina-ot-fuke-k-gofmanu-opyt-analiza-fenomena-arheti p-na-primere-obraza-glavnoy-geroini / letzter Zugriff am 06. 09. 2016. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »Пожалуй, синтез натурфилософии и этической стороны христианства представлен здесь очень ярко: горячее желание ›иного‹ существа заботиться о драгоценной душе выглядит своего рода примером для подражания человеку, к сожалению, не сознающему ценности обладаемого им сокровища.«
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Nicht die heidnische Andersartigkeit seiner Frau beängstigt also Huldbrand, auch wenn er sich dies als Selbstentschuldigung einzureden versucht.767 Der eigentliche Grund ist im Gegenteil die für ihn unerträgliche Kraft einer wahrhaftig christlichen Liebe, mit der ihn seine Gattin beschert. Eben diese selbstlose, allumfassende Liebe führt dazu, dass Undines Herz sogar Bertalda, die ja auch in Huldbrand verliebt ist, kaum ausschließen kann. Mehr noch: Undine schlägt vor, dass Bertalda zusammen mit ihr und ihrem Ehemann in sein Schloss kommt, und macht dabei folgendes außergewöhnlich bedeutsames Bekenntnis: »Sieh, wir wurden als Kinder miteinander vertauscht; da schon verzweigte unser Geschick, und wir wollen es fürder so innig verzweigen, dass es keine menschliche Gewalt zu trennen imstande sein soll.«768 Selbstverständlich geht es hier nicht nur um zwei Frauen, die um denselben Mann rivalisieren, sondern auch – metaphorisch gesehen – um andere vertauschte Geschwister: Christenheit und Heidentum. Nur in ihrer romantischen Synthese ist also die wahre, von den Banden der Vernunft befreite Religion des ›Goldenen Zeitalters‹ möglich – dasjenige Ideal, für das die Menschheit (nach Novalis769) noch nicht bereit ist. Als der Ritter schließlich das bereits erwähnte Verbot, seine Frau in der Nähe von Wasser zu beschimpfen, während der gemeinsamen Donaureise bricht, muss Undine in die Wasserwelt zurückkehren, was sie zwar mit tiefem Schmerz, aber ohne Hass akzeptiert: Starren, aber tränenströmenden Blickes sah ihn die arme Undine an […] Endlich sagte sie ganz matt: Ach, holder Freund, ach lebe wohl! Sie sollen dir nichts tun; nur bleibe treu, dass ich sie dir abwehren kann. Ach, aber fort muss ich, muss fort auf diese ganze junge Lebenszeit. O weh, o weh, was hast du angerichtet! 770
Auffallend ist dabei, dass sogar dem Treuegebot jegliche egoistische Motivationen fehlen. »Bleibe treu, dass ich sie dir abwehren kann«, warnt Undine Huldbrand. Gemeint werden hier die heidnischen Kräfte der Wasserwelt, nach deren unausweichlichen Naturgesetzen Huldbrand, falls er eine andere Frau heiratet, seine Untreue mit dem Tod büßen müsste. Dass der Ritter Undines Gebot brechen wird, macht der Erzähler dem Leser bereits im nächsten Kapitel nach der tragischen Donauszene mittels einer latenten Prolepse klar, im folgenden wehmütigen Monolog: Soll man sagen, leider! oder zum Glück! dass es mit unsrer Trauer keinen rechten Bestand hat? […] Ich meine, mit unsrer so recht tiefen und aus dem Borne des Lebens schöpfenden Trauer, die mit dem verlorenen Geliebten so Eines wird, dass […] sie ein geweihtes Priestertum an seinem Bilde durch das ganze Leben durchführen will […] 767 768 769 770
Vgl. Fouqué, Friedrich de la Motte: Undine, S. 82–83. Ebd., S. 65. Siehe oben im vorliegenden Text. Ebd., S. 85.
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Freilich bleiben wohl gute Menschen wirklich solche Priester, aber es ist doch nicht die erste, rechte Trauer mehr. Andre, fremdartige Bilder haben sich dazwischen gedrängt, wir erfahren endlich die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge sogar an unserm Schmerz, und so muss ich denn sagen: Leider, dass es mit unsrer Trauer keinen rechten Bestand hat! 771
Huldbrands Trauer nach Undines Untergang dauert tatsächlich nicht lange und recht bald beschließt er, Bertalda zu heiraten, was ja den Gesetzen der christlichen Religion völlig entspricht. Doch wie es sich herausstellt, gibt es auch andere, nicht minder mächtige Gesetze, die keiner vernünftigen menschlichen Glaubensauffassung, sondern der Natur selbst entspringen. Nach diesen Gesetzen soll der Ritter Huldbrand sterben. Dabei handelt es sich nicht um die sogenannte Schauerromantik mit ihrer Faszination für den Tod und das Übernatürliche, die, nach Priscilla Meyer, der germanischen Kultur eigen ist.772 Undine ist keineswegs eine unheimliche Figur, wohl aber eine tragische. Das Tragische an Undines ˇ awcˇanidze in ihrer scharfsinnigen Analyse von Schicksal wird von Julietta C Fouqués Märchen exakt beschrieben: An Undine gibt es keine fatale Verzückung einer traditionellen »Wasserfrau«, sondern nur einen eigentümlichen, keuschen Liebreiz, daher sieht das, was sie schließlich vollbringt, nicht wie ein hinterlistiger Triumph über den Menschen aus. Indem Undine Huldbrand tötet, erlebt sie den schrecklichsten Augenblick ihrer eigenen Qual. Ähnlich wie bei den Autoren des Mittelalters, ist die Liebe bei Fouqué eindeutig gut. […] Das Wunder und die Größe von Undines Natur bestehen darin, dass sie in sich zwei entgegengesetzte Urquellen verbindet. Sie ist unermesslich höher als ein Elementargeist […]. Sie ist aber auch höher als ein Mensch, der in seinem vielseitigen Dasein und in seiner Gefühlsfülle die einfache und weise Gerechtigkeit der Natur verachtet.773
Nicht weil sie es will, übt Undine ihre magische Macht über Huldbrand aus, sondern, weil sie dazu von der ihr übergeordneten Kraft der Naturgesetze gezwungen wird. Äußerst markant ist dabei, dass eine der wichtigsten Randfiguren der Erzählung – der Pater Heilmann – der Einzige ist, der die geplante Trauung 771 Ebd., S. 86. 772 Vgl. Meyer, Priscilla: Najdite, chto sprjatal matros. Originaltitel: Find what the sailor has hidden. Übersetzt ins Russische von E. Malikowa. Moskau: Nowoe literaturnoe obozrenie 2007, S. 194. ˇ awcˇanidze, Julietta: Romanticˇeskaja skazka Fuke. (Das romantische Märchen von Fouqué). 773 C http://forlit.philol.msu.ru/lib-ru/chavchanidze-article1-ru, Zugriff am 14. 09. 2016. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »В Ундине нет рокового очарования традиционной ›девы воды‹, в ней только лишь прелесть своеобразия и чистоты, и то, что она в итоге совершает, не выглядит коварным торжеством над человеком. Убивая Хульдбранда, она переживает самый страшный миг собственных мучений. Как у авторов Средневековья, у Фуке любовь однозначно добра. […] Чудо и величие натуры Ундины в том, что она соединяет в себе два противостоящих начала. […] Но она выше и человека, который в своем многогранном бытии, в своем многочувствии пренебрег простой и мудрой справедливостью природы.«
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von Huldbrand und Bertalda nicht willkommen heißt. »Lass von ihr, Huldbrand! Lass von ihm, Bertalda!«, lautet sein weitsichtiger Ratschlag. »Er gehört noch einer andern, und siehst du nicht den Gram um die verschwundene Gattin auf seinen bleichen Wangen? So sieht kein Bräutigam aus […].«774 Der christliche ˇ awcˇanidze in Priester ahnt somit diejenige »weise Gerechtigkeit der Natur«, die C der oben zitierten Passage so prägnant in Worte fasst. Der Ritter lässt sich jedoch von keinen Warnungen überzeugen. Daher auch seine Verwunderung, als er sieht, dass Pater Heilmann immer noch in der Gegend präsent bleibt. Die Reaktion des Priesters beinhaltet sowohl eine düstere Vorhersage als auch ein bitteres Wortspiel: Auf die Frage, was er denn hier mache? denn einsegnen wolle er ja doch nicht! sei die Antwort gewesen: Es gibt noch andre Einsegnungen, als die am Traualtar […] Man muss alles abwarten. Zudem ist ja Trauen und Trauern gar nicht so weit auseinander, und wer sich nicht mutwillig verblendet, sieht es wohl ein.775
Der mutwillig verblendete Huldbrand will es aber nicht einsehen, denn nach allen menschlichen bzw. christlichen Kriterien tut er ja nichts Böses. Viel kontroverser war seine Bindung, sei es auch eine eheliche, an eine Nymphe. Nun ist aber seine Gattin weg in die Wasserwelt verschwunden, und er möchte einen richtigen Menschen, eine Christin heiraten. Trotzdem berichtet uns der Erzähler darüber im tragischen Ton: Wenn ich euch erzählen sollte, wie es bei der Hochzeitsfeier auf Burg Ringstetten zuging, so würde euch zumute werden, als sähet ihr eine Menge von blanken und erfreulichen Dingen aufgehäuft, aber drüber hin einen schwarzen Trauerflor gebreitet, aus dessen verdunkelnder Hülle hervor die ganze Herrlichkeit minder einer Lust gliche, als einem Spott über die Nichtigkeit aller irdischen Freuden.776
Nur schwer kann man sich dem Eindruck entziehen, dass in diesem langen Satz nicht nur die Hochzeit zwischen Huldbrand und Bertalda, sondern auch die traurige Essenz des gesamten menschlichen Lebens zusammengefasst wurde. Es spricht dadurch eine tiefe Enttäuschung im ganzen Menschengeschlecht, insbesondere in den (so genannten) Christen, die, gleich den neutestamentlichen Pharisäern, den tiefsten Geist der göttlichen Offenbarung missachten und den hohen christlichen Ansprüchen nicht gewachsen sind. Kennzeichnend ist auch die Art und Weise, wie Undine den Rückweg in die Menschenwelt findet. Bertalda will während der Hochzeit glänzend aussehen, und so beschließt sie, trotz Undines Verbots, den Schlossbrunnen zu öffnen (der diente nämlich als eine Tür ins Reich der Wassergeister), da das Wasser, das sich 774 Fouqué, Friedrich de la Motte: Undine, S. 89. 775 Ebd., S. 92. 776 Ebd., S. 93.
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darin befindet, eine besonders verschönernde Wirkung auf die Haut ausübt. Es ist also die Hand des Schicksals und nicht Undines Eifersucht, die sie zurück zu ihrem untreuen Geliebten führt. Die Todesszene wird übrigens so poetisch und rührend dargestellt, dass man da eher von einem transzendenten Akt der Liebe als von Mord reden sollte. Sie haben den Brunnen aufgemacht, sagte sie leise, und nun bin ich hier, und nun musst du sterben. – Er fühlte in seinem stockenden Herzen, dass es auch gar nicht anders sein könnte […] Bebend vor Liebe und Todesnähe neigte sich der Ritter ihr entgegen, sie küsste ihn mit einem himmlischen Kusse, aber sie ließ ihn nicht mehr los, sie drückte ihn inniger an sich, und weinte, als wolle sie ihre Seele fortweinen. Die Tränen drangen in des Ritters Augen, und wogten im lieblichen Wehe durch seine Brust, bis ihm endlich der Atem entging, und er aus den schönen Armen als ein Leichnam sanft auf die Kissen des Ruhebettes zurücksank.777
Von Undine ›totgeküsst‹, verlässt der Ritter Huldbrand das irdische Leben, dessen Nichtigkeit sowohl in der mittelalterlichen Kosmogonie als auch in der romantischen Sehnsucht erkannt und beweint wird. Aber sogar nach seinem Tod kann Undine ihren Geliebten nicht loslassen. Und so endet das Märchen mit der Kurzerwähnung einer Legende, die sich nach Huldbrands Beerdigung (samt den seltsamen Erscheinungen, die sie begleiten) unter den Dorfbewohnern verbreitete. Da nahm man plötzlich inmitten der schwarzen Klagefrauen […] eine schneeweiße Gestalt wahr, tiefverschleiert, und die ihre Hände inbrünstig jammernd emporwand. […] Bertalda schwieg und kniete, und alles kniete, und die Totengräber auch, als sie fertig geschaufelt hatten. Da man sich aber wieder erhob, war die weiße Fremde verschwunden; an der Stelle, wo sie geknieet hatte, quoll ein silberhelles Brünnlein aus dem Rasen, das rieselte und rieselte fort, bis er den Grabhügel des Ritters fast ganz umzogen hatte […] Noch in späten Zeiten sollen die Bewohner des Dorfes die Quelle gezeigt, und fest die Meinung gehegt haben, dies sei die arme, verstoßene Undine, die auf diese Art noch immer mit freundlichen Armen ihren Liebling umfasste.778
Die Frage nach dem postirdischen Schicksal von Undine und Huldbrand steht somit offen. Es bleibt nicht nur unklar, ob sie sich in der Wasserwelt oder im christlich aufgefassten Jenseits vereinen. Man kann nicht genau feststellen, ob sich ihre Wege in einer beliebig begriffenen Ewigkeit überhaupt kreuzen. Das Märchen klingt mit dem romantischen Trost aus, dass wenigstens hier, auf Erden, Undines freundliche Arme ihren Liebling stets umfassen, was eine wunderschöne Metapher der ewigen Verschmelzung von Christenheit und Heidentum, Gott und Natur bildet. Einer Verschmelzung, die weder irdischen Gesetzen
777 Ebd., S. 96–97. 778 Ebd., S. 98.
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noch menschlicher Vernunft obliegt und sowohl am Anfang der Weltgeschichte als auch an ihrem Ende in unvergänglicher Liebe ruht und glänzt.
3.3.3 Lolita und Undine – Zusammenfassender Vergleich Nabokov sagte, seine Lolita sei eigentlich weder Humoreske noch Belletristik, sondern Poesie.779 In den Vorlesungen über die europäische Literatur unterstrich er darüber hinaus das Märchenhafte jedes literarischen Meisterwerks (eben als vorzügliche Märchen bezeichnete er z. B. Gustave Flauberts Madame Bovary oder Lew Tolstois Anna Karenina).780 Diese Behauptung korrespondiert teilweise mit dem berühmten Statement von Novalis: »Alle Romane, wo wahre Liebe vorkommt, sind Märchen – magische Begebenheiten.«781 Zweifelsohne fungiert Nabokovs Vergleich in einem anderen Kontext, wo die Bezweiflung der so genannten »realistischen Tradition« eine viel wichtigere Rolle spielt als die Novalis’sche »Romantisierung der Welt«. Jedoch scheint die Wahl der Musterbeispiele meisterhafter »Märchen« nicht zufällig zu sein: Madame Bovary und Anna Karenina, die klassischen Liebesromane des 19. Jh. Auch Nabokovs Lolita ist ein durchaus märchenhaftes Werk. Bereits im ersten dokumentierten Lolita-Entwurf tritt das Märchenhafte des erzählten Konzepts in den Vordergrund. Die Sujet-Idee gehört nämlich einer der Nebenfiguren von Nabokovs letztem russischsprachigem Roman Die Gabe, einem philiströsen und antisemitischen Exilrussen mit einem für das deutsche Ohr schwer aussprechbaren, für das russische dafür äußerst signifikanten Nachnamen Boris Iwanowitsch Schtschjogolew (das russische Substantiv schtschjogol′ bedeutet so viel wie ›Geck‹, ›Modenarr‹). Diese äußerst deplatzierte Gestalt zeichnet in einem unverbindlichen Gespräch mit dem Protagonisten eine Romanhandlung vor, aus der man seiner Meinung nach ein starkes Stück Literatur machen könnte: Ach, wenn ich nur mal ein Stündchen Zeit hätte; was für einen Roman ich hinlegen würde! Aus dem wirklichen Leben. Stellen Sie sich vor: Ein alter Hund – aber noch voll im Saft, feurig, nach Glück lechzend – lernt eine Witwe kennen, und die hat eine Tochter, noch ganz und gar ein Mädchen – Sie wissen, was ich meine – noch ist nichts geformt, aber sie hat bereits eine Art zu gehen, die einen verrückt macht. Ein schmales kleines Ding, sehr zart, blass, bläulich unter den Augen und natürlich würdigt sie den alten Bock keines Blicks. Was tun? Also, er besinnt sich nicht lange, heiratet kurzentschlossen die Witwe. Schön. Sie richten sich zu dritt ein. […] Und das Ergebnis: eine falsche 779 Melnikow, Nikolai (Мельников, Николай): Набоков о Набокове и прочем, S. 103. 780 Siehe: Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Лекции по зарубежной литературе. (Vorlesungen über ausländische Literatur). Санкт-Петербург: Азбука 2011, S. 34. 781 Wiese, Bruno von (Hg.): Deutsche Dichter der Romantik. Ihr Leben und Werk. 2. überarbeitete und vermehrte Auflage. Berlin: Erich Schmidt Verlag, S. 235.
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Rechnung. Die Zeit verfliegt, er wird älter, sie erblüht – und nichts. […] Na, spüren Sie hier nicht eine dostojewskijsche Tragödie? Diese Geschichte ist einem meiner besten Freunde passiert, es war einmal im Märchenland, und der König war stets fröhlich.782
Der Inhaltsumriss von Nabokovs Lolita entspricht zwar Schtschjogolews Schema, aber »eine dostojewskijsche Tragödie« wird daraus nicht, vielmehr eine Nabokovsche Tragikomödie, eine intertextuelle Erotikgroteske mit einer ›Pflichtprise‹ elegant verschleierter Metaphysik. Dostojewskis Schatten wird dabei, wenn schon, dann eher zu parodistischen Zwecken beschworen und gleich danach im kritischen Licht vernichtender Ironie bloßgestellt. Der Protagonist in Lolita, wie übrigens alle Schurken Nabokovs, ist vor allem ein Philister, dessen literarische Begabung weder sein zynisch-egoistisches Verhältnis zu anderen Menschen noch seine banale Brutalität zu rechtfertigen vermag. Das Märchenhafte aber bleibt bemerkenswerterweise präsent. Schon bei der ersten, mit der Erinnerung an Annabel verknüpften Lolita-Beschreibung spricht Humbert von einem »Prinzenreich am Meer« (unter einer unumstrittenen, in der Forschung mehrmals betonten intertextuellen Berufung auf E. A. Poes Annabel Lee). Auch die Bezeichnung »Nymphe« und der gesamte damit verbundene dämonische Diskurs stützen sich offensichtlich auf Märchen- bzw. Mythenterminologie. So gesehen erweist sich Lolita – wenigstens aus der Perspektive des Protagonisten – als ein poetisches Mysterium, ein lyrischer, obwohl äußerst düsterer Märchenroman. Der nüchterne Leserblick darf (und sollte) in Humberts Beichte auch eine gnadenlose Verblendungs- und Misshandlungsgeschichte erkennen. Die märchenhafte Kehrseite des Romans sollte jedoch auch nicht unbeachtet bleiben. Darauf macht der Autor selbst in Über ein Buch mit dem Titel »Lolita« aufmerksam: »[…] alle meine russischen Leser wissen, dass meine alten Welten – ob russisch, englisch, deutsch oder französisch – ebenso phantastisch und individuell sind wie meine neue Welt.«783 Besonders fruchtbar scheint dabei der Vergleich der abschließenden Sequenzen von Lolita und Undine zu sein, denn Nabokovs Roman klingt mit einer Behauptung aus, die dem Finale von Fouqués Märchennovelle diametral entgegengesetzt ist: Keiner von uns beiden also ist am Leben, wenn der Leser dies Buch aufschlägt. Aber solange das Blut durch meine schreibende Hand pulst, bist du noch ebenso ein Teil seliger Materie wie ich, und ich kann noch immer von hier aus zu dir nach Alaska sprechen. […] Dein Mann wird dich hoffentlich immer gut behandeln, denn sonst wird mein Gespenst wie schwarzer Rauch, wie ein wahnsinniger Riese über ihn kommen und ihn in Stücke reißen, Nerv um Nerv. Und hab kein Mitleid mit C.Q. Man musste zwischen ihm und H.H. wählen, und man wollte H.H. wenigstens noch ein paar Monate 782 Nabokov, Vladimir: Lolita, S. 37. 783 Ebd., S. 521.
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länger existieren lassen, damit er dich in der Phantasie späterer Generationen am Leben erhalten konnte. Ich denke an Auerochsen und an Engel, an das Geheimnis zeitbeständiger Pigmente, an prophetische Sonette, an die Zuflucht der Kunst. Und dies ist die einzige Unsterblichkeit, an der du und ich gemeinsam teilhaben dürfen, meine Lolita.784
Der letzte Satz ist für das metaphysische Ausmaß des Romans sinnstiftend. Damit bestätigt Humbert nämlich sein Vorwissen über das jenseitige, transzendente Schicksal seiner und Lolitas Seele, wobei das Urteil klar und kompromisslos ausfällt: Ihre Seelen werden sich nach dem physischen Tod nicht treffen. Damit gehört Humbert eindeutig in die Hölle, während Lolita – ein, so Nabokov, »armes Mädchen«785 – sich einer wesentlich sanfteren Bestimmung erfreuen darf. Jedenfalls trennen sich die Wege der Hauptfiguren. Nicht nur im irdischen Leben, sondern auch im Jenseits werden Humbert und Lolita nie zueinanderfinden, was – komparatistisch gesehen – noch wichtiger ist als die Frage nach der jeweiligen Hölle-Paradies-Einrichtung. Beide Texte – sowohl Lolita als auch Undine – sind nach dem Namen der weiblichen Hauptfigur betitelte Liebesgeschichten, wo der männliche Protagonist ein verfälschtes Frauenbild kreiert und an Folgen dieser gefährlichen, selbstbezogenen Sublimierung zugrunde geht. Fouqués romantisches Märchen schließt aber eben das ab, was Humbert untersagt wurde: Die posthume Wiedervereinigung beider Liebenden. Dieser gravierende und semantisch aufschlussreiche Unterschied zwischen den Werken des deutschen Spät- und des russisch-amerikanischen Neuromantikers lässt sich aus den sinntragenden Besonderheiten jeweiliger Figurenkonstellationen erklären. Während Huldbrands fatales Fehlverhalten Undine gegenüber aus seiner Engstirnigkeit, Intoleranz und Angst vor dem Fremden resultiert, begeht Humbert nicht nur einen schwerwiegenden Fehler, sondern ein unwiederbringliches Verbrechen, indem er eine andere Person (die er anfangs ausschließlich unpersönlich als ein bloßes Sexualobjekt betrachtet) dazu zwingt, seine Phantasien straflos ausleben zu können. Bemerkenswert ist, dass sowohl Huldbrand als auch Humbert (bemerkenswert ist übrigens auch eine gewisse Namennachbarschaft) sich ihres Missgriffs eigentlich bewusst sind. Der scheinheilige Ritter weiß, dass Undines Seele besser als seine eigene ist: Daher entpuppen sich die auf der heidnischen Herkunft seiner Gattin basierenden Vorwürfe als pure Heuchelei. Der lüsterne Literaturprofessor weiß, dass Lolita ihn weder liebt noch begehrt: Daher fällt es dem Leser nicht schwer, hinter den falschsentimentalen Überzeugungen, er wolle seiner ›Gefangenen‹ Schutz leisten oder gar Ausbildung beibringen, einen lächerlich wirkenden Selbstbetrug zu erblicken.
784 Ebd., S. 510. 785 Vgl. Melnikow, Nikolai (Мельников, Николай): Набоков о Набокове и прочем, S. 80.
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Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass Friedrich de la Motte Fouqués Schaffen Vladimir Nabokov ziemlich gut bekannt war. In seinen umfassenden Anmerkungen zu Puschkins Eugen Onegin erwähnt er nicht nur den Namen des deutschen Romantikers, sondern auch die Titel von zwei seinen Werken: Undine und Pique-Dame. Berichte aus dem Irrenhaus in Briefen (eine Übertragung aus dem Schwedischen786).787 Dieser Anmerkung schließt Nabokov die Absicht an, eines Tages einen extra Artikel zu schreiben, um Puschkins und Fouqués Pique-Damen-Geschichten einer komparatistischen Analyse zu unterziehen und zu beweisen, der Inspirationsursprung einer der berühmtesten Erzählungen des russischen Dichters sei eben im Werk von Fouqué zu suchen. Diese Arbeit wurde allerdings erst einige Jahre nach Nabokovs Tod von seiner Frau Vera und Gennady Barabtarlo in einer Untersuchung über die möglichen Quellen von Puschkins Die Pique-Dame vollendet.788
786 Siehe: http://www.worldcat.org/title/ausgewahlte-dramen-und-epen-15-ubersetzungen-2-p ique-dame-berichte-aus-dem-irrenhause-in-briefen-von-clas-livijn-aus-dem-schwedische n-ubertragen-von-friedrich-de-la-motte-fouque-ubersetzungend3-bde-in-einem-bandhfri edrich-de-la-motte-fouque-mit-einer-einf-von-christoph-f-lorenz-und-mit-einem-nachwhrsg-von-stephan-michael-schroder/oclc/923513163&referer=library_profile_recentitems &returnRegistryId=&libraryname=Staatliche%20Bibliothek%20Passau / letzter Zugriff am 06. 09. 2016. 787 Siehe: http://cyberleninka.ru/article/n/intermedialnost-kak-mehanizm-mezhkulturnoy-dif fuzii-v–literature-na-primere-romanov-v–v-nabokova-dar / letzter Zugriff am 06. 09. 2016. 788 Siehe: ebd.
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Einladung zum Prozess – Vladimir Nabokov und Franz Kafka »Und wen schätzen Sie in der deutschen Literatur überhaupt?« Die Antwort kommt ohne Zögern: »Franz Kafka. […] Ich halte ihn für einen der größten europäischen Autoren dieser Zeit […].«789 Vladimir Nabokov im Interview mit Die Zeit (1959). Kafka wollte Perfektion, im Größten wie im Kleinsten, und Perfektion war unmöglich […].790 Reiner Stach. Kafka. Die Jahre der Erkenntnis.
4.1
Der Verhaftete und das Gesetz – Zu strukturellen und narrativen Besonderheiten von Vladimir Nabokovs Einladung zur Enthauptung und Franz Kafkas Der Prozess
Die Zeitspanne zwischen der Entstehung von zwei Romanen, deren vergleichende Analyse den Schlussteil der vorliegenden Arbeit bildet, umfasst beinahe zwanzig Jahre. Franz Kafkas Der Proceß791 (bzw., je nach der Ausgabe, Der Prozess792) wurde in nicht-chronologischer Reihenfolge 1914–1915 verfasst und 1935 von Max Brod, bekanntlich gegen den Willen des Autors, veröffentlicht. Wie alle Romane Kafkas, gilt auch dieser als unvollendet. Das stimmt allerdings nur teilweise, denn anders als im Fall von Das Schloss oder Amerika (Der Verschollene), bleibt hier ausgerechnet das Ende keineswegs offen. Das erste und das letzte Kapitel, mit denen Kafka seine Arbeit am Roman begann, sowie der Hauptteil dazwischen sind erhalten geblieben. Die meisten Ausgaben enthalten neben dem Haupttext sechs Fragmente, die zwar höchstwahrscheinlich zum Roman gehören sollten, aber vom Autor nicht beendet bzw. nicht entsprechend bearbeitet wurden, sodass es sich nicht genau feststellen lässt, wo sich diese oder jene Stelle befindet. Ein ähnliches Schicksal hatte übrigens der tatsächlich unbeendete Roman von Vladimir Nabokov Das Modell für Laura (Sterben macht Spaß) 793, dessen Manuskript, gleich sämtlichen Romanfragmenten von Kafka, 789 https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2F1959%2F16%2F wer-ist-der-lolita-autor%2Fkomplettansicht / letzter Zugriff am 14. 04. 2020. 790 Stach, Reiner: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2015, S. 18. 791 Kafka, Franz: Der Proceß. Stuttgart: Reclam 2013. 792 In: Kafka, Franz: Die große Kafka Jubiläumsausgabe. Königswinter: Matthias Lempertz GmbH 2008, S. 315–509. 793 Nabokov, Vladimir: Das Modell für Laura. Sterben macht Spaß. Reinbek: Rowohlt Verlag 2009.
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Einladung zum Prozess – Vladimir Nabokov und Franz Kafka
gemäß dem letzten Willen des Autors vernichtet werden sollte.794 Drei Jahre vor seinem eigenen Tod beschloss jedoch Nabokovs Sohn Dmitri, die 138 Karteikarten zu veröffentlichen, was natürlich sowohl für heftige Kritik als auch für Begeisterung unter den Lesern und Forschern sorgte.795 Gennady Barabtarlo, der das Fragment ins Russische übersetzt hat, bemerkte dazu, die innere Geometrie sei in Nabokovs Schaffen noch bedeutender als die stilistische Vollkommenheit und Ausdrucksexaktheit, weshalb ein unvollständiger Text keinerlei Chancen gibt, den ursprünglichen ›Aufbauplan‹ – und damit auch die Gesamtaussage – hinter dem Niedergeschriebenen zu durchblicken.796 Der Prozess bildet dagegen ein relativ geschlossenes Ganzes, obschon die erwähnten fehlenden Kapitel, hätte sie Kafka zu Ende geschrieben und in den restlichen Text hineinkomponiert, die Gesamtstruktur des Textes sowie den Schluss möglicherweise durch einige neue Deutungsvarianten hätten bereichern können. Nabokov und Kafka sind keine Autoren, die sich derselben literarischen Strömung zuordnen lassen: Allein deshalb, weil jeder von ihnen zu originell und einmalig war, um irgendeiner ›Schule‹ oder ›Bewegung‘ anzugehören. Außerdem weisen ihr literarischer Stil, ihre künstlerische Weltempfindung und schließlich die von ihnen kreierten Erzählwirklichkeiten mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten auf. Dennoch werden ihre Namen in der Forschungsliteratur häufig nebeneinander- bzw. zusammengestellt.797 Dafür gibt es zwei Hauptgründe. Erstens war Franz Kafka einer der wenigen deutschsprachigen Autoren, den Nabokov bewunderte.798 Kafkas Novelle Die Verwandlung nahm er in sein amerikanisches Seminar zum Thema Meisterwerke europäischer Literatur auf und versah den Text mit einem sorgfältigen Kommentar, der in deutscher Übersetzung mehrmals erschien, und zwar sowohl in Nabokovs Vorlesungen über die westeuropäische Literatur799 (die kurz nach Nabokovs Tod, ebenfalls 794 Vgl. https://www.welt.de/kultur/article1923527/Nabokovs-Laura-wird-doch-nicht-verbran nt.html / letzter Zugriff am 14. 04. 2020. 795 Vgl. https://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/the-original-of-laura-letztes-nabokov-we rk-erscheint/1299488.html / letzter Zugriff am 14. 04. 2020. 796 Vgl. Barabtarlo, Gennady (Барабтарло, Геннадий): Laura und Ihre Übersetzung (Лаура и её перевод). In: Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Оригинал Лауры (Das Modell für Laura). Sankt-Petersburg: Азбука-Классика 2010, S. 139–141. 797 Siehe z. B.: Engelking, Leszek: Nabokov a Franz Kafka (Nabokov und Franz Kafka). In: Engelking, Leszek: Chwyt metafizyczny, S. 203–214; Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre, S. 669; Burt Boegeman, Margaret: »Invitation to a Beheading« and the Many Shades of Kafka. In: River, J.E., Nicole, Charles (Hg.): Nabokov’s Fifth Arc: Nabokov and Others on His Life’s Work. Austin: University of Texas Press 1982, S. 105–121; Burt Foster Jr., John: Nabokov and Kafka. In: Alexandrov, Vladimir (Hg.): The Garland Companion to Vladimir Nabokov. Abingdon: Routledge 1995, S. 444–452. 798 Vgl. Engelking, Leszek: Chwyt metafizyczny, S. 203. 799 Nabokov, Vladimir: Vorlesungen über westeuropäische Literatur. Hrsg. Von Fredson Bowers und Dieter E. Zimmer. Reinbek bei Hamburg: Rowohl Verlag 2014, S. 477–539.
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wider seinen Willen, veröffentlicht wurden800) als auch in einer Sonderausgabe der Verwandlung mit dem Untertitel Mit dem Kommentar von Vladimir Nabokov.801 Darin wird Kafka von Nabokov als »der bedeutendste deutschsprachige Schriftsteller unseres Zeitalters«802 bezeichnet. Im Vergleich zu Kafka seien, so Nabokov, »Lyriker wie Rilke und Romanciers wie Thomas Mann Zwerge oder Gipsheilige.«803 Andere weltbekannte deutsche Schriftseller, darunter auch Nobelpreisträger, wie etwa Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse oder Heinrich Böll, werden von Nabokov gar nicht erwähnt. Man sieht also, dass Franz Kafkas Œuvre eine absolute Ausnahmestelle auf der Liste von Nabokovs Lieblingsautoren zugewiesen wurde. Der zweite Grund ist für den Vergleich noch prägender. Nabokov hat zeit seines Lebens insgesamt sechszehn vollendete Romane geschrieben, aber in beinahe allen Fällen, wo sein Schaffen mit dem von Kafka in Verbindung gebracht wird, geht es in erster Linie um einen einzigen Text, nämlich die 1938 »in vierzehn Tagen voll herrlicher Erregung und anhaltender Inspiration«804 entstandene und erst 1959 vom Autor ins Englische übersetzte Einladung zur Enthauptung. Hätte Nabokov diesen Roman, der tatsächlich keinem anderen seiner Werke ähnelt (vielleicht mit Ausnahme von Das Bastardzeichen), nicht geschrieben, so wären sämtliche in der Sekundärliteratur aufgebauten Parallelen zwischen den beiden Künstlern höchstwahrscheinlich nie zum Ausdruck gekommen. Dies nimmt kein Wunder, denn die Versuchung, Nabokovs Roman im Lichte von Kafkas Prozess zu lesen, ist nicht nur verständlich, sondern gerade vorprogrammiert, zumal der letztere zwei Jahre vor dem Erscheinen der Einladung publiziert wurde. Die Verweise auf Kafka wurden bereits zu Nabokovs Lebzeiten in der damaligen russischsprachigen Emigrantenkritik bezeugt, obschon der Autor selbst behauptete, er habe Kafka erst mehrere Jahre später in englischen Übersetzungen gelesen. Brian Boyd schreibt dazu: »Nabokov hat bestritten, von Kafka beeinflußt gewesen zu sein, und es scheint absolut keinen Grund zu geben, sein Dementi anzuzweifeln. Er hat nie genügend Deutsch gelernt, um eine deutsche Zeitung lesen zu können, geschweige denn einen Roman.«805 Desto auffälliger und interessanter sind diejenigen Ähnlichkeiten struktureller Natur, auf die im Weiteren speziell eingegangen wird. Boyd macht auch eine andere, durchaus aufschlussreiche Bemerkung:
800 Vgl. Melnikow, Nikolai (Мельников, Николай) (Hg.): Набоков о Набокове и прочем, S. 106. 801 Kafka, Franz. Die Verwandlung. Mit einem Kommentar von Vladimir Nabokov. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003. 802 Ebd., S. 83. 803 Ebd. 804 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre, S. 658. 805 Ebd., S. 668.
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Einladung zum Prozess – Vladimir Nabokov und Franz Kafka
1959 schrieb Nabokov im Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe, daß »Exilrezensenten, die verblüfft waren, denen [Einladung zur Enthauptung] jedoch gefiel, darin einen ›kafkaesken‹ Zug zu erkennen meinten«. Seine Erinnerung trog: Zwar verglichen die Exilrezensenten die beiden Schriftsteller, aber erst lange nach der Erstveröffentlichung des Buchs. In den Besprechungen der Ausgabe als Fortsetzungsroman (1935– 1936) und sogar der Buchausgabe (1938) erwähnte nicht einer der früheren Exilrezensenten – belesene Männer, die dazu neigten, Einflüsse festzustellen – Kafkas Namen […].806
Damit hat Nabokov einen für sein eigenes Erzählwerk sehr kennzeichnenden Fehler gemacht. Die Haupt- und Nebenfiguren seiner Texte täuschen sich oft auf eine ziemlich ähnliche Art und Weise, wobei ihre Täuschungen gleichzeitig einen gewissen, ihnen allerdings nicht bewussten Wahrheitskern enthalten. Indem Nabokov einen Vergleich mit Kafka in die ersten Exilrezensionen der Einladung zur Enthauptung sozusagen hineinimpliziert, bestätigt er indirekt, dass ein solcher Vergleich schlüssig und berechtigt wäre. Und zwar nicht deshalb, weil Kafkas Roman in den damaligen Emigrantenkreisen besonders populär war. Ganz im Gegenteil: Wie Boyd treffend feststellt, konnte im Jahre 1950 »ein Vergleich zwischen dem Prozeß und Einladung zur Enthauptung […] als auf der Hand liegend erscheinen«807, nicht aber im Jahre 1938. Das heißt, es sollte andere, vom zeitgenössischen literaturkritischen Diskurs unabhängige Anlässe dazu geben, beide Texte neben- bzw. gegeneinander zu stellen. Sowohl Der Prozess als auch Einladung zur Enthauptung fangen mit der Verhaftung des Protagonisten an und enden mit dessen Hinrichtung. Der berühmte, immer gerne zitierte Satz, der Kafkas Prozess einleitet, könnte eigentlich auch einen klassischen Kriminalroman eröffnen: »Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.«808 An sich ist der Satz ganz ›normal‹, es gibt darin nichts, was man als ›kafkaesk‹ oder wenigstens ungewöhnlich bezeichnen könnte. Auch die weiter folgenden Ereignisse sowie deren Beschreibungsart verraten keine von der traditionellen Erzählweise wesentlich abweichenden narrativen Züge. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen. K. wartete noch ein Weilchen, sah von seinem Kopfkissen aus die alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber, gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. Sofort klopfte es und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte, trat ein. Er war schlank und doch fest gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das ähnlich den Reiseanzügen mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel 806 Ebd., S. 669. 807 Ebd. 808 Kafka, Franz: Der Prozess. In: Die große Kafka Jubiläumsausgabe, S. 315.
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versehen war und infolgedessen, ohne dass man sich darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien. »Wer sind Sie?« fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann aber ging über die Frage hinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen und sagte bloß einerseits: »Sie haben geläutet?«809
Sämtliche absurden Situationen und zwecklosen bzw. scheinbar zwecklosen Gespräche, die mit Josefs Verhaftung verbunden sind und als kennzeichnend für Kafkas Werk gelten, beginnen erst später. Allerdings erscheinen bereits hier, am Anfang, einige leicht übersehbare erzähltechnische Nuancen. Der Prozess wird in der Narratologie als Musterbeispiel des personalen Erzählens behandelt.810 Bei der personalen Erzählsituation bleibt die Anwesenheit des Erzählers sozusagen nicht markiert. Die Erzählung wird in der dritten Person aus der Innenperspektive der sogenannten Reflektorfigur811 bzw. persona wahrgenommen. Sowohl Rückblicke in die Vergangenheit der Figuren als auch Informationen darüber, was in der Zukunft (oder auch andernorts) geschieht, kommen beim personalen Erzählen nicht vor. Bekanntgegeben werden einzig Gedanken, Gefühle und Vermutungen einer bestimmten Figur (in der Regel ist es natürlich der Protagonist). Wie es Dietrich Krusche in Kafka und Kafka-Deutung erklärt: Die Entscheidung des Erzählers, die Mittelpunktsfigur der Erzählhandlung auch zum perspektivischen Mittelpunkt des Erzählens zu machen, gibt dieser innerhalb der Erzählwelt eine überwältigende Dominanz. Nicht nur, daß keine Begebenheit sich ereignen kann, an der sie nicht teilnimmt […], nicht nur, daß nichts Erzähltes jenseits ihrer Erfahrung und Erkenntnis […] liegen kann, auch die Mitfiguren erscheinen vor dem Leser nur als die, als welche das Bewußtsein der Mittelpunktsfigur sie erscheinen läßt, somit gleichsam als »Funktionen« des Bewußtseins der Mittelpunktsfigur.812
Betrachtet man die zitierte Prozess-Passage nach diesem Schema, so scheint die darin herrschende personale Erzählperspektive tatsächlich unbestritten zu sein. Schon der erste Satz enthält jedoch, wenn man sich aufmerksam hineinliest, einige für eine personale Situation zumindest sonderbare Elemente. So sollte z. B. die Vermutung, dass Josef von jemandem verleumdet wurde, in diesem Fall einzig den inneren Gedankengang der Hauptfigur widerspiegeln. Im Laufe des Romans unternimmt der Protagonist aber kein einziges Mal die Suche nach dem eventuellen Verleumder. Er stellt sich überhaupt nicht die Frage, ob irgendeine dritte Person in seine unbegründete Verhaftung einbezogen sein könnte. Um es mit Carsten Schlingmann zu pointieren: »Die Suche nach einem Verleumder, wie
809 Ebd., S. 315. 810 Vgl. Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa. 9. Auflage. München: Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 55, 171. 811 Vgl. Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 204. 812 Krusche, Dietrich: Kafka und Kafka-Deutung. München: Fink 1974, S. 29–30.
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sie einem Detektivroman entspräche, erweist sich als blindes Motiv und spielt im Roman keine Rolle mehr.«813 Dies verstärkt aber zugleich den Zweifel daran, ob die dezente Vermutung, die den Text eröffnet, dem Protagonisten gehört oder aber eine objektive, der Reflektorfigur übergeordnete Annahme des Erzählres darstellt. Schlingmanns ist der Ansicht, man habe hier eindeutig mit einer personalen Erzählsituation zu tun: »Der Konjunktiv ›hätte‹ zeigt, daß dies nur die subjektive Sicht des Josef K. ist und nicht eine objektive Feststellung des Erzählers.«814 Wäre dies nun so, dann wäre das Verleumdungsmotiv in der späteren Handlungsentwicklung wieder aufgetaucht, was jedoch, wie Schlingmann treffend bemerkt, nicht geschieht. Meines Erachtens sollte man den Satz weder auktorial noch personal verstehen, sondern etwa im Sinne einer unpersönlichen, allgemeinen Annahme: Josef K. wird eines Morgens verhaftet, obwohl weder er noch diejenigen Menschen, die ihn kennen, den Grund dafür kennen; es sei denn, jemand habe ihn verleumdet. Die nächste auffällige Stelle betrifft den Mann, der in Josefs Zimmer statt der erwarteten Köchin plötzlich eintritt. Die Frage, wer er denn sei, ignoriert der Fremde gänzlich und setzt seine Handlungen fort, als müsste man seine Erscheinung hinnehmen. Ist es nun Josefs Bewertung des Verhaltens vom arroganten Unbekannten oder vielleicht erhebt hier eine höhere, den Textrahmen transzendierende Erzählinstanz die Stimme? Lässt man die zweite Möglichkeit zu, so gewinnt diese unauffällige Anmerkung eine neue, überraschende Bedeutung. Jean-Philippe Jacquard stellt zu Recht fest, dass sich die autoreferenzielle Dimension nicht nur auf die postmodernen Literaturpuzzles bezieht, sondern vielmehr auf die literarische Kunst als solche: Jedes Werk, wie spannend und hochwertig sein erzählerischer Inhalt auch sein mag, spricht von sich selbst […]. Dieses Widerspiegelungsspiel ist in dem Zeitalter des »Realismus« schwerer und in anderen Epochen leichter zu erkennen […], aber in der Tat wird es stets getrieben, denn ohne es gäbe es einfach keine Literatur.815
Betrachtet man den Anfangssatz des Romans aus diesem Blickpunkt, so zeigt seine Aussagekraft eine viel breitere Wirkung, als wenn dieser Satz nur einer näheren Beschreibung des fremden Mannes dienen würde. Die Hauptfigur wacht in ihrem Zimmer auf und bemerkt gleich, dass etwas nicht stimmt, denn gewöhnlich brachte Frau Grubachs Köchin jeden Morgen um acht Uhr das Früh813 Schlingmann, Carsten: Franz Kafka. Literaturwissen. Stuggart: Reclam 1995, S. 38. 814 Ebd. 815 Jacquard, Jean-Philippe (Жаккар, Жан-Филипп): Литература как таковая (Literatur als solche), S. 11. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »Всякое произведение, как бы увлекательно и добротно ни было его повествовательное содержание, говорит о себе самом […]. Эта игра отражений менее различима в периоды ›реализма‹ и более заметна в другие эпохи […], а на самом деле она ведется всегда, потому что без нее литературы бы просто не было.«
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stück. Nun kommt stattdessen ein seltsamer Fremder, der auf keinerlei Fragen zu seiner Person reagiert und den kein Mensch im ganzen Haus jeweils gesehen hat (dieser Hinweis ist auch bemerkenswert, denn er geht eher in die Richtung eines auktorialen, allwissenden Erzählers). Transponiert man aber sein Verhalten auf den Roman selbst, so kann es auch metaphorisch gelesen werden. Ein unvorbereiteter Leser, der an die traditionelle Romanform, wie man sie aus den Büchern von Balzac und Fontane kennt, fühlt sich nämlich beim ersten Kontakt mit Kafkas Erzählwirklichkeit ähnlich wie der verwunderte Protagonist im Prozess, der sein immer pünktlich zubereitetes Frühstück vergeblich erwartet. Der Text ›verhält sich‹ dem Leser gegenüber so, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen. Man könnte gar meinen, der Erzähler gebe dadurch einen gewissen Tipp, wie man die folgenden, höchst unverständlichen, ja gerade absurden Geschehnisse verstehen sollte. Dieser Tipp lautet: Man soll und kann sie gar nicht verstehen, sondern man muss sie in ihrer »Soheit« (damit bediene ich mich eines Begriffs aus der buddhistischen Philosophie816) einfach hinnehmen. Die Köchin kommt nicht, und die alte Ordnung lässt sich kaum wiederherstellen. Bei Nabokov teilt bereits der Anfangssatz eine deutlich merkwürdige Begebenheit mit: »Wie das Gesetz es vorschrieb, wurde Cincinnatus C. das Todesurteil im Flüsterton mitgeteilt.«817 In Understanding Nabokov schreibt Stephen Parker dazu: »[…] curious and chilling lines open the novel in medias res« und bezeichnet den Roman als »Nabokov’s most abstract novel and of his major works.«818 Gleich am Beginn der Geschichte bekommt man somit den Eindruck (der sich sehr bald bestätigt), dass es um kein realistisch konzipiertes, allgemein bekanntes Gesetz bzw. Gericht geht, sondern um irgendeinen antiutopischen bzw. dystopischen Staat mit seinen eigenen, fremdartigen Regeln, welche weder den demokratischen noch den autoritären Justiznormen entsprechen. Die nächstfolgenden Sätze vertiefen diesen Eindruck immer heftiger: Alle erhoben sich und lächelten einander zu. Der weißhaarige Richter hielt den Mund dicht an sein Ohr, schnaufte einen Augenblick lang, verkündete das Urteil und machte sich langsam los, als wäre er festgeklebt gewesen. Dann wurde Cincinnatus in die Festung zurückgebracht. Die Straße ringelte sich um ihren Felsensockel und verschwand unter dem Tor wie eine Schlange in einem Spalt. Er war ruhig; während der Wanderung durch die langen Gänge jedoch mußte er gestützt werden, da er die Füße unsicher setzte wie ein Kind, das gerade laufen gelernt hat, oder als würde er gleich versinken wie jemand, der geträumt hat, er wandele über das Wasser, und dem plötzlich Zweifel kommt: Ist das denn überhaupt möglich? Rodion, der Wärter, brauchte lange, 816 Vgl. Kaneko-Langer, Christiane: Das reine Land. Zur Begegnung von Amida-Buddhismus und Christentum. Leiden: Brill, E.J. 1986, S. 89. 817 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 11. 818 Parker, Stephen Jan: Understanding Vladimir Nabokov. Columbia S.C.: University of South Carolina Press 1987, S. 48.
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Einladung zum Prozess – Vladimir Nabokov und Franz Kafka
Abb. 6: Erstausgabe von Einladung zur Enthauptung. Paris 1938.
die Tür zu Cincinnatusʾ Zelle aufzuschließen – es war der falsche Schlüssel –, und es fand das übliche Hin und Her statt. Schließlich gab die Tür nach. Drinnen wartete schon der Anwalt. […] Doch Cincinnatus war es nicht nach Gesprächen zumute. Selbst wenn die Alternative die Einsamkeit dieser Zelle mit ihrem Guckloch wie ein Bootsleck war – ihm war es gleich, und er bat darum, allein gelassen zu werden […].819
Vergleicht man Nabokovs und Kafkas Erzählweise, so fallen in erster Linie folgende Aspekte auf. Wie Leszek Engelking treffend bemerkt, werden beide Hauptfiguren nur mit Vornamen und dem ersten Buchstaben des Nachnamens benannt – Josef K. / Cincinnatus C. – und sind dreißig Jahre alt.820 Außerdem treten im zitierten Auszug bereits im ersten Satz dem Gerichtswesen entnommene Begriffe, die mit dem Prozess zu korrespondieren scheinen: Das Gesetz, das Urteil, der Richter (hinzu kommt die Festung, in der sich das Gefängnis befindet). Nikolai Anastasjew macht auch auf die rhythmischen Gemeinsamkeiten 819 Ebd., S. 11–12. 820 Vgl. Engelking, Leszek: Chwyt metafizyczny, S. 209.
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zwischen den Anfangssätzen von Einladung zur Enthauptung und Der Prozess aufmerksam.821 Bei Kafka steht aber die sachliche, formulierungssteife Amtssprache in vollem Einklang mit der allgemeinen zurückhaltenden Trockenheit seines reservierten Erzählens, das nur selten von unerwarteten künstlerischen Einsätzen unterbrochen wird. Dagegen zeichnet sich das erzählerische Kaleidoskop in Einladung zur Enthauptung durch ein feines Zusammenspiel von amtlicher Begriffspräzision aus, die dem Gefängnisraum eigen ist, und der bunten, ungehemmten Sprachmagie, die immer wieder zwischen Epik, Poesie und Philosophie balanciert und einen beinahe surrealen Reichtum an verblüffenden Metaphern bietet. Dank dieser schroffen Divergenz wirkt die unüberbrückbare Kluft zwischen diesen zwei Welten – der Welt des leblosen Gesetzes und der Welt der lebendigen sowie belebenden Kunst – besonders drastisch. Da die Hauptfigur des Romans nicht nur ein sehr empfindsamer, sondern auch ein literarisch begabter Mensch ist, wird dadurch klar, wem die Sympathie des Erzählers gilt, dessen Schreib- und Denkweise mit dem Empfinden und dem Gedankengang von Cincinnatus übereinstimmt. Im Prozess berichtet Kafka über wunderliche, ja undenkbare Geschehnisse auf eine nüchtern-gleichmütige Art und Weise. Darüber hinaus bleibt der Blickpunkt der homodiegetischen Textebene verpflichtet, wohingegen die Erzählinstanz bei Nabokov schon im ersten Kapitel ihre Transzendenz dem Text gegenüber markiert. Der Erzähler von Einladung zur Enthauptung positioniert sich gleich am Anfang als solcher. Er bezeichnet die Geschichte als einen Roman und kündigt überraschenderweise dessen bald kommenden Schluss an: So nähern wir uns also dem Ende. Der rechte, noch ungekostete Teil des Romans, den wir während unserer delektierlichen Lektüre leicht betasteten, um mechanisch festzustellen, ob noch genug da war (und immer freuten sich die Finger an der gleichmütigen treuen Dicke), ist plötzlich ohne Grund mager geworden: ein paar Minuten schnellen Lesens, bergab bereits, und – o gräßlich! […] Auf dem Tisch leuchtete ein sauberes Blatt Papier, und von dieser Weiße hob sich deutlich ein wundervoll spitzer Bleistift ab, lang wie das Leben jedes Menschen mit Ausnahme von Cincinnatus und mit einem ebenholzschwarzen Schimmer auf jeder seiner sechs Facetten. Ein aufgeklärter Nachkomme des Zeigefingers. Cincinnatus schrieb: »Trotz allem bin ich verhältnismäßig. Schließlich habe ich es geahnt, habe dieses Finale geahnt.« Rodion stand auf der anderen Seite der Tür und spähte mit der unnachgiebigen Aufmerksamkeit eines Kapitäns durch das Guckloch. […] O gräßlich! Eine Uhr schlug – vier oder fünf Mal […]. Mit strampelnden Beinen ließ sich eine Spinne – offizieller Freund des Gefangenen – an einem Faden von der Decke herab. Niemand indessen klopfte an die Wand, da Cincinnatus bisher der einzige Häftling (in einer so riesigen Festung!) war.822
821 Vgl. Anastasjew, Nikolai (Анастасьев, Николай): Владимир Набоков, S. 258. 822 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 12–13.
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Dies ist eine sehr bedeutende Passage, denn darin werden die relevantesten Motive des Romans provisorisch dargestellt, allerdings nicht direkt, sondern in Form von zwei Gegenständen und einem Insekt. Was Krusche über Kafka schreibt – »Die Grenze zwischen dem Menschlichen und der Dingwelt verwischt sich«823 – gilt auch für Nabokovs Erzählwelt. Der Bleistift, die Uhr und die Spinne sind nämlich drei konstante Elemente der Gefängniszelle, in welcher der Großteil der Handlung spielt. Anschließend werden sie im Laufe des Romans mit einer unübersehbaren Kontinuität erscheinen, und zwar in den sowohl für Cincinnatus als auch für das Leseverständnis bedeutendsten Momenten. Alle drei Elemente haben eine symbolische Bedeutung, die jedoch dualistisch gedeutet werden könnte. Der Bleistift steht einerseits für das Schreiben bzw. die literarische Kunst, andererseits korrespondiert er auch mit dem Leben der Hauptfigur, weil er sich im Prozess des Schreibens stets verringert. Das Uhrenmotiv thematisiert zugleich die erbarmungslos ablaufende Zeit und deren illusorische Natur, denn die Zeitangabe bleibt stets ungenau: Im zitierten Passus schlägt sie »vier oder fünf Mal«, an einer anderen Stelle wird »halb einer unbekannten Stunde«824 angesagt. Die Spinne verkörpert schließlich nicht nur den Tod bzw. den Henker, sondern auch die ganze alptraumartige Welt, die Cincinnatus umkreist und in ihr abschreckend-verlockendes Netz hineinzieht (auf die ästhetische Dichotomie der im Roman skizzierten Scheinwirklichkeit werde ich im Weiteren näher eingehen). Das Wort »Ende« im ersten Satz der zitierten Passage ist dabei zweierlei zu verstehen: als Hinrichtung des Protagonisten sowie als Ende des Textes. Bemerkenswert ist, dass Nabokov, der ansonsten von der üblichen textanalytischen »Jagd nach Symbolen« wenig hielt, in seinem Verwandlung-Kommentar ausnahmsweise meinte: Die Zahl drei spielt eine herausragende Rolle. Die Erzählung besteht aus drei Teilen, zu Gregors Zimmer führen drei Türen, er hat drei Angehörige. […] Ich gebe mir große Mühe, den Symbolen kein übermäßig großes Gewicht zu verleihen, denn sobald man ein Symbol von der künstlerischen Kernaussage des Buches löst, bleibt das Lesevergnügen auf der Strecke. Der Grund dafür liegt darin, daß es einerseits künstlerische, aber auch banale, künstliche […] Symbole gibt. In den psychoanalytisch und mythologisch vorgehenden Deutungen von Kafkas Werk werden Sie in der für unsere Zeit kennzeichnenden Mischung aus Sex und Mythos […] eine Anzahl solcher ungeeigneter und abgeschmackter Symbole finden. […] Der abstrakte symbolische Wert einer künstlerischen Leistung darf nie die Oberhand über das herrliche Feuer des in ihr brennenden Lebens gewinnen.825
823 Krusche, Dietrich: Kafka und Kafka-Deutung, S. 30. 824 Ebd., S. 23. 825 In: Kafka, Franz: Die Verwandlung, S. 132.
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Generell bekommt man bei der Lektüre der Vorlesung oft den Eindruck, dass die von Nabokov gemachten Anmerkungen sich nicht nur auf Kafka, sondern auf Nabokovs eigene Schreibweise und sein höchst individuelles Literaturverständnis beziehen. Nicht ohne Grund schreibt Engelking, Die Verwandlung wirke, in Nabokovs Interpretation, seinem vorletzten Roman so ähnlich, dass manche gewagte Feststellungen von Nabokov eher zu Einladung zur Enthauptung als zu Kafkas Novelle passen.826 So fällt neben der Verhaftung des Protagonisten auch das Beobachtungsmotiv ins Auge. Bei Nabokov schaut der Wärter Rodion ständig ins Guckloch und beschattet jede Bewegung des Gefangenen. Auch die erste Szene des Prozesses, d. h. der seltsame Besuch in Josefs Mietzimmer, wird von einer alten Dame am Fenster des gegenüberstehenden Hauses mit ununterbrochener Aufmerksamkeit beobachtet. Diese schmerzvolle, nicht zu überwindende Diskrepanz zwischen dem Ich und den Anderen, dem Individuellen und dem Sozialen – jene Diskrepanz, die jegliche wahre Kommunikation unmöglich macht, – spielt besonders in Kafkas Erzählwelt eine sinnstiftende Rolle. Auch bei Nabokov wird die Einsamkeit der Hauptfigur mehrmals unterstrichen, obschon in einem intentionellen, selbsterwählten Ausmaß: Rodion, der Wärter, brauchte lange, die Tür zu Cincinattus’ Zelle aufzuschließen – es war der falsche Schlüssel –, und es fand das übliche Hin und Her statt. Schließlich gab die Tür nach. Drinnen wartete schon der Anwalt. […] Doch Cincinnatus war es nicht nach Gesprächen zumute. Selbst wenn die Alternative die Einsamkeit dieser Zelle mit ihrem Guckloch wie ein Bootsleck war – ihm war es gleich, und er bat darum, allein gelassen zu werden […].827
Ein weiteres für beide Romane gemeinsames Merkmal ist die ad absurdum reichende Unverhältnismäßigkeit vom Benehmen der Umgebung (insbesondere derjenigen, die »das Gesetz« repräsentieren) in Bezug auf die Situation, in der sich die Protagonisten befinden, sowie auf die Protagonisten selber als Personen. Im Grunde genommen interessiert sowohl Josef K. als auch Cincinnatus C. eine einzige Frage. Für Josef lautet sie: »Warum?« bzw. »Wofür?« (bezogen auf seine Verhaftung); für Cincinnatus dagegen: »Wann?« (bezogen auf seine Hinrichtung). Jedoch ausgerechnet diese entscheidende Antwort wird ihnen verweigert, und zwar mehrmals, mit etlichen sadistisch-skurrilen Mitteln. Im Fall von Josef beginnt die Qual noch vor dem eigentlichen Prozess (wenigstens bevor der Protagonist daran bewusst teilnimmt). Die endlose Reihe völlig berechtigter Fragen und nichtssagender, dabei aber durchaus logischer Antworten nimmt im ersten Kapitel – Verhaftung – ihren Anfang.
826 Vgl. Engelking, Leszek: Chwyt metafizyczny, S. 211–212. 827 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 11–12.
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Nun aber stand er mit seinen Papieren in der Mitte des Zimmers […] und wurde erst durch einen Anruf der Wächter aufgeschreckt, die bei dem Tischchen am offenen Fenster saßen und, wie K. jetzt erkannte, sein Frühstück verzehrten. […] »Wie kann ich denn verhaftet sein? Und gar auf diese Weise?« »Nun fangen Sie also wieder an«, sagte der Wächter und tauchte ein Butterbrot ins Honigfässchen. »Solche Fragen beantworten wir nicht«. »Sie werden sie beantworten müssen«, sagte K. »Hier sind meine Legitimationspapiere, zeigen Sie mir jetzt die Ihrigen und vor allem den Verhaftbefehl.« »Du lieber Himmel!« sagte der Wächter, »dass Sie sich in Ihre Lage nicht fügen können und dass Sie es darauf angelegt zu haben scheinen, uns, die wir Ihnen jetzt wahrscheinlich von allen Ihren Mitmenschen am Nächsten stehen, nutzlos zu reizen.« […] »Unsere Behörde, so weit ich sie kenne und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz heißt, von der Schuld angezogen und muss uns Wächter ausschicken. Das ist Gesetz. Wo gäbe es da einen Irrtum?« »Dieses Gesetz kenne ich nicht«, sagte K. »Desto schlimmer für Sie«, sagte der Wächter. […] Franz mischte sich ein und sagte: »Sieh Willem, er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht und behauptet gleichzeitig schuldlos zu sein.«828
Eigentlich sollte dieser Auszug jegliche Versuche für abwegig erklären lassen, Kafkas Roman als einen soziopolitischen Kommentar oder gar eine Kritik an der damaligen Bürokratie zu deuten. Der Text spricht ja geradezu wortwörtlich davon, dass es sich um ein grundsätzlich anderes Gesetz handelt. Der italienische Kulturphilosoph Roberto Calasso schreibt in seinem Buchessay über Kafka, es sehe danach aus, als wenn in der Romanwelt des Prozesses zwei nebeneinander erscheinende, dabei aber völlig inkongruente Gesetze bzw. Rechtssysteme existieren würden.829 Konventionelle Rechte und Verpflichtungen, die jedem Staatsbürger gut bekannt sein sollten, hätten damit nichts zu tun. Nicht weniger fruchtlos scheinen die Versuche, Kafka als einen Propheten zu feiern und in seinem Prozess eine Art literarisches Mahnmal bzw. latente Ansage kommender Totalitarismen zu erblicken. Die Wächter repräsentieren nämlich irgendeine mysteriöse, vom Justizsystem und anscheinend auch vom Staat unabhängige Instanz, von der der Protagonist gar nichts weiß. In diesem Sinn ist die Parenthese von Franz logisch, denn Josef hat tatsächlich keine Ahnung, um welches Gesetz und um welche Schuld es sich handelt, und ist sich nichtsdestotrotz seiner Unschuld sicher. Außerdem hat Hans Hiebels Recht, wenn er festhält: »Josef K., verhaftet und einer unbekannten Schuld angeklagt, wird nicht müde, zu beteuern, er sei »vollständig unschuldig«, und gleichzeitig zu versuchen, sich zu rechtfertigen, Schuldgefühle zu unterdrücken, Ängste zu verleugnen, Fehlleis-
828 Kafka, Franz: Der Prozess, S. 319–320. 829 Calasso, Roberto: K. Ins Polnische übersetzt von Stanisław Kasprzysiak. Warschau: Czuły Barbarzyn´ca 2011, S. 14.
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tungen zu verneinen.«830 Kurz: Josef bemüht sich darum, dass die Wächter ihr Verhalten ihm gegenüber ändern und so agieren, als seien sie von einem ›gewöhnlichen‹ Gericht geschickt worden. Dies ist aber eben nicht der Fall, und zwar weder auf der textuellen noch auf der metatextuellen Ebene. Freilich ist der im Roman beschriebene Prozess kein ›normaler‹ Prozess, aber auch Der Prozess als literarisches Werk ist kein ›normaler‹ Roman, den man mit angebrachten Leseerwartungen bzw. Interpretationsmethoden betrachten oder analysieren könnte. Die Worte der Wächter kann man daher auch auf diejenigen Leser beziehen, denen die Gesetze, nach denen Kafkas Erzählwirklichkeit aufgebaut ist, unbekannt sind. Selbstverständlich werden solche Leser versuchen, einen qualitativ anderen, der klassischen Erzählsituation nicht verpflichteten Text mittels gebräuchlicher Schemata zu deuten. Auch die Frage von Cincinnatus – wann genau seine Enthauptung stattfinden wird und wieviel Zeit er noch hat – bleibt ohne Antwort. Er sagt: »Die Kompensation für ein Todesurteil ist, daß man genau weiß, wann man sterben muß. […] Mich dagegen läßt man in dieser Unwissenheit, welche nur für die erträglich ist, die in Freiheit leben.«831 Somit wird bereits im ersten Romankapitel darauf hingewiesen, wie man die Festnahme und das mühselige, vom beängstigenden Unwissen gestimmte Warten des Protagonisten verstehen sollte, nämlich als eine Art Lebensmetapher. Es handelt sich allerdings um keine bloße reflexionslose Existenz, sondern, im Gegenteil, um todesbewusstes (Innen)leben eines unaufhörlich reflektierenden Individuums. Auch das künstlerische Anliegen hat für Cincinnatus eine besondere Bedeutung, was er gleich nach der zitierten Aussage aufrichtig zugibt: »Und außerdem trage ich mich mit vielen Projekten, die verschiedene Male angefangen und unterbrochen wurden… Ich verfolge sie einfach nicht weiter, wenn die Zeit, die bis zu meiner Hinrichtung bleibt, nicht reicht, sie ordentlich zu erledigen.«832 Die Reaktion des Gefängnisdirektors klingt, als wäre sie Kafkas Romanwelt entnommen: »Ach würden Sie bitte mit diesem Gebrummel aufhören«, sagte der Direktor gereizt. »Erstens ist es gegen die Regeln, und zweitens – ich sage es Ihnen im klaren Russisch und schon das zweite Mal – weiß ich es selber nicht. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, daß die Ankunft Ihres Schicksalsgenossen jetzt jeden Tag erwartet wird; und wenn er tatsächlich eintrifft und sich ausgeruht und an neue Umgebung gewöhnt hat, muß er immer noch erst das Gerät ausprobieren, natürlich nur, sofern er nicht sein eigenes mitbringt, was sehr wahrscheinlich ist. Wie ist der Tabak? Nicht zu stark?«833 830 Hiebel, Hans: »Später!« – Poststrukturalistische Lektüre der ›Legende‹ »Vor dem Gesetz«. In: Bogdal, Klaus-Michael (Hg.): Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen von Kafkas ›Vor dem Gesetz‹. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 25. 831 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 17. 832 Ebd. 833 Ebd.
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Als Schicksalsgenosse des Verurteilten wird hier der Henker bezeichnet. Auch bei Kafka sagt der Wächter Willem zu Josef, dass seine Wächter ihm »jetzt wahrscheinlich von allen […] Mitmenschen am Nächsten stehen« (siehe das vorherige Zitat aus dem Prozess). Später wird der Henker namens M’sieur Pierre seine freundliche Einstellung dem Verurteilten gegenüber mehrmals betonen.834 Cincinnatusʾ Wunsch, das Datum seiner Hinrichtung zu erfahren, bleibt genauso ignoriert und wird gar mit Empörung betrachtet, wie Josefs Versuche, die Quellen und Gründe des geheimnisvollen Prozesses zu enträtseln. »Vergebung!« rief der Direktor, ohne der Taktlosigkeit dieses Wortes zu achten. »Vergebung! Machen Sie sich nichts draus. […] Aber wenn ich mich erkühnen darf, das zu fragen, warum haben Sie Ihr Essen nicht angerührt?« […] Cincinnatus sagte: »Ich wüßte gern, ob es noch lange sein wird bis dahin!« »Vorzüglicher Zabaione! Wüßte doch gern, ob es noch lange dauern wird bis dahin. Unglücklicherweise weiß ich das selber nicht. Ich werde immer erst im letzten Augenblick unterrichtet; ich habe mich viele Male beschwert und kann Ihnen die ganze Korrespondenz über dieses Thema zeigen, wenn es Sie interessiert«.835
Die Gespräche, die zwischen Cincinnatus C. und seiner Umgebung geführt werden, sind, ähnlich wie die Gespräche zwischen Josef K. und den Prozessboten, Scheindialoge. Egal ob man dies als absichtliche psychologische Misshandlung des Protagonisten seitens der Machthabenden betrachtet oder als authentisches communication breakdown, eins bleibt fest: Das übliche Frage-Antwort-Schema funktioniert in beiden Romanen auf eine radikal unübliche (obschon nicht unbedingt sinnlose) Art und Weise. Ähnlich wie der Gefängnisdirektor bei Nabokov, verfügt auch Kafkas Aufseher über ein sehr geringes Wissen, was das weitere Schicksal der Hauptfigur und allgemeine Gericht- bzw. Hinrichtungsnuancen angeht. Beide erfüllen lediglich ihre Pflicht, was im folgenden Passus eindeutig ausgedrückt wird: »[…] Sie sind verhaftet, gewiss, aber das soll Sie nicht hindern, Ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch in Ihrer gewöhnlichen Lebensweise nicht gehindert sein«. »Dann ist das Verhaftetsein nicht sehr schlimm«, sagte K. und ging nahe an den Aufseher heran. »Ich meinte es niemals anders«, sagte dieser. »Es scheint aber dann nicht einmal die Mitteilung der Verhaftung sehr notwendig gewesen zu sein«, sagte K. und ging noch näher. Auch die andern hatten sich genähert. Alle waren jetzt auf einem engen Raum bei der Tür versammelt. »Es war meine Pflicht«, sagte der Aufseher.836
Ein relevanter Unterschied besteht also darin, dass Josef über seine Verhaftung und den in Gang gesetzten Prozess zwar informiert wird, sein tagtägliches Leben aber trotzdem so weitergeführt werden kann, als wenn er frei wäre. Dagegen wird 834 Ebd., S. 178, 181, 195. 835 Ebd. S. 15–16. 836 Kafka, Franz: Der Prozess, S. 327.
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Cincinnatus C. wirklich festgenommen, es findet eine Gerichtsprozedur statt, der Angeklagte wird zum Tode verurteilt und danach in ein Burggefängnis gebracht, wo er auf die Ausführung des Urteils warten muss. Bei Kafka erscheint das ›Verhaftetsein‹ nicht etwa als konkretes Resultat einer rechtlich geregelten Prozedur, sondern eher als Zustand, in dem sich der Protagonist, ohne dies zu verstehen, befindet (der russische Essayist und Kulturologe Alexander Genis behauptet, Kafkas Hauptfiguren büßten dafür, dass sie in einer Welt leben, die sie kaum begreifen837). Nichtsdestoweniger lässt sich in beiden Romanen eine klar lesbare existentiell-metaphorische Parallele zwischen Leben und Gefängnis (bei Nabokov) bzw. dem Prozess (bei Kafka) aufzeigen. Michael Maar kommentiert dies sehr einleuchtend: Dem Diesseits, schrieb Franz Kafka in einem Fragment, könnte nicht ein Jenseits folgen, denn das Jenseits sei ewig, könne also mit dem Diesseits nicht in zeitlicher Beziehung stehen. Der von Nabokov erfundene Philosoph Delalande sieht es ähnlich, wenn er die Idee des Weges, der in ein Jenseits führt, verwirft und statt dessen das Bild des Hauses wählt, durch dessen Ritzen beständig Luft hereindringt. Dieser kleine Luftzug weht durch Nabokovs gesamtes Werk.838
Kafkas und Nabokovs Hauptfiguren befinden sich sozusagen in einem fensterlosen Diesseits-Haus und suchen verzweifelt nach Möglichkeiten, diejenige absurde Wirklichkeit, welche sie umschließt bzw. gefangen hält, zu durchschauen. Dabei greifen sowohl Cincinnatus als auch Josef häufig zu Hilfe der Frauen, was sich in beiden Fällen als täuschende, falsche Hoffnung entpuppt, worauf Leszek Engelking zu Recht hinweist.839 Bei Kafka wird dieser Gedanke unmittelbar im Text ausgesprochen, als der Priester im semantisch zentralen Dom-Kapitel zum Protagonisten sagt: »Du suchst zuviel fremde Hilfe und besonders bei Frauen«, worauf Josef gesteht: »Die Frauen haben eine große Macht.«840 In Einladung zur Enthauptung werden die Verhältnisse zwischen Cincinnatus und den wenigen Frauengestalten nicht in Form von Dialogen thematisiert, da es in der dargestellten Alptraumwelt keine Menschen gibt, mit denen der Protagonist darüber reden könnte. Die einzigen Figuren, an die er sich mit Hilfe- bzw. Verständniserwartungen wendet, sind seine pathologisch untreue Ehefrau Marthe, die »ihn schon in ihrem ersten Ehejahr zu betrügen« beginnt, »überall und mit jedem«841, und Emmi, die zwölfjährige Tochter des Gefängnisdirektors. Letztere spielt im Roman eine besondere Rolle. Zwar nimmt sie an der Handlung nur selten teil, 837 Vgl. Genis, Alexander (Генис, Александр): Вавилонская башня. Искусство настоящего времени. Эссе. (Der Babelturm. Die Kunst der Gegenwart. Essays). Moskau: ›Назависимая Газета‹ 1997, S. 39. 838 Maar, Michael: Solus Rex, S. 89. 839 Vgl. Engelking, Leszek: Chwyt metafizyczny, S. 209. 840 Kafka, Franz: Der Prozess, S. 493. 841 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 33.
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aber Cincinnatus betrachtet Emmi als Vermittlerin, durch die er genaue Informationen über seine Hinrichtung bekommt: »Komm her zu mir, du dummes kleines Reh, und sag mir, an welchem Tag ich sterben werde. […] Sag mir, Emmi, bitte… Sicher weißt du alles… Dein Vater hat am Tisch darüber gesprochen, deine Mutter in der Küche… «842 Trotz ihres jungen Alters hat also auch sie, wenigstens in der Vorstellung des Protagonisten, eine gewisse Macht über ihn, denn sie weiß – davon ist Cincinnatus überzeugt – mehr als er. Darüber hinaus scheint ihm Emma die einzige Hoffnung darauf zu sein, aus der Gefangenschaft zu fliehen: »Wenn du nur erwachsen wärst«, sann Cincinnatus, »wenn deine Seele nur einen leichten Anflug von meiner Patina hätte, du würdest wie im poetischen Altertum dem Türhüter in einer düsteren Nacht einen Schlaftrunk verabreichen. Emmi!« rief er. »Ich flehe dich an – und ich werde nicht ablassen –, sag mir, wann werde ich sterben?«843
Beim Vergleich mit Kafkas Prozess und der darin enthaltenen Parabel, die auch als separate Kurzgeschichte unter dem Titel Vor dem Gesetz844 weltbekannt wurde, ist das Wort »Türhüter« kaum zu übersehen. An dieser Stelle möchte ich allerdings nur vorausschicken, dass die Figur von Emmi, ähnlich wie die Frauenfiguren im Prozess, die Erwartungen des Protagonisten keineswegs erfüllt. Mehr noch: Schließlich unternimmt Emmi den (Schein)Versuch, Cincinnatus aus dem Gefängnis zu befreien, aber es stellt sich heraus, das Ganze sei nur ein entsetzliches Spiel, und die vermeintliche Flucht endet in der Wohnung des Gefängnisdirektors (genauer gesagt, im Speisezimmer).845 Das Verhältnis zwischen Cincinnatus und Emma ist von doppelbödiger Natur. Dmitri Bykow – ein moderner russischer Dichter, Schriftsteller, Publizist und Literaturkritiker – sieht darin, wie auch in Lolita, Nabokovs Polemik mit der gängigen Idee, dass man einer Versuchung nachgeben sollte, um sie loszuwerden. Nach Bykow fühlt sich Cincinnatus zu Emmi sexuell angezogen, doch sobald er dieser lasterhaften Faszination folgt, verursacht dies keineswegs seine Befreiung, sondern deren grausames Gegenteil.846 Nabokov selbst fand solche Vergleiche unbegründet und war der Meinung, dass, wenn er Lolita nicht geschrieben hätte, niemand auf die Idee gekommen wäre, in anderen seinen Romanen nach »Frauenmädchen« bzw. »Kinderfrauen« zu suchen.847 Michael Maar hält dem jedoch wohl mit Recht 842 Ebd., S. 51. 843 Ebd. 844 Kafka, Franz: Vor dem Gesetz. In: Kafka, Franz: Das Urteil und andere Erzählungen. Frankfurt a.M./Hamburg: Fischer Bücherei 1952, S. 81–83. 845 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 186. 846 Bykow spricht darüber im kurzen Videovortrag über Einladung zur Enthauptung: https:// tvrain.ru/lite/teleshow/sto_lektsij_s_dmitriem_bykovym/priglashenie_na_kazn_1934_god -410749/ (ab 17:31) / letzter Zugriff am 26. 04. 2020. 847 Vgl. Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 48.
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entgegen, die Was-wäre-wenn-Vermutungen sollten hier nicht in Betracht gezogen werden, denn Nabokov habe Lolita doch geschrieben – und allein aus diesem Grund sollte und könnte man die Anwesenheit junger und zugleich erstaunlich reifer weiblicher Figuren in Nabokovs Texten kaum ignorieren.848 Neben Emmi sind es z. B. das präpubertäre Mädchen in Lolitas ›Vorläufer‹, der Novelle Der Zauberer; die sechszehnjährige Margot in Gelächter im Dunkel; Ada, die ihre Unschuld mit ungefähr zehn Jahren verliert, und letztlich Flora im unbeendeten Roman Das Modell für Laura, die auch als Adoleszente die ersten sexuellen Kontakte mit Männern erlebt. Auch auf der rein textinternen Ebene sind Emmis Beschreibungen sowie ihre kurzen Gespräche mit dem Protagonisten alles andere als eindeutig unschuldig: »Was bist du für eine Schmeichelkatze«, sagte Cincinnatus benommen. »Das reicht jetzt. Sag mir…« Doch sie überkam ein Anfall kindlicher Unbändigkeit. Das muskulöse Kind rollte Cincinnatus hin und her wie einen jungen Hund. »Hör auf!« rief Cincinnatus. »Schämst du dich denn nicht?« »Morgen«, sagte sie plötzlich, drückte ihn dabei und starrte auf seine Nasenwurzel. »Morgen sterbe ich?« fragte Cincinnatus. »Nein, ich rette dich«, sagte Emmi nachdenklich (sie saß rittlings auf ihm). »Das ist wirklich sehr nett«, sagte Cincinnatus. »[…] Bitte, geh runter, du bist schwer und heiß.« »Wir rennen weg und du heiratest mich.« »Vielleicht wenn du etwas älter bist; nur habe ich schon eine Frau.« »Eine dicke, alte.« Sie hüpfte von der Pritsche und lief wie eine Ballerina im Raum umher […].849
Kurz vor der Enthauptung, als Cincinnatus mit plötzlicher Klarheit versteht, dass alle hypothetischen Fluchtwege, von denen er bisher eine mögliche Rettung erhoffte, irreführend waren, nennt er Emmis Worte die Versprechungen eines flatterhaften Mädchens.850 Karpow betrachtet ihre Flucht- und Heiratsphantasien als teilweise parodistische Anknüpfung an das typisch romantische Handlungsschema, das u. a. in Byrons, Puschkins und Lermontows abenteuerlichen Balladen wiederholt wird.851 Auf jeden Fall machen die sinnlich konnotierten Andeutungen des Erzählers einen ziemlich kontroversen Eindruck im Hinblick auf den ›sträflichen‹ Altersunterschied zwischen der Hauptfigur und der Tochter des Gefängnisdirektors. Bei Kafka gibt es selbstverständlich keine derartigen Verweise. Für den Vergleich von Einladung zur Enthauptung und Der Prozess ist aber vor allem die 848 849 850 851
Vgl. Maar, Michael: Solus Rex, S. 134–135. Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 165–166. Vgl. ebd., S. 231. Vgl. Karpow, Nikolai (Карпов, Николай): Романтические контексты Набокова, S. 78–79.
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Tatsache von Bedeutung, dass sowohl Emmi als auch diejenigen Frauen, an die sich Josef K. wendet, die Antwort auf die Frage kennen, die beide Protagonisten quält. Dieses Wissen wird allerdings nirgends bestätigt, dabei aber stets vermutet (das Gleiche geschieht übrigens auch in Kafkas Das Schloss). Abgesehen von situativen Nuancen, zu denen beispielsweise die eventuellen ›verbotenen‹ Neigungen gehören, könnte man daher behaupten, das Sinnliche bzw. Erotische per se beanspruche in beiden Erzählwirklichkeiten einen wesentlichen semantischen Raum. Für die Hauptfiguren gleicht das Liebesverhältnis zur machthabenden Frau der Annäherung an das Geheimnis von Leben und Tod, worunter die im jeweiligen Roman geschilderten Leben und Tod des Protagonisten und nicht etwa abstrakte, von der Textrealität losgelöste Begriffe gemeint sind. Um es mit Hiebels exakter Feststellung zu resümieren: »Der Mann vom Lande und Josef K. suchen letztlich das Gesetz hinter den Gesetzen; der Türhüter bewacht es wie das unzulängliche und doch allzeit geöffnete »Paradies«. […] Dieses Paradoxon prägt Kafkas Schreibweise überhaupt […].«852 Dem könnte nur noch hinzugefügt werden, dass es im Prozess neben den Türhütern auch nicht minder bedeutende Türhüterinnen gibt, deren Hilfe die Hauptfigur letzten Endes in die Sackgasse führt, aber so verhält es sich ja mit jeder (Schein)Hilfe um ihn herum. Stephanie Catani schreibt, Josef K. erkenne »in der weiblichen Sexualität ein Hilfsmittel, um die Hintergründe seines Prozesses entschlüsseln zu können.«853 Dies muss aber nicht unbedingt als Beweis für »die Funktionalisierung der Frauen durch Josef K.«854 gelten. Nach Catani, scheitert Josef »nicht, weil er sich durch Leni verführen lässt, sondern weil er sie auf ein Bild reduziert, welches mehr über den Protagonisten selbst als die Frau verrät.«855 Dies wäre eine interessante These, wenn es sich um einen sozial engagierten Schriftsteller handelte, was aber bei Kafka nicht der Fall ist. In Kafkas Romanwelt verraten nämlich alle anderen Figuren, egal ob männlich oder weiblich, mehr über den Protagonisten als über sich selbst. Indem also die Autorin Leni als eine uneigennützig liebende und »wissende«856 Frau bezeichnet, scheint eine textgetreue, objektive Analyse durch gut gemeintes, aber mit Kafkas Ästhetik kaum korrelierendes Wunschdenken ersetzt zu werden. Catani behauptet: »Unabhängig von der männlichen Perspektive, der sie durchgängig ausgesetzt sind, lassen sich die Konstruktion von Weiblichkeit und die inszenierten Geschlechtsverhältnisse im »Prozeß« nicht
852 Hiebel, Hans : »Später!«, S. 35. 853 Catani, Stephanie: Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 268. 854 Ebd., S. 277. 855 Ebd., S. 278. 856 Ebd.
Zu philosophischen und metaphysischen Unterschieden beider Romane
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lesen.«857 Angebrachter wäre es dagegen zu sagen, dass grundsätzlich keine Konstruktionen und Verhältnisse in Kafkas Text unabhängig von der Perspektive des Protagonisten (der zweifelsohne ein Mann ist) dargestellt werden. Man sollte auch bedenken, dass es im Roman nicht um einen normativen, juristischen, sondern um einen existentiellen Prozess, mit anderen Worten – um Leben und Tod – geht. Daher zeugt die Tatsache, dass die Hauptfigur des Prozesses von den Frauenfiguren Hilfe erwartet, bei Weitem nicht davon, dass er sie instrumentell behandelt. Josef überschätzt bloß den Einfluss der Frauen auf sein eigenes Leben und seinen persönlichen Prozess, was ihm der Priester beim Schlüsselgespräch im Dom zu erklären versucht. Deshalb lautet die Kernfrage nicht, ob Frauengestalten in Kafkas (oder Nabokovs) Roman objektiv bzw. realitätsgetreu geschildert werden (dies ganz gewiss nicht), sondern: Warum suchen die Protagonisten ausgerechnet bei Frauen nach Hilfe und wieso entpuppt sich diese Suche als aussichtslos? Um diese Frage zu beantworten, sollte man vorher einen eingehenden Vergleich von Cincinnatus C. und Josef K. als Hauptfiguren vornehmen.
4.2
Josef K. und Cincinnatus C. – Zu philosophischen und metaphysischen Unterschieden beider Romane
Eine der zentralen Differenzen zwischen den analysierten Texten betrifft den ontologischen Status der Hauptfigur sowie ihren Bezug zu der sie umschließenden Erzählwirklichkeit. Sowohl in der Einladung zur Enthauptung als auch im Prozess besteht eine handlungstragende Spannung zwischen dem Einzelnen und dessen Umgebung, dem lebendigen Ich und einer unpersönlichen, erbarmungslosen Machtinstanz. Weder bei Kafka noch bei Nabokov wird aber diese Instanz näher definiert bzw. eingehend thematisiert. Trotz einiger unbestrittener Parallelen zur außertextuellen historischen Realität weist keiner der Romane gesellschaftskritische, geschweige denn politisch geprägte Tendenzen auf. Dennoch kann man leicht bemerken, dass, während sich die Einladung nachdrücklich auf den Protagonisten konzentriert (die im zukünftigen Russland herrschende Staatsordnung wird nur nebenbei vorgeführt), Der Prozess vor allem das Verfahren an sich darstellt. Dies sollte keineswegs so verstanden werden, als wenn Josef K. für die Romanhandlung unbedeutend wäre. Zweifelsohne steht seine Person deutlich im Erzählkern, allerdings nur deshalb, weil sie in den titelgebenden Prozess involviert ist. Als eigenständige Figur zeichnet sich der Protagonist durch keine auffälligen Merkmale aus. Erst das gegen ihn in Gang
857 Ebd., S. 280.
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gesetzte Verfahren macht Josef zu einer ungewöhnlichen Persönlichkeit, deren Geschichte sozusagen erzählenswert ist. Carsten Schlingmann sieht darin einen Beweis für ein gewisses, negativ gefärbtes Auserwähltsein des Protagonisten: »Die Verhaftung, ›ohne daß er etwas Böses getan hätte‹, signalisiert […] dem Leser, daß mit dem Helden etwas nicht stimmt.«858 Das ist eine interessante Deutung, die aber auch in eine entgegengesetzte Richtung umgedreht werden könnte. Es lässt sich nämlich genauso gut behaupten, dass etwas mit der Verhaftung bzw. mit dem Gesetz (und Gericht) ›nicht stimmt‹, während Josef ein völlig normaler, gewöhnlicher Mensch ist. Bemerkenswerterweise schreibt Schlingmann wenige Seiten später, die Hauptfigur des Prozesses sei »ein kunstreiches Abstraktum, ein anderer moderner ›Jedermann‹«859. Kurz: Josef K. ist ein konventioneller Mensch in einer durchaus unkonventionellen Situation, die seinem bisher durchschnittlichen Dasein plötzlich einen überdurchschnittlichen Sinn verleiht. Das unterscheidet ihn nicht nur von Cincinnatus C. (worauf gleich eingegangen wird), sondern auch vom Protagonisten der Verwandlung, in dem Nabokov einen überdurchschnittlich begabten Menschen erblickte.860 Auch Dieter Krusche sieht in Kafka einen überwiegend psychologischen Autor, der sich darum bemüht, die menschliche Persönlichkeit einerseits in ihrer Beziehung zu den Anderen, andererseits in ihrer autonomen Einzigartigkeit darzustellen: Die »Eigensinnigkeit« des Erzählens bedeutet die Unterwerfung der Welt des Erzählten unter die Subjektivität einer Handlungsfigur, die fast immer auch die Hauptfigur der Handlung ist; wo der Erzählaspekt vorübergehend auf eine Nebenfigur übergeht, bedeutet das niemals die Erstellung einer mit der Weltsicht der Hauptfigur konkurrierenden, dieser gegenüber autonomen zweiten Subjektivität, sondern nur Erweiterung, Ergänzung der ersten und einzigen. […] So ist Kafkas Erzählprinzip in besonderer Weise geeignet, ja darauf abgestellt, das Verhältnis des einzelnen zu seiner Mitwelt zu veranschaulichen, menschliche Individualität in ihrer Besonderheit zu beschreiben, menschliche Existenz in ihren extremen Möglichkeiten zu erhellen, die Problematik des Ich-Seins zu radikalisieren.861
Nach Krusche bildet Kafkas Prosa also eine Art Antithese zu Dostojewskijs Erzählwelt, wie sie von Michail Bachtin in seiner berühmten Dostojewskij-Studie interpretiert wurde, d. h. als ein polyphones Erzählen, bei dem mehrere Stimmen nebeneinander existieren, miteinander konkurrieren, ohne jedoch jeweils eine dominierende Position zu ergreifen.862 Was die rein erzähltechnische Ebene betrifft, so kann man Krusches These nur zustimmen. Die Feststellung, Kafkas 858 859 860 861 862
Schlingmann, Carsten: Franz Kafka, S. 38. Ebd., S. 41. Vgl. Kafka, Franz: Die Verwandlung. Mit einem Kommentar von Vladimir Nabokov, S. 89. Krusche, Dietrich: Kafka und Kafka-Deutung, S. 29. Siehe: Bachtin, Michail (Бахтин, Михаил): Проблемы поэтики Достоевского (Probleme der Poetik Dostojewskijs). Sankt-Petersburg: Aзбука 2015.
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Erzählprinzip diene einer präzisen Beschreibung menschlicher »Individualität in ihrer Besonderheit«, scheint dagegen etwas zu weit hergeholt zu sein, jedenfalls in Bezug auf den Prozess. Denn worin liegt die Besonderheit von Josef K., wenn man ihn nicht kontext- bzw. prozessbezogen, sondern als alleinstehende Figur in Betracht zieht? Was kann man über ihn als Individuum sagen? Freilich nicht viel. Er ist ganz gewiss ein ›ordentlicher‹ Mensch, der seine Arbeit tüchtig und verantwortungsvoll ausführt. Er glaubt, in einem »Rechtsstaat« zu leben, wo Frieden herrscht und Gesetze aufrecht bestehen.863 Dies unterscheidet ihn von Cincinnatus und bildet gemeinhin eine relevante Differenz zwischen Kafkas und Nabokovs Erzählwelten. Nikolai Karpow postuliert in diesem Zusammenhang Folgendes: Das surreale Universum der Einladung zur Enthauptung kann mit der […] Verwandlung verglichen werden. Genauso wie bei Kafka wird die phantasmagorische Realität beinahe einzig und allein auf sich selbst begrenzt. […] Der wesentliche Unterschied besteht allerdings darin, dass bei Nabokov diese Verletzung der üblichen Norm im Rahmen des Textes als solchen recht schwach markiert ist. Es ist bemerkenswert, dass Cincinnatus, obschon er die ihn umgebende Welt für einen »Fehler« bzw. eine Attrappe hält, gar nicht immer auf ein seltsames Verhalten dieser Wirklichkeit entsprechend reagiert […]. Das Dasein des Protagonisten […] wird ja derselben verkehrten Ordnung der Dinge unterworfen.864
Der Grund dafür, dass Cincinnatus C. sich über die Absurdität seiner Wirklichkeit nicht so stark wie Josef K. wundert, liegt allerdings nicht in der geschilderten Erzählwelt, sondern in der Figur des Protagonisten, der nur scheinbar ein Teil dieser Wirklichkeit ist, in Wahrheit aber einer anderen Welt angehört. Das Verhalten des Anwalts, des Wärters und des Gefängnisdirektors lässt ihn tatsächlich eher unberührt, wenigstens ist er davon kaum überrascht. Da aber ihre alptraumhafte Puppenartigkeit dem Bewusstsein des Protagonisten kaum entkommt, kann man auch seine beinahe stoische Ruhe, mit der er den sinnlosen Misshandlungen die Stirn bietet, gut verstehen. Dagegen verhält sich Josef K. rational und vorsichtig, verliert aber ab und zu die Selbstbeherrschung, sobald die Situation die Spitze der Absurdität zu erreichen scheint. Auf der mental-geistigen Ebene ist und bleibt Josef K. ein Jeder863 Vgl. Kafka, Franz: Der Prozess, S. 317. 864 Karpow, Nikolai (Карпов, Николай): Романтические контексты Набокова, S. 160. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »Cюрреалистический универсум ›Приглашения на казнь‹ может быть сопоставлен […] с ›Превращением‹. Так же как у Кафки, фантасмагорическая реальность почти полностью замкнута на себя. […] Но серьезное отличие в том, что у Набокова это нарушение привычной нормы в пределах самого текста маркировано весьма слабо. Показательно, что Цинцинат, хотя и считает окружающий его мир ›ошибкой‹, бутафорской фикцией, далеко не всегда реагирует на странное поведение предметной реальности […]. Ведь и бытие самого героя […] подчинено этому же искаженному порядку вещей.«
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mann bis zum tragischen, für ihn völlig unverständlichen Ende seines Lebens. Interessanterweise fragt er sich niemals, worin denn seine Schuld bestehen könnte. Josef ist sich absolut sicher, es gäbe keine Schuld seinerseits. Dementgegen war sein Schöpfer, also Franz Kafka, anderer Meinung. In Kafkas Tagebucheintragung vom 30. 09. 1915 – d. h. zur Zeit, als der Schriftsteller an den Romanen Der Prozess und Amerika arbeitete – steht nämlich: »Roßmann und K., der Schuldlose und der Schuldige […].«865 Es entsteht somit die Frage: Vielleicht ist eben dieses Jedermann-Sein, die erstarrte Selbstgefälligkeit und Unwilligkeit zur tieferen Reflexion, zur Suche nach den ›letzten Fragen‹ seine eigentliche Schuld? Die Figur von Cincinnatus C. ist gemeinhin komplizierter. Vor allem kann er keineswegs als eine durchschnittliche Jedermann-Person behandelt werden. Schon das Urteil, das den Roman eröffnet, weist auf die auffällige Ungewöhnlichkeit bzw. das radikale Außenseitertum des Protagonisten hin. Parker sagt dazu: »No other novel by Nabokov, excepting perhaps Bend Sinister, presents such a stark juxtaposition between the lone individual and a society that demands conformity under penalty of death.«866 Ehe der eigentliche Grund des Verhaftens bekanntgegeben wird, weiß man schon, dass es sich um etwas in der herrschenden Staatsordnung höchst Verbotenes und Strafwürdiges handelt; etwas, worüber man lieber nicht laut sprechen sollte. Vierzig Seiten später wird die Schuld der Hauptfigur mit perfekter philosophischer Präzision formuliert: »Des schrecklichsten aller Verbrechen angeklagt, gnoseologischen Frevels, so selten und unaussprechlich, daß Umschreibungen wie »Undurchdringlichkeit«, »Opazität«, »Okklusion« benutzt werden mußten; für dieses Verbrechen zum Tode durch Enthaupten verurteilt […].«867 Ein undurchdringlicher, nicht transparenter Mensch bleibt in dieser Hinsicht jeder unerwünschten, von außen kommenden Erforschung gegenüber geschlossen. Er lässt sich nicht analysieren, er bildet eine autonome, geschlossene Mikrowelt, die man ohne Erlaubnis kaum betreten kann. In der Gerichtsverhandlung wird dies als »gnoseologischer Frevel« bezeichnet. Da Gnoseologie die Lehre über die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis ist, ist eine derart unzugängliche Person tatsächlich ein »Verbrecher« aus der Perspektive derjenigen, die sie näher kennenlernen und sozusagen zwangsweise sozialisieren möchten. In einer der englischsprachigen Übersetzungsvarianten ersetzte jedoch Nabokov den »gnoseologischen Frevel« durch den gnostischen (»gnostical turpicide«868). Die Wörter klingen zwar ähn-
865 866 867 868
In: Schlingmann, Carsten: Franz Kafka, S. 28. Parker, Stephen Jan: Understanding Nabokov, S. 49. Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 79. Davydov, Sergej (Давыдов, Сергей): Гностическая исповедь в романе ›Приглашение на казнь‹ (Die gnostische Beichte im Roman »Einladung zur Enthauptung«). http://litresp.ru/
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lich, aber die Bedeutungen sind natürlich durchaus verschieden. Unter Gnostik bzw. Gnostizismus versteht man nämlich eine religionsphilosophische Lehre, die innerhalb des frühen Christentums (ungefähr im zweiten Jahrhundert nach Christus) entstand und sich mit der Zeit in diverse Richtungen entwickelte. Von der offiziellen Kirche wurde die gnostische Theorie allerdings nicht anerkannt und als Ketzerei verurteilt. Die Gnostiker gab es nicht nur unter Christen, sondern auch im Judentum sowie unter heidnischen hellenistischen Intellektuellen, in Europa wird Gnosis aber hauptsächlich mit einer christlichen Sekte assoziiert. Worauf beruht nun das Weltbild der Gnostiker und – das ist die wichtigste Frage – welche Spuren davon lassen sich in Einladung zur Enthauptung finden? Michael Maar gibt in seinem Buch Solus Rex, mit dem vielsagenden zweiten Titel Die schöne böse Welt von Vladimir Nabokov, eine knappe und zugleich umfassende Antwort darauf: Ein böser Designer – das ist das Schlüsselwort einer gnostischen Weltsicht. […] Wie kann es auf der Welt so monströs zugehen, wenn sie ein gütiger Gott geschaffen haben soll? Die gnostische Antwort ist, daß es nicht einen Schöpfer gibt, sondern zwei […]. Der wahre Gott ist in seinem Lichtreich verborgen. Die materiellen Weltgeschäfte behandelt der sekundäre Schöpfergott, der Demiurg. Diesem Demiurgen ist nun keinesfalls über den Weg zu trauen. […] In gnostischer Bildlichkeit ist er der Kerkermeister, der uns im Gefängnis der Materie gefangenhält. Wer den Demiurgen austricksen will, muß diesen Kerker sprengen. Nur der Ausbruch aus dem Gefängnis des Leibes führt die Seele ins jenseitige Reich des Lichts, von dem allenfalls Funken in der Materie verstreut sind.869
Betrachtet man die Erzählwelt des Romans aus dieser Perspektive, d. h. als eine vom bösen Demiurgen gesteuerte Wirklichkeit, so gewinnt die Hauptfigur eindeutige Merkmale eines Auserwählten, und zwar nicht in negativ-schicksalhaftem Sinn, wie bei Kafka, sondern ganz im Gegenteil. Trotz seines vermeintlichen Kampfes gegen die ihn verfolgenden Gesetzstrukturen ist und bleibt Josef K. ein Teil seiner Umgebung. Seltsamerweise passt er in die ihn umkreisende Welt, obwohl er sie weder verstehen noch akzeptieren kann. Cincinnatus C. ist hingegen das nicht-passende Element des im Roman dargestellten Zukunftsrusslands. Alles in dieser Welt – die Natur, die Menschen, die Architektur – ist Schein und Lüge. Alles, außer Cincinnatus selbst. Dabei entsteht allerdings ein sehr interessantes, sinnstiftendes Paradoxon. Der einer gnostischen ›Entgleisung‹ angeklagte, intrasparente Cincinnatus fühlt sich mit dieser illusorischen materiellen Welt überraschenderweise eng verbunden: […] in der Festung gefangen […] –, fühlte Cincinnatus C. ein wildes Verlangen nach Freiheit, der gewöhnlichsten, physischen, physisch möglichen Art von Freiheit […] Und chitat/ru/%D0 %94/davidov-sergej-sergeevich/teksti-matryoshki-vladimira-nabokova/6/ / letzter Zugriff am 23. 06. 2020. 869 Maar, Michael: Solus Rex, S. 108–109.
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so mächtig und süß war diese Flut der Freiheit, daß alles besser schien, als es in Wirklichkeit war. Seine Kerkermeister, die tatsächlich jedermann waren, schienen gefügiger; in den umgrenzenden Phänomenen des Lebens suchte sich sein Verstand einen möglichen Pfad, eine Art Vision tanzte ihm vor den Augen […] und obwohl in dieser Stadt alles in Wahrheit tot war und entsetzlich im Vergleich zu Cincinnatus‹ geheimem Leben und seinem schuldhaften Feuer, obwohl er das sehr wohl wußte und ebenso, daß es Hoffnung nicht gab, sehnte er sich in diesem Augenblick doch danach, auf jenen hellen, vertrauten Straßen zu sein… Doch dann hörte die Uhr zu schlagen auf, der imaginäre Himmel bedeckte sich, und das Gefängnis war wieder in Kraft.870
Das Wort »physisch« wird hier nicht zufällig doppelt markiert. Auf der tiefsten ontologischen Ebene ist die Welt, in der Cincinnatus lebt, an sich ein Gefängnis. Dass inmitten dieses Gefängnisses überhaupt die Möglichkeit besteht, gefangengenommen zu werden, gleicht einem Alptraum im Alptraum. Nichtsdestoweniger will der Protagonist befreit werden, obwohl er genau weiß, es gebe für ihn keine richtige Freiheit in dieser transparenten Scheinwirklichkeit. Cincinnatus bleibt sich nämlich sowohl seines inneren Andersseins als auch der ihn umgebenden Illusion völlig bewusst. Er weiß, der Himmel über ihn sei »imaginär«, und trotzdem will er ihn nicht durch die Gefängnisgitter, sondern »frei« bewundern können. Mehr noch: Cincinnatus ist sich sogar im Klaren, dass auch diese Gitter, ja selbst die Enthauptung und der Tod – im Lichte der letztendlichen, höheren Wirklichkeit, deren Hauch er ab und zu so unfehlbar verspürt871 – nur bösartige, dämonische Phantasmen sind. Davon zeugt eines der bedeutendsten Romanfragmente, in dem die Hauptfigur zum ersten Mal die Kernfrage nach dem Datum der Hinrichtung stellt: »Ich frage nicht aus Neugier«, sagte Cincinnatus, »Es stimmt, Feiglinge sind immer wißbegierig. Aber ich versichere Ihnen… Selbst wenn ich mein Zittern nicht beherrschen kann und so weiter – das hat nichts zu sagen. Ein Reiter ist nicht verantwortlich für das Zittern seines Pferdes.«872 Die Metapher ist leicht zu entschlüsseln: Das Sterblich-Körperliche im Protagonisten zittert vor Angst, während der reglose unsterbliche Geist dafür keine Verantwortung trägt. Dass Cincinnatus sich vor Enthauptung fürchtet, bedeutet somit nicht, dass er diese als reale, unwiderrufliche Vernichtung seines Ich empfindet. Dasselbe gilt auch andersrum. Das Wissen von einer anderen, geistigen Realität, die der groben materiellen (Alp)Traumwelt in jeder Hinsicht überlegen ist, befreit den Cincinnatus nicht von der verzweifelt-animalischen Todesangst, welche allein der Gedanke daran evoziert, sein Kopf solle vom restlichen Körper mittels eines Beils abgetrennt werden: »Und doch bin ich so sorgsam geformt«, dachte Cincinnatus und weinte in der Dunkelheit. »Die Biegung meines Rückgrats ist so genau, so geheimnisvoll berechnet. […] Mein Kopf 870 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 79–82. 871 Vgl. ebd., S. 58. 872 Ebd., S. 16.
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sitzt so bequem… .«873 An einer anderen Stelle des Romans erklärt der Erzähler diese seltsame Dichotomie auf eine besonders bildhafte Art, indem er zu einer literaturhistorisch gesehen durchaus verbreiteten Doppelgänger-Metapher greift: Der besorgte Sonnenschein öffentlichen Interesses drang überallhin, und das Guckloch in der Tür war so angebracht, daß es keine einzige Stelle in der Zelle gab, die der Beobachter auf der anderen Seite nicht mit seinem Blick durchbohren konnte. Darum zerknüllte Cincinnatus die buntscheckigen Zeitungen nicht, schleuderte sie nicht von sich wie sein Doppelgänger (der Doppelgänger, der Vagant, der jeden von uns – dich und mich und ihn dort drüben – begleitet und tut, was wir in diesem Augenblick gerne täten, aber nicht tun können…).874
Es geht also um einen unsichtbaren Doppelgänger, den nicht nur der Protagonist, sondern jeder Mensch hat. Dieser Doppelgänger unterliegt keinen öffentlich anerkannten Gesetzen und Konventionen, sondern tut ganz im Gegenteil etwas, was diese Konventionen verbieten: In der russischen Originalversion heißt es am Ende der Passage statt »nicht tun können«: »nicht tun dürfen« (»то, что в данное мгновение хотелось бы сделать, а нельзя«).875 Es handelt sich dabei nicht nur um die äußeren Beschränkungen, sondern vor allem um die inneren Hemmungen, die auf der emotionalen, intellektuellen und geistigen Ebene des menschlichen Innenraums entstehen. Man könnte daher annehmen, auch in der vorher zitierten Szene ginge es um dieselbe Zerrissenheit. Der »innere«, unsichtbare Doppelgänger ist für das Zittern des ›äußeren‹ Cincinnatus nicht verantwortlich. Der Vergleich mit dem Reiter und dem Pferd baut auch eine gewisse ontologische Hierarchie auf und zeigt, dass der ›äußere‹ Cincinnatus dem ›inneren‹, der Körper dem Geist, der beschränkte Intellekt dem grenzenlosen Gefühl für Jenseitiges untergeordnet ist. In der deutschsprachigen Literatur werden in der Regel die phantastischen Novellen E.T.A. Hoffmanns sowie sein Schauerroman Die Elixiere des Teufels immer dann erwähnt, wenn das Stichwort »Doppelgänger« auftaucht. Da aber die Doppelgänger-Thematik in Hoffmanns Werk grundsätzlich andere Konnotationen hat als in Einladung zur Enthauptung, wäre ein solcher Vergleich in diesem Fall wohl kaum aufschlussreich. Eine überraschende Widerspiegelung bzw. Vorlage derjenigen Dualität, die in Nabokovs Roman thematisiert wird, findet man dagegen bei Heinrich Heine. Die Bezeichnung ›Vorlage‹ sollte man hier nicht im Sinne einer absichtlichen Entlehnung verstehen, denn es lassen sich beinahe keine Kreuzungspunkte zwischen Heine und Nabokov finden (abgesehen von der Tatsache, dass der junge Nabokov einst ein vertontes Gedicht von Heine ins Russische neu übersetzte, um 873 Ebd., S. 23. 874 Ebd., S. 25–26. 875 Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Машенька, S. 247.
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den Text etwas singgeeigneter zu machen876). Immerhin gibt es in Deutschland. Ein Wintermärchen eine mysteriöse Gestalt, welche einerseits das lyrische Ich repräsentiert, andererseits aber, im Gegensatz zu ihm, dem Reflektieren das Agieren vorzieht: Ich selbst, wenn ich am Schreibtisch saß Des Nachts, hab ich gesehen Zuweilen einen vermummten Gast Unheimlich vor mir stehen. Unter dem Mantel hielt er etwas Verborgen, das seltsam blinkte, Wenn es zum Vorschein kam, ein Beil, Ein Richtbeil, zu sein mir dünkte. Er schien von untersetzter Statur, Die Augen wie zwei Sterne; Er störte mich im Schreiben nie, Blieb ruhig stehn in der Ferne. Seit Jahren hatte ich nicht gesehen Den sonderbaren Gesellen, Da fand ich ihn plötzlich wieder hier In der stillen Mondnacht zu Köllen.877
Die Parallelen sind umso auffälliger, als bei Heine das »Richtbeil« auch eine bedeutende Rolle spielt. Im Unterschied zu Nabokov wird hier dieses Beil allerdings vom Alter Ego des lyrischen Ich getragen, während der Protagonist der Einladung dadurch letztendlich enthauptet wird. Ähnlich wie in Nabokovs Roman interveniert auch Heines Doppelgänger erst dann in das Leben der Hauptfigur, wenn seine Anwesenheit wirklich gebraucht wird. Früher stand er passiv »in der Ferne« und beobachtete den Dichter beim Schreibprozess. Nun hat sich die Situation geändert, das lyrische Ich befindet sich wieder in seiner deutschen Heimat und ist von der dort herrschenden politischen Ordnung zutiefst empört. Da ergreift sein Doppelgänger die Initiative und sagt: Ich bin von praktischer Natur, Und immer schweigsam und ruhig. Doch wisse: was du ersonnen im Geist, Das führ ich aus, das tu ich. Und gehen auch Jahre drüber hin, Ich raste nicht, bis ich verwandle In Wirklichkeit, was du gedacht; Du denkst, und ich, ich handle.
876 Vgl. Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 295. 877 Heine, Heinrich: Ein Lesebuch für unsere Zeit. Hrsg. Von Walther Victor. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1972, S. 123.
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Du bist der Richter, der Büttel bin ich, Und mit dem Gehorsam des Knechtes Vollstreck ich das Urteil, das du gefällt, Und sei es ein ungerechtes. Dem Konsul trug man ein Beil voran, Zu Rom, in alten Tagen. Auch du hast deinen Liktor, doch wird Das Beil dir nachgetragen. Ich bin dein Liktor, und ich geh Beständig mit dem blanken Richtbeile hinter dir – ich bin Die Tat hinter deinen Gedanken.878
Derjenige Doppelgänger, der innere Vagant, von dem Nabokov in Einladung zur Enthauptung schreibt, verhält sich einerseits ähnlich, denn er »tut, was wir in diesem Augenblick gerne täten, aber nicht tun können.«879 Der sinnentscheidende Unterschied besteht jedoch in der Richtwirkung ihrer Taten. Das ganze Wesen von Heines »seltsamem Gesellen« richtet sich nach außen, auf das politisch und sozial orientierte Handeln. Sein zweites Ich bekämpft Monarchie und Religion, indem es die alten Denkmäler wortwörtlich zerstört. Kurz: Es verhält sich wie die jungen Revolutionäre aller Epochen (die unsrige einschließlich) und will, wie es am Anfang des Poems knapp formuliert wird, »hier auf Erden schon das Himmelreich errichten.«880 Sein Handeln bezieht sich einzig und allein auf Diesseits. Cincinnatus’ Doppelgänger ist hingegen ein überwiegend geistiges Phänomen. Zwar wird auch bei ihm das Tun, die aktive Kehrseite menschlicher Persönlichkeit hervorgehoben, aber diese Aktivität hat mit soziopolitischem Engagement nichts gemeinsam. Vielmehr ist es der ›äußere‹ Cincinnatus, der mit der Gefängnisdirektion zu diskutieren und sein Lebensrecht zu verteidigen versucht. Der zweite, ›innere‹ Cincinnatus ist daran kaum interessiert, denn er weiß, ein »Himmelreich auf Erden« sei nicht nur unmöglich, sondern gar unnötig. Sämtliche Versuche, ein solches Pseudoparadies in der materiellen Welt aufzubauen, führen nämlich zur Erschaffung einer totalitären Wirklichkeit, in der die Hauptfigur von Nabokovs Roman eine sinnlose Existenz führen und schließlich einen sinnlosen Tod durch Hinrichtung sterben muss. Daher besteht das Ziel dieses anderen, ›zusätzlichen‹ Cincinnatus nicht darin, die illusorische materielle Welt zu verbessern, sondern sie zugunsten einer höheren, wahren Realität zu überwinden. In dieser Hinsicht bildet die gnostisch gesinnte Doppelgänger-Figur bei Nabokov sozusagen eine ›metaphysische Opposition‹ zum
878 Ebd., S. 124. 879 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 26. 880 Heine, Heinrich: Ein Lesebuch, S. 112.
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aktiv-engagierten, revolutionär eingestellten Doppelgänger des lyrischen Ich in Heines Wintermärchen. Nichts dergleichen lässt sich über Josef K. behaupten. Sowohl Der Prozess als auch Einladung zur Enthauptung sind, um es mit Nabokovs Terminologie zu bezeichnen, »einspurige« (»одноколейные«) Romane881, d. h., die gesamte Handlung wird auf ein einziges Thema bzw. Geschehnis ausgerichtet. Bei Kafka ist es der titelgebende Prozess, bei Nabokov die – ebenfalls in den Titel einbezogene – Enthauptung. Kann aber Cincinnatus als eine mehrdimensionale Figur in einer eindimensionalen Welt bezeichnet werden, so steckt Josef in der ihn verfolgenden Wirklichkeit zum Großteil freiwillig fest. Besser gesagt: Er spielt nach Regeln, die ihm aufgezwungen werden, und will den namenlosen Richtern seine Unschuld beweisen, obwohl er gar nicht weiß, weshalb er eigentlich angeklagt wurde. Bereits in der ersten Szene des Romans erwecken die unbekannten Besucher in Josef etwas mehr als bloße Empörung, wovon der Satz zeugt: »Es fiel ihm zwar gleich ein, dass er dadurch gewissermaßen ein Beaufsichtigungsrecht des Fremden anerkannte, aber es schien ihm jetzt nicht wichtig.«882 Mit dieser scheinbar nebensächlichen Erläuterung fängt eine stets wiederkehrende Kette derartiger Gedankenwiedergaben, welche den Leser permanent begleiten. Das Wort »jetzt« weist darauf hin, dass der Protagonist sich an seine unbedachte Aussage später vielleicht erinnern und sein Verhalten wahrscheinlich auch bereuen wird. Dies ist unter anderem deshalb bemerkenswert, weil der innere Zustand der Hauptfigur im Laufe der Handlung konsequent von selbstbewusster Gelassenheit zum immer wachsenden Zweifel wandelt. Für Josef K. spielt es nämlich eine sehr wichtige Rolle, wie seine Worte bei anderen Menschen ankommen, besonders bei denjenigen, die mit dem Prozess verbunden sind, obwohl er selbst diese Personen oft geringschätzt oder gar verachtet. Seine Empörung ihnen gegenüber verbreitet sich jedoch keineswegs auf das ganze Gesetzsystem, das vom Protagonisten akzeptiert und hoch geachtet wird. Dies lässt sich seinen Gedanken, die in einer überwiegend personalen Form bzw. mittels erlebter Rede vermittelt werden, deutlich entnehmen: Was waren denn das für Menschen? […] Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte ihn in seiner Wohnung zu überfallen? Er neigte sich stets dazu, alles möglichst leicht hinzunehmen, das Schlimmste erst beim Eintritt des Schlimmsten zu glauben […]. Hier schien ihm das aber nicht richtig, man konnte zwar das Ganze als Spaß ansehen […], den ihm aus unbekannten Gründen, vielleicht weil heute sein dreißigster Geburtstag war, die Kollegen in der Bank veranstaltet hatten, […] vielleicht brauchte er
881 Vgl. Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Лекции о Дон-Кихоте (Vorlesungen über Don-Quijote). Sankt-Petersburg: Азбука 2010, S. 31. 882 Kafka, Franz: Der Prozess, S. 316.
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nur auf irgendeine Weise den Wächtern ins Gesicht zu lachen und sie würden mitlachen […] – trotzdem war er diesmal […] entschlossen, nicht den geringsten Vorteil, den er vielleicht gegenüber diesen Leuten besaß, aus der Hand zu geben. Darin dass man später sagen würde, er habe keinen Spaß verstanden, sah K. eine ganz geringe Gefahr, wohl aber erinnerte er sich […] an einige an sich unbedeutende Fälle, in denen er zum Unterschied von seinen Freunden mit Bewusstsein, ohne das geringste Gefühl für die möglichen Folgen sich unvorsichtig benommen hatte und dafür durch das Ergebnis gestraft worden war. Es sollte nicht wieder geschehen, zumindest nicht diesmal, war es eine Komödie, so wollte er mitspielen. Noch war er frei.883
Der zitierte Auszug ist ein weiteres Indiz dafür, wie wichtig für den Protagonisten die öffentliche Meinung ist. Sei es auch eine grobe Komödie, Josef K. beschließt, mitzuspielen, und bleibt diesem Entschluss bis zum Ende des Romans treu. Vergeblich wird Josef sich selbst später mehrmals davon zu überzeugen versuchen, er betrachte den ganzen Prozess als eine lächerliche und nebensächliche Bagatelle. Die einst getroffene Entscheidung führt unweigerlich dazu, dass er in die steigende Absurdität seiner Lage immer tiefer hineingezogen wird, und zwar aus eigenem Willen. Nicht zufällig wird betont, der Protagonist sei »noch« frei. Einerseits bezieht sich diese Anmerkung auf die rätselhafte Begriffsspezifik der ungewöhnlichen Verhaftung, welche ihm zuteil wurde: Josef kann sich ja frei bewegen, zur Arbeit gehen und generell ein beinahe normales Leben führen. Die den Roman eröffnende, schicksalhafte Bekanntmachung, dass der Protagonist verhaftet ist, stellt vielmehr einen informativen als einen performativen Sprechakt dar. Die Wächter verlautbaren diese Meldung – und damit ist ihre Pflicht erfüllt. Andererseits kann man dieses Noch-frei-Sein auch so verstehen, dass die Hauptfigur solange frei ist, bis sie sich eigenverantwortlich dafür entscheidet, am Prozess teilzunehmen. Denn Josefs eifriges Engagement, mit dem er sich vor dem unergründlichen Gesetz erfolglos rechtfertigt, zeugt zugleich von seiner Akzeptanz derjenigen Leitlinien, die ihm angeboten bzw. diktiert werden. Außerdem begeht der Protagonist immer wieder denselben Fehler, indem er das gegen ihn geführte Verfahren zu rationalisieren und nach den geläufigen Rechtstaatsmustern auszulegen sucht. Darauf will ihn bereits der Aufseher, der gleich nach den Wächtern Josefs Zimmer betritt, aufmerksam machen, allerdings ohne jegliches Verständnis seitens der Hauptfigur. »Sie sind durch die Vorgänge des heutigen Morgens wohl sehr überrascht?« fragte der Aufseher […]. »Gewiss«, sagte K. und das Wohlgefühl, endlich einem vernünftigen Menschen gegenüberzustehen […] ergriff ihn, »gewiss ich bin überrascht, aber ich bin keineswegs sehr überrascht.« »Nicht sehr überrascht?« fragte der Aufseher […]. »Sie missverstehen mich vielleicht«, beeilte sich K. zu bemerken. »Ich meine […] ich bin allerdings sehr überrascht, aber man ist, wenn man mit dreißig Jahren auf der Welt ist
883 Ebd., S. 317–318.
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und sich allein hat durchschlagen müssen […], gegen Überraschungen abgehärtet […]. Ich will nicht sagen, dass ich das Ganze für einen Spaß ansehe […], andererseits aber kann die Sache auch nicht viel Wichtigkeit haben. Ich foldere das daraus, dass ich angeklagt bin, aber nicht die geringste Schuld auffinden kann, wegen der man mich anklagen könnte. Aber auch das ist nebensächlich, die Hauptfrage ist: von wem bin ich angeklagt? Welche Behörde führt das Verfahren? Sind Sie Beamte?884
Worauf Josef K. einen besonderen Akzent legt, ist also nicht die Schuldfrage, sondern vielmehr diejenige Instanz, die es sich erlaubt, ihn von seiner Verhaftung zu informieren. Obwohl der Protagonist von einem der Wächter bereits erfahren hat, es handle sich um kein gewöhnliches Gericht, besteht er darauf, »nicht die geringste Schuld« bei sich auffinden zu können. Es wiederholt sich dasselbe Missverständnis, das schon beim Gespräch mit dem Wächter entstand, als dieser Josef die Unkenntnis des anderen Gesetztes, laut dem er verhaftet wurde, vorgeworfen hatte. Daher muss ihm auch der Aufseher erklären, es sei weder ein Scherz noch ein üblicher Kriminalfall, den man nach gewohnten Kriterien messen könnte. »Sie befinden sich in einem großen Irrtum«, sagte er. »Diese Herren hier und ich sind für Ihre Angelegenheit vollständig nebensächlich, ja wir wissen sogar von ihr fast nichts. […] Ich kann Ihnen auch durchaus nicht sagen, dass Sie angeklagt sind oder vielmehr ich weiß nicht, ob Sie es sind. Sie sind verhaftet, das ist richtig, mehr weiß ich nicht. […] Wenn ich nun also Ihre Fragen nicht beantworten kann, so kann ich Ihnen doch raten, denken Sie weniger an uns und an das, was mit Ihnen geschehen wird, denken Sie lieber mehr an sich.« K. starrte den Aufseher an. […] »Der Staatsanwalt Hasterer ist mein guter Freund«, sagte er, »kann ich ihm telefonieren?« »Gewiss«, sagte der Aufseher, »aber ich weiß nicht, welchen Sinn das haben sollte, es müsste denn sein, dass Sie irgendeine private Angelegenheit mit ihm zu besprechen haben.« »Welchen Sinn?« rief K. mehr bestürzt, als geärgert. »Wer sind Sie denn? Sie wollen einen Sinn und führen das Sinnloseste auf, was es gibt?«885
In dieser Passage manifestiert sich zum ersten Mal im Roman eines der konstanten und bedeutendsten Elemente von Kafkas Erzählwelt, nämlich die Ungewissheit. Keiner der Prozessbeteiligten weiß, worum es eigentlich geht, denn jeder von ihnen führt eine ganz bestimmte, in der Regel ziemlich geringe Funktion aus und verfügt über keinerlei bedeutsame Informationen zum Kern der Sache (ähnlich sieht es mit der endlosen Beamtenkette in Das Schloß aus). Aus strikt rationaler Hinsicht ist Josefs Konsternation durchaus nachvollziehbar, denn die Worte des Aufsehers scheinen auf den ersten Blick tatsächlich wenig Sinn zu ergeben. Philosophisch betrachtet ist jedoch der seltsame Ratschlag, den ihm der Aufseher gibt, alles andere als sinnlos: Der Protagonist solle weniger 884 Ebd., S. 323. 885 Ebd., S. 324–325.
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daran, was mit ihm passiert, sondern »lieber mehr an sich« denken. Somit wird die Hauptfigur zur Selbstreflexion aufgerufen, d. h. ausgerechnet zu jener Fähigkeit, an die Josef nicht gewöhnt ist. Hätte er sich mehr mit dem Innenraum des eigenen Ich beschäftigt, so wäre ihm der ursprüngliche Grund seiner Verhaftung sowie die wahre Bedeutung des Prozesses möglicherweise verständlicher gewesen. Die berühmte Türhüter-Parabel, die erst kurz vor Romanschluss von einem Priester erzählt wird und in der Kafka-Forschung zu Recht als zentrale Textstelle gilt, bildet nur eine konsequente Entwicklung dieses schon im ersten Kapitel ausgesprochenen Gedanken. Als der Türhüter am Ende der Parabel sagt: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt«886, so wird dadurch die Frage, wieso sämtliche Wächter, Aufseher und Richter bzw. Anwälte dem Protagonisten kein Wissen übermitteln können, beantwortet. Der russische Literaturwissenschaftler Boris Awerin interpretiert Nabokovs Erzählung Ultima Thule sehr ähnlich, indem er schreibt, der Wunsch des Protagonisten (eines Malers namens Sineusow), das »Geheimnis der Dinge« zu erkennen, sei eigentlich der Wunsch, aus fremden Händen eine allgemeine Wahrheit zu bekommen, die der Mensch selbständig, auf eigene Hand entdecken sollte.887 Die Situation in Kafkas Roman sieht nahezu identisch aus. Nur Josef K. wäre nämlich imstande, seinen Prozess zu begreifen. Stattdessen konzentriert er sich auf den äußeren Sachverlauf und vernachlässigt dadurch das einzig Wesentliche – sich selbst oder, genauer gesagt, sein Selbst. Darin liegt sein größter und folgenschwerster Irrtum. Das Irrtumsmotiv taucht ebenfalls in Einladung zur Enthauptung auf, obschon wesentlich diskreter als bei Kafka. Bereits im ersten Kapitel gibt es eine Passage, in der die Hauptfigur ihre Zelle plötzlich auf eine unerklärliche Weise verlässt und einen Nachtspaziergang in die Stadt unternimmt, als wäre die vorher beschriebene Verhaftung nicht real. Schließlich entpuppt sich aber die kurzweilige Scheinbefreiung als eine Traumvision, ein sehnsüchtiges Wunschdenken. Statt, gleich einem romantischen Liebhaber, ins Zimmer seiner Ehefrau durch das Fenster zu gelangen, findet sich Cincinnatus in der Festung wieder, von den verhassten Gefängniswänden eng umschlossen. Cincinnatus ging die Treppe hinab. Die Steinstufen waren schmal und schlüpfrig, die Spirale ihres geisterhaften Geländers war ungreifbar. […] Nachdem Cincinnatus an vielen Tischen vorbeigegangen war, stolperte er, machte einen Satz und fand sich in einem Hof voll von den verschiedenen Teilen des demontierten Mondes. […]. In der Dunkelheit einer Parkanlage unterhielten sich leise zwei Männer, vermutlich auf einer
886 Ebd., S. 497. 887 Awerin, Boris (Аверин, Борис): Дар Мнемозины. Романы Набокова в контексте русской автобиографической традиции. (Die Gabe der Mnemosyne. Nabokovs Romane im Kontext russischer autobiographischer Tradition). Sankt-Petersburg: Пальмира 2018, S. 70–71.
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Bank. »Ich sage, er irrt sich«, sagte einer. Die Antwort des anderen war unverständlich, und beide seufzten auf eine Art, die sich auf natürliche Weise mit dem Stöhnen des Laubes vermischte.888
Es bleibt allerdings offen, ob man mit einem gewöhnlichen Traum zu tun hat. Die Szene könnte auch so interpretiert werden, dass während der materielle Cincinnatus in seiner Zelle verhaftet bleibt, sein zusätzliches Ich, der oben erwähnte Doppelgänger (vom Erzähler auch als »Vagant« bezeichnet) den Körper des Protagonisten tatsächlich verlässt und den nächtlichen Stadtpark durchwandert. Noch geheimnisvoller ist das Gespräch zwischen zwei unbekannten Männern und die einzige Phrase, die die Hauptfigur hört: »Ich sage, er irrt sich.« Nach Barabtarlos Vermutung ist es eine Anspielung auf die metaphysisch unbegründete Angst des Verhafteten vor der Hinrichtung. Andererseits kann man diese Worte auch auf die allgemeine illusorische Natur der grausigen Romanwelt (worauf der demontierte Mond abermals hindeutet) beziehen. Hervorgehoben sei außerdem die besonders ›kafkaesk‹ wirkende Schweigelosung am Tor (und »an allen anderen Toren«!). An einer anderen Romanstelle heißt es: »Wo der Gang die Biegung machte, salutierte der […] namenlose Wärter. […] Mehrere Male kamen sie an genau dem gleichen Feuchtigkeitsmuster an der Wand vorbei, das aussah wie ein grauenhaftes Pferdegerippe.«889 Die traumartige Andersheit der skizzierten Wirklichkeit wird damit sowohl bei Nabokov als auch bei Kafka immer wieder durch surreale Atmosphäre markiert. Einen bedeutsamen Aspekt bilden auch die »Tamara-Gärten« – der einzige Ort in der ganzen Heimatstadt des Protagonisten, wo man eine temporäre Zuflucht finden kann, wenn das Leben ›unerträglich‹ wird. Dies ist nicht zuletzt durch die zärtlichen Lebenserinnerungen bedingt, denn eben in den »Tamara-Gärten« hat sich Cincinnatus mit seiner damaligen Braut getroffen. Daher sagt er im achten Kapitel, die einzig wahrhaftige, jenseitige Wirklichkeit vorausahnend: »Dort, dort sind die Originale jener Gärten, wo wir in dieser Welt umherstreiften und uns verbargen; dort tut alles der Seele wohl, ist alles angefüllt mit jener Freude, auf die Kinder sich verstehen; dort strahlt der Spiegel, der dann und wann einen zufälligen Reflex hierher entsendet… .«890 Dieser intuitiv empfundene, aber unsichtbare »DortRaum« ist mit den Träumen von Cincinnatus aufs Engste verbunden. Es handelt sich allerdings nicht mehr um die neblige Alptraumhaftigkeit der tagtäglichen Scheinrealität, sondern im Gegenteil um diejenige wahre Welt, die sich dem Protagonisten in seinen Träumen offenbart. Cincinnatus sagt nämlich: Ich bin irrtümlich hier – ich meine nicht speziell dieses Gefängnis – ich meine diese ganze schreckliche, gestreifte Welt; eine Welt, die kein schlechtes Beispiel dilettanti888 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 19–21. 889 Ebd., S. 44. 890 Ebd., S. 103.
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scher Bastelei zu sein scheint, aber in Wahrheit Unglück, Schrecken, Wahnsinn, Irrtum ist […]. Und dennoch habe ich von frühester Kindheit an Träume gehabt… In meinen Träumen war die Welt edler, geistiger […]. Aber schließlich bin ich seit langem an den Gedanken gewöhnt, daß das, was wir Träume nennen, Halbwirklichkeit ist, die Verheißung der Wirklichkeit, eine Vorschau darauf und ein Hauch von ihr; das heißt, sie enthalten in einem sehr vagen, verdünnten Zustand mehr wahre Wirklichkeit als unser gerühmtes waches Leben, das seinerseits Halbschlaf ist […].891
Die wahrhaftige Traumwelt wird der illusorischen Wirklichkeit des scheinbaren Wachzustandes nicht nur auf der Realität-Irrtum-Ebene gegenübergestellt. Auch aus ethisch-metaphysischer Perspektive steht die Welt, von der Cincinnatus seit seiner Kindheit träumt, auf einer unvergleichlich höheren Stufe, denn »dort behelligt man die Sonderlinge nicht, die hier gemartert werden; dort nimmt die Zeit die Gestalt an, die einem beliebt, gleich einem gemusterten Teppich, dessen Falten so zusammengelegt werden können, daß zwei Muster übereinstimmen.«892 Die Poetik dieses zwischen Verzweiflung und Hoffnung balancierenden Aufrufs erinnert an die Klage des biblischen Ijobs (bzw. Hiobs), der sich nach Tod und Jenseitswelt sehnt: »Warum starb ich nicht vom Mutterschoß weg, […] Still läge ich jetzt und könnte rasten […]. Dort hören Frevler auf zu toben, / dort ruhen aus, deren Kraft erschöpft ist. Auch Gefangene sind frei von Sorgen, / hören nicht mehr die Stimme des Treibers. Klein und Groß ist dort beisammen, / der Sklave ist frei von seinem Herrn.«893 Nabokovs Protagonist, der das irdische Leben vielmehr als einen Alptraum und nicht etwa als eine ontologische Tragödie betrachtet, fügt aber hinzu: »Doch wie fürchte ich das Erwachen! Wie fürchte ich jene Sekunde, vielmehr jenen Sekundenbruchteil, der schon um ist, wenn mit dem Grunzen eines Holzfällers…«894, um sich gleich danach zu fragen: »Doch was gibt es da zu fürchten? Wird es für mich nicht einfach der Schatten eines Beils sein, und werde ich jenen kräftigen Grunzlaut bei der Abwärtsbewegung nicht mit dem Ohr einer anderen Welt hören?«895, und schließlich zu wiederholen: »Dennoch habe ich Angst!«896 Im Gegensatz zu Josef K. weiß Cincinnatus C., dass er (sich) irrt, genauso wie er von der ursprünglichen Unzerstörbarkeit seines Geistes weiß. Das Unwissen als Hauptelement von Josef K.’s Wesen wurde von Alexander Piatigorsky in seinem Essay über Nabokov unterstrichen und den wissenden, 891 Ebd., S. 99–100. 892 Ebd., S. 103. 893 Das Buch Ijob. Ijobs Klage. 3:11–19. https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/einheits uebersetzung/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/18/30001/39999/?no_cache=1&cHash=5e643 a900ef1d18a29580c563ae32b26 / letzter Zugriff am 25. 08. 2020. 894 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 100. 895 Ebd., S. 100–101. 896 Ebd., S. 101.
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selbstreflexiven Protagonisten von Nabokov (vor allem Humbert) gegenübergestellt. Dadurch erklärt Piatigorsky die Tatsache, dass in Nabokovs Werk das Problem der Schuld nicht auftaucht, weder in mystischer noch in ethischer Ausprägung. Seine Figuren wissen einfach, so Piatigorsky, was sie tun und welchen Preis sie dafür bezahlen werden.897 Damit wird jegliche Schuldproblematik, die bei sämtlichen europäischen Modernisten (inklusive Kafka) stets auftaucht, überflüssig. Cincinnatus C. verfügt jedoch, im Gegensatz zu Humbert oder Hermann, über ein zusätzliches, wesentlich höheres Bewusstsein. Er weiß nämlich von der Unsterblichkeit seines Inneren und die metaphysische Unbeständigkeit seiner Umwelt. Dieses Wissen kann ihm zwar nicht dabei helfen, die Todesangst zu bezwingen oder wenigstens zu lindern, aber es zeugt ganz eindeutig von intensiven, unaufhörlichen und durchaus fruchtbaren Selbsterkenntnisversuchen. Cincinnatus beschäftigt sich stets damit, wozu die Hauptfigur von Prozess mehrmals ermutigt wird (zuerst vom Aufseher, dann vom Priester mittels einer Türhüter-Parabel usw.), nämlich mit seiner Innenwelt. Warum ist dies aber so wichtig, vor allem in Anbetracht des sich nähernden Todes? Der Grund dafür liegt darin, dass eine tiefe und aufrichtige Selbstreflexion – unter der Bedingung, dass man sie bis an die letzten Denk- und Vorstellungsgrenzen hin führt – das menschliche Ich zur Selbstüberwindung erhebt. Indem Cincinnatus sich selbst als den Anderen erkennt (d. h. als Jemanden, der weder zu seiner Umgebung noch zu der ihm aufgezwungenen Welt gehört), erkennt er gleichzeitig auch das Andere im Sinne einer zwar vertrauten, zugleich aber transzendenten Wirklichkeit. An einem gewissen Punkt fehlt es ihm immer schwerer, das Erkannte zu formulieren, und so muss Cincinnatus verzweifelt einsehen: Aber das ist es nicht, es ist nicht ganz, und ich verheddere mich, gelange nirgendwohin, rede Unsinn, und je länger ich im Wasser umhersuche und auf dem sandigen Grund nach dem Glimmer taste, den ich eben noch sah, desto schlammiger wird das Wasser und desto geringer auch die Wahrscheinlichkeit, daß ich ihn zu fassen bekomme. Nein, bisher habe ich noch nichts gesagt oder vielmehr nur geschraubte Bücherworte… Und die logische Folge wäre, aufzugeben, und ich gäbe auf, wenn ich mich für einen heute lebenden Leser mühte, aber da in dieser Welt kein einziger Mensch ist, der meine Sprache spricht; oder einfacher, kein einziger Mensch, der sprechen kann; oder, noch einfacher, kein einziger Mensch – darum darf ich nur an mich denken und an die Kraft, die mich drängt, mich auszudrücken. Ich friere, ich bin schwach und verängstigt, mein Hinterkopf blinzelt […] Ich wiederhole (und hole mir im Rhythmus der wiederholten Beschwörungen neuen Schwung), ich wiederhole: Ich weiß etwas, ich weiß etwas, ich weiß… .898 897 Vgl. http://izbrannoe.com/news/mysli/aleksandr-pyatigorskiy-chut-chut-o-filosofii-vladi mira-nabokova / letzter Zugriff am 09. 08. 2020. 898 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 104.
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Eine äußerst paradoxe Aussage. Wenn es ja keinen »heute lebenden Leser« gibt, welches Ziel verfolgt dann das Schreiben, zumal der Schreibende bald hingerichtet wird? Auf diese Frage gibt Cincinnatus eine konträre Antwort: Er schreibe gerade deshalb, weil er in seiner Welt nur sich selbst und einer geheimen, unnennbaren Kraft ausgeliefert sei – und eben diese Kraft zwinge ihn dazu, sich auszudrücken. Die Sprechfähigkeit fungiert dabei nicht als Kommunikationsmittel, denn es gibt um den Protagonisten herum keinen einzigen adäquaten Kommunikationspartner: »Die um ihn herum verstanden sich bereits nach dem ersten Wort, denn sie besaßen keine Worte, die unerwartet endeten, vielleicht mit einem archaischen Buchstaben […], das mit erstaunlichen Folgen zu einem Vogel oder einem Katapult wurde.«899 Dementgegen offenbart die Sprache, wie sie von Cincinnatus empfunden und benutzt wird, ihr Erkenntnis- und Benennungspotenzial. Diese autoreferentielle und zugleich autoreflexive Funktion des (geschriebenen) Wortes hat u. a. der bereits erwähnte Merab Mamardaschwili exakt besprochen. Der georgische Philosoph behauptet nämlich, der Gedanke gehe seinem Ausdruck nicht voraus, sondern komme erst in dem (schriftlichen) Ausdruck überhaupt zur Geltung. Dafür benutzt er die Bezeichnung opera operans900, die man etwa als »wirkendes Werk« übersetzen könnte, ein kreatives Schreiben im wahrsten Sinne des Wortes. Auch im Fall von Cincinnatus bezieht sich das Sprechen bzw. Schreiben, die Suche nach dem richtigen Wort auf keinen externen Rezipienten, sondern auf den Sprechenden bzw. Schreibenden und sein individuelles und intimes Verhältnis zur Welt. Der Protagonist drückt sich aus, nicht um verstanden zu werden, sondern um sich selbst, seinen eigenen Gedankengang zu verstehen – und dadurch eine andere Wirklichkeit aufzuspüren: »[…] Ich bin kein gewöhnlicher… Ich bin unter euch, der lebt… Nicht nur sind meine Augen anders und mein Gehör und mein Geschmack… Nicht nur ist mein Geruchssinn wie der eines Rehs, mein Tastsinn wie der einer Fledermaus – sondern vor allem habe ich die Fähigkeit, alles dies in einem Punkt zusammenzufügen… Nein, das Geheimnis habe ich noch nicht gelüftet… Selbst das ist nur der Zündstein… Und ich habe noch nicht einmal begonnen, vom Feuer selbst zu sprechen. […] Und auch von jenem unablässigen Beben möchte ich schreiben – und davon, wie sich ein Teil meiner Gedanken immer um die unsichtbare Nabelschnur drängt, die diese Welt mit… ich werde noch nicht sagen, womit verbindet… .901
In diesem Zusammenhang kann man auf Michail Bachtins These referieren, die kommunikative Funktion der menschlichen Sprache sei zwar sehr wichtig, aber nicht unveräußerlich, da eine sprachliche Äußerung nicht unbedingt einen Re-
899 Ebd., S. 27. 900 Mamardaschwili, Merab (Мамардашвили, Мераб): Лекции по античной философии, S. 83. 901 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 58.
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zipienten erfordert, sondern lediglich den Sprecher und den Gegenstand der Äußerung.902 Der Weg von Hier zu Jenseits, vom Individuellen zum Absoluten wird auch in Nabokovs Autobiographie ausführlich beschrieben903, wodurch die weltanschaulichen Parallelen zwischen Autor und Figur in diesem Fall völlig berechtigt sind. Bedient man sich der bekannten romantischen Religionsdefinition von Friedrich Schleiermacher – »Sinn und Geschmack fürs Unendliche«904 –, so ist die Hauptfigur der Einladung eine tiefst religiöse Person, deren Intransparenz eben aus dieser Zugehörigkeit einer anderen, jenseitigen Dimension resultiert. Und gerade dafür wird Cincinnatus verurteilt: »Cincinnatus’ Verbrechen besteht darin, in einer transparenten Welt, in der jeder in seiner Umgebung den anderen beim ersten Wort versteht, undurchdringlich zu sein.«905 Daher ist es beim Vergleich der Romane von Kafka und Nabokov sehr wichtig, dass die Ursache von Josefs Verhaftung nicht bekanntgegeben wird. Zwar wird er, ähnlich wie Cincinnatus, einer Reihe merkwürdiger, ja absurder Prozeduren unterzogen, aber weder der Protagonist noch der Leser erfahren den Grund dafür. Dieter Krusche bemerkt dazu: K., der Angeklagte, ist […] per definitionem status […] in einen Zustand versetzt, der ihn von aller Mitwelt trennt, anders ausgedrückt: der ihn der Umwelt als Welt der Dachbodengerichtsbarkeit rettungslos ausliefert. »Angeklagtsein« ist somit in bezug auf K. identisch mit »Anderssein«, und an der »Wörtlichkeit« von K.s Verständnis seiner Situation hängt die Inkommensurabilität der Aktionen K.s und der Welt, die ihn rings umgibt.906
Interessanterweise könnte man auch im Fall von Cincinnatus durchaus berechtigt behaupten, das ›Angeklagtsein‹ sei mit dem ›Anderssein‹ identisch, allerdings aus einem völlig anderen Bedeutungswinkel. Bei Kafka ist die Hauptfigur allein deshalb ›anders‹, weil sie angeklagt wird. Josefs Andersheit bleibt sozusagen ›inhaltsleer‹. Bei Nabokov präsentiert sich die Situation genau umgekehrt, indem der Protagonist von Einladung zur Enthauptung wegen seines »Andersseins« angeklagt wird. Die Anklage an sich sowie der Prozessverlauf, welche den semantischen Schwerpunkt und zugleich den strukturellen Leitfaden von Kafkas Roman bilden, spielen in Nabokovs Text eine eher zweitrangige Rolle. Auch weist Josef K. als Figur keinerlei außergewöhnliche Merkmale auf. Erst der 902 Vgl. Bachtin, Michail (Бахтин, Михаил): Эстетика словесного творчества (Die Ästhetik des sprachlichen Schaffens). Moskau: Искусство 1979, S. 245. 903 Siehe Kapitel 1.2 der vorliegenden Arbeit. 904 Schleiermacher, Friedrich D.E.: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. In: Kritische Gesamtausgabe, Bd. I/2: Schriften aus der Berliner Zeit 1769–1799, hg. v. Günter Meckenstock. Berlin/New York: Walter de Gruyter, S. 212. 905 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre, S. 661. 906 Krusche, Dietrich: Kafka und Kafka-Deutung, S. 41.
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mysteriöse Prozess macht seine Person und sein Leben beachtenswert, denn erst dadurch und darin wird er zum Individuum. Dagegen steht die abweichende Einmaligkeit von Cincinnatus C. im Erzählzentrum des Einladung-Romans und wird vom Erzähler mit auffälliger Häufigkeit hervorgehoben. Damit ist eine höchst relevante Facette der Vergleichsanalyse von Nabokovs und Kafkas Protagonisten verbunden. Die Gesetzwidrigkeit hat ja immer etwas Ausschließendes an sich, allein dadurch, dass die meisten Staatsbürger sich gesetzestreu verhalten. So gesehen ist ein Verbrecher (oder eine für einen Verbrecher gehaltene Person) zwangsweise ein Außenseiter, d. h. jemand, der abseits einer bestimmten Gemeinschaft seine eigensinnige, den Normen der Mehrheit nicht entsprechende Existenz führt. Demgegenüber stellt das Gefängnismilieu, welches aus mehreren Menschen zusammengesetzt wird, eine Miniatur der Gesellschaft, ein Mikrosozium dar. In dieser Hinsicht ist nun aber jeder Verbrecher Teil einer Gruppe und als solcher kein richtiger Einzelgänger mehr. In den besprochenen Romanen sieht die Situation jedoch anders aus. Bei Nabokov heißt es schon im ersten Kapitel, Cincinnatus sei »der einzige Häftling«907 in der Festung. Die Sonderposition des Protagonisten wird somit gleich am Anfang betont, um später wieder erwähnt und erweitert zu werden. Außerdem begeht er kein eigentliches Verbrechen, denn die Gesetze, die in seinem Land herrschen, können weder rational noch ethisch begriffen werden. Der totalitäre Staat in Einladung zur Enthauptung stellt eine groteske Mischung aus Zirkus und Horror dar. Die Bezeichnung ›totalitär‹ sollte in diesem Kontext jedoch nicht unbedingt im Sinne einer allumfassenden außenstehenden Aufsichtsinstanz betrachtet werden. Vielmehr handelt es sich um eine totale, systematisch gesicherte Unpersönlichkeit von Menschen, die diesen Staat bewohnen bzw. bilden. Sämtliche naheliegenden politischen Andeutungen sollten dabei mit äußerster Vorsicht behandelt werden. Sowohl das kommunistische als auch das nationalsozialistische Regime basierten auf einer bestimmten, mehr oder weniger präzisen Ideologie (genauso wie der Staat in Das Bastardzeichen). Die in der Einladung geschilderte soziale Wirklichkeit hat dagegen die höchste Stufe des Totalitären erreicht, sodass eine exakt formulierte ideologische Grundlage nicht mehr brauchbar ist. Die einzige Idee, auf der diese eigenartige Gesellschaftsordnung beruht, heißt: verabsolutiertes, ad absurdum geführtes Beisammensein, das bis an die völlige, beinahe wortwörtliche Einheit grenzt. Auch solche satirischen Nuancen wie beispielsweise die Titel der zwei wichtigsten Zeitschriften des dystopischen Staates – »das Lokalblatt Guten Morgen Leute und die ernstere Stimme der Öffentlichkeit«908 – weisen auf den gemeinschaftlichen, kollektivistischen Charakter der von Nabokov kreierten Welt hin. Mit Ausnahme von 907 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 31. 908 Ebd., S. 24.
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Cincinnatus existiert keine andere Figur im Text für sich allein, sondern einzig als Teil eines gewissen Systems, das gerade durch diese unpersönlichen PseudoIndividuen zustande kommen und weiter existieren kann. Wahre Menschen, d. h. authentische Personen, die autonom und intransparent sind, werden hingegen als Bedrohung betrachtet (was sich letzten Endes bestätigt, denn die endgültige Enthauptung ruft nicht nur die Befreiung des Protagonisten, sondern auch das Zerfallen der ganzen Scheinwirklichkeit hervor909). Darum ist Boyds Bezeichnung des Romans als »eine dystopische Fabel, in der die individuelle Phantasie einer Welt gegenübergestellt wird, die sie leugnet«910, so exakt. Cincinnatus sei nur wegen seiner Andersheit gefährlich, völlig abgesehen davon, worin seine Andersheit wurzelt. Die strafwürdige und schließlich mit der titelgebenden Enthauptung bestrafte Undurchsichtigkeit der Hauptfigur ist eine möglichst anschauliche Visualisierung des Andersseins per se. Die allgemeine Transparenz sollte hier, anders als z. B. bei Orwell, nicht als Gegensatz zum Privatleben, sondern eher ontologisch verstanden werden. Cincinnatus ist ein undurchsichtiges Menschenwesen inmitten von durchsichtigen Menschenpuppen, wohingegen er für seinen Schöpfer bzw. Autor völlig transparent bleibt.911 Was aber oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass sowohl er als auch seine Umgebung keinen Einfluss auf ihren ontologischen Status hatten (wenigstens wird im Text darüber nichts gesagt). Es geht also um keinen ›guten‹ Rebellen, der von ›bösen‹ Mitläufern umgeben ist. Der entstandene Konflikt, sofern man hier überhaupt von einem Konflikt sprechen darf, ist weder politisch noch sozial, sondern rein existentiell (obschon ohne jeglichen philosophischen Bezug zum französischen Existenzialismus). Solange alle Bürger transparent sind, funktioniert das System einwandfrei. Probleme tauchen erst auf, wenn diese Regel durch eine plötzliche, unvorhergesehene Ausnahme gefährdet wird. Das bloße Dasein von Cincinnatus darf weder toleriert noch ignoriert werden. Der Protagonist wird einzig dafür, was er ist, zum Tode auf dem Schafott verurteilt. Auf diese Art und Weise, d. h. durch ein höchst brutales, erbarmungsloses Verhältnis zum Anderen bzw. Fremden, zeigt das scheinbar fürsorgliche totalitäre System (das hier eng mit dem utilitären System verbunden ist) sein wahres, bestialisches Gesicht. Die Lage, bei der alle gleich sind, hat auch ihre Kehrseite, nämlich, dass unter diesen Umständen kein Mensch das Recht auf Anderssein hat. Eventuelle Ausschweifungen werden unverzüglich aufgefunden und schonungslos ausgerottet. Dagegen lässt sich an der Figur von Josef K. nichts finden, was ihn als eine auffällige Persönlichkeit behandeln ließe. Er ist zweifellos gebildet, intelligent 909 Vgl. ebd., S. 253. 910 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre, S. 661. 911 Vgl. Davydov, Sergej: Teksty-Matreski Vladimira Nabokova. München: Verlag Otto Sagner 1982, S. 125–126.
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und anständig, hat einen guten Ruf in seiner Umgebung, was unter anderem durch die Worte von Frau Grubach, bei der Josef sein Zimmer mietet, bestätigt wird: »Frau Grubach war sehr freundlich und wollte keine Entschuldigung hören, für ihn sei sie immer zu sprechen, er wisse sehr gut, daß er ihr bester und liebster Mieter sei.«912 Darüber hinaus versucht sie, ihn auf eine ziemlich ungewöhnliche Weise zu beruhigen: […] vor allem dürfen Sie es nicht zu schwer nehmen. Was geschieht nicht alles in der Welt! Da Sie so vertraulich mit mir reden, Herr K., kann ich Ihnen ja eingestehen, daß ich ein wenig hinter der Tür gehorcht habe und daß mir auch die beiden Wächter einiges erzählt haben. […] Nun, ich habe also einiges gehört, aber ich kann nicht sagen, daß es etwas besonders Schlimmes war. Nein. Sie sind zwar verhaftet, aber nicht so wie ein Dieb verhaftet wird. Wenn man wie ein Dieb verhaftet wird, so ist es schlimm, aber diese Verhaftung –. Es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, entschuldigen Sie, wenn ich etwas Dummes sage, es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, das ich zwar nicht verstehe, das man aber auch nicht verstehen muß.913
Es sieht danach aus, als wenn alle anderen Romangestalten außer der Hauptfigur die seltsamen, unerklärlichen Geschehnisse ohne besondere Verwunderung, jedenfalls ohne Widerstand hinnehmen. Zwei fremde Männer betreten das Zimmer von Josef K., um ihm mitzuteilen, er sei (grundlos) verhaftet, was aber keinen Einfluss auf seinen privaten wie beruflichen Alltag haben sollte. Wie reagiert darauf seine Vermieterin? Sie sieht darin »etwas Gelehrtes«, obschon Unverständliches, allerdings – fügt sie plötzlich hinzu – muss man solche Sachen »auch nicht verstehen« (ein weiterer verschleierter Hinweis darauf, wie Kafkas Texte gelesen werden sollten). Die Gesprächsspannung steigt, als Josef sich von der Frau schon verabschieden möchte: »[…] Nun, es ist vorüber und ich wollte eigentlich auch gar nicht mehr darüber sprechen, nur Ihr Urteil, das Urteil einer vernünftigen Frau, wollte ich hören und bin sehr froh, daß wir darin übereinstimmen. Nun müssen Sie mir aber die Hand reichen, eine solche Übereinstimmung muß durch Handschlag bekräftigt werden.« Ob sie mir die Hand reichen wird? Der Aufseher hat mir die Hand nicht gereicht, dachte er und sah die Frau anders als früher, prüfend an. Sie stand auf, weil auch er aufgestanden war, sie war ein wenig befangen, weil ihr nicht alles, was K. gesagt hatte, verständlich gewesen war. Infolge dieser Befangenheit sagte sie aber etwas, was sie gar nicht wollte und was auch gar nicht am Platze war: »Nehmen Sie es doch nicht so schwer, Herr K.«, sagte sie, hatte Tränen in der Stimme und vergaß natürlich auch den Handschlag.914
912 Kafka, Franz: Der Prozess, S. 330. 913 Ebd., S. 330–331. 914 Ebd., S. 332.
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Dass Josef K. auf Frau Grubachs ›Urteil‹ (eine kaum zufällige Bezeichnung) Wert legt, zeugt wiederum davon, der Protagonist habe bewusst oder unbewusst die Spielregeln der ihn verfolgenden Gerichtsinstanz übernommen. So schleicht der Prozess in Josefs Leben langsam hinein, um bald keinen freien Platz darin zu lassen. Daraus folgen die unaufhörlichen Zweifelzustände, die von nun an die Hauptfigur stets begleiten werden. Zuerst hatte man den Eindruck, die Meinung des Aufsehers sei für Josef völlig unwichtig, denn er behandle das ganze Verfahren als eine Farce. Nun macht sich der Protagonist Gedanken, ob Frau Grubach ihm die Hand reichen wird, und erinnert sich daran, dass der Aufseher ihm den Handschlag verweigerte. Dass Frau Grubachs Haltung ihm jedoch unangenehm vorkam, beweist sein erster Gedanke nach dem Gespräch: Als er im Fenster lag und die müden Augen drückte, dachte er einen Augenblick sogar daran, Frau Grubach zu bestrafen und Fräulein Bürstner zu überreden, gemeinsam mit ihm zu kündigen. Sofort aber erschien ihm das entsetzlich übertrieben, und er hatte sogar den Verdacht gegen sich, daß er darauf ausging, die Wohnung wegen der Vorfälle am Morgen zu wechseln. Nichts wäre unsinniger und vor allem zweckloser und verächtlicher gewesen.915
Nach dem »Urteil« ist nun der »Verdacht« ein weiterer dem Gerichtswesen entnommener Begriff, der in Josefs Gedankengang auftaucht. Ohne dies zu bemerken, beginnt er, sich selbst und sein Leben mittels juristischer Terminologie zu erfassen. Obwohl das Wort »Verdacht« vom Erzähler benutzt wird, heißt es trotzdem, der Protagonist habe einen Verdacht »gegen sich«. Bald danach meldet sich das seltsame Gericht bei Josef zum zweiten Mal und verständigt ihn per Telefon, »daß am nächsten Sonntag eine kleine Untersuchung in seiner Angelegenheit stattfinden würde.«916 Die Wahl des Tages wird zwar damit begründet, dass man den Angeklagten in seiner beruflichen Arbeit nicht stören möchte.917 Man dürfte aber den Verdacht hegen, diese Entscheidung verfüge auch über eine religiöse bzw. metaphysische Dimension. Dafür spricht das vorletzte Kapitel Im Dom, wo der Protagonist ein langes, in vielerlei Hinsicht signifikantes Gespräch mit einem Priester führt, den er früher nie gesehen hat, der aber nicht nur Josefs Namen kennt, sondern überdies ins Geheimnis des Prozesses einigermaßen eingeweiht zu sein scheint. Eben der Priester erzählt dem Protagonisten das Gleichnis von dem »Mann vom Lande«, der vor dem offenen Tor des Gesetzes steht, sich jedoch weigert, das Gesetz zu betreten, weil der Eingang durch einen Türhüter bewacht wird. Die Geschichte ist allzu gut bekannt und von sämtlichen Kafka-Interpreten ins Unendliche kommentiert, um ihren Verlauf hier aufs Neue zusammenzufassen bzw. einen weiteren Deutungsversuch darzubieten. Hierin 915 Ebd., S. 334. 916 Ebd., S. 341. 917 Ebd.
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kann ich Klaus Hermsdorf nur zustimmen: »Über die Genesis der Figuren und Interieurs, der Metaphern und Motive Kafkascher Texte hat die Forschung eine inzwischen fast unermeßliche Menge von teils sinnerhellendem, teils sinnverwirrendem Material gesammelt.«918 Bemerkenswert ist allerdings, dass diese Parabel in einem beinahe vollkommenen Einklang mit dem Gespräch zwischen Josef K. und dem Geistlichen steht. In beiden Fällen hat man sozusagen mit einer ›gestörten Kommunikation‹, zu tun. Genauso wie der Mann vom Lande vom Türhüter die erwünschte Information kaum bekommt, kann Josef weder die Allegorien des Priesters noch seine eigentlichen Intentionen begreifen. Dabei liegt es dem Geistlichen keinesfalls daran, den Protagonisten mit Rätselaussagen zu foltern. Als der Priester Josef plötzlich anschreit uns ausruft: »Siehst du denn nicht zwei Schritte weit?«, fügt der Erzähler hinzu: »Es war im Zorn geschrien, aber gleichzeitig wie von einem, der jemanden fallen sieht und weil er selbst erschrocken ist, unvorsichtig, ohne Willen schreit.«919 Der Geistliche, obwohl ein Gerichtskaplan, ist somit die einzige Figur im Text, von der behauptet oder wenigstens vermutet wird, sie könnte vielleicht an Josefs Rettung aufrichtig interessiert sein. Vom Protagonisten wird dies jedoch schließlich missachtet, sodass die Dom-Passage mit den geheimnisvollen Worten des Priesters endet: »Das Gericht will nichts von Dir. Es nimmt Dich auf wenn du kommst und es entläßt Dich wenn du gehst.«920 Im Kommentar zu Die Verwandlung sagt Nabokov: »Die Schönheit von Kafkas […] persönlichen Alpträumen liegt darin, daß ihre Hauptpersonen derselben phantastischen Welt angehören wie die unmenschlichen Gestalten um sie herum, nur daß die Hauptpersonen hinauszugelangen trachten, […] über den […] Panzer hinauswachsen wollen.«921 Man darf allerdings daran stark zweifeln, ob und inwiefern die Hauptfigur von Der Prozess zu solchen Personen gezählt werden kann. Der bedeutende Unterschied zu Cincinnatus besteht auch darin, dass Kafkas Protagonist grundsätzlich an die Möglichkeit glaubt, irgendwann endlich eine Antwort auf seine Fragen zu bekommen, während Nabokovs Hauptfigur ganz genau weiß, es gebe um sie herum keine Mitmenschen, sondern nur Menschenparodien, leb- und seelenlose Automaten bzw. dämonische Akteure, deren Aufgabe es ist, sie unerbittlich zu quälen. Erst am Ende des Romans scheint Josef K. jegliche Hoffnung verloren zu haben und tendiert dazu, den Prozess (und somit sein eigenes Schicksal) als ein grausig-auswegloses Schauspiel zu betrachten, dies aber eher aus Verzweiflung als infolge irgendeiner metaphysischen Erkenntnis. Den zwei Herren, die »am Vorabend seines einunddreißigsten 918 Hermsdorf, Klaus: Land und Stadt. Soziotopographische Aspekte in Franz Kafkas ›Vor dem Gesetz‹. In: Bogdal, Klaus-Michael (Hg.): Neue Literaturtheorien in der Praxis, S. 85. 919 Kafka, Franz: Der Prozeß. Stuttgart: Reclam 1995, S. 195. 920 Ebd., S. 205. 921 Kafka, Franz: Die Verwandlung. Mit einem Kommentar von Vladimir Nabokov, S. 81.
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Geburtstages«922 in seine Wohnung kommen, sagt er: »Alte untergeordnete Schauspieler schickt man um mich […]. Man sucht auf billige Weise mit mir fertig zu werden. […] An welchem Theater spielen sie?«923 Im sechsten Kapitel von Einladung zur Enthauptung steht es: »Gerade in diesem Augenblick brachte Rodion auf einem Tablett wie in einem Theaterstück einen fliederfarbenen Brief.«924 Im zehnten Kapitel sagt Cincinnatus zu M’sieur Pierre: »Ihre Verteidigung ist jedenfalls schlau […] aber ich verstehe mich auf Puppen. Ich gebe nicht nach.«925 An seine Mutter wendet er sich bei einem Besuchstermin mit folgenden Worten: Warum sind Sie gekommen? […] Es nützt Ihnen nichts und mir nichts. Warum? Es ist weder freundlich noch interessant. Denn ich sehe sehr wohl, daß Sie ebenso eine Parodie sind wie alle und alles. Und wenn sie mir eine so schlaue Parodie einer Mutter vorsetzen… Und warum ist Ihr Regenmantel naß, wenn doch die Schuhe trocken sind – schauen Sie, das ist Schlamperei. Richten Sie es dem Requisiteur nach.926
Diese Aussage zeigt deutlich, dass Cincinnatus keinerlei Zweifel an der vorgetäuschten Natur aller ihn umkreisenden Gestalten hat. Seine Mutter ist übrigens die einzige Figur im Roman, deren eigentliches Wesen in Wirklichkeit nicht so marionettenhaft und verfälscht ist, wie es dem Protagonisten scheint (darauf hat Nabokov selbst in einem Interview hingewiesen927). Dies versucht sie ihrem Sohn zu erklären, als sie über seinen Vater spricht: »Ach, Cincinnatus, er war auch… […] Er war wie Sie, Cinncinnatus…«928 – womit sie natürlich sagen möchte, auch der Vater von Cincinnatus – ein unbekannter Vagabund929 – war intransparent bzw. undurchsichtig. Bemerkenswerterweise erfährt man auch von Josef K. nur, dass er eine Mutter hat und kurz vor seinem einunddreißigsten Geburtstag plötzlich den Wunsch empfindet, sie zu besuchen. Die Vaterfigur spielt im Roman dagegen – für Kafkas Texte eher untypisch – überhaupt keine Rolle, denn Josefs Vater ist zum Beginn der Erzählung bereits tot. Es gibt in Nabokovs Roman allerdings noch eine Szene, die dem Prozess erstaunlich ähnelt und für den Vergleich mit Kafka sehr bedeutsam ist. Als Cincinnatus seinen Anwalt Roman Wissarionowitsch fragt: »Aus welchem Grund weigert man sich, mir den genauen Hinrichtungstermin mitzuteilen?«930, schlägt dieser vor, das Thema zu wechseln und gibt dem Verhafteten einen Spezialum922 923 924 925 926 927 928 929 930
Ebd., S. 206. Ebd. Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 74. Ebd., S. 125. Ebd., S. 145–146. Vgl. Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte, S. 124. Nabokovw, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 147. Vgl. ebd., S. 24. Ebd., S. 39.
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schlag mit den niedergeschriebenen Reden, »die während der Verhandlung gehalten wurden.«931 Als dem Protagonisten klar wird, dass er die Antwort auf seine Frage niemals bekommt, verliert er die Geduld: »Nun gut, geben Sie ihn her«, sagte Cincinnatus und zerriß den dicken, prallen Umschlag in krumme Fetzen. »Das hätten Sie nicht tun dürfen«, rief der Anwalt am Rand der Tränen. »Das hätten Sie auf keinen Fall tun dürfen. Sie haben gar keine Ahnung, was Sie angerichtet haben. Vielleicht war eine Begnadigung drin. Noch eine wird bestimmt nicht zu bekommen sein!« Cincinnatus hob eine Handvoll Fetzen auf und versuchte, wenigstens einen zusammenhängenden Satz zu rekonstruieren, aber alles war durcheinander […]. »So machen Sie das immer«, wimmerte der Anwalt […]. Vielleicht hielten Sie Ihre Rettung in den Händen, und Sie… Es ist schrecklich! […] Und ich war so froh! Ich war dabei, Sie so behutsam vorzubereiten!«932
Das sadistische, jegliche Hoffnung raubende Spiel, das vom Anwalt mit dem (Schein)Verteidigten getrieben wird, wird somit gegen Cincinnatus umgewandt. Schließlich sieht es so aus, als ob er selbst durch seine eigene Arroganz die eventuelle Begnadigungsmöglichkeit versäumte. Am Ende eines nachgelassenen Prozess-Kapitels unter dem Titel Fahrt zur Mutter findet man eine Passage, wo Josef K. sich beinahe identisch gegenüber dem Bankbeamten Kullych verhält, der ihm einen Brief übergeben möchte: Er war schon auf der Treppe, da erschien oben im letzten Augenblicke noch der Beamte Kullych, in der Hand einen angefangenen Brief, zu dem er offenbar von K. eine Weisung erbitten wollte. K. winkte ihm zwar mit der Hand ab, aber begriffsstützig, wie dieser blonde großköpfige Mensch war, mißverstand er das Zeichen und raste das Papier schwenkend in lebensgefährlichen Sprüngen hinter K. her. Dieser war darüber so erbittert, daß er, als ihn Kullych auf der Freitreppe einholte, den Brief ihm aus der Hand nahm und zerriß.933
Interessanterweise gibt der Erzähler keinen Kommentar bezüglich des vermutlichen Briefinhalts. Dies ist auch verständlich, denn der Protagonist lässt eine solche Möglichkeit völlig außer Acht. Im Gegenteil ist er glücklich, dass es ihm gelungen ist, seine soziale Stellung so eindeutig und skrupellos zu markieren: »Vielleicht war es ein gutes Zeichen, daß er sich […] davon überzeugt hatte, daß er noch immer einem Beamten, der sogar mit dem Gericht Verbindungen hatte, einen Brief wegnehmen und ohne jede Entschuldigung zerreißen durfte.«934 Man könnte daher nicht ausschließen, dass es auch in Josefs Fall um irgendeine für 931 932 933 934
Ebd., S. 40. Ebd., S. 40–41. Kafka, Franz: Der Prozeß, S. 242. Ebd., S. 242–243.
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seinen Prozess relevante Information ging. Ein derartiger Wendepunkt wäre eher in Kafkas Erzählwelt als bei Nabokov zu erwarten. Cincinnatus C. ist nämlich, ein unschuldiges Menschenwesen unter seelenlosen Alptraumgestalten, was sich über Josef K. und seine Situation nicht behaupten lässt. Deshalb ist Nabokovs Protagonist, anders als die Hauptfigur des Prozesses, zu Schlüsselerkenntnissen fähig: Ich hatte letzte Nacht ein seltsames Gefühl – und es nicht zum ersten Mal –: Ich nehme Schicht auf Schicht ab, bis schließlich… Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber ich weiß dies: In diesem Prozeß allmählicher Entkleidung erreiche ich den letzten, unteilbaren, festen, strahlenden Punkt, und dieser Punkt sagt: Ich bin! wie im blutgierigen Fett eines Hais eingeschlossener Perlenring – O meine ewige, ewige… Und dieser Punkt genügt mir – nichts anderes ist mehr vonnöten.935
Josef K. gelangt nicht zu diesem Punkt, ist daran gar nicht interessiert. Er lebt in unberührter Überzeugung, sich selbst zu kennen. Dasjenige Wissen über das eigene Ich, das er besitzt, betrifft jedoch nur die äußere, wenig bedeutende, ja illusorische Seite des menschlichen Lebens, die sich aus sozialem Status, beruflicher Laufbahn und öffentlicher Meinung zusammensetzt. Der Innenraum bleibt dabei unerforscht, was gleichzeitig bedeutet, dass der Mensch kaum imstande ist, unabhängige, selbständige Entscheidungen zu treffen. Gerade dies versucht der Priester dem Protagonisten klarzumachen, als der Letztere bereits im Begriff ist, aus der leeren Kirche hinauszutreten: Fast hatte er schon das Gebiet der Bänke verlassen und näherte sich dem freien Raum, der zwischen ihnen und dem Ausgang lag, als er zum ersten Mal die Stimme des Geistlichen hörte. Eine mächtige geübte Stimme. Wie durchdrang sie den zu ihrer Aufnahme bereiten Dom! Es war aber nicht die Gemeinde, die der Geistliche anrief, es war ganz eindeutig und es gab keine Ausflüchte, er rief: »Josef K.!«936
Diese Passage zeigt nochmals, wie fließend im Roman die Grenzen zwischen dem personalen und dem auktorialen Erzählen sind. Einerseits wird das ganze Geschehen zweifelsohne aus Josefs Perspektive geschildert. Andererseits gibt es im narrativen Gewebe des Textes hier und da beinahe unmerkliche Nuancen, die das bloße individuelle Empfinden des Protagonisten zu transzendieren scheinen. So ist es durchaus fraglich, ob die Hauptfigur tatsächlich daran denkt, dass eben sie und »nicht die Gemeinde« angerufen wird. Vielmehr akzentuiert dadurch der Erzähler dasjenige persönliche Ausmaß des Prozesses, das der Betroffene nicht wahrnehmen kann bzw. will. Der Prozess richtet sich an ihn nicht als an einen Schuldigen oder Verbrecher, sondern als an den konkreten Josef K.:
935 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 98. 936 Kafka, Franz: Der Prozeß, S. 193.
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»Du bist Josef K.«, sagte der Geistliche und erhob eine Hand auf der Brüstung in einer unbestimmten Bewegung. »Ja«, sagte K., er dachte daran wie offen er früher immer seinen Namen genannt hatte, seit einiger Zeit war er ihm eine Last, auch kannten jetzt seinen Namen Leute, mit denen er zum ersten Mal zusammenkam, wie schön war es sich zuerst vorzustellen und dann erst gekannt zu werden. »Du bist angeklagt«, sagte der Geistliche besonders leise. »Dann bist du der, den ich suche«, sagte der Geistliche, »um mit Dir zu sprechen. […] ich fürchte es wird schlecht enden. Man hält Dich für schuldig. […] Man hält wenigstens vorläufig Deine Schuld für erwiesen.« »Ich bin aber nicht schuldig«, sagte K. »Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein? Wir sind hier alle doch Menschen, einer wie der andere.« »Das ist richtig«, sagte der Geistliche, »aber so pflegen die Schuldigen zu reden.«937
Der eigene Name wird Josef eine »Last«, denn plötzlich sieht es danach aus, als hätte jemand Anderer über ihn mehr gewusst als er selbst. Er muss sich dem Geistlichen nicht vorstellen, sondern dieser ruft ihn plötzlich beim Namen, als wäre der Geistliche Gott, Josef dagegen der bei der Erbsünde ertappte Adam. Auch der weitere Gesprächsverlauf weist deutlich darauf hin, dass dem Protagonisten der Kern der Sache entgeht. Sehr bemerkenswert ist z. B. seine Reaktion auf die Worte des Priesters, man halte ihn für schuldig. Seltsamerweise fragt Josef nicht, worin denn seine Schuld besteht, sondern entgegnet gleich, er sei doch unschuldig. Im nächsten Satz entwickelt er konsequent seinen Gedankengang und fragt, wie »ein Mensch überhaupt schuldig sein« könne, um gleich danach das eigene Ich durch die Wir-Kategorie zu ersetzen: »Wir sind hier alle doch Menschen.« Darauf antwortet der Geistliche, gerade auf diese Weise »pflegen die Schuldigen zu reden.« Anders gesagt: Die Schuldigen betrachten sich selbst nicht individuell, sondern als eine Masse bzw. Gruppe, wollen das Persönliche an ihrem Prozess nicht (an)erkennen. Man könnte einen Schritt weiter gehen und vermuten, gerade darin bestehe die eigentliche, ursprüngliche Schuld, zumal das Ende des Romans für diese Schlussfolgerung spricht. Im letzten Kapitel wird Josef K. von zwei Männern »in Gehröcken, bleich und fett, mit scheinbar unverrückbaren Cylinderhüten«938 aus seinem Zimmer weggeführt, um dann an einem abgelegenen Steinbruch ermordet bzw. hingerichtet zu werden. Die Erwähnung der Zylinderhüte korreliert unübersehbar mit dem Ende des ersten Kapitels von Einladung zur Enthauptung, wo Cincinnatus über die Form seiner Hinrichtung in pathetisch-feierlichem Ton in Kenntnis gesetzt wird: »›Mit freundlichem Einverständnis des Publikums werden Sie den roten Zylinder aufzusetzen haben‹ – eine Floskel, die die Gerichte entwickelt hatten und deren wahren Sinn jeder Schuljunge kannte.«939 Dagegen unterscheiden sich die Finalsequenzen beider Texte voneinander radikal. Die letzten zwei Sätze von 937 Ebd., S. 193–194. 938 Ebd., S. 206. 939 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 23.
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Einladung zum Prozess – Vladimir Nabokov und Franz Kafka
Kafkas Roman lauten nämlich: »Mit brechenden Augen sah noch K. wie nahe vor seinem Gesicht die Herren Wange an Wange aneinandergelehnt die Entscheidung beobachten. ›Wie ein Hund!‹ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.«940 Im religiösen Weltbild wird dasjenige im Menschen, das den Tod seines physischen Körpers überlebt, als die Seele bzw. der Geist bezeichnet. Bei Kafka ist es aber die Scham, die nach der Hinrichtung des Protagonisten ihre eigene, vom Individuum abgetrennte Existenz zu treiben scheint. Dadurch wird nochmals unterstrichen, wie stark Josefs Selbst- und Lebensempfindung sowie sein ganzes Handeln von der Meinung und Bewertung der Anderen abhängig ist. Sein Sterben ist, so gesehen, kein metaphysischer, sondern vielmehr ein sozialer Akt, was nicht weniger erschreckend wirkt als die Ermordung an sich. Denn Josef K. stirbt, ohne sich selbst erkannt zu haben. Die Enthauptung von Cincinnatus C. bildet ein Gegenteil dazu. Auf den letzten Romanseiten heißt es nämlich: »Allein, allein«, sagte Cincinnatus und legte sich mit dem Gesicht nach unten, wie es ihm gezeigt worden war […]. […] und mit einer Klarheit, die er noch nie empfunden hatte – zunächst fast schmerzlich, so plötzlich überkam sie ihn, dann ihn mit Freude erfüllend –, dachte er: Warum bin ich hier? Warum liege ich so da? Und da er sich diese einfachen Fragen gestellt hatte, beantwortete er sie sich, indem er aufstand und sich umblickte. […] Wenig war übrig von dem Platz. […] Alles löste sich auf. Alles fiel. Ein Wirbelwind packte und ließ kreiseln: Staub, Lumpen, Splitter aus bemaltem Holz, Stücke vergoldeten Stucks, Pappziegel, Anschläge; eine schale Düsternis griff schnell um sich; und inmitten des Staubes, inmitten der fallenden Dinge, inmitten der schwankenden Kulissen schritt Cincinnatus in jene Richtung, wo, nach den Stimmen zu urteilen, ihm verwandte Wesen standen.941
Der Tod von Cincinnatus ist somit ein Erwachen in neues, diesmal wahres Leben; der befreiende, endgültige Einbruch in jene Welt, deren Wirklichkeit er vorher nur geahnt bzw. ersehnt hatte. Wie Stephen Parker treffend schlussfolgert: »As the text evolves, moving him nearer and nearer to his execution, Cincinnatus moves closer and closer to his liberation.«942 Dieses befreiende Erwachen geht logischerweise mit dem Zerfallen seiner früheren, vorgetäuschten Realität einher. Die Dekorationen des Alptraums lösen sich auf, und der Protagonist verlässt die ihn unterdrückende ›Gefängniswelt‹, um sich in eine andere Richtung zu bewegen – diejenige, wo »ihm verwandte Wesen« auf Cincinnatus warten. Dieser plötzliche Hinweis auf irgendeine Gemeinschaft, mit der die Hauptfigur geistig verbunden sei, ist für Nabokovs Werk äußerst untypisch, ja gerade einmalig (und desto beachtlicher, als dass eben mit Einladung zur Enthauptung die lange Phase
940 Kafka, Franz: Der Proceß, S. 211. 941 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 253. 942 Parker, Stephen Jan: Understanding Nabokov, S. 54.
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seines russischsprachigen Schreibens zu Ende kam). Die Einsamkeit von Cincinnatus war also freilich durch die illusorische Natur seiner Umgebung bedingt. Er war nämlich der einzige Mensch unter geistlosen Scheinmenschen; das einsame Ich, umkreist von ›ichlosen‹ Phantomen. Auf einer höheren Stufe des Seins, wo die materielle Enge des existentiellen Zeitraumes überwunden wird, gibt es jedoch auch andere, ihm verwandte Wesen, über die im Roman aber nichts weiter gesagt wird. Das Finale von Nabokovs letztem russischsprachigem Buch erinnert einigermaßen an das Ende von Lew Tolstois Der Tod des Iwan Iljitsch, dessen Titelfigur sich, im Sterbebett liegend, fragt: »Und der Tod? Wo ist der Tod?« Und er suchte seine frühere Todesangst und fand sie nicht. »Wo ist sie? Wo ist der Tod?« Die Angst war nicht mehr da, weil auch der Tod nicht mehr da war. An Stelle des Todes war ein Licht da. »Das ist es also!« sagte er laut. »Welche Freude!« Für ihn vollzog sich das alles in einem Augenblick. […] »Es ist zu Ende«, sagte jemand über ihm. Er hörte diese Worte und wiederholte sie in seiner Seele. »Der Tod ist zu Ende«, sagte er sich, »er ist nicht mehr.« Er schöpfte Luft, blieb mitten im Atemzug stecken, streckte sich aus und starb.943
Auch bei Tolstoi erweist sich das irdische Leben als der eigentliche (geistige) Tod, das Sterben ähnelt dagegen einem Erwachungsprozess, dessen Endetappe, d. h. der physische Tod, die menschliche Persönlichkeit mit definitiver Befreiung und einer früher ungekannten Freude beschert. Nabokov macht allerdings einen weiteren, ziemlich wagemutigen Schritt, indem er auf die hinter dem Todesvorhang herrschende Wirklichkeit vorsichtig hinweist. In Kafkas Erzählwelt fehlt die jenseitige Dimension von Josefs Tod ganz und gar, obschon der Prozess an sich durchaus metaphysisch ›ausgestattet‹ wird. Warum nimmt also das Leben von Josef K. ein so grausiges Ende ohne jede Hoffnung auf eine geistige Kontinuität post mortem? Wieso betrachtet sich Kafkas Protagonist, den Ratschlägen des Geistlichen zuwider, eher in sozialen als in persönlichen Kategorien? Aus welchem Grund sieht es im Fall von Cincinnatus C. deutlich anders aus? Und schließlich: Was entscheidet darüber, dass der eine Protagonist brutal ermordet wird, sodass einzig seine Scham ihn überlebt, während der andere Freude, Freiheit und letztendliche Selbsterfüllung findet? Im Weiteren wird diesen Fragen aus einer philosophisch-theologischen Perspektive nachgegangen.
943 Tolstoi, Lew N.: Der Tod des Iwan Iljitsch. In: Tolstoi, Lew N.: Die großen Erzählungen. Erste Auflage. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1975, S. 81–82.
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Einladung zum Prozess – Vladimir Nabokov und Franz Kafka
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Individuum und Persona – Das erzählte Ich bei Nabokov und Kafka
Am achten Tag seiner Gefangenschaft macht Cincinnatus C. einige Notizen, die hinsichtlich der Selbst- und Welterkenntnis von besonderer Bedeutung sind: Heute ist der achte Tag [schrieb Cincinnatus mit dem Bleistift, der mehr als ein Drittel seiner Länge eingebüßt hatte] und nicht nur lebe ich noch, das heißt, die Sphäre meines Ichs begrenzt und verschattet immer noch mein Wesen, sondern wie jeder andere Sterbliche kenne ich meine Todesstunde nicht und kann auf mich eine Formel anwenden, die für jedermann gilt: Die Wahrscheinlichkeit einer Zukunft nimmt im umgekehrten Verhältnis zu ihrer theoretischen Ferne ab.944
Der Protagonist legt hier ein sehr wichtiges philosophisches Geständnis ab, indem er nicht nur seiner persönlichen Todesangst Ausdruckt gibt, sondern auch das Leben auf eine äußerst signifikante Weise definiert, nämlich als Begrenzung und Verschattung des menschlichen Wesens durch das Ich. Daraus folgt, dieses Wesen sei mit der Ich-Kategorie nicht gleichzusetzen. Mehr noch: Das Ich bildet eine Art ›Störfaktor‹, der das eigentliche Wesen des Protagonisten begrenzt bzw. verdunkelt und somit dessen Erkenntnis zwar nicht völlig verhindert, aber merklich erschwert. Was in diesem Kontext das Wort ›Ich‹ bedeutet, ist weniger kompliziert als das rätselhafte ›Wesen‹. Zu der Ich-Sphäre gehören vor allem die sozialen Rollen, die dem Menschen zugeschrieben bzw. von ihm gewählt werden, Nationalität bzw. Staatsangehörigkeit, Geschlecht bzw. Gender, sämtliche Meinungen und Überzeugungen, die zum intellektuellen Kapital einer Persönlichkeit gehören, usw. Kurzum: Unter der Ich-Kategorie könnte all dies, womit man sich identifiziert, verstanden werden. Diese Kategorie ist insbesondere in der abendländischen Kultur und Gesellschaft eine der grundlegendsten anthropologischen Konstanten, ohne die der Mensch-Diskurs als solcher kaum denkbar wäre. Dagegen wird in der fernöstlichen Philosophie, vor allem im Buddhismus, das Ich vielmehr als pures Denkkonstrukt – und somit eine Illusion – betrachtet. Es sei lediglich ein ›Schleier‹, der das wahre Wesen des Menschen umhüllt und verbirgt. Sogar Buddha, um es mit dem südkoreanisch-deutschen Philosophen und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han festzustellen, »repräsentiert nichts. Er verkörpert nicht die unendliche Substanz in einer individuellen Vereinzelung.«945 Es ist auch sehr charakteristisch, dass selbst Fichte, dessen Ich-Konzept dem buddhistischen am nächsten zu stehen scheint (wenn man es mit denen
944 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 97. 945 Han, Byung-Chul: Philosophie des Zen-Buddhismus. Ditzingen: Reclam 2017, S. 13.
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anderer europäischer Philosophen vergleicht)946, von Han nur als ein weiterer »ichbesessener« Autor betrachtet wird: Fichtes Seele ist monadisch verfaßt. Der appetitus, das »Streben« ist ihr Wesenszug. Das Streben geht darauf aus, die Welt ichhaft zu machen, sie dem Ich anzugleichen, das Nicht-Ich durchs Ich zu bestimmen. Alles, was nicht Ich ist, ist nichts anderes als das Material, an dem das Ich Kraft und Freiheit übt. Die Welt soll meine Welt werden.947
Man könnte somit den Eindruck bekommen, die von Cincinnatus formulierte Lebensdefinition stehe in Einklang mit der buddhistischen Hauptidee der »IchLosigkeit«. Es gibt sogar Forschungen zu Nabokov, die grundsätzlich darauf beruhen, den philosophischen Fundus seiner Erzählwelt mit der klassischen Terminologie impersonaler fernöstlicher Lehren zu untermauern. So tendiert Nora Scholz in ihrem Buch »… essence has been revealed to me«. Umkreisungen des Nondualen im Prosawerk von Vladimir Nabokov eindeutig dazu, Nabokovs Gesamtwerk stark ausgeprägte buddhistische Anschauungen zu verleihen. Zentral seien für Nabokov, so Scholz, »das Phänomen der Ich-Losigkeit« und die damit verbundene »Auflösung von linearen Raum- und Zeitstrukturen«.948 Der Protagonist von Einladung zur Enthauptung ist für die Autorin konsequenterweise in erster Linie dadurch bedeutend, dass er »die tatsächliche Kulissenhaftigkeit der ihn umgebenden Welt«949, wie wohl keine andere Hauptfigur in Nabokovs Romanen, erkennt. Die im Titel ihrer Arbeit angesprochene »Essenz« reduziert Scholz also auf »Auflösung des Ich-Bewusstseins, in welcher gleichwohl erkannt wird, dass das bislang angenommene Ich (die abgegrenzte Persönlichkeit) nicht ›Ich‹ sein kann, da das wahrnehmende Bewusstsein stets vorhanden bleibt und niemals weggeht.«950 Die »vermeintliche Person« sei daher nichts mehr als ein »Missverständnis«.951 Die Herkunft einer solchen Interpretation wird von der Autorin keineswegs verschwiegen: Sie gibt zu, ihre Nabokov-Deutung sei dem fernöstlichen Gedankengut verpflichtet. Diese Entscheidung wird von Scholz folgendermaßen begründet: Dass ich mich gerade für eine der indischen Philosophie entsprungene Komponente als Analysefolie entschieden habe, liegt […] daran, dass sich in der abendländischen Mystik, wohl auch aufgrund kultureller Bedingungen und ihrer frühen Verdrängung durch die ›Hochkirche‹ in den häretischen Untergrund […] kein oder jedenfalls kein
946 Vgl. Piatigorsky, Alexander (Пятигорский, Александр): Свободный философ Пятигорский. (Der freie Philosoph Alexander Piatigorsky). Sankt-Petersburg: Издательство Ивана Лимбаха 2015, S. 231. 947 Han, Byung-Chul: Philosophie des Zen-Buddhismus, S. 66. 948 Scholz, Nora: »…essence has been revealed to me.«, S. 28. 949 Ebd., S. 249. 950 Ebd., S. 81. 951 Vgl. ebd., S. 98.
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Einladung zum Prozess – Vladimir Nabokov und Franz Kafka
durchgängig passendes Begriffsinstrumentarium findet, während dies in der östlichen Philosophie gegeben ist […].952
Scholz setzt das Individuelle mit dem Personalen bzw. das Ich mit der Person gleich, was gerade im westlichen religionskritischen Diskurs häufig der Fall ist. Dagegen gibt es in der (alt)christlichen Theologie, besonders in ihrer orthodoxen Ausprägung, eine Sonderkategorie, nämlich die sogenannte Persona. So beschreibt z. B. Antoni, Metropolit von Sourozh (Bloom) (1914–2003) die Differenz zwischen Individuum und Persönlichkeit folgenderweise: In spirituellem Sinn zeigt sich das »Ich« zweierlei […]. Einerseits geht es um […] ein Individuum, andererseits handelt es sich um eine Persönlichkeit bzw. Person. Dieser terminologische Unterschied kann sowohl praktisch als auch theologisch begründet werden. Das Individuum ist, der Wortbedeutung gemäß, das letzte Limit einer Zerkleinerung. Wollen wir das Individuum beschreiben bzw. definieren, so können wir das nur in allgemeinen Menschenkategorien machen, allerdings je nach den Merkmalen, nach denen wir diese Menschen gruppieren. […] Um ein Individuum zu erkennen und von einem anderen Individuum zu unterscheiden, muss man die Kontrastmethode anwenden; manchmal ist es eine Gegenüberstellung, manchmal eine Analogie, jedoch das Differenzelement bleibt stets anwesend. […] Als Individuum […] bin ich insofern vorhanden, als ich mich von sämtlichen mich umkreisenden Individuen gravierend unterscheide.953
Das individuelle Ich sei hier also im Sinne einer bestimmten ›Trennungslinie‹ zu verstehen. Seine eigentliche Funktion ist nicht vereinend, sondern isolierend; nicht in-, sondern exklusiv. Dieses Verständnis des Individuums stimmt im Großen und Ganzen mit den gängigen sozio- bzw. kulturologischen Vorstellungen überein und hat keinen spezifisch religiösen Inhalt. Anders verhält es sich mit der Kategorie der Persona. Die Persönlichkeit bzw. Person ist allerdings etwas ganz Anderes: Dieser Terminus entspricht nicht unserer empirischen Menschenerkenntnis […]. Charakteristisch für
952 Ebd., S. 13. 953 Bloom, Anthony; Metropolit von Sourozh (Блюм, Антоний; митрополит Сурожский): Человек перед Богом (Der Mensch vor Gott). Moskau: Паломникъ 2000, S. 101–102. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »В плане духовной жизни ›я‹ представляется нам в двух аспектах […]. С одной стороны, это ›я‹ как […] индивидуум, а с другой – ›я‹ как личность, персона. Это терминологическое различение, обоснованное практически и богословски. Индивидуум, как указывает само слово, есть предел дробления […]. Когда мы хотим определить, описать индивидуума, мы можем это делать лишь в категориях, общих для всех людей, но людей, которых мы группируем по тем или иным признакам. […] И наконец, для того чтобы узнать, отличить одного индивидуума от другого, мы пользуемся методом контраста; иногда это противоположение, иногда – аналогия, но всегда присутствует элемент дифференциации […]. Как индивидуум […] я есмь постольку, поскольку я глубоко отличен от окружающих меня индивидуумов.«
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die Persönlichkeit ist, dass sie sich von einer anderen Persönlichkeit nicht kontrastiv, gegenüberstellend unterscheidet, sondern völlig einzigartig bleibt. Ein explizites Bild […] wird in der Johannes-Offenbarung gegeben, wo es heißt, dass im kommenden Gottesreich jedem Menschen ein weißer Stein gegeben wird, auf dem sein neuer Name steht, den keiner kennt außer dem Benannten (Offenbarung 2, 17) und Gott. Dieser Name […] steht in keiner Beziehung zu den herkömmlichen Vor- und Nachnamen bzw. Pseudonymen […]; er entspricht dem innersten Wesen der Person, der Name drückt die Person aus. Gemäß der traditionellen jüdischen Behauptung […], sind der Name und die Person miteinander identisch, wenn dieser Name von Gott ausgesprochen wird. Als Personen sind wir »unvergleichbar«, d. h. jenseits jedes Vergleichs, denn keine Person ähnelt einer anderen – im Sinne von denselben Kategorien. Es gibt somit ein einzigartiges Phänomen, das jeder von uns in seinem Bezug zu Gott bildet; so betrachtet, ist die Persönlichkeit ein unaussprechlicher Einzelfall […].954
Dieselben Gedanken findet man – in einer zugespitzten und sorgfältiger systematisierten Form – in den Texten des Archimandriten Sophroni Sacharow (1896–1993). Auch er bezeichnet die Persona-Erfahrung (»опыт персоны«) als ein sehr seltenes Phänomen, da man in der Regel nur die individuelle Ich-Erfahrung (»опыт индивидуальности«) hat, die Sacharow, ähnlich wie Antoni, als die allerletzte Spaltungsstufe bezeichnet.955 Die Persona bildet in Sacharows theologischen Überlegungen den Kernpunkt und wird von ihm als der dogmatische Kern des christlichen Weltbildes betrachtet: […] die gesamte Fülle Gottes besteht in der PERSONA […]. Das als Wesen verstandene Sein und die Persona sind eins. Diese Einheit des Absoluten Seins und der Absoluten Persona führt unverzüglich zur folgenden Erkenntnis: Wurden wir Menschen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, so sind wir demzufolge auch Personen. Allerdings sollte man uns in unserem temporären Dasein als noch nicht-aktualisierte Personen bezeichnen […]. Zu Personen werden wir erst dann, wenn diejenige Potenz, die von Gott
954 Ebd., S. 102–103. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »Личность, персона – нечто совершенно иное: этот термин не соответствует нашему эмпирическому познанию человека […]. Для личности характерно, что она не отличается от другой личности путем контраста, противоположения, самоутверждения – личность неповторима. Исчерпывающий образ […] дан в Откровении, где говорится, что в наступившем Царствии Божием каждому будет дан белый камень, и на камне написанное новое имя, которого никто не знает, кроме принявшего (Откр. 2, 17) и Бога. Это имя […] совершенно отлично от того, что мы называем именем собственным, фамилией и прозвищем […]; оно в совершенстве соответствует самому существу личности, это – личность, выраженная именем. Согласно еврейскому традиционному утверждению […], имя и личность тождественны, если это имя произносит Бог. Мы ›бесподобны‹, т.е. мы вне сравнения, потому что никто не подобен никому – в смысле одних и тех же категорий. Существует неповторимое явление, каковым является каждый из нас по отношению к Богу; в этом смысле личность невыразима […].« 955 Vgl. Sacharow, Sophroni; Archimandrit (Сахаров, Софроний; архимандрит): Таинство христианской жизни. (Das Sakrament des christlichen Lebens). Essex; Sergijew Possad: Monastery of St. John the Baptist; Dreifaltigkeitskloster 2009.
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Einladung zum Prozess – Vladimir Nabokov und Franz Kafka
am Anfang aller Existenz als pure Potenz geschaffen wurde, ihre endgültige Aktualisierung findet. In ihrer letztendlichen Verwirklichung soll die menschliche Persona auch endgültig aktualisiert werden, d. h., sie wird zum »puren Akt«.956
Somit führt die christliche Theologie neben dem Individuum eine völlig andere Kategorie ein, nämlich die der Person(a). Dieser Begriff wird sowohl von Nora Scholz als auch von vielen anderen AutorInnen, die westliche und östliche Religionsphilosophie zum Vergleich ziehen, oft übersehen. Den Grund dafür könnte darin bestehen, dass die Lehre von der Persona hauptsächlich in der orthodoxen Dogmatik entwickelt wurde, und selbst dort eher ›stichpunktartig‹, nicht etwa als ein abgeschlossenes theologisches Denksystem. Der westliche, beispielsweise katholische, Personalismus, der in den Werken von Pierre Theillard de Chardin oder Paul Ricœur Ausdruck findet, geht zwar auch auf den frühchristlich-byzantinischen Ursprung zurück, bleibt aber in seiner modernisierten Form dem weit verstandenen Individualismus wesentlich mehr verpflichtet als der orthodoxe Persona-Begriff. Allerdings lassen sich in den Schriften des protestantischen Theologen Paul Tillich (1886–1965) einige Stellen finden, an denen die Differenz zwischen Person und Individuum thematisiert wird. Zwar werden die Akzente etwas anders als bei den oben zitierten orthodoxen Autoren gesetzt, aber der Sinn ist im Allgemeinen ähnlich. So schreibt Tillich z. B.: Persona, wie das griechische prosopon, meint den individuell und zugleich universal sinnvollen Charakter des Schauspielers auf der Bühne. Denn Person ist mehr als Individualität. »Person« ist Individualität im menschlichen Bereich mit Selbst-Bezug und Welt-Bezug und deshalb mit Vernunft, Freiheit und Verantwortlichkeit. Sie gründet sich in der Begegnung eines Ich-Selbst mit einem anderen Selbst, einer Begegnung, die oft »Ich-Du-Beziehung« genannt wird, und die nur in Gemeinschaft mit anderen Personen möglich ist.957
Tillich akzentuiert also den Selbst- und Weltbezug, während Sacharow sich auf den Gottesbezug konzentriert. Auch für den orthodoxen Theologen spielen natürlich »Vernunft, Freiheit und Verantwortlichkeit« eine bedeutende Rolle, aber sie gehören trotzdem eher der Sphäre des Individuellen an ( jedenfalls, wenn 956 Ebd., S. 100. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »[…] вся полнота Бытия заключена в ПЕРСОНЕ […]. Бытие, понимаемое как ›Сущность‹, и Персона – тожественны. Это тожество Абсолютного Бытия и Абсолютной Персоны немедленно привело к осознанию того, что если мы, люди, по образу Божию, то мы тоже персоны… но в настоящей данности нашей мы еще не актуализированные персоны […]. Мы станем персонами лишь по завершении актуализации той потенции, которая, как чистая потенция, в начале творится Богом. В своем конечном осуществлении человеческая персона также должна стать до конца актуализированною, следовательно, ›чистым актом‹.« 957 Tillich, Paul: Biblische Religion und die Frage nach dem Sein. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk Stuttgart 1956, S. 27–28.
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es um die Freiheit der Wahl zwischen dem Guten und dem Bösen und nicht um die absolute Freiheit Gottes geht). Werden unter »Ich-Du-Beziehung« bei Tillich auch zwischenmenschliche Beziehungen gemeint, so handelt es sich bei Sacharow fast ausschließlich um Ich-Gott-Beziehung. Andererseits stimmt die folgende Feststellung mit der orthodoxen Persona-Dogmatik ganz und gar überein: Es ist nicht so, daß wir zuerst wissen, was Person ist und dann diesen Begriff auf Gott anwenden. Sondern in der Begegnung mit Gott erfahren wir zuerst, was Person sein soll, wie sie sich von allem Unterpersönlichen unterscheidet, und wie sie gegen das Absinken ins Unterpersönliche gehütet werden muß.958
In Nabokovs Einladung zur Enthauptung ist die Hauptfigur nicht nur das einzige Individuum inmitten der ich-losen, »unterpersönlichen« (in Tillichs Termini) Menschenparodien, sondern auch eine im wahrsten Sinne des Wortes selbstbewusste Person. Denn Cincinnatus C. ist sich sowohl seiner eigenen Persönlichkeit bewusst als auch dessen, wie sehr sich das Persönliche vom Individuellen abhebt. Zweifellos erkennt er sich als Individualität, d. h., er empfindet einen krassen Unterschied zwischen sich selbst und seiner Umwelt. Das Wichtigste ist aber, dass er – teilweise intuitiv, teilweise aus beinahe mystischer Erfahrung – tief in seinem Innern eine andere, transindividuelle Wirklichkeit erahnt. Dies ist eben die Wirklichkeit der Persona. In seinen letzten Lebenstagen macht Nabokovs Protagonist den verzweifelten Versuch, das Ich mittels des Schreibens zu transzendieren. Er berichtet einem potentiellen zukünftigen Leser von seinen tiefsten Erfahrungen, denn der Gedanke, er sei wirklich der einzige Mensch, die einzige Person auf der ganzen Welt, scheint ihm sowohl unmöglich als auch unerträglich zu sein. Trotz dieses geheimen persönlichen Wissens bleibt Cincinnatus an das Individuelle in sich stark gebunden, sodass er immer wieder zugeben muss: […] Ich weiß etwas. Ich weiß etwas. Doch es auszudrücken, fällt so schwer! Nein, ich kann nicht… Ich möchte aufgeben – dennoch habe ich das Gefühl, zu kochen und zu steigen, ein Kitzel, der einen wahnsinnig machen kann, wenn man ihn nicht irgendwie ausdrückt. […] ich habe keine Bedürfnisse außer dem Bedürfnis, mich auszudrücken – trotz der Stummheit der Welt. Wie groß ist meine Angst. Wie krank bin ich vor Angst. Aber niemand soll mich mir nehmen.959
Der Ich-Begriff erlebt in dieser höchst markanten Passage eine paradoxe Metamorphose. Einerseits weiß er genau, dass sein Leben ihm bald genommen wird; andererseits sagt er: »niemand soll mich mir nehmen«. Erinnert man sich aber an diejenige Lebensdefinition, die von Cincinnatus formuliert wurde – das Leben als Verdunkelung des Wesens durch das Ich – so gewinnt der scheinbar wider958 Ebd., S. 30. 959 Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung, S. 99.
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Einladung zum Prozess – Vladimir Nabokov und Franz Kafka
sprüchliche Satz an philosophischer Konsequenz. Man kann dem Protagonisten zwar sein physisches Leben (und somit sein Ich) wegnehmen, aber sein wahres Wesen, die Persona, bleibt dadurch unversehrt. Mehr noch: Durch den Tod wird seine Persona letztendlich »aktualisiert« (um es mit Sacharow auszudrücken). Boris Awerin macht hier eine treffende Bemerkung, wenn er schreibt: […] das von Cincinnatus postulierte »ich bin« scheint nicht so sehr mit den gnostischen Doktrinen verbunden zu sein, sondern vielmehr mit der für die erste Hälfte des 20. Jh. überaus bedeutenden Problematik […]. Es handelt sich nämlich um das »Sammeln der Persönlichkeit«, die Wiederherstellung derjenigen Einheit des persönlichen »Ich«, die vom modernen Bewusstsein verloren wurde […].960
Awerin widerspricht damit den häufigen Versuchen, Nabokovs Roman als eine gnostische Fabel zu deuten, wie es z. B. Michael Maar macht (übrigens auch ziemlich überzeugend).961 Awerins These scheint nicht zuletzt deshalb angemessen zu sein, weil Nabokov als Autor an der Vermittlung fremder Denksysteme mittels Literatur kaum interessiert war. Einige unverkennbare Elemente der gnostischen Lehre sind in Einladung zur Enthauptung zwar ohne Zweifel präsent, aber ihre Rolle ist eher ästhetisch-ornamentaler als ideologischer Natur. Nichtsdestoweniger steht der Gnostizismus auch in seinem metaphysischen Ausmaß im Gegensatz zum Persona-Phänomen. Sophroni Sacharow sagt dazu: […] der Mensch tendiert allgemein zum »Gnostizismus«, der diverse Formen und Nuancen annehmen kann, im Wesentlichen jedoch auf demselben Prinzip beruht, nämlich auf der Verwerfung von PERSONA als Träger der Absoluten Fülle des Seins. […] Der Personalismus […] ist der Hauptpunkt, an dem wir zu sämtlichen Formen von Gnosis in Dissens stehen […].962
Der Personalismus, oder vielmehr die personalistische Dimension der Hauptfigur, ist auch der zentrale Punkt, an dem sich Nabokovs Einladung zur Enthauptung und Franz Kafkas Der Prozess voneinander definitiv abheben. Josef K. bildet nämlich das Musterbeispiel eines Individuums in seiner Opposition zu Persona, wie sie von Sacharow bzw. Antoni von Sourozh gedeutet wird. Dies kann 960 Awerin, Boris (Аверин, Борис): Дар Мнемозины, S. 264. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »[…] цинциннатовское ›я есмь‹ связано, как нам кажется, не столько с гностическими доктринами, сколько с […] важнейшей для первой половины ХХ века проблематикой […]. Речь идёт о ›собирании личности‹, о восстановлении утраченного современным сознанием единства личного ›Я‹ […].« 961 Siehe Kapitel 4.2. der vorliegenden Arbeit. 962 Sacharow, Sophroni; Archimandrit (Сахаров, Софроний; архимандрит): Таинство христианской жизни, S. 106. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »[…] все мы склонны к ›гностицизму‹, который может принимать различные формы и нюансы, но который по существу всегда остается одним и тем же – отвержением ПЕРСОНЫ как Носителя Абсолютной полноты Бытия. […] Персонализм – […] главный пункт нашего расхождения со всеми формами гносиса […].«
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man an mehreren Textstellen festmachen, wo der Protagonist sich selbst einerseits in sozialer Verbindung zu anderen Romanfiguren betrachtet, andererseits aber sich ganz bewusst von ihnen absondert. Daher spricht Klaus Hermsdorf in Bezug auf Kafkas Werk sehr pointiert über die »Ästhetik der gespiegelten IchSpaltung«963, was mit dem Bild des Individuums als des letzten Spaltungsstadiums korrespondiert. Nicht zuletzt zeigt sich Josefs ich- und zugleich umgebungsbezogene Haltung in seinem Verhältnis zu den Frauen, wie etwa in der folgenden Szene: »Ich komme schon«, sagte K., lief vor, fasste sie, küsste sie auf den Mund und dann über das ganze Gesicht, wie ein durstiges Tier mit der Zunge über das endlich gefundene Quellwasser hinjagt. Schließlich küsste er sie auf den Hals, wo die Gurgel ist und dort ließ er die Lippen lange liegen. […] Kurz darauf lag K. in seinem Bett. Er schlief sehr bald ein, vor dem Einschlafen dachte er noch ein Weilchen über sein Verhalten nach, er war damit zufrieden, wunderte sich aber, dass er noch nicht zufriedener war […].964
Der Protagonist freut sich darüber, dass sein Verhalten den gängigen Schemata eines »richtigen Mannes«, dem sogenannten »Macho-Typ«, entspricht. Um die animalische Grobheit des Begehrens, das Josef erfasste, möglichst bildhaft und expressiv zu schildern, bedient sich Kafka eines für ihn eher untypischen Stilmittels, d. h. einer komplexen, adjektivreichen Metapher. Das spätere Nachdenken der Hauptfigur über ihr leidenschaftlich-rücksichtloses Benehmen ereignet sich, genauso wie ihr Benehmen an sich, stufenweise. Zuerst fasst Josef Frau Grubach, dann küsst er ihren Mund und später ihr ganzes Gesicht. Ähnlich entwickelt sich seine Selbstreflexion: Der Erinnerung an das Geschehene folgt das Gefühl der Zufriedenheit, welche schließlich in Verwunderung darüber mündet, dass diese Zufriedenheit nicht größer sei. Die Versuchung, Stellen wie diese als misogyn zu bezeichnen, ist natürlich groß. Im Fall von Kafka wäre das jedoch meiner Meinung nach voreilig, zumal sich Josef K. auch gegenüber den männlichen Figuren (besonders denjenigen, die eine höhere soziale Stelle haben) sehr ähnlich verhält. Sämtliche zwischenmenschlichen Beziehungen werden von ihm durch das Prisma egozentrischer Selbstbehauptung betrachtet. Interessanterweise ist es aber keine Selbstbehauptung eines Außenseiters, sondern die skeptisch-zornige Freude eines Mitspielenden, der nach den in seinem Milieu verpflichtenden Spielregeln agiert. Davon zeugt die folgende Passage, wo der Protagonist die Einladung des stellvertretenden Unternehmensdirektors zu einer Segelbootfeier zurückweist, ganz deutlich:
963 Hermsdorf, Klaus: Land und Stadt, S. 83–94; hier: S. 92. 964 Kafka, Franz: Der Prozess, S. 341.
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Der Direktor-Stellvertreter nahm den Hörer und sagte […] über das Hörrohr hinweg: »Eine Frage, Herr K.? Möchten Sie mir Sonntag früh das Vergnügen machen, eine Partie auf meinem Segelboot mitzumachen? Es wird eine größere Gesellschaft sein, gewiss auch Ihre Bekannten darunter. Unter anderem Staatsanwalt Hasterer. Wollen Sie kommen? Kommen Sie doch!« K. versuchte darauf Acht zu geben, was der DirektorStellvertreter sagte. Es war nicht unwichtig für ihn, denn diese Einladung des DirektorStellvertreters, mit dem er sich niemals sehr gut vertragen hatte, bedeutete einen Versöhnungsversuch von dessen Seite und zeigte, wie wichtig K. in der Bank geworden war und wie wertvoll seine Freundschaft oder wenigstens seine Unparteilichkeit dem zweithöchsten Beamten der Bank erschien. Diese Einladung war eine Demütigung des Direktor-Stellverstreters, mochte sie auch nur in Erwartung der telefonischen Verbindung über das Hörrohr hinweg gesagt sein. Aber K. musste eine zweite Demütigung folgen lassen, er sagte: »Vielen Dank! Aber ich habe leider Sonntag keine Zeit, ich habe schon eine Verpflichtung.«965
Durch diese selbstgefällige, beabsichtigte Arroganz scheint Josef sogar diejenigen Nuancen der Einladung zu missachten, die einen potentiellen Einfluss auf seinen Prozess haben könnten. So erwähnt der stellvertretende Direktor nebenbei den Staatsanwalt Hasterer, der auf derselben Partie anwesend sein sollte. Obwohl es sich in Josefs Fall um keinen staatlichen Prozess handelt, klingt dies jedoch alles andere als zufällig. Man könnte somit annehmen, die Hauptfigur habe vielleicht einen weiteren diskreten Hilfeversuch hochmütig abgewiesen. Ähnlich benimmt sich Josef auch während der Gerichtsverhandlung. Er nutzt jede passende Gelegenheit dafür aus, seine herablassende Einstellung zum Prozess und allen daran Beteiligten zu demonstrieren. Gleichzeitig bemüht er sich stets darum, einen möglichst effektvollen Eindruck auf die im Verhandlungsraum anwesende Gesellschaft zu machen, ohne dabei zu merken, dass er eben dadurch freiwillig zur Geisel fremder Meinungen und Bewertungen wird. K. hatte sich entschlossen mehr zu beobachten als zu reden, infolgedessen verzichtete er auf die Verteidigung wegen seines angeblichen Zuspätkommens und sagte bloß: »Mag ich zu spät gekommen sein, jetzt bin ich hier.« Ein Beifallsklatschen […] aus der rechten Saalhälfte folgte. »Leicht zu gewinnende Leute«, dachte K. und war nur gestört durch die Stille in der linken Saalhälfte, die gerade hinter ihm lag und aus der sich nur ganz vereinzeltes Händeklatschen erhoben hatte.966
Nicht nur freut sich K. über das Beifallklatschen, das durch seine schwungvolle Antwort hervorgerufen wurde, sondern er ist auch wegen der »Stille in der linken Saalhälfte« enttäuscht. Außerdem zeugt seine falsche Überzeugung, die Gerichtsleute seien leicht zu gewinnen, davon, dass es Josef doch daran liegt, ihre Aufmerksamkeit und Sympathie zu gewinnen. Um einen weiteren Vergleich mit Einladung zur Enthauptung zu ziehen: Es wäre völlig unvorstellbar, dass Cin965 Ebd., S. 342–343. 966 Ebd., S. 348.
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cinnatus C. sich darum kümmern würde, wie seine Worte bei dem Gefängnisdirektor oder beim Richter ankommen. Er weiß ja, sie seien alle nur böse Phantome. Dagegen behauptet Josef K. zwar, seinen Verfolgern keinerlei Achtung zu schenken, verhält sich aber nur deswegen so selbstgefällig-respektlos, weil er seine Überlegenheit ihnen gegenüber offen zeigen möchte. Im Verlauf der ersten Prozess-Sitzung fallen dann auch Worte, die im analysierten IndividuumPersona-Kontext besonders bedeutsam sind. »Also«, sagte der Untersuchungsrichter, blätterte in dem Heft und wendete sich im Tone einer Feststellung an K.: »Sie sind Zimmermaler?« »Nein«, sagte K., »sondern erster Prokurist einer großen Bank.« Dieser Antwort folgte bei der rechten Partei unten ein Gelächter, das so herzlich war, dass K. mitlachen musste. […] »Ihre Frage, Herr Untersuchungsrichter, ob ich Zimmermaler bin – vielmehr Sie haben gar nicht gefragt, sondern es mir auf den Kopf zugesagt – ist bezeichnend für die ganze Art des Verfahrens, das gegen mich geführt wird. Sie können einwenden, dass es ja überhaupt kein Verfahren ist, Sie haben sehr Recht, denn es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne.«967
Es ist nicht zufällig, dass die erste Frage, die an Josef K. im Laufe der Verhandlung gerichtet wird, ausgerechnet seinen Beruf betrifft. Ob »Zimmermaler« oder »Prokurist einer großen Bank« (als hätte die Größe der Bank irgendeine Bedeutung für die Sache!) – der Beruf bzw. der soziale Status ist eines der wichtigsten Merkmale, ein relevanter Bestandteil des Individuums, nicht aber der Person(a). Es gibt nämlich mehrere Zimmermaler, Bankprokuristen, wie es auch mehrere Menschen, die Josef K. heißen, geben kann. Das von ihm bekleidete Amt ist daher nebensächlich. Im Lichte des Prozesses könnte er genauso gut ein Zimmermaler sein. Für Josef hingegen ist der vom Richter gemachte Fehler ein weiterer Beweis für die ›zirkusartige‹ Nichtigkeit des ganzen Verfahrens. In einem hat Kafkas Protagonist immerhin Recht: Das Verfahren ist tatsächlich nur unter der Bedingung bindend, dass er es als solches anerkennt. Gerade darin liegt aber das eigentliche Problem, denn jedes Mal, wenn Josef versucht, nach den ihm aufgezwungenen Regeln zu spielen, heißt es ja, der Prozess werde von ihm trotz dessen angeblicher Absurdität anerkannt. Er selbst erklärt sein Engagement allerdings auf eine ganz andere, übrigens sehr kennzeichnende Weise: »Was mir geschehen«, fuhr K. fort etwas leiser als früher […], »was mir geschehen ist, ist ja nur ein einzelner Fall und als solcher nicht sehr wichtig, da ich es nicht sehr schwer nehme, aber es ist das Zeichen eines Verfahrens wie es gegen viele geübt wird. Für diese stehe ich hier ein, nicht für mich.« Er hatte unwillkürlich seine Stimme gehoben. Irgendwo klatschte jemand mit erhobenen Händen und rief: »Bravo! Warum denn nicht? Bravo! Und wieder Bravo!«968 967 Ebd., S. 350. 968 Ebd., S. 351.
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Ohne dies einzusehen, missachtet Josef den Kern der Sache, denn er behauptet, sein Prozess habe als »ein einzelner Fall« keine große Bedeutung. Deshalb sagt der Angeklagte, er stehe im Gerichtssaal nicht für sich, sondern für »viele« ein, und erhebt dabei seine Stimme »unwillkürlich« (also gegen seinen persönlichen Willen). Anders gesagt verzichtet die Hauptfigur auf das Besondere, Einmalige an ihrer eigenen Person und bedient sich plakativer Verallgemeinerungssprüche. Dabei ist Josef nicht einmal ganz aufrichtig, weil es ihm in Wirklichkeit vielmehr an eigener Erscheinung im Verhandlungssaal bzw. an seiner Wirkung auf die versammelte Gesellschaft liegt. Zu diesem Moment verfügt er ja über keine genauen Informationen zu den vermeintlichen anderen Menschen, denen ein ähnliches Schicksal zuteil wurde. Auch im späteren Handlungsverlauf trifft er bemerkenswerterweise auf keine einzige Figur, die in einen wenigstens vergleichbaren Prozess involviert wäre. Gleich dem Mann vom Lande aus der Gleichnis des Priesters steht Josef K. allein vor seinem Prozess, der nur für ihn bestimmt wurde. Als er beginnt, dies langsam zu begreifen, ist es aber schon zu spät. Auch Nabokovs Protagonist bleibt während des ganzen Romans einsam. Der Austritt aus dem Leben – oder vielmehr derjenigen Lebensparodie, in der er verhaftet wird – geht jedoch mit der Hoffnung auf ein jenseitiges Beisammensein einher. Um es mit Brian Boyd zu formulieren: Cincinnatus, ein einzigartiges, komplexes Individuum, empfindet ein Gefühl von Einsamkeit, das den Menschen um ihn herum, für die […] ein Ich mit einem anderen austauschbar ist, unbekannt ist. […]. Doch am Ende des Romans, wenn er sich nach der Enthauptung erhebt, schreitet er auf »ihm verwandte Wesen« zu: Der Tod wird nicht Einsamkeit sein, sondern seine erste Chance auf wirkliche Gesellschaft.969
Dagegen überwindet der Tod von Josef K. keineswegs seine Einsamkeit, sondern intensiviert sie bis ans Unmögliche. Die ihn überlebende Scham ist ein tiefst individuelles und zugleich ein radikal nicht-persönliches (im Sinn der hier besprochenen Persona) Gefühl, denn man schämt sich immer vor jemandem. Als sich Cincinnatus C. nach seiner Enthauptung in die Richtung der »ihm verwandten Wesen« begibt, bedeutet dies, die Zeit der ewigen Angst und Erniedrigung sei nun für immer vorbei. Sein Tod befreit die in ihm schlummernde Person, erweckt sie zum neuen, besseren Leben, denn: »Personality is not the subject of the natural determinism: it transcends the earth boundaries and moves in the field of other dimensions.«970
969 Boyd, Brian: Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre, S. 667. 970 Grishaeva, Ekaterina I.: The Influence of the Concept of V.N. Lossky’s Personality on a Christian Personalism of the 20th Century. Journal of Siberian Federal University. Humanities & Social Sciences 1 (2012 5), S. 43–47, hier: S. 45.
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In Josef gibt es aber nichts, was eine derartige Transformation durchmachen könnte – darin liegt das Tragische an Kafkas höchst ironischem, schwarz-humorigem Roman. Man hat schon so oft wiederholt, die Erzählwelt von Kafka sei eine »Welt ohne Gott«971, dass diese These heutzutage beinahe als ein Axiom gilt. Dabei wird natürlich immer gerne an Nietzsche angeknüpft, wie etwa in Elfie Poulains Kafka. Einbahnstraße zur Hölle: »Josef K.’s Welt ist eine säkularisierte Welt, die an Nietzsches Wort vom Tode Gottes erinnert.«972 Dabei ist Franz Kafka ein Autor, bei dem es eher um den Menschen als um »die Welt« geht. Die so genannten ›großen Fragen‘, besonders im sozialen bzw. epochalen Ausmaß – Fragen, mit denen sich Thomas Mann oder Bertolt Brecht so intensiv beschäftigten – scheinen für Kafka eine eher zweitrangige Rolle zu spielen (darin steht seine Erzählkunst der von Nabokov sehr nahe). Vielmehr ist es der Einzelne, der im Mittelpunkt von Kafkas Texten steht, obschon dieser Einzelne zugleich eine gewisse Mikrowelt bzw. Innenwelt bildet. Im Fall von Josef K. ist es in der Tat eine ziemlich elende, unpersönliche und deswegen auch gottlose Welt. Zum Schluss sei noch erwähnt, dass weder die Tragödie des Unpersönlichen in Kafkas Der Prozess noch die persönliche Befreiung in Nabokovs Einladung zur Enthauptung im streng religiösen Sinn verstanden bzw. gedeutet werden sollten. Trotz mehrerer Notizen über Gott und Religion in Kafkas nachgelassenen Tagebüchern und Aphorismen gibt es keinerlei Beweise dafür, dass er sich mit der christlichen Metaphysik näher befasste. Auch Nabokov waren die zitierten orthodox-theologischen Schriften kaum bekannt, und sein Verhältnis zu jeglicher Religion zeichnete sich durch erklärte Gleichgültigkeit bzw. eine starke Skepsis aus. Beide – Nabokov und Kafka – waren jedoch ihrer literarischen Tätigkeit restlos ergeben. Und es ist eben diese Ergebenheit, die zu einem der wohl geheimnisvollsten Paradoxe der sogenannten reinen Kunst führt. Nämlich: Je sprach- und selbstbezogener ein literarisches (Meister)Werk bleibt, desto ausgeprägter erhebt sich in seinen semantischen Tiefenstrukturen eine auf den ersten Blick fremdwirkende Ästhetik, die den gängigen Begriff ›schöne Literatur‹ weitgehend überschreitet.
971 Poulain, Elfie: Kafka. Einbahnstraße zur Hölle. Oder die unmögliche Selbstrechtfertigung des Daseins. Stuttgart; Weimar: J.B. Metzler 2003, S. 179. 972 Ebd.
Vladmir Nabokovs (Lebens)Kunst zwischen Idealismus und Weltbürgertum – Resümee
In seinem Buch Vladimir Nabokov. Der einsame König (Владимир Набоков. Одинокий король) zitiert Nikolai Anastasjew die berühmte Maxime von J.W. Goethe: »Wer den Dichter will verstehen / Muss in Dichters Lande gehen« und postuliert nachfolgend, in Anknüpfung an Vladimir Nabokov, sein Heimatland sei die Literatur (»die Literatur schlechthin«, um es nochmals mit Reich-Ranicki zu formulieren973) und somit ein ›Ort‹ ohne genaue räumliche Koordinaten oder eine einheitliche Sprache, die in diesem ›Land‹ gesprochen wird.974 Im Weiteren macht Anastasjew eine weitere interessante Bemerkung: […] nach Nabokovs unzähligen Geständnissen war ihm die deutsche Kultur so fremd, dass er, ein Sprachgenie und Polyglotte, der dazu noch 15 Jahre lang in Deutschland gelebt hat […], sich nicht die Mühe gab, die deutsche Sprache ordentlich zu erlernen. Der einzige Verwandtschaftsfunken entflammte, als Nabokov erfuhr, dass einer seiner Ahnen, ein damals (in der ersten Hälfte des 18. Jh.) bekannter Komponist und Sänger Carl Heinrich Graun, bei der Vorführung irgendeiner Opernpartie diejenigen Passagen, die ihm nicht gefallen hatten, durch selbst erdachte Arien ersetzte.975
Die Parallelen sind in der Tat kennzeichnend, denn auf eine ähnliche Art und Weise verhielt sich auch Nabokov, indem er den Schatzkammern der Weltliteratur sowie dem Irrgarten des eigenen Schicksals spielerisch dasjenige entnahm, was seiner Kunst- und Lebensempfindung entsprach, und alles Andere mal ironisch, mal zornig ablehnte. Dies zeigte sich nicht zuletzt in Nabokovs Hassliebe (oder eher Hassbewunderung) gegenüber Berlin, wo er fast alle seine rus973 Siehe Einleitung. 974 Vgl. Anastasjew, Nikolai (Анастасьев, Николай): Владимир Набоков, S. 36. 975 Ebd. [Ins Deutsche übersetzt von A.K.]. Russische Originalfassung: »[…] немецкая культура, по многократным признаниям Набокова, была ему чужда, настолько чужда, что, гений языка, полиглот, проживший к тому же 15 лет в Германии […] он так и не дал себе труда толком овладеть немецким. Единственная вспышка родственной близости возникла, когда Набоков узнал, что пращур, известный в своё время (первая половина XVIII века) композитор и вокалист Карл Хайнрих Граун, исполняя какую-то оперную партию, заменил на премьере вдруг не понравившиеся ему места ариями собственного сочинения.«
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Resümee
sischsprachigen Texte verfasste und publizierte. Auch die Handlung spielt meistens in der deutschen Hauptstadt (mit Ausnahme von Einladung zur Enthauptung), wobei im Mittelpunkt der Erzählung überwiegend russische Emigranten stehen. Allerdings agieren in drei Romanen – König Dame Bube, Camera Obscura, Verzweiflung – die Deutschen als Hauptfiguren, wobei es sich größtenteils um Mörder bzw. Mordversuche handelt. Die Stadt Berlin wird somit zum durchaus spezifischen Erzählraum, der dreierlei funktioniert: 1) als Fremd- und zugleich Erinnerungsraum, den die russischen Protagonisten entweder träumerisch zu überwinden oder künstlerisch umzuwandeln versuchen (Maschenka, Die Gabe); 2) als performativer Handlungsraum, in dem die deutschen Antagonisten ein in vulgäre Liebesdreiecke und kriminelle bzw. kriminell gefärbte Geschichten verwickeltes Leben führen (König Dame Bube, Verzweiflung); 3) als zeit- und raumloser Ort, der zum ›Spielplatz‹ ästhetischer Visionen eines namenlosen, von jeglicher Nostalgie distanzierten Erzählers wird (die Kurzgeschichte Stadtführer Berlin). Es wäre jedoch zu voreilig, mit Anastasjew festzustellen, Nabokov sei ein ›glückbesessener‹ Autor gewesen, bei dem sogar die Porträts eines wahnsinnigen Massenmörders in Blumen versinken und dadurch allerlei Verbindung zum Prototypen verlieren.976 Die Beschreibung von Hitlers Portraits, auf die hier rekurriert wird, bildet nämlich keineswegs den Versuch, das Böse zu verharmlosen, sondern zeigt vielmehr die tragisch-paradoxe Verflochtenheit von Schönem und Schrecklichem, die das ganze menschliche Leben immerwährend umkreist. Was nun Gewalt, Grausamkeit und Unbarmherzigkeit betrifft, so war Nabokovs deren feuriger Gegner. Darin unterschied sich seine Sicht sehr stark von den humanistisch-psychologisierenden Bestrebungen, das Böse, wenn nicht zu rechtfertigen, so doch wenigstens besser zu verstehen. So schreibt z. B. Steven Pinker in seiner fundamentalen Gewalt-Monographie: Selbst wenn kein vernünftiger Dritter einen Zweifel daran haben kann, wer recht und wer unrecht hat, müssen wir bei Betrachtung durch die psychologische Brille immer damit rechnen, dass Übeltäter ihr eigenes Verhalten für moralisch halten. Diese Brille aufzusetzen, kann schmerzlich sein. Wir müssen nur einmal unseren Blutdruck messen, wenn wir den Satz »Versuchen Sie einmal, das Ganze aus Hitlers Sicht zu sehen« […] lesen. Aber wie alle empfindungsfähigen Lebewesen, so hatte auch Hitler seinen Blickwinkel, und von den Historikern wissen wir, dass es ein sehr moralistischer Blickwinkel war. Er hatte die plötzliche, unerwartete deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg miterlebt und war zum Schluss gelangt, man könne sie nur mit der Heimtücke eines inneren Feindes erklären. […] Außerdem war Hitler Idealist: Er hatte eine mo-
976 Ebd., S. 234.
Resümee
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ralische Vision, in der heldenhafte Opfer ein tausendjähriges Utopia hervorbringen sollten.977
In Nabokovs Werk wird eine solche Einstellung entschlossen abgelehnt. Auch er versucht zwar »die psychologische Brille« aufzusetzen und ins Innere eines kaltblütigen Verbrechers zu schauen, doch das endgültige Ergebnis ist Pinkers Idee von den ursprünglichen ›guten Absichten‹ eines Mörders oder Diktators radikal entgegengesetzt. Die von Nabokov dargestellte Bösartigkeit ist sowohl in ihren Zielen als auch in ihren Ursprüngen ständig banal. Keiner von vielen Verbrechern in Nabokovs Texten denkt, er handle moralisch, obwohl manche schlaue Ich-Erzähler dies behaupten, um den Leser durch manipulativ erzwungenes Mitleidgefühl in die Irre zu führen. Ihre Beweggründe sind, im Gegensatz zu Pinkers Behauptung oder Dostojewskijs philosophierenden Bösewichten, völlig trivial und prosaisch: Geld, Gier und egozentrische, an Schizophrenie grenzende Eitelkeit. Etwas anders sieht bei Nabokov das Problem des Bösen in dessen universaler, ontologisch-metaphysischer Dimension aus. Persönliche Brutalität sowie die ideologisch untermauerte Bestialität eines totalitären Regimes (Das Bastardzeichen) werden vom Alltäglich-Banalen, gelegentlich gar vom Alltäglich-Rationalen abgeleitet. Dagegen tragen viele individuelle psychische Störungen, beispielsweise der mit Genialität einhergehende Autismus (Lushins Verteidigung), in Nabokovs Romanen und Erzählungen ausdrücklich romantische bzw. neuromantische Züge. Das Romantische unterliegt bei Nabokov allerdings einem gründlichen Bewältigungs- und Bewältigungs- und Umdenken-Prozess. So wird die Täter-Opfer-Beziehung in Lolita zwar mit dem romantisierten Wasserfrauenbzw. Nymphenmythos in Verbindung gebracht, nicht aber, um die pädophile Leidenschaft der Hauptfigur etwa zu ästhetisieren (geschweige denn zu rechtfertigen), sondern um Humberts geistige Verloren- und Verlogenheit zu markieren. Das romantisierte Lolita-Bild existiert nämlich nur in seinem gestörten, ichorientierten, zur Empathie unfähigen und daher ausgesprochen a-romantischen Bewusstsein. Somit gewinnt Lolita als Romanfigur eine ›moralische Dimension‹, die gewisse Ähnlichkeiten zu Friedrich de la Motte Fouqués Undine – einer romantisch modernisierten Version der mittelalterlichen Wasserfrauenlegende – aufweist. Ferner findet das Motiv des Bösen in Einladung zur Enthauptung – dem vorletzten russischsprachigen Roman von Nabokov – einen surreal-gnostischen Ausdruck in Form einer alptraumartigen Dystopie, deren Erzählwelt und Handlung bei mehreren Kritikern und Forschern vielfältig konzipierte Asso-
977 Pinker, Steven: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2016, S. 731.
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Resümee
ziationen mit Franz Kafka hervorruft.978 Während sich aber die meisten Vergleichsversuche entweder auf das Absurde oder das Totalitäre in beiden Texten konzentrieren, könnte die Nebeneinanderstellung von Protagonisten – Cincinnatus C. und Josef K. – einen neuen Denkanstoß geben. Kafkas Hauptfigur ist und bleibt ein Individuum, das die ihn umkreisende Welt nicht versteht und daran scheitert, bis hin zum sinn- und hilflosen, schamvollen Tod. Bei Nabokov gelingt es dem Protagonisten dagegen, die Kluft zwischen Individualität und Persona zu überbrücken, die ihn umgebende Scheinwirklichkeit zu durchschauen und sich von ihr zu befreien. Dieser transindividuelle, obschon keineswegs kollektivistisch, sondern metaphysisch bedingte Übergang von Individuellem zu Personalem ist nicht nur für Nabokovs Schaffen, sondern generell für die größten Schriftsteller und weltweit anerkannten Meisterwerke der russischen Literatur ausschlaggebend.
Abb. 7: Ein von Nabokov gezeichneter Schmetterling Eugenia Onegini (Anspielung auf den klassichen russischen Versroman Eugen Onegin von Alexander Puschkin).
978 Siehe Einleitung zur vorliegenden Arbeit.
Literatur
Primärliteratur Vladimir Nabokov Nabokov Vladimir: Stadtführer Berlin. Fünf Erzählungen. Stuttgart: Reclam 1985. Nabokov, Vladimir: Das Bastardzeichen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1987. Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Машенька. Защита Лужина. Приглашение на казнь. Другие берега. (Maschenka. Luzhins Verteidigung. Einladung zur Enthauptung. Andere Ufer). Moskau: Художественная литература 1988. Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Дар (Die Gabe). Moskau: Соваминко 1990. Nabokov, Vladimir: Ada oder Das Verlangen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1994. Nabokov, Vladimir: Die Schwestern Vane. Erzählungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999. Nabokov, Vladimir: Einladung zur Enthauptung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999. Nabokov, Vladimir: König Dame Bube. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999. Nabokov, Vladimir: Maschenka. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999. Nabokov, Vladimir: Pnin. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999. Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Стихотворения и поэмы (Gedichte und Poeme). Moskau: Ast 2001. Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2005. Nabokov, Vladimir: Lolita. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2010. Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Лекции о Дон-Кихоте (Vorlesungen über DonQuijote). Sankt Petersburg: Азбука 2010. Nabokov, Vladimir: Gelächter im Dunkel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2013. Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Полное собрание рассказов. (Gesammelte Kurzgeschichten). Moskau: Azbuka 2013.
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Literatur
Nabokov, Vladimir (Набоков, Владимир): Лекции о русской литературе (Vorlesungen über russische Literatur). Sankt Petersburg: Азбука 2014.
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Personenregister
Anastasjew, Nikolai 228, 262, 316 Andersen, Hans Christian 240 Appel, Alfred Jr. 234 Arendt, Hannah 16, 97, 105, 142, 153, 155, 168, 175 Assmann, Aleida 26 Auge, Marc 40 Awerin, Boris 285, 308 Awerinzew, Sergei 22 Baaten, Heta 177 Bachmann, Ingeborg 240 Bachtin, Michail 219, 274, 289 Balestrini, Nassim W. 44, 51, 53, 56, 64, 92, 114, 128, 132, 147, 158 Barabtarlo, Gennady 37, 88, 118, 140, 208, 210, 253, 256, 286 Barth, John 16 Baur, Johannes 20 Bergoglio, Franziskus (Papst) 143 Bibichin, Wladimir 188f. Bielinski, Wissarion 169 Bleuler, Eugen 223 Bloom, Antoni (Metropolit von Sourozh) 304 Bogdal, Klaus-Michael 267, 295 Böll, Heinrich 257 Boyd, Brian 11, 17, 31f., 34f., 40, 52f., 55f., 60, 63f., 66, 71, 109, 114, 122, 126–128, 130–132, 137, 140, 142, 157f., 168f., 189, 195, 197, 210, 256–258, 290, 292, 312 Brecht, Bertolt 98, 313 Brentano, Clemens 241 Brod, Max 255
Brodski, Anna 173 Bukhs, Nora 224 Bürger, Gottfried August Bykow, Dmitri 270
235
Calasso, Roberto 266 Catani, Stephanie 272 ˇ awcˇanidze, Julietta 241, 247f. C Celkowa, Lina 34 Certeau, Michel de 40 Chamisso, Adelbert 200, 202 Chaplin, Charlie 125 Chardin, Pierre Theillard de 306 Cheever, John 16 Chodassewitsch, Wladislaw 159 Christie, Agatha 127 Conrad, Joseph 118 Culler, Jonathan 133 Dargomyzˇskij, Alexander 240 Davydov, Sergej 136f., 139, 276, 292 Dicksee, Margaret 210 Dolinin, Alexander 201 Dostojewskij, Fjodor 52, 84, 99, 125, 131f., 152, 170, 219, 251, 274, 317 Durst, Uwe 244 Dvorˇak, Antonin 240 Eco, Umberto 134 Eichmann, Adolf 16, 105, 153, 167 Einstein, Albert 63, 80 Eliasberg, Alexander 139 Engelking, Leszek 17, 224 226, 256, 262, 265, 269
334
Personenregister
Fichte, Johann Gottlieb 177, 182, 303 Flaubert, Gustav 84, 152, 250 Fouqué, Friedrich de la Motte 200, 240– 242, 244–248, 251–253, 317 Freud, Siegmund 119, 152 Friedrich, Hugo 183 Gamm, Gerhard 177 Garnham, Nicholas 119 Genis, Alexander 269 George, Stefan 180 Giraudoux, Jean 240 Göbler, Frank 51 Goethe, Johann Wolfgang von 23, 75, 137f., 180, 192, 237, 315 Gogol, Nikolai 52, 88 Goldschweer, Ulrike 15 Grass, Günter 97 Greene, Joseph I. 159, 161 Gutiérrez Koester, Isabel 241, 244 Han, Byung-Chul 302f. Hassin, Grigorij 83 Hauptmann, Gerhart 180, 257 Heine, Heinrich 241, 281 Held, Heinz-Georg 178, 183, 202, 223 Hermsdorf, Klaus 295, 309 Hesse, Hermann 52, 178, 257 Hiebel, Hans 266f., 272 Hillebrand, Bruno 65 Hitler, Adolf 74, 83, 152, 158, 167f., 316 Hobbes, Thomas 145 Hoffmann, E.T.A. 17, 67, 179f., 186, 197– 200, 202, 209, 213f., 216f., 219, 221, 224, 240, 242, 245, 279 Hofman, Kurt 19 Hofmannsthal, Hugo von 166, 180, 187f., 190 Hölter, Achim 198, 206, 208 Howard, Jane 97 Hufen, Uli 186 Huizinga, Johan 178 Hüllen, Christopher 30, 132, 160 Huxley, Aldous 159 Inge, Stephan
241
Jacquard, Jean-Philippe 135, 260 Jannelli, Altagracia de 115 Johnson, D. Barton 226 Jordan, Neil 240 Jörg, Natalia 11, 22, 53, 57f., 63f., 67, 79 Kafka, Franz 17, 47, 56, 171, 215f., 255– 259, 261–277, 282, 284–286, 288, 290f., 293–298, 300–302, 308f., 311, 313, 318 Kant, Immanuel 32, 143f., 152, 163 Karpow, Nikolai 67, 184, 193, 221, 271, 275 Kaschafutdinowa, Zoja 244 Kindt, Tom 127 Klaus, Johann 178 Kobrin, Kirill 183 Koch, Ruth 200 Komorowski, Melanie 240f. Kopelew, Lew 22 Kotin, Andriej (= Kotin, Andrey) 52, 237 Kremer, Detlef 198, 206f. Kristeva, Julia 78 Krüger, Anna 200 Krusche, Dietrich 259, 264, 274, 290 Kühn, Natalia 61 Lange, Viktor 138 Lehner, Hans Horst 177 Lenin, Wladimir 79, 169 Lermontow, Michail 271 Lewing, Jurij 113 Lipin´ski, Cezary 239 Lotman, Jurij 48 Löw, Martina 52, 57, 63, 81 Maar, Michael 17, 62, 226f., 269–271, 277, 308 Mamardaschwili, Merab 182, 289 Mann, Thomas 13, 22, 113, 118, 257, 313 Martinez, Matias 127, 133 Marx, Karl (Marxismus) 24, 124, 161 Melnikow, Nikolai 35, 82, 159, 227, 238f., 250, 252, 257 Menhard, Felicitas 133, 140 Mierau, Fritz 11, 20 Morton, Donald E. 113 Musil, Robert 203
335
Personenregister
Nabokov, Vladimir (= Wladimir Sirin) passim Nietzsche, Friedrich 152, 177, 183, 187, 313 Novalis 23, 65, 77f., 180f., 185, 187, 190, 192, 207, 224, 246, 250 Nünning, Ansgar 54, 133 Nünning, Vera 54, 133 Nusser, Peter 99 Orwell, George
159, 292
Paracelsus 242 Parker, Stephen Jan 193, 261, 276, 300 Pasternak, Boris 75 Paul, Jean 212 Petersen, Julius 178–180, 190 Petersen, Jürgen H. 13f. Piatigorsky, Alexander 53f., 144, 182f., 217f., 224f., 287f., 303 Pinker, Steven 137, 154, 316f. Pissarew, Dmitrij 169 Poe, E. A. 251 Poulain, Elfie 313 Preisendanz, Wolfgang 185f. Proust, Marcel 13, 71f., 113 Puschkin, Alexander 84, 88, 94, 135, 141, 228f., 253, 271, 318 Raspe, Rudolph Erich 127 Reich-Ranicki, Marcel 16, 315 Reuter, Julia 37, 55, 68, 78, 89 Ricœur, Paul 306 Rilke, Rainer-Maria 257 Romanowa, Galina 39 Rosenberg, Alfred 169 Rosenberg, Rainer 170 Sacharow, Sophroni 305–308 Safranski, Rüdiger 75, 179, 207 Salice-Contesse, Carl Wilhelm 239 Salinger, J.D. 16 Samjatin, Jewgeni 159 Scammell, Michael 226 Scheffel, Michael 129, 133 Schikorsky, Isa 177 Schlegel, August 180
Schlegel, Friedrich 65, 180–184, 188, 192, 200, 236f. Schleiermacher, Friedrich 290 Schlingmann, Carsten 259f., 274, 276 Schlögel, Karl 11, 21, 80, 93 Schmeljow, Iwan 24 Schmid, Ulrich M. 155 Schnorr, Simon 207 Scholz, Nora 55–58, 63, 89, 137, 303–304, 306 Schopenhauer, Arthur 120 Schukowski, Wassili 75 Sebald, W.G. 19 Sedakowa, Olga 75 Sidor, Monika 23 Slochewskaja, Alla 210, 218 Smirnov, Igor 129 Stach, Reiner 255 Stalin, Josef 169 Stanzel, Franz K. (Reflektorfigur) 259f. Strohschneider-Kors, Ingrid 183f. Szyman´ski, Michał 117 Tieck, Ludwig 17, 179f., 192, 198–200, 202, 205–209, 220, 224, 242 Tillich, Paul 307 Toffler, Alvin 177 Toker, Leona 226 Tolstoi, Lew 88, 99, 152, 250, 301 Torsy, Klaus 188 Trabant, Jürgen 143 Tschechow, Anton 34, 88 Tschernyschewski, Nikolai 155, 169 Turgenew, Iwan 122 Updike, John 16 Urban, Thomas 11, 14, 21f., 54, 72–76, 78f., 155 Vogt, Jochen 98, 259 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz Warhol, Andy 240 Weibel, Kurt 177 Wenzel, Georg 177f. Werba, Natalja 245
181, 187
336 Wiese, Bruno von 250 Wilde, Oscar 240 Wright, W.H. (= S.S. Van Dine)
Personenregister
Würzbach, Natascha 136
Zimmer, Dieter
52, 54
15, 71, 159, 256