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German Pages 356 Year 2015
Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl (Hg.) Vieldeutige Natur
THOMAS KIRCHHOFF, LUDWIG TREPL (HG.)
Vieldeutige Natur Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene
[ transcript]
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2009
transcript Verlag, Bietefeld
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INHALT
Vorwort
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W OLFGANG HABER
Landschaft, Wildnis, Ökosystem: zur kulturbedingten Vieldeutigkeit ästhetischer, moralischer und theoretischer Naturauffassungen. Einleitender Überblick
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THOMAS KIRCHHOFF & LUDWIG TREPL
NATUR ALS LANDSCHAFT
Bemerkungen zum semantischen Wandel von >Landschaft< seit dem 18. Jahrhundert
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DOMTNIK BRÜCKNER
Über das Hinsehen und das Absehen von Landschaft
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JöRNBOHR
Reflexionen über Landschaft und Arbeit
101
L UDWIG FISCHER
Kulturelle Differenzen der Landschaftswahrnehmung in England, Frankreich, Deutschland und Ungarn
119
D6RA DREXLER
Bedeutungsaspekte von Natur und Landschaft in der Kultur Venedigs um 1500 DAGMAR KORBACHER
137
Das »angenehme Gebirge«. Dünenlandschaften in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts
151
MIR!AM V OLMERT
Die Vieldeutigkeit der Bilder im Landschaftsgarten
163
ANDREA SIEGMUND
Landschaftliche Kulturpflege - die Idee der Landschaft im kulturpolitischen Konzept des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe
179
KATINKA NETZER
Positionen und Konzepte zur Bergbaufolgelandschaft. Ansätze einer kulturwissenschaftlichen Analyse des planerisch-gestalterischen Diskurses
189
MARKUS SCHWARZER
Vielfältig und vieldeutig: Natur und Landschaft im Chinesischen
201
JOHANNES KÜCHLER & XINHAI W ANG
Die Landschaft der Architekten
221
KARINRAITH
Zwischenstadt als Heimat
239
VERA VICENZOTTI
NATUR ALS WILDNIS
Die Erfindung des tropischen Regenwaldes
255
KLAUS-DIETERHUPKE
Von der schrecklichen Waldwildnis zum bedrohten Waldökosystem-Differenzierung von Wildnisbegriffen in der Geschichte des Bayerischen Waldes GISELA KANGLER
263
Landschaft als Auflösung ihrer selbst - Die Besiedelung des amerikanischen Westens
279
TORSTEN KA THKE
Der Transzendentalismus als philosophische Basis des amerikanischen Freiheitsmythos vom Pionier in der Wildnis
291
ANNEHASS
NATUR ALS ÖKOSYSTEM
Vom >Züchterischen Blick< zur Kombinationszüchtung. Die landwirtschaftliche Kulturpflanze um 1900 zwischen Geistes- und Naturwissenschaft
303
EVA GELINSKY
Globale Vielzahl oder lokale Vielfalt: zur kulturellen Ambivalenz von >Biodiversität
Wie sie ein Ganzes bildenökologisches System< aufgefasst, während die ursprünglichen gestalterischen Aspekte und künstlerischen Ziele- zu Unrecht! - etwas in den Hintergrund traten und auch von den Studierenden jener Zeit weniger nachgefragt wurden. In dem so entstehenden ökologisch-gestalterischen Dualismus verschwamm aber auch das Verständnis des >Natürlichen< oder >Naturhaftensektorale< Natur(schutz)planung sein als auch die Raumplanung >querschnittsorientiert< durchdringen. Mit >ÖkologisierungNatur< und >LandschaftLandschaftsarchitektur< in den genannten Studiengängen oder -fakultäten von den heutigen Studierenden wieder deutlich bevorzugt. Deutungsmuster wandeln sich. Man versucht, sie auch geistesgeschichtlich herzuleiten und zu erklären. Die Vieldeutigkeit von Natur und Landschaft- wobei beide Begriffe bzw. Gegenstände ineinander übergehen!- wird in den Beiträgen dieses Bandes unkommentiert, aber daher um so stärker zum Nachdenken anregend, der Leserschaft dargeboten. Es ist ein Potpourri von z. T. weit voneinander entfernt scheinenden Interpretationen mit jeweils eigenen disziplinären Quellen und Deutungstraditionen, und darin zugleich ein, freilich unvollständiger Spiegel derzeitiger Auffassungen zwischen ländlich und städtisch, wild und kultiviert, zeitlos und zeitgebunden, sprachlich und begrifflich, allgemein oder auf konkrete Gebiete bezogen. Für die zuständigen Wissenschaften mag es eine Aufforderung sein, sich zu einer >Landschaftswissenschaft< zusammen zu finden. Für die gesellschaftliche und politische Vermittlung des daraus entstehenden Wissens als Orientierungs- und Handlungsgrundlage ist die Vieldeutigkeit Hemmnis und Herausforderung zugleich. Die derzeit ungewöhnlich rasch und markant ablaufenden und absehbaren Veränderungen in Natur und Landschaft sichern diesen bildhaft-materiellen Kernbereichen der menschlichen Umwelt erhöhte Aufmerksamkeit. Dabei wird Vieldeutigkeit aber Prioritäten, zumindest Kompatibilitäten unter den Deutungsmustern verlangen. Für entsprechende Entscheidungen liefern die Beiträge dieses Bandes wichtige Grundlagen und verdienen dafür breite Aufmerksamkeit. Dezember 2008
Wolfgang Haber
Landschaft, Wildnis, Ökosystem: Zur kulturbedingten Vieldeutigkeit ästhetischer, moralischer und theoretischer Naturauffassungen. Einleitender Überblick THOMAS KIRCHHOFF & LUDWIG TREPL
Vieldeutige Natur Was ist Natur? Die Vorstellungen, die wir von ihr haben, sind vieWiltig. Schon ein und dieselbe Person nimmt sie auf ganz unterschiedliche Weise wahr. Denkt jemand beispielsweise an die Alpen, so sieht er vielleicht Bilder einer lieblichen Landschaft mit grünen Almen umkränzt von Bergketten vor sich oder eine Wildnis mit Gletschern, Lawinen und unbezwingbaren Gipfeln oder er stellt sich ein Ökosystem mit geschlossenen Stoffkreisläufen vor. Mit >Dschungel< assoziieren manche einen Ort urspiünglichen, paradiesischen Lebens, andere wucherndes, bedrohlichfaszinierendes Leben, wieder andere einen gefährdeten Lebensraum oder einen KohlendioxidspeicheL Natur wird aber nicht nur unterschiedlich als Landschaft, Wildnis oder Ökosystem wahrgenommen. >Landschaft< und >Wildnis< haben überdies in verschiedenen Kulturen und auch innerhalb einer Kultur je unterschiedliche Bedeutungen, die sich zudem mit der Zeit wandeln. Und auch die Frage, nach welchen Prinzipien Ökosysteme organisiert sind, wird in der Naturwissenschaft Ökologie von Anfang an kontrovers beantwortet. Man kann geradezu von einer babylonischen Sprachverwirrung sprechen, wenn, was zurzeit häufig geschieht, über Wildnis gesprochen wird oder über die Auswirkungen des Klimawandels und des Wandels in der
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Landnutzung auf die Landschaften und Ökosysteme der Erde. Man versteht einander oft nicht, weil mit den Begriffen Landschaft, Wildnis und Ökosystem alltagssprachlich und auch in den verschiedenen Fachsprachen Unterschiedliches bezeichnet wird - was nicht selten unbemerkt bleibt, weil klare Definitionen fehlen. Bereits das Verhältnis dieser drei Begriffe zueinander ist unklar: Sind Landschaften Komplexe von Ökosystemen oder sind sie kategorial andere Gegenstände, nämlich ästhetische mit symbolischen Bedeutungen? lst Wildnis eine besondere Form von Landschaft oder eines Ökosystems, oder beides, oder aber keines von beidem und damit einer dritten Kategorie zugehörig? Das Verhältnis dieser drei Begriffe zueinander zu klären und ihre jeweilige Vieldeutigkeit zu verstehen, ist nicht nur aus theoretischer Perspektive ein respektabler Forschungsgegenstand, sondern ist auch von praktischer Relevanz. Denn derartige Unklarheiten führen in politischen, administrativen und planensehen Diskursen zu Kontroversen, Missverständnissen oder gar Unverständnis. Begriffliche Klarheit beim Reden über Natm wird immer wichtiger, je mehr die europäischen Nationen kulturell und administrativ zusammenwachsen sollen und je mehr im Umwelt- und Naturschutz internationale Vereinbarungen zu treffen und auszulegen sind, wie sie bereits vorliegen etwa mit der Konvention zum Schutz der Biodiversität, der Europäischen Landschaftskonvention und mit der IUCN-Schutzgebietskategorie »Wilderness Area«. Bei solchen Vereinbarungen zeigen sich Probleme ganz anderer Art als z. B. bei der Festlegung international gültiger Grenzwerte flir Schadstoffe. Bei den Schadstoffen handelt es sich um einen gut definierten Sachverhalt, der jeden Menschen, als physisches Wesen, in derselben Weise betreffen kann; bei Vereinbarungen über >die Natur< dagegen muss zuerst einmal geklärt werden, was überhaupt der Gegenstand und damit das Ziel der Vereinbarung sein soll: Welche Eigenschaften der Natur sind es, die ihre Qualität als Landschaft, Wildnis oder Ökosystem ausmachen, und sind es überhaupt physische Eigenschaften? Die Begriffsverwirrung lässt sich nur entflechten, wenn man die Ursachen der Vieldeutigkeit der Natur berücksichtigt. Unsere These hierzu - sie stimmt mit der Prämisse vieler Beiträge dieses Buches überein lautet: Die primäre, wesentliche Ursache ihrer Vieldeutigkeit sind nicht Unterschiede in der geologischen oder ökologischen Beschaffenheit der Natur an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten, sondern es sind Unterschiede in der Weise, wie wir Natur betrachten und bewerten. Damit meinen wir nicht die Tatsache, dass z. B. ein Milchbauer interessenbedingt auf anderes achtet und anderes wertschätzt als ein Getreidebauer, sondern dass es kategorial verschiedene Sichtweisen von Natur gibt: Sie kann beispielsweise Ressource oder aber Gegenstand ästheti14
LANDSCHAFT, WILDNIS, ÖKOSYSTEM. EINLEITENDER ÜBERBLICK
sehen Wohlgefallens sein. Außerdem existieren konkurrierende kulturgeschichtliche Ideen und Ideale, die dazu führen, dass innerhalb jeder dieser Sichtweisen wiederum unterschiedliche Naturauffassungen entstehen. Mit anderen Worten: Jede bestimmte Art und Weise, wie Natur aufgefasst wird, ist ein kulturgeschichtliches Phänomen; ihre Existenz und ihr objektiver Charakter verdanken sich, unter anderem, 1 intersubjektiven kulturgeschichtlichen Ideen oder Idealen, die auf die Natur an sich projiziert worden sind. 2 So viele Bedeutungen von Landschaft, Wildnis und Ökosystem gibtes-wie wir noch sehen werden- vor allem, weil in jeder der verschiedenen Kulturen jeweils unterschiedliche Vorstellungen über Individualität und Gesellschaft existieren. 3 (Wieso wir meinen können, dies gelte auch für Natur als Ökosystem, obwohl sie Gegenstand naturwissenschaftlicher, wertungsfreier Betrachtung ist, s. S. 52 ff.) Weil es eine Ideengeschichte, eine Geschichte der Politik und Ökonomie und einen >Zeitgeist< gibt, gibt es auch eine Kulturgeschichte der Natur, die nicht allein physische Veränderungen der Natur durch den Menschen beinhaltet. Die Geschichte der Diskurse über >LandschaftWildnis< und >Ökosystem< ist nicht die einer Annähemng an die Erkenntnis des wahren Wesens dieser Gegenstände. Vielmehr zeigt sie den Wandel und die Konkurrenz kultureller Sinnsysteme und insbesondere den Wandel der Art und Weise, wie sich der Mensch mittels des >AnderenNatur an sich< die Möglichkeiten kultureller Konstruktion von >Natur für uns< begrenzt. Wir bestreiten auch nicht, obwohl wir die Bedeutung kultureller Ideen betonen, den Anteil anderer Aspekte der gesellschaftlichen Realität an der Konstruktion von Natur, etwa den von Diskursen und alltagsweltlichen Praktiken. Ebenso wenig schließen wir >idealistisch< aus, dass kulturgeschichtliche Ideen im praktischen, materiellen gesellschaftlichen Sein gründen. Vgl. z. B. Berger/Luckmann 1966, Derrida 1998, Eder 1988, Eise! 1991, 2004, 2005, Fischer 2004, Foucault 1966, Gill 2003, Groh/Groh 1996a/b, Großklaus/Oldemeyer 1983, Lenk 1995, Röd 1991, Trepl1994, 1997. Eise! 1982, 1991 , 2004,2005, Freudenthal1982, Gaier 1989a: 140, Kirchhoff2005, 2007, Merchant 1990: insb. 69, Siegmund 2002, Voigt 2008.
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schiedeneu Zeiten, von 1500 bis zur Gegenwart, und Ländern mit unterschiedlichen Kulturen zu (Deutschland, England, Frankreich, Holland, Italien, Ungarn, USA, China). Manche Beiträge geben einen Überblick, andere rekonstruieren detailliert bestimmte Bedeutungen. So ergibt sich insgesamt ein breites Spektrum inspirierender Zugänge zu Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtlichen Phänomenen.
Landschaft- Wildnis -Ökosystem Im Folgenden wollen wir einen systematischen Überblick über das Themenfeld >Landschaft - Wildnis - Ökosystem< geben. Dazu bieten wir im ersten Schritt eine klare Abgrenzung und eine allgemeine Charakterisierung dieser Begriffe an. Sie geht davon aus, dass ihnen unterschiedliche Urteile über Natur zugrunde liegen: ein ästhetisches oder ein moralischpraktisches oder ein theoretisches Urteil. Im zweiten Schritt betrachten wir jeden dieser Begriffe differenziert; d. h., wir charakterisieren konkurrierende Auffassungen darüber, was eine Landschaft bzw. eine Wildnis bzw. ein Ökosystem ist. Am ausführlichsten behandeln wir dabei Auffassungen von Natur als Landschaft, die den Schwerpunkt der Buchbeiträge bilden. In unseren Überblick flechten wir Hinweise auf die einzelnen Beiträge ein - das Ull-Symbol kennzeichnet sie-, die deren Inhalt allerdings keinesfalls ausschöpfen, sondern ihn nur auf die von uns vorgeschlagene Ordnung jenes Themenfeldes beziehen. Wir entwickeln unseren Überblick in Anlehnung an eine Methode, die zwar etwas aus der Mode gekommen ist, aber dem Ziel der Charakterisierung und Differenzierung kulturbedingter Realitätsauffassungen nach wie vor sehr gut dienen kann: nämlich Max Webers (1904) Methodik der idealtypischen Begriffsbildung.4 Das heißt, wir verfahren so, dass wir jeweils einen oder einige Aspekte aus tatsächlich vertretenen Auffassungen von Landschaft, Wildnis und Ökosystem herausgreifen und einseitig steigern. Wir erhalten damit zwar keine deskriptiven Definitionen, aber dennoch Begriffsbestimmungen, die nicht lediglich ausgedacht sind; denn sie basieren auf den tatsächlich vorhandenen Auffassungen. Das Resultat ist kein Klassifikationsschema, sondern eine Heuristik idealer Grenzbegriffe, mit denen sich in den realen Diskursen Unterschiede und Gemeinsamkeiten auffinden und begrifflich bestimmen lassen. 5 lde4 5
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Vgl. Schmid 1994, Hirsch Radom 1997, Gerhardt 2001 , Eisel2004. Wir wählen diese Form von kulturwissenschaftlichem Ansatz, die man ideengeschichtlich nennen kann, weil sie uns am geeignetsten erscheint, Bedeutungsunterschiede systematisch zu entfalten. Unbeachtet bleibt dabei, wie Positionen realgeschichtlich entstehen.
LANDSCHAFT, WILDNIS, ÖKOSYSTEM. EINLEITENDER ÜBERBLICK
altypen bringen also nicht normativ einen eigenen Standpunkt zum Ausdruck, sondern dienen dazu, wertungsfrei Standpunkte zu charakterisieren und so Diskurse zu rekonstruieren. W Zu dieser Methode s. GISELA KANGLER, MARKUS SCHWARZER, ANDREA SIEGMUND, VERA VICENZOTTI und ANNETTE VOIGT. mJ Ein System idealtypischer Begriffe mag angesichts der vielfältigen, nuancenreichen Realität zu rigide erscheinen - das ist ja ein Standardvorwurf gegen die Bildung von Idealtypen. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass man ohne Typenbildung nicht mehr erkennt als ein Chaos von Bedeutungen, die in unbestimmter Weise ineinander übergehen; tun sie es nicht, hat man unausgesprochen doch Idealtypen gebildet. Mithilfe einer Typisierung lassen sich die tatsächlich vertretenen Auffassungen, die immer theoretisch fundierte Verbindungen oder auch bloß eklektizistische Vermischungen der Idealtypen sind, systematisch zueinander ins Verhältnis setzen. Allerdings darf man dabei nicht der Gefahr erliegen, die tatsächlich vertretenen Auffassungen so zurechtzubiegen, dass sie den idealtypischen Unterscheidungen entsprechen. - Es mag auch als nachteilig erscheinen, dass idealtypische Begriffe fast immer vom üblichen Sprachgebrauch abweichen; so bezeichnet nach unserer Idealtypik der Begriff>Wildnis< nicht einen bestimmten Untertyp von Landschaft, sondern das Resultat eines andersartigen, eigenständigen Typs von Naturauffassung (vgl. auch Fußn. 26). Der übliche Sprachgebrauch ist aber interdisziplinär und sogar innerhalb der meisten wissenschaftlichen Disziplinen nicht einstimmig. Hält man sich an ihn, bleibt man also in der Sprachverwinung verfangen.- Wenn wir eindeutige idealtypische Begriffsbestimmungen entwickeln, heißt das allerdings nicht, dass wir den Sprachgebrauch mit einer idealen Universalsprache normieren möchten, wie es die Logischen Positivisten vorschwebte. Das Einsetzen einer solchen Norm halten wir nicht nur für unmöglich, sandem auch nicht für sinnvoll, weil sie produktive Sprachspiele6 verhindern und die wohlbegründeten Unterschiede in den Traditionen der Kulturen (Alltagssprache) bzw. Disziplinen (Fachsprachen) unterminieren würde. Deshalb haben wir bewusst darauf verzichtet, für die Beiträge dieses Buches den Autoren einen bestimmten Sprachgebrauch vorzugeben. Ebenso wenig wäre es sinnvoll gewesen, unsere Idealtypik zur Norm für die Beiträge zu machen, denn eine Idealtypik muss in Abhängigkeit vom Erkenntnisinteresse gewählt werden 7 6 7
Vgl. Wittgensteins Theorie des Sprachspiels, der zufolge sprachliches Verhalten ein Verhalten in einer Vielheit von Sprachwelten ist, die auf keine Einheit reduzierbarund von ihr her bestimmbar sind (Schulz 1967: 61-63). Ohnehin haben wir unsere Idealtypik erst nachträglich, inspiriert auch durch die Beiträge dieses Bandes, entwickelt.
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Natur: ästhetisch, moralisch, theoretisch beurteilt Bei unserer idealtypischen Unterscheidung und Charakterisierung von >LandschaftWildnis< und >Ökosystem< nutzen wir die in der modernen Philosophie geläufige Unterscheidung dreier Urteilsformen: des ästhetischen, des moralisch-praktischen und des theoretischen Urteils. 8 Wir gehen davon aus, dass Auffassungen von Natur als Landschaft auf einem ästhetischen, von Natur als Wildnis auf einem moralisch-praktischen und von Natur als Ökosystem auf einem theoretischen Urteil beruhen, wobei die primäre Urteilform die jeweilige Naturauffassung nicht unbedingt vollständig bestimmt. Mit anderen Worten: Primär ist Landschaft ein ästhetischer, Wildnis ein moralischer und Ökosystem ein theoretischer Gegenstand bzw. Begriff von Natur. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen darüber, in welchem Verhältnis zueinander diese drei Urteilsformen stehen. Sie finden sich in den Auffassungen von Landschaft, Wildnis und Ökosystem wieder: (1) Die drei Urteilsf01men als unabhängig oder getrennt voneinander anzusehen, ist konstitutiv für das moderne Denken. Ihm gelten die Antworten auf die Fragen, ob etwas schön oder gut oder wahr ist, als unabhängig voneinander. Angewandt auf unsere Thematik heißt das: Landschaft, Wildnis und Ökosystem sind, weil ihnen verschiedene Urteilsformen zugrunde liegen, kategorial verschiedene Gegenstände. Das heißt, eine Landschaft kann weder Ökosystem noch Wildnis sein, eine Wildnis weder Landschaft noch Ökosystem, ein Ökosystem weder Landschaft noch Wildnis. Eine und dieselbe Gegend kann allerdings einmal eine Landschaft, einmal eine Wildnis, einmal ein Ökosystem sein, je nachdem, ob der Betrachter die Gegend ästhetisch oder moralisch oder theoretisch beurteilt. m Deutlich wird dies insbesondere im Beitrag von KLAUSDIETER HUPKE, der charakteristische Rezeptionsphasen des tropischen Regenwaldes rekonstruiert. (2) Es gibt im modernen Denken aber auch Kritik an der Annahme, die drei Urteilsforn1en seien unabhängig voneinander. Es wird, indem man die alte Idee der Identität des Guten, Wahren und Schönen transformiert, angenommen, sie seien zwar unterscheidbar, aber miteinander verbunden. Damit ergeben sich Sichtweisen, in denen Landschaft, Wildnis und Ökosystem konvergieren. 9 (3) Die Annahme, die drei Urteils-
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Das ästhetische Urteil ist der Einbildungskraft, der Kunst, dem Schönen zuzuordnen, das moralische der Vernunft, der Politik, dem Guten, das theoretische dem Verstand, der Wissenschaft, dem Wahrem. Die Idee dieser Verbundenheit zeigt sich aktuell z. B., wenn man sich wundert, dass Windkrafträder eine schöne Landschaft beeinträchtigen, obwohl man sie ftir gut, weil >ökologisch< oder nachhaltig hält.
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formen seien unabhängig voneinander, hat sich seit Beginn der Neuzeit sukzessive ausgebildet. Zunächst wurde das Wahre vom Schönen und Guten getrennt, während man das Schöne noch mit dem Guten verband. Für unsere Thematik bedeutet dies vor allem, dass der ästhetische Gegenstand Landschaft damit zugleich als ein moralischer angesehen wird. (4) Auch wenn man von einer Eigenständigkeit des ästhetischen und moralischen Urteils ausgeht, wird zumeist eine Verbindung des Schönen mit dem Guten angenommen, die dann aber nicht ontologisch, sondern symbolisch gedeutet wird. Diese relativierenden und differenzierenden Ausführungen machen unsere idealtypische Charakterisierung, die von der Unterscheidung der drei Urteilsformen ausgeht, nicht hinfällig oder erweisen sie gar als falsch. Vielmehr zeigen sie bereits, wie eine Idealtypik es erlaubt, reale Positionen systematisch voneinander abzugrenzen und zu rekonstruieren.
Landschaft: Natur als ästhetische Ganzheit Wenn man, wie wir es tun, Landschaft als ästhetischen Gegenstand definiert, muss man darauf hinweisen, dass das Wort >Landschaft< auch verwendet wird, um einen moralischen oder einen scheinbar theoretischen Gegenstand zu bezeichnen. 10 Zunächst hatte das Wort >Landschaft< nicht ästhetische, sondern topographisch-politische Bedeutung und war somit ein moralischer Begriff Im Althochdeutschen und entsprechend in anderen germanischen Sprachen bezeichnet >landscaf< einen durch den Geltungsbereich eines bestimmten Rechts fest umrissenen Landstrich. Im Mittelhochdeutschen meint >lantschaft< auch die Gesamtheit der Stände eines Landes, also ein Personenkollektiv, wird in diesem Sinn heutzutage aber kaum noch gebraucht. Ästhetische Bedeutungen lassen sich seit der frühen Neuzeit belegen: 11 >Landschaftlandschaplandscapepaesaggiopaysage< usw. bezeichnen nun als Fachtermini der europäischen Malerei die bildliehe Darstellung einer Gegend; zum Teil erst viel später etablieren sich diese Termini auch in der Literatur und Gebildetensprache, wo sie nun nicht mehr die gemalte, sondern die betrachtete reale Gegend meinen.
10 Metaphorische Verwendungsweisen des Landschaftsbegriffs wie sie z. B. mit >Parteien1andschaft< und mit dem wissenschaftlichen Begriff >Landschaft landscape< in bestimmten, biologischen Richtungen der Landschaftsökologie (z. B. Wiens) vorliegen, berücksichtigen wir hier nicht. 11 Manche Autoren setzen ein relevantes Vorkommen dieser Naturauffassung später an, z. B. spricht Hard (1983: 154) vom 17. bis 19. Jhd. Andere sehen eine frühere Entstehung durch römische Autoren wie Plinius belegt (z. B. Groh 1999: 266-269).
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lnfolge gesellschaftlicher Lernprozesse, in denen der Blick durch Landschaftsgemälde, -beschreibungen und -gärten geschult und präformiert wird, dehnt man die ästhetische Sichtweise auf immer mehr Gegenden aus und sieht sie als Landschaften an. 12 W DOMTNIK BRÜCKNER erschließt den Bedeutungswandel von >Landschaft< durch eine wortsemantische Analyse deutschsprachiger Quellen seit dem 18. Jahrhundert. W Die scheinbar theoretische, also nur scheinbar aus wertungsfreier wissenschaftlicher Forschung resultierende Verwendung des Wortes >Landschaftgeographischen Landschaft< als einer homogen struierten [sie] Raumeinheit«. 16 Vgl. Metraux (1986), der das Misslingen aller Versuche, >Landschaft< aus geowissenschaftliehen Theorien heraus zu definieren, damit erklärt, dass dieser Begriff, anders als >SchichtSedimentierung< usw., diffuse ästhetische Konnotationen hat.- Versuche, Landschaft als rein theoretischen Gegenstand zu definieren, gibt es auch in anderen Disziplinen, z. B. in der Landschaftsarchitektur, wenn Prominski (2004) eine »Landschaft Drei« anstrebt, deren Gestaltung frei sein soll von der Idee der ästhetischen, harmonischen Kulturlandschaft, die er wegen ihres konservativen Charakters ablehnt. Zur Kritik dieses Versuchs s. Eisel2007a, Körner 2006.
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fe lässt sich, wenn man vor allem der sprachwissenschaftlichen, philosophischen und kunsthistorischen Literatur folgt, idealtypisch so bestimmen: Eine von der Natur allein oder von Natur und Menschenhand geformte Gegend ist eine Landschaft, wenn sie ein empfindender Betrachter ästhetisch als harmonische, individuelle, konkrete Ganzheit sieht, die ihn umgibt. 17 Diese Charakterisierung sei kurz erläutert. (1) Landschaft ist ästhetisch in einem weiten Sinn: Sie ist Gegenstand sinnlicher, raumzeitlicher Anschauung und Empfindung, nicht des begrifflichen, theoretischen Denkens. (2) Sie ist ästhetisch im engen Sinn: Sie ist eine Gegend, die in einem Geschmacksurteil als schön beurteilt wird; d. h., ihre anschauliche Form oder Gestalt wird als harmonisch beurteilt. - Diese ästhetische Harmonie kann als Symbol eines moralischen Ideals gedeutet werden, und das ist auch der Fall. 18 Der ästhetische Gegenstand Landschaft bekommt dann moralische Bedeutung, wobei Landschaft stets positiv, als sinnliches ldealbild, auf die als richtig angesehene Form gesellschaftlicher Ordnung bezogen ist. 19 Unterschiedliche Landschaftsauffassungen ergeben sich, weil jene ästhetische Harmonie und damit auch ihr Symbolcharakter unterschiedlich gedeutet wird (s. S. 25). (3) Landschaft ist im doppelten Sinn individuell: (a) Sie ist strukturell individuell, nämlich eine Ganzheit oder individuelle, harmonische Einheit einer Mannigfaltigkeit von Elementen. Es handelt sich um eine ästhetisch, in der sinnlichen Anschauung gegebene und nicht um eine theoretisch-begrifflich gebildete Einheit. Somit ist Landschaft eine konkrete Ganzheit: eine harmonische Einheit konkreter Gegenstände wie Bäume, Felder, Himmel usw. (b) Eine Landschaft ist individuell mit Blick auf ihre Eigenschaften, d. h. qualitativ individuell, aber nicht nur zufalligerweise wie jeder konkrete Gegenstand, sondern wesentlich wie ein individuelles Lebewesen oder eine Person; d. h., sie hat einen besonderen Charakter. 20 (4) Weil Landschaft eine konkrete Ganzheit von besonderem Charakter ist, kann es nur ein Ausschnitt der Erdoberfläche (Gegend) sein, den man
17 Zu dieser Charakterisierung und ihrer Erläuterungs. Simme11913/1957, Friedländer 1947, Ritter 1963/1974, Hard 1970, 1983, Winkler 1974, Piepmeier 1980a/b, Eisel1982: 158-161, 1997,2001, Boehm 1985, 1986, Lobsien 1986, Metraux 1986, Smuda 1986, Stierle 1989, Weber 1989, See] 1991: 221-229, Trepl 1997: 470f., 485, Siegmund 2002, Trepl et al. 2005. 18 Es ist sogar zu vermuten, dass dieser Symbolcharakter bestehen muss, wenn es sich bei einer Gegend um eine Landschaft handeln soll. 19 Somit ist Landschaft im Wesentlichen der Naturvorstellung zuzuordnen, die Gill (2003: 54) als identitätsorientiert bezeichnet, im Gegensatz zur alteritäts- (s. fußn. 22) und utilitätsorientierten (s. fußn. 29). I1IlJ MARKUS SCHWARZER greift diese Typisierung in seinem Beitrag auf. Q 20 Siehe aber Ritter 1974: 178, 183.
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als Landschaft sieht; denn eine allumfassende Totalität kann nicht Gegenstand empirischer Anschauung sein (Popper 1991: 78) und auch nicht qualitativ individuell sein, weil es nichts gäbe, wovon sie sich unterscheiden könnte. (5) Landschaft setzt einen empfindenden Betrachter voraus, der die äußere Natur aus einem bestimmten inneren, >seelischen< Zustand heraus ansieht. Spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ist dies ein individuell empfindender Betrachter.
Wildnis: Natur als Gegenweit zu moralischer Ordnung Auch flir die unterschiedlichen Bedeutungen von >Wildniswildemessvildmarkscene di disordineregion sauvagelugar salvaje< usw. lässt sich idealtypisch ein gemeinsamer Kern herauskristallisieren? 1 Eine Gegend wird als Wildnis bezeichnet, wenn sie entweder insgesamt als wild erscheint oder durch in ihr vorkommendes Wildes geprägt zu sein scheint. Dabei bedeutet das >Wilde< das Unkontrollierte oder sogar Unkontrollierbare - und deshalb das Bedrohliche, Schreckliche, Unberechenbare usw. ; d. h., es steht Regeln, Idealen oder Zielen entgegen, die handlungsleitend oder verbindlich für eine Gruppe oder Gesellschaft sind. Kurz gesagt: Wildnis ist eine Gegend, die als Gegenwelt zur moralisch (als gut oder böse/schlecht) beurteilten kulturellen Ordnung angesehen wird. 22 - Weil es unterschiedliche moralische Ordnungen und Ziele gibt, als deren Gegenwelt äußere Natur vorgestellt wird, gibt es auch viele Bedeutungen von Wildnis. Diese sind negativ oder positiv, je nachdem, ob die korrespondierende kulturelle Ordnung oder Zielsetzung positiv oder negativ gewertet wird. >Wild< ist keine naturwissenschaftlich beschreibbare Eigenschaft, und >Wildnis< kein naturwissenschaftlicher Gegenstand. Diese Begriffe bezeichnen vielmehr in der Gesellschaft entstandene Bedeutungen der Natur. Als moralische Gegenwelt betrachtet ist Natur nichts Physisches; ebenso wenig, wie die Bedeutung eines Musikstücks es ist, wenngleich ein Physiker eine Melodie als Abfolge von Luftschwingungen beschreiben kann. Wildnis ist, in der Terminologie der Drei-Welten-Lehre von Popper23 , keineswegs Teil des Physischen (Welt 1); sie ist etwas Subjektiv-Psychisches (Welt 2) und Teil des kollektiven, >objektiven Geistes< (Welt 3). Deshalb schlagen alle Versuche fehl, Wildnis bzw. den Wild21 Vgl. Duerr 1979, Eise! 2007b: 398, Groh/Groh 1996b: 8, Hoheisel et al. 2005, Kambartel 2004, KanglerNicenzotti 2007, Nash 1967/2001, Oelschlaeger 1991, Schwarzer 2007, Stremlow/Sidler 2002: 20-40. 22 Wildnis ist im Wesentlichen eine der Naturvorstellungen, die Gill (2003: 54) alteritätsorientiert nennt, aber auch eine utilitätsorientierte. 23 Popper 1973: 87-89, 168. 22
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nisbegriff durch naturwissenschaftliche Kriterien zu definieren, 24 etwa als weitgehend natürliches Ökosystem einer bestimmten Größe. Solche Versuche definieren nur scheinbar Wildnis. Das fällt nur nicht gleich auf, weil die Parameter, die man für die Definition wählt, stark positiv mit der Wahrscheinlichkeit ko1Telieren, dass einer Gegend in der gerade vorherrschenden gesellschaftlichen Deutung die Bedeutung >Wildnis< zugeschrieben wird. Man kann vorästhetische von ästhetischen Wildnisauffassungen unterscheiden: Ästhetische, die sich erst seit dem 17. Jahrhundert bilden, bestimmen, von einem Geschmacksurteil ausgehend, eine Gegend als Gegenwelt zur moralischen Ordnung. In vorästhetischen ist das nicht der Fall. Hier ist von einer Gegenwelt die Rede, weil von der Natur einer Gegend reale, physische Bedrohungen ausgehen oder weil einer Gegend symbolisch oder allegorisch bestimmte moralische Bedeutungen zugewiesen worden sind. Vorästhetische Wildnis ist entweder bedrohliche materielle Natur, in der man nicht oder nur unter großen Gefahren leben kann (lebensbedrohender Ort), oder aber sie ist symbolischer oder allegorischer Ort des Schrecklichen, also locus terribilis im Gegensatz zum locus amoenus. 25 Dagegen setzen ästhetische Auffassungen von Wildnis eine Distanz zur realen Bedrohung durch die Natur voraus, und die konkrete Natur selbst, nicht ein Symbol oder eine Allegorie, ist Ausgangspunkt der Beurteilung. Ist aber unsere kategoriale Unterscheidung von Landschaft und Wildnis nicht hinfällig, wenn einerseits Landschaft als ästhetischer Gegenstand auch moralischen Gehalt haben kann und andererseits ästhetische Wildnisauffassungen existieren? Das ist nicht der Fall. Erstens ermöglicht diese idealtypische Unterscheidung die Differenzierung in ästhetische und vorästhetische Wildnisbegriffe, hat also heuristische Funktion. Zweitens gibt es trotz jener Überschneidungen eine grundlegende Differenz. Diese besteht allerdings nicht darin, dass Landschaft ästhetisch zweckmäßig, also schön, Wildnis dagegen ästhetisch unzweckmäßig, also hässlich ist; denn das ist nicht eine kategoriale, sondern nur eine semantische Differenz innerhalb der ästhetischen Beurteilung. Entscheidend ist vielmehr, dass das Empfinden von Erhabenheit, das konstitutiv für ästhetische Auffassungen von Wildnis ist, sich nur einstellt, wenn das ästhetische Empfinden der Unzweckmäßigkeit das moralische Empfinden der Achtung für etwas Höheres hervo1Tuft (s. S. 46 f.). Beurteilt man eine Gegend als erhabene Wildnis, 26 ist das ästhetische Urteil 24 Vgl. Hoheisel et al. 2005: 42, Nash 2001: 1, 5, Vicenzotti 2007. 25 Zum locus amoenus s. S. 31, zum locus terribilis Garber 1974.
26 Wir bezeichnen, entgegen einer verbreiteten Redeweise, eine Gegend, die das Empfinden von Erhabenheit hervorruft, nicht als >erhabene Landschalk 23
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also nur der Ausgangspunkt, beurteilt man sie als Landschaft, so ist es zugleich der Endpunkt der Beurteilung. Landschaft symbolisiert höchstens sekundär etwas Moralisches, Wildnis dagegen ist, auch als ästhetische, primär etwas Moralisches. Und sofern Landschaft Symbol für etwas Moralisches ist, gehört diese Symbolfunktion nicht mehr zum Bewusstsein der ästhetischen Wahrnehmung selbst, sondern sie ist eine Entdeckung des reflektierenden moralischen Bewusstseins.27
Ökosystem: Natur in theoretischer Perspektive Wie lässt sich schließlich die Auffassung von Natur als Ökosystem charakterisieren? Natur ist ein Ökosystem, wenn sie mit dem Ziel intersubjektiver, begrifflicher Erkenntnis wertungsfrei, kurz: naturwissenschaftlich, betrachtet wird und in dieser methodischen Einstellung Gesellschaften von Organismen mit Blick auf ihre Umweltbeziehungen thematisiert werden. 28 - Ökosysteme sind Gegenstände der Naturwissenschaft Ökologie. Für diese ist wie für jede Naturwissenschaft konstitutiv, dass die gewonnenen Erkenntnisse über die Natur intersubjektiv, also fl.ir jedermann prinzipiell nachvollziehbar sind, und nicht bewertet werden, also weder ästhetisch noch moralisch, und auch nicht nach technisch-praktischen Kriterien. Das gilt, obwohl die Ökologie, wie jede moderne Naturwissenschaft, insgesamt dem Interesse der Naturbeherrschung dient, »die Wirklichkeit unter dem leitenden Interesse an der möglichen informativen Sicherung und Erweiterung erfolgskontrollierten Handelns« (Habermas 1968: 157) erschließt. 29 Die Biologie und damit ihre Subdisziplin Ökologie unterscheidet sich grundsätzlich von allen anderen Naturwissenschaften. Sie untersucht nämlich Organismen, also von unbelebten Dingen kategorial verschiedene Gegenstände, 30 und diese nicht als Ansammlungen chemischer Elemente, als physikalische Massen usw., sondern als Organismen, d. h. als lebendige Ganzheiten.
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Denn dieses Empfinden beruht nicht darauf, dass die Gegend ästhetisch zweckmäßig ist, was aber konstitutiv für Landschaft ist. Wir wenden hier eine Differenzierung an, die Seel (1990: 182) in seiner Deutung von Kants Theorie des Naturschönen macht. Vgl. Trepl 2005: 15-23, 443-451. Genangenommen wird nur in holistischen Ökosystemtheorien die Existenz von Gesellschaften angenommen, die reale Einheiten sind und als ganze Umweltbeziehungen haben; individualistische Theorie kennen nur Umweltbeziehungen einzelner Organismen(arten), die kollektiv betrachtet werden können (vgl. S. 52 ff.). Insofern ist die theoretische Beurteilung von Natur der Naturvorstellung zuzuordnen, die Gill (2003: 54) utilitätsorientiert nennt. Vgl. Köchy 2003, Trepl2005: 443-498.
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Nachdem wir die Begriffe >LandschaftWildnis< und >Ökosystem< idealtypisch voneinander abgegrenzt und allgemein charakterisiert haben, kommen wir nun zum zweiten Schritt unseres einleitenden Überblicks: Wir zeigen die jeweilige Vieldeutigkeit dieser Begriffe auf. Als deren Grund haben wir oben angegeben, dass bei der ästhetischen, der moralischen und ebenso bei der theoretischen Betrachtung der Natur jeweils unterschiedliche kulturgeschichtliche Vorstellungen von Individualität oder Gesellschaft auf die Natur projiziert werden. Ausgehend von dieser These charakterisieren wir nun konkurrierende Auffassungen darüber, was eine Landschaft bzw. eine Wildnis bzw. ein Ökosystem ist.
Landschaft: Nur eine ästhetische Ganzheit? Landschaft haben wir idealtypisch als Gegend charakterisiert, die ein empfindender Betrachter ästhetisch als harmonische, individuelle, konkrete Ganzheit sieht. In diesem Kapitel wollen wir systematisch das Spektrum der Landschaftsauffassungen erschließen. Dabei unterscheiden wir, einer in großen Teilen der Philosophie üblichen Gegenüberstellung folgend, subjektivistische und objektivistische Auffassungen. Deren Gegensatz dominiert bis heute die Kontroversen um den Landschaftsbegriff. Ein entsprechender Gegensatz prägt die Debatten um den Wildnis- und um den Ökosystembegriff
Subjektivistische versus objektivistische Landschaftsbegriffe Landschaft ist eine Gegend, deren Formen als harmonisch und deshalb als schön beurteilt werden. Unterschiedliche Landschaftsbegriffe ergeben sich, analog zu unterschiedlichen Theorien des Schönen, weil diese formale Harmonie subjektivistisch oder objektivistisch gedeutet wird. In subjektivistischer Deutung liegt der Maßstab ftir die formale Harmonie bzw. die Schönheit einer Gegend ausschließlich im Subjekt,3 1 wobei zwei Varianten zu unterscheiden sind. Entweder: Die Schönheit einer Gegend beruht nicht darauf, dass sie als objektiv zweckmäßig, also als nützlich, als angenehm oder als Selbstzweck beurteilt wird; sie beruht vielmehr ausschließlich auf ihrer subjektiven formalen Zweckmäßigkeit,32 auf der Harmonie ihrer Formen, wie sie von der Einbildungs31 Das impliziert nicht die Annahme, es gebe nur Privatgeschmäcker; denn der subjektive Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils kann als allgemein in empiristischem (Konventionen, Gewohnheiten) oder transzendentalphilosophischem Sinn begriffen werden. 32 Wir benutzen hier und im Folgenden Kants Differenzierung des Zweckmäßigkeitsbegriffs (s. Kant KdU: §§ 61-63; vgl. Tonelli 1957/58).
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kraft aufgefasst werden (subjektivistisch-formale, antifunktionalistische Ästhetik). 33 Oder: Die Harmonie der Form bzw. die Schönheit ist Zeichen der Nützlichkeit oder Annehmlichkeit einer Gegend für den Menschen; die subjektive formale Zweckmäßigkeit gründet also in einer objektiven äußeren (subjektivistisch-funktionalistische Ästhetik). 34 In objektivistischer Deutung ist die formale Harmonie bzw. die Schönheit, die der Betrachter empfindet, Zeichen einer inneren, vom Betrachter unabhängigen Eigenschaft der Gegend: nämlich des harmonischen funktionalen Kausalzusammenhangs ihrer Teile. Ihre Schönheit ist Ausdruck dieses inneren Zusammenhangs und Maß flir die Vollkommenheit ihrer Organisation oder >Selbstzweckhaftigkeitc also Ausdruck objektiver innerer Zweckmäßigkeit (objektivistisch-funktionalistische Ästhetik). 35 In subjektivistischer Deutung ist Landschaft ontologisch eine ausschließlich mental, im empfindenden Subjekt existierende Ganzheit. Sie ist ausschließlich eine ästhetische, bildhafte Vorstellung; 36 denn nur für das betrachtende Subjekt und nur relativ zu ihm besteht die harmonische Einheit (Konstruktivismus). Ihre moralische Bedeutung beschränkt sich darauf, Symbol eines gesellschafts- und subjekttheoretischen Ideals zu sein. - In objektivistischer Deutung ist Landschaft ontologisch primär eine extramental reale, funktionale Ganzheit, eine ganzheitliche materielle Wirklichkeit. Denn das Prinzip ihrer Einheit ist ihr immanent (Realismus). Damit konvergiert der objektivistische Landschaftsbegriff mit dem holistischen Ökosystembegriff (s. S. 54 ff.). Landschaft als ästhetische, bildhafte Ganzheit ist dann ein sekundäres Phänomen: nämlich die Weise, auf die der Mensch die primäre materielle Ganzheit Landschaft einfühlend wahrzunehmen und anhand ihrer Schönheit zu beurteilen vermag. 37 Die moralische Bedeutung von Landschaft liegt nicht nur darin, Symbol eines gesellschafts- und subjekttheoretischen Ideals zu sein, sondern sie hat zudem als materieller Gegenstand normativen Charakter: Sie ist eine Vorgabe für gutes, sinnvolles oder gottgefLandschaft< (Hard 1970: 20, 1983) und Resultat der »Transformation eines ästhetischen Ideals in ein funktionalistisches und teleologisches Ideal« (Eise! 1982: 165). Vgl. zu dieser Transformation S. 40 u. 56.
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flir die richtige Form von Vergesellschaftung und damit der Entwicklung von Kultur; die Schönheit einer Kulturlandschaft ist Ausdruck gelungener kultureller Entwicklung.
Genese der konträren Landschaftsbegriffe Die Entstehung subjektivistischer Landschaftsbegriffe lässt sich mit Joachim Ritter ( 1963), dessen Interpretation vielfach aufgegriffen und differenziert worden ist, als Komplement des Prozesses deuten, in dem die universellen metaphysischen Sinnsysteme, die die Natur als reale Ganzheit bestimmen, ihre Geltung verlieren. 3s Landschaft ist ein Phänomen, das in der Tradition der antiken theoria bzw. der mittelalterlichen Kontemplation steht: der von praktischen Zwecken freien, vernünftig-begrifflichen Betrachtung der ganzen Natur, in der sich der menschliche Geist dem alles umgreifenden >GanzenGöttlichen< zuwendet. Landschaft entsteht nun komplementär39 dazu, dass der Mensch sich mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft als freies Subjekt begreift, Natur zum Objekt seiner Bedürfnisse versachlicht und in den Naturwissenschaften objektiviert und partialisiert: Indem der Mensch Landschaft sieht, hält er sich subjektiv-ästhetisch die ganze Natur gegenwärtig, die an sich, durch die neuzeitliche Wissenschaft und kulturelle Praxis, verloren ist. 40 Das geschieht, indem er die Natur, die in ihrem tiefen Sein und Sinn nichts von Individualität weiß, durch einen teilenden und das Geteilte zu Sondereinheiten bildenden Blick zu der j eweiligen individuellen Ganzheit >Landschaft< umbaut. Das Ganzheitliche an einer Landschaft ist also kein substanzieller oder materieller Zusammenhang, nicht das Wirkungsgefüge zwischen ihren Komponenten, sondern die subjektive Einheit, die mit dem individuellen Blick gegeben ist. nilJ Jö RN BOHR behandelt, wie im Sehen von Landschaft Hinsehen und Absehen sowie 38 Zum Folgenden s. Ritter 1974, Simmel 1957, s. auch Piepmeier 1980a/b, Eisel1 982, 1997: 40,2001: 170, Smuda 1986, Stierle 1989, Weber 1989, Dinnebier 1996, Siegmund 2002: 18- 38. 39 Nach Marquardt (1976) und Sieferle (1986: 258) formuliert Ritter eine Kompensations-, nicht eine Komplementaritätstheorie. Dieser Deutungen widersprechen Groh/Groh 1996b: 100-104, 154-170. 40 Die ideengeschichtliche Basis dieser partialisierenden Objektivierung sind voluntaristisch-nominalistische Kosmologien, in denen aus der Willensfreiheit Gottes gefolgert wird, dass er die Welt nicht als ein rationales System erschaffen hat, sondern als eine willkürliche Menge wesentlich individueller und in ihrem Wesen voneinander unabhängiger Geschöpfe (Ockham). Glauben und Wissen werden getrennt; unvoreingenommene, vorurteilsfreie Erfahrung wird zur alleinigen Basis flir die Erkenntnis der Welt und die Selbstbehauptung in ihr (Ockham, F. Bacon) (s. z. B. Adams 1987, Blumenberg 1966, 1983, Hochsletter 1927, Kirchhoff 2007: 363-389). 27
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kulturalistische, konstruktivistische und religiöse, anagogische Komponenten miteinander verbunden sind. m Eine Gegend so als Landschaft sehen zu können, setzt lebensweltliche Distanz zum ökonomischen Kontext des bewirtschafteten Landes voraus; denn erst dann, wenn der Mensch sich einer Gegend ästhetisch, d. h. ohne praktische Absicht zuwendet, können seine bestimmten Interessen an Wald, Acker, Gewässer usw. und damit deren Sonderbedeutungen zugunsten des ganzheitlichen Phänomens Landschaft wegfallen. Der Mensch muss den gesellschaftlichen Kontext der Versachlichung verlassen, um eine Gegend ästhetisch als Landschaft sehen zu können; allerdings ist eben diese Versachlichung, weil sie die Menschen von der Natur freimacht, die Voraussetzung für eben diese ästhetische Naturbetrachtung. Landschaft ist »als ästhetisch angeschaute Natur das wissenschaftsentlastete, arbeitsentlastete, handlungsentlastete Korrelat der wissenschaftlich erforschten, in Arbeit und Handlung gesellschaftlich augeeigneten Natur« (Piepmeier 1980b: 17). 41 W LUDWIG FISCHER thematisiett, dass wir, obwohl dies so ist, eine Relation zur gesellschaftlichen Organisation von Arbeit eingehen, wenn wir überhaupt von Landschaft sprechen; denn die Wahrnehmung und Beurteilung von Natur als Landschaft wird bestimmt durch Annahmen über die Formbestimmung und die gesellschaftliche Organisation von Arbeit. W Verschiedene Autoren42 haben Ritters Interpretation kritisiert: Landschaft ist für sie nicht als subjektives Komplement zu der durch Naturwissenschaft partialisierten Natur entstanden, sondern im Rahmen eines universellen metaphysischen Sinnsystems, in dem Natur noch als reale Ganzheit bestimmt wird. Damit rekonstruieren diese Autoren ideengeschichtlich die Entstehung objektivistischer Landschaftsbegrijfe. (Sie rekonstruieren diese, was nicht impliziert, dass sie sie selbst vertreten.) Die ideengeschichtliche Basis, um Natur als Landschaft sehen zu können, sind für diese Autoren die neuzeitlichen optimistischen Kosmologien. ln diesen wird die Welt bzw. ganze Natur als von Gott erschaffenes harmonisches, rationales System begriffen, das seitdem selbsttätig nach göttlichen Naturgesetzen funktioniert und sich selbst reguliert (Leibniz, Newton); sie ist eine mechanische Totalität- und als solche Gottes verobjektivierter Geist und zugleich wissenschaftlich objektivierte Natur. Naturphänomene zu erklären, fallt damit zusammen, Gott zu verstehen und zu ehren. So sucht die Physikotheologie (Ray, Derham; Linnes Oeconomia naturae), durch detaillierte Naturerkenntnis die Vollkorn41 Zu diesem Absatz s. Simmel 1957, Ritter 1963/1974: 146f., 150-162, 174, Piepmeier 1980a: 14, 16, Weber 1989: 109, Groh/Groh 1996b: 105. 42 Z. B. Sieferle 1986, Schlaeger 1989, Groh/Groh 1996alb.
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menheit des Schöpfers zu erweisen. 43 -Die Auffassung von Natur als Landschaft sei, so meinen die Kritiker Ritters, nicht mit dem Ende der Geltung metaphysischer Sinnsysteme entstanden, sondern als das Pendant dieser optimistischen Kosmologien: Die rationale, harmonische Einheit der W elt finde ihr ästhetisches Korrelat in der sichtbaren Einheit von Landschaften; diese seien damit die sinnliche Erscheinung des vollkommenen und harmonischen Ganzen einer durch natürliche Gesetzmäßigkeiteil geregelten Naturordnung; Ritters Deutung treffe erst für das Naturverständnis seit der Frühromantik zu. 44 Landschaft ist demnach, zumindest m sprünglich, die individualisierte, konkret-materielle Form des Kosmos, nicht das subjektive, ästhetische Komplementär- oder sogar Kompensationsphänomen zu dessen ideengeschichtlichem Ende. Es erweist sich also, dass Landschaft nicht nur in subjektivistischer, sondern auch in objektivistischer Deutung ein kulturell bedingtes oder erzeugtes Phänomen ist. Landschaft ist, auch wenn sie nicht als ausschließlich bildhafte Vorstellung, sondern als ganzheitliche materielle Wirklichkeit gedeutet wird - entgegen dem Selbstverständnis der Vertreter dieser Deutung - kein schon immer vorhandener Gegenstand; vielmehr ist Landschaft eine auf bestimmte Weise konstruierte Natur.
43 Diese Kosmologien führen die Theorien vom >Buch der Natur< weiter, denen zufolge Gott sich nicht nur in der Bibel, sondern zuvor schon in der Natur offenbart hat (Cusanus, Bonaventura). Im späten Mittelalter konvergieren diese Theorien mit dem Ideal wissenschaftlich-experimenteller Naturerkenntnis (Kepler, Galilei); die instrumentelle Vernunft, die man bisher nur als Fähigkeit zur KonstJuktion eigener, unnatürlicher Ordnungen gedeutet hat, soll nun auch die Einsicht liefem, zu der bisher nur die kontemplative Vernunft als fähig galt: nämlich Einsicht in die vernünftige Ordnung der natürlichen Welt selbst. Das ist möglich, weil das Buch der Natur in mathematischer Schrift geschrieben ist (Galilei). Die Trennung von Glauben und Wissen, die aus voluntaristisch-nominalistischen Kosmologien folgt (s. Fußn. 40), wird so vermieden; allerdings müssen Gottes mathematischer Verstand und die von ihm erschaffene Ordnung der Welt als unendlich komplex begriffen werden, damit der endliche Mensch zwar an seinen Gedanken teilhaben, nicht aber Gott erkennen kann - ein Wunsch, der als blasphemisch gilt. (Apel 1955, Blumenberg 1957, 1983, Eiset 1997: 76, 106, Gloy 1995: 146-172, Koseharke 1990: 23- 38, Nobis 1971, Rothacker 1979) 44 Sieferle 1986: 241-244, Groh/Groh 1996b: 105-108. Piepmeier (1980a: 17) hingegen meint, in der Romantik wiederhole sich in verschärfter Form diejenige Krise metaphysischer Sinnsysteme, in deren Kontext, wie Ritter zutreffend deutet, die Auffassung von Natur als Landschaft entstanden ist.
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Vom /ocus amoenus zur Landschaft Subjektivistische und objektivistische Landschaftsbegriffe haben, wie angedeutet, gemeinsame ideengeschichtliche Voraussetzungen. Zwei wollen wir hervorheben. Die erste ist die Aufwertung und gleichzeitige Objektivierung der äußeren, materiellen Natur im spätmittelalterlichen christlichen Denken. Lange Zeit gilt die Natur als gottloser Ort; die Zuwendung zu ihr ist, wie ein von körperlichen Bedürfnissen gesteuertes Leben, moralisch verwerflich und ungeeignet, um Gott und die Weltordnung zu erkennen. 45 Ausgehend von der Wiederentdeckung der aristotelischen Philosophie findet über Jahrhunderte hinweg eine ontologische und erkenntnistheoretische Aufwertung statt, in deren Konsequenz man die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaften sehen kann. Diese Aufwertung vollzieht sich sowohl in den rationalistisch-universalienrealistischen Kosmologien (vgl. Fußn. 43) als auch in den gegnerischen voluntaristisch-nominalistischen (vgl. Fußn. 40). W Zu diesen Kosmologien s. THOMAS KIRCHHOFF und SYLVIA HAIDER sowie ANNE HASS. WJ In beiden wird nun angenommen, Gott habe, weil er allmächtig ist, Geschöpfe hervorbringen können, die sich selbst erhalten und dabei natürlichen Kräften unterliegen; diese wirken seit ihrer Erschaffung unabhängig von Gott (übertragene Kausalität), er muss nicht, wie man zuvor annahm, permanent auf unerforschbare, übernatürliche Weise in die Welt eingreifen. 46 Diese wird somit als eigenständige Wirklichkeit begriffen. Die zweite wichtige Voraussetzung ftir das ästhetische Phänomen Landschaft ist die Aufwertung des Subjekts, seiner Individualität und Innerlichkeit. Nicht zufällig beginnt man in der italienischen Renaissance etwa zeitgleich eine Gegend als Landschaft zu betrachten und Porträts zu malen. Diese Porträts zeigen eine individuell gesehene und sehende Person, wohingegen die Menschen in früheren Genrebildern verschiedene Ausdtucksklassen und Funktionen exemplifizieren. »Für Landschaft und Porträt ist ein verwandtes Prinzip der Individualisierung bildbestimmend ... : >Im Porträt findet das aus der göttlichen Bindung sich lösende >Ich< sein Gegenüber im >DuDraußenliberal< offenbar alle Positionen, die für die Freiheit des Einzelnen eintreten. Das aber ist terminologisch missverständlich und
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Symbol tugendhafter Vergesellschaftung
Die Landschaftsauffassung, die aus dem Subjekt- und Gesellschaftsideal der rationalistischen Aufklärung resultiert, entwickeln wir anhand der Theorien Rousseaus, der nicht nur dem Liberalismus widerspricht, sondern auch der in der französischen Aufklärung verbreiteten Fortschrittsidee. Nach Rousseau ist der Mensch im Naturzustand, der homme sauvage, geleitet zugleich durch den Selbsterhaltungstrieb, der sich im Gefühl der Selbstliebe zeigt, und durch Mitleid, nämlich die angeborene Abneigung, ein fühlendes Wesen und vor allem seinesgleichen leiden zu sehen; deshalb lebt er unbewusst nach der Maxime, das eigene Wohlergehen mit dem geringstmöglichen Schaden für andere zu verfolgen. Die Vergesellschaftung der ursprünglich isoliert und autark lebenden Menschen verändert jedoch ihr Wesen: Der homme civilise hat Sprache und Vernunft entwickelt, was in Verbindung mit gesellschaftlicher Ungleichheit Neid und Konkurrenz hervorgebracht hat; die in sich ruhende Selbstliebe ist depraviert zur egoistischen Selbstsucht, sodass Habsucht zu einem gesellschaftlichen Kriegszustand geführt hat. -Um diesen Zustand gesellschaftlichen Verfalls und individueller Entfremdung zu überwinden, müssen die Menschen mit ihrer Vernunft zu der Einsicht gelangen, dass sich die Ziele der Selbstliebe unter den Bedingungen fortgeschrittener Vergesellschaftung nur verwirklichen lassen, wenn sie durch Vertrag miteinander einen corps politique mit einem Gemeinwillen (volonte generale) konstituieren, dem sie sich, d. h. ihren Sonderwillen (volonte particuliere), freiwillig unterwerfen. Dieser Gemeinwille äußert sich darin, dass er, jeweils (basis-)demokratisch legitimiert, diejenigen Gesetze erlässt, welche für die Sicherung der Freiheit des Einzelnen und den Ausgleich ihrer Interessen erforderlich sind. An die Stelle der vorreflexiven, begriffslosen natürlichen Güte tritt die Tugend; die zur Selbstsucht depravierte Selbstliebe wird beim Übergang zum Bürger der Republik (citoyen) veredelt zur amour de !'ordre: einer Ordnung, die man nicht nur selbst erschaffen hat, sondern deren Teil man ist. Der Gesellschaftsvertrag ist nicht wie im Liberalismus ein rationales Mittel zur kollektiven Verfolgung egoistischer Interessen, sondern der Mensch realisiert mit ihm die natürlichen Möglichkeiten humaner Existenz; der Vertragsschluss ist ein Akt der Selbstvervollkommnung, der corps politique kein Mittel, sondern ein Selbstzweck.60
ignoriert, dass es unterschiedliche, ja dem Liberalismus ausdrücklich entgegenstehende Freiheitsideale gibt. 60 Zu diesem Absatz s. Rousseau 1755, 1762; vgl. Fetscher 1980, Jonas 1976: 53-63 , Cooper 1999, Vanderheiden 2002, Bubner 1989: 404--408.
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Ein Symbol seines Gesellschaftsideals ist für Rousseau der Landschaftsgarten, nicht aber einer wie der von Cobham in Stowe, der idealisiert verschiedene Epochen und Gegenden bildhaft darstellt; denn damit versinnbildlicht er für Rousseau den Prozess zivilisatorischen Verfalls. Seinem Gestaltungsideal entspricht vielmehr ein Garten, in dem eine harmonische Vielfalt von Tieren und Pflanzen bewusst hergestellt ist, aber als naturgegeben erscheint; so ein Garten ist das Elysium, das er in »Julie ou La nouvelle Heloise« beschreibt und über das er Julie sagen lässt: »Es ist wahr, ... dass die Natur alles gemacht hat, aber unter meiner Leitung, und es gibt dort nichts, das ich nicht angeordnet hätte.«61 - Dabei dienen pastorale Gegenden als Gestaltungsvorbild, und sie werden auch selbst als schöne Landschaften angesehen. Denn für Rousseau ist das Goldene Zeitalter der Menschheitsgeschichte das der natürlichen Hirtengemeinschaften gewesen; in ihnen bzw. im homme barbare sieht er das »juste milieu« zwischen homme sauvage und homme civilise; die Hirtengemeinschaft ist das natürliche Analogon zur Republik der Tugend. 62 Symbol für Sittlichkeit Für Kant gründet das Naturschöne, worunter man wohl Landschaften subsumieren darf, in einem Gefühl der Lust, dessen Grund, frei von theoretischem und praktischem Interesse, die subjektive, formale Zweckmäßigkeit des betrachteten Gegenstandes ist: Seine Form ist, so wie sie von der Einbildungskraft aufgefasst wird, zufälligerweise so beschaffen, dass der reflektierenden Urteilskraft eine Vereinigung der Anschauung mit Begriffen des Verstandes zu einer Erkenntnis überhaupt möglich erscheint, ohne auf eine bestimmte Erkenntnis gerichtet zu sein. Diese Übereinstimmung im freien Spiel der beiden Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand bewirkt ein interesseloses Wohlgefallen. 63 Wenngleich Kant das Schöne strikt vom Guten trennt, sieht er eine Verbindung des Geschmacksurteils zum Bereich des Moralischen und nennt das Naturschöne ein »Symbol des Sittlichguten« (KdU: B 258). Er deduziert diese Verbindung aus der empirischen Tatsache, dass man für ein Geschmacksurteil, obwohl sein Bestimmungsgrund subjektiv ist, Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt(§§ 17-20, § 59/B 258): Dieser Anspruch gründet darin, dass das ästhetische Wohlgefallen am Naturschönen unabhängig von Interessen ist und deshalb »keine Privatbedin61 Rousseau 1761 : Lettre XI a mi1ord Edouard; Übers. T. K. Zum gesamten Absatz s. ebd., vgl. Butt1ar 1989: 124, Eise11982: 158, Gaier 1989a: 148151, Lloyd 1993: 63, Neumeyer 1947: 189-192. 62 Siehe, auch zu Rousseaus Gründen, Fetscher 1980: 35-44, 307/Anm. 11. 63 Kant KdU: Einl. Vll f., §§ 5, 9-12, 15, 17; vgl. Seell990: 184 f.
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gungen als Gründe« (B 17) hat; so erweist dieses Wohlgefallen, dass man aus den Grenzen seines Privatbewusstseins in die allgemeine Dimension der Menschheit überzugehen (Gemeinsinn)(§§ 20-22) und seine Urteile am Denken und Fühlen der Vernunft und damit am Sittlichguten zu orientieren ve1mag. Diese Verbindung zeige sich zudem darin, dass die Struktur des Geschmacksurteils analog ist zu der des kategorischen Imperativs (§ 59): 64 Mit diesem gibt das Subjekt seiner Freiheit selbst das Gesetz, in jenem die reflektierende Einbildungskraft sich selbst das Prinzip der Beurteilung des Gegenstandes. In diesem ist die Freiheit des Menschen etwas Unbedingtes, das sich nur freiwillig selbst binden kann; in jenem wird die äußere Natur nicht unter Gesetze subsumiert, sondern gewährt frei die Gunst der formalen Zweckmäßigkeit. Die Vernunft verlangt, ein anderes Vernunftwesen niemals bloß als Mittel zu betrachten; im ästhetischen Urteil abstrahiert man vom möglichen Nutzen des Gegenstandes. So ist ein Geschmacksurteil, in dem Natur als schön beurteilt wird, quasi der kategorische Imperativ im Gefühl; das Interesse am Naturschönen verweist auf das am Sittlichguten.
Objektivismus: Landschaft als materielle, funktionale Ganzheit Aus der Vielfalt objektivistischer Landschaftsauffassungen greifen wir nur zwei heraus: Die Moralphilosophie von Shaftesbury steht beispielhaft für frühe, physikotheologische Positionen. Anhand von Herders Theorien erläutern wir eine einerseits naturalisierte und andererseits geschichtsphilosophische und kulturtheoretische Weiterentwicklung solcher Positionen, die bis heute überaus einflussreich ist (s. S. 40). So beziehen sich auch viele Beiträge dieses Buches explizit oder implizit auf Herders Kulturtheorie und Geschichtsphilosophie, ohne sie allerdings bei der gebotenen Kürze entwickeln zu können. Mikrokosmos und Ausdruck tugendhaften Lebens Shaftesburys Moralphilosophie, die insbesondere gegen Hobbes und Locke gerichtet ist, basiert auf einer rationalistischen Kosmologie: Gott ist nicht nur der allmächtige Herr des Himmelreichs, sondern auch der Hausvater, der in weiser Ökonomie die Welt als eine Ordnung eingerichtet hat, in der jedes Geschöpf seiner Art und damit dem Ganzen dient, indem es, an seinem Platz, die seinem Wesen gemäße Funktion erfüllt (Shaftesbury C 5-8). Shaftesbury nennt die Welt eine >>God-govern 'd
64 Kant KdU: §§ 6-8, 18-22, 36, 42, 57-60, KpV: § § 1, 7 f. ; Kaulbach 1984: 61, 91 f. , 110, 131-143, 151, 161-166, Recki 2001, Seel1990: 185 f.
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Machine« (C 190), beschreibt sie jedoch auch als organische Ganzheit: »See there the mutual Dependency ofThings! the Relation of one to another; ... the Order, Union, and Coherence of the Whole! « (C 162 f.; vgl. C 10 f., 197 f., 209, 217)- Entsprechend ist ftir die Menschen Vergesellschaftung natürlich und existenznotwendig (C 174, 179). Ihre naturgegebenen, ichbezogenen Neigungen sind nicht, wie Hobbes und Locke sagen, auf egoistische Selbstbehauptung gerichtet, sondern haben ihre Bestimmung in der Erhaltung des gesellschaftlichen und letztlich kosmischen Ganzen, das jedes Individuum wie ein Mikrokosmos repräsentiert (Aldridge 1951: 302 f.); die individuellen Neigungen sind zugleich allgemeine und stehen in einer »Balance ofthe Affections« (C 55-57, 7577). Gut und tugendhaft ist, was zum Wohlergehen des Systems beiträgt (C 8-12); Tugend hat, entgegen der Ansicht von »nominal Moralists« (C 145), absoluten Charakter: »any Fashion, Law, Custom or Religion ... can never alter the eternal Measures, and immutable independentNature of Worthand Virtue« (C 21; vgl. C 151). Der Mensch kann die kosmische Ordnung erkennen, ohne religiöser Offenbarung zu bedürfen; sie ist uns jedoch wegen ihrer Komplexität nicht naturwissenschaftlich zugänglich (C 164, 217), sondern nur sinnlich durch einen >matural moral Sense« (C 25-29). Dieser moralische Sinn muss bei jedem Menschen allerdings erst noch ausgebildet werden (Aldridge 1951: 298) und kann durch unnatürliche Sitten, Erziehung und Gewohnheit, durch Leidenschaften oder korrupte Religion geschwächt oder gar zerstört werden (C 23- 26, 30, 55 f.). Befördern lässt er sich durch ästhetische Zuwendung zur Natur: Der Mensch nimmt, wenn er sich kontemplativ der äußeren Natur zuwendet, nicht nur deren Schönheit wahr, sondern wird in einer ästhetischen Intuition auch von der Einsicht in ihre göttliche Ordnung hingerissen (»reasonable Extasy«, »Enthusiasm«) (C II: 43, 219-228); und die ästhetische Ordnung der Natur befördert die Tugend, denn diese »is it-self no other than Love of Order and Beauty in Society« (C 43). Die Überzeugung, dass das Schöne mit dem Guten identisch ist (C 223, 232), ist die Basis dieser Konzeption. Damit diese moralische Entwicklung gelingen kann, muss der Einzelne möglichst frei von willkürlichen gesellschaftlichen Zwängen, etwa durch despotische Herrschaft, sein (C 146-158; Gill 2008). Denn die soziale Ordnung beruht, ebenso wie die kosmische, nicht auf allgemeinen, abstrakten Prinzipien; vielmehr gründet sie darin, dass die Menschen, wie alle Geschöpfe, in und aufgrund ihrer naturgegebenen Individualität (vgl. C 197) in harmonischen Beziehungen zueinander stehen. 65
65 Zu den letzten beiden Absätzen s. Aldridge 1951, Cowan 1998, Eise! 1997: 96-98, Gill 2008, Glauser 2002, Lühe 1996: 58, Townsend 1982, 1987.
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Landschaftsgärten sind wohl in vielen Fällen als Symbol dieses Weltentwurfs entstanden. Das hat Buttlar überzeugend dargestellt, der als ihre kulturelle Grundlage eine neue Ordo-Vorstellung beschreibt, derzufolge die Welt »ein System ineinandergreifender, aber selbständiger und heterogener Elemente [war], das der >Architekt des Universums< im Sinn einer prästabilierten Harmonie konstmiert hatte, und in dem alles einzelne sich im Rahmen der ihm eigenen Natur frei entfalten konnte« (1982: 19). Der Landsitz werde nun von Shaftesbury, Pope und anderen als entsprechend verfasster Mikrokosmos begriffen, der Landschaftsgarten zum Freiheitssymbol, weil in ihm die Gewächse ihre Individualität, gemäß ihren natürlichen, wesenseigenen Anlagen, frei entfalten können; der Barockgarten symbolisiere nun die Unterdrückung natürlicher Individualität durch die despotische Ordnung des Ancien Regime. 66 Allerdings soll der Landschaftsgarten hier das Ideal angestammter, naturwüchsiger Tradition und guter, patriarchalischer Herrschaft der humanistischen englischen Feudalaristokratie und Countryopposition symbolisieren, die sich gegen die liberale Position des fortschrittlichen englischen Bürgertums (Whigs; Locke) richten; Landsitze, Landschaftsgärten und Landschaften werden als reale Mikrokosmen und Orte tugendhaften Lebens begriffen, die Teil einer vorgegebenen Ordnung sind, nicht einer vernünftig zu konstruierenden. 67 Deshalb ist es falsch, dass Buttlar den Landschaftsgarten als »Symbol eines liberalen Weltentwurfs« bezeichnet (vgl. S. 34).
Einzigartige, organische Einheit von Land und Leuten Herder entwickelt, aufbauend auf Shaftesburys Moralphilosophie und Leibniz' rationalistische Monadologie, eine aufklämngskritische Kulturtheorie und Geschichtsphilosophie. 68 Er interpretiert die Menschheitsgeschichte als die vernunftgeleitete Fortsetzung der Naturgeschichte: So, wie die Organisationsweise eines Lebewesens zugleich durch seine organische Kraft und seine Umwelt bestimmt ist, muss die kulturelle Entwicklung eines Volkes, wenn sie gelingen soll, zugleich bestimmt sein durch den »Charakter« oder »Genius eines Volks« und durch die physischen Bedingungen (»Clima«) des »Landes« oder »Erdstrichs«, in dem es lebt. Diese beiden Determinanten beeinflussen sich wechselseitig: das jeweilige »Clima« prägt die Sinnlichkeit und Denkart des Volkes, das 66 Buttlar 1982: 19, 140- 142, 1989: 10--13. Vgl. unsere Fußn. 50 aufS. 31. 67 Vgl. Vesting 2002: insb. 7-9, 127. 68 Zum Folgenden vgl. Gadamer 1942, Eise! 1980: 277-288, 1992, Sauder (Hg.) 1987, Malsch 1990, Sperrcer 1996, Heinz 1997, Beiser 1998, Kirchhoff2005, 2007: 489-495.
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Volk prägt sein Land, indem es dieses zweckmäßig gestaltet, d. h. kultiviert. Im Laufe ihrer Geschichte bildet so jede Kultur eine organische, Mensch und Natur umgreifende Einheit, die einzigartig ist, weil jedes Volk besondere Anlagen hat undjedes Land spezifische Anpassungen erfordert bzw. Nutzungsmöglichkeiten bietet. (Jeder Mensch soll zu dieser Entwicklung des als Gemeinschaft organisierten Volkes mit seinen besonderen Begabungen beitragen. Tut er dies, so ist er frei, denn er verwirklicht sich selbst. Der Staat soll dies fördern.) Auf der Erde entsteht so eine Vielfalt einzigartiger, inkommensurabler, gleichberechtigter Formen von Kultur und eben darin besteht, so betont Herder gegen die aufklärerische Idee einer Universalgeschichte, das Ziel der Menschheitsgeschichte; »zur Vollkommenheit der menschlichen Natur gehört, daß sie unter jedem Himmel, nach jeder Zeit und Lebensweise sich neu organisiere und gestalte« (SW XII: 8). Eine Vielfalt von Landschaften mit Eigenart ist der räumlich-materielle Aspekt dieser kulturellen Vielfalt. 69 In seiner Ästhetiktheorie konstatiert Herder, gegen Kant gerichtet, »daß Schönheit die Darstellung, d. i. der sinnliche, zu empfindende Ausdruck einer Vollkommenheit sey« (SW XXII: 104); »das Wahre, Gute, Schöne, unzertrennt und unzertrennlich, sey unsre Losung« ( ebd.: 11 ). Die Schönheit einer Landschaft ist demnach Ausdruck und Maß des bereits erreichten Grades an Vollkommenheit und damit Eigenart einer kulturellen Entwicklungseinheit; zugleich ist die Landschaft, als Teil der Tradition, eine Vorgabe flir die weitere Entwicklung der Kultur. 70 Indem das ästhetische Urteil so mit einem teleologischen verbunden ist, wird Landschaft nicht nur als bildhafte, formale, sondern auch als materielle, funktionale Ganzheit: Eine einzigartige Landschaft ist eine Gegend mit einem charakteristischen, organischen, natürlich-kulturellen Wirkungsgefüge, das sich visuell als Ganzheit charakteristischer Formen äußert. 71 Deshalb kann W. H. Riehl, dessen konservative Kulturkritik aufHerders Theorien beruht, sagen (1850: 69), mit dem »Blick für die >Landschaft< als organische Totalität« beginne die moderne Landschaftsmalerei. Herders Kulturtheorie dominiert, vermittelt über die konservative Kulturkritik, bis heute das Landschaftsverständnis des Heimat- und Naturschutzes, zumindest im deutschen Kulturraum (vgl. Körner 2001). Sie
69 Zu diesem Absatz s. Herder SW V: 505, 509, XII: 8, XTJT: 83, 277, 364, 370, 381, XIV: 38, 83-86, 227, XVII: 122, XVTTI: 308-310. 70 Was in der Aufklärung »als Folge einer Autonomie gedacht war, die zu konstruierende harmonische Landschaft als menschliches Kunstprodukt, wird zur Repräsentation vorbestimmter, harmonischer Evolutionsmechanismen unter der Determination der konkreten Natur« (Eisel1982: 162). 71 Vgl. Eise! 1982: 165, 1987b, 1991, 1997: 107, 139, Winkler 1974: 21. Vgl. auch S. 26 u. 56 dieses Beitrags. 40
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liegt auch dem Landschaftsbegriff und damit dem Forschungsprogramm der klassischen Geographie zugrunde, das sich von Deutschland aus in Europa und in den USA verbreitet hat. 72 Dieses Forschungsprogramm wiederum hat entscheidend dazu beigetragen, dass in der Ökologie holistisch-organizistische Theorien ökologischer Gesellschaften formuliert worden sind (s. S. 55). W KATHINKA NETZERuntersucht mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts formulierten kulturpolitischen Konzept des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe ein typisches Beispiel der regionalistischen Weiterentwicklung von Herders Kulturtheorie. THOMAS KIRCHHOFF und SYLVIA HAIDER kristallisieren aus den aktuellen Diskussionen um Biodiversität und biologische Invasion zwei konträre Konzeptionen heraus: >Biodiversität als lokale Vielfalt< und >Biodiversität als globale Vielzahlzüchterischen Blick< mit dem nomothetischen der Kombinationszüchtung. W
Zwischen Subjektivismus und Objektivismus: Romantische Landschaft als unerreichbares Absolutes Die Frühromantik stellt, beeinflusst durch Fichtes Philosophie, die ihrerseits auf Kants Transzendentalphilosophie aufbaut, das selbstbewusste Ich ins Zentrum. Ihre Vertreter widersprechen aber Fichtes These, dieses Ich könne sich reflexiv selbst in einem absoluten Ich begründen; vielmehr verdanke sich das selbstbewusste Ich dem vorreflexiven, absoluten Sein einer noch ungeschiedenen Subjekt-Objekt-Einheit, die sich mit den Mitteln bewusster Reflexion nicht angemessen fassen lässt, aber im Gefühl (Novalis) oder durch intellektuelle Anschauung (Hölderlin) unmittelbar gewiss sei. ln der Kunst, in der subjektiven Imagination des ästhetisch produktiven Individuums soll dieser absolute Einheitsgrund erfahrbar sein, allerdings immer nur näherungsweise. 73 Natur ist für die Frühromantik nicht wie für Fichte ein vom Ich als Nicht-Ich gesetztes Objekt, sondern ein Du (Novalis), also etwas Gleichartiges, dem man sich deshalb in einer unendlichen Hermeneutik annähern kann (Novalis). 74 Nachdem dogmatische religiöse Sinnsysteme ihre gesellschaftliche Geltung verloren haben, verschafft sich das Subjekt durch seine künstlerische Produktivität vermittels konkreter Natur selbst 72 Duncan 1980, Eise11980, 1992, Glacken 1973, Martin 2005, 01wig 1996. 73 Zu diesem Absatz s. Uerlings 2000: 10, 21-24, 37. 74 Uerlings 2000: 9, 24f.; vgl. Kleßmann 1979: 85, 89. 41
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- als inneres, subjektives Bild- eine ganze, >göttliche< Natur. Die konkrete Natur einer Gegend repräsentiert so etwas Höheres und Inneres, womit sie zur Landschaft wird. 75 Natur, als Landschaft gesehen, soll, auf neue Weise, den Gehalt der christlichen Tradition bewahren und zum neuen Ort der Anbetung werden (Piepmeier 1980a: 17); »wir stehen am Rande aller Religionen, die aus der katholischen entsprangen, ... es drängt sich alles zur Landschaft« (Runge HS 1: 7). Dabei ist man sich bewusst, dass die unmittelbar gesehenen Landschaften nicht einfach die Natur sind und ebenso die Landschaftsgemälde, trotz ihrer (scheinbar) realistischen Darstellung, sie nicht einfach nachahmen, sondern sie künstlerisch deuten: »Wie selbst die Philosophen dahin kommen, daß man alles nur aus sich heraus imaginiert, so sehen wir oder sollten wir sehen in jeder Blume den lebendigen Geist, den der Mensch hineinlegt, und dadurch wird die Landschaft entstehen ... ; so dringt der Mensch seine eigenen Gefühle den Gegenständen um sich her auf, und dadurch erlangt alles Bedeutung und Sprache« (ebd.: 16).- Das heißt aber nicht, dass Landschaft für die Romantik eine nach willkürlichen Prinzipien konstruierte mentale Realität wäre; vielmehr ist sie der individuelle, subjektive Versuch, sich den vorgegebenen, absoluten Grund der eigenen Existenz zu vergegenwärtigen. So symbolisiert die romantische Landschaft weder das aufklärerische Ideal vernünftig konstruierter, von Natur emanzipierter Gesellschaft noch das gegenaufklärerische der gesellschaftlichen Vervollkommnung einer objektiven, göttlichen Naturordnung.76 lllJ Vgl. ANDREA S!EGMUND. lllJ Weil die Romantiker sich der konkreten Natur im Bewusstsein der Vergeblichkeit der Sinnsuche zuwenden, stellen sie Landschaft im Kunstwerk nicht als ganze, harmonische dar: Sie thematisieren vielmehr die Grenzen der harmonischen Landschaft, entweder als Feme oder im Schrecklichen und Bedrohlichen; die ständige Grenzüberschreitung zeigt die Sehnsucht nach der als unwiederbringlich verloren gewussten Harmonie an (Siegmund 2002: 93). Die Feme des Horizonts ist der verlorene Ursprung, wäre die eigentliche Heimat, die aber nicht erreichbar und eine unbekannte Herkunft ist, die sich der bestimmten Erinnerung und Sagbarkeit entzieht (Koschorke 1990: 184 f. ). In der äußeren Erfahrung der Natur ist wie bei der inneren Erkundung des eigenen Unbewussten stets ungewiss, was als Nächstes begegnet. »Der Abgrund ist als Ort der Gefährdung integral in das Gesamtszenario der romantischen Landschaft einbezogen« (ebd.: 247), die somit immer auch Wildnis ist (vgl. S. 50).
75 Eisel1987a: 26f., 2001: 170; vgl. Kleßmann 1979:79. 76 Zu diesem Absatz vgl. Eise! 1987a: 26 f., 2001: 170, Piepmeier 1980a: 17-23, Siegmund 2002: 91-122, Uerlings 2000: 36 f. , Weber 1989: 127. 42
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Wildnis: physische, symbolische und ästhetische Gegenwelt Wildnis ist eine Gegend, die als Gegenwelt zur moralisch als gut oder böse beurteilten kulturellen Ordnung angesehen wird, so haben wir eingangs definiert. Nun wollen wir darstellen, wie sich die Vieldeutigkeit von Wildnis dadurch ergibt, dass sie im Lauf der Kulturgeschichte als Gegenwelt zu unterschiedlichen kulturellen Ordnungen fungiert. W Im Beitrag von GISELA KANGLER, die Wildnisbegriffe in der Bedeutungsgeschichte des Bayerischen Waldes differenziert, sind dazu einige Beispiele zu finden. W Wir unterscheiden hier Bedeutungen von Wildnis, indem wir darstellen, wie sie zunächst lange Zeit das schreckliche >Andere< und die die böse Gegenwelt war, bevor sie positiv bewertet wurde als Zeichen göttlicher Allmacht und als ursprüngliche göttliche Ordnung, und dann auch unterschiedliche profane Bedeutungen erhielt: als Ort der Anregung der Lebenskräfte, als Ort der Selbstbestätigung des Vernunftsubjekts, als Objekt der Kolonisation und zugleich Symbol flir Chaos und für Freiheit sowie, in ganz verschiedener Weise, als Symbol und Ort guter Ursprünglichkeit. Schließlich gehen wir auf ihre Deutung als Zeichen der Auserwähltheil und Quelle individueller Stärke ein. 77 Das schreckliche >Andere
Draußen< bezogen: Sie wird, in 1itualisierter Weise, temporär aufgelöst (Ekstase während der Feste) oder auch räumlich verlassen (lnitiationsriten), sodass und damit sie ihre Selbstverständlichkeit verliert, Bedeutung gewinnt und als prekäre Errungenschaft erkennbar wird, die es u. a. durch Verdrängung des >Anderen< (Tabu) aufrechtzuerhalten gilt; das Verbot und seine Übertretung ermöglichen das geregelte profane Leben. Diese Übertretung lässt sich auch als temporäre (Wieder-)Auflösung der >diskreten< kulturellen Existenz des Menschen in eine universelle Kontinuität, in das heilige Ganze deuten. Das >Draußenstädtischen< Unmoral entgegengestellt (Nash 2001: 46).
87 Vgl. Cronon 1995: 72- 76, Groh/Groh 1996b: 133 f., Lobsien 1986: 163, Nicolson 1959:300-323, Stolnitz 1961: 191,1963: 48f. 88 Brunotte 2000: 161f., Groh/Groh 1996a: 105, 116, Nicolson 1959: 97-100. 89 Zu diesem Absatz vgl. Cowan 1998: 130-136, Groh/Groh 1996b: 130132, Nash 2001: 46, Nicolson 1959: 289-300, Townsend 1982, 1987.
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Profane Wildnis: Ort der Anregung der Lebenskräfte Burke identifiziert in seiner Ästhetiktheorie als Ursache der Empfindung von Schönheit und Erhabenheit, dass die sinnliche Wahrnehmung bestimmter Gegenstände deterministisch, in einem psychophysischen Parallelismus, bestimmte Ideen hervorruft (1757: IV.l f.). Das Empfinden von Erhabenheit resultiert, wenn ein Gegenstand, ohne dass von ihm eine unmittelbare Bedrohung ausgeht, durch Eigenschaften wie obscurity, power und vastness die Idee von Furcht, Schmerz oder Erstaunen hervorruft (II.2 ff.). Dann ist er zugleich delightful, weil es zu einer Straffung der Körperfasern kommt, was die Funktionsfähigkeit des Körpers fördert und so der Selbsterhaltung dient (1.6 f., Il.l, 1V.5- 9). 90 Wildnis ist demnach, ganz profan gesehen, jede Gegend, die die Lebenskräfte anregt.
Ort der Selbstbestätigung des Vernunftsubjekts Kant argumentiert in seiner transzendentalphilosophischen Ästhetiktheorie, dass das Gefühl des Erhabenen weder auf etwas Transzendentem (s. Addison, Shaftesbury) noch auf etwas Natürlichem (s. Burke) basiert, sondern auf einem Widerspruch zwischen der individuellen Sinnlichkeit und der allgemeinen Vernunft mit ihren übersinnlichen Ideen. 91 Übermäßig große oder regellose Naturphänomene überwältigen unser Anschauungsvermögen, dennoch rufen sie in uns »negative Lust« (KdU: B 76) hervor; ähnlich verhält es sich, »wenn wir uns nur in Sicherheit befinden« (B 104), mit Naturphänomenen, deren Macht wir, als Sinnenwesen, nicht widerstehen könnten (KdU: §§ 23-30). Der Grund dieser negativen Lust ist, dass die Betrachtung übermäßig großer und übermächtiger Naturphänomene »eine von der Natur ganz unabhängige Zweckmäßigkeit in uns selbst fühlbar zu machen« (B 78) vermag: Im ersten Fall wird die Idee der Unbegrenztheit bzw. Unendlichkeit hervorgerufen, was die Existenz eines übersinnlichen Vermögens in uns erweist - nämlich unserer Vernunft, die die Idee der Totalität enthält (mathematisch Erhabenes) (§§ 25-27); im zweiten Fall wird der Mensch sich, angesichts seiner physischen Ohnmacht als Naturwesen, seiner prinzipiellen sittlichen Überlegenheit als Vernunftwesen über alles Sinnliche bewusst (dynamisch Erhabenes)(§ 28). Umgekehrt gesehen zeigt das GefLihl des Erhabenen, dass die sittliche Idee vernunftge90 Zu diesem Absatz vgl. Hussey 1927: 54-60, Lobsien 1986: 173, Ryan 2001, Scaramellini 1996: 52, Stolnitz 1961: 191 f. 91 Zum Folgenden vgl. Alpheus 1981: 114-119,313-317, Eisel1987a: 2729, 1991: 175 f., Kaulbach 1984: 161-207, Seel1990: 197 f. 47
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leiteter Freiheit (vgl. S. 37) entwickelt ist; denn andernfalls wäre unzweckmäßige Natur bloß abschreckend (§ 29). Das Gefühl des Erhabenen in der Natur ist also Achtung vor uns selbst als Vernunftwesen (§ 27), wilde Natur nicht selbst erhaben, sondern ausgezeichneter Ort der Selbstbestätigung und-erhöhungdes Vernunftsubjekts (§ 23).
Objekt der Kolonisation, Symbol für Chaos und Freiheit Im fortschrittsoptimistischen aufklärerischen Denken, insbesondere im Liberalismus, ist Natur vor allem sinnlose Materie. 92 Wildnis ist demnach eine Gegend, die noch nicht beherrscht oder genutzt wird. Sie ist Gegenwelt in dem utilitaristischen Sinn, noch nicht dem gesellschaftlichen Nutzenkalkül subsumiert, noch nicht verwertet zu sein. Der Wildnis nicht zu erliegen, sondern sie aus eigener Kraft zu kultivieren oder ihre Ressourcen auszubeuten, hat die moralische Bedeutung, das Ich in seiner bürgerlichen Identität zu bestätigen, denn diese gründet nach Locke auf der Bildung von Eigentum durch Arbeit. 93 Vor allem im puritanischen ökonomischen Individualismus gilt die Kolonisation der Natur zugleich als göttlicher Auftrag (s. z. B. Defoes »Robinson Crusoe«). 94 Negative moralische Bedeutung hat Wildnis im Liberalismus als Symbol des chaotischen, gefährlichen Naturzustandes, den durch einen Gesellschaftsvertrag zu beenden im egoistischen Interesse und deshalb vernünftig ist (s. S. 33). Positiv symbolisiert sie Freiheit von den nützlichen Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft. Als frühe Form dieser Bedeutungszuweisung kann man die Theorie des Pittoresken von Gilpin ansehen: 95 Sie bestimmt das Pittoreske als eine eigenständige ästhetische Kategorie zwischen dem Schönen und Erhabenen. 96 Pittoresk seien vor allem Gegenstände mit Eigenschaften wie »roughness« und »ruggedness« (1792: 6), z. B. »the rude summit, and craggy sides of a mountain« (ebd.: 7). Konstitutiv für das Pittoreske ist, dass die simple ideas, die die Betrachtung solcher Gegenstände hervorruft, sich im individuellen Rezeptionsbewusstsein nicht assoziativ mit anderen Ideen verknüpfen: Es werden weder durch Abstraktion und Vergleich allgemeine Ideen entwickelt noch Bezüge zu gesellschaftlichen Bedeutungen und (Seh-)Konventionen hergestellt, die sonst Natur immer schon geordnet erscheinen
92 Siehe Eise! 1987a: 25 f.; vgl. Oldemeyer 1983: 29 f. 93 Koseharke 1990: 238, Kötzle 1999. 94 Ludwig 1989: 426-430, vgl. Koseharke 1990: 238. 95 Zum Folgenden vgl. Eschenburg 1987: 78, 95, 104, 111, Orestano 2003, Scaramellini 1996: 54, Townsend 1997. 96 Wir meinen hier also nicht, was Gilpin anfanglieh als >pittoresk< definiert, nämlich alles, was sich für die Darstellung in einem Bild eignet.
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lassen; stattdessen wird sie in ihrer augenblicklichen konkreten Beschaffenheit fixiert (Lobsien 1986: 169-172). Ein Garten soll nicht, emblematisch, eine konventionelle Lesart vorschreiben, sondern als Wildnis erscheinen und den Betrachter frei seinen individuellen emotionalen Erfahrungen überlassen (Hunt 1971); »Gilpin's aesthetics were uniquely removed from the constraint of philosophical furniture, allowing visitors to step outside the categories of knowledge that characterize our Western civilization- rather than order or structure, he promoted the value of rambling in the wilderness, and exploring and reflecting on the nature of contrasts and intricacy« (Orestano 2003: 177).
Symbol und Ort guter Ursprünglichkeit Vertreter ganz unterschiedlicher Subjekt- und Gesellschaftsideale, denen die Kritik an der aufklärerischen Fortschrittsidee gemeinsam ist, bestimmen Wildnis als Symbol und auch als realen Ort der verlorenen guten Ursprünglichkeit eines Lebens in harmonischer Einheit mit der Natur und den anderen Menschen. Rousseau gilt als einflussreicher Vertreter einer solchen Ansicht. Das ist berechtigt, weil er dem homme sauvage eine natürliche Güte zuschreibt und sagt, zivilisatorischer Fortschritt gehe mit moralischem Verfall und Entfremdung einher. Allerdings ist das Goldene Zeitalter für Rousseau nicht das des homme sauvage, sondern das des homme barbare. Zudem ist sein Ideal nicht die Rückkehr in dieses Zeitalter, sondern seine Wiederherstellung auf höherer Stufe mittels Vernunft (s. S. 35).97 Eine exotische Gegend, in der jagende und sammelnde hommes sauvages leben, symbolisiert für die Bürger der Republik der Tugend als Wildnis positiv das naive Gute, aber negativ Unvernunft und insgesamt fehlende Menschlichkeit. In Herders aufklärungskritischer Geschichtsphilosophie ist Wildnis der von Gott erschaffene gute Ausgangspunkt kultureller Selbstvervollkommnung:98 Die unkultivierte Natur der Meere, Berge usw. ist, wie bei Shaftesbury, nicht erhaben-zwecklos, sondern erhaben-schöner, integraler Bestandteil des von Gott geordneten Kosmos. Erst im Verlauf ihrer Geschichte haben die Menschen die Fähigkeit erworben, dies zu erkennen. Nach Herder reflektieren Bmke und Karrt, indem sie das Gefühl des Erhabenen von dem des Schönen trennen, eine vergangene Stufe kultu-
97 Die berühmte Formel Retournons a Ia nature stammt nicht von Rousseau, sondern von seinen zeitgenössischen Kritikern. Positiv bezieht er sich nur auf das einfache Leben der Hirtengemeinschaften. 98 Zum Folgenden vgl. Sirnon 2007: 96-98, Stolnitz 1963: 50.
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reller Naturerkenntnis. 99 Allerdings hat Gott den Kosmos nicht als vollendete, sondern als latente, prästabilierte Naturordnung erschaffen, die von den Geschöpfen noch selbst zu realisieren ist: »Das Chaos der Natur sah niemand; absolut genommenistsein Unbegriff: denn Chaos und Natur heben einander auf. ... Alle Wesenheiten und Eigenschaften der Dinge waren in ihm schon vorhanden; ungeregelt äußerte jede schon ihren Trieb, und bestrebte sich ihren Platz einzunehmen; also ward Ordnung. Das Chaos selbst also war ein Streben zur Regel«. 100 So soll auch die Menschheit in ihrer Geschichte den ursprünglichen Zustand verlassen, indem sie vernunftgeleitet Kultm entwickelt und die physische Wildnis kultiviert, wobei deren »Ciima« inhaltliche Vorgabe der Selbstvervollkommnung ist (s. S. 39). Wildnis ist nicht kategoriale, sondern historische Gegenwelt ein früheres Entwicklungsstadium der einzigartigen MenschNatur-Einheiten und Repräsentation des Prinzips spezifischer Möglichkeiten gegenüber der Wirklichkeit kultureller Eigenart. Nach W. H. Riehl ist Wildnis ein notwendiger Jungbrunnen 101 eines Volks: Die gelingende Entwicklung eines »Volksorganismus« (1854: 9) erfordert nicht nur die Ausbildung kultureller Eigenart, die sich in einer einzigartigen Kulturlandschaft äußert, sondern auch die Erhaltung von Wildnis (ebd.: 31 f.). Der Ursprung der Kulturentwicklung muss gegenwärtig bleiben, damit sich die Gesellschaft erneuern und schützen kann vor den negativen Folgen der Industrialisierung, Verstädterung usw. 102 ln dieser Tradition begründet Schoenichen (1939) Naturschutz nicht als Schutz von Kulturlandschaft, sondern von »Urlandschaft«. - Zudem ist Wildnis bei Riehl der Ort, an dem allein die »Culturmenschen noch den Traum einer ... unberührten persönlichen Freiheit genießen« (1854: 34) können. Die Abwesenheit gesellschaftlicher Zwänge genießend, wird der Mensch sich seiner naturgegebenen Individualität, natürlichen Sittlichkeit und individuellen Selbstverantwortung bewusst, seine Persönlichkeit im Rahmen der kulturellen Gemeinschaft auszugestalten. 103 Für die Frühromantik ist Wildnis Ort und Symbol der Freiheit von den Bindungen der Vernunft und der Freiheit flir seine Imaginationstätigkeit Als das Unerklärbare und nicht Fassbare, dem innerlich-psychologisch das Unbewusste entspricht, symbolisiert sie die unerreichbare Ursprünglichkeit, und sie ist der reale Ort der Sehnsucht nach ihr. Es
99 Herder SWXXJT: 231-241 , 245. 100 Herder SWXXII: 245; vgl. XTIT: 98,107, XXI: 67. 101 Diesen Begriffübernehmen wir aus Vicenzotti 2005 (vgl. KanglerNicenzotti 2007: 289). Vgl. Schoenichen (1939: 127), der es als die Berufung des Bauernstandes ansieht, der »Jungborn des ganzen Volkes zu sein«. 102 Vicenzotti 2005:87-104, Schwarzer2007: 67-74. 103 Vicenzotti 2005: 104-107; vgl. Eisel2003: 414.
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wird, ähnlich wie im archaischen Denken, eine Verbindung zwischen Mensch und Natur hergestellt, nun allerdings nicht kollektiv-kulturell durch Verbot und dessen Übertretung, sondern subjektiv-ästhetisch. »Zum Prozeß der romantischen Selbstfindung gehört das vorübergehende Eintreten in dieses Grenzreich der Wildnis, in ein >DraußenManifest DestinyRugged Individualism< hervorgebracht. Der soll - entgegen dem Selbstverständnis der Europäer, die sich als historische Kulturnationen oder als durch die Rasse gestiftete Einheiten begreifen - den amerikanischen Nationalcharakter ausmachen und die Quelle der amerikanischen Demokratie sein (national myth of the frontier). So
104 Siehe Nash 1967/2001, Oe1sch1aeger 1991, Callicott/Ne1son (Hg.) 1998. 105 Zu diesem Absatz s. Brunotte 2000, Christadler 1986: 135-139, Kaufmann 1998: 669 f., 2001: 26--41, Schama 1996: 207- 223, Turner 1914. 51
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bemerkt lrving (1835: Kap.X): »We send our youth abroad to grow luxurious and effeminate in Europe; it appears to me, that a previous tour on the prairies would be more likely to produce that manliness, simplicity, and self-dependence, most in unison with our political institutions«. Mit dem Wegfall der frontierwerden Nationalparks und Wildnisgebiete eingerichtet, damit die Amerikaner durch wilderness recreation ihre Pionierqualitäten erneuern können. 106 [JJ ANNE HASS entwickelt die These, dass der Transzendentalismus von Emerson und Thoreau die philosophische Basis des amerikanischen Freiheitsmythos vom Pionier in der Wildnis ist und damit die Basis ihrer heutigen Bedeutung als Ort der Freiheits- und Selbsterfahrung als Amerikaner. Ihre Analyse offenbart auch, so meinen wir, eine wichtige Gemeinsamkeit dieser amerikanischen Wildnisidee mit der theologischen Deutung von Wildnis, die wir anhand von Shaftesbury beschrieben haben (s. S. 46). W
Ökosysteme: zwischen organizistischem Realismus und individualistischem Konstruktivismus Ökologische Theorien als Projektionen kultureller Ideen Es mag erstaunt haben, dass wir von der kulturellen Vieldeutigkeit auch des Ökosystembegriffs gesprochen haben. Denn >Ökosystem< ist ein naturwissenschaftlicher Begriff, und die Naturwissenschaften beanspruchen, Sachverhalte objektiv zu beschreiben, und d. h. auch: unabhängig von kulturellen, also kulturspezifischen Voraussetzungen ( vgl. S. 24). Aber nicht nur unsere alltagsweltlichen Vorstellungen von Wildnis und Landschaft, sondern auch die Naturauffassungen der Naturwissenschaften sind durch kulturelle Ideen (mit-)bestimmt. Ökologische Theorien sind demnach immer auch Projektionen kultureller Ideen in die Natur, Ökosysteme immer auch kulturell konstruierte Gegenstände - und gerade keine Abbildungen der >Natur an sichVollkommenheit< ist: die Klimaxgesellschaft verändert sich nicht mehr, weil sie ihre Möglichkeiten ausgeschöpft hat. An die Stelle der prästabilierten Harmonie, in die jede Land-und-Leute-Einheit in ihrer Einzigartigkeit und eigenständigen Entwicklung eingebunden ist, tritt die Erde als enkaptische Hierarchie aufeinander abgestimmter Ökosysteme. 114 - Wissenschaftsgeschichtlich ist der Einfluss von Herders Geschichtstheorie auf die Ökologie vor allem damit zu erklären, dass diese sich nicht nur im Rahmen der Biologie entwickelte, sondern zwischen Biologie und Geographie. Die klassische Geographie aber beruht, die Schriften ihres Gründers Carl Ritter belegen dies deutlich, aufHerders Geschichtstheorie. 115 Die holistisch-organizistische Ökologie hat noch aus einer anderen Quelle als Herders Geschichtstheorie einen ästhetischen Gehalt, nämlich aus ihrer eigenen physiognomischen Tradition. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch hat sie sich vor allem als eine Wissenschaft von »physiognomischen Einheiten« entwickelt. Das begann um 1800 mit dem System der Pflanzenformen Alexander von Humboldts, das von diesem explizit als Hilfe für Landschaftsmaler gedacht war. Ordnungsprinzip dieses Systems waren äußere, von weitem sichtbare Formen- Vegetationsformen, wie man sagte. Das sind die Formen, auf die der Maler, nicht der Botaniker achtet. Der Maler unterscheidet Laub- und Nadelbäume, Palmen und Gräser, er achtet nicht auf die Anzahl der Staubblätter. Diese Formen drücken nach Humboldt etwas »Inneres«, nämlich die Stimmung der Landschaft aus; z. B. bringt die Palmenform die Stimmung südlicher Gestade zum Ausdruck, und der Nadelholzform »ewig frisches Grün erheitert die öde Winterlandschaft« des Nordens. 116 - Genau dieses physiognomische Pflanzensystem tauchte wenig später in der Botanik, also einer Naturwissenschaft auf, aber mit einer völlig veränderten Bedeutung, ohne dass das von den meisten Botanikern oder wie wir heute sagen würden: Pflanzenökologen bemerkt worden wäre. Jetzt kommt z. B. in der Kakteenform nicht mehr die Stimmung mexikanischer Wüsten zum Aus114 Vgl. Kirchhoff2007: 205-214,487-497. 115 Siehe z. B. Ritter 1806. Vgl. die in Fußn. 72 aufS. 41 genannte Literatur. 116 Alle Zitate aus Humbo1dt 1806. 55
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druck, sondern diese Form ist nun »Ausdruck« bestimmter Klimaverhältnisse, d. h. ein kausal erklärbares Resultat physiologischer Prozesse. Das physiognomische System wurde jetzt also auf naturwissenschaftlich beschreibbare Prozesse bezogen, nicht mehr auf Landschaft als einen ästhetischen Gegenstand und ein Sinngebilde. Nachdem man zunächst die Form einzelner Pflanzen betrachtet hatte, sprachen die Ökologen bald auch über »Formationen« wie Wälder, Savannen und Steppen, d. h. über Bestände von Pflanzen, die nach ihrer von weitem sichtbaren räumlichen Gestalt abgegrenzt wurden.- Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann man, eben diese Formationen als »Gesellschaften« zu betrachten. Das heißt, man betrachtete sie nicht mehr als Raumgestalten, sondern als Verbindungen miteinander wechselwirkender Organismen(arten). Der Wald unterscheidet sich nun von der Steppe nicht darum, weil er hoch und dicht ist, sondern weil er aus anderen Pflanzenarten besteht, eine andere Gesellschaft ist. Diese Gesellschaften wurden dann, unter dem Einfluss geographischer Theorien, in struktureller Analogie zu Herders Geschichtstheorie als organische Entwicklungseinheiten interpretiert. 117 Es zeigt sich also, dass die holistische Ökologie - wie die Geographie- auf einer Theorie basiert, die die ästhetische Perspektive ontologisiert, indem sie Landschaften bzw. Landschaftsbestandteile als physisch reale, ökologische Ganzheit begreift. 11 8 In der frühen Ökologie ist dieser ästhetische Ausgangspunkt- wie in der frühen Geographie (vgl. S. 20)noch deutlich präsent. Zum Beispiel sind für den führenden amerikanischen Ökologen Frederic Clements zu Beginn des 20. Jahrhunderts Klimaxgesellschaften immer auch physiognomische, mithin ästhetische Einheiten. In der Mitte des 20. Jahrhunderts ist diese ästhetische Sichtweise weitgehend verschwunden, was aus dem Zwang zur Verwissenschaftlichung resultiert. Den aktuellen Theorien, denen zufolge Ökosysteme komplexe offene Systeme sind, die sich bzw. ihre Stoff- und Energieströme nach thermodynamischen Prinzipien selbst organisieren, scheint diese ästhetische Sichtweise völlig fremd zu sein. Doch das täuscht. ln sehr vielen, wenngleich nicht in allen Fällen werden immer noch ganz selbstverständlich Einheiten wie Seen, Wiesen, Felder und Wälder untersucht, also Einheiten, die dem ästhetischen Blick auffallen. Man untersucht nicht Einheiten der Größenordnung von Kubikmillimetern, die den üblichen Definitionen von Ökosystem nicht weniger genügen würden. 119 Für nicht wenige Ökologen wäre eine vollständige Auf117 Siehe zum gesamten Absatz Trepl 1987: 103-13 8, 1997, Kirchhoff 2007: 487-497, vgl. Eise! 2005, Jax 1998. 118 Vgl. S. 40 sowie Fußn. 37 aufS. 26. 119 Man kann wohl die These vertreten, dass die meisten der heutzutage untersuchten Ökosysteme sich mit den im 19. Jhd. in der Physiognomik z. B. von Griesebach letztlich ästhetisch unterschiedenen Formationen decken.
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listung von Einheiten, die sich durch den ästhetischen Blick ergeben, wie Seen, Wiesen usw. einer vollständigen Auflistung von Ökosystemen gleichzusetzen. Wenn heutzutage Landschaften als Komplexe von Ökosystemen definiert werden, was z. B. in der Landschaftsplanung und in der Landschaftsökologie häufig geschieht, 120 dann wird demnach der ästhetische Gegenstand Landschaft auf eine Weise naturalisiert, die nur scheinbar rein naturwissenschaftlich ist. Wenn heutzutage Wildnis als ein Gebiet natürlicher oder zumindest naturnaher Ökosysteme definiert und wegen dieser Ökosysteme geschützt wird, dann werden damit (nicht immer, aber doch wohl zumeist) ästhetische und moralische Naturauffassungen, insbesondere solche, in denen Wildnis der Ort guter Urspliinglichkeit ist (s. S. 46 u. 49 ff.), in verwissenschaftlichter Form reformuliert. W Vgl. hierzu die Bedeutung, des Bayerischen Waldes, die GISELAKANGLER als »Ökosystem-Wildnis« bezeichnet. IJli
Danksagung Wir danken Alexis Dworski, Thomas Rahn, Markus Schwarzer, Annette Voigt und insbesondere Ulrich Eisel, Gisela Kangler, Gisela und Klaus Kirchhoff, Andrea Siegmund sowie Vera Vicenzotti für Diskussionen, Anregungen und Kritik.
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Es ist wichtig, sich vor Augen zu fUhren, dass die Korpusautoren Literaten sind, und zwar aus einer Zeit, in der Literaturproduktion und -reflexion, Literaturkritik und -theorie noch nicht zu unvereinbaren Gegensätzen konstruiert worden waren. Fragen der Ästhetik wurden von ihnen sowohl praktisch als auch theoretisch verhandelt, teilweise im gleichen Text. So stammen 48 Belege aus Kellers Künstlerroman »Der grüne Heinrich«, 42 weitere (nur z. T. mit den aus der Erstfassung identische) aus seiner Überarbeitung. Auch stellt man fest, dass >Landschaft< kein Lyrikwort ist, wie es für eine Zeit, die in ihren Gedichten gern ihr Innerstes nach außen projiziert, eigentlich zu erwarten wäre. Es wird zwar bisweilen verwendet, aber eher beiläufig, etwa bei Mörike, wo es lediglich Genitivattribut zu »Sommerflor« ist: »Auf ein altes Bild// In grüner Landschaft Sommerflor,I Bei kühlem Wasser, Schilfund Rohr,/ Schau, wie das Knäblein Sündelost Frei spielet auf der Jungfrau Schoß!/ Und dort im Walde wonnesam,/ Ach, grünet schon des Kreuzes Stamm!« (Mörike 1867: 766) Solch beiläufige Verwendungen finden sich auch in der Prosa: »der Hausfreund kann sich nicht genug über die göttliche Weisheit verwundern, die mit einer Sonne auf der ganzen Erde ausreicht, und in die winterlichste Landschaften noch einen lustigen Frühling, und eine fröhliche Ernte bringen kann.« (Hebel 1961: 24) Hier scheint die vermeintlich moderne Bedeutung 4 vorweggenommen; wie noch zu zeigen sein wird, war diese zu dieser Zeit gängig. Wenden wir uns den Belegen für Bedeutung 3 zu, die oben, eine Formulierung Hards (1970: 12) aufgreifend, mit »Auffassungsgestalt der außerstädtischen Umwelt« umschrieben wurde, so fällt zunächst auf, dass Landschaft in dieser Beleggruppe in einer Art sprachlichem Claude-Gias immer als auf den Betrachter bezogen formuliert wird. Landschaft ist nicht etwas Gegebenes, sondern beurteilbar, veränderbar, sogar korrigierbar, schmückende Eingriffe können geboten sein: »Schon legte man in Gedanken unterhalb der Mühle, wo der Bach in die Teiche fließt, eine wegverkürzende und die Landschaft zierende Brücke an« (Goethe 1892: 84). Landschaftskritik ist üblich: »Alles Eckige, scharf Abgeschnittene, Ausgehöhlte, Zugespitzte [einer Landschaft] beleidigt das Auge. Sanft gekrümmte Linien hingegen, allmählige Abfälle, Mannigfaltigkeit in den Biegungen der Absätze, eine liebliche Rundung des Gipfels ... geben der Anhöhe die angenehmste Form.« (Ktünitz 1794: 406) 5 5
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Für den Hinweis, dass sich der Krünitz-Artikel weitgehend auf Ausführungen von C. C. L. Hirschfeld stützt, danke ich Frau Oda Vietze.
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Personifizierung< versammelt sind. Tatsächlich liegt der Fall aber komplizierter: »da saß ich traurig spielend neben ihm, und pflückte das Moos von eines Halbgatts Piedestal, grub eine marmorne Heldenschulter aus dem Schutt, und schnitt den Dombusch und das Heidekraut von den halbbegrabnen Architraven, indes mein Adamas die Landschaft zeichnete, wie sie freundlich tröstend den Ruin umgab, den Weizenhügel, die Oliven, die Ziegenherde, die am Felsen des Gebirgs hing, den Ulmenwald, der von den Gipfeln in das Tal sich stürzte« (Hölderlin 1958: 15). Die Landschaft hier personifiziert als Trösterin zu sehen, stellt eine unangemessene Vereinfachung dar. Wenn ein Gegenstand personifiziert wird, ist dazu ein Personifizierender nötig. Dieser betrachtet die Tröstung in die Landschaft genauso hinein wie er die Traurigkeit in die antiken Ruinen hineinsieht - beide Gefühle spielen jedoch fur das materiell Vorhandene keine Rolle, es wäre auch ohne den flihlenden, literarisch formulierenden Betrachter das, was es ist. Die Tatsache, dass Landschaft in solchen Kontexten betrachtete Natur ist, ist dabei der Semantik des Wortes inhärent, sie ist nicht begrifflich. Landschaft ist immer schon interpretierte Natur. »Man glaubt sich freier auszubreiten, wenn die Bäume so geisterhaft, so durchsichtig vor uns stehen. Sie sind nichts, aber sie decken auch nichts zu. Wie aber einmal Knospen und Blüten kommen, dann wird man ungeduldig, bis das volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkörpert und der Baum sich als eine Gestalt uns entgegendrängt.« (Goethe 1892: 310) Goethe unterscheidet sprachlich deutlich zwischen subjektivem Eindruck (»man glaubt«) und objektivem Sein (»Sie sind«). Inhaltlich wird diese Gegenüberstellung jedoch als rein grammatisch entlarvt: Zwar heißt es »Sie sind nichts«, gleich darauf verkörpert, dreidimensionalisiert sich die Landschaft jedoch aus sich selbst heraus und drängt dem Betrachter den skulptural-körperhaft gewordenen Baum entgegen. Dies führt so weit, dass Landschaft an nicht wenigen Stellen als von einem Künstler komponiert formuliert wird: Der reisende Heinrich etwa 6
Vgl. etwa Sieferle 1997: 26-29 sowie Schindler 2005, wo eine hitzige Diskussion um das Für und Wider von Windkraftanlagen auf der Schwarzwaldlandschaftmit großer Detailfreude nachvollzogen und analysiert wird.
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bemerkte, wie »eine Grundlinie der Landschaft nach der anderen sich verschob und veränderte und aus dem heitern Ziehen und Weben ein ganz neuer Gesichtskreis hervorging, welcher allmählich wieder in einen neuen sich auflöste« (Keller 1958: 23) und man selbst, der man nicht nur der Landschaft gegenüber, sondern auch in der Landschaft sich befindet, begreift sich als Teil einer künstlerischen Komposition: »Obgleich wir noch nichts von landschaftlicher Schönheit zu sagen wußten und einige vielleicht in ihrem Leben nie dazu kamen, flihlten wir alle doch ganz die Natur, und das um so mehr, weil wir mit unserm Freudenzuge eine würdige Staffage in der Landschaft bildeten, weil wir handelnd darin auftraten und daher der peinlichen Sehnsucht der untätigen bedeutungslosen Naturbewunderer enthoben waren.« (Keller 1958: 117 f.) Wendungen wie »in der Landschaft« oder »darin« ähneln frappant dem Sprachgebrauch in gleichzeitigen Bildbeschreibungen und zeigen, wie sehr der Wortgebrauch durch den Begriff der ästhetischen Diskurse der Zeit geprägt ist. Das geht so weit, dass bisweilen sogar Vorder-, Mittelund Hintergrund einer Landschaft unterschieden werden: »Zu beiden Seiten des Schlosses sah man die Landschaft und hinten das liebliche Blau der Gebirge. Die dunkeln Gestalten der Linden, unter denen wir gesessen waren, befanden sich weiter links und störten die Aussicht nicht.« (Stifter 1959: 306)
2. Korpus wissenschaftlicher Rezensionsorgane und Literaturzeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts
Zeltschriftenkorpus 18./19. Jahrhundert Verwaltungsbezirk, 8, 3% Landschaftsmalerei als Genre, 6, 2%
Landstände, 126, 41 %
bildliehe Landschaftsdarstellung, 135, 44%
Gegend, 30, 10%
Abb. 2: Übersicht über die Bedeutungen in Korpus 2
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BEMERKUNGEN ZUM SEMANTISCHEN WANDEL VON >LANDSCHAFT
Die Landschaft ist ... abgezeichnet< oder als >Die Landschaftsdarstellung ist ... gezeichnetästhetisch-pragmatischer Blick< an. Interessant ist dabei die Kluft zwischen Inhalt, Referenzobjekt und Wortverwendung: Die Landschaft steht zwar im Zentrum jeder Überlegung zur Landschaftsmalerei, die WOrtverwendung aber scheint zurückgedrängt auf die Kürzelfunktion, die Fachbegriffe häufig anzunehmen pflegen. Dies gilt auch flir Stellen, an denen die Bedeutung der Landschaft flir die Landschaftsmalerei hervorgehoben wird: »Zweck [der Landschaftsmalereil ist: Erregung einer ästhetischen Stimmung durch die Darstellung idealischer Scenen der landschaftlichen Natur, in denen die Staffage den Zweck hat, den ästhetischen Charakter der Landschaft näher zu bestimmen, und ihr durch ihren Inhalt und ihre poetische Behandlung ein höheres Interesse zu geben.« (Femow 1803: 631) Dieselbe fachsprachliche Routiniertheit findet sich auch im kontextuellen Zusammenhang mit den Techniken der Landschaftsmalerei: »Eben darum, weils so leicht scheint, ein Ding zu komponiren, das ... einer Landschaft so ähnlich sieht, wie der Affe dem Menschen, so wagt sich mancher daran« (Merck 1777: 275). Im Vergleich mit dem Klassikerkorpus ist neben der ungleichen Verteilung zweier von den Zeitgenossen irrtümlich als verschieden rezent eingestuften Bedeutungsgruppen die Gleichzeitigkeit des vermeintlich Ungleichzeitigen zu konstatieren. Die mechanistische Kunstauffassung der akademischen Landschaftsmalerei, hier vor allem vertreten durch Fernow, richtet ihren ästhetisch-pragmatischen Blick ohne Schwärmerei in die Landschaft, aber mit dem Ziel, eine solche, besser noch eine rational sublimierte Reaktion im Betrachter auszulösen.
3. Korpus (trivial-)literarischer und autobiographischer Texte seit 1950 Vor allem die Landschaftsmalerei ist hier stark in den Hintergrund getreten. Es fallt nun eine höchst unliterarische WOrtverwendung auf: Das Bedeutungsspektrum wird von beiläufigen Formulierungen bestimmt wie »Die Landschaft lichtet sich. Die Sicht wird weiter.« (Strittmatter 1963: 185) oder »Laura starrte blicklos in die vorübereilende Landschaft« (Berger 2004: 95). An solchen Stellen - 28 von 77 - wird Landschaft zwar betrachtet, aber ein Subjekt, das die eigene Subjektivität in der Landschaft sich refrangieren lässt, wird sprachlich nicht manifest. Landschaft ist Umgebung: da, aber nur als vorhanden genannt. vor der Seele vorüber; diese aber ergreifen sie, halten sie an. Sie sind anziehend, bezaubernd, erschütternd und erhebend«. 78
BEMERKUNGEN ZUM SEMANTISCHEN WANDEL VON >LANDSCHAFT
natürlichUrsprünglich< oder >Unverfälscht< nennen will, darunter die Natur ebenso wie die nach ihr benannten Völker und ihre kulturellen Hervorbringungen. Ist bei diesen ein solches kulturelles Reinheitsgebot bisweilen als (post-)kolonial-überheblich kritisiert worden, ist Ähnliches bei seinem Pendant schwerer zu erkennen, da Natur ja zumindest die Möglichkeit in sich birgt, >natürlich< (das bedeutet in den Texten meist naiv: >menschfreiVerwaltungsbezirk< und >Landstände< sind noch vorhanden (bezogen auf Schweizer bzw. aufhistorische Verhältnisse), ebenso >Landschaftsmalerei< (in Bezug sowohl auf Einzeldarstellungen als auch auf das gesamte Sujet), auch wenn sich diese Bedeutung in Bereiche zurückzieht, die in Zeitungen kaum mehr Platz finden. Daneben gibt es eine größere Gruppe von Belegen, in denen das Wort Titel oder Teil eines Titels ist, etwa von Broschüren, CDs oder von gemeinschaftlichen Anstrengungen zur Säuberung der Wälder, die dann zumeist »Aktion saubere Landschaft«
11 Vgl. Sieferle 1997: 20-24 und weiterführend Kien 2004.
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BEMERKUNGEN ZUM SEMANTISCHEN WANDEL VON >LANDSCHAFT
Natur< stellen können, die Kontexte sind dafür jedoch meist zu kurz: 12
Zeltschriftenkorpus 20. Jahrhundert Landschaftsmalerei als Genre, 3, 1o/o
Verwaltungsbezirk, 2, 1%
bildliehe darstellung, 22, 9% Gegend (nicht bewertet, topographisch, Umgebung allg.), 103, 41 %
als Titel, 32, 13%
übertragen, 29, 12%
Natur (unberührt/verschandelt, schützenswert), 23, 9%
Gegend (bewertet), 34, 14%
Abb. 4: Übersicht über die Bedeutungen in Korpus 4 Was die Hauptbedeutung angeht, die man etwas hilflos mit >Gegend< etikettieren muss, weil in diesen unspezifischen Formulierungen nichts über sie oder gar über eine innere Haltung des Sprechers zum Ausdruck gebracht wird, ist der geringfügig größere Anteil im Vergleich zur Literatur unserer Zeit nicht signifikant. Allerdings zeichnen sich zwei Differenzierungen deutlicher ab: Zum Einen eine noch unspezifischere Verwendung, in solchen Belegen ist >Landschaft< wohl zu paraphrasieren mit >alles, was den Menschen umgibt< (z. B. »Die Landschaft ist, was wir wahrnehmen, wenn wir uns umsehen.«, taz, 3. 9 .1996), zum Anderen findet sich in immerhin zehn Belegen eine explizite, allenfalls knapp attribuierte Bezugnahme auf die Oberfläche der vom Menschen (noch, zunächst) nicht bebauten Weltteile: »Die [ICE-] Trasse soll wenigstens zum Teil in einem Trog unter der Höhe der umliegenden Landschaft verlaufen, so dass sie optisch nicht so stark ins Gewicht fallt.« (Mannheimer Morgen, 8.3.2001)
12 Vgl. etwa »An die Soldaten wurde ein Merkblatt »Erhaltet unsere Landschaft« verteilt« (taz 15.9.1986). Die Häufigkeit dieser Verwendung ist im Übrigen korpusbedingt, da immer die Septemberausgaben des »Mannheimer Morgen« ausgewählt wurden, ein Monat, in den die alljährliche Bürstädter »Aktion saubere Landschaft« fallt. Daher ist diese Bedeutung um etwa 100% (17 der 32 Belege) überrepräsentiert. 81
DOMINIK BRüCKNER
Man könnte diese Verwendung als Reflex der im 18. Jahrhundert dominierenden Bedeutung >Natur, die betrachtet wird< ansehen. An die prominente Stelle des (opto-)ästhetischen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur ist heute allerdings ein anderes getreten: Die Natur, wenn nicht einfach >schön< oder >reizvollSchützens-< und >erhaltenswertVerschandelt< oder gar >Zerstört< - die semantischen Reflexe der modernen Naturschutzgesellschaft »lm Lechtal tobt der Streit: Wieviel Fortschritt verträgt die Landschaft? Pfarrer gegen Bürgermeister, Ökos gegen Kraftwerksbauer« (taz 11.9.1996). Angesichts dieser Beleglage zu behaupten, die Landschaft als natura naturata habe sich seit dem 18. Jahrhundert - wenn man so will - von einer natura naturanda im Sinne des ins Ästhetische gewendeten christlich-ethischen Herrschaftsauftrags zu einer natura re-naturanda im Sinne einer ins Ethische gewendeten Ästhetik gewandelt, die nur das gelten lässt, was schöpfungsidentisch ist, ginge um Vieles zu weit 13 . Die entsprechenden Belege haben mit nur 9% nicht annähernd den Status, den die (opto-)ästhetisch-emotional ausgerichteten Textstellen im 18. Jahrhundert innehatten. Ob man dies zum Gradmesser für das Umweltbewusstsein der Gegenwart machen kann, lässt sich den Belegen allein nicht ablesen. Es lässt sich aber konstatieren, dass die Häufigkeit dieser Verwendung seit den 1980er Jahren deutlich zugenommen hat.
IV. Zusammenfassung ausgewählter Ergebnisse in Form methodelogisch ausgerichteter Thesen I. Offensichtlich ist der Wortgebrauch von >LandschaftLandschaft< im 18. Jahrhundert sind anders nicht möglich. Von einer nicht komparativ-textsortenspezifizierten Beleglage aus Rückschlüsse auf einen (wie auch immer gearteten) Begriff zu ziehen, birgt die Gefahr einer Verzerrung des Blickes. Nur ein Vergleich der W Oliverwendungen in verschiedenen textsortenspezifizierten Korpora kann fundierte semantische Aussagen ermöglichen, die differenziert genug wären, um irgendeinen Geltungsanspruch zu stellen. 2. Es ist ebenso offensichtlich, dass die Wortbedeutung oder gar der Begriff nicht allein auf der Analyse von Belegen für das Wort >Landschaft< konstruiert werden kann - Ableitungen und Komposita, Syno-
13 Vgl. Böhme 1989, der diesen Gedankengang vertritt.
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BEMERKUNGEN ZUM SEMANTISCHEN WANDEL VON >LANDSCHAFT
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BEMERKUNGEN ZUM SEMANTISCHEN WANDEL VON >LANDSCHAFT
Hebe dich weg von mir, Satan!< denn es stehet geschrieben: >Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen.< Da verließ ihn der Teufel; und siehe, da traten die Engel zu ihm, und dieneten ihm« (Matthäus 4, 8- 11 ). Dieses ganz andere Erlebnis, das zu vorschnell als ein ästhetisches Erlebnis missverstanden oder gar für die »Entdeckung der landschaftlichen Schönheit« (J. Burckhardt 1901: 15- 25, bes. 17- 19) gehalten wurde, ist bei Petrarca durchaus weder Ziel der Wanderung, noch hat es das überhaupt sein können. Petrarca suchte Gott und wurde zum Verweigerer jeglicher Landschaft - im theologisch-religiös negativ konnotierten Sinne, denn der ästhetische Sinn konnte, ja durfte ihm als >Eigenwert einer Landschaft< dabei gar nicht vorschweben. Als einer der letzten Vertreter der antiken theoria, jener >Naturbetrachtung< in >geistiger SchauGanze< und >Göttliche< offenbaren sollte, gewinnt er durch seine Bergbesteigung (ob als eine tatsächliche oder eine nur gedanklich-literarische) schon eine Ahnung vom radikal verunsichernden Ende dieser theoria, das er für sich aber noch einmal abwenden will (vgl. Ritter 1989: 144-146, 148-150). Nicht seine >Nachfolger< also, sondern vielmehr erst diejenigen, die schon außerhalb dieser Tradition standen, konnten Landschaften in der Folge als >Schön< empfindenoder gar den Fernblick von Bergesgipfeln überhaupt aushalten, was auch bis heute nicht jedem gelingt.
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ÜBER DAS HINSEHEN UND DAS ABSEHEN VON LANDSCHAFT
Wechsel bezieh u ngen Der ästhetische wie der religiöse Landschaftsbegriff greifen beide zurück auf die menschlichen Wahrnehrnungsfähigkeiten des Prägnanzbildens, des Abhebens und Hervorhebens vom Hintergrund, wie auch des gezielten Absehens von Elementen des Wahmehmungsfeldes, die gewissermaßen nicht ins Bild gehören. Dies lässt sich am Beispiel der Landschaft und des Landschaftsbegriffs besonders deutlich zeigen. Landschaft ist also nicht dieses oder jenes, sondern wird in unterschiedlichen Sinnzusammenhängen jeweils als etwas Unterschiedliches verstanden. Damit zeigt sich, dass die FormungsHihigkeit des Menschen nicht bloß auf die bewusste Herstellung von Artefakten beschränkt bleibt, sondern, verstanden als Selbstformung und Formung seiner Denk- und Wahrnehmungsweisen, beständig aktiv ist, und dies immer in Abhängigkeit von kulturellen Voraussetzungen und Prägungen, d. h. in diesem Falle: Landschaften werden erzeugt, wo keine sind, bzw. weniger paradox formuliert: Die Menschen legen sich selbst immer wieder nahe, disparate >Naturstücke< zu Landschaften zusammenzusehen - und, vermittelt über das Phänomen der Stimmung, die so gewonnenen Bilder sogar als Metaphern für innere, >seelische< Vorgänge zu nehmen. Mehr noch: Simmel hat in seiner Philosophie des Geldes el907) darauf hingewiesen, dass Gemütsbewegungen und Stimmungen sich überhaupt nur mit räumlichen Ausdrücken versprachliehen lassen, dass es mithin für Niedergedrücktheit, Hochstimmung usw. gar keine anderen Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks gibt als eben diese Worte, weil wir nicht nur den Anderen in seinen Gemütsregungen höchst unvollkommen beobachten können, sondern auch uns selbst nicht (vgl. dazu auch besonders Bollnow 1997). Die Einführung einer räumlich verstandenen Innenwelt erlaubt erst eine Selbstreflexion, sozusagen über einen Umweg über intersubjektive Ausdrücke für das räumliche Außen (vgl. Simmel 1989: 655) 5 Dagegen sind freilich Einwände möglich, aber es ist zumindest nicht unplausibel, dass die starke Evidenz einer Außenwelt den Menschen zu Ausdrücken derselben hinreißt, während der Selbstausdruck, davon affiziert, sich der wohlgesetzten Metapher bzw. allegorischen Analogie bedient. An den beiden hier näher ausgeführten Möglichkeiten, den Landschaftsbegriff zu verwenden und zu verstehen, wird aber auch deutlich, dass die Trennung beider so stark nicht ist, wie sie scheint, 5
Simmel bezieht sich hier implizit auf den Beginn von Kants Abhandlung Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786), verneint damit aber zugleich Kants dort ausgesprochene Ansicht, es könnten durch Weglassung aller sinnlichen Bilder schließlich reine Verstandesbegriffe gefunden werden (vgl. Kant 1999: 45).
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JöRN BOHR
denn der ästhetischen Landschaftsbetrachtung e1gnen 1m Begriff der Stimmung wesentlich >innerliche< Momente und das religiöse Absehen von den Dingen der Welt setzt doch erst einmal ein Sehen dieser Dinge voraus. Es geht in beiden Fällen grundsätzlich darum, dass wir nicht einfach etwas sehen, quasi rein und an sich, sondern dass wir etwas immer als etwas Bestimmtes, und das heißt hier: in bestimmter, aber j eweils verschiedener Weise, als Landschaft sehen. Daher geht es auch nicht etwa um eine Diskussion über die Beschaffenheit von Landschaften, sondern um die Auseinandersetzung über die Interpretation unserer Wahrnehmungen von Landschaften - die einmal mehr selbstreflexiv oder quasi pantheistisch, das andere Mal aber mehr ästhetisch oder wissenschaftlich (oder wie auch immer) ausfallen können. Dies ist nicht als Stufenfolge oder gar bewertende Rangordnung gemeint, sondern jede der genannten Sichtweisen hat ihre eigene Berechtigung. Die Aufforderung zur Realisierung der unterschiedlichen Sinnordnungen liegt in jeder einzelnen Form des Weltzugangs bzw. jeder Weise der Wirklichkeitswahrnehmung. Dabei handelt es sich aber nicht um bloße Versionen oder Varianten derselben Wirklichkeit, die es jetzt nur noch in ihrer eigentlichen Beschaffenheit zu erkennen gelte, sondern das, wasjeweils >wirklich< ist, d. h. jede Wirklichkeitssetzung, unterliegt immer einer bestimmten symbolischen Formung bzw. ist Ausdruck einer vorgängigen kulturellen Geformtheit. >Landschaft< ist in diesem Sinne ein konkreter Fall der allgemein konstruktiven Weise, in der der Mensch seine Welt wahrnimmt bzw. konzipiert. Insofern liegt in den vorangegangenen Ausflihrungen auch eine methodische Anleitung für die Einordnung, Interpretation und differenzierte Analyse unterschiedlicher landschaftsbezogener Betrachtungsweisen und Beschreibungen.
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ÜBER DAS HINSEHEN UND DAS ABSEHEN VON LANDSCHAFT
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Reflexionen über Landschaft und Arbeit LUDWIG FISCHER
Landschaft und der doppelte Effekt von Arbeit Dass es angebracht sei, über den Zusammenhang von Landschaft und Arbeit nachzudenken, lässt sich auf den ersten Blick nur für die heute gängigen Konzepte von Kulturlandschaft behaupten. Die verschiedenen, gerade in den letzten Jahren intensiv diskutierten Konzepte (vgl. Bundesamt für Naturschutz 2007) wären dann auf die in ihnen enthaltenen Annahmen über Form und Auswirkung menschlicher Arbeit hin zu betrachten. So sehr die genaueren Bestimmungen von >Kulturlandschaft< nicht nur historisch, sondern auch in den gegenwärtigen wissenschaftlichen und planerischen Debatten differieren, scheinen sie doch alle darin überein zu stimmen, dass der allgemeinste Begriff von Kulturlandschaft a priori eine Formung der Landschaft durch menschliche Arbeit voraussetzt, wie immer das landschaftliche Resultat der Bearbeitung aussehen und wie immer die Formbestimmung von Arbeit ausfallen mag. Kulturlandschaft, darüber wäre hierzulande rasch Konsens herzustellen, definiert sich grundsätzlich aus der Bearbeitung der Ausschnitte von >natürlicher Mitweltnatürlich Gegebenen< durch gesellschaftlich organisierte Arbeit. 1 Es ist sofort hinzuzufügen, dass Kulturlandschaften auch durch andere menschliche Aktivitäten als nur >Arbeit< im strengeren Sinn beeinflusst, ja mit geformt werden, etwa durch rituelle Handlungen, durch Fortbewegung im Raum, durch Beschäftigungen aus ästhetischem Interesse, in der weit entwickelten technisch-industriellen Sphäre vor allem durch >FreizeitaktivitätenKulturlandschaft< vergebens. Sieht man sich aber in der immer unüberschaubareren Vielfalt der Forschungsbeiträge näher an, was man als >außen stehender< Kulturwissenschaftler noch bewältigen kann, so ist nur zu offenkundig, dass in die aktuell differenzierten Konzepte unterschiedlicher Typen von Kulturlandschaft und in die Auseinandersetzungen um die planerische, politische, administrative, Öffentlichkeits- und forschungsstrategische Handhabung von Kulturlandschaftskonzepten basale Annahmen über die Formbestimmung und die gesellschaftliche Organisation von Arbeit eingehen. Es genügt hier, daran zu erinnern, dass ein traditionelles Verständnis von >historischer Kulturlandschaft< an die Formung von >Natur< durch eine bäuerlich-handwerkliche Arbeitsweise gebunden war, die man mit einem modernisierungstheoretischen Kürzel als >vormodem< bezeichnen kann. 2 Ähnlich offenkundig ist die Koppelung einer >offenen< Fassung des Kulturlandschaftsbegriffs, der Stadt- und Industrielandschaften einschließt, an die >raumwirksame Veränderung der natürlichen Umwelt< durch Techniken und Organisationsformen der industriellen Transformationen von Arbeit. Solche Prämissen flir die Beschäftigung mit Kulturlandschaft werden aber, wie gesagt, nicht des Näheren erörtert. Man könnte formulieren: eher im Gegenteil- die grundlegende Voraussetzung für jede Vorstellung von Kulturlandschaft, dass nämlich »alle menschlichen Aktivitäten in Raum und Zeit Ausdruck der aktuellen >Kultur< sind, sodass ihre räumlichen Manifestationen als Bestandteil der Kulturlandschaft anzusehen sind« (Körner 2007: 9), lässt die darin enthaltene Yeranschlagung
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noch gerrauer zu bedenken (vgl. schon Habermas 1970, Kramer 1975). Eine Konzeptionierung von Kulturlandschaft, die pauschal veranschlagt, »dass Landschaft das Ergebnis unterschiedlicher gesellschaftlicher Aktivitäten ist« (Körner 2007: 9), ohne die »Aktivitäten« systematischer zu differenzieren und dabei vor allem die Rolle von Arbeit zu analysieren, handelt sich fundamentale Defizite ein. Auch neuere Bestimmungen von >historischer KulturlandschaftArbeiträumliche Manifestation menschlicher Aktivitätenoffenen< Begriffs von Kulturlandschaft ab (vgl. ebd.). Die Kontroversen um brauchbare und wissenschaftlich haltbare Bestimmungen von Kulturlandschaft - von welchen Anforderungen her auch immer entworfen: die Konzepte vor dem geschichtlichen Wissen zu verantworten oder die Entwicklungslogiken moderner Zivilisation in sie aufzunehmen oder sie mit politischen Imperativen abzugleichen - können und sollen hier beiseite bleiben. Die Reflexionen zum Zusammenhang von Landschaft und Arbeit, von denen hier, äußerst verknappt, nur zwei ins Spiel gebracht werden, richten sich auch nicht auf die Vorstellungen von Kulturlandschaft allein. Aber kann man davon sprechen, dass unsere Vorstellung von Landschaft generell eine Verquickung von Umgehungen mit Arbeit einschließe, für alle >Arten< von Landschaft, also auch für das, was wir mit Konzepten von Naturlandschaft meinen? Ich will diese Frage nicht abtun, indem ich darauf verweise, dass neuere Bestimmungen von Kulturlandschaft nahezu oder ganz synonym mit >Landschaft< allgemein gebraucht werden (vgl. nur Marschall 2007: 262 ff.). Wenn ich im Folgenden zwei Argumentationsmöglichkeiten für eine - offen oder verdeckt lancierte - Verallgemeinerung von Kulturlandschaft zu Landschaft generell erwähne, dann aufgrund des Befundes, dass sie direkt in die Überlegungen zur Präsenz von Arbeit in unseren Landschaftsvorstellungen hinein führen. Der eine Ausgangspunkt: Weil die Spuren menschlicher Arbeit inzwischen über den gesamten Erdball verteilt seien, es also >Natur< nach dem Kern des Begriffs von ihr für uns gar nicht mehr gebe (vgl. Böhme 1992: 16), müsse man, im genauen Sinn, überall von >Kulturlandschaft< sprechen, noch beim Betrachten des Antarktis-Eises, der Gipfelregionen aller Hochgebirge, der Weiten des Pazifiks, der entlegensten Wüstengebiete, des unzugänglichsten Regenwaldes. Man müsse dabei gar nicht 103
LUDWIG FISCHER
nur an die Spuren von DDT im Polareis, die Hinterlassenschaften von Extrembergsteigern an den Achttausendern oder an die Versehrnutzung der Weltmeere denken. Man müsse sich nur klar machen, dass beispielsweise durch die derzeit politisch instrumentalisierten globalen Klimaveränderungen, deren anthropogene Befeuerungen kaum noch strittig sind, jeder Winkel der Erde von Resultaten menschlicher Arbeit beeinflusst werde. Also: Legte man etwa die für die EU vom Council of Europe autorisierte Definition von >Landschaft< zugrunde - »>landscape< means an area, as perceived by people, whose character is the result of the action and interaction of natural and/or human factors« (Council of Europe 2000) -, dann ließen sich »human factors« letztlich in allen landschaftlichen Formationen finden. Folglich müsste, genau genommen, wenigstens heutzutage der Begriff >Landschaft< allgemein mit dem von >Kulturlandschaft< zusammen fallen. Eine solche Folgerung übergeht aber das entscheidende Problem, das in der definitorischen Veranschlagung von »human factors« für Landschaft generell enthalten ist. Denn in den landschaftlichen »results« menschlicher Einwirkung auf oder Wechselwirkung mit >>natural factors« sind grundlegend unterschiedliche Effekte von Tätigkeiten, insbesondere von Arbeit im gerraueren Sinn, enthalten. Ein erster, pauschaler Hinweis muss zunächst genügen: Nicht nur aus vielen Studien zur Umweltgeschichte haben wir die Einsicht zu entnehmen und uns mit ihr auseinander zu setzen, dass Kulturlandschaften und ebenso Landschaften generell seit Jahrtausenden in hohem Maßeund gegenwärtig mit einer extremen, bedrohlichen Gewalt - durch die unbeabsichtigten Resultate von Arbeit auf den verschiedensten Entwicklungsstufen geformt wurden und werden. Die (neutral ausgedrückt) Verwandlung der Mittelmeerregionen war nicht >beabsichtigtZweckErgebnisorientierung< gesellschaftlich organisierter Arbeit angesehen werden, wenn der Aral-See aufgrund der Bewässerung von Baumwollfeldern austrocknet. Die >Unbeabsichtigten Nebenwirkungen< aus menschlicher Arbeit allgemein und aus ihrer neuzeitlichen Transformation in historisch singulärer Weise (vgl. Sieferle 1989: 9 ff.) formen, ist man versucht zu sagen, Landschaft mindestens so sehr wie die zielgerichtete Bearbeitung >natürlicher Ensemblesmnintendierten Handlungsfolgen zweckgerichteter Bemühungen« (Sieferle 1989: 10) gerrauer fassen zu können, sind die Grundla-
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REFLEXIONEN ÜBER LANDSCHAFT UND ARBEIT
Diese Einsicht fordert nicht nur Kultur- und Umweltgeschichte, Humanökologie und Historische Anthropologie, ökonomische Theorie und Umweltethik von ihren Grundlegungen in der Bestimmung und Modeliierung des Mensch-Natur-Verhältnisses heraus. Ein wenig überziehend, kann man behaupten: Seit den ersten Phasen der Industrialisierung war die Veränderung der Landschaft in einem bis dahin ungekannten Ausmaß im buchstäblichen Sinne >AbfallproduktMitgedachtes< eingebunden in den Arbeitsprozess selbst. 4 Diejenige Arbeit, die mit und nach der industriellen Transformation menschlicher Arbeit zur bewussten und geplanten Nutzung und Gestaltung von Landschaft aufgewandt wmde (und wird), muss in einem großen Ausmaß gleichsam gegen die Logik der >produktiven Arbeit< (im Sinn der klassischen Politischen Ökonomie verstanden) eingesetzt werden. Das gilt längst auch fllr die Landwirtschaft- Regionalund Landschaftsplanung können es nicht einfach der ökonomischen und
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gen des bürgerlichen Arbeitsbegriffs einerseits, des abendländischen Naturverständnisses andererseits zu erörtem. Wenn >Natur< seit der Antike immer neu von ihrer Qualität als das »Seiende jenseits von Arbeit« (Fischer 2004a) her gedacht wird, hängt eben Entscheidendes von der Fassung der Arbeit als >zweckgerichteter Tätigkeit zur Transformation des natürlich Gegebenen< ab. Auch Moscovicis groß angelegter Versuch, die ihm zufolge - spätestens seit Rousseau unüberwindliche Trennung von Natur und über Arbeit ermöglichter Vergesellschaftung mittels einer Analyse der menschlich bewirkten »Naturzustände« aufzuheben, löst das Problem nicht (Moscovici 1982). Freilich muss man sich auch hier vor idealisierenden Projektionen hüten: Formung der Kulturlandschaft in vormodemenbäuerlichen und handwerklichen Arbeitsprozessen war nur in so weit bewusstes, integrales Ziel bei der Nutzung der natürlichen Ressourcen, als es der - durchaus ökosystemar deutbaren - >Stabilisierung< des Stoffwechsels der Menschen in und mit der Landschaft diente. Beispiele sind unter anderem aus den Hochlagen der Alpen beigebracht worden (Weichhart 1989, Bätzing 1988). Es lassen sich aber auch landschaftsprägende Effekte einer Übernutzung feststellen, etwa bei den Hudewäldern oder- unter bestimmten Blickwinkeln -bei den Heiden. Was heute als >ökologisch wertvoll< und ästhetisch anmutend an traditionalen Kulturlandschaften gilt, entsprang zum guten Teil der beschränkten Verfügbarkeit von Arbeitskraft und Produktionsmitteln. Keinesfalls kann ein irgendwie geartetes ästhetisches Interesse angesetzt werden - außer dann bei den von der Arbeit entlasteten Grundherren, wie etwa für die englische >ParklandschaftLogik< in landwirtschaftlicher Aneignung von Natur überlassen, wie die agrarindustriell transformierte Arbeit die Landschaften umgestaltet. Deshalb nimmt ja die Befassung mit modernen Agrarlandschaften in den analytischen und planerischen Debatten über Landschaftsgestaltung, Landschaftsästhetik und politische Steuerung der Landschaftsverändenmgen einen so großen Raum ein. Und noch eine weitere Nebenbemerkung dazu: Die neuzeitlich-westliche Bearbeitung von Landschaften, der technologischen Rationalität und der ökonomischen Verwertungslogik folgend, negiert ja geradezu unser basales Konzept von> Landschafte Sie erfasst landschaftliche Ensembles als Allokationen von Ressourcen, als Oberflächenreliefs, als Anordnung von geophysikalischen Elementen, als Flächenmuster, also mit gegenständlichen Eigenschaften, die als >Faktoren< für eine Aneignung oder Überformung zu berücksichtigen sind. Als sinnlich wahrgenommene Einheit, als in und durch die Wahrnehmung >anmutendes Gebilde< kommt Landschaft für solchen Zugriff nicht vor. 5 Eine entsprechende Beachtung muss rechtlich und politisch erzwungen werden und greift faktisch oft erst nachträglich. Landschaftsplanung, Landschaftspflege, Landschaftsökologie sind Instrumente dafür. Ein instruktives Beispiel gibt die Geschichte der Braunkohlenreviere im Osten Deutschlands ab, wie ähnlich die Verwandlungen des Ruhrgebiets. Wenn die Folgerung aus diesem ersten Gang durch eine Reflexion über den Zusammenhang von Landschaft und Arbeit ist, dass Landschaft immer - wenn auch graduell und in den historischen Verläufen sehr unterschiedlich- in doppelter Weise ein >Ergebnisobjektiv Vorhandenes< und >mentales Konstrukt< ist, wird allmählich auch in den >harten< Planungs- und Geowissenschaften als Fundamentalsatz begriffen. Weil jede Vorstellung von Landschaft - auch solche, die eine kartografische, stoffliche oder deskriptiv-empirische >Erfassung< leiten - historisch, sozial und kulturell bedingt ist, gehört die Reflexion auf solche Bedingtheit nicht nur zur analytischen Beschäftigung mit Landschaften, sondern zum planerischen Prozess überhaupt. Dass derartige Reflexionen den Umgang mit Landschaft, der den Verwertungslogiken und der technologischen Rationalität folgt, in der Regel >störenZuhandensein< für menschliche Aktivitäten, genauer: ihr stofflicher Charakter im Hinblick auf den Zugriff durch Arbeit, gesehen. Zugleich sind in Landschaft aber auch immer die nicht beabsichtigten Effekte zweckrationaler Tätigkeiten präsent. Intendierte Resultate menschlicher Arbeit sind ohne die gleichzeitig erzeugten unintendierten >Nebeneffekte< nicht zu haben. Das heißt: Auch in Landschaft, wie in allen Sphären menschlichen Daseins, tritt der >eigentätige< Anteil der von den Menschen ergriffenen Natur zu Tage- er wird ja immer wieder als die >eigenmächtige< Qualität von Natur erfahren, nicht bloß bei katastrophalen Folgen menschlichen Handeins in unseren Umgehungen. Dass wir mit einer historisch bislang ungekannten >Gewalt< die »unintendierten Handlungsfolgen zweckgerichteter Bemühungen« (Sieferle 1989: 10, s.o.) auch in Landschaften erleben, heißt j edoch, dass wir in unerwarteter Weise jener >anderen Seite< an Natur begegnen, ohne die wir eben Natur nicht denken können: der eigentätigen, nicht verfügbaren, ohne unser Zutun seienden. 7 Die Pointe dabei ist: Auch diese unabdingbare Qualität von Natur müssen wir in doppelter Hinsicht annehmen, indem wir auf die >Eigentätigkeit< vertrauen, noch bei der Genmanipulation ebenso wie bei der Umlenkung eines Flusses oder der Rodung des Regenwaids flir Palmölplantagen, und dieses Unverfügbare zugleich fürchten müssen, wie wir immer verstörender erkennen. Moderne Landschaftsästhetik, Landschaftspflege, Landschaftsplanung sucht ja das unaufhebbar Prekäre, das somit im Zusammenhang von Landschaft und Arbeit aufscheint, gleichsam zu wenden und seinerseits für Landschaftskonzepte zu verwerten: mit der Propagierung von Räumen für eine >sich selbst überlassene NaturArbeit an der Natur< in der Landschaft, so weit damit die Erzeugung von wie immer gearteten Produkten gemeint ist, von einer anderen Art der Arbeit, die nur noch der Pflege und Erhaltung von Kulturlandschaft dienen soll, mag zwar unter volkswirtschaftlichen, noch mehr unter sozial- und kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten sinnvoll und vielleicht notwendig sein, ist aber ökonomietheoretisch schwer systematisch zu fassen und erscheint ökologietheoretisch, im Hinblick eben auf den >Stoffwechsel des Menschen mit der NaturWildnisVerwildernden< (vgl. Loidl-Reisch 1986) verhandelt wird. 9
Landschaft und Arbeit an uns selbst Eine zweite Reflexion soll wiederum ihren Ausgangspunkt bei emer Möglichkeit nehmen, ein modernes Kulturlandschaftskonzept zu generalisieren, es den pauschalen Landschaftsbegriff gleichsam übernehmen zu lassen. Der Ansatz ist wahrnehmungstheoretischer Art. Auch er hat ja Eingang gefunden in die zitierte Definition des Council of Europe »landscape means an area, as percieved by people«. Wenn man sich darauf einigt, dass es einen Begriff, eine mentale Modeliierung von >Landschaft< überhaupt nur gibt, insofern flir sie die (mehr oder weniger aktive) menschliche Wahrnehmung konstitutiv ist, dann ist jedes Erfassen, jedes Benennen, jedes Qualifizieren von Landschaft prinzipiell >kulturelle LeistungLandschaft< an die menschliche Wahrnehmung gebunden wird. Damit ist gewissermaßen rezeptionstheoretisch (ob nun konstruktivistisch gedacht oder eher traditionell ästhetisch 10) jede Landschaft, weil die konstitutive Wahrnehmung immer kulturell geformt ist, a priori >KulturlandschaftWildnis< selbst unabdingbar an das Komplementäre einer durch Arbeit beherrschten Natur gebunden ist und gerade die ästhetischen Zuschreibungen, ja noch die ökologischen Wertschätzungen nur von den >Absicherungen< durch zivilisatorisch domestizierte Natur aus erfolgen, kann hier nur angemerkt werden (vgl. etwa Callicott/Nelson 1998, auch Fischer 2004b: 241 ff.). I 0 Bewusstseinsgeschichtlich ist das neuzeitlich-abendländische Konzept von Landschaft, nach dem Zurücktreten den politisch-räumlichen und sozial funktionalen Begriffs, primär von der visuellen Wahrnehmung bzw. Darstellung aus entworfen worden. Dazu bietet die Forschung reiches Belegmaterial (vgl. die Hinweise bei Fischer 1997: 204 ff.). Einschlägig Eberle 1986, zur reichen anglo-amerikanischen Literatur Cosgrove 1998, Andrews 1999. 108
REFLEXIONEN ÜBER LANDSCHAFT UND ARBEIT
aber an derjenigen der Fotografie plausibel machen, wenn man sich die Abbildung so genannter Naturlandschaften vornimmt. 11 Noch deutlicher wird die wahrnehmungstheoretisch fundierte Konzeptionierung von Landschaft generell als >KulturlandschaftLandschaft< gar nichts anfangen kann, noch viel weniger mit der Differenz von Natur- und Kulturlandschaft. 12 Noch viel mehr muss ja die ethnozentrische Beschränkung unserer Landschaftskonzepte für uns selbst höchst problematisch werden, wo uns zum Beispiel Ethno-Botaniker klar machen, dass unsere Wahrnehmung von Naturlandschaft nicht selten auf schierer Ausblendung und >Störung< beruht - mit grausamen Folgen bis hin zur ethnischen >Säuberung< von Naturschutzarealen (Suchanek 2001 ). Beispielsweise wurden Bereiche dessen, was wir als Inbegriff von Naturlandschaft ansehen: den >wilden Dschungel< nämlich, sehr wohl gezielt von Angehörigen indigener Kulturen bearbeitet, regelrecht geformt, werden es im Einzelfall noch heute (ebd.: 79 ff.). 13 Wahrnehmungsgeschichtlich ist Naturlandschaft im abendländischen Verstande fundamental auch Kulturlandschaft. Das kann, wie gesagt, eine >Übernahme< des allgemeinen Landschaftsbegriffs durch den eines theoretisch durchreflektierten Kulturlandschaftsverständnisses befördern. Solche Einsichten zeigen, dass unser zunächst ganz aus einem ästhetischen Interesse entspringendes Konzept von >Naturlandschaft< zumin11 Dass noch die politisch-praktisch werdenden Auffassungen von >Wildnis< sich aus idealisierenden Landschaftsbildern speisen, hat beispielsweise Sirnon Schama für die Genese der ersten Nationalparks gezeigt (Schama 1996: 15 ff.). Das Bild von der >wilden Natur< duldete dabei keine Anwesenheit von >einwirkenden< Menschen, deshalb mussten die indigenen Bewohner aus den Arealen entfernt werden, obwohl ihre Natumutzung entscheidend zu der als >schöner< bzw. >erhabener< Natur angeschauten Landschaft beigetragen hatte. 12 Das hängt ja unter anderem daran, dass unsere Vorstellung von Landschaft eine praktische wie eine affektive Distanz zu dem voraussetzt, was wir Natur nennen (vgl. Fischer 2004b: 236 ff.). Programmatisch wurde das in den Landschaftsphilosophien von Georg Simmel (Simmel 1957) und Joachim Ritter (Ritter 1974) und bestimmt bis heute die philosophische und kulturwissenschaftliche Befassung mit Landschaft (etwa Smuda 1986, Dinnebier 1996, auch Tpsen 2006: 83 ff.). 13 Ob und wie bei den fraglichen Praktiken indigener Völker von >Arbeit< zu sprechen ist, bedarf der Erörterung (vgl. die Anmerkungen bei Fischer: 2004b: 237). Aber gerade die Relativierung unserer von der bürgerlichen Ökonomie bestimmten Definition der Arbeit- auch wo sie über >Erwerbsarbeit< im modernen Verstande hinaus geht- steht mit solchen Beispielen flir >bearbeitete Naturlandschaftenunberührter Natur< zu geschrieben wird, offen zu Tage: Sie sei für die >Gesunderhaltung< bzw. die Gesundung der Menschen, denen die gesellschaftlich organisierte Arbeit zusetzt, unerlässlich (Fischer 2004b: 236 ff.). Auch für Naturlandschaften gibt es also einen Bezug auf Arbeit, selbst wo sie- verstanden als >zweckgerichtetes Handeln zur Aneignung und Transformation stofflicher Natur< - negiert wird. Aber die Vorstellung von Landschaft generell hängt- daraufkommt es mir hier an -noch in anderem Sinne mit Arbeit zusammen, wenn man vom kulturgeschichtlich verbürgten Primat der Wahrnehmung für unser mentales Konstrukt >Landschaft< ausgeht. Dazu ist freilich ein Erweiterung des Arbeitsbegriffs nötig, die gesellschaftsanalytisch wie kulturtheoretisch angezeigt ist. Unübersehbar bleibt das Provokative an der These, dass man mit Fug die kulturell geformte Wahrnehmung von Landschaft als >Arbeit< bezeichnen kann, und dieses sogar auf der Basis der klassischen Politischen Ökonomie, die nur aus ihrem materiellen Reduktionismus befreit werden muss. Alexander Kluge und Oskar Negt haben, insbesondere in dem großen Entwurf >Geschichte und Eigensinntoten Arbeit< zurück. Der Ausdruck >tote Arbeit< ist hier eine Übertragung, genauer: eine Erweiterung aus der Kritik der politischen Ökonomie, wo damit primär die in Maschinen vergegenständlichten Ergebnisse vergangeuer Arbeitsprozesse bezeichnet werden. Wenn Kluge zum Beispiel auch in Beziehungen, in Liebe, Ehe, Familienverhältnissen - als einer »lebendigen Arbeit« - die »tote Arbeit« von Generationen mit am Werke sieht, so ist das nur eine beispielhafte Konkretion eines allgemeinen Sachverhalts: Was getan, gesagt, gedacht, ja: empfunden wird, »setzt sich aus geschichtlich Vorproduzier-
14 Anhand der Geschichte der Erhabenheitsästhetik lässt sich belegen, dass zumindest in sensualistisch inspirierten Theorien die Erfahrung des Erhabenen, die vorrangig an >wilder NaturAbwesenheit von Arbeit< abgeleitet wird {Fischer 2004b: 241 ff.). 110
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tem und einem Momenteinfalllebendiger Arbeit zusammen.« (Negt/Kluge 1981: 931) Das gilt auch und im hohen Maße für unsere Wahrnehmung geformter Umgehungen, die wir zu >Landschaft< synthetisieren. Diese Wahrnehmungen sind affektiv und auch ideologisch hoch besetzt, es ist eine ungeheure Masse >toter ArbeitArbeit< in Forschung und Lehre, im öffentlichen Diskurs, in Lernprozessen der behördlichen Apparate usw. es erfordert hat und noch erfordert, etwa die so genannten Stadtlandschaften als eine Formation zu legitimieren, die den traditionell immer als >natürlich< oder >naturnah< vorgestellten Landschaften konzeptionell gleichrangig sei. Wie mächtig die >tote ArbeitUmwertung< von städtischen Ensembles zu Umgehungen, die auch affektiv als >Landschaften< anzueignen sind, im allgemeinen Bewusstsein noch längst nicht durchgehend angekommen ist (vgl. Körner 2005, 2007, Vicenzotti 2007). Allein schon die emotionalen Steuerungen von Touristenströmen lehren uns das. Man könnte den Sachverhalt aber auch an der spezifisch deutschen Wahrnehmungsgeschichte von Wald erläutern - die Kontroversen um die Kernzonen des Nationalparks Bayerischer Wald beispielsweise, betrachtet mit den Augen eines Mentalitätsgeschichtlers oder eines Europäischen Ethnologen wie des Volkskundlers Albrecht Lehmann (Lehmann 1999), offenbaren die enorme Gewalt der >toten Arbeit< in der >lebendigen< Wahrnehmung der Formation Hochwald - wie bei anderen Landschaftsensembles (vgl. Lehmann 2001). Wenn ich, in Anlehnung an Kluge, von >toter und lebendiger Arbeit< spreche, die in der Wahrnehmung und dann auch in der Gestaltung unsere Konzepte von Landschaft generell enthalten sind, dann handelt es sich keineswegs um eine bloß metaphmische Redeweise mit Bezug auf ein analytisches Konstrukt, gar um eine müßige, für Landschaftsplaner oder Landschaftsökologen irrelevante Begriffsakrobatik von Kulturwissenschaftlern. Das sei zum Schluss am sozialen Gehalt von Arbeit kurz verdeutlicht. Alle Arbeit, auch diejenige der gesellschaftlichen wie individuellen Formung von Bedürfnissen, Empfindungen, Wahrnehmungen, ist im Gesellschaftsganzen ungleich verteilt. Das heißt: Selbst wo es mit einer 111
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scheinbar unproduktiven, bloß >inneren< Arbeit um die mentalen und affektiven Konstrukte von Landschaft geht, gibt es Einzelne und Gruppen, die über die Produktionsmittel zu solcher Arbeit verfügen, und andere, die solche Arbeit an sich selbst als mehr oder weniger Abhängige verrichten (müssen). Wiederum ist das nicht einfach metaphorisch zu verstehen. Produktionsmittel für jene >innere Arbeitbearbeiten< und mit denen wir - die Redewendung sagt es - bearbeitet werden. Deshalb bedeutet ja die Verfügung über diese Apparate einen entscheidenden Zugriff auf die innere Verfassung der Gesellschaftsmitglieder (vgl. Kluge 1985). Nicht nur Diktatoren wissen das. Was aber ist aus solcher wohlfeilen Erkenntnis ftir unsere wissenschaftlichen Diskurse, und hier gerrauer für die Reflexion über Landschaft und Arbeit, denn zu gewinnen? Nur auf eine der Herausforderungen möchte ich noch zu sprechen kommen: Nahezu alle, die an den Diskursen über Landschaft mit dem Anspruch auf >Benennungsmacht< beteiligt sind - Studierende und Lehrende, Forschende, Planerinnen und Planer, Angehörige der Verwaltung oder politischen Instanzen-, wir alle werden sozial unter anderem dadurch definiert, dass wir von der praktischen Arbeit an Natur, das heißt: von der tätigen Aneignung dessen, was dann Landschaft genannt wird, suspendiert sind. Diese Binsenweisheit über Formen der Arbeitsteilung hat aber gerade flir unser abendländisches Konzept von Landschaft eine fundamentale inhaltliche Bedeutung: Landschaft gibt es für uns überhaupt nur, wo wir von der konkreten Arbeit an Natur freigesetzt sind 15 Die dokumentierte Geschichte der >alteuropäischen< Landschaftsvorstellung beginnt bekanntlich mit Platons Dialog »PhaidrosKopfarbeiter< nennt, wir 15 Diese Voraussetzung der >ästhetischen Einstellung< als Ermög1ichungsgrund flir die Landschaftsvorstellung wird zwar in modernen Naturästhetiken thematisiert (etwa SeeI 1991: 20 ff., 280 ff.), ihre sozio-kulturelle Funktion aber selten reflektiert.
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müssen uns immer wieder klar machen, dass wir Landschaft überhaupt nur denken, meinen, sehen, affektiv auf uns wirken lassen können, insofern wir selbst nicht konkret an ihrer Formung arbeiten, aufwelcher Stufe der Formbestimmung von Arbeit auch immer. 16 Die meisten von uns sind dauerhaft von solcher tätigen Arbeit frei gesetzt. Viele andere Gesellschaftsmitglieder erfahren Landschaft vorrangig als Freizeitwahrnehmung. Indem wir also überhaupt von Landschaft sprechen, gehen wir eine Relation zur gesellschaftlichen Organisation von Arbeit ein. Schon wenn wir die bei uns historisch dominante Vorstellung >LandschaftStandm1< und >Landschaft< für dieselbe geformte, in den Blick genommene Umgebung signalisiert, dass, von Landschaft als einer vorgeblichen >Tatsache< zu sprechen, nicht zuletzt einen sozialen Anspmch markiert, nämlich den der Benennungsmacht im Gegensatz besonders zu dem der nutzenden Verfügung. 17 ln diesem Fall leitet sich solcher Anspmch auf Benennungsmacht in besonderer, nämlich konkret auf unsere gegenständliche Lebenswelt bezogenen Weise daraus ab, dass wir von unmittelbarer oder mittelbarer Bearbeitung der Umgehungen frei gestellt sind. Diese Position hat einen Doppelcharakter, den ich mit Begriffen des Kultursoziologen Pierre Bourdieu als soziale Stellung der >beherrschten Herrschenden< bezeichne: Die >KopfarbeiterSachzwängen< vereinnahmt sind, hier ihren Ursprung hat, jene Selbstwahrnehmung, die sich in der Doppelheit von Ohnmachtserfahrung und Beharren auf der nicht hintergehbaren >besseren Einsicht< äußert.1 8 Dass die in vieler Hinsicht arg verknappten Reflexionen über den Zusammenhang von Landschaft und Arbeit nicht bei einer Betrachtung der mentalen Konzepte, der historisch gewordenen und in die akademische, planerische, administrative Praxis wirkenden Landschaftsvorstellungen Halt macht, sondern wenigstens mit einem abschließenden Seitenblick die Reflexionsarbeit selbst als ein Moment in den nicht hintergehbaren Praktiken sozialer Distinktionen kenntlich zu machen sucht, ist durchaus als programmatisch zu verstehen. Wie wir Landschaften wahrnehmen, qualifizieren, erklären, erfassen, beschreiben, planend entwerfen und ihre Gestaltung zu >steuern< versuchen, ist eben unlösbar mit der sozialen und kulturellen Definition unserer eigenen Tätigkeit verknüpft, was sehr viel mehr meint als die Verbindung mit kruden >Interessensymbolischen Kämpfe< um Landschaft haben Teil an der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit. Ihre Gehalte gehen darin nicht auf, aber in den Diskursen über Landschaft unser Verhältnis zur konkreten Arbeit an ihr zu >vergessenTorso< bezeichnet ist (Fischer 1999). Nicht nur im Hinblick auf die Forschungsliteratur bedürfte er der Revision.
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Die Objekthaftigkeit der Landschaft im vorneuzeitlichen Sinn hatte nach Olwig (1996, 631 f.) nichts mit den heute im deutschen Sprachraum und darüber hinaus üblichen physischen, ökologisch zu beschreibenden Aspekten eines Gebietes zu tun, sondern bezog sich auf ein besonderes soziales Gebilde, nämlich auf das Territorium einer Gemeinschaft, das nach deren spezifischen Gebrauchsrechten geregelt und gestaltet wurde. LandKhaft und taj haben ihre Hauptbedeutungen im 18. bzw. 19. Jhd. erhalten. Wenn es nicht Landschaft bzw. taj als Wörter gegeben hätte, die die Bedeutungsaspekte von landYcape und paysage und zugleich von land, country,pays und campagneschon in sich >sedimentiert< enthielten, hätten die späteren romantisch-gegenaufklärerischen Landschaftsauffassungen, für die eben diese Verbindung und Konnotationen wie Heimat und Tradition (die Iandscape und paysage nicht haben) charakteristisch sind (siehe z. B. Eise] 1982, Kirchhoff 2005, Siegmund 2007, Trepl 1997). auch nicht an die Wörter Landschaft bzw. taj gebunden werden können.
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Theoretische Überlegungen zur Untersuchung von Landschaftsauffassungen Im Folgenden werden die theoretischen Überlegungen beschrieben, welche die Untersuchung der kulturellen Gründe für die unterschiedlichen Landschaftsauffassungen leiten und auf denen die Ergebnisse dieses Beitrags beruhen. Um die kulturellen Hintergründe der Landschaftsauffassungen untersuchen zu können ist eine Betrachtungsweise von Landschaft nützlich, welche die Bedeutungsunterschiede der verschiedenen Landschaftswörter nicht ausschließt, sondern einbegreift. Landschaft wird hier als ein von den gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten bzw. ihrem Wandel abhängiges, also soziokulturelles, Phänomen und ausschließlich als eine Idee betrachtet. 10 Landschaft sagt im Sinne dieses Beitrags deshalb vor allem etwas über uns selbst und über unser jeweiliges Weltverständnis aus. Man kann in Anlehnung an Hirsch (1996: 3) sagen, dass Landschaft eine Interpretation der Beziehung zwischen zwei Lebensformen, der jeweiligen realen und der jeweiligen (künftigen oder vergangenen) idealen Lebensform, ist. Diese soziokulturelle Betrachtung von Landschaft ist ein hilfreicher Ausgangspunkt, um Bedeutungsunterschiede der Landschaftswörter zu untersuchen. Denn sie ermöglicht es, die durch die sprachliche Analyse aufgedeckten unterschiedlichen Landschaftsauffassungen mit den Unterschieden in der kulturhistorischen Entwicklung der betrachteten Länder in Zusammenhang zu bringen bzw. sie durch die charakteristische Kulturgeschichte zu erklären. Im Folgenden wird die Sprache als Träger der Ergebnisse der kulturhistorischen Entwicklungen gesehen, und die kulturhistorische Analyse als ein Mittel genutzt, um unterschiedliche Landschaftsverständnisse in den untersuchten Ländern zu erklären. 11 Die >Kulturgeschichte< genannten gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten sind allerdings immer noch ein äußerst weites Feld. Für die Untersuchung der Landschaftsauffassungen ist also eine Auswahl kulturgeschichtlicher Ereignisse nötig. Sind die allgemeinen europäischen soziokulturellen Prozesse für die Erklärung der Entwicklungen der Landschaftsauffassungen hinreichend oder müssen die spezifischen kul10 Landschaft wird damit nicht als unabhängig von der um uns liegenden Objektwelt verstanden. Sie wird jedoch als etwas von ihr kategorial Verschiedenes aufgefasst. Landschaft ist eine Vorstellung, die wir uns als Betrachter von der um uns liegenden Objektwelt bilden und die wir mit mannigfaltigen kulturellen Bedeutungen versehen, die typischerweise auf die Möglichkeit eines guten Lebens verweisen. 11 Diese Methode beruht auf der Theorie von Györi (2000) zum Zusammenhang von Sprache und Denken. 123
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turhistorischen Bedingungen der einzelnen Länder herangezogen werden? Da hier länderspezifische Bedeutungen von Landschaft behandelt werden sollen, ist klar, dass eine Erklärung durch die allgemeinen soziokulturellen Entwicklungen (z. B. eine Betrachtung des Prozesses der Entstehung der Modeme) nicht möglich ist, sondern dass man auf die spezifische Kulturgeschichte der Länder eingehen muss. 12 Um die heutigen Unterschiede der Landschaftsauffassungen der Länder erklären zu können, müssen diejenigen kulturhistorischen Zeitabschnitte der vier Länder verglichen werden, in denen jeweils die ersten neuzeitlichen 13 Landschaftsauffassungen aufgetreten sind. Deren Entwicklung wird bis zur Zeit der Verwirklichung der bürgerlichen Gesellschaft in den jeweiligen Ländern verfolgt. Danach werden nämlich alle Beziehungen zwischen dem alltäglichen und dem vorgestellten Leben, die von Landschaft in ihrer Entstehungszeit ausgedrückt worden sind, allmählich ihre gesellschaftliche Aktualität und Realität verlieren. 14 Die Zeitspannen der kulturhistorischen Betrachtungen nenne ich die Entstehungszeiten der modernen Landschaftsbegriffe der untersuchten Länder. Innerhalb der Entstehungszeiten werden - der oben beschriebenen Betrachtungsweise von Landschaft entsprechend- ( 1) die jeweilige reale Lebenswelt, d. h. die gesellschaftliche und politische Stellung der von den 12 Der Historiker Kosary unterstützt diese Vorgehensweise. llun zufolge ist eine» ideengeschichtliche Motivsuche solange nützlich ... , bis sie sich vor Augen fuhrt, dass sie die Hauptphänomene, trotz aller in die Ferne führenden Fäden, aufihrem konkreten historischen Platz, als Produkt bestimmter Bedingungen, mit ihren eigenen Kennzeichen suchen muss. Nichts ist irreführender als das Gleichdenken von scheinbar ähnlichen Überbauphänomenen, die aufunterschiedlichen Grundlagen zu Stande gekommen sind.« (Az »eszmetörteneti motfvumkereses mindaddig hasznos ..., amfg szem elött tartja, hogy a fö jelenseget minden tavolba vezetö szal ellenere a maga konkret törteneti helyen, adott feltetelek produktumakent, sajat jellemzöivel kell keresnie. Mi sem felrevezetöbb, mint a különbözö alapokon letrejött, latsz6lag hasonl6 feh!pitmenyi jelensegek azonosnak kepzelese.«) (Kosary 1980: 250; Übers. D.D.) 13 Ich konzentriere mich auf die neuzeitlichen Landschaftsauffassungen. Es ist ohnehin strittig und definitionsabhängig, ob sich flir frühere Zeiten sinnvoll von der Existenz von Landschaftsauffassungen sprechen lässt; die meisten einflussreichen Theoretiker und Historiker betrachten Landschaft als ein neuzeitlich-europäisches Phänomen. 14 Landschaft hat im arrivierten, gehobenen intellektuellen Diskurs (etwa um die bildende Kunst) ca. seit dem Ende des 19. Jhd. kaum mehr Bedeutung als politisch-gesellschaftliches Symbol und gilt eher als degoutant. In der breiten Masse der Bevölkerung und in den politischen Debatten hat sie aber zeitweise eine große, ja zum Teil überragende Rolle gespielt, beispielsweise in Deutschland in der Heimatbewegung um 1900, in der NSZeit, im Heimat-Kitsch der 1950er Jahre und auch in der Ökologiebewegung nach ca. 1970.
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unmittelbaren Zwängen der Natur freien Menschen, 15 (2) die jeweiligen Gesellschaftsideale, d. h. die in der Philosophie und Politik formulierten idealen Seinsformen, sowie (3) die Landschaftsrepräsentationen, d. h. die Kunstwerke (vor allem in Literatur, Malerei und Gartenkunst), welche die Zusammenhänge der realen gesellschaftlichen Stellung und der Gesellschaftsideale als Naturbilder ausdrücken, in Beziehung gesetzt. 16
Ergebnisse der kulturhistorischen Untersuchung Die kulturhistorische Untersuchung der vier ausgewählten Länder erschließt sehr verschiedene Entwicklungswege und vielschichtige Wechselbeziehungen der Landschaftsauffassungen untereinander. lm Folgenden stelle ich deren Ergebnisse zusammenfassend dar und gebe damit Antworten auf die Fragen, die die Sprachanalyse aufgeworfen hat (s.o.). Ich beginne mit der ersten der drei Fragen: Warum sind Iandscape und paysage im Englischen und Französischen als eigenständige Wörter entstanden? Warum hat ein solcher Prozess in Deutschland und in Ungarn nicht stattgefunden? 15 Die ästhetische Wahrnehmung von Natur als Landschaft ist nur aufgrund einer gewissen Unabhängigkeit der Menschen von den unmittelbaren Zwängen der Natur, d. h. auf Grund der Beherrschung der Natur möglich (vgl. z. B. Piepmeier 1980, Ritter 1963, Simmell903). 16 Es stellt sich die Frage, in wieweit das jeweilige kulturhistorische Geschehen nach jener Entstehungszeit noch die heutigen Landschaftsverständnisse der Länder geprägt hat. So viel ist gewiss: Es hat eine Veränderung der Landschaftsauffassungen seit ihrer Entstehungszeit gegeben, denn unsere ganze kulturelle Welt unterscheidet sich ohne Zweifel sehr stark von der vor beispielsweise 150 Jahren. Eine schrittweise Modernisierung haben die Landschaftsbegriffe wie alle anderen kulturellen Phänomene erfahren. Man kann aber wohl sagen, dass diese Modernisierung weitgehend parallel erfolgt ist, d. h. dass dabei keine neuen Unterschiede zwischen den vier Ländern entstanden sind. Es ist sogar zu vermuten, dass die Unterschiede der jeweiligen Landschaftsverständnisse zu ihrer Entstehungszeiten viel stärker waren als sie es heute - >infolge der Globalisierung< - sind. Es wird also angenommen, dass die Unterschiede der heutigen Landschaftsauffassungen der vier betrachteten Länder in den soziokulturellen Bedingungen der Entstehungszeiten ihrer Landschaftsbegriffe wurzeln und mit diesen ausreichend erklärt werden können. Diese Annahme wird auch von Thomas 1984 (15) unterstützt: »To understand [our] present-day sensibilities we must go back to the early modern period. For it was between 1500 and 1800 that there occured a whole cluster of changes in the way in which men and women, at all social Ievels, perceived and classified the natural world araund them. ln the process some long-established dogmas about man's place in nature were discarded. New sensibilities arose towards animals, plants and landscape.« (siehe auch Antrop 2000: 20). 125
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Die Entstehung des Landschaftsbegriffes in England am Anfang des 17. Jahrhunderts kann man mit den absolutistischen Bestrebungen der StuartHerrscher verbinden. Olwig (2002: 80 ff.) sieht die erst englische landscape-Auffassung illustriert in den Bühnenbildern des im Jahr 1604 aufgeführten Theaterstückes Masque of Blackness. Diese Bühnenbilder zeigten nämlich einen Anblick des >natürlichen< Großbritannien, das vom König verwirklicht werden sollte. Nach Olwig hatte diese höfische, so genannte court-Auffassung von Iandscape einen Bezug zur antiken (bzw. italienischen) Kultur und stand im Gegensatz zur alt-germanischen sozialen Landschaft, die in der niederländischen Landschaftsmalerei zu finden war. Großbritannien ist allerdings nicht während des Absolutismus, sondern im Rahmen der konstitutionellen Monarchie im Jahr 1707 entstanden. Landscape war zu dieser Zeit schon Symbol bürgerlich-aufklärerischer bzw. liberaler und nicht absolutistischer Ideale. Die Hauptsache ist aber, dass die Gesellschaftsideale, die durch Iandscape symbolisiert wurden, die alte feudale Ordnung endgültig auflösten. 17 Landscape stand seit ihrer Geburt ftir völlig neue Gesellschaftsideale, ohne Verbindung zu alten, aus der Zeit vor dem 17. Jahrhundert stammenden gesellschaftlichen Vorstellungen. In Frankreich erschien die erste paysage-Auffassung, etwa parallel zur englischen landscape, ebenfalls im Rahmen der absolutistischen Hofkultur. Nach Wiebensou (1978: 4 f.) kam sie erstmals im Schäferroman Astree, der auch als Theaterstück am französischen Königshof aufgeführt wurde, zum Vorschein. Die für das Theater adaptierte Form der Schäferdichtung vergegenwärtigte die Landschaftsvorstellung des absolutistischen Königs durch die Bühnenbilder, die den Handlungsort illustrierten. In Frankreich blieb das absolutistische System viel länger als in England, bis zum Jahr 1789, bestehen. Die ständischen Verhältnisse wandelten sich im Laufe des 18. Jahrhunderts im Rahmen dieses absolutistischen Systems. Paysage wurde dementsprechend gleichzeitig Sym17 Die Komplexität dieses Prozesses, wird bei Olwig (1996: 635 ff.) gezeigt: Sowohl der rationalistische Absolutismus als auch die liberale englische bürgerliche Aufklärung hatte eine anti-feudale Stoßrichtung. Das englische Bürgertum setzte jedoch, zuerst mit dem Landadel, als country party die vor-feudale >niederländischemoralisierten< bürgerlichliberalen Kultnr. 126
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bol absolutistischer und aufklärerischer Ideale und zum Ende des Jahrhunderts hin auch mit denjenigen gesellschaftlichen Inhalten verbunden, die schließlich zur Revolution führten. Im Vergleich mit Iandscape dauerte die parallele Entwicklung unterschiedlicher paysage-Verständnisse wesentlich länger. Wie Iandscape symbolisierte aber auch paysage seit ihrer Geburt völlig neue Gesellschaftsideale und hatte keinen Zusammenhang mit vorneuzeitlichen Gesellschaftsvorstellungen. In Deutschland 18 verstärkten sich die absolutistischen Bestrebungen einiger Fürsten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts prägte eine allgemein verbreitete >Frankomanie< die deutschen Höfe und ihre Landschaftsauffassungen. Die Idee der früher durch die Nutzungsrechte der Landeigentümer definierten, innerhalb der einzelnen Fürstentümer jeweils unterschiedlichen, aber immer vielfältig differenzierten, >gewachsenen< Landschaft wandelte sich. Dies geschah auf Basis der absolutistischen Bestrebungen, die innerhalb der jeweiligen Hoheitsgebiete eine einheitliche, durch den absoluten Herrscher bestimmte Vorstellung von Landschaft hatten. Trotz der neuen absolutistischen Landschaftsauffassung, blieb jedoch die alte Auffassung der >gewachsenen< Landschaft erhalten und war weiterhin gültig, teilweise bis ins 19. Jahrhundert. (Olwig 2002: II f.) Im Fall von Deutschland können wir also zunächst von der gleichzeitigen Existenz verschiedener Landschaftsverständnisse sprechen, von denen die eine vorneuzeitlichen, die andere modernen Gesellschaftsvorstellungen entsprang. Landschaft war aber seit dem 17. Jahrhundert, und mit der Zeit immer mehr, ein Symbol solcher Gesellschaftsideale wie es der Absolutismus, der aufgeklärte Absolutismus und die bürgerlichliberale Gesellschaft waren: Ideale, die nichts mit den vorneuzeitlichen 18 >DeutschlandLand der freien Bauerngewachsenenalte Freiheitalten Freiheit< durch die Vertreter der bürgerlichen Revolutionäre und Reformer (schriftl. Mitteilung von Ludwig Trepl vom 24.06.2008; vgl. Olwig 1996: 641). 20 Ungarn existierte in dem hier betrachteten Zeitraum, ähnlich wie Deutschland, nicht in seiner heutigen staatlichen Form. Sein rechtlich abgegrenztes Gebiet war viel größer als das heutige: Es enthielt u. a. die Gebiete der heutigen Slowakei, Kroatien und Karpaten-Ukraine. Zugleich war das Land kein eigenständiger Staat, sondern Teil des habsburgischen Reichs, unter dessen absolutistischer Regierung es stand. lm Folgenden verstehe ich unter Ungarn all die historisch dazu gezählten Gebiete. Bei der Untersuchung der ungarischen Landschaftsauffassungen wurden die auf diese Gebiete bezogenen, mit der ethnischen Gruppe der Ungarn zusammenhängenden Vorstellungen betrachtet. D. h., dass die Landschaftsauffassungen am habsburgischen Hof nur in dem dafür nötigen Maß, aber nicht detailliert behandelt wurden. Die Untersuchung der Landschaftsauffassungen der innerhalb Ungarns lebenden zahlreichen anderen ethnischen Gruppen wäre Gegenstand einer eigenen Arbeit und eine wichtige Weiterführung des vorliegenden Beitrags. 128
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kratischer Gesellschaftsvorstellungen, die mit ständischen wenig zu tun hatten. Die Interpretation von taj im Sinne der ständisch-patriotischen Gesellschaftsvorstellung, für die vorneuzeitliche Verhältnisse das Ideal bildeten, begleitete jedoch diese Entwicklung. Taj stand also von Anfang an und bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht ausschließlich für etwas Neuzeitliches. Während in England und Frankreich die hinter Iandscape bzw. paysage stehenden neuen gesellschaftlichen Ideale zur politischen Kraft wurden, welche die alte ständische gesellschaftliche Realität im Laufe des 18. Jahrhunderts auflöste und die neue Nationalstaatsstruktur verwirklichte, verbreiteten sich diese Ideale nur teilweise in Deutschland, wo sich auch die alte ständische Gesellschaft nur teilweise änderte. In Ungarn wurden die neuen Ideale zwar aufgegriffen, aber im Sinne der alten ständischen Ordnung uminterpretiert und dazu genutzt, das alte System leicht modifiziert zu erhalten.21 Während in England und Frankreich landscape bzw. paysage jeweils für etwas eindeutig Neues standen, wurden die Bedeutungen von Landschaji bzw. taj in Deutschland und Ungarn mit Vorstellungen verbunden, welche die alten ständischen Verhältnisse idealisierten. Ich komme nun zur zweiten Frage, die sich aus der Sprachanalyse ergeben hat: Warum konnten sich die Bedeutungen von Iandscape und paysage zunächst in ganz Europa verbreiten? Die gesellschaftlichen Ideale, die mit der Entstehung von Iandscape bzw. paysage auf Natur projiziert wurden, trugen im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts zur Veränderung der gesellschaftlichen Realität in England und Frankreich bei, d. h. zur Änderung bzw. revolutionären Abschaffung des alten ständischen Systems und zur Verwirklichung des englischen (bürgerlichen) und französischen (absolutistischen und nach 1789 bür-
21 An dieser Stelle soll die Verbindung von Landschaft und taj mit der Idee
der Nation erwähnt werden. Anders als in England und Frankreich konnte der eigenständige Nationalstaat in Deutschland und Ungarn im Laufe der jeweiligen Entstehungszeit der Landschaftsauffassung in diesen Ländern nicht ve1wirklicht werden. Die sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jhds. in Deutschland und Ungarn verbreitenden verschiedenen gesellschaftlichen Bestrebungen und die diese symbolisierenden Landschaftsvorstellungen behielten immer eine eigentümliche, patriotische Färbung. Sie waren deshalb in der Hinsicht übereinstimmend, dass sie - sei es als Idee der Wiederherstellung der ständischen Rechte, sei es als Idee der Modernisierung im Sinne der Verbürgerlichung symbolisierenden Landschaftsvorstellungen- die nationale Selbstbestimmung forderten. 129
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gediehen) Staates. England und Frankreich wurden mit diesen Änderungen wirtschaftlich und politisch effizienter als die noch ständisch geprägten Länder. Dies machte es - so könnte man diesen Prozess der Ausbreitung auf politischer Ebene funktional erklären - für die ständisch geprägten Länder Europas notwendig, ihre alte ständische Ordnung zu ändern, wenn sie nicht völlig hinter den führenden Ländern England und Frankreich zurückbleiben wollten. D. h. sie mussten die in England und vor allem in Frankreich (schon im Rahmen des Absolutismus) verfolgten gesellschaftlichen Ideale zusammen mit ihren Landschaftsverständnissen teilweise übernehmen und für ihre eigenen Zwecke uminterpretieren.22 Die >Frankomanie< der absolutistischen Höfe Europas kann sowohl in Deutschland als auch am Wiener Hofwiedergefunden werden. Neben den absolutistischen Landschaftsauffassungen wurden die bürgerlichen der englischen und französischen Aufklärung in Deutschland erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, in Ungarn erst nach den 1770er Jahren wirksam. In den progressiveren Fürstentümern Deutschlands entstanden zu dieser Zeit der aufgeklärte Absolutismus und der Landschaftsgarten, der dessen Landschaftsauffassung ausdrückte. In Ungarn entstand die Landschaftsauffassung des aufgeklärten Adels ebenfalls zusammen mit dem Landschaftsgarten, der hier als Ausdruck dieser Landschaftsauffassung zu sehen ist. Dass die bürgerlichen Ideale, die sich in Iandscape und paysage kristallisierten, nach der französischen Revolution in ganz Europa Einfluss erlangten, hängt freilich auch damit zusammen, dass die bürgerlichen Gesellschaften Englands und Frankreichs es sich als Ziel gesetzt hatten, die Errungenschaften der Aufldärung zu verbreiten. In Deutschland ging das infolge der napoleonischen Kriege mit der französischen Herrschaft und der Enttäuschung der deutschen Gesellschaft über die Ideen der Aufklärung, zumindest in ihrer französischen Form, einher. Die Frankomanie wandelte sich damit zur Frankophobie. Das führte aber nicht notwendigerweise zu einer Rückkehr zu voraufklärerischen Vorstellungen; vielmehr wurde immer mehr die englische Gesellschaft und mit ihr ihre Landschaftsvorstellung als Vorbild herangezogen.
22 Über die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Hintergründe des Gedankengutes der deutschen bzw. ungarischen Aufklärung und des aufgeklärten Absolutismus steht eine umfangreiche Literatur zur Verfügung. Hier sollen nur die einschlägigen, einflussreichen Werke von Elias 1976, Habermas 1962, Kaselleck 1959, Weh1er 1987 und Kosary 1980, 1990 erwähnt werden. Die hier skizzierten historischen Ausführungen beruhen auf diesen Werken. 130
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ln Ungarn ging die radikale Welle der französischen Revolution mit einer stärkeren absolutistischen Unterdrückung durch die Habsburger und mit der Verhinderung der Entfaltungsmöglichkeiten der Aufklärung einher,23 jedoch nicht wie in Deutschland mit einer Enttäuschung über die aufklärerischen Idealen selbst. Als bewusst wurde, dass die Verbürgerlichung unausweichlich war, verstärkten sich die englischen, aber auch die französischen republikanischen Einflüsse auf die Gesellschaftsideale und die Landschaftsauffassung(en) . Sowohl in Deutschland als auch in Ungarn kam es so im 19. Jahrhundert zu (positiven oder negativen) Einflüssen der französischen und englischen Gesellschaftsidealen und Landschaftsauffassungen. Schließlich ist der dritten Frage nachzugehen: Warum sind im 18. und 19. Jahrhundert weitere >Sedimentierungsprozesse< in den Bedeutungen von Landschaft und taj erfolgt, die Iandscape und paysage jedoch nicht betroffen haben? Die weitere Umformung der Bedeutung von L andschaji und taj hängt damit zusammen, dass die in England und Frankreich entstandenen Ideen und Ideale von Gesellschaft und Natur im Laufe des 18. Jahrhunderts in Deutschland und Ungarn, den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen und aus ihnen entspringenden Idealen entsprechend, uminterpretiert wurden, was zu Landschaftsauffassungen führte, die gegenüber den englischen und französischen neu waren. 24 So sind in Deutschland die Landschaftsauffassungeil des aufgeklärten Absolutismus, der bürgerlichen Klassik und des Idealismus entstanden; so wurde in Ungarn die taj Symbol der ständisch-patriotischen sowie aufgeklärt-adeligen Gesellschaftsvorstellungen. 25 23 Die mit der französischen Revolution und dem Kampf gegen Napoleon aufkeimenden nationalen und auch liberalen sowie demokratischen Vorstellungen wurden in ganz Mitteleuropa für gefahrlieh gehalten. Nicht überall wurde jedoch versucht, diese aufklärerischen Ideen so zu unterdrücken, wie das im Fall von Ungarn unter dem Habsburgischen Absolutismus geschah. In Deutschland setzte sich unter den Herrschenden z. B. die Meinung durch, dass die Aufklärung nicht verhindert, sondern vom Adel oder den Fürsten geleitet werden sollte. 24 Während die deutschen Landschaftsauffassungen vor allem durch Frankreich und England beeinflusst wurden, spielte in Ungarn das deutsche Vorbild eine bedeutende Rolle. 25 Genauer zu den neuen Inhalten der deutschen und ungarischen Landschaftsauffassungen im ausgehenden 18. Jhd - also dazu, was Land5chaft bzw. taj um die Jahrhundertwende im Hinblick auf Freiheit, Bindung, MenschNatur-Beziehung, Ziel der Geschichte etc. symbolisierten und dass sie organisch als Land-und-Leute-Einheit gedacht werden mussten, weil man 131
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Das bürgerliche Gesellschaftsideal wurde in Deutschland und Ungarn später als in England und Frankreich, nämlich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, mehr oder weniger verwirklicht. Landschaft bzw. taj eigneten sich also auch dann noch dazu, gesellschaftliche Ideale auszudrücken, die in krassem Gegensatz zur Realität standen, als in England und Frankreich Iandscape und paysage ihre Utopistische Kraft schon weitgehend verloren hatten. 26 Die Landschaftsauffassungen der deutschen Romantik und Gegenaufklärung bzw. die taj-Auffassungen, die das bürgerlichliberale Gesellschaftsideal der sogenannten Reform-Adeligen bzw. die bürgerlich-demokratische Gesellschaftsvorstellung der als >radikale Reformer< bezeichneten Gesellschaftsgruppe ausdrückten, sind erst am Ende des 18. bzw. in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. Diese deutschen und ungarischen Landschaftsauffassungen konnten also gleichsam rückwirkend keinen Einfluss auf die englischen und französischen Landschaftsvorstellungen mehr ausüben. 27
Fazit Ziel dieses Beitrags war es, vier voneinander abweichende Verständnisweisen von Landschaft in Europa vergleichend darzustellen und Ursachen für die jeweiligen Spezifika zu finden. Frankreich, Deutschland, Ungarn und England wurden für die Untersuchung ausgewählt. Die Darstellung der Landschaftsauffassungen erfolgte anhand erster Ergebnisse einer sprachlichen und kulturhistorischen Untersuchung der jeweiligen Landschaftsauffassungen der Länder. Landschaft wurde dabei als sozio-
damit vorneuzeitliche Gesellschaft als Ideal symbolisieren wollte - siehe z. B. Eise! 1982, Kirchhoff 2005, Leuprecht 1996, Trepl 1997, Drexler 2006. 26 Ihre utopischen Bedeutungen hatten Iandscape und paysage immer noch, aber ihre politisch-kulturelle Kraft hatten sie verloren: Die Bürger, die an der Herrschaft beteiligt waren, wollten diese alten Utopien nicht mehr so richtig verfolgen. Trepl 1998 schreibt: »Vernunft- Mittel und Maß bürgerlichen Fortschritts- begann ... seit dem frühen 19. Jhd. gegen Natur zu stehen, Natur (als ländliche Landschaft) wird zu einem konservativen Ideal, und Landschaftsschutz ist seitdem mit konservativer Zivilisationskritik verbunden. Natur (als Landschaft) steht nicht mehr für Freiheit gegen die >Künstlichkeit< des Hofes, sondern wird zum Kampfbegriff gegen Fortschritt, Industrie, Stadt, Weltbürgertum, Demokratie, Rationalität usw. (Eise! 1982).« 27 Eine Ausnahme, die im Laufe der kulturhistorischen Analyse gefunden wurde, ist die kantische Ästhetiktheorie, die einen Einfluss in England und Frankreich ausübte, insbesondere auf die Auffassung der erhabenen Landschaft. 132
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kulturelles Phänomen verstanden. Entsprechend wurden die Gründe der zeitgenössischen Unterschiede in der Landschaftswahrnehmung in der unterschiedlichen kulturhistorischen Entwicklung der Länder gesucht. Die kulturhistorische Untersuchung hat die durch die Sprachanalyse aufgezeigten Unterschiede zwischen den Landschaftsverständnissen der Länder zum einen bestätigt und zum anderen erklärt: Landscape und paysage symbolisieren im Wesentlichen nur progressive neuzeitliche Gesellschaftsideale, Landschaji und taj dagegen neben progressiven auch konservative Gesellschaftsvorstellungen, die vorneuzeitliche Verhältnisse idealisieren. Bezogen auf Europa wurden die kulturbedingten Differenzen in der Landschaftswahrnehmung von den Disziplinen, die sich mit Landschaft beschäftigen, bisher weitgehend vernachlässigt. Dieser Beitrag stellt bestimmte theoretische Überlegungen vor, die es ermöglichen, die verschiedenen kulturell begründeten Interessen an Landschaft zu untersuchen und insbesondere in Landschaftsplanung und Landschaftsarchitektur zu betücksichtigen. Damit ist eine Grundlage flir weiterführende, vergleichende Forschung zum Spektrum der Landschaftswahrnehmungen in Europa gelegt. Ich danke Wolfram Höfer, Gisela Kangler und meinen Doktorvater Ludwig Trepl für ihre hilfreichen und inspirierenden Anmerkungen, mit denen sie die Entstehung der vorliegenden Fassung dieses Beitrags ermöglicht haben. Mein Dank geht auch an Thomas Kirchhoff und WolfChristian Saul fiir die sorgfältige Betreuung des Manuskripts.
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Abb. 5: Jacob van Ruisdael, Bleichwiesen bei Haarlem, um 1670, Kunsthaus Zürich, Ruzicka-Stiftung, Zürich 160
DAS »ANGENEHME GEBIRGE«
ses Friedensschlusses ist ein idyllisches Dünengebiet Die Vereinigung zwischen dem Meer - das in der politischen Graphik oft die Sphäre des Feindlichen markiert - und den Dünen mag dabei die Aufhebung des Streites bedeuten: >>Der Friede und die Freundschaft verbinden die Welt. Der Himmel zieht über sie: die Woge küsst den Strand, die See umarmt die Düne« 11 . Mit dem Westfälischen Frieden sind die Dünen in die Ferne eines arkadischen Schauplatzes der >klassischen< holländischen Geschichte gerückt. Ruisdaels Gemälde (Abb. 1) weist auf diesen neuen Grad der ästhetischen Distanz - das Ausblicksmotiv ist sublimiert. Nach diesem Wendepunkt implodiert die identitätsstiftende Wirkkraft der Dünen. Sie können als »angenehmes Gebirge« 12 erklommen werden, um den Blick auf neue holländische Landschaften zu eröffnen: So präsentiert Ruisdaels um 1670 entstandenes Bild Bleichwiesen bei Haarlem (Abb. 5) die Düne nicht mehr als Endpunkt am Horizont. Vielmehr gibt der Dünengipfel nun den Ausblick auf das dahinter liegende städtische Panorama frei.
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MIRIAM VOLMERT
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Abbildungen Abb. 1: Biesboer, P./Sitt, M. 2002: 85. Abb. 2: Biesboer, P./Sitt, M. 2002: 45. Abb. 3: Kempers, B. 1995: 87. Abb. 4: Leeflang, H. 1997: fig. 7. Abb. 5: Biesboer, P./Sitt, M. 2002: 141.
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Die Vieldeutigkeit der Bilder im Landschaftsgarten 1 ANDREA STEGMUND
»Diese höhere Bestimmung der Gärten erweitert und veredelt den Gesichtspunkt, aus welchem sie betrachtet werden können, erhebt sie in die Classe würdiger Kunstwerke und unterwirft sie daher den Regeln des Geschmacks und der Schönheit, denen sie nicht unterworfen waren, so lange sie unter den Händen gemeiner Gärtner blieben.... Gärten in der wahren Bedeutung erheben sich über blinden Einfall und phantastische Künsteley, und folgen nur dem Zuruf der Vernunft und des Geschmacks: In dieser Richtung wird die Gartenkunst Philosophie über die mannigfaltigen Gegenstände der Natur« (Hirschfeld 1779 f./1996: I, 156).
Mit diesen Worten umschreibt Christian Cay Lorenz Hirschfeld in seiner »Theorie der Gartenkunst« den Anspruch an die landschaftliche Gartenkunst, nicht nur die Sinne zu erfreuen, sondern etwas zu bedeuten. Gnmdlage daftir, dass die neue Gartenform Bedeutsamkeit erhalten kann, ist die Struktur der ästhetischen Kommunikation zwischen Betrachter und Garten: Wie die Landschaftsmalerei präsentiert auch der Landschaftsgarten ideale Naturbilder, die vom Rezipienten in besonderer Weise in den Blick genommen werden sollen und die in der so entstehenden Beziehung das jeweilige Weltverständnis und eine darin aufscheinende bedeutungsvolle Sphäre jenseits der Gegenständlichkeit zum Ausdruck bringen können.
Dieser Aufsatz ist aus bisherigen Ergebnissen meiner Dissertation »Der Landschaftsgarten als Gegenwelt: Ein Beitrag zur Theorie der Landschaft im Spannungsfeld von Aufklärung, Empfindsamkeit, Romantik und Gegenaufklärung« hervorgegangen, die voraussichtlich 2009 abgeschlossen wird.
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ANDREA SIEGMUND
Meine Deutung setzt nun bei den Idealbildern von Landschaft an, die die Naturkonstruktion im Garten bestimmen, d.h. genauer: bei den diesen zugrunde liegenden Subjektidealen. Ausgehend von der ideengeschichtlichen Situation zur Zeit des Landschaftsgartens (ca. 171 0-1850) betrachte ich die verschiedenen Landschaftsbilder in den einzelnen Gartenanlagen als künstlerische Darstellungen unterschiedlicher Ideen und Weltbilder, die als Reaktion auf die durch die Aufklärung hervorgebrachte Sinnkrise und die damit verbundene Suche nach einem neuen Selbstverständnis entstanden sind. Es soll gezeigt werden, dass die Kunstform des Landschaftsgartens verschiedene utopische Gegenweltentwürfe integrieren kann, dass also im 18. und 19. Jahrhundert in den Bildern der Gärten verschiedene subjektbezogene Lösungsvorschläge bzw. Bewältigungsmodelle, die in der in ihnen angelegten Überschreitung der Wirklichkeit sinnstiftend wirken, thematisiert werden. Im Folgenden werden vier verschiedene Modelle idealtypisch unterschieden. Das heißt, sie werden systematisch konstruiert und in ihren Charakteristika bewusst überpointiert. Die angeführten Garten- und Theoriebeispiele dienen nur der Illustration; sie lassen sich in den meisten Fällen nicht vollständig für den jeweiligen Landschaftstyp vereinnahmen, denn das Wesen des »Gedankenbild[es]« eines Idealtyps ist es gerade, dass er »[i]n seiner begrifflichen Reinheit ... nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar [ist]« (Weber 1904/1922: 191). Ausgangspunkt des entworfenen vierpoligen Modells ist die aus einer autonomen, allgemeinen, menschlichen Vernunft abgeleitete moralischgesellschaftliche Zukunftsutopie der Aufklärung. Diesem Utopietyp stellt die Gegenaufklärung einen Entwurf gegenüber, in dem die Vernunft nicht autonom gedacht wird, sondern in der Unterwerfung unter etwas, was höher ist, als die menschliche Vernunft, nämlich unter einen quasi göttlichen Plan des organischen Zusammenwirkens göttlicher Elemente. In einer zweiten Gegenbewegung, die zur Romantik führt, verliert die gesellschaftliche Utopie ihre sinngebende Funktion als Subjektideal und wird durch eine individuelle Utopie abgelöst. Diese ist nicht auf die vernünftig konstruierte Zukunft, sondern auf den Augenblick des gefühlvollästhetischen Genießens bezogen. Durch eine Verschränkung dieser beiden Bewegungen - im Sinne einer wechselseitigen Begründung von Ästhetik und der Sphäre gesellschaftlich-moralischen Handeins - lässt sich als vierter Gegenweltentwurf der der Empfindsamkeit abgrenzen. Diese vier Subjekt- und Landschaftsideale sowie deren Realisierung in der Gartenkunst sollen nun genauer beschrieben werden. Dabei lege ich besonderes Gewicht auf die Einbindung der Gartenbauten, denn der Symbol- bzw. Utopiegehalt der landschaftlichen Gartenbilder wird durch die Architekturstaffagen in entscheidenderWeise mitbestimmt. Vom Bau164
DIE VIELDEUTIGKEIT DER BILDER IM LANDSCHAFTSGARTEN
stil der Staffagen kann jedoch- so meine These- nicht auf ein zugrunde liegendes Denkmuster geschlossen werden. Denn die unterschiedlichen Stilrichtungen (die ich im Rahmen dieser Arbeit zusammenfassend als antik, gotisch, ländlich oder exotisch beschreibe) können je nach Gesamtideal unterschiedlich interpretiert werden.
Aufklärerische Konzeption des Landschaftsgartens Wie bereits skizziert, bezieht sich das aufklärerische Subjektideal auf eine autonome, allgemeine, menschliche Vernunft. Damit wendet sich der aufklärerische Entwurf gegen die direkte Ableitung des Handeins bzw. der Gesellschaftsform aus göttlicher Vollkommenheit. Ausgehend von der Idee des vernünftigen Fortschritts wird ein gesellschaftlicher Idealzustand in der Zukunft entworfen. Dieser wird auf eine positive Legitimation des Subjekts durch die Natur bezogen; d. h. für den Menschen wird eine anzustrebende ideale Natur vorausgesetzt, die im tugendhaften Handeln im Sinne des Gemeinwohls besteht. Vermittelt u. a. durch die Addisonsche Assoziationsästhetik, geht dieser Gegenweltentwurf auch in die Idee der Landschaft ein. Addison beschreibt das ästhetische Urteil als einen ständigen Vergleichsprozess. Jeder Bestandteil eines sinnlichen Eindrucks könne die Erinnerung an eine Situation erwecken, in der man diese Wahrnehmung schon einmal gemacht habe, und damit die Bilder, die diese Wahrnehmung begleiteten, heraufbeschwören. So bestehe die ästhetische Wahrnehmung in einem lnbeziehungsetzen der aktuellen Eindrücke mit früheren (Addison 1712: SpectatorNr. 411-414). Angesichts der Vergesellschaftung des Menschen haben nun die Assoziationen, die beim jeweiligen Rezipienten entstehen, nicht nur eine individuelle Dimension, sondern auch eine allgemeine. Sie sind eingebunden in die gesellschaftliche Diskussion über den moralischen Fortschritt der Menschheit als der Sphäre, wo sich die schöpferische Kraft des Menschen erweist und die sich im Tugendideal der »real politeness« (Bermingham 1986: 21) niederschlägt. Landschaft erscheint gemäß dieser Ästhetik dann als schön, wenn sie beim Betrachter Assoziationen auslöst, die sich zu einer moralisch-gesellschaftlichen Gesamtidee vereinen lassen, wenn also eine Ideenstruktur durchscheint, die auf den moralischen Zukunftsentwurf verweist. Das künstlerische Ideal schöner Natur wird so von der Idee göttlicher Vollkommenheit gelöst, gleichzeitig aber an das übergeordnete Ideal der allgemeinen Vernunft gebunden. Landschaft soll zwar Freiheit als gesell165
ANDREA SIEGMUND
schaftliebes Ideal darstellen, aber gemäß einer Definition von Freiheit, die durch einen positiven Naturbegriff- gleichgesetzt mit der Sittlichkeit des Menschen - eingegrenzt ist, ist auch die Freiheit der idealen Landschaft gezähmt und alles >Unvernünftige< wird aus dem Idealbild ausgeschlossen. Dieses Landschaftsideal geht auf zweierlei Weise in die Gartenkunst ein. Zum einen werden die Gartenbilder - durchaus auch mit großem Aufwand - von all den natürlichen Eigenschaften befreit, die sich nicht dem allgemeinen Ideal der >vernünftigen Natur< unterordnen lassen. 2 Zum anderen werden Architekturstaffagen in die Szenen integriert, die ein allgemeines Vernunftideal ansprechen. Dies können Bauten verschiedener Stilrichtungen sein. So wird zum Beispiel die klassische Antike wegen der dort realisierten Gesellschaftsform der griechischen Polis bzw. der römischen Republik als Ausgangspunkt einer aufklärerischen Entwicklung gedeutet, an deren Ende die Durchsetzung des Prinzips der Freiheit durch die menschliche Vernunft steht. Dementsprechend werden antikische Bauten - teils mit aufwendigem, ikonographisch deutbarem Bildoder Skulpturenprogramm - in die Gartenbilder integriert. Ein bekanntes Beispiel ist der nach dem Vorbild des Sibyllentempels in Tivoli gestaltete »Temple of Ancient Virtue« in Stowe mit den Statuen der im Sinne allgemeiner Vernunft vorbildhaften Helden Lycurgus, Sokrates, Homer und Epaminondas. Auch der gotische Baustil wird im Rahmen der Aufklärung zum Teil als Hinweis auf eine positiv besetzte Zeit gedeutet. So wird z. B. in England von den Oppositionskräften nach 1714 die Vergangenheit als »Wechsel von Unterdrückung und Freiheit projektiert« (Stempel 1982: 74), wobei das englische Mittelalter als auf dem vorfeudalen System der sächsischen und anderer germanischer Stämme basierend, und damit als freiheitliche Phase deklariert wird. Bei dieser Vereinnahmung des Mittelalters wird die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen betont - die >alte Freiheit< ist demzufolge die Freiheit von der Unterdrückung durch einen Monarchen. Dabei wird die Entwicklung Britanniens, aber auch der Menschheit im Ganzen als Entwicklung hin zu einem allgemeinen Idealzustand dargestellt. Ein ursprünglich territoriales Prinzip3 wird also gewissermaßen universalisiert, indem es nicht mehr auf ein von anderen
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So harmonisiert zum Beispiel Joseph Ramee ftir den Garten Sievekings in Harnburg den bestehenden Steilhang, indem er durch umfangreiche Erdarbeiten eine Wiesenfläche schafft, die sich in leichten Wellen zur Eibe hinabsenkt (Schubert 2003: 40). Olwig (1996: 533 ff.) beschreibt die »alte Freiheit« als auf der Rechtsform des »customary law« beruhend, das sich ursprünglich auf jeweils nur eine räumlich begrenzte Gemeinschaft bezog.
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Regionen abgegrenztes Gebiet einheitlicher Sitten und Rechtsform bezogen, sondern als eine Realisierung des natürlich-vernünftigen allgemeinen Prinzips der Freiheit verstanden wird (vgl. Pocock 1988: 94). Dementsprechend wird dann auch die Gotik als Verweis auf die Anfänge eines vernunftbegründeten Zukunftsentwurfs allgemeiner Freiheit verstanden und als Baustil in die Gärten integriert, so z. B. mit dem »Temple of Liberty« in Stowe. Auch exotische Staffagen können teilweise im Zusammenhang mit dem aufklärerischen Ideal der Weltaneignung durch den Verstand interpretiert werden. Ausgehend von der Idee einer enzyklopädischen Ordnung der vielfältigen Kulturerscheinungen der Welt werden verschiedene Baustile und -formen fremder Länder im Garten zusammengeführt. Als ein Beispiel enzyklopädischer Sammellust kann das Brückenprogramm im Dessau-Wörlitzer Gartenreich4 verstanden werden, das auch die Kulturleistung verschiedener Länder vereint. Es zeigt nicht nur verschiedene technische Varianten in der Entwicklung von der urzeitliehen Baumbrücke bis zur modernen Eisenbrücke von Coalbrookdale, sondern auch Brückentypen fremder Stilzonen, wie z. B. die Hohe Brücke im chinesischen Stil und die Kettenbrücke im japanischen Stil. So wird im aufklärerischen Landschaftsgarten nicht nur ein allgemeines Tugendideal angesprochen, sondern auch die Idee der Ordnung der vielfältigen Erscheinungen durch die menschliche Vernunft. Neben der ideellen Form der Weltaneignung nimmt auch das Ideal einer praktischen Weltaneignung, die u. a. die neu entwickelten Formen landwirtschaftlicher Bewirtschaftung prägt, im aufklärerischen Denken einen breiten Raum ein. Durch eine Integration moderner agrikultureller Elemente in das Blicksystem des Gartens, wie sie u. a. in Wörlitz geschieht, kann eine rationalisierte Landwirtschaft als Mittel zur Verwirklichung der Utopie >Verbesserung der Lebensgrundlagen< für alle demonstriert werden.
Empfindsame Konzeption des Landschaftsgartens Wie die aufklärerische Utopie ist die empfindsame auf die Verwirklichung menschlicher Ideale im Diesseits bezogen. Im Gegensatz zu jener wendet sie sich aber gegen die Idee eines allein vernunftbestimmten Fortschritts. An deren Stelle setzt sie die Idee der Wiedergewinnung eines idealisierten, ursprünglichen Naturzustandes in einem triadischen Ge4
Siehe gerrauer zum Wörlitzer Brückenprogramm Burkhardt 1996.
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ANDREA SIEGMUND
schichtsschritt. Durch die Entwicklung der menschlichen Vernunft sei eine ursprüngliche Mensch-Natur-Einheit aufgelöst worden. Diese gelte es nun durch ästhetische Einfühlung, auf höherer Ebene als im Naturzustand, wiederzubeleben. Dem entspricht das Ideal einer Kunst, in der ästhetische und moralische Sphäre unmittelbar zusammenwirken. lm Gegensatz zum aufklärerischen Subjektideal, innerhalb dessen letztlich alles der menschlichen Vernunft untergeordnet wird und das Gefühl der Lust angesichts des Schönen das eigentliche moralische Ideal nur anzeigt, aber nicht ausmacht, ist in der empfindsamen Konzeption flir die adäquate Rezeption des Kunst- und Naturschönen, die gleichzeitig die eigentliche Utopie darstellt, beides in gleichem Maße nötig: Vernunft und unverbildetes Gefühl. Nach Sulzer »steht [d]er Liebhaber des Schönen zwischen dem bloß materiellen, ganz sinnlichen Menschen, und dem, derblos Geist und Verstand ist, in der Mitte« (Sulzer zit. n. Nagel 1997: 155). So kann er auf die äußere Natur empfindsam reagieren, diese aber durch seinen Geist gleichzeitig veredeln. Die ästhetische Wahrnehmung im eigentlichen Sinne wird dabei nicht als offene Gefühlsbewegung im Sinne eines von der äußeren Natur geleiteten Abrufens entsprechender menschlicher Empfindungsmodi - verstanden, sondern als harmonische Gefühlsbewegung, die sich freiwillig richtig, d. h. vernunftgemäß entwickelt. Schiller beschreibt den ästhetischen Zustand als »mittlere Stimmung ... , in welcher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich thätig sind, eben deswegen aber ihre bestimmende Gewalt gegenseitig aufheben« (Schiller 1795/2000: 81). Dieses Ideal wirkt auch auf die Gartenkunst ein. So haben insbesondere Thomas Whately und Christian Cay Lorenz Hirschfeld die Ansicht vertreten, der landschaftliche Garten solle die Empfindungen des Rezipienten harmonisch beleben. In bewusster Abgrenzung zum aufklärerischen Garten, der den Besucher vor die Aufgabe stellt, die verschiedenen ikonographischen Hinweise zu entschlüsseln und in eine sinnvolle Ordnung zu bringen, um die darin versteckte ldee zu erkennen, bemerkt Whately in seinen »Observations on Modem GardeningWesen< des Stammes verstanden. Wichtig an dieser Vorstellung ist die Verknüpfung typischer Eigenschaften mit einer räumlichen Dimension: Das Wesen eines Stammes oder einer Volksgruppe war eng an ein bestimmtes Siedlungsgebiet, eine Landschaft, gekoppelt, es erwuchs aus der Landschaft. Der Landschaft bzw. dem konkreten Raum kam somit eine fast mythische Bedeutung zu, da sie volksgenerierend wirkte. An erster Stelle der Entwicklung steht 180
LANDSCHAFTLICHEKULTURPFLEGE
die Landschaft, aus ihr erwächst der Mensch, d. h. die Landschaft formt den Menschen bzw. den Stamm. Nach dieser Auffassung gab es einen engen Zusammenhang von Landschaft und Volkstum: Der Boden, auf dem die Menschen lebten, formte den Geist, das Wesen dieses Stammes und machte sie zu einer von anderen abgrenzbaren ethnischen Gruppe. Diese Vorstellung von dem klar erkennbaren Geist eines Stammes wurde von der regionalen auf die nationale Ebene übertragen. So war in der deutschen Nationalbewegung des Vormärz die Idee eines deutschen Nationalcharakters weit verbreitet, der eine unauslöschliche Größe sei und seine Entsprechung in einer staatlich verfassten deutschen Nation finden müsse. Volksgeist, Stammeswesen oder Nationalcharakter waren unterschiedliche Bezeichnungen ftlr dieselbe, ins Mythische überhöhte Idee: Stereotype in Bezug auf die Eigenschaften einer Volksgruppe wurden mit einem ideologisch aufgeladenen Raumbegriff zu einem überindividuellen Wert verknüpft, der für die einzelnen Organe einer ethnischen Gemeinschaft identitätsstiftend und verbindend wirkte. Nach der Reichsgründung 1871 gab es zwar eine deutsche Staatsnation, es hatte sich aber noch längst kein allgemeines Bewusstsein einer gemeinsamen deutschen Nation herausgebildet. Im Kaiserreich existierten nationale und regionale Identifikationsmuster parallel und einander ergänzend (Klein 2005: 13 f.). Es existierte eine idealisierte Vorstellung vom Reich, die auf dem Bewusstsein einer vermeintlich ruhmreichen tausendjährigen gesamtdeutschen Geschichte basierte. Damit wurde insbesondere auf Kaiser Friedrich l., Barbarossa genannt, zurückgegriffen. Auf individueller Ebene erfolgte die Identifikation allerdings weitgehend nicht über den Nationalstaat, sondern über die Zugehörigkeit zu einem Territorialstaat Man war vor allem Hesse, Sachse oder Westfale, erst danach Deutscher. Das regionale Bewusstsein war auch nach der Reichsgründung stärker ausgeprägt als das nationale, Prozesse der Regionalisierung und der Nationalisierung verliefen parallel und beeinflussten sich gegenseitig. Das regionale Bewusstsein war in der Regel sehr viel älter, da es sich häufig in einem über Jahrhunderte existierenden Territorialstaat mit einer manchmal ethnisch homogenen Bevölkerung herausgebildet hatte. Im Falle Westfalens existierte ein solcher Territorialstaat nicht; erst mit der Gründung der preußischen Provinz Westfalen im Jahr 1815 gab es ein zusammenhängendes westfalisches Territorium in staatlich definierten Grenzen. In der darauf folgenden Zeit bildete sich ein regionales Bewusstsein heraus. Das Westfalenbewusstsein einte die sozial und kulturell heterogene Provinz nach innen, nach außen grenzte das Bewusstsein eines genuin westfalischen Raumes die Provinz gegen das als übermächtig empfundene Preußen ab. Die Betonung ethnischer und kulturel181
KATINKA NETZER
ler Gemeinsamkeiten, aus denen politische Forderungen abgeleitet wurden, ist ein typisches Phänomen ftir nationale Bewegungen, wie auch für die deutschen Einigungsbestrebungen im Vormärz. Im Konzept des Westfalenbewusstseins wurden diese Vorstellungen auf die regionale Ebene übertragen und die Betonung der regionalen Eigenheiten gegenüber dem Gesamtstaat gefordert und gefördert. Die politischen Bedingungen wirkten sich auf kulturelle Vorstellungen aus. Durch Entstehung eines regionalen Bewusstseins verlagerte sich das kulturelle Interesse vor allem des Bürgertums. Diese Schicht hatte mittlerweile den Adel als Kulturträger abgelöst. Während der Adel sich kulturell zumeist überregional orientierte, bspw. an Frankreich und dem dortigen Hofzeremoniell, entdeckte das Bürgertum die Region: Regionale Eigenarten, die bis dahin als Zeichen mangelnder Kultur bewertet worden waren, wurden nun auch vom westfälischen Bürgertum wiederentdeckt und gepflegt. Nicht zuletzt an der Neubewertung regionaler Kultur zeigte sich die Stärkung des bürgerlichen Selbstbewusstseins. Erhaltung und Erforschung der regionalen Geschichte und Kultur wurden populär, sie entsprachen mehr denn je dem politischen Zeitgeist. Institutionelle Träger dieser Bestrebungen wurden vor allem die Heimatvereine, die seit Beginn des Kaiserreiches zunehmend entstanden. In der Heimatbewegung fanden sich Menschen zusammen, die als oberstes Ziel ihr eigenes Umfeld, eben die Heimat, kennen lernen und schützen wollten. Die Mitglieder der Heimatvereine entstammten vornehmlich dem Bürgertum, dem Bildungs- wie dem Besitzbürgertum, sie waren meist lokale Honoratioren (Ditt 1997: 263-265). Zivilisationskritik, Ablehnung der Moderne und die Betonung des Heimatgedankens waren die verbindenden Elemente zwischen bürgerlichem Selbstverständnis und Heimatbewegung in Westfalen. Zu einer institutionellen Verankerung dieser kulturellen Aktivitäten des Bürgertums kam es, zumindest in den preußischen Provinzen, ebenfalls gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In Preußen waren in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erste Provinzialverbände gegründet worden, denen der preußische Staat die Förderung des kulturellen Lebens, speziell die Pflege der Bau- und Kunstdenkmäler, zuwies. Und zwar sollten sie Vereine, die der Kunst und Wissenschaft dienten, finanziell unterstützen, ebenso öffentliche Sammlungen. Sie sollten Landesbibliotheken erhalten und unterstützen, außerdem oblag ihnen die Unterhaltung von Denkmälern. 1886 war das Gründungsjahr des Provinzialverbandes Westfalen, der Vorläuferorganisation des 1953 gegründeten Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Der Provinzialverband förderte gezielt bürgerliche Kulturorganisationen und folgte dabei dem bürgerlichen Kulturverständnis des Kaiserreiches, vor allem Kunst und Wissen182
LANDSCHAFTLICHEKULTURPFLEGE
schaftwurden gefördert. Doch er ging über diese subsidiäre Form der Kulturpflege hinaus und gründete in Eigenregie Museen und baute eigene Sammlungen auf (Ditt 2000: 77 f.). Zielgruppe dieser Maßnahmen war das bürgerliche Publikum. In der Weimarer Republik entwickelte der Provinzialverband Westfalen eigene kulturpolitische Zielsetzungen. Als erster Provinzialverband richtete er 1923 ein Kulturdezernat ein und wurde so zum Vorbild für die Verbände anderer Provinzen. Erster Kulturdezernent wurde Landesrat Karl Zuhorn. Gemeinsam mit Ernst Kühl entwickelte er in den 1920er Jahren eine kulturpolitische Konzeption, die die Arbeit des Provinzialverbandes prägte, die >landschaftliche Kulturpflegeentartet< aus und förderte vor allem im heimatlichen Brauchtum verwurzelte Künstler, ungeachtet ihrer künstlerischen Qualität. Der Provinzialverband Westfalen passte sich in Ideologie und Terminologie dem nationalsozialistischen System an, während er gleichzeitig an der Praxis seiner Kulturarbeit festzuhalten suchte (vgl. Ditt 1988, Neseker 1988). Die Entwicklung nach 1945 möchte ich an dieser Stelle nur streifen. Insgesamt war die unmittelbare Nachkriegszeit von einer regelrechten Kultureuphorie geprägt. Theater, Kleinstverlage, Kabarettbühnen schossen in den Großstädten aus dem Boden, während die etablierten Einrichtungen möglichst rasch wieder den Betrieb aufnehmen wollten. Die Zeit der völkisch gleichgeschalteten Massenkultur des NS sollte mit einem breit gestreuten kulturellen Pluralismus überwunden werden, Kultur sollte die Schrecken der Diktatur vergessen helfen. In der Kulturabteilung des Provinzialverbands Westfalen war von dieser Aufbmchstimmung zunächst nichts zu spüren; hier galt es vor allem, das Bestehende zu sichern und die durch die Endphase des Krieges unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen. Kennzeichnend für diese Phase ist ein hohes Maß an Pragmatismus, mit dem die dringend anstehenden Aufgaben, insbesondere der Wiederaufbau, bewältigt wurden. Es stand keine konzeptionelle Neuorientiemng auf dem Plan, die Entscheidungsträger folgten alten ideologischen Gleisen: Das Programm der landschaftlichen Kulturpflege, wie es in den 1920er Jahren begründet worden war, wurde fortgeführt. In der Praxis kam es gleichwohl zu einer Vielzahl von Neue186
LANDSCHAFTLICHEKULTURPFLEGE
rungen, die sich insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren fortsetzen: Der Kulturbegriff öffnete sich, so wurde beispielsweise die Kunstrichtung der Modeme, insbesondere der Expressionismus, zu einem Schwerpunktthema der Museen. Die Kultureinrichtungen verlagerten sich von den städtischen Zentren Westfalens immer stärker in den ländlichen Raum. Während lange Zeit Zeugnisse bäuerlichen Lebens allein als typisch westfälische Kultur verstanden wurden, wird spätestens seit der Gründung des Westfälische Industriemuseums 1979 die Industrialisierung als eine der bedeutendsten Epochen der Region anerkannt und entsprechend museal aufgearbeitet und präsentiert. In der Praxis nahm die Kulturarbeit des Landschaftsverbandes in den letzten zwei Jahrzehnten aktuelle Forschungstendenzen wie die Sozialgeschichte auf, doch dies wird bisher nicht durch eine entsprechende theoretische Neuakzentuierung begleitet. Die Landschaft Westfalen im Sinne von Zuhom bildet in der Theorie weiterhin den Bezugsrahmen der Arbeit und dient in politischen Diskussionen als Argument für die Legitimation der kommunalen Selbstverwaltung.
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Landschaft( e n) Fragt man nach Äquivalenten für >Landschaftlandschaftliche Stadt< (shanshui chengshi W7JVater< der chinesischen Weltraum- und Kernwaffentechnik. Selbst beheimatet in Hangzhou, dem chinesischen Synonym für die vollkommene MenschNatur-Harmonie3, entwickelt er einen großen Wurf von den shanshuiStädten. Indem er die Monotonie der gegenwärtigen Verstädterung kritisiert4 und fordert, dass das Bauen sich landschaftlichen Gesichtspunkten unterzuordnen habe, weist er shanshui eine äußerst umfassende Bedeutung zu, die weit über die Thematik der Malerei hinausgeht. Die aktuelle Verstädterung empfindet er als eine Entfernung von der Natur. Er wünscht sich die Umkehr. 5 Sie soll dadurch gelingen, dass zerstörte naturnahe Bereiche in den Städten und besonders das städtische Umland renaturiert und grüne Aspekte in der Architektur stärker berücksichtigt werden. Hier dient einer der traditionellen Landschaftsbegriffe der Propagierung eines Modells standort- bzw. naturgemäßer Städte. Die shanshui-Stadt darf man als Versuch eines genuin chinesischen Beitrags zur (globalen) Stadtentwicklung verstehen.
Tianyuan: Landschaft als Metapher für Freiheit Tianyuan FR fii;l (=Feld und Garten) beinhaltet eine ländliche, von Menschen gestaltete harmonisch-idyllische Gegend. Tianyuan wird schon früh zur Metapher für Freiheit und Zwanglosigkeit: Der Lyriker Tao Yuanming (365-427) beschreibt das Leben in der Stadt als ein Leben im Käfig. Zwei Zeilen lauten »Lange saß ich im Käfig, jetzt bin wieder zurück in der Natur«. Nur die Rückkehr zur Natur (ziran) oder aufs Land (tianyuan) gewährt Freiheit des Denkens. 6 Wang Wei (70 l-761 ), einer der großen buddhistischen Lyriker und Maler der Tangzeit, sucht hier Frieden und das Transzendente (weiße Wolken). Tianyuan gehört seitdem in die Sprache der Lyrik, wird aber auch heute genutzt, beispielsweise bei Immobilien-Anzeigen, um die Natmnähe des angepriesenen Objekts zu suggerieren. In der Planersprache be-
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Jeder Chinese kennt das Sprichwort: Shang you tiantang, xia you suhang 1-:fi::f(~, r·:fi~HJL, wörtlich: Oben (im Himmel) gibt es das Paradies, unten (auf der Erde) gibt es Suzhou und Hangzhou. Qiancheng yimian Ttß]G-®, wörtlich: Tausend Städte - ein Gesicht. Ren likai ziran you fanhui ziran A ~ 3f U t'!.\X~ fDl UY!.i, wörtlich: Der Mensch verließ die Natur und muss wieder zu ihr zurückkehren. Eines der berühmtesten chinesischen Gedichte von Tao Yuanming trägt den Titel: Gui yuantian ju V.::J~Jg m (Zurück aufs Land). Es entstand 406 n. Chr. Die beiden Zeilen lauten: jiu zaifan lang Ii ~:tf~~ !l3-.,fit defan ziran ~{~~ U1!.\ (vgl. Klöpsch/Müller 2004: 297).
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diente man sich des tianyuan bei der Übersetzung von Howard (1898): Gardencity wird tianyuan chengshi. 7
Fengjing: Landschaft als schöne Gegend Will man einen Ort beschreiben, der den ästhetischen idealen von shanshui entspricht, ist die Rede vonfengjing JXl.::ll't, der Landschaft als der schönen Szene. Ähnlich wie shanshui handelt es sich hier um einen seit langem gebrauchten Begriff, vor allem in der Literatur. So findet er sich bereits in den Gedichten von Wang Wei (s.o.). Er erfuhr aber einen Bedeutungswandel im Sinne einer planerischen >Präzisierunglandschaftliche< Fremdenverkehrsstädte 10 zu qualifizieren.
Jingse: Landschaft als schöne Aus- und Ansicht Jingse "~ ß verknüpft >Szene< (jing :W:) mit >Farbe< (se ß). Hier geht es um den (schönen) visuellen Totaleindruck von einem Ausschnitt der Erdoberfläche. Es ist ein alter Begriff, der bis heute zur Umgangsprache gehört (im Unterschied zum >benachbarten< Begriffjingguan ~~))\\ (s. u.), der nur innerhalb der Verwaltung und von Gebildeten gebraucht wird. Jingse dient zur Beschreibung der natürlichen Schönheit touristischer Ziele. ln der Sprache der Planer spielt der Begriff keine Rolle.
Yuanlin: Landschaft als Garten Geht es um die gestalterische Umsetzung der Motive der Landschafts(shanshui-) Malerei, dann ist diese Landschaftsgestaltung als Yuan/in 7
Der Begriff tianyuan chengshi EE Im~ 11i ist heute in chinesischen Fachkreisen geläufig (nachdem man garden city zunächst in den 50er-Jahren auch mit hua-yuan chengshi 1tim:91X l]j übersetzte), denn Howards Werk war und ist als Anregung wichtig, wenn auch de facto keine tianyuan chengshi gebaut werden, allenfalls Satellitenstädte ( weixing chengshi J.:l.ffi ~ 11i).
ßmgjing mingcheng baohuqu JxUj~;~Jl'f{5iH'f'!R, wörtlich: wegen seiner berühmten Landschaft geschütztes Gebiet. 9 Vorläufer gab es bereits seit 1985. Zur aktuellen Verordnung vgl. Staatsrat der VRCh (2006). 10 fengjing lüyou chengshi }xL~ Mriff:f:91X lii: landschaftlich (reizvolle) Tourismusstadt 8
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I:TGI~;f = Gartenkunst zu verstehen. Das Thema ist alt und hochgradig kanonisiert, wie es die berühmte Monographie des Landschaftsmalers und -gärtners Ji Cheng (1582-1642), das weltweit älteste Lehrbuch der Gartenkunst »Gartengestaltung« (Yuanye tushuo Im {ß' 00 i.R. ) aus der späten Mingzeit (1631) belegt. Das Zeichenyuan I:TGI hat eine äußere Begrenzung gleich einer Mauer, wie auch das Zeichen für Staat = guo 11'1. Yuan deutet damit bereits an, dass es sich um Raumkunst mit Pflanzen auf begrenzter Fläche handelt. Die künstliche Landschaft ist eine Sequenz von Szenen (jing). Ihre Anlage erfolgt in der Stadt oder unmittelbar vor den Stadtmauern, kaum aber auf dem Lande. Nach 1949 mutierte der traditionelle Landschaftsgarten/Yuan/in zum städtischen Grün. Die Konservativen der Fachgemeinde halten an yuan/in fest als disziplinärem Dach auch für das breite Spektrum der aktuellen Aufgaben (Liu Jiaqi 2000: 7). Kommunale Grünflächenämter heißen heute yuanlinju pq{;j\.Fn] . Umgangssprachlich lebt yuan/in weiter im Titel eines Städtewettbewerbs um das beste Stadtgrün, bei dem die erfolgreichsten Städte sich mit dem Titel yuan/in chengshi lm{;f:f)Jl rti schmücken dürfen.
Fengshui: Landschaft als Konstrukt von Lagebeziehungen Fengshui }.X\,7]( (=Wind, Wasser) ist ein Bewertungsverfahren für Raumqualitäten. Ganze Bibliotheken widmen sich diesem vorwissenschaftlichen, auf Erfahrungswissen gegründeten Ansatz einer Optimierung menschlicher Aktivitäten in einem gegebenen Raum (vgl. Wang Lu 1997). Landschaft ist hier ein authentischer individueller Ort, dessen Beziehungsqualitäten zu berücksichtigen sind, wenn menschlichem Tun Erfolg beschieden sein soll. Keine Stadt, kein Dorf, kein Garten und kein Grab in China ist ohne die Berücksichtigung von fengshui-Gesichtspunkten angelegt worden. Auch heute noch bestimmen sie Immobilienentscheidungen. Dabei geht es weniger um die bautechnischen Aspekte einer Maßnahme als vielmehr um die Ausrichtung eines geplanten Objekts im Verhältnis zur Topographie und zu den Himmelsrichtungen. Der Farbholzschnitt von Xiu Chun (1960) »Frühling in NordShanxi« (Abb. 1) illustriert die gute jimgshui-Lage eines Höhlendorfs im Lößplateau: Ein mächtiger gerundeter Berg bildet den schützenden nördlichen Hintergmnd flir das Dorf, das beiderseits von seinen Hängen umrahmt wird. Obstbäume gibt es vor den Höhlenwohnungen, aber auch am Berghang. Zwei zumindest periodische Gewässer umfließen Berg und Dorf.
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Die z. T. grotesken architektonischen und städtebaulichen Fehlentwicklungen in den Städten Chinas seit den 90er-Jahren, die nur auf unkoutrolliertes Profitdenken zurückgeftihrt werden können, haben in den letzten Jahren zu einem erstaunlichencome-backder fengshui-Theorie gefUhrt (Yu Kongjian/Li Dihua 2003: 140ff.).
Abb. 1: Xiu Chun (1960) »Frühling in Nord-Shanxi« (Holzschnitt, 43 x 32, J. K.)
Shuitu: Landschaft als physiographische Einheit Traditionell beschrieb shuitu J.k I. (= Wasser und Boden) die Naturbedingungen eines bestimmten Raumes. Gelegentlich reduzierte sich die Aussage auf das lokale Klima. Im heutigen Sprachgebrauch wandelte sich shuitu zu einem Begriff des Umweltrechts, der Ye1waltung und des lngenieurwesens. 11
Fengtu: Landschaft als Geodeterminismus Fengtu )xl± (= Wind und Boden) verhält sich komplementär zu shuitu, indem es die engen Wechselbeziehungen zwischen Land und Leuten an
11 Meist taucht das Wort auf als Teil eines zusammengesetzten Begriffs: Shuitu liushi 7.K+iJIT:~ =Erosion. shuitubaochi 7.K+iliH# =Wasser- und Bodenschutz.
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einem spezifischen Ort beschreibt. Wie in Europa, so gibt es auch in China immer wieder den Hinweis auf die Dialektik zwischen der Natur einer konkreten Gegend und der Mentalität der dort lebenden Menschen. Wenn es im Deutschen im Hinblick auf die vorindustrielle, bäuerliche Bevölkerung hieß: »Die Landschaft formt den Menschen«, so heißt es entsprechend im Chinesischen bis heute: »Eine gute Landschaft bringt gute Menschen hervor, eine arme Landschaft schlechte«. 12 Fengtu wird aber auch genutzt, um das Lokalkolorit einer städtischen Kultur zu beschreiben.
Zwischenbilanz Es hat sich gezeigt, dass im klassischen und modernen Chinesischen eine Vielzahl von Begriffen jene Bedeutungsfelder abdeckt, die im Deutschen und anderen europäischen Sprachen an Landschaft gebunden sind. Diese Vielfalt gab es bereits im klassischen Chinesischen, sie lebt aber weiter in der Gegenwartssprache, wobei mehrere Landschaftsbegriffe nach Jahren relativer Vernachlässigung Lmd Geringschätzung inzwischen einen erstaunlichen Bedeutungszugewinn verbuchen konnten. Diese Situation ist vergleichbar mit dem Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als >Gartenstadt< oder >Stadtlandschafi< respektable Gegenentwürfe ftir die grauen, dicht bebauten Städte des Kohlezeitalters beinhalteten.
12 hao shan hao shui chu hao ren, qiong shan e shui chu diaomin ~tliJ~t7]( 1+\~f A, ~w~ ?](f+',>Land und LeuteLandschaftnach der Befreiung< Mit der Gründung des >Neuen China< im Jahre 1949 verband sich die Hoffnung auf nationale und soziale Befreiung, bei gleichzeitiger Anerkennung ubiquitärer Armut und Rückständigkeit. Dem entsprach die Sprache des >Aufbaus< (jianshe J!-1&). Nach der Weltwirtschaftskrise, besonders nach den Zerstörungen des 2. Weltkriegs war >Aufbau< ein weltweit populäres Ziel physischer, mentaler und politischer Erneuerung (vgl. Stein 2008). Auch in China gab es nach Jahrzelmten von Krieg und Chaos einen starken Wunsch nach Frieden und Harmonie. Nichts drückte ihn stärker aus als das Bild vom »Land als großem Garten«, von Mao 1958 formuliert.13 Dieses Ziel wurde proklamiert auf dem 6. Plenum des 8. ZK der KPCh (28.11.-10.12.1958) in Wuchang. Fast möchte man es als Zynismus empfinden, wenn Mao Zedong ausgerechnet zu jenem historischen Zeitpunkt das Bild von China als großem Garten evoziert, als das Land mit dem »Großen Sprung nach vorn« (Hochofenkampagne, Gründung der Volkskommunen, Staudammbauten) in eine der größten sozialen und ökologischen Katastrophen der Menschheitsgeschichte stolpert. Durch die Verbindung mit dieser traumatischen Erfahrung war das Bild vom China als Garten zum Tabu geworden. Erst kürzlich hat es ein führendes Mitglied der chinesischen Akademie für Ingenieurwissenschaften, Chen Junyu (2002), erneut propagiert. Feng Zhongtie (1917- 1998), ein fUhrender Künstler der Provinz Sichuan, illustriert diesen Traum vom perfekten Zusammenspiel zwischen Mensch und Natur in seinem Holzschnitt »Terrassenfelder« aus den späten 50er-Jahren (Abb. 3): Das hochformatige Bild zeigt intensiv gartenbauähnlich genutzte Terrassenfelder an Steilhängen. Ein Traktor und die Masten einer Hochspannungsleitung sind die Symbole der neuen Zeit. Von einem hoch gelegenen Standpunkt blickt man auf einen Fluss und die minutiös gestaltete Flur als Ergebnis der Kollektivierung. Über die kulissenartig gestaffelten Bergketten mit dunstigen Tälern gleitet der Blick in die Ferne zu einem See (Stausee?) mit Segelschiffen. Die Bildkomposition orientiert sich an den alten Vorgaben, aber die Resultate menschlicher Arbeit besetzen jetzt den größten Teil des Bilds, reduzieren >Natur< zum Hintergrund. Das Bild soll den erfolgreichen sozialistischen Aufbau dokumentieren und rühmen. Es ist damit auch Ausdruck eines Wunschdenkens, denn realiter hat die Mensch-Natur-Harmonie
13 dadi yuan/in hua :;ld!h[lqf*it (zitiert nach Chen Junyu 2002).
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des Bildes kaum Bestand. Die vorgestellte Landnutzung ist unweigerlich verbunden mit der massiven Abtragung des kostbaren Bodens.
Abb. 3: Feng Zhongtie (späte 50er Jahre) »Terrasserifelder«, Holzschnitt
Das Wunschdenken beinhaltet die Vorstellung von der Omnipotenz des Menschen gegenüber der Natur. Sie war keineswegs nur Gegenstand der chinesischen Propaganda, gehört vielmehr zu den großen Mythen der Moderne, wie sie weltweit bis in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts vorherrschten. lm >Neuen China< allerdings fand dieses Wunschdenken einen besonderen Nährboden: Der Umgestaltung der Gesellschaft entsprach die Vorstellung von der Umgestaltung der Natur. Das vereinfachende Freund-Feind-Denken der Kriegsjahre fand seine Fortsetzung in der Wahrnehmung der Natur als zu bezwingendem Gegner. Mit allen Mitteln der bildenden 14 und darstellenden Kunst wurde dieses Denken propagiert. Natur und Landschaft als Anlass für philoso14 Stellvertretend für viele sei hier nur auf eine repräsentative Sammlung revolutionärer Landschaftsdarstellungen verwiesen: Gesellschaft für Ver-
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phisehe und meditative Muße hatten sich gewandelt zum Gegenstand der Umgestaltung durch physische Arbeit. Das verdeutlichen viel gebrauchte Parolen jener Jahre: Wir wollen die Herren der Natur sein! Der Mensch muss die Natur besiegen. Lasst die hohen Berge ihren Kopf senken! Der Fluss soll Platz machen! Yu Gong versetzt Berge. 15
Abb. 4: Chen Yixin (nach 1968) »Heilkräuter sammeln« (Holzschnitt, 80 x 53)
Während manche Landschaftsbilder noch dem traditionellen Duktus der shanshui-Malerei verpflichtet sind und die revolutionären Helden einfühlsam platzieren- z. B. im Bild »Heilkräuter sammeln« von Chen Yixin, belegen andere die Wahrnehmung der Natur als auszubeutendes Objekt, wie im Bild von Chen Zuhuang: »Unerschöpflicher Waldreichtum« (Abb. 5). Liu Zhongpings »Frühlingserwachen an den Ufern des Huai« ständigung und Freundschaft mit China (Hg.) (1976): Holzschnitt im Neuen China, Berlin (W). 15 Warnen yao zuo ziranjiede zhuren fltfr'JJRif/tl(§~Jj'j'.B"J:tA., Rending shengtian A.IEJI'E:k, Rang gaoshan ditou Jilil'll rld!X;~ , Rang heshui ranglu ilM 7Kil~41-, Yugong yishan -~~:ftlir. Genaue Quellenangaben für die Parolen in Shapiro 2001.
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propagiert mit Hochspannungsmasten und Agrochemie die industriegemäße Landwirtschaft.
Abb. 5: Chen Zuhuang (ca. 1970) »Unerschöpflicher Waldreichtum« (Holzschnitt, 57 x 134)
Abb. 6: Liu Zhongping (nach 1968) »Frühlingserwachen an den Ufern des Huai« (Holzschnitt, 56x 93)
Der Enthusiasmus einer voluntaristischen Umgestaltung der Natur im Rahmen großer Kampagnen konnte sehr bald nur noch formal und mit politischem Druck aufrechterhalten werden. Auch der außenpolitische Zwang, sich durch lokale und regionale Selbstversorgung (auch ein Grund der örtlichen Naturzerstörung) auf einen Zweifrontenkrieg vorzubereiten, war spätestens mit dem Ende des Vietnamkriegs hinfallig geworden. Mit den Reformen unter Deng Xiaoping ab 1978 setzte sich- in 214
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enger Wechselbeziehung mit der Integration in den Weltmarkt und das Geflecht des globalen kulturellen, technisch-wissenschaftlichen Austauschs- die marktgerechte, monetär bestimmte Ausbeutung und Umgestaltung der Natur Chinas durch. Hinsichtlich unserer Thematik äußerte sich die Integration in das weltweite Kommunikationsnetz mit dem Auftauchen einerneuen Vokabel flir >Landschaftcjingguan Jl'!:~~-
Jingguan: Der moderne Landschaftsbegriff In den älteren Industriegesellschaften hatte es lange Debatten um die Verwissenschaftlichung des ursprünglich künstlerisch-literarisch verstandenen Landschaftsbegriffs gegeben. Man denke nur an die Fragen: Landschaft - Typus oder Individuum? Landschaft als Ökosystem? Oder an die Projekte nationaler und globaler Raumgliederungen auf der Grundlage des Landschaftsbegriffs. Ab wann und wie kam es zum Transfer eines solchen >wissenschaftlichen< bzw. >modernen< Landschaftsbegriffs nach China? Li Shuhua (2004) fand heraus, dass jing-guan ~:X_% erstmals 1902 im Japanischen gebraucht wurde, um damit das deutsche Wort >Landschaft< wiederzugeben, das japanische Autoren beim Studium deutschsprachiger Literatur kennen gelernt hatten. Er hebt hervor, dass es nicht nur ein Begriff der Gartenkunst sei, dass er vielmehr auch städtische und soziale Aspekte beinhalte. Bald danach weist Lin Guangsi (2006) nach, dass jingguan 1930 erstmals im Chinesischen in einer Monographie über Gartengehölze von Chen Zhi verwendet worden sei und 1935 erneut vom gleichen Autor in einem Garten-Lehrbuch. Nach 1949, bis zum Beginn der Reformperiode hätten chinesische Wissenschaftler sich des Begriffs jingguan bedient, um damit das russische Fremdwort >Landschaft< (rraH).UIIaqn) als Terminus der Geo- und Biowissenschaften im Chinesischen wiederzugeben. 1979 wird jingguan erstmals im renommiertesten chinesischen Konversationslexikon Cihai 15$;4it (1989: 3668), als Stichwort geführt, wobei drei Bedeutungen genannt werden: schöne Naturlandschaft, Landschaft als individueller Raum, Landschaft als Typus. Diese Charakterisierung deutet bereits die Übernahme des vieldeutigen >westlichenLandschaftsökologie< (jingguan shengtai xue Jli;xfltl:':t_-&"f:). Bei Cao et al. (2002) z. B. wirdjingguan als beinahe beliebiger Raumtypus verstanden, wenn die Autoren die landschaftsökologische Forschung in China nach so unterschiedlichen Einheiten wie Einzugsgebietslandschaften, Waldlandschaften, Agrarlandschaften, oder Stadtlandschaften differenzieren. Die erwähnte Verordnung für Landschaftsschutzgebiete (s.o.) gibt z. B. kleinräumigen Flächen einen besonderen Schutzstatus, indem sie unterscheidet zwischen ziran jingguan g f'/,\~xfltl (Naturlandschaft bzw. Naturdenkmal) und renwen j ingguan A )( 1li:xfltl (historischer Kulturlandschaft bzw. Kulturdenkmal), wobei letztere i.d.R. eingefriedet sind. Andererseits nutzt Shi Heng (1997: 338) renwenjingguan für die Übersetzung von großräumiger >KulturlandschaftLandschaftsplaner< (jingguan shejishi Jli;x!\l~itYfJl) . Im außerakademischen Kontext umgibt das neue Wort jingguan noch eine leicht elitäre Aura. Wer es gebraucht, will offenbar- ähnlich wie bei >Öko< (shengtai ± _-&)vor allem eines vermitteln: die (vermeintliche) Übereinstimmung mit dem globalen Zeitgeist.
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Abb. 7: Beispielfür einen >landschaftlichen Boulevardlandschaftlichen (Pracht-)StraßePaysagef.'I·'T [Die landschaftliche Stadt und die Architektur-Wissenschaft]. Beijing: Zhongguo jianzhu chubanshe. Shapiro, J. 2001: Mao's war agairrst nature. Politics and the environment in revolutionaty China. Cambridge. Shi Heng fittl~j 1997: Zhongguo renwen jingguande quyuxing he duoyangxing [Zonierung der chinesischen Kulturlandschaft]. ln: Müller, J.: Kulturland-
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schaft China. Anthropogene Gestaltung der Landschaft durch Landnutzung und Siedlung. Gotha: 338-340 (Anhang). Staatsrat der VRCh 2006: Fengjing mingshengqu tiaoli JxlJP.:~JI'I:IR'*"WiJ [Verordnung für Landschaftsschutzgebiete]. http://www. gov.cn!zwgk/2006-09/29/content_402732.htm. Stein, S. 2008: Von der Konsumenten- zur Produktionsstadt Vorstellungen und Leitbilder zur Urbanisierung im Neuen China, 1949-1957. (Publikation in Vorbereitung). Tao Yuanming llliilif*/PJl o. J.: Tao Yuanming Shiquanji llliilif*/ llfli'i!'~:$ [Gesammelte Gedichte von Tao Yuanming]. http://www.zgwww.com/wenxian/gushi/taoyuanming.htm. Uexküll, J. v. 1909: Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin. Wang Lu 1997: Das Bild der Natur; Fengshui als Gestaltungsprinzip der traditionellen chinesischen Dörfer. Dissertation Univ. Hannover, FB Architektur. Wilhelm, R. 1923: Laotse, Tao Te King, Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Jena. Yu Kongjian ~:JL!If':!Li Dihua 1":iJ!!1f 2003: Chengshi jingguan zhi Iu: yu shizhangmen jiaoliu :f)J.QriL:j'!).l\\Zfi!'it : .!::j[iJ -Kfr'J:':Z~J1E [Wege zur Stadtlandschaft, ein Austausch mit Bürgermeistern]. Beijing: Zhongguo jianzhu chubanshe.
Abbildungen Die Abbildungen sind, wenn nicht anders vermerkt, entnommen aus: Gesellschaft für Verständigung und Freundschaft mit China (Hg.) 1976: Holzschnitt im Neuen China. Berlin (W).
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Die Landschaft der Architekten KARINRAITH
Ein und dasselbe Phänomen erfahrt nicht nur im Laufe der Geschichte unterschiedliche Deutungen, sondern es wird auch von verschiedenen Personengruppen und wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich wahrgenommen und interpretiert. So auch die Landschaft. Mit ihr befassen sich Verkehrsplaner und Förster, Geologen und Ornithologen, Militärstrategen und Maler, jedoch stehen jeweils andere Elemente und Prozesse im Mittelpunkt des Interesses. Dass neben den Landschafts- und Raumplanem, den eigentlichen Beobachtem und Gestaltem des Landschaftsganzen, vor allem Stadtplaner und Architekten sich mit vielen ihrer unterschiedlichen Aspekte beschäftigen und die Landschaft tiefgreifend verändern, ist offensichtlich. Doch welche Einstellung gegenüber der Landschaft liegt diesem Handeln zugrunde und wie hat sich diese Haltung verändert?
Historische Landschaftskonzepte Die vorindustrielle agrarische Kulturlandschaft war eine Gesamtheit von landwirtschaftlich genutzten Flächen, mehr oder weniger großen Resten von Naturlandschaft, solitären Gebäuden, Dörfem und Städten. Die Stadt, eine Begleiterscheinung der agrarischen Kulturlandschaft, wurde aus den Überschüssen des Landes emährt und bot dafür andere Güter und Dienstleistungen. Die ökonomischen Verflechtungen zwischen Stadt und Land waren zwar vielfältig, die ländlichen und städtischen Lebenswelten aber sehr unterschiedlich und klassen- und berufsspezifisch heterogen.
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KARIN RAITH
Baulich-räumlich hob sich die europäische Stadt deutlich von der Umgebung ab. Die energetische Situation erlaubte keine flächige Ausbreitung der Stadt im Territorium, da vor der Nutzung fossiler Energieträger Transporte aller Art aufwendig und teuer waren ( vgl. Sieferle 1997: 87 ff.). Die Städte waren mit Mauem umschlossen und wurden vom frühen Mittelalter zur Neuzeit hin durch Verdichtungsprozesse, die rechtliche und militärische Gründe hatten, zu immer kompakteren Gebilden. Diesen geografischen Raum samt dem darin eingebetteten funktionellen Gefüge machte erst das Auge des Malers zur bildhajien Landschaft. Mit der beginnenden Neuzeit wurde (erstmals wieder seit der spätrömischen Antike) die Landschaft aus ästhetischem Interesse wahrgenommen. Die Stadt erschien in diesen Bildern als deutlich umrissene Figur vor dem Hintergrund des spärlich bebauten Kulturlandes. Zum ästhetischen Wert wurde dieses Verhältnis von Stadt und Landschaft erst erklärt, als der Kontrast von Figur und Grund verloren ging. Als im Zuge der Industrialisierung Arbeitervorstädte rund um die Kernstadt entstanden, die Bebauung entlang der Bahnlinien ins Umland vordrang und sich mit dem Aufkommen des motorisierten Verkehrs netzartige Stadtstrukturen ausbreiteten, wurde Landschaft zur bedrohten Landschaft und von der Heimatschutzbewegung sowohl Kultur- als auch Naturzerstörung beklagt. Konservative Kreise lehnten die sichtbaren landschaftlichen Veränderungen vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels ab und kritisierten das Ausufern der Städte. Doch nicht nur unter den Konservativen, auch im progressiven Lager gab es viele, die der schwindenden Dichotomie Stadt-Land nachtrauerten und sich - vergeblich - bemühten, die Stadt kompakt zu erhalten und Landschaft als leeren Hintergrund wiederzugewinnen. Selbst dort, wo konsequent versucht wurde, die Vorteile des Landlebens mit den Vorteilen der Stadt zu vereinen, beide Lebensräume und Lebensweisen zu verschmelzen und den Gegensatz von Stadt und Land aufzulösen, wurde streng darauf geachtet, dass der durchg1iinte Stadtkörper dennoch gegenüber dem Umland begrenzt, ja geradezu abgeschlossen blieb, um ein Wachstum über die markierte Grenze hinaus zu verhindern. Verschiedene Gartenstadt-Konzepte lassen diese Tendenz erkennen. In Ebenezer Howards berühmtem Diagramm der »Garden-City« (Abb. I) umgürtet die Bahnlinie die Gartenstadt wie eine Stadtmauer, hemmt rigoros jegliches zentrifugale Wachstum und beschränkt die Zugänglichkeit aufwenige Stadteingänge. Die von Georg Metzendorf geplante Gartenstadt Margarethenhöhe bei Essen wird auf einer Seite durch eine solche Bahntrasse in Tieflage wie von einem Burggraben eingeschlossen und weist sogar ein stadttor-
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DIE LANDSCHAFT DER ARCHITEKTEN
ähnliches Gebäude auf, das diese Abgrenzung nach außen architektonisch inszeniert (Abb. 2).
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DIAGRAN ONLY. UMTIL SITI SIUCTlD
Abb.l: Ebenezer Howard: Garden-City No. 2, Diagramm, 1902
Abb. 2: G. Metzendorf Gartenstadt Margarethenhöhe, Essen, 1909-38
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KARIN RAITH
Tendenziell war die Landschaft flir Architekten und Stadtplaner bis in die jüngste Vergangenheit das >AndereGegenstück< in der Hinsicht, dass die unbebaute Landschaft das bereitstellen sollte, was die Stadt vermissen ließ: Grün, Ruhe, Naturgenuss, frische Luft, reines Wasser etc. Landschaft diente gleichsam als Reparaturwerkstatt flir die Gebrechen der Stadt - zu Anfang des 20. Jahrhunderts eher flir Defekte moralischer Art, später flir ökologische Defizite. Neben den Verfechtern durchgrünter Stadtlandschaften geringerer Dichte wie der » Ville verte« (Le Corbusier 1929), »Broadacre City« (Frank Lloyd Wright 1932), der »gegliederten und aufgelockerten Stadt« (Roland Rainer 1957) etc. gab es auch Planer, die bestrebt waren, der Ausdünnung der Stadt und ihrer Auflösung ins Umland entgegenzuwirken. Zu diesem Zweck versuchten sie einerseits, mittels Natur- und Landschaftsschutz städtische Expansion einzudämmen und naturnahe Landschaften oder Kulturlandschaften vor Zersiedelung zu bewahren, andererseits wurde auch unbebaute Landschaft in Form von Stadtparks oder Grünzügen in die kompakte Stadt einbezogen, um die negativen Effekte urbaner Dichte mit Hilfe von >Natur< zu neutralisieren. Sie begriffen Landschaft eher als Komplementärphänomen zur Stadt. (Landschaft konnte auf diese Weise auch in Miniaturform, als Antithese zum Gebäude erscheinen und so begrifflich auch alles das umfassen, was nicht Bauwerk war.)
Neue Landschaftskonzepte Doch die städtische Dezentralisierung und Ausbreitung der Metropolen ins Umland ist unter den gegebenen energiepolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen nicht aufhaltbar. Ihr gegenüber erwiesen sich alle bisherigen Instrumente der Planung als zahnlos. Zahlreiche Analysen neuartiger Stadt- und Landschaftsformen führten zu dem Schluss, dass eine Unterscheidung von Stadt und Land bzw. Stadt und Landschaft keinen Sinn mehr ergibt. Nirgendwo wurde der Wandel der Beziehung von Stadt und Umland kürzer und pointierter skizziert als in der berühmten Zeichnung "The city as an egg". Cedric Price hat darin die alte Stadt als hartgekochtes Ei, die Stadt des 17. bis 19. Jahrhunderts als Spiegelei und die moderne Stadt als Rührei charakterisiert. (Die nächsten Aggregatzustände der Stadtlandschaft warten noch auf einen Vergleich mit Ei-Zerstäubungs- und Kompressionsverfahren aus der Molekularküche.)
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DIE LANDSCHAFT DER ARCHITEKTEN
Die »totale Landschaft« Von RolfPeter Sieferle wird die heutige urbanisierte Landschaft als übergreifendes Kontinuum gesehen, als »totale Landschaft« (Sieferle i997: 205 ff.), in der sich verschiedene historische Schichten, Vorindustrielles, industrielles und Post-industrielles, Städtisches und Ländliches nur als unterschiedliche Modi und Intensitäten der kulturellen Transformation einer ehemaligen Naturlandschaft manifestieren.
Landscape Urbanism Bei einer Gruppe von Stadtplanem, Landschaftsplanem und Architekten hat sich eine neue Haltung herausgebildet: die integrative Sicht von Naturgegebenem und Gebautem. Es wird versucht, Landschaft und Stadt, bzw. Grünraum, Gebäude und Infrastruktur als Einheit zu denken, und das in verschiedenen Maßstäben. lm Maßstab, in dem Raumplaner, Städtebauer und Landschaftsplaner arbeiten, hat sich dafür (ausgehend von den USA) der Begriff Landscape Urbanism etabliert. »Landscape Urbanism describes a disciplinary realignment currently underway in which Iandscape replaces architecture as the basic building block of contemporary urbanism. For many, across a range of disciplines, Iandscape has become both the Jens through which the contemporary city is represented and the medium through which it is constructed.« (Waldheim 2006: 11) Durch die Interpretation der Landschaft als übergeordnete Gesamtheit wird diese entschieden aufgewertet. Sie ist nicht mehr länger irgend ein mehr oder weniger grüner Außenraum (die Petersilie im Rührei von Cedric Price), sondern ein Faktor, der der »Zwischenstadt« (Thomas Sieverts) Struktur und Sinn verleihen könnte.
Scapes Im Maßstab, in dem Architekten arbeiten, fehlt für die Landschaft, die als übergreifendes Kontinuum gedacht wird, noch eine adäquate Bezeichnung. Ich entlehne dafür den Begriff Scape©, mit dem Rem Koolhaas die zeitgenössische Stadtlandschaft (die weder Stadt noch Landschaft im traditionellen Sinne ist) und ihr Verschmelzen von Infrastruktur, Architektur und Landschaft zu einem umfassenden Komplex beschreibt (Koolhaas et al. 2002). Die Auflösung dieser Kategorien im kleineren Maßstab hat er selbst praktiziert- etwa bei der Kunsthalle Rotterdam, die Museum, öffentlicher Weg und Erholungsraum zugleich ist.
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Wie wirkt sich dieses Konzept im architektonischen Maßstab aus? Scapes profitieren von der Überlagerung und Durchdringung von Architektur, Infrastruktur (Verkehrsbauwerken, Anlagen der Ver- und Entsorgung etc.) und Grünräumen. Sie sind imstande, unterschiedliche Programme aufzunehmen und überwinden damit die klassische Funktionentrennung der Moderne. Im Zusammenhang mit der räumlichen Verdichtung von Gebautem und Gewachsenem in hybriden Projekten lassen sich unterschiedlichste Spielarten des Verschmelzens von Natur und Architektur erkennen.
Aspekte der Fusion von Natur und Architektur Fließende landschaftliche Raumbildungen: Diffuse lnnen-Außenraumbeziehungen und Merkmale kontinuierlicher, >weichergrünen< Architekturen ist der Anspruch, durch eine entsprechende Konzeption der Gebäude (bis hin zum bewohnbaren Wald) knappen Grünraum in die Architektur hinein zu e1weitern. Einbeziehung von Naturprozessen in die architektonische Gestaltung: Schon seit längerer Zeit werden Bauprinzipien und Organisationsformen der Natur für Architektur genutzt und in Gebäude einbezogen (Bionik), neuerdings wird aber auch Design-Kompetenz an die Natur abgegeben. Natürliche, nicht steuerbare Vorgänge werden als formative Prozesse in die Architektur integriert, man verzichtet auf die vollständige Kontrolle über bestimmte im Laufe der Zeit stattfindende Veränderungen. Die Schweizer Architekten Herzog & de Meuron lassen bei ihrem Atelierbau flir Remy Zaugg in Mulhouse zu, dass das Regenwasser vom Dach frei an der Betonfassade herunterfließt und nach und nach ein natürliches >Gemälde< aus Schmutzpartikeln, Algen und Moosen erzeugt. Auflösung der Grenzen zwischen Architektur und Naturraum: Bei manchen Bauwerken wird auch versucht, die Architektur in umgebenden Grünräumen oder anderen Milieus aufgehen zu lassen. Für die Schweizer National Expo 2002 am Bieler See und Neuenburger See konzipierten Diller Scofidio + Renfra einen Pavillon in Form einer großen
Abb. 4: Diller Scofidio + Renfro: Blur, Pavillonfür die Schweizer National Expo 2002, Yverdon-les-bains
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artifiziellen Wolke in der Seenlandschaft Das Naturphänomen Nebelkünstlich reproduziert - war das primäre architektonische Element. Die Stahlkonstruktion verschwand hinter Schwaden aus feinsten Wassertröpfchen, die durch Tausende von Düsen versprüht wurden (Abb. 4).
Verlandschaftlichung der Architektur Das auffallendste Merkmal vieler Entwürfe der letzten Dekade sind aber formale Eigenschaften, die man bisher mit Landschaften, nicht aber mit Architektur in Verbindung brachte. Man findet topografische Formen, Baukörper mit komplexen Geometrien, die an hügelige Landschaften erinnern. Wände und Dächer verschmelzen zu kontinuierlichen Oberflächen, entweder zu sanft gewellten Reliefs oder zu scharfkantigen geologischen Formationen mit gleichsam felsigen Verwerfungen und Brüchen. Auch wenn durch die architektonische Konzeption keine Annäherung an landschaftliche Formen gesucht wurde, so ist doch das ästhetische Ergebnis eine Verlandschaftlichung der Architektur.
»Gebaute Landschaft« Ein frühes Beispiel jener hybriden Gebilde, die Bauwerk und Landschaftsformation zugleich sind, ist ein Entwurf des holländischen Architekten Hetman Hertzherger aus dem Jahr 1993: ein Wohn-, Büro- und Industriepark für Freising, betitelt »Gebaute Landschaft« (Abb. 5 und 6). Statt einer der üblichen punktuellen Bebauungen, die eine diffuse Stadterweiterung geringer Dichte bewirkt hätte, entwarf Hertzherger einen kompakten künstlichen Hügel mit Erholungsflächen, Dachgärten und Parks an seiner Oberfläche. Darunter sollten sich - nach Bedarf ausbaubar-Räume für die verschiedensten Nutzungen etablieren. Die wellige Topographie ist in gleichmäßige Streifen zerschnitten, dadurch entstehen >HohlwegeLandschaftäußerer< Naturkräfte zur Energiegewinnung ergänzt (Windkraftwerke, Photovoltaikanlagen). Es war das Modell eines künstlichen Ökosystems in dichtester Packung. In die verschiedenen Landschaften eingebettet und sie überlagernd fanden sich Nutzungen, die sonst nur in Innenräumen ihren Platz haben: ein Auditorium in der Plantage, eine Kantine in der Grotte, ein Kraftwerk im Sumpf usw., alle ohne Fassaden und räumliche Trennungen. Klimahüllen gab es nur in Form von Luftkuppeln, Wasser- und Luftvorhängen. Durch solche skurril erscheinenden Inszenierungen wurde die aktuell stattfindende Auflösung und Vern1ischung der komplementären Lebenswelten von Stadt und Land, Pastoralem und Urbanem in pointierter Verdichtung beschworen. Lag nun das Büro im Wald oder doch eher der Wald im Büro? Funktionen, die einst fein säuberlich getrennt wurden, waren fusioniert, zwecks Platz- und Energieersparnis überlagert und in austauschbaren Kombinationen miteinander verknüpft. Die landschaftlich-architektonischen Arrangements waren Abbilder der »totalen Landschaft« außerhalb des EXPO-Geländes, sie reflektierten das bunte und scheinbar zufällige Nebeneinander heterogener industrieller, agrarischer und architektonischer Elemente, die Koexistenz von Relikten traditioneller Landschaftstypen und von neu entstehenden Eie234
DIE LANDSCHAFT DER ARCHITEKTEN
menten der suburbanisierten Landschaft. Der Pavillon stellte aber in Aussicht, dass die radikale Landschaftsverdichtung die Chance eröffnet, komplementär zu diesem Vorgang andere Flächen >auszudünnenNaturstücken< und Architekturelementen verzichtet. Schade auch, dass der Ausstellungspavillon nicht in seiner gesamten, ursprünglich vorgesehenen konzeptionellen Schärfe realisiert wurde, dass das komprimierte künstliche Ökosystem nur ansatzweise eingerichtet und nicht alle Elemente in gegenseitige systemische Abhängigkeit gebracht wurden und es daher tatsächlich bei einer beliebig wirkenden Melange »totaler Landschaft« blieb. Denn hier wäre die Schnittstelle zum Landscape Urbanism zu sehen gewesen. Nach Auffassung dieserneuen Disziplin wird verstädterte Landschaft mit allen ihren Elementen und Prozessen ja zunehmend als Ökosystem eigener Ordnung begriffen: »ecology has been used only in the context of some thing called the >environmentnature< and exclusive of the city. Even those who have included the city in the ecological equation have dorre so only from the perspective of natural systems (hydrology, air-flow, vegetational communities, and so on). We have yet to understand cultural, social, political and economic environments as embedded in and symmetrical with the >natural< world.« (Corner 2006: 30) Die urbanisierte, immer stärker überformte Landschaft nachhaltig zu gestalten und auch im architektonischen Maßstab Bauwerk und Landschaft, Architektur und Natur zu einem funktionierenden Ökosystem zu vereinen, das ist die künftige große Herausforderung fi.lr Architekten, Urbarristen und Landschaftsplaner.
Literatur Corner, J. 2006: Terra Fluxus. ln: Waldheim, C. (Hg.): The Iandscape urbanism reader. New York: 21 - 33. Hertzberger, H. 1995: Projekte 1990--1995: Das Unerwartete überdacht. Rotterdam. Koolhaas, R./Chang, B./Craciun, M./Lin, N./Liu, Y./Orff, K./Smith, S. 2002: The Great Leap Forward. Harvard Design School Project on the City. New York. Le Corbusier 1987 [1929]: Feststellungen zu Architektur und Städtebau. Mit einem amerikan. Prolog u. einem brasilian. Zusatz. Gefolgt von »Pariser Klima« u. »Moskauer Atmosphäre«. 2. Autl. Braunschweig. [Originalausgabe: Le Corbusier 1929: Precisions sur un etat present de I' architecture et de l'urbanisme. Paris]. Rainer, R. 1957: Die gegliederte und aufgelockerte Stadt. Tübingen. Sieferle, R. P. 1997: Rückblick auf die Natur. München. Waldheim, C. 2006: The Iandscape urbanism reader. New York.
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DIE LANDSCHAFT DER ARCHITEKTEN
Abbildungen Abb. 1: Kostof, S. 1992: Das Gesicht der Stadt. Frankfurt/M.: 203. Abb. 2: Foto von Karin Raith. Abb. 3: Zeichnung von Karin Raith. Abb. 4: Daidalos 73 (1999): 62. Abb. 5: Modellfoto von Reger Studios GmbH, München. In: Hertzberger, H. 1995: Projekte 1990-1995: Das Unerwartete überdacht. Rotterdam: 38 f. Abb.6: Hertzberger, H. 1995: Projekte 1990- 1995: Das Unerwartete überdacht. Rotterdam: 38. Abb. 7: Rendering von Balmori Associates, H Associates, Haeahn Architecture. 1n: Topos 60 (2007): 51. Abb. 8: Foto von Christian Richters. 1n: Betsky, A. 2002: Landscrapers. Building with the land. London: 109. Abb. 9: Hadid, Z. 1999: LF one. Landscapeformation one in Weil am Rhein, Germany. Basel: 22. Abb. 10: Foto von Helene Binet. In: Hadid, Z. 1999: LF one. Landscape formationonein Weil am Rhein, Germany. Basel: 25. Abb. 11: Foto von Karin Raith.
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Zwischenstadt als Heimat VERA VICENZOITI
Zur Einleitung: Die Vieldeutigkeit von >Zwischenstadt< und >Heimat< Über >Zwischenstadt< als Heimat nachzudenken bedeutet, sich mit zwei vieldeutigen Begriffen auseinanderzusetzen: Die Vieldeutigkeit der Zwischenstadt wird allein schon an der Vielzahl mehr oder weniger synonymer Begriffe deutlich: Zersiedlung, Stadtregion, sprawl, verstädterte Landschaft, verlandschaftete Stadt, Peripherie etc. All diese Begriffe bezeichnen das Phänomen urbanisierter und fragmentierter Landschaften, jedoch meist mit unterschiedlichen Schwerpunkten, theoretischen Hintergründen und vor allem Wertungen. Der Heimatbegriff ist nicht weniger vieldeutig: was >Heimat< ausmacht, ob man sie herstellen kann oder sie einem gegeben sein muss, ob sie mit einem konkreten Ort verbunden sein muss und vor allem, ob man überhaupt mit >Heimat< argumentieren soll, da der Begriff politisch prekäre lmplikationen hat, ist umstritten. Die gemeinsame Betrachtung dieser beiden für die Stadt- und Landschaftsplanung zentralen, aber vieldeutigen Begriffe, d. h. die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Zwischenstadt Heimat sein kann, liefert den Rahmen für eine systematische Analyse beider Begriffe. Denn durch sie können bestimmte Bedeutungen hervortreten, die nicht so deutlich würden, wenn man beide Begriffe für sich betrachtete. Ich werde in der Einleitung zunächst näher auf die Vieldeutigkeit der beiden Begriffe eingehen und meine Vorgehensweise umreißen. Im dann folgenden Abschnitt (»Zwei Heimatbegriffe«) konstruiere ich idealtypisch zwei Heimatbegriffe, die mir als Analysewerkzeuge für den
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VERA VICENZOTII
letzten Teil (»Analyse eines Heimatbegriffes«) dienen, in dem ich einen Heimatbegriff, der Zwischenstadt als Heimat möglich macht, gerrauer betrachte. Der Begriff der »Zwischenstadt« wurde von dem Städtebauer Thomas Sieverts in seinem 1997 erschienenen gleichnamigen Buch geprägt (Sieverts 1997/2001 ). Sieverts kennzeichnet damit jene Gebilde, die nicht richtig Land, aber auch nicht richtig Stadt sind, die also zwischen den fest verankerten Bildern von Stadt und Land(schaft) oszillieren. Als Paradebeispiel in Deutschland wird immer wieder das Ruhrgebiet genannt, oft auch die Region um Frankfurt am Main. Aus verschiedenen Gründen wird die Zwischenstadt in Disziplinen wie der Raum- und Regionalplanung, der Stadt- und Landschaftsplanung, dem Städtebau und der Landschaftsarchitektur als Problem wahrgenommen: Sie sei sowohl in ökologischer, sozialer, kultureller als auch wirtschaftlicher Hinsicht problematisch. 1 Auch ihre heimatlichen Qualitäten stehen in Frage: Die in Planer- und Architektenkreisen lange Zeit vorherrschende Meinung war, dass der Zwischenstadt (anders als Stadt und Land) das fehle, was einen Ort zur Heimat machen könne. Mittlerweile gibt es aber auch vermehrt Positionen, die ihr heimatliche Qualitäten zuschreiben. Der Architekt und Stadtplaner Lars Bölling meint beispielsweise, dass die Zwischenstadt einen großen Teil der Bedürfnisse ihrer Bewohner und Benutzer an den Raum befriedige. Zunehmend sind »diese Bedürfnisse eben nicht nur funktioneller Art, sondern werden überlagert von einem Bedürfnis nach Raumqualität, Verortung und ldentifikationsmöglichkeiten, letztlich nach Attributen von, wenn auch mitunter nur temporärer, >HeimatHeimat< ist aber nicht unschuldig. In kaum einem deutschen Text zu diesem Begriff fehlt der Hinweis darauf, dass er in der Zeit des Nationalsozialismus missbraucht, d. h. rassistisch interpretiert worden und dadurch ideologisch vorbelastet sei. Vielen gilt bereits die konservative Interpretation des Begriffs als verdächtig: Sie sind der Auffassung, dass im Heimatbegriff unvermeidlich ein Fremde und Fremdes ausgrenzendes Moment enthalten sei. An den Heimatbegriff kann man also in der Landschafts- und Stadtplanung nicht unbefangen anknüpfen.2 Obwohl er so problembeladen ist und es Forderungen gibt, sich ganz von ihm zu lösen (siehe z. B. Schütze 2007), ebbendie Diskussionen um Heimat nicht ab. Das scheint an einer Sehnsucht nach ihr in unserer glo-
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Vgl. für eine kritische Analyse gängiger Argumente gegen die zwischenstädtische Zersiedlung Hesse/Kaltenbrunner 2005. Vgl. dazu beispielsweise die teilweise konträren Positionen von Eise! und Körner sowie Falter und Schütze in Bundesamt für Naturschutz 2007.
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ZWISCHENSTADT ALS HEIMAT
balisierten Welt zu liegen. Heimat wird in der Literatur thematisiert als wenn schon nicht kompensatorisches, so doch komplementäres - Motiv in einer Gegenbewegung zu Globalisierung, Beschleunigung, Anonymisierung und Universalisierung der Lebenswelt. 3 Bemhard Schlink bringt diese Sehnsucht nach heimatlichen Orten in einer durch die Globalisierung homogenisiert erscheinenden Welt anschaulich zum Ausdruck: »Wenn das Leben auf dem Land wie das in der Stadt ist, nur kleinräumiger, wenn sich die Städte nur noch durch die Größe ihrer mit den gleichen Steinen gepflasterten und mit den gleichen Lampen, Bänken und Pollern bestückten Fußgängerzonen unterscheiden, wenn die Geschäfte die gleichen Filialen derselben Ketten sind, wenn die Patieien wie die Kirchen immer ähnlicher in Erscheinung treten, werden Uniformität und Anonymität zur alltäglichen Erfahrung. In der Unif01misierung und Anonymisierung der Lebenswelt wird Entfremdung konkret vor Ort erfahren. Entsprechend richtet sich auch die Sehnsucht nach nichtentfremdetem Leben ... aufkonkrete Orte, auf die Region, die Stadt, den Kiez; diese sollen Individualität besitzen und ausstrahlen und Geborgenheit und Behaustheil vermitteln« (Schlink 2000: 21). Auch wenn es einem nicht passt, >Heimat< ist und bleibt ein in Deutschland intensiv und kontrovers diskutiertes Thema, in und außerhalb der akademischen Welt. Die Forderung, den Heimatbegriff aus der Diskussion zu verbannen, in der Erwartung, dass das zu seinem Verschwinden oder zumindest zu dem seiner prekären Implikationen führe, ist zwar verständlich, greift aber zu kurz: Denn selbst, wenn es gelänge, auf die Verwendung des Wortes zu verzichten, so lösten sich dadurch doch die Probleme, die im Heimatbegriff mitgeschleppt werden, nicht einfach in Luft auf. Mit meinem Text beschreite ich einen anderen Weg, mit den problematischen lmplikationen umzugehen: Ich versuche, die Konstruktionslogik verschiedener Heimatbegriffe zu analysieren. Ein Wissen um diese den Begriffen immanente Logik ist notwendig, um in den Debatten genau den Punkt bestimmen zu können, der ein Eingreifen erfordert: wenn nämlich die problematischen Gehalte des Heimatbegriffes in bestimmten theoretischen Konstellationen politisch prekär werden. Darüber hinaus glaube ich, dass durch solche begriffsanalytischen Arbeiten Missverständnissen in der Planung vorgebeugt werden kann. Denn Konflikte in Planungsprozessen können oft auf unterschiedliche Begriffsverständnisse und, damit verbunden, unterschiedliche Wertschätzungen verschiedener Landschaften, zurückgeführt werden. 3
Vgl. zur Diskussion um die Begriffe kompensatorisch und komplementär im Zusammenhang mit >Heimat< die Überlegungen und Verweise bei Kropp 2004. 241
VERA VICENZOTII
Methodische Anmerkungen Ich schicke einige methodische Anmerkungen voraus. (1) Ich analysiere das Reden über >Heimat< auf der Bedeutungsebene. Das heißt, ich frage mich, was Planer und Architekten jeweils meinen, wenn sie von >Heimat< reden. Es geht mir nicht darum, einen (politisch korrekten) Heimatbegriff zu definieren, den Heimatbegriff zu rehabilitieren oder für oder gegen ein bestimmtes Begriffsverständnis zu plädieren. Meine Frage ist wesentlich bescheidener. 4 (2) Zunächst konstruiere ich zwei verschiedene Heimatbegriffe, die Extrempunkte darstellen, als Idealtypen. Idealtypen werden »gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte« (Weber 1904/1988: 191 ). Ich füge also bestimmte Aussagen verschiedener Planer und Architekten zu einem, wie es bei Max Weber heißt, »in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge« zusammen (ebd.: 190). Keinen der konstruierten Typen wird man so in der Realität finden - es sind im Webersehen Sinne Utopien. Sie helfen jedoch als ideale Grenzbegriffe reale Positionen im breit gefächerten Spektrum vergleichend zu ordnen. (3) Diese idealtypisch formulierten Extrembegriffe dienen mir als theoretisches Werkzeug für die Analyse eines bestimmten realen Heimatbegriffes im letzten Abschnitt des Textes.
Zwei Heimatbegriffe als Pole der Begriffsskala Die Kulturwissenschaftlerin Susanne Hauser unterscheidet »konservative Träume von Beheimatung« vom »Wunsch nach einer Entwicklung von Selbstbestimmung, die die kapitalistische Raumproduktion unterläuft« (Hauser/Kamleithner 2006: 173). Sie geht also davon aus, dass sich einem konservativen Begriff von Heimat ein >linkerHeimat< liegen. ich gehe dabei von verschiedenen, Heimat konstituierenden Begriffen bzw. Begriffspaaren aus: In die idealtypische Konstruktion der Heimatbegriffe fließt erstens ein, ob Herkunft oder Zukunft als Bezugsgröße fUr Heimat genannt wird, und zweitens differenziere ich danach, ob Heimat durch Sich-EinfUgen oder Aneignung entstehend gedacht wird. Ich greife dabei auch auf philosophische und soziologische Texte zurück, weil in ihnen in größerer Klarheit als in Texten von Planern und Architekten die Unterschiede der Heimatbegriffe expliziert werden.
Herkunft vs. Zukunft Im konservativen Denken konstituiert sich Heimat durch Herkunjt. Heimat als deren Ort hat dabei sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Dimension. Einerseits ist Heimat Geburts- und Kindheitsort, Ort, an dem man lebte oder lebt, wohnte und arbeitete, Familie und Freunde hatte und hat. Andererseits ist auch die zeitliche Dimension über die Idee der Tradition relevant: »Auch die Tradition gehört zu der im vollen Sinn genommenen Heimat. Sie gibt Sicherheit im Verhalten, indem sie bestimmte überlieferte Verhaltensmuster bereitstellt« (Bollnow 1984: 29). Auf überindividueller Ebene konstituiert die nationale, regionale oder lokale Geschichte die Identität einer Nation, Region oder Gemeinde. Im progressiven Denkzusammenhang ist Zukunft das Heimat konstituierende Moment. Heimat ist das erst noch Herzustellende, sie wird als offene gesellschaftliche Utopie formuliert. In kaum einem Text, der einen progressiven Heimatbegriff entwirft, fehlt, wie Fiedler feststellt (Fiedler 1995: 5), das Zitat der Schlusspassage von Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung« oder zumindest der Hinweis darauf: »Die wirkliche Genesis ist nicht am Arifang, sondern am Ende, und sie beginnt
erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat« (Bloch 1959/1985: 1628). In der utopischen 5 Dimension, die der BegriffHeimat hier annimmt, fallen individuelle und gesellschaftliche Perspektive zusammen: Heimat kann erst in einer befreiten Gesellschaft verwirklicht werden, sie ist aber 5
Vgl. die Lesart von »Heimat als Utopie«, die Bemhard Schlink in seinem gleichnamigen Essay darstellt (Schlink 2000). 243
VERA VICENZOTII
gleichzeitig jedem von uns aus der Kindheit her vertraut. Die Kindheit bezeichnet denjenigen Ort in der individuellen Geschichte, an dem noch alle Möglichkeiten einer menschlichen Entwicklung offen zu stehen schienen. Das Erinnern der Erwachsenen an ihre kindliche Heimat ist das Erinnern nicht an einen Zustand der Geborgenheit, sondern an die Hoffnung auf Zukunft. Daraus schließt Eduard Führ: »Der Zeitcharakter der Heimat ist nicht Vergangenheit, sondern Zukunft« (Führ 1985: 24). Es ist also gerade nicht die Erinnemng an die glückliche, nun vergangene Realität der Kindheit, die einen Ort zur Heimat werden lässt. Vielmehr sind es die Erinnerungen an die Sehnsüchte der Kindheit, die diese in der Rückschau so glücklich erscheinen lassen. Die Realität der Kindheit selbst war in aller Regel alles andere als harmonisch und glücklich, aber sie war von einem Gefühl noch nicht ernüchterter Sehnsucht begleitet, von der Sehnsucht, dieses oder jenes, ja alles tun oder lassen zu können, >wenn ich einmal groß binHabenkönnen< einer ganzen Welt. Heimat ist also das, was erst entsteht durch Verlust und Erinnerung, besonders die Erinnerung an ein Lebensgefühl, das wesentlich in der als erfüllbar geglaubten Sehnsucht bestand.
Aneignung vs. Sich-Einfügen Heimat entsteht, so wird es in progressiven Auffassungen dargestellt, durch produktive Aneignung. Die konservative Position hingegen argumentiert, dass Heimat objektiv der Ort der Herkunft ist, und dass einem dieser Ort subjektiv zur Heimat wird, wenn man sich geduldig und anerkennend in das Gegebene einfügt. »lrgendwo im Nirgendwo werden Allerweltsorte durch Aneignung zur besonderen Heimat« (Schmeing et al. 2004: 114) - mit diesem Satz charakterisiert die Architektirr Astrid Schmeing Aneignung als eine Entstehungsbedingung von Heimat. Alleignung scheint ein genuin >linkerHeimat< steht in diesem Zusammenhang flir die Utopie einer nicht entfremdeten Existenz. Sie ist nicht das durch Tradition Vorgegebene, in das es sich einzufügen gilt. Sie ist vielmehr das, was von den tätigen Subjekten selbst und neu geschaffen wird, und sie kann als wahre Heimat überhaupt nur durch Aneignung hervorgebracht werden. Die Volkskundlerin und Kulturanthropologin lna-Maria Grevems formuliert das folgendermaßen: »Heimat verstehe ich als den aktiven Prozeß des Sich-Beheimatens in einem Raum, der Sicherheit, materielle und emotionale Verhaltenssicherheit, Aktivitätsentfa1tung, Stimulation und Identität gewährt. Heimat ist also kein einmaliger und unveränderlicher Raum, der sich durch Eltemhaus, Lindenbäume, Muttersprache und Vaterlandslieder auszeichnet, sondemeine Chance menschlichen Werdens« (Greverus 1979: 51). Ganz anders konstituiert sich Heimat in der konservativen Vorstellung. Zwar spricht auch Bollnow davon, dass der Mensch Heimat nur habe, »wenn er sich Umwelt zur Heimat gemacht hat, sie sich zu eigen gemacht hat. Er muß sie nach dem bekannten Wort erwerben, um sie zu besitzen« (Bollnow 1984: 29 f.). Das »Zu-eigen-Machen«, das hier zur Sprache kommt, ist aber ganz anders gemeint als die oben erwähnte schöpferische Aneignung. Bollnow selbst stellt den Unterschied klar heraus: »Das [in der Heimat heimisch werden] gelingt aber ... nicht, indem er [der Mensch] von sich aus eine Heimat aufbaut und sie nach seinen Bedürfnissen gestaltet; denn die Heimat ist ihm (im wesentlichen wenigstens) vorgegeben, und er muß sich seinerseits ihr anpassen, sie sich vertraut machen, sie lieb gewinnen« (ebd.: 30). Heimat ist also nichts, das gemacht werden kann, sondern sie wird vorgefunden und erlebt »im geduldigen Sicheinfügen in die neuen Verhältnisse« (ebd.: 31). Der Mensch gewinnt, so Bollnow, seine ihm vorgegebene Heimat lieb und wird vertraut mit ihr durch die Pflege nachbarschaftlicher Beziehungen, durch das Wandern in die nähere oder fernere Umgebung und durch den Blick flir ihre Schönheiten. Auch Alexander Mitscherlieh sieht die Unterordnung in ein vorgegebenes Ganzes als notwendige Bedingung flir Heimat. 6 Die »reichen Einfamilienweiden« mit ihrem »Komfortgreuel« (beide Zitate: Mitscherlieh 1965/1996: 11) 6
Es mag verwirrend sein, Mitscherlieh zur Veranschaulichung dieser Haltung heranzuziehen, da er ja gemeinhin als >LinkerHeimat< werden, die bloß agglomerierte nicht, denn Heimat verlangt Markierungen der Identität eines Ortes« (Mitscherlich 1965/1996: 15). Dieser Gedanke enthülle den »Denkfehler der Planerschaft, nicht von ihnen identifizierte Räume als unidentifizierte Räume zu betrachten« (Bormann et al. 2005: 50). Bormann et al. räumen zwar ein, dass den Räumen der Zwischenstadt oftmals der kritische Aspekt (gebauter) Architektur oder Raumstruktur als Kunst fehle; dies bedeute jedoch kaum Identitätslosigkeit (ebd.: 52). Die Autoren wollen diesen Denkfehler vermeiden. Sie wollen dem »Bedeutungswandel« (ebd.) des Heimatbegriffes, seiner >EntkonservativierungIdentität< schaffen sie [die Bewohner] neue Formen von Öffentlichkeit, produzieren etwas, das die Architekten der Zwischenstadt im Allgemeinen absprechen: die Existenz von öffentlichem Raum« (ebd.: 59). Den Ausdruck der »Zwangsjacke der Identität« übernehmen Bormann et al. von Rem Koolhaas, der sich gegen überkommene Identitätsvorstellungen wendet (Koolhaas 1996). 10 Durch den Verweis auf diesen spiritus rector avantgardistischer Architektur und Planung, durch die Ablehnung überkommener Identitätsvorstellungen und einer elitären, bürgerlich-konservativen Planungshaltung, der sie die Wertschätzung des öffentlichen Raumes als Produkt individueller Aneignung jenseits der Maßstäbe der Hochkultur gegenüberstellen, weisen Bormann et al. ihre Position und den darin verankerten Heimatbegriff als progressiv aus. Als Beispiel für die Integration konservativer Momente in ihren Heimatbegriff möchte ich auf den Stellenwert von Geschichte verweisen. Das »Vorhandensein von Geschichte(n)« (Bormann et al. 2005: 52) zeige an, dass die Zwischenstadt keine terra incognita mehr sei, dass sie also ein Raum sei, in dem Menschen leben, wohnen, arbeiten, den sie kennen und als ihre Heimat (an)erkennen. Sie halten fest, dass die Zwischenstadt mittletweile der dritten Generation von Bewohnern Raum bietet als angenommener Ort guten Lebens. 10 Koolhaas' Essay »Die Stadt ohne Eigenschaften« scheint sich einer ein-
deutigen Interpretation allerdings zu entziehen. Man kann vermuten, dass er sich nicht gegen Identitätper se, sondern hauptsächlich gegen Identitätsvorstellungen wendet, die auf Geschichte und Tradition rekurrieren: »Identität, begriffen als diese Form von Teilhabe an der Vergangenheit, ist eine überlebte, unhaltbare Vorstellung« (ebd.: 18). Temporäre Tdentitäten jedoch, die nicht auf pompöse kulturelle Überbauten verweisen, sondern aus individuell wahrgenommenen ästhetischen Raumkonstellationen in der Stadtstruktur hervorgehen, scheint er jedoch nicht nur zu tolerieren, sondern sogar zu begrüßen. (Auf diese Lesart des Koolhaasschen Textes bin ich durch Doris Marquardt aufmerksam geworden.) 248
ZWISCHENSTADT ALS HEIMAT
Das Wortspiel- ich meine das in Klammern stehende »n«- gibt zu verstehen, dass die Autoren sich nicht einfach auf die traditionelle Geschichte als Heimat konstituierendes Moment beziehen wollen. »Geschichte« ohne »n« hätte unweigerlich Bezug auf die traditionelle Geschichte genommen: die Geschichte der alten europäischen Stadt oder der historischen Kulturlandschaft, die Geschichte der Geschichtsbücher mit dem Beigeschmack elitären bildungsbürgerlichen Wissens. Damit wäre sie offensichtlich konservativen Denktraditionen verhaftet gewesen. Die Bezugnahme auf »Geschichten« hingegen impliziert zweierlei: erstens den Bezug auf die Geschichten der kleinen Leute. Es geht um andere Geschichten als die Geschichte, oder das, was gemäß konservativer Wertvorstellungen zu achten ist. Die Bezugnahme auf »Geschichten« impliziert die pluralistische Wertschätzung der alltäglichen Geschehnisse und Gewohnheiten der Bewohner jenseits der offiziellen Hochkultur. 11 Zweitens ist impliziert, dass das Gebaute der Zwischenstadt die vielen Geschichten ermöglicht, gerade weil sie nicht aus einem Guss ist- weder im Sinne einer geplanten Stadt (wie Karlsruhe etwa oder Haussmanns Paris), noch im Sinne einer Altstadt. Letztere ist zwar objektiv auch ungeplant gewachsen, aber eben gewachsen, d.h. entweder im Nachhinein als organischen Einheit gedacht, oder von den traditionsbewussten Generationen immer schon tatsächlich in einem Geist (dem des Vorhergehenden, der Tradition) gebaut. Trotzdem - ganz ohne den Bezug auf Geschichte kommen Bormann et al. nicht aus: Zwar verweisen sie auf eine andere Geschichte als die klassische, aber die Autoren haben doch das Bedürfnis, die Anzahl der in der Zwischenstadt wohnenden und lebenden Generationen anzugeben.12 Dieses Bedürfnis verweist erstens darauf, dass Kontinuität und Dauer für sie bedeutend ist. Zweitens wird dadurch die Idee der Herkunft ins Spiel gebracht: Die Einordnung in die Generationenfolge verbürgt die heimatlichen Qualitäten der Zwischenstadt als Ort der Herk'Unjt. Damit bewegen sich Bormann et al. in einem Argumentations11 Daher produziert die gleichzeitige Bezugnahme auf Koolhaas (als Gegner
jeglichen Rekurses auf hochoffizielle und -kulturelle Geschichte) und »Geschichte(n)« keinen Widerspruch. 12 Man könnte einwenden, dass die Autoren sich nicht explizit auf die Generationen einer Familie beziehen, sondern dass lediglich gemeint ist, dass Heimat bereits seit längeren Jahren verschiedenen Bewohnern (auch verschiedenen Familien) Heimat ist. Für meine Argumentation ist es aber irrelevant, ob es einen familiären Zusammenhang zwischen den Bewohnergenerationen gibt. Entscheidend ist, dass ihnen die Idee der Dauer überhaupt als Argument gilt; dass sie den »Reifeprozess« (Bormann et al. 2005: 52), der die Zwischenstadt ausmache, überhaupt bemerken und wertschätzen.
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rahmen, der charakteristisch flir die konservative Weltanschauung ist. 13 Es ist also auch hier das Vorhandensein von Kontinuität, Tradition und Herkunft, das einen Raum zum Ort macht, das der Zwischenstadt Identität verleiht. Zwar mögen die Geschichten der Zwischenstadt andere sein als die klassischen urbanen Erzählungen, aber strukturell konstruieren auch sie ihren Heimatbegriff nicht ohne einen konservativen Zeitbezug, d. h. einen Rückgriff auf Herkunft.
Fazit und Fragen Welche Geschichte(n) auch immer einen Ort zur Heimat werden lassen, der Ort der Heimat ist in den Überlegungen der Autorengemeinschaft um Bormann im Vergleich zu herkömmlichen Positionen ein neuer: Sie erkennen an, dass auch Zwischenstadt Heimat sein kann. Die Struktur dieses Heimatbegriffes ist jedoch in einem wesentlichen Aspekt nicht neu: Immer noch wird ein Ort durch den Rekurs auf Herkunft zu einem, der heimatliche Identifikationsmöglichkeiten bietet. Ich vermute, dass sich noch weitere Strukturparallelen zu einem als konservativ zu bezeichnenden Heimatbegriff aufzeigen ließen, was nachzuweisen jedoch Gegenstand weiterer Analysen wäre. Auf einer allgemeinen Ebene wirft das die Frage auf, ob es überhaupt einen rein progressiven Begriff von Heimat geben kann. Es wäre auch genauer zu überlegen, was >progressiv< im Zusammenhang mit >Heimat< überhaupt bedeuten kann: Was ist das Progressive am >linken< Heimatbegriff, den Hauser anspricht? Ich habe zwar oben (bei der Konstruktion der idealtypischen Heimatbegriffe) versucht, durch Zusammenstellung von Merkmalen, die in der Literatur als Kennzeichen eines progressiven Heimatbegriffs genannt werden, einen solchen zu konstruieren. Wie konsistent eine solche Position ist, ob sie tatsächlich als reiner Extrempunkt auf der Begriffsskala gelten kann oder ob sie nicht immer konservative Elemente integrieren muss, wäre eingehender zu untersuchen. lch danke Annette Voigt, Gisela Kangler und Ludwig Trepl flir Anregungen und Kritik an früheren Versionen des Textes.
13 Vgl. für eine Rekonstruktion des Zusammenhangs von Kontinuität, Tradition und Herkunft im konservativen Denken Greiffenhagen 1986.
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ZWISCHENSTADT ALS HEIMAT
Literatur Bloch, E. 1959/ 1985: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/M. Bölling, L. 2004: Zwischenstadt lesen. Spurensuche zwischen >Downtown Eschbom-Sossenheim< und >Airportcity Rhein-MainZersiedlungHeimat< und Naturschutz. In: Bundesamt für Naturschutz (Hg.): Heimat und Naturschutz. Die Vilmer Thesen und ihre Kritiker. Bonn-Bad Godesberg: 119-124. Sieverts, T. 1997/2001: Zwischenstadt zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land. Basel. Weber, M. 1904/ 1988: Die >Objektivität< sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Winckelmann, J. (Hg.): Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: 146-214.
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NATUR ALS WILDNIS
Die Erfindung des tropischen Regenwaldes KLAUS-DIETERHUPKE
Tropische Regenwälder gelten sowohl unter Laien als auch unter den auf diese spezialisierten Forschern als faszinierend vielseitige Lebensräume. Jedoch sind die Eigenschaften, welche man dem fernen tropischen Feuchtwald bevorzugt zugewiesen hat, nicht immer die gleichen gewesen. Es lassen sich mehrere charakteristische Rezeptionsphasen rekonstruieren. Diese sagen in vieler Hinsicht mehr über die Befindlichkeit und Selbstdefinition europäischer Gesellschaften aus als über den Regenwald selbst (Fiitner 2000, Huplee 2000, 2002). Erstaunlicherweise sind die vorgefassten Sichtweisen von Laien wie auch die Darstellungsweisen des Tropischen Regenwaldes in der Wissenschaft gar nicht so unterschiedlich. Und diese Ebenen sind vor allem voneinander nicht unabhängig. Eine frühe Form der Rezeption des südamerikanischen Regenwaldes ist diejenige der spanischen Konquistadoren. Im deren Gefolge reisen auch deutsche Geschäftsleute mit, so wie etwa im 17. Jahrhundert im Auftrag der Fugger Philipp von Rutten durch den Süden des heutigen Venezuela (vgl. Felden 1997). Am tropischen Feuchtwald waren die reisenden Spanier oder Mitteleuropäer nm wenig interessiert. Sie interessierten Edelmetalle, die sie hinter dem undurchsichtigen Grün vermuteten. Der tropische Feuchtwald wurde zum Mysterium, aber auch zum Symbol, das in sich die ElDorado-Idee trug, die Idee des geheimnisvollen Goldlandes. Der tropische Regenwald roch sozusagen nach Reichtum.
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Einer der ersten deutschsprachigen Gelehrten, die tiefer in die kontinentalen Regenwälder Südamerikas eindrangen, war Alexander von Humboldt in der Zeit um 1800 (vgl. seine Darstellung im Reisewerk, Humboldt 1997). Im Sinne der ausgewogenen Weltsicht der deutschen Klassik steht eine ästhetisierende Wahrnehmung des tropischen Waldes im Vordergrund. Humboldt ist aber auch Zählungen und Messungen und auch dem Nutzungsgedanken nicht abgeneigt. Der tropische Wald präsentiert sich bei Humboldt ansonsten weitgehend unspektakulär. Einen eigenen Begriff ftir den tropischen Feuchtwald hat Humboldt noch nicht. Diesen schafft erst der elsässische Botaniker Schimper im Jahr 1898, also fast 100 Jahre nach Humboldt. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird die moderne Evolutionstheorie ausformuliert. Nach traditionellem Verständnis hat dies Charles Darwin getan. Neuere biographische Forschungen gehen aber davon aus, dass die entsprechende Theorie wohl eher von Alfred Russel Wallace entwickelt wurde und von Darwin lediglich übernommen sein könnte. Wallace hat den genialen Einfall vom Wechselspiel von Mutation und Selektion, folgt man seiner Autobiographie (Wallace 1890), auf dem Krankenlager während eines kräftigen Malariaschubes gehabt. Selbst nun den zerstörerischen Kräften des »struggle for existence« ausgesetzt, sei ihm der Einfall der Theorie einer Selektion durch die umgebenden Naturkräfte gekommen. Darwin und Wallace hatten, indem sie die Wirksamkeit der Naturkräfte analysierten, die frühviktorianische Gesellschaft vor Augen, in die sie als britische Bürger unmittelbar eingebunden waren. Diese Gesellschaft durchlief einen Prozess, der, wie man sagen könnte, ihren darwinistischen Charakter zunehmend verstärkte. Die Zunftzwänge und viele soziale Bindungen der frühen Neuzeit waren weitgehend aufgehoben, es entfaltete sich ein freies Unternehmertum im Sinne der Theorien eines Adam Smith, und es herrschte in der britischen Gesellschaft ein »survival ofthejittest«. Nichts lag für Darwin wie fiir Wallace näher, als entsprechende Prinzipien in der ebenso komplexen Realität der Regenwaldnatur zu vermuten. Vermutlich ist der Mensch auch gar nicht imstande, in sich komplexe Natursysteme wie die tropischen Regenwälder anders als im Sinne menschlicher Analogien zu begreifen. Was liegt näher als unsere gesellschaftlichen Kategorien von Freunden und Feinden, von Formen der Kooperation, von Nutzbringern und Störenfrieden, von Parasiten und Herrschern, von Arbeitern, von idealen und gestörten Zuständen auch auf die Betrachtung des Regenwaldes mit seinen unzähligen Akteuren und Einflussgrößen anzuwenden.
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Kein Naturforscher hat in Deutschland die darwinistische Blickrichtung so gefördert wie Ernst Haeckel. Obwohl er in jüngeren Jahren eher als Meereszoologe und Mikrobiologe in Erscheinung trat, musste er sich, nachdem er die entsprechenden Theoreme Darwins begeistert übernommen und auch wissenschaftlich erweitert hat, irgendwann einmal, man könnte sagen, fast notgedrungen, den tropischen Regenwäldern zuwenden. Die Autobiographie der Reise nach Vorderindien und Ceylon (Haeckel 1922) zeigt, dass Haeckel die Begegnung mit der feuchttropischen Vegetation als Höhepunkt seines Lebens empfindet. Diese Begegnung gestattet ihm auch die Erfassung der Regenwaldes unmittelbar im Sinne seines darwinistischen Ansatzes. Dieser zeigt bei ihm bereits stark populärdarwinistische Einflüsse. Der tropische Regenwald, mit seinem ungeheuren Reichtum an Tier- und Pflanzenarten, muss nach dieser Sichtweise auch zu einer Kulmination des Kampfes ums Dasein führen. Während in anderen Geozonen die Lebewesen gegen abiotische Faktoren wie Kälte und Trockenheit kämpfen müssen, besteht eine solche Notwendigkeit in den feuchtwarmen Regenwaldgebieten nicht. Hier erst kann sich der Kampf unmittelbar zwischen den Lebewesen selbst entfalten. Der darwinistische Regenwald ist geboren. Von späteren, auch wissenschaftlichen Autoren wird dieser darwinistische Regenwald noch mehr ins Populärdarwinistische gesteigert. Dies gilt etwa in der Zeit um den Ersten Weltkrieg für die beiden deutschen Geographen Leo Waibel (1921) und Wilhelm Vo1z (1922). Der tropische Regenwald wird zum Schauplatz eines Kampfes aller gegen alle. Es ist ein Kampf um Reviere und Nahrung, ein Kampf um das Licht, ein Kampf um Geschlechtspartner. In diesen allgemeinen Kampf wird auch der reisende Naturforscher einbezogen, der ständig bedroht ist. Bedroht von Einheimischen, denen oft Menschenfresserei unterstellt wird, bedroht von Krankheitserregern und Parasiten, bedroht von Giftschlangen und von großen Raubtieren. Natürlich hat dieser unangenehm-angenehme Schauer von Gefahr auch seine Vorteile. Man kann, in die Heimat zurückgekehrt, damit die zu Hause gebliebenen begeistern, vorzugsweise die Frauen. Regenwaldreisende sind nach ihrer Rücldcehr stets gefragte Referenten für Vorträge gewesen, populärer wie wissenschaftlicher Art. Überhaupt die Frauen: die gab es ja im tropischen Regenwald im Allgemeinen nicht, jedenfalls in ihrer europäischen Variante. Der reisende, zumeist jüngere europäische männliche Forscher hatte also einiges zu entbehren. Aber auch dagegen gibt es Strategien. Eine solche scheint die Feminisierung des tropischen Regenwaldes selbst zu sein. In dieser Zeit um den Ersten Weltkrieg mehren sich Prädikate, die dem Regenwald weibliche Eigenschaften zuerkennen. Diese 257
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messen sich am Frauenideal der damaligen Zeit. Wie muss eine Frau beschaffen sein, um Gefallen vor dem Blick eines jungen Mannes aus Bildungsschichten zu finden? - Selbstverständlich - sie muss schön sein. Zweitens muss sie >jungfräulich< sein, zumindest zu Anfang der Beziehung. Eine derartige Anthropomorphisierung findet sich in den Prädikaten der Regenwaldbeschreibung geradezu durchgehend. Tropische Regenwälder gelten bis in unsere Gegenwart hinein als >jungfräulich< oder als >UnberührtEindringen< des jungen männlichen Forschers in den unberührten Wald lässt eine ausgeprägte sexuelle Metaphorik erkennen. Dieses geradezu zwanghafte Ideal, die Natur der feuchten Tropen möglichst als unberührt sehen zu wollen, hat bis in die Gegenwart den Blick auch vieler Geobotaniker getrübt. Sie übersahen dabei, dass viele Anzeichen seit jeher darauf hindeuten, dass zumindest die großen kontinentalen Regenwälder Amazoniens und des Kongobeckens keineswegs unberührte Natur sind (vgl. Eggert 1992 für Zentralafrika, zusammenfassend auch Whitmore 1998). Diese Erkenntnis setzt sich erst in den vergangenen beiden Jahrzehnten, zuerst in der Wissenschaft, allmählich durch. Das geschieht zeitlich parallel zum Wandel unseres gesellschaftlichen Frauenideals, in dem Jungfräulichkeit nicht mehr an vorderster Stelle steht. Der darwinistische Regenwald findet sich heute in der Wissenschaft kaum mehr. ln der populären Rezeption ist er zwar in den Hintergrund getreten, besteht dort allerdings fort. Es gibt fast niemand, der tropische Regenwälder nicht noch spontan mit Gefahr in Verbindung bringen würde. Man muss nicht eigens erwähnen, dass diese Einschätzung kaum das reale Risiko spiegelt, jedenfalls nicht im Vergleich zum Straßenverkehr unserer Alltagsgesellschaft Nach dem Ersten folgt der Zweite Weltkrieg. Europa liegt am Boden. Es muss, zunächst einmal wirtschaftlich, wieder neu aufgebaut werden. Nutzen geht vor Schönheit. Diese vorherrschende Orientierung am ökonomischen Nutzen hat in den 1950er und 1960er Jahren in Deutschland manches Niedermoor entwässert, manches interessante Altstadtgebäude zerstört. Kein Wunder also, wenn in den 1960er Jahren auch die tropischen Feuchtwälder unter Nutzungsaspekten gesehen werden. In der Geographie wird diese Epoche als >>Phase der Inwertsetzung« bezeichnet (Birkenhauer 1973). >Wert< ist hier rein ökonomisch verstanden; ein Wert also, der in Dollar oder Mark zu messen ist. Das Regenwaldideal dieser Wahrnehmungsepoche ist die Beseitigung des Regenwaldes. Er hat um seiner selbst willen eigentlich keinen 258
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Wert, er ist nur Platzhalter, der bei nächstbesserer Gelegenheit durch eine Nachfolgenutzung, etwa durch eine Plantage, ersetzt werden sollte. Dieser Einstellungswandel ist nicht ganz zufällig. Der Mensch muss ab den 1950er Jahren die (sub-)kontinentale Verbreitung tropischer Regenwälder nicht mehr als Schicksal annehmen. Er hat mit Bulldozer und Motorsäge Mittel entwickelt, die Regenwälder auf großer Fläche zurückzudrängen. Der Erfolg dieser Regenwaldbeseitigung hat Ende der 1970er Jahre innerhalb von kurzer Zeit den westafrikanischen Regenwald schon etwa zur Hälfte beseitigt und begann auch den südostasiatischen und den südamerikanischen kräftig zurückzudrängen. Den europäischen Gesellschaften wird der Erfolg der wirtschaftlichen Inwertsetzung unheimlich. Auch die aufkommende Bewegung des Umweltschutzes fördert eine mentale Umorientierung gegenüber dem tropischen Feuchtwald. Zum ersten Mal in seiner Rezeptionsgeschichte wird er zu etwas Schützenswertem. Im Vergleich zur darwinistischen Phase hat sich die Wahrnehmungsrichtung geradezu umgekehrt: Aus dem bedrohlichen ist der nun selbst bedrohte Regenwald geworden. Andererseits: Aus dem Menschen als potentielles Opfer des Regenwaldes wird nun der Mensch als Täter am Regenwald. Dieser wiederum ist nun nicht mehr der Feind des reisenden Europäers, sondern zeigt ein menschenfreundliches Gesicht: Er stabilisiert Boden und Klima und er liefert die Medikamente der Zukunft. Interessant ist, dass in dieser Rezeptionsphase die vielen Wirkungen zwischen den pflanzlichen und tierischen Bewohnern des Regenwaldes tendenziell nicht mehr als Kampf ums Dasein begriffen werden. Stattdessen hat sich die Blickrichtung auf die symbiotischen Beziehungen hin verlagert. Die Lebewesen konkurrieren nun weniger als dass sie zum gegenseitigen Nutzen zusammenarbeiten. Beispielhaft kann hier die Beziehung zwischen den Wurzelpilzen der Mycorrhizae und den Wirtsbäumen stehen. Alle Arten und Lebensformen von Lebewesen brauchen einander: Selbst die Beutetiere brauchen in gewissem Sinne die Raubtiere, um etwa ihren Bestand gesund und genetisch in Form zu halten. Grundsätzlich liegt es an gesellschaftlich vorgefassten Denkmustem, welche Aspekte der Regenwaldnatur in den Blickpunkt genommen werden: Aspekte der Konkurrenz oder Aspekte der Kooperation. Dies gilt auch unter Einschluss des zivilisierten Menschen. Man kann die Regenwaldnatur mit gewisser Berechtigung als zukünftigen Medizinschrank des Menschen begreifen. Man kann sie aber auch nach wie vor als Gefährdungspotential sehen, als Ort, der gefährliche Krankheiten für die Menschheit hervorbringt wie Aids oder Ebola. Die Frage, welcher As259
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pekt jeweils thematisiert wird, sagt mehr über den Fragesteller selbst und seine Gesellschaft aus als über die Natur des Regenwaldes. Ein noch sehr junger Rezeptionsstrang ist die Erfahrung der kontinentalen Regenwälder insbesondere Amazoniens als eine vom Menschen gestaltete Landschaft: Kulturlandschaft Amazonien. Man kann sich darüber streiten, wie man Kulturlandschaft inhaltlich gerrau definieren muss und ob der überkommene Tieflandsregenwald eine solche darstellt. Eine Primärlandschaft im strengen Sinne ist er zweifellos nicht. Die tropische Bodenforschung wendet sich seit wenigen Jahren den terra-preta-Böden Amazoniens zu (vgl. Lehmann et al. 2003). Diese gehören nicht zu den weit verbreiteten orange oder ocker gefärbten >LatosolenRegenwald in unserem KopfWildnis< - je nach Zusammenhang. Man kann Folgendes finden: (1) Wildnis ist eine Bedeutung von Natur, die heute im (mitteleuropäischen) Naturschutz Konjunktur hat: »Natur Natur sein lassen« führe zu »Wildnis«, so die Vorstellung (Scherzinger 2005). Natur ist, der immer noch grundlegend geltenden Abgrenzung von Aristoteles folgend, das zeitlos Erscheinende, das, was immer da ist, das, was als das Eigenständige gegenüber dem Künstlichen gilt. Wildnis ist in diesem Zusammenhang eine Art universelle Natur. (2) Mit Wildnis werden auch, gerade im Kontext von Naturschutz, individuell ästhetisch als Landschaft wahrgenommene Orte charakterisiert, so etwa der Harz als »sagenumwobene Bergwildnis« (EUROPARC Deutschland 2006). Es geht um die einmalige Geschichte einer bestimmten Gegend, etwa des Harzes, der zum einen in einem weiten landschaftlichen Blick und zum anderen in Bezug auf sei-
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ne vielschichtige einmalige Bedeutungshistorie wahrgenommen wird. Wildnis hat hier nicht als Natur im universellen Sinn Bedeutung, sondern vielmehr als eine individuelle Landschaft. Wie passt das zusammen? Wie kann beides, universelle Natur und individuelle Landschaft, mit Wildnis verbunden werden? Und was kann der Begriff Wildnis in den beiden Zusammenhängen Verschiedenes bedeuten? Meine grundlegende Vermutung zu den gerade genannten Fragen ist: Bei der Diskussion um Wildnis als Leitbegriff im Naturschutz ist es sinnvoll zu unterscheiden, ob Wildnis als eine Facette des vieldeutigen Naturbegriffs oder als eine Facette des vieldeutigen Landschaftsbegriffs verwendet wird. Dass sich die Begriffe Natur und Landschaft im Zusammenhang mit Naturschutz wesentlich gegeneinander abgrenzen lassen, ist dabei entscheidend. Ziel meines Ansatzes ist es, mit den entwickelten kategorialen Wildnisbegriffen zu ermöglichen, dass bestimmte Aspekte der Konflikte um Wildnis im Naturschutz geordnet und damit anders und - wie mir scheint - differenzierter und gerrauer verstanden werden können. Um mich der Fragestellung angemessen nähern zu können, stelle ich zunächst meine Verwendung von >Landschaft< und >WildnisBegriffswolke< Wildnis entwickeln. Dazu stelle ich eine These zu unterschiedlichen Wildnisvorstellungen insbesondere im Kontext von Naturschutz auf. Was die in der These genannten kategorialen Wildnisbegriffe meinen, welche impliziten Annahmen mit den unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen von Wildnis verbunden sind und in welcher Hinsicht sie Klärung in den Diskurs um eine Gegend als Wildnis bringen können, deute ich anschließend anhand einiger weniger Schlaglichter zum Bedeutungswandel des Bayerischen Waldes an. Dabei werde ich auf Gesellschaftsgruppen, die sich nach ihren Wildnisvorstellungen unterscheiden lassen, ausgehend von der Gegenüberstellung innen- und Außenperspektiven auf den Bayerischen Wald, hinweisen. Ein Beispiel dazu, wie es mit den entwickelten Wildnisbegriffen möglich wird, bestimmte Aspekte der Konflikte um Wildnis im Naturschutz ordnend zu verstehen, skizziere ich abschließend anhand der Diskussion um den »Borkenkäferwald« im Bayerischen Wald. Meine Differenzierung von Wildnisbegriffen erarbeite ich an der Bedeutungsgeschichte des Bayerischen Waldes. Diese Gegend eignet sich dazu besonders gut, weil »Die Böhmischen Wälder« Jahrhunderte lang die >Wildnis< in Mitteleuropa schlechthin waren, und der Nationalpark
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Bayerischer Wald 1 es wieder ist. Es ist kein Zufall, dass auch der Name >Böhmerwald< hier fällt: denn welches Gebiet gerrau mit den Bezeichnungen Böhmerwald bzw. Bayerischer Wald gemeint ist, war zu keiner Zeit eindeutig und ist es bis heute nicht2 •
Zu den Begriffen Landschaft und Wildnis Um ordnende kategoriale Wildnisbegriffe in einer These aufstellen zu können, muss ich zunächst sowohl meine Verwendung des Begriffs Landschaft in Abgrenzung zu >Natur< als auch meine Argumentationsebene und mein Bedeutungsspektrum fiir >Wildnis< darlegen. Von >Natur< trenne ich systematisch den Begriff Landschaji als Bezeichnung für eine ästhetische Wahrnehmung eines räumlichen Ausschnitts von Natur. Zwei Aspekte sind in meinem Zusammenhang wichtig: (a) Zu Landschaft wird eine bloße Gegend im Moment der Wahrnehmung durch einen Betrachter, der diese Gegend als Ganzheit ästhetisch oder teleologisch beurteilt. 3 Für diesen Landschaftsbegriff ist die kulturelle Wertebene konstitutiv, weil auf sie die individuelle Wahrnehmung Bezug nimmt. 4 (b) Dieser subjektive Blick kann ein Bild werden, das das öffentliche Bewusstsein über diese Gegend prägt. Dinnebier unterscheidet: »Das Finden und Erfinden des Bildes einer Landschaft mag einer Künstlerpersönlichkeit zuzuschreiben sein, doch führen sie erst zur Entdeckung einer Landschaft, wenn das Bild auch Verbreitung findet und sich in den Köpfen zum Muster verfestigt. Dann ist es zum Vorbild geronnen, das andere anleitet, die Gegend als >Landschaft< zu sehen« (Dinnebier 2006: 24). Der individuelle landschaftliche Blick kann sich damit auf eine Schicht in der Bedeutungshistorie einer Gegend (als Landschaft) beziehen. 5 Mit >Wildnis< wird lebensweltlich einem Gegenstand ein bestimmter Charakter, ein bestimmter kultureller Sinn zugeschrieben. Bei Wildnis
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Der Nationalpark Bayerischer Wald wurde 1970 als erster Nationalpark in Deutschland eingerichtet. Vgl. u. a. Hoffmannet al. 1855 und Stallhafer 2000. Die ästhetische Wahrnehmung eines räumlichen Ausschnitts von Natur als Landschaft ist seit dem Ende des Mittelalters im europäischen Kulturraum entstanden (siehe dazu die Arbeiten einiger Philosophen, z. B. Simmel 1913/1957, Ritter 196311974 und See! 1996), und sie ist nach wie vor relevant (vgl. u. a. Trepl 1997, Fischer 2001, Höfer 2004, Dinnebier 2006). Der Land~chafisbegriff ist damit wesentlich ein individueller im Gegensatz zum Naturbegriff, der universell (unabhängig vom betrachtenden Subjekt) erklärt werden kann (siehe die eingangs genannten Beispiele). Vgl. Stremlow/Sidler 2002: 28.
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handelt es sich also um kein empirisches Phänomen, sondern vielmehr wesentlich um eine Idee, eine symbolische Vorstellung, die durch die jeweilige Gesellschaft beziehungsweise ihre >Kultur< geprägt ist. Daher nimmt meine Untersuchung eine kulturwissenschaftliche Perspektive ein6 . Wildnis hat keine eindeutige sondern viele und vieldeutige Bedeutungen. Ich stelle als grundlegende Annahme für meine Analyse auf, dass in allen Facetten des Begriffes Wildnis eines wesentlich ist: Wildnis ist prinzipiell das Unbeherrschbare (das Unkontrollierbare) und damit bedrohlich7 . Von dieser Grundbedeutung lassen sich spezielle und zum Teil gegensätzliche Vorstellungen in unterschiedlichen kulturell-gesellschaftlichen Denkzusammenhängen unterscheiden8 . Wenn man die Idee Wildnis im Spannungsfeld von (politischen) Interessen (etwa im Naturschutz) untersuchen will, halte ich es für aufschlussreich, die verschiedenen Wildnisvorstellungen zusätzlich zu ihrer kulturellen Bedeutung nach ihrer Zuordenbarkeit zu Gesellschaftsgruppen zu hinterfragen. Für diese Vargeheusweise lassen sich Gesellschaftsgruppen einteilen9 ausgehend von dem Kriterium, ob sie eine der Innen- oder eine Außensichten auf eine Gegend haben: 10 (I) die >lokalen
Gegenstand der Kulturwissenschaften ist es, kulturelle Phänomene verstehend zu ordnen. Das Erkenntnisinteresse ist, die in einem jeweiligen individuellen Begriff enthaltenen kulturelle Werturteile und Sinngebungen zu verstehen sowie zu analysieren, welche Phänomene, ob nun materielle oder ideelle, jeweils als Bedeutungsträger von einem Begriff (z. B. Wildnis) gelten (vgl. Gadamer 1960/1990: 10). In manchen Fällen kann eine subjektiv-psychologische Deutung von individuellem Naturerleben durchaus sinnvoll sein. Damit wird aber nicht zugänglich, was etwa Wildnis als ein zentraler Begriff unserer Gesellschaft kulturell bedeutet, und das wird in der psychologischen Deutung unausgesprochen vorausgesetzt. Es ist nicht einfach subjektiv, als was der Bayerische Wald gilt. (Vgl. Stremlow/Sidler 2002: 29.) 7 ln diesem Sinne wird von verschiedenen Autoren Wildnis charakterisiert als »dämonisch, unbezwingbar« (Planken/Schurig 2000: 198), das, was »jenseits der vertrauten Welt« liegt (Stremlow/Sidler 2002: 37) oder jener Raum, »in dem sich Ungeplantes und Unvorhergesehenes entwickeln kann« (Broggi 1999: 4) (vgl. Haber 2007: 9). 8 Vgl. Trommer 1992, Planken/Schurig 2000 und Stremlow/Sidler 2002. 9 Ähnliche Einteilungen in Gesellschaftsgruppen nennen etwa Elfferding 2000: 178 f., Höchtl et al. 2005: 296 f. und Kropp/Krauss 2005: 10. 10 Sicherlich ist diese Einteilung stark vereinfachend und wird den einerseits komplexen, andererseits tendenziell vereinheitlichten (>globalisiertenFundorte< der vielfältigen kulturellen Wildnisvorstellungen in der Gesellschaft, wenn auch nicht restlos geklärt, so doch zumindest als Problem deutlich bewusst werden. 6
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Leuteüberregionale GesellschaftWildnis< in Verbindung stehen, nach unterschiedlichen Kontexten reflektiert ordnen kann - zumindest hinsichtlich meines Erkenntnisziels der >Wildnis< im Zusammenhang mit Naturschutz im Bayerischen Wald. Als Material 16 ftir die Analyse des Diskurses um >Wildnis< insbesondere im Zusammenhang mit Naturschutz und mit dem Bayerischen Wald dienen mir touristische, wissenschaftliche, journalistische und literarische Texte zum Bayerischen Wald aus verschiedenen Epochen.
Unbekannte Wildnis Schiller wählt in seinen Räubern ( 1781) »die böhmischen Wälder« als metaphorischen Schauplatz und beschreibt sie als Wildnis, als die weit entfernte schreckliche Gegend, die auf die universelle unbeherrschbare
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den analytischen Polen soll »ein theoretischer Raum eröffnet werden, in dem die realen Erscheinungen empirisch als Mischungsverhältnisse auszumachen sind« (Gill2003: 51). Gegen eine Typenbildung »lässt sich selbstverständlich einwenden, dass sie deduktiv, verallgemeinernd, reduktionistisch sei« (Gill 2003: 98). Zugleich mit dem Verlust von Details wird »aber auch Information hinzugewonnen - wir werden der morphologischen oder formalen Ähnlichkeiten gewahr und können daher leichter über Analogieschlüsse kausal Zuschreibungen vornehmen« (ebd.: 99). Nach Gadamer (1960/1990: 289) ist prinzipiell Wesen des geisteswissenschaftlichen Forschungsinteresses, dass es nicht frei von »Vorurteilen« ist, sondern vielmehr »durch die jeweilige Gegenwart und ihre Interessen in besonderer Weise motiviert ist«. Ich beabsichtige nicht Empfehlung abzugeben, wie der Wildnisbegriff zu verwenden sei (so etwa Höchtl et al. 2005: 601). Denn nach Hard (1983/ 2002: 174) erweisen sich »explizite Definitionsversuche als völlig ungeeignet, den wirklichen Wortgebrauch einer Disziplin zu erfassen, zu steuern oder gar zu binden«. Die Materialauswahl begründet sich aus folgender Überlegung: »Märchen, Sagen, literarische Werke und einzelne mediale Quellen« sind »Kommunikationsgefasse« und können verwendet werden, um gesellschaftliche Wildnisvorstellungen zu analysieren (Stremlow/Sidler 2002: 28). Vgl. Lehmann 2003: 148 f. und Ecker 1997: 262.
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Natur verweist. Der konkrete Ort in seinen individuellen Eigenschaften ist unwichtig, es geht um die sagenumwobene, naturmystische Bedeutung. Eine derartig beschriebene konturlose wilde Gegend möchte ich als unbekannte Wildnis bezeichnen. Es handelt sich um eine im vormodernen Denkzusammenhang entstandene Vorstellung von Wildnis, die in der Moderne weiter wirksam ist. 17 In dieser kann der wesentliche Charakter der unbekannten Wildnis etwa in schrecklichen wilden Tieren verkörpert oder als wegloser dunkler Wald beschrieben sein. Noch 1855 liest man in einem geographisch-statistischen Lexikon der Erde: »Der Böhmerwald ist die deutsche terra incognita, wenigstens was die genauere Kenntnis der Einzelheiten betrifft, und gehört zu den rauhesten Gegenden Deutschlands .... [S]eine Oberfläche [ist] mit ungeheuren Waldungen bedeckt« (Hoffmann et al. 1855: 184). »Die Böhmischen Wälder« gelten also lange Zeit als eine bedrohliche Waldwildnis. Sie sind dabei eine Nicht-Landschaft, das heißt eine Gegend, die nicht in unmittelbarer ästhetischer Anschauung erfasst wird, sondern von deren Eigenschaften und Lage nur allein in den >Köpfen< bzw. in Mythen und Erzählungen Vorstellungen bestehen. Nicht nur von einer der Außenperspektiven, sondern auch bei der einheimischen Bevölkerung des bayerisch-böhmischen Gebirges spielten Sagen über wilde Figuren und Vorkommnisse im Wald immer eine wichtige Rolle. Vor allem aus einer Innensicht kann bedrohliche unbekannte Wildnis eine zum Schrecklichen konträre Bedeutung, nämlich Freiheit, haben. Die Unbeherrschbarkeit der Wildnis bietet etwa Räubern oder Wilderern Freiheit vor der herrschenden Gesellschaft. 18 Von dieser im emanzipatorisch-aufklärerischen Sinne als Symbol flir Freiheit verstandenen Wildnis ist eine andere positive Bedeutung zu unterscheiden, die rückgewandt ist: Wildnis als Ursprünglichkeit, als die von der Kultur unverdorbene Harmonie. In dieser Bedeutung kann Wildnis in die Vorstellung vom friedlichen Paradies >kippennormalen Umständen< nicht aufsuchen würde, sondern etwa Stifter selbst wandert in der wilden ursp1ünglichen Natur zur Erholung vom städtischen Leben? 1 Der konkrete Ort ist wichtig und wird im individuellen Betrachten zur Einheit Landschajt (nach dem im zweiten Kapitel beschrieben Verständnis). lch kennzeichne diese Art von Wildnis mit dem Begriff bestimmte Wildnis. 22 Bestimmte Wildnis ist eine Landschaft, die eine bestimmte Eigenschaft hat: sie wird als bedrohlich empfunden. Es ist eine eigendynamische, unbeherrschbare Naturlandschaft. Stifter wirkte schon in seiner Zeit als Vorbild fiir Bildungsbürger, den Bayerischen Wald zu bereisen. Der Reiz an einer solchen Reise ist die Erwartung, dass man Wildnis erlebt, von der man im Roman gelesen hat: »Wir wollen den deutschen Urwald sehen. Wir wollen >in grässlicher Verwirrung die alten ausgebleichten Stämme< (Adalbert Stifter) liegen sehen« (Lindau 1882 zit. n. Hay 1981: 241 ). Hier haben sich Berliner Bildungsbürger mit der wilden Landschaft des Bayerischen Waldes bei Stifter vertraut gemacht und reisen selbst hin, um die Landschaftsbilder, die sie im Kopf haben, in der realen Gegend, im Gelände, selbst zu entdecken (vgl. Dinnebier 2006: 16). Der Bayerischen Wald bzw. Böhmerwald ist bei diesem ersten Fremdenverkehr eine Reise wert wegen seiner bestimmten wilden Naturlandschaft. Ziel ist nicht, sich in unbekannter Natur zu bewähren, sondern im Blick des Spaziergängers schöne oder erhabene Szenerien wahrzunehmen. Diese können dann in Distanz etwa auf die alte Ursprünglichkeit oder Freiheit verweisen. Als >Naturschönheiten< werden jetzt auch Be-
20 Nicht Freiheit von der Natur (vgl. Siegmund 2002: 64). 21 »Und wenn mich meine Ferien nach Oberplan führten, waren es vorzüglich die westlichen Wälder, die mich anzogen, und die ich durchwanderte« (Adalbert Stifter an Luise Stifter, 21. April 1855, zit. n. Praxl2005: 83). 22 Die Bildung eines derartigen kategorialen Wildnisbegriffs halte ich für aufschlussreich, auch wenn er in gewissem Sinne paradox ist: Sobald ich Wildnis genau kenne - und Landschaft ist ja die vertraute >mmruhende Natur« (Schiller zit. n. Ritter 1963/1974: 160)-, ist sie keine mehr. 270
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reiche unter Schutz gestellt und zur Besichtigung von außen touristisch erschlossen. Einer der ersten bereits 1858 war der »Urwald« Boubin (Kubany) im Böhmerwald (vgl. Sip 2006). Diese gewandelte Bedeutung von >Wildnis< hat eine Tendenz: Bestimmte Wildnis, die im Fremdenverkehr oder für naturkundliche Forschungen in dieser Zeit aufgesucht wird, kann- je genauer man sie kennt und erschließt - in die Bedeutung Kulturlandschaft >kippen< 23 ; also als eine Gegend wahrgenommen werden, die von Kulturtätigkeit geprägt ist, im Gegensatz zu einer Naturlandschaft. Der Bayerische Wald als Kulturlandschaft hat gar nichts Unkontrollierbares mehr. Kulturlandschafi ist aber grundsätzlich in ihrer Ordnung ständig durch unkontrollierbare Verwilderung, d. h. Rückfall in Unkultiviertheit, gefahrdet. Kann man die Bedeutung bestimmte Wildnis auch in einer Innenperspektive auf den Bayerischen Wald entdecken? Ortschaften werden durchaus von Ansässigen als im Nationalpark gelegen und als umgeben von »Naturschönheiten«, wie dichten Wäldern und unbesiedelten Bergen, beschrieben. 24 Die Gegend erhält dabei in vielen Fällen den Charakter einer individuellen Landschafi mit der Eigenschaft >wildProzessschutz< sein. 26 D. h. der Wald unterliegt nicht mehr dem herkömmlichen Naturschutz, der im Wesentlichen konservativ-musealisierender (Kultur-) Landschaftsschutz ist, sondern man will einen möglichst ungestörten dynamischen Prozess, eine »natürliche Entwicklung von Ökosystemen«, »zulassen« (Bibelriether 2007: 9). 23 D. h. auch: Wenn versucht wird, >Wildnis< (etwa in Nationalparken) auszuweisen oder touristisch zu verwerten, dann ist sie in diesem Moment keine Wildnis, weil sie damit letztlich bestimmt, kontrolliert und genutzt wird. »Wildnis ist >wildProzessschutz< nicht nur auf seine natuiwissenschaftliche Basis, sondern auch auf seine impliziten Naturvorstellungen hin als kulturelles Phänomen analysiert, zeigt sich: Bei >Prozessschutz< wird die unvorhersehbare Dynamik und unkontrollierbare Regellosigkeit der in Ökosystemen wirkenden Naturgesetze betont; es wird also offensichtlich nicht die Möglichkeit eines totalen wissenschaftlichen und technischen Zugriffs auf Natur zu Grunde gelegt. Der Verweis auf Naturgesetze scheint im Zusammenhang dieses Schutzziels vor allem zu bedeuten, dass der Wald im Nationalpark Bayerischen Wald durch Menschen unkontrollierbar30 und für sie unvorhersehbar ist. 31 Diese Natur des Nationalparks, in der dynamische »natürliche Entwicklung von Ökosystemen« (Bibelriether 2007: 9) abläuft, wird »Wildnis« genannt. >>Das Wirken der natürlichen Umweltkräfte und die ungestörte Dynamik der Lebensgemeinschaften wird [!] vorrangig gewährleistet. So entwickeln sich die Wälder des Nationalparks ohne lenkende Eingriffe des Menschen wieder zu Naturwäldem, zur Waldwildnis« (Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald 1999: 5). Die ökologischen Erklärungen werden hier im Leitbild für den Nationalpark mit der Metapher » Waldwildnis«, die auf einen kulturellen Sinn ve1weist, verbunden. Ein kategorial neuer Wildnisbegriff scheint eingeflihrt zu werden: Es ist weder das dumpf-mystische der unbekannten Wildnis, noch das als Eigenschaft einer Landschaft bestimmte Wilde, was das Naturbild >dynamisches Ökosystem< wesentlich ausmacht. Vielmehr wird mit dem 27 U. a. in Scherzinger 2000: 17, 36. 28 lch gehe davon aus, dass die Benutzung eines genuin natmwissenschaftli-
chen Begriffs im Handlungsfeld des Naturschutzes aus einem ganz bestimmten Grund erfolgt: Der Naturschutz versucht sich durch Ökologie, durch den Verweis aufnaturwissenschaftliche Begriffe zu legitimieren. 29 »Ein >Ökosystem< ist nach in der Ökologie verbreiteter Auffassung eine Einheit, die aus Gemeinschaften von Organismen verschiedener Arten und der abiotischen Umwelt dieser Gemeinschaften besteht.« Ökosysteme werden vom Naturwissenschaftler unter einem bestimmten, aber prinzipiell frei wählbaren Interesse abgegrenzt (Voigt/Weil 2006: 143 f.). 30 Die Bedeutung unkontrollierbar übertragen auf die Ebene der praktischen Handlungen heißt, dass der Wald im Nationalpark unkontrolliert sein soll. Ein Grund für eine derartige Setzung im Naturschutz kann sein: Das Waldökosystem gilt als durch Menschen bedroht. 31 Vgl. u. a. Piechocki et al. 2004. 272
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Begriff Wildnis eine Naturvorstellung verknüpft, die sich aus naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen für Strukturen der Natur ableitet, deren Veränderung systematisch nicht prognostizierbar ist. Damit ist diese Wildnisvorstellung von Natur zum einen nicht an eine bestimmte Gegend und zum anderen nicht an deren besondere Bedeutungsgeschichte gebunden, also ahistorisch und nicht individuell.32 Diesen dritten Wildnisbegriffmöchte ich als Ökosystem-Wildnis bezeichnen. 33 Wesentlich ist diesem Wildnisbegriff, dass er nicht etwas aufder naturwissenschaftlichen Ebene selbst benennt - naturwissenschaftlich kann man Wildnis (jeglicher Kategorie) nicht erfassen - sondern etwas auf der Ebene von kulturellen W ertsetzungen, auf der auch das Reden über die naturwissenschaftliche Ebene liegt. Ökosystem- Wildnis bezeichnet die Bedeutung, die dem Bayerischen Wald durch den Naturschutz aufgeprägt worden ist und für die wesentlich ist, dass sie die Ebene der naturwissenschaftlichen Erklärung und die Ebene des kulturellen Sinns metaphorisch verknüpft. 34
Beispiel: Welche Wildnisbegriffe sind in der Diskussion um den »Borkenkäferwald« im Bayerischen Wald zu erkennen? Abschließend skizziere ich ein Beispiel dazu, was und wie sich mithilfe der drei kategorialen Wildnisbegtiffe Diskussionen um >Wildnis< ordnen und differenzierter verstehen lassen: Es gibt massive Probleme die Idee, dass der Bayerische Wald im Nationalpark als Wildnis aufzufassen sei, politisch zu vern1itteln. Ein Konflikt bildet sich um den so genannten »Borkenkäferwald«35, also die Waldstruktur und Landschaft, die von massivem Borkenkäferbefall geprägt ist. Legler (2006: 168) bemerkt zur Informationsarbeit über »Sensibilisierung flir die Nichtbekämpfung des Borkenkäfers« im Nationalpark Bayerischer Wald, dass beim »Ziel, auch die Einheimischen mehr über den Park zu informieren«, teils er32 Elfferding (2000: 180) spricht davon, dass »[d]as Netz von globalen Diskursen, das dem einzelnen Erlebnis seinen Sinn verleiht, .. . jede Behauptung von Einmaligkeit und Persönlichkeit« dementiert. Er nennt dabei den Diskurs des Welttourismus, den wissenschaftlichen Diskurs und den Diskurs globaler Ökologie. 33 Dieser Wildnisbegriffist ein typisietter »analytischer Pol« (Gill2003: 51). In Aussagen von Vertretern des Nationalparks etwa sind auch Facetten der beiden anderen Wildnisbegriffe zu fmden (s. Beispiel »Borkenkäferwald«). 34 Vgl. Potthast (2007: 57) zum Konzept >Biodiversität< als »Verquickung wissenschaftlich beschreibender und moralisch wertender Aspekte«. 35 Vgl. u. a. Brauns 2003, Suda 2003 und Scherzioger 2005.
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hebliehe Defizite bestünden. - Wamm ist es schwierig die Einheimischen zu informieren? Welche Vorstellungen vom Bayerischen Wald als Wildnis stecken hinter den unterschiedlichen Positionen zum »Borkenkäferwald«? Touristen im Nationalpark Bayerischer Wald zeigen sich als nicht beeinträchtigt durch die abgestorbenen Bäume (Suda 2003: 30). Dies ist damit zu erklären, dass Touristen im Nationalpark Bayerischen Wald offensichtlich ein sportliches Abenteuer36 - eine moderne Auslegung der unbekannten Wildnis ohne wesentlichen Bezug auf ästhetische Wahrnehmung und Kulturgeschichte - erwarten oder sich über ÖkosystemWildnis informieren lassen wollen (vgl. Legler 2006: 168 f.). Die lokale Bevölkerung sieht sich durch wilden >>Borkenkäferwald« insbesondere in traditionellen Waldnutzungen beeinträchtigt, der Tourismusattraktion >Wald< genommen und in dem, was die Identität des Bayerischen Wald sei, bevormundet. Pöhnl bemerkt: »Der Nationalpark ... degradiert die Waldler zum Gast in ihrem Wald, die Akzeptanzverweigemng resultiert aus dieser Entheimatung« (Pöhnl 2000: 1). 37 Bei den ansässigen Bewohnern (zumindest bei den bäuerlich Tätigen) gilt der Bayerische Wald vor allem als Teil ihrer Geschichte, als ihre Kulturlandschaft, die von unkontrollierbarer Verwilderung (u. a. verursacht durch den Borkenkäfer) gefährdet ist. 38 Und er kann für sie- wie von mir im dritten Kapitel gezeigt - in gewissen Bereichen, die nur sie als Einheimische kennen und aufsuchen, gleichzeitig auch als eine bestimmte Wildnis bzw. (etwa in Sagen) als unbekannte Wildnis gelten. Das kann nicht mit der Naturschutzidee, die insbesondere >von außen< vertreten wird, zusammenpassen, wenn sie den »Borkenkäferwald« im Bayerischen Wald als Ökosystem-Wildnis erklärt, denn diese nimmt keinen Bezug auf die individuelle kulturelle Bedeutung der Gegend. Es verwundert daher nicht, dass Vertreter der Nationalparkperspektive nicht nur vom Bayerischen Wald im Sinne von Ökosystem-Wildnis reden: »Von Waldgeneration zu Waldgeneration stärker werden die Wälder des Nationalparks ihr durch Nutzung geprägtes Bild hinter sich lassen.... Es braucht Zeit, bis Urwald Heimat wird« so z. B. Sinner (2006: 42), der Leiter des Nationalparks. Urwald kann hier nicht als Wildnis im Sinne von >dynamischem Ökosystem< gemeint sein, denn damit könnte nicht die Identität einer Region (als Heimat) beschrieben werden, da die36 Vgl. Elfferding 2000. 37 Auch Höchtl et al. (2005: 600 f.) kommen für den Nationalpark Val Grande zu dem Schluss, dass Wildnis zu einem Verlust an landschaftsinhärentem Kulturwissen und von >Heimat< flihre. 38 Auch wenn die lokale Bevölkerung es nicht selbst unbedingt so nennt, so lässt sich die Perspektive in wesentlichen Zügen dieser Denkfigur zuordnen. 274
VON DER SCHRECKLICHEN WALDWILDNIS ZUM BEDROHTEN WALDÖKOSYSTEM
ser Begriff ohne Geschichtsbezug ist und nichts Individuelles bezeichnet. Es muss sich um eine bestimmte Wildnis handeln. Die als staatliche Umweltpolitik von der Nationalparkverwaltung >von außen< vertretene Position nimmt also auf allgemeine kulturelle Ideen von Wildnis (die wesentliche Eigenschaften von unbekannter oder bestimmter Wildnis haben) Bezug und versucht damit, eine davon unabhängige Idee der Ökosystem-Wildnis (an Urlauber und Einheimische) flir Konfliktpunkte wie den »Borkenkäferwald« zu vermitteln.39 Das Leitbild Wildnis wäre offenbar nicht zu vermitteln, wenn es nur auf einem neuen Wildnisbegriff, der sich auf Prozesse in Ökosystemen und die biologische Evolution beruft, bezogen wäre. Das Nationalparkleitbild ist verknüpft mit Vorstellungen von Wildnis und auch speziell vom Bayerischen Wald als Wildnis, die im »kulturellen Gedächtnis« (Assmann 2002) verankert sind.
Zusammenfassung Mit dem Einblick in die Bedeutungsgeschichte des Bayerischen Waldes von der schrecklichen Waldwildnis zum bedrohten Waldökosystem können drei kategorial verschiedene Wildnisbegriffe entwickelt werden: (1) »die Böhmischen Wälder« (Schiller 1781) als unbekannte Wildnis, als das nicht gerrauer bestimmbare Draußen, als die schreckliche Waldwildnis, (2) bestimmte Wildnis als wilde individuell wahrgenommene Landschaft und (3) »Wilde Waldnatur« (Scherzinger 2000) als Ökosystem-Wildnis, die eine Metapher für sich dynamisch verändernde funktionale Systeme von Natur ohne Bezug auf die konkrete Gegend ist. Diese Ordnungsbegriffe flir >Wildnis< insbesondere im Kontext von Naturschutz basieren in meinem Forschungsansatz auf einem Verständnis von Landschaft und Wildnis als symbolische bzw. ästhetische Wahmehmungskategorien, die durch die jeweilige Gesellschaft bzw. ihre >Kultur< geprägt sind. Die kategorial verschiedenen kulturellen Wildnisbegriffe können bestimmten Gesellschaftsgruppen mehrfach differenziert zugeordnet werden. Die entwickelten kategorialen Wildnisbegriffe ermöglichen es, die heute so verschiedenen und zum Teil konträren Positionen über den Charakter des Bayerischen Waldes, etwa als Waldwildnis im Sinne von Ökosystem-Wildnis und dabei universeller Natur oder etwa als heimatliche Kulturlandschaft und dabei individueller Landschaft, zu verstehen und
39 Das kann man auch an den zahlreichen aufwendig gestalteten Broschüren, Pressebeiträge und Bildbänden zum Nationalpark (z. B. Sinner 2006) sehen.
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zu ordnen. Es wird deutlich, dass es zu Konflikten um den Leitbegriff Wildnis im Nationalpark kommt, gerade weil Wildnis ein vieldeutiger Begriff ist, der in unterschiedlichen Facetten beides bedeuteten kann: universelle Natur und individuelle Landschaft. Ulla Schuster (ANL), Anne Haß und Renate Mann danke ich für Anregung und Kritik.
Literatur Agentur SSL (Hg.) 2007: Waldgeist. Freizeit & Abenteuer in der Waldwildnis der Nationalparkregion Bayerischer Wald. Grafenau. Assmann, J. 2002: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München. Bayerisches Naturschutzgesetz (BayNatSchG): Gesetz über den Schutz der Natur, die Pflege der Landschaft und die Erholung in der freien Natur in der Fassung der Bekanntmachung vom 18.08.1998 (GVBI. S. 593), geändert durch § 5 des Gesetzes vom 27.12.1999 (GVBI. S. 532), zuletzt geändert durch§ 8 des Gesetzes vom 24.12.2002 (GVBI. S. 975). Bibelriether, H. 2007: Natur Natur sein lassen in Nationalparken. Warum fallt das so schwer? Nationalpark 43: 8-13. Broggi, M. F. 1999: Ist Wildnis schön und >nützlich