Der Diskurs um ›Wildnis‹: Von mythischen Wäldern, malerischen Orten und dynamischer Natur 9783839445341

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German Pages 372 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
2. Cassirers Raumtheorie im Kontext seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹
3. Drei symbolische Formen von Raum – Cassirers Darstellung und weiterführende Interpretationen
4. Drei Begriffe von Wildnis im aktuellen Diskurs – eine Differenzierung mit Cassirers Raumformen
5. Diskursstränge im Spannungsfeld ›Wildnis‹ – Ergebnis, Fazit und Ausblick
6. Verzeichnisse
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Der Diskurs um ›Wildnis‹: Von mythischen Wäldern, malerischen Orten und dynamischer Natur
 9783839445341

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Gisela Kangler Der Diskurs um ›Wildnis‹

Edition Kulturwissenschaft  | Band 185

Gisela Kangler (Dr.-Ing.) ist wissenschaftliche Angestellte am Bayerischen Landesamt für Umwelt und Lehrbeauftragte der Universität Augsburg. Ihr Arbeitsgebiet ist Theorie und Praxis der Landschaftsplanung in Wasserwirtschaft und Naturschutz.

Gisela Kangler

Der Diskurs um ›Wildnis‹ Von mythischen Wäldern, malerischen Orten und dynamischer Natur

Dissertation an der Universität Kassel, Fachbereich ›Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung‹, vorgelegt von Gisela Kangler, Disputation am 1. Dezember 2017.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: © Rainer Simonis, 2016, Sonnenaufgang am Steinfleckberg (nordöstliches Lusengebiet), mit freundlicher Genehmigung Lektorat und Korrektorat: Jonas-Philipp Dallmann, Gisela Kangler Satz: Gisela Kangler Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4534-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4534-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Einleitung | 9 1.1 Von mythischen Wäldern, malerischen Orten, dynamischer Natur und Wildnis – Problemaufriss, Thema und Ziel der Arbeit | 9 1.2 Wildnis als kulturelle Form einer Raumauffassung – Ansatz der Arbeit | 14 1.3 Thesen und Fragestellung zum aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ – Programm der Arbeit | 24 1.4 Analyse des Diskurses anhand schriftlichen Materials – Methode und Quellenmaterial | 28 1.5 Forschung zu ›Wildnis‹ und Rezeption von Cassirers Raumtheorie – Stand und offene Punkte | 35 1.6 Aufbau und Inhalt der Arbeit | 40 1

2

Cassirers Raumtheorie im Kontext seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ | 43

2.1 Die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ als Rahmen der Raumtheorie | 44 2.2 Überblick zu Cassirers Raumtheorie und ihrer Anwendung in dieser Arbeit | 68 3

Drei symbolische Formen von Raum – Cassirers Darstellung und weiterführende Interpretationen | 77

3.1 3.2 3.3 3.4

Mythischer Raum | 79 Ästhetischer Raum | 139 Theoretischer Raum | 190 Resümee zu drei symbolischen Formen von Raum | 221

4

Drei Begriffe von Wildnis im aktuellen Diskurs – eine Differenzierung mit Cassirers Raumformen | 225

4.1 4.2 4.3 4.4

›Unbekannte Wildnis‹ – mythische Wälder | 229 ›Bestimmte Wildnis‹ – malerische Orte | 254 ›Ökosystem-Wildnis‹ – dynamische Natur | 274 Resümee zu drei Begriffen von Wildnis im aktuellen Diskurs | 309

5

Diskursstränge im Spannungsfeld ›Wildnis‹ – Ergebnis, Fazit und Ausblick | 315

Verzeichnisse | 327 6.1 Abbildungsverzeichnis | 327 6.2 Literaturverzeichnis | 329 6

Vorwort

Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung der Dissertation »Von mythischen Wäldern, malerischen Orten und dynamischer Natur – Eine Analyse des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ mit Cassirers Raumtheorie«, die am 1. Dezember 2017 durch den Fachbereich ›Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung‹ der Universität Kassel zur Erlangung des akademischen Grades einer Doktorin der Ingenieurwissenschaften angenommen wurde. Prüfer der Dissertation waren Prof. Dr.-Ing. Stefanie Hennecke, Prof. Dr.-Ing. Stefan Körner, Prof. Dr.-Ing. Dietrich Bruns und Dr. Markus Schwarzer. Dank Erste Teile dieser Dissertation entwickelte ich in meiner Zeit als Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Landschaftsökologie der Technischen Universität München; abschließen konnte ich sie am Fachbereich ›Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung‹ der Universität Kassel. Zum Entstehen dieser Dissertation haben eine Reihe von Menschen und Institutionen beigetragen, denen ich an dieser Stelle aufrichtig danken möchte: Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. em. Ludwig Trepl (Technische Universität München) posthum. Er hatte die Arbeit immer interessiert und ermutigend mit kluger Kritik, inspirierenden Anregungen und sorgfältigen Korrekturen begleitet. Es war eine Freude, mit ihm diskutieren und von ihm lernen zu dürfen. Stefanie Hennecke danke ich herzlich, dass sie die Betreuung übernommen hat. Ihre große thematische Aufgeschlossenheit und ihre förderlichen Anmerkungen haben mir entscheidend zum Abschluss der Arbeit verholfen. Für intensive Diskussionen, konstruktive Kritik und Nachfrage danke ich herzlich den Kolleginnen und Kollegen im damaligen Diplomanden-Doktoranden-Seminar und Arbeitskreis ›Kulturlandschaft‹ des Lehrstuhls für Landschaftsökologie (Technische Universität München) sowie im ASL-Doktorand_innen-

8 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

Kolloquium (Universität Kassel), insbesondere Thomas Hauck, Deborah Hoheisel, Thomas Kirchhoff, Stefan Körner, Renate Mann, Markus Schwarzer, Ursula Schuster, Andrea Siegmund, Vera Vicenzotti, Annette Voigt und Angela Weil. Für Hinweise und Diskussion speziell bezüglich Cassirer danke ich Jörn Bohr. Vorträge, Exkursionen und Tagungen haben beigetragen, mein Thema zu schärfen, stellvertretend danke ich Bernhard Gißibl (Leibnitz-Insitut für Europäische Geschichte, Mainz), Sabine Hofmeister (Universität Lüneburg), Patrick Kupper (Rachel Carson Center, München), Mandana Roozpeika (Wildnispark, Zürich) und Andrea Schilz (Nationalpark Bayerischer Wald). Weiter bedanke ich mich bei allen Personen und Institutionen für ihre Fotos und Titelblätter, deren Abbildung mir alle unkompliziert genehmigt haben. Jonas-Philipp Dallmann gilt mein Dank für das Lektorat. Für strategische Hinweise und Unterstützung danke ich den Mitgliedern des Qualifikationsprogramms für Doktorandinnen und meiner Peer-MentoringGruppe. Nicht zuletzt meinen Freunden und meiner Familie bin ich für Geduld, Unterstützung und Verständnis für mein Projekt zu großem Dank verpflichtet. Formale Vorbemerkungen Sprachgebrauch In dieser Arbeit gilt folgende Konvention im Sinne der Lesbarkeit: Formulierungen, bei denen das genannte Genus der Person oder Personengruppe keine Rolle spielt oder alle Geschlechter gemeint sind, wird nur ein Genus stellvertretend verwendet; sie sind für jedes Geschlecht in gleicher Weise gemeint zu verstehen. Quellenangaben Bei einigen Quellen wird nicht aus der Erstausgabe, sondern einer späteren zitiert. Um für den Leser eine zeitliche Einordnung des Zitats zu ermöglichen, wird in der Quellenangabe das Jahr der Erstausgabe dem Jahr der verwendeten Ausgabe, auf die sich die Seitenzahlen beziehen, vorangestellt. Anführungszeichen Doppelte Anführungszeichen stehen am Anfang und Ende wörtlicher Zitate. Einfache Anführungszeichen kennzeichnen Zitate in Zitaten sowie Titel und Bezeichnungen (von Aufsätzen, Theorien, Vereinen etc.). Außerdem markieren sie in dieser Arbeit einzelne Wörter, die einen Begriff oder eine bestimmte Idee meinen (etwa ›Wildnis‹, ›unbekannte Wildnis‹ oder ›Prozessschutz‹).

1

Einleitung

1.1 VON MYTHISCHEN WÄLDERN, MALERISCHEN ORTEN, DYNAMISCHER NATUR UND WILDNIS – PROBLEMAUFRISS, THEMA UND ZIEL DER ARBEIT Reminiszenzen an die ›Böhmischen Wälder‹ der Schillerschen Räuber bei einer Wanderung durch den wilden Grenzwald, die Ästhetik der bizarren Waldwildnis im Morgennebel am Lusen oder die Faszination eigendynamischer Prozesse der Wildnis im Nationalpark Bayerischer Wald – immer ist der Bayerische Wald ›Wildnis‹. Doch es kann mit diesem Wort nicht jeweils das Gleiche gemeint sein. Denn die schrecklichen Böhmischen Wälder sind kein bedrohtes Waldökosystem, die erhabene wilde Landschaft ist nichts Schreckliches, das dynamische Waldökosystem des Naturschutzes ist keine mythische Freistätte von Räuberbanden. Es gibt offenbar unterschiedliche Vorstellungen von Wildnis – auch, wenn das Wort auf ein und dasselbe Gebiet, den bayerisch-böhmischen Wald, bezogen wird. Wildnis ist heute in Fachkreisen des Naturschutzes, aber auch in der Gesellschaft allgemein ein Thema.1 Dies zeigt sich unter anderem in der naturbezogenen Freizeitkultur, bei der beim Extrembergsteigen, Schneeschuhwandern, Eismeerbefahrungen oder bei Wüstentouren ›Wildnis‹ bewusst gesucht wird.2 Die naturschutzfachliche Aktualität von ›Wildnis‹ wird in Mitteleuropa nicht zuletzt an der Zielsetzung der ›Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt‹ deutlich, 1

Vgl. Trommer 2014: 14; Finck et al. 2015a: 5; Schell 2015: 55 f. – Beispielsweise ist in der ›Naturbewusstseinsstudie 2013‹ – nach 2009 und 2011 die dritte Bevölkerungsumfrage des deutschen Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und des Bundesamtes für Naturschutz zu Natur und biologischer Vielfalt – ›Wildnis‹ erstmals ausführlich ein Thema (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit & Bundesamt für Naturschutz 2014).

2

Haß et al. 2012: 107.

10 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

die fordert, auf zwei Prozent der Landfläche Deutschlands bis zum Jahr 2020 Wildnisgebiete zu entwickeln.3 Man kann von einer »Renaissance der Wildnis« sprechen.4 Idealtypisch als Wildnis gelten »Felsskulpturen wie im Monument Valley, Flusslandschaften wie am Amazonas, urige Wälder, Berg- und Inselwelten«5. Sehr unterschiedliche geografische Gebiete werden als Wildnis bezeichnet. So heißt es beispielsweise: »Afrika hat noch große Wildnisgebiete«6, »›Geschröfe‹ (bewachsene Felspartie[n])« sind die »letzten Inseln der Wildnis« in den Voralpen,7 das Val Grande ist eine Wildnis,8 in Kanada ist Wildnis,9 der tropische Regenwald ist eine Wildnis,10 die Antarktis ist »die größte Wildnis der Erde«11, in Norwegen gibt es eine »arktisch-alpine Bergwildnis«12 und der Sihlwald bei Zürich ist ein »Wildnispark«13. Man fährt »ins wilde Hinterland nach Skandinavien, nach Nordamerika, Neuseeland, Patagonien und nach Australien«14 und auch Feuerland, die Antarktis, die Tundra oder das Karakorum sind »wilde Gegenden«15. In welchem Sinne werden diese Gegenden oder Orte jeweils als Wildnis angesehen? – Wildnis wird mit ganz unterschiedlichen Empfindungen verbunden, etwa unkontrollierbar, unberechenbar, undurchdringlich, unbekannt, unheimlich, schaurig, überwältigend, erhaben, aber auch ursprünglich, unberührt oder frei.16 Unterschiedlich sind diese Charakterisierungen von 3

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 2007; Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 2013; vgl. Finck et al. 2015b: 11; Opitz et al. 2015: 406.

4

Rasper 2013: 47.

5

Nielsen 2016: 32.

6

Mayr 2009: 50; vgl. Anton & Weizenegger 1999: 37.

7

Diwischek 2007: 37; vgl. Scherzinger 2011: 18.

8

Tallone 1998; Lieckfeld 2008; Broggi 2011.

9

Thiessen nennt »tropische Urwälder, afrikanische Savannen oder kanadische Weiten« als typische Wildnisse (Thiessen 2011: 5).

10 Vgl. Friedhuber 2011: 16; Braunreiter 2011: 56. 11 Friedhuber 2011: 15; Girtler 2011: 27. 12 Trommer 2012: 91. 13 Roth 2009: 9. 14 Trommer 2012: 87. 15 Girtler 2011: 27. 16 Vgl. beispielsweise Planken & Schurig 2000: 194 f.; Eickhoff 2002: 1050; Höchtl & Burkart 2002: 225; Flüeler et al. 2004: 104 ff.; Girtler 2007: 86; Schuster 2010: 37 f.; Trepl 2010: 9; von Lüpke 2010: 14; Kalas 2011: 71; Metscher 2011: 63; Scherzinger 2011: 20; Rasper 2013: 47; Langenhorst 2014: 59; Reppin & Mengel 2015: 108 f.

Einleitung | 11

Wildnis in ihrer Wertung (positiv oder negativ) und unterschiedlich ist offenbar der Zusammenhang, der mit ihnen jeweils assoziiert wird. In aktuellen Diskussionen wird oft von Wildnis gesprochen, als wäre es schon klar, was jeder Einzelne damit meint. Mögliche Differenzen in Bezug auf das Wildnisverständnis werden kaum thematisiert, was zu Missverständnissen führt. Zum Problem wird das missverständliche Konglomerat an Wildnisvorstellungen insbesondere dann, wenn Wildnis als eine bestimmte Wertsetzung in einer Leitidee des Naturschutzes und der Landschaftsplanung praktisch relevant wird. Denn diese Planungen betreffen die Öffentlichkeit und müssen in einer Demokratie dem Anspruch der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit genügen. 17 Während man als Privatmensch oder Künstler seine Handlungen nicht rechtfertigen und nicht auf die öffentliche Meinung achten muss (es sei denn, es geht um ideelle oder finanzielle Honorierung, aber das ist ja wieder ein anderes Thema), sind die Verhältnisse in der Landschaftsplanung und im Naturschutz meist anders. Ein Planer beurteilt etwa ein Artenvorkommen als schutzwürdig oder erklärt ein Gebiet zu Wildnis – und mutet dabei diese Festlegungen der Öffentlichkeit zu, immer mit dem Anspruch, dass ›die Öffentlichkeit‹ (also ›die Gesellschaft‹) dies so wolle. Dieser Ansatz ist allerdings nur tragfähig, wenn diese Beurteilung intersubjektiver Nachvollziehbarkeit genügt. Im Gegensatz zum Künstler oder Privatmenschen muss sich der Planer zwingend rechtfertigen, warum er meint, dass seine öffentliche Handlung, die etwa der Leitidee ›Wildnis‹ folgt, ein gesellschaftliches Bedürfnis sei.18 Beispiel für eine Naturschutzplanung in Mitteleuropa ist etwa die Festlegung bestimmter Bereiche des Bayerischen Waldes, in denen der Borkenkäfer, ein Forstschädling, nicht bekämpft wird. Dieser Maßnahme kann die ökologische Vorstellung des Bayerischen Waldes als einer sich selbst organisierenden Wildnis zugrunde liegen. Das ist eine Entscheidung gegen die Deutung des Gebietes als eines zwar urtümlichen, doch traditionell genutzten Waldes, der folglich vor Schädlingen zu schützen sei. Mit derartigen Planungsideen, die konkrete Handlungen leiten, kann nur dann angemessen auf gesellschaftliche Vorstellungen reagiert und Akzeptanz erlangt werden, wenn sie transparent beschrieben werden. Die spezifischen und konsistenten Wildnisdeutungen, auf welche die Planungen rekurrieren, müssen expliziert und ihre aktuelle gesellschaftliche Geltung muss dargelegt werden können.19 Verlässt der Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ hingegen nicht die Fachkreise des Naturschutzes und der Landschaftsplanung, mag es kaum verwundern, wenn entsprechendes Handeln bei Bürgern auf 17 Vgl. unter anderem Trepl 1997: 88; Trepl & Voigt 2009: 177; Potthast 2014: 60 ff. 18 Vgl. Trepl 1997: 88; Eser 2014: 253 ff. 19 Vgl. Kangler & Schuster 2011: 139 ff.; Rosenthal et al. 2015: 147.

12 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

Unverständnis stößt, als Willkür wahrgenommen wird, 20 und wenn die Fachleute mit einer gewissen Ratlosigkeit ein Akzeptanzdefizit der Öffentlichkeit für ›Wildnis‹ feststellen.21 Anliegen der Arbeit ist es, die divergierenden Verwendungen des Wortes ›Wildnis‹ im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ zu analysieren und so nach ihren kulturellen Kontexten zu ordnen, dass dieser Diskurs und die Missverständnisse und Konflikte in ihm verständlich werden.22 Die Arbeit ist von Problemen des Naturschutzes und der Landschaftsplanung (vor allem in Mitteleuropa) her motiviert; daher soll zunächst ein bestimmter Fachdiskurs erläutert werden: Wildnis ist zu einer wichtigen Leitidee in der Landschaftsplanung geworden, während diese Rolle vorher der vorindustriellen Kulturlandschaft zukam.23 Man versucht die Idee von Wildnis hier in ökologischen, also naturwissenschaftlichen Begriffen zu fassen. Die entsprechende als zeitgemäß geltende Naturschutzstrategie nennt sich ›Prozessschutz‹. Statt von ›Wildnis‹ wird dabei meist von ›dynamischen Ökosystemen‹24 gesprochen. ›Eigendynamik‹ der Natur ist ein entscheidendes Kriterium für deren Schutz, und diese Eigendynamik wird als objektiv bestimmbar gedacht im Sinne einer naturwissenschaftlich zu ermittelnden Nähe zu ›anthropogen unbeeinflussten‹ ökologischen Prozessen.25 Im Widerspruch zum Konzept dieses Prozessschutzes stehen Konzepte, die vor allem die historische Leistung der Kultivierung der Wildnis in Form ihres Ergebnisses, also der Kulturlandschaft, für erhaltenswert ansehen. Als wertvoll gilt dabei oft deren ›regionale Identität‹ oder ›Eigenart‹. Zwischen Prozessschutz und Kulturlandschaftsschutz besteht somit vor allem ein Widerspruch, was den Schutzgegenstand angeht – ›anthropogen unbeeinflusste Wildnis‹ auf der einen und ›von Kulturtätigkeit geprägte Landschaft‹ auf der anderen Seite. Zudem nehmen beide Ansätze Bezug auf unterschiedliche Arten von wissenschaftlichen

20 Vgl. Liebecke et al. 2008: 19; Kufner & Demmelbauer 2012. 21 Vgl. Pöhnl 2012: 92; Weiger 2012: 9. 22 Teilaspekte im Umfeld dieses Themas habe ich vor allem am Beispiel Bayerischer Wald bereits bei Tagungen zur Diskussion gestellt beziehungsweise in Artikeln veröffentlicht (Kangler 2006; Kangler 2008; Kangler 2009; Kangler 2011; Kangler 2016). 23 Vgl. Eser 2014: 256; Haber 2014: 219. 24 Damit kann eine Vorstellung von offenen Systemen verbunden sein. Man könnte sich unter einem ›natürlichen Prozess‹ allerdings auch einen chaotischen (wilden), nicht als System beschreibbaren Lauf der Dinge vorstellen. 25 Vgl. Müller 2015: 421 ff.; Potthast & Berg 2013: 19 f.; Rosenthal et al. 2015: 16 f.

Einleitung | 13

Grundlagen,26 nämlich im Falle des Prozessschutzes auf naturwissenschaftliche (ökologische) Erklärungen und im Falle des Kulturlandschaftschutzes auf Beschreibungen kulturhistorischer Bedeutungen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, einen Beitrag zum besseren Verständnis des aktuellen mitteleuropäischen gesellschaftlichen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ zu leisten. Dazu soll systematisch analysiert werden, wie es zu auffallend unterschiedlichem Reden über Wildnis und zu sehr verschiedenen Wertschätzungen derselben kommt. Dabei werden typische Diskursstränge mit unterschiedlichen Vorstellungen von Wildnis herausgearbeitet und die darin enthaltenen Bedeutungszuweisungen, Sinngebungen und Argumentationslogiken im jeweiligen kulturellen Kontext transparent gemacht. Dieses Ergebnis von idealtypisch pointierten Wildnislesarten zeigt strukturiert das Begriffsfeld auf, in dem sich wesentlich die realen Aussagen mit unterschiedlichen Argumenten bewegen. Das Ziel der Arbeit wäre erreicht, wenn sich mit den differenzierten Wildnisbegriffen Konflikte um die Wildnisbedeutung bestimmter Gegenden (besonders Naturschutzgebiete und Nationalparke, wie das Val Grande, Teile der österreichischen Kalkalpen, der Bayerische Wald oder der ehemalige Truppenübungsplatz Heidehof) ordnen und damit anders, und zwar differenzierter und genauer, verstehen lassen. So könnten Missverständnisse zwischen verschiedenen Diskurssträngen vermieden beziehungsweise geklärt werden. In dieser Arbeit wird ausdrücklich nicht angestrebt, Wildnis neu zu definieren, schon gar nicht ›richtige‹ und ›falsche‹ Wildnisbegriffe auszuweisen.27

26 Es gibt auch jeweils Bezüge auf andere Wissenschaften, die von den Autoren aber meist nicht explizit genannt werden, oft auch gar nicht bemerkt: Auch im Prozessschutz spielen kulturhistorische Bedeutungen eine Rolle, Kulturlandschaftsschutz bezieht sich auch auf ökologische Fakten.. 27 Ich beabsichtige auch nicht, mich selbst in den politischen Kontext zu stellen, werde also etwa keine Empfehlung abgeben, wie der Wildnisbegriff nicht zu verwenden sei – was beispielsweise Höchtl und Ernwein (Höchtl et al. 2005a: 601; Ernwein & Höchtl 2006) vornehmen.

14 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

1.2 WILDNIS ALS KULTURELLE FORM EINER RAUMAUFFASSUNG – ANSATZ DER ARBEIT 1.2.1 Kulturwissenschaftlicher Zugang zu Wildnis Aus dem Ziel der Arbeit, gesellschaftliche Bedeutungen des Wortes Wildnis im aktuellen Diskurs herauszuarbeiten, ergibt sich ein bestimmter methodischer Ansatz: Der Untersuchungsgegenstand ist als ein kulturwissenschaftlicher aufzufassen. Deshalb stelle ich meine Arbeit in den Kontext von Raumtheorien, die den Raum nicht als gegeben, sondern als durch die Auffassung bestimmt ansehen und die Auffassung als kulturell geprägt untersuchen. Nur auf einer kulturwissenschaftlichen Bearbeitungsebene können definitionsgemäß die Bedeutungen und Sinnzuschreibungen, um die es hier gehen soll, interpretativ erschlossen werden. Auch wenn das selbstverständlich sein mag, so muss es hier doch eigens erwähnt werden, denn in den zu untersuchenden Diskussionen wird Wildnis ja, wie eingangs beschrieben, zum Teil als ein naturwissenschaftlicher Begriff angesehen.28 Eine Gegend wie etwa der Bayerische Wald oder das Val Grande mag auf der naturwissenschaftlichen oder real-topografischen Ebene ein eindeutiges Ding sein. Auf der Ebene des kulturellen Sinns hingegen kann sie zwar nicht etwas Beliebiges, durchaus aber etwas sehr Verschiedenes sein.29 Hier geht es um gesellschaftliche Wertsetzungen und letztlich darum, ob etwas (eine Gegend) über-

28 Gemäß der Zielsetzung ist in dieser Arbeit auch ›Landschaft‹ wesentlich ein kulturwissenschaftlicher Gegenstand. In einigen wissenschaftlichen Diskussionszusammenhängen, etwa in Teilen der Geografie, wird ›Landschaft‹ in einem ›materiellen‹ Sinn benutzt, beispielsweise im Sinne von aus »größeren Räumen ausgegliederte[n] Raumeinheiten […] mittleren (›regionalen‹) Maßstabs« (Schenk 2002: 9), ähnlich in Teilen der Ökologie; »Landschaft« wird hier beispielsweise als »ein räumliches Gefüge benachbarter Ökosysteme« betrachtet oder als ein »Funktionszusammenhang« (Voigt & Weil 2006: 143). Manchmal ist in dieser ›Landschaftsökologie‹ die bloß metaphorische Verwendungsweise des Landschaftsbegriffs relativ klar (etwa bei Wiens 1992). Bei all dem handelt es sich um Sonderdiskurse, die für das, was Landschaft in unserer Gesellschaft bedeutet, nicht von großem Interesse sind – zur Verbindung der unterschiedlichen Landschaftsbegriffe siehe etwa Hard (1970) und Haber (2004). Dazu, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass einem ästhetischen Gegenstand die Bedeutung eines physischen Objekts zugeschrieben werden konnte, vgl. beispielsweise Kirchhoff (2005). 29 Vgl. unter anderem Herrmann (2009: 17) mit Bezug auf Cassirer.

Einleitung | 15

haupt als Gegenstand der Betrachtung wahrgenommen wird und Geltung als eine bestimmte Gegend bekommt. Bei Wildnis handelt es sich in dieser Arbeit primär nicht um ein empirisch-physisches Phänomen, sondern wesentlich um symbolische Vorstellungen, die durch die jeweilige Gesellschaft und ihre ›Kultur‹, ihre im »kulturellen Gedächtnis«30 überlieferten Vorstellungen, geprägt sind. Sekundär werden auch empirische Phänomene als Manifestationen gesellschaftlicher Bedeutungen behandelt.31 Wildnis ist damit Gegenstand empirischer Kulturwissenschaft, die sich mit Ideen als Phänomenen befasst, die nicht beliebig individuell konstruierbar sind, sondern sich in bestimmten kulturellen Zusammenhängen bilden und Bedingungen für die Möglichkeiten individueller Ideen sind. Kulturell unterschiedlich ist dabei nicht nur, was Wildnis bedeutet, sondern auch, welcher Gegend der Begriff mit welcher Bedeutung zugeschrieben wird. Bedeutungszuschreibungen sind für jede Gegend anders, wenn auch für verschiedene Gegenden gleiche Bedeutungsfacetten nachweisbar sein können. So haben etwa der Harz und die Eifel eine unterschiedliche Bedeutungsgeschichte, gelten beide aber als schützenswerte Naturlandschaften. Auch wenn die Arbeit von Bedeutungszuschreibungen und damit Sinngebungen und Wertsetzungen handelt, ist sie, was die Frage nach einer systematischen Ordnungsmöglichkeit des Diskurses angeht, allein kulturwissenschaftlich angelegt, nicht ethisch. Die ethische Frage nach der Berechtigung von Wertsetzungen, also auch nach dem ethisch richtigen Umgang mit der Natur, ist davon zu trennen.32 Psychologische und pädagogische Untersuchungen zu Wildnis, die in der aktuellen Wildnisliteratur eine nicht unerhebliche Rolle spielen, werden hier nicht angestellt.33 Eine subjektiv-psychologische Deutung individuellen Wildniserlebens kann in manchen Fällen durchaus sinnvoll sein; damit wird aber nicht die Art der Fragestellung dieser Arbeit zugänglich: Was ›Wildnis‹ als ein zentraler Begriff unserer Kultur bedeutet, denn genau dies wird in der psychologischen Deutung unausgesprochen vorausgesetzt.34 Es ist nicht einfach subjektiv, als was 30 Assmann 2002. 31 Diesen Grundansatz nennen unter anderem auch Kropp (2010: 46), Weber (2010: 36) und Langenhorst (2014: 59). 32 Zu Wildnis als ethisches Problem sei unter anderem verwiesen auf Suchanek (2001), Piechocki et al. (2004), Potthast & Berg (2013), Eser (2014) und Ott (2014). 33 Zu psychologischen Untersuchungen von Wildnis vgl. beispielsweise Egger 2001, Seitz-Weinzierl 2002, Haubl 2004, Fischer 2015. Zu Umweltpädagogik vgl. unter anderem Trommer 1992; Vössing & Pötter 2005; Zucchi & Stegmann 2006; Trommer 2012; Langenhorst 2014; Trommer 2014. 34 Vgl. unter anderem Bohr 2008: 34.

16 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

beispielsweise der Bayerische Wald, das Val Grande oder der ehemalige Truppenübungsplatz Heidehof einzelnen Subjekten gilt. Eine soziologische Analyse der vielfältigen kulturellen Wildnisvorstellungen in der Gesellschaft, also eine Zuordnung der Vorstellungen zu gesellschaftlichen Gruppen, kann in dieser Arbeit gleichfalls nicht geleistet werden35 – auch, wenn dies in Bezug auf ein kulturelles Phänomen, das aktuell politisch handlungsleitende Wirkung hat und Konfliktpotenzial birgt, eine interessante Fragestellung wäre – nur unsystematisch wird hier und da auf mögliche soziale Träger der jeweiligen Auffassung verwiesen.36 Meine Arbeit kann jedoch als eine Begriffe klärende Grundlage für empirisch-soziologische Erhebungen dienen. Für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit – die Analyse des mitteleuropäischen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ – halte ich es für fruchtbar, Wildnis nicht als Zustand der Gefühlswelt oder in Bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse zu deuten; ich interpretiere Wildnis vielmehr als Raumauffassung und erkläre ihre Vieldeutigkeit innerhalb unterschiedlicher kultureller Kontexte. Diesen spezifischen Ansatz erläutere ich im Folgendem näher und gehe in diesem Zusammenhang darauf ein, inwiefern ›Wildnis‹ räumlich ist (Kapitel 1.2.2), und wie sich mit kultureller Prägung Räume bilden (Kapitel 1.2.3), um dann in Kapitel 1.3 Thesen und Fragestellungen einzuführen. 1.2.2 Wildnis ist eine Raumauffassung Von Wildnis zu sprechen, heißt – von manchen metaphorischen Verwendungen abgesehen37 – von einer Raumauffassung zu reden. Wildnis ist etwas, das wir sinnlich außerhalb von uns wahrnehmen.38 Dies zeigt sich darin, dass wir, wie 35 Zu Wildnis aus soziologischer Perspektive vgl. unter anderem Suda & Pauli 1998; Bauer 2005; Höchtl et al. 2005a; Höchtl et al. 2005b; Kühne 2006; Schroeder 2007; Liebecke et al. 2008; Müller & Job 2009; Schell 2015. 36 Dem Thema entsprechende Einteilungen in Gesellschaftsgruppen nennen etwa Elfferding 2000: 178 f.; Höchtl et al. 2005a: 296 f.; Kropp & Krauss 2005: 10. 37 Wie die Begrifflichkeit dieser metaphorischen Verwendungen lautet, darauf gehe ich gleich noch ein. 38 Etymologisch lässt sich das offenbar in zwei Schritte differenzieren: Seit Jahrhunderten bezeichnet ›Wildnis‹ einen Raum. Diese Bedeutung leitete sich aber aus einer früheren Verwendung ab, in der das Wort ›Wildnis‹ für einen Zustand (Wildheit etc.) stand. Heute gibt es diese Zustandsbeschreibung – sekundär abgeleitet von der Raumauffassung – wieder, siehe unten. Diesen Schluss ziehe ich aus der Beobachtung von Jacob und Wilhelm Grimm, dass sich die Grundbedeutung gewandelt und Wildnis »ursprünglich nicht ausschlieszlich[sic!] eine örtlichkeit, sondern ganz allgemein

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Lexikoneinträge belegen, mit Wildnis in seiner Grundbedeutung ein »unbewohntes, unwegsames, nicht kultiviertes oder bebautes Land«39 meinen, Wildnis also »in örtlichem Sinn«40 verwenden.41 Bei Wildnis handelt es sich demnach nicht um einen theoretischen Begriff ohne Anschauung oder eine bloß eingebildete Idee der Innenwelt. Als Wildnis rezipieren wir vielmehr einen Ausschnitt der Außenwelt, und diese hat nach Immanuel Kant immer die Form von Räumlichkeit.42 Der Raum ist »die Grundform aller äußeren Empfindungen«; das heißt die ›wildheit, etwas wildes‹, sowohl zuständlich als gegenständlich« bezeichnet habe. Diese »zuständliche« Bedeutung schiene aber »nur der umgangssprache oder den mundarten angehört« zu haben, »da sie in den wörterbüchern nicht gebucht sind und sich völlig verloren haben« (Grimm & Grimm 2007/1854-1960: Spalten 108). Auch die Autorengruppe um Götze stellt fest, dass, abweichend vom heutigen Sprachgebrauch, Wildnis früher »ganz allgemein Wildheit« »sowohl zuständlich als [auch] gegenständlich« bezeichnete und man daher beispielsweise von »Wildnis der Sitten« sprechen konnte (Götze et al. 1957: 165). 39 Eickhoff 2002: 1050; vgl. Knapp 2000: 12. – Dies entspricht der Angabe sowohl im Grimm’schen als auch in Trübners Wörterbuch: »unbewohnte, unwegsame Gegend« (Grimm & Grimm 2007/1854-1960: Spalten 108; Götze et al. 1957 (Band 8: 168). Auch schon Anfang des 19. Jahrhunderts ist als Hauptbedeutung von Wildnis »wilde, ungebauete und unbewohnte Gegend, besonders eine solche waldige Gegend« (Adelung et al. 1811, Band 4: 1547) verzeichnet. 40 Götze et al. 1957: 165. 41 In der umfassenden kulturwissenschaftlichen Analyse von Matthias Stremlow und Christian Sidler zeigt sich, dass mit Wildnis in einigen der unterschiedlichen Deutungen ein Raum gemeint ist: Wildnis ist ein »ausgedehntes, unwegsames und unbesiedeltes Gebiet« (Stremlow & Sidler 2002: 87), ein »grosses«, »schwer zugängliches« und seit längerer Zeit »nicht betretenes« und damit wohl auch »nicht bewirtschaftetes« Waldgebiet (Stremlow & Sidler 2002: 70), ein Gebiet (anscheinend) ohne »kultivierende Leistung einer ortsansässigen Gemeinschaft oder Gesellschaft« und damit sowohl Kontrastraum zu urbanen als auch zu ländlichen, besiedelten Gebieten (Stremlow & Sidler 2002: 88). Thomas Kirchhoff und Ludwig Trepl beschreiben Wildnis als »eine Gegend« mit bestimmten moralischen Funktionen (Kirchhoff & Trepl 2009: 22). Der Kulturtheoretiker Hartmut Böhme charakterisiert den Kontrast Wildnis zu Kultur räumlich als Gegensatz von »›unständigem, wildem Raum‹ (Unraum)« zu kultiviertem, entwildertem »›verständigem Raum‹« (Böhme 1996: 53 f.). 42 Ich verwende hier »Räumlichkeit«, denn da es nicht um »einen näher qualifizierten, etwa dreidimensionalen Euklidischen Raum geht, hätte Kant statt von Raum besser von Raum überhaupt oder von Räumlichkeit gesprochen« (Höffe 2004: 87). Als zweite Form der Anschauung neben der Räumlichkeit nennt Kant die Zeitlichkeit.

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»Möglichkeit äußerer Wahrnehmung, als solcher, setzt mithin den Begriff des Raumes voraus«.43 Dabei ist Raum »nicht ein[...] vorgegebene[r] Ordnungshintergrund, sondern […] eine Ordnung, die […] der (rezeptiv) Anschauende mitbringt«44. Diese bringe der Anschauende nicht nur bei manchen, sondern immer, bei jeder sinnlichen Anschauung mit, denn von den reinen Anschauungsformen (»das bloße Außer-mir und Außer-einander sowie das pure Nach-einander und Zu-gleich«45) lasse sich, so Kant, nicht mehr abstrahieren: »Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei«46.

Wenn darüber hinaus von Wildnis als einem Zustand gesprochen wird (etwa ›innere Wildnis‹ oder ›Großstädte sind die Wildnis unserer Zeit‹) dann wird der Zustand doch entweder direkt auf einen Ort (einen Ausschnitt der Außenwelt) bezogen oder ist bildlich (metaphorisch) als Raum gemeint. Der Begriff ›Wildnis‹ wird auch im Zusammenhang mit Eigenschaften des Seelenlebens und der Geisteswelt eines Menschen oder einer Gesellschaft benutzt.47 Dann geht es meist um die ›menschliche Triebnatur‹ als das Unkontrollierbare oder um bestimmte Menschen als Vertreter des Ungezügelten in der Gesellschaft. Auf den Zustand der Innenwelt werden metaphorisch Eigenschaften der Wildnis übertragen.48 Dieser vor allem in ethnologischer und pädagogischer Literatur, anzutreffende Wortgebrauch ist eine Ableitung vom Standardgebrauch, der räumlich ist und etwas in der Außenwelt beschreibt.

43 Kant 1770/2006: 76. – Genauer führt Kant aus: »Der Raum ist nicht etwas Objektives und Reales, weder eine Substanz, noch eine Akzidenz, noch ein Verhältnis; sondern ein subjektives, ideales, aus der Natur der Erkenntniskraft nach einem festen Gesetz hervorgehendes Schema gleichsam, schlechthin alles äußerlich Empfundene einander beizuordnen« (ebd.: 78, Hervorh. i. O.). 44 Höffe 2004: 93. 45 Ebd. 46 Kant 1787/1974: 72. 47 Vgl. Grober 2010: 162; Haubl 2004; Duerr 1978; Termeer 2005. 48 Ob diese Metapher durch ihren häufigen Gebrauch inzwischen stabilisiert und lexikalisiert wird, also der metaphorische Effekt sich auflöst und der Anwendungsbereich des Wortes Wildnis sich auf die Innenwelt erweitert (vgl. Kurz 1993: 19), muss hier nicht betrachtet werden, denn diese Beobachtung tut dem, dass Wildnis primär eine Raumauffassung ist, keinen Abbruch.

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1.2.3 Raumauffassungen sind kulturell geprägt Wenn man mit Kant Raum (das ist Räumlichkeit) als »Grundform aller äußeren Empfindungen«49 (als notwendige Vorbedingung aller äußeren Empfindungen) annimmt, ist Raum nicht als Substanz gedacht, sondern als Ordnung beziehungsweise Funktion, das heißt als (reine) Form der Anschauung. In diesem formalen Raum stellen sich uns Dinge dar. Wie diese Form (der transzendentale Raum an sich) inhaltlich bestimmt wird, als was uns also die räumlichen Dinge erscheinen und wie wir ihre Ordnung näher qualifizieren, das heißt, in welcher Form sich uns der konkrete (›wirkliche‹) Raum bildet, ist damit noch nicht gesagt. Wir erkennen einen Raum in seinen drei geometrischen Dimensionen (Länge, Breite, Höhe) oder wir erleben ihn als weit, als verzaubert oder als erschreckend etc. So gesehen gibt es offensichtlich nicht einen objektiven Raum, sondern ein und derselbe alltagssprachlich sogenannte ›wirkliche Raum‹ erscheint uns je nach Kontext unterschiedlich. Dabei ist die ›objektive‹, Messbarkeit implizierende Raumauffassung den subjektiven Lebens- und Erlebnisräumen nicht übergeordnet, sondern eine Deutung unter mehreren, die einen ›Raum‹ (nicht Kants Raum an sich im Sinne von Räumlichkeit, sondern einen konkreten Raum) konstituiert, in der allerdings beispielsweise ›verzaubert‹ nicht als Zuschreibung vorkommen kann.50 Wir sehen also »nicht einfach etwas […], quasi rein und an sich, sondern […] etwas immer als etwas Bestimmtes«51; wir ordnen bei der Wahrnehmung die Dinge schon untrennbar nach einem bestimmten Sinn. Diese Sinnzuweisung kann, wie sich empirisch beobachten lässt, vielfältig unterschiedlich ausfallen (dreidimensional messbarer, verzauberter, erschreckender Raum etc.). Der Kulturphilosoph Jörn Bohr, der in seiner Dissertation 2008 eine allgemeine kulturalistische Wahrnehmungstheorie aus Ernst Cassirers Raumtheorie ableitet,52 belegt die »Pluralität der Sinnzuweisungen« anschaulich im Umkehrschluss: Die »Existenz von lediglich einer Sinnordnung der Welt anzunehmen« wäre danach gleichbedeutend »mit einem als Substanz gedachten Raum«.53 Wir interpretieren also nicht etwa den beziehungsweise einen Raum in verschiedenen Varianten, vergegenwärtigen uns jeweils bestimmte Eigenschaf49 Kant 1770/2006: 76. 50 Bohr fasst dies so zusammen: »Jener Begriff Raum, den wir gegebenenfalls zu explizieren vermögen als ausgedehnt oder dreidimensional, ist nicht derjenige Modus, unter dem wir das Räumliche tatsächlich erleben« (Bohr 2008: 16). 51 Bohr 2009: 98, Hervorh. i. O.; vgl. Köhnke 2001: 28. 52 Bohr 2008. 53 Bohr 2009: 88.

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ten des je selben Raumes, sondern bilden je nach Sinnkontext einen anderen Raum, der erst in der Interpretation existiert. Umgekehrt ist eine bestimmte Raumauffassung (etwa ein Regionenname, wie Mitteldeutschland) nicht allgemeingültig einem empirisch festgelegten Territorium (einem eindeutig abgegrenzten Raum der Kartografie) zugeordnet, sondern ist je nach Sinnkontext unterschiedlich und darüber hinaus veränderlich. 54 Wenn wir trotzdem von ›dem Raum‹ als einer ›wirklichen‹ und eindeutigen ›Substanz‹ sprechen, ist das unserem Alltagssprechen geschuldet, das zu pragmatischen Zusammenfassungen neigt, dabei aber immer hochgradig für Aneinander-vorbei-Reden und Missverständnisse anfällig ist. Wildnis also ist eine Raumauffassung. Das heißt, Wildnis ist nicht ein realtopografischer Naturausschnitt, sondern eine symbolische Vorstellung, eine kulturelle Idee, die auf einen Ausschnitt der Außenwelt bezogen wird. Allerdings ist dieses ›Beziehen‹ zugleich untrennbar mit der Anschauung verbunden; erst die Vorstellung des Anschauenden konstituiert den Raum (den Naturausschnitt) für den Anschauenden, macht ihn zum Bewusstseinsinhalt. Man kann daher auch umgekehrt sagen: Wildnis ist ein topografischer Naturausschnitt, sofern er als Träger jener symbolischen Vorstellung aufgefasst wird.55 Wie Wildnis gleichzeitig eine nicht-anschauliche Idee und ein Gegenstand der Anschauung sein kann, ist damit noch nicht hinreichend geklärt, doch dies wird in dieser Arbeit mit der Raumtheorie Ernst Cassirers näher ergründet werden. Gegenüber solchen konstruktivistischen Ansätzen, die Raum als in der Auffassung existierend annehmen, besteht der ›klassische‹ Einwand, dass es dennoch objektive empirische Raumeigenschaften gäbe, von denen eine Auffassung dieses Ausschnitts der Außenwelt nicht beliebig abweichen könne; beispielsweise ist der Bayerischer Wald ein Wald und nicht ein Meer. 56 Diesem sind zwei Punkte entgegenzusetzen: (1) Sowohl der Begriff ›Raum‹ als auch die unterschiedlichen Raumauffassungen sind im oben eingeführten Sinn rein formale Kategorien (Grundform beziehungsweise kulturell ausdifferenzierte Sinnsyste54 Beispielsweise wird physisch-geografisch der Raum des gesamten Mittelgebirges zwischen Moldaustausee und Fichtelgebirge als »Böhmerwald« bezeichnet (vgl. Michler 1977: 115, 198), politisch dagegen bezeichnet »Böhmerwald« ab 1945 der Tendenz nach nur noch den Teil der Region auf damals tschechoslowakischem (heute tschechischem) Staatsgebiet (vgl. Stallhofer 2000: 13; vgl. Müller 2011: 4). (Vgl. auch Köhnke 2001: 25, 28) 55 Simon Schama beschreibt in seiner berühmt gewordenen kunsthistorischen Abhandlung »Landscape and memory« die Rede von der Wildnis als »eine Art des Sehens« (Schama 1996: 23). 56 Vgl. beispielsweise Großheim 1999: 348 ff., 359.

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me), keine substanziellen. Es wird in diesem Ansatz nicht die Frage nach Tatsachen gestellt, nach der physischen Realität, sondern danach, unter welchen Voraussetzungen ›Tatsachen‹ entstehen, unter welchen Sinnbezügen uns etwas überhaupt (beziehungsweise als beachtenswert) erscheint. 57 Bei dieser Art von ›Tatsachenentstehung‹ ist insbesondere auch zweitrangig, ob es den konstituierten Ausschnitt der Außenwelt real-topografisch gibt oder ob er nur, beispielsweise in einem Märchen oder Roman, imaginiert wird. (2) Auch, wenn man sich nach empirischer Nachprüfung auf die physische Realität einer Raumeigenschaft verständigt (beispielsweise, dass es sich beim Bayerischen Wald um eine mit Bäumen bestockte Fläche, nicht um eine riesige Wasserfläche handelt), 58 ist diese empirische Eigenschaft möglicherweise nicht in allen, sondern nur in manchen Sinnzusammenhängen relevant. Als Handlungsraum oder symbolischer Raum aufgefasst, treten viele Facetten der physischen Realität einer Gegend womöglich in den Hintergrund. Beispielsweise können ästhetisch aufgefasst der Wald wie das Meer große homogene Flächen mit Wellenstruktur sein. So beschreibt der Schriftsteller Adalbert Stifter den Bayerwald in der Erzählung ›Aus dem baierischen Walde‹ als »Waldwogen«59. Der Wald ist in dieser Auffassung ein Meer. Die physische Realität einer Gegend – die gleichförmigen Waldformationen – ist also wichtig für den Anlass der Deutung, nicht aber für Ihren Inhalt – hier als Meer. Wenn es nicht den Raum gibt,60 können dann nur beliebig viele individuelle Raumkonzeptionen bestehen? – Auch wenn wir als Anschauende die Sinnord57 Vgl. Daniel 2006: 385; Bohr 2008: 129. – Auf ein praktisches Beispiel heruntergebrochen bedeutet das: »Tourismusräume existieren nicht per se. Durch individuelle und kollektive Bedeutungszuschreibungen werden physisch-materielle Umwelten ebenso wie menschliche Artefakte erst zu Tourismusräumen gemacht.« (Wöhler et al. 2010: 11; vgl. Köstlin 1984: 9) 58 Bernhard Jahn beschreibt anschaulich die physische Realität in ihrem Verhältnis zum von kulturellen Deutungen geprägten subjektiven Erlebnis wie folgt: »Das wahrnehmende Subjekt strukturiert den Raum, aber die Umwelt […] korrigiert die Strukturierung bis zu einem gewissen Grad: Wer eine Brücke sieht, wo keine ist, wird bei dem Versuch, sie zu benutzten, ins Wasser fallen« (Jahn 1993: 17). 59 Stifter 1867/2005: 33; vgl. Abbildung 10. 60 Diese Behauptung mag falsch anmuten, wenn man einen physikalischen Raum annimmt, der uns allen gleich erscheint. Wie es dennoch gemeint sein kann, dass es keinen objektiven Raum gibt, sondern dass nur von Aussagen mit dem Anspruch auf Objektivität auszugehen ist, und welchen Erkenntniswert diese Annahme hat, werde ich in Kapitel 2 mit dem symbolischen Idealismus Cassirers, der grundlegend von Folgendem ausgeht, klären: »Wirklichkeit ist nicht etwa eine feste Größe, sondern Teil

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nung bei jeder Raumwahrnehmung mitbringen, so ist die Raumauffassung, wie Jörn Bohr entschieden herausstellt, doch »nicht unsere jeweils subjektiv-individuelle, unsere persönliche Auffassung, sondern diese besteht jeweils nur in Partizipation an vorgeformten Verständnisweisen«61. Wir teilen ganz offensichtlich jene kulturellen Kontexte, die das Wahrnehmungserlebnis bedingen, mit anderen Menschen, sonst bestünde nicht die Möglichkeit, mit anderen über diese Auffassungen in Austausch zu treten. Dabei können »Angehörige derselben Kultur […] unterschiedliche Präferenzen ihrer spezifischen Art von Weltwahrnehmung und Weltinterpretation zeigen«62, man kann beispielsweise Raum als mythisch bedrohlich oder als ästhetisch schön auffassen. Wenn jemand unübliche – zumindest in seinem heutigen kulturellen Umfeld unübliche – Ansichten über Raum vertritt, ist das für seine Mitmenschen zunächst unverständlich, vielleicht kurios oder gar pathologisch, und kann deshalb möglicherweise nicht als Raumauffassung verhandelt werden. Allerdings können sich die Deutungsgepflogenheiten einer Kultur wandeln und zunächst abwegige Auffassungen in das allgemeine kulturelle Verständnis aufgenommen werden, oder aber sie bleiben stets vereinzelt und fremd und werden letztlich vergessen. 63 Dabei ist für das ›Sehen des Neuen‹ nicht ein von jeder kulturellen Prägung freies Individuum erforderlich, denn ein solches Individuum gibt es nicht, sondern es sind Kreuzungen verschiedener kultureller Einflüsse in einem Individuum, welche die Vorprägungen durch eine bestimmte Kultur, Weltanschauung etc. irritieren und zur Entdeckung einer neuen Perspektive führen. Die von Einzelakteuren hervorgebrachten »(neue[n]) subjektive[n] Raumdeutungen« werden in kommunikativen Prozessen in Akteursgruppen ausgehandelt.64 Der kulturelle Kontext, in den unsere Raumauffassungen eingebunden und von dem sie abhängig sind, ist also nicht allein als etwas Tradiertes zu verstehen, sondern nur in seiner bedeutungsgeschichtlichen und seiner gegenwärtigen Dimension – nicht nur, weil neue Inter-

oder Funktion eines Bezugssystems, das vom menschlichen Denken entworfen wird und als Gestaltungsmuster dient« (Graeser 1994: 80). 61 Bohr 2008: 199; vgl. Jahn 1993: 14. – Dies entspricht dem, was Goertz zur Bedeutung des geschichtlichen Bewusstseins unter Bezug auf Koselleck zusammenfasst: Der Mensch »[g]ründet sein Orientierungshandeln nicht nur auf eigene Erfahrungen, sondern auch auf den Erfahrungsschatz, der vor ihm in die Situation eingegangen ist, die ihn umfängt« (Goertz 1998: 39; vgl. Schwemmer 2005: 143). 62 Bohr 2008: 198. 63 Vgl. Kurz (1993: 20), der Ähnliches speziell für Metaphern feststellt. 64 Christmann & Mahnken 2012: 95.

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pretationen entstehen, sondern weil Tradiertes uns zwingend nur aus gegenwärtiger Perspektive, das heißt, letztlich als Gegenwärtiges, bedeutungsvoll ist.65 Meine Arbeit steht im Kontext des soeben skizzierten konstruktivistischen Raumbegriffs, in dem Raum nicht als konkret gegeben, sondern als in der Auffassung existierend angesehen wird und diese Auffassung wird als kulturell geprägt untersucht.66 Ein solcher Raumbegriff erscheint mir besonders gut geeignet, um zu erforschen, warum eine Gegend als Wildnis gilt. Auch wenn man in ›den Bayerischen Wald‹ oder ›das Val Grande‹ reisen kann, sie also physischmaterielle Gegenstände unmittelbarer Erfahrung werden können, ist es nur scheinbar möglich, diese Gegenden objektiv räumlich und inhaltlich festzulegen. Über den Bayerischen Wald oder das Val Grande wird nicht nur in Bezug auf ihre messbaren Eigenschaften wie Höhenrelief, Waldbedeckungs- oder Erschließungsgrad gedacht und geredet, sondern eben auch und vor allem ganz anders, nämlich als harmonisch geordnete Idylle oder bedrohliche Wildnis etc. Davon auszugehen, dass es den Bayerischen Wald oder das Val Grande als jeweils eindeutig bestimmten Gegenstand gibt, dem im Nachhinein unterschiedliche Interpretationen beigelegt werden, entspräche nicht der Beobachtung, dass sich je nach Kontext der Bayerische Wald beziehungsweise das Val Grande schon als unterschiedliche Wirklichkeit mit verschiedenem Sinn konstituiert. Die unterschiedlichen Auffassungen können und wollen nichts über die jeweils anderen ›Wirklichkeiten‹ aussagen, denn diese sind für sie nicht bedeutungsvoll; so kann man die Idylle des Sonnenunterganges nicht mit dem physikalischen Begriff der Lichtstärke beschreiben, das Waldesrauschen nicht mit einer Dezibelangabe oder Gottes Größe in der Schöpfung nicht durch die Zahl der Festmeter Holz eines Waldes. Diese Feststellung schließt nicht aus, dass es zwischen bestimmten Sinnordnungen Analogien geben kann und dass dabei Ähnliches (beispielsweise der dunkle Wald) in verschiedenen Sinnstrukturen Bedeutung erlagen kann – beispielsweise als unheimlicher, düsterer Ort oder konträr als Ort der harmonischen ursprünglichen Natur oder aber als Standortbedingung für die Waldbodenvegetation. Dies wird in dieser Arbeit zu zeigen sein. 65 Insbesondere Hans-Georg Gadamer zeigt, dass wir Geschichte immer nur aufgrund eines bestimmten Vorverständnisses, also bestimmter Vormeinungen und Erwartungen, verstehen können. Die »Anerkennung der wesenhaften Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens« (Gadamer 1960/1990: 274) ist wesentlich bei der Reflexion unseres Geschichtsverständnisses. 66 Eine eingehende Analyse des jüngsten Raumdiskurses liegt mit der Dissertation von Judith Miggelbrink vor (Miggelbrink 2002). Für einen aktuellen Überblick über Raumtheorien sei unter anderem auf zwei von Stephan Günzel herausgegebene Bücher (Günzel 2009; Günzel 2010) verwiesen.

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1.3 THESEN UND FRAGESTELLUNG ZUM AKTUELLEN DISKURS UM DIE NATURSCHUTZIDEE ›WILDNIS‹ – PROGRAMM DER ARBEIT Pluralität der Raumauffassung ›Wildnis‹ Man könnte zunächst den Eindruck haben, bei Wildnis handle es sich um eine kulturelle Raumauffassung: Ein Raum kann Idylle, Anbetungsraum oder Ort mit bestimmten Koordinaten etc. oder eben Wildnis sein. Dem widerspricht jedoch, dass gegenwärtig von Wildnis als »unberührter Natur«, »abgelegenes, ruhiges Gebiet« oder »Freiheit von Alltagszwängen«, aber auch als »ungezähmter Natur«, »das Andere […] [mit einem] Aspekt der Fremdheit und Bedrohlichkeit« oder »vollständiges Ökosystem« die Rede ist.67 Wildnis scheint zumindest im derzeitigen Wortgebrauch sehr Unterschiedliches, zum Teil Konträres zu bedeuten. Folgende These lege ich meinen Untersuchungen zugrunde: Wildnis ist nicht eine kulturelle Raumauffassung, sondern das Wort erlangt innerhalb mehrerer Kontexte Bedeutungen, und zwar je unterschiedliche. Die Bedeutung der Wildnisbegriffe kann jeweils nur in bestimmten Zusammenhängen, nicht allgemein verständlich werden, und ihre Bedeutungen in bestimmten Zusammenhängen sind in anderen Zusammenhängen unverständlich. Gemäß meines Erkenntnisinteresses am aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ fokussiere ich mich dabei auf die synchrone gesellschaftliche Pluralität an Wildnisbegriffen. Von den unterschiedlichen Wildnisbegriffen im Fortgang der Kulturgeschichte sind in der vorliegenden Arbeit nur die Thema, die in heutigen Wildnisbedeutungen noch unmittelbar bestehen. Im Naturschutzkontext wird mitunter befürchtet, dass, wenn man sich nicht auf eine eindeutige »naturwissenschaftliche« Definition von »Wildnis« verständige, es »nur noch individuelle Begriffsbestimmungen« gäbe.68 Diesen diffusen Bedenken stelle ich eine Analyse entgegen, die von einer kulturell-gesellschaftlich geteilten Pluralität an Wildnisauffassungen ausgeht. Gerade ›Wildnis‹ scheint in unserer Kulturtradition zu den Begriffen zu gehören, die nicht in engen, einheitlichen Bedeutungen verwendet werden, sondern die ein sehr breites

67 Alle diese Nennungen sind Zitate aus Antworten sehr unterschiedlicher Personen, die sich beruflich oder in der Freizeit mit dem Thema Wildnis auseinandersetzen, auf die Frage ›Was ist für Sie Wildnis?‹, die in einer Befragung der Alpenschutzbewegung ›Mountain Wilderness Schweiz‹ gestellt worden ist. Die Antworten sind veröffentlicht in Flüeler et al. (2004: 117, 230, 205, 190, 160, 104). 68 Bauer 2005: 16; vgl. Scherzinger 2012: 10.

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Bedeutungsspektrum umfassen – zum einen sind sie in unterschiedlichen Kontexten bedeutsam, zum anderen zeigen sie innerhalb eines Kontextes vielerlei Facetten. In der oben genannten Theorie des Raumes als kulturelle Sinnordnung ist der Unterschied zwischen Begriffen mit unterschiedlich breitem Bedeutungsspektrum ein gradueller und kein kategorialer, 69 denn jede Wahrnehmung – auch die eines Stuhls als Sitzmöbel (was naheliegend und wenig umstritten sein dürfte) – ist prinzipiell eine Deutung unter mehreren; ein Stuhl kann beispielsweise in einem anderen Zusammenhang in seiner speziellen Anordnung im Raum ein Machtverhältnis ausdrücken (zentrale und erhöhte Position eines Throns etc.). Der Reichtum an Bedeutungen mag ein Grund dafür sein, dass es oft sehr lebendige und facettenreiche Unterhaltungen über Wildnis gibt, in denen sich mitunter fundamental unterschiedliche Auffassungen von ›Wildnis‹ begegnen. Eine ordnende Begriffsklärung für ›Wildnis‹ im aktuellen Diskurs, wie sie in dieser Arbeit geleistet werden soll, verspricht also ein ergiebiges und erkenntnisreiches Vorhaben zu sein – und ein notwendiges, wenn man die Öffentlichkeit betreffende konkrete Handlungen unter der Idee Wildnis konzipieren will, wie es beispielsweise in der Praxis von Landschaftsplanung und Naturschutz geschieht. Mit dieser Klärung ist kein Versuch einer Umänderung des Sprachgebrauchs verbunden, denn dies würde das Problem nicht lösen, sondern die in unserer Kultur offensichtlich nun einmal bestehenden vielfältigen Sinngebungen erneut verdecken. Angestrebt wird hingegen eine systematische Strukturierung des vorhandenen Bedeutungsspektrums in seiner vollen Breite, die der reflektierten Verständigung dient. Drei grundlegend verschiedene Begriffe von Wildnis mit Cassirers Raumtheorie Aus der grundlegende These einer Pluralität an Wildnisauffassungen ergeben sich folgende Fragen, die für meine Studie leitend sind: Welche Vorstellungen prägen den aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹? Im Kontext welcher gesellschaftlich-kulturellen Deutungsmuster, also Ideen, Bedeutungen und Sinngebungen, stehen diese Vorstellungen jeweils, beziehungsweise auf welche dieser Deutungsmuster wird in typischen Aussagen explizit Bezug genommen? Zur Beantwortung dieser Fragen nehme ich zwei sich ergänzende Analyseperspektiven ein: Zum einen ordne ich das empirische Material an Texten und Bildern zum aktuellen Diskurs um die heutige Naturschutzidee ›Wildnis‹, indem ich die immanenten, typischen Bedeutungen und Sinnbezüge von Wildnis extrahiere. Zum anderen leite ich von der Raumtheorie des Kulturphilosophen Ernst 69 Vgl. Daniel 2006: 37.

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Cassirer unterschiedliche Auffassungen von Raum als Wildnis ab. Die bewusste Verschränkung beider Perspektiven dient dem Ziel, typische Diskursstränge mit fundamental unterschiedlichen Vorstellungen von Wildnis herauszuarbeiten und ihre kulturellen Kontexte verständlich zu machen. Cassirers Raumtheorie liefert dabei die nötige Klarheit für die Abgrenzung der Wildnisbegriffe und macht den allgemeinen kulturellen Kontext verständlich, und die Analyse des empirischen Materials zeigt dem gegenüber, welche Wildnisbegriffe heute tatsächlich vorkommen und in welche kulturellen Zusammenhänge sie eingebettet sind. Ergebnis sind idealtypisch zugespitzte Auffassungen von Raum als Wildnis, die nicht jeweils das Wildnisverständnis einzelner realer Personen abbilden, sondern in ihrer Gesamtschau die Pluralität des aktuellen Diskurses wiedergeben, in dem sich reale Argumentationen im Wesentlichen bewegen. Nach einer ersten Ordnung des empirischen Materials zeichnen sich als vorläufige Arbeitsthese drei zentrale Wildnisvorstellungen ab: ›unbekannte Wildnis‹ als das nicht genauer bestimmbare Draußen, ›bestimmte Wildnis‹ als individuell wahrgenommene wilde Landschaft und ›Ökosystem-Wildnis‹ als naturkundlich begriffene Einheit von Lebensgemeinschaften und ihrer Umwelt, die als sich dynamisch veränderndes Funktionssystem betrachtet wird. Bei der Analyse, nach welchen kulturellen Sinnsystemen Wildnis im aktuellen Diskurs um diese Naturschutzidee begriffen wird, folge ich, wie angedeutet, vor allem der Raumtheorie Ernst Cassirers. In seinem Hauptwerk ›Philosophie der symbolischen Formen‹, veröffentlicht in den 1920er Jahren, befasst Cassirer sich vor allem mit dem systematischen Stellenwert der (gesellschaftlichen) Bedeutungen beim Begreifen von Phänomenen als Gegenstände (wie beispielsweise Räume).70 In einer »kritischen Kulturphilosophie«71 stellt er die Frage nach der Kultur des Menschen als Frage nach der funktionellen Einheit des Bewusstseins und des Handelns. Wie wenige andere geht Cassirer explizit und umfassend auf die Verschiedenartigkeit unserer kulturbezogenen Raumvorstellungen ein. Daher verspricht sein Ansatz, zur Analyse grundlegend verschiedener Begriffe von Wildnis, die Raumvorstellungen prägen, geeignet zu sein. Auf der Grundlage von Cassirers Raumtheorie wird es möglich, nicht nur eine Pluralität an Wildnisbedeutungen (das ›Was-gedacht-wird‹) festzustellen, sondern Deutungskontexte der Diskursstränge, also die jeweiligen Bedingungen der Möglichkeiten der Raumauffassungen, zu rekonstruieren und damit zu verstehen, wie 70 Das Werk ›Philosophie der symbolischen Formen‹ veröffentlichte Cassirer in drei Bänden: Cassirer (1923), Cassirer (1925) und Cassirer (1929). In danach folgenden Aufsätzen arbeitete er bestimmte Aspekte weiter aus, das Thema Raum betreffen vor allem Cassirer (1930/1985b) und Cassirer (1944/2007). 71 Cassirer 1913-1939/1993: 260.

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gedacht wird. Cassirers wesentliche Auffassungen in diesem Zusammenhang sind der »mythische Raum«, der »ästhetische Raum« und der »theoretische Raum«.72 Mit diesen drei Cassirer’schen Raumauffassungen operationalisiere ich die Arbeitsthese: ›Unbekannte Wildnis‹ als das nicht genauer bestimmbare Draußen ist eine ›mythische Raumauffassung‹ im Sinne Cassirers. ›Bestimmte Wildnis‹ als individuell wahrgenommene wilde Landschaft ist eine ›ästhetische Raumauffassung‹ im Sinne Cassirers und ›Ökosystem-Wildnis‹ als naturkundlich begriffene Einheit von Lebensgemeinschaften und ihrer Umwelt, die als sich dynamisch veränderndes Funktionssystem betrachtet wird, ist eine alltagsweltliche Verknüpfung ›theoretischer‹ Auffassungen mit anderen Bedeutungen, insbesondere ›mythischen‹ oder ›ästhetischen‹. Die drei Begriffe stelle ich mit dem Anspruch einer Differenzierung von Wildnis auf, denn sie scheinen mir besonders dafür geeignet, die aktuellen Diskussionen (insbesondere die Missverständnisse in den Diskussionen) um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ verständlich zu machen. Eingrenzung der Fragestellung Bei der Frage nach Vorstellungen, die den aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ prägen, tut sich ein schier unüberschaubares Feld mehr oder weniger bedeutsamer Einflüsse und Strömungen mit regionalen oder globalen kulturellen Bezügen auf. Doch alle gesellschaftlichen Ideen, die im aktuellen Wildnisdiskurs eine Rolle spielen oder spielen könnten, vollständig zu analysieren, kann nicht Ziel der vorliegenden Arbeit sein. Deshalb grenze ich die Fragestellung aus forschungspraktischen Gründen zweifach ein: hinsichtlich der Perspektive der Bedeutungszuschreibung und hinsichtlich des Kulturraumes der Rezeption. Bei der Analyse, welche Bedeutungen Gegenden wie dem Val Grande, dem Harz oder dem Bayerischen Wald zugeschrieben werden, beschränke ich mich auf die Sicht von außen. Bei dieser Einschränkung auf das Fremdbild gehe ich von der These aus,73 dass es die Fremdbilder sind, die, direkt oder indirekt (vor allem bezogen auf die Nationalparke) wesentliche handlungsleitende Entscheidungen prägen. Was das Val Grande, der Harz oder der Bayerische Wald etc. für seine Bewohner ist, wird also nur dann Gegenstand der Untersuchung, wenn es zum Thema eines größeren gesellschaftlichen Diskurses geworden ist. Eingegrenzt werden des Weiteren die zu untersuchenden gesellschaftlichen Auffassungen von Wildnis auf die mitteleuropäische kulturelle Perspektive. Dies geschieht nicht in normativer Absicht, sondern zum einen, um den Umfang des 72 Cassirer 1930/1985b. 73 Ich folge damit Stremlow (1998: 10).

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zu analysierenden Materials zu begrenzen; zum anderen ist diese kulturelle Perspektive nur mehr oder weniger homogen und keineswegs genau definierbar. Doch die in ihr enthaltenen Vorstellungen von Wildnis unterscheiden sich deutlich – und das begründet die Eingrenzung vor allem – in wesentlichen Punkten von einer anderen im Naturschutz heute weltweit wichtig gewordenen Wildnisidee, nämlich der US-amerikanischen. Die US-amerikanischen Bedeutungen von ›Wilderness‹, ihre Transformationen im internationalen Kontext und ihr Einfluss auf den mitteleuropäischen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ sind bereits von unterschiedlichen Autoren dargestellt worden. 74 Ich werde in meiner Arbeit an einigen Stellen auf diese Zusammenhänge hinweisen.

1.4 ANALYSE DES DISKURSES ANHAND SCHRIFTLICHEN MATERIALS – METHODE UND QUELLENMATERIAL 1.4.1 Zur Methode Hermeneutisches Vorgehen Die Absicht, den Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ systematisch verstehen und ordnen zu wollen, lässt sich methodisch durch ein hermeneutisches Vorgehen realisieren. Es geht bei diesem Verstehen im Rahmen der vorliegenden Arbeit darum, Bedeutungen aus dem empirischen Material zu rekonstruieren und dabei fundamental unterschiedliche Wildnisbegriffe zu extrahieren. Ziel dabei ist es nicht, »einem vorliegenden Aussageereignis genau eine ›wahre‹, ›absolute‹ bzw. ›objektive‹ Bedeutung zuzurechnen«75. Entscheidend am hermeneutischen Ansatz ist vielmehr, dass das qualitative Forschen kontrolliert nachvoll-

74 Zur US-amerikanischen Kulturgeschichte der ›Wilderness‹-Ideen sei auf Trommer (1999), Nash (2001), Lewis (2007), Haß (2009), Maninger (2009), Haß (2010), Kathke (2010), Piechocki (2010: 163 ff.) und Trommer (2012: 110 ff.) verwiesen, die zum Teil auch die Unterschiede zur europäischen Tradition herausstellen. Diskrepanzen zwischen US-amerikanischer und europäischer Wildnisdebatte diskutiert beispielsweise die Landschaftsforscherin Vera Vicenzotti im Kontext der heutigen Internationalisierung von IUCN-Naturschutzkategorien (Vicenzotti 2011b). Die Gemeinsamkeiten, Verbindungen und Unterschiede der US-amerikanischen und speziell der Schweizerischen Nationalparkbewegung seit dem frühen 20. Jahrhundert hat der Sozial- und Umwelthistoriker Patrick Kupper untersucht (Kupper 2012; Kupper 2014). 75 Keller 2011: 76.

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ziehbar gemacht wird durch Diskussion der Verstehens- und Deutungsprozesse und durch Reflexion der Position des Interpreten. 76 Darin unterscheidet das wissenschaftliche Verstehen sich wesentlich vom naiven Alltagsverstehen. Um den Wildnisdiskurs zu entwirren, analysiere ich unterschiedliche, aktuelle gesellschaftlich-kulturelle Auffassungen von Raum als Wildnis, die dabei relevanten kulturellen Ideen sowie die dabei relevanten konkreten Naturausschnitte. Bei dieser hermeneutischen Auslegungsarbeit soll nicht »etwas in Dokumente« oder in die Beschreibung von Gegenständen, »›hinein‹ oder aus ihnen ›heraus‹« gelesen werden.77 Vielmehr entwickle und verdichte ich mithilfe der symbolischen Raumformen Cassirers Lesarten von Wildnis, »die so konfiguriert sind, dass sie weder völlig beliebig erscheinen können, noch beanspruchen, eine einzige und objektive Wahrheit« zu formulieren.78 Diskursanalytische Forschungsperspektive mit Cassirers Raumtheorie Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist nicht primär Wildnis als empirisch-physisches Phänomen, sondern der Inhalt der Diskussionen über Wildnis im Naturschutzkontext und speziell die gemeinsamen oder divergierenden Sinngehalte und Bedeutungskontexte der Aussagen sowie ihr Beitrag zur Gegenstandskonstitution. Der Analyseansatz lässt sich als diskursanalytische Forschungsperspektive beschreiben, wie folgende vier Punkte zeigen: Zum einen sind Diskurse im Sinne von Michel Foucault als »Praktiken« aufzufassen, »die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«, also konstruktivistisch und nicht als Gesamtheiten von Wörtern, die Dinge bezeichnen.79 Bei einem diskursanalytischen Zugriff steht zum anderen – im Gegensatz zur ›klassischen‹ Inhaltsanalyse – weniger die Tatsache, dass von Wildnis gesprochen wird, im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses als vielmehr wie und in welchem Kontext.80 Des Weite76 Keller 2005: 59; Keller 2015: 180. – »Die hermeneutische Methode ist diejenige Methode, die die Prozesse des Verstehens bzw. der Verständigung operationalisiert. […] Hermeneutik interpretiert Verständigung (oder deren Verzerrungen) und wird in allen theoretischen Aktivitäten relevant, die in letzter Instanz auf Handlungspraxis abzielen. Sie entstammt einem ›praktischen Interesse‹ (Habermas) und zugleich dem Interesse an vernünftig durchschaubaren Sinnzusammenhängen« (Eisel 2001: 39). 77 Keller 2015: 174. 78 Ebd.: 174 f. 79 Foucault 1973/1981: 74. – »In und vermittels von Diskursen wird von gesellschaftlichen Akteuren im Sprach- bzw. Symbolgebrauch die soziokulturelle Bedeutung und Faktizität physikalischer und sozialer Realitäten konstituiert« (Keller 2012: 27). 80 Vgl. Ude-Koeller 2004: 28 f.

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ren ziele ich – was ebenso ein diskursanalytisches Merkmal ist – mit Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ auf gesellschaftlich geteilte Wildnisvorstellungen ab. Ich analysiere also nicht die Sinnstruktur einzelner Aussagen, sondern mache »Gesamtaussagen über ›den Diskurs‹«81, der sowohl aus Alltagswissen, als auch aus Wissen bestehen kann, welches durch die Wissenschaften produziert wird.82 Nicht zuletzt lässt sich mit einer diskursanalytischen Forschungsperspektive besonders darauf eingehen, »dass die Bestimmung von Problemen und Lösungen in vielfach verflochtenen und verschachtelten gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen stattfindet, deren Ergebnisse oder Effekte selten von einzelnen Beteiligten kontrolliert werden«83. Da die Probleme und Lösungen – wie ich zumindest für den Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ vermute – auch selten von allen Diskursteilnehmern vollständig verstanden werden, gilt es in Forschungsarbeiten wie der vorliegenden den Diskurs zu ordnen beziehungsweise die symbolischen Ordnungen im Diskurs aufzudecken. Diesem Vorgehen liegt ein analytisch-konstruktiver Diskursbegriff zugrunde: Soziokulturelle Phänomene werden für Forschungszwecke gemäß des jeweiligen spezifischen Erkenntnisinteresses zu einem Diskurs zusammengefasst, und seine Grundlinien werden systematisch rekonstruiert. 84 In dieser Weise thematisieren in letzter Zeit Kulturwissenschaftler, Soziologen und Historiker ›Diskurs‹ – insbesondere Siegfried Jäger, Achim Landwehr, Jürgen Link und Reiner Keller85 – und rekurrieren dabei auf den von Michel Foucault in ›Die Ordnung der Dinge‹86 und ›Archäologie des Wissens‹87 entwickelten Ansatz. Die vorliegende Arbeit möchte vor allem verschiedene Diskursstränge aufspüren und die darin 81 Keller 2006: 141. 82 Jäger 2006: 83. 83 Keller & Poferl 2011: 205. – »Der Diskurs ist überindividuell. Alle Menschen stricken zwar am Diskurs mit, aber kein einzelner und keine einzelne Gruppe bestimmt den Diskurs oder hat genau das gewollt, was letztlich dabei herauskommt« (Jäger 2006: 88). 84 Keller 2006: 129; vgl. Miggelbrink 2002: 202. – Dieser analytische Diskursbegriff unterscheidet sich wesentlich von dem von Jürgen Habermas, der mit »praktischem Diskurs« unter philosophisch-normativer Zielsetzung einen Austausch von Gründen und Argumenten zwischen Mitgliedern eines Kollektivs meint, die alle »möglichst zu der Einsicht führen«, dass eine »vorgeschlagene Norm für alle gleichermaßen gut ist« (Landwehr 2008: 64 f.). 85 Siehe unter anderem Jäger 2004; Jäger 2006; Link 2006; Landwehr 2008; Keller et al. 2010; Keller 2011; Keller 2015. 86 Foucault 1971/1974. 87 Foucault 1973/1981.

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enthaltenen inhaltlichen Strukturierungen der Bedeutungen und Argumentationslogiken transparent machen.88 Dazu dienen zum einen Cassirers Raumformentheorie und zum anderen Zitate aus der aktuellen gesellschaftlichen Praxis. Die Diskursstränge bezüglich ihrer Zuordnung zu unterschiedlichen Akteuren zu untersuchen89 sowie die anschließende empirische Frage, welcher Diskursstrang auf gesellschaftliche Vorstellungen und gesellschaftliches Handeln welche Macht ausübt,90 sei weiterführenden Untersuchungen überlassen. Mit diesem methodischen Zugriff schließe ich Cassirers kulturphilosophische Theorie der symbolischen Raumauffassungen an die diskursanalytische Forschungsperspektive an, die, wie oben angedeutet, in jüngster Zeit exploriert und weiterentwickelt wird. Parallelen zu Cassirers zentraler Erklärung der individuellen Wirklichkeitskonstitution durch symbolische Sinnordnungen, die gesellschaftlich-kulturell geprägt sind, sind auch in heutigen diskursanalytischen Ansätzen enthalten. Zwar werden, soweit ersichtlich,91 in keinem dieser Ansätze explizit Cassirers Begriff der ›symbolischen Formen‹ und die damit zusammenhängende Theorie verwendet, jedoch wird im Grundansatz ebenso das individuelle »Deutungs- und Handlungswissen« als »Teil gesellschaftlich hergestellter, 88 Dies ist ein ähnlicher methodischer Ansatz, wie ihn die Landschaftsforscherin Vera Vicenzotti in ihrer Arbeit zum ›Zwischenstadt‹-Diskurs verfolgt (Vicenzotti 2011a). 89 Die »Institutionen, Organisationen bzw. kollektiven Akteure[...]«, die zu den jeweiligen praktischen Prozessen der sozialen »Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinn-, d. h. Deutungs- und Handlungsstrukturen« beitragen, nimmt besonders der Soziologe Reiner Keller in seiner ›Wissenssoziologischen Diskursanalyse‹ in den Fokus (Keller 2012: 27). Zum Themenfeld ›Landschaft‹ nahmen beispielsweise kürzlich Hokema (2013) sowie Schwarzer (2014) Diskursanalysen vor, in denen sie auch die unterschiedlichen sozialen Akteure, ihre handlungsleitenden Beiträge und ihre Kommunikation in den diskursiven Praktiken beleuchten. 90 Der Effekt, dass Diskurse gesellschaftliche Macht ausüben, ist in Michel Foucaults späten Werken ein wichtiges Thema (Landwehr 2008: 72; vgl. Jäger 2006: 88; Vicenzotti 2011a: 30; Keller 2012: 27). 91 Reiner Keller verweist an einer Stelle indirekt auf Cassirer, wenn er seine Wissenssoziologische Diskursanalyse an den Begriff der »verstehenden Soziologie« im Sinne von Hans-Georg Soeffner anknüpft (Keller 2005: 61 f.). »Verstehende Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft«, so Soeffner wiederum, »zielt auf das Verstehen und Erklären aller menschlichen Konstruktionen: sowohl der Produkte menschlicher Tätigkeit, der Vergesellschaftungs- und Wirtschaftsformen als auch der Weltbilder, Deutungsfiguren und Weltanschauungen. Sie geht davon aus, daß die Zeichengebundenheit menschlichen Wahrnehmens und Handelns alle gesellschaftlichen Konstruktionen in ›symbolische Formen‹ (Cassirer) faßt« (Soeffner 2003: 39).

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mehr oder weniger konflikthafter, im Fluß befindlicher symbolischer Ordnungen« beschrieben.92 Diese Erklärung der individuellen Wirklichkeitskonstitution mit kollektiv geteilten Bedeutungen kann auf Foucaults Ansatz zurückgeführt werden: Er geht davon aus, dass »Kommunikationsräume«93 bestehen, die sich formal durch Regelmäßigkeiten »bei den Objekten, den Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen«94 strukturieren. Das Fortbestehen, Transformieren oder Verschwinden dieser »Diskurse« lasse sich, wie Foucault ausführt, vor allem mit der Frage nach den »Realitätsbedingungen für Aussagen« (historisches Apriori) erforschen, nicht aber auf »Gültigkeitsbedingungen für Urteile« (formales Apriori) hin.95 Unser Wissen ist nach Foucault zurückzuführen (und hier argumentiert er wie Cassirer) »auf gesellschaftlich hergestellte symbolische Systeme«, die »überwiegend in Diskursen gesellschaftlich produziert, legitimiert, kommuniziert und transformiert« werden.96 Diskursforschung begreift »Texte, Praktiken oder Artefakte« danach als »materiale Manifestationen gesellschaftlicher Wissensordnungen« und damit als Grundlage für die »Rekonstruktion der Produktion, Stabilisierung und Veränderung kollektiver Wissensvorräte«.97 In diesem Kapitel konnte ich auf Kohärenzen zwischen der diskursanalytischen Perspektive und Cassirers Kulturphilosophie der symbolischen Formen hinweisen. Dieses lohnenswerte methodische Thema weiterführend gründlich aufzuarbeiten, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Diskussionen um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ als Diskurs mit mehreren Diskurssträngen Die Diskussionen, Debatten und Auseinandersetzungen über divergierende Vorstellungen von der Naturschutzidee ›Wildnis‹ werden im Folgenden als Diskurs begriffen. Dieser kann als unmittelbare Kommunikation über die Naturschutzidee ›Wildnis‹ geführt werden; es können aber auch Äußerungen zu Wildnis »als singuläre, in Zeit und Raum verstreute Ereignisse«98, nicht als Debatten, vorliegen. Für diese wird mit dem Diskursbegriff hypothetisch ein Zusammenhang, eine gemeinsame symbolische Ordnung, hergestellt.99 92 Keller 2006: 120, Hervorh. G. K.; vgl. Keller 2006: 121. 93 Foucault 1973/1981: 183. 94 Ebd.: 58. 95 Ebd.: 184; vgl. Kaegi 1994: 170; Keller 2011: 44. 96 Keller 2006: 115; vgl. Keller 2011: 9. 97 Keller 2012: 49, Hervorh. i. O. 98 Keller 2011: 83. 99 Ebd.

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Der aktuelle Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ wird sich als hybrider Diskurs erweisen, zu dem unterschiedliche Diskurse beitragen. 100 In diesen unterschiedlichen Diskursen werden jeweils andere symbolische Formungen von Raum als Wildnis gesellschaftlich verhandelt. Bestimmte dieser Diskurse sind teilöffentliche Spezialdiskurse (wie insbesondere der naturwissenschaftliche in Naturschutz und Landschaftsplanung), andere allgemeinöffentliche Diskurse (wie beispielsweise der ästhetische).101 Nur wenn sie zumindest teilöffentlich für die allgemeine Gesellschaft sind, sind die fachlichen Spezialdiskurse Gegenstand meiner Untersuchung. Im gesamten Wildnisdiskurs bilden diese Diskurse einzelne »Diskursstränge«102, die auf verschiedenen »diskursiven Ebenen« wie Wissenschaft, Politik, Medien, Erziehung, Alltag, Verwaltung etc. operieren. 103 Indem ich die Diskursstränge herausarbeite, erfasse ich das »Sagbarkeitsfeld« der typischen Argumente und Inhalte, die aktuell in Mitteleuropa zur Naturschutzidee ›Wildnis‹ zu lesen und zu sehen sind.104 Die einzelnen, tatsächlichen Personen bewegen sich im gesamten Diskurs oder zumindest einem größeren Teilbereich und folgen in ihren Auffassungen und Argumentationen bezüglich Wildnis nicht nur einem Diskursstrang, sondern mehreren. 1.4.2 Zum Quellenmaterial Zur systematischen Analyse typischer Wildnisauffassungen im aktuellen mitteleuropäischen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ konzentriere ich mich vor allem auf schriftliches, in der Regel deutschsprachiges Material. Die aktuellen deutschsprachigen Textzeugnisse zu Wildnis sind jedoch, selbst wenn man sie einschränkt auf den gesellschaftlichen Diskurs um diese Idee im Naturschutz, für einen Einzelnen kaum überschaubar: Es tut sich eine Vielzahl an kulturwis100 »Die Frage danach, ab wann bzw. auf welcher Ebene von einem Diskurs gesprochen werden kann, lässt sich nicht unabhängig von den jeweiligen Forschungsinteressen formulieren. […] Ausschnitte aus unterschiedlichen Diskursen [mögen] sich im konkreten Fall als Zusammenhang eines einzigen, eben hybriden Diskurses ausgeben und auch so behandelt werden« (Keller 2012: 50 f.). 101 Vgl. Keller 2006: 124. – Ich schreibe nicht von »Subdiskursen« (Keller 2005: 66; Hokema 2013: 21), weil dies eine Hierarchie suggerieren könnte, in der die Einzeldiskurse vollständig im hybriden Gesamtdiskurs enthalten wären. Ich stelle vielmehr den Wildnisdiskurs als einen dar, mit dem sich die Spezialdiskurse und sonstige Einzeldiskurse nur teilweise überlappen. 102 Jäger 2006: 98. 103 Ebd.: 101. 104 Ebd.: 103.

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senschaftlichen, soziologischen, historischen, geografischen, biologisch-ökologischen und regionalplanerischen Fachbeiträgen auf, ganz zu schweigen von Veröffentlichungen, sie sich auf die Praxisfelder Naturschutz, Landschaftsplanung oder Tourismus beziehen. Dazu kommen journalistische Artikel und Bücher sowie Schriften aus der Öffentlichkeitsarbeit von Nationalparken etc. Allein schon vor diesem Hintergrund muss die Zusammenstellung des Quellenmaterials exemplarisch sein. Systematisch ist sie dennoch, nämlich insofern, als aus den genannten aktuellen Veröffentlichungen unter dem Gesichtspunkt ausgewählt wird, eine gute Prüfung, Konkretisierung und Vervollständigung der aus der Cassirer’schen Raumtheorie abgeleiteten Wildnisbegriffe zu ermöglichen. Im Arbeitsprozess habe ich sukzessive Texte und Darstellungen hinzugezogen, bis sich die unterschiedlichen Wildnisbegriffe in den ihnen jeweils wesentlichen Aspekten als klar umgrenzt zeigten. Eine »Vollständigkeit« der Analyse von Diskurssträngen ist »erstaunlich bald« erreicht, wie Siegfried Jäger erläutert, und der »quantitative Aspekt von Diskursanalysen« ist »immer von geringerer Relevanz für die Aussagefähigkeit von Diskursanalysen als der qualitative«.105 Als Quellenmaterial dienen mir auch veröffentlichte Ergebnisse aus aktuellen Umfragen in der Bevölkerung, Interviews mit Nationalparkbesuchern und ähnliche empirische Dokumentationen von gesellschaftlichen Auffassungen zu Wildnis.106 Bei der Auswertung dieser Quellen beziehe ich über die eigentlichen Ergebnisse der Umfragen hinaus auch den jeweiligen Kontext und das jeweilige Konzept der empirischen Forschungen selbst mit ein. Bildmaterial illustriert meine Textuntersuchungen. Bei der Analyse ästhetischer Wildnisformungen gehe ich darüber hinaus – dieser Auffassungsform adäquat – auf bildliche Darstellungen näher ein und berücksichtige sie diskursanalytisch, ohne eine kunstwissenschaftliche Analyse vorzunehmen.107 Dabei dienen exemplarisch ausgewählte Bilder (Gemälde sowie Fotografien, Titelblatt- und Internetseitengestaltungen vor allem zu Nationalparken) nicht als ›Beweise‹ für den vermeintlich evidenten Wildnischarakter bestimmter Gegenden und Orte; vielmehr verstehe ich die Bilder als Interpretationen dieser Gegenden und Orte – Interpretationen durch den Maler oder den Fotografen, die Motive wählen und in gewisser Art darstellen, oder Interpretationen durch die Personen, die vorhandene Bilder oder Fotos aussuchen und in bestimmten Kontexten verwenden.

105 Ebd.: 103 f.; vgl. Hokema 2013: 29. 106 Flüeler et al. 2004, Bauer 2005; Schwab et al. 2012; Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit & Bundesamt für Naturschutz 2014 etc. 107 Vgl. Fleischmann 2004: 431 f.; Miggelbrink & Schlottmann 2009; Schlottmann 2010.

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1.5 FORSCHUNG ZU ›WILDNIS‹ UND REZEPTION VON CASSIRERS RAUMTHEORIE – STAND UND OFFENE PUNKTE Die vorliegende Arbeit steht mit verschiedenen Themenbereichen in Verbindung. Insbesondere der Stand der Forschung zu gesellschaftlichen Bedeutungen von ›Wildnis‹ ist zu berücksichtigen sowie der Stand der Rezeption und Anwendung von Cassirers Raumtheorie. Wesentliches dazu stelle ich im Folgenden dar. Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Bedeutungen von ›Wildnis‹ Grundlegende Arbeiten zu Wildnis mit dem Anspruch, keine Eingrenzung auf einen bestimmten Kulturkreis vorzunehmen, stammen von dem Ethnologen Hans Peter Duerr (1978) und dem Kunsthistoriker Simon Schama (1996). 108 In der deutschsprachigen Literatur gibt es – im Gegensatz zur englischsprachigen wie unter anderem Brumm (1980) und Nash (2001)109 – bis heute keine Überblicksdarstellung zur Idee der Wildnis. Für Wildnis an sich ist, verstärkt in letzter Zeit, in ganz unterschiedlichen Fachrichtungen Interesse zu bemerken. Die Landschaftstheoretiker Thomas Kirchhoff und Ludwig Trepl (2009) stellen in ihrer knappen, streng systematischen Darstellung den drei aus Urteilsformen entwickelten Unterscheidungen die ›Wildnis‹ als primär moralische Naturauffassung der ›Landschaft‹ als ästhetische und dem ›Ökosystem‹ als theoretische Naturauffassung gegenüber.110 Eine Typisierung von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt aus der Perspektive unterschiedlicher Weltanschauungen erarbeitet die Landschaftsforscherin Vera Vicenzotti (2011) am ›Zwischenstadt‹-Diskurs.111 Matthias Stremlow und Christian Sidler (2002) erforschen mit einem sprachwissenschaftlich und umwelthistorischen Ansatz die Idee der Wildnis kulturhistorisch relativ umfassend, beschränken ihre Untersuchung aber weitgehend auf zeitgenössische literarische und printmediale Texte der deutschsprachigen Schweiz. Sie stellen für Wildnis die Grundtypen »Wildnis als Raum des Mythischen«, »Wildnis als Raum des Schreckens und als Anti-Idylle« und »Wildnis als Raum des Idyllischen« heraus und entwickeln daraus einige Untertypen.112 Weitere gut fundierte und systematische

108 Duerr 1978; Schama 1995; Schama 1996. 109 Brumm 1980; Nash 2001. 110 Kirchhoff & Trepl 2009. 111 Vicenzotti 2011a. 112 Stremlow & Sidler 2002.

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Wildnistypologien sind unter speziellen Fragestellungen nur wenige zu finden: Die Pädagogin Birgit Planken und der Biologe Volker Schurig (2000) unterscheiden hinsichtlich der Bedeutung von Wildnis in der Freizeitkultur der Moderne »echte Wildnis«, »erlebte Wildnis« und »simulierte Wildnis«;113 der Soziologe Marcus Termeer (2005) hingegen fasst Wildnis als soziale Konstruktion auf und stellt die »weibliche Wildnis« der »männlichen Wildnis« gegenüber.114 Landschaftsplaner Markus Schwarzer (2007) beschreibt in einem phänomenologischen Ansatz Wald und Hochgebirge als Idealtypen gegenwärtiger Wildnis, während ein Autorenkollektiv um die Landschaftsplanerin Anne Haß, bei dem auch ich mitwirkte, Berge, Dschungel und Wildfluss als Typen von Wildnis analysieren (2012).115 Des Weiteren wird im Wildnisdiskurs der Landschaftsplaner und Naturschützer von ›ursprünglicher Wildnis‹ und ›Verwilderung‹, von ›innerer‹ und ›äußerer‹ Wildnis und von ›primärer‹ und ›sekundärer‹ Wildnis gesprochen; außerdem wird Wildnis sowohl positiv als auch negativ konnotiert. Derartige unterschiedliche Wildnisbedeutungen und deren Wertschätzungen haben unter anderem der Biologiedidaktiker Gerhard Trommer (1997), die Landschaftsplanerinnen Hildegard Eissing (2002), Beate Jessel (2002) und Ellen Brouns (2003) sowie die Umweltpsychologin Nicole Bauer (2005) und die Naturschutzfachleute Wolfgang Scherzinger (2012), Ulrich Stöcker und Kollegen (2014) sowie Silke Wissel (2016) beschrieben.116 Zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen aus dem Bereich Naturschutz und Landschaftsplanung thematisieren ›Wildnis‹ konkret an mitteleuropäischen Nationalparken, wie beispielsweise an dem Schweizer Nationalpark, dem Nationalpark Val Grande, dem Müritz-Nationalpark oder dem Nationalpark Bayerischer Wald.117 Dabei werden von einigen Überlegungen zu den Konflikten zwischen Bevölkerung und Nationalparkplanung um die Leitidee ›Wildnis‹ angestellt, aber es wird nicht systematisch nach den kulturellen Bedeutungen dieser Leitidee gefragt. Dass Wildnis als kultureller Gegenstand zu verstehen ist, darauf weisen einige Autoren aus einer praxisorientierten Perspektive des Naturschutzes und der Landschaftsplanung hin, unter anderem Reinhard Piechocki von der Internatio113 Planken & Schurig 2000. 114 Termeer 2005. 115 Schwarzer 2007; Haß et al. 2012. 116 Trommer 1997; Eissing 2002; Jessel 2002; Brouns 2003; Bauer 2005; Scherzinger 2012; Stöcker et al. 2014; Wissel 2016. 117 Brouns 2003; Lupp et al. 2011; Müller 2011; Schwab et al. 2012; Bauer & Wallner 2015.

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nalen Naturschutzakademie Insel Vilm (2010), die Autorengruppe um Bernhard Kohler vom Umweltverband WWF Österreich (2012), Christiane Schell vom Bundesamt für Naturschutz (2015) und Heinrich Spanier vom Umweltbundesamt (2015).118 Ansätze wie kulturelle Bedeutungen von Wildnis (vor allem ihre ästhetischen Eigenschaften) in der politischen Aufgabe, neue Wildnisgebiete auszuweisen, beachtet werden können, liefert 2015 ein Autorenkollektiv der Universitäten Kassel und Freiburg um Gert Rosenthal in einem Forschungs- und Entwicklungsvorhaben im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz.119 Das Autorenkollektiv fordert, dass die »Erlebnis- und Wahrnehmungsfunktion von Natur und Landschaft« als »Zielbereich des Aufgabenfeldes Naturschutz und Landschaftspflege« begriffen und »methodisch-begründungstheoretisch« professionalisiert werden soll.120 Dazu möchte meine Arbeit, was das Erlebnis und die Wahrnehmung von Natur und Landschaft als Wildnis angeht, einen Beitrag leisten. Den Begriff ›Wildnis‹ zu fassen, wird im Kontext von Naturschutz und Landschaftsplanung immer wieder versucht. Mit der Absicht einer möglichst pragmatischen Anwendbarkeit innerhalb der politischen Zielsetzung wird dabei die Vielfältigkeit von ›Wildnis‹ zwar zum Teil kurz aufgezeigt, die Bedeutung dann aber vereinfacht auf meist eine Beschreibung reduziert.121 Zum Verständnis des aktuellen mitteleuropäischen gesellschaftlichen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ haben die genannten Typologien und Differenzierungen nicht die nötige Schärfe. Mit ihnen können die entscheidenden Punkte, an denen sich der gesellschaftliche Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ allgemein oder an bestimmten Gebieten in Mitteleuropa entzündet, nicht hinreichend beschrieben werden. Mit der vorliegenden Arbeit soll diese Lücke wenigstens zum Teil geschlossen werden. Die Arbeit soll zur Systematik des Wildnisbegriffs beitragen – sowohl allgemein als auch speziell in kulturwissenschaftlichen Diskussionen einerseits und in der Disziplin Landschaftsplanung andererseits. Durch zahlreiche Beispiele werde ich aufzeigen, wie meine Forschungserkenntnisse in die Kommunikation über Wildnis im Planungsalltag transferiert werden können.

118 Piechocki 2010: 173; Kohler et al. 2012: 8; Schell 2015: 55. f.; Spanier 2015: 475 ff. 119 Rosenthal et al. 2015: 98 ff.; Reppin & Mengel 2015: 106 ff. 120 Rosenthal et al. 2015: 23. 121 Kohler et al. 2012: 7; Kun et al. 2015: 16 f.; Finck et al. 2015b; Rosenthal et al. 2015: 11; Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit & Bundesamt für Naturschutz 2014: 23; etc.

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Rezeption und Anwendung von Cassirers Raumtheorie Ernst Cassirers Ansatz wurde in Raumtheorien und Theorien zu gesellschaftlichen Raumvorstellungen lange Zeit nur wenig rezipiert. 122 Birgit Recki vermutet dahinter zum einen biografische Gründe: Cassirers Emigration 1933 aus Deutschland hatte eine »unglückliche Editionslage seines Werkes« und das Fehlen eines Sachwalters seines systematischen Beitrags im Nachkriegsdeutschland zur Folge.123 Zum anderen sind inhaltliche Vorbehalte wichtiger zeitgenössischer geisteswissenschaftlicher Strömungen gegen »Kulturphilosophie« anzuführen, die die Rezeption hemmten.124 Peter Paret nennt vor allem die sich in den späten 1960er Jahren bildende politisch links gesinnte Richtung der ›new social history‹, die weder Cassirers »selbstverständliches Ziel der Objektivität« noch »seine Konzentration auf die Erforschung von Gedanken […] der sogenannten hohen Kultur« anerkannten, weil es ihnen um die psychologischen, soziologischen und politischen Facetten der Kulturgeschichte ging.125 Eine der wenigen Veröffentlichungen, die Cassirers philosophischen Ansatz aufnimmt, ist ›Geography’s spatial perspective and the Philosophy of Ernst Cassirer‹; darin präsentiert der USamerikanischen Geograf J. N. Entrikin Cassirers Raumtheorie als einen vielversprechenden dritten Weg zwischen einer »scientific geography«, die von einem empirischen Raum (»existential space«) ausgeht, und einer »phenomenological geography«, die einen subjektiv konstituierten Raum (»subjective space«) proklamiert.126 Auf die Deutung von Cassirers Theorie als ›dritten Weg‹ komme ich in Kapitel 2 zurück. Cassirers Kulturphilosophie erlebt jedoch seit einigen Jahren eine Renaissance: Die neue ›Hamburger Ausgabe‹ der Gesammelten Werke wurde 1998 bis 2008 herausgegeben, ›Nachgelassene Manuskripte und Texte‹ werden immer noch aufgearbeitet.127 Dabei wird auch Cassirers Raumtheorie als fruchtbare 122 Vgl. unter anderem Daniel 2006: 90; Krois 1988: 15; Mormann 2000: 445; Recki 2004: 11. 123 Recki 2004: 11. 124 Ebd. 125 Paret 1994: 276 f. 126 Entrikin 1977. 127 Die ›Hamburger Ausgabe‹ ist von der Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle unter der Leitung von Birgit Recki, Professorin am Philosophischen Seminar der Universität Hamburg, am Warburg-Haus, Hamburg, erarbeitet worden. Die nachgelassenen Manuskripte und Texte werden von Christian Möckel und Oswald Schemmer, Professoren am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität Berlin, editiert. Vgl. Schwemmer (1997: 9) und Daniel (2006: 90 f.), sowie Fetz et al. (2010: 14), die die Aktualität der Cassirer’schen Denkweise herausstellen.

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Grundlage für heutige Fragen der Regionenforschung entdeckt, was die Interpretation und Weiterentwicklung vor allem im sogenannten ›Leipziger Ansatz‹ (Sonderforschungsbereich 417)128 zeigt. Meine Arbeit liefert Grundlagen, um im Sinne dieser kulturwissenschaftlichen Regionenforschung empirische Gegenden auf die Bedeutung von Wildnis hin zu untersuchen. Als frühe, bedeutende Cassirerrezipienten sind die Philosophen Hans Blumenberg129 und Jürgen Habermas130 zu nennen. Langjährige Cassirerforschung haben insbesondere Thomas Knoppe, John Michael Krois, Wolfgang Orth, Heinz Paetzold und Enno Rudolph betrieben.131 Jüngste Forschungsergebnisse zu Cassirers Theorie liegen in Veröffentlichungen von Klaus Christian Köhnke und Uta Kösser, Tobias Bevc, Birgit Recki, Jörn Bohr, einer Autorengruppe um Reto Luzius Fetz, Guido Kreis sowie Sebastian Ullrich vor.132 Auf alle diese genannten Cassirerrezeptionen werde ich mich in meiner Arbeit beziehen. Bei Fragen nach Auffassungen von Raum und Landschaft im (sozial-)geografischen oder landschaftsplanerischen Kontext berufen sich nur sehr vereinzelt Autoren auf Cassirer:133 Die Landschaftsarchitektin Susanne Hauser verweist bei ihren Überlegungen zu Modellbegriffen in landschaftsplanerischen Vorstellungen von Mensch-Umwelt-Verhältnissen lose auf eine Analogie zu Cassirer, indem sie Modelle wie Cassirers Begriffe als »Kristallisationen«, die das Allgemeine im Besonderen repräsentieren, beschreibt.134 Der Sozialgeograf Wolf-Dietrich Sahr skizziert in einem Aufsatz eine kulturrelative zeichentheoretische Geografie, in der er in Cassirers Theorie der symbolischen Formen die semiotischen und phänomenologischen Aspekte als wesentlich interpretiert: Die Bedeutung sei die Vermittlungsinstanz zwischen Körper und Zeichen, zwischen Wirklichkeit und Handeln. Sahr verknüpft dies in seiner »Geographie des Kulturel128 Vgl. Bohr 2008, Köhnke 2001, Wollersheim 2001. – Das Forschungsprojekt wurde allerdings mit Abschluss des Sonderforschungsbereichs (SFB) 417 2002 nicht weitergeführt. 129 Vgl. Rudolph 1999: 11. 130 Habermas 1996. 131 Siehe unter anderem Knoppe 1992; Krois 1979; Krois 1988; Krois 2004; Orth 1985; Orth 1993b; Orth 2010; Paetzold 1994; Paetzold 1997; Rudolph 1995; Rudolph 2003. 132 Köhnke & Kösser 2001; Bevc 2005; Recki 2004; Bohr 2008; Fetz et al. 2010; Kreis 2010; Ullrich 2010. 133 Mormann sieht gerade in dieser Verbindung von Cassirers Ansatz zu zeitgenössischen Philosophien und anderen Wissensgebieten noch großes Forschungspotenzial (Mormann 2000: 463 f.). 134 Hauser 1997: 105; Cassirer 1929: 134 f.

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len« mit Foucaults Theorie zum Einfluss der Macht auf Verräumlichungen, um die Ausgrenzungen zwischen verschiedenen Kulturen zu erklären. 135 Auf die einzelnen symbolischen Formen und auf Cassirers Raumtheorie im Speziellen, wie ich in dieser Arbeit, nehmen jedoch weder Hauser noch Sahr Bezug. Der Landschaftsarchitekt Martin Prominski zieht unter anderem Cassirer in einem kurzen Verweis heran, um seine Idee einer »prozessorientierte[n], flexiblere[n] Landschaftsgestaltung«136 mit einer Theorie zu untermauern. Er liest Cassirer dabei mit Hilfe von Fetz’ Interpretation nicht primär als Philosophen der Pluralität symbolischer Formen oder als Raumtheoretiker, sondern in seiner grundlegenden Auffassung von Wirklichkeit als fortlaufende Strukturierung und Gestaltung durch ein Subjekt. Aufbau und Sinn der Kultur sei es, die Formgebung, die durch Strukturierung und Gestaltung bestimmt ist, zu überliefern und dabei weiterzuentwickeln. Demzufolge sei, so Prominski, auch landschaftsarchitektonische Gestaltung (»die Gestaltung der räumlichen Umwelt«) ein »flexibler« Prozess, der keine »ideale[n] Bilder« und »festgeschriebenen Zustände« anstreben könne, weil jede geformte Gestalt dadurch, dass sie den Anfang eines neuen Gestaltungsprozesses bilde, immer nur relativ zu sehen sei. 137 Eine differenzierte Darstellung der Bedeutung von Cassirer für Landschaft und sonstige Raumauffassungen erarbeitet Prominski nicht. Diese Darstellung beabsichtige ich in der vorliegenden Arbeit zu leisten, sofern sie für Analyse des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ nötig ist.

1.6 AUFBAU UND INHALT DER ARBEIT Bislang habe ich in diesem Kapitel in den thematischen Kontext der Arbeit eingeführt, das Thema beschrieben und das Ziel formuliert, zum Verständnis des aktuellen mitteleuropäischen, gesellschaftlichen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ beitragen zu wollen, in dem Missverständnisse und Konflikte be-

135 Sahr 2003: 25 f. 136 Prominski 2010: 383. 137 Ebd.: 366. – Eine ausführliche allgemeine Diskussion von Prominskis Landschaftsbegriff leistet Hokema (2013: 73 ff.). Wenn Prominski sich unter Berufung auf Cassirer für eine plurale, aber nur nach vorne gerichtete Landschaftsarchitektur ausspricht, übersieht er, dass Cassirer in seiner Kulturphilosophie wesentlich die vieldeutige Ambivalenz thematisiert zwischen innovativen Entwicklungen und Vorstellungen, die retrospektiv sind beziehungsweise in der Kultur kontinuierlich bestehen (vgl. Kapitel 2.1).

Einleitung | 41

stehen (Kapitel 1.1). In Kapitel 1.2 wird der Ansatz der Arbeit vorgestellt, Wildnis als kulturelle Form einer Raumauffassung zu begreifen. Dann formuliere ich in Kapitel 1.3 die Thesen und die Fragestellung zum aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹, die das Programm meiner Arbeit aufspannen: Es besteht im Kern aus der Frage nach der Pluralität der Raumauffassung ›Wildnis‹, zu der ich drei grundlegend verschiedene Begriffe von Wildnis vorlege. In Kapitel 1.4 werden die Methoden der Arbeit erläutert, vor allem das hermeneutische Vorgehen und die diskursanalytische Forschungsperspektive; außerdem wird die Eingrenzung und der Umgang mit textlichem und bildlichem Quellenmaterial dargelegt. Abschließend gebe ich in Kapitel 1.5 einen Überblick zum Stand der Forschung, sowohl bezüglich des Themas Wildnis als auch, was die Rezeption von Cassirers Raumtheorie angeht. Cassirers Raumtheorie verwende ich als systematische Grundlage zur Analyse unterschiedlicher kultureller Bedeutungen in Diskursen. Weil eine derartig konkrete Anwendung dieser Theorie in der Literatur bislang kaum anzutreffen ist, stelle ich in Kapitel 2 zunächst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ vor, die den Rahmen für seine Raumtheorie bildet – insbesondere zentrale Fragen und Begriffe sowie die Einordnung in das philosophische Feld (Kapitel 2.1). In Kapitel 2.2 beleuchte ich dann Cassirers Raumtheorie in den für diese Arbeit wesentlichen Aspekten: die Denkfigur der ›symbolischen Formung‹ und ihre drei Dimensionen. In einem Zwischenresümee halte ich fest, dass und inwiefern Cassirers Raumtheorie zur Analyse des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ geeignet ist. Dies bildet den Ausgangspunkt der weiteren Untersuchungen. In Kapitel 3 expliziere ich im Detail drei Raumbegriffe nach Cassirer: ›mythischer Raum‹, ›ästhetischer Raum‹ und ›theoretischer Raum‹. Dabei gebe ich in drei Unterkapiteln (Kapitel 3.1, 3.2 und 3.3) Cassirers Darstellung wieder und ergänze diese um weiterführende Diskussionen so, dass die Raumbegriffe als heuristische Analyseinstrumente zum differenzierten Verständnis aktueller Wildnisvorstellungen dienen können. Diese kulturtheoretische Untersuchung umfasst eine theoretisch-systematische Begriffsbildung, die ich durch analytische Einblicke in empirisches Material zu lebensweltlichen Phänomenen von Raumauffassungen absichere. Die drei Raumbegriffe sind zunächst deutlich zu trennen; danach lassen sich jeweils die Möglichkeiten einer Verknüpfung der unterschiedlichen Raumvorstellungen diskutieren. Kapitel 3.4 fasst die Erkenntnisse in Bezug auf die drei symbolischen Formen von Raum zusammen und stellt Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus. Auf dieser Basis differenziere ich im vierten Kapitel Begriffe von Wildnis im aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹. Anhand der in Kapitel 3

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gewonnen Raumbegriffe erforsche ich unterschiedliche Bedeutungen von Raum als Wildnis. Diese Rekonstruktion verschränke ich mit der Analyse exemplarischer Texte und Bilder aus dem aktuellen Diskurs, vor allem zu Nationalparken. Durch diesen Ansatz fördere ich drei wesentlich unterschiedliche Wildnisauffassungen zutage, die ich als ›unbekannte Wildnis‹, ›bestimmte Wildnis‹ und ›Ökosystem-Wildnis‹ bezeichne. Diese entwickle ich in den Unterkapiteln 4.1, 4.2 und 4.3 und prüfe, ob und wie sie Diskursstränge in den aktuellen Diskussionen um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ prägen. Abschließend gebe ich einen Überblick zum damit gewonnenen Begriffsfeld ›Wildnis‹ und reflektiere noch einmal das Vorgehen des Kapitels (Kapitel 4.4). In Kapitel 5 fasse ich die Arbeit zusammen, reflektiere die Methodik und gebe ein Fazit, welchen Beitrag die Arbeit dazu leisten kann, den heterogenen aktuellen mitteleuropäischen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹, in dem unterschiedliche Bedeutungen und Wertschätzungen von ›Wildnis‹ bestehen, zu ordnen und genauer zu verstehen. Als Ausblick gehe ich auf Forschungsfragen ein, welche die in dieser Arbeit gewonnen Erkenntnisse weiterführen können.

2

Cassirers Raumtheorie im Kontext seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹

Der aktuelle Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ scheint diffus, weil die Akteure in den Diskurssträngen sich über die fundamental unterschiedlichen Vorstellungen davon, was Wildnis bedeutet, nicht immer bewusst sind. Einleitend habe ich herausgestellt, dass es zur Analyse dieses Diskurses sinnvoll ist, den Begriff ›Wildnis‹ grundlegend als kulturell geprägte Raumauffassung zu verstehen. In Kapitel 4 werde ich mit einer ordnenden, rekonstruktiven Analyse die unterschiedlichen Kontexte der typischen Auffassungen von Raum als Wildnis in ihrer Struktur klären. Als theoretische Grundlage für diese Ordnung des Wildnisdiskurses ziehe ich, wie in der Arbeitsthese ausgeführt, Ernst Cassirers Raumtheorie heran. Da inzwischen zwar einiges zu Cassirers Theorie geforscht worden ist (vgl. Kapitel 1.5), Cassirers Systematik bislang aber kaum konkret zur Analyse unterschiedlicher kultureller Bedeutungen in Diskursen angewendet wurde, scheinen zunächst einige Erläuterungen zu seiner Raumtheorie im Kontext seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ sinnvoll. Im folgenden Kapitel 2 führe ich in Cassirers Theorie ein. Damit werden die Darstellungen der drei symbolischen Formen von Raum (Kapitel 3) verständlich und die Implikationen, die Erklärungskraft und auch die Grenzen meiner Vorgehensweise deutlich. Die wesentlichen Argumentationslinien von Cassirers Ansatz und seine Einordnung in den philosophischen Kontext stelle ich in Kapitel 2.1 dar. Dabei gehe ich vor allem auf seinen umfassenden Kulturbegriff ein, da dieser den Ansatz meiner Arbeit wesentlich mitbestimmt. Zur Verdeutlichung von Cassirers Theorie arbeite ich Analogien und Differenzen vor allem zu Kants Kritizismus heraus. In Kapitel 2.2 fasse ich Cassirers Raumtheorie zusammen und zeige, warum sie als Grundlage zur Ordnung der aktuellen Diskussion um Wildnis besonders geeignet ist.

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Anschließend stelle ich auf dieser Basis in Kapitel 3 die drei Cassirer’schen Auffassungsarten von Raum, die für mein Thema wesentlich sind, im Detail dar: mythischer Raum, ästhetischer Raum und theoretischer Raum.

2.1 DIE ›PHILOSOPHIE DER SYMBOLISCHEN FORMEN‹ ALS RAHMEN DER RAUMTHEORIE Obschon mit der vorliegenden Arbeit gewiss keine umfassende Rekonstruktion von Cassirers Kulturphilosophie und ihres Verhältnisses zu anderen Theorien geleistet werden kann, sollen hier doch einzelne diesbezügliche Überlegungen angestellt werden. Diese führe ich insofern aus, als sie wichtig sind, um Cassirers Konzept in Abgrenzung zu anderen kulturwissenschaftlichen Ansätzen, mit denen der aktuelle Wildnisdiskurs möglicherweise auch erklärt werden könnte, zu verstehen. Cassirer erforscht in seiner Kulturphilosophie die Systematik der Kultur und kulturellen Praxis in einem das Alltägliche umfassenden Sinn. Er baut seine Philosophie zum einen, Kant folgend, auf der Annahme auf, dass Erkenntnis allgemein und prinzipiell an ein Subjekt gebunden ist. Zum anderen richtet er sein Interesse vor allem auf die breite Vielfalt und den Wandel an Wahrnehmungsformen und Bedeutungszuweisungen im konkreten Leben. Mit der Darstellung bestimmter Analogien und Differenzen von Cassirers Kulturphilosophie zu Kants Kritizismus soll klarer werden, wie Cassirer innerhalb einer Kulturtheorie zeitlos abstrakte Erkenntniskritik mit einer Systematisierung von lebensweltlichen Erscheinungen verbinden kann. Gerade diese Verbindung erscheint mir wesentlich für die Analyse des aktuellen Wildnisdiskurses. Die Aspekte von Cassirers Ansatz, die im Kontrast zu Kants Erkenntnistheorie stehen, beleuchte ich, soweit sie als theoretische Basis für die Analyse der Bedeutungsstränge im Wildnisdiskurs wichtig sind. 2.1.1 Zu Cassirers Ansatz und seiner Einordnung – zentrale Fragen und Begriffe Von der Marburger Schule zur Frage nach der Kultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ernst Cassirer (1874 1945) stellt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Frage nach der Bedeutung der alltäglichen Kultur und ihrer Pluralität im modernen Denken und Handeln. Er spannt den Bogen dabei von der Erkenntnistheorie bis hin zur anthropologischen Frage nach dem praktischen Leben und der Dis-

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kussion der »progressive[n] emanzipatorische[n] Möglichkeiten« einer glückenden Kultur – und der »lauernden Perspektive der Katastrophe« einer misslingenden.1 Dabei versteht Cassirer Kultur umfassend als den allgemeinen, alltäglichen Selbstgestaltungswillen, nicht speziell als Resultat einer besonderen höheren Bildung.2 Mit diesem kulturphilosophischen Ansatz ist Cassirer zu seiner Zeit nicht allein; vielmehr erlebt die Kulturphilosophie in dieser Zeit gerade einen Aufschwung3 mit Vertretern unterschiedlicher Ausrichtung wie Heinrich Rickert oder Wilhelm Windelband.4 Auch Max Webers ›verstehende Soziologie‹, auf deren kulturübergreifenden Untersuchungsansatz Cassirer anerkennend verweist,5 kann in diesem Kontext gesehen werden.6 Cassirers Kulturphilosophie lässt sich mit Birgit Recki als »symboltheoretisch ausgelegte Fundamentalanthropologie« charakterisieren.7 Damit hat er sich von der ›Marburger Schule‹ der kritischen Philosophie, die an Kants transzendentale Deduktion anknüpft, 8 entfernt, wo er bei Hermann Cohen und Paul Natorp studiert und 1899 promoviert hatte.9 Wichtige Impulse zur Kulturphilosophie kamen für Cassirer nicht zuletzt von Georg Simmel.10 Cassirer war Professor von 1919 bis 1933 in Hamburg und nach seiner Emigration von 1934 bis 1945 in New York. Manches dazu, wie Cassirers Theorie zu verstehen ist und in welchem Verhältnis sie zu anderen Theorien steht, ist in seinen zahlreichen Schriften, die eine große thematische Breite aufweisen, nur angedeutet, und so gibt es breite Spielräume, was die Interpretation angeht. Damit ist auch zu erklären, warum das Verständnis und die Einordnung von Cassirers Theorie teilweise weit auseinandergehen und warum Vertreter unterschiedlicher Richtungen auf Cassirers Ge-

1

Paetzold 1995: 172.

2

Zu Cassirers Kulturbegriff siehe auch Kapitel 2.1.

3

Schmidt & Schischkoff 1991: 407. – Cassirer selbst beschreibt die »Kulturphilosophie« als »die jüngste unter den philosophischen Disziplinen«, die noch »keineswegs scharf umgrenzt und eindeutig festgelegt« sei (Cassirer 1913-1939/1993: 231).

4

Unter anderem Windelband 1894/1982; Rickert 1899/1926. – Sein Verständnis der »Kulturwissenschaften« diskutiert Cassirer unter anderem mit Windelband und Rickert (Cassirer 1936-37/1999: 156 ff.; Cassirer 1942/2007: 407 ff.; vgl. Rudolph 1995: 143).

5

Cassirer 1936/2002: 183.

6

Vgl. Paetzold 1995: 159 f.

7

Recki 2004: 30.

8

Schmidt & Schischkoff 1991: 454.

9

Graeser 1994: 12 f.

10 Köhnke 2003: XIII; Konersmann 2003: 30.

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danken Bezug nehmen. In diesem Zusammenhang stellt Cassirerforscherin Recki fest: »Auf Grundlage dieser [Cassirers] Theorie, die dazu angetan ist, uns eher mehr als weniger verstehen zu lassen, haben wir gute Chancen, Genaueres sagen zu können, wenn wir selbst dort weitermachen, wo Cassirer die Fragen offengelassen hat.«11

Ich schließe mich der Interpretation an, Cassirers Vorhaben insbesondere als eine Ausarbeitung des Problems zu verstehen, wie die Struktur von Kants zeitlos-abstrakter Analyse der Bedingungen aller Erfahrung auf die Analyse der lebensweltlichen Erscheinungen – also der historisch und räumlich wandelbaren grammatischen und symbolischen Strukturen konkreter Sprachen und alltäglicher Erfahrungs- und Ausdrucksformen – zu transformieren ist.12 Cassirer will die Struktur der Kultur, das heißt Struktur der Weltauffassungen der kulturellen Praxis, aufklären.13 Der Ansatz einer empirischen Transzendentalphilosophie In seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ differenziert Cassirer, auf welche unterschiedlichen Arten wir Phänomene auffassen und damit zu Gegenständen unserer Betrachtung und Handlungen konstituieren. Diese Auffassungsarten stellt er dar als kulturelle, von bestimmten Sinngebungen geprägte Formungen. 11 Recki 2004: 43. 12 Man kann nicht von einer bloßen »Anwendung« der kantischen Vernunftkritik auf kulturelle Gebilde sprechen, wie es der Philosoph Sebastian Ullrich tut (Ullrich 2010: 10 f.). Unter anderem Jürgen Habermas weist darauf hin, dass bei Cassirer »[a]n die Stelle einer bloß erweiterten Erkenntnistheorie […] eine Kulturphilosophie« trete, denn »die Logik« sehe sich vor »völlig neue Fragen« gestellt, »sobald sie versucht, ihren Blick, über die reinen Wissensformen hinaus, auf die Totalität der geistigen Formen der Weltauffassung zu richten« (Habermas 1996: 13). 13 Habermas formuliert als einen Ausgangspunkt seiner Theorie des kommunikativen Handelns ein ähnliches Vorhaben wie Cassirer: »Ich will mich also zunächst nach den Bedingungen erkundigen, die die Strukturen handlungsorientierender Weltbilder erfüllen müssen, wenn für diejenigen, die ein solches Weltbild teilen, eine rationale Lebensführung möglich sein soll. Dieses Vorgehen bietet zwei Vorzüge: es nötigt uns einerseits, von der begrifflichen zu einer empirisch angeleiteten Analyse überzugehen und die in Weltbildern symbolisch verkörperten Rationalitätsstrukturen aufzusuchen; und es nötigt uns andererseits, die für das moderne Weltverständnis bestimmenden Rationalitätsstrukturen nicht ungeprüft als allgemeingültig zu unterstellen, sondern aus einer historischen Perspektive zu betrachten« (Habermas 1987: 73).

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Cassirer hat für seine Kulturphilosophie zwei explizite Grundlagen: Zum einen ist das der Kerngedanke von Immanuel Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹, der Erkenntnis prinzipiell an Subjektivität bindet, das heißt, »die angeblichen Dinge an sich zugunsten von subjektivitätsvermittelten Entitäten, den Erscheinungen, verabschiedet«14. Zum anderen geht Cassirer aber, in Weiterführung von Wilhelm von Humboldts Sprachtheorie, davon aus, dass Erscheinungen, die sich empirisch durch eine große Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit auszeichnen, im konkreten Leben notwendig in symbolischen Formungen vermittelt sind. 15 Man kann Cassirers Ansatz zusammenfassend als empirische Transzendentalphilosophie charakterisieren. Was das genau heißt, erläutere ich im Folgenden – durch direkte Charakterisierung, oftmals aber auch durch negative Abgrenzung zu anderen Theorien. Cassirer selbst versteht seine Theorie als eine Transformation der »Kritik der Vernunft« (Kant) zu einer »Kritik der Kultur«.16 Er schließt in seiner Kulturphilosophie an Kants transzendentale Philosophie an und revidiert sie dabei nicht. Zwei Punkte erscheinen mir zum Verständnis wesentlich: Erstens beabsichtigt Cassirer, das kantische Programm von der Kritik der reinen Vernunft auf Fragen nach den Prinzipien der Gegenstandsbestimmung von Sprache, Kunst, Mythos und Religion zu erweitern. Zweitens stellt er diese Fragen nicht, wie Kant, im zeitlosen Rahmen reiner Logik (das heißt der der transzendentalen Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis), notwendig streng allgemein geltender Ethik oder subjektiv-allgemeiner Ästhetik, sondern vielmehr im empirisch-kulturellen Rahmen »der konkrete[n] Betrachtung des geistigen Lebens«17. Er richtet sein Interesse zwar kritisch-transzendental auf die Formen der Gegenstandsbestim-

14 Höffe 2004: 45. 15 Vgl. unter anderem Cassirer 1923/1993: 252. – Die Frage nach weiteren Bezugspunkten Cassirers, wie unter anderem zu Leibniz’ Konzept monadologischer Repräsentation, Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, Heideggers Daseinsanalyse und Husserls Phänomenologie sowie der Lebensphilosophie (Dilthey) wird beispielsweise diskutiert von Krois (1985), Krois (1988: 27 ff.), Orth (1993a), Friedman (2004), Bohr (2008: 89 ff.) und Kreis (2010). 16 Cassirer 1923: 11; vgl. Orth 1993a: 16; Paetzold 1994: 168; Rudolph 1995: 144; Bevc 2005: 35. 17 Cassirer 1923/1993: 270. – Im Kontext dieses Zitates gibt Cassirer den Rahmen für Humboldts Sprachtheorie an, später zielt er aber genau auf dieses Erkenntnisinteresse auch mit seiner eigenen ›Philosophie der symbolischen Formen‹ ab.

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mung, aber nicht auf die abstrakten,18 denknotwendigen Formen unserer Geistestätigkeit und deren Letztbegründung, sondern in Anlehnung vor allem an Wilhelm von Humboldts Sprachtheorie auf die empirischen, symbolischen Bedeutungen und deren systematische Einheit. Cassirer stellt nicht den »Vorstellungsinhalt als solche[n]« in den Mittelpunkt seiner Analysen, sondern die Bedeutungen, die dieser Inhalt im Einzelnen »für das menschliche Bewußtsein besitzt« und – zumindest im Falle des Mythischen – »die geistige Macht, die er über dasselbe ausübt«.19 Das empirische Kulturelle hat eine quasi-transzendentale Rolle: Der »ontologische Status« der Gegenstände ist »angemessen nicht durch ihren dinglichen Charakter zu bestimmen, sondern allein durch die in ihnen realisierte Bedeutung«, die in der Kultur besteht.20 Birgit Recki charakterisiert so Cassirers Theorie und nennt sie eine »realistische Pointe einer Transzendentalphilosophie Kantischer Prägung«.21 Seine Philosophie bezeichnet Cassirer selbst mitunter als »symbolischen Idealismus«22. Der Begriff ›symbolisch‹ beschreibt hier die kulturellen Sinngebungen, die – wie ich im anschließenden Kapitel noch ausführe – bei der Gegenstandsauffassung entscheidend sind. Idealistisch ist Cassirers Ansatz insofern, als in ihm »die Möglichkeit der Abtrennung einer ›Realität‹ von ihrer Repräsentation in geistigen Funktionen«23 abgelehnt wird. Es wird also erkenntnistheoretisch die »Welt samt Sachverhalten für subjektabhängig«24 gehalten. Cassirers Ansatz unterscheidet sich jedoch wesentlich vom Idealismus im metaphysischen Sinne, wie ihn beispielsweise Hegel, Schelling oder Fichte formulieren, denn er betrachtet nicht das objektiv Wirkliche »als eine Erscheinungsform des Geistes«25, sondern hat ein realistisches Moment, das sich »immer schon konkret in 18 Cassirer selbst charakterisiert Kants Analyseebene mehrfach als »abstrakt« (unter anderem Cassirer 1923/1993: 270). Diese Charakterisierung übernehme ich, da sie mir für die Abgrenzung zu Cassirers Ansatz treffend erscheint. 19 Cassirer 1925: 8. – Cassirers Kulturphilosophie denkt »die Erkenntnis vom Begriff der Kultur und nicht die Kultur vom Begriff der Erkenntnis her«, so beschreibt Dominic Kaegi zusammenfassend (Kaegi 1994: 169). 20 Recki 2004: 30. 21 Ebd.: 53, Hervorh. i. O. – Heinz Paetzold beschreibt die kulturell-historische Konkretisierung der kantischen »Transzendentalphilosophie« als eine »transformierte Transzendentalphilosophie« (Paetzold 1994: 20, 160 ff.). 22 Unter anderem Cassirer 1995: 261; vgl. Ullrich 2010: 2 f. 23 Pätzold 2003: 47. 24 Höffe 2004: 107. 25 Schmidt & Schischkoff 1991: 321. – Cassirer lässt diesen Geistbegriff in seiner frühen Phase noch in Anlehnung an Hegel als substanziell erscheinen, wie in seiner Rede

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Formen sinnhafter Gestaltung von gegebenem Material«26 vollzieht. Cassirer stellt selbst klar, dass er zwar ontologisch keine »vorgegebene Natur« annimmt, aber auch keine »vorgegebene Welt der ›reinen Formen‹«.27 Lotet man die Stellung der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zwischen Objektivismus und Relativismus aus, so ist festzustellen: Die Gegenstände wissenschaftlicher beziehungsweise künstlerischer oder mythisch-religiöser Aussagen sind keine »dinglichen Objekte«, sondern aus der (wissenschaftlichen beziehungsweise künstlerischen oder mythisch-religösen) Betrachterperspektive »getätigte Objektivierungen«.28 Cassirer richtet sich mit der »These prinzipieller kultureller Vermitteltheit aller Wahrnehmung«29, also gegen den Objektivismus, vertritt aber keinen radikalen Relativismus. Bestimmte philosophische Strömungen seiner Zeit weist Cassirer mit seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ ausdrücklich zurück. Hier sind insbesondere zwei zu nennen: (a) die physikalistische Naturalisierung des Geistes, in der versucht wird, alle geistigen Vorkommnisse als physische Natur kausalrational vollständig zu erklären. Cassirer argumentiert vor allem »gegen das Projekt der physikalistischen Einheitswissenschaft des logischen Positivismus und gegen die einsetzende Konjunktur des Behaviorismus«30. (b) Des Weiteren richtet Cassirer sich gegen die ideologische Erzeugung von Mythen, mit der versucht wird,

vom Ganzen des »objektiven Geistes« als gesamtem Gehalt der Kultur deutlich wird (Cassirer 1923/2000: 351). In der späteren Ausarbeitung seiner Theorie will Cassirer »Geist« aber in Abgrenzung zu Hegel funktional und strukturell von der Wirklichkeit getrennt verstehen: »Der Begriff ›Geist‹ ist korrekt; aber wir dürfen ihn nicht als Name einer Substanz gebrauchen […]. Wir sollten ihn in einem funktionellen Sinne gebrauchen als einen umfassenden Namen für alle jene Funktionen, die die Welt der menschlichen Kultur konstituieren und aufbauen.« (Cassirer 1945/1993: 337; original: »The term ›Geist‹ is correct; but we must not use it as a name of a substance – a thing ›quod in se est et per se concipitur‹ (Baruch de Spinoza). We should use it in a functional sense as a comprehensive name for all those functions which constitute and build up the world of human culture.« (Cassirer 1945: 313); vgl. Cassirer 1939/1993a: 261; Pätzold 2003: 57) – Der Geist ist bei Cassirer also das die symbolischen Auffassungsweisen vereinende und bildende Prinzip im Subjekt. 26 Recki 2004: 53. 27 Cassirer 1936/2002: 247 f. 28 Daniel 2006: 91. 29 Köhnke & Kösser 2001: 150. 30 Kreis 2010: 11 f.; vgl. unter anderem Cassirer 1936-37/1999: 144 f.; Cassirer 1944/ 2007: 16.

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für Kritik systematisch unangreifbar gewaltsam Macht auszuüben.31 Cassirer entwirft demgegenüber eine »integrative reflexive Gesamttheorie unserer natürlichen und geistigen Selbst-, Sozial- und Weltverhältnisse«32. Und so hält er die Weiterentwicklung des kritischen Idealismus kantischer Prägung, der die Möglichkeit des menschlichen Erkennens überhaupt ergründet, zum symbolischen Idealismus, der als empirische Transzendentalphilosophie charakterisiert werden kann, für eine notwendige kritische Aufgabe im Sinne der Aufklärung, 33 denn »[s]olange die philosophische Betrachtung sich lediglich auf die Analyse der reinen Erkenntnisform bezieht und sich auf diese Aufgabe beschränkt, solange kann auch die Kraft der naiv-realistischen Weltansicht nicht völlig gebrochen werden.«34 Das entschiedene Bestreben naiv-realistische Deutungen aufzulösen, ist bei Cassirer vor dem Hintergrund aufkommender repressiver nationalistischer Ideologien nicht zuletzt politisch-gesellschaftlich begründet.35 ›Symbol‹ und ›symbolische Prägnanz‹ – zwei zentrale Begriffe in Cassirers Philosophie Cassirer charakterisiert seine Philosophie der Formen mit dem Begriff ›symbolisch‹. Im allgemeinen philosophischen Gebrauch ist mit Symbol »ein Gebilde« gemeint, dem »von einer bestimmten Gruppe von Menschen ein besonderer, durch das Wesen des Gebildes (im Gegensatz zur Allegorie) nicht nahegelegter Sinn verliehen worden ist«.36 Symbole sind eine bestimmte Art von Zeichen, und zwar solche, die mit ihrer »Bedeutung«, also mit der Vorstellung, die sie »bewußt machen«, »zu einer inneren Einheit verschmolzen sind«.37 Diese beiden Eigenschaften, die Sinngebung in einem spezifischen Zusammenhang und die untrennbare Verknüpftheit von Anschauung und Sinn, sind wesentlich für die Formung in Cassirers Theorie. Er differenziert den Symbolbegriff aber noch spezieller aus, wie ich im Folgenden kurz darlegen werde. Wann immer etwas sinnlich Gegebenes als etwas Bestimmtes in einem speziellen Kontext für uns Bedeutung hat, haben wir es bei dieser konkreten Einheit 31 Cassirer richtete sich in diesem Punkt namentlich gegen die ›Mythen‹, die zu seiner Zeit im Nationalsozialismus und Faschismus inszeniert wurden. 32 Kreis 2010: 11. 33 Zum Aufklärungsbegriff im Kontext von Cassirers Kulturphilosophie, einer empirischen Transzendentalphilosophie, siehe Kapitel 3.1.2. 34 Cassirer 1923: 11. 35 Diesen Kontext werde ich im Kapitel zum mythischen Raum (Kapitel 3.1.2) noch näher erläutern. 36 Schmidt & Schischkoff 1991: 708. 37 Ebd.: 796.

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von Sinnlichem und Geistigem nach Cassirer mit einem Symbol zu tun. Ein Symbol liegt demnach zum einen in jeder Art von »›Sinnerfüllung‹ des Sinnlichen«38 vor, zum anderen in »jeder Versinnlichung von Sinn«39. Cassirer beschreibt nun die wesentliche menschliche Erkenntnis als die »symbolische Erkenntnis«40, und in dieser bestehen Dinge durch ihre Bedeutung: »Statt vom Menschen zu sagen, er besitze einen ›der Bilder bedürftigen Verstand‹ (Kant), sollten wir eher sagen, sein Verstand bedürfe der Symbole. Menschliche Erkenntnis ist wesentlich symbolische Erkenntnis. Dieses Merkmal kennzeichnet ihre Stärke und ihre Grenzen. Und für das symbolische Denken ist es unerläßlich, einen deutlichen Unterschied zwischen ›wirklich‹ und ›möglich‹, zwischen aktuellen und idealen Dingen zu machen. Ein Symbol besitzt keine aktuale Existenz als Teil der physikalischen Welt; es hat eine ›Bedeutung‹.«41

In den Symbolisierungen stellt Cassirer »bestimmte geistige Gestaltungsweisen« fest, worunter er die typischen Formen meint, in denen uns »die Wirklichkeit« »fassbar« ist.42 Er zählt darunter Kunst, Mythos, Wissenschaft etc. ›Symbol‹ (beziehungsweise das ›Symbolische‹) führt Cassirer also als einen sehr weiten Begriff ein für jede Art von Struktur mit sinnverstehender Vermittlungsfunktion zwischen Erscheinung und Idee. Das Symbolische ist das Wesentliche in der Erkenntnis, unter welcher Cassirer »nicht nur den Akt des wissenschaftlichen Begreifens und des theoretischen Erklärens« versteht, sondern »jeder geistigen Tätigkeit, in der wir uns eine ›Welt‹ in ihrer charakteristischen Gestaltung, in ihrer Ordnung und in ihrem ›So-Sein‹, aufbauen«.43 Das schließt auch die ästhetische 38 Cassirer 1929: 109. 39 Recki 2004: 33; vgl. Sahr 2003: 25. 40 Cassirer 1944/2007: 93. 41 Ebd. 42 Cassirer 1929: 3. – Nach dieser Bestimmung wird alles sinnlich Wahrgenommene »augenblicklich als sinnvoll wahrgenommen« (Recki 2004: 33, Hervorh. i. O.). Dass dies unserem täglichen Erleben entspricht, zeigt Recki an folgendem Beispiel: »Wer macht sich beim Aufschlagen einer Zeitung schon klar, daß er nichts anders vor sich hat als eine bestimmte regelmäßige Verteilung von Druckerschwärze auf einem Blatt Papier? Für unsere sinnorientierte Wahrnehmung ist das Blatt auf der Stelle, ohne mühsame gedankliche Transferleistung, voller Information – und nicht voller Druckerschwärze! Das Wahrgenommene wird augenblicklich als sinnvoll wahrgenommen« (ebd., Hervorh. i. O.). 43 Cassirer 1938/1956: 208. – Für seine Formulierung des Symbolbegriffs bezogen auf die wissenschaftliche Weltbetrachtung verweist Cassirer mehr als einmal auf die Wis-

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Wahrnehmung ein, die ebenso eine »Deutung von Wirklichkeit« ist – wenn auch »durch Anschauungen« und nicht »durch Begriffe«.44 Entscheidend ist für Cassirer, dass die symbolischen Formen »von vornherein nicht bloß Weisen des Sinnverstehens, sondern zugleich auch der Erzeugung von Sinn«45 sind. Das wahrnehmende Subjekt hat dabei eine aktive Rolle und ist nicht nur passiver Rezipient: Die Einheit von Anschauung und einer bestimmten kulturellen Bedeutung ist untrennbar verknüpft, was aber vom Subjekt »je aufs Neue« in der Auffassung im spezifischen Sinnkontext geleistet wird. 46 Des Weiteren ist in Cassirers Philosophie wesentlich, dass Gegenstände (wie auch Räume) erst durch die formenden Bedeutungen überhaupt sind – dabei jedoch immer nur in der sinnlichen Anschauung von Phänomenen. Er gibt also dem Ordnungsbegriff (Funktion) den Vorrang vor dem Seinsbegriff (Substanz): »Wir erkennen […] nicht ›die Gegenstände‹ – als wären sie schon zuvor und unabhängig als Gegenstände bestimmt und gegeben –, sondern wir erkennen gegenständlich, indem wir innerhalb des gleichförmigen Ablaufs der Erfahrungsinhalte bestimmte Abgrenzungen schaffen und bestimmte dauernde Elemente und Verknüpfungszusammenhänge fixieren.«47

Cassirer nennt den »Vorgang des Hinsehens von etwas als etwas Bestimmtes in einem bestimmten Kontext«48 symbolische Prägnanzbildung. senschaftstheorie des Physikers Heinrich Hertz. Dieser stellte heraus, dass die Naturwissenschaften nicht mit vorgegebenen Größen operierten, sondern sich im Gegenteil »Scheinbilder« von Masse, Kraft (und andere) machten. Diese spiegelten weniger das gegebene Dasein wieder, vielmehr seien es erkenntnisabhängige Kategorien, mit denen »im System der physikalischen Begriffe« die Gegenstände überschaut werden könnten (Cassirer 1923: 6; vgl. unter anderem Graeser 1994: 34). 44 Cassirer 1944/2007: 226. 45 Recki 2004: 165 f. 46 Rudolph 1999: 15. 47 Cassirer 1910/2000: 328, Hervorh. i. O. – Cassirer richtet sich, wie Michael Friedman herausstellt, gegen die traditionelle »Abbildtheorie« und setzt, von der formalen Logik und abstrakten Mathematik abgeleitet, eine »kritische« Theorie dagegen, in der gilt: »Unsere sinnlichen Repräsentationen erlangen Wahrheit […] nicht durch Übereinstimmung oder Abbildung eines Gebietes von metaphysischen ›Dingen‹ oder Substanzen […], sondern kraft der Einbettung unserer sinnlichen Vorstellung und der empirischen Phänomene selbst in […] formale Systeme von ›Zeichen‹« (Friedman 2000/2004: 101 f.). 48 Bohr 2008: 125, Hervorh. i. O.

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»Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll […] die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren Darstellung bringt«49.

Cassirer behauptet mit diesem Begriff der ›symbolischen Prägnanz‹, »dass sinnliche Wahrnehmung und Sinngebung in einem einheitlichen Akt zugleich, in absoluter Gleichzeitigkeit stattfinden«50. Insofern ist »die symbolisierende Tätigkeit« nicht nur »Stiftung von Sinn im Sinnlichen«,51 wie Heinz Paetzold formuliert; vielmehr ist zwingend einerseits alles Sinnliche sinnhaft (sonst tritt es nicht in unsere Auffassung) und andererseits eine Sinnordnung kein über uns und der Welt gewissermaßen »frei schwebendes« System,52 sondern zeigt und bewährt sich nur am Sinnlichen im Akt der Auffassung. Ohne symbolische Prägnanz müsste, wie Jörn Bohr deutlich macht, ein als Substanz gedachter Raum postuliert werden, dem eine Unzahl individueller Raumauffassungen gegenübersteht.53 Cassirer verdeutlicht seine Theorie der symbolischen Prägnanz wiederholt am Beispiel des gleichmäßig geschwungenen Linienzuges: Wir ordnen ihn notwendigerweise immer in einer bestimmten Bedeutungsperspektive, insbesondere in folgenden drei: als ästhetisches Ornament in einer »künstlerische[n] Bedeutsamkeit«, als magisches Zeichen in einer »mythisch-religiösen Bedeutung« oder als grafischen Funktionsverlauf in einem »rein logisch-begrifflichen Strukturzusammenhang«.54 2.1.2 Zu Cassirers Kulturbegriff Kultur als Gesamtheit der symbolischen Bedeutungen und Konstituens der Kulturgüter Cassirer verwendet den Kulturbegriff – ohne dass er dies selbst klar differenziert – in zwei Facetten, einer speziellen und einer allgemeineren: (1) Kultur ist in Cassirers Theorie die Gesamtheit der symbolischen Bedeutungen von Dingen. Sie ist unabhängig von den materiellen Dingen all der geistige Inhalt, der »sich 49 Cassirer 1929: 234. 50 Bohr 2008: 131, Hervorh. i. O. 51 Paetzold 1994: 144. 52 Unter dem ›Sinnlichen‹ wird hier das mit den Sinnen (und damit überhaupt) Wahrgenommene verstanden. Alles Physische ist damit Sinnliches, denn was ist das Physische anderes als das Sinnliche, wenn es das Ding an sich nicht gibt? (Vgl. unter anderem Cassirer 1922/2001: 160) 53 Bohr 2008: 27. 54 Cassirer 1927/1985: 6 f.; vgl. Cassirer 1929: 231 ff.; vgl. Recki 2004: 56.

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in der Erschaffung bestimmter geistiger Bilderwelten«, also »bestimmter symbolischer Formen«, als wirksam erweist.55 (2) Kultur versteht Cassirer andererseits aber auch als etwas, das Wirklichkeit wird, wenn ein »geistiger« Inhalt sich »in bestimmten materiellen Gebilden« manifestiert.56 Kultur ist also nicht selbst substanziell, aber sie ist in diesem Verständnis nur an physischen Dingen festzumachen. Kultur zeigt sich dadurch, dass sie, kurz gesagt, Dinge zu Kulturgütern macht. In diesem zweiseitigen Begriffsfeld von Kultur lassen sich Cassirers symbolische Formen im ersten Sinn als »Konstitutionsprinzipien« und im zweiten als »Phänomene« von Kultur beschreiben.57 Der Leipziger Kulturphilosoph und einer der Herausgeber von Ernst Cassirers Nachlass, Klaus Christian Köhnke, vermutet Cassirers Kulturbegriff in dem von Moritz Lazarus begründet. Lazarus (1824 1903) war mit Wilhelm Dilthey und später Georg Simmel einer der mitteleuropäischen Soziologen und Philosophen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die einen modernen Kulturbegriff entwickelten.58 Köhnkes Interpretation erweist sich als aufschlussreich für die Differenzierung der beiden soeben genannten Begriffsfacetten. Denn »Kultur« ist bei Lazarus die natura altera, unter der er rein deskriptiv sowohl »Resultate von menschlicher Geistes- und Handarbeit« (Kulturgüter) als auch »alles habitualisierte Verhalten und die menschlichen Lebensweisen« (Lebenswelt) versteht.59 Wenn hier materielle »Resultate« der Arbeit – also Kultur im Sinne von kulturell geschaffener »zweiter Natur« im Gegensatz zur Natur – genannt werden, so weicht dies von Cassirers dezidiert nicht-substanziellem Kulturverständnis ab. 55 Cassirer 1923: 50 f. 56 Cassirer 1936-37/1999: 154. – Mit Zitateinschüben aus Goethes Faust formuliert Cassirer: Das »Schicksal der Kultur [ist], daß sie, welch ›geistigen‹ Inhalt wir ihr immer zusprechen mögen, ›verhaftet an den Körpern klebt‹« (ebd.: 153 f.). Cassirer »nennt Kultur den Inbegriff der ›Grundformen und Grundrichtungen des geistigen Produzierens‹ [Cassirer 1923: 11]« (Rudolph 1995: 144). 57 Rudolph 1995: 144. 58 Köhnke 2003: XIII. – Köhnke stellt heraus, dass Moritz Lazarus als der eigentliche – vor allem aus politischen Gründen verschwiegene – Ideengeber für den modernen Kulturbegriff zu sehen sei, auf den sich Georg Simmel und alle weiteren Kulturphilosophen, Kultursoziogen und Kulturwissenschaftler letztlich stützen. In einigen Details ist die Auffassung von Kultur bei diesen Autoren durchaus unterschiedlich: Cassirer kritisiert beispielsweise explizit Simmels Ansicht einer »Tragödie der modernen Kultur«, nach der die Seelen der Menschen unter der ständig zunehmenden Zahl an von ihnen selbst geschaffenen Gütern und durch den Fortschritt ihres geistigen Lebens erdrückt würden (Cassirer 1942/2007: 464). 59 Köhnke 2003: XXXVI, Hervorh. i. O.

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Dennoch geht es Cassirer ebenso wie Lazarus um die Unterscheidung von Kulturgütern und kultureller Bedeutungswelt. Cassirer richtet sein Erkenntnisinteresse dabei auf den Deutungskontext von Gütern als Kulturgüter, nicht auf ihren historischen, materiellen Entstehungskontext. Deshalb sind für ihn Kulturgüter nicht substanziell gewordene Kultur, sondern Zeichen (Symbole) für Kultur(-Bedeutungen). Erkenntnisinteresse am Alltäglichen Modern ist an Moritz Lazarus’ Kulturbegriff insbesondere, dass er das Alltägliche einbezieht und diesem damit überhaupt seine wissenschaftliche Forschung widmet.60 In diesem Sinn versteht auch Cassirer Kultur annähernd synonym zu Zivilisation61 und stellt den allgemeinen, alltäglichen Selbstgestaltungswillen dem (wertenden, teleologischen) Begriff von Kultur im Sinne von »höherer Bildung« (cultura animi, »Kultivierung der Seele und des Geistes«) entgegen.62 Dies ist für Cassirers Kulturphilosophie grundlegend: Denn nur, weil er Kultur nicht als »bloßes Mittel zum höheren Zweck« der Kultivierung beschreibt und analysiert, sondern als »Symbolisierung von Sinn« und damit »an sich bedeutungsvoll«,63 ist es ihm möglich, seine ›Philosophie der symbolischen Formen‹ als eine tatsächlich das Wesen des Menschen umfassende Kulturphilosophie zu entwickeln. Er kann seinem Erkenntnisinteresse »nach einer universellen, synthetischen Anschauung, die alle individuellen Formen in sich begreift« (also auch die alltäglichen) nachgehen und muss nicht in der Analyse einzelner Formen menschlicher Kultur verharren.64 Er kann, die, wie er schreibt, offensichtlichen »verschiedenen Kräfte des Menschen« in ihrer Vielfalt systematisch betrachten als unterschiedliche »Funktionen«, die einander »vervollständigen und ergänzen«.65 Mit Cassirers Blick auf den Deutungskontext der Kulturerscheinungen und seinem systematischen Erkenntnisinteresse am Alltäglichen lassen sich synchrone, empirisch in der Lebenswelt auftretende kulturelle Bedeutungen wie beispielsweise ›Wildnis‹ untersuchen. Kultur wird vom Subjekt rezipiert und produziert Wenn Kultur, wie wir gerade gesehen haben, aus einer Pluralität gelebter Sinndeutungen besteht, stellt sich die Frage, wie diese sich bildet. Man könnte mei60 Ebd.: XIII. 61 Vgl. unter anderem Cassirer 1944/2007: 113. 62 Köhnke 2003: XIV, Hervorh. i. O. 63 Alle Zitate in diesem Satz sind aus Ebd.: XXXVII. 64 Cassirer 1944/2007: 113. 65 Ebd.: 345 f.

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nen, Kultur sei eine Deskription statischer, tradierter Sinngebungen und Bedeutungen, die die Subjekte der Gegenwart rezipieren müssen, um die Lebenswelt zu verstehen. Dem widerspricht Cassirer jedoch entschieden, indem er Kultur als etwas beschreibt, das Bestand nur in seiner »eigenen Bildung und Umbildung«66 hat. Am Beispiel der Sprache erläutert er, wie in kulturellen Formen Rezeption und Produktion ineinandergreifen: »[D]er Lernende empfängt die Sprache, um sie wiederzugeben, – und jede dieser Wiedergaben schliesst [sic!] zugleich eine neue Gabe, einen wenn auch noch so geringfügigen Wandel der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeit in sich. Was die Sprachwissenschaft als Lautwandel und Bedeutungswandel beschreibt, das beruht zuletzt auf diesem Prozess.«67

Die Bildung und Umbildung der Kulturformen hat also vor allem nicht »den Charakter des Wachstums und der ruhigen Entfaltung aus einem vorhandenen Keim«, sondern »vollzieht sich kraft des aktiven Gestaltwillens der Individuen, der zu vorhandenen Formen nur greift, um sie selbst wieder als Stoff zu behandeln«.68 Es zeigt sich deutlich das Spannungsverhältnis von Einzelnen und Gesamtheit (Gesellschaft), das Cassirers Kulturbegriff charakterisiert. Die subjektive Rezeption ist geprägt durch die intersubjektiven 69 symbolischen Formen, die im Kern ein stabiles Deutungssystem und damit Erkenntnis gewähren. 70 Untrennbar deutet gleichzeitig aber das Individuum die Formung mehr oder weniger weit um und produziert damit eine neue Bedeutungsnuance der jeweiligen symbolischen Form.71 Zentral ist in diesen Formungsprozessen in Cassirers Verständnis immer das Subjekt, nicht etwa eine determinierende Kultur: Die symbolischen Formen bestehen nur aufgrund von Formungen im Hier und Jetzt, die das Subjekt voll66 Cassirer 1936-37/1999: 154. – »Kulturelle Aktivität besteht mithin in der Schaffung und Umdeutung symbolischer Ordnungen« (Paetzold 1997: 169). 67 Cassirer 1936-37/1999: 171. 68 Ebd.: 173. 69 Krois 1979: 200. 70 Vgl. Cassirer 1944/2007: 341. 71 Vgl. Paetzold 1997: 173 f. – Ausführlich beschreibt das Heinz Paetzold wie folgt: Die symbolischen Formen »sind kulturelle Matrizen oder ›cultural patterns‹. Sie garantieren die Genese von überindividuellem Sinn und kultureller Bedeutung und steuern die kulturellen Bedeutungsverschiebungen. Symbolische Formen stabilisieren das menschliche Orientierungsvermögen in der Welt und verleihen ihm Halt. […] Symbolische Formen sind die Vehikel einer Kultur, in denen intersubjektiv geteilte ›Bedeutung‹ entsteht und sich darstellt« (ebd.: 171).

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zieht.72 Ihren Grund und ihre Einheit hat die Vielzahl an symbolischen Formen in der Subjektivität.73 Das Subjekt ist der gemeinsame Ursprung der symbolischen Formen, es ›produziert‹ sie als unterschiedliche Formungen der äußeren Eindrücke. Dieses ›Produzieren‹ geschieht aber nicht isoliert, sondern steht immer in einem größeren Kontext einer Sprache oder einer Theorie, also letztlich der Kultur.74 Kultur als Prozess ist Weiterentwickeln von Tradiertem und Schaffen von Neuem. Diese »zweifache Doppelung der Kultur« betrachtet der Kulturphilosoph und Cassirerforscher Heinz Paetzold als eine angemessene Beschreibung für die »Lage der Kultur der Menschen«.75 Den Zusammenhang zwischen Subjekt und Kultur bezeichnet Cassirer auch als »Teilhabe«76 und weist damit auf die Bedeutung des Handelns in diesem Kulturprozess hin. Die Kultur findet ihre eigentliche Verwirklichung nur in ihrer Aktualisierung durch die Tat des Individuums. 77 In diesem Sinne hat das Subjekt

72 Kultur ist bei Cassirer nach Ernst Wolfgang Orth »die aktive Verarbeitung sinnlicher Gehalte durch geistig-funktionale Formenenergien, wobei entscheidend ist, daß beide Momente faktisch nicht isolierbar sind, sondern je schon korrelieren. Das heißt, was uns als gediegene Wirklichkeit erscheint, ist immer auch schon Werk geistiger Energien, die ihrerseits ohne die konkrete Manifestation nicht denkbar sind« (Orth 1993a: 18). 73 Guido Kreis identifiziert an dieser Stelle in Cassirers Theorie die Subjektivität als Systemordnung unserer geistigen Welt. Sie kann »die Einheit aller geistigen Leistungen und aller geistig gestalteten Bereiche unserer Wirklichkeit garantieren« (Kreis 2010: 29). Im Prinzip der Subjektivität ist Cassirers Theorie der kantischen verbunden, nach der es eine »vorgängige objektive Welt« gar nicht gibt, »denn alle Objektivität wird durch eine apriorische Subjektivität konstituiert« (Höffe 2004: 109). Fetz stellt Cassirer und Piaget bezogen auf diese wichtige Stellung des Subjekts als strukturierende Instanz dem Strukturalismus von Lévi-Strauss gegenüber, »für den es nur anonyme, sich in allen Natur- und Kulturformen gleichbleibende Systeme gibt« (Fetz 2010: 49). 74 Vgl. Cassirer 1995: 36. – Der Cassirerforscher Ernst Wolfgang Orth zeigt die Relevanz dieses funktionalen Kulturbegriffs für die heutigen Medienwissenschaften, indem er die Cassirer’sche Kultur als Medienprozess interpretiert (Orth 2010: 301 f.). 75 Paetzold 1994: 174; vgl. Fetz 2010: 14 f. 76 Vgl. Cassirer 1942/2007: 433.; Cassirer 1936-37/1999: 175. 77 Mit Bezug auf Wilhelm von Humboldt fasst Cassirer zusammen: »Das Allgemeine, das sich uns im Bereich der Kultur, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion, in der Philosophie enthüllt, ist […] stets zugleich individuell und universell. Denn in dieser Sphäre läßt sich das Universelle nicht anders als in der Tat der Individuen an-

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in seiner einzigen und einmaligen Besonderheit aktiv teil an der Kultur als dem Allgemeinen. Kultur wird in Cassirers Theorie durch Tätigkeiten in verschiedenen symbolischen Formen konstituiert – wissenschaftliches Denken, religiöse und mythische Ausdrucksformen, künstlerische Darstellung. So kann man umgekehrt sagen, dass Cassirer die »symbolischen Formen« als »Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Kultur« dienen.78 Dabei beschreibt Cassirer die Kultur zwar als vielfältig, aber allgemein, denn er führt nicht aus, dass die symbolischen Formen in unterschiedlichen Kulturkreisen jeweils eigene Ausprägungen fänden.79 2.1.3 Cassirers Vorhaben einer ›Kritik der Kultur‹ Cassirers Theorie der symbolischen Formen zeigt sich uns als dritter Weg gegenüber zwei unterschiedlichen Grundrichtungen der Philosophie: dem System der reinen Vernunft, das dem transzendentalen Idealismus wesentlich ist, einerseits und der Interpretation der geschichtlichen Welt und des konkreten Lebens, auf das Lebensphilosophie, Phänomenologie, Kulturgeschichte etc. ihr Interesse richten, andererseits.80 Die entscheidenden Implikationen eines derartigen philosophischen Systems, das explizit als dritter Weg angelegt ist, werden besonders deutlich im Kontrast zu den anderen beiden Wegen, auf die mit ihm reagiert wurde. So lassen sich die unterschiedlichen Sinnordnungen von Raum in Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ vornehmlich in Kontrast zu Kants transzendentalem Idealismus verständlich machen, weil dieser sich durch einzigschauen, weil es nur in ihr seine Aktualisierung, seine eigentliche Verwirklichung finden kann.« (Cassirer 1939/1993a: 249 f.) 78 Paetzold 1994: 172. – Vgl. auch Paetzolds weitere anschauliche Erklärung: »Die symbolischen Formen sind das einigende Band, welches alle menschlichen Erfahrungen durchzieht. Sie sind der Schlüssel, um die menschliche Erfahrung in ihrer Vielfalt wie auch in ihrer Einheit zu verstehen. Symbolische Formen sind Ausdruck und Dokument menschlicher Kultur.« (Paetzold 1994: 173) 79 Vgl. Cassirer 1922/1956: 30; Cassirer 1936/2002: 177, 183; Cassirer 1942/2007: 419 etc. – Wolf-Dietrich Sahrs Cassirerinterpretation, die genau diese Differenzierung in Kulturkreise behauptet (Sahr 2003: 18), geht meines Erachtens hier in die Irre. 80 Vgl. Cassirer 1910/2000: 333; Krois 1979: 200; Orth 1993a: 16; Fetz 2010: 38. – »Die signifikante Eigenart von Cassirers Symbolphilosophie besteht darin, weder an einer abstrakten Gestalt der Vernunftkritik festzuhalten noch selbst zu einer historistischen, pragmatistischen, anthropologischen oder hermeneutischen Philosophie zu werden« (Kreis 2010: 22, Hervorh. i. O).

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artige Klarheit und Kompaktheit auszeichnet.81 Deshalb werde ich im Folgenden einige Aspekte dazu etwas näher beleuchten. Enno Rudolph bemerkt zu Cassirers Bezug auf die Vernunftkritik, dass voraussetzen nicht übernehmen heiße. Dass »Cassirer die Grenzen und Schranken der theoretischen Philosophie für sein Projekt der Transformation einer Kritik der Vernunft in eine Kritik der Kultur hat überschreiten wollen«, bezeichnet er als sicher.82 Dabei bleibt jedoch unklar, was diese Absicht des ›Überschreitens‹ impliziert, in welchem Aspekt es sich um Fortführungen handelt und in welchen um Entgegensetzungen. Systematisch stellt sich also die Frage: Wie ist eine »methodische Grundlegung«83 einer Kulturphilosophie durch die kritische transzendentale Logik (Frage nach der reinen Vernunft) bei Cassirer möglich und wie konsistent ist sie? Wie Cassirer selbst diese Verbindung gedacht hat oder ob sie überhaupt denkbar ist, wo doch Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹ nach den allgemeinen logischen Bedingungen fragt und weder historische und räumliche Wandlungen noch empirische Situationen konkreter menschlicher Subjekte in ihrer Vielfalt zum Gegenstand hat,84 haben verschiedene Autoren zu analysieren versucht 85 – und die Antwort bleibt oft letztlich unklar.86 Auch im Rahmen der vorliegenden 81 »Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ ist am einfachsten dadurch zu charakterisieren, daß man sie von Kants Konzeption einer Transzendentalphilosophie abhebt« (Paetzold 1994: 1). – Cassirer verweist neben Kant als wichtige Grundlage vor allem an einigen Stellen auf Goethe (unter anderem Cassirer 1923/2006: 79; Cassirer 1927/1985: 181 ff.; Cassirer 1930/1985b: 109), aber nahezu ausschließlich im Hinblick auf seinen Zugang zu Ästhetik und Kunst (vgl. unter anderem Recki 2004: 116; Rudolph 2003: 93, 215; Mormann 2000: 463). Wilhelm von Humboldt ist eine wichtige Quelle für Cassirers Formentheorie, allerdings speziell bezogen auf dessen Sprachphilosophie, nicht auf dessen Raumtheorie (Cassirer 1923/1993; vgl. Habermas 1996: 22 ff.). Aspekte zum Unterschied von Cassirers Philosophie zu der des Phänomenologen Otto Friedrich Bollnow zeige ich in Kapitel 3.2.1. 82 Rudolph 1999: 9; vgl. Cassirer 1939/1993b: 202; Bevc 2005: 50 f. – »Allein der Anspruch, die Kritik der Vernunft müsse zur Kritik der Kultur werden, ist de facto eine Distanzierung von Kant« (Kaegi 1994: 169). 83 So beschreibt es ja Cassirer selbst, siehe Zitat oben (Cassirer 1939/1993b: 202). 84 Vgl. Kreis 2010: 21 f. 85 Marx 1988; Knoppe 1992 (insb. 85 f.); Kreis 2010 etc. 86 Unklarheit herrscht beispielsweise durch das schwammige Wort ›Verknüpfung‹: »Indem die Frage nach der Kultur des Menschen als Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erfahrungen gestellt wird, diese mit erweiterten Kantischen Mitteln bearbeitet wird, bleibt die Kulturphilosophie mit dem Zentrum der Transzen-

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Arbeit ist dieser Punkt nicht zu klären; es kann nur ein Einblick in Analogien und Differenzen zwischen Cassirers Kulturphilosophie und Kants Kritizismus gegeben werden. Explikation von impliziten Geltungsbedingungen Verbunden ist das kritische Programm der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ dem Programm der ›Kritik der reinen Vernunft‹ insbesondere in folgendem Punkt: Kants Vorhaben einer logischen Lehre, die mit strenger Allgemeingültigkeit notwendige Kategorien und Begriffe für die wissenschaftliche, objektiv gültige Welt identifiziert, wandelt Cassirer ab in eine reflexive Analyse bestimmter, in sich stimmiger Ordnungen der subjektiven Bedingungen der gegenständlichen Wirklichkeit. Ihn interessiert nicht die Letztbegründung, sondern die »Explikation der impliziten Geltungsbedingungen«87 von faktisch vorliegenden Erfahrungen. In dieser Weise deutet das auch Wolfgang Marx: »Die auf den ersten Blick befremdliche These Cassirers, daß die Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur werde, besagt, daß die theoretischen wie alle anderen Leistungen des menschlichen Geistes nicht nur ihre eigene, von ihm unablösbare Geschichte haben, sondern auch und vor allem dies, daß die spezifische Struktur der Leistungen des Geistes nur dann verständlich werden kann, wenn sie in den kulturellen Horizont zurückgestellt wird, aus dem sie sich entwickelt hat.«88

Damit hat die verbreitete Annahme, dass Phänomene wie Gegenstände, Handlungen oder Individuen außerhalb ihres spezifischen Kulturzusammenhangs bedeutungslos beziehungsweise missverständlich sind (etwa Höflichkeitsformen oder Esskulturen), einen spezifischen Sinngehalt: Jeder symbolischen Auffassung – also der individuellen Zuordnung eines Sinns zu einem Phänomen – wohnt (analog zu den Wissenschaften) jeweils ein bestimmter Objektivitäts- und Wertanspruch inne. Dieser ist in jeder symbolischen Formung notwendig, aber

dentalphilosophie verknüpft« (Paetzold 1994: 170). – Oder mit einem ›Einerseits-andererseits‹: »Die Philosophie der symbolischen Formen gliedert den Mythos in das Ensemble der symbolischen Formen ein, die einerseits als basale Erkenntnisrichtungen […], andererseits als gesonderte Bereiche der menschlichen Kultur bestimmt werden« (Plümacher 2003: 182 f.). 87 Kreis 2010: 23. 88 Marx 1975: 304.

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er muss89 in keinem anderen Symbolsystem verständlich sein. Cassirer betont deshalb für die philosophische Analyse: »Statt den Gehalt, den Sinn, die Wahrheit der geistigen Formen an etwas anderem zu messen, das sich in ihnen mittelbar abspiegelt, müssen wir in diesen Formen selber den Maßstab und das Kriterium ihrer Wahrheit, ihrer inneren Bedeutsamkeit entdecken«90.

Dabei bleibt Cassirer aber bei der philosophischen Frage nach der Geltung und beabsichtigt keine Kulturgeschichtsschreibung: »[W]ie die reine Erkenntniskritik im besonderen, so fragt die Philosophie der symbolischen Formen im Ganzen nicht nach […] [der] empirischen Herkunft des Bewußtseins, sondern nach seinem reinen Bestand. Statt seinen zeitlichen Entstehungsursachen nachzugehen, richtet sie sich lediglich auf das, was ›in ihm liegt‹; auf die Erfassung und Beschreibung seiner Strukturformen«91.

Cassirers Interesse richtet sich also, wie das Kants, vorwiegend auf die Geltung und nicht auf die Genese (das heißt das konkrete historische Gewordensein) der Auffassungen. Doch Cassirer fragt im Unterschied zu Kant analytisch nach der Geltung auf kultureller Ebene, nicht nach der auf transzendentaler, systematischer Ebene. Zum Gegenstand hat Cassirers Analyse also kulturelle Geltungen, nicht reine, logische Geltungen, aber – und das ist analog zu Kants Kritizismus – die Analyse selbst ist wissenschaftlich-rational und nicht individuell von kulturellen Bedeutungen geprägt. In beispielsweise einer mythischen Weltauffassung denkt man nicht wissenschaftlich-rational, aber so denkt die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ über diese Auffassung. Cassirers Philosophie geht davon aus, dass mythische Beurteilungen sich zwar wissenschaftlich-rational erklären, nicht aber in ihrem eigentlichen Wesen begreifen lassen, denn das ist möglich 89 Ein bestimmter Objektivitäts- und Wertanspruch kann in einem anderen Symbolsystem verständlich sein, wenn es systematische oder zufällige Analogien zwischen den Symbolsystemen gibt. 90 Cassirer 1924/1925: 6, Hervorh. i. O. – Guido Kreis erläutert dies so: »Keine einzige symbolische Form kann auf irgendeine der anderen symbolischen Formen ohne signifikante Verluste reduziert werden. Der Pluralismus kann also nicht durch ein Unterordnungsmodell zurückgenommen werden. Deshalb ist auch keine der symbolischen Formen von vorneherein als die ›eigentliche‹ symbolische Form ausgezeichnet – weder die Wissenschaft (zum Beispiel die jeweils am besten belegte physikalische Theorie) noch auch die alltagssprachliche Lebenswelt.« (Kreis 2010: 408) 91 Cassirer 1929: 58; vgl. Cassirer 1944/2007: 74.

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nur innerhalb der mythischen Denkwelt mit ihren spezifischen Kategorien und Sinnzusammenhängen. Cassirer stellt Kants kritische Frage nach den Bedingungen, unter denen Erkenntnis und Erfahrung formal möglich sind, bezogen auf die lebensweltlichen Erscheinungen – also auf empirische, orts- und zeitgebundene Kulturphänomene und ihre individuellen Auffassungen. Es handelt sich, anders gesagt, um die kritische Reflexion der jeweiligen »Bedingungen der Möglichkeit der besonderen Geltung des Betrachteten«92, die bei einer Betrachtung in einem bestimmten System einer ›geistigen Grundfunktion‹93 (also der symbolischen Form) zum Tragen kommen. Cassirers Forschungsinteresse ist es also, die Bedingung der Möglichkeit von kultureller Bedeutung beziehungsweise Bedeutsamkeit zu analysieren. Diesser Ansatz unterscheidet sich grundlegend von Kants Forschungsinteresse, das sich in der ›Kritik der Vernunft‹ und der ›Kritik der Urteilskraft‹ gerade nicht auf kultur- und epochenabhängig verschiedene Weltauffassungen richtet. Kant geht es in transzendentaler Absicht vielmehr um die fundamentalen Fragen nach geltungstheoretischer Letztbegründung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis (um die Theorie des Wissens) – beziehungsweise nach den allen Kulturen gemeinsamen, für jedes vernünftige Subjekt geltenden Prinzipien von Moral und Ästhetik. Diese Frage beantwortet er mit dem formal notwendigen Postulat eines synthetischen Apriori, das heißt, einer nicht relativierbaren und aller Erfahrung vorausgehenden Erkenntnis beziehungsweise eines aller individuellen »subjektive[n] Notwendigkeit« und Unzulänglichkeit der konkreten Geschmacksbil-

92 Knoppe 1992: 176. – Die »Methodik der kritischen Analyse« muss » vom ›Gegebenen‹, von den empirisch festgestellten und gesicherten Tatsachen des Kulturbewußtseins ausgehen«; sie fragt aber »von der Wirklichkeit des Faktums nach den ›Bedingungen seiner Möglichkeit‹ zurück« (Cassirer 1925: 16). Cassirer stellt bei seiner Theorie nicht die regulative Idee der allgemeinen Vernunft in den Vordergrund, sondern die Kultur in symbolischen Formen, die Kontinuitäten haben, aber auch gewissen Wandlungen unterliegen und in deren Kontext das Subjekt als Individuum steht (vgl. Rudolph 1999: 18 f.; vgl. Paetzold 1994: XII). 93 Die ›geistigen Grundfunktionen‹ bilden die ›symbolischen Formen‹ (vgl. Cassirer 1923: 8 f.) oder anders gesagt: In jeder ›symbolischen Form‹ werden die Gegenstände durch eine spezifische ›geistige Grundfunktion‹ bestimmt, beispielsweise die »reine[...] Erkenntnisfunktion […], die Funktion des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung« (Cassirer 1923: 11).

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dung vorausgehenden sozusagen Universal-Subjektiven im sittlichen Handeln und sinnlichen Beurteilen.94 Konträr zu dem Anspruch der ›Kritiken‹ nach reiner Theorie (das heißt nach unhintergehbaren Allgemeinheiten und Notwendigkeiten) zu suchen, merkt Wolfgang Marx an, dass auch »die Entwicklung der theoretischen Philosophie [wie der Kants] sich [nicht] in einem weltanschauungsfreien Raum bewegt«95. Darum sei es eine Aufgabe der philosophischen Theorie, die »Verflochtenheit philosophischer Fragestellungen und Methoden mit den faktischen Entwicklungen der Kultur« »als eine theoretische Aufgabe aufzufassen«, die darin bestehe, »den Aspekt der Wandelbarkeit aller, so auch der theoretischen Begriffe bezüglich aller realen Faktoren, die, explizit oder nicht, in jede Begriffsbildung eingehen und in dieser stillschweigend mitfungieren, zu verbinden mit der Stabilität, welche Begriffen allererst bestimmende Funktion verleihen kann«.96 Cassirer stellt sich genau diese Aufgabe – allerdings nicht vorrangig als theoretische Aufgabe (etwa die Frage nach der Notwendigkeit der »Stabilität« von Theorien),97 94 Kant 1788/1974: 117 f.; vgl. Höffe 2004: 20, 45 f., 55. – »Kant erkennt zwar […] die Objektivität« an, erklärt aber »Eigenleistungen des Subjekts für konstitutiv«. Die Gesetze der Erkenntnis »gelten streng universal« und entstammen, paradox formuliert, einer »übersubjektiven Subjektivität«, einem universalen Subjekt. (Höffe 2004: 20, 45) – Kant unterscheidet als Vermögen des Subjekts die theoretische Vernunft (reines Wissen) und die praktische Vernunft (Bestimmung des moralischen Sollens) sowie dazwischen vermittelnd die ästhetische Urteilskraft (Prinzipien des Wohlgefallens an Dingen) (vgl. beispielsweise Störig 2000: 476 f.; Siegmund 2011: 64.). 95 Marx 1975: 331; vgl. Cassirer 1979: 69. 96 Marx 1975: 332, Hervorh. i. O. – Auch wenn eine derartige Betrachtung der Einflüsse wichtig ist, möchte ich doch Wolfgang Marx’ Darstellung differenzieren: Eine rein theoretische Philosophie, die sich (nur) innerhalb eines Paradigmas bewegt, kann sehr wohl betrieben werden. Auf einer kategorialen Basis und mit eindeutigen Begriffen kann eine streng logische, theoretische Philosophie mit bestimmten Grenzen aufgebaut werden, innerhalb der sich fruchtbar arbeiten lässt. Vor allem Kants Kritik ist ja dem Anspruch nach zeitlos, allgemein und universell. Der Einfluss von außen (der Kultur) auf die Basis und damit auf das Theoriegebäude insgesamt, kann sich als unbemerkter Wandel vollziehen oder kann als Krise der Theorie offensichtlich werden. Reflexiv beschrieben wird dieser Einfluss aber nur auf einer Metaebene, die von dem Theoriegebäude zu trennen ist. (Vgl. unter anderem Kuhn 1962/1976.) 97 Der Frage nach der Notwendigkeit von »Stabilität« und »Wandelbarkeit« von Theorien widmet sich eingehend Thomas S. Kuhn in seinen Betrachtungen zur »normalen Wissenschaft« (Forschung, die auf einem stabilen Paradigma basiert) und der »Notwendigkeit von wissenschaftlichen Revolutionen«, in denen ein älteres Paradigma

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sondern als praktische Aufgabe. Er unterscheidet die theoretische Frage nach ›der Welt‹ von der praktischen Frage nach der kulturellen Formung ›zur Welt‹: »Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, daß daraus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht.«98

Cassirer begreift also das Objektive als durch »Praxis« (Handlung) »erzeugt«.99 Dabei meint er ein »wirkliches Handeln in der Welt«, während im Gegensatz dazu Kant im Praktischen das Allgemeine betont, die normative »Verstandeshandlung« in ihren allgemeinen Prinzipien und Gesetzen.100 Erkenntnisinteresse am konkreten Leben In seiner Philosophie beabsichtigt Cassirer eine Erneuerung des kantischen Theorienprogramms unter veränderten Vorzeichen angesichts dessen, dass »neues Material«101 vorliege. Damit meint er neben neuen empirischen (naturwissenschaftlichen) Erscheinungen vor allem »das Wesen des Menschen«102, das er psychologisch für nicht ausreichend erklärt hält, sondern dass er als kulturelles Wesen versteht, als Bewusstsein, das reflektiert Urteile fällt – im Gegensatz zur

deshalb ganz oder teilweise durch ein mit ihm nicht vereinbares neues ersetzt wird, weil es nicht mehr in adäquater Weise funktioniert (Kuhn 1962/1976). Entscheidend sind im Wandlungsprozess, nach Kuhn, nicht zuletzt die sozialpsychologischen Eigenschaften der Wissenschaftsgemeinschaft (ebd.; vgl. auch Lakatos 1968/1982). 98 99

Cassirer 1923: 10 f., Hervorh. i. O. Nach Birgit Reckis stringenter Interpretationsvariante ist Cassirers Theorie generell als primär praktisch ausgerichtet zu deuten (Recki 2004). Guido Kreis beschreibt diese praktische Handlung wie folgt: »Die Subjekte des Geistes haben zu sich und ihrer Welt nicht lediglich ein theoretisches Verhältnis, sie sind vielmehr in der Hauptsache Akteure [sie handeln]. […] Deshalb ist grundsätzlich auch Praxis derjenige Horizont, in dem die Philosophie der symbolischen Formen angesiedelt ist« (Kreis 2010: 315).

100 Schwemmer 2005: 126. 101 Cassirer 1935/2002: 148 f. – Dieser 1935 verfasste, aber erst 2002 im Nachlasswerk veröffentlichte deutsch Text wurde in der englischsprachigen Fassung schon 1979 gedruckt (Cassirer 1935/1979: 55 f.). 102 Cassirer 1944/2007: 21

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animalischen, unmittelbaren Reaktion auf die von außen und innen einwirkende Natur.103 »Die großen Denker, die den Menschen als animal rationale beschrieben haben, waren keine Empiristen, und sie hatten auch nicht die Absicht, eine empirische Darstellung von der Natur des Menschen zu geben. In ihrer Definition brachten sie vielmehr einen fundamentalen moralischen Imperativ zum Ausdruck. Der Begriff der Vernunft ist höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen. Alle diese Formen sind symbolische Formen. Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren. Auf diese Weise können wir seine spezifische Differenz bezeichnen und lernen wir begreifen, welcher neue Weg sich ihm öffnet – der Weg der Zivilisation.«104

Cassirers dritter Weg zur Erklärung von Wissen und Weltauffassungen fragt aus kantianischer Sicht zu wenig allgemein-abstrakt auf Letztgültigkeit hin; aus Sicht von soziologisch-psychologischen Gesellschaftstheorien jedoch erscheint er zu wenig empirisch nachgewiesen. Cassirer sucht Formen, doch im Gegensatz zu Kant kulturelle Formen.105 Er sucht also zwar allgemeine Bedingungen der Möglichkeiten von Bedeutungen, aber je nach gesellschaftlichem Kontext (kulturelle Form) unterschiedliche historisch wandelbare Bedingungen. Wichtig ist festzuhalten: Dass die symbolischen Formen nur mit empirisch festgestellten kulturellen Bedeutungen – also mit dem, was sie erst erklären sollen – beschrieben werden, ist kein Fehler.106 Es handelt 103 Cassirer 1944/2007: 21; vgl. Habermas 1996: 16. – Guido Kreis stellt eine spezielle Deutung dieser Erneuerung des kantischen Theorieprogramms zur Diskussion, bei der er sieben Umwandlungsschritte von Kants Vernunftkritik zu Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ darstellt (Kreis 2010: 23 ff.). 104 Cassirer 1944/2007: 51. 105 In ähnlicher Weise beschreibt das auch Birgit Recki: Cassirer Konzeption thematisiere »die kategoriale Erzeugung der Gegenstände unserer Erfahrung als integrales Element der Kultur und diese – nach dem Muster der kategorialen Erzeugung – als Universum vielfältiger selbsterzeugter Vermittlungen« (Recki 2004: 31). Der Cassirerforscher Oswald Schwemmer fasst den kulturellen Aspekt so zusammen: »Für Cassirer ist es nicht ein universell identisches, ein überall und jederzeit in jedem Erkenntnisprozess identisches, transzendentales Subjekt, das unsere Erkenntnis konstituiert« (Schwemmer 2005: 124). 106 Graeser sieht dagegen in dieser zirkulären Entwicklung in Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ eine erhebliche Schwäche (Graeser 1994: 49). Dies ist meiner Auffassung nach allerdings nur dann problematisch, wenn man in Cassirers Dar-

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sich vielmehr um einen fruchtbaren hermeneutischen Zirkel zwischen Induktion und Deduktion, der einer kulturellen Betrachtung der Gegenstände angemessen ist. Cassirer geht es also wesentlich nicht um die Analyse von reiner Geltung, sondern von Geltung unter bestimmten Bedingungen, unter »Faktoren, die dem konkreten Leben mit allen Interessen und Gegensätzen angehören«107. Seine Kulturphilosophie hat gerade auch – im Gegensatz zur theoretischen Philosophie, die dem Anspruch nach in logischer Strenge arbeitet – Veränderungen und Irrationalitäten (des konkreten Lebens) zum Gegenstand. Andererseits kann die Kulturphilosophie nicht Fragen nach der Letztbegründung der Kulturphänomene bearbeiten.108 Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, wenn Cassirer bei einer Besprechung von Paul Natorps kritischer Philosophie des Bewusstseins herausstellt, dass das kantische »Koordinatensystem« mit den »drei Dimensionen des Logischen, des Ethischen und des Ästhetischen« nicht ausreiche, um »alle Gebiete geistigen Schaffens« abzubilden und zu verstehen; insbesondere die Bewusstseinsform der Sprache und die des Mythos würden fehlen. 109 So führt Casstellung der kulturellen Formen die Absicht sieht, ein System zu entwerfen, das – wie Kants Kritiken – den Anspruch hat, alle denkmöglichen, allgemeinen Formen zu umfassen, also abgeschlossen und zeitlos logisch-abstrakt zu sein. Denn nur wenn diese transzendentalen Formen das Ziel der Philosophie sind, ist es widersprüchlich, von einzelnen empirischen Inhalten auf deren Auffassungsform zu schließen. 107 Marx 1975: 330. 108 Zur Stellung der Letztbegründung in Cassirers Kulturphilosophie bestehen im Übrigen zwei unterschiedliche Interpretationsrichtungen: a) Manches spricht dafür, dass Cassirer die transzendentale Ebene, auf der sich Kant bewegt, nicht als eine besondere gelten lässt (vgl. Marx 1988: 83). Cassirer habe, so Thomas Knoppe, die Symbolsysteme (Mythos, Religion, Wissenschaft etc.) als Faktum hingenommen, »ohne sich jemals weder um die Deduktion ihres Zusammenhangs, noch um ihre Funktion im Rahmen einer Theorie des reinen Denkens ernsthaft Gedanken gemacht zu haben« (Knoppe 1992: 183). b) Man könnte aber auch deuten, dass Cassirer Kants streng formal-theoretische Perspektive als wesentliche Basis anerkennt, sich aber selbst nicht auf dieser Ebene, sondern auf der der kulturellen Formen bewegt. In diesem Sinne beschreibt Guido Kreis die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ als eine Philosophie, die sich zwar vom »reinen Denken« gelöst hat (und lösen musste) und die subjektive kategoriale Grundlagen nur noch in der konkreten Wirklichkeit erfassen kann, die aber nach wie vor einen universalen Geltungsanspruch im Theoretischen wie Praktischen vertritt (Kreis 2010: 468 f.). 109 Diese klare und umfassende Benennung der Lücke, die Cassirer bei Kant sieht, ist bemerkenswerterweise erst in der Einleitung zum dritten Band der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zu finden (Cassirer 1929: 67). In der Einleitung zum ersten

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sirer an anderer Stelle aus, dass die Sprache ein »Gebiet des Geistes« sei, das »weder naturgesetzlich nach der Analogie des mathematischen Notwendigkeitsbegriffs noch praktisch und teleologisch, nach dem Vorbild der ethischen Wertund Normbegriffe« bestimmt werden könne und das auch »in der Kunst und in der ästhetischen Gestaltung« nicht aufginge.110 Aus dieser Perspektive hat Kant, wie Dominic Kaegi treffend bemerkt, »das Denken zwar in seiner gegenstandskonstituierenden Leistung beschrieben, aber er hat es zugleich auf die Funktion des Urteils reduziert«, neben der es jedoch »eine Vielzahl anderer Funktionen« gäbe, »die nicht minder Objektivität ›setzen‹«.111 Cassirer zielt darauf ab, die Vorstellungen über die Welt, wie sie sich im konkreten Leben zeigen und sich durch eine große Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit auszeichnen, philosophisch systematisch zu verstehen. Er sieht einen wesentlichen philosophischen Erkenntnisgewinn darin, symbolische (übersubjektive) Formungen vorauszusetzen, die die Möglichkeiten der Vorstellungen erst bilden, weil sie dem erkennenden Individuum die Erscheinungen vermitteln. Sein explizites Programm ist es damit, Wilhelm von Humboldts Sprachtheorie weiterzudenken über die Form der Sprache hinaus. Humboldt exponiert die Sprache als notwendiges Medium, als vermittelnde Form zwischen der »Besonderheit des geistigen Seins« und der »Universalität eines geistigen Lebens«. 112 Cassirer behauptet nun, dass so, wie die Sprache die Funktion hat, zwischen der Individualität des Einzelinhaltes der Rede und dem Ganzen der möglichen Inhalte zu vermitteln und damit den gegenständlichen Gehalt des Inhalts zu bestimmen,113 dies analog auch für andere Formen wie Kunst oder Religion gelte. Auch hier leistet das Subjekt die Formungen der Gegenstände innerhalb kulturell-allBand stellt er eher unsystematisch Kunst, Mythos und Religion der Erkenntnis gegenüber (Cassirer 1923: 8 f.). Später benennt Cassirer deutlich, dass Kant die antike Gliederung der Philosophie in »die drei Hauptteile der Logik, Physik und Ethik« übernehme und damit nicht angemessen dem Gebiet gerecht werde, das als Kulturphilosophie zu fassen sei (Cassirer 1939/1993a: 231). 110 Cassirer 1923/1993: 238 f. 111 Kaegi 1994: 170. 112 Cassirer 1923/1993: 253. – Cassirer interpretiert Humboldt in diesem Punkt als dem kritischen Idealismus verpflichtet, insofern, als »das Objektive nicht das Gegebene, sondern das erst zu Erringende, nicht das an sich Bestimmte, sondern das zu Bestimmende ist« (ebd.: 258; vgl. Cassirer 1949: 63). Damit deutet er auf die Möglichkeit seines dritten Weges der kritischen Kulturphilosophie hin, in dem er – wie ich eingangs angedeutet habe – Humboldts Sprachtheorie mit dem Idealismus Kants in gewisser Weise verknüpft und weiterentwickelt. 113 Cassirer 1923/1993: 265.

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gemeiner Regeln.114 Die Formen zeigen sich damit in Cassirers Theorie als denknotwendig, was er an einer Stelle folgendermaßen beschreibt: »Der Gegenstand besteht nicht vor und außerhalb der synthetischen Einheit, sondern er wird vielmehr erst durch sie konstituiert – er ist keine geprägte Form, die sich dem Bewußtsein einfach aufdrängt und eindrückt, sondern er ist das Ergebnis einer Formung, die sich kraft der Grundmittel des Bewußtseins, kraft der Bedingungen der Anschauung und des reinen Denkens vollzieht.«115

2.2 ÜBERBLICK ZU CASSIRERS RAUMTHEORIE UND IHRER ANWENDUNG IN DIESER ARBEIT Auf Basis der in Kapitel 2.1 dargelegten Grundzüge von Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ möchte ich nun die darin enthaltene Theorie zu Raum beleuchten. Dazu gehe ich zusammenfassend zunächst auf die Konstitution des Raumes sowie auf ein analytisches Gliederungsschema für die symbolischen Raumauffassungen ein. Mit dem Überblick lässt sich ein Zwischenresümee ziehen, was die in der Arbeitsthese formulierte Eignung von Cassirers Raumtheorie für die Analyse des aktuellen Diskurses über die Naturschutzidee ›Wildnis‹ angeht. Die symbolischen Formen ordnen das Räumliche zu Räumen Als Teil seiner Kulturphilosophie entwirft Cassirer eine Theorie, in der Räume durch symbolische Sinnordnungen der Anschauung (des bloßen Räumlichen) gebildet und diese Sinnordnungen als kulturell geprägt – sich geschichtlich nacheinander beziehungsweise synchron herausbildend – differenziert werden.116 Wesentliche Raumformungen sind der »mythische«, der »ästhetische« und der

114 Ebd. 115 Cassirer 1925: 39. 116 Cassirer stellt diese Theorie prinzipiell analog zum Raum auch für Zeit auf (Cassirer 1930/1985b), der zweiten grundlegenden (reinen) Formen der Anschauung (vgl. unter anderem Cassirer 1944/2007: 72 ff.). Allerdings arbeitet er in seinem gesamten Werk die symbolischen Zeitformen kaum aus. Eine umfassende Theorie zu kulturell bedingten unterschiedlichen Zeitauffassungen hat Reinhardt Koselleck formuliert (Koselleck 2000). – Die symbolischen Formen der Zeit im Speziellen sind in Bezug auf das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit, die Raumauffassung »Wildnis« zu verstehen, von untergeordneter Bedeutung und werden daher hier nicht weiter beachtet.

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»theoretische« Raum, die er in einem Vortrag 1930 darlegt. 117 Die den jeweiligen Raum konstituierenden Sinnordnungen erhalten »ihren Sinn jeweils erst von der je spezifischen geometrischen oder physikalischen Theorie resp. der ästhetischen oder mythischen Weltauffassung«118. In diesem Sinne konstatiert Cassirer: »Alle Setzung von Merkmalen, von objektiven Eigenschaften geht auf eine bestimmte Eigenheit des Denkens zurück – und je nach der Orientierung dieses Denkens, je nach seinem beherrschenden Gesichtspunkt wechseln für uns die Bestimmtheiten wie die Beziehungen, die wir im ›Seienden‹ annehmen«119.

Diese Raumtheorie resultiert aus Cassirers Erkenntnistheorie,120 dass wir nicht »die Gegenstände« als gegebene erkennen, sondern »gegenständlich« erkennen, »indem wir innerhalb des gleichförmigen Ablaufs der Erfahrungsinhalte bestimmte Abgrenzungen schaffen und bestimmte dauernde Elemente und Verknüpfungszusammenhänge fixieren«.121 Eine bestimmte ›Raumformung‹ (etwa die ›mythische Raumformung‹) ist ein System derartiger Abgrenzungen und Fixierungen. Denn Raumstrukturen (verkürzt gesagt ›Räume‹) werden gebildet, indem die Anschauung (des bloßen Räumlichen) mit einem symbolischen Sinn (beispielsweise einer mythischen Bedeutung) geordnet wird. »Die Sinnfunktion ist das primäre und bestimmende, die Raumstruktur das sekundäre und abhängige Moment.«122

117 Cassirer arbeitet diese drei Formen in seinem Vortrag »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum« 1930 aus (Cassirer 1930/1985b: 102), ein Jahr nach seinem dritten und letzten Band der ›Philosophie der symbolischen Formen‹. 118 Köhnke 2001: 27; vgl. Cassirer 1925: 39; Cassirer 1938/1956: 209. 119 Cassirer 1922/1956: 59 f., Hervorh. i. O. 120 Ausführlich gehe ich darauf in Kapitel 2.1 ein. 121 Cassirer 1910/2000: 328. – Cassirer richtet sich, wie Friedman herausstellt, gegen die traditionelle »Abbildtheorie« und setzt, von der formalen Logik und abstrakten Mathematik abgeleitet, eine »kritische« Theorie dagegen, in der gilt: »Unsere sinnlichen Repräsentationen erlangen Wahrheit […] nicht durch Übereinstimmung oder Abbildung eines Gebietes von metaphysischen ›Dingen‹ oder Substanzen […], sondern kraft der Einbettung unserer sinnlichen Vorstellung und der empirischen Phänomene selbst in […] formale Systeme von ›Zeichen‹«. (Friedman 2000/2004: 101 f.) 122 Cassirer 1930/1985b: 102.

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Cassirer bestimmt also einen speziellen Raumbegriff über den Raum als reine Anschauung, der »Grundform aller äußeren Empfindungen«123, hinaus, indem er nicht fragt, »wie diese Form an und für sich entsteht, sondern lediglich, wie sie sich in der empirischen Erkenntnis näher bestimmt und spezialisiert«124. Das heißt, das Räumliche (»die Räumlichkeit«125) wird von mehreren kulturellen Sinngebungen (»in der empirischen Erkenntnis«126) geordnet, und Raum als Raumstruktur ist erst das jeweilige Produkt dieser Ordnungen und nicht »absolute Substanz«127. In Cassirers Theorie wird Raum als ein Beziehungsbegriff verstanden, der »gleichsam zwischen die Elemente [tritt], die er miteinander verknüpft. Denn er selbst ist nicht von derselben Welt wie diese Elemente – er hat keine ihnen vergleichbare dingliche Existenz, sondern nur eine ideelle Bedeutung«128. Der Erfahrungsinhalt – das substanzielle Ding im Raum – selbst wiederum ist nicht »bloßer Stoff […], sondern ein Ausdruck für die Form und den Modus des Begreifens selbst«129. Weil es Cassirer nicht auf ›den Raum‹ (als seienden) und scheinbar eindeutigen ankommt, sondern er die offensichtliche Mannigfaltigkeit an Auffassungen 123 Kant 1770/2006: 76; vgl. Kapitel 1.2.2. 124 Cassirer 1910/2000: 310. – An anderer Stelle schreibt Cassirer im selben Sinn: »Ausdehnung und Räumlichkeit [muß] in irgendeinem Sinne als ein nicht weiter reduzierbarer ›Charakter‹ aller unserer sinnlichen Wahrnehmungen anerkannt werden […]. […] Nicht wie ein zuvor schlechthin Unräumliches die Qualität der Räumlichkeit erlangt, läßt sich aufzeigen – wohl aber kann und muß gefragt werden, auf welchem Wege und kraft welcher Vermittlungen die bloße Räumlichkeit in ›den‹ Raum […] übergeht.« (Cassirer 1929: 173) 125 »[D]ie allgemeine Form der Räumlichkeit« ist das »Beisammen und Auseinander der einzelnen Elemente« (Cassirer 1910/2000: 310, Hervorh. i. O.). Vgl. Kant: »Der Begriff des Raumes ist demnach eine reine Anschauung; da er ein einzelner Begriff ist, nicht durch Empfindungen zusammengebracht, sondern die Grundform aller äußeren Empfindung« (Kant 1770/2006: 76, Hervorh. i. O.). Die »zwei reinen Formen sinnlicher Anschauung, als Prinzipien der Erkenntnis a priori« sind Raum und Zeit (Kant 1787/1974: 71). 126 Cassirer 1910/2000: 310. 127 Ebd.: 321 f. 128 Cassirer 1925: 82, Hervorh. i. O.; vgl. Cassirer 1910/2000: 328. – Cassirer verweist auch auf Gottfried Wilhelm Leibniz, der Raum und Zeit nicht als Substanzen, sondern als »vielmehr ›reale Relationen‹« beschreibt, die »ihre wahrhafte Objektivität in der ›Wahrheit von Beziehungen‹« haben (Cassirer 1930/1985b: 97 f.). 129 Cassirer 1910/2000: 328; vgl. Cassirer 1929: 18.

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von Räumen beleuchten will, analysiert er die Erfahrungen mit dem Begriff der kulturellen Ordnungen: »[D]ie absolute Identität, die Einheit und Einerleiheit in sich selbst, bildet den logischen Grundcharakter des Seins. Es kann seine Natur nicht wandeln, ohne seinen Gegensatz, dem Nicht-Sein, anheimzufallen. […] Im Gegensatz zu dieser Einheit und zu dieser Starrheit des Seinsbegriffs ist der Begriff der Ordnung von Anfang an durch das Moment der Verschiedenheit, der inneren Vielgestaltigkeit verzeichnet und ausgezeichnet.«130

Die Funktion der Sinnordnungen erfüllen in Cassirers Philosophie die »symbolischen Formen«, als welche er insbesondere die Sprache, die Kunst, den Mythos, die Religion und die (Natur-)Wissenschaften beschreibt.131 Cassirer geht davon aus, dass in einer Raumtheorie nicht ontologisch nach der materiellen Realität des Raumes gefragt wird, sondern vielmehr erkenntnistheoretisch nach den Auffassungsarten, wie wir unsere räumliche Erfahrung ordnen. Die drei Dimensionen der symbolischen Raumformung: Ausdruck, Darstellung, Bedeutung Cassirer beschreibt zu den kulturellen Erfahrungsformen drei Grundfunktionen, die er die »drei Dimensionen der symbolischen Formung« nennt: »Ausdruck«, »Darstellung« und »Bedeutung«.132 Diese drei symbolischen Funktionen fungieren als eine »Art Koordinatensystem«, um die »Binnen- und Außengliederung« jeder symbolischen Form zu beschreiben;133 sie sind ein »Schema zur logischanalytischen Gliederung kultureller Erfahrungsformen«134. Anhand der drei Di130 Cassirer 1930/1985b: 491. – Cassirer fasst dies an einer Stelle so zusammen: »[D]ie absolute Identität, die Einheit und Einerleiheit in sich selbst, bildet den logischen Grundcharakter des Seins. Es kann seine Natur nicht wandeln, ohne seinen Gegensatz, dem Nicht-Sein, anheimzufallen. […] Im Gegensatz zu dieser Einheit und zu dieser Starrheit des Seinsbegriffs ist der Begriff der Ordnung von Anfang an durch das Moment der Verschiedenheit, der inneren Vielgestaltigkeit verzeichnet und ausgezeichnet.« (Ebd.: 99) 131 Dies beschreibt Cassirer unter anderem an folgenden Stellen: Cassirer 1929: 3; Cassirer 1944/2007: 110; Cassirer 1949: 49. 132 Cassirer 1927/1985: 8 f. 133 Orth 1993a: 20. – »Diese Gliederung ist aus einem dynamischen Prozeß der ›Auseinandersetzung‹ zu verstehen. Cassirer spricht von einer Funktionstrias ›Ausdruck, Darstellung, reine Bedeutung‹, die diesen Prozeß strukturiert« (ebd.: 20 f., mit Zitaten aus Cassirer 1927/1993). 134 Paetzold 1994: 169; vgl. Graeser 1994: 68.

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mensionen der symbolischen Formung können also bestimmte Besonderheiten der Raumauffassungen aufgezeigt werden. Es folgt eine kurze Übersicht über die drei symbolischen Funktionen. Ihre Konturen werden im anschließenden Kapitel 3 im Zusammenhang mit den symbolischen Formen dann jeweils noch verdeutlicht. (1) Bei der einfachsten Dimension (»Ausdruck«) erfüllt sich für uns nach Cassirer ein »sinnliches Erlebnis« »dadurch mit einem bestimmten Sinngehalt«, »daß an ihm ein charakteristischer Ausdruckswert haftet«.135 (2) In der »Darstellung« dagegen überschreitet eine symbolische Formung den Kreis des Ausdrucks und enthält »eine bestimmte Setzung«, die »auf einen objektiven Sachverhalt« hinzielt.136 Cassirers Beispiel hierfür ist vor allem die Sprache als Formung, deren Wesen es sei, nicht primär ein unmittelbares sinnliches Erlebnis zu sein, sondern eine Setzung. (3) Die komplexeste Dimension, die »Bedeutung«, hat sich von der Anschauung ganz gelöst und schwebt »sozusagen im freien Äther des reinen Gedankens«: Ein reines Bedeutungszeichen »drückt nichts aus und stellt nichts dar – es ist Zeichen im Sinne einer bloß abstrakten Zuordnung.«137 Deutlich zeigt sich, so Cassirer, diese reine Bedeutung in Beziehungsaxiomen ohne jede Anschauung in der »modernen Geometrie«, also der nichteuklidischen, abstrakten Geometrie. 138 Alle diese drei geistigen Grundfunktionen, Ausdruck, Darstellung und Bedeutung, sind in den symbolischen Formen, welcher Art auch immer, zu finden. Allerdings haben sie in den verschiedenen Formungen je signifikant unterschiedliche Stellenwerte, was wir in Kapitel 3 sehen werden. Cassirers Raumtheorie erlaubt den Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ adäquat zu ordnen – Resümee Auf Grundlage der hier erläuterten wesentlichen Aspekte von Cassirers Raumtheorie im Rahmen seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ kann nun ein Zwischenresümee gezogen werden, was die Eignung seiner Raumtheorie für die

135 Cassirer 1927/1985: 9. – Ein klares Beispiel für Ausdruck nennt Paetzold: »Ausdruckserlebnisse zielen ab auf das physiognomische Antlitz der Welt: das Düstere und Freundliche, das Unheimliche und Bedrohliche. Das freundlich lächelnde Gesicht eines Menschen gewahren wir intuitiv und erfahren es als eine Ganzheit. Der Stimmung einer zwischenmenschlichen Situation werden wir leiblich inne, ohne daß ein ausgebildetes kognitives Ich-Bewußtsein im Spiel ist.« (Paetzold 1994: XIII) 136 Cassirer 1927/1985: 10. 137 Letzte beiden Zitate aus ebd. 138 Ebd.: 10 f.

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Analyse des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹, die ich eingangs als These der vorliegenden Arbeit formuliert habe,139 angeht. In den aktuellen Diskussionen, Reden, Auseinandersetzungen und nicht zuletzt Missverständnissen zu Wildnis im Kontext von Naturschutz zeichnen sich unterschiedliche Wildnisvorstellungen ab. Methodisch fasse ich dies in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive als einen Diskurs um ›Wildnis‹ mit einigen Diskurssträngen, die sich in unterschiedlichen Deutungskontexten des Wildnisbegriffes zeigen. Zur adäquaten Analyse dieser Pluralität interpretiere ich Wildnis als eine Raumauffassung, die in ihrer Form grundlegend verschieden kulturell geprägt sein kann. Mit Cassirers Kulturphilosophie liegt eine Theorie vor, die unterschiedliche Arten menschlicher Welterschließung wie beispielsweise Religion oder Wissenschaft als gleichrangige moderne Formen kultureller Erfahrungen und geistiger Leistungen analysiert. Diese unterschiedlichen kulturellen Sinngebungen und Deutungskontexte fasst Cassirer als symbolische Formen, mit denen wir Gegenstände bilden. In seiner Theorie zu Raum positioniert er den »symbolischen Raum« gegen die idealistische Auffassung eines »bloß vorgestellten Raumes« einerseits und gegen die naturalistische Annahme eines »bloß objektiv-vorhandenen Raumes« andererseits.140 Mit Cassirers Raumtheorie lässt sich also das Gewicht explizit auf das Verständnis der empirisch bemerkten Pluralität an Wildnisbegriffen in ihren kulturellen Strukturformen legen und nicht primär auf die abstrakte Denkmöglichkeit von Wildnis oder auf die faktischen kulturhistorischen Entstehungsursachen. 141 Die der Frage nach einer Ordnung der heutigen Pluralität an Wildnisideen gemäße Perspektive kann somit eingenommen werden – eine Perspektive, die nicht von einer fortschreitenden Wildnisgeschichte ausgeht, sondern davon, dass mehrere unterschiedliche Sinnkontexte, in denen Wildnis Bedeutung hat, heute synchron bestehen. Mit Cassirers Ansatz ist es zudem möglich, dem Erkenntnisinteresse an typischen Wildnisauffassungen im aktuellen Diskurs systematisch nachzugehen, ohne bei einer positivistischen Deskription stehen zu bleiben: Die individuellen Bedeutungsinhalte in Zitaten werden nur zum Ausgangspunkt genommen, um nach den reinen und doch kulturgebundenen Strukturformen der Bedeutungen zu fragen und dabei zentrale Grundformen von kulturellen Wildnisbedeutungen zu suchen beziehungsweise zu rekonstruieren. 142 Dies macht die 139 Siehe Kapitel 1.3. 140 Bohr 2008: 89. 141 Zur Bedeutung der empirischen Sachverhalte in den Geschichtswissenschaften vgl. beispielsweise Goertz 1998: 39 ff. 142 Vgl. Cassirer 1923: 51; Cassirer 1929: 58.

74 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

vorliegende Arbeit anschlussfähig an bestehende – gegenüber empirischer Geschichte und konkreter Lebenswelt unspezifische – erkenntniskritische oder ideengeschichtliche Untersuchungen zu kategorialen Denkmöglichkeiten von Wildnis.143 Zudem lässt die in Cassirers Kulturtheorie enthaltene Integration der naturwissenschaftlichen Naturerforschung in die Reihe von Formen unseres geistigen Handelns erwarten, dass auch Naturalisierungen von Wildnis (das heißt die Erklärung von Wildnis ausschließlich als kausalrationale, physische Natur), die zum Teil im Naturschutzdiskurs zu bemerken sind, gefasst und fruchtbar interpretiert werden können. Der Fokus der Untersuchung kann mit Cassirers Theorie auf die Auffassungen von Raum als Wildnis in ihren lebensweltlichen Unterschiedlichkeiten gelegt werden. Im Gegensatz dazu steht ein soziologischer Ansatz, der von Henri Lefebvre, Pierre Bourdieu und anderen144 vertreten wird und gewichtige Teile der heutigen theoretischen Diskussionen um Raum bestimmt. 145 Diese Diskussionen werden vielfach unter dem Schlagwort ›spatial turn‹ in verschiedenen Kulturwissenschaften verhandelt. Als Begründer dieser Wende gilt der einflussreiche Autor und nordamerikanische Humangeograf Edward W. Soja,146 der im Wesentlichen Michel Foucaults Theorie und vor allem die von Henri Lefebvre als Grundlage seines Ansatzes nennt.147 Soja sieht eine weitreichende Wende zum »raumbezogenen Denken« seit dem späten 20. Jahrhundert, die sich auch in Disziplinen wie den Medien- und Kommunikationswissenschaften – also solche über die traditionell mit Raum befassten Disziplinen hinausblickend – vollzieht.148 Einer dieser soziologischen Ansätze würde zwar leisten, Raum (und damit Wildnis als Raum) prinzipiell als soziale Konstruktion vom physischen 143 Dies wird unter anderem von Kangler & Vicenzotti (2007), Kirchhoff & Trepl (2009), Vicenzotti (2011a) geleistet, vgl. Kapitel 1.5. 144 Jörg Dünne nennt zu diesem zunächst vor allem im Frankreich der 1970er Jahre bestehenden Raumdiskurs als wichtige Vertreter, die diesen Ansatz in der heutigen Zeit fortführen, Michel de Certeau, David Harvey und Edward Soja (Dünne 2006: 297 ff.). 145 »Seit dem Aufstieg postmoderner Geographien liegen die Texte von Henri Lefebvre im Trend. [...] Die gegenwärtige Rezeption Lefebvres [seit den frühen neunziger Jahren] trägt alle Anzeichen einer Modeströmung, deren Dauerhaftigkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht abzuschätzen ist« (Schmid 2005: 7). 146 Dünne & Günzel 2006: 12; Döring & Thielmann 2009. 147 Soja 2008: 250 ff. 148 Ebd.: 243. – Unter anderem Gerhard Hard bezweifelt das Innovative an diesen Raumtheorien und mahnt Reflexionen über Raumbegriffe und deren Verhältnis zum »wirklichen« Raum an (Hard 2008: 307 f.).

Cassirers Raumtheorie | 75

Raum (physischer Wildnis) zu trennen (Lefebvre) und den Zusammenhang von individuellem Handeln und sozialer Struktur zu verstehen (Bourdieu).149 Bei Lefebvre bleibt jedoch weitgehend offen, »wie genau die Beziehung zwischen physischem und sozialem Raum zu denken ist«150. Bourdieus sozialer Raum als Feld bleibt weitgehend »abstrakt« und ist nicht »mit einem wie auch immer gedachten physischen Raum vermittelt«.151 Die beiden Ansätze ließen demnach eine Klärung des Verhältnisses von physischem zum sozialen Raum und vor allem eine differenzierte Analyse von Raumwildnis unterschiedlicher gesellschaftlich-kultureller Prägung (das primäre Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit) nicht zu.

149 Vgl. Dünne 2006: 297 ff. – Die Bedeutung der Theorie Lefebvres liegt insbesondere darin, dass sie die Kategorie des ›Raumes‹ »systematisch in eine übergreifende Gesellschaftstheorie integriert und es ermöglicht, räumliche Prozesse und Phänomene auf allen Massstabsebenen [sic!], vom Privaten über die Stadt bis zum Globus, abzubilden, zu erfassen und zu analysieren« (Schmid 2005: 9). Bourdieu sieht den sozialen Raum als das »Kräftefeld, das sich durch die Relation« zwischen »Handlungsformen« eröffnet, die aus kollektiven Regeln unterliegendem, individuellem Handeln entsteht und dabei nach Abgrenzung voneinander streben (Dünne 2006: 301). 150 Dünne 2006: 297. 151 Ebd.: 302.

3

Drei symbolische Formen von Raum – Cassirers Darstellung und weiterführende Interpretationen

Der von Missverständnissen und teilweise von Konflikten geprägte aktuelle mitteleuropäische Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ soll in der vorliegenden Arbeit durch eine Analyse der unterschiedlichen Auffassungen von Wildnis, die den wesentlichen Diskurssträngen implizit sind, genauer verständlich werden. Für diese Ordnungsarbeit dient die Raumtheorie Ernst Cassirers, die vor allem die Auseinandersetzung mit den kulturellen Bedeutungen von Wildnis in ihrer Pluralität und ihrem lebensweltlichen Geschehen ermöglicht. Kapitel 2 hat in Cassirers kulturalistisches Erklärungsmodell von Raum und seinen philosophischen Kontext soweit eingeführt, dass sich die Raumbegriffe, die als heuristische Analyseinstrumente für das differenzierte Verständnis der aktuellen Wildnisvorstellungen in Kapitel 4 erforderlich sind, nun im Detail explizieren lassen. Cassirer erklärt die vielfältigen Raumbedeutungen in ihren Beziehungen zu unterschiedlichen grundlegenden Arten der Welterschließung, den symbolischen Formungen. Die symbolischen Raumformungen beschreibt er nicht in einem systematisch begrenzten Kanon, sondern als theoretisch unbegrenzte Reihe.1

1

Das Autorenkollektiv um Reto Luzius Fetz interpretiert Cassirer als einen Autor, der sein Werk »nicht als etwas Abgeschlossenes, sondern als revisions- und entwicklungsfähige[n]« Ansatz begreift (Fetz et al. 2010: 15). So stellen Vertreter des ›Leipziger Ansatz‹ (vgl. Köhnke 2001: 27 f.; siehe Stand der Forschung, Kapitel 1.5) auch über Cassirer hinausgehend Raumformungen weiterer Sphären der Alltagswelt zur Diskussion: »öffentlicher und politischer Raum«, »virtueller Raum«, »wirtschaftlicher Raum«, »touristischer Raum«, »Raum des Spiels und des Sportes« und »Raum der Fantasmen« (Bohr 2008: 72 ff.). Des Weiteren regen sie Überlegungen zum »juristischen Raum als Rechtsraum bzw. rechtsfreien Raum, zur biologisch-ökologischen und

78 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

Drei Formen sind für meine Analyse des Wildnisdiskurses gemäß der eingangs formulierten These wesentlich: mythischer Raum, ästhetischer Raum und theoretischer Raum. Diese drei behandelt Cassirer sehr differenziert auf die Prinzipien hin, wie sie ihre »Gegenstände« bilden.2 In diesen drei Räumen äußern sich raumbezogen die drei Sinnordnungen Mythos (einschließlich Religion), Kunst und Wissenschaft, denen je »eine eigene, gegen die anderen abgegrenzte und klar unterschiedene Weltsicht«3 zugeordnet ist. Wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, ist der Fokus der Raumtheorie auf diese Sinnordnungen gemäß der umfassenden ›Philosophie der symbolischen Formen‹ als ›Kritik der Kultur‹ angelegt, mithin abgeleitet sowohl aus theoretisch-systematischen Überlegungen als auch aus empirischen Kulturanalysen. Dabei nimmt die theoretische Raumformung keine privilegierte Stellung ein, sondern ist eine Wirklichkeitskonstitution unter anderen. Dem modernen Menschen ist es prinzipiell möglich, »an verschiedenen Wahrnehmungskonzepten bzw. Sinnsystemen, die sowohl im Nebeneinander als auch im Nacheinander realisiert werden können und die die Dinge je ganz anders erscheinen lassen können«4, zu partizipieren. Bildlich gesprochen können wir verschiedene idealtypische Brillen mit »verschiedenen brechenden Medien«5 aufsetzen. Diesem Denkmodell Cassirers folgend werde ich die unterschiedlichen Aussagen und Wertsetzungen im Diskurs um Wildnis sozusagen als bestimmte ›Blicke‹ auf Wildnis interpretieren, die sich auf spezifische ›Brillen‹, mit denen sie erklärbar sind, zurückführen lassen. Damit lässt sich das Feld an unterschiedlichen Aussagen zu Wildnis ordnen, die verschiedene Personen in unterschiedlichen Situationen äußern oder auch ein und dieselbe Person, die frei gewissermaßen die Brillen, also die unterschiedlichen Kontexte wechseln kann, äußert. Im Folgenden sind die entscheidenden unterschiedlichen Eigenschaften der drei Formungen mythischer Raum, ästhetischer Raum und theoretischer Raum darzustellen, bevor sie in Kapitel 4 auf Wildnis angewendet werden können. geologisch-geografischen Raumauffassung, zur ingenieursmäßig-technischen oder auch historisierenden Interpretation von räumlichen Gegebenheiten, zur theatralischen Interpretation in Fest und Karneval oder gar zur militärisch-strategischen Raumauffassung, die alles unter dem Primat der Strategie und Deckung betrachtet«, an (Bohr 2008: 83). 2

Cassirer nennt diese drei explizit im Titel seines für die Raumtheorie zentralen Vortrags von 1930: »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum« (Cassirer 1930/ 1985b).

3

Vgl. Bohr 2008: 71, Hervorh. i. O.

4

Ebd.

5

Cassirer 1929: 3.

Drei symbolische Formen von Raum | 79

In den Unterkapiteln 3.1, 3.2 und 3.3 entwickle ich die Formen jeweils sowohl aus theoretisch-systematischen Überlegungen als auch aus empirischem Material zu lebensweltlichen Phänomenen von Raumauffassungen. Dies entspricht dem kulturtheoretischen Ansatz Cassirers, der nicht primär die Denklogik, sondern wesentlich auch die kulturellen Phänomene systematisch analysiert. Nach der Zusammenfassung des jeweiligen Cassirer’schen Raumbegriffs diskutiere ich darüber hinaus die je besonderen Aspekte, die für die Analyse des aktuellen Diskurses um Wildnis wichtig sind. Zur mythischen Auffassung (Kapitel 3.1) sind dabei etwas mehr Anmerkungen nötig als zu den anderen beiden, nicht nur aufgrund des Stellenwerts des Mythischen bei Wildnis, sondern insbesondere, weil zum mythischen Raum wenig systematische Erklärungen im Kontext der Moderne vorliegen. Bei der ästhetischen Auffassung (Kapitel 3.2) wird besonders die Abgrenzung zum mythischen Raum zu klären sein und die Frage nach der tatsächlich ästhetischen Form in alltagsweltlichen Wahrnehmungen. Die theoretische Auffassung (Kapitel 3.3) kann kompakt dargestellt werden, nicht zuletzt, weil sie für das Verständnis der alltagsweltlichen Wildnisbegriffe nur partiell von Bedeutung ist. Die drei Raumbegriffe ›mythischer Raum‹, ›ästhetischer Raum‹ und ›theoretischer Raum‹ sind zunächst deutlich typisierend zu trennen. Im Kapitel 3.2 werde ich aber auch schon die Möglichkeiten der Verknüpfung von ästhetischer und mythischer Raumformung anhand der romantischen ästhetischen Sehnsucht nach mythischer Deutung aufzeigen. In Kapitel 3.3 stelle ich die alltagsweltliche Verknüpfung von theoretischen mit anderen Raumformungen dar, weil ohne diese die Diskussion von ›Ökosystem-Wildnis‹ (Kapitel 4.3) nicht möglich ist. Abschließend werde ich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Raumordnungen pointiert herausstellen (Kapitel 3.4). Damit ist Cassirers Raumtheorie hinreichend klar dargestellt, um als Grundlage für die Analyse der unterschiedlichen Wildnisbedeutungen zu dienen.

3.1 MYTHISCHER RAUM Obwohl unsere Gesellschaft aufklärerisch-rational geprägt ist, ist uns das »Schaudern im nächtlichen Wald«6 oder das »Schweigen in der Kirche«7 und ähnliches durchaus geläufig, und wir glauben manchmal sogar gern daran, dass ein vierblättriges Kleeblatt Glück bringt. Es scheinen in unserer mitteleuropäi-

6

Bohr 2008: 47.

7

Ebd.

80 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

schen Lebenswelt Phänomene zu bestehen, die ›irrationalem‹ Denken entspringen. In vielen Erklärungsversuchen werden derartige mythische Phänomene in den heutigen Gesellschaften (beispielsweise Aberglauben und naive Formen von Religion) einfach nicht als Teile der Moderne aufgefasst.8 Die mythische sei eine archaische Weltsicht, die mit der Aufklärung prinzipiell überwunden worden sei. Die mythische Weltauffassung beschreibt in dieser Perspektive allenfalls das vor allem im Alltag, aber auch in Religionen vorherrschende Denken der Vormoderne. Diese Erklärung halte ich – insbesondere für die Analyse von Wildnis – allerdings für nicht hinreichend. Denn manches – etwa das schon angesprochene Schaudern im nächtlichen Wald und ähnliche ›unvernünftige‹ Raumerfahrungen – scheint in vielen Fällen keinesfalls nur Zeugnis einer historischen, heute nicht mehr lebendigen oder uns anderweitig fremden (›zurückgebliebenen‹ Teilen der Gesellschaft zugehörigen) mythischen Weltauffassung zu sein.9 Vielmehr scheint auch gegenwärtig, nach der Aufklärung, eine moderne mythische Raumformung zu bestehen. Für meine Diskussion des aktuellen Redens über Wildnis ist es entscheidend, die Bedeutung dieser mythischen Raumauffassungen im modernen Kontext zu erforschen.10 Gegenstand dieses Kapitels ist daher die in der Moderne bestehende mythische Raumformung, die eine moderne Form ist und nicht nur ein archaisches Relikt. Es stellt sich die Frage, wie sich eine moderne mythische Auffassung der Dinge als ein Typ von Sinnordnung charakterisieren lässt. Mit Cassirers Theorie werde ich analysieren, wo sich die moderne mythische Raumauffassung zeigt, welche systematischen Eigenschaften sie hat, wie sie sich von einer anarchischen mythischen Weltauffassung unterscheidet und welche Position sie im modernen 8

Beispielsweise geht der Philosoph Peter Winch bei der Diskussion des absoluten Geltungsanspruchs der wissenschaftlichen Rationalität, wie Habermas wiedergibt, von einer heutigen Existenz »alternativer, insbesondere vormoderner Lebensformen« aus, von denen »wir, die wir modernen Gesellschaften angehören,« möglicherweise etwas lernen könnten (Habermas 1987: 101).

9

Beispielsweise können wir dagegen die Erzählungen der griechischen Mythenwelt mit Zeus, Athene, Aphrodite etc. zwar aus historischem Interesse lesen, aber sie »sind für uns losgelöst von ihrem Boden, haben keinen Zusammenhang mehr mit einem Kultus, mit Feiern, mit Gebeten« (Jaspers 1964/1996: 351). Wenn sie uns ergreifen, dann deshalb, weil sie etwas auch für uns Gültiges, wenn auch in uns fremder Form, darbieten.

10 Auch Schama geht in seinem Buch ›Der Traum von der Wildnis‹ davon aus, dass Mythen nicht verloren sind, sondern dass in der Moderne mit einer bestimmten »Art des Sehens« die Eigenschaften »des urtümlichen Waldes, des Flusses des Lebens, des heiligen Berges« noch gefunden werden können (Schama 1996: 23).

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Denken einnimmt. Die Untersuchung des mythischen Raumes nach den Charakteristika, die für die Analyse des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ entscheidend sind, hat folgende These als Basis: Es gibt eine moderne mythische Raumauffassung, die sich mit Cassirers Theorie darlegen lässt. Zum Verständnis des Folgenden sei zunächst noch geklärt, was im Kontext von Cassirers Theorie ›Mythos‹ bedeutet: Mit »Mythos« ist nicht eine »Person, Sache, Begebenheit, die (aus meist verschwommenen, irrationalen Vorstellungen heraus) glorifiziert wird, legendären Charakter hat«, oder eine »falsche Vorstellung« gemeint.11 »Mythos« bedeutet hier auch nicht nur »überlieferte Dichtung, Sage, Erzählung o. Ä. aus der Vorzeit eines Volkes (die sich bes. mit Göttern, Dämonen, der Entstehung der Welt, der Erschaffung des Menschen befasst)«12 oder speziell »das Phänomen des altorientalisch-griechischen Mythos – […] Komplexe traditioneller Erzählungen, bezogen auf Ansprüche von Familien, Stämmen und Städten, auf Götter und Heroenkult«13. Vielmehr ist ›Mythos‹, wie ich im folgenden Kapitel zeigen werde, die Form einer umfassenden Weltdeutung, die sich im Handeln (Riten) und in geglaubten Erzählungen äußern kann. ›Mythos‹ ist hier gleichbedeutend mit ›mythischer Weltdeutung‹ oder ›mythischem Denken‹. Nach Birgit Reckis Interpretation gebraucht Cassirer zudem »Mythos« und »mythische Lebensform« synonym.14 Im Kapitel 3.1.1 stelle ich dar, wie Cassirer den mythischen Raum als symbolische Form der Räumlichkeit begreift. Er sieht den mythischen Raum nicht als lediglich erlebbar an, sondern rekonstruiert streng systematisch die Form des mythischen Denkens. Die Prinzipien, die Cassirers Theorie zufolge mythische Räume ausmachen, lege ich dar: die mythischen Qualitäten und die Erfahrungsform Ausdruck. Auf dieser Grundlage zeige ich in Kapitel 3.1.2, dass es auch eine moderne mythische Raumformung gibt. Um dies zu belegen, reflektiere ich gemäß Cassirers Kulturphilosophie zum einen heutige konkrete lebensweltliche Erfahrungen und gehe zum anderen mit ihr der Frage nach, welcher systematischen Struktur eine moderne mythische Raumformung folgt und welche Funktionen sie erfüllt. Wegen der großen Bedeutung der im weitesten Sinne romantischen Naturauffassung für die Wildnisanalyse stelle ich in einem eigenen Unterkapitel dar, dass sich ein bestimmter Teil dieser romantischen Auffassungen mit dem Begriff der ›mythischen Raumformung‹ verstehen lässt.

11 Kraif 2007. 12 Ebd. 13 Burkert 1984/2007: 281. 14 Recki 2004: 90.

82 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

In Kapitel 3.1.3 werden die wesentlichen Aspekte der mythischen Raumformung zusammengefasst. 3.1.1 Cassirers Darstellung der mythischen Raumauffassung Cassirers Leistung ist es, eine Einheit der mythischen Denkart in ihrer formalen Bestimmung zu finden und damit eine Systematik in den »Überreichtum des Materials« zu bringen,15 das insbesondere die ethnologische Forschung seiner Zeit gesammelt hatte.16 Er war der Ansicht, dass die mythischen Inhalte zu aller Zeit vielfältig und heterogen gewesen seien,17 dass alles Verbindende aber die Form sei, wie mythisch die Welt gesehen wird. ›Form‹ ist hierbei als grundlegende Funktion der Weltauffassung in Abgrenzung zur Substanz gemeint.18 Dieser Formbegriff ist das, was der Philosoph Hans Poser als »Funktionen« von »Mythos« beschreibt und von den Erscheinungsweisen (»Eigenschaften«) abgrenzt, die bei gleicher Funktion unterschiedlich sein können.19 15 Cassirer 1925: XIII. – Kritisch merkt Cassirer an: »Die strukturelle Betrachtung der Kultur muß der historischen Betrachtung vorangehen. Die Geschichtsschreibung selbst würde sich in einer unübersehbaren Masse zusammenhangloser Fakten verlieren, besäße sie kein allgemeines strukturelles Schema, mittels dessen sie diese Fakten klassifizieren, ordnen und organisieren kann« (Cassirer 1944/2007: 112). 16 Cassirer steht im Kontext der Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts, die von neuen Ansätzen in Psychologie (Psychoanalyse, Tiefenpsychologie) und Soziologie sowie Anthropologie, Ethnologie, Völkerkunde und Mythosforschung (Gottschalk 1973: 92 f.) geprägt sind. Er setzt sich aber bewusst von einem »Psychologismus« ab, und zwar dadurch, dass er vor allem einen kritisch-formalen Ansatz hat, der zudem auf kulturelle Gemeinschaften gerichtet ist (Cassirer 1910/2000: 324; Cassirer 1936-37/1999: 144: 151; vgl. Cassirer 1925: VIII, X, 16; Cassirer 1929: 58). 17 Vgl. Cassirer 1925: VIII. 18 Vgl. Kapitel 2.1. – Cassirer geht es nicht darum, die Ursachen oder Inhalte des mythischen Denkens zu untersuchen, sondern seine Struktur: Cassirer, so Plümacher, »suchte nach den Regeln und Wertmaßstäben dieses [mythischen] Denkens und insbesondere nach den Prinzipien der Kategorisierung, d. h. der Prinzipien, aufgrund derer Gegenstände im Denken verbunden oder getrennt werden. Seine Aufmerksamkeit richtete sich nicht auf die Vielgestaltigkeit und den möglichen Zusammenhang der inhaltlichen Motive der mythischen Erzählungen und auch nicht auf die Frage nach den möglichen Ursachen dieser Motive.« (Plümacher 2003: 177) 19 Es ist »möglich, dass etwas als der Mythos [wie zum Beispiel ›Mythos der Technik‹] die Funktion der [echten] Mythen hat, ohne doch deren Eigenschaften – beispielsweise eine Erzählung zu sein – haben zu müssen« (Poser 1979b: 131, Hervorh. i. O.).

Drei symbolische Formen von Raum | 83

Anders als im gängigen Gebrauch, in dem das mythische Denken abgegrenzt wird gegen jedes strukturierte Denken als »irrational-unvernünftig« oder als »prärational der rationalen Rekonstruktion sich entziehend, aber elementar lebensbestimmend«,20 ist es Cassirers Vorhaben zu zeigen, dass mythischer Raum nicht lediglich erlebt, sondern als symbolische Raumstrukturierung auch analysiert werden kann. Der mythische Raum ist für ihn eine Art der Raum-Ordnung, in welcher »der Mythos […] seine eigene Weise [besitzt], das Chaos zu durchdringen, zu beleben und zu lichten.«21 Mit welchen typischen Eigenschaften – unabhängig vom konkreten historischen Kontext – Cassirer die mythische Raumauffassung charakterisiert, lege ich im Folgenden dar. (1) Was ist Inhalt der mythischen Raumformung? – mythische Atmosphäre, erzeugt von höheren Mächten Die mythische Raumauffassung entspringt, so Cassirer, »einerseits der charakteristischen mythischen ›Denkform‹, andererseits dem spezifischen ›Lebensgefühl‹, das allen Gebilden des Mythos innewohnt und ihnen ihre eigentümliche Tönung verleiht« 22. Das heißt zunächst vor allem, dass jeder Ort und jede Rich-

20 Poser 1979a: 152; vgl. Meier 1979: 154. – »[D]ie dem Mythos seit den Griechen verliehenen Bedeutungen [schwanken] zwischen den Extremen Tiefsinn und Lüge« (Knoppe 1992: 101). Mythen werden heute auch psychologisch gedeutet und insofern als irrational aufgefasst, als sie »das Ergebnis des kollektiven Unbewussten« seien (Salsa & Revaz 1998: 102). Einen kurzen historischen Überblick über die unterschiedlichen Wertschätzungen der mythischen Weltdeutungen gibt Herbert Gottschalk (Gottschalk 1973: 15). – Heute besteht auch eine abwertende Begriffsfacette von ›Mythos‹, die etwa ›Klischee‹ bedeutet, beispielsweise in Bezug auf überkommene und undifferenzierte Vorstellungen über Lebensweisen bestimmter Bevölkerungsgruppen (beispielsweise Broggi 1998: 125). Das Klischee besteht aus stereotypen Versatzstücken ohne tiefer gehenden Sinn, zu denen ursprünglich mythische Bedeutungen verkommen können. Diese Trivialisierung des Mythos im Klischee kann auch als dessen Zerstörung interpretiert werden, wie etwa Jörg Zimmermann erläutert: Durch »seine Zurüstung zum touristischen ›Highlight‹ mit entsprechend aufdringlicher Zeichensetzung und Entwertung der konkreten Umgebung« werde die »mythische[...] Ausstrahlung des Loreleyfelsens« im Mittelrheintal weitgehend zerstört (Zimmermann 2012: 44 f.). 21 Cassirer 1930/1985b: 101. 22 Ebd.:103.

84 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

tung mit einer bestimmten mythischen Qualität behaftet ist,23 die etwas völlig anderes ist als etwa eine mathematische Messgröße: »Was einen Bezirk zu einem räumlich-Besonderen und Besonderten macht: das ist nicht irgendeine abstrakt-geometrische Bestimmung, sondern es ist die eigene mythische Atmosphäre, in der er steht, – der Zauberhauch, der ihn umwittert.«24

Dieser »Zauberhauch« entsteht in einer, so Cassirer, »dramatischen Auffassung« der Dinge.25 Mit »dramatisch« meint Cassirer, dass alles Sichtbare und Spürbare als Wirkung von Kräften oder als Zusammenprall widerstreitender Mächte erscheint.26 Der mythischer Raum ist »[...] ein Ineinandergreifen und ein Wechselspiel von Kräften, die den Menschen von außen her ergreifen und die ihn kraft ihrer affektiven Gewalt überwältigen«27.

Die Dinge bestimmen sich also nicht, wie im wissenschaftlichen Denken, abstrakt und sachlich nach objektiven Gesetzen – die Menschen sehen sich vielmehr »bedroht und verführt von Mächten, aber auch gehalten und geborgen von anderen Mächten«28. Die Gegenstände sind in dieser Perspektive nicht »tote[r], gleichgültige[r] Stoff«, sondern werden »emotional« wahrgenommen: Sie sind »entweder wohlwollend oder böswillig, freundlich oder feindlich gesonnen, vertraut oder unheimlich, verlockend und faszinierend oder abstoßend und bedrohlich«29 – doch sie sind nie gleichgültig und neutral. Der mythische Raum »umfängt den Menschen […] mit geheimnisvollen unbekannten Kräften; er schlägt 23 Korrekt müsste man sagen ›behaftet wird‹, denn Orte und Richtungen mit mythischen Qualitäten bestehen in Cassirers Theorie nicht a priori, sondern nur sobald und wenn sie mit mythischen Sinngebungen von einem Betrachter symbolisch geformt werden. Das Reden von Orten und Richtungen, die mythische Qualitäten haben, ist also ein verkürzter Ausdruck dafür, dass der ungeordneten Räumlichkeit als Gegenstand der mythischen Wahrnehmung von einem Betrachter bestimmte Bedeutungen beigemessen werden und so Orte und Richtung überhaupt entstehen (vgl. Kapitel 2.2). 24 Cassirer 1929: 175. – Den Begriff ›Atmosphäre‹ verwendet Cassirer auch bei der ästhetischen Formung. Zum Unterschied zwischen mythischer und ästhetischer Atmosphäre siehe Kapitel 3.2.2. 25 Cassirer 1944/2007: 123. 26 Ebd. 27 Cassirer 1930/1985b: 106. 28 Jaspers 1964/1996: 351. 29 Cassirer 1944/2007: 123.

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ihn […] in magische Bande«30. Die mythische ist eine »affektiv gesteuerte Art der Erfahrung«31. Für die Strukturierung von Räumlichkeit bemerkt Cassirer innerhalb der mythischen Qualitäten den Dualismus von Licht und Dunkel als grundlegend: »Der Osten ist als Quelle des Lichtes zugleich der Quell und Ursprung des Lebens; der Westen ist die Stätte des Niederganges, des Grauens, des Totenreiches.«32

Weitere Merkmale, nach denen in mythischer Sinnordnung Orte und Richtungen unterschieden werden, sind vor allem: »Heiligkeit oder Unheiligkeit, Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit, Segen oder Fluch, Vertrautheit oder Fremdheit, Glücksverheißung oder drohende Gefahr«33.

All diesen Bestimmungen ist gemeinsam, dass sie jeweils eine mythisch-emotionale Atmosphäre beschreiben.34 Der Gegensatz ›heilig‹ und ›profan‹ als idealtypischer Grundzug der mythischen Raumqualität Den Gegensatz des »Heiligen« und »Profanen«, der einen »›heiligen‹, ausgezeichneten, entsprechend umhegten, geschützten« Bezirk von einem »›gemeinen‹, jederzeit jedermann zugänglichen«, alltäglichen unterscheidet, stellt Cassirer besonders heraus.35 Dabei ist das Heilige nicht einfach unzugänglich, sondern 30 Cassirer 1930/1985b: 106. – Der mythische Raum ist von einer »Aura von Geheimnis und Rätselhaftigkeit […] verdunkelt« (Cassirer 1944/2007: 212). 31 Paetzold 1994: 113. 32 Cassirer 1930/1985b: 104; vgl. Cassirer 1924/1925: 12; Cassirer 1925: 122. 33 Cassirer 1930/1985b: 103. 34 ›Licht‹ ist hier nicht physikalisch gemeint, ›Heiligkeit‹ nicht moralisch. 35 Heidegger 1925: 258. – Heidegger referiert hier aus dem zweiten Band von Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ (Cassirer 1925; vgl. Cassirer 1929: 232 f.; Paetzold 1994: 10 f.). Dieser Gegensatz wird auch von anderen Autoren als grundlegende Struktur von Mythen angesehen, wie Paetzold unter Verweis auf eine Stelle bei Cassirer erläutert: »Das Mana der Melanesier, das Manitu der Algonkinstämme Nordamerikas, das Orenda des Irokesen, das Wakanda der Sioux, alle diese mythischen Vorstellungen sind erste Auszeichnungen des Ungewöhnlichen und des Außerordentlichen. Damit hat das mythische Denken eine erste Bewältigung des Staunens über das Sein vollzogen (Cassirer 1925: 54 f.). In diesem Punkt stimmt Cassirers Analyse mit Befunden bei Walter F. Otto, Mircea Eliade, Carl Gustav Jung, Claude Lévi-Strauss

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erscheint ambivalent »immer zugleich als das Ferne und Nahe, als das Vertraute und Schützende wie als das schlechthin Unzugängliche, als das ›mysterium tremendum‹ und das ›mysterium fascinosum‹«36. Als idealtypischen »Grundzug«37 der mythischen Raumqualitäten identifiziert Cassirer den Gegensatz ›heilig‹ und ›profan‹, weil sich an ihm im höchsten Grad zeigt, wie ein abstrakter Sinn konkrete Raumqualität wird: Jede »besondere Richtung« ist nicht nur personifiziert, sondern sogar »zum besonderen Gotte erhoben«, also mit einem transzendenten Sinn verknüpft.38 Darüber hinaus wirkt diese mythische Raumqualität »nicht nur als bloßes Zeichen, als Merkmal, an dem das Heilige erkannt wird; sondern es besitzt auch eine ihm sachlich innewohnende, eine magisch zwingende und magisch abstoßende Macht.«39 Einen solchen Zwang hat der Gegenstand in der ästhetischen Raumauffassung, obwohl sie auch von einer emotionalen Ergriffenheit lebt, nicht. Die Antagonismen (Heiligkeit oder Unheiligkeit, Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit etc.), mit denen mythisch Orte und Richtungen differenziert werden, geben für den Wahrnehmenden in der Handlung die Orientierung vor. Orte und Richtungen sind überhaupt nur durch derartige mythische, dramatische Qualitäten. Alles andere, was mit einer dieser mythischen Atmosphären nicht in Verbindung steht, tritt in diesem Raumverständnis nicht in Erscheinung, weil es in der mythischen Sinnordnung keine Bedeutung hat:

überein« (Paetzold 1994: 8). Aus dieser Autorenreihe widmet dem Gegensatz ›heilig‹ und ›profan‹ der Schriftsteller und Philosoph Mircea Eliade ein ganzes Buch (Eliade 1957; vgl. die Bezüge auf die Quelle von beispielsweise Vondung 1992: 212; Pikulik 2000: 172 f.; Trepl 2012: 102) und beschreibt ihn grundlegend wie folgt: Das »Heilige« ist »das ›ganz andere‹, eine Realität, die nicht von unserer Welt ist«, und es manifestiert sich in Gegenständen, »die integrierende Bestandteile unserer ›natürlichen‹, ›profanen‹ Welt« sind (Eliade 1957: 8). 36 Cassirer 1925: 101; vgl. Kaegi 1994: 189. – Dies entspricht der allgemeinen – nicht speziell nach christlichem Dogma verstandenen – Bedeutung von »heilig«, die eine »sich durch das Gefühl kundtuende geheimnisvolle, überwältigende Macht, vor der der Mensch erschauert und erzittert […], die ihn aber gleichzeitig entzückt u. beseligt« bezeichnet (Schmidt & Schischkoff 1991: 285). 37 Cassirer 1925: 97, Hervorh. i. O. 38 Ebd.: 124. – Das Wort »heilig« steht, wie Schmidt & Schischkoff allgemein angeben, für »einem Gotte geweiht« (im römischen Götterkultus) beziehungsweise »mit Gott verbunden« (im monotheistischen, jüdisch-christlichen Kontext) (Schmidt & Schischkoff 1991: 285). 39 Cassirer 1929: 233.

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»Zu räumlichen Bestimmungen und Unterscheidungen kommt es […] nur dadurch, daß jeder ›Gegend‹ im Raume, dem ›Da‹ und ›Dort‹, dem Aufgang und Niedergang der Sonne, dem ›Oben‹ und ›Unten‹, ein eigentümlicher mythischer Accent verliehen wird.«40

Der mythische Raum ist eine inhomogene Gesamtheit einzelner Objekte Die bloße Räumlichkeit differenziert sich also durch die mythische Formung zu mythischen Orten, Gegenden und Richtungen. Allerdings gibt es hier den Raum noch nicht, wie in einer naturwissenschaftlich-theoretischen Auffassung, als »[…] ein homogenes Ganzes, innerhalb dessen die Einzelbestimmungen einander äquivalent und miteinander vertauschbar sind. Die Nähe und Ferne, die Höhe und Tiefe, das Rechts und Links – sie alle haben ihre unverwechselbare Eigenart, ihre besondere Weise magischer Bedeutsamkeit.«41

Cassirers mythischer Raum erscheint, wie Juri Lotmann und Boris Uspenskij interpretieren, »als Gesamtheit einzelner Objekte« und in »den Zwischenräumen zwischen ihnen ist der Raum gleichsam unterbrochen« – der Raum hat »›Flicken‹charakter«.42 Er ist also inhomogen im Gegensatz zum homogenen Raum der naturwissenschaftlich-theoretischen Auffassung.43 Eindrucksvolle Naturerscheinungen, wie »Morgen- und Abendröte«, »Donner, Blitz, Sonne, Mond oder Erdbeben« bestimmen in vielen Mythen offenbar deshalb zentrale Raumausrichtungen,44 weil sie in der dramatischen Auffassung besonders als überlegen wirkende Kräfte oder als Streit entgegengesetzter Mächte erscheinen. Gemeinsam ist diesen beispielhaft genannten mythischen Raumqualitäten das »geistige Prinzip«45, sprich die Form, in der das Subjekt Raum ›erkennt‹ (das heißt, wie es mit der Verknüpfung von Erscheinung und Idee Raum bildet). Was die Form der mythischen Raumauffassung kennzeichnet, fasse ich im Folgenden zusammen. 40 Cassirer 1929: 175, Hervorh. i. O. 41 Ebd., Hervorh. i. O. – Hier wird Cassirers Begriff der ›symbolischen Formung‹ (›symbolischen Prägnanz‹) sehr deutlich, der in Kapitel 2.1 allgemein erläutert wurde: Die Qualitäten ›Nähe und Ferne‹ etc. sind Bedeutungsinhalte und bezeichnen keine eigentlichen ›Dinge‹ (Substanzen). Durch ihre formenden Qualitäten erlangen aber der Raum und seine Substanz erst Struktur. 42 Lotmann & Uspenskij 1973/1986: 886 f. 43 Vgl. Kapitel 3.3.1. 44 Gottschalk 1973: 90. 45 Cassirer 1925: 16.

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(2) Wie wird mythisch Raum geformt? – Ausdruck als wesentliche Funktion der symbolischen Formung beim mythischen Raum Wie lässt sich die Form, mit der die mythischen Raumatmosphären wahrgenommen werden, näher beschreiben? Wenn Richtungen und Orte emotional als durch wirkende Mächte bestimmt erfahren werden, dann existieren sie für den Wahrnehmenden unmittelbar. Die Unmittelbarkeit ist die wesentliche Eigenschaft der mythischen Raumformung, die ich mit Cassirer nachfolgend in mehreren Aspekten erläutere. Mythischer Raum entsteht unmittelbar durch ›dramatische‹ Auffassung in Handlungen und eine unreflektierte Erfahrung der Welt Erstens vollzieht sich die mythische, »dramatische« Auffassung der Erscheinungen im Tun, in Handlungen:46 Dass ein Gebiet vertraut oder unheimlich, verlockend und faszinierend oder abstoßend oder bedrohlich etc. ›ist‹, wird unmittelbar erlebt, nicht nur beschrieben. Dieses Erlebnis drückt sich mehr oder weniger eindeutig im Handeln des Wahrnehmenden aus: Die »unmittelbare Lebensbewegung« äußert sich »in den mythischen Grundaffekten von Hoffnung und Furcht, in dem magischen Hingezogen- und Abgestoßenwerden, in der Begier des Ergreifens des ›Heiligen‹ und im Grauen vor der Berührung mit dem Verbotenen und Unheiligen«47.

Die Form des Erlebens ist für die mythische Raumauffassung elementar; erzählte Mythen versuchen nur, nachträglich eine Erklärung von Erlebtem und von sichtbarem Tun zu geben.48 Im Unterschied zur ästhetischen oder theoretischen Deutung wird die Welt in der mythischen Deutung also distanzlos aufgefasst, das heißt, der Einzelne ist emotional und physisch Teil des von ihm aufgefassten

46 Cassirer 1944/2007: 123. 47 Cassirer 1930/1985b: 106, Hervorh. i. O. – Cassirer stellt hier ›Heiliges‹ als das Anziehende dem ›Unheiligen‹, ›Profanen‹ gegenüber. Der oben von mir genannte Bedeutungsaspekt des ambivalenten ›Heiligen‹ als »Macht, vor der der Mensch erschauert und erzittert« (Schmidt & Schischkoff 1991: 285) hat hier keine Relevanz (vgl. Fußnote 36 in Kapitel 3). 48 Cassirer 1949: 41.

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Raumes und blickt nicht als externer Betrachter aus der Entfernung auf ihn. Der Wahrnehmende ist nicht in dem Raum, sondern Teil des Raumes.49 Zum Zweiten zeichnet sich die mythische Raumformung nicht nur bei einzelnen Erlebnissen, sondern allgemein bei der Deutung der Welt durch Unmittelbarkeit aus. Der Einzelne begreift sich nicht als höheres Wesen. Er kann – innerhalb der mythischen Auffassung – die von ihm geleistete Konstituierung des Raumes nicht reflektieren,50 sondern nur einzelne Raumgegenden erfahren, indem ihnen »eine reale und schicksalhafte, eine segenspendende oder unheildrohende Macht inne[wohnt]«51. Das mythische Bewusstsein dämonisiert ohne Hinterfragen seine Welt, »um sie zu verstehen bzw. zu bewältigen«52. Im mythischen Ausdruck sind Sinngehalt und physischer Raum unmittelbar identisch Cassirer beschreibt die Unmittelbarkeit der mythischen Raumauffassung schließlich in einem zusammenfassenden Aspekt: Raum bildet sich in der mythischen Form in erster Linie im Ausdruck von Sinngehalten – also nicht in der mittelbaren Darstellung oder abstrakten Bedeutung, die für die ästhetische beziehungsweise theoretische Raumformung charakteristisch ist.53 Cassirers spezifischer Begriff ›Ausdruck‹ in seiner Theorie lässt sich folgendermaßen umschreiben: Wenn in mythischer Sicht beispielsweise »das Bild des abwesenden Feinds durchbohrt wird, um den Feind unmittelbar zu treffen«54, so fungiert das Bild nicht als Darstellung, sondern als unmittelbarer Ausdruck des Feindes. Dies ver49 So stellt Jörn Bohr bei seiner Cassirerinterpretation ein »absolutes Partizipationsverhältnis«, in dem mythisch denkende Menschen mit ihrer Welt stehen, der ästhetischen Distanzierung von der Welt gegenüber (Bohr 2008: 48). Ebenso beschreiben Juri Lotmann und Boris Uspenskij in ihrer semiotischen Analyse des mythischen Denkens als seine wesentliche Eigenschaft, dass Teile mit dem Ganzen »identifiziert« werden (Lotmann & Uspenskij 1973/1986: 883). 50 »Der mythische Raum als ein akzentuierter Raum oder Strukturraum entspringt einem Gefühlsgrund, einer Anmutung der Welt« (Paetzold 1994: 10; vgl. Cassirer 1925: 122). – Vgl. Karl Jaspers und Martin Heidegger: »Die Bedeutung im Mythos spüren wir, ohne sie zu erkennen. Wir erleben sie, ohne sie zu wissen« (Jaspers 1964/1996: 345). »Der mythische ›Prozeß‹ vollzieht sich am Dasein selbst ohne Reflexion« (Heidegger 1925: 263). 51 Cassirer 1929: 176. – Die Wirklichkeit drückt sich in der mythischen Form als »Allbeseelung« aus (Schwemmer 1997: 60). 52 Rudolph 1995: 146. 53 Siehe Kapitel 3.2.1 beziehungsweise Kapitel 3.3. 54 Graeser 1994: 66.

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sucht Andreas Graeser mit »Stellvertretung« zu umschreiben,55 was jedoch den Sachverhalt nicht ganz trifft, denn wenn das Bild den Feind zum Ausdruck bringt, ist das ein weniger distanziertes Verhältnis als eine Stellvertretung.56 Das Ausdrücken ist, wie Cassirer selbst beschreibt, keine »bloße ›Repräsentation‹«, sondern eine »reale[...] Identität. Das ›Bild‹ stellt die ›Sache‹ nicht dar – es ist die Sache«, insofern es sie nicht nur vertritt, sondern »gleich ihr« wirkt, »so daß es sie in ihrer unmittelbaren Gegenwart ersetzt«:57 »Das Zeichen muß mit der Dingwelt in irgendeiner Weise verschmelzen, muß ihr selbst gleichartig werden, wenn es als Ausdruck für sie fungieren soll«58.

Das heißt, die Funktion »Ausdruck« »bezeichnet das erlebte, ununterschiedene Zusammen von Substrat und Sinn«.59 In dieser mythischen Auffassung wird der Feind wirklich durchbohrt.60 Dem mythischen Denken fehlt »die Kategorie des ›Ideellen‹«61, das heißt, die Welt der Zeichen ist von der Welt der Dinge nicht zu unterscheiden; das Zeichen für ein Ding ist dem Ding gleichartig. Hier zeigt sich eine wesentliche Eigenschaft der symbolischen Formung, in der die ›Wirklichkeit‹ immer relativ zur Art der Auffassung ist.62 So ist hier unerheblich, dass der 55 Ebd. 56 Im Gegensatz zu einer Zeichen- oder Symbolbeziehung bezieht sich »Ausdruck […] immer auf etwas Inneres (Seelisch-Geistiges), das sich in etwas Äußerem (sinnlich Wahrnehmbaren) ›zeigt‹«: »Eine bestimmte Geste kann Ausdruck von Schmerz sein. […] Der Rauch, den man als Zeichen dafür nehmen kann, dass da ein Feuer brennt, drückt [jedoch] nicht das Feuer aus« (Trepl 2012: 159). 57 Cassirer 1925: 51, Hervorh. i. O. 58 Ebd.: 312 f. 59 Orth 1993a: 21; vgl. Krois 1979: 201. – In diesem Sinne scheint der Kulturtheoretiker Robert Pfaller die übliche Praxis des »Augenscheins« zu meinen, wenn er diese dem magischen Handeln zuordnet und einem sittlichen Handeln gegenüberstellt, das von der reflektierenden praktischen Vernunft gesteuert wird (Pfaller 2009: 87 f.). 60 »Was dem Speer des Feindes, seinem Haar, seinem Namen geschieht, werde zugleich der Person angetan, anstelle des Gottes wird das Opfertier massakriert« (Horkheimer & Adorno 1969/2006: 16). – Dieser mythische Ausdruck ist im Übrigen kein allegorischer, denn: »Im Unterschied zur undurchsichtigen Sprache des Mythos, die immer etwas Rätselhaftes und Diffuses bewahrt, ist die Allegorie […] leicht aufzuschließen, sobald man nur den ihr zugrunde liegenden, zwischen Bild und Begriff vermittelnden Code erkannt hat« (Harth 1992: 15). 61 Cassirer 1925: 51. 62 Vgl. Kapitel 2.1.

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Feind ›abwesend‹ ist, also nur als Bild besteht: Im mythischen Denken kann er ›real‹ getroffen werden: Er ist in diesem Moment real. Ding und Bedeutung gehören untrennbar zusammen: Einerseits ist jede Bedeutung nur durch etwas Dingliches, etwas »Seinsartiges« zu fassen; die Bedeutung ist Ausdruck der Dinge,63 nicht die Darstellung (durch einen Künstler) einer ästhetischen Empfindung oder die theoretische Erklärung dieser Dinge. Andererseits ist »alles […] dem mythischen Denken Bild«; was keinen »Zeichencharakter« hat (das heißt nichts »ausdrückt«), ist nicht.64 Als idealtypisch ist hier wiederum das ›Heilige‹ zu betrachten, denn es ist ein Sinngehalt, der zwar der mythischen Anschauung inhärent ist, aber nur, indem sich die Anschauung als Leistung des Wahrnehmenden zugleich zurücknimmt und lediglich »als Ausdruck dieses Sinngehalts«65 erscheint: Das Heilige verhüllt sich einerseits, denn es offenbart sich »im Sinnlichen nur als Entzug, als Geheimnis«66. Andererseits jedoch zeigt sich im Ausdruck das Geheimnis in gewisser Weise, denn das »Unzugängliche« wird »in der Erzählung offenbare Erscheinung«.67 In dieser Weise ist auch die Raumstruktur in der mythischen Form in erster Linie als Ausdruck von Sinngehalt des Raumes selbst zu verstehen, der sich im wahrnehmenden Subjekt formt. Sie wird begriffen als durch »selbständige, mit dämonischen Kräften begabte Wesenheiten«68 bedingt. Martin Heidegger bemerkt entsprechend in seiner Darstellung von Cassirers Mythosbegriff, dass die Wahrnehmung im mythischen Dasein »nie ein bloßes Anschauen« im gewöhnlichen Sinn sein könne, sondern dass dabei auch »gleichermaßen ein Wirken« wesentlich sei – ein Wirken der »primär und durchgängig« das Dasein beherrschenden »Mächtigkeit und Ungemeinheit [Außerordentlichkeit, Ungewöhnlichkeit, G. K.] des Göttlichen«.69 Dieses »Wirken« vollzieht 63 Cassirer 1925: 51. 64 Kaegi 1994: 184; vgl. Cassirer 1925: 319. 65 Kaegi 1994: 186. 66 Ebd. – Das »Ineinander« von »Enthüllung und Verhüllung« der Ausdrucksfunktion bezeichnet Cassirer als »Offenbarung«, wenn es auf die Grundqualität »Heiligkeit« bezogen ist (Cassirer 1925: 97). 67 Jaspers 1964/1996: 344. 68 Cassirer 1929: 175. 69 Heidegger 1925: 263. – So schreibt auch Cassirer an einer Stelle: »Ausdruck ist zunächst nichts anderes als ein Erleiden; ist weit mehr Ergriffenwerden als ein Ergreifen« (Cassirer 1929: 88), was so zu verstehen ist, dass das Mythische (die räumlich wirkenden Götter etc.) primär das Aktive ist, indem es den Betrachter ergreift und dabei von diesem in seinem Ausdruck wahrgenommen wird; das mythische Bewusstsein »verharrt« in der »Sphäre der Wirksamkeit« (Cassirer 1925: 34, Hervorh. i. O.). Her-

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sich »im mythischen Tun«, im Ritus, in dem Moment, »in dem sich eine wahrhafte Transsubstantiation – eine Verwandlung des Subjekts dieses Tuns in den Gott oder Dämon, den es darstellt, vollzieht.« Das rituelle Tun, in dem Anschauen und Wirken ineinander verschmelzen, ist der Aspekt des Mythos, der lebendig ist und »keinen bloß ›allegorischen‹«, »sondern durchaus realen Sinn« hat.70 Im Verhältnis zwischen schöpferischer Entwicklung (durch den einzelnen Wahrnehmenden) und überlieferter unverrückbarer Vorgabe der kulturellen Sinnordnung überwiegt in der mythischen Raumauffassung ausnehmend stark die zweite Seite: Das Subjekt begreift seine Auffassung als bestimmt von ewig unveränderlichen, von außen wirkenden mythischen Kräften, die ihm keinerlei Interpretationsspielraum lassen.71 Die wesentlichen Aspekte, mit denen Cassirer die mythische Raumauffassung charakterisiert, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Mythisch wird Raum unmittelbar emotional als Ausdruck von Mächten aufgefasst, die Orte und Richtungen in Bezug auf ihre Atmosphäre markieren, welche bedrohlich oder beschützend, abstoßend oder faszinierend, heilig oder profan etc. sein kann. Diese Charakterisierung allerdings erscheint für die angestrebte Analyse eines aktuellen Diskurses noch etwas zu allgemein. Daher soll nun der Frage nachgegangen werden, ob und gegebenenfalls wie eine moderne mythische Raumformung im Speziellen zu verstehen ist. 3.1.2 Mythische Raumauffassungen in der Moderne Das mögliche Vorkommen und die Tragweite mythischer Raumauffassungen in der Moderne sollen in mehreren Schritten erforscht werden: Zunächst werden Beispiele aus der realen Lebenswelt als erste Hinweise auf die Erklärungskraft der Cassirer’schen Theorie vorgestellt. Dann wird dargelegt, wie mythische Raumformung speziell im modernen Kontext möglich ist und welche Funktionen sie dort einnimmt. Cassirers Ansatz wird hierbei rezipiert, interpretiert und in den für die Wildnisanalyse wesentlichen Aspekten weiterentwickelt, zu denen er selbst diffus oder offen bleibt. Auf religiöse Raumauffassungen im engeren Sinne gehe ich bewusst nicht näher ein, denn in den wenigen Fällen, in denen diese bert Gottschalk gibt in seinem ›Lexikon der Mythologie der europäischen Völker‹ an, dass bei Mythen, so verschieden sie auch sein mögen, stets »das Wirken der dem Menschen überlegenen Kräfte und Mächte, der Götter, Geister und Dämonen« im Zentrum steht (Gottschalk 1973: 11). 70 Zitate in den letzten beiden Sätzen aus Cassirer (1925: 51 f., Hervorh. i. O.; vgl. Heidegger 1925: 263; Gottschalk 1973: 10 f.). 71 Vgl. Cassirer 1944/2007: 340 f.

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Art der Auffassung in den Diskussionen um Wildnis im Naturschutz eine Rolle spielt, entspricht sie im Wesentlichen einem modernen mythischen Typ der Raumformung.72 Im weitesten Sinn romantische Sichtweisen sind, wie ich unten zeigen werde, typisch moderne und haben Mythisches und Wildnis besonders im Fokus. Daher werden die mythischen Formungen in romantischen Auffassungen in einem eigenen Unterkapitel analysiert. Abschließend entwickle ich ein paar Gedanken, was Cassirers Motive für seine ungewöhnlich intensive Beschäftigung mit mythischen Auffassungen betrifft. Lebensweltliche Anzeichen für mythische Raumauffassungen in der Moderne Erinnern wir uns an die zu Anfang von Kapitel 3.1 geschilderten lebensweltlichen Phänomene des Schauderns im nächtlichen Wald oder des Schweigens in der Kirche. Ein solches ›irrationales‹ Denken und Handeln zeigt sich mitten in unserer aufklärerisch-rational geprägten Gesellschaft – beispielsweise auch, wenn wir den Drang verspüren, »zu allen Gelegenheiten, bei denen etwas auf dem Spiel steht, eine ganz bestimmte Brosche anzulegen, weil sie, als man sie geschenkt bekam, mit dem Wunsch besprochen wurde, sie solle Glück bringen«73. ›Irrationales‹ Denken und Handeln gibt es auch in Bezug auf Landschaft: Von den Alpen etwa liegen mit naturwissenschaftlichen Methoden erstellte, exakte Karten vor, und ihre geologische Formationen wurden eingehend untersucht. Unberührt davon aber steigen Menschen auch heute auf Berggipfel der Alpen, um den Sonnenuntergang zu erleben. Was eigentlich ist an derartigen Erlebnissen jeweils überwältigend oder unfassbar und an den darauf (möglicherweise) folgenden Handlungen ›irrational‹? Wenn uns im nächtlichen Wald ein Schaudern überkommt, dann differenzieren wir (obwohl modern-rationale Menschen) in diesem Moment nicht zwischen Bedeutung (Sinn) und bedeutendem Gegenstand (Sache), sondern wir empfinden 72 Vom archaischen Mythos wird Religion (jedenfalls die monotheistischen Religionen) üblicherweise abgesetzt als eine Stufe in der Entwicklung zum aufgeklärten Denken. In diesem Kontext stellt auch Cassirer die Religion als eine eigene symbolische Formung dar (Cassirer 1922/1956: 7; Cassirer 1925: 33, 52, 294; Cassirer 1949: 63 etc.), in anderen Zusammenhängen fasst er jedoch »mythisch-religiöses« Denken zusammen und setzt es vom ästhetischen und vom wissenschaftlich-theoretischen Denken ab (Cassirer 1923/2006: 79; Cassirer 1925: 97; Cassirer 1927/1985: 6; Cassirer 1949: 53 etc.). 73 Recki 2004: 100. – Über 50 verschiedene Beispiele für Mythen der Alltagskultur (in Sport, Autoreklame, Essen, etc.) sind in Barthes’ Buch ›Mythologies‹ (›Mythen des Alltags‹) zu finden (Barthes 1957/2010).

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›das Schaurige‹ unmittelbar als Angst. Ob die sprichwörtliche Angst im nächtlichen Wald sich aus einer rational ›realen‹ Gefahr begründet oder aus einer mythischen ›realen‹ Macht, lässt sich bei dieser unreflektierten Empfindung nicht unterscheiden. Berggipfel erklimmen oft auch Menschen, welche die Welt sonst vor allem rational-szientifisch verstehen, weil sie etwa die »traumhafte Stimmung« des Sonnenuntergangs erleben wollen.74 Der Sonnenuntergang drückt für sie möglicherweise zentrale Ideen von gefühlsmäßiger Verbundenheit mit der Natur oder die Sinngebung im ewigen Werden und Vergehen etc. aus, oder sie wollen »zu einer schöpferischen Beziehung mit der natürlichen Umwelt« angeregt werden,75 wobei es ihnen auf die »Echtheit dieser Beziehung« ankommt.76 Dabei haben sie vermutlich kaum die Absicht, über die Darstellung der symbolischen Bedeutung zu reflektieren oder vom unmittelbaren Ausdruckswahrnehmen wegzustreben hin zu einer theoretisch-abstrakten, gesetzten Bedeutungsfunktion. Sie wollen im Gegenteil unmittelbar emotional ergriffen werden und physischer Teil der Szene sein. Gewiss ist es auch möglich, den Sonnenunterhang anders wahrzunehmen, nämlich in gewisser Distanz, wie ein Gemälde, aber das ist eine andere, die ästhetisch reflektierende Form der Auffassung. Die Handlungen in den genannten Situationen folgen jeweils einer Bedeutung, die ein Raum oder ein Ding unmittelbar als Atmosphäre symbolisch auszudrücken scheint. Dies deutet darauf hin, dass diese Struktur des Raumausdrucks dem Kern der Cassirer’schen mythischen Raumformung entsprechen könnte. Mit Cassirers Theorie der symbolischen mythischen Raumform scheint sich also auch ein modernes mythisches Ausdruckswahrnehmen erklären zu las74 Dies zeigt sich beispielsweise in Eder (2014). 75 Aus den ›Thesen von Biella – Das Manifest von Mountain Wilderness‹ (1987) zit. n. Flüeler et al. (2004: 124). – Das hier zitierte Ziel der »schöpferischen Beziehung« mag als kaum nachvollziehbare Zusammenstellung von Ideen erscheinen, da diese Aussage aber durchaus repräsentativ ist für ein bestimmtes aktuelles Reden über Natur und Wildnis, ist sie Teil meiner empirischen Kulturanalyse (zur Materialauswahl siehe Kapitel 1.4.2; zur Bedeutung der empirischen Aussagen siehe Kapitel 2). 76 Aus den ›Thesen von Biella – Das Manifest von Mountain Wilderness‹ (1987) zit. n. Flüeler et al. (2004: 124). – Mit der »Echtheit« wird hier das Problem des ›Klischees‹ angesprochen (vgl. Fußnote 20 in Kapitel 3). Trotz dieser Gefahr des Klischees kann aber von einem generellen Verlust mythischer und religiöser Bedeutungen der Alpen in der Moderne nicht die Rede sein, wie dies Salsa und Revaz behaupten: »Mit dem Triumph des modernen Denkens geht den alpinen Gesellschaften jedoch die magische und sakrale Dimension ihrer Umwelt verloren. Und die letzten mythischen Überreste werden dann oft als folkloristische Instrumente für die Konsumgesellschaft vereinnahmt« (Salsa & Revaz 1998: 104).

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sen. Cassirer selbst konstatiert den entscheidenden Punkt, der sich auch an den oben genannten Beispielen zeigt: Die mythischen Vorstellungsinhalte variieren sehr vielfältig. Was jedoch »rein faktisch« als Phänomen nach wie vor bestehe, ist »die Bedeutung, die er [der Mythos] für das menschliche Bewußtsein besitzt und die geistige Macht, die er über dasselbe ausübt«.77 Beim Blick in die Beispiele aus der lebensweltlichen Erfahrung erhärtet sich die These, dass es eine moderne mythische Raumformung gibt, die mit Cassirers Theorie analysiert werden könnte. Das ist nun genauer zu erforschen. Es stellt sich die Frage, wie es möglich ist, in der Moderne mythisch Raum als Wildnis zu formen, das heißt, welcher systematischen Struktur – über das, was zur allgemeinen Form oben gesagt wurde, hinaus – mythische Raumformung im modernen kulturellen Kontext nach Cassirers Theorie folgt. Diese grundlegende Erklärung ergänzend, ist für das Verständnis des aktuellen Wildnisdiskurses bedeutsam, warum, also in welcher Funktion, womöglich mythische Raumauffassungen in der Moderne bestehen. Erklärung einer mythischen Raumformung in der Moderne mit Cassirers Theorie Die mythische Raumauffassung als moderne zu verstehen, stellt sich zunächst als prinzipiell problematisch dar. Denn im aufgeklärten Kontext erscheint eine Raumauffassung nicht möglich, die Qualitäten wie heilig oder profan, Segen oder Fluch etc. in sich birgt – und zwar so, dass deren Form der unreflektierte Ausdruck eines Sinngehalts ist, der auf das Subjekt wie ein »Zauberhauch«78 wirkt. Für archaische Zeiten hingegen erscheint uns modernen Menschen die mythische Form der Weltsicht gewöhnlich als plausibel. Allerdings können wir im Grunde von der voraufklärerischen Auffassung nichts wissen, denn bei der mythischen Weltauffassung handelt es sich nicht um eine von ästhetischer oder naturwissenschaftlicher Weltauffassung graduell verschiedene, sondern um eine strukturell völlig andere.79 Uns ist es prinzipiell nur möglich, innerhalb der Moderne über archaische Raumformung zu sprechen, das heißt über das, was man aus moderner Sicht für die archaische hält. Die Naivität der archaisch-mythischen Weltauffassung, »demzufolge Bild und Sache, Zeichen und Bedeutung – etwa ein Blitz und der durch ihn manifestierte Zorn Gottes – zusammenfallen«, erfuhr mit der Entdeckung des »Zeichencharakter[s][...] des Sinnlichen« »eine

77 Cassirer 1925: 8, Hervorh. i. O. 78 Cassirer 1929: 175; vgl. Kapitel 3.1.1. 79 Vgl. Bohr 2008: 41 f.

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Erschütterung«.80 Hinter diese Erschütterung durch die Aufklärung können wir nicht zurücktreten. Die Welt des Logos behauptet sich, wie Cassirer schreibt, »als autonomes Gebilde« und scheidet sich deutlich ab »von der Welt der mythischen Kräfte und der mythischen Göttergestalten«.81 Im Folgenden werde ich daher an keiner Stelle den voraufklärerischen ›echten Mythos‹ behandeln. Cassirer selbst macht nicht eindeutig klar, wie eine gegenwärtige mythische Raumformung denkbar ist – gemeint ist eine mythische Raumformung, die nicht etwa in politisch-ideologischer Absicht künstlich so inszeniert wird, dass sie als echte erscheint.82 Aus seinen Darstellungen dieses inszenierten Mythos, insbesondere aber aus dem philosophischen Ansatz, mythische Raumformung als Formung zu beschreiben, lässt es sich jedoch nachvollziehen. Ich werde also Cassirer interpretieren und dabei gegebenenfalls auch über seine Ausführungen hinausgehen. Nachfolgend analysiere ich die mythische Raumformung in der Moderne. Zunächst ist grundsätzlich zu klären, wie mythische und wissenschaftliche Auffassungen gleichzeitig nebeneinander bestehen. Daran schließt sich die Diskussion an, inwiefern die moderne kritische Reflexion bei der mythischen Form zum Tragen kommt. Schließlich ist die Rolle des Subjekts und seines kulturellen Kontextes sowie die Frage nach der Pluralität im Mythischen zu beleuchten.

80 Rudolph 1995: 147. – »Der ursprüngliche Mythos ist Einheit von Anschauung und Denken, ohne Frage und Zweifel« (Jaspers 1964/1996: 348). 81 Cassirer 1927/1993: 4. – Dieses Ende des mythischen Weltbildes beschreibt Cassirer an einer Stelle mit dem Zitat eines mythischen Sinnbildes und der Lichtmetapher für die Aufklärung so: »Das Weltbild des Mythos und das der theoretischen Erkenntnis können nicht miteinander bestehen und nicht im gleichen Denkraum nebeneinanderstehen. Beide verhalten sich vielmehr streng ausschließend zueinander: Der Anfang des einen kommt dem Ende des andern gleich. Wie nach dem griechischen Mythos ein Biß in den Apfel der Proserpina die Seelen für immer dem Reich der Schatten verstrickt und ihnen die Rückkehr zum Licht des Tages verwehrt – so scheint umgekehrt der Anbruch des Tages, der Anbruch des wachen theoretischen Bewußtseins und der theoretischen Wahrnehmung, keinen Rückweg mehr in die Welt der mythischen Schattenbilder zu verstatten. Denn was könnte dieser Rückweg anderes sein als ein bloßer Rückfall – als das Herabgleiten in eine primitive und überwundene Stufe des Geistes?« (Cassirer 1929: 91 f.) 82 Zum in politisch totalitärer Absicht inszenierten modernen Mythos siehe unten in Kapitel 3.1.2.

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Gleichzeitigkeit von mythischen und wissenschaftlichen Auffassungen in der Moderne Es bestehen zwei gegensätzliche Paradigmen, mit denen das Verhältnis von mythischen und wissenschaftlichen Weltauffassungen erklärt wird: das der Ablösung und das der Gleichzeitigkeit.83 Um die Vorstellung der Gleichzeitigkeit, die für meine Analyse der modernen Wildnisideen leitend ist, zu verstehen, sei kontrastierend zunächst das Modell der Ablösung erläutert. Wenn die mythische allein als eine archaische Weltsicht begriffen wird, die heute allenfalls aus historischem oder ethnologischem Interesse untersucht werden kann, liegt die Vorstellung einer bestimmten kulturellen Entwicklungslogik der Moderne zugrunde: Die aufgeklärte Weltauffassung macht mythische Auffassungen letztlich obsolet. Auch Cassirer beschreibt frühere mythische Raumauffassungen und diese nicht nur als fremd und anders, sondern als »primitive«, noch nicht weit entwickelte Formen.84 Sie gehören zu einer bestimmten historischen Stufe, sind »etwas historisch Frühes und Vergangenes, etwas Archaisches«85. Wenn Cassirer zeitgenössische mythische Auffassungen anderer Kulturen, wie Anfang des 20. Jahrhunderts unter Ethnologen üblich, als »primitive« beschreibt, nimmt er sozusagen eine gleichzeitige Ungleichzeitigkeit an.86 Unter dieser entwicklungslogischen 83 Die Semiotiker Lotmann und Uspenskij stellen in diesem Sinn den Theorien vom mythischen Denken als historisches Entwicklungsstadium den ergänzenden Erklärungsansatz des mythischen Denkens als »typologisch universale Erscheinung« gegenüber (Lotmann & Uspenskij 1973/1986: 889 f.). Enno Rudolph hingegen begreift in seiner Cassirerinterpretation den Ansatz der Ablösung als »genealogischen«, den der Gleichzeitigkeit als »diagnostischen« Zugang (Rudolph 1995: 146). 84 Unter anderem Cassirer 1944/2007: 340 f. – Das entspricht der in der Mythosforschung weitverbreiteten »entwicklungslogischen Deutung«, die von einer Evolution vom Mythos zum Logos ausgeht (Oesterdiekhoff 2001: 15 f., 40; vgl. Nestle 1975 zit. n. Harth 1992: 21; vgl. Gottwald 2007: 58; Rudolph 1995: 149). 85 Recki 2004: 85; vgl. Kaegi 1994: 181. – Cassirers von mir in Kapitel 2.1 diskutierter Begriff von ›Kultur‹ als Zivilisation, der das Moment der Symbolisierung und Reflexion wesentlich ist, wird hier deutlich. 86 In Cassirers Darstellung sind über weite Strecken hinweg die »Dokumente des mythischen Bewußtseins […] entweder archaischer, frühhistorischer oder spätestens antiker Herkunft, oder sie stammen von Eingeborenenstämmen, deren Entwicklungsstufe jener aus den archaischen oder frühhistorischen Quellen bekannten entspricht« (Recki 2004: 86). Dass es sich bei diesen Belegen oft um (zu Cassirers Zeit übliche) naive ethnologische Beschreibungen handelt, die nicht als »Produkt einer Interpretation und damit in gewisser Weise [als, G. K.] Konstrukt« reflektiert werden, ist bei einer Cassirerrezeption zu beachten, wie unter anderem Graeser bemerkt (Graeser 1994: 64 f.).

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Sichtweise ist das mythische Denken prinzipiell aufklärerisch-rational vollständig »zugänglich« und damit auflösbar.87 Denn die Aufklärung hat, basierend auf der Idee der autonomen Vernunft, das rationale Denken sowie die autonomen Künste etabliert, und damit werden alle »irrationalen«, mythischen Welterklärungen überwunden oder sie können es zumindest werden.88 Diese Erklärung Cassirers lässt sich am Beispiel der Alpen illustrieren: Im Mittelalter wird der Alpenraum schon zum größten Teil besiedelt, aber er ist für die Bewohner in die zwei Raumkategorien ›Kulturland‹, das teilweise Ort der Arbeit, teilweise ›locus amoenus‹ bedeutet, und ›Wildnis‹, dem ›locus terribilis‹, aufgeteilt.89 Die zugänglichen und fruchtbaren Böden werden bewirtschaftet. »Die Gipfel hingegen sind die unbestrittenen Wohnstätten der höheren Mächte, die man ehren, denen man ausweichen sollte«90. Von dem frühen Aufklärer Barthold Heinrich Brockes werden im Jahr 1721 die Alpen in dieser alten Tradition des ›locus terriblis‹ »als unwirtlich und schrecklich« geschildert.91 Die frühen Forschungsreisenden waren nun genau deshalb besonders angetrieben, die Alpen systematisch zu erkunden und möglichst treffende Koordinatensysteme festzulegen etc., um diesen »magisch-mythischen Dunstkreis« der Orte und Richtungen aufzuheben,92 um die »Dämonie der mythischen Welt« zu besiegen und zu brechen.93 Sie brachen also nicht in eine Gegend auf, die in der symboli-

Dies betrifft meiner Interpretation nach vor allem Cassirers inhaltliche Darstellungen zu Kulturen, tut den nicht zeitlich gebundenen formalen Überlegungen zu den symbolischen Weltdeutungen aber keinen Abbruch. 87 Cassirer 1949: 21, 24; Paetzold 1994: 122; Oesterdiekhoff 2001: 40. 88 Jürgen Habermas erläutert diesen Gegensatz von Aufklärung und Mythos wie folgt: »In der Tradition der Aufklärung ist das aufklärende Denken zugleich als Gegensatz und als Gegenkraft zum Mythos verstanden worden. Als Gegensatz, weil es der autoritären Verbindlichkeit einer in der Kette der Geschlechter verzahnten Überlieferung den zwanglosen Zwang des besseren Arguments entgegenstellt; als entgegenwirkende Kraft, weil es den Bann kollektiver Mächte durch individuell erworbene, in Motive umgesetzte Einsichten brechend soll. Die Aufklärung widerspricht dem Mythos und entzieht sich dadurch seiner Gewalt.« (Habermas 1983: 131, Hervorh. i. O) 89 Salsa & Revaz 1998: 104. 90 Ebd. 91 Stremlow & Sidler 2002: 47. 92 Cassirer 1930/1985b: 103. 93 Ebd.: 106.

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schen Bedeutung ein weißer Fleck war, sondern im Gegenteil in eine mythisch stark aufgeladene. Für diese aufklärerische Sicht ergibt sich nach Cassirer andererseits: Für die »Philosophie der Kultur«, »die sich erst in der Schärfe des Begriffs und in der Helle und Klarheit des ›diskursiven‹ Denkens vollendet, ist das Paradies der Mystik, das Paradies der reinen Unmittelbarkeit, verschlossen.«94

Das aufgeklärte Denken löst das ›primitive‹ Denken ab, das insbesondere mit dem »›irrationale[n]‹ Element des Mythus«, dem »emotionalen Hintergrund«, und seiner ewigen Gleichheit »steht und fällt«.95 Cassirer weicht an anderer Stelle die Annahme einer kategorischen Ablösung allerdings auf und beschreibt sie nur als Anschein: »Mit der ersten Dämmerung der wissenschaftlichen Einsicht scheint die Traum- und Zauberwelt des Mythos ein für allemal dahin, scheint sie wie ins Nichts hinabgesunken zu sein«96.

Die mythische Formung der Welt erscheint als vergangen, als durch aufgeklärte Formungen abgelöst. Als Anachronismus ist sie gleichzeitig mit Religion, Kunst, Wissenschaft etc. jedoch noch denkbar. Diesem Paradigma der Ablösung steht das der Gleichzeitigkeit von mythischen und wissenschaftlichen Weltauffassungen gegenüber. 97 Unter diesem Vorzeichen ist Cassirers Beschreibung einer formalen Andersartigkeit der mythischen Auffassung zu verstehen, die nicht anachronistisch ›primitiv‹, sondern gleichzeitig und ebenbürtig sein kann: Der Mythos »widersetzt sich den Grundkategorien unseres Denkens«, beruht aber nicht auf einer ungeordneten, wirren, 94 Cassirer 1923: 50. 95 Cassirer 1949: 21. 96 Cassirer 1925: 20. 97 Lotmann und Uspenskij stellen in diesem Sinn den Theorien vom mythischen Denken als historisches Entwicklungsstadium den ergänzenden Erklärungsansatz des mythischen Denkens als »typologisch universale Erscheinung« gegenüber (Lotmann & Uspenskij 1973/1986: 889 f.). – Enno Rudolph bezeichnet diese beiden Ansätze als »genealogische« beziehungsweise »diagnostische« Zugänge: »Cassirer hat vornehmlich anhand der Form des mythischen Bewußtseins die verschiedenartige kulturanalytische Leistungskraft seiner Formen auf eine Weise vorgeführt, die eine Unterscheidung zwischen einer genealogischen und einer diagnostischen Bedeutung der Formen erlaubt.« (Rudolph 1995: 146, Hervorh. i. O)

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sondern auf einer ganz bestimmten Wahrnehmungsweise; seine »Logik – wenn er denn eine solche besitzt – ist nicht kommensurabel mit unseren Auffassungen von empirischer und wissenschaftlicher Wahrheit«.98 Die mythischen Vorstellungen und Handlungen entsprechen nicht einer rationalen Wahrheit, jedoch einer mythischen Wahrheit:99 Mythische Deutungen sind, wie der Cassirerinterpret Heinz Paetzold präzisiert, zwar »nicht primär kognitive Deutungen der Welt«100, aber sie dürfen »nicht allein oder ausschließlich als ›spekulative‹ Deutung[en] der Welt verstanden werden«101, sondern sind im ›wirklichen‹, praktischen Leben, im Handeln relevant. Mythische und logisch-wissenschaftliche sind damit als zwei nicht aufeinander reduzierbare Weltauffassungen denkbar, die nebeneinander in der Moderne existieren.102 Sie bilden zusammen (und mit 98

Cassirer 1944/2007: 118. – Helmut Holzhey bemerkt ausdrücklich: Es »ist nicht primär und konstitutiv für […] [Cassirers] Ansatz, daß dem Mythos nur eine ›Objektivität niederer Stufe‹ zukommen kann« (Holzhey 1988: 198). – Ähnlich wie Cassirer beschreibt Karl Jaspers die Eigenständigkeit der mythischen Weltsicht: Die Wirklichkeit der Mythen »liegt allein in einem für den Sehenden gültigen Anspruch« (Jaspers 1964/1996: 344). »Die Chiffern [sic!] des Mythos sind nicht Zeichen, deren Bedeutung auf andere Weise besser aussprechbar wäre« (Jaspers 1964/1996: 346). Ebenso stellt Dietrich Harth in seiner theoretischen Analyse des Mythos fest: »[D]ie Mythen sind […] nicht völlig blind. Nur läßt sich das, was sie an Wissen und Erkenntnis enthalten, nicht in logisch sauber getrennte Kategorienfächer unterbringen« (Harth 1992: 21; vgl. Gottschalk 1973: 24 f.).

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Dies übersieht beispielsweise Robert Pfaller (Pfaller 2009: 85), wenn er aus psychologischer Sicht von Wahrheit allgemein schreibt.

100 Paetzold 1994: 113. 101 Ebd.: 18. 102 Der Philosoph Kurt Hübner stellt ebenfalls anhand von lebensweltlichen Phänomenen fest, dass gegenwärtig »allenthalben mythische ›Potentiale‹« zu bemerken seien (Hübner 1979: 92): »Wir können es drehen und wenden wie wir wollen – die Geburt, die Liebe, den Tod, die Natur, erleben wir auch außerhalb der Kunst und der Religion ganz anders, als es unser modernes Bewußtsein zugeben will. […] Wir könen [sic!] es auch nicht vermeiden, das Meer, einen Berg, ein Tal, einen Fluß wie eine einheitliche Gestalt, wie ein Wesen zu sehen« (ebd.). Hübner erklärt seine Beobachtung dann nicht weiter. Sein kurzer Hinweis, dass Aufklärung sich nicht nur »durch Wissenschaft« zeigt, sondern auch im Denken »über die Wissenschaft« (also auf der Metaebene Aufklärung über Eigenschaften und Grenzen der wissenschaftlichen Denkweise) (ebd., Hervorh. i. O.), weist jedoch auf die Bedeutung der kritischen Reflexion als wesentliches Charakteristium des modernen Denkens in all seinen unterschiedlichen Formen hin.

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weiteren Weltauffassungen, insbesondere der ästhetischen) »die Formen der [heutigen] Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit«, so Cassirer.103 Die bisherigen Überlegungen zeigen, dass die Frage nach der Möglichkeit und Funktion des mythischen Denkens in der Moderne eine weitere Frage impliziert: Ist »die Geschichte der Kultur als Geschichte eines zunehmenden Pluralismus« an unterschiedlichen symbolischen Formen oder »einer zunehmenden Homogenisierung der Lebensformen und Wertsetzungen«, vor allem geprägt durch szientifische Rationalität, zu deuten?104 Mit meiner eingangs formulierten These zur modernen mythischen Raumformung im aktuellen Wildnisdiskurs vertrete ich die zuerst genannte Position, dass die Kulturentwicklung zu einem anwachsenden Pluralismus an grundlegenden Typen aktuell möglicher Weltauffassungen führt. In den folgenden Darstellungen wird zu bemerken sein, dass sich im mythischen Denken aus rational-aufgeklärter Sicht immer wieder Ungereimtheiten und Widersprüche zeigen. Die Analyse versetzt uns in die Lage, diese Aspekte des Mythos zu verstehen, »ohne«, wie Cassirer selbst schreibt, »zu der Hypothese eines angeborenen Defekts des menschlichen Denkens selbst Zuflucht zu nehmen«.105 Mythisches wird auf der philosophischen Metaebene kritisch-rational reflektiert Die Moderne unterscheidet sich von der archaischen Welt durch ein mit der Aufklärung einsetzendes neues Rationalitätsverständnis, das die Erkenntniskraft des Subjekts in den Mittelpunkt stellt und sich von ehrfürchtigem Hinnehmen erlebter Wahrheiten und Götterglauben abgrenzt.106 Auf dem aufklärerischen Ra103 Cassirer 1944/2007: 51. – Dass Cassirer überhaupt der »rein faktische Bestand« (Cassirer 1925: 8, Hervorh. i. O.) unterschiedlicher Weltinterpretationen (mythischer, wissenschaftlicher etc.) interessiert, erklärt sich aus dem – in Kapitel 2 von mir dargestellten – Grundanliegen Cassirers, in seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ Kants abstrakte kritische Analyse auf die Analyse der kulturellen Praxis zu transformieren. 104 Rudolph 1995: 149. 105 Cassirer 1949: 32. 106 Für Cassirer hebt die Moderne mit der Renaissance an, weil dabei die Weltauffassungen auf eine revolutionär neue Basis gestellt werden. Als Beispiele nennt dazu der Cassirerinterpret Heinz Paetzold: »[d]ie Abwehr des fatalistischen Sternenglaubens bei Giovanni Pico della Mirandola, die Begründung der neuzeitlichen Gestalt der Wissenschaft aus dem Geiste der Mathematik bei Galileo Galilei, Giordano Brunos und Nikolaus Kopernikus’ Idee des Kosmos, Montaignes Entdeckung der Individualität als Lebensform, Leonardos und Albertis Begründung der Autonomie der

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tionalismus und dem Empirismus basiert »der neue Begriff der Wissenschaft, der gleichbedeutend wurde mit dem der Mathematik und der Naturwissenschaften«107. Aber nicht nur innerhalb dieses wissenschaftlichen Gebietes wird, orientiert an mathematisch-naturwissenschaftlicher Rationalität, vernunftgemäß gedacht, sondern auch in der Perspektive der philosophischen Kritik, die von außerhalb über die einzelnen unterschiedlichen Wissensgebiete (Einzelwissenschaften und Weltauffassungen) reflektiert. So kann insbesondere das mythische Denken auf dieser Metaebene als Mythisches erkannt und rational analysiert werden.108 Diese kritische Analyse ist wissenschaftlich-rational – jedoch nicht im Sinne mathematisch-naturwissenschaftlicher Rationalität, sondern nach Cassirer im Sinne einer kulturwissenschaftlichen (geisteswissenschaftlichen) Rationalität.109 Im Unterschied zur mythischen Denkweise »ist und lebt« das wissenschaftlich denkende Subjekt »in seinen eigenen Bildungen, in seinen selbstgeschaffenen [sic!] Symbolen nicht nur«, sondern begreift »sie als das, was sie sind«.110 Diese aufklärerische Idee der rationalen Selbstreflexion basiert auf der Freiheit des Subjekts, ohne äußeres Regulativ zu denken und zu handeln: Der Geist gewinnt, wie es Cassirer ausdrückt, Freiheit gegenüber seinen eigenen Schöpfungen »in steter, kritischer Arbeit«111. ›Stet‹ ist die Reflexion, weil Aufklärung nie abgeschlossen ist, vielmehr strebt das Subjekt zu immer größerer innerer Freiheit, das heißt vernunftgemäßer Selbstbestimmtheit.112 Insofern besteht bildenden Kunst« (Paetzold 1995: 162; vgl. Mormann 2000: 455). Ich folge in vorliegender Arbeit Cassirers Begriff der Moderne in einem weiten Sinn. 107 Schmidt & Schischkoff 1991: 598. 108 »[D]ie Chance der Philosophie [liegt] darin, die letzten Bedingungen der Möglichkeit des Mythos zu explizieren. Dies vermag sie aber nur, wenn sie sich offen hält für alle Formen der menschlichen Erfahrung. Die Philosophie ist das Forum, auf dem alle Vernunft- und Erfahrungsansprüche geltend gemacht werden müssen, ohne daß man sich an einzelne Formen binden muß.« (Paetzold 1994: 6) 109 Vgl. Cassirer 1942/2007: 445. 110 Cassirer 1925: 35. 111 Ebd. 112 Dies entspricht dem Prozess der Aufklärung im Sinne von Kants Kritik: »Aufgeklärt seyn heißt: selbst denken, den obersten Probirstein der Warheit meines Urteils, den Grund des Vorwarhaltens [Fürwahrhaltens], denn ich muß es verantworten, in sich selbst suchen, d. i. in Grundsätzen« (Kant 1928: 488, Nr. 6204). »Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung« (Kant 1786/1977: 283; vgl. Kant 1784/1999: 60). – Kant meint hier ›Aufklärung‹ als individuellen und andauernden Prozess, während er den Begriff an anderer Stelle

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in der Aufklärung ein Fortschritt in einem Rationalisierungsprozess. Dieser aber widerspricht nicht der oben genannten Idee vom zunehmenden kulturellen Pluralismus der Weltauffassungen, denn er bedeutet nicht, dass sich jede Weltauffassung zunehmend an der mathematisch-naturwissenschaftlichen Rationalität orientiert. Vielmehr vollzieht sich der Prozess zum einen, sowohl innerhalb der Einzelwissenschaften (insbesondere Mathematik und Naturwissenschaften) als auch im kritischen Reflektieren über die unterschiedlichen Auffassungen (Kunst, Wissenschaft etc.). Zum anderen bleibt das Denken innerhalb der mythischen und anderen logisch nicht zugänglichen Auffassungen vom Rationalisierungsprozess unberührt – sie werden nicht verdrängt, sondern bleiben lebensweltlich bestehen. Cassirer formuliert eben auf der gerade beschriebenen kritischen Metaebene die ›Philosophie der symbolischen Formen‹, mit der er die Bedingung der Möglichkeit von kultureller Bedeutung beziehungsweise Bedeutsamkeit analysiert. Kritisch-rationale Reflexion ist der modernen mythischen Raumformung inhärent Als zentral für das Verständnis des modernen mythischen Raumes sehe ich folgendes Argument an: Die soeben erläuterte, nur modern denkbare kritisch-rationale Perspektive ist nicht eine mögliche Ergänzung zur Cassirer’schen mythischen Raumformung, sondern eine zwingende – man kann sie als ihr verdeckt inhärent beschreiben. Das zeigt sich aus zwei Perspektiven: Wenn die mythische Raumordnung allein das schicksalhafte Wirken äußerer Mächte kennen würde, stellte sich die Frage, wie es möglich wäre, diese Raumauffassung als eine symbolische Formung, also einen Akt des wahrnehmenden Subjekts, zu interpretieren. Ebenso wäre es, wie Dominic Kaegi in seiner Cassirerinterpretation bemerkt, »nicht nur ›problematisch‹, sondern ausgeschlossen«, die mythische Raumordnung als eine symbolische Form zu verstehen, wenn man umgekehrt »annimmt, dass die »Differenz zwischen Zeichen und ›ideellem Inhalt‹« bei jeder symbolischen Formung in jedem Moment bewusst wäre.113 Dass bei der mythischen Raumauffassung nach Cassirers Theorie sowohl die nicht-reflektierende als auch die kritisch-rationale Betrachtungsweise wesentlich sind, lässt sich anhand der Gegenüberstellung von symbolischem Ausdruck und natürlichem Ausdruck verstehen: Cassirer bemerkt, dass die mythische Raumauffassung kein nur auch als Epoche oder bestimmtes historisches Phänomen verwendet (vgl. Trepl 2012: 66), ihn niemals aber als »Anbruch einer Vollendung« meint (Foucault 1990: 37). (Vgl. Gerald Hartung in der Einleitung zur neuen Ausgabe von Cassirers ›Die Philosophie der Aufklärung‹, Cassirer 1932/2007: XVII.) 113 Kaegi 1994: 184.

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passives Aufnehmen von Sinneseindrücken durch das Subjekt insofern sein kann, als »auch das mythische Bewußtsein die Unterschiede der Einzelgestalten nur [hat], indem es diese Unterschiede fortschreitend setzt, indem es sie aus einer ursprünglichen indifferenten Einheitsanschauung ›ersondert‹«114. Zum Beispiel sind die Raumrichtungen für die mythische Anschauung »nicht von Anfang an gegeben«, sondern »sie muß den Prozeß der Abhebung und Sonderung erst selbst vollziehen«:115 Der Anschauende muss (im von mir oben genannten Beispiel) die Unterschiedlichkeit der Himmelsrichtung von Sonnenauf- und Sonnenuntergang bemerken und untrennbar gleichzeitig diese Differenzierung durch die Verknüpfung der Richtungen mit den mythischen Assoziationen von Licht und Dunkel (Anfang und Ende etc.) vollziehen. Den mythischen Raum machen also zwei Facetten aus: Auch wenn es dem mythisch Wahrnehmenden so erscheinen mag, als würde die Form des mythischen Raumes allein durch das Wirken übermächtiger Kräfte verursacht, handelt es sich beim mythischen Raum dennoch um eine Formung, die vom Bewusstsein ausgeht, mithin um eine Auffassung nach bestimmten Formgesetzen.116 Diese beiden Elemente der mythischen Raumauffassung spielen so zusammen, dass sie in dem Moment für den Anschauenden nicht zu trennen sind: Die Verknüpfung von »Sachwelt« und »Bilderwelt« im mythischen »Ausdruck« trägt, so Cassirer, »freilich selbst noch nicht den Charakter der freien geistigen Tat, sondern den Charakter der naturhaften Notwendigkeit«, weil »kein selbständiges und selbstbewußtes, frei in seinen Produktionen lebendes Ich vorhanden ist«; die »neue Welt des Zeichens« muss daher »dem Bewußtsein selbst als eine durchaus ›objektive‹ Wirklichkeit erscheinen.«117 Das mythische Denken, so fasst Dominic Kaegi zusammen, »ver-

114 Cassirer 1924/1925: 12, Hervorh. i. O.; vgl. Cassirer 1944/2007: 145. 115 Cassirer 1924/1925: 10. – Heidegger bezeichnet diese von Cassirer beschriebene Funktion des mythischen Bewusstseins als ›Entdecken‹: »Der Raum ist […] nie zuvor ›an sich‹ gegeben, um dann erst mythisch ›gedeutet‹ zu werden, sondern das mythische Dasein entdeckt ›den‹ Raum allererst« (Heidegger 1925: 258). Auf diesen Aspekt des Entdeckens komme ich bei der Analyse des Wildnisdiskurses in Kapitel 4 zurück. 116 Kurt Hübner beschreibt genau in diesem Sinne der symbolischen Formung den Charakter der modernen mythischen Form der Weltauffassung als »apriorischen Rahmen, in den alle Erfahrungen hineingestellt, in dem alle Erfahrungen erst möglich und Tatsachen erklärbar werden« und stellt fest, dass sich in dieser »apriorischen Funktion« die wissenschaftliche und die mythische Auffassungswiese gleichen (Hübner 1979: 89). 117 Cassirer 1925: 32.

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deckt sich selbst seine eigene symbolische Formgebung des Sinnlichen«, indem es »im unmittelbaren Ausdruckswert des Sinnlichen befangen« bleibt.118 Mythisches Bewusstsein ist eine ambivalente Synthesis aus unmittelbar und reflexiv An dieser Stelle zeigt sich die Ambivalenz des mythischen Bewusstseins zwischen »Bindung und Lösung«, zwischen Unmittelbarkeit und Reflexion, die Cassirer »Dialektik« nennt: Der Mythos ist nicht »sinnlich-passiver Eindruck«, zeichnet sich nicht durch gegensatzlose Einfachheit und Starrheit aus, sondern »auch er entsteht, gleich der Kunst und der Erkenntnis« »in einer Trennung vom unmittelbaren ›Wirklichen‹, d. h. vom schlechthin Gegebenen«, indem er den Eindruck in »seinen eigenen selbstgeschaffenen Bildwelten« zum Ausdruck formt. Die reine spontane Gemütsbewegung wird zur Emotion, der eine gewisse reflexive Leistung eigen ist. Im Gegensatz zu den anderen symbolischen Formen ist jedoch entscheidend, dass das mythische Bewusstsein, wenn es »einen der ersten Schritte über das ›Gegebene‹ hinaus« geht, »doch mit seinem eigenen Erzeugnis alsbald wieder in die Form der Gegebenheit« zurücktritt: Der Mythos »erhebt sich geistig über die Dingwelt, aber er tauscht in den Gestalten und Bildern, die er an ihre Stelle setzt, nur eine andere Form des Daseins und der Gebundenheit ein.« Denn erst wenn das Bild und seine Bedeutung, wenn Vorstellung und Sinngehalt des bloßen Zeichens »unmittelbar ineinander ein und ineinander über« gehen, also »in ein Verhältnis der Identität« umschlagen, ist die mythische Synthesis erreicht.119 Wie ich oben am Beispiel des Abbildes eines Feindes erläutert habe, muss das Zeichen mit dem Ding ein untrennbares Ganzes bilden,120 damit die Auffas118 Kaegi 1994: 184. 119 Alle Zitate in diesem Absatz sind aus Cassirer (1925: 33, Hervorh. i. O). – An anderer Stelle drückt Cassirer den Sachverhalt so aus: Die dialektische »Synthesis führt hier notwendig immer wieder zum Zusammenfall, zur unmittelbaren ›Konkreszenz‹ der zu verknüpfenden Elemente« (ebd.: 308). Der Mythos zeichnet sich durch »Indifferenzen« aus, so Heinz Paetzold: Er »verharrt vor der Differenz von Schein und Wahrheit. Er kennt keine Unterscheidung von bloß subjektiv Vorgestelltem und wirklich Wahrgenommenem. Traumwelt und Wirklichkeit werden nicht streng auseinander gehalten. Leben und Tod sind ungeschieden ineinander. Zeichen und bezeichnete Sache werden nicht getrennt« (Paetzold 1994: 7). 120 Vgl. Cassirer 1925: 312 f. – Die Paradoxie des mythischen Denkens besteht darin, dass es sich in seiner »symbolische[n] Objektivationsleistung gerade deshalb verkennt«, weil für es »alles ›Objektive‹ unmittelbar symbolischen,[sic!] Ausdruckscharakter besitzt« (Kaegi 1994: 184).

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sung die mythische »Äußerungsform und somit ihre konkrete Wirklichkeit und Wirksamkeit besitzt«121. An anderer Stelle, bei der er die mythische mit einer religiösen Weltauffassung zusammenfasst, beschreibt Cassirer diese Dialektik wie folgt: »Dem stetigen Aufbau der mythischen Bildwelt entspricht das stete Hinausdrängen über sie: derart jedoch, daß beides, die Position wie die Negation, der Form des mythisch-religiösen Bewußtseins selbst angehören und sich in ihm zu einem einzigen unteilbaren Akt zusammenschließen. Der Prozeß der Vernichtung erweist sich, tiefer betrachtet, als ein Prozeß der Selbstbehauptung, wie der letztere sich nur kraft des ersteren vollziehen kann: beide vereint fördern erst in ihrem ständigen Zusammenwirken das wahre Wesen und den wahren Gehalt der mythisch-religiösen Form zutage«122.

Die »Korrelation von ›Sinn‹ und ›Bild‹« und der »Konflikt zwischen ihnen« sind die beiden Verhältnisse, die »tief im Wesen des symbolischen, des sinn-bildlichen Ausdrucks überhaupt gegründet« sind.123 Aus der analytischen Außenperspektive dagegen, in der ich hier argumentiere, lässt sich der Ausdruck mythischer Räume differenzieren: Durch die Verknüpfungsleistung des mythischen Bewusstseins wird einerseits die zunächst sinnlich wahrgenommene Unterscheidung zweier Richtungen im Raum zum Zeichen, das etwas »Geistiges« ausdrückt,124 zu einem symbolischen ›Ausdruck‹ im Sinne Cassirers. Zum Beispiel wird das tiefe individuelle Gefühl von Gefahr, das das Subjekt bei einer bestimmten Richtung aufgrund ihrer Dunkelheit überkommt, im mythischen Symbolismus in gewisser Weise objektiviert, in einen

121 Cassirer 1925: 319. 122 Ebd.: 291 f. – Beispielsweise gibt es, wie Cassirer anführt, in der frühen persischen Glaubenslehre Heilige, die einerseits schon mit abstrakt-ethischer Prägung Wahrheit, Rechtschaffenheit oder Gehorsam personifizieren. Die Spaltung zwischen äußerlicher Person und ethischer Sinngebung ist also bereits bewusst. Andererseits personifizieren die Heiligen in dieser Glaubenslehre gleichzeitig auch die in vergangenen Mythen als unmittelbare Kräfte aufgefassten Naturelemente, wie das Feuer und die Gewässer. Die Lehre lässt die ursprünglich unterschiedlichen Bedeutungsgehalte in ein mythisches Bild (die Person des Heiligen) zusammenfallen. (Ebd.: 299; vgl. Holzhey 1988: 193) 123 Cassirer 1925: 319. 124 Ebd.: 312 f. – »[D]em mythischen Bewußtsein dienen Naturerscheinungen ebenso wie Ritus und vor allem Magie als sinn- und oftmals schicksalsträchtige Zeichen« (Rudolph 1995: 146).

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allgemeinen Kontext gestellt als Bedeutung von Niedergang und Tod. 125 Andererseits werden die Richtungen in diesem symbolischen Ausdruck überhaupt erst bedeutungsvoll (erhalten die Bedeutungen Licht und Dunkel, Geburt und Tod etc.), und es wird sinnvoll, sie zu unterscheiden über eine praktische Entscheidung ad hoc hinaus, die Wegerichtung, bei der man Gefahr fühlt, nicht einzuschlagen. Deshalb stellt Cassirer der passiven, unbewussten und instinktiven Reaktion auf einen »natürlichen Ausdruck«, zu der auch Tiere fähig sind (reiner Affekt), den »symbolischen Ausdruck« gegenüber, bei dessen Bildung das mythische Bewusstsein im aktiven Prozess mitwirkt. 126 Der reine Affekt wird zur Emotion. Mit diesem letztlich bewussten, aktiven Aspekt des symbolischen Ausdrucks zeigt sich im mythischen Denken der fundamentale Charakter der symbolischen Formungen: die Wirklichkeitskonstitution. »Das mythische Denken«, so bringt es Dominic Kaegi auf den Punkt, »nimmt das Sinnliche nicht einfach hin, sondern gibt ihm eine bestimmte Struktur, indem es den anschaulichen Ausdruck […] deutet.«127 Der »bloße tierische Schrecken«, wie es Cassirer an anderer Stelle beschreibt, wird im mythischen Denken zum »Staunen« – eine »sinnliche Erregung«, die »aus entgegengesetzten Zügen, aus Furcht und Hoffnung, aus Scheu und Bewunderung« entsteht, und sich einen »Ausdruck sucht«, beispielsweise in der Bedeutung »heilig«.128 Die mythische Raumauffassung ist also in Cassirers Theorie eine Tätigkeit des Bewusstseins: Sie wird subjektiv vom Betrachter konstituiert. Jedoch kann diese Struktur, in der die Vorstellung relational zum Wahrnehmenden ist, nicht innerhalb der mythischen Weltsicht reflektiert und als symbolische Formung expliziert werden. Nur auf der kritisch-rationalen Metaebene, die von außen auch alle anderen symbolischen Formungen betrachtet, ist es möglich, die mythische Ausdruckswahrnehmung nach ihrer »Symbolisierung von Sinn« zu hinterfragen.129 Innerhalb der mythischen Auffassung allerdings scheint für das Subjekt 125 Cassirer 1949: 63 f. 126 Ebd.: 60, 63, Hervor. G. K. – Dieses Bewusstsein ist zu Erkenntnis fähig, denn: »Das bloße Hinnehmen eines Gegebenen schafft noch keine Erkenntnis. […] Ohne formenden, überdies einheitsstiftenden Verstand ist der Gegenstand erst das Unbestimmte« (Höffe 2004: 85). 127 Kaegi 1994: 188. 128 Cassirer 1925: 101, Hervorh. i. O. 129 Cassirer bezeichnet den Analytiker auf der Metaebene als »Zuschauer«: »Blickt man […] auf den Mythos selbst hin, auf das, was er ist und als was er selbst sich weiß, so erkennt man, daß gerade […] [die] Trennung des Ideellen vom Reellen, […] [die] Scheidung zwischen einer Welt des unmittelbaren Seins und einer Welt der mittelbaren Bedeutung, […] [der] Gegensatz von ›Bild‹ und ›Sache‹, ihm fremd ist. Erst wir,

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ein charakteristischer Ausdruckswert untrennbar am Wahrgenommenen zu haften – die geistigen äußeren Mächte (die im Blitz verkörperten Dämonen etc.) scheinen zu »wirken«130. Die Handlungen resultieren dann etwa aus »den mythischen Grundaffekten von Hoffnung und Furcht«, »dem magischen Hingezogenund Abgestoßenwerden«, »der Begier des Ergreifens des ›Heiligen‹ und im Grauen vor der Berührung mit dem Verbotenen und Unheiligen«.131 Dies entspricht der Struktur, die aus moderner Sicht für den »echten Mythos«132, also das naive mythische, archaische Denken, angenommen wird: Die Bilder, in denen der »echte Mythos« lebt, »sind nicht bekannt als Bilder. Sie werden nicht als Symbole, sondern als Realität betrachtet.«133

Dem entspricht, was Roland Barthes (in seiner semiologischen Analyse ›Mythen des Alltags‹) ohne Bezug auf Cassirer als das eigentliche Prinzip des Mythos herausstellt: Der Mythos »verwandelt Geschichte in Natur«134. Diese Betrachtung des Mythischen als Realität vollzieht auch der moderne Wahrnehmende, sofern er innerhalb der symbolischen mythischen Formung verdie Zuschauer, die in ihm nicht mehr leben und sind, sondern die ihm bloß reflektierend gegenüberstehen, legen sie in ihn hinein« (Cassirer 1925: 51, Hervorh. i. O). 130 Cassirer 1927/1985: 9. – »Wir fragen hier [beim ›Ausdruck‹] nicht nach der Möglichkeit dieses Zusammenhangs [von sinnlichem Erlebnis und bestimmtem Sinngehalt]; wir versuchen nicht zu erkennen, in welchen […] Grundbestimmungen es gegründet ist, daß ein sinnlich-Äußerliches [sic!] in sich die Kraft besitzt, in dieser Weise ein ›innerliches‹ Sein in sich auszudrücken und es uns unmittelbar zu offenbaren« (ebd., Hervorh. i. O; vgl. Cassirer 1944/2007: 93). – Martina Plümacher beschreibt Cassirers Gedanken wie folgt: Die Ausdruckwahrnehmung ist bei Cassirer »eine durch den Affekt bestimmte Weise des Wahrnehmens […], in der das Wahrnehmungssubjekt sich nicht als Subjekt von dem Wahrgenommenen distanziert, sondern sich von ihm emotional ergriffen fühlt« (Plümacher 2003: 184). 131 Cassirer 1930/1985b: 106. 132 Cassirer 1925: XII; Cassirer 1949: 66. – Cassirer bezeichnet als ›echten Mythos‹ das, was eine Vorgabe ist, ein »unvermeidliche[s], unerbittliche[s] und unwiderrufliche[s] Schicksal«, das in keiner Weise reflektiert werden kann (Cassirer 1949: 380; vgl. ebd.: 53 f.). 133 Cassirer 1949: 66; vgl. Habermas 1987: 81 f. 134 Barthes 1957/2010: 278. – In diesem Sinne stellt auch Habermas fest: »Am erstaunlichsten für uns ist [am mythischen Weltbild] die eigentümliche Nivellierung der verschiedenen Realitätsbereiche: Natur und Kultur werden auf dieselbe Ebene projiziert« (Habermas 1987: 78).

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weilt. Denn mit der Aufklärung ist die mythische Raumauffassung zwar letztlich in der Reflexion als eine mögliche Sinnzuschreibung des freien Subjekts unter mehreren identifiziert; diese symbolische Formung ist allerdings im Moment der Ausdruckswahrnehmung nicht erkennbar: Der Mythos erscheint als ›echter‹. Symbolhaftigkeit und Mehrdeutigkeit zeigen sich in mythischen Bildern und Erzählungen An zwei Elementen zeigt sich schon innerhalb des mythischen Denkens – ohne die gerade beschriebene kritisch-rationale Reflexion – die Disposition des Bewusstseins, zum einen der Symbolhaftigkeit des Ausdrucks (im Gegensatz zum natürlichen Ausdruck) und zum anderen der Pluralität an Bedeutungen gewahr zu sein:135 an den mythischen Bildern und den mythischen Erzählungen. Zum einen werden dabei »Gefühle nicht einfach gefühlt«, sondern »in Bilder gewandelt«.136 Das heißt insbesondere, sie werden hier eigentlich nicht unmittelbar erlebt, sondern symbolisch ausgedrückt mittels gemalter Bilder, Figuren, mittels der Sprache, sprachlicher Bilder oder anderer Zeichen; darin liegt eine »Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten Ausdruck«137. Zum anderen sind Berichte und geglaubte Erzählungen wesentliche Elemente der mythischen Welt, in denen sich eine »mittelbare Deutung« des unmittelbar erlebten Ausdrucks vollzieht.138 Diese Erzählungen verlangen einerseits im Ge135 Mit dem »Ausdruck« von Sinn in der Anschauung, das heißt der Zuordnung eines Sinns zu einem Ding, steht »der Mensch« »an der Schwelle einer neuen Geistigkeit«, da er seine Konstitutionsleistung »gewissermaßen reflektiert« (Cassirer 1925: 101). 136 Cassirer 1949: 66; vgl. Graeser 1994: 53. – »Schon in den ersten, in den im gewissen Sinne ›primitivsten‹ Äußerungen des Mythos wird deutlich, daß wir es in ihnen nicht mit einer bloßen Spiegelung des Seins, sondern mit einer eigentümlichen bildenden Bearbeitung und Darstellung zu tun haben. […] Der Sachwelt, die ihn umfängt und beherrscht, stellt der Geist eine selbständige Bilderwelt entgegen« (Cassirer 1925: 31 f.). 137 Recki 2004: 91; vgl. Cassirer 1925: 31 f.; Kaegi 1994: 184. – Der Kulturwissenschaftler Dietrich Harth macht bei seiner Cassirerinterpretation darauf aufmerksam, dass das bildliche Vermitteln der Riten auf eine Verwandtschaft der mythischen Formung zur Ästhetik hinweist, deren »hauseigene Domäne« das »Denken in Bildern« sei (Harth 1992: 21). 138 Cassirer 1925: 52. – Dies entspricht der allgemeinen Begriffsbestimmung Dietrich Harths: »Mythos« bezeichnet »einen kollektiv tradierten und erinnerten Erzähltext oder Bildkomplex« (Harth 1992: 29).

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gensatz zur bloßen rituellen Handlung einen gewissen Grad an Abstraktion: »Alle mythische Erzählung ist«, so gibt Martin Heidegger Cassirers Gedanken wieder, »immer nur nachträglicher Bericht der heiligen Handlungen«, und »das mythische Dasein« stellt sich in diesen nur »unmittelbar dar.«139 Andererseits hat offensichtlich das sinnlich Gegebene schon dann einen mehrdeutigen Zeichencharakter, wenn es überhaupt nötig wird, mit Erzählungen den Sinn, den ein Sinnliches »ausdrückt«, zu tradieren. Wäre der Sinngehalt unmittelbar, so Habermas in seiner Diskussion von Cassirers Mythosbegriff, dann wäre er immer gleich und keine kulturelle Überlieferung von Deutungen wäre nötig. 140 Das moderne Subjekt wechselt zwischen mythischer Empfindung und Reflexion Über diese Vermittlung durch Bilder und Erzählungen hinaus kann sich das moderne Subjekt im Nachgang zu seiner mythischen Raumauffassung die formende Konstitution durch reflektierte ›Selbsterkenntnis‹ als selbst erzeugt vergegenwärtigen. Weil es sich der Ausdrucksfunktion bewusst werden kann, in der es »selbst zum Wirkenden und Schaffenden« wird, erlebt es nicht lediglich »passiv die Wirkungen der Dinge«.141 Selbst wenn wir beispielsweise das Schaudern im nächtlichen Wald als ein Widerfahren eines Eindrucks erleben, ist das nicht ein Relikt der (als solche angenommenen) ›echten‹ archaischen Welterfahrung, sondern hat für jedes Subjekt, das sich seiner selbst als Subjekt bewusst ist, bereits eine ›Form‹ – die Form des Ausdrucks. Denn Cassirer sieht bei einem solchen Schaudern nicht die »Tatsache der Furcht«142 als wesentlich an, sondern deren Form: 139 Heidegger 1925: 263; vgl. Jaspers 1964/1996: 345. – Cassirer macht in diesem Sinne an einer Stelle einen Unterschied zwischen Riten und Mythen: In Riten »vollzieht« der Mensch »Handlungen, ohne ihre Motive zu kennen; sie sind vollständig unbewusst. Aber wenn diese Riten in Mythen verwandt werden, erscheint ein neues Element. Der Mensch ist nicht mehr zufrieden, gewisse Dinge zu tun – er erhebt die Frage, was diese Dinge ›bedeuten‹; er forscht nach dem Warum und Wozu; er versucht zu verstehen, woher sie kamen und zu welchem Ziel sie streben« (Cassirer 1949: 64; vgl. Gottschalk 1973: 93). 140 Erst mit der Ablösung des naiven Mythos kann von einer »kulturellen Überlieferung« der unterschiedlichen Deutungen, also von einer »verzeitlichten Kultur« gesprochen werden, denn davor ist der Mythos nicht vieldeutig und damit auch immer gleich (Habermas 1987: 82). Robert Pfaller kommt aus psychologischen Beschreibungen heraus zu ähnlichen Schlüssen (Pfaller 2009: 83). 141 Cassirer 1936-37/1999: 150. 142 Cassirer 1949: 66, Hervorh. i. O.

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»Furcht ist ein universaler biologischer Instinkt. Sie kann niemals ganz überwunden oder unterdrückt werden, aber sie kann ihre Form wechseln. Furcht ist mit den heftigsten Erregungen und den erschreckendsten Visionen erfüllt. Aber im Mythus [in der symbolischen Form ›Mythos‹, G. K.] beginnt der Mensch eine neue und seltsame Kunst zu lernen, die Kunst auszudrücken, und das bedeutet, seine am tiefsten verwurzelten Instinkte, seine Hoffnungen und seine Furcht zu organisieren.«143

Er formt symbolisch – ohne sich dessen selbst dabei bewusst zu sein – mit einem mythischen Bewusstsein Gegebenheiten zum Ausdruck, er macht also Bilder zu Zeichen, auch wenn diese Trennung im Moment der Formung in Identität umschlägt. Innerhalb der mythischen Auffassung wird das Ding unmittelbar erlebt und gedacht, das Ding drückt sich selbst aus. Im modernen mythischen Erleben ist jedoch eigentlich jederzeit bewusst, dass sich nicht die Dinge selbst ausdrücken, sondern dass man ihnen etwas beilegt. Wenn man mit Cassirer den mythischen Raum als eine Formung versteht, ist nie nur die ›echte‹ mythische Raumauffassung allein Gegenstand der Analyse, sondern es ist immer die reflektierende Außenperspektive mit im Blickfeld. Denn mit »den anderen symbolischen Formen teilt das mythische Bewußtsein die Symbolisierung von Sinn durch Zeichen«144 und diese »Welt der Formen«145 ist stets eine aufgeklärte, moderne. So differenziert die Cassirerforscherin Birgit Recki ausdrücklich vom »echten« Mythos den aufklärerischen als die »reflektierte Variation« des Mythos.146 Diese Variante des Mythos folgt dem kritischreflektierten Verständnis von Wirklichkeit, das Cassirer, wie folgt, beschreibt: 143 Ebd.; vgl. Cassirer 1925: 20. – »Am Anfang steht die Spaltung, die Trennung. Sie ist die erste Spur der Vernunft im Seienden. Durch Spaltung kommt Ordnung ins Chaos« (Holzhey 1988: 201). 144 Rudolph 1995: 146. 145 Cassirer 1936-37/1999: 150. – Cassirer schreibt an dieser Stelle nicht ausdrücklich von Aufklärung, bedient sich aber bei der Darstellung der mythischen »Ausdruckswahrnehmung« als Teil der »spezifisch-menschlichen« »Welt der Formen« der Lichtmetapher, die üblicherweise für Aufklärung steht: Die Ausdruckwahrnehmung »ist nicht länger ein blosses Irrlicht, das uns immer wieder vom sicheren Pfad der Erkenntnis zu entfernen und uns in gefährliche und abenteuerliche Wege zu verlocken droht. Sie bedeutet jetzt vielmehr eine eigentümliche und selbständige Lichtquelle, die wir nicht entbehren können, wenn wir uns selbst in unserem Tun verstehn, wenn wir uns die Strukturen der ›Kulturwelt‹ durchsichtig machen wollen. Hier beweist sie, daß auch sie eine echte ›Objektivität‹ besitzt, weil sie zu den Grundmitteln der Objektivierung selbst gehört.« (Ebd.: 150 f.) 146 Recki 2004: 108.

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»Das echte ›Unmittelbare‹ dürfen wir nicht in den Dingen draußen, sondern wir müssen es in uns selbst suchen. Nicht die Natur, als der Inbegriff der Gegenstände in Raum und Zeit, sondern unser eigenes Ich, nicht die Welt der Objekte, sondern die Welt unseres Daseins, unserer Erlebniswirklichkeit, scheint uns allein an die Schwelle dieses Unmittelbaren führen zu können.«147

Archaisch kann die Formung, wie oben erläutert, nicht kritisch reflektiert werden. Das moderne Subjekt dagegen kann die mythische Formung rational reflektieren. Es muss dies aber nicht in jedem Moment, denn es kann auch innerhalb dieser Weltauffassung empfinden und denken, also eine ›voraufgeklärte‹ Perspektive einnehmen und diese nicht reflektieren. Im Grunde ist ihm als modernem Subjekt aber bewusst, dass es eine Deutung ist, die es macht. Eine moderne und keine anachronistische ist die mythische Raumformung auch dann, wenn sich in ihr die moderne Sehnsucht nach der Wiederentstehung einer mythischen unreflektierten Welt vollzieht, wie ich noch am romantischen Denken zeigen werde. Mythische Auffassungen des modernen Subjekts sind persönlich, aber stehen in einem kulturellen Kontext Mit dem genannten Aspekt der Freiheit korrespondiert eine wesentliche Eigenschaft des modernen mythischen Denkens: Während die von Cassirer angenommenen archaischen mythischen Auffassungen »eine Objektivierung der sozialen Erfahrung des Menschen, nicht seiner individuellen Erfahrung« sind, sind sie »in späterer Zeit« »persönliche Konfessionen«.148 Das moderne Subjekt schafft sich in »vollständig freiem Geist«149 seine mythischen Auffassungen letztlich selbst in der Regel aus kulturell überlieferten Mustern wie Segen und Fluch, Gefahr und Rettung, Heiliges und Profanes etc. – auch, wenn ihm die Macht der Mythen als gegeben erscheint –, denn diese Zuschreibung ist gleichfalls eine subjektive Setzung, derer es mit der »neue[n], positive[n] Macht der ›Selbsterkenntnis‹«150 gewahr werden kann.

147 Cassirer 1929: 27, Hervorh. i. O; vgl. Cassirer 1949: 80. – In ähnlichem Sinne stellt auch Habermas heraus, dass in modernen, rationalisierten Lebenswelten der Umgang mit Traditionen reflexiv geworden sei, die Traditionen hätten »ihre Naturwüchsigkeit eingebüßt« (Habermas 1983: 10). 148 Cassirer 1949: 66, Hervorh. i. O. 149 Ebd. 150 Ebd.: 80.

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Moderne Mythen sind demnach nicht lediglich »im Kontext des totalitären Staates wirksam«151, wie Heinz Paetzold in seiner Cassirerinterpretation feststellt, sondern können auch vollkommen undogmatische und unpolitische, persönliche Bedeutungszuschreibungen sein, die freiwillig gewählt werden, auch wenn das Deuten und Denken in dieser ›Konfession‹ dann unfrei ist. Sobald man also eine mythische Formung angenommen hat, ist man gefangen in der jeweiligen Situation, dann ›überkommt es einen einfach‹. Insofern es sich um eine Setzung handelt, kann man das moderne mythische Auffassen als Inszenierung bezeichnen, jedoch – im Gegensatz zur politischen, manipulativen – als subjektive Inszenierung, die keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat, also privat ist. Diese modernen mythischen Sinnordnungen sind persönlich, insofern sie das Subjekt ohne Zwang (wie eine Brille, einen »Brechungsindex«152) wählt und mit ihnen Raum in einem scheinbar unmittelbaren Erlebnis formt. Sie sind aber nie gänzlich einzigartig und selbst erdacht: vielmehr stehen sie in einem kulturellen Kontext. Wir teilen die ›Konfession‹ mit unserem kulturellen Umfeld.153 Insofern kann die moderne mythische Raumformung auch als Typ einer symbolischen Form dargestellt werden. Thomas Knoppe bezeichnet in seiner Auslegung Cassirers die »Hoffnung auf eine nicht schon logisch-präformierte« Erfahrung generell als »eitel«.154 Auch für das mythische Bewusstsein gelte, dass überhaupt erst Begriffe Unterscheidungen und Vergleiche ermöglichten und damit Erfahrung stattfinden könne. Und Begriffe bilden sich nicht erst beim unmittelbaren mythischen Anschauen, sondern sind in gewisser Weise vorgeformt – individuell und kulturell.155 Diesem Argument gegenüber kann jedoch meiner Interpretation nach Cassirers Grundsatz angeführt werden, den ich im einführenden Kapitel erläutert habe: Kultur wird vom Subjekt rezipiert und produziert. In der Formung verschränken sich kulturelles Tradieren und Abwandeln (neues Interpretieren). Deutlich wird diese Ambivalenz des kulturellen Kontextes zwischen Determinieren und Neubestimmen nicht zuletzt bei mythischen Bildern und Erzählungen: Mit ihnen werden Bedeutungen überliefert und vom Verfasser oder Erzähler zugleich in gewisser Weise interpretiert und weiterentwickelt. Der Interpret kann dabei Auf151 Paetzold 1994: 121. 152 Cassirer 1929: 3; vgl. Kapitel 2. – Zum möglichen Versagen des kritischen Bewusstseins angesichts der Vielfalt an ›Brillen‹ (symbolischen Formungen) und zur Gefahr des ideologischen Remythisierens gehe ich im Kontext der Funktionen mythischer Raumauffassungen in der Moderne ein. 153 Vgl. Kapitel 2.2. 154 Knoppe 1992: 117. 155 Ebd.

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fassungen bewusst färben und manipulativ inszenieren, wovon der Betrachter, respektive Zuhörer sich womöglich entgegen seiner subjektiven Auffassung leiten lässt. Langfristige gesellschaftliche Rezeption wird er aber nur erlangen, wenn diese Auffassungen von anderen subjektiv geteilt werden. Pluralität mythischer Bedeutungen und mythische Formung als eine von mehreren Die moderne Pluralität kultureller Weltdeutungen, die sich für Cassirers Ansatz als grundlegend herausgestellt hat, erhält bei der (modernen) mythischen Raumauffassung in zwei Punkten Relevanz: (a) Es sind viele unterschiedliche mythische Auffassungsqualitäten einer Räumlichkeit möglich, die der Wahrnehmende im Prinzip – wenn auch praktisch nicht immer, worauf ich noch eingehen werde – uneingeschränkt wählen kann. So drückt das Schaudern im nächtlichen Wald beispielsweise für den Einen Angst vor unliebsamen Begegnungen mit Fremden aus, für einen Anderen Furcht vor einer übermächtigen Natur, für Dritte die Erinnerung an Erzählungen über archaische Waldgeister. (b) Im Gegensatz zu »den kosmologischen Zivilisationen«, in denen, wie angenommen wird, »der Mythos die alleinige sprachliche Symbolform existenzieller und gesellschaftlicher Selbstauslegung und Sinndeutung« war,156 wird modern dem mythischen Bewusstsein die unhinterfragte und unhinterfragbare Alleinstellung genommen und eine Pluralität an Auffassungsformen möglich. Das Subjekt ist nicht nur frei, unterschiedliche formende Perspektiven zu erkennen, sondern ist eigentlich – wenn auch mit bestimmten Hinderungen – ebenso frei, sie auswählen zu können.157 So kann es zum Beispiel den Sonnenuntergang my-

156 Vondung 1992: 208. 157 Das Prinzip der freien Selbstbestimmung ist meines Erachtens nach der Aspekt, den die totalitär inszenierte Variante der mythischen Raumauffassung, die ich gleich noch näher erläutern werden, entscheidend missachtet. Es wird eine Ideologie entworfen (vgl. Paetzold 1994: 120), in deren Rahmen für den einzelnen keine Freiheit besteht, verschiedene Deutungsperspektiven einzunehmen. Es gilt vielmehr die eine immer gleich inszenierte Deutung. Die kritische Selbstbestimmung wird zu betäuben versucht. Um die wesentliche Unterscheidung dieser Variante zur modernen kritisch-reflektierten mythischen Formung zu betonen, hätte Cassirer auch die ›ideologische‹ Auffassung als eine eigene Form herausstellen können, so wie es Dietrich Harth in einer Aufzählung knapp andeutet: »In dem nachaufklärerischen Zeitalter tritt […] die mythische Anschauung arbeitsteilig neben die theoretische, die ideologische, die ästhetische Anschauung« (Harth 1992: 25).

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thisch als Sinn gebende Stimmung oder ästhetisch als schönes Gemälde oder theoretisch-physikalisch als Beugung von Licht durch die Atmosphäre auffassen. Cassirer will, so interpretiert Enno Rudolph, »bereits den Mythos« »als eine mögliche Manifestationsweise von Freiheit verstanden wissen«, »Freiheit mit spezifisch eingeschränktem Spielraum freilich«.158 Die Einschränkung besteht insbesondere darin, dass sich die Auffassung im Moment des mythischen Bewusstseins nicht vom unmittelbaren Ausdruck distanzieren kann. Das moderne Subjekt nimmt zwar »[a]us Freiheit« mythisches Denken ein, erfährt aber dabei, wie Karl Jaspers es sagt, »Wahrheit im Ergriffensein durch Mythen« nicht in der freien intellektuellen Interpretation.159 Solange die – in der kritischen Außenperspektive geleistete – Reflexion des Sinngehalts im bildlichen Ausdruck wieder im Empfinden eines unmittelbaren Ausdrucks zurückgenommen wird (solange beispielsweise Flüsse und Bäume in bestimmten Kontexten doch dämonische Mächte sind und nicht nur mittelbar diese Bedeutung symbolisieren), handelt es sich um eine distanzlose mythische Form. Löst sich allerdings innerhalb der Raumauffassung der Sinn vom Ausdruck des substanziell gedachten Bildes, hat sie eine ästhetische oder theoretische Form, bei der die Selbstverständlichkeit des Ausdrucks verloren geht und durch vermittelnde Darstellung oder explizite Bedeutungszuschreibung (Definition) ersetzt wird.160 Mit den bisherigen Erklärungen ist zu verstehen, dass im heutigen (modernen) Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ mythische Raumauffassungen zu finden sein können. Um die Bedeutsamkeit dieser möglichen Auffassungen im Diskurs einzuschätzen, soll im Folgenden mit Cassirers Theorie und weiterführenden Interpretationen analysiert werden, in welcher Funktion womöglich mythische Raumauffassungen in der Moderne bestehen. Damit sollen zudem die Eigenschaften der mythischen Form und ihre Differenzen zu den anderen Raumformungen weiter verdeutlich werden, sodass sie klar abgegrenzt als Raumtyp in der Analyse des Wildnisdiskurses dienen kann.

158 Rudolph 1995: 151. 159 Jaspers 1964/1996: 355, Hervorh. G. K. 160 Dominic Kaegi schreibt in seiner Cassirerinterpretation von »unterschiedlichen Distanzierungsleistungen«, in denen sich vor allem Kunst und Wissenschaft »von der Magie des Ausdrucks« lösen. Das zeigt »ein Bewußtsein der Differenz zwischen Zeichen und Sinn, das das mythische Denken nirgends erreicht«. (Kaegi 1994: 184)

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Funktionen mythischer Raumauffassungen in der Moderne Die mythische Form der Raumauffassung erlangt, wie Cassirer beobachtet, dann Bedeutung, wenn »uns die Vernunft im Stiche« lässt, dann »bleibt immer die ultima ratio, die Macht des Wunderbaren und Mysteriösen«.161 Dies ist möglich, da »Ungewissheit«, wie Analysen heutiger Diskurse zeigen, »eine unhintergehbare Eigenschaft« auch der Moderne ist.162 Die Funktion der ultima ratio erfüllen je nach kulturellem Kontext unterschiedliche typische Gegenstände und Orte. Was sind konkrete Beispiele, in denen das Mythische in der Moderne in der genannten Weise greift? Cassirer selbst nennt dazu keine Beispiele. Daher sei seine Theorie mit den folgenden Beispielen veranschaulicht und seien dabei systematisch zwei verschiedene Situationen unterschieden: (a) Die mythische Raumauffassung kann in der Moderne bei einem fundamentalen Ausnahmezustand zum Tragen kommen, mit dem ein bestimmter Ort verknüpft wird, etwa einem verzweifelten (Krieg, politische Unterdrückung, Hunger, Naturkatastrophen, Krankheit, Tod etc.) oder einem freudvollen Erlebnis (Befriedung, Heilung, Geburt, Leben etc.) oder einem ambivalenten, zugleich einschüchternden und erhebenden Erlebnis (Ehrfurcht vor Größe und Würde, Respekt angesichts von schützender Macht, Abenteuerlust auf ungekannte Gegenden etc.). (b) Die mythische Raumauffassung kann in der Moderne jedoch auch auf einem oberflächlichen Aberglaube in der Alltagspraxis beruhen, wie etwa das Daumendrücken als Glücksbringer beim Betreten eines Raumes oder das Meiden eines bestimmten Ortes, an dem einem ein Unfall widerfahren ist, am Jahrestag des Unglücks etc. Cassirer versteht solche modernen mythischen Deutungen nicht allein positiv als kulturell-gesellschaftlich notwendige Grundlage und Ergänzung zur aufklärerisch-rationalen Weltauffassung,163 sondern in bestimmten Fällen auch negativ

161 Cassirer 1949: 363. – Gemeint ist hier mit ›Vernunft‹ die Rationalität als eine spezielle symbolische Form (Cassirer 1944/2007: 51), nicht die Vernunft der kritischen Reflexion. 162 Dies legt beispielsweise der Philosoph Oliver Flügel-Martinsen in seiner Arbeit über das Leben in der Moderne dar (Flügel-Martinsen 2011: 9 ff.). 163 Cassirer beschreibt die mythische Formung ausführlich im Bild des »gemeinsamen Mutterbodens«, also als Ausgangspunkt für andere Formungen (Cassirer 1924/1925: 37). Die rationalen oder ästhetischen Formen der Weltbetrachtung und Welterklärung sehen sich zunächst nicht »der unmittelbaren Erscheinungswirklichkeit selbst als vielmehr der mythischen Auffassung und Umprägung dieser Wirklichkeit gegenübergestellt« (Cassirer 1925: 3). Der Cassirerforscher John Michael Krois fasst dies

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als Versagen der Aufklärung. Allerdings geht er nicht, wie später Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer ›Dialektik der Aufklärung‹, davon aus, dass das Denken der Aufklärung in Gestalt des Positivismus zu einem Rückfall in das mythische Denken führe.164 Die Krise der aufklärerischen Vernunft entsteht für Cassirer nicht in ihrer »konsequente[n] Durchführung«, sondern vielmehr durch »ein Nachlassen von Aufklärung«.165 Diese Defizite zeigen sich für Cassirer insbesondere am politischen, totalitären Mythisieren. Mythische Deutung dient, so zeigt sich, (1) positiv als Kompensation für Sinngebungen, die mit der Aufklärung verloren gegangen sind. Dies kann (2) negativ in ein Remythisieren umschlagen, das nach Cassirer von einer nachlassenden Aufklärung verursacht wird. Diese beiden Zusammenhänge erläutere ich im Folgenden näher: (1) Individuelle Kompensation verloren gegangener Sinngebungen Cassirer geht über die reine Beschreibung des kulturellen Befundes, dass es eine moderne mythische Weltauffassung gibt, hinaus und weist bewertend darauf hin, dass das »unmittelbare Gefühl« und »die ›Intuition‹ des Lebens«, die sich als Ausdrucksfunktion analysieren lassen, notwendige Ergänzungen zur »Entseelung und Entgötterung des Seins« des wissenschaftlichen (ob nun natur- oder geisteswissenschaftlichen) Denkens seien.166 Das Mythische fungiert für Cassirer, so zusammen: »Die kritischen Kräfte brauchen die mythischen, ohne die es keine menschliche Sprache und keine Kunst gäbe« (Krois 1988: 32). 164 Aufklärung, so führt Axel Horstmann die ›Dialektik der Aufklärung‹ zitierend aus, »will alles ›Unbekannte‹ eliminieren, glaubt mithin nur als ›Positivismus‹ Ruhe finden zu können und kehrt just damit zur formalen Struktur des Mythos zurück, weil das (positivistische) ›Prinzip der Immanenz, der Erklärung jeden Geschehens als Wiederholung, das die Aufklärung wider die mythische Einbildungskraft vertritt‹, eben ›das des Mythos selber‹ ist« (Horstmann 1984/2007: 312, mit Zitaten von Horkheimer & Adorno 1969/2006: 18, 22). Während Horkheimer und Adorno »Mythen ausschließlich als Dokumente unbefreiter Menschlichkeit« lesen und »mythische Heroen als Herrschertypen und Despoten über Mit- und Umwelt im präneuzeitlichen Sinne« entlarven, will Cassirer »den Mythos als Kulturform und damit grundsätzlich als eine mögliche Manifestationsweise von Freiheit verstanden wissen, Freiheit mit spezifisch eingeschränktem Spielraum freilich« (Rudolph 1995: 151). 165 Krois 1979: 215. 166 Cassirer 1936-37/1999: 142. – Mit dieser Zielrichtung wirft auch Habermas die Fragen auf, ob »wir, die wir modernen Gesellschaften angehören, aus dem Verständnis alternativer, insbesondere vormoderner Lebensformen nicht etwas lernen« könnten und wir uns nicht »der Verluste erinnern [sollten], die der eigene Weg in die Moder-

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wie Paetzold es interpretiert, »als Rettungsanker für die entschwundene soziale Synthesis«167. Das mythische Bewusstsein hat danach also die Funktion, Defizite der szientifischen Welterklärung und der kritischen Analyse zu kompensieren. Es ist in der Moderne entweder wegen einer Verlusterfahrung, die aus Abstraktion (Distanzierung) entstanden ist, wieder entdeckt worden.168 Oder man folgt über Cassirer hinaus der Erklärung Karl Jaspers’, der davon ausgeht, dass die mythische Auffassung nie verloren gegangen sein kann. Die »Reinheit der echten Wissenschaft entzaubert mit ihren Erkenntnissen die Welt nur in dem ihr erreichbaren Umkreis, nicht die Welt und den Menschen in ihrer ganzen Wirklichkeit«, so Jaspers. Es wäre »ein Leben in der Verlorenheit des Nichtseins«, wenn es nicht die »Welt von Bildern und Symbolen« gäbe. Deshalb höre unser »Umgang mit dem Mythos« nicht auf.169 Cassirer formuliert diesen Punkt folgendermaßen: Die mythische Auffassung ist in der Kultur als eigene symbolische Form vorhanden, nicht unterschwellig in anderen Formen, wie der ästhetischen Form oder der theoretisch-naturwissenschaftlichen Form. 170 Cassirer hält mythische Anschauungen nicht für »eine Art Gebrechen des Geistes«, sondern für eine »Kraft des Gestaltens und Bildens«, die er als »posine gefordert hat« (Habermas 1987: 101). Cassirer weist allerdings an einer Stelle mit Albert Schweitzer auf die ethische Verantwortung der Philosophen hin, für die Vernunftideale zu kämpfen (Cassirer 1935/2002: 152 ff.). 167 Paetzold 1995: 170. 168 Rudolph 1995: 148 f., 150 f. 169 Alle Zitate in den letzten drei Sätzen sind aus Jaspers (1964/1996: 354). – Dieser Argumentation folgt auch Klaus Vondungs Aussage zur mythischen Erzählung: »[D]er Mythos als ein Erzählmodus kompakter Sinndeutung blieb neben den differenzierteren Symbolformen […] erhalten« (Vondung 1992: 208). Jaspers bezieht sich offenbar auf Max Webers viel zitiertem Aufsatz ›Wissenschaft als Beruf‹, in dem er beschreibt, dass »die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung« eine »Entzauberung der Welt« bewirke (Weber 1919/1988: 594). 170 Ich interpretiere damit Cassirers Formenphilosophie nicht wie Heinz Paetzold, der Mythisches in der Moderne (kombiniert mit Technik) deshalb für möglich ansieht, weil alle ausdifferenzierten symbolischen Formen eine unterschwellige Verbindung zum Mythischen haben. »Die symbolischen Formen sind zu verstehen als Verwandlungen und Transformationen des Mythischen« (Paetzold 1995: 167 f.). – Derselbe Autor stimmt an anderer Stelle mit meiner Interpretation überein: Man kann nicht »die eine symbolische Form im Lichte der anderen sehen oder verstehen«, weder von der Sprache noch »von der Wissenschaft oder der Technik her« (Paetzold 1994: 6). »Man verfehlt die Eigenart der symbolischen Formen. Es geht um das geregelte Miteinander und Gegeneinander der symbolischen Formen« (ebd.: 6 f.).

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tiv« bezeichnet.171 Wenn etwa die szientifisch-rationale Erklärung angesichts existenzieller Ereignisse wie Geburt oder Tod versagt, also in den Momenten, wo, wie Cassirer schreibt, »ein Geschäft gefährlich und sein Ausgang ungewiß ist«172, kann es zu mythischen Erklärungen kommen. Das ist ein Teil unserer europäischen Kultur. Diese Beschreibung belegt die zu Anfang dieses Kapitels aufgestellte These von mythischen Raumauffassungen in der Moderne: Als individuelle Sinngebung, die möglicherweise freiwillig intersubjektiv (kulturell) geteilt wird,173 können Cassirers Theorie zufolge in einer modernen Kultur mythische Auffassungen bestehen. Bohr weist bei den Beispielen »Schaudern im nächtlichen Wald« oder »Schweigen in der Kirche« (man könnte auch das Schweigen in einem Museum anführen) darauf hin, dass moderne mythische Raumauffassungen teilweise ohne ihren Kontext der umfassenden mythischen Welterklärung funktionieren, das heißt: Wir erleben das Schaudern und das Schweigen, »ohne dass wir in lebendiger Form an einem Mythos teilhaben müssten«.174 Wir deuten jeweils den Raum mythisch, nicht in einer theoretischen Analyse, bei der abstrakt eine unverständliche Vergangenheit vergegenwärtigt wird, sondern offensichtlich, weil uns die Bedeutungen eine gegenwärtig tatsächlich sinnvolle und pragmatische Ordnung von Raum geben. Neben diesen Einzelbezügen sind als weitere Kompensation der aufgeklärten Rationalität in der mitteleuropäischen Kultur auch okkulte Lehren (›Esoterik‹ im alltagsweltlichen Sinn) weit verbreitet, die umfassende mythische Weltbilder zum Inhalt haben: Astrologie, Engelglauben, Pendeln etc. Man könnte diese mythischen Lehren als Anachronismen in der Moderne bezeichnen, als nicht zur Moderne gehörende Erscheinungen. Ich interpretiere sie jedoch als einen typischen Teil der Moderne, weil sie sich in Korrespondenz zur Rationalität der Moderne entwickeln, also ohne sie nicht denkbar wären. Mythische Auffassungen 171 Cassirer 1924/1925: 4 f. 172 Cassirer 1949: 363. 173 Diese intersubjektiven Sinngebungen können mit Cassirer als ›Teilhabe‹ eines Subjekts an einer Kultur beschreiben werden (vgl. Kapitel 2.1). 174 Bohr 2008: 47; vgl. Pfaller 2009: 80. – Die weiter von Jörn Bohr genannten Beispiele »Ducken vor dem Tiefflieger« und »Zurückschrecken vor der Bahnsteigkante« scheinen dagegen von etwas anderer Qualität zu sein, weil sie auf realen Gefahren beruhen und damit vielleicht nur Instinkte sind, die auch Tiere haben. (Es zeigt sich ein ›natürlicher Ausdruck‹ im Sinne Cassirers.) Symbolische mythische Formungen sind die Auffassungen nur dann, wenn über solche Affekte hinaus, rational nicht erklärbare Sinnzuschreibungen wesentlich sind, wie etwa die Scheu, Tote zu berühren (aus Pietätsgründen).

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haben, wie Cassirer schreibt, eine bestimmte »eigentümliche Funktion« in der Moderne, die man nur verstehen kann, wenn man sie »in ihrer Eigenart« betrachtet und »sie damit zugleich in ihrer Anwendung begrenzt«.175 (2) Ideologisches Remythisieren bei schwindender Aufklärung Neben der positiven Funktion der mythischen Weltdeutung in der Moderne lässt sich mit Cassirers Darstellungen auch eine negative erkennen: Für das Nachlassen der Aufklärung und »für massive Remythisierungsprozesse« sei der »animal rationale« der Moderne (rational-aufgeklärt im umfassenden Sinn) latent anfällig.176 »In allen kritischen Augenblicken des sozialen Lebens des Menschen sind die rationalen Kräfte, die dem Wiedererwachen der alten mythischen Vorstellungen Widerstand leisten, ihrer selbst nicht mehr sicher. In diesen Momenten ist die Zeit für den Mythus wieder gekommen. Denn der Mythus ist nicht wirklich besiegt und unterdrückt worden. Er ist immer da, versteckt im Dunkel und auf seine Stunde und Gelegenheit wartend.«177

Damit meint Cassirer offenbar Prozesse, bei denen die mythische Auffassungsweise – über ihre gerade beschriebene positive und unersetzliche Funktion in der Moderne hinaus – wieder dazu benutzt wird, ausschließlich alle Phänomene zu begreifen, also insbesondere auch die, die differenzierter logisch-wissenschaftlich erklärt werden können. Die latente Anfälligkeit der Moderne für Remythisierungen kann – so möchte ich Cassirers Gedanken weiterführen – kurz gesagt auf Bequemlichkeit angesichts der Selbstverantwortung beruhen: Remythisierung fasziniert wohl nicht zuletzt, weil Mythen eindeutige Erklärungen in einem geschlossenen Weltbild versprechen, bei denen sich mühsame (Selbst-)Reflexion erübrigt.178 Ähnlich bemerkt auch Cassirer: 175 Cassirer 1936-37/1999: 142, Hervorh. i. O. – Auch wenn, so Cassirer an dieser Stelle weiter, ein »kritisches, ja ein skeptisches Verhalten gegenüber dieser Funktion« [...] »geboten und notwendig« ist, da sie anfällig ist, manipulativ missbraucht zu werden, ist das »unmittelbare Gefühl« und »die ›Intuition‹ des Lebens« – also der Ausdruck – Teil der modernen Erfahrungswelt. Mit »der Bestreitung oder Diskreditierung des Ausdrucksphaenomens als solchem, wäre eine der wesentlichen Quellen nicht nur für die Erkenntnis des Lebens, sondern auch für alle Erkenntnis der ›geistigen‹ Wirklichkeit, der Wirklichkeit der Kultur versiegt.« (Alle Zitate in dieser Fußnote sind aus ebd.) 176 Rudolph 1995: 152. 177 Cassirer 1949: 364. 178 Vgl. Habermas 1987: 296.

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»Offenkundig ist es viel bequemer, von anderen abzuhängen, als für sich selbst zu denken, zu urteilen und zu entscheiden.«179

Bequemlichkeit führt schon Kant als wesentliche Ursache für die Unmündigkeit in Zeiten der Aufklärung an: »Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gern zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.«180

Der Disposition, suggestive Remythisierungen anzunehmen, bedient man sich gezielt beispielsweise in der Werbung und im politischen Lobbyismus. Während dies dort als ein ›übliches Spiel‹ durchschaut werden kann,181 entwickelt sich Remythisierung, wie Cassirer an mehreren Stellen in seinem Werk warnend beschreibt, zur gesellschaftlichen Gefahr, wenn sie Basis für eine Ideologie wird, die zu politischem Totalitarismus führt. In diesem wird dann von Herrschern die prinzipielle Anfälligkeit der modernen Subjekte, für aufgeklärte Reflexion und Selbstverantwortung zu lethargisch zu sein, in einem gesellschaftlichen Ausnahmezustand systematisch dazu ausgenutzt, mit einem schicksalhaft inszenierten Mythos unangreifbare Macht zu erlangen. Mythische Formung wird mit »Technik«182 inszeniert zur Erlangung politischer Macht, die unangreifbar sein will, indem sie nicht als subjektive Formung erkannt wird. In der Inszenierung schwindet das kritisch-reflektierende Moment des Ausdruckserlebens, weil die Bedeutung als Eindruck, der nur naiv empfangen werden kann, ausgegeben wird. Die »Differenzerfahrungen zwischen sinnlich Gegebenem und Zeichen«183 wird unterlaufen. Wenn diese ideologische Inszenierung funktioniert, handeln die Menschen in vorgeschriebenen Riten »wie Marionetten in einem Puppenspiel – und sie wissen nicht einmal, daß die Fäden dieses Spiels und des ganzen individuellen und sozialen Lebens des Menschen von nun an von den politischen Füh179 Cassirer 1949: 376. 180 Kant 1784/1999: 20. 181 Zum ›Mythos Wald‹ beziehungsweise ›Mythos Natur‹ in der aktuellen Werbung vgl. Spanier (2009a); zur Idealisierung in der Tourismuswerbung vgl. Fleischmann (2004). 182 Cassirer nennt diese strategische Inszenierung »Technik«, weil er herausstellen will, dass die mythische Auffassung dabei planmäßig »von sehr geschickten und schlauen Handwerkern erzeugt«182 wird (Cassirer 1949: 367). 183 Rudolph 1995: 147; vgl. Paetzold 1994: 122.

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rern vollzogen werden.«184 Dies setzt allerdings voraus, dass die Menschen bereitwillig Empfänger der Ideologie sind, die sie nicht hinterfragen. Der Kulturwissenschaftler Dietrich Harth beobachtet eine gewisse Aktualität dieser Art des mythischen Denkens: In der »modernen, von Rationalität« beherrschten Welt bestehe die Gefahr, dass das Streben der »mythischen Anschauung« nach Einheit, so einseitig und auf »ideologisch verzerrte Weise« wiederentdeckt werde, dass »ein Moment des Totalitären zur Geltung kommt.«185 In diesem Kapitel 3.1.2 konnte ich bislang mit Cassirers Theorie sowie mit aktuellen lebensweltlichen Erfahrungen die These belegen, dass es eine moderne mythische Raumformung gibt und welche unterschiedlichen Funktionen sie erfüllt. Auf mythische Bedeutungen wird insbesondere bei im weitesten Sinne romantischen Naturauffassungen rekurriert. Für eine erkenntnisreiche Analyse des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ erscheint es daher lohnend, die mythischen Formungen speziell in romantischen Auffassungen nachfolgend genauer zu betrachten. Zur romantischen mythischen Raumformung als eine typische moderne Romantische Auffassungen gelten als wichtige Aspekte unseres heutigen mitteleuropäischen kulturellen Deutungsrepertoirs für Natur – insbesondere für Wälder und Wildnis.186 Ein zentrales Anliegen dieser romantischen Auffassungen ist der geistige Zugang zu einer freien, nicht zivilisatorisch verschütteten Natur, den man in mythischer oder ästhetischer Form zu finden hofft.187 Darum analysiere ich im Folgenden die mythischen Aspekte der romantischen Weltsicht mit der soeben erläuterten Cassirer’schen Theorie der modernen mythischen Raumformung.188 Dabei weiche ich allerdings von Cassirers eigener Darstellung des Mythos in der Romantik in wesentlichen Aspekten ab, da sie mir einseitig erscheint. Ich halte eine im weitesten Sinne romantische mythische Raumauffassung für ein typisches Beispiel einer modernen kritisch-reflektierten mythischen For184 Cassirer 1949: 373. 185 Harth 1992: 22. 186 Vgl. Eissing 2002: 15; Flüeler 2004: 134; Bätzing 2005: 12, 66; Planken & Schurig 2000: 200; Jung-Kaiser 2008: 9; Elfferding 2010: 26; Kropp 2010: 46; Gerndt 2011: 18, 20; Brunner 2012: 16; Kupper 2012: 12; Fesq-Martin 2013: 24. 187 Vgl. Pesch 1966: 321; Siegmund 2011: 248 ff.; Trepl 2012: 136. – In der Moderne besteht, so Paetzold, eine »romantische[...] und lebensphilosophische[...] Sehnsucht nach einer Unmittelbarkeit des Lebens« (Paetzold 1995: 195 f.). 188 Zu ästhetischen Aspekten der romantischen Weltauffassung siehe Kapitel 3.2.2.

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mung. Die allen romantischen Raumauffassungen gemeinsamen Merkmale – bezogen auf meine Frage nach dem Mythischen in der Moderne – fasse ich zusammen zu einem spezifischen Typ.189 Was die Möglichkeit einer Wiederkehr in unterschiedlichen Zeiten angeht, folgt mein Begriff des Romantischen der grundlegenden Charakterisierung von Ludwig Pesch, der das Romantische als einen »Archetyp«, ein bis in die Moderne immer wiederkehrendes Phänomen typisiert, das mit den Prinzipien des »Irrationale[n], Esoterische[n] und KünstlichWillkürliche[n]« »gegen die klassische Ordnung« rebelliert.190 Mit ›Romantik‹ ist im Folgenden also ein bestimmter nachaufklärerischer Weltauffassungstyp gemeint, der zu bestimmten Zeiten und in bestimmten kulturellen Kontexten immer wieder aufgetreten ist und auftreten wird.191 In ihrem historischem Auftreten als eine bestimmte Geistesströmung (oder Epoche) in der mitteleuropäischen Kultur um 1800, als deren wichtigste Vertreter Cassirer Schelling, Novalis und Schlegel nennt,192 ist die Romantik die erste Renaissance des Mythischen:193 189 Bei der inhaltlichen Charakterisierung der romantischen Raumformung im Kontext von Mythos, Natur und Landschaft folge ich vor allem Koschorke (1990), Pikulik (2000), Kremer (2007) und Siegmund (2011). 190 Pesch 1966: 302 f. – Das erinnert an Jean Pauls Verständnis von »Romantik«: Sie kann als »ästhetische Qualität« »zu allen Zeiten und in den unterschiedlichsten Kulturen, von der Antike bis zur Gegenwart, vorkommen« (Pikulik 2000: 78 f.). Davon abweichend spreche ich nicht von romantischen Ideen in der Antike, sondern grenze den modernen Sinngehalt des Romantischen von der Voraufklärung ab. 191 Vgl. Kremer 2007: 40. – Beispielsweise hat die Lebensphilosophie (Ende des 19. Jahrhunderts) und Lebensreformbewegung (Anfang des 20. Jahrhunderts) in ihrem Bemühen um »das ›Echte‹: um Dynamik, Kreativität, Unmittelbarkeit, Jugend« »gegen eine intellektualistische, lebensfeindlich gewordene Zivilisation« (Schnädelbach 1983: 172) romantische Eigenschaften gesetzt (vgl. Trepl 2012: 184; Paetzold 1995: 195 f.). Den hier verwendeten Romantikbegriff kann man als Aufweitung von beispielsweise Vera Vicenzottis engerem Romantikbegriff verstehen, der einen Idealtyp nur »eines individuellen Phänomens, das zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Kultur historisch aufgetreten ist« (Vicenzotti 2011a: 211), darstellt. Nicht verwendet wird ›Romantik‹ in der vorliegenden Arbeit als ein Klassenbegriff, der durch Merkmale eindeutig definiert werden und prinzipiell überall vorkommen kann, sondern als Typ (Trepl 2012: 42 ff.). 192 Ohne nähere Bestimmung oder Nennung von Vertretern bliebe, wenn von ›der Romantik‹ gesprochen wird, im Grunde unklar, was gemeint ist, denn es bestanden zu den weitreichenden Ideen dieser Geistesströmung, die vor allem ästhetische, mythische, theologische und philosophische Aspekte umfasste, sehr unterschiedliche und

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»Die romantischen Philosophen und Dichter waren die ersten, die von dem magischen Becher des Mythus getrunken hatten.«194

Anhand dieser historischen Geistesströmung lassen sich in unserem Kontext wichtige Eigenschaften der romantisch-mythischen Weltauffassung, die auch zu anderen Zeiten auftritt, zeigen. Thematisiert und hochgeschätzt wurde in der Romantik vor allem der Zauber, das Geheimnisvolle, das Unbekannte, das Wunderbare und Wundersame.195 Die Romantik »nobilitierte das Mythische«, wie Paetzold schreibt, vor allem in der (bildenden und dichtenden) Kunst als »Zauber der Poesie«,196 hatte aber auch eine Vorstellung der universalen Poesie, die die Bereiche Religion, Philosophie und letztlich gesellschaftliche Praxis einschließen sollte.197 Märchen als ideale Gattung der romantischen mythischen Deutungen Der romantische Drang nach mythischen Deutungen zeigt sich vor allem am Beispiel von Märchen, insbesondere von Zaubermärchen: 198 Ludwig Tieck, Clemens Brentano, Achim von Arnim, die Brüder Grimm und andere sammelten – auf der Suche nach dem einfachen, unverfälschten Leben und nach Mythischem – Märchen, Sagen, Fabeln, Schwänke und Volkslieder im »volksläufigen Erzählgut«199. Sie schrieben die schriftlichen beziehungsweise mündlichen Vorlagen im Sinne einer literarischen, auf romantische Ideen zugespitzten Intensivierung um (was später vor allem E. T. A. Hoffmann weiter künstlerisch-fantastisch teilweise widersprüchliche Lesarten (zu unterschiedlichen Romantikbegriffen siehe beispielsweise Kremer 2007: 41 ff.; Bohrer 1989: 9 ff.; Trepl 2012: 119; vgl. Müller 2003: 315 f., 342). 193 Cassirer 1949: 239 f. 194 Ebd.: 10; vgl. Gottschalk 1973: 15; Pesch 1966: 303; Kremer 2007: 110. 195 Koschorke 1990: 109; Pikulik 2000: 211, 230; Kremer 2007: 40. 196 Paetzold 1997: 169; vgl. Pikulik 2000: 75, 159. 197 Meier 1979: 166 f.; vgl. Pikulik 2000: 78. 198 Meier 1979: 164; Pikulik 2000: 230 f.; Kremer 2007: 187; Heck 2007: 128. – Wesentliche Grundeigenschaft der Romantik an einem Märchen zu verdeutlichen ist beispielsweise auch die Vorgehensweise von Pesch (Pesch 1966: 321 f.). – HansJörg Uther grenzt in einer internationalen Typisierung die Zaubermärchen gegen Tiermärchen, Märchen von den dummen Menschenfressern, Schwänke, Lügenmärchen etc. im einschlägigen Verzeichnis der Märchentypen ab (Uther 2004). 199 Rölleke 2004: 67; Heck 2007: 129. – Näheres zu den Quellen der Grimms erläutert Rölleke (2004: 91).

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überhöht) und brachten sie zur schriftlichen Veröffentlichung in der bürgerlichen Schicht.200 Die Motive der Märchen stammen aus dem »Volksglauben« oder sind »rein phantastische Motive, die nie geglaubt worden sind«:201 In ihnen hausen gute und böse Mächte in der Natur – »Elfen, Feen, Nymphen; Haulemännchen oder Zwerge«202, »Geister und Dämonen, Hexen, Zauberer, Riesen, Wilde Männer, Drachen und Spukgestalten, oder einfach nur verzauberte Wesen und wilde Tiere«203 etc. Für die Zaubermärchen ist das »Übernatürliche und Wunderbare«204 zentral. Der Leser wird in ihnen entrückt in eine andere, magisch-mythische Welt, die in einer »äußeren Wirklichkeit« zwar nicht existiert, wohl aber, wie Röhricht feststellt, in einer »inneren seelischen Wirklichkeit«.205 Dies geschieht mit der Erzeugung von »Spannung und mitfühlende[r] Betroffenheit«206 oder euphorischer Ergriffenheit. Dabei können Zauber und Wunder so erzählt werden, »als ob sie sich von selber verstünden«, »die jenseitigen Gestalten haben nichts Gespenstisches an sich«.207 Die Erzählung packt den Leser und auf diese Weise erschließt sich ihm der Sinn, die »Lehre«, die aus ihr gezogen werden soll. Märchen lassen sich sowohl »gegen Erfahrungswissen und Tatsächlichkeit« als auch »gegen den religiösen Glauben« abgrenzen, weil sie »objektiv und subjektiv ›unwirklich‹« sind.208 Dass beispielsweise im Wald ein »Häuslein aus Brot gebaut«, »mit Kuchen gedeckt« und mit Fenstern »von hellem Zucker« steht,209 ist in jeder Hinsicht Fantasie und als solche gewusst. Das Dargestellte weicht allerdings »nicht so stark von der Realität« ab, »daß man es nicht noch gerne glau200 Rölleke 2004: 28 ff., 68. 201 Röhricht 1964: 2. 202 Heck 2007: 138. 203 Ebd. 204 Röhricht 1964: 2; vgl. Rölleke 2004: 43. 205 Röhricht 1964: 26. 206 Heck 2007: 140; vgl. Röhricht 1964: 27. 207 Lüthi 1996: 7. – Diese für Zaubermärchen typische Selbstverständlichkeit von Wundern erläutert Heinz Rölleke in seiner Einführung zu Grimms Märchen so: Die Prinzessin im Froschkönig »erschrickt oder wundert sich nicht, stutzt nicht einmal, fragt weder sich noch den Frosch nach einer Erklärung für ein doch immerhin ganz erstaunliches, bewußtseinsverwirrendes Phänomen; vielmehr beginnt sie ohne weiteres den Dialog mit dem redenden Tier, als handle es ich um das Selbstverständlichste der Welt« (Rölleke 2004: 44). 208 Das stellt Röhricht zum Thema »Märchen und Wirklichkeit« unter Bezug auf einschlägige Literatur als wesentliches Charakteristikum für Volksmärchen fest (Röhricht 1964: 1). 209 Grimm & Grimm 1857/1980: 104.

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ben möchte« – es zeigt vielleicht kein glaubwürdiges, aber »mindestens ein sinnvolles Wunder«.210 Das heißt, das Märchen ordnet Anschauungen nach bestimmten Bedeutungen – nicht nach aufklärerisch-rationalen.211 Dabei sind Qualitäten wie Segen oder Fluch, bedrohliche, verführerische oder beschützende, stärkende Mächte, Glück oder Verdammnis wesentlich, die den Leser unmittelbar ergreifen.212 Diese Art, Anschauungen zu ordnen (symbolisch zu formen), beschreibt Cassirer als mythische Formung.213 Die Romantiker suchten diese Gegenform zur aufklärerisch-rationalen Weltauffassung, indem sie bekannte »Volksmärchen« überarbeiteten oder neue »Kunstmärchen« entwickelten.214 Diese romantischen Märchen erzählen überliefertes Mythisches neu beziehungsweise erzählen neue Ideen einer imaginären Welt in mythischer Form:215 Romantisch, so erläutert der Literaturwissenschaft210 Röhricht 1964: 3. – Im beschriebenen Fall ist das Wunder insbesondere insofern sinnvoll, als dass Hänsel und Gretel hungern und deshalb von diesem »Häuslein aus Brot« angezogen werden. 211 Als strukturelle Merkmale der Märchenform nennt der Germanist Detlef Kremer: »Grundlegend ist hier eine Aufhebung der alltäglichen, rationalen Logik, die zu Raumverschränkungen, Zeitverschiebungen, Aufhebung von Figurenidentitäten, Metamorphosen, Mensch-Tier-Kreuzungen, belebter Dingwelt, Sprachfähigkeit der nichtmenschlichen Natur etc. führt« (Kremer 2007: 189). 212 Mit dieser nicht aufklärerisch-rationalen Märchenlogik kommen inhaltlich in Märchen die folgenden »menschlichen Verhaltensweisen und Unternehmungen zur Darstellung: Kampf, Stellen und Lösen von Aufgaben, Intrige und Hilfe, Schädigung und Heilung, Mord, Gefangensetzung, Vergewaltigung und Erlösung, Befreiung, Rettung, schließlich Werbung und Vermählung sowie Berührung mit einer den profanen Alltag überschreitenden Welt, mit zauberischen ›jenseitigen‹ Mächten« (Lüthi 1996: 26). 213 Ich meine hier ›mythische Formung‹ als eine bestimmte, relativ weit gefasste Art der Wahrnehmung im Sinne Cassirers, nicht die Gattung des ›Myhus‹ im speziellen, der in der Märchenforschung von der Gattung Märchen zu unterscheiden ist, wie Lüthi (1996: 11) erläutert (vgl. Rölleke 2004: 44 f.). 214 Röhricht 1964: 3; Kremer 2007: 189; Rölleke 2004: 67 f. 215 »Märchen, Sagen und Satire« sind »literarische Gattungen«, in die »der Mythos Eingang gefunden« hat (Paetzold 1994: 6). Die neuen Kunstmärchen behandeln oft nicht die Inhalte historischer Mythen, sondern haben eine mythische Form: »Romantik ist ein geistiges Abenteuer und metaphysisches Experiment auf gänzlich neuen, unkonventionellen Wegen, wenn auch unter Rückgriff auf traditionelle Formen wie den Mythos« (Pikulik 2000: 307; vgl. Vicenzotti 2011a: 219). – Ein anderer Aspekt ist für die historische Epoche der Romantik zu ergänzen, charakterisiert

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ler Lothar Pikulik, sind Märchen wie Träume mit »tieferer Bedeutung«, denn sie vermitteln »etwas vom wahren, d. h. ursprünglichen Sinn der Welt«.216 Es wird versucht, die rational-szientifisch erlangte Differenz zwischen »Bild und Sache, Zeichen und Bedeutung« wieder zu schließen.217 Dies entspricht der Struktur von Cassirers mythischen Formung. Letztlich wird eine neue Mythologie erstrebt, in der Sinn konkret sinnlich in Bildern wahrnehmbar ist, in der, wie Friedrich Schlegel schreibt, »Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft« aufgehoben sind und wir »wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur« versetzt sind.218 aber in unserem Zusammenhang nicht den allgemeineren Typ der romantischen mythischen Raumauffassung: Es bestand historisch auch die Idee, in märchenhaften Erzählungen inhaltliche Bezüge auf historische Mythologien zu sehen – beispielsweise gingen die Brüder Grimm den Mythologien aus germanischer Zeit nach. Dies fand vor allem mit der aufkommenden Strömung des Nationalbewusstseins Beachtung (vgl. Ottmann 2002: 364; Drascek 2011: 10, 13). 216 Pikulik 2000: 231. – In Beschreibungen von Gegenden stellt der romantische Autor eine »untergründige Korrespondenz zwischen Natur und Mensch« her (ebd.: 263). Er versetzt, so stellt Pikulik mit einem Zitat aus einem Brief von Tieck an A. W. Schlegel (Juni 1801) dar, seine Leser nicht bloß »in eine ästhetische Illusion«, sondern sucht sie »›gläubig‹ zu stimmen; der einstige, bloß emotionale Schauer wird dabei zu einem metaphysischen ›Grauen, welches uns unmittelbar mit dem Universum auf dunkle Weise verknüpfen soll‹« (ebd.). Hans-Joachim Mähl sieht bei Novalis alles ins »Reich der reinen Poesie und ihrer märchenhaften Vision« übertragen, in dem die »Verbindung alles Getrennten«, die »Versöhnung der äußeren Welt mit der inneren«, die »Durchdringung des Irdischen mit dem Göttlichen« möglich ist (Mähl 1965: 397). 217 Rudolph 1995: 147. – Andrea Siegmund charakterisiert die romantische Konzeption mit einer »triadischen Struktur« »im Sinne von: ursprünglicher Einheit – Aufspaltung in Gegensätze – Rückkehr zur Einheit auf höherer Stufe« (Siegmund 2011: 219). 218 Schlegel 1800/2005: 195; vgl. Pikulik 2000: 160; Siegmund 2011: 208, 251, 253. – Helmut G. Meier nennt insbesondere die romantischen Kunstmärchen als »Orte neuer Mythen«:»Im Märchen vor allem erlangen die poetisierten Mythen ihre Ausgestaltung im poetischen Entwurf des neuen goldenen Zeitalters« (Meier 1979: 164). – Zu den philosophischen und religiösen Dimensionen der romantischen Idee einer neuen Mythologie in einer neuen Kunst, die für unseren Nachweis, dass es mythische Räume in der Moderne gibt, nicht im Detail ausgeführt werden muss, siehe beispielsweise Meier (1979: 154 ff.), Koschorke (1990: 180 ff.), Siegmund (2011: 248 ff.), Vicenzotti (2011a: 218) und Trepl (2012: 125 ff.).

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Räumlich drückt sich dieses Streben, wie Albrecht Koschorke stringent darstellt, in einer beständigen Wanderschaft aus, im Ziehen zum fernen Horizont, hinter dem man die Gegenwelt erhofft.219 Die »Helden der Romantik« treibt »ein unerklärter Mangel in die Ferne«, und sie dürfen nicht stehen bleiben, »weil an jedem festen Ort die Wirklichkeit sie einholt, der sie zu entkommen suchen«.220 Sie reisen »in das Unbekannte«, das jenseits der aufgeklärten Weltbeherrschung liegt und dort immer liegen wird, weil die Welt grundsätzlich unabschließbar erscheint. Ziel ist nicht, das Unbekannte »in einem beständigen Reduktionismus auf das Bekannte und rational Verträgliche« zurückzuführen,221 und so kennt auch die Wanderschaft die Ankunft, »den Moment ihrer logischen Erfüllung« nicht.222 Der Horizont, die Ferne, der man sich zu nähern scheint, wird immer unerreichbar sein, er erneuert sich immerfort und geht ins Fantastische, Märchenhafte über.223 Da Märchen seitdem bis heute rezipiert werden, teilweise sogar sehr populär waren und sind, scheinen sie uns auch heute etwas zu sagen, das heißt, Sinn und Bedeutungen zu vermitteln. Dass die Mythen überhaupt tradiert werden, zeugt von der Aktualität des Drangs danach, besagte Differenz zwischen Sache und Bedeutung zu überwinden und ein unreflektiertes Erleben zu ermöglichen. Man kann gegenwärtig auch im weitesten Sinne romantische Gegenweltkonzeptionen finden – dargestellt in Fantasybüchern und eindringlich bildhaft in Fantasyfilmen, beispielsweise ›Der Herr der Ringe‹ oder ›Harry Potter‹.224 Cassirers Warnung vor dem Verlust der Reflexionsleistung im Romantischen Cassirer thematisiert die romantische Weltauffassung mehrmals, allerdings vor allem negativ und als strukturelle Vorform einer politisch-totalitären mythischen Formung. Wie kommt er zu dieser Auffassung? – In der Romantik wurde beispielsweise der Wald symbolisch neu aufgeladen und entdeckt als »Kunstraum« und »Lustwald«, war also nicht mehr (nur) »Naturraum« und »Nutzwald«.225 Derartige Neuentdeckungen mythischer Bedeutungen beschreibt Cassirer in einer Dialektik: Die Romantik versucht, »Religion und Mythos tiefer als zuvor zu ›verstehen‹« und »sie gegen den zersetzenden ›kritischen‹ Geist der Aufklä219 Koschorke 1990: 220. 220 Ebd.: 221. 221 Ebd.: 222. 222 Ebd.: 186. 223 Ebd.; vgl. Oesterle 1998: 390. 224 Vgl. Heck 2007: 140 f.; Drascek 2011: 16. 225 Heck 2007: 128.

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rung zu retten«.226 Sobald man dann aber »die mythische Formwelt und die mythische Art des Weltbegreifens verstehen gelernt« hat, ist es »nicht länger notwendig und nicht länger möglich, sich diese Welt aus rein ›pragmatischen‹ Gesichtspunkten entstanden als eine Welt von ›Absichten‹ und ›Zielsetzungen‹« vorzustellen, sondern man kann sich »wieder gläubig in sie versenken«, »in ihr sicher ruhen, ohne sie durch die intellektualist[ische] Analyse um ihren eigentümlichen Sinn zu bringen – sie zu vernichten«.227 Mythen werden nach Cassirer in der dialektischen Zurücknahme so wieder »Gegenstand von Ehrfurcht und Verehrung«228 – in voraufklärerischer Form. Bei der »Rettung« des mythischen Denkens durch die Romantik sieht Cassirer in aufgeklärten Zeiten eine »gefährliche Kehrseite«:229 Die Reflexionsleistung, die das moderne mythische vom alten (›echten‹) mythischen Denken unterscheidet, droht dann zu verschwinden, wenn aus dem gläubigen ›Versenken‹ in die mythische Welt wieder ein Deutungsmonopol, ein »einzige[r] Schlüssel zur Wirklichkeit«230 entsteht – wenn also von nun an »alle Dinge in neuer und verwandelter Gestalt« gesehen werden, wenn keine Rückkehr »zur gemeinen Welt, zur Welt des profanum vulgus« mehr möglich ist.231 Damit sind die traumartige Scheinhaftigkeit der modernen mythischen Gegenwelt und die Selbstreflexion, die das moderne mythische Denken auszeichnet, wieder verschwunden. Wenn Cassirer in vielen Fällen die romantische Auffassung negativ als Rückfall hinter die kritisch-aufklärerische Vernunftidee versteht, meint er das, was im alltäglichen Sprachgebrauch typischerweise mit ›Romantisierung‹ verbunden wird: Verklärung, Schönfärberei, Beschreibung eines Idylls und »sentimentale[...] Ge-

226 Cassirer 1936/2002: 187 f., Hervorh. i. O. – Den hier zitierten »zersetzenden ›kritischen‹ Geist der Aufklärung« beschreibt Cassirer an anderer Stelle so: »Für alle Denker der Aufklärung war der Mythus etwas Barbarisches gewesen, eine seltsame und grobe Masse von verworrenen Ideen und dummem Aberglauben, eine bloße Monstrosität« (Cassirer 1949: 239). 227 Cassirer 1936/2002: 188, Hervorh. i. O. 228 Cassirer 1949: 239. 229 Cassirer 1936/2002: 187 f., Hervorh. i. O. 230 Cassirer 1944/2007: 239. 231 Cassirer 1949: 10 f., Hervorh. G. K. – Cassirer beschreibt die romantische Verknüpfung von mythischer und aufgeklärter Weltauffassung weiter: »Für die wirklichen Romantiker konnte kein scharfer Unterschied zwischen Mythus und Realität bestehen; ebensowenig wie es irgendeine Trennung zwischen Poesie und Wahrheit gab. Poesie und Wahrheit, Mythus und Realität durchdringen einander und fallen in eins zusammen« (ebd.).

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fühlsschwärmerei«232. Im Grunde kommt es dabei zur Realisierung der Wiederentstehung der mythischen Welt, die die eigentliche symbolische Form der modernen Raumauffassungen, also die bewusste mythische Sinngebung durch das Subjekt in der Ausdruckswahrnehmung, vernichtet. Karl Jaspers bezeichnet diese Umdeutung, bei der mythische Sinngehalte »zu gewußten Erkenntnissen oder zu leibhaftigen Objekten« werden, als »unredlich«.233 Es sei eine »Imitation eines Mythos außerhalb eines mythischen Bewußtseins«234, nicht die unmittelbare und doch reflektierte mythische Formung im modernen Bewusstsein. 235 Versteht man, wie Cassirer, das mythische Denken der Romantik primär als eine derartige unreflektierte Imitation, dann ist es zu kritisieren, weil es die kulturell konstituierte, freie Formung und Pluralität der Weltauffassungen systematisch verschleiert.236 Romantische mythische Deutungen sind doppelbödig Damit sieht Cassirer im romantisch-mythischen Denken meines Erachtens nach allerdings nur die negative Remythisierung, die von einer nachlassenden Aufklärung verursacht wird. Er unterschätzt das kritische Potenzial romantischer Weltauffassung, die sich in Märchen und Poesie typischerweise folgendermaßen zeigt: Romantische mythische Deutungen haben eine gewisse Unentrinnbarkeit und Schicksalhaftigkeit, die sich, worauf Albrecht Koschorke hinweist, besonders in Tiecks Märchen und in den unheimlichen Metamorphosen der Dinge und Räume bei E. T. A. Hoffmann zeigen.237 Ein derartiges schicksalergebenes, unreflektiertes Erleben und Glauben von Sinn ist dem Einzelnen in Mythen (im Mär232 Pikulik 2000: 26; vgl. Bohrer 1989: 7. – Beispielsweise charakterisiert auch der Kulturwissenschaftler Daniel Drascek in seiner Analyse literarischer Waldbilder die Naturauffassung der Romantiker nur als »lustvolle[s] Erleben und Schwelgen in der Natur«, das im Kontrast zu einem Wald stehe, in dem das »lebensbedrohliche Verirren« droht und »reißerische Tiere, die böse Hexe, die wilden Räuber und der böse Wolf« leben (Drascek 2011: 9 f.). 233 Jaspers 1964/1996: 354 f. 234 Lotmann & Uspenskij 1973/1986: 892, Hervorh. G. K. 235 Auf eine ähnliche Kritik am romantischen oder besser gesagt romantisierenden Denken wie Cassirer zielt beispielsweise Hans Magnus Enzensberger ab, wenn er von der »kollektiven Lebenslüge« schreibt, bei der der idyllische »Wald im Kopf« die Aufklärung des praktischen und politischen Problems »Schwefelregen« verhindere (Enzensberger 1988: 194). 236 Insofern kann das romantische Denken in seiner Struktur auch Vorläufer der politischen totalitären Variante der mythischen Formung sein. 237 Koschorke 1990: 171, 210.

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chen) romantisch möglich.238 Dem Romantiker ist jedoch von Anfang an bewusst, dass er vor allem außerhalb der Mythen lebt (leben muss), die Wiederverzauberung der Welt mit einer Gegenwelt also nur ein Schein ist und der Versuch, sie tatsächlich zu erlangen, scheitern muss.239 Diese Doppelbödigkeit der romantischen mythischen Ideen ist bei den Kunstmärchen insofern zu bemerken, als ihnen auch bei scheinbarer Ordnung »etwas Irritierendes und Ambivalentes« anhaftet, dass sie einem ironischen Grundton folgen, auf dem das – wenn überhaupt dann vordergründig – naiv Erscheinende beruht.240 In der »poetischen Phantasie«241 vollzieht sich dabei eine Sehnsucht nach Wiederentstehung der mythischen Welt, nicht eine tatsächliche Wiederentstehung.242 Der romantische Mythos ist ein neuer, nicht die Übernahme der alten, vorgängigen mythischen Ordnung. Denn das romantische Subjekt (idealtypisch der Künstler, das Genie) schafft sich in der Fantasie die mythische Welt selbst, glaubt sie und versenkt sich in sie, bleibt sich der selbst konstruierten Fiktion aber bewusst. Es strebt die »Verbindung der irrationalen mit den rationalen Kräften« an,243 ohne je eine Vollendung oder Erfüllung dieses Strebens zu erwarten. So heißt es zum Beispiel: »Es war als hätt’ der Himmel, die Erde still geküßt« und eben nicht ›Der Himmel hat die Erde still geküßt‹. Joseph von Eichendorff

238 Vgl. Pikulik 2000: 160. 239 Vgl. Siegmund 2011: 270; vgl. Trepl 2012: 130 f. – In der Romantik »verhält es sich keineswegs so, als werde das Prinzip der Vernunft verdrängt. Es wird nur ergänzt und bereichert durch die Kompetenz der Phantasie. Aus einem hierarchischen Verhältnis in der Aufklärung wird nun eine Polarität« (Pikulik 2000: 24). 240 Kremer 2007: 189. 241 Cassirer 1944/2007: 239. 242 Vgl. Oesterle 1998: 392, 394. 243 Pikulik 2000: 25. – Die Möglichkeit, die ›irrationalen‹ mit den ›rationalen‹ Kräften zu verbinden, erklärt sich mit Lothar Pikulik wie folgt: »Die Romantiker [...] sind ebenso aufgeklärte wie empfindsame Intellektuelle, die, statt sich mit dem Bestehenden abzufinden, aus Ungenügen an den Beschränktheiten des gegebenen Seins und Bewußtseins geistige Fühler ausstrecken, um das ganz Andere – und doch im tiefsten Grund allen Vertraute – jenseits der Grenzen zu ertasten. Ein grobes Mißverständnis wäre es, sie vernunftfeindlich zu nennen. Sie bekämpften nur jene Haltung, die es sich an der platten Oberfläche des Daseins genug sein läßt« (ebd.: 10). Der romantische Mensch entwickelt bewusst »wenig Sinn für die Wirklichkeit«, denn er »schwärmt, träumt«, überlässt sich also »eher seiner Einbildungskraft als seinem Verstand« (ebd.: 75).

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reflektiert hier seine Distanz zur ersehnten, ›echten‹ mythischen Welt – und drückt sie mit dem Konjunktiv aus.244 Das individuelle Subjekt als Ursprung der romantischen mythischen Sinngebungen In seiner abwertenden Kritik am Romantischen übersieht Cassirer einen weiteren wichtigen Aspekt: Nur das geistig freie Subjekt ist zur ›poetischen Fantasie‹ fähig. Den »neuen Mythos an der Wende zum 19. Jahrhundert« bildet »die unendlich schaffende Subjektivität aus sich heraus«.245 Friedrich Schlegel findet dafür folgende Formulierung: Wie »jeder Mensch seine eigne Natur hat und seine eigne Liebe, so trägt auch jeder seine eigne Poesie in sich«246.

In diesem Sinne charakterisiert Bettina von Arnim die Gegenwelten in Jean Pauls Werk als dessen subjektive Ideen: »[W]ie hast Du die Kerkerwände des Lebens durch Deinen Zauberspiegel mit Paradieses Perspektife erweitert«247.

Der künstlerischen Fantasie gelingt also, wie Ludwig Trepl zusammenfasst, »die Neuschaffung einer höheren und zauberhaften Wirklichkeit«248. John R. R. Tolkien etwa erschuf in romantischer Tradition mit seinen Werken ›Der kleine Hobbit‹ und ›Der Herr der Ringe‹ neu und aus freier Fantasie »eine geschlossene

244 Der Konjunktiv kennzeichnet das Scheinhafte: Die »Versöhnung des Entzweiten«, also der Entzweiung zwischen mythischer und rational-szientifischer Welt, »leistet der neue Mythos in der Kunst lediglich in der Form des Scheins« (Meier 1979: 161). 245 Meier 1979: 254 ff. 246 Schlegel 1800/2005: 165. – Zum weiteren Verständnis möge ein Zitat von Karl Jaspers dienen: »Im 19. Jahrhundert sind Menschen eines neuen Typus aufgetreten: Hölderlin, Kierkegaard, Dostojewski, Nietzsche, van Goch etc. Sie waren Ereignisse von einer Art, die es früher nie gegeben hat, Schöpfer von Werken, deren Gehalte noch nie gehört und gesehen waren. Ihrer Umwelt waren sie fremd. Sie verwarfen ihr Zeitalter, aber so, daß sie im Nein die ergreifendsten Gedanken, Bilder, Gestalten hervorbrachten« (Jaspers 1964/1996: 352). 247 Zit. n. Koschorke 1990: 182. 248 Trepl 2012: 129.

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mythische Welt«249. Der Mythos verkörpert in diesem Sinn »ein legitimes Organ modernen Denkens«250. Die romantische, mythische Weltauffassung verkommen damit nicht, wie Cassirer zu erkennen glaubt, zu einem neuen oktroyierten Deutungsmonopol (wenn dies geschieht, ist es keine romantische mehr), denn dann wäre die schöpferische Kraft des Subjekts nicht mehr Ursprung der Bedeutungszuschreibung. Romantische mythische Deutung ist eine Kompensation für Sinngebungen, die mit der Aufklärung verloren gegangen sind – doch auf der Basis der Aufklärung.251 Zu verstehen ist die romantische Sehnsucht nach einer mythischen, märchenhaften anderen Welt im Kontext einer umfassenden Kulturkritik der romantischen Bewegung an einer zunehmend vom Rational-Szientifischen (und naturentfremdendem Kommerzialismus) geprägten Welt. 252 In dieser Zivilisationskritik (und Zivilisationsflucht) wird der aufklärerischen, bürgerlichen, zunehmend vereinheitlichten Gesellschaft die Vorstellung eines Gesellschaftsmodells selbst249 Heck 2007: 140. – Während Tolkien die mythische Gegenwelt sozusagen gefunden hat, wird in manch moderner Literatur ihre Suche in den Vordergrund gestellt: Der Lyriker Günter Eich fragt: »›Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume‹? Das heißt: Der naturpoetisch aufgeladene Raum hat auch heute nicht an Faszination verloren, nur ist die Hoffnung verdunkelt, in ihm eine traumhaft-magische Seelenlandschaft wiederzufinden oder in der ›Waldeinsamkeit‹ Göttlichem oder sich selbst zu begegnen« (Jung-Kaiser 2008: 9). 250 Paetzold 1994: 117. 251 Vgl. Siegmund 2011: 245 f. – Lothar Pikulik beschreibt in diesem Sinn, dass die Romantik »über die Aufklärung hinausgeht«, insofern als »sie den Bereich des Wissens um den des Nichtwissens erweitert. Wissen, daß man etwas nicht weiß, ist auch ein Wissen, nämlich mystischer Art. […] Die Aufklärung ist bestrebt, Unbekanntes auf Bekanntes zurückzuführen, die Romantik legt es vielfach drauf an, Bekanntes auf einen unbekannten Untergrund zu beziehen und es von daher zu relativieren« (Pikulik 2000: 25). An anderer Stelle bezeichnet er es als die Funktion des romantischen Experimentierens »mit psychischen Zuständen, geistigen Haltungen, poetischen Formen wie Naivität, Traum, Rausch, Mythos, Glaube«, die bewusste Reflexion »zu kompensieren« (ebd.: 51). 252 Vgl. Siegmund 2011: 245; Vicenzotti: 213 ff.; Trepl 2012: 119. – Lothar Pikulik charakterisiert die Konstellation so: »Romantische Naturbegeisterung und romantische Beschäftigung mit der Natur erwachsen nicht aus dem Gefühl und Bewußtsein der Nähe, sondern der Ferne zur Natur. Sie fußen auf dem melancholischen Glauben, daß die ursprüngliche Einheit des Menschen mit der Natur verloren sei, und werden beflügelt von der Sehnsucht, die verlorene Einheit wiederzugewinnen« (Pikulik 2000: 241).

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ständiger Individuen entgegengestellt: Das alternative Modell besteht aus einer Vielzahl von Subjekten, die je eine eigene Perspektive auf die Welt finden und dabei untereinander mehr oder weniger große Gemeinsamkeiten, also einen kulturellen Kontext, haben.253 Die romantische Auffassung254 ist dabei eine individuelle, die nicht primär normative Vorstellungen über die Gesellschaft hat. Damit ist sie eine »apolitische«255 Auffassung, ein Rückzug in die Sphäre des Privaten, des persönlichen, mythischen oder ästhetischen Erlebens. In der romantischen Idee soll weder die universale, sinnstiftende alte Ordnung, die die Aufklärung beseitigt hat, wiederhergestellt werden, noch durch Gebrauch der Vernunft eine neue Gesellschaftsordnung begründet werden.256 Vielmehr wird das Gegenmodell zur rational-szi253 Helmut G. Meier stellt heraus, dass die Oper als idealtypischer Ort für diese romantische Idee stehen kann: Als mythisches Musikdrama wird in ihm komplementär zur »neuen Wirklichkeit einer Industrialisierung, dieser mächtigsten Objektivation, die in ihrer Geschichte die menschliche Rationalität aus ihrem Sein heraufbeschworen hat«, »das Unendliche, das Dunkle, das Dämmrige und Traumhafte menschlicher Innerlichkeit gleichsam zum Tönen« gebracht (Meier 1979: 169). 254 Historisch trat vor allem in der Frühromantik das Individuelle in den Vordergrund (Meier 1979: 167; Kremer 2007: 27). 255 Siegmund 2011: 326; vgl. Kremer 2007: 25; Siegmund 2011: 247 ff.; Vicenzotti 2011a: 60, 211; Trepl 2012: 141. – Die »›totalitäre‹ Ansicht« der Romantiker, ihre universalen Remythisierungen, sieht auch Cassirer als »eine kulturelle, nicht eine politische Ansicht«, und er weist darauf hin, dass mit der romantischen Renaissance des Mythischen zwar »der Weg gebahnt [war], der später zu der Rehabilitation und Glorifikation des Mythus« im Nationalsozialismus führen konnte (Cassirer 1949: 241, Hervorh. i. O.). »Es wäre jedoch ein Fehler und würde dem romantischen Geist nicht gerecht, wollte man ihn für diese spätere Entwicklung verantwortlich machen« (ebd.). Zu dieser späteren Entwicklung einer politischen, mythisch-manipulativen Deutung bin ich weiter oben eingegangen. 256 Siegmund 2011: 245 f., 326 f. – Eine neue, auf Überliefertes bezogene Gesellschaftsordnung ist Ziel anderer Geistesströmungen, die als konservativ beziehungsweise gegenaufklärerisch bezeichnet werden. Cassirer vermischt dagegen romantische Vorstellungen mit diesen anderen Vorstellungen, wenn er die Geschichte im Romantischen als unhinterfragbare Instanz beschreibt (Cassirer 1949: 237). Geschichte ist im Romantischen, so wie in vorliegender Arbeit charakterisiert, keine Instanz, sondern allein die subjektive künstlerische Empfindung: »Schlegels Entwurf einer neuen Mythologie […] stellt sich nicht im Rückgang auf die ältere Mythologie ein, sondern als Konstruktion einer neuen mythischen Relation« (Kremer 2007: 113).

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entifischen Welt idealtypisch in individuellen Utopien die auf kommende Zeitalter verweisen, formuliert.257 Diese können auch die oben erwähnte Form des Kunstmärchens haben, bei dem sich der Autor im Fantastischen und in imaginären Welten von allen »angebotenen Ordnungen«258 entfernt. Die kritische Selbstbestimmung ist im Romantischen demnach alles andere als »betäubt«, wie sie es in der mythisch-manipulativen Deutung ist; vielmehr basiert die romantische Sicht auf der Selbstbestimmung des Subjekts. Das ist ein Beispiel, wie ein modernes Subjekt aus Freiheit individuell ein mythisches Denken einnimmt. 259 Dabei allerdings bleibt das romantische Subjekt immer »voller Unrast getrieben« und findet »keine Bleibe«, in einer »biedermeierlich enge[n] und so beschauliche[n] heile[n] Idylle«.260 Meines Erachtens nach charakterisiert diese biedermeierliche Idylle das, wovor Cassirer als »gefährliche Kehrseite«261 der romantischen mythischen Idee warnt. Denn die biedermeierliche Weltsicht ist eine »Trivialisierung des neuen Mythos«, bei dem die individuelle Traumwelt nur scheinbar gegeben ist, eigentlich jedoch äußere Mächte den Sinn bestimmen.262 Insofern steht die biedermeierliche Idylle konträr zur romantischen Weltauffassung. Zum Verständnis des weiteren Kontextes dieses Gegensatzes sei auf Andrea Siegmunds klare Trennung der Romantik von einer »Gegenaufklärung« verwiesen, die sie insbesondere an der unterschiedlichen Interpretation 257 Meier 1979: 167; Siegmund 2011: 248; Vicenzotti 2011a: 215. 258 Kremer 2007: 189. 259 Vgl. die oben beschriebene positive Funktion der mythischen Raumauffassung in der Moderne. – So hebt auch Herbert Uerlings die »Selbstreflexivität« als wichtige »Verbindung« der historischen Geistesströmung Romantik mit der Moderne heraus (Uerlings 2000: 15). 260 Meier 1979: 169. – Die »eigentümliche Urvertrautheit« des Mythos »mit seiner Welt« ist, so führt Enno Rudolph in seinem Aufsatz ›Politische Mythen als Kulturphänomen nach Ernst Cassirer‹ aus, »keineswegs mit harmonischer Integration zu verwechseln«, sondern »drückt sich gerade darin aus, daß und wie das mythische Bewußtsein seine Welt dämonisiert, um sie zu verstehen bzw. zu bewältigen« (Rudolph 1995: 146). Mit ›Biedermeier‹ als historischem Epochenbegriff wird üblicherweise eine bestimmte Geistesströmung in der Phase nach der Romantik im Übergang zum Realismus bezeichnet (Kremer 2007: 47). 261 Cassirer 1936/2002: 187 f., Hervorh. i. O. 262 Meier 1979: 170. – Beispielsweise passen auch die Brüder Grimm bei Überarbeitungen ihre Kinder- und Hausmärchen dem Geist der Zeit an, indem sie ihre frühen Textversionen verharmlosen und ›verbiedermeierlichen‹. »[V]erbildlichte archaische Auffassungen« werden von »einer gewissen traulich-behaglichen Idylle« überlagert (Rölleke 2004: 101; vgl. Kremer 2007: 26 f.).

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der Begriffe ›Freiheit‹ und ›Vernunft‹ sowie an der Rolle des Subjekts in der Gesellschaft festmacht.263 Bemerkung zu Cassirers Motiven für die Analyse der mythischen Auffassungen Cassirers Raumtheorie zeichnet sich durch eine ungewöhnlich intensive Beschäftigung mit mythischen Auffassungen aus. Die Frage, was seine besonderen Beweggründe für dieses Interesse sein mochten, drängt sich auf. Daher dazu im Folgenden einige Randbemerkungen: Obwohl Cassirer eine Theorie der symbolischen Formen entwirft, welche die Vielfalt an Weltauffassungen wertungsfrei beschreibt, nimmt er hinsichtlich des inszenierten totalitären mythischen Denkens, das er selbst im Nationalsozialismus erlebte, dezidiert keine neutrale Position ein, sondern spricht ein Urteil aus: Dass »der moderne Mensch« »leicht in den Zustand vollständiger Ergebung und Sichberuhenlassens zurückgeworfen werden« kann, in dem er »seine Umgebung nicht mehr in Frage« stellt, »sie als eine natürliche Sache« hinnimmt, ist, so Cassirer Anfang 1945, »[v]on allen traurigen Erfahrungen der letzten zwölf Jahre […] vielleicht die furchtbarste«.264 Im Sinne des aufklärerischen Strebens nach Freiheit 265 des Individuums als höchster Wert ist diese für politische Unterdrückung instrumentalisierte und ›monopolisierte‹ mythische Vorstellung ethisch verwerflich. Bei dieser Verurteilung ist nicht entscheidend, dass die Reflexionsdistanz »nachdem man sie bereits erreicht hatte, wieder preisgegeben«266 wird, denn das könnte ja auch romantisch-poetisch bewusst geschehen. Entscheidend ist vielmehr, dass die mythische Formung nicht als eine mögliche von mehreren Sinngebungskontexten gesehen, sondern ›monopolisierend‹ oktroyiert wird. Cassirer stellt Anfang 1945 fest, dass von allen Kulturbereichen die Politik der sei, in dem die täuschenden Mythen am »gefährlichsten und dauerhaftesten« bestün263 Siegmund 2011: 327 ff. – Vera Vicenzotti und Ludwig Trepl finden eine ähnliche Trennung, nennen allerdings die Vorstellungen, die Andrea Siegmund als gegenaufklärerische bezeichnet, konservative Vorstellungen (Trepl 2012: 119, 139 ff.; Vicenzotti 2011a: 131 ff.). 264 Cassirer 1949: 373. – Sein kulturtheoretisches Resümee dazu ist: »Was wir in der harten Schule unseres modernen politischen Lebens gelernt haben, ist die Tatsache, daß die menschliche Kultur keineswegs das festverankerte Ding ist, für das wir sie einst hielten« (ebd.: 389). 265 Freiheit, so Cassirer, ist die »echte[...] Autonomie, die nicht die technische Herrschaft des Menschen über die Natur, sondern die moralische Herrschaft über sich selbst bedeutet« (Cassirer 1942/2007: 463). 266 Recki 2004: 107, Hervorh. i. O.

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den; es drohe immer der plötzlich Rückfall in das alte Chaos der unaufgeklärten Reflexionslosigkeit.267 Cassirer warnt mit seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ letztlich auch allgemein vor einem undifferenzierten, unreflektierten, naiven Umgang mit Mythen, weil sich hinter ihnen missbräuchliche Inszenierungen verbergen können. Die künstlich erzeugte Variante des mythischen Denkens war für Cassirer ein wesentlicher Grund, die rational-kritische Analyse der mythischen Auffassung in seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ auszuarbeiten. Der inszenierte totalitäre Mythos konterkariert die Selbstbefreiung des Menschen im Sinne der Aufklärung, indem er die naiv-realistische Weltansicht immun gegen Kritik macht. Überwunden werden kann diese Bedrohung nur, wenn man systematische Einsicht in das mythische Denken schafft: »[N]ur durch die Analyse seiner geistigen Struktur läßt sich nach der einen Seite sein eigentümlicher Sinn, nach der anderen seine Grenze bestimmen«268.

Dies hält Cassirer für eine notwendige kulturwissenschaftliche Aufgabe. 3.1.3 Zusammenfassung zum mythischen Raum In der mythischen Auffassung bestehen Räume nach Cassirer durch Atmosphären, die von höheren Mächten erzeugt erscheinen. Orte und Richtungen sind dabei jeweils mit bestimmten mythischen Qualitäten verknüpft, die emotional und häufig in Gegensätzen wahrgenommen werden und Handlungen leiten. Der idealtypische Antagonismus ist ›heilig‹ und ›profan‹: Die abstrakte, transzendente Sinngebung wird zur zwingenden Macht, die dem Wahrnehmenden bei seinen Handlungen Orientierung gibt. Der mythische Raum ist eine inhomogene Gesamtheit einzelner Objekte wie Donner oder Blitz, die jeweils unverwechselbare Bedeutung haben. Zwischen den einzelnen Objekten ist der Raum gleichsam unterbrochen. Geformt wird der mythische Raum im Wesentlichen im Ausdruck, das heißt, Sinngehalt und physischer Raum sind bei der Auffassung identisch. Es kommt nicht zur Abstraktion wie bei einer Darstellung, bei der bewusst ist, dass das Dingliche als Zeichen eine bestimmte Bedeutung repräsentiert. Mythischer Raum entsteht nach Cassirer unmittelbar durch ›dramatische‹ Auffassung in Handlungen und durch eine unreflektierte Erfahrung der Welt. Eine Relevanz derartiger unmittelbarer Wahrnehmungen für Handlungen, bei denen Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen nicht bewusst sind, ist durchaus 267 Cassirer 1949: 385. 268 Cassirer 1925: XIII.

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auch heute zu bemerken. Beispielsweise suchen Menschen Berggipfel auf, weil sie dort im Sonnenuntergang Verbundenheit mit der Natur erleben. Mit Cassirers Raumtheorie lässt sich grundsätzlich eine Gleichzeitigkeit mythischer und wissenschaftlicher Auffassungen in der Moderne erklären. Mythische Raumauffassungen im Sinne Cassirers sind nicht ungeordnet wirr, sondern folgen einer bestimmten Formung, die zwar nicht der rationalen, aber einer mythischen Wahrheit entspricht. Dies bildet eine wesentliche Basis für meine Analyse des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹. Der mythische Raum wird in der Moderne unmittelbar erlebt in emotionaler Ergriffenheit. Ein Distanzieren vom eigenen Erleben ist dem Subjekt innerhalb der mythischen Auffassung nicht möglich. Auf der philosophischen Metaebene wird diese Auffassung jedoch kritisch-rational reflektiert – und zwar in der Moderne immer, auch wenn es im Moment der Anschauung nicht bewusst ist. Das Subjekt kann seine spezifische Form der Raumkonstitution erkennen. Das moderne mythische Bewusstsein ist eine ambivalente Synthesis aus unmittelbar und reflexiv. In einer archaischen Auffassung hingegen ist keine Reflexion der Raumformung möglich. Das moderne Subjekt kann die mythische Formung rational reflektieren, muss es aber nicht in jedem Moment. Es kann innerhalb der mythischen Weltauffassung, die unreflektiert ist, empfinden und denken. Als modernem Subjekt ist ihm dabei aber eigentlich bewusst, dass es eine Deutung ist, die es unternimmt. Die mythischen Auffassungen beruhen in der Moderne auf Bedeutungszuweisungen, die sich das Subjekt persönlich in der Regel aus kulturell überlieferten Mustern schafft. Dabei besteht eine Pluralität an mythischen Bedeutungen und die mythische Formung ist eine von mehreren. Mythische Raumauffassungen haben in der Moderne im Wesentlichen folgende Funktion: Mit ihnen kann das Subjekt individuell für sich mit szientifischer Welterklärung und kritischer Analyse verloren gegangene Sinngebungen kompensieren. Dies allerdings kann in ein dominantes Remythisieren umschlagen, in dem der kritisch-aufgeklärte Geist erlahmt ist. Cassirer warnt in diesem Zusammenhang vor einer künstlich erzeugten Variante des mythischen Denkens, dem inszenierten totalitären Mythos, der eine naiv-realistische Weltansicht immun gegen reflektierende Kritik mache. In einer im weitesten Sinne romantischen Weltsicht zeigen sich moderne mythische Raumauffassungen deutlich ambivalent: Die Sehnsucht nach der mythischen, meist in der Ferne vorgestellten Gegend drückt sich idealtypisch aus in einer Wanderschaft, die nie zu Ende gehen kann. Für das freie Subjekt ist die Wiederverzauberung der Welt immer seine individuelle Fantasie, die mit seinem aufgeklärten Denken korrespondiert und nur durch diese Korrespondenz bestehen kann. Das Subjekt kann nie ganz in der zauberhaften Welt leben.

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Die Konturen der modernen mythischen Raumformung sind damit so klar gezeichnet, dass sie als heuristisches Instrument zur Analyse des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ in Kapitel 4 dienen kann. Von der mythischen ist die ästhetische und die theoretische Raumformung zu unterscheiden, die ich in den folgenden Kapiteln behandeln werde.

3.2 ÄSTHETISCHER RAUM »Heut war weithin klares Wetter, ein leuchtender Tag. Der Felsen mit dem Kreuz stand gegen den durchscheinenden Himmel, und hinterm Felsen waren Tannen mit schwarzgrünen Spitzen die oberste Höhenlinie, der Kamm des Gebirges […]. Die Wiesen senkten sich ringsum in großer Weite. Drunten beim Bach in Schnellnzipf, zu dem andere Bächlein vielfältig hinunterrieselten und unterm klaren Wasser die gelblichen Sandkörner ihres Bettes sehen ließen, erhoben sich hohe Tannen, Eschen und Ahorne mit gefiederten und breitzackigen Blättern über Moos und Schilfgestrüpp. Dort unten war die Stelle düster. Hier heroben aber […] sah er auch die dunklen Wälder in den Niederungen vom Licht erhellt, das die Wiesen durchscheinend zu machen schien. Und drüben in Böhmen, wo zwischen einzelnen Tannen dürres Gras gelbsträhnig war, stand ein Gehöft mit blankem Blechdach und schimmerte herüber. Manchmal schaute über Tannenspitzen ein grauhölzerner Wachtturm her.«269

So beschreibt der Schriftsteller Hermann Lenz in seinem Roman ›Der Wanderer‹ einen Blick auf den bayerischen Wald. In dieser Weise das Erscheinungsbild einer Gegend ästhetisch, individuell und ohne bestimmte Interessen aufzufassen, erscheint insofern außergewöhnlich, als wir – nicht Literat oder Künstler – in der Regel von Annehmlichkeiten oder deren Fehlen befangen sind: die angenehme Kühle des Morgennebels, die Unbequemlichkeit des nassen Bergpfades oder die Eignung des Sandstrandes für ein Sonnenbad. Zudem sind wir oft geprägt von eingefahrenen Beschreibungen: Die Lüneburger Heide gefällt uns, wenn sie rosa blüht und wir die erwartete Schafherde erblicken; die Alm ist schön, wenn sie wie im Postkartenidyll saftig grün erscheint, von einer Rinderherde beweidet wird und von einem urtümlichen Holzlattenzaun umgeben ist. Der Maler und Philosoph Carl Gustav Carus beschreibt die Wahrnehmung von Alltagsmenschen, wenn sie eine Gegend in erster Linie mit Nutzen und Angenehmen verknüpfen, Mitte des 19. Jahrhunderts beispielhaft so:

269 Lenz 1986/1988: 271.

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»Sie beachten den Himmel nur in soweit, um das Wetter zu ermessen, um zu sehen ob es zu einer Lustfahrt, zu einer Reise passe oder nicht, bei einem Baum denken sie an den Schatten, den er zu einem Gelag verleihen könne, bei einer Wiese an das gute Heu, oder daß das schöne Grün die Augen stärke«270.

Auch gegenwärtig scheint, wie die Landschaftstheoretikerin Angela Weil in ihrer Analyse der öffentlichen Wertschätzung von Landschaft zeigt, der für die Sinne angenehme »Landschafts- oder Naturgenuss«, den etwa ein bequemer Fahrradweg oder ein Biergarten am Seeufer bietet, in unserer Gesellschaft für viele einen hohen Wert zu haben.271 Neben diesem auf Genuss hin ausgerichteten Zugang zu einer Gegend gibt es – obgleich traditionelle in und mit der Gegend arbeitende Berufe wie Hirte, Bauer oder Holzarbeiter unsere Gesellschaft längst nicht mehr dominieren – einen vom Nutzen geprägten. Bei Jäger, Waldbesitzer oder Vertretern der diversen Berufe im Tourismus ist der Blickwinkel der Nützlichkeit durchaus verbreitet. Aus diesem Blickwinkel ist es nicht möglich, Farben, Texturen und Lichtspiele im engeren Sinn ästhetisch, das heißt interesselos, zu betrachten.272 Eine weiterer, heute weit verbreiteter Zugang zu einer Gegend ist der mehr oder weniger naive Blick des Touristen, der von stereotypen Bedeutungen und Bildern – den bekannten schönen oder erhabenen Landschaftsbilder – geprägt ist. Dabei vollzieht einerseits der idealtypische Tourist keine individuelle ästhetische Empfindung, sondern der »konsumierende Blick des Tourismus«273 ahmt das ihm durch Bilder vorgeprägte Muster des Landschaftssehens nur nach.274 Andererseits geht mit der touristischen Bilderwerbung wesentlich eine »Klischeebildung und Trivialisierung« einher,275 welche oft Einfluss auf die reale Gestaltung nimmt: Mit entsprechender Zeichensetzung oder technischen Einbauten wird die Gegend zu einem »touristischen ›Highlight‹«276 mit reproduzierbaren Ansichten zugerüstet.277 Auch wenn die tatsächlichen Landnutzer, Touristen oder Künstlern die Blicke so idealtypisch rein in aller Regel nicht haben, sondern vielmehr mit ihren 270 Carus 1835 zit. n. Petri et al. 1980: 21. 271 Weil 2007: 67 ff. 272 Vgl. Heimann 1920: 229. 273 Speich 1999: 95. 274 Vgl. Dinnebier 1996: 282; Ritter 1963: 48 f. 275 Zimmermann 2012: 44. 276 Ebd.: 44 f. 277 Eine kultur- und technikgeschichtliche Analyse zu Aussichten und Aussichtspunkten im 19. Jahrhundert gibt Daniel Speich (1999).

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individuellen Ideen und Interessen kombinieren, dient die soeben skizzierte Kontrastierung zur Analyse der grundsätzlich unterschiedlichen Raumwahrnehmungen: Ein rein ästhetischer Blick auf die Dinge – auf die Gesetzmäßigkeit und Harmonie in der Natur, ihre Schönheit oder Erhabenheit in jeder Situation – kann nur in dem idealtypischen Blick des Künstlers, wie der oben zitierte Literat Lenz, eingenommen werden. Er empfindet die visuelle Gestalt, die Strukturen und Farben individuell, vermag diese zu reflektieren und besitzt das handwerkliche Können, seine Empfindungen in Texten, Gemälden, Fotos oder anderen Kunstwerken darzustellen. In einem alltäglichen Blick hingegen, also im Blick des idealtypischen, nicht kreativ schaffenden Kunstlaien, erscheint insbesondere diese reflektierte Darstellung zunächst einmal nicht möglich. Ein derartiger kategorischer Ausschluss ästhetischer Wahrnehmungen im Blick des Alltagsmenschen erscheint mir allerdings nicht zutreffend – zumal für den aktuellen Diskurs um Wildnis. Denn wir reisen – ohne Künstler zu sein – durchaus wegen des besonderen individuellen Erlebnisses beispielsweise zur rosa blühenden Heide oder zu einem herbstlichen Ahornwald. Oder wir erwandern, möglicherweise unter Strapazen, einen Berg, um blühende Bergwiesen entdecken zu können. Wir bestaunen schroffe Felsen, mächtige Berge und spektakuläre Wasserfälle. Den Anblick sturmgepeitschter Bäume und Wiesen oder düsterer Gewitterwolken suchen wir womöglich, obwohl wir uns dabei den Unannehmlichkeiten eines Unwetters aussetzen. In diesen Momenten sind ein Interesse am angenehmen Genuss beziehungsweise Nutzen der Gegend oder aber ein touristisch vorgeprägtes Klischee nicht wesentlich. Das lässt vermuten, dass wir als moderne Subjekte mitunter auch alltagsweltlich einen (im engeren Sinn) ästhetischen Blick auf den Raum einnehmen – und zwar auf den realen Raum selbst, nicht nur sekundär bei der Rezeption von Fotos, Gemälden, touristischer Bilderwerbung etc. Dieser Blick ist nicht lediglich den Künstlern in ihrem aktiven, reflektiverenden Schaffen vorbehalten. Man könnte meinen, diese These sei mit Kants prinzipieller Erklärung der ästhetischen Urteilskraft als eines Vermögens des aufgeklärten Subjekts allgemein – also der menschlichen Erkenntnis überhaupt – abschließend bestätigt. Da in der vorliegenden Arbeit aber konkrete lebensweltliche Raumauffassungen im Wildnisdiskurs von Interesse sind und nicht allein prinzipielle Erkenntnismöglichkeiten, gehe ich mit Cassirers Kulturphilosophie der These vom alltagsweltlichen ästhetischen Blick nach. Im folgenden Kapitel behandle ich die ästhetische Raumformung, wie sie Alltagsmenschen und idealtypisch Künstler vollziehen, vor allem bei der Wahrnehmung einer Gegend als Landschaft. Hierzu typisiere ich diese Formung bezüglich der Gegenstände ihrer Aufmerksamkeit, der Bedeutungsinhalte und der

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Vorgehensweise. Zu klären ist dabei mit der Theorie Cassirers insbesondere, inwiefern der Blick des Alltagsmenschen die Eigenschaften einer ästhetischen Darstellung haben kann und wie sich die ästhetische zu der modernen mythischen Raumauffassung verhält. Die anschließende Analyse der ästhetischen Qualität des Erhabenen ist wesentlich für das Verständnis der ästhetischen Aspekte im Wildnisdiskurs. Grundlage dieser Analyse der Eigenschaften des ästhetischen Raumes, die für den aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ wichtig sind, ist folgende These: Es gibt einen ästhetischen Blick des Alltagsmenschen, nicht nur einen außergewöhnlichen des Künstlers, und dieser unterscheidet sich wesentlich von der modernen mythischen Auffassung; dies lässt sich aufbauend auf Cassirers Theorie erklären. Im Kapitel 3.2.1 stelle ich Cassirers Theorie der ästhetischen Raumformung vor. Danach nimmt das Subjekt visuelle Strukturen, Farben und Formen mit seinen Bedeutungen und Werten wahr und schafft individuell für sich damit bildhaft einen Raum. Ein besonderes Beispiel für eine ästhetische Raumauffassung, das auch Cassirer eingehend behandelt und das für die Analyse des Wildnisdiskurses wesentlich sein wird, ist die einer Gegend als Landschaft. Zur Erklärung von Cassirers Theorie ordne ich diese mit Hilfe zweier anderer Ansätzen ein, dem von Landschaft als konstitutive Leistung des Subjekts einerseits und dem phänomenologisch erlebten Raum andererseits. In Kapitel 3.2.2 kann ich darauf aufbauend dann die ästhetische Raumauffassung im alltäglichen Blick, also im Blick des Kunstlaien, erklären. Mit Cassirers Theorie stelle ich die entscheidenden Eigenschaften dieser Raumauffassung und ihre Unterschiede zur modernen mythischen Raumauffassung dar. Die im weitesten Sinne romantische Raumformung greife ich wiederum, wie beim mythischen Raum, extra heraus, da auch der ästhetische romantische Zugang insbesondere mit seinem Erhabenheitsbegriff wesentlich zum Verständnis aktueller Wildnisvorstellung beiträgt. Die wichtigsten Eigenschaften der ästhetischen Raumformung resümiere ich in Kapitel 3.2.3, so dass sie als möglichst fruchtbares Instrument für die Analyse des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ nutzbar sind. 3.2.1 Cassirers Darstellung der ästhetischen Raumauffassung Cassirer führt die ästhetische Raumauffassung als eine der grundlegenden symbolischen Formungen ein. Sie hat einerseits Gemeinsamkeiten mit der mythischen, insbesondere der modernen mythischen Auffassung, zeichnet sich aber andererseits durch so spezifische inhaltliche und formale Eigenschaften aus, dass sie eine dritte Form neben dem mythischem und dem theoretischen Raum bildet.

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Cassirer beachtet die ästhetische Raumauffassung bezüglich ihrer erkenntniskritischen Struktur als eine in der Moderne gelebte Form der kulturellen Welterschließung. Im Folgenden stelle ich Cassirers Systematik der ästhetischen Raumauffassung vor, und zwar (1) hinsichtlich ihres Inhaltes, das heißt, was aufgefasst wird und (2) hinsichtlich der Form, also wie etwas aufgefasst wird. Darauf aufbauend lässt sich dann in Kapitel 3.2.2 meine These überprüfen, dass der ästhetische Blick im Sinne Cassirers eine wesentliche Raumauffassung des Alltagsmenschen sei. (1) Was ist Inhalt der ästhetischen Raumformung? – mit individuellen Empfindungen die Oberfläche sehen, insbesondere Landschaft Die ästhetische Wahrnehmung ergründet nicht »die metaphysische Tiefe der Dinge«, sie hält »sich vielmehr an die Oberfläche der Naturerscheinungen«.278 Diese komprimierte Beschreibung Cassirers für den Gegenstand der Ästhetik wird verständlich, wenn man insbesondere seine Ausführungen zu Landschaft in die Analyse einbezieht. Landschaft ist sein zentrales Beispiel für die ästhetische Raumformung.279 Wesentlich ist, dass bei der ästhetischen Perzeption einer Gegend als Landschaft das Subjekt die physischen Dinge mit individuellen Empfindungen und (insbesondere kulturell bedeutenden) Ideen verknüpft. Diese Konstitution setzen auch eine Reihe anderer Landschaftstheorien voraus, nicht zuletzt die Georg Simmels, dem im deutschsprachigen Bereich oft die Rolle eines Pioniers für die systematische Beschäftigung mit dem Raum der Gesellschaft zugesprochen wird,280 und dessen Aufsatz ›Philosophie der Landschaft‹ (1913) 281 bis heute vielfach rezipiert wird.282 Vertreter einer phänomenologi278 Cassirer 1944/2007: 242. 279 Vgl. unter anderem Cassirer 1944/2007: 223; Bohr 2008: 30 ff. – Der Cassirer’sche Begriff des ›ästhetischen Raums‹ wird dann von nachfolgenden Autoren zur Erklärung des ästhetischen Begriffs ›Landschaft‹ herangezogen, beispielsweise von Petri et al. (1980: 17). – Ob ›Landschaft‹ im eigentlichen oder engeren Sinn, also nicht in bestimmten Fachsprachen wie beispielsweise der der physischen Geografie, immer eine ästhetische Raumauffassung ist, bleibt bei Cassirer unklar, denn er schreibt durchaus auch von »Schilderungen einer Landschaft […] durch Geographen« im Sinne einer Schilderung von »physikalischen Fakten« (Cassirer 1944/2007: 258). 280 Rau 2013: 92. 281 Simmel 1913/1957. 282 Unter anderem Ritter 1963; Petri et al. 1980: 17; Smuda 1986: 54; Piepmeier 1980: 15; Dinnebier 1996: 47; Seel 1996: 101, 175; Lobsien 2001: 621 f., 661; Backhaus et al. 2007: 45 f.; Siegmund 2012; Trepl 2012: 23 ff., 40 f.

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schen Theorieströmung, geprägt zunächst von Otto Friedrich Bollnow und bis heute präsent im Landschaftsdiskurs, sehen hingegen die ganzheitlich-fühlende Anschauung als wesentlich für Landschaft an.283 Im Folgenden werde ich bei einigen Aspekten diese beiden Deutungsrichtungen in der Landschaftsästhetik im Verhältnis zu Cassirers Ansatz diskutieren, denn dieser hat mit beiden jeweils wichtige Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Der Cassirer’sche ästhetische Raum wird damit deutlicher, und er lässt sich einordnen. Explizit wird dann zu diskutieren sein, dass in der ästhetischen Raumauffassung ein Bezug auf bestimmte Sinngehalte, nämlich subjektive, besteht. Schließlich weise ich auf die primäre Bildhaftigkeit der ästhetischen Auffassung hin, weil damit Cassirers Begriff der ›Darstellung‹ verständlich wird. Eine Gegend erscheint mir, so erklärt Cassirer, dann ästhetisch als Landschaft, wenn ich sie nach »fundamentalen Strukturelementen unserer sinnlichen Erfahrung«284 ordne, das heißt vor allem wenn ich »Rhythmus der räumlichen Formen«, »Harmonie und […] Kontraste der Farben« und das »Gleichgewicht von Licht und Schatten« sehe.285 Dies sind Auffassungen der »Oberfläche der Naturerscheinungen«286, die Cassirer vom »natürlichen« Blick absetzt, der »nichts spezifisch Ästhetisches« an sich hat:287 In diesem erfreue ich mich »an der milden Luft, den frischen Wiesen, der Vielfalt und Munterkeit der Farben und dem angenehmen Duft der Blumen« einer Gegend.288 Im Gegensatz zu dieser »natürlichen« Wahrnehmung unmittelbarer Eigenschaften empirischer Gegenstände auf der Ebene des unreflektierten Gefühls entdecken wir im ästhetischen Blick eine bestimmte »visuelle Gestalt« und »Struktur«,289 die uns, wenn es eine Gegend ist, als die »Physiognomie dieser Landschaft«290 erscheinen. Die Entdeckung der bildhaften Gestalt und Struktur ist individuell, denn die Möglichkeiten der Empfindungen und damit der Formungen sind zahllos, und sie ist augenblicklich, denn das Spiel von Licht und Schatten oder der Kontrast der 283 Bollnow 1941; Bollnow 1963; Böhme 1985; Großheim 1999; Großheim 2005. 284 Cassirer 1944/2007: 242. 285 Ebd.: 233 f. 286 Ebd.: 242. 287 Ebd.: 233. 288 Ebd. – Das meiste von dem, was mit dem ›natürlichen Blick‹ erfasst wird, erinnert an die Kategorie des Angenehmen im Sinne Kants. Cassirer meint also nur das Ästhetische im engeren Sinn, nicht die weiteren ästhetischen Urteile des Angenehmen (Wohlbefinden etc.) oder des Guten (sinnvoll, gutes Leben), wie sie Kant in seiner ›Kritik der Urteilskraft‹ (Kant 1793/1974) beschreibt (vgl. Weil 2007). 289 Cassirer 1944/2007: 222. 290 Ebd.: 223.

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Farben etc. ist veränderlich, was Cassirer wie folgt erklärt: In der ästhetischen Auffassung von Raum sind die »[…] Ansichten der Dinge […] zahllos, und sie verändern sich von einem Augenblick zum anderen. Jeder Versuch, sie auf eine einzige, bündige Formel zu bringen, wäre vergeblich. Heraklits Ausspruch, die Sonne sei neu an jedem Tage, trifft für die Sonne des Künstlers gewiß zu, obwohl nicht für die des Naturwissenschaftlers.«291

So sehen etwa zwei verschiedene Personen, die (fast) vom selben Standpunkt aus zur selben Zeit eine Gegend betrachten, zwei mehr oder weniger verschiedene Landschaften, je nachdem, was sie individuell sehen und wie sie es auffassen. Möglicherweise entdeckt der eine die Kontrastlandschaft von weißem Strand und blauem Meer, der andere hingegen die unendliche Weite der in Wellen strukturierten Wasserfläche. Zum anderen kann man an ein und dem selben Ort einmal den farbenprächtigen Wald mit grünen Wiesen als kontrastreiche Herbstlandschaft sehen und zu anderer Zeit eine Landschaft aus rhythmisch gliedernden, langen Schatten kahler Bäume auf einer weißen Schneefläche. Diese Strukturen werden nach Cassirer ästhetisch nicht in ihren geometrischen oder naturwissenschaftlichen, objektiv messbaren empirischen Merkmalen – in ihrer Länge, Breite, Abstand, Temperatur etc. – erfasst292 und auch nicht als mythische Kräfte, die auf unser Seelenleben wirken, sondern in ihrer ästhetischen »Atmosphäre«293. Diese charakterisiert Cassirer wie folgt: Die äußeren Formen geben einerseits Anlass für tiefe und vielfältige »Regungen der Seele« – wir empfinden »Freude und Leid, Hoffnung und Furcht, Jubel und Verzweiflung«.294 Andererseits bleiben diese Leidenschaften nichts rein Innerliches, son291 Ebd.: 222. – Dass dennoch das Moment des wiederkehrenden Erscheinungsbildes, das im kulturellen Gedächtnis bewahrt wird, beim Thema Landschaft Relevanz hat, werde ich später diskutieren. Dies tut der hier genannten grundlegenden individuellen und augenblicklichen Formung von Landschaft keinen Abbruch. 292 Cassirer setzt an anderer Stelle die »physischen« Merkmale, die ein »Geologe oder Geograph« beschreibt, der »physiognomischen« Charakteristik der Landschaft entgegen (Cassirer 1942/2007: 439). Unter die Arten, eine Gegend anzusehen, die nicht zu einer ästhetischen Anschauung führen, fallen insbesondere auch zweckrationale, wie sie der »teleologisch gerichtete Ackerbauer oder Stratege« hat (Simmel 1913/1957: 148). 293 Cassirer 1944/2007: 223. – Cassirer beschreibt auch eine ›Atmosphäre‹ des mythischen Raums. Dort ist die ›Atmosphäre‹ jedoch der auf uns wirkende ›Zauberhauch‹. 294 Ebd.: 229.

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dern werden gleichzeitig zu der Kraft, die die äußeren Strukturen der Gegend im ästhetischen Blick zu Landschaft formt.295 Daher bildet sich Landschaft für den Betrachter mit bestimmten Ausdruckscharakteren: Die Landschaft »ist düster oder heiter, streng oder lieblich, zart oder erhaben.«296 Diese allgemeinen Adjektive (düster oder heiter etc.) sind, worauf Cassirer übereinstimmend mit Georg Simmel hinweist, allerdings nur Typisierungen, die eine ›Bezeichenbarkeit‹ und Verständigung ermöglichen. Letztlich besteht der Charakter einer Landschaft jedoch immer nur als Charakter »eben dieser Landschaft« im individuellen Moment der Wahrnehmung, die verallgemeinernde Abstraktion ist sekundär.297 Der Philosoph Martin Seel hebt demgegenüber durchaus einen wesentlichen, allgemeinen Ausdruck einer Gegend hervor: Er stellt der momentanen und individuell empfundenen »Atmosphäre« einer Landschaft ihren ausdruckhaften »Charakter« gegenüber, der »über eine längere Zeit hin« und bei verschiedenen Atmosphären besteht.298 In Cassirers Theorie liegt dagegen folgende untrennbare Verknüpfung vor: Die emotionalen Qualitäten strukturieren für den Wahrnehmenden das Äußere und die äußeren Strukturen geben Anlass zu Empfindungen. Landschaft ›gibt‹ es genau und nur in diesem Moment des Zusammenspiels unserer Innenwelt (geistiger Bedeutungsgehalt) und der Welt außer uns (sinnliches Phänomen) in der Wahrnehmung. Diesen Akt, in dem die sinnliche Wahrnehmung (hier vor allem die Anschauung) und die Ordnung mit einer nicht-anschaulichen Bedeutung (hier repräsentiert in den Emotionen) gleichzeitig geschehen, bezeichnet Cassirer als Bildung einer ›symbolischen Prägnanz‹.299 Cassirers ästhetische Raumformung zwischen Simmels Landschaft und Bollnows erlebtem Raum Zum Verständnis von Cassirers Theorie des ästhetischen Raumes erscheint es an dieser Stelle hilfreich, ihre Analogien und Differenzen zu anderen bekannten Raumästhetiktheorien zu diskutieren. Dies führe ich im Folgenden für Georg

295 Ebd. 296 Ebd.: 439. 297 Simmel 1913/1957: 151, Hervorh. i. O. 298 Seel 1996: 100 f. – Der Charakter »einer Landschaft ist weder durch den Charakter unserer Stimmung gegeben noch flößt sie uns Stimmungen unvermeidlich ein. Sie ist Einheit der physiognomischen, klimatischen und historischen Korrespondenz mit besonderem Einfluß auf das affektive Befinden der Menschen« (ebd.: 102). 299 Zum Begriff der ›Prägnanzbildung‹ und der Theorie der symbolischen Formen siehe Kapitel 2.1.

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Simmels Landschaftstheorie und für Otto Friedrich Bollnows Theorie des ›erlebten Raumes‹ näher aus. Schon Georg Simmel (1858-1918) beschreibt Landschaft in ihren wesentlichen Aspekten – so wie später Cassirer – nicht als einen Gegenstand, sondern als eine »Relation zwischen dem wahrnehmenden und interpretierenden Individuum einerseits und dem Stück Erdnatur in seinem Gesichtsfeld andererseits«300. Raum ist eine Form, die »im konkreten Empfinden generiert« werde.301 So wird »Natur«, wie Simmel es formuliert, »durch den teilenden und das Geteilte zu Sondereinheiten bildenden Blick des Menschen zu der jeweiligen Individualität ›Landschaft‹ umgebaut«.302 Eine Gegend wird demnach, so bringt Rainer Piepmeier Simmel auf den Punkt, zur Landschaft im Moment der Wahrnehmung: »Zum Sehen von Natur als Landschaft gehört korrelativ ein Subjekt, das Natur in einem konstitutiven Akt des Sehens zur Landschaft macht«303. Joachim Ritter schließt sich in seinem berühmt gewordenen Aufsatz ›Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft‹304 Simmels Interpretation an, dass Landschaft individuell sei.305 Für Ritters Theorie ist jedoch – dies sei hier nur angedeutet und wird weiter unten ausgeführt – wesentlich, dass sich die individuelle ästhetische Landschaftswahrnehmung kompensatorisch auf ein allgemeines Naturganzes bezieht. Nach Simmel ist der besondere formende »Blick« untrennbar »ein schauender und ein fühlender«,306 er geschieht in der »betrachtenden Seele«307. Das, was »die Teilstücke zu der Landschaft als einer empfundenen Einheit« zusammen-

300 Raymond 1993: 10. – Im großen ›Historischen Wörterbuch der Philosophie‹ (hrsg. von Joachim Ritter et al.) wird Simmels Landschaftsbegriff sogar mit Cassirers Deskription des »ästhetischen Raumes« erläutert (Petri et al. 1980; vgl. Piepmeier 1980: 15). Cassirer selbst erwähnt allerdings, soweit mir bekannt, Simmels Landschaftsaufsatz von 1913 nicht. Eine wichtige Grundlage scheint er auf keinen Fall gewesen zu sein. Es ist aber davon auszugehen, dass er grundsätzlich Simmels Ansatz kannte, denn Simmel war zunächst Lehrer Cassirers und später sein Kollege (Krois 2010). 301 Rau 2013: 93. 302 Simmel 1913/1957: 142. 303 Piepmeier 1980: 15. 304 Ritter 1963. 305 Siegmund 2012: 89; vgl. Dinnebier 1996: 76 ff. 306 Simmel 1913/1957: 149, Hervorh. i. O. 307 Ebd.: 152.

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bringt, bezeichnet Simmel mit dem Begriff »Stimmung«.308 Diese Stimmung ist eine Eigenschaft, die man weder dem betrachtenden Subjekt noch der betrachteten Gegend allein zuordnen kann: »[M]it welchem Recht [gilt] die Stimmung, ausschließlich ein menschlicher Gefühlsvorgang, als Qualität der Landschaft, das heißt eines Komplexes unbeseelter Naturdinge? Dies Recht wäre illusorisch, bestände die Landschaft wirklich nur aus solchem Nebeneinander von Bäumen und Hügeln, Gewässern und Steinen, aber sie ist ja selbst schon ein geistiges Gebilde, man kann sie nirgends im bloß Äußeren tasten und betreten, sie lebt nur durch die Vereinheitlichungskraft der Seele«309.

Die Stimmung entsteht »in der absoluten Gleichzeitigkeit der optischen Herauslösung und der Stimmung als emotionalem Anteil«, die die dabei konstituierte Landschaft »nahelegt oder die sie auszustrahlen scheint«.310 Der Begriff der ›Stimmung‹ leistet damit bei Simmel das, was Cassirer als ›symbolische Prägnanz‹ der ästhetischen Raumformung beschreibt.311 Beide Eigenschaften von Stimmung,312 einerseits Ausstrahlung eines Gegenstands oder einer Person und andererseits Gemütslage einer Person, sind in Cassirers Theorie zu finden. Ge-

308 Ebd.: 149; vgl. Dinnebier 1996: 47. – Zur Bedeutungsgeschichte von ›Stimmungslandschaft‹ vgl. Lobsien 2001: 628 f.; zur ›Stimmung‹ in romantischer Landschaftsästhetik vgl. Siegmund 2011: 262. 309 Simmel 1913/1957: 150; vgl. Trepl 2012: 25; Siegmund 2012: 89. – Manfred

Smuda betont davon abweichend, dass »schon unsere Wahrnehmung mit einer Natur konfrontiert ist, in der einzelne Gegenstände immer in Gruppierungen, in Massen und in strukturierter Organisation auftreten: als Berge, Bäume, Felder, Wolken« (Smuda 1986: 47). Dies sieht er als Beleg dafür, dass wir, wie er mit Dürckheim erläutert, »einen in den Erscheinungen der Natur vorkonstituierten Sinn erfassen« (ebd.: 48). 310 Bohr 2008: 35. 311 Auch Bohr benennt – allerdings ohne Diskussion etwaiger Unterschiede zwischen Cassirers und Simmels Landschaftstheorie – in seiner Cassirerdarstellung den »Träger« der Prägnanzbildung mit der Simmelschen »Stimmung« (Bohr 2008: 33). Cassirer selbst verwendet den Begriff ›Stimmung‹ nicht zentral in seiner Ästhetik, aber gelegentlich ähnlich wie Simmel beispielsweise als augenblickliche, flüchtige Empfindungen des Subjekts, mit denen uns ein lyrischer Dichter in eine »seelische Tiefe« blicken lasse (Cassirer 1942/2007: 389 f.). 312 Gemeint ist hier die allgemeine Wortbedeutung von ›Stimmung‹, wie sie im Duden angegeben ist (Eickhoff 2010).

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nau diese beiden Aspekte müssen für den Augenblick der ›symbolischen Formung‹ (Cassirer) von Landschaft zusammenkommen. 313 Um eine entscheidende Nuance anders versteht der Phänomenologe Otto Friedrich Bollnow (1903-1991) ›Stimmung‹.314 Er misst diesem Begriff für Raumwahrnehmung nicht minder eine Schlüsselrolle zu, gibt ihm jedoch einen anderen Gehalt: Bollnow stellt im »erlebten Raum« zwar ebenfalls eine »doppelseitige Beeinflussung« zwischen der »seelische[n] Verfassung des Menschen« und dem »umgebenden Raum[...]« fest.315 Jedoch geht er davon aus, dass die »Stimmung« »den Menschen in seiner noch ungeteilten Einheit mit seiner Umwelt« betrifft, also »noch vor der Ausbildung einer Scheidung von Objekt und Subjekt«.316 Es wird ein Rückgriff auf ein ganzheitliches Erlebnis vollzogen, das insbesondere vor der aufklärerischen Differenzierung des Subjekts vom Objekt möglich war. Cassirer stellt im Gegensatz zu Bollnow die ästhetische Raumauffassung mit dem Prinzip der symbolischen Prägnanz wie folgt dar: Lebensweltliche Raumerlebnisse und deren Vielfältigkeit können rational reflektiert werden als Zusammentreffen jeweils einer möglichen sinnlichen Perzeption mit einem bestimmten nicht-anschaulichem Sinn. Es handelt sich sozusagen um ein sinnliches Wiederzusammentreffen des kritisch-rational durchaus unterscheidbaren Subjekts mit dem Objekt.317 Bei Bollnow hingegen sind die »Stimmung des menschlichen Gemüts« und die »Stimmung einer Landschaft« überhaupt nicht einzeln benennbar, sondern »streng genommen nur zwei Aspekte des einen einheitlichen Durchstimmtseins«.318 Dies beschreibt Bollnow schon in seinem Grundlagenwerk ›Das Wesen der Stimmungen‹:

313 Bohr beschreibt die beiden Aspekte als Teil eines Erlebnisses (von Landschaft): »Die beiden Bedeutungen von Stimmung als dem Hintergrund der Erlebnisgehalte und als besonderes Gefühl, als Stellungnahme zu den Erlebnisgehalten sind hier [im Landschaftsblick] wechselseitig aufeinander bezogen« (Bohr 2008: 33). 314 Zur Einordnung Bollnows in den Kontext der von Edmund Husserl begründeten phänomenologischen Schule vgl. unter anderem Bohr (2008: 105 ff.). 315 Bollnow 1963: 230. – Bezogen auf diese Grundannahme sehen beispielsweise Smuda (1986: 58 ff.) und Trepl (2012: 25) eine Übereinstimmung zwischen Bollnows mit Simmels Erklärungen. 316 Bollnow 1963: 231. – Bollnow nennt den »erlebten Raum« explizit in Abgrenzung zu Cassirers Typ der theoretischen Raumformung als sein Thema (ebd.: 14 f.). 317 Vgl. Kapitel 2.1; Bohr 2008: 107. – An einer Stelle beschreibt Cassirer selbst eine »phänomenalistische Ansicht« als eine, »die bei der Gegebenheit der bloßen Empfindung stehenbleibt« (Cassirer 1910/2000: 333). 318 Bollnow 1963: 231.

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»Die Welt ist in der Stimmung noch nicht gegenständlich geworden, wie nachher in den späteren Formen des Bewußtseins, vor allem im Erkennen, sondern die Stimmungen leben noch ganz in der ungeschiedenen Einheit von Selbst und Welt, beides in einer gemeinsamen Stimmungsfärbung durchwaltend. […] Man spricht damit nicht etwa der Landschaft eine Seele zu, sondern meint das gemeinsame, Mensch und Welt zusammen umgreifende Durchzogensein von einem bestimmten Stimmungsgehalt«319.

Auch wenn dieser Ansatz für sich allein genommen der Landschaftskonstitution nach Simmel und Cassirer zunächst ähnlich erscheint, kommt Bollnow doch unter vollkommen anderen Prämissen zu diesem Ergebnis, denn Subjekt und Objekt sind seiner Theorie nach in der Stimmung nicht voneinander getrennt und trennbar. Dieser Unterschied hat wesentliche Konsequenzen. Insbesondere ist eine Pluralität an Wahrnehmungen einer Gegend als Landschaft mit Bollnows Ansatz schwer zu erklären, da im Moment der ganzheitlichen Erfahrung das individuelle oder kulturspezifische Zuschreiben von Bedeutung nicht erkennbar ist. Bollnow geht an anderer Stelle sogar einen Schritt weiter und stellt den »eigentümlichen Stimmungscharakter« des Raumes als maßgeblich für die Wahrnehmung heraus; der Stimmungscharakter des Raumes, »der sich uns aufdrängt und der unser Gemüt ergreift, so dass es sich in diese Stimmung selber mit einstimmt«, weil die den Charakter prägenden Qualitäten »als solche, rein phänomenal« dem Raum »zukommen«.320 Es erstaunt nicht, dass Bollnow den Bezug der Stimmung der Landschaft auf die Stimmung des Subjekts nicht näher erklären, sondern nur konstatieren kann, dass die wechselseitige Beziehung auf eine »eigentümliche Weise« geschehe.321 Cassirer wendet sich in seiner Raumtheorie 319 Bollnow 1941: 21 f. – Michael Großheim spricht von einem »Primat der erlebten Landschaft« in der Phänomenologie gegenüber dem abstrakten Gegenstand Landschaft (Großheim 2005: 53). 320 Bollnow 1963: 234. – Jörn Bohr interpretiert Bollnows Aussage, der erlebte Raum verändere sich für den einzelnen Menschen »je nach seiner jeweiligen Verfassung und Gestimmtheit« (ebd.: 20), sogar so: Der erlebte Raum sei letztlich ein subjektunabhängiger »gleichbleibend gedachte[r] Raum«, den die verschiedenen Gemütslagen der Menschen lediglich »in jeweils anderem Licht erscheinen lassen« (Bohr 2008: 107). Bohr sieht also in Bollnows Theorie einen vom Betrachter unabhängigen Raum, der im Betrachten nur verschiedene Schattierung bekommen kann. 321 Der »Mensch ist einbezogen in das Ganze der Landschaft, welches wiederum nichts losgelöst Bestehendes ist, sondern in eigentümlicher Weise auf den Menschen zurückbezogen ist« (Bollnow 1941: 22). – Gernot Böhme befasst sich in seiner eingehenden phänomenologischen Theorie der Atmosphären auch mit Räumen. Er stellt über Bollnow hinausgehend fest, dass Atmosphären deswegen »quasi aus dem ver-

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zwar auch dem konkreten Leben (nicht den logischen Denknotwendigkeiten) zu,322 jedoch in kritisch-reflektierender Weise, nicht in ganzheitlich fühlender Anschauung: Die Cassirer’schen symbolischen Formungen können das angeschaute Räumliche in vielfältiger Weise ordnen und lassen damit auch nicht die ästhetischen Auffassungen in einer »vordifferenziellen Einheit«323 verschmelzen. Zum Sinnbezug bei der ästhetischen Formung Wie Cassirer die Gegenstände der ästhetischen Auffassung beschreibt, analysiere ich im Folgenden hinsichtlich ihres Sinnbezugs näher. Bisher habe ich als entscheidende Aspekte, die den ästhetischen Blick und damit den Raum formen, Gefühle und Bedeutungen – nicht-anschauliche Sinngehalte – nur genannt. Was sie im Einzelnen sind und wie ihr Verhältnis untereinander ist, darauf gehe ich nun ein. Zunächst ist festzustellen, dass Cassirer die ästhetische Wahrnehmung, über die Benennung der visuellen Oberfläche als Gegenstand hinaus, auch negativ nünftig Sagbaren« herausfielen, weil sie »weder rein objektiv noch rein subjektiv sind« (Böhme 1985: 199 f.). Über diese in vielen unterschiedlichen Theorien formulierte Feststellung (siehe oben) hinaus behauptet er eine »Quasi-Objektivität von Atmosphären« (ebd.: 200). Bei einer heiteren Landschaft und ähnlichen Charakterisierungen handle es sich um keine »Färbung der Wahrnehmung durch die eigene innere Stimmung« (ebd.: 199), vielmehr erschienen die Atmosphären als »Gefühlsmächte« (ebd.: 200, Hervorh. i. O.). Böhme plädiert letztlich für eine »Rehabilitation der Atmosphären«, die dem von »rationale[n] Erwägungen und aufgeklärte[m] Reden[...]« (ebd.: 204) geprägten Leben gegenüberstehen, es aber entschieden bereichern könnten (ebd.: 206). Böhmes Atmosphärenbegriff entspricht weitgehend dem einer modernen mythischen Formung im Sinne Cassirers (siehe Kapitel. 3.1.2). 322 Vgl. Kapitel 2.1; unter anderem Cassirer 1930/1985b: 105. – Cassirers ästhetische Raumformung ist demnach nicht »Projektionismus« oder »Konstellationismus« vorzuwerfen, was die zwei wesentlichen Grundgedanken von Landschaftstheorien wären, denen Michael Großheim in seiner Kritik den phänomenologischen Ansatz gegenüberstellt (Großheim 2005: 327 ff.). 323 Konersmann 2003: 86. – Bohr meint sogar, dass Cassirer »einfach eine andere Fragestellung als die Phänomenologien des Raumes verfolgt« und »auch mit ganz anderen Voraussetzungen arbeitet« (Bohr 2008: 112). Denn erstens fragt Cassirer nach den kulturellen »Sinnordnungen des Raumes«, nicht nach »psychologischen« Erkenntnissen über den Menschen im Allgemeinen und zweitens geht er im Gegensatz zu Bollnows »Homogenisierung des gelebten Raumes« (im einheitlichen Durchstimmtsein) von einer »prinzipiellen Pluralität« kulturell unterschiedlich geprägter Raumauffassungen aus (ebd.: 108 ff.; vgl. Kapitel 2).

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abgrenzt: Im ästhetischen Blick wird nicht »die metaphysische Tiefe der Dinge«324 ergründet. Dies veranschaulicht Jörn Bohr mit seiner Interpretation von Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux als religiöse Raumauffassung mit Hilfe von Cassirers Theorie:325 Petrarcas Beschreibung der Bergbesteigung sei deshalb kein Zeugnis der ersten »Entdeckung der landschaftlichen Schönheit«, weil dort von einer durchweg religiösen Auseinandersetzung mit der Außenwelt berichtet wird. 326 Die Elemente der Wanderung (Emporgehen, Begegnungen, Gipfelerlebnis etc.) drücken bei Petrarca allein religiöse Sinngebungen aus. So etwas wie »Perspektive, Räumlichkeit und Staffelung«327 oder andere bildliche Strukturen ohne theologische Deutung werden nicht beschrieben. Ein transzendenter Sinn als Basis der Raumauffassung ist Kern einer mythischen oder religiösen symbolischen Formung und widerspricht der ästhetischen. Wenn also keine transzendente, welche Art von Sinndeutung wird in Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ dann bei der ästhetischen Auffassung mit der Wahrnehmung verknüpft? Wesentlich ist der Aspekt der Subjektivität der Empfindungen, die für die ästhetische ›Raumformung‹ (Cassirer) bestimmend sind. Ästhetisch verknüpft der Betrachter – idealtypisch der Künstler – nicht das Angeschaute mit einem transzendenten Sinn, also mit etwas jenseits der Welt (höheren mythischen Mächten, Gott etc.), sondern mit Emotionen, die immanent nur auf ihn selbst verweisen: Die Fixierung der Erscheinungen durch die Kunst ist »[…] weder Nachahmung der materiellen Dinge noch ein bloßer Ausdruck mächtiger Gefühle. Sie ist Deutung von Wirklichkeit – nicht durch Begriffe, sondern durch Anschauungen; nicht im Medium des Gedankens, sondern in dem der sinnlichen Formen.«328

In dieser ästhetischen Form werden unsere »Leidenschaften« so »verwandelt«, dass sie »ohne Zwang wirksam werden können«:329 Diese Emotionen geben die Bedeutung und den Wert wieder, die der Raum für das Subjekt hat, also seinen Sinn.330 Diese Raumauffassung zeigt sich als eine symbolische Formung, das 324 Cassirer 1944/2007: 242. 325 Bohr 2008: 48 ff. 326 Ebd.: 55. 327 Ebd. 328 Cassirer 1944/2007: 226. 329 Ebd.: 229. 330 »Sinn« ist bei Cassirer, wie ganz allgemein, zu verstehen als »der Wert und die Bedeutung (das Interesse), die eine Sache oder ein Erlebnis für mich oder für andere hat« (Schmidt & Schischkoff 1991: 667).

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heißt eine bestimmte Art, in der wir uns Raum in der Anschauung mit nicht-anschaulichen Bedeutungen strukturieren. Das Symbolische an der ästhetischen Formung ist, so gibt Cassirer an, »als Immanenz, nicht als Transzendenz« zu verstehen.331 Der Sinn ist also primär etwas rein subjektives, dessen Prägung durch die Sinngebung, die von Gesellschaft oder Kultur vorgenommen wird, den sekundären Kontext bildet. Cassirer beschreibt in seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ jede ästhetische Formung als eine Art von Sinngebung, wie etwa in folgenden Passagen: Eine »Zeichnung« »[a]ls Ornament betrachtet […] besitzt in sich selbst ihren Sinn, der sich nur der reinen künstlerischen Betrachtung, der ästhetischen ›Schau‹ als solcher, erschließt«332. Wir können also gewisse »räumliche Formen, gewisse Komplexe von Linien und Figuren, in dem einen Fall als künstlerisches Ornament, in dem anderen als geometrische Zeichnung auffassen und kraft dieser Auffassung ein und demselben Material einen ganz verschiedenen Sinn verleihen«333.

Ästhetische Sinngebung hat bei Cassirer insbesondere keinen moralischen Bezug: »Ästhetisches Erleben – Betrachtung oder Kontemplation – unterscheidet sich als geistige Haltung von der Kühle unseres theoretischen oder der Nüchternheit unseres moralischen Urteils. Es ist erfüllt von den lebhaftesten Leidenschaften.«334

Der immanente symbolische Sinnbezug ist einer der wesentlichen Unterschiede der ästhetischen gegenüber der mythischen Raumauffassung. Der mythische Raum wird ebenso wie der ästhetische aufgrund von emotionalen Atmosphären der besonderen Richtungen geformt. Jedoch besteht der jeweilige ›Zauberhauch‹ (Cassirer) im Mythischen durch einen Verweis auf eine höhere Macht, einen zusätzlichen, von außen auf den Betrachtenden einwirkenden Hintersinn. Ästhetisch dagegen erscheinen die Raumstrukturen und deren Atmosphären dem Wahrnehmenden durch einen Sinn geformt, der aus seiner eigenen, subjektiven Innenwelt stammt. Eine Gegend ästhetisch als Landschaft wahrzunehmen, bedeutet damit eine Einheit in der Wahrnehmung zu bilden, aber nicht transzendent 331 Cassirer 1944/2007: 242. – Diese Immanenz stellt auch Oswald Schwemmer in seiner Bildtheorie dar (Schwemmer 2005: 159). 332 Cassirer 1929: 233. 333 Cassirer 1923: 30. 334 Cassirer 1944/2007: 226; vgl. Siegmund (2011: 14) unter Bezug auf Panofsky (1920).

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eine dem höheren Sinn folgende Einheit (sich dem »Göttlichen«335 oder einer »verlorenen ganzen Natur«336 zuwendend), sondern immanent eine »strukturelle Einheit«337 aufgrund »des reinen Gefühls und der Phantasie«338, die sich im Akt der Landschaftsbetrachtung der Selbstreflexion unterziehen.339 Die individuelle Sinngebung kann aber durchaus geprägt sein von allgemeinen kulturellen Bedeutungen und Ideen und ist dies auch in der Regel – darauf komme ich weiter unten zurück. Die Herkunft aus der subjektiven Innenwelt heißt vor allem, dass das betrachtende Subjekt sich die Ordnung des Raumes durch bestimmte Sinnverweise – auch, wenn diese prinzipielle Möglichkeit lebensweltlich oft nicht im Vordergrund steht – selbstreflexiv erklären kann und letztlich als willentlich beeinflussbar erfährt. Die Schönheit, so Cassirer, scheint »durch keinerlei Aura von Geheimnis und Rätselhaftigkeit« »verdunkelt« zu sein, »und es bedarf keiner subtilen, komplizierten metaphysischen Theorien, um ihren Charakter und ihre Natur zu erklären«; Schönheit »ist greifbar und unverkennbar«.340 Damit unterscheidet sich Cassirers ausdrücklich immanente ästhetische Raumauffassung von ähnlichen Theorien, etwa der von Joachim Ritter, in denen letztlich eine transzendente Sehnsucht nach dem Naturganzen Landschaft konstituiert. 341 Simmel stellt hingegen analog zu Cassirer fest, dass der ästhetische Eindruck nicht mehr rein, sondern mit einem mystischen durchwachsen sei, sobald der Blick – beispielsweise der Anblick der Alpen – ins Überirdische verweise.342 335 Ritter 1963: 10. 336 Ebd.: 47. 337 Cassirer 1944/2007: 250. 338 Cassirer 1930/1985b: 106. 339 Vgl. Bohr 2008: 35. 340 Cassirer 1944/2007: 212. – Cassirer verwendet ›Aura‹ meiner Interpretation nach in allgemeiner Bedeutung, nicht in der speziellen Walter Benjamins, der mit der »Aura« eines Kunstwerks oder einer Landschaft das einmalige, flüchtige Dasein, das »Hier und Jetzt«, die »Echtheit« meint, die bei der technischen Reproduktion ausfällt (Benjamin 1974: 477). Cassirer meint wohl eher ›Aura‹, wie Theodor W. Adorno sie in einer Umdeutung Benjamins beschreibt, als das, »wodurch der Zusammenhang […] [der] Momente [des Kunstwerks] über diese hinausweist« und als das »objektive Bedeuten«, das die Natur wesentlich zu einem Kunstwerk macht (Adorno 1970: 408 f.). 341 Bei Ritter macht die subjektive Wiedergewinnung des verschwundenen Naturganzen »Landschaftserfahrung erst zu einer sinnstiftenden Erfahrung« (Siegmund 2012: 90; in diesem Sinn auch Trepl 2012: 57 ff.). 342 Simmel 1911/2001: 164.

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Ästhetische Auffassung ist primär bildhaft Ein wesentliches Merkmal der ästhetischen Auffassung – im Gegensatz zu mythischen oder theoretischen Formungen – einer Gegend ist Cassirer zufolge die Bildhaftigkeit der Eigenschaften: Das Spiel von Licht und Schatten oder der Kontrast der Farben343 wird wesentlich visuell ästhetisch wahrgenommenen,344 nicht durchlebt und unterschwellig erspürt oder lediglich gehört und gerochen 345 und ebenso nicht als materieller oder moralischer346 Gegenstand interpretiert. 343 Das ist für Cassirer, wie oben genannt, die »Oberfläche der Naturerscheinungen« (Cassirer 1944/2007: 242). 344 Auch bei Georg Simmel ist Landschaft eine »Formung« (Simmel 1913/1957: 146) »nach Sinn und Einheit« (ebd.: 148), die sich im empfindenden »Sehen« (ebd.: 147) vollzieht. Sie ist also anschaulich und »ihre Anschaulichkeit selbst« kann nicht »mit Begriffen« beschrieben werden (ebd.: 151). Joachim Ritters Interpretation von Simmels Landschaftsbegriff ist in Fußnote 37 seines Landschaftsaufsatzes zu finden (Ritter 1963: 41 f.). Ein Hauptkritikpunkt Martin Seels an Ritters Landschaftstheorie ist gerade der »Kult der ›ganzen‹ Natur«, der nicht tragfähig für eine umfassende Analyse aktueller Landschaftsbegriffe sei (Seel 1996: 228 f.; vgl. Siegmund 2012: 92). Ritters Theorie erklärt zwar Wesentliches der Genesis, der Entstehung des ästhetischen Blicks, nicht jedoch hinreichend die Geltung des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. 345 Die zur Ästhetik von Landschaft forschende Antonia Dinnebier veranschaulicht das Primat des Sehens vor dem Hören, Riechen und Fühlen überzeugend wie folgt: »Eine völlig stille, unspezifisch riechende Gegend, in der nichts berührt wird, kann als Landschaft wahrgenommen werden« (Dinnebier 2004a: 62; vgl. Trepl 2012: 21 f.). Ihre Auswertung zeitgenössischer alltäglicher Aussagen zum Landschaftsverständnis fasst Dorothea Hokema so zusammen: »Insgesamt sprechen die empirischen Daten […] dafür, dass Landschaft in der individuellen Vorstellung auch wieterhin als Bild konstituiert wird und dass als zentrales Mittel der Landschaftserfahrung die visuelle Wahrnehmung gilt. Weitere sinnliche Eindrücke begleiten die Landschaftswahrnehmung, ohne die Bedeutung des Sehsinnes zu erreichen« (Hokema 2009: 257, vgl. 254 ff.). 346 Eine Interpretation von Landschaft nicht primär als Bild, sondern als die reale Gegend, die etwas Moralisches ausdrückt, führt beispielsweise Ludwig Trepl an: »Im klassisch-konservativen Denken […] fällt die Schönheit der Landschaft mit der Vollkommenheit der realen Gegend zusammen. […] Die wahrhaft schöne Landschaft sieht nicht nur vollkommen aus, ist nicht nur im Auge des Betrachters harmonisch und symbolisiert die vollkommene Harmonie, sondern sie ist vollkommen und sie ist Ausdruck gelungener kultureller Entwicklung« (Trepl 2012: 159, Hervorh. i. O.).

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Das schließt innerhalb Cassirers Theorie nicht aus, dass andere Sinneswahrnehmungen über das Sehen hinaus bei der Landschaftswahrnehmung eine (sekundäre) Rolle spielen können.347 Beispielsweise kann in der heutigen Zeit Verkehrslärm für ein Landschaftserlebnis störend sein.348 Nichtvisuelle Empfindungen sind, in der Differenzierung des Philosophen Martin Seel, insbesondere bei Naturwahrnehmungen störend, die mit unseren Vorstellungen von einem ›guten Leben‹ korrespondieren.349 Nach Bollnow kann dagegen nicht von einem Primat des Sehens gesprochen werden: Das menschliche Gemüt und die Landschaft sind »durchstimmt«, ohne dass der Sehsinn dabei wesentlich wäre.350 Bildlichkeit impliziert einen Komplex an Eigenschaften des ästhetischen Raumes. Cassirer thematisiert diese mit der Darstellungsfunktion dieser symbolischen Formung. Was damit gemeint ist und wie wesentlich dabei das Moment der Reflexion ist, zeichne ich im Folgenden nach. (2) Wie wird ästhetisch Raum geformt? – Darstellung als wesentliche Funktion der symbolischen Formung beim ästhetischen Raum Der ästhetische Raum ist bei Cassirer zunächst der Raum, »wie er sich in den einzelnen bildenden Künsten, in der Malerei, der Plastik, der Architektur konstituiert«351. Dabei ist ein besonderer Aspekt der ästhetischen Form offenkundig: Bildende Künstler sehen und erleben Raum nicht nur, wie jeder Alltagsmensch oder jeder mythisch Empfindende, sondern stellen Raum dar, beispielsweise zweidimensional in einem Gemälde oder räumlich in einer Plastik. Das handwerkliche Können ist dabei nicht entscheidend (wenn auch Voraussetzung), denn ein Künstler »porträtiert oder kopiert nicht einen bestimmten empirischen Gegenstand – eine Landschaft mit ihren Hügeln und Bergen, ihren Bächen und Flüssen«352. Vielmehr zeigt sich das künstlerische Talent in der gestalterischen Fähigkeit, beispielsweise Farben so in einer bestimmten Anordnung und mit bestimmten Tonnuancen auf eine Leinwand zu bringen, dass sie eine »Atmosphäre« wiedergeben – bei einem Landschaftsgemälde die Atmosphäre, in der dem

347 Vgl. Hard 1995: 144. 348 Vgl. Zimmermann 2012: 65. 349 Seel 1996: 154 f. – In Martin Seels Naturästhetik nimmt vor allem bei der kontemplativen, deutungsfreien und imaginativen Wahrnehmung das Sehen eine Führungsrolle ein (ebd.: 48 ff., 155 f.). 350 Bollnow 1963: 231. 351 Cassirer 1930/1985b: 105. 352 Cassirer 1944/2007: 223.

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Künstler eine Gegend erscheint.353 Die künstlerische Darstellung ist dabei die »sichtbare oder greifbare Verkörperung« von Empfindungen »nicht einfach in einem bestimmten materialen Medium – in Ton, Bronze oder Marmor –, sondern in sinnlichen Formen, in Rhythmen, in Farbstrukturen, in Linien und Zeichnung, in plastischen Formen«, denn erst durch »die Struktur, das Gleichgewicht, die Ordnung dieser Formen wirkt das Kunstwerk auf uns.«354 Der Künstler stellt seine individuell empfundenen Formen dar Diese bildliche Darstellung ist dabei »keineswegs ein bloßes passives Nachbilden der Welt«355. Cassirers Begriff der ›Darstellung‹ impliziert entscheidend mehr als die bloße materielle Dokumentation von unreflektierten Eindrücken. Denn ihr ist – im Gegensatz zum ›dramatischen‹, zwingenden mythischen Ausdruck (›Zauberhauch‹) eines Raumes, der sich ebenfalls mit einem Bild bekunden lässt – eine aktive Gestaltung und dabei ein gewisser »Freiheitsgrad«356 wesentlich. Aus »dem Blickwinkel der Kunst«, so Cassirer, ist es »völlig illusorisch«, dass zwei »dieselbe« Landschaft malen, also »ein und denselben Gegenstand zum Thema gewählt« haben, – selbst wenn sie das angesichts desselben Raumausschnittes zur selben Zeit tun.357 Denn zum einen präsentiert der Künstler keine allgemeine, sondern seine individuelle und augenblickliche ästhetische Erfahrung der Gegend, mithin die Zusammenhänge und Gegensätze der oberflächlichen Strukturen, die sich ihm in Korrespondenz zu seinen Emotionen zeigen. Zum anderen empfängt er die ästhetische Atmosphäre einer Landschaft nicht einfach nur im Sehen, sondern er entdeckt und empfindet sie entscheidend auch im Ereignis des Malens, in der »ästhetischen Kreativität«358. Es ist »die Art 353 Ebd. – Der Begriff ›Landschaft‹ ist im Übrigen als »ein Fachterminus der Malerei« entstanden, neben der (älteren) Bezeichnung für eine soziale, vor allem rechtliche Besonderheiten aufweisende Region (Trepl 2012: 31 f.; vgl. Gruenter 1953: 193 ff.; Bartilla 2005: 45; Drexler 2011: 19). 354 Cassirer 1944/2007: 237. 355 Cassirer 1930/1985b: 105, Hervorh. i. O. – Dinnebier weist in ihrer kulturgeschichtlichen Untersuchung darauf hin, dass die »Landschaft« der Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts »keine rein empirisch gewonnene« war, dass die Natur »nicht abgemalt« wurde. Die Gemälde »sind vielmehr als weitgehend frei erfunden, als konstruiert zu betrachten, denn die Natur lieferte zwar das ›Rohprodukt‹, aus dem der Künstler aber erst die ›Landschaft‹ ›komponiert‹« (Dinnebier 1996: 192, mit Zitaten von Josef Gramm 1912: 1, 15; vgl. Burckhardt 1977: 10 f.; Trepl 2012: 97). 356 Cassirer 1930/1985b: 106. 357 Cassirer 1944/2007: 223. 358 Ebd.: 245.

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und Richtung der künstlerischen Gestaltung«, aus der die individuelle Anschauung der Gegend erst entsteht.359 Malweise und Bildkomposition sind für den Landschaftsmaler also »nicht bloß Teil seines technischen Instrumentariums«, die ihm zu möglichst guter Nachahmung objektiver Wirklichkeit verhelfen; »sie sind vielmehr unabdingbare Bestandteile des schöpferischen Prozesses selbst«, in dem er seine subjektive Ansicht der Gegend entwickelt. 360 Kunst ist »expressiv« – sie drückt Empfindungen aus – aber nicht ohne »gleichzeitig formend und bildend« zu sein; die Empfindungen entstehen im Prozess der Gestaltung. 361 Die »Natur des Ästhetischen« schließt zwischen dem »Ausdrucksmoment« und dem »Darstellungsmoment« »jede Beziehung der einseitigen und einsinnigen Abhängigkeit« aus, die beiden Momente erweisen sich als »nicht trennbar«.362 Dieses Ineinandergreifen von Ausdruck und Gestaltung (Wiedergabe der »durch die Seele des Künstlers« empfundenen »wirklichen Objekte«) ist die »eigentümliche schöpferische Funktion« der Kunst,363 die Cassirer unter dem Begriff ›Darstellung‹ fasst.364

359 Cassirer 1927/1985: 20, Hervorh. i. O. 360 Cassirer 1944/2007: 218. – Cassirer beschreibt den schöpferischen Prozess an anderer Stelle wie folgt: »Um höchste Schönheit zu erzielen, ist die Abweichung von der Natur ebenso wesentlich wie ihre Nachbildung. Das Maß, den richtigen Grad solcher Abweichung zu bestimmen, wurde eine der Hauptaufgaben der Kunsttheorie« (ebd.: 215). 361 Ebd.: 218; vgl. ebd.: 225. – Cassirer stellt den Zusammenhang von Empfindung und Darstellung nicht nur für die bildende Kunst fest, sondern auch für die literarische Kunst: »Ohne Shakespeares Sprache, ohne die Kraft seiner dramatischen Rede bliebe das alles wenig beeindruckend. Der Kontext einer Dichtung läßt sich von seiner Form nicht trennen – von Vers, Melodie und Rhythmus. Dieser Formelemente sind nicht vor allem äußerliche oder technische Mittel, um eine bestimmte Intuition wiederzugeben; sie sind vielmehr Grundbestandteile der künstlerischen Intuition selbst« (ebd.: 239). 362 Cassirer 1927/1985: 18. – Oswald Schwemmer formuliert diesen Zusammenhang in seiner Bildtheorie in folgender Weise: »Im Bild, so können wir sagen, geht ›das Bild als Vorkommnis, als Ereignis‹ in das Bild als Konfiguration, als Form auf.« Diese Form legt in gewisser Weise ein »Zeugnis« von dem Vorkommnis ab, aber auch »das Erreichen der Form im Malen des Bildes« selbst gibt es »nur als Ereignis« (Schwemmer 2005: 192, mit Zitaten von Jean-François Lyotard 1984: 154). 363 Alle Zitate in diesem Satz sind aus Cassirer (1942/2007: 443). 364 Manfred Smuda hingegen beschreibt den »Ausdruckscharakter« von »Landschaft« in der phänomenologischen Deutungstradition, der auch Bollnow zuzurechnen ist

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Indem die Darstellung als wesentliche Funktion erkannt ist, kann nun verständlich werden, was Cassirer mit der Aussage meint, dass man ästhetisch Raum nach »fundamentalen Strukturelementen unserer sinnlichen Erfahrung«365, also in Formen begreife – »in einer Welt reiner Sinnesformen«366: Die Formen sind Ausgangspunkt und Produkt der Darstellung zugleich. Was bedeutet das? Das Spiel von Licht und Schatten oder der Kontrast der Farben etc. sind derartige Formen.367 Diese sind weder die »unmittelbare[...] dingliche[...] Wirklichkeit«, noch sind sie nur vom Dinglichen gelöste Gefühlsregungen oder gar Zeichen für einen transzendenten Sinn.368 Vielmehr wird ästhetisch »die Macht der Leidenschaft zu einer bildenden, formenden Kraft« im Werk des Künstlers.369 Die Darstellung zeigt nicht einfach Sichtbares, sondern »sichtbar Gemachtes«370, sichtbar gemachte individuelle Empfindungen und Bedeutungen. Kunst ist »Vergnügen an Formen«, was »etwas ganz anderes als Freude an Dingen oder Sinneseindrücken« ist, denn »Formen prägen sich nicht umstandslos unserer Wahrnehmung ein; wir müssen sie hervorbringen, um ihre Schönheit zu empfinden.«371 Der Landschaftsmaler bringt sie als Gemälde hervor. Er »gibt uns eine Anschauung von der Form der Dinge«372. Erwin Panofsky, Kunsthistoriker und zeitweise Kollege Ernst Cassirers in Hamburg, legt Cassirers Kerngedanken seiner eigenen Ästhetiktheorie zugrunde, in der er »die Ideen, die im Kunstwerk bildliche Gestalt annehmen, als Zeugen geistiger Symbolkraft« begreift.373 Darstellung bedingt Reflexion Mit ›Darstellung‹ in Cassirers Sinne lässt sich, so haben wir bis hierher gesehen, die handwerkliche Technik des bildenden Künstlers, verbunden mit der Gestaltung von Formen, mit der er seine Empfindungen findet und ausdrückt, treffend charakterisieren. Dass die ästhetische Raumauffassung dabei ein entscheidendes Moment enthält, nämlich Reflexion über die eigene symbolische Formung, zeige ich im Folgenden. (siehe oben) als etwas, das ihr unabhängig vom betrachtenden Subjekt anhaftet, etwas, »mit dem sie sich präsentiert und so auf uns wirkt« (Smuda 1986: 56). 365 Cassirer 1944/2007: 242. 366 Ebd.: 229. 367 Ebd.: 242. 368 Ebd.: 229. 369 Ebd. 370 Schwemmer 2005: 159. 371 Cassirer 1944/2007: 245. 372 Ebd.: 221. 373 Heidt Heller 1999: 168; vgl. Panofsky 1920: Panofsky 1927/1980: 108.

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Im schöpferischen ästhetischen Prozess – das wurde schon deutlich – überlässt sich der Mensch »nicht einfach der empirischen Beobachtung und der Masse der Einzelfälle«374. Künstler ist vielmehr der, der »Wesentliches vom Unwesentlichen, Notwendiges vom Zufälligen« scheidet375 und zwar so, dass für diese Unterscheidungen bestimmte Inhalte seiner eigenen Auffassung, seiner Empfindung und Charakterisierung maßgeblich sind. Diese subjektive Auffassung gestalterisch sichtbar zu machen, ist zentral bei der ästhetischen Intention. 376 Ein Bild zeigt die »eigene schöpferische[...] Kraft«377. Grundvoraussetzung dafür ist Freiheit – Freiheit von unmittelbar wirkenden »mythischen Grundaffekten« wie unreflektierte »Hoffnung und Frucht«, von »magische[m] Hingezogen- und Abgestoßenwerden« etc.378 Damit ästhetischer Raum als Landschaft geformt werden kann, so ist ergänzend zu Cassirer anzufügen, muss nicht nur emotionale Freiheit von mythischen Bestimmungen bestehen, sondern auch »Freiheit von der Notwendigkeit, das Land zu bearbeiten« und Freiheit von den damit verbundenen praktischen »Naturzwängen«, wie der Landschaftstheoretiker Ludwig Trepl herausstellt.379 Erst wenn, so Cassirer weiter, die Eindrücke, die zunächst »aus den Kräften des reinen Gefühls und Phantasie« entstehen, in eine Distanz, in »eine Ferne vom Ich« gerückt sind,380 kann der Kunstschaffende entscheiden, was Inhalt seines Werkes sein soll und welche Sinngebungen für ihn bestehen. Die ästhetische Darstellung ist ein »neues Verhältnis, in das sich der Mensch zur Welt setzt«381. Die sinnlichen Phänomene repräsentieren nun einen subjektiv variablen Sinn und drücken nicht mehr eine allgemeine mythische Sinngebung aus.382 Die individuelle Entscheidung über den Inhalt des Werkes geschieht nicht intellektuell-analytisch bewusst, son374 Cassirer 1942/2007: 443. 375 Ebd. 376 Der Künstler verändert, so stellt Cassirer unter Bezug auf den Philosophen Hippolyte Taine (1865) dar, beispielsweise »das Verhältnis der Teile des menschlichen Körpers in seiner Wiedergabe« stets »mit einer bestimmten Absicht«: Er will »den Grundcharakter des Gegenstandes, irgendeine hervorstechende und bemerkenswerte Eigenschaft, einen wichtigen Gesichtspunkt, einen Hauptzug an ihm« offenbaren (Cassirer 1942/2007: 442). 377 Cassirer 1925: 320. 378 Cassirer 1930/1985b: 106; vgl. Bohr 2008: 30. 379 Trepl 2012: 60 unter Bezug auf Piepmeier 1980: 16; vgl. Ritter 1963: 18; Heimann 1920: 229. 380 Cassirer 1930/1985b: 106. 381 Ebd.: 105, Hervorh. i. O. 382 Vgl. Graeser 1994: 77.

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dern im schöpferischen Prozess, also im Spiel mit den Formen und im gestalterischen Hervorbringen des Werkes. Ästhetische Formung bedeutet nicht schlichtes Abbilden, sondern ist ein Prozess sowohl der absichtslosen Entdeckung als auch der bewussten Entwicklung einer Vorstellung, in dem man eine gewisse Distanz zur unmittelbaren Empfindung gewinnt. So entdeckt und entwickelt ein Maler beispielsweise oft aus einer Überblicksposition – einer Position, die praktische Distanz schafft – eine Vorstellung von einer Gegend als Landschaft.383 »Maßstab für die Vortrefflichkeit von Kunst« ist, so Cassirer, der »Grad der Intensivierung und Erhellung« der Empfindungen, die das Werk leistet 384 – nicht der Grad der »Nachahmung« von Wirklichkeit, sondern der der »Entdeckung von Wirklichkeit«, wobei dies nicht die Wirklichkeit ist, die der Naturwissenschaftler meint, sondern die individuelle Wirklichkeit, die sich in einer empfindenden Anschauung als Form der Dinge zeigt. 385 Eben in diesem Sinne stellt der romantische Landschaftsmaler Caspar David Friedrich fest, dass »[n]icht die treue Darstellung von Luft, Wasser, Felsen und Bäumen« die Aufgabe des »Bildners« sei, sondern »seine Seele, seine Empfindung soll sich darin widerspiegeln«, und dabei soll der »Geist der Natur« erkannt und wiedergegeben werden.386 Dieser schöpferische Prozess, als Handlung betrachtet, hat zwei Antriebskräfte: Zum einen bringt der Künstler eine Vorstellung von Bedeutungen (individuellen Sinngebungen) mit; zum anderen reagiert er während des Darstellungsprozesses auf das, was er bereits vergegenständlicht hat (beispielsweise Teile des Gemäldes). Denn die Vorstellung vergegenständlicht als Kunstwerk ist immer gleich 383 Kulturgeschichtlich wird der »Über-Blick aus der Distanz, meist von ›oben‹ nach ›unten‹: von Bergen und Türmen aller Art« als ein wichtiger Schritt in der ästhetischen Wahrnehmung von Natur beschrieben, der sich im späteren 18. Jahrhundert zu einer der wichtigen Sehformen des aufstrebenden Bürgertums (im Zuge von säkularisierten, antihöfischen Haltungen) entwickelt und besonders im aufkommenden Tourismus ausgeübt wird (Großklaus 1983b: 270; vgl. Koschorke 1990: 157; Pikulik 2000: 264; Trepl 2012: 115 f.). Orte in exponierter Lage werden für touristische Landschaftserlebnisse ausgewiesen oder sogar durch Aussichtsplattformen technisch hergestellt (siehe unter anderem Großklaus 1983a: 190 f.; Speich 2002). 384 Cassirer 1944/2007: 228. 385 Ebd.: 220 f. 386 Caspar David Friedrich um 1830 zit. n. Hinz 1984: 104. – Piepmeier sieht gar bei Friedrich ein »Übergewicht des Inneren«, mit dem er weitgehend von der äußeren Gegend absehend, Landschaft »aus der Kraft des Inneren neu schafft« (Piepmeier 1980: 18). Dem widerspricht allerdings, dass Friedrich vielfach ausgedehnte Wanderungen unternahm und dabei »genaueste[...] Naturbeobachtung und Detailtreue« in Skizzen dokumentiert hat (Piechocki 1996/1999: 24).

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auch »Gegenüber-Stellung« dadurch, dass das Gebildete ein »eigenes Sein« hat.387 Dieses Reagieren und Entdecken während der Tätigkeit der ästhetischen Darstellung enthält eine entscheidende Leistung – die Reflexion von subjektiven Empfindungen, die sich in der aktiven Gestaltung, also in der Auswahl und Anordnung von Farben und Strukturen etc., vollzieht und sich dann im Ergebnis (dem Kunstwerk) dokumentiert. Reflexion ist hier nicht im engen Sinn als theoretische Analyse zu verstehen, sondern als ästhetische Funktion, die im Moment des künstlerischen Schaffens mehr oder weniger bewusst ist. »[D]as Auge des Künstlers reagiert nicht einfach auf Sinneseindrücke und gibt sie nicht lediglich wieder. Seine Tätigkeit beschränkt sich nicht darauf, Eindrücke der äußeren Dinge zu empfangen oder festzuhalten und sie auf neue Weise willkürlich miteinander zu kombinieren.«388

Die Größe eines Künstlers zeigt sich also nicht in seiner Empfänglichkeit für Farben oder Strukturen, sondern in seinem Vermögen, »seinem statischen Material ein dynamisches Formenleben zu entlocken«389. Cassirers Darstellung entspricht die Beobachtung, dass beispielsweise die Skizzen und Zeichnungen C. D. Friedrichs, die er bei seinen Wanderungen anfertigte, »Teil eines vielschichtigen Prozesses von Erleben und Reflektieren [waren], ehe in der Einsamkeit seines spartanischen Ateliers die Gemälde entstanden«390. Der Künstler leistet eine Formung der »Empfindungen und Emotionen«, die ohne diesen Akt als bloße »Anhäufung« erscheinen würden.391 Georg Simmel schreibt ebenso vom »formenden Akt«, bei dem das »Anschauen[...] und Fühlen[...]« zum künstlerischen Schaffen führt, wobei sich dies nicht im Akt der Landschaftswahrnehmung selbst, jedoch »in der nachträglichen Reflexion« analysieren lässt.392 Der »konstruktive Prozeß« der Formung besteht (ohne dass dies in diesem Moment der künstlerischen Formung bewusst ist) aus dem Aspekt der »Kontemplation« und aus dem Aspekt der Vergegenständlichung beispielsweise in einem Landschaftsgemälde.393 Wenn Cassirer in dieser Weise von Kontemplation als Ergänzung 387 Cassirer 1930/1985b: 106. 388 Cassirer 1944/2007: 246. 389 Ebd. 390 Piechocki 1996/1999: 24. 391 Cassirer 1944/2007: 246. 392 Simmel 1913/1957: 152. 393 Cassirer 1944/2007: 246. – Cassirer setzt sich ausdrücklich von anderen, in seiner Zeit einflussreichen, »psychologistischen« Theorien wie der Wilhelm Wundts oder

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zur Vergegenständlichung schreibt, meint er offenbar ein (mehr oder weniger theoretisches oder emotionales) gedankliches Reflektieren über die Eindrücke und Empfindungen sowie über das Verhältnis von Ding und Bedeutung. Entscheidend anderes versteht Martin Seel den Begriff ›Kontemplation‹ in seiner Naturästhetik: Er charakterisiert die kontemplative Wahrnehmung des »Spiel[s] der Erscheinungen« als eine, die »bei den Erscheinungen« verweilt,394 also die »reine Phänomenalität« eines Raumes zum Gegenstand hat,395 »ohne darüber hinaus auf eine Deutung zu zielen«396. Sie ist eine reine Betrachtung der Phänomene, die nicht zum »Träger einer strukturierenden Sinnbildung am Gesehenen«397 werden. Der Prozess, der das Erleben mit einem aktiven – nicht theoretischen, aber künstlerischen – Reflektieren verbindet, ist der Kontemplation im Sinne Seels fremd. Cassirer beschreibt in seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹, so lässt sich als Fazit sagen, den ästhetischen Raum als einen, der emotional, aber reflektiert in einer Darstellung aufgefasst wird: Der Künstler empfindet im Sehen beispielsweise einer Gegend eine Atmosphäre, und er formt dabei mit seiner subjektiven Sinngebung die Farbrhythmen, die Linienführungen, die plastischen Formen ästhetisch zu einem Landschaftsgemälde. Diese spezielle Beschreibung des Idealtyps Künstler reicht jedoch nicht aus, um zu erforschen, ob und im gegebenen Fall wie ästhetische Raumauffassungen im aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ bestehen. Die ästhetische Formung ist dafür im Folgenden auch für den Alltagsmenschen, also den Kunstlaien, zu erklären. 3.2.2 Ästhetische Raumauffassungen im alltäglichen Blick Um ein fruchtbares Instrument zur Analyse des ästhetischen Diskursstranges in den aktuellen Diskussionen um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ zu entwickeln, sind mehrere Aspekte der ästhetischen Raumauffassung im alltäglichen Blick zu untersuchen: Anschauliche Hinweise auf solche Raumauffassungen geben eingangs lebensweltliche Situationen. Im nächsten Schritt wird erforscht, wie eine ästhetische Raumformung durch alltagsweltliche Kunstlaien zu verstehen ist und Gustav Theodor Fechners, ab: Einige moderne Theorien »suchen das Kunstwerk zu erklären, indem sie es mit anderen bekannten psychologischen Phänomenen koppeln. Diese Phänomene stehen jedoch auf einer anderen Ebene als das ästhetische Erleben; sie verkörpern passive, nicht aktive Geisteshaltungen« (ebd.: 246). 394 Seel 1996: 39. 395 Ebd.: 66. 396 Ebd.: 39. 397 Ebd.

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wie sie sich von der modernen mythischen Raumformung unterscheidet. Dabei werde ich die Theorie Cassirers referieren aber auch interpretativ weiterdenken, sofern es im Sinne einer klaren typisierenden Abgrenzung dieser Raumauffassung gegenüber den anderen beiden für das Verständnis des Wildnisdiskurses notwendig ist. In einem im weitesten Sinn romantischen Zugang ist Wildnis mit erhabener Ästhetik ein zentrales Thema. Da dieser Zugang bis heute eine kulturell prägende Bedeutung hat, widme ich mich ihm im abschließenden Kapitel ausführlich. Lebensweltliche Anzeichen für ästhetische Raumauffassungen im alltäglichen Blick Eingangs zu Kapitel 3.2 hatte ich einige lebensweltliche Situationen von Alltagsmenschen (Kunstlaien) geschildert, in denen ich individuelle ästhetische Wahrnehmungen von Gegenden vermutet hatte. Diese Vermutung lässt sich nun näher untersuchen. Welche Aspekte zeigen sich als ästhetisch im Sinne von Cassirers Theorie? Inwiefern wird der Raum in seinen Oberflächenstrukturen, seinen Farbstellungen und plastischen Formen emotional und reflektiert empfunden und nicht nach seinem Nutzen, dem Angenehme oder nur nach Klischeebildern? Wir reisen, weil uns die rosa blühende Heide schön erscheint oder der herbstliche Ahornwald eine einzigartige Farbenpracht bietet. Wir erwandern möglicherweise unter Strapazen einen Berg, weil in den blühenden Bergwiesen besondere Farben zu erblicken sind. Wir bestaunen schroffe Felsen, mächtige Berge und spektakuläre Wasserfälle, denn ihr außergewöhnliches Erscheinungsbild weckt reizvolle Empfindungen von Überwältigung und Unerklärlichkeit in uns. Eine Allee kann uns allein aufgrund ihrer rhythmischen Gliederung ansprechend erscheinen, ebenso wie uns ein heller Strand als Kontrast zum blauen Meer erfreuen mag oder eine weiße Winterlandschaft in ihrer ruhigen Klarheit. Wir suchen die Gipfelaussicht auf bewaldete Hügelketten im Abendrot, deren kulissenartige Staffelung sich in schier unendliche Weiten fortsetzt. Und wir setzen uns sogar den Unannehmlichkeiten eines Unwetters aus, weil wir vom Anblick sturmgepeitschter Bäume und Wiesen oder düsterer Gewitterwolken fasziniert sind. Wir nehmen von unserer Umgebung nicht nur ihren Nutzen, beispielsweise ein Getreidefeld als Nahrungsgrundlage, oder ihre angenehme Wirkung, wie etwa eine Allee als Schattenspender, wahr. Wir suchen auch nicht immer das kitschige Postkartenidyll der Bergalm oder der Schafherde in der Heide, sondern erstreben individuelle Entdeckungen von Empfindungen. Es geht uns dabei nicht um mythisch-religiöse Bedeutungen, wie beispielsweise um einen Berggipfel als Ort der Gotteserscheinung.

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In den beispielhaft beschriebenen Situationen zeichnet sich der Raum für den Betrachter individuell durch bildhafte statische oder dynamische Eigenschaften aus. Ohne dass wir Maler oder andere Künstler wären, beschreiben wir eine Gegend als ›wie gemalt‹ und nehmen reflektiert Farbstellungen, Anordnungen, Rhythmen etc. subjektiv auf der Gefühlsebene war. Das sind andere Eigenschaften als in modernen mythischen Auffassungen, bei denen Raumstrukturierungen ebenfalls emotional entstehen, jedoch aus dem unmittelbaren symbolischen Ausdruck, wenn einen beispielsweise im nächtlichen Wald ein Schauder überkommt. Das Wesentliche der oben genannten Situationen stimmt mit einer ästhetischen Raumformung im Sinne Cassirers überein. Ein ästhetischer Blick des Alltagsmenschen ist offenbar auf Basis von Cassirers Theorie der symbolischen ästhetischen Raumformung erklärbar, auch wenn der Kunstlaie keine künstlerische Darstellung in Form von Gemälden, Fotos, Plastiken etc. vollzieht. Die geschilderten lebensweltlichen Phänomene stärken die These, dass es einen ästhetischen Blick des Alltagsmenschen, nicht nur einen außergewöhnlichen des Künstlers, gibt und dass dieser sich von der modernen mythischen Auffassung wesentlich unterscheidet. Dies lege ich im Folgenden aufbauend auf Cassirers Theorie dar. Zunächst ist verständlich zu machen, wie das Erklärungsmuster der ›Darstellung‹ beim bloßen Sehen insbesondere von Landschaft greift. Im Hinblick auf die Analyse der aktuellen Wildnisdiskussionen stehen die Fragen im Fokus, was ästhetische Bedeutungen und Sinngebungen sind und wie sie im Verhältnis zu mythischen Bedeutungen stehen, sowie was die romantische ästhetische Qualität der erhabenen Landschaften idealtypisch ausmacht. Erklärung einer ästhetischen Raumformung im alltäglichen Blick mit Cassirers Theorie Der Betrachter nimmt im ästhetischen Blick – so das Ergebnis meiner Analyse Cassirers – die Gestalt eines Raums mit individuellen Empfindungen und Sinnsetzungen wahr. Bislang nur an den bildenden Künsten, vor allem am idealtypischen Beispiel des Landschaftsmalers, wurde deutlich, dass sich die ästhetische Raumauffassung als Darstellung formt. Wie ist darüber hinaus, ohne den künstlerischen Vorgang der bildlichen Reproduktion, ein alltäglicher ästhetischer Blick zu verstehen, und das als ›Darstellung‹? – In mehreren Schritten lässt sich diese Frage durch Interpretation der Cassirer’schen Theorie beantworten: Zunächst ist die Bedeutung des Sehens bereits beim künstlerischen Gestaltungsvorgang zu ergründen, um dann den ästhetischen Blick allgemein im Alltäglichen beschreiben zu können. Was beim Sehen dargestellt wird, werde ich am Beispiel

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von Landschaft diskutieren. Abschließend ist das Spannungsfeld zwischen subjektiver ästhetischer Raumformung und ihrem kulturellen Kontext zu erklären. Der Blick trägt konstruktiv zum Prozess der ästhetischen Formung bei Wie sich oben gezeigt hat, leistet der bildende Künstler bei der gestalterischen Entwicklung und Entdeckung seiner Raumauffassung Reflexion über seine Vorstellung und Vergegenständlichung (in einem Gemälde etc.). Impliziert ist in diesem Prozess – neben der Reflexion und dem bildnerischen Darstellen – als wesentlicher dritter Aspekt ein spezifisches Sehen. Dieses Sehen ist nicht ein passives, mechanisches Aufzeichnen, sondern ausgezeichnet mit einer besonderen Empfänglichkeit für Harmonie der Farben, Rhythmus der Strukturen etc. Diese besondere Empfänglichkeit ist in Cassirers Theorie »durchaus konstruktiv«, denn in ihr nimmt das Subjekt nicht Eigenschaften der Dinge als solche wahr, sondern entdeckt sie nur immer in Bezug auf die eigene Ordnung im Verstand.398 Kunst ist »[…] keineswegs bloße Wiederholung von etwas bereits Vorhandenem. Es ist vielmehr eine wirkliche, authentische Entdeckung. Der Künstler ist ebensosehr Entdecker von Naturformen, wie der Naturwissenschaftler Entdecker von Tatsachen und Naturgesetzen ist«399.

»Das Auge des Künstlers« ist, wie Cassirer metaphorisch formuliert, nicht »passiv[...]«,400 vielmehr ist es schöpferisch am Prozess der ästhetischen Formung beteiligt, weil es in der Wahrnehmung das Empfangene immer mit seiner subjektiven Sinngebung ordnet. Diese aktive Beteiligung des Sehens an der Auffassung ist bei einer symbolischen Formung unentbehrlich, was Cassirer folgendermaßen erklärt: Nur durch die »konstruktive[n] Akte können wir die Schönheit der natürlichen Dinge entdecken«, denn »Schönheit [ist] keine Eigenschaft der Dinge als solcher […] und ohne Beziehung zum menschlichen Verstand« nicht denkbar. 401 Das heißt bezogen auf das Beispiel Landschaft letztlich, dass schon allein der ästhetische Blick auf eine Gegend damit beginnt, »ein Bild von ihr [der Gegend] zu formen«402. Zusammenhänge in den Strukturen der Oberfläche werden nur erfasst, wenn man ihnen bestimmte Bedeutungen bemisst, das heißt »ein ›Bild‹ 398 Cassirer 1944/2007: 232. 399 Ebd.: 221. 400 Ebd.: 232. 401 Ebd. 402 Ebd.: 233.

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von ihnen im Kopf hat«403. Dieser Leistung der formenden Entdeckung muss jedoch nicht zwingend eine Produktion von Kunst folgen, sondern sie kann in der bloßen geistigen Vorstellung bleiben: Eine Gegend, die vor uns liegt, »ordnen und gestalten« wir zur Form Landschaft im Blick genauso wie der Maler als Gemälde.404 Gegenden werden dann ästhetisch als Landschaften wahrgenommen, wenn es – in den Begrifflichkeiten von Cassirers Theorie ausgedrückt – gelingt, »eine anschauliche, eine figurative Prägnanz zu erzeugen«405, also eine ästhetische symbolische Prägnanz.406 Jörn Bohr bringt das in seiner Interpretation Cassirers, wie folgt, auf den Punkt: »Landschaft ist also keine einfach zu besichtigende Gegebenheit, sondern wird innerhalb eines geistigen Prozesses erst erzeugt, sie wird hingesehen.«407

Dabei ist die sinnliche Perzeption nicht irrelevant, denn eine Gegend wird »[…] überhaupt erst dadurch Landschaft, dass Sinnliches und Sinn in Einem einen Anblick konstituieren«408.

Im ästhetischen Blick entdecken wir also »[h]inter dem Dasein, dem Wesen, den empirischen Eigenschaften der Dinge […] plötzlich ihre Formen«409, das heißt die individuellen geistigen Strukturen und Bedeutungszusammenhänge, in denen

403 Schwemmer 2005: 159. – In ähnlicher Weise beschreibt dies der Kulturhistoriker und frühe Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl in seinem Aufsatz »Das landschaftliche Auge« (1850) bezogen auf Landschaft: Wer »nicht im Kopfe selber schöne Landschaften malen kann, der wird draußen nie welche sehen« (Riehl 1850/1903: 73). 404 Dies beschreibt Ludwig Trepl, Simmel referierend (Trepl 2012: 33). 405 Schwemmer 2005: 159. 406 Zur einführenden Erklärung der symbolischen Prägnanz siehe Kapitel 2.1. – Oswald Schwemmer erklärt die ästhetische Prägnanzbildung im Speziellen als »Verstärkung von Differenzen zu Kontrasten und die gleichzeitige Konfigurierung der Kontraste zu Formen und Qualitäten« (Schwemmer 2005: 165). 407 Bohr 2008: 32, Hervorh. i. O.; vgl. Cassirer 1944/2007: 232. 408 Bohr 2008: 35, Hervorh. i. O. 409 Cassirer 1944/2007: 259. – Dabei kann der ästhetische schöpferische Prozess alles zum Gegenstand haben, »nichts in der physischen oder sittlichen Welt, kein Naturgegenstand und kein menschliches Tun, ist seiner Natur oder seinem Wesen nach von der Kunst ausgeschlossen« (ebd.: 243).

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wir sie wahrnehmen.410 Der Sehende malt »anstatt auf Holz oder Leinwand auf die Netzhaut des Auges«, schreibt schon der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl Mitte des 19. Jahrhunderts anschaulich und nennt die so wahrgenommene Landschaft treffend das »subjektivste aller Kunstwerke«.411 In vergleichbarem Sinne bezeichnet Cassirer die ästhetische Formung als »beweglich«412, das heißt immer wieder anders. Wesentlich ist dem »ästhetische[n] Bewußtsein«, das durch eine spezifische »Form des Schauens« ausgezeichnet ist, dass die Bilder im Prozess der Betrachtung »immanente Bedeutsamkeit« und ihre eigene Wirklichkeit haben.413 Dabei lässt sich wie bei einem Kunstwerk nie entscheiden, ob der eine, der die weite, friedliche blaue Meeresfläche sieht, oder der andere, der den spannungsvollen Kontrast an der bewegten Linie zwischen tiefblauem Meer und strahlend weißem Strand sieht, ›Recht hat‹, also die Landschaft treffend beschreibt. Die Frage wäre falsch gestellt, denn das »landschaftliche Auge ist niemals ein absolutes«414 – es gibt nicht die Landschaft. Alltagsweltliche ästhetische Formung – Wahrgenommene Bilder sind nur im Kopf Gemälde (wie auch Erzeugnisse anderer bildender Kunstgattungen) könnte man als einen Sonderfall der ästhetischen (Raum-)Auffassung bezeichnen, bei dem das Bild nicht nur subjektiv ›im Kopf‹ besteht, sondern vergegenständlicht ist und damit wiederum selbst Gegenstand der ästhetischen Auffassung werden kann.415 Die praktisch-gestalterische Tätigkeit der bildenden Künste zeigt ideal410 Cassirer meint mit ›Form‹ hier nicht eine empirische Eigenschaft der Dinge (die geschwungene Form des Waldrandes etc.), sondern die Eigenschaften, die uns die Ordnung zeigt, in der uns die Welt erscheint. Diese Ordnung ist »beweglich«, es sind also mannigfaltig mögliche Formen. Und die Formen, die wir in den Dingen entdecken, sind letztlich »Manifestation unseres Inneren« (Cassirer 1944/2007: 259 f.; vgl. Cassirer 1925: 16). 411 Riehl 1850/1903: 73. 412 Vgl. Cassirer 1944/2007: 259. 413 Cassirer 1925: 320. 414 Riehl 1850/1903: 85. – Ludwig Trepl weist darauf hin, dass es »in einer jeden Gegend unendlich viele mögliche Landschaften« gebe, »wenn auch nicht beliebige, denn die Magdeburger Börde lässt sich nicht als Hochgebirgslandschaft darstellen« (Trepl 2012: 33). 415 So empfiehlt Caspar David Friedrich (um 1830) selbst Künstlern den Weg von der Vorstellung zur Darstellung: »Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf andere von außen nach innen« (C. D. Friedrich zit. n.

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typisch, was die ästhetische symbolische Formung des Raumes allgemein ausmacht: Das Subjekt rückt von der bloßen affektiven Empfindung des alles beherrschenden sinnlichen Ausdrucks des Gegenstandes, wie er für den mythischen Raum charakteristisch ist, in einer bestimmten reflektierenden Distanz ab und macht sich eine Raumvorstellung. Georg Simmel erklärt das Kunstwerk als einen Idealtyp der alltagsweltlichen ästhetischen Formung in folgender Weise: In allem, wie »der Mensch alltäglich redet oder sich in Gesten ausdrückt oder wenn seine Anschauung ihre Elemente nach Sinn und Einheit formt«, sind »jene Formungskräfte« enthalten, »deren reine, selbständig gewordene, für sich ihr Objekt bestimmende Auswirkung dann Kunst heißt«416.

Alltagsweltliche Menschen ohne spezifisch künstlerische Auffassung haben, wie Cassirer feststellt, nicht nur die »gewöhnliche Sinneswahrnehmung«, in der sie nur die »vertrauten, konstanten Merkmale der Gegenstände in unserer Umgebung« auffassen, sondern auch eine »ästhetische Erfahrung«, die »unvergleichlich viel reicher« ist und »unendliche Möglichkeiten in sich« einschließt.417 Bezogen auf Landschaft lässt sich formulieren, dass im weitesten Sinn »künstlerisch« »nicht nur der Maler, der Poet«, tätig ist, »sondern auch der Betrachter der Kunstwerke, ebenso der Wanderer, der die Natur anschaut, also im Grunde jeder.«418 Die »unerschöpfliche Vielfalt von Aspekten an den Dingen« aufzuspüren, ist jedem alltagsweltlich möglich, wenn auch die Kunst in besonderer Weise bestimmte Aspekte anschaulich artikuliert.419 Georg Simmel weist darauf hin, Hinz 1984: 94). Auch Oswald Schwemmer stellt heraus, dass das »verweilende[...] Betrachten, ein besonderes Hinsehen auf und Ansehen von etwas, […] die Grundlage für den ›künstlerischen Schaffensprozess‹« sei (Schwemmer 2005: 174 f.). Im gleichen Sinne stellt Simmel »das Kunstwerk Landschaft« als »steigernde Fortsetzung und Reinigung des Prozesses« dar, in dem sich »uns allen aus dem bloßen Eindruck einzelner Naturdinge die Landschaft« forme (Simmel 1913/1957: 144). 416 Simmel 1913/1957: 146 f. 417 Cassirer 1944/2007: 223. – Als Alltagsmenschen fühlen wir dabei im Gegensatz zum Künstler oft nur »unbestimmt und schattenhaft die unendlichen Potentialitäten des Lebendigen, die in der Stille auf den Augenblick warten, da sie aus dem Schlummer in das helle, intensive Licht des Bewußtseins gerufen werden« (ebd.: 227 f.). 418 Trepl 2012: 127. 419 Cassirer 1944/2007: 223. – Jörn Bohr geht sogar über die Möglichkeit der ästhetischen Auffassung von Gegenden durch den Alltagsmenschen hinaus und beschreibt diese Sichtweise als heute ganz selbstverständlich geworden: »Natur wird im Zwei-

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dass das besondere künstlerische Können in der idealtypisch eindeutigen Ausprägung der ästhetischen Formung einer Landschaft liegt: »Der Künstler ist nur derjenige, der […] [den] formenden Akt des Anschauens und Fühlens mit solcher Reinheit und Kraft vollzieht, daß er den gegebenen Naturstoff völlig in sich einsaugt und diesen wie von sich aus neu schafft; während wir anderen an diesen Stoff mehr gebunden bleiben und deshalb noch immer dies und jenes Sonderelement wahrzunehmen pflegen, wo der Künstler wirklich nur ›Landschaft‹ sieht und gestaltet«420.

Sehen als Darstellung am Beispiel von Landschaft Wie ist nun der ästhetische Blick mit Cassirers Begriff der ›Darstellung‹ zu erklären? – Modellhaft lässt sich dies beim Sehen von Landschaften wie folgt interpretieren: Da etwa C. D. Friedrich seine Landschaften aus verschiedenen Szenen zusammensetzt, mögen die Gemälde zwar letztlich einer ›fotografisch‹ tatsächlichen Gegend (das soll heißen: einer in ihrer empirischen Realität abgebildeten, einer ›optisch‹, nicht ›künstlerisch‹ abgebildeten) nicht mehr entsprechen,421 aber sie zeigen Friedrichs Empfindungen für Bedeutungen (das sind Sinngehalte) und sein Vermögen diese darzustellen. Das künstlerische Sehen ist immer zugleich ein Ordnen der Auffassung, eine ästhetische Formung zu einer gegenständlichen oder nur gedanklichen Darstellung. Mit dem Begriff ›Darstellung‹ trifft Cassirer demnach nicht nur die bildende Kunst, sondern auch die Funktion des sich nicht in besonderen materiellen Gegenständen objektivierenden ästhetischen Sehens, das, wie wir oben gesehen haben, in besonderer Weise422 konstruktiv und nicht nur rezeptiv ist: Jeder einzelne Betrachter gestaltet und beseelt die Gegend, den »rohen Stoff«, mit seinem »landschaftlichen Auge« fel immer als Landschaft gesehen« (Bohr 2008: 37). Diese Beobachtung trifft in der Tendenz sicher zu, allerdings wird sich in der vorliegenden Arbeit noch zeigen, dass auch (und gerade) heute in einigen wesentlichen Raumauffassungen nicht ästhetisierend an Gegenden herangetreten wird (vgl. Kapitel 4). 420 Simmel 1913/1957: 152. 421 Friedrichs Bilder werden deshalb auch als »Komposit-Landschaften« beschrieben (Piepmeier 1980: 18), wobei das nach Cassirers Ästhetiktheorie streng genommen nichts Spezielles ist, sondern alle ästhetischen Darstellungen künstlerische Zusammenstellungen sind. 422 Nicht nur in ästhetischen, sondern auch bei anderen (mythischen oder naturwissenschaftlichen) Raumwahrnehmungen prägt die Art der Wahrnehmung den Gegenstand. Cassirer bezeichnet ja auch alle diese Arten der Wahrnehmung symbolische Formen. Unterschiedlich ist allerdings, welches Ziel und welchen Anspruch das wahrnehmende Subjekt selbst dabei hat, siehe Kapitel 3.4.

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zu einer Landschaft, dem (imaginierten) Kunstwerk mit einem subjektiven Charakter.423 Damit ist verständlich, warum Cassirer, wie zu Anfang dieses Kapitels ausgeführt, die Formung einer Gegend zu einer Landschaft allgemein als ein Ordnen im Sehen beschreibt, nicht speziell als ein Ordnen in der bildenden Kunst.424 Ästhetische Auffassungen stehen in einem kulturellen Kontext In der gerade gegebenen Erklärung einer ästhetischen Raumformung habe ich hervorgehoben, dass die ästhetische Darstellung – ob im Kunstwerk oder im alltäglichen Blick – eine subjektive Formung ist. Das Subjekt formt bei seiner Wahrnehmung mit einem Sinn, der aus der eigenen Innenwelt stammt. Diese Sinngebung ist prinzipiell individuell. Allerdings ist sie nicht kontextlos, sondern geprägt von allgemeinen kulturellen Bedeutungen und Ideen. Das Individuum hat nach Cassirers Kulturbegriff unwillkürlich mehr oder weniger stark teil an vorgeprägten Auffassungsweisen. Es ist in einen kulturellen Kontext eingebunden, in dem es manches übernimmt, manches aber auch in seiner individuellen Rezeption weiterentwickelt. Dieser ambivalente Stellenwert des kulturellen Kontextes lässt sich an zwei Perspektiven idealtypisch erläutern, der des Künstlers und der des Betrachters von Kunst. Zum einen sind die Leidenschaften, die in der künstlerisch-ästhetischen Formung eines Werks wirksam werden, keine »einfache[n] oder einzelne[n] emotionale[n] Qualität[en]«, sondern basieren auf dem »dynamischen Prozeß des Lebens selbst«, der »ständige[n] Schwingung zwischen einander entgegengesetzten Polen, zwischen Freude und Leid, Hoffnung und Furcht, Jubel und Verzweiflung.«425 Der Künstler stellt also seine individuellen Empfindungen dar, die jedoch auf Widersprüche »des Lebens« allgemein verweisen beziehungsweise von ihnen abhängen. Er gibt Gefühle wieder, die er nicht allein und nur flüchtig hat, sondern die jedes Subjekt beschäftigen und die unsere Existenz in ihrer Tiefe prägen.426

423 Riehl 1850/1903: 72 f. 424 Eine Gegend erscheint mir dann ästhetisch als Landschaft, wenn ich sie nach »fundamentalen Strukturelementen unserer sinnlichen Erfahrung« (Cassirer 1944/2007: 242) ordne, das heißt, wenn ich »Rhythmus der räumlichen Formen«, »Harmonie und […] Kontraste der Farben«, »Gleichgewicht von Licht und Schatten« sehe (ebd.: 233 f.). 425 Cassirer 1944/2007: 229. 426 Ebd.: 225; vgl. Siegmund 2011: 85 f.; Zimmermann 2012: 46 f.

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»Es gehört zu den größten Leistungen der Kunst, daß […] sie noch im Individuellen das Objektive erfühlen und erkennen läßt, während sie andererseits alle ihre objektiven Gestaltungen konkret und individuell vor uns hinstellt und sie damit mit dem stärksten und intensivsten Leben erfüllt.«427

Bei dem, was der Künstler für wichtig hält, dargestellt zu werden, unterliegt er mehr oder weniger kulturellen Prägungen: Er »gehört einer bestimmten Kultur an, einer bestimmten sozialen Gruppe mit bestimmten geschmacklichen Vorlieben, [er] neigt einer bestimmten Weltanschauung zu« etc.428 Durch seine Werke lotet er jedoch diesen Rahmen der kulturellen Vorstellungen aus und trägt möglicherweise zu seiner Veränderung bei. Zum anderen zeigt sich der kulturelle Kontext der individuellen ästhetischen Formungen deutlich bei den Betrachtern von Kunst: Künstler bringen zwar ihre individuell gefundene ästhetische Auffassung zur Darstellung, diese ist aber immer, wenn sie Rezeptionserfolg hat, eine allgemein gesellschaftliche (kulturspezifische) Auffassung:429 Sie wird dies jedoch auch durch die Manifestation in der Darstellung.430 Der künstlerische Prozess ist »ein dialogischer oder dialektischer«, indem auch dem Rezipienten »keine bloß passive Rolle« zukommt.431 Das heißt beispielsweise: Immer wenn uns (Alltagsmenschen) ein Landschaftsgemälde nicht eine völlig unzugängliche Anhäufung von Farben und Texturen ist, sondern uns ›etwas sagt‹, können wir die »Gestimmtheit«, die der Künstler

427 Cassirer 1942/2007: 389 f. 428 Trepl 2012: 34; vgl. Schwemmer 2005: 187 f. 429 Cassirer beschreibt das so: »Unsere ästhetische Wahrnehmung ist sehr viel differenzierter und komplexer als unsere gewöhnliche Sinneswahrnehmung. In der Sinneswahrnehmung begnügen wir uns damit, die vertrauten, konstanten Merkmale der Gegenstände in unserer Umgebung zu erfassen. Die ästhetische Erfahrung hingegen ist unvergleichlich viel reicher. Sie schließt unendliche Möglichkeiten in sich, die in der gewöhnlichen Sinneserfahrung unverwirklicht bleiben. In der Arbeit des Künstlers werden diese Möglichkeiten aktualisiert; sie werden freigesetzt und nehmen Gestalt an« (Cassirer 1944/2007: 223). 430 Cassirer schreibt an anderer Stelle: »Der Künstler wählt einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit, aber dieser Selektionsprozeß ist gleichzeitig ein Prozeß der Objektivierung. Sobald wir uns seine Perspektive zu eigen gemacht haben, sind wir genötigt, die Welt mit seinen Augen zu betrachten« (Cassirer 1944/2007: 224 f.). 431 Cassirer 1944/2007: 229.

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empfunden und im Gemälde formal ausgedrückt hat, »nachvollziehen«.432 Wir als Betrachter des Dargestellten teilen also die Stimmungen und Bedeutungszuschreibungen des Künstlers (Darstellers), die in diesem Moment einen über das Individuelle hinausgehenden, kulturellen Kontext zeigen. 433 Es besteht eine Interdependenz zwischen Künstler und Betrachter, die nur in einem gemeinsamen kulturell-gesellschaftlichen Rahmen wirksam ist. An dem Modell der vielfachen Beziehungen zwischen Künstler und Betrachter lässt sich verstehen, welche Bedeutung der kulturelle Kontext im alltagsweltlichen Blick hat: Wir haben unsere alltagsweltlich ästhetische Auffassung einer Landschaft, die bloße geistige Vorstellung ohne künstlerische Vergegenständlichung ist, individuell im Kopf. Sobald wir uns aber darüber mit anderen austauschen, stehen wir – vergleichbar wie ein Künstler – Rezipienten gegenüber. Ein Dialog über eine Gegend als Landschaft ist nur möglich, wenn zumindest teilweise Gemeinsamkeiten in den kulturellen Bedeutungszuschreibungen bestehen, ansonsten bleibt man für seine Mitmenschen unverständlich.434 Das gemeinsame Deutungsrepertoir der alltagsweltlichen ästhetischen Auffassungen wiederum ist aber nicht zuletzt durch Kunst geprägt. So tragen etwa Landschaftsmaler mit ihren Werken dazu bei, dass sich Sehgewohnheiten in uns etablieren, was Cassirer wie folgt beschreibt: »Ist uns die Wirklichkeit einmal auf diese besondere Weise enthüllt worden, so nehmen wir sie auch weiterhin in dieser Gestalt wahr.«435

Kunstwerke sind eine (für jede Kultur spezifische) Quelle der »Form- und Musterbildung«436 für die alltagsweltliche Wahrnehmung. Bezogen auf Landschaft 432 »Wir können ein Kunstwerk nicht verstehen, ohne bis zu einem gewissen Grade den schöpferischen Prozeß nachzuvollziehen und zu rekonstruieren, dem es seine Entstehung verdankt« (ebd.). 433 Dass uns Landschaftsdarstellungen auch unzugänglich-fremd sein können, widerspricht nicht dieser allgemeinen Form des ästhetischen Raumes, denn diese Darstellungen sind uns meist noch ungewohnt (beispielsweise ›modern‹) oder entstammen einem uns unbekannten Kontext. 434 Vgl. die Diskussion der kulturellen Prägung im einleitenden Kapitel 1.2.3. 435 Cassirer 1944/2007: 225. 436 Schwemmer 2005: 165 f. – Landschaftsbilder, die konkrete Orte wiedergeben, können dem »daheimgebliebenen Betrachter« für eine imaginäre Reise dienen (Bartilla 2005: 102), aber auch zu einer tatsächlichen Reise zu den Orten anregen. Besonders Reisehandbücher tragen in Bild und Text zu einer Musterbildung bis hin zur »Stereotypisierung« ästhetischer Raumauffassungen bei, die als »touristische Land-

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beschreibt Petra Raymond in ihrer literaturgeschichtlichen Arbeit, dass die Künstler »die Augen ihrer Mitmenschen für neue Aspekte der Natur« öffnen und bilden, indem sie »ein neues Landschaftsideal« hervorbringen und »den Geschmack der betreffenden Generation« prägen, »während die Mehrzahl der Zeitgenossen sich in ihrer Landschaftserfahrung gern an den so entwickelten und angebotenen Mustern und Vorbildern« orientiert.437 Wir lernen, mit Cassirers Worten, die ästhetische »Oberfläche der Naturerscheinungen« zu sehen, nachdem »wir sie in den Werken der großen Künstler entdecken«.438 Insgesamt zeigt sich, dass ästhetische Raumauffassungen (Formungen im Sehen, Malen oder in anderer Darstellung) sowohl von Künstlern als auch von Alltagsmenschen subjektiv sind, aber nicht beliebig und willkürlich, sondern kulturrelativ intersubjektiv.439 In gleicher Weise hebt die Autorengruppe um Franz Petri im Eintrag ›Landschaft‹ des ›Historischen Wörterbuchs der Philosophie‹ hervor, dass die ästhetische Wahrnehmung von Landschaft nur »in einer besonderen individuellen und gesellschaftlich vermittelten Synthese« möglich sei.440 Dass eine ästhetisch Formung von Raum in Bezug auf Strukturen der Oberflächen, Rhythmen der räumlichen Formen, Kontraste der Farben etc. nicht nur speziell Künstlern möglich ist, sondern auch im alltäglichen Blick, ist nun soweit verständlich, dass ästhetische Wildnisvorstellungen im aktuellen Diskurs analysiert werden können. Um dabei nicht ästhetische mit mythischen Auffassungen von Raum als Wildnis zu verwechseln, sind im Folgenden die Unterschiede der ästhetischen Raumformung zur modernen mythischen Raumformung aufzuzeigen.

schaftswahrnehmung« bezeichnet werden kann (Dirlinger 2000: 222 f.; vgl. Müller 2007; Dinnebier 1996: 284). Auf die Gefahr einer ›Trivialisierung‹ von Landschaftsbildern in der Tourismuswerbung habe ich in der Einleitung zu Kapitel 4.2 kurz hingewiesen. 437 Raymond 1993: 11; vgl. Hartmann 1982: 5 f.; Burckhardt 1977: 10; Dinnebier 1996: 282. 438 Cassirer 1944/2007: 242; vgl. Schwemmer 2005: 188. 439 Vgl. Cassirer 1942/2007: 486; vgl. Bohr 2009: 98. 440 Petri et al. 1980: 17. – Diese Synthese wird auch in landschaftsplanerisch-praktischen Studien bemerkt wie etwa in der von Norman Backhaus und Kollegen, die von einer »individuellen« und einer »sozialen« Seite der ästhetischen Landschaftswahrnehmung schreiben (Backhaus et al. 2007: 45 f.).

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Unterschiede der ästhetischen Raumformung zur modernen mythischen Raumformung In der Beschreibung der ästhetischen Raumformung wurde stellenweise auch die mythische Raumformung erwähnt. Die wesentlichen Unterschiede zeige ich im Folgenden zunächst grundlegend an den Eigenschaften der Sinngebung und ergänzend an der Art der Wahrnehmung. Ästhetische Sinngebung ist frei und individuell In der ästhetischen symbolischen Formung entsteht Raum durch die freie, individuelle Sinngebung des wahrnehmenden Subjekts. Es misst einer Gegend bestimmte Bedeutungen und Werte (und damit einen Sinn) bei und formt sie so ästhetisch zu einer Landschaft. Dabei werden die Empfindungen des Subjekts nicht mythisch unwillkürlich bestimmt durch äußere, höhere Mächte und unreflektiert erlebt, beispielsweise als Hoffnung oder Furcht. Der Raum zeigt sich dem Wahrnehmenden also nicht als in seinen Orten und Richtungen unbeeinflussbar vorgegebene ›Diskontinuität‹. Vielmehr befindet sich das ästhetisch empfindende Subjekt in einem zunächst kontinuierlichen Raum, den es sich selbst in seinem freien Blick immer wieder neu mit Emotionen strukturiert, in denen sich Bedeutungszuschreibungen und Wertsetzungen ausdrücken.441 Die ästhetische Formung entsteht also nicht durch Ausdruck eines transzendenten Hintersinns, wie beim mythischen Raum, sondern durch individuelle Sinngebungen, Bedeutungszuschreibungen und Wertsetzungen, die das Subjekt dem Raum entgegen bringt. Genau genommen entsteht in diesem Moment erst der individuelle ästhetische Raum, etwa eine liebliche oder eine heroische Landschaft. In der ästhetischen Raumauffassung gibt es im Gegensatz zur mythischen die Idee der Freiheit einer »unerschöpfliche[n] Vielfalt« an Erfahrungen.442 Der Raum wird, so Cassirer, in jedem Blick ästhetisch »zugleich sinnlich[...] und geistig[...]« neu gebildet, indem das Subjekt ihm Bedeutungen aus der »Fülle des Lebens« beimisst; dabei ist »aber dieses Leben […] nicht mehr das mythisch-gebundene, sondern das ästhetisch-befreite Leben«.443 Die Bilderwelt ist keine Welt des Wirkens wie die mythische, sie »zielt nicht auf ein anderes und verweist nicht

441 Albrecht Koschorke beschreibt in seiner ›Geschichte des Horizonts‹ die Entwicklung von der »sakralen Flächenkunst« zur geometrisch konstruierten »Horizontlandschaft« mit den Begriffen des »diskontinuierlich« mythisch dimensionierten Raumes und des »homogenen Raum[es] der Neuzeit« unter Bezug auf Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ (Koschorke 1990: 57 f.). 442 Cassirer 1944/2007: 223. 443 Cassirer 1924/1925: 79 f.

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auf ein anderes«, sondern sie bezieht sich auf die subjektive »unmittelbare Wirklichkeit« und »besteht in sich selbst«.444 Die Formung des Raumes durch einen Sinn (Bedeutung, Wert) wird mythisch als unmittelbarer Ausdruck erlebt, was der moderne Wahrnehmende aber letztlich selbst erkennen kann.445 Im Moment der Wahrnehmung erscheint ihm der Raum durch die Atmosphäre äußerer Mächte bestimmt; er kann aber – Cassirers Theorie zufolge – von dieser naiven Erlebnisebene im nächsten Moment auf die Metaebene wechseln, über sein Erlebnis kritisch reflektieren und sich seiner aktiven symbolischen Formung als einer unter vielen bewusst werden. Die moderne mythische Raumauffassung ist in dieser Grundkonstellation der ästhetischen Raumauffassung (wie allen anderen symbolischen Formen der Raumauffassung im Sinne Cassirers) gleich. Die ästhetische Raumformung unterscheidet sich insbesondere jedoch in folgendem Aspekt von der mythischen: Sie ist auch im Moment der Wahrnehmung als augenblickliche Atmosphäre, die sich durch eine Individualität des emotionalen Erlebnisses und der Bedeutungszuschreibung auszeichnet, bewusst. Wie idealtypisch bei der Darstellung in einem Gemälde schafft sich der ästhetisch Empfindende in seinem Bewusstsein Distanz »zur äußeren Welt wie auch zur inneren Welt und ihrer Macht der Affekte und Emotionen«446. Cassirer beschreibt den Gegensatz wie folgt: Die »Grundrichtung des ästhetischen [ist], daß hier das Bild rein als solches anerkannt bleibt, daß es, um seine Funktion zu erfüllen, nichts von sich selbst und seinem Gehalt aufzugeben braucht. Der Mythos sieht im Bilde immer zugleich ein Stück substantieller Wirklichkeit, einen Teil der Dingwelt selbst, der mit gleichen oder höheren Kräften wie diese ausgestattet ist.«447

Der Philosoph Karl Jaspers schreibt allgemeiner als Cassirer von einer dem »ästhetischen Genuß« eigenen »Freiheit ohne Ernst«, die nicht »die Verbindlichkeit« des Mythos kennt.448 Ästhetische Wahrnehmung vollzieht sich im reflektierten Blick Mit diesem beschriebenen Unterschied von mythischer und ästhetischer Raumformung bezüglich der Sinngebung hängt eine spezifische Verschiedenartigkeit der Wahrnehmung zusammen: Ästhetisch wird man sich, wie oben erläutert, des 444 Cassirer 1925: 34. 445 Vgl. Kapitel 3.1.2. 446 Paetzold 1995: 168. 447 Cassirer 1925: 320. 448 Jaspers 1964/1996: 349.

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Raums wesentlich bildhaft gewahr; individuell formende Empfindungen sind hier also mit Eigenschaften verknüpft, die erblickt werden können. Die mythische Form hingegen lässt sich in erster Linie als ein ›dramatisches‹ Erspüren charakterisieren. Im Mythischen handelt es sich nicht um ein aktiv vom Subjekt auf etwas Bestimmtes gerichtetes Sehen, sondern um das Fühlen und Durchleben einer unausweichlichen äußeren Kraft. Ästhetisch als Landschaft kann eine Gegend insbesondere aus der Distanz, beispielsweise von einem Aussichtspunkt auf einer Anhöhe her, erfasst werden. Dies formuliert Pikulik anschaulich: »Vom Gipfel einer Anhöhe erschaut, öffnet sich die Landschaft zugleich als weiter Raum, begrenzt von einer zauberisch lockenden Ferne«449.

Das Durchwandern eines dichten Waldes hingegen, der durch Hindernisse körperlich herausfordert, ermöglicht in besonderem Maße ein modernes mythisches Erlebnis, was die Philosophin Betty Heimann wie folgt beschreibt: »Zum Zauber des Waldes gehört es, daß sich der Blick in der grüngoldenen Dämmerung verliert, daß das undurchdringliche Dunkel des Dickichts uns zu der Annahme verführt, der Wald höre niemals auf; wir könnten hineingehn – Stunden, Tage, wir könnten ihn Monde und Jahre durchirren und fänden niemals wieder heraus.«450

Zwischen diesen beiden idealtypisch entgegengesetzten Situationen gibt es freilich verschiedene Möglichkeiten, Raum ästhetisch beziehungsweise mythisch wahrzunehmen, die individuell geprägt sind. Der eine kann eine Gegend vor allem ästhetisch in ihren Strukturen und Farben als Landschaft wahrnehmen, während sie einen anderen mit mythischem Ausdruck ergreift. Im Kapitel 3.2.2 konnte bisher eine ästhetische Raumauffassung im Blick des Alltagsmenschen mit Hilfe von Cassirers Raumtheorie erklärt und Unterschiede zur modernen mythischen Raumauffassung herausgearbeitet werden. Romantische Naturauffassungen haben sich beim mythischen Raum als typisch moderne gezeigt (Kapitel 3.1.2). Auch zur Analyse der ästhetischen Deutungen im aktuellen Wildnisdiskurs erscheint die romantische Ästhetik hilfreich, da sie insbesondere mit ihrem Erhabenheitsbegriff Wildnis positiv und vielfältig thematisiert. Dies wird im Folgenden näher dargestellt.

449 Pikulik 2000: 264. 450 Heimann 1920: 231.

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Zur romantischen ästhetischen Raumformung und ihrem Erhabenheitsbegriff Einen Teil der modernen romantischen Auffassungen von Natur habe ich als moderne mythische Raumformung im Sinne Cassirers erklärt. Im romantischen Weltzugang nehmen darüber hinaus ästhetische Auffassungen eine wichtige Stellung ein. Bei diesen zeigen sich wilde, von zivilisatorischen Einschränkungen freie Gegenden vor allem als erhabene Landschaften, nicht als schöne. Das Erhabene beschreibt Antonia Dinnebier in ihrer kulturhistorischen Analyse des Landschaftsbegriffs ausdrücklich als eine ästhetische Kategorie, mit der die Wahrnehmung von Wildnis möglich ist: Die Kategorie des Erhabenen erlaubt »in besonderer Weise wilde Gegenden ästhetisch zu erfassen«451. Die eigenständige Bedeutung der ästhetischen Wahrnehmung von Wildnis gegenüber der mythischen ist auch an dem Umstand zu erkennen, dass Wildnis in der Landschaftsmalerei als eine insbesondere aufgrund ihrer dynamischen Kraft und Macht erhabene Natur von Beginn an eine zentrale Rolle gespielt hat. 452 In der romantischen Weltsicht kommt der Wildnis »eine einzigartige Stellung zu: sie wird um ihrer selbst willen aufs Höchste geschätzt«453. Weil die moderne ästhetische Auffassung von Wildnis insbesondere als eine durch ihre übermächtige Dynamik erhabene Landschaft im Romantischen besonders deutlich wird, werde ich als idealtypische Grundlage für die Analyse des ästhetischen Zugangs zu Wildnis (Kapitel 4.2) im Folgenden aufbauend auf Cassirers Ästhetiktheorie die romantische Ästhetik und ihr Erhabenheitsverständnis näher untersuchen. Dazu typisiere ich zunächst die romantische ästhetische Raumformung insbesondere im Hinblick auf die Erhabenheit als ästhetische Qualität. Um die Eigenschaften dieses romantischen Erhabenheitsbegriffes und seine Eignung für die Erklärung der aktuellen Wildnisvorstellungen deutlich zu machen, erläutere ich seine Unterschiede zu zwei anderen Erhabenheitsbegriffen, dem aufklärerischen und dem physikotheologischen. Des Weiteren lege ich kurz die Abgrenzung der ästhetischen Kategorie des Pittoresken zum Erhabenen und ihren Bezug auf die Bedeutung Wildnis dar. Abschließend untersuche ich die romantische äs-

451 Dinnebier 1996: 277. – Auch Dagmar Ottmann erklärt Wildnis als eine Art von Landschaft: »Wildnis wird als eine Landschaft beschrieben, die in ihrem Wirkungscharakter ambivalent erfahren wird. […] Sie ist darüber hinaus eine Landschaft, die wegemäßig verästelt, verworren oder nicht erschlossen ist, so daß man sich in ihr verirrt« (Ottmann 2002: 360). 452 Vgl. Metscher 2011: 72 f.; Siegmund 2009: 64. 453 Vicenzotti 2011a: 220.

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thetische Sehnsucht nach mythischen Bedeutungen, was eine wesentliche Deutungsform im Romantischen ist. Typisierung der romantischen ästhetischen Raumformung, insbesondere bezüglich der Qualität des Erhabenen Cassirer geht in seinen Schriften auf die romantische Ästhetik allgemein und speziell auf die ästhetische Qualität des Erhabenen im Romantischen über kurze Nennungen hinaus kaum ein.454 Daher werde ich zur Beschreibung der symbolischen Form des romantischen ästhetischen Raumes und der Qualität des Erhabenen Cassirers Theorie ausdeuten und etwas weiterentwickeln, insbesondere auf Grundlage der Arbeit des Literaturwissenschaftlers Lothar Pukulik zur Romantik und der umfassenden Schrift zur Landschaftstheorie von Andrea Siegmund. 455 Den romantischen Zugang fasse ich dabei, wie bereits oben beim mythischen Raum, nicht historisch als Teil einer abgeschlossenen Epoche, sondern als eine typische moderne Form, die heute nach wie vor in bestimmten Zusammenhängen Bedeutung hat.456 Kunst hat in der Romantik eine zentrale Bedeutung, denn durch sie können in einzigartiger Weise freie, individuelle Sinngebungen – vermittelt über Gefühle – erlebt und dargestellt werden.457 Mit einer emotionalen Raumauffassung dieser Art ist es möglich, das romantische Hauptanliegen, wie es Andrea Siegmund formuliert, umzusetzen: die »poetische Weltverzauberung«, die sich mit einer individuellen Sinngebung gegen eine alleinige allgemeine, vernunftbegründete

454 An einer Stelle zählt Cassirer ästhetische Qualitäten lediglich auf: »Die Landschaft ist düster oder heiter, streng oder lieblich, zart oder erhaben« (Cassirer 1942/2007: 439). Zum Verständnis des Mythos in der Romantik gibt Cassirer dagegen einige Hinweise. Darauf und auf meine Weiterentwicklung dieser Gedanken gehe ich in Kapitel 3.1.2 ein. 455 Pikulik 2000; Siegmund 2011. 456 Diese Deutungstradition des Romantischen ist bei Albrecht Koschorke zu finden und wurde insbesondere von Andrea Siegmund jüngst eingehend am Beispiel des Landschaftsgartens dargelegt (Koschorke 1990; Siegmund 2011; vgl. Kapitel 3.1.2). 457 Cassirer beschreibt dies im umfassenden Begriff der ›poetischen Phantasie‹: »Im romantischen Denken hat die Theorie der poetischen Phantasie ihren Höhepunkt erreicht. Die Tätigkeit der Phantasie oder Einbildungskraft erscheint hier nicht mehr als diejenige besondere Aktivität, welche die Welt der Kunst aufbaut. Sie hat jetzt einen universellen metaphysischen Wert. Die poetische Phantasie ist der einzige Schlüssel zur Wirklichkeit.« (Cassirer 1944/2007: 239; vgl. Koschorke 1990: 180 ff.; Siegmund 2011: 245 ff.; Vicenzotti 2011a: 215; Trepl 2012: 127 ff.)

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Weltauffassung richtet.458 Dieses Besondere der Kunst beschreibt Cassirer wie folgt: »Was wir als rationale oder wissenschaftliche Wahrheit bezeichnen, bleibt oberflächlich und konventionell. Die Kunst bietet die Ausflucht aus dieser seichten, engen Welt der Konventionen.«459

Während sich das Subjekt bei der romantischen mythischen Raumformung in distanzlose »schöne Verwirrung der Fantasie« und »ursprüngliches Chaos der menschlichen Natur« versetzt,460 um unmittelbar (womöglich tatsächlich körperlich) ergriffen die Welt des Märchenhaften unreflektiert zu erleben, ist der romantisch-ästhetischen Raumformung eine gewisse Distanz und ein bewussteres Gestalten wesentlich: Die ›Weltverzauberung‹ gelingt durch die immer wieder neue, individuelle Verknüpfung von innerer und äußerer Natur nicht zuletzt in der Erfahrung von Gegenden als Landschaft.461 Es ist Ziel des Romantischen, so bringt es Albrecht Koschorke auf den Punkt, den »Unterschied zwischen seelischem Innenraum und äußerer Realität fiktional zu verwischen und letztlich aufzuheben«462. In der mythischen Auffassung ordnet sich das Individuum für dieses Ziel (bewusst) den äußeren Mächten unter; in der ästhetischen Auffassung hingegen steht das gleiche Ziel unter anderen Vorzeichen: Die inneren seelischen Empfindungen und Ideen gestalten die Wahrnehmung des Außenraumes. Diese individuelle ästhetische Landschaftserfahrung nimmt im romantisch-künstlerischen Erleben dann oft – sozusagen im zweiten Schritt – wieder Bezug auf mythische Bedeutungen. Darauf werde ich abschießend eingehen. Um die Verknüpfung verständlich zu machen, trenne ich in folgender Analyse jedoch zunächst die ästhetische Auffassung deutlich von der mythischen. Kunst und Natur, ästhetischer Blick und Angeschautes gehen beispielsweise in Caspar David Friedrichs berühmten Landschaftsgemälden mit Rückenfiguren ineinander auf: Die Menschen widmen sich keiner Handlung außer der Betrachtung von Natur. Dabei werden nicht allgemeine Dinge betrachtet, sondern »das Geschaute« erscheint »durch seinen Blick [den des Betrachters, G. K.] bedeutungsvoll«.463 Und so geht in Friedrichs Gemälden »der Betrachter in die Land458 Siegmund 2011: 245. 459 Cassirer 1944/2007: 247. 460 Schlegel 1800/2005: 195. 461 Natur bedeutet, so Ludwig Trepl, für den romantischen Künstler nicht das Spüren geheimnisvoller Kräfte, sondern »vor allem Landschaft« (Trepl 2012: 127). 462 Koschorke 1990: 193. 463 Jauß 1977/1982: 175.

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schaft als ihr Teil ein«464. Der Philosoph Schelling gibt ein derartiges romantisches Ästhetikverständnis in einem Satz so wieder: »[D]as höchste Verhältnis der Natur zur Kunst ist dadurch erreicht, daß sie diese zum Medium macht, die Seele in ihr zu versichtbaren.«465

In diesem von Schelling beschriebenen Moment der Darstellung von subjektiven Empfindungen gleichzeitig mit der sinnlichen Wahrnehmung von bildlichen Formen bildet sich gemäß der Begrifflichkeit Cassirers eine ›symbolische Prägnanz‹.466 Mit Cassirers Theorie der Raumformungen lässt sich, ohne dass er das selbst getan hätte, also eine romantische ästhetische Auffassung erklären. Die romantische ästhetische Raumformung wendet sich in besonderer Weise den Reizen des Abgründigen zu. Beachtung findet, wie Lothar Pikulik an der historischen Epoche der Frühromantik zeigt, in der romantischen Auffassung »[…] nicht das Nahe, sondern das Ferne; nicht das Gegenwärtige, sondern das Vergangene; nicht das Alltägliche und Gewöhnliche, sondern das Sonderbare; nicht das Erkennbare und Erklärliche, sondern das Dunkle und Unbegreifliche; nicht das deutlich Bestimmte, sondern das Vage, Unbestimmte«467.

Das »Gefühl des Erhabenen und das mit ihm verschwisterte Gefühl des Schauers zu genießen, d. h. die Lust am Ungeheuren, Überwältigenden und am Entsetzlichen, Angsteinflößenden«468 werden zu wichtigen Themen und Motiven. Dabei schätzt der romantisch Empfindende vor allem die sonderbaren, wilden Seiten der Welt im Gegensatz zu den schönen; er schätzt »den abrupten Wechsel zwischen schönen, reizenden und abenteuerlich-wilden Landschaftsausschnitten«469. Die Verknüpfung in der Charakterisierung »wild-romantisch« (›sauvages et romantiques‹), die schon Jean-Jacques Rousseau gebraucht,470 zeigt die Bedeutung 464 Trepl 2012: 128. 465 Schelling 1807/1983: 29. 466 Vgl. Kapitel 2.1 und Kapitel 3.2.1. 467 Pikulik 2000: 75. 468 Pikulik 2000: 261. – »Lieblingsthemen der Romantik sind Vergänglichkeit und Tod, Gespensterburgen, der Abgrund und die Wildnis« (Trepl 2012: 134). 469 Oesterle 1998: 390. – »In England ist es«, wie der Begriffshistoriker Ernst Müller hinweist, »zunächst die rustikale, wilde, erhabene und schreckenerregende Natur, die als romantisch empfunden wird (schroffe Felsen, steile Berge, reißende Wasser, Einöden, Abgründe usw.)« (Müller 2003: 319). 470 Müller 2003: 321.

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des Romantischen für die Wahrnehmung des Erhabenen und der untergründigen Sehnsucht nach Wildnis. Von einer aufklärerischen und einer physikotheologischen Bestimmung der ästhetischen Kategorie des Erhabenen unterscheidet sich die romantische in wesentlichen Eigenschaften, was ich im nächsten Unterkapitel zeigen werde. Bei der Empfindung von Erhabenheit ist die Lust angesichts des »Großen« zu trennen, von der angesichts des »Heftigen«, wie es erstmalig Johann Jacob Bodmer im 18. Jahrhundert ausdrückt.471 Diese in den Theorien des Erhabenen unter verschiedenen Begriffen geläufige Unterscheidung benennt Kant mit dem Dualismus von Mathematisch-Erhabenem, das sich durch »räumlich und zeitlich große Ausdehnung (Meer, Wüste, Sternenhimmel)« auszeichnet, und DyamischErhabenem, das durch »Kraft und Macht (Sturm, Gewitter)« gekennzeichnet« sei.472 Im romantischen Verständnis wird beim Empfinden von Erhabenheit – von Lust angesichts sowohl des Überragenden, Weiten als auch des Übermächtigen, Dynamisch-Gewaltigen – das individuelle Gefühl »des Unterworfenseins, des Verlusts und der Vergeblichkeit«473 angesprochen. Dieses Gefühl ist ambivalent: Es enthält nicht bloßes Erschrecken angesichts eines überwältigenden Zuviel,474 sondern auch eine Faszination durch das Geheimnisvolle, Bedrohliche und Unfassbare. In der unendlichen Ferne der Landschaft, wie auch im Schrecklich-Schauerlichen der nahen Natur offenbart sich »eine dynamische Grenzüberschreitung der alltäglichen, normalen und beherrschbaren Natur« zu einer »Größe der Natur, die diese dem Menschen übergeordnet erscheinen läßt«.475 Dieses Erhabenheitserlebnis ermöglicht die ersehnte Erfahrung der freien, nicht zivilisatorisch verschütteten Natur und des Irrationalen – die Erfahrung also jener Welt, die im Romantischen die notwendige Gegenwelt zur vergeblichen Sinnsuche und

471 Begemann 1984: 93. 472 Metscher 2011: 67; vgl. Begemann 1984: 93. 473 Siegmund 2011: 272. – Jörg Zimmermann betont das Individuelle (Private) der Erhabenheitserlebnisses und schreibt in ähnlichen Adjektiven wie Andrea Siegmund von einer Ästhetik »mit ›privativen‹ Bestimmungen wie Leere, Finsternis, Einsamkeit sowie der Übersteigung jeder wohlproportionierten Ganzheit ins Maßlose des Raumes, der Zeit und der Macht« (Zimmermann 2012: 59). 474 Pries 1989: 29. 475 Siegmund 2011: 271. – Der Betrachter erfährt in romantischer Dichtung die weite Landschaft »als Gegenüber, als ›Bild‹, das wie eine Verheißung vor ihm steht und ihn anzieht, nachdem er das gewöhnliche, alltägliche Leben, in dem er unbefriedigt geblieben war, hinter sich gelassen hat« (Pikulik 2000: 264).

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Zerrissenheit des modernen Menschen bildet.476 In diesem Sinne charakterisiert auch Cassirer die romantische Ästhetik: Die »poetische Phantasie«, die im Romantischen »der einzige Schlüssel zur Wirklichkeit« ist, könne in der »trivialen Alltagswelt« »nicht gedeihen«, dazu taugten nur das »Wunderbare, das Großartige und das Geheimnisvolle«.477 Erfahren wird das Irrationale emotional; es ist nicht verstandesmäßig zu erfassen.478 Erhabenheit ist im Romantischen also die ästhetische Freude am Unergründbaren einer Gegend, das man »als die andere, dunkle Seite der Natur empfindet«479. Es kann einerseits in der »geheimnisvoll verklärte[n] Fernlandschaft«480, die sich auch durch fortwährende Wanderschaft nicht ergründet lässt, andererseits in der machtvollen, »bedrohliche[n] Nahlandschaft«481 gefunden werden – zwei mögliche Varianten der ästhetischen Wahrnehmung einer Gegend als Wildnis.482 Wohlgemerkt bedeutet die geheimnisvoll verklärte Fernlandschaft nicht in allen Fällen Wildnis, sondern kann auch eine anmutige Szene, die in die Ferne gerückt ist, sein oder eine märchenhafte Welt. Unterschiede des romantischen Erhabenheitsbegriffs zum aufklärerischen und physikotheologischen Die ästhetische Kategorie des Erhabenen in dieser romantischen Auffassung unterscheidet sich in bestimmten Eigenschaften von zwei anderen Auffassungen: (1) einer aufklärerischen und (2) einer physikotheologischen. Diese beiden Erhabenheitsbegriffe stelle ich im Folgenden kurz dar und begründe, warum die heutigen vielfältigen positiven Ansichten von Wildnis mit der romantischen ästhetischen Auffassung besser erklärbar sind. (1) Aufklärerisch erscheinen Landschaften nach Immanuel Kant als erhaben letztlich wegen der Bestätigung des Menschen als Vernunftwesen – nicht wie im Romantischen wegen der emotionalen Faszination am Unbekannten.483 Die Natur gibt Anlass, die eigene Erhabenheit zu erleben, vor allem aber zu verstehen. Ludwig Trepl formuliert das in seiner Kulturgeschichte der Landschaft wie folgt:

476 Die romantische Sinnsuche in der Moderne habe ich allgemein näher in Kapitel 3.1.2 zum mythischen Raum. 477 Cassirer 1944/2007: 241. 478 Siegmund 2011: 263; vgl. Trepl 2012: 121. 479 Siegmund 2011: 272. 480 Ebd.: 273. 481 Ebd. 482 Zum Motiv der ewigen Wanderschaft in der romantischen mythischen Variante siehe Kapitel 3.1.2. 483 Siegmund 2011: 272.

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»Der Anblick der Natur in der Unwiderstehlichkeit ihrer Macht lässt uns entdecken, dass wir in bestimmter Hinsicht [nämlich der moralischen, L. T.] von der Natur vollkommen unabhängig sind, dies wenigstens sein sollen und folglich auch können.«484

Unsere physische Ohnmacht wird deutlich. Es beweist sich aber kraft der »moralischen Selbsterhaltung« zugleich die Größe menschlicher Vernunft.485 In der romantischen Gefühlsästhetik hingegen dient die schauerliche Landschaft gerade dazu, die »Übermacht der Ratio«486 und die eigene innere moralisch-vernünftige Bestimmung vergessen zu lassen und sich dem Unerklärlichen, Geheimnisvollen hinzugeben. Dabei ist im Romantischen stets präsent, dass dies nur scheinbar geschehen kann, tatsächlich aber beide widersprüchlichen Pole, das Vernünftige und das Unergründliche, stets bestehen und eine unlösbare Spannung bilden.487 Die unerklärliche, geheimnisvolle, wilde Landschaft selbst ist Kern des ästhetischen Erlebnisses; sie ist nicht Anlass für die Wahrnehmung der Erhabenheit der eigenen Vernunft. (2) Zum Verständnis des romantischen Erhabenheitsbegriffs sei noch auf einen anderen, älteren Erhabenheitsbegriff hingewiesen, der von religiösem Denken geprägten ist und der sich explizit gegen die aufklärerische Vorstellung der subjektiven Vernunftidee richtet. Das ambivalente ästhetische Gefühl der Erhabenheit, das überwältigt und niederdrückt, zugleich aber auch erhebt, hat man in der physikotheologischen Denkweise primär gegenüber Gott, dem Allmächtigen. So kann auch die weite, ungeformte Natur (wie die Alpen) dann ästhetisch erhaben erscheinen, wenn sie als Gottes Schöpfungswerk aufgefasst wird und damit Anteil an Seiner Erhabenheit hat.488 Bei der Wahrnehmung überwältigender Naturerscheinungen und Gegenden kann sich ein im religiösen Sinn »Emporgehobenwerden[...]« vollziehen.489 Romantisch verweist im Gegen-

484 Trepl 2012: 111, Hervorh. i. O. – Für eine ausführliche Erklärung des kantischen Erhabenheitsbegriffs sei auf Trepl (2012) verwiesen. 485 Trepl 2012: 112; Siegmund 2011: 272. 486 Pesch 1966: 321. 487 Siegmund 2011: 262 f. – Zur Doppelbödigkeit im Romantischen vgl. die Erklärungen der mythischen Deutungen in Kapitel 3.1.2. 488 Trepl 2012: 107 f. – Den »Naturgewalten selbst [wird] Göttlichkeit zugeschrieben« (Böhme 1985: 198). 489 Trepl 2012: 109. – Die Kunsthistorikerin Barbara Eschenburg erklärt das unter Bezug auf Edmund Burke wie folgt: »Der Schrecken, den der Anblick der erhabenen Natur auslösen müsste, führt nach Edmund Burke den Menschen aufgrund der ihm eingeborenen Fähigkeit unmittelbar dazu, die Größe Gottes und seine eigene Unbe-

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satz dazu die Erhabenheit nicht auf eine äußere höhere Macht, sondern entsteht in der Innenwelt des Subjekts, das in seiner »individuelle[n] Utopie«490 eine eigene Gegenwelt zur vernunftbezogenen lebt. Im Romantischen tritt an die Stelle eines Glaubens an einen Gott als äußere Macht die Idee vom Subjekt (dem Künstler), der mit Schöpfer und Natur identisch wird.491 Im Unterschied zur aufklärerischen und zur physikotheologischen ist bei der romantischen Erhabenheit die »Vernunftswidrigkeit«492 und »befreiende Entgrenzung des Ichs und seiner Wirklichkeit«493 zentral und positiv konnotiert. Deshalb ist der romantische »Ausnahme-Augenblick des gefühlvoll-ästhetischen Erlebens«494 des Erhabenen vor allem angesichts von und in der Bedeutung von ›Wildnis‹ möglich, weil sie sich durch Unerklärlichkeit, Unbeherrschbarkeit etc. auszeichnet. Wildnis wird in der romantischen Weltsicht hoch geschätzt und wird im Sinne des individualistischen romantischen Ansatzes mit einer großen Vielfalt an Bedeutungen aufgeladen. Mit den romantischen Erhabenheitsbedeutungen sind die heutigen vielfältigen positiven Ansichten von Wildnis im alltäglichen Blick weitreichend erklärbar. Mit religiösen oder aufklärerischen Erhabenheitsvorstellungen hingegen lassen sich nur bestimmte grundsätzliche ästhetische Naturauffassungen verstehen, nicht jedoch die Bedeutungsvielfalt, die speziell mit ästhetischer Wildnis in Verbindung gebracht wird.495 Im romantisch Erhabenen vollzieht das Subjekt nicht, wie im aufklärerischen, eine Bestätigung der Vernunft, sondern eine emotionale (Raum-)Auffassung. Diese ist durch individuelle Sinngebungen geprägt und nicht, wie im religiösen Erhabenen, durch äußere, höhere Mächte. Der romantische Erhabenheitsbegriff beinhaltet also offenbar eine ästhetische symbolische Formung von Gegenden zu wilden Landschaften im Sinne von Cassirers Ästhetiktheorie. Als Fazit dieser Gegenüberstellung des romantischen Erhabenheitsbegriffs mit dem aufklärerischen und dem physikotheologischen scheint der romantische Erhabenheitsbegriff für meine Analyse aktueller Wildnisauffassungen (Kapitel 4.2) als besonders geeignet. deutendheit zu bedenken« (Eschenburg 1987: 116 ff.). Diese »Wirkung der Erhabenheit« führe »zur sittlichen Verfeinerung« der Gemüter (ebd.). 490 Siegmund 2011: 92. 491 Trepl 2012: 129. 492 Vicenzotti 2011a: 221. 493 Siegmund 2011: 271. 494 Ebd.: 93. 495 Aufklärerische Erklärungen von Wildnisbedeutungen geben beispielsweise Planken & Schurig 2000: 200; Kirchhoff & Trepl 2009: 22 f.; Siegmund 2011: 131; Vicenzotti 2011a: 177 ff.; Trepl 2012: 99 ff.

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Erhabenheit wurde dabei als die romantische ästhetische Kategorie identifiziert, mit der Wildnis, also das Schreckliche, Maßlose und Ungeheuerliche, erfahren werden kann. Bei Analysen der ästhetischen Wahrnehmung der Wildnis wird gelegentlich auch das Pittoreske genannt,496 daher gehe ich auch darauf kurz ein. Zur ästhetischen Kategorie des Pittoresken im Unterschied zum Erhabenen Das Pittoreske ist eine ästhetische Kategorie, die vor allem in England aufkam und bis heute vieldeutig verwendet wird.497 Mit ihr lassen sich vor allem bestimmte romantische ästhetische Auffassungen beschreiben.498 In seinem Kerngedanken ist das Pittoreske nicht erhaben. Es weist jedoch Aspekte auf, »die das kognitive Fassungsvermögen der Vernunft«499 übersteigen und zeichnet sich durch »Rauhheit und Unregelmäßigkeit«500 aus. Pittoreskes ist nicht so groß wie Erhabenes, nicht so glatt wie Schönes, aber es ist nicht weniger malerisch. 501 Die Kulturhistorikerin Helga Dirlinger stellt heraus, dass für das Pittoreske der »statische Blick« typisch sei, in dem Landschaft »wie ein Bild« aufgenommen werden könne.502 So verstanden als das, was bestimmte Bildqualitäten aufweist, wird das Pittoreske in einigen Ästhetiktheorien als dritte Kategorie zwischen Schönem und Erhabenem angesehen.503 Dirlinger folgend kann das Bild einer ästhetisch als Wildnis wahrgenommenen Landschaft als pittoresk empfunden werden. Allerdings besteht, so Dirlinger, eine »Tendenz des pittoresken Sehens, Natur zu korrigieren« und »unliebsame Details« auszublenden oder kompositorisch zu verbessern.504 Dies deutet darauf hin, dass in der pittoresken Wahrnehmung vor allem der bedrohliche und unbeherrschbare, also unangenehme und verstörende Charakter von Wildnis geglättet wird. Wildnis im eigentlichen Sinn wäre das Pittoreske dann nicht. Von anderen Autoren wird mit dem Pittoresken eine Landschaft (beziehungsweise ein Landschaftsbild) bezeichnet, die (das) sich aus schönen und aus 496 ›Pittoresk‹ und ›Erhaben‹ sind »ästhetische Begriffe für das Radikale, Irreguläre und Interessante«, die »mit Wald und Gebirge« assoziiert werden (Ottmann 2002: 364). 497 Einen kurzen Überblick gibt beispielsweise Siegmund 2011: 280 f. 498 Oesterle 1998: 390. 499 Siegmund 2011: 276. 500 Ebd.: 280. 501 Dirlinger 2000: 100 f. 502 Ebd.: 104, vgl. 222. 503 Siehe Siegmund 2011: 280; Dirlinger 2000: 99 ff. 504 Dirlinger 2000: 236.

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erhabenen Partien zusammensetzt.505 Durch die Gegenüberstellung könne die Wirkung jeweils verstärkt werden und ihren besonderen Reiz entfalten. Dagmar Ottmanns Interpretation, dass gerade diese Gesamtheit des Pittoresken, also die Kombination aus Schönheit (»Idylle«) und Wildheit, die Wahrnehmung von Wildnis (wilder Landschaft) bestimme, 506 folge ich nicht, denn sie scheint mir die Bedeutungsunterschiede zu verwischen. Eine schöne Gegend oder eine Idylle, auch wenn sie nur ein Teilbereich des Bildes einnimmt, ist nicht bedrohlich, unbeherrschbar etc. und damit Wildnis. Man könnte vielmehr die erhabenen Partien, die im Pittoresken mit nicht-wilden Partien kombiniert sind, als Wildnis bezeichnen. Zur ästhetischen Sehnsucht der Romantik nach mythischen Deutungen Die romantische ästhetische Raumformung habe ich bislang in strenger Abgrenzung gegenüber der modernen mythischen Raumformung charakterisiert. Jedoch auch eine Verknüpfung dieser beiden Deutungstypen ist im Romantischen wesentlich; daher gehe ich abschließend darauf ein. In romantischen ästhetischen Auffassungen, etwa in Beschreibungen von Landschaften als märchenhafte Orte oder in Gemälden unheimlicher Urwälder, wird oft auf romantische mythische Bedeutungszuschreibungen Bezug genommen. Es wird die Sehnsucht nach einer mythischen Sinngebung, bei der der Ausdruck eines Raumes oder einer Situation unmittelbar emotional ergreift, ästhetisch dargestellt. Im Typ der ästhetischen Raumformung ist sich der Betrachter dabei immer der Individualität der Formung bewusst. Hingegen geht dieses Bewusstsein bei der mythischen Formung – auch der modernen – in der Ausdruckswahrnehmung vorübergehend verloren: Es werden tatsächlich äußere Mächte, die nicht vom Betrachter beeinflussbar sind, als sinngebend empfunden. Das ästhetische Reflexionsbewusstsein – das Bewusstsein, dass die Raumauffassung eine Darstellung individueller Empfindungen und Bedeutungszuschreibungen ist – geht hingegen auch dann nicht verloren, wenn bei der Auffassung die romantische Sehnsucht nach mythischer Deutung wesentlich ist und die ›Welt505 Siehe Lobsien 1986: 163, 168 ff.; Frank 2001: 633. – Das romantische Pittoreske sei von einem »abrupten Wechsel zwischen schönen, reizenden und abenteuerlich-wilden Landschaftsausschnitten« (Oesterle 1998: 390; vgl. Ottmann 2002: 362) geprägt. In ähnlichem Sinn beschreibt Helga Dirlinger den »Kontrast zwischen wilden und sanften Szenen, zwischen erhabenen Schluchten und schönen Tälern« als »ein wesentliches Charakteristikum der pittoresken Reise« (Dirlinger 2000: 213). 506 Dagmar Ottmann sieht eine »Doppelung von Idylle und Wildheit« in der Wildnis (Ottmann 2002: 362).

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verzauberung‹ für den Moment gelingt. Beispielsweise fungieren der Wolf als Verkörperung des Bösen oder die unmittelbare Ergriffenheit angesichts eines dunklen Walddickichts im romantischen Gemälde als sehnsüchtige Reminiszenz an mythische Deutungen. Diese sind letztlich bewusst als Zitate ästhetisch dargestellt von einem empfindenden Subjekt, was die Wahrnehmung des Außenraumes stets individuell bestimmt.507 Die ästhetische Landschaftserfahrung kann also die Suche nach einer mythischen »Ureinheit und Urverbundenheit des Menschen mit allem Existierenden«508 zum Gegenstand haben. Sollte diese Suche so erfolgreich sein, dass die Distanz zwischen Innen- und Außenwelt verloren geht, schlägt die ästhetische Erfahrung in eine mythische (moderne romantisch-mythische) um. Denn wenn das reflektierende Bewusstsein verloren geht, rutscht der Betrachter (beziehungsweise Maler etc.) in eine mythische Formung. 509 Dieser Wechsel zwischen den zwei Typen ist besonders im romantischen Ideal einer Kunst quasi strukturell schon angelegt, in der subjektive Ästhetik mit neuer Mythologie verschmolzen wird.510 Ob eine Wahrnehmung nun nach dem mythischen oder ästhetischen Typ strukturiert ist, kann demnach individuell und je nach Situation verschieden sein. Es ist nicht allgemein zu sagen, ob in der symbolischen Formung der unmittelbare Ausdruck einer transzendenten Bedeutung oder die subjektiv bestimmte Sinngebung im Vordergrund steht und entscheidend für die Auffassung ist. Beispielsweise kann eine weiße Taube ganz unterschiedlich aufgefasst werden: Der eine Betrachter (des entsprechenden Kulturkreises) nimmt in mythischer Form in ihr unmittelbar, eindeutig den Heiligen Geist wahr. Es ist allerdings auch möglich, dass er kein derartiges mythisches Ausdruckserlebnis hat, weil ihm der kulturelle Sinnverweis auf den Heiligen Geist unbekannt ist. Dann mag er die weiße Taube subjektiv als schönen, anmutigen Vogel ohne transzendenten Sinn sehen.

507 Vgl. Großklaus 1983a: 190. 508 Siegmund 2011: 251. 509 Unter anderem am Ende seines zweiten Bandes der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ stellt Cassirer die mythisch-religiöse und die ästhetische Formung in dieser Weise gegenüber (Cassirer 1925: 320). 510 Dies erwähnt Jörg Zimmermann kurz (Zimmermann 2012: 39) und erläutern Albrecht Koschorke (Koschorke 1990: 180 ff.), Andrea Siegmund (Siegmund 2011: 248 ff.) und Ludwig Trepl (Trepl 2012: 127 ff.) jeweils ausführlich.

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3.2.3 Zusammenfassung zum ästhetischen Raum Ästhetisch bildet sich der Raum für das betrachtende Subjekt primär visuell durch individuelle Empfindungen von Rhythmen räumlicher Strukturen und Formen sowie von Harmonie und Kontrast der Farben etc. Eine für die Analyse des Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ wichtige ästhetische Raumwahrnehmung ist die einer Gegend als Landschaft. Cassirer zufolge wird eine Gegend in dem Moment zu Landschaft, in dem die Bedeutungen in der Innenwelt des Wahrnehmenden die Gegend strukturieren, die Gegend gleichzeitig aber wiederum als sinnliches Phänomen in ihrem Erscheinungsbild Anlass für Empfindungen gibt. Dieser Ansatz, dass Landschaft im Moment der Wahrnehmung einer Gegend durch ein Subjekt besteht, entspricht weitgehend Georg Simmels Landschaftstheorie. Otto Bollnow hingegen beschreibt phänomenologisch einen ›erlebten Raum‹, in dem Landschaft und Wahrnehmender ganzheitlich durchstimmt sind. Eine Pluralität unterschiedlicher Wahrnehmungen einer Gegend als Landschaft ist mit Bollnows Ansatz kaum erklärbar. In Cassirers Theorie hingegen bildet sich Landschaft je nach Bedeutungskontext des Betrachters und nach momentaner Erscheinung der Gegend je anders. Die Sinngebung bei der ästhetischen Formung beschreibt Cassirer ausdrücklich als immanent; sie verweist nicht, wie die mythische Formung, auf einen transzendenten Sinn. Cassirer beschreibt die symbolische Formung des ästhetischen Raumes als ›Darstellung‹. Idealtypisch der bildende Künstler (beispielsweise der Landschaftsmaler) sieht nicht einfach Landschaft, sondern reflektiert empfundene Formen und Farben der Gegend sowie die damit verbundenen Sinnsetzungen und drückt sie in seinem Werk aus. Doch auch Kunstlaien beschreiben eine Gegend als ›wie gemalt‹ und nehmen Farbstellungen, Anordnungen etc. subjektiv auf der Gefühlsebene war. Dieser alltägliche Blick kann basierend auf Cassirers Theorie als ästhetische ›Darstellung‹ erklärt werden: In einem spezifischen Sehen wird Landschaft mit einer gewissen Distanz zur unmittelbaren Empfindung und allgemeinen Sinngebung entdeckt und gleichzeitig individuell im Kopf geformt. Den ästhetischen Raum macht also vor allem die Wahrnehmung seiner visuellen Gestalt aus, die von einem Künstler gegenständlich oder im Sehen vor dem inneren Auge dargestellt wird. Die ästhetischen Auffassungen sind zwar individuell, stehen aber in einem kulturellen Kontext. Der Künstler wie auch der Kunstrezipient oder der sonstig ästhetisch Wahrnehmende unterliegen dabei mehr oder weniger gemeinsamen kulturellen Prägungen, sonst könnten Sie sich nicht über ihre Empfindungen aus-

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tauschen. Die Prägungen können sich allerdings verändern, indem sie gelebt werden. Wie die mythische Raumformung ist auch die ästhetische eine emotionale, unterscheidet sich von jener jedoch insbesondere dadurch, dass sie sich auf freie, individuelle Sinngebungen bezieht und nicht auf unbeeinflussbare äußere Mächte mit transzendenter Dimension. Die ästhetische Wahrnehmung – ob durch einen Künstler oder im alltagsweltlichen Blick – vollzieht sich im reflektierten Blick und nicht als unmittelbares Erspüren und Durchleben. Die moderne ästhetische Auffassung von Wildnis insbesondere als einer durch übermächtige Dynamik erhabenen Landschaft wird im Romantischen idealtypisch deutlich. Daher habe ich in diesem Kapitel die romantische Ästhetik und ihr Erhabenheitsverständnis aufbauend auf Cassirers Ästhetiktheorie dargestellt und die Unterschiede zum aufklärerischen und zum physikotheologischen Erhabenheitsbegriff sowie zur Kategorie des Pittoresken aufgezeigt. Im Romantischen kann es in der ästhetischen Auffassung eine Sehnsucht nach mythischen Deutungen geben. Die ästhetische Raumformung wurde in diesem Kapitel so weit beschrieben, dass sie für die Untersuchung des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ in Kapitel 4 geeignet scheint. Bevor ich das in Angriff nehme, muss aber noch Cassirers dritte zentrale Raumformung, die theoretische, dargestellt werden. Dazu komme ich im folgenden Kapitel.

3.3 THEORETISCHER RAUM Bei dem Begriff ›theoretische Raumauffassung‹ denkt man zunächst an theoretische Geometrie oder Relativitätstheorie und andere physikalische Erklärungen, etwa Erklärungen des freien Falls eines Körpers als gleichmäßig beschleunigte Bewegung mit einer Geschwindigkeit, die sich aus Fallhöhe und der Gravitationsbeschleunigung der Erde berechnet. Sachlich-rationale Raumbeschreibungen lassen sich aber nicht nur im naturwissenschaftlichen Spezialdiskurs finden, sondern auch und gerade im heutigen Alltag bei Erläuterungen, Handlungen und Techniken. So ist es ganz alltäglich, Gebiete mit Größenangaben wie Hektar zu beschreiben. Die Einteilung in Flurstücke auf Katasterplänen ist – zumindest Grundbesitzern – eine geläufige Art der Raumauffassung. Jedem von uns – nicht nur dem Meteorologen – ist heute die Charakterisierung von Raumeinheiten mit Angaben zu Temperatur, beispielsweise in Wetterkarten, vertraut. Bergwanderungen werden unter anderem nach der Angabe der Höhen üNN geplant, und Orientierung im Raum wird zunehmend nach Koordinaten mit dem satellitenge-

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stützten Navigationssystem GPS bewerkstelligt. Nationalparke werden in der Freizeit nicht zuletzt deshalb aufgesucht, weil dort Formen und Verhalten spezieller Tiere und Pflanzen beobachtet werden können. Bei diesen Beispielen bestehen Räume weder in mythischen Atmosphären noch ästhetisch als Landschaften. Es scheint sich vielmehr um Raumbeschreibungen im Alltag zu handeln, die sich in bestimmter Weise auf objektive Dimensionen und allgemeine Naturgesetze beziehen. Im Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ finden sich vor allem Verweise auf Erklärungen der Biologie, wie etwa die Erklärungen der Funktion bestimmter Arten in eigendynamischen Ökosystemen. Die Biologie quantifiziert und präzisiert zwar oft nicht formallogisch (wie die ›hard science‹ Physik), zeichnet sich in Bezug auf ihr Erkenntnisziel nach dem objektiven, experimentell Beobachtbaren und messend Erfassbaren aber als Naturwissenschaft aus. Außerdem ist in der Ökologie durchaus ein Streben nach ›hard science‹ zu bemerken, wenn etwa Naturausschnitte als Systeme mit Energie- und Stoffflüssen quantifiziert beschrieben werden.511 Naturwissenschaftliche Erklärungen genießen in den Naturschutzdiskursen unserer Gesellschaft ein hohes Ansehen und werden von fachlichen Laien – vielfach auch beim Thema ›Wildnis‹ – herangezogen, ohne dass die dazu widersprüchlichen mythischen und ästhetischen Sinngebungen lebensweltlich an Bedeutung verlieren. Auch heutzutage vertraut so mancher allein auf überlieferte bäuerliche Wetterregeln für bestimmte Regionen oder orientiert sich bei der Bergwanderung an den tradierten Beschreibungen schöner oder gefährlicher Partien. Den Nationalpark Val Grande besuchen viele, um dort sowohl bestimmte seltene Tierarten und ihre Lebensweise zu sehen als auch die faszinierenden Bilder einer verwildernden Nutzlandschaft wahrzunehmen. Prinzipiell nüchterne Beschreibungen wie die Wetterkarte können zudem erstaunliche Bedeutungen gewinnen: So kann beispielsweise der schematisch angezeigte Sonnenschein über Italien das Versprechen eines ersehnten Glücks (etwa im Urlaub) in der Toskana konnotieren. Diese Beispiele deuten darauf hin, dass Bezüge auf theoretisch-naturwissenschaftliche Bedeutung und auf mythische oder ästhetische Sinngebungen nebeneinander anscheinend durchaus möglich sind. Diese Gemengelage analysiere ich mit den grundlegenden Fragen, was den naturwissenschaftlich-theoretischen im Gegensatz zum mythischen und zum ästhetischen Raum charakterisiert, ferner wie eine alltagsweltliche Raumformung mit naturwissenschaftlichen Erklärungen geschieht und wie sie mit anderen Raumauffassungen verbunden wird.

511 Vgl. Kastenhofer 2004: 101 ff.

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Ausgangspunkt dieser Untersuchung, die die Analyse des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ vorbereitet, ist die These einer theoretischen Raumauffassung, die eine Formung gleichrangig mit mehreren ist, und die – wenn sie vereinfachend, alltagsweltlich rezipiert wird – womöglich mit mythischen oder ästhetischen Raumauffassungen verbunden wird. Dies kann ausgehend von Cassirers Theorie gezeigt werden. Im Folgenden sollen die wesentlichen Fundamente für das Verständnis erarbeitet werden, wie heute lebensweltlich von Wildnis im Sinne von ›Ökosystem-Wildnis‹ die Rede ist, was ich dann in Kapitel 4.3 ausführen werde. Für dieses Ziel ist zunächst eine klare Vorstellung davon notwendig, was eine theoretische Raumauffassung ist. Daher erläutere ich in Kapitel 3.3.1 Cassirers Auffassung der theoretischen, insbesondere der theoretisch-naturwissenschaftlichen Raumformung anhand ihrer wesentlichen Aspekte: die inhaltliche Eigenschaft des objektiven, vom Konkreten entfernten, homogenen Raumes und die Art der Formung durch allgemeinen Bezug von theoretischer, ›reiner‹ Bedeutung auf konkrete Anschauung. Gegenstand des Kapitels 3.3.2 sind die Abgrenzungen und Verbindungen der theoretischen Raumformung zu anderen symbolischen Formungen, sofern dies für die Analyse des Diskursstrangs ›Ökosystem-Wildnis‹ wichtig ist. Anhand von lebensweltlichen Beispielen werde ich auf eine vermutete Verbindung theoretischer mit mythischen oder ästhetischen Auffassungen hinweisen. Um zu klären, wie diese systematisch zu verstehen sind, untersuche ich zunächst Cassirers Aspekt des Symbolischen bei der theoretischen Raumformung. Dann zeige ich, dass die theoretische Formung als objektiv anzusehen ist, aber als eine Formung gleichrangig mit mehreren. Schließlich wird zu erkennen sein, dass theoretische Raumauffassungen in vereinfachender, alltagsweltlicher Rezeption mit mythischen oder ästhetischen Raumauffassungen verknüpft werden können. In Kapitel 3.3.3 fasse ich die maßgebenden Charakteristika der theoretischen, insbesondere der theoretisch-naturwissenschaftlichen Raumformung und ihrer alltagsweltlichen Auffassung, die für die Analyse des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ entscheidend sind, zusammen. 3.3.1 Cassirers Darstellung der theoretischen Raumformung Cassirer fasst die Bezeichnung für die dritte der von ihm besonders herausgestellten symbolischen Formungen des Raumes als »theoretischer«, »wissenschaftlicher« oder speziell als »geometrischer« oder »physikalischer und ma-

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thematischer« Raum.512 Es sind Varianten einer Raumformung in dem »Weltverstehen«513, das der reinen Logik und den Naturwissenschaften gemeinsam ist. 514 Cassirers Darstellung der theoretischen Raumformung gebe ich nachfolgend in zwei Unterkapiteln wieder: (1) bezüglich des Aspektes, was inhaltlich Gegenstand dieser Formung ist und (2) bezüglich der Form, wie theoretisch, insbesondere theoretisch-naturwissenschaftlich, der Raum aufgefasst wird. Auf dieser Basis kann in Kapitel 3.3.2 dann auf die im Wildnisdiskurs wichtigen Aspekt der Stellung der theoretisch-naturwissenschaftlichen zur mythischen und zur ästhetischen Raumformung eingegangen werden. (1) Was ist Inhalt der theoretischen Raumformung? – das Objektive mit allgemeinen Begriffen bestimmt Cassirer nennt als Beispiel für die theoretische Raumformung den Linienzug: Während ein gleichmäßig geschwungener Linienzug in einer mythischen Raumformung ein magisches Zeichen sein kann oder künstlerisch sich als ästhetisches Ornament zeigt, ist er in einem rein logisch-begrifflichen Strukturzusammenhang möglicherweise ein grafisches Diagramm, das Daten oder einen Funktionsverlauf anschaulich repräsentiert.515 Diese Daten und Funktionsverläufe – kurz alles an »theoretischem Gehalt und an theoretischer Bedeutsamkeit« der Wahrnehmung – sind erschöpfend mit den »Begriffen von Zahl und Maß« zu beschreiben.516 Mathematisch oder naturwissenschaftlich wird der Gegenstand der Wahrnehmung (etwa der Raum) »notwendig mit bestimmten Merkmalen der Größe, der Gestalt, der Zahl versehen« und alles »als eines oder vieles, als groß oder klein, als mit dieser oder jener räumlichen Ausdehnung und Figur behaftet« gesehen.517 Es wird angestrebt, unabhängig von lebensweltlichen, sinnlichen Erfah-

512 Vgl. Cassirer 1930/1985b: 99, 105, 114 f.; Cassirer 1929: 483, 493; Cassirer 1923: 5. 513 Cassirer 1929: 16. 514 Cassirer analysiert die Geometrie und Physik (Naturwissenschaften) übergreifende Raumauffassung. Es geht dabei in erster Linie um den gemeinsamen idealtypischen Kern dieser Arten der Raumauffassung, nicht um die »Geschichte der Behandlung des Raumproblems in den Naturwissenschaften und in der Mathematik im Einzelnen« (Bohr 2008: 57), denn »die genetische Frage, […] ist keineswegs die einzige und nicht einmal die wichtigste« (Cassirer 1944/2007: 74, Hervorh. i. O.). 515 Cassirer 1923: 29 f.; Cassirer 1929: 232 f.; vgl. Schwemmer 2005: 150 f. 516 Cassirer 1929: 16. 517 Ebd.: 23.

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rungen wie »Gerüche, Geschmäcke und Farben«518 die »Natur in ihrem objektiven Sein und in ihrer objektiven Bestimmtheit zu erfassen«519. Das heißt, absehend vom »Zufällige[n] und Konventionelle[n]« wird das »Beständige und Notwendige« gesucht: In der theoretischen Auffassungsform existieren »Süßes und Bitteres, Farbiges und Tönendes« nur als Konvention, »in Wahrheit aber sind nur die Atome und der leere Raum«.520 Wirklichkeit in der theoretischen Formung ist nicht absolut, aber objektiv Was dabei »in Wahrheit«, was ›Wirklichkeit‹ sei, entscheidet sich nicht absolut. Es entscheidet sich jedoch objektiv, nämlich in Bezug auf ein logisches System aus Begriffen und Zusammenhängen: Im theoretischen Raum werden alle »rein ›anthropomorphen‹ Bestandteile« des mythischen und des ästhetischen Raumes »zurückgedrängt« und »durch streng ›objektive‹ Bestimmungen, die sich aus einer allgemeingültigen Methodik des Zählens und Messens ergeben, ersetzt«.521 Cassirer betont den Unterschied von absoluter und objektiver Bestimmung: »Wir bedürfen nicht der Objektivität absoluter Dinge, wohl aber der objektiven Bestimmtheit des Weges der Erfahrung selbst.«522

Man kann also auch sagen: Der »sinnliche Anschauungsraum« wird in der theoretischen Formung von einem »Systemraum« abgelöst,523 der ein »Bedeutungsraum«524 ist. Dieser Systemraum, wie ihn Cassirer selbst unter Bezug auf den Wissenschaftstheoretiker Rudolf Carnap bezeichnet, ist ein »homogener Raum«, das heißt, alle Orte und alle Richtungen sind in ihm streng gleichartig. 525 Im 518 Ebd. 519 Ebd.: 21 f. 520 Ebd.: 22. – Cassirer geht, worauf er selbst hinweist, vom Prinzip her ähnlich wie Rudolf Carnap, auf den ich gleich noch zurückkommen werde, von unterschiedlichen Raumarten aus (ebd.: 492 f.; vgl. Carnap 1922). 521 Cassirer 1929: 493 f. 522 Ebd.: 556; vgl. Cassirer 1910/2000: 308. 523 Bohr 2008: 64. – Koschorke stellt bei der neuzeitlichen Entdeckung des Horizonts unter Bezugnahme auf Cassirers Theorie fest, dass »die ideelle Bildanlage durch einen immanenten Systemraum, das diskontinuierlich-symbolische Zentrum des Bildes, als Erscheinungsweise des Göttlichen, durch eine kontinuierlich-geometrische Konstruktionsmitte« ersetzt wird (Koschorke 1990: 57). 524 Cassirer 1929: 494. 525 Cassirer 1925: 108; vgl. Carnap 1922: 28 f.; Koschorke 1990: 62.

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Gegensatz dazu werden bei den oben erläuterten mythischen und ästhetischen Raumformungen unterschiedliche Orte durch je eine »eigene Art« und einen »eigenen Wert« bestimmt.526 Die theoretischen Raumformungen arbeiten, so beschreibt Albrecht Koschorke es unter ausdrücklichem Bezug auf Cassirer in seiner ›Geschichte des Horizonts‹ treffend, »der Neigung des menschlichen Raumerlebens entgegen, einzelne Zonen und Gegenstandsbereiche für sich wahrzunehmen und affektiv zu besetzen«527. Naturwissenschaft erkennt am Empirischen das Mathematische und Abstrakte Analysiert man von den theoretischen Raumformungen zunächst nur die mathematische, so ist festzustellen: Diese Auffassung hat keinen substanziellen Inhalt, sie hat nichts Sinnliches oder Empirisches zum Gegenstand, sondern ordnet im abstrakten Raum logisch den »ideelle[n] Gehalt«528. Sie zeichnet sich aber dennoch durch eine »Beziehung« auf das Empirische aus, da sie den Anspruch erhebt, die grundlegende Ordnung der wirklichen Räume zu zeigen.529 Naturwissenschaftliche Formungen hingegen haben ein Erkenntnisinteresse an der empirischen Realität im Einzelnen. Sie setzen die immer wieder neuen Phänomene der Empirie in Beziehung zu den Ideen des mathematischen und abstrakten Denkens. Inhalt theoretischer Erkenntnis ist damit nur das Empirische, das durch die Form der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaften bestimmt ist – beispielsweise die Anordnung der Staubblätter einer Blüte, die eine Interaktion mit Insekten erlaubt. Alles andere sinnlich Empfundene – etwa die Schönheit der Blüte – bleibt der theoretischen Erkenntnis gegenüber »lediglich Stoff, bleibt bloße ›Materie‹«, wie Cassirer feststellt.530 Theoretische Formung entfernt sich vom konkret Sinnlichen An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass der Inhalt, also das Materiale der Gegenstände der theoretischen Erfahrung nicht von der Beschreibung der theoretischen Form getrennt werden kann. Dies liegt nicht an einer mangelnden analytischen Durchdringung, sondern entspricht vielmehr dem prinzipiellen Ansatz der ›Philosophie der symbolischen Formen‹, wie ich ihn in Kapitel 2 charakteri526 Cassirer 1925: 108. – Im mythischen Denken gibt es den Raum nicht »als ein homogenes Ganzes, innerhalb dessen die Einzelbestimmungen einander äquivalent und miteinander vertauschbar sind« (Cassirer 1929: 175; vgl. Cassirer 1930/1985b: 495). 527 Koschorke 1990: 62. 528 Cassirer 1923: 9. 529 Cassirer 1929: 527. 530 Ebd.: 9; vgl. Cassirer 1937/1957: 279, 283; Graeser 1994: 177.

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siert habe: »Stoff« und »Form« (»Formung«) sind reine Reflexionsbegriffe, sie sind Glieder einer »methodische[n] Korrelation«.531 Denn wir finden »[…] niemals die ›nackte‹ Empfindung, als materia nuda, zu der dann irgendeine Formgebung hinzutritt«, »sondern was uns faßbar und zugänglich ist, ist immer nur die konkrete Bestimmtheit, […] die von bestimmten Weisen der Formung durch und durch beherrscht und von ihnen völlig durchdrungen ist.«532

Jede Erfahrung ist durch die Formung bestimmt, nicht durch ihren Inhalt. Wenn nun Jörn Bohr in seinem Buch zu Cassirers Raumauffassungen den Typ des theoretischen Raumes als »theoretisch-formalen Raum«533 bezeichnet, erscheint der Zusatz ›formal‹ einerseits verwirrend, denn Raum als Sinnordnung – also auch mythischer und ästhetischer Raum – ist in Cassirers Theorie immer eine Formung. Andererseits hat der Zusatz ›formal‹ zur theoretischen Raumformung hier eine weitergehende Bedeutung und hebt eine wichtige Besonderheit dieses Typs heraus: Die theoretische Formung entfernt sich vom konkreten Sinnlichen (beispielsweise Ästhetischen) und nimmt die ›Wirklichkeit‹ als das an, was bestimmten logischen Prinzipien folgt und objektiv messbar ist. Mit Cassirers Worten selbst: »Der Gegenstand untersteht hier keinen anderen Bedingungen als denen der mathematischen Synthesis selbst: Er ist und besteht, sofern die mathematische Synthesis gilt. Und über diese Geltung entscheidet keine außenstehende, keine transzendente ›Wirklichkeit‹ der Dinge, sondern einzig die immanente Logik der mathematischen Relation selbst.«534

Die logischen Prinzipien sind formal gesetzt, und damit ist dies letztlich auch der theoretische Raum. In der theoretischen Formung muss der »Ordnungsbegriff einen Realitätsgehalt außer sich selbst gar nicht beweisen […], da er mathematisch-formal bereits festgestellt ist«535. Wie dieser formale theoretische Raum gebildet wird, beschreibt Cassirer im Kern mit der Zuschreibung reiner Bedeutungen. Was dies bedeutet, welcher Be531 Cassirer 1929: 13. – Cassirers Auffassung folgt der kritischen Erkenntnistheorie, nach der »das Verhältnis von Theorie und Erfahrung so bestimmt [ist], daß Erfahrung nicht durch ihren Stoff, sondern durch ihre Form definiert ist« (Graeser 1994: 178; Graeser bezieht sich auf Cassirer 1937/1957: 210 f.). 532 Cassirer 1929: 18. 533 Bohr 2008: 56. 534 Cassirer 1929: 459 f. 535 Bohr 2008: 63, Hervorh. i. O.; vgl. Cassirer 1929: 472 f.

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zug auf empirische Gegenstände dabei besteht und inwiefern diese Formung allgemein ist, erläutere ich im Folgenden. (2) Wie wird theoretisch, insbesondere theoretisch-naturwissenschaftlich Raum geformt? – reine Bedeutungen als wesentliche Funktion der symbolischen Formung beim theoretischen Raum Mathematik stellt mit reinen Bedeutungen Bezüge im abstrakten Systemraum her Bei der Frage danach, wie Raum theoretisch geformt wird, ist es wesentlich, das Verhältnis von Anschauung und begrifflicher Setzung zu analysieren: Zwar ist die Raumstruktur in der klassischen euklidischen Geometrie anschaulich beschrieben, entspringt als solche aber niemals der Sinnlichkeit, sondern folgt strikt dem »konstruktiven Prinzip« der Vernunft.536 Cassirer charakterisiert den Unterschied zwischen sinnlichem Wahrnehmungsraum und euklidischem Raum der Mathematik im zweiten Band der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ folgendermaßen: »Der Euklidische Raum ist durch die drei Grundmerkmale der Stetigkeit, der Unendlichkeit und der durchgängigen Gleichförmigkeit bezeichnet. Aber alle diese Momente widersprechen dem Charakter der sinnlichen Wahrnehmung. Die Wahrnehmung kennt den Begriff des Unendlichen nicht, sie ist vielmehr von vornherein an bestimmte Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit und somit an ein bestimmt abgegrenztes Gebiet des Räumlichen gebunden.«537

Leistung dieser mathematischen Auffassung ist es, die unbestimmten, fließend ineinander übergehenden »sinnlich-anschaulichen Data« mit »scharfe[n] und klare[n] Sonderungen« zu ordnen.538 In letzter Konsequenz kommt das mathematische Denken sogar ohne die Anschauung aus.539 Als idealtypisches Beispiel 536 Cassirer 1929: 418 f. 537 Cassirer 1925: 107. – Wie Cassirer dennoch die klassische euklidische Geometrie zur Erklärung des Verhältnisses von Anschauung und Theorie verwendet, beschreibt Bohr: »Der Anschauungsraum […] ist nicht euklidisch, sondern die euklidische Geometrie erscheint bloß als am besten geeignet, die wahrgenommene Räumlichkeit zu beschreiben« (Bohr 2008: 64, Hervorh. i. O.). 538 Cassirer 1929: 468 f. 539 Die Anschauung kommt in der naturwissenschaftlich-theoretischen Raumauffassung jedoch nicht ohne die Mathematik aus, wie ich gleich noch zeigen werde.

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nennt Cassirer die »moderne Geometrie«, also die nicht-euklidische, abstrakte Geometrie.540 Diese ist »die Wissenschaft der ›möglichen‹ Raumformen überhaupt« und hat den Übergang vom »empirischen ›Anschauungsraum‹ zum ›Begriffsraum‹« vollzogen.541 Den Kern dieser Art der Raumformung, die »sozusagen im freien Äther des reinen Gedankens« schwebt,542 ist für Cassirer die »Bedeutung« oder »reine Bedeutung«.543 Während beim Ausdruck (vor allem in der mythischen Raumformung) unmittelbar der Sinngehalt erlebt wird und der geistigen Grundfunktion der Darstellung (vor allem bei der ästhetischen Raumformung) eine bestimmte Sinnsetzung immanent ist, drückt bei der reinen Bedeutung das Zeichen »nichts aus und stellt nichts dar – es ist Zeichen im Sinne einer bloß abstrakten Zuordnung«544. Beispielsweise sind Punkt, Gerade und Ebene in der modernen Geometrie Grundbegriffe, die von jeglicher Bindung zum anschaulichen Dasein gelöst sind. Sie sind nur Zeichen für Beziehungen und Entsprechungen, die in allgemeinen Gesetzen (geometrische Axiome) beschrieben werden. Ihre Illustration ist prinzipiell irrelevant. Auch kann man sich beispielsweise die Parallelen, die sich bei Verlängerung ins Unendliche nicht treffen, gar nicht veranschaulichen. Punkt, Gerade und Ebene »fungieren nur noch als Zeichen für einen bestimmten Bedeutungsgehalt – eben für jenen mathematischen Sinngehalt, der sich in den Axiomen der Geometrie ausspricht«545. Der mathematische Geist erfasst etwas, so Cassirer, »[…] was sich der Anschauung als solcher schlechthin entzieht – er sieht in ihm das Bild eines Gesetzes, einer Form der ideellen Zuordnung, die das letzte Fundament für alles mathematische Denken ist.«546

Der ontologische Status der »Wirklichkeit« in der mathematischen Raumformung ist also »nicht in der Art eines empirischen ›Dinges‹ zu denken, sondern als der Bestand bestimmter Beziehungen, die unter reinen Ideen obwalten«.547

540 Cassirer 1927/1985: 10 f. – Unter »moderner Geometrie« versteht Cassirer beispielsweise die Geometrie in Einsteins Relativitätstheorie. Die euklidische Geometrie dagegen mache »[e]in Verhältnis, das der reinen Begriffswelt angehört […] im Bilde für uns faßbar« (Cassirer 1929: 418). 541 Cassirer 1929: 491 f. 542 Cassirer 1927/1985: 10. 543 Ebd.: 10, 13, 17; Cassirer 1929: 527; Cassirer 1930/1985a: 86. 544 Cassirer 1927/1985: 10; vgl. Orth 1993a: 21. 545 Cassirer 1927/1985: 11. 546 Ebd.: 6 f., Hervorh. i. O.; vgl. Recki 2004: 56.

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Naturwissenschaft konstruiert das Mögliche und bezieht die empirischen Phänomene darauf Während mathematisch reine Bedeutungen im abstrakten Systemraum behandelt werden, hat eine naturwissenschaftliche Formung ein unmittelbares Erkenntnisinteresse am Empirischen. Diese naturwissenschaftliche Formung strebt jedoch ebenso nach Objektivität und zwar vor allem mithilfe der Mathematik: Der Physiker (der idealtypische Naturwissenschaftler) »[…] fordert an irgendeinem Punkte Bestimmtheit und Endgültigkeit: – und er findet sie, wo er den festen Boden des Mathematischen berührt«548.

Der Naturwissenschaftler schließt von den »beobachteten Erscheinungen« auf »Prinzipien« und leitet aus diesen mittels mathematischer Schlüsse Folgerungen ab.549 Er »erhebt sich zur freien Konstruktion des ›Möglichen‹« und zieht gerade dies »in den Kreis der Betrachtung«, was sich »nie und nirgend hat begeben«.550 Basis ist damit nicht die Anschauung, sondern die Theorie – die Objektivität des Mathematischen, in Form von Größe und Zahl.551 Als weiteres Moment kommt »die dynamische Bestimmung, die die Physik in ihrer Lehre von den Bewegungen und Kräften vollzieht«552 hinzu. Mit diesen theoretischen »Grundphasen« wird der »reine Begriff« zur »Form des Objekts als ›Erscheinung‹«.553 Dabei sind die »Beschreibungsmittel« der »modernen Physik« ebenso von »jener Art der ›Tatsächlichkeit‹, die für den Positivismus das alleinige Kriterium der ›Wirklichkeit‹ ausmacht, entrückt: sie gehören derselben Sphäre wie die Gebilde des reinen mathematischen Denkens an«554. 547 Cassirer 1929: 416. – Es stellt sich die Frage, ob der mathematische Raum überhaupt noch als eine Sinnordnung, ein symbolischer Raum, zu bezeichnen ist, denn symbolische Raumformung hat Cassirer ja als Zusammentreffen von sinnlicher Wahrnehmung und Sinnordnung beschrieben. Der mathematische Raum ist aber frei von sinnlicher Wahrnehmung. Diese Frage muss allerdings hier nicht geklärt werden, da bei meinem Thema (Wildnis) nur naturwissenschaftliche Raumauffassungen eine Rolle spielen, nicht rein mathematische. 548 Ebd.: 23.549 Ebd.: 24. 549 Ebd.: 24. 550 Ebd.: 370. 551 Ebd.: 24. 552 Cassirer 1922/2001: 172 ff. 553 Ebd.: 175. 554 Cassirer 1929: 479 f.

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Gerhard Hard beschreibt in seinen wissenschaftstheoretischen Analysen die naturwissenschaftlichen Theorien in diesem Sinne als »Frage-und-Antwortkomplexe«, die »Reaktionen auf problematische wissenschaftliche Beobachtungen« zum Gegenstand haben, und grenzt sie von Reaktionen »auf verblüffende Alltagsphänomene« ab.555 Phänomene werden aufgefasst als Repräsentanten gesetzlicher Begriffe und Zusammenhänge. Über das wissenschaftliche Experiment kann dann die logische Wahrheit der mathematischen Schlüsse und naturwissenschaftlichen Hypothesen zur beobachtbaren Wirklichkeit werden. 556 Das Tatsächliche ist aber andererseits Regulativum für die Theorie. Cassirer charakterisiert dieses Verhältnis mit einem Bild aus der Chemie: Der »sinnlichen Anschauung [kommt] für die Ausbildung der naturwissenschaftlichen Theorien eine wesentlich ›katalytische‹ Leistung zu[...]. Sie ist unentbehrlich für den Prozeß der exakten Begriffsbildung – aber in dem Produkt, das aus diesem Prozeß hervorgeht, gleichsam in der logischen Substanz des exakten Begriffs, ist sie nicht mehr als selbständiger Bestandteil enthalten und aufweisbar.«557

Naturwissenschaftliche Methoden beziehen also die einzelnen empirischen Phänomene, »die Wirklichkeit der sinnlichen Erscheinungen, der Farben und Töne, der Tast- und Temperaturempfindungen«, auf das »Gesamtsystem der Begriffe und Urteile« und sagen in diesem abstrakten System etwas aus über die »Ordnung und Gesetzlichkeit der ›Natur‹«.558 Phänomene sind Repräsentanten logischer Ideen, und so können über sie Aussagen mit dem Urteil wahr oder falsch gemacht werden: Eine bestimmte, aus der Theorie entwickelte Aussage über ein Phänomen zeigt sich als wahr beziehungsweise falsch oder ein bestimmter, der Theorie entsprechender, Wert tritt ein oder nicht. Ein unmittelbarer Sinneseindruck hingegen, der nicht theoretisch geformt ist, »kann bestehen oder nicht bestehen, kann gegeben oder nicht-gegeben, aber er kann nicht ›wahr‹ oder ›falsch‹ sein«559. Auf der Ebene der empirischen Phänomene (im physisch Wirklichen) wird niemals etwas bewiesen.560

555 Hard 1982/2003: 218 f., Hervorh. i. O. 556 Bohr 2008: 63. 557 Cassirer 1929: 485, Hervorh. i. O.; vgl. ebd.: 556. 558 Ebd.: 479; vgl. ebd.: 468 f., 537 f. – Die »Form der wissenschaftlichen Erkenntnis« konstituiert sich »erst eigentlich, in dem [sic!] ihr Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff sich endgültig von dem der ›naiven Weltansicht‹ scheidet« (ebd.: 523). 559 Ebd.: 5. 560 Bohr 2008: 63.

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Ziel ist es auf der Ebene der Bedeutungen vielmehr, immer allgemeinere Gesetze zu finden, die immer besser geeignet erscheinen, die empirischen Phänomene zu erklären.561 Damit soll die »bloß-empirische[...]«, »schlechthin ›gegebene[...]‹ Vielheit« mit den theoretischen Begriffen »in eine rational-überschaubare[...], in eine ›konstruktive‹ Vielheit« verwandelt werden – in einem niemals abgeschlossenen Prozess, der »stets von neuem und mit immer komplexeren Mitteln in Angriff genommen« wird.562 Für Phänomene der Natur gilt, wie Cassirer schreibt: »Die wissenschaftliche Erkenntnis […] gewinnt die ›Nähe‹ zur Natur nur dadurch, daß sie auf sie verzichten lernt – daß sie sich das Gegebene in eine ideelle Ferne rückt.«563

Es baut sich »in der inneren Folgerichtigkeit des reinen Denkens eine Gegenstandswelt für uns auf«, für die stets das wechselhafte äußere physische »Dasein«, das uns die »Empfindung und […] [die] sinnliche Anschauung« vermittelt, die Aufgaben formuliert.564 Jede Naturwissenschaft – neben dem Paradebeispiel Physik etwa auch die im Wildnisdiskurs bedeutsame Biologie565 oder ihr Teilgebiet Ökologie566 – entwi561 Graeser 1994: 180; vgl. Cassirer 1921/1957: 45 f.; Cassirer 1937/1957: 155 f.; Graeser 1994: 178; Cassirer 1929: 527 f.; Bohr 2008: 64. 562 Cassirer 1929: 480; vgl. ebd.: 475, 492. – Es drängt sich die Frage auf, »ob man den physikalischen Raum auf Grund seines Abstandes vom anschaulichen Raum noch ›Raum‹ benennen dürfe« (Cassirer 1930/1985b: 114 f.). Diese Frage betrachtet Cassirer jedoch als eine »rein terminologische Frage« (ebd.), denn in seiner Philosophie führt er nicht eine eigene Terminologie ein, sondern wendet den bestehenden Begriffsgebrauch, der sich kulturell entwickelt hat, nur an. Cassirer erklärt kulturell das übliche Reden vom abstrakten Raum als graduell und nicht kategorial unterschiedlich zum Anschauungsraum, insofern beides Möglichkeiten der Raumauffassung sind (ebd.). 563 Cassirer 1929: 481. 564 Ebd.: 473, 483; vgl. ebd.: 12. – Cassirer weist darauf hin, dass auch die »moderne Erkenntnislehre der Physik« (Cassirer befasst sich intensiv mit der Einstein’schen Relativitätstheorie, die zu seiner Zeit modernste und am weitesten abstrahierte Physik.) nicht »den Realitätsanspruch der physikalischen Begriffe« und das Streben nach der Wirklichkeitserkenntnis aufgegeben hat, ihn jedoch anders definiert: Das Maß der Gültigkeit ist nicht mehr das empirische Experiment, sondern die theoretische Begründung und die Logik der Ordnung nach bestimmten Fragestellungen (ebd.: 26 f.; Cassirer 1927/1985: 15 ff.). 565 Vgl. Cassirer 1922/1956: 9 f.

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ckelt fortschreitend ihr System an exakten, abstrakten Begriffen und entfernt sich damit zunehmend von den anfänglich sinnlich-anschaulichen Bestimmungen. Dabei verlieren die Naturwissenschaften nicht das Erkenntnisinteresse an der empirischen Realität, sondern setzen zu ihren immer wieder neuen Phänomenen die Dimension der reinen (idealisierten) Bedeutungen in Beziehung – sie bringen ihre Gegenstände in eine ganz andere als eine rein anschauliche Formung, nämlich in die theoretische. Empirische Anschauung und mathematisch-ideelle Form beziehen sich in der theoretischen Raumauffassung gegenseitig aufeinander, gehen aber an keinem Punkt ineinander über, sondern bleiben in ihrer Struktur immer klar getrennt. Der Anschauungsraum steht neben dem Ordnungsraum, einem »abstrakten Raum«567, der durch reine Bedeutungen bestimmt ist. Der theoretische Ordnungsraum wird allgemein geformt, frei von Werten Was aus dem gerade beschriebenen methodischen Prinzip insbesondere folgt, ist, dass das Erkenntnisinteresse der Naturwissenschaften am Empirischen sich nie auf ein einzelnes Phänomen oder eine individuelle Empfindung richtet, sondern stets ein Interesse an der »Gesamtheit der Phänomene der Beobachtung« und am Allgemeinen des Phänomens ist.568 Das Besondere, das Individuelle, das Einmalige und Einzigartige kann in der theoretischen Formung nicht erfasst werden, denn all dies fügt sich nicht in ein rein nach logischen Gesetzen konstruiertes System.569 Die wissenschaftliche Naturerkenntnis vollzieht einen »noch schärferen Bruch mit dem Weltbild der ›gemeinen Erfahrung‹«570 als die anderen beiden Raumformungen, denn sie lässt, so Cassirer, das Gebiet »der sinnlichen Empfindungen und der sinnlichen Anschauung hinter sich«571. An die »Stelle einer Erzählung über konkrete Vorgänge und Geschehnisse« wird formal »ein Urteil ge566 Gemeint ist hier selbstverständlich die Naturwissenschaft Ökologie, nicht etwa die politische Idee der Ökologie oder ein anderer Ökologiebegriff. 567 Cassirer 1944/2007: 75. 568 Cassirer 1929: 479, Hervorh. i. O. 569 Dies erläutert Cassirer am Beispiel der Zahl wie folgt: »Auch jede einzelne Zahl ist ein Begriffs-Individuum: ein Gegenstand mit eigenen, ihm allein zugehörigen Merkmalen und Bestimmungen. Aber eben diese Eigenheit kommt ihr nicht an sich, sondern nur im System der Zahlen zu: sie ist gegründet in den reinen Ordnungsbeziehungen, in denen die einzelne Zahl zur Gesamtheit der möglichen Zahlen steht. So ist auch das Individuelle hier als reiner Stellenwert gedacht und fixiert« (Cassirer 1929: 474). 570 Cassirer 1929: 21 f. 571 Ebd.: 22.

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setzt […], das als solches eine rein abstrakte Bedeutung hat«.572 Dies ist ein wesentlicher Unterschied der theoretischen gegenüber der ästhetischen und der modernen mythischen Formung, die – meist auf kulturelle Ideen rekurrierend – individuelle Empfindungen und Darstellungen zum Gegenstand haben. Cassirers Charakterisierung der theoretischen Formung erinnert an Wilhelm Windelbands Begriff des »nomothetischen« wissenschaftlichen Denkens; diese Gesetzeswissenschaft hat das »Allgemeine in der Form des Naturgesetzes« und das immer Gleichbleibende als Erkenntnisziel.573 Jedoch kritisiert Cassirer ausdrücklich, dass in Windelbands Theorie – vor allem so, wie sie von Heinrich Rickert rezipiert wird – nicht die eigentliche Leistung der Naturwissenschaften klar wird, das Besondere mit dem Allgemeinen zu verbinden.574 Impliziert in Cassirers Darstellung der mathematischen und naturwissenschaftlichen Raumformung sind Aussagen zur Wertfreiheit. 575 Bei der angestrebten Form, Räumlichkeit mit reinen Bedeutungen aufzufassen, die der Logik der Mathematik und naturwissenschaftlichen Hypothesen folgen, können Bewertungen – auch wenn sie über individuelle Bewertungen hinaus gesellschaftlich weitgehend geteilte Werte oder moralische Grundwerte sind – nicht einbezogen werden. Denn Bewertungen entziehen sich nicht nur der rationalen Begriffe von Zahl und Maß, sondern ihre Gültigkeit ist prinzipiell nicht allgemein logisch und objektiv, unabhängig von Konventionen, insbesondere auch von den kulturell verhandelten Wertsetzungen. Werte sind nicht das »Beständige und Notwendige«, wie die objektive Bestimmung nach Größe etc., auch wenn es durchaus rational sinnvoll erscheinende Ethiken gibt, sondern vergleichbar mit »Gerüche[n], Geschmäcke[n] und Farben«,576 die Cassirer, wie oben beschrieben, als zufällige und konventionelle Anschauungen charakterisiert hat. Naturwissenschaften machen »keine Aussagen über den Sinn« und implizierte, subjektive oder kulturelle Wertsetzungen. In der Lebenswelt jedoch können sie zur Sinnsetzung beitragen, indem ihre Ergebnisse »neue Sichten auf die Welt eröffnen« – beispielsweise können, wie Jörn Bohr anführt, in der astronomischen Forschung angefertigte Fotografien der Erde vom Mond aus – Ergebnis neuer technischer Errungenschaften – das Denken über die Bedeutung der Erde verändern.577 Eine derartige Verknüpfung naturwissenschaftlicher Beschreibungen 572 Ebd.: 26. 573 Windelband 1894/1982: 167. 574 Cassirer 1942/2007: 393. 575 In Cassirers Schriften, soweit sie mir zugänglich waren, ist eine explizite Diskussion zur Wertfreiheit der Naturwissenschaften allerdings nicht zu finden. 576 Cassirer 1929: 23. 577 Bohr 2008: 70, Hervorh. i. O.

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eines Phänomens mit kulturellen Sinngehalten erscheint zunächst widersprüchlich. Wie sie mit Cassirers Theorie nachvollzogen werden kann, untersuche ich am Ende des Kapitels 3.3.2, denn diese lebensweltliche Sphäre hat im Naturschutz und vor allem beim Thema ›Wildnis‹ große Relevanz, was ich in Kapitel 4 diskutieren werde. 3.3.2 Theoretische Raumauffassungen in ihrer Stellung zu anderen symbolischen Raumformungen Lebensweltliche Anzeichen für alltagsweltliche Verbindungen theoretischer Raumauffassungen mit mythischen oder ästhetischen Zu Anfang des Kapitels 3.3 habe ich anhand einiger lebensweltlicher Beispiele die Vermutung gezeigt, dass heute gerade in Naturschutzdiskursen alltagsweltliche Bezüge auf naturwissenschaftlich-theoretische Raumauffassungen gängig sind. Mit Cassirers Darstellung des theoretischen Raumes ist die alltägliche Erfassung von Gebieten in metrischen Flächenmaßen oder als Abgrenzungen auf Katasterplänen zu verstehen als das Streben, sich über Räume unabhängig von lebensweltlichen, sinnlichen Erfahrungen, objektiv in Bezug auf logische Systeme zu verständigen. Dabei soll es gerade nicht von Relevanz sein, ob ein Gebiet ästhetisch ansprechend erscheint oder als mythischer Ort gilt – allein die abstrakten Messwerte und Geometrien zählen. Durch Höhenangaben und Koordinaten mit dem satellitengestützten Navigationssystem GPS fasst der Wanderer den empirischen Raum im Sinne der naturwissenschaftlich orientierten Messung exakt auf; tradierte, anschauliche Erzählungen von schönen oder gefährlichen Orten können darin nicht vorkommen. Wenn ein Besucher besonderer Naturgebiete sich den Formen und dem Verhalten spezialisierter Tiere und Pflanzen über naturwissenschaftliche Erklärungen ökologischer Nischen, Räuber-Beute-Beziehungen und Stoffflüssen in Systemen annähert, entfernt er sich von der sinnlichen Wahrnehmung konkreter Lebewesen und befasst sich mit allgemeinen, abstrakten Gesetzen. Die Beispiele deuten darauf hin, dass wir in alltäglichen Handlungen und Techniken in einer bestimmten Weise Auffassungsweisen heranziehen, die einer theoretischen Raumformung im Sinne Cassirers entsprechen. Es ist außerdem zu bemerken, dass die theoretisch-naturwissenschaftlichen Auffassungen lebensweltlich mythische oder ästhetische Räume offenbar keinesfalls obsolet werden lassen. So orientieren sich viele beispielsweise problemlos sowohl an der exakten meteorologischen Wetterkarte, als auch an bäuerlichen Wetterregeln (oft wissenschaftlich unhaltbare Langzeitwetterprognosen). Mitunter scheinen darüber hinaus unterschiedliche Raumauffassungen verbunden zu

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werden: Die Beschäftigung mit der Lebensweise bestimmter Tierarten im Val Grande kann eine ästhetische Faszination an ihnen einschließen oder sogar erzeugen. Die exakte Erklärung von Stoffkreisläufen in der Landnutzung historischer Zeiten kann ohne Weiteres mit märchenhaften Bedeutungen unheimlicher Orte illustriert werden. Die theoretische (hier vor allem naturwissenschaftlichtheoretische) Raumformung also scheint eine unter mehreren zu sein und in unserer Alltagswelt mit anderen verbunden zu werden. Unklar blieb in meinen bisherigen Ausführungen mit Cassirers Theorie zum einen, was die alltägliche Rezeption des wissenschaftlichen Zugangs ausmacht und wie der vereinfachende alltägliche Bezug auf theoretische Raumformungen im Detail zu denken ist. Zum anderen wurde die Art der Verbindung unterschiedlicher Raumformungen, die mir für die Analyse des aktuellen Wildnisdiskurses besonders bedeutend erscheint, noch nicht analysiert. Diese Zusammenhänge werde ich im folgenden Kapitel untersuchen. Als erstem Schritt ist der Frage nachzugehen, wie mit Cassirer die theoretische Raumformung als symbolische zu charakterisieren ist und wie sie gleichrangig mit der mythischen und ästhetischen verstanden werden kann. Darauf basierend werde ich dann die alltagsweltliche Verbindung theoretischer Raumauffassungen mit mythischen oder ästhetischen diskutieren. Zum Symbolischen in der theoretisch-naturwissenschaftlichen Raumformung Mit Cassirer hat sich in Kapitel 3.3.1 deutlich gezeigt: Wer Räumlichkeit theoretisch auffasst, strebt nach Objektivität, nach einer Auffassung der Räumlichkeit, die unabhängig von ihm als Betrachter ist. In der ästhetischen Formung hingegen sind diametral entgegengesetzt zu diesem Erkenntnisideal die individuelle Empfindung und ihre Darstellung wesentlich. In der mythischen Formung wiederum kommt es zu einer eigenartigen Verknüpfung individueller und allgemeiner Bedeutungszuweisung: Der Betrachter deutet in der Anschauung die Räumlichkeit subjektiv, nimmt dabei diese Deutung aber als unmittelbares Empfangen eines allgemeinen Ausdrucks des Raumes wahr. Der theoretische Raum steht den anderen beiden Raumauffassungen in vielerlei Hinsicht unvereinbar gegenüber. Dennoch beschreibt Cassirer alle drei Raumauffassungen gleichrangig als symbolische Formungen, das heißt jeweils als bestimmte Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen, mit denen das wahrnehmende Subjekt das Räumliche in der Anschauung strukturiert. Hier stellt sich die Frage, inwiefern der theoretische Raum sich überhaupt objektiver und allgemeiner als symbolische Formung des Subjekts begreifen lässt. Dies zu klären ist ein wichtiger Baustein, um die von mir

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im Wildnisdiskurs vermuteten alltagsweltlichen Verbindungen unterschiedlicher Raumauffassungen untersuchen zu können. Wissenschaftliche Erkenntnis geschieht innerhalb einer bestimmten Theorie Die Frage nach dem theoretischen Raum als symbolische Formung diskutiert Cassirer in einem zentralen Aspekt seiner Erkenntnistheorie, nach dem jegliche Auffassung – also auch die theoretische – nicht unabhängig vom Betrachter ist. Bildlich gesprochen ist eine der möglichen Formungen, mit denen ein Subjekt ›schauen‹ kann, eine Brille mit einem bestimmten »Brechungsindex«578. Man könnte zunächst denken, Gegenstand der theoretischen Betrachtungsweise sei (im Gegensatz zur mythischen oder ästhetischen) der unbestreitbar ›wirkliche‹ Raum in seiner physischen Realität, frei von Interpretationsspielräumen oder Reduktionen. Dies wäre jedoch nach Cassirers Raumtheorie eine naive Auffassung, deren Mangel darin bestünde, »daß sie die Aufgabe, die die Erkenntnis zu vollziehen hat, als bereits gelöst vorwegnimmt.«579 Denn es ist »das eigentliche Rätsel der Erkenntnis«, dass »uns der absolute Gegenstand« nicht »bereits anderweit bekannt« ist, sondern für uns der Gegenstand immer nur in einer von mehreren möglichen Vorstellungen entsteht.580 Auch für die Wissenschaften gilt nach Cassirer: »Es gibt keine Faktizität an sich, als ein absolutes, ein für allemal feststehendes und unveränderliches Datum: sondern was wir ein Faktum nennen, muß immer schon in irgend578 Cassirer 1929: 3; vgl. Kapitel 2. 579 Cassirer 1910/2000: 314. 580 Ebd.: 303. – An anderer Stelle formuliert Cassirer diesen Zusammenhang wie folgt: »Das Ganze, das wir suchen und auf welches der Begriff sich richtet, darf nicht im Sinne eines absoluten Seins außerhalb jeder möglichen Erfahrung gedacht werden; es ist nichts anderes als der geordnete Inbegriff dieser möglichen Erfahrungen selbst« (ebd.: 314). Habermas erklärt diesen Ansatz in seinem Essay zu Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ so: »Aus dieser Sicht verschwindet auch das irritierende ›Ding an sich‹ – so als ob der kategorisierende Verstand einem ›an sich‹ gegebenen Material seine Form aufprägte. Der Sinneseindruck, der den Akt der Symbolisierung hervorruft, ist nichts ontisch Gegebenes, sondern eine Limesgröße, die wir postulieren. […] Allein innerhalb des durch die ursprünglich bildende Kraft der symbolischen Repräsentation eröffneten Horizonts können wir den repräsentierten Gegenständen Existenz zuschreiben. Außerhalb der symbolisch gestifteten Relation zwischen einem sprachlichen Ausdruck und dem, was er besagt, ist eine solche Zuschreibung strikt sinnlos« (Habermas 1996: 27 f.).

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einer Weise theoretisch orientiert, muß im Hinblick auf ein gewisses Begriffssystem gesehen und durch dasselbe implizit bestimmt sein. Die theoretischen Bestimmungsmittel treten nicht nachträglich zum bloß-Tatsächlichen [sic!] hinzu, sondern sie gehen in die Definition des Tatsächlichen selbst ein.«581

Vor allem mit Blick auf die Relativitätstheorie kommt Cassirer zu diesem Schluss und macht an anderer Stelle in diesem Sinne deutlich, dass Kants Annahme, es könne »nur eine Erfahrung geben […], weil es nur einen Raum und eine Zeit gibt,« 582 zu folgender Vorstellung weiterentwickelt werden muss: Die »Form der ›Naturgesetze‹« ist »von dem Charakter unserer empirischen Begriffsbildung und von den Symbolen, die wir wählen, um zu einer exakten Beschreibung des Naturgeschehens zu gelangen, nicht unabhängig«583.

Das heißt: Der Wissenschaftler möchte letztlich die Gegenstände so erfassen, wie sie an sich, unabhängig von ihm als Wissenschaftler, sind. Jedoch befindet er sich dabei immer innerhalb einer bestimmten Theorie, einer Formung, ohne dass er diese Grenzen in diesem Moment und innerhalb seiner (natur-)wissenschaftlichen Theorie reflektieren könnte oder müsste. Die »Wissenschaft freilich kann den Sprung über den eigenen Schatten niemals vollziehen. Sie wird erst durch bestimmte theoretische Grundvoraussetzungen konstituiert; aber sie bleibt eben darum an sie auch gebunden und in ihnen, wie in ehernen Mauern, eingeschlossen.«584

Naturwissenschaft wendet theoretische Begriffe auf das empirische Material an Als ›symbolisch‹ im Sinne Cassirers sind theoretische Auffassungen nach folgender Überlegung charakterisiert: In der theoretischen Formung wird zwar 581 Cassirer 1929: 475. – An anderer Stelle beschreibt er dies so: »Axiome und Grundsätze, die auf einer bestimmten Stufe der Erkenntnis als der letzte und vollständige Ausdruck der Lösung dastehen, müssen auf einer späteren Stufe wieder zum Problem werden. Demnach erscheint das, was die Wissenschaft als ihr ›Sein‹ und ihren ›Gegenstand‹ bezeichnet, nicht mehr als ein schlechthin einfacher und unzerleglicher Tatbestand, sondern jede neue Art und jede neue Richtung der Betrachtung schließt an ihm ein neues Moment auf« (Cassirer 1923: 5). 582 Cassirer 1913-1939/1993: 115, Hervorh. i. O. 583 Ebd. 584 Cassirer 1929: 42.

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»von bestimmten Grundbegriffen, von Voraussetzungen und ›Hypothesen‹« ausgegangen, »die als solche keinerlei unmittelbare ›Entsprechung‹ im SinnlichWirklichen besitzen«, aber der Anspruch besteht, mit der jeweiligen Theorie »eben diese[...] Wirklichkeit, ihre durchgehende Ordnung kenntlich zu machen«.585 Diese untrennbare, gegenseitige Abhängigkeit von empirischer Realität und ordnender Theorie bezeichnet Cassirer als ›symbolisch‹. Denn nur naiv sind Theorien als »passive Abbilder eines gegebenen Seins« zu erklären und die »Grundbegriffe jeder Wissenschaft, die Mittel, mit denen sie ihre Fragen stellt und ihre Lösungen formuliert,« »als selbstgeschaffene [sic!] intellektuelle Symbole« zu verstehen.586 Besondere Bedeutung hat das ›Symbolische‹ im theoretisch-naturwissenschaftlichen Denken, weil es ein »reines Ordnungs-Gefüge« an theoretischen Begriffen auf das empirische Material anwendet.587 Die Symbole bilden dabei eine eigene Welt, die nicht das Gegebene abbildet, sondern neue Zusammenhänge im Gegebenen mit Begriffen und Gesetzen schafft und so zur Erkenntnis des Empirischen verhilft.588 Denn der »einzelne gegebene Eindruck bleibt nicht schlechthin, was er ist, sondern wird zum Symbol der durchgehenden systematischen Verfassung, innerhalb deren er steht und an welcher er in bestimmtem Maße teilhat.«589 Cassirer erklärt dieses symbolische Moment der Wissenschaften in ausdrücklicher Abgrenzung zu empiristischen und positivistischen Ansätzen wie folgt: »[W]as bedeutet der Ausdruck ›wissenschaftliche Tatsache‹? Offenbar ergibt sich eine solche Tatsache nicht aus irgendeiner zufälligen Beobachtung oder aus einer bloßen Anhäufung von Sinnesdaten. Die Tatsachen der Wissenschaft setzen stets ein theoretisches, das heißt ein symbolisches Element voraus.«590

Der »kritische Idealismus Cassirers« kann demnach, so bringt es der Cassirerinterpret Jean Seidengart auf den Punkt, »die physische Realität« gerade deshalb denken »ohne auf die Schwierigkeiten des naiven Realismus, des Empirismus 585 Ebd.: 527. 586 Cassirer 1923: 5. 587 Cassirer 1929: 556. 588 Cassirer 1910/2000: 308. 589 Ebd.: 303. – Auch der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper bezeichnet wissenschaftliche Theorien als »Symbole, Zeichensysteme«, denn »Beobachtung ist stets Beobachtung im Lichte von Theorien« (Popper 1934/1989: 31, Hervorh. i. O.). Beobachtung kann also nicht rein beschreibend und theoriefrei sein. 590 Cassirer 1944/2007: 95; vgl. Cassirer 1927/1985: 4; Cassirer 1929: 492.

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und der Skepsis zu stoßen«, weil er davon ausgeht, dass »der menschliche Geist seine begrifflichen und symbolischen Konfigurationen« »im Prozeß der Erkenntnis selbst hervorbringt«.591 Hier wird deutlich, wie Cassirer – was ich im Überblick zu seiner Theorie bereits erwähnt hatte592 – den »symbolischen Raum« als Gegenmodell zur idealistischen Auffassung eines »bloß vorgestellten Raumes« ebenso wie zur naturalistischen Annahme eines »bloß objektiv-vorhandenen Raumes« formuliert.593 Die Vorstellung von den äußeren Gegenständen wird also auch in der theoretischen Formung – wie in der mythischen und der ästhetischen Formung – von der Art von Fragen, die wir an sie richten, geprägt.594 Kulturelle Sinngebungen und wissenschaftliche Zielsetzungen als unterschiedliche Kontexte Gemeinsam ist dem abstrakten theoretischen Raum mit dem sinnlichen (ästhetischen oder mythischen) Anschauungsraum, dass er je nach Sinnkontext beziehungsweise wissenschaftlicher Zielsetzung anders konstituiert wird, und sehr wohl empirisch, jedoch nicht absolut, sondern (nur) in der jeweiligen Auffassung, vorhanden ist.595 Bezüglich seiner These der wissenschaftlichen Auffassungen als symbolische Formungen kann Cassirer in Bezug auf seinen grundlegenden Ansatz einer bestimmten kritisch-rationalen Richtung von Erkenntnistheorien zugeordnet werden: Mit Cassirers ›theoretischer Formung‹ lassen sich ebenso wie mit Karl Poppers ›Theoriensystem‹,596 wie mit Thomas S. Kuhns ›Paradigma‹ und wie mit Imre Lakatos’ ›Forschungsprogramm‹ die spezifischen

591 Seidengart 1995: 205. 592 Siehe Kapitel 2.2. 593 Bohr 2008: 89. 594 Vgl. Graeser 1994: 34. 595 Cassirer 1929: 187; vgl. Graeser 1994: 181 f. – Ernst Wolfgang Orth weist darauf hin, dass Cassirer mitunter künstlerische Formen und mathematisch-funktionale Strukturierungen gleichermaßen als »Stil« bezeichnet und damit ausdrücklich als Form gleichrangig einordnet (Orth 1993a: 21, mit Zitat aus Cassirer 1923/2006: 186 f.). 596 Karl Popper sieht, ebenso wie Cassirer und ohne auf ihn explizit Bezug zu nehmen, die theoretische Auffassung in folgender Hinsicht der alltäglichen gleich strukturiert: Beide sind nicht ohne ihren jeweiligen Kontext zu verstehen (Popper 1934/1989: 31).

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Kontexte beschreiben, in welche die jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisse notwendig eingebunden sind.597 Dabei sind zwei Kontexte zu differenzieren: (1) die kulturellen Sinngebungen von (2) der wissenschaftlichen Zielsetzung. (1) Der Sinnkontext ist eine kulturelle Prägung, die einen wissenschaftsexternen Einfluss auf die theoretische Raumformung ausübt und philosophisch oder kulturwissenschaftlich, nicht aber naturwissenschaftsintern analysiert werden kann. 598 (2) Unterschiedliche (konkurrierende) wissenschaftliche Zielsetzungen sind, im Gegensatz zum Sinnkontext, innerhalb der jeweiligen Wissenschaft als konkurrierende Forschungsprogramme diskutierbar. Mit dem theoretischen Raum im Sinne von Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ lässt sich vor allem die Rolle der verschiedenen Sinnkontexte, aber auch die Bedeutung der unterschiedlichen wissenschaftlichen Zielsetzungen analysieren.599 597 Zur Unterschiedlichkeit dieser Erkenntnistheorien, die neben der genannten Gemeinsamkeit bestehen, vgl. unter anderem Lakatos (1968/1982) und Voigt (2009: 52 f.). – In der Sekundärliteratur zu Cassirer, soweit mir bekannt, ist dieser Zusammenhang zu anderen Erkenntnistheorien erstaunlich wenig analysiert; auch in dem umfangreichen Überblick zur Cassirerrezeption von Martina Plümacher (Plümacher 1999) ist dazu nichts erwähnt. Ein einzelner Hinweis ist allerdings bei Andreas Graeser zu finden, wenn er über die Funktion von Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ folgendes schreibt: »Was Cassirer somit vorgeschwebt haben müßte, wäre eine Ebene zweiter Ordnung, von der aus konkurrierende Theorien erster Ordnung verglichen und ineinander übersetzt werden könnten. Dies aber wäre wohl Sache jener Art philosophischer Reflexion, die er selbst insbesondere in ZMP [Zum Wesen der Physik, 1921/1936; Graeser meint offenbar Cassirer 1957, G. K.] anstellt und die heute auf dem Hintergrund der Diskussion der Inkommensurabilitätsthese Thomas Kuhns wieder wichtig geworden ist« (Graeser 1994: 183; vgl. Cassirer 1925: 35). 598 Diesem Aspekt des außerwissenschaftlichen Einflusses auf die Wissenschaften weist Thomas S. Kuhn in seiner Analyse des Fortschritts der Wissenschaften eine ganz bestimmte, mitunter entscheidende Bedeutung zu (Kuhn 1962/1976: 104 ff.; vgl. Voigt 2009: 52 ff.). 599 Den »Wettstreit von Forschungsprogrammen«, der den Fortschritt der Wissenschaft vorantreibt, beobachtet besonders Imre Lakatos (Lakatos 1968/1982: 150). In der Annahme eines »innerwissenschaftliche[n] Pluralismus« (Voigt 2009: 53) verbindet er gewissermaßen Karl Poppers rationale Logik der Forschung durch Falsifikation mit Thomas S. Kuhns »Psychologie der Forschung« (Lakatos 1968/1982: 171), die außerwissenschaftlichen Einflüssen eine entscheidende Rolle zuschreibt.

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Die theoretische Formung als gleichrangig mit mehreren Der theoretische (logische oder naturwissenschaftliche) Raum ist nur, wie wir gerade gesehen haben, in Relation zu gewissen gedanklichen Postulaten möglich, die »bestimmte Abgrenzungen schaffen und bestimmte dauernde Elemente und Verknüpfungszusammenhänge fixieren«600. Damit ist das »Ding« nicht »die unbekannte Sache, die als bloßer Stoff vor uns liegt, sondern ein Ausdruck für die Form und den Modus des Begreifens selbst«.601 Der theoretische Raum steht damit ausdrücklich gleichrangig neben den anderen symbolischen Sinnordnungen als ein möglicher Zugang zur ›Wirklichkeit‹. Mit diesem Denkansatz kann folgende allgemeine Erfahrung erklärt werden: Das Mythische eines finsteren Raumes oder der künstlerische Ausdruck eines Landschaftsgemäldes lassen sich beispielsweise naturwissenschaftlich nicht besser als mythisch beziehungsweise ästhetisch verstehen oder gar aus der Welt schaffen, sondern sind mit logischen oder naturwissenschaftlichen Begriffen in diesen Bedeutungen überhaupt nicht fassbar.602 Das Mythische des finsteren Raumes ist hier im Sinne jener modernen Auffassungsform gemeint, wie ich sie in Kapitel 3.1.2 mit Cassirer erläutert habe. Historisch ist die (archaisch unhinterfragbare) mythische Weltanschauung durch naturwissenschaftliche, theoretische Erklärung durchaus aufgeklärt worden: Seitdem muss der finstere Raum nicht mehr zwingend Ort böser Mächte sein. Dennoch kann er das in der Moderne möglicherweise sein, wenn das Subjekt diese mythische Auffassung selbstbestimmt einnimmt. In der modernen Pluralität unterschiedlicher Raumformungen ist auch die mythische nicht aus der Welt geschafft, sondern kann in ihrer besonderen Wirkung subjektiv durchaus Bedeutung erlangen. Jürgen Habermas beschreibt Cassirers symbolische Formen als ›Sphären‹ und stellt zu seiner Philosophie zusammenfassend fest: »Cassirer unterstellt der Kulturentwicklung keineswegs eine Logik des Fortschritts. […] Und keine symbolische Form, nicht einmal der Mythos, verliert ihr Eigenrecht zugunsten einer anderen Sphäre.«603

In der theoretischen Auffassung wird der Raum mit dem Ziel »wissenschaftliche[r] Objektivierung« wahrgenommen, was mit dem Verstand geschieht, »der kraft seiner eigenen Gesetzlichkeit die Bedingung der reinen Naturerkenntnis, der Gesetzlichkeit der wissenschaftlichen Erfahrung und ihres Gegenstandes, 600 Cassirer 1910/2000: 328. 601 Ebd.; vgl. Cassirer 1929: 491 f. 602 Vgl. Bohr 2008: 27. 603 Habermas 1996: 38.

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ist«.604 Diese Form der Anschauung, die sich am »universellen System der Naturerkenntnis« orientiert, ist eine wesentliche, doch ist sie, wie Cassirer im dritten Teil seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ ausführt, in der Moderne »nicht die einzige Bedeutungsintention«, die in der sinnlichen Anschauung möglich ist.605 Den »Gedankenformen«, »in die das exakt-wissenschaftliche Begreifen die Welt der Phänomene einspannt, stehen Formen von anderer Prägung und anderer Sinnrichtung gegenüber«, wie sie unter anderem »in den mythischen Begriffen wirksam« sind:606 »Die mythischen Gebilde gleichen nicht einem bunten Schleier, der sich, immer dichter und dichter, um die empirische Vorstellung der Dinge legt, die demungeachtet [sic!] als ein fester unangreifbarer Kern hinter diesem Schleier bestehen bleibt. Sondern dies vielmehr macht die Kraft dieser Gebilde aus, daß in ihnen eine eigene und eigentümliche Wiese der Anschauung und der Wahrnehmung von ›Wirklichkeit‹ gegeben ist, die unter ganz anderen Bedingungen steht, als jener Modus der Wirklichkeitserfassung, der zu dem Phänomen der ›Natur‹ als einem Ganzen, das unter durchgängigen empirischen Gesetzen steht, hinführt.«607

Ein empirisches Phänomen in unterschiedlichen Formungen am Beispiel Eibenwald Wie ein empirisches Phänomen in unterschiedlichen Formungen verschieden konstituiert wird, werde ich im Folgenden am Beispiel eines Eibenwaldes veranschaulichen. Im »pragmatischen Raum«608 kann zwar gegebenenfalls immer das selbe empirische Phänomen, der eine Eibenwald an einem bestimmten Ort, betrachtet werden. Der jeweilige systematische, geformte Raum, in dem Phänomene zu Gegenständen werden, ist jedoch »jeweils konstituiert durch die bestimmten Strukturgesetze«609 der jeweiligen symbolischen Formung: Beispielsweise wird die dunkle farbliche Erscheinung und die kleinteilige Struktur des Eibenwaldes ästhetisch wahrgenommen oder die Magie und Heilkraft des Eibenwaldes 604 Cassirer 1929: 17. 605 Ebd., Hervorh. i. O. 606 Ebd.: 17 f. 607 Cassirer 1929: 19. 608 Ebd.: 173. 609 Cassirer 1930/1985b: 113. – An anderer Stelle schreibt Cassirer: Ein Phänomen gewinnt in jeder Fassung (ästhetisch, magisch-mythisch oder mathematisch) »eine durchaus andere gegenständliche Prägung« (Cassirer 1927/1985: 21). Das, »was wir den Gegenstand nennen«, ist »nicht in der Art einer festen und starren forma substantialis« zu fassen, sondern »als Funktionsform« (ebd.).

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hat Bedeutung oder aber das Alter der Bäume, die Standortbedingungen und die Artenzusammensetzung des Unterwuchses werden naturwissenschaftlich registriert. Diese unterschiedlichen Auffassungen sind nicht gleichzeitig möglich. Das moderne Subjekt kann jedoch bei der Betrachtung des Phänomens zwischen ihnen wechseln und immer wieder andere Gegenstände wahrnehmen und beschreiben.610 Diese Beschreibungen können für andere nur verständlich werden, wenn die »theoretische wie alle anderen Leistungen des menschlichen Geistes« erkannt und »in den kulturellen Horizont zurückgestellt wird, aus dem sie sich entwickelt hat«.611 Cassirer analysiert die unterschiedlichen Auffassungsweisen kulturell: Er interpretiert Mythos, Kunst und Wissenschaft »als jeweils autonome Funktionen des Geistes« und integriert damit auch die »rein logische Urteilsfunktion« der Erkenntnis in ein »übergeordnetes Konzept von Funktionen«.612 Bei Cassirer ist, wie Ute Daniel interpretiert, »[…] der Geltungsanspruch wissenschaftlicher Welterkenntnis […] anders, nicht jedoch ›besser‹ oder ›objektiver‹ begründet als solche Ansprüche auf Geltung, die andere Weisen der Welterkenntnis – künstlerischer oder mythisch-religiöser Art etwa – machen können«613. 610 Eine spezielle Form des Wechselns zwischen Raumformungen haben ich in Kapitel 3.2.2 gezeigt: Die ästhetische Sehnsucht der Romantik nach mythischen Deutungen, bei der es sich zunächst um bewusste Zitate mythischer Empfindungen im Rahmen ästhetischer Raumauffassungen handelt, kann so weit gehen, dass die ästhetische Erfahrung in eine mythische (moderne romantisch-mythische) umschlägt. Dies ist ein kategorialer Wechsel und keine Mischung aus beiden Typen. 611 Marx 1975: 304; vgl. Bevc 2005: 51 f. 612 Kaegi 1994: 172. – Ernst Wolfgang Orth formuliert diesen kulturphilosophischen Ansatz Cassirers so: Von Cassirer »wird die Weltwirklichkeit als Kulturwirklichkeit verstanden, in der folgerichtig der gesamte Sinn sowohl des natürlichen als auch des naturwissenschaftlichen Weltbegriffs erhalten bleibt« (Orth 1985: 174). 613 Daniel 2006: 91. – Klaus Christian Köhnke interpretiert weiterführend Cassirers Ansatz als fortschrittskritisch: »Cassirers ›Theorie symbolischer Formen‹ behauptet damit nicht nur die Vorgängigkeit von Sinnstrukturen, innerhalb derer wir uns jederzeit bewegen, vor aller Erfahrung (d. i. kulturelle Geprägtheit aller Wahrnehmung), sondern bestreitet zugleich auch die naive Annahme eines wissenschaftlichen Fortschrittsprozesses in Richtung einer fortschreitenden ›Klärung‹ der Raumauffassungen zugunsten schließlich doch nur einer wahren und wirklichen Konzeption« (Köhnke 2001: 27, Hervorh. i. O.). Hierzu ist zu bemerken, dass in heutigen Raumtheorien selten von nur einer Raumauffassung ausgegangen wird, sondern zumindest die ästhetische als eigenständig vorausgesetzt wird, die auch nicht im Fortschritt der

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Dem theoretischen Raum ist das Ideal der Allgemeinheit inhärent, jedoch die Philosophie kann eine Pluralität an Raumformungen zeigen Dass der theoretisch (mathematisch oder naturwissenschaftlich) geformte Raum teilweise als einziger – weil objektiver – erscheint und die Pluralität der Raumauffassungen übersehen wird, rührt wohl vor allem aus dem inhärenten idealen Anspruch der theoretischen Formung her. Darauf gibt Cassirer in seinen ›Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik‹ einen Hinweis: In der sinnlichen (mythischen oder ästhetischen) Formung werden Einzelphänomene vor allem durch ihre »sinnliche Lebhaftigkeit« zu Gegenständen des Anschauungsraumes.614 In der theoretischen Auffassung hingegen zeichnet sich die Bildung der Gegenständlichkeit durch das Knüpfen allgemeiner Beziehungen zwischen den Phänomenen aus: Was den »›Dinge[n]‹ der Physik« dann »ihre eigentümliche Art der ›Realität‹ verleiht, ist der Reichtum an Folgerungen, der von ihnen ausgeht.«615

Innerhalb der Wissenschaften setzt man die Möglichkeit der Folgerungen voraus, die auf dem Ideal der allgemeinen theoretischen Vernunft ohne subjektive und kulturelle Prägung beruht. Die sinnlich geformten Dinge bleiben dagegen innerhalb der einzelnen subjektiven Bedeutung – die allerdings in einem allgemeinen kulturellen Kontext steht – ohne generellem Anspruch der Verallgemeinerbarkeit. Die Philosophie ist in der Lage, auf der Metaebene die unterschiedlichen Auffassungen von außen zu betrachten. Aus dieser Perspektive gesehen ist die theoretische Formung eine gleichrangige mit mehreren. 616 Es gibt, so interpretheoretisch-naturwissenschaftlichen verschwinden wird. Köhnkes Aussage ist zu verstehen im Kontext seiner Kritik am naiven Postulat eines einzigen, objektiven, naturalen Raumbegriffs in der Regionenforschung. 614 Cassirer 1910/2000: 303. 615 Ebd., Hervorh. i. O. 616 Ernst Wolfgang Orth beurteilt in seiner ausführlichen Analyse von Cassirers Philosophie die Stellung der theoretischen Formung wie folgt: »Die Frage, ob die symbolischen Formen nacheinander zu ordnen sind, ist schwer zu entscheiden; auch die Frage nach ihrer Vollständigkeit bleibt offen. Daß die Wissenschaft in gewisser Hinsicht die späteste Form ist, erscheint gesichert, nicht aber, daß sie die höchste ist; denn bewertet wird ihr Rang (wie alle symbolischen Formen) von der Philosophie, die ihrerseits gerade nicht als eine bestimmte abgrenzbare symbolische Form auftritt« (Orth 1993a: 20).

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tiert Heinz Paetzold Cassirers Konzept, in der Moderne »weder eine Hierarchie der symbolischen Formen noch kann die eine auf eine andere Form reduziert werden«617. Alltagsweltliche Verbindungen theoretischer Raumauffassungen mit mythischen oder ästhetischen Die theoretische Raumauffassung gemäß Cassirers Philosophie erscheint nun hinreichend erklärt: Sie ist ein bestimmter Typ der symbolischen Raumformung, der auf mathematisch-naturwissenschaftlicher Logik und objektiver Messbarkeit beruht. Der Raum wird nicht anschaulich wahrgenommen, sondern mittels konstruktiver Vernunft. Vom mythischen Ausdruckserleben oder der ästhetischen Darstellung unterscheidet die theoretische Formung sich kategorial insbesondere, weil sie das Einzigartige eines Raumes, die individuellen Empfindungen des Betrachters und die kulturelle Sinngebung außer Acht lässt zugunsten größtmöglicher Allgemeinheit. Die drei unterschiedlichen Raumauffassungen (mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum) sind, wie wir gesehen haben, prinzipiell nicht unmittelbar gleichzeitig bei der Betrachtung von Phänomenen möglich, doch kann das moderne Subjekt zwischen ihnen wechseln. Wenn somit eine Verbindung wissenschaftlich-theoretischer Raumauffassungen mit mythischen oder ästhetischen innerhalb der Wissenschaft (also der theoretischen Raumauffassung) überhaupt nicht möglich ist, bleibt die am Ende von Kapitel 3.3.1 gestellte Frage nach der Erklärung einer Verknüpfung von naturwissenschaftlichen Beschreibungen eines Phänomens mit kulturellen Sinngehalten bis hierher unbeantwortet: Wie ist mit Cassirers Theorie so etwas wie die Verknüpfung von neuen, technisch geprägten Fotografien der Erde mit kulturellen Bedeutungen der Erde und Sinngebungen zu erklären? Wie können Naturwissenschaften zur Sinnsetzung in der Lebenswelt beitragen? Im Folgenden ist also zu klären, wie eine alltagsweltliche ›Verknüpfung‹ theoretischer Raumauffassungen mit kulturellen Sinnsetzungen möglich ist. Naturwissenschaftliche Erklärungen werden im Allgemeinwissen rezipiert Die idealtypische wissenschaftlich-theoretische Auffassung besteht zum einen in ihrer reinen Form, zum anderen hat sie eine allgemeinere Bedeutung: Die gesellschaftliche Rezeption der theoretischen Auffassung der Dinge, insbesondere der naturwissenschaftlichen, ist in unserer Lebenswelt einflussreich. Beispielsweise zählt es zum Allgemeinwissen, dass die Entstehung der Alpen als Auffaltung der Erdkruste zu erklären ist, die von der Bewegung der Kontinentalplatten verur617 Paetzold 1997: 173 f.

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sacht wird. Gebirge entstehen dadurch, dass die auf dem Erdmantel schwimmenden Platten kollidieren und sich dabei – wie die Knautschzonen von Fahrzeugen – verformen, zusammenlegen und senkrecht stellen. Die kleinteilige Abfolge von Gesteinsarten in Faltengebirgen, die man als verblüffendes Alltagsphänomen bei einer Bergwanderung durchs Ammergebirge feststellen kann, wird mit diesem Modell verständlich; die geologischen Zusammenhänge der Plattentektonik werden dabei alltagsweltlich rezipiert. Allerdings ist die Gebirgsgenese nach neueren wissenschaftlichen Theorien doch etwas anders und durchaus komplexer zu erklären: Man geht nicht mehr von einer einzigen Kollision der Platten aus, sondern vielmehr von vielen kleinen unregelmäßigen Bewegungen, die zu Verwerfungen, Hebungen, Senkungen und Abschürfungen führen. Bei der alltagsweltlichen Rezeption werden naturwissenschaftliche, theoretische Erklärungen vereinfacht und umgedeutet. Die Gebirgsfaltung als einfache Plattenkollision zu erklären ist keine theoretische Auffassung im eigentlichen Sinn, man könnte sie vielmehr als eine theoretische Auffassung im alltäglichen Verständnis oder einen alltagsweltlich-lebensweltlichen Bezug auf die theoretische Form des Weltverständnisses bezeichnen. ›Folk science‹ und ›popularisierte Wissenschaft‹ als zwei unterschiedliche Formen des alltagsweltlichen Bezugs auf theoretisch-naturwissenschaftliche Auffassungen Ein alltagsweltlicher Bezug auf theoretisch-naturwissenschaftliche Auffassungen kann im Wesentlichen in zwei Formen geschehen: a) als ›folk science‹ und b) als ›popularisierte Wissenschaft‹. Diese Begriffe erläutere ich im Folgenden: a) Es gibt einen »nicht-szentifische[n] und eben deshalb für ein alltags- und bildungssprachliches Publikum direkt alltagsverwertbare[n]« Wissenstyp, den man mit dem Wissenschaftstheoretiker Gerhard Hard als »folk science« bezeichnen kann.618 »[F]olk science« fasst prinzipiell »aus lebensweltlicher Innenansicht« Dinge auf und nimmt »die von Alltagssprache und Alltagserfahrung vorgegebenen Sinn-, Intentions- und Wahrnehmungsstrukturen« an.619 Auch wenn sie sich theoretischer (beispielsweise naturwissenschaftlicher) Erklärungen bedient, produziert sie immer »ein unmittelbar alltagsbezogenes Wissen« über Natur etc., das »laienverständlich und alltagsbrauchbar«,620 also für ein »Laienpublikum intellektuell attraktiv, ästhetisch reizvoll und/oder emotional befriedigend«621 bleibt. Dieses Wissen steht im Gegensatz zu Wirklichkeiten, die »in den 618 Hard 1985/2003: 232. 619 Ebd.: 241 f. 620 Ebd.: 241. 621 Ebd.: 174.

Drei symbolische Formen von Raum | 217

etablierten Wissenschaften ›szientifisch‹ konstruiert«622 werden. »Folk science« (Alltagswissenschaft) kann schlicht, praxisleitend und nicht professionalisiert sein oder explizit systematisiert und akademisiert auftreten.623 Sie kann sich aber nie – das beschreibt Hard als ihr wesentliches Kennzeichen – dem laienweltlichen Erwartungsdruck nach alltagsverwertbaren Erklärungen von Naturphänomenen etc. entziehen.624 b) ›Popularisierte Wissenschaft‹ hingegen folgt der umgekehrten Richtung: Sie übersetzt »schwierige und vorläufige [wissenschaftliche, G. K.] Theorien zurück in Bilder und Geschichten, die leicht eingehen und jedermann überzeugen« – oft mit dem Anspruch, »das wissenschaftliche Weltbild von heute zu vermitteln«.625 In einer alltagsweltlichen Interpretation werden eigentlich theoretische Erklärungen veranschaulicht und Alltagsphänomene vereinfacht erklärt. Diese Interpretation ist von den »Frage-und-Antwortkomplexe(n)« einer wissenschaftlichen Theorie sowie ihren allgemeinen Modellen, die »auf problematisch wissenschaftliche Beobachtungen« reagieren, – also dem Denken innerhalb der Wissenschaft – zwangsläufig abgeschnitten.626 Wissenschaftliches, »szientifisches« Wissen stammt weder aus der Alltagswelt, noch redet es in der Regel von der Alltagswelt (wenn überhaupt, »dann auf ganz unalltägliche Weise«) und kann »in der Alltagswelt dann auch nicht mehr oder nur noch sehr mittelbar verwertet werden«.627 Der Anspruch theoretischer Wissenschaftlichkeit in der popularisierten Wissenschaft gerät damit zur Falle: Wenn der Unterschied zwischen alltäglicher, popularisierter Auffassung und theoretischer Auffassung verwischt ist, kann man in der Lebenswelt gar nicht wissen, wovon man redet. Die Analogie der Faltengebirgsgenese mit einer Fahrzeugkollision kann nur naiv ohne Einschränkungen für die gegenwärtig gültige wissenschaftliche Erklärung gehalten werden. Wissenschaftliche Erklärungen und Theorien werden in ihrer popularisierten Form schwammig, missverständlich und bei Verallgemeinerungen werfen sie Unklarheiten und Paradoxien auf. ›Popularisierte Wissenschaft‹ ist im Unterschied zur ›folk science‹ eine »abgesunkene und verzerrte Wissenschaft«, die nicht »lebenspraktisch verwurzelt und geprüft« ist.628 622 Ebd.: 220. 623 Ebd. – Eine akademische Alltagswissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie »die alltags- und volkswissenschaftlichen Tradition des Faches bewußt aufgreift und reflexiv macht« (ebd.: 242). 624 Hard 1982/2003: 175. 625 Ebd.: 218. 626 Ebd., Hervorh. i. O. 627 Hard 1985/2003: 232. 628 Hard 1982/2003: 218.

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Unterschiedliche Raumauffassungen sind alltagsweltlich verknüpfbar Sowohl in ›folk science‹ als auch in ›popularisierter Wissenschaft‹ ist zu sehen, dass alltagsweltlich-lebensweltliche Bezüge auf die theoretische Form des Weltverständnisses bestehen, ohne dass dabei theoretische Auffassungen im eigentlichen Sinn eingenommen werden. Das Bild der Fahrzeugkollision erklärt uns hinreichend das Phänomen der Gesteinsformationen im Ammergebirge. Darüber hinaus können aber weitere Bedeutungsfacetten wichtig sein: Die Felswände können uns in ihrer Urtümlichkeit beeindrucken, gerade weil wir von ihrer Entstehungsgeschichte wissen, oder die farbliche Bänderung der Gesteinsschichten, die wir auf unterschiedliche Mineralien zurückführen, kann uns gefallen. Die alltagsweltlich verstandenen, theoretischen Formungen werden dabei mit Bedeutungen und sinnlichem Empfinden verknüpft. Die Möglichkeit derartiger Verknüpfungen erklärt sich aus Cassirers Theorie wie folgt: Idealtypische Spezialisten – der rein mythisch Empfindende beziehungsweise der Künstler – haben das Vermögen der reinen mythischen beziehungsweise ästhetischen Erfahrung und Sinnsetzung. Wie in den Kapiteln 3.1 und 3.2 gezeigt wurde, fassen aber auch wir als (moderne) Alltagsmenschen die Welt mitunter in dieser Weise auf: Das Schaudern im nächtlichen Wald und die Landschaft im ästhetischen Blick habe ich als Beispiele genannt. Die mythische und die ästhetische Formung sind alltagsweltlich prinzipiell – wenn auch meist nicht in ihrer ›reinen‹, idealtypischen Ausprägung – möglich, weil sie sinnlich und sinnhaft das Besondere, Einmalige und Einzigartige in unterschiedlicher Form wahrnehmen. Das einzelne Phänomen in der individuellen Empfindung des Betrachters ist in der idealtypischen wie in der alltagsweltlichen Variante dieser Formungen entscheidend. Im Gegensatz dazu ist der Unterschied zwischen (tatsächlicher) theoretischer Formung und alltagsweltlichem Denken kategorial. Denn das Theoretische basiert, wie Cassirer darstellt, auf Logik, objektiver Messbarkeit und abstrakter, konstruktiver Vernunft und hat das Allgemeine der Dinge zum Gegenstand. Treten alltagsweltliche Erklärung von Naturphänomenen als ›popularisierte Wissenschaft‹ mit dem Anspruch auf, szientifische (natur-)wissenschaftliche Theorien wiederzugeben, ist eine Verknüpfung mit kulturellen Sinnsetzungen, die in mythischen beziehungsweise ästhetischen Formungen Bedeutung haben, scheinbar paradox. Denn die Erklärungen sind ja – zumindest aus der popularwissenschaftlichen Innenperspektive – (vermeintlich) theoretisch-wissenschaftlich und fern individueller Empfindungen und Werte. Haben dagegen alltagsweltliche Erklärungen zwar Bezug auf naturwissenschaftliche Theorien, sind aber prinzipiell nicht-theoretisch, sondern alltäglich

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im Sinne der oben beschriebenen ›folk science‹, so sind Verbindungen mit anderen alltagsweltlichen – mythischen oder ästhetischen – Formungen verständlich. Diese Verknüpfungen zeigen sich nicht als widersprüchlich, sondern sind reflektierbar. Alltagsweltlich spielen Formungen zusammen beziehungsweise werden aktiv verbunden, das heißt, alltagsweltlich verstandene naturwissenschaftliche Erklärungen (›folk science‹) werden mit kulturellen Sinngehalten, die in einer mythischen beziehungsweise ästhetischen Formung Bedeutung haben, verknüpft, also argumentativ aufeinander bezogen beziehungsweise aneinander angeschlossen. 3.3.3 Zusammenfassung zum theoretischen Raum Cassirer beschreibt den theoretischen Raum als eine symbolische Raumformung im Kontrast zum mythischen Raum einerseits und zum ästhetischen Raum andererseits. Für meine Analyse des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ ist insbesondere die theoretisch-naturwissenschaftliche Raumformung wesentlich, die von der theoretischen zwar nicht prinzipiell abweicht, doch spezifische Eigenschaften aufweist. In einer theoretischen oder theoretisch-naturwissenschaftlichen Raumformung wird Raum objektiv unabhängig von lebensweltlichen, sinnlichen Erfahrungen mit allgemeinen Begriffen wie Zahl und Maß bestimmt. Was dabei Wirklichkeit ist, legt ein logisches System aus Begriffen sowie zähl- und messbaren Zusammenhängen fest. Damit ist diese Wirklichkeit objektiv – jedoch, wie Cassirer betont, nicht absolut. Denn das objektive Bezugssystem kann jeweils unterschiedlich definiert sein. Der theoretische Raum ist homogen; das heißt, alle Orte und alle Richtungen in ihm sind streng gleichartig. Die theoretisch-naturwissenschaftliche Raumformung unterscheidet sich von der theoretisch-mathematischen wesentlich in folgendem Punkt: Während diese rein logisch-abstrakte Gegenstände zum Inhalt hat, hat jene ein Erkenntnisinteresse an der empirischen Realität im Einzelnen. Die Naturwissenschaften erkennen an diesem Empirischen das Mathematische und Abstrakte (also nur das, was bestimmten logischen Prinzipien folgt und objektiv messbar ist), nicht das konkret Sinnliche. Cassirer charakterisiert die symbolische Formung, in der theoretischer Raum gebildet wird, als eine Zuschreibung von Bedeutungen. Es wird ein Begriffsraum gebildet, der aus abstrakten Beziehungen besteht und der in seiner reinsten Form ohne den empirischen Anschauungsraum auskommt. Dies unterscheidet die theoretische Raumformung grundsätzlich von der mythischen Raumformung, bei der im Ausdruck unmittelbar Sinngehalte erlebt werden, und von der ästhetischen Raumformung, bei der in der Darstellung eine bestimmte Sinnsetzung ent-

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halten ist. Naturwissenschaft konstruiert im theoretischen Raum abstrakte Systeme logischer Begriffe und erklärt mit ihnen empirische Beobachtungen. Ziel ist es, immer abstraktere, allgemeinere Gesetze der theoretischen Bedeutungen zu finden und damit immer wieder neue empirische Phänomene der konkreten Anschauung in ihrer theoretischen Formung zu verstehen. Es besteht ein Interesse am Allgemeinen des einzelnen Phänomens, nicht an seiner Individualität. Der theoretische Raum wird allgemein logisch-objektiv geformt und ist damit unabhängig insbesondere von kulturell verhandelten Wertsetzungen. In alltagsweltlichen Diskussionen – gerade in heutigen Naturschutzdiskursen – sind Bezüge auf naturwissenschaftlich-theoretische Raumauffassungen und Verbindungen von ihnen zu mythischen und ästhetischen Raumauffassungen festzustellen. Um diese Bezüge und Verbindungen zu erforschen, habe ich zunächst Cassirer in einigen Punkten näher analysiert: Die naturwissenschaftlichtheoretische Raumformung ist danach – wie jede andere Formung – abhängig vom Begriffssystem des Betrachters. In theoretisch-wissenschaftlicher Erkenntnis ist Raum zwar objektiv, aber nur innerhalb der jeweiligen Theorie. Symbolisch im Sinne Cassirers sind naturwissenschaftlich-theoretische Raumauffassungen insofern, als einerseits theoretische Begriffe, die zunächst nicht der empirischen Wirklichkeit entstammen, eben diese ordnen, andererseits aber dann das einzelne Empirische an dem theoretischen Begriffssystem teil hat. Der theoretische Raum steht in Cassirers Theorie ausdrücklich gleichrangig neben anderen symbolischen Sinnordnungen als ein möglicher Zugang zur ›Wirklichkeit‹. So lassen sich etwa das Mythische eines finsteren Raumes oder der künstlerische Ausdruck eines Landschaftsgemäldes naturwissenschaftlich nicht besser als mythisch beziehungsweise ästhetisch verstehen, sondern sind in diesen Bedeutungen naturwissenschaftlich überhaupt nicht fassbar. Der theoretisch geformte, objektive Raum erscheint insbesondere deshalb mitunter als der einzige ›wirkliche‹ Raum, weil der theoretischen Formung das Ideal der Allgemeinheit inhärent ist. Die Pluralität theoretischer Raumauffassungen kann jedoch auf der philosophischen Metaebene sehr wohl gezeigt werden. Die Bezüge zu naturwissenschaftlich-theoretischen Raumauffassungen in alltagsweltlichen Diskussionen und ihre Verbindung mit mythischen und ästhetischen Raumauffassungen lassen sich folgendermaßen erklären: Die gesellschaftliche Rezeption naturwissenschaftlich-theoretischer Erklärungen ist in unserer Lebenswelt einflussreich, jedoch werden sie alltagsweltlich meist vereinfacht und umgedeutet. Im Wesentlichen lassen sich zwei Formen alltagsweltlichen Bezugs auf theoretisch-naturwissenschaftliche Auffassungen unterscheiden: In der ›folk science‹ bedient man sich zur Erklärung lebensweltlicher Phänomene naturwissenschaftlicher (oder anderer) Theorien, produziert dabei jedoch unmit-

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telbar alltagsbezogenes, laienverständliches Wissen. ›Popularisierte Wissenschaft‹ hingegen erklärt Alltagsphänomene mit vereinfachten wissenschaftlichen Theorien, bleibt dabei aber diffus, missverständlich und wird kaum alltagsrelevant. Haben alltagsweltliche Erklärungen zwar Bezug zu naturwissenschaftlichen Theorien, sind aber prinzipiell nicht-theoretisch, sondern vereinfachend alltäglich im Sinne der ›folk science‹, so können sie mit kulturellen Sinngehalten verknüpft werden, die in einer mythischen beziehungsweise ästhetischen Formung Bedeutung haben. Denn alle diese Sinngebungen und Bedeutungszuschreibungen bestehen in der Kategorie des Alltäglichen, in der das Besondere, Einmalige und Einzigartige in unterschiedlicher Form wahrgenommen wird. In diesem Kapitel wurden die wesentlichen Eigenschaften der dritten und letzten Raumformung, der theoretischen, insbesondere der theoretisch-naturwissenschaftlichen, erkundet, die zur Analyse des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ in Kapitel 4 notwendig sind. Vor dieser Analyse sei noch ein Resümee des Kapitels 3 gegeben, in dem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Raumformungen zusammengefasst werden.

3.4 RESÜMEE ZU DREI SYMBOLISCHEN FORMEN VON RAUM Für die drei Auffassungsformen von Raum, die für meine Analyse des Wildnisdiskurses zentral sind, haben sich mit Cassirers Theorie und weiterführenden Interpretationen folgende Charakteristika gezeigt: Mythisch erscheint der Raum nach Cassirer aus ausdrucksvollen Orten und Richtungen gebildet zu sein, denen durch höhere Mächte transzendente Sinngehalte gegeben sind. Das Subjekt erlebt einen solchen Raum unmittelbar emotional, und seine anziehenden oder abstoßenden einzelnen Orte und Richtungen geben ihm zwingend Orientierung. Während in einer archaisch-mythischen Auffassung keine Reflexion dieser Raumformung möglich ist, kann das moderne Subjekt – in der folgenden Analyse des aktuellen Wildnisdiskurses von Interesse – mythische Formungen rational reflektieren, auch wenn ihm dies im Moment der Anschauung nicht bewusst ist. Wichtige Vertreter der modernen kritisch-reflektierten mythischen Rauffassungen, die das Subjekt individuell formt, sind im weitesten Sinne romantische mythische Raumauffassungen. Die ›Wiederverzauberung‹ der Welt ist für das freie Subjekt eine Fantasie, die sich individuell korrespondierend mit seinem aufgeklärten Denken vollzieht. Diese romantisch-mythische Formung bildet einen Teil des heutigen mitteleuropäischen Deutungsrepertoires für Natur – insbesondere auch für Wildnis.

222 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

Ästhetischer Raum entsteht für das betrachtende Subjekt individuell, indem es visuelle räumliche Strukturen, Formen und Farben in ihren Rhythmen, Kontrasten etc. empfindet und reflektierend darin immanente, auf die eigene Innenwelt verweisende Sinngebungen wahrnimmt. In dieser Art der Formung kann nach Cassirer eine Gegend ästhetisch als Landschaft wahrgenommen werden – und dabei je nach Bedeutungskontext des Betrachters und momentaner Erscheinung der Gegend anders. Die visuelle Gestalt der Gegend wird vom Subjekt mit einer Sinngebung empfunden, diese Entdeckung reflektiert und individuell als Landschaft geformt. Idealtypisch stellt diese Formung ein bildender Künstler im Gemälde dar; neben dem Künstler im engeren Sinne aber auch jeder ästhetisch Empfindende im Sehen ›vor dem inneren Auge‹. Die im weitesten Sinn romantische Ästhetik befasst sich besonders mit durch übermächtige Dynamik erhabenen Landschaften. Diesen Erhabenheitsbegriff wurde oben analysiert, um mit ihm moderne ästhetische Auffassungen von Wildnis erklären zu können. Die theoretische Formung der Logik und Naturwissenschaften hingegen bestimmt den Raum mit allgemeinen, abstrakten Begriffen in Bezug auf seine geometrischen oder naturwissenschaftlichen, objektiv messbaren empirischen Merkmale – Länge, Breite, Abstand, Temperatur etc. Er ist objektiv – also unabhängig von lebensweltlichen, sinnlichen Erfahrungen –, kann jedoch je nach Paradigma und Bezugssystem der Theorie unterschiedlich definiert sein. Die rein theoretische Auffassung besteht ohne empirischen Anschauungsraum; die theoretisch-naturwissenschaftliche Raumauffassung hingegen hat ein Interesse am Allgemeinen des einzelnen empirischen Phänomens. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei symbolischen Formen von Raum werden besonders deutlich, wenn man je zwei Raumformungen die dritte gegenüberstellt: Die mythische und die ästhetische Formung beruhen auf emotionalem Empfinden des Raumes. Das Subjekt wird von den Atmosphären besonderer Richtungen und Orte ergriffen, und damit wird im Moment der Wahrnehmung ein Raum strukturiert. Davon abgegrenzt ist die theoretische Raumauffassung: In dieser erfasst der Betrachter logisch-begrifflich Strukturzusammenhänge rational in objektiven Bestimmungen, die sich aus einer allgemeingültigen Methodik des Zählens und Messens ergeben. Den streng gleichartigen Richtungen und Orten werden durch allgemeine, theoretische und naturwissenschaftliche Naturgesetze Bedeutungen zugeordnet, und so definieren sie abstrakt den Raum unabhängig vom Besonderen des konkreten Raums und von den Empfindungen des Betrachters und seinen kulturellen Wertsetzungen.

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Gemeinsam ist der ästhetischen und der theoretischen Raumformung, dass in ihnen das Subjekt seine Auffassung reflektiert und abstrahiert. Ästhetisch nimmt es etwa eine Gegend als Landschaft in gewisser Distanz wahr, und die Darstellung (als Bild im Kopf oder Gemälde etc.) vermittelt strukturierende Sinnzuschreibungen. Der theoretische oder theoretisch-naturwissenschaftliche Betrachter definiert die Bedeutung des Raumes explizit mit abstrakten Bedeutungen entsprechend seines wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses und kann den Vorgang der Raumformung jederzeit offenlegen. Die mythische Auffassung grenzt sich in dieser Hinsicht von der ästhetischen und theoretischen ab durch affektive Empfindung des Raumausdrucks: Der Wahrnehmende ist distanzlos, ein emotionaler und physischer Teil des Raumes – und gerade dabei erfährt er dessen Bedeutung. Eine Reflexion der symbolischen Bedeutung und ein Wirken mythischer Kräfte auf das Seelenleben ist während des mythischen Raumerlebens (also innerhalb der Formung) nicht möglich. Auch in der aufgeklärten Moderne wird die Reflexion mythischer Sinngehalte im Moment der Empfindung zurückgenommen als unmittelbarer Ausdruck. Mythische Raumauffassungen erfüllen nun insbesondere die Funktion, durch szientifische Welterklärung und kritische Reflexion verloren gegangene Sinngebungen zu kompensieren. Dabei besteht allerdings nach Cassirer die Gefahr, dass totalitäre Inszenierungen die naiv-mythische Weltauffassung der reflektierenden Kritik entziehen. Theoretischer und mythischer Raum stehen dem ästhetischen Raum in folgender Weise gegenüber: In der theoretischen und in der mythischen Auffassung von Raum bezieht sich – wenn auch in unterschiedlicher Weise – der Wahrnehmende auf objektiv gesetzte Bedeutungen. Der theoretische Raum wird durch allgemeine, abstrakte zähl- und messbare Eigenschaften bestimmt, unabhängig vom Betrachter. In der mythischen Formung erscheinen die Bedeutungen auf einer transzendenten Sinngebung zu beruhen, die zwingend von höheren, von außen auf den Betrachtenden einwirkenden Mächten gegeben scheinen. Der Wahrnehmende empfindet die sinnlichen Phänomene hier subjektiv, nimmt diese Deutung aber wahr als unmittelbares Empfangen und Durchleben mythischer Sinngebung. Im Unterschied dazu verweisen die Empfindungen des wahrnehmenden Subjekts, die den Raum ästhetisch formen, immanent auf die sinngebende Innenwelt des Subjekts selbst. Es folgt bei der ästhetischen Auffassung von Farbstellungen, Anordnungen, Rhythmen etc. seinen eigenen, individuell gesetzten Bedeutungszuschreibungen. Die Bedeutungen sind individuell, wenn auch nicht beliebig, da der Künstler, Kunstrezipient oder sonstig ästhetisch Wahrnehmende einem mehr oder wenig starken und veränderlichen kulturellen Einfluss unterliegt. Bei der ästhetischen Raumformung ist das Subjekt frei von

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objektiven Bestimmungen und praktischen Zwängen und gestaltet bewusst seine individuellen Wahrnehmungen, es ›stellt‹ den Raum ›dar‹. Ergänzend zu dieser Typisierung der drei Raumformungen mit deutlichen Abgrenzungen gegeneinander habe ich bestimmte Verbindungen zwischen ihnen diskutiert, die für die Analyse von Wildnis bedeutsam erscheinen: In der ästhetischen Landschaftserfahrung – besonders im romantischen Zugang – nimmt das wahrnehmende Subjekt mitunter Bezug auf mythische Bedeutungen. Die ästhetische Empfindung und Darstellung einer Gegend kann erfüllt sein von der Sehnsucht nach mythischer Sinngebung und die Suche nach dem mythischen Ausdruck zum Gegenstand haben. Ist diese Suche so ›erfolgreich‹, dass das ästhetisch-reflektierte Bewusstsein für die Individualität der Formung verloren geht, schlägt die ästhetische Erfahrung in eine mythische um. In alltagsweltlichen Diskussionen wird – gerade im Naturschutzdiskurs – des Öfteren auf die naturwissenschaftlich-theoretische Raumauffassung Bezug genommen und diese mit mythischen und ästhetischen Raumauffassungen verbunden. Dabei werden naturwissenschaftlich-theoretische Erklärungen alltagsweltlich vereinfacht und umgedeutet. In dieser Form können sie mit kulturellen Sinngehalten des konkreten Raumes in mythischen und ästhetischen Bedeutungen verknüpft werden. Szientifische, naturwissenschaftlich-theoretische Raumauffassungen hingegen können nicht mit mythischen oder ästhetischen Deutungen verbunden werden, da sie kategorial anders bestimmt sind (durch objektiv definierte Dimensionen) und nur das Allgemeingültige zum Gegenstand haben. Mit der Analyse dreier symbolischer Raumformen wird die in Kapitel 2 angedeutete Pluralität an Sinndeutungen – eine Kernhypothese in Cassirers Kulturphilosophie – greifbar. Mythische, ästhetische und theoretische Auffassungen existieren in der aktuellen Kultur als eigene symbolische Formen. Weder gehen im praktischen Leben die mythische und die ästhetische Auffassung gänzlich ineinander auf, noch lassen sich alle Auffassungen auf die theoretisch-logische reduzieren. Mit der Kulturentwicklung sind die grundlegenden Typen von Raumauffassungen angewachsen, die aktuell nebeneinander bestehen und die Raum für das Subjekt je nach Kontext unterschiedlich ordnen. Die Wahrnehmenden stellen in ihren Deutungen zwischen den unterschiedlichen Raumauffassungen mitunter Bezüge her – etwa zwischen ästhetischer und mythischer Auffassung. Die drei modernen Formen der Raumauffassung nach Cassirers Raumtheorie einschließlich weiterführender Diskussionen dienen im nachfolgenden Kapitel 4 als Analyseinstrumente, um zentrale Stränge des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ herauszuarbeiten und verständlich zu machen.

4

Drei Begriffe von Wildnis im aktuellen Diskurs – eine Differenzierung mit Cassirers Raumformen

In diesem Kapitel werde ich Begriffe von Wildnis differenzieren. Diese sollen die unterschiedlichen Äußerungen im aktuellen mitteleuropäischen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ verständlich machen, die von bestimmten gesellschaftlich-kulturellen Deutungsmustern, also Ideen, Bedeutungen und Sinngebungen, geprägt sind. Mit den Cassirer’schen Raumformen charakterisiere ich theoretisch unterschiedliche Bedeutungen von Raum als Wildnis in ihren kulturellen Kontexten. Diese Rekonstruktion verschränke ich mit der Analyse von Text- und Bildbeispielen aus dem aktuellen Diskurs, um zu eruieren, welche typischen Wildnisbegriffe empirisch bestehen. Inhaltlich und strukturell werden sich dabei drei wesentlich unterschiedliche Wildnisauffassungen zeigen, die ich als ›unbekannte Wildnis‹, ›bestimmte Wildnis‹ und ›Ökosystem-Wildnis‹ bezeichne. Die in der folgenden Analyse beabsichtigte systematische Kombination der theoretischen mit der kulturell-empirischen Perspektive auf die Wahrnehmung von Raum als Wildnis entspricht dem erkenntniskritischen Zugang Cassirers. Diesem gemäß können symbolische Formungen kulturwissenschaftlich nicht allein aus abstraktsystematischen Denkmöglichen, sondern nur auch anhand empirisch bestehender Auffassungen hinreichend offengelegt werden. Die Reflexionen an einzelnen, teilweise sehr kurzen, vor allem textlichen Fundstücken verhelfen dazu, die systematische Beschreibung der Wildnisauffassungen prägnant zu fassen. Es wurden, wie in Kapitel 1.4 erläutert, zunächst textliche Materialien, die im aktuellen mitteleuropäischen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ bestehen, möglichst breit in ihren unterschiedlichen Zugängen zusammengetragen – soziologische, historische, geografische, biologisch-ökologische oder regionalplanerische Fachbeiträge sowie Veröffentlichungen aus den Praxisfeldern Naturschutz, Land-

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schaftsplanung oder Tourismus. Daraus werden im Folgenden exemplarische Fundstücke sukzessive zur Charakterisierung der Wildnisbegriffe analysiert, bis diese in ihrer Unterschiedlichkeit klar greifbar sind. Bildmaterial dient in der Regel nur vereinzelt der Illustration und wird darüber hinaus bei Diskussion der ›bestimmten Wildnis‹ als ästhetischer Raum näher betrachtet. Voraussetzung für diese Analyse ist, dass sich aktuelle Begriffe von Wildnis formal in ihrer Konstitution überhaupt mit Cassirers Raumtheorie greifen lassen. Das heißt, der allgemeine Ansatz der Arbeit in Kapitel 2, dass Wildnis eine kulturell geprägte Auffassung von Raum sei, ist zunächst mit Cassirers Raumtheorie zu konkretisieren. Dies führe ich nun im Folgenden einleitend zum vierten Kapitel auf Grundlage von Kapitel 3 aus. Zur Begriffskonstitution von ›Wildnis‹ nach Cassirers Raumtheorie Mit ›Wildnis‹ wird eine unbestimmte Gegend mit Sinngebungen zu einem konkreten Raum geformt – Sinngebungen wie unkontrollierbar, unberechenbar, undurchdringlich, unbekannt, unheimlich, schaurig, überwältigend, erhaben, aber auch ursprünglich, unberührt oder frei etc.1 Das heißt, wir rezipieren als Wildnis einen Ausschnitt der Außenwelt,2 in dem Moment, in dem er für uns Unkontrollierbares, Unwegsames oder Unbekanntes aufweist. Beispielsweise ist das Val Grande also nicht eine Wildnis als objektiver Sachverhalt, sondern Bereiche davon erscheinen von kulturellen Kontexten abhängig manchen als Wildnis.3 In Cassirers Theorie der symbolischen Formung kann ich diese Konstitution von ›Wildnis‹ wie folgt fassen: Wildnis ist nicht Form (also Struktur) der menschlichen Erfahrungen, sondern Inhalt (also Geformtes), aber nicht Substanz oder Wirklichkeit, sondern eine Bedeutung (»geistiger Bedeutungsgehalt«), unter der

1

Siehe Kapitel 1.1; vgl. beispielsweise Planken & Schurig 2000: 194 f.; Eickhoff 2002: 1050; Höchtl & Burkart 2002: 225; Flüeler et al. 2004: 104 ff.; Girtler 2007: 86; Schuster 2010: 37 f.; Trepl 2010: 9; von Lüpke 2010: 14; Kalas 2011: 71; Metscher 2011: 63; Scherzinger 2011: 20; Rasper 2013: 47; Langenhorst 2014: 59; Reppin & Mengel 2015: 108 f.

2

Dies gilt sowohl für Zuschreibungen in unmittelbarer Anschauung einer Gegend als auch in mittelbaren Formen, wie Erzählungen, Berichten oder Gemälden (vgl. Kapitel 3).

3

So weist auch die Soziologin Cordula Kropp darauf hin, dass Wildnis »nicht gegeben, sondern im sozialen Raum umkämpft, flüchtig und prekär« sei (Kropp 2010: 46). Der Soziologe Marcus Termeer untersucht in diesem Sinn den Wald als sozialen Ort – »die ›äußere Natur‹ als historischen Prozess« (Termeer 2005: 10).

Drei Begriffe von Wildnis im aktuellen Diskurs | 227

etwas (ein »konkretes sinnliches Zeichen«) Substanz oder Wirklichkeit wird.4 Wildnis beispielsweise als das Schreckliche ist ein bestimmter Sinn, in dem uns die substanziellen räumlichen Dinge erscheinen und wie wir ihre Ordnung näher qualifizieren. Dieser Sinn, mit dem sich uns der konkrete (›wirkliche‹) Raum bildet, ist nur jeweils in einer bestimmten symbolischen Form (beispielsweise in der mythischen Raumformung) verständlich. Wildnis ist Inhalt der symbolischen Formung. Anders gesagt: Wildnis ist Bedeutungsgehalt einer Raumauffassung. Eine konkrete Raumauffassung ist jedoch erst beispielsweise das Val Grande als Wildnis. Eine symbolische Formung ist nicht der abstrakte Sinn allein, sondern beschreibt eine Verknüpfung dieses Sinns mit einer angeschauten Räumlichkeit oder einem Ausschnitt der Außenwelt, etwa der Verknüpfung der Bedeutung ›Wildnis‹ mit dem Val Grande. Wenn man wiederum einen Wolf in der Lausitz als Symbol für Wildnis bezeichnet,5 dann macht er in diesem Moment einen Sinn (das heißt eine Idee, etwas ›Geistiges‹, beispielsweise ›schrecklich‹) von Wildnis sinnlich wahrnehmbar (etwa als Ort des Schrecklichen). Auch hier ist nicht der Wolf in der Lausitz oder die Lausitz mit dem Wolf objektiv Wildnis, sondern mit Cassirers Raumtheorie lässt sich präzisieren, dass ein bestimmter Kontext zwischen Erscheinung (Wolf in der Lausitz) und Idee (Wildnis in einer bestimmten Bedeutungsfacette) vermittelt. Aus kulturtheoretischer Perspektive ist festzustellen: Nicht die Behauptung irgendeines Seins, sondern einer spezifischen ›Ordnung‹, also eines spezifischen Sinnes ist es, was einer Gegend den Stempel der Wildnis aufprägt. 6 Ähnlich stellt Cordula Kropp in einem soziologischen Überblick fest, dass unterschiedliche Vorstellungen von Wildnis nicht mit den gegenständlichen Gegensätzen von »Stadt-Land, Mensch-Natur, Kultur-Wildnis« erklärbar sind, sondern dass zwischen »verschiedenen Gruppen und ihren verschiedenen Raumprojekten und Wertschätzungen« zu unterscheiden sei.7 4 5

Cassirer 1923/2006: 79. Vgl. Bärnthaler 2011: 19; Obermeier 2012: 18; Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit & Bundesamt für Naturschutz 2014: 8 f.; Fokken 2014: 9 ff.

6

In dieser Aussage übertrage ich folgenden Satz Cassirers zur Konstitution eines Bedeutungsgehaltes, in seinem Fall der des Religiösen, auf meinen Gegenstand ›Wildnis‹: »Nicht die Behauptung irgendeines Seins, sondern einer spezifischen ›Ordnung‹, eines spezifischen Sinnes ist es, was einer Lehre den Stempel des Religiösen aufprägt« (Cassirer 1923/2002: 289).

7

Kropp 2010: 49. – Die Umweltpsychologin Nicole Bauer hingegen sieht als Ergebnis einer Befragung zur Bewertung von Wildnis, dass das Kriterium Stadtbewohner oder Landbewohner ausschlaggebend sei (Bauer 2005: 24).

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Cassirers symbolische Formen beschreiben Wahrnehmungs- und Ordnungsstrukturen von Raum. Mit diesen Formen kann demnach auch die Raumauffassung ›Wildnis‹ analysiert werden. Das heißt, es kann untersucht werden, welchen Sinn die Raumauffassung ›Wildnis‹ hat (beispielsweise schrecklich oder schaurig-schön etc.) und welcher Ausschnitt der Außenwelt mit diesem Sinn rezipiert wird (der ferne unbetretene Wald oder der unmittelbar betrachtete Fels; die Lausitz oder die Antarktis etc.).8 Oder anders gesagt: Die jeweilige symbolische Form (beispielsweise die ästhetische oder die mythische) ist das Sinnsystem, in dem die durch symbolische Prägnanz gebildete Raumauffassung ›Wildnis‹ in ihrem jeweiligen inhaltlichen Charakter begriffen werden kann. Eine Wildnis ist Cassirers Theorie zufolge die Verknüpfung einer bestimmten Bedeutung mit einem konkreten Raum, bei der sowohl die Bedeutung als auch der konkrete Raum (und zudem die Verknüpfung) zum einen je nach symbolischer Formung unterschiedlich und zudem innerhalb einer Formung mannigfaltig sind. Damit sind die noch vagen Beschreibungen der Raumauffassung ›Wildnis‹ in der Einleitung dieser Arbeit mit Cassirers Theorie fassbar gemacht. Es ist nun klar, wie Wildnis zugleich eine nicht-anschauliche Idee und ein Gegenstand der Anschauung sein kann. Mit Cassirers symbolischen Raumformen rekonstruiere ich grundlegende Bedingungen der Möglichkeiten für die im aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ zahlreich anzutreffenden Wildnisvorstellungen. Im Kapitel 4.1 zeige ich die Eigenschaften von Wildnisauffassungen im Sinne von ›unbekannter Wildnis‹, wie sie idealtypisch in mythischen Wäldern wahrgenommen wird. Gegenstand von Kapitel 4.2 sind die wesentlichen Aspekte des Begriffs ›bestimmte Wildnis‹, der Wildnis ästhetisch als malerischen Ort beschreibt. In Kapitel 4.3 untersuche ich mit aufeinander aufbauenden Schritten, welche Ideen in Vorstellungen von Wildnis als ›Ökosystem-Wildnis‹ im Sinne von dynamischer Natur kombiniert sind. Abschließend gebe ich einen Überblick über die erarbeiteten Wildnisbegriffe und reflektiere das methodische Vorgehen (Kapitel 4.4).

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Dabei ist gemeint, dass untersucht werden kann, wie die Gegenden der Lausitz oder Kanadas als Wildnis überhaupt entstehen. Es geht nicht darum, wie den anderweitig abgrenzbaren Gebieten Lausitz oder Kanada die Bedeutung ›Wildnis‹ nachträglich zugeschrieben wird. Denn »[s]innliche Wahrnehmung und Sinngebung« finden bei der symbolischen Formung in »absoluter Gleichzeitigkeit« statt (Bohr 2008: 131; vgl. Kapitel 2).

Drei Begriffe von Wildnis im aktuellen Diskurs | 229

4.1 ›UNBEKANNTE WILDNIS‹ – MYTHISCHE WÄLDER Im folgenden Kapitel analysiere ich, ob und gegebenenfalls mit welchen Eigenarten heute in bestimmten Zusammenhängen über Wildnis mit einer mythischen Raumauffassung, wie ich sie in Kapitel 3.1 mit Cassirers Raumtheorie dargelegt habe, gesprochen wird. Dabei wird eine bestimmte typische mythische Raumformung von Wildnis erkennbar werden, die ich ›unbekannte Wildnis‹ nenne. Mit dem Adjektiv ›unbekannt‹ kennzeichne ich diesen typischen Wildnisbegriff deshalb, weil – wie ich im Lauf dieses Kapitels zeigen werde – der Raum dabei mythisch geprägt von einer äußeren Macht wahrgenommen wird, die subjektiv nicht bestimmbar, sondern unverfügbar, unkontrollierbar und fremd erscheint. Für die moderne mythische Raumformung haben sich in Kapitel 3.1 folgende Aspekte als wesentlich erwiesen: Der Raum wird als erfüllt von Wirkungen überlegener äußerer Mächte erfahren, die die Menschen beschützen oder bedrohen oder auch verführen. Er ist von einer emotionalen Atmosphäre geprägt, einem ›Zauberhauch‹. Dieser kann unterschiedliche Eigenschaften haben wie faszinierend, abstoßend, unheimlich etc. Wesentlich ist bei dem, wie mythisch Raumqualitäten geformt und wahrgenommen werden, die Unmittelbarkeit. Das bedeutet, dass Raumatmosphären erlebt werden und nicht mittelbar beschrieben erscheinen. Man ist emotional ergriffen, was durchaus mit einem physischen Spüren verbunden ist. Der Raum gilt, in Cassirers Formulierung, als unmittelbarer Ausdruck von mythischen Sinngehalten. Ein Distanzieren vom eigenen Erleben, um die Konstituierung des Raumes als mythisch zu reflektieren, ist dem Subjekt innerhalb der mythischen Auffassung nicht möglich. Das moderne Subjekt kann jedoch eine selbstbeobachtende Perspektive außerhalb der mythischen Raumauffassung, zu der es auch fähig ist, einnehmen. Die mythische Raumauffassung in der Moderne ist vor allem als Kompensation der durchrationalisierten, entseelten Welt zu erklären. Ob und gegebenenfalls in welcher Hinsicht diese mythischen Raumauffassungen bei Wahrnehmungen von Wildnis eine Rolle spielen, soll Gegenstand der folgenden Analyse sein. Dabei untersuche ich Zitate aus dem aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ und prüfe, ob sich ein Diskursstrang der ›unbekannten Wildnis‹ als Typ abzeichnet, anhand dreier Aspekte: (1) Wildnis als überlegen wirkende Kraft und das machtvolle Andere, (2) Wildnis als mythischemotionale Atmosphäre, als der ›Zauberhauch des Unbekannten‹, (3) Wildnis als Ausdruck im unmittelbaren Erlebnis.

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4.1.1 Aspekt 1: Wildnis als überlegen wirkende Kraft und das machtvolle Andere Wildnis wird als »ungezähmte Natur« oder »das Andere […] [mit einem] Aspekt der Fremdheit und Bedrohlichkeit«9 oder »als rücksichtslos wuchernde Bedrohung«10 charakterisiert. Der Volkskundler Helge Gerndt gibt bei seiner Untersuchung von Waldwahrnehmungen für ›wild‹ die Eigenschaften »unbändig, rau, eigensinnig, unfreundlich«11 an. Wildnis »kann nicht vom Menschen kontrolliert und geregelt werden«12. Dies verbinden die einen angstvoll übersteigert mit »Existenzgefährdung des Menschen«13; andere fordern »Kontrollverlust« als eine Eigenschaft von Wildnisgebieten, die »per se ›unsicher‹« sind und sein sollen.14 In allen Fällen handelt es sich um Eigenschaften, die eine abweisende, in gewisser Weise unbekannte Macht charakterisieren. In diesem Sinne wird beispielsweise das Extrembergsteigen als ein »Weg in die Wildnis, als eine Auseinandersetzung mit einer fremden Natur, die zugleich die eigene Natur berührt« und »sie herausfordert« beschrieben.15 Darüber hinaus wird als typisch betrachtet, dass der Wanderer sich »in endlose und unwegsame« Gebiete begibt und »in

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Beispielhafte Zitate aus Antworten sehr unterschiedlicher Personen, die sich beruflich oder in der Freizeit mit dem Thema Wildnis auseinandersetzen, auf die Frage ›Was ist für Sie Wildnis?‹, die in einer Befragung der Alpenschutzbewegung ›Mountain Wilderness Schweiz‹ gestellt worden ist. Die Antworten sind veröffentlich in Flüeler et al. (2004: 190, 160). Antonia Dinnebier führt ebenso Fremde und Bedrohlichkeit als Grundeigenschaft von Wildnis an (Dinnebier 2005: 27).

10 Kropp 2010: 46. 11 Gerndt 2011: 20. 12 Bauer 2005: 42, vgl. auch 101. – Dies ist ein Ergebnis der umfangreichen Befragungen der Umweltpsychologin Nicole Bauer in der Schweiz zum Thema Wildnis und Verwilderung. Auch Hofmeister charakterisiert »Wildnis als etwas raum-zeitlich Unverfügtes und Nicht-Verfügbares« (Hofmeister 2010: 79). 13 Bauer 2005: 101. 14 Kropp 2010: 51. 15 Lutz 1999: 128. – In diesem Sinne stellen auch die Pädagogin Birgit Planken und der Biologe Volker Schurig fest: »Die freiwillige Suche von Gefahren, das Spiel mit den Risiken ist eines der dunkleren Motive, warum Bergwildnis immer wieder aufgesucht wird« (Planken & Schurig 2000: 211).

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deren Unbegrenztheit auch die Grenzen seiner eigenen Natur« erfährt.16 Wildnis ist ein fremdes Gegenüber und eine Außenwelt außerhalb des »bekannten Raumes«17. In diesem Sinn interpretiert beispielsweise auch die Volkskundlerin Brigitte Heck Wald als eine Wildnis im romantischen Kontext: Für die Künstler der Romantik war der Wald »zunächst das Fremde, das man in bewusster Abgrenzung zum Alltag aufsuchte, um kontrastreiche Abgeschiedenheit zu erleben«18. Moderne Verweise auf archaische Wildnisauffassungen In meiner Analyse von Wildnis mittels der Cassirer’schen Raumtheorie behandle ich, wie in Kapitel 3.1 erklärt, prinzipiell nicht voraufklärerische Auffassungen als solche. Durchaus aber untersuche ich moderne Auffassungen, die auf archaische verweisen oder sogar versuchen, in ihrer Auffassung eine archaische Form nachzuvollziehen. Bedeutend ist ein derartiger moderner Bezug auf Archaisches bei der gerade angesprochenen Auffassung von Wildnis als ›das Andere‹, als das Gegenüber der Zivilisation, das für diese Zivilisation jedoch wichtige Funktionen hat. Diese weitverbreitete Deutung steht meist im Kontext von ethnologischen und psychologischen Untersuchungen und wurde nicht zuletzt entscheidend von dem Ethnologen Hans Peter Duerr19 geprägt. Im archaischen Denken ist Wildnis danach das, was sich außerhalb des kultivierten Landes befindet.20

16 Planken & Schurig 2000: 194 f., Hervorh. i. O. – Die Autoren beschreiben dies für die US-amerikanische Idee der ›wilderness‹. Es ist aber heute auch ein Teil des mitteleuropäischen Deutungsrepertoires von Wildnis geworden, siehe beispielsweise Flüeler (2004: 135) und Trommer (2012: 87). 17 Lutz 1999: 132. 18 Heck 2011: 34. 19 Das einschlägige Werk ist ›Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation‹ (Duerr 1978). Dabei verweist er unter anderem auf Mircea Eliade (Eliade 1957). In der Deutungstradition, archaische Gesellschaftsordnungen in der Moderne als verständlich und zudem bedeutsam anzusehen, stehen auch Schriften des Philosophen Georges Bataille und des Ethnologen Claude Lévi-Strauss (Bataille 1963; LéviStrauss 1968). Schon der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl setzt Mitte des 19. Jahrhunderts kulturkritisch der modernen Zeit, die sich für ihn durch Maßlosigkeit auszeichnet, die Rückbesinnung auf den Ursprung entgegen. Diese Rückbesinnung könne der modernen Gesellschaft nur in und mit der Wildnis gelingen (Riehl 1854: 34 f. etc.; vgl. Körner & Eisel 2001: 154 f.; Vicenzotti & Trepl 2009). 20 Der Soziologe Norbert Elias beschreibt in seiner Zivilisationstheorie, dass bei »Primitiven« das Draußen die Gefahrenzone sei, bei »Zivilisierten« hingegen nicht mehr (Elias 1976: 405; vgl. Termeer 2005: 33). Robert P. Harrison beschreibt für das frühe

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Sie hat etwas Dumpf-Bedrohliches für die Kultur (insbesondere für den eingezäunten Garten). Im Draußen, außerhalb von Recht und Ordnung, herrscht Chaos und Barbarei. Dort leben die Gesetzlosen, also Menschen, die nicht der Kultur angehören:21 Hexen, Ausgestoßene, Irre, Räuber, Leprakranke, Flüchtlinge und auch Eremiten. Diese Wildnis muss nach Duerr von den Angehörigen der archaischen Gesellschaften zeitweise in einem rituellen Gang aufgesucht werden, um eins mit der eigenen inneren wilden Natur zu werden und die wilden Triebe innerhalb einer rituellen Ordnung auszuleben. Durch das Chaos wird die Ordnung des Kosmos bestätigt: Beide bilden einen notwendigen Dualismus. Diese Deutungsrichtung von Wildnis ist insofern Gegenstand meiner Arbeit, als sie bis heute in der Wildnisdiskussion rezipiert wird, insbesondere bezogen auf psychologische Funktionen von Wildnisgebieten. 22 Beispielsweise beschreibt der Literaturwissenschaftler Thomas Metscher die »Erfahrung der Wildnis« als »eine Erfahrung jenseits des kulturellen Raums«, der »aber immer auf einen solchen bezogen« sei als eine »Grenzerfahrung«; Wildnis ist »die Gegenwelt zur Welt des gewöhnlichen Lebens, mit dem sie gleichwohl unauflösbar verbunden bleibt.«23

Mittelalter die Wälder als ein derartiges Draußen, in dem man »[a]ußerhalb des Gesetzes und der menschlichen Gesellschaft« war (Harrison 1992: 81). 21 Die Soziologin Cordula Kropp weist darauf hin, dass Folgendes eine nach wie vor verbreitete Denkfigur sei: Menschen werden als kulturlos, also ohne gesellschaftliche Ordnung (Zivilisation) angesehen, weil sie in einer Gegend beziehungsweise Umgebung leben, die aus der Perspektive anders geprägter Menschen äußerlich als ungeordnet, verwahrlost oder von Gewalt beherrscht erscheint (Kropp 2010: 48). 22 Unmittelbar auf Duerr beziehen sich beispielsweise Oelschlaeger (1991: 9, 297), Großklaus (1993: 20), Lutz (1999), Mann (2011), Termeer (2005: 31), Schwarzer (2007: 112), Kirchhoff & Trepl (2009: 22), Girtler (2011: 26), Gerndt (2011: 18, 20) und Trepl (2012: 100 ff.). 23 Metscher 2011: 63. – In analoger Weise interpretiert der Soziologe Ronald Lutz das Bergsteigen: »Sein angestammtes Territorium, das ihm Raum, Zeit, Welt, Heimat, Norm, Gesetz und Sicherheit habt, hat der Mensch schon immer zeitweise verlassen, um auf der anderen Seite der Ordnung außergewöhnliches zu erfahren […]. Vor allem aber ging es darum, anderes als das bekannte zu ›sehen‹ und ›andere‹ Erfahrungen zu machen, und dies zugleich in einer sonst nicht bekannten Dichtheit und Ganzheit. Dabei gehörten diese Orte des Anderen genauso zur Welt wie die Welt selber.« (Lutz 1999: 126)

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Die Wanderung durch das Val Grande etwa wird von Befragten als ein »Rückzug aus der Zivilisation« beschrieben.24 Nicht zuletzt die Alpenschutzorganisation ›Mountain Wilderness‹ formuliert als einen ihrer Grundsätze: »Die Flucht, den zeitweiligen Ausbruch aus der Zivilisation, betrachten wir als lebensbejahend und überlebensnotwendig für Körper, Geist und Seele.«25

In diesen Zitaten sind Verweise auf eine archaische Gegenwelt, etwas außerhalb der Zivilisation, zu bemerken und diese werden mit Wildnis in Zusammenhang gebracht. Emotionale Erfahrung einer äußeren, eigenständigen, unbeeinflussbar mächtigen Wildnis Die Kontrastierung von vertrautem, bekanntem Raum und fremdem, unbekanntem Raum beruht auf kulturellen Bedeutungen. Das heißt, es ist etwas anderes gemeint, als wenn im biologisch-naturwissenschaftlichen Kontext von Wildnisgebieten, Wildtieren oder Wildpflanzen26 die Rede ist. Im biologisch-naturwissenschaftlichen Kontext werden mit diesen Begriffen Naturformen bezeichnet, die außerhalb der physisch kultivierten oder bebauten Regionen bestehen, aber naturwissenschaftlich gedacht werden, insbesondere als kausal erklärbar. Denn der fremde Raum gilt in den genannten Zitaten als Gegenüber des vertrauten Raumes, den man nicht aufsucht, um ihn wissenschaftlich zu begreifen, also rational zu ›entzaubern‹ und praktisch zu beherrschen.27 Vielmehr sucht man den 24 Höchtl et al. 2005a: 523. 25 Flüeler 2004: 134. 26 Gerhard Trommer beispielsweise vermischt dagegen die unterschiedlichen Wortverwendungen, wenn er Bezüge auf den Kulturbegriff ›Wildnis‹ in naturwissenschaftlichen Kontexten vermutet: »Zoologen sprechen von ›Wildtieren‹ und Botaniker von ›Wildpflanzen‹, ›Wildkräutern‹ oder ›Wildformen‹. Der überlieferte und keinesfalls aus der Wissenschaft stammende Begriff ›Wildnis‹ liefert den Biologen einen tauglichen Kontrast [zur Zivilisation G. K.], weil Wildnis, anders als die Natur, noch nie als Teil der Zivilisation begriffen wurde und schärfer als der Naturbegriff dem Prozess und Status der Zivilisation gegenübergestellt wurde und gegenübergestellt werden kann« (Trommer 2012: 75). 27 Die »Entzauberung der Welt« besteht, so beschreibt Max Weber in seinem berühmt gewordenen Aufsatz ›Wissenschaft als Beruf‹, im Wissen davon oder in dem Glauben daran, »daß man, wenn man nur wollte, es [die allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen] jederzeit erfahren könnte, daß […] man […] alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne«. Die gegenteilige Vorstellung dazu sei die einer Welt

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fremden, bedrohlichen Raum auf, um ihn in seiner Andersartigkeit und Irrationalität emotional (mythisch oder ästhetisch) zu erfahren. So wird im Bildungskonzept für den ›Naturerlebnispark Zürich‹ behauptet: »Wildniserfahrung ist als Kontrasterfahrung oder Differenzerfahrung für Menschen intensiver als andere Naturerfahrungen.«28

Lawinen, Bergstürze und das Wattenmeer etc. können tatsächlich lebensbedrohlich werden. Was sie jedoch zum Beispiel vom wesentlich gefährlicheren Straßenverkehr unterscheidet, sind bestimmte reizvolle emotionale Erfahrungen, die sie hervorrufen. Die Wildniserfahrung kann eine emotionale Erfahrung sein, die dem entspricht, was ich mit Cassirer als die ›dramatische Auffassung‹ dargestellt habe.29 Äußere Mächte umfangen die Menschen bedrohlich oder verführerisch in einer mythisch-emotionalen Atmosphäre, ohne dass eine Bestimmung durch das Subjekt möglich erscheint.30 Bezogen auf diese Art der mythischen Wildniserfahrung ist im modernen Kontext, in dem wir die Umwelt, die mit ›natürlicher Umwelt‹ im Allgemeinen gemeint ist (also nicht andere Planeten), praktisch nach Belieben beeinflussen können, Folgendes bemerkenswert: Für ›Wildniserlebnisgebiete‹ oder ›Wildniszonen‹ von Nationalparken wird der Anspruch gestellt, dass es »dort keine oder nur sehr wenig Infrastrukturmerkmale geben«31 dürfe mit »geheimnisvollen unberechenbaren Mächte[n]«, bei der man »zu magischen Mitteln greifen [muß], um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten«. Diese Vorstellung einer verzauberten Welt schrieb Weber übrigens explizit »Wilden« zu, zu denen er seinerzeit »Indianer« oder »Hottentotten« zählte. (Alle Zitate in dieser Fußnote: Weber 1919/1988: 593 f., Hervor. i. O.; vgl. Horkheimer & Adorno 1969/2006: 11; Dinzelbacher 2008: 155) 28 Roth 2009: 24 29 Siehe Kapitel 3.1; vgl. Cassirer 1944/2007: 123. – Im dritten Aspekt (Kapitel 4.1.3) unten werde ich die ›dramatische‹ Form der Wildnisauffassung näher ausführen. 30 Eine derartige Wildniserfahrung wird in einem Raum gemacht, der den eigenen »Rhythmus der Natur« hat (Roth & Stauffer 2010: 9), der – wie es beispielsweise Matthias Stremlow und Christian Sidler an dem Roman ›Graue March‹ (1935) zeigen – »in seiner Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von der menschlichen Kulturwelt dargestellt wird« (Stremlow & Sidler 2002: 64). 31 Bauer 2005: 153. – Dieser Anspruch ist schon im ›Wilderness Act‹ von 1964 festgehalten, dem Gesetz, das der US-amerikanische Kongress erlassen hat, um Wildnisschutzgebiete zu etablieren: »there shall be no temporary road, no use of motor vehicles, motorized equipment or motorboats, no landing of aircraft, no other form of

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und darin Spuren zu hinterlassen nicht erlaubt sei. Indem sichtbare menschliche Spuren und Einrichtungen verhindert werden, werden die natürlichen Bedingungen (Wetter, Unwegsamkeit, Wasservorkommen etc.) – also die äußeren, als unbeeinflussbar gedachten Kräfte – in den Vordergrund gerückt, mit denen umzugehen jeder Einzelne individuell herausfinden muss. In einem Wildnisgebiet ist beabsichtigt, die Besuchernutzung auf »Personen mit ausreichender Sachkunde und Ausrüstung, um ohne fremde Hilfe überleben zu können«32, zu beschränken. Ein Ziel dabei ist es offenbar, die unmittelbare Erfahrung einer Bestimmung durch äußere, eigenständige, unbeeinflussbare Mächte zu ermöglichen.33 In gewissem Sinne wird man so symbolisch der Idee gerecht, nach der Wildnis ein Raum ist, in dem »Abwesenheit von Regeln und Verpflichtungen«34 herrscht, denn außer der Rahmenvorgabe zur Zurückhaltung gibt es keine weiteren allgemein festgelegten Vorschriften. Die Erfahrung von Wildnis, die hier ermöglicht werden soll, ist eine typisch moderne mythische Form. Wie in Kapitel 3.1 beschrieben, zeichnet sich diese durch ein distanzloses, unmittelbares Erlebnis aus, das zwar auf einer Metaebene vom modernen Subjekt als von sich selbst konstituiert reflektiert werden kann, aber nicht innerhalb der Auffassung, also im Moment der mythischen Wildniserfahrung. mechanical transport, and no structure or installation within any such area« (United States Congress 1964). Genannt wird als vorrangiges Ziel der Schutz der »Gebiete, die frei von störender menschlicher Aktivität erheblichen Ausmaßes und von moderner Infrastruktur geblieben« sind und dann auch zur internationalen Kategorie Ib ›Wildnisgebiet‹ der International Union for Conservation of Nature (IUCN) gehören (EUROPARC Deutschland 2010a: 19; vgl. Dudley 2008: 14). Ähnlich wird das Kriterium der fehlenden Infrastruktur immer wieder bei Definitionsversuchen zu Wildnis angeführt (Schwab et al. 2012: 20; Michalek 2011: 42). Den Einfluss des ›Wilderness Acts‹ auf die aktuellen Formulierungen zum internationalen Wildnisschutz hat kürzlich Vera Vicenzotti aufgezeigt (Vicenzotti 2011b), vgl. auch Hinweise in Kapitel 1.3. 32 EUROPARC Deutschland 2010a: 21. 33 Beispielsweise meint Jürg Meyer in Bezug auf seine Praxis der Bergführungen: »Jede achtlos weggeworfene Zigarettenkippe am Kletterfels, jeder nur langsam verrottende Orangenschale auf dem Skigipfel nehmen deinen Nachfolgern eine Möglichkeit, näher an der Natur, der Wildnis – und bei sich selbst zu sein« (Meyer 2004: 150). In nordamerikanischen Nationalparken sind die Wanderer »grundsätzlich zur Reinhaltung der Gewässer und zur Rücknahme aller in die Wildnis mitgenommenen Verpackungen und Ausrüstungsgegenstände verpflichtet. Darüber hinaus verlangt die ›Leave no Trace‹-Ethik, möglichst unauffällig, ohne Spuren zu hinterlassen unterwegs zu sein« (Trommer 2011: 17). 34 Bauer 2005: 101.

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Die Wildnisauffassungen, die sich in diesem Unterkapitel bisher in diversen Zitaten gezeigt haben, zielen nicht auf ästhetische (schon gar nicht auf theoretisch-wissenschaftliche) Formungen von Raum als Wildnis, denn der Gegenstand der Auffassung scheint für das betrachtende Subjekt hier als eigenständige Kraft zu wirken.35 Und diese Kraft erscheint dem Subjekt real, ohne dass es im Moment der Erfahrung seine Konstitutionsleistung reflektieren könnte. Dies konnte ich in Kapitel 3.1 als charakteristisch für die mythische Raumformung im Sinne Cassirers herausarbeiten. Ich vermute daher, dass die Wildnisauffassungen mit dem bisher beschriebenen Charakter auf heuristisch fruchtbare Weise mittels der Theorie dieses Typs einer mythischen Raumformung zu verstehen sein könnten. Um zu untersuchen, ob die Auffassungen sich hinreichend mit dieser Theorie nachvollziehen lassen, sollen im nächsten Schritt die Eigenschaften (›Atmosphären‹), die bei diesen Wildniserfahrungen genannt werden, näher betrachtet werden. 4.1.2 Aspekt 2: Wildnis als mythisch-emotionale Atmosphäre – der ›Zauberhauch des Unbekannten‹ Bei den Eigenschaften, die Wildnis beigemessen werden, wenn sie in der Moderne als ein unbekannter Raum wahrgenommen wird, der geprägt ist von äußeren Mächten, zeigen sich zwei wesentliche ambivalente Aspekte: Schaudern (Angst und Faszination) einerseits sowie Mysterium (Ehrfurcht und Geborgenheit) andererseits.36 Diese Wahrnehmungen stelle ich im Folgenden dar und grenze sie vom ästhetischen Erlebnis einer erhabenen Landschaft ab. In Naturschutzdiskursen wird des Öfteren das Paradoxon der ›paradiesischen Wildnis‹ formuliert und werden der Wildnis besondere spirituell-mystische Bedeutungen beigemessen. Diese beiden Auffassungen diskutiere ich anschließend.

35 Wie in Kapitel 3.3 dargestellt: zeichnet eine theoretisch-wissenschaftliche Formung ebenfalls eine Unabhängigkeit vom Subjekt aus, allerdings in ganz anderer Weise: Diese Formung ist im Gegensatz zur mythischen Formung logisch in dem Sinne, dass Erfahrungen mittels der Logik zu objektiven Erkenntnissen verarbeitet werden (sollen). Innerhalb der mythischen Auffassungen hingegen lebt der Wahrnehmende in einem ihm selbst nicht weiter erklärbaren Symbolraum. 36 Beispielsweise nennt Markus Schwarzer diese Aspekte bei seiner phänomenologisch geprägten Betrachtung von Wald als Wildnis (Schwarzer 2007: 117).

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Ambivalente Empfindungen von angstvollem und fasziniertem Schaudern gegenüber der ›unbekannten Wildnis‹ Gebiete wie das Val Grande werden von der ansässigen Bevölkerung durchaus nicht nur nüchtern als »unwegsam und undurchdringlich« beschrieben, sondern auch explizit als »Wildnis« bezeichnet.37 Manche schildern dies ausführlich, etwa die Erlebnispädagogin Sybille Kalas: »Wildnis ist da, wo ich mich nicht mehr auskenne, wo Orientierung schwer wird, wo man sich weit weg von Zivilisation weiß […]. Wildnis ist unkontrollierbar; Wildnis ist, wo keine Menschen sind, wo es bedrohlich und gefährlich sein kann, wo ausgesetzt-Sein das vorherrschende Gefühl ist«38.

Zusätzlich zu den praktischen Problemen beim Zurechtfinden und Fortbewegen in der Wildnis werden Eigenschaften des Raumes genannt, die für Empfindungen von Angst, Einsamkeit und Machtlosigkeit stehen. Eine solche bedrohliche, gefährliche und einsam machende Wildnis schreckt aber in der Moderne nicht nur ab; vielmehr kann sie auch etwas emotional Anziehendes haben: Sie bietet Abenteuer – und das nicht trotz, sondern gerade, so der Soziologe Roland Girtler, »wegen ihrer Unsicherheit[,] aber oft auch wegen ihrer Undurchdringlichkeit«39. Wesentlich für diese Faszination durch Wildnis ist nach dem Literaturwissenschaftler Thomas Metscher »das Moment des Unentdeckten«, also des praktisch Unerschlossenen und szientifisch-rational (noch) Unerklärten, Unbekannten, denn »nur, wo es Unentdecktes gibt, wo auch Gefahr lauert, reale oder imaginierte, gibt es das Abenteuer«.40 Die Atmosphäre der Wildnis ist nicht ausschließlich negativ, nämlich Angst verbreitend, sondern vielmehr auch positiv, nämlich faszinierend unbekannt und überraschend. Beispielsweise wird das Val Grande gerade deshalb aufgesucht, weil es als von »Unübersichtlichkeit und Unberührtheit« geprägt gilt.41 Es trifft demnach nicht allein zu, was Henning Thiessen vom Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume des Landes Schleswig-Holstein über die »Undurchdringlichkeit eines Sumpfwaldes, 37 Höchtl & Burkart 2002: 225. 38 Kalas 2011: 71. 39 Girtler 2011: 27. – Ob es eine ambivalente (auch positive) Auffassung von Wildnis vor der Moderne gab, wird unterschiedlich interpretiert (Haß et al. 2012: 113; Trepl 2012: 100 ff.). Diese Frage ist hier nicht weiter relevant, da ich, wie in Kapitel 3.1 erläutert, nur moderne Raumauffassungen analysiere, nicht archaische. 40 Alle Zitate in diesem Satz sind aus Metscher (2011: 63). 41 Schwab et al. 2012: 20.

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eines Weidendickichts oder einer Hochstauden-Brachfläche« schreibt: Sie wirke auf »die meisten von uns« »nicht gerade einladend« wegen »unserer Angst vor Unordnung, Unübersichtlichkeit, Kontrollverlust oder Gefahr« – faszinieren könne Wildnis nur ästhetisch.42 Das gilt offenbar nicht ausschließlich, denn Wildnis lädt im Gegenteil – und das übersieht Thiessen – auch zum Abenteuer und zur körperlichen Herausforderung ein, was bei manchen bis zum Spiel mit der tatsächlichen Lebensgefahr gehen kann.43 Eine derartige unmittelbare physische Wahrnehmung einer äußeren Macht habe ich mit Cassirer als die Wahrnehmung des Ausdrucks erklärt – eine typische Eigenschaft der modernen mythischen Raumformung, die sich von der ästhetischen unterscheidet. 44 Bevor ich im nächsten Kapitel (Aspekt 3) diese Unterscheidung der mythischen von der ästhetischen Wildniswahrnehmung genauer erläutere, gehe ich im Folgenden weiter auf die Ausdruckswahrnehmung ein. Für eine solche Wahrnehmung wurde oben als Beispiel von Jörn Bohr das Schaudern im nächtlichen Wald genannt.45 In unmittelbarer emotionaler Erfahrung eines ›Schauderns‹ kann die faszinierende Ambivalenz der Wildnis erlebt werden.46 Das ist eine treffende Beschreibung, denn das Schaudern ist ein zwiespältiges Gefühl – abstoßend und anziehend zugleich.47 Durch das Schaudern im unbekannten Raum Wildnis kann sich die unmittelbar emotionale Erfahrung dessen zeigen, was von diversen Autoren als das »Spannungsfeld« von Wildnis beschrieben wird – das »Spannungsfeld, das uns zwischen Furcht und Ehrfurcht, Sehnsucht und Angst, Geborgenheit und Hilflo-

42 Thiessen 2011: 7. 43 Dies belegt beispielsweise auch folgende Bemerkung des Publizisten Wieland Elfferding: »Ein Reinhold Messner propagiert seit Jahrzehnten den ›Wildniswert‹ der Berge. Wildnis steht für Herausforderung, Gefahr und Risiko. Die Grenze zum Tod zu berühren sei, so sein Credo, die Voraussetzung für Landschaftsgenuss in den Bergen« (Elfferding 2010: 31). 44 Dass die Faszination der lebensfeindlichen und gefahrvollen Bergwildnis für Extrembergsteiger wie Reinhold Messner sich durch die Körperlichkeit des Erlebnisses auszeichnet und damit wesentlich von einer ästhetischen Erhabenheitsempfindung unterscheidet, zeigt auch Autorenkollektiv um Anne Haß (Haß et al. 2012: 123). 45 Bohr 2008: 47. 46 Eine Ambivalenz positiver und negativer Gefühle findet sich auch bei der ästhetischen Auffassung von Raum als Wildnis, siehe Kapitel 4.2.3. 47 So stellt auch Ludwig Trepl als wesentliche Aspekte von »Wildniserfahrungen« nicht nur die negativen »Irritationen der gewohnten Sicherheit«, sondern auch den »Reiz der Gefahr« und »Reiz des Schauerlichen im Urwald« heraus (Trepl 2010: 11).

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sigkeit schwanken lässt«,48 ohne dass wir es – im Gegensatz zur ästhetischen Auffassung – im Moment der Erfahrung reflektieren könnten. Die Gefahr, das mitunter tödliche Risiko und die Mühen beispielsweise einer Hochgebirgstour können beklemmen sowie Angst und Schrecken hervorrufen. Sie auf sich zu nehmen, kann ein faszinierendes Abenteuer sein und sie am Ende bewältigt zu haben, kann Glücksgefühle (Euphorie) hervorrufen. Dies beschreibt beispielsweise der Soziologe Roland Girtler: »Wildnis […] hat […] stets etwas mit dem Schaudern des Menschen zu tun. Und es ist dieser Schauder, der den Menschen fasziniert. Die Bezwingung der so durch die Wildnis hervorgerufenen Beklemmung erfüllt den Menschen mit Befriedigung und Freude. In diesem Sinn wird das Herz des Kletterers nach dem mit Angst begleiteten Durchstieg einer hohen Wand mit freudigem Stolz erfüllt.«49

Das wilde Hochgebirge wird also als Gefahr und ebenso als Glücksverheißung wahrgenommen – in Cassirers Theorie eine typisch ambivalente, mythische Raumatmosphäre. Würde man diese Atmosphäre psychologisch analysieren, wäre wohl zu sagen: Die Sehnsucht nach den positiven Empfindungen von Wildnis ist der emotionale Antrieb, sich trotz Angst in das Abenteuer Wildnis zu begeben. Mit Cassirer kann aber über den psychologischen Zusammenhang von Auf-

48 Gerndt 2011: 20. – Sabine Hofmeister beschreibt mit einigen Gegensatzbegriffen ›Wildnis‹ und fasst zusammen, dass die »Sehnsucht nach und die Furcht vor Wildnis« »auf spannungsvolle Weise ineinander« wirken (Hofmeister 2008: 813). Nicole Bauer findet bei ihrer umfangreichen Befragungen drei »Einstellungsfaktoren« gegenüber der Ausweisung von Wildnisgebieten, darunter zwei »emotionale«: »Sorge und Bedrohung« und »Faszination und Wohlgefühl« (Bauer 2005: 101 ff.). Cordula Kropp beschreibt die Ambivalenz der Wildnis unter anderem so: »Heute ist Wildnis gleichermaßen Metapher für das Unschuldige wie für das Unbekannte, das Unkontrollierbare und Unordentliche« (Kropp 2010: 46). 49 Girtler 2011: 27. – Beschreibungen in diesem Sinne sind auch beim Wildnispädagogen Gerhard Trommer zu finden: »Es ist die Ambivalenz der Wildheit zwischen synästhetischer Faszination, Abenteuer und gefährlichem, ja mitunter tödlichem Risiko, die Wildniswanderern auch heute noch gelegentlich einen Schauer über den Rücken jagt und in freier Natur zu Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und Konzentration zwingt, wenn die Wanderer nicht stolpern, fallen und gar liegen bleiben wollen und das kann zwiespältige Gefühle hervor bringen [sic!]: Sicherheit und Unsicherheit, Wohlgefühl und Unbehagen, Glücksgefühl oder Angst und Schrecken. Jeder sollte gegenwärtig, wach, auf dem Sprung sein« (Trommer 2012: 97).

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gabe und Belohnung50 hinaus der kulturelle Kontext von Gefahr und Glücksverheißung der Wildnis ergründet werden. Nicht nur die »Freude, nicht in der Gefahr der Wildnis umgekommen zu sein«51, ist es, die sich Menschen ersehnen, sondern, wie Girtler für einen bestimmten gesellschaftlichen Kontext feststellt: »Das Erleben der Wildnis erhebt den Menschen aus dem Alltag und er empfindet grenzenlose Freude, wenn er heil aus der Gefahr als Held zurückkehrt.«52

Nach der Rückkehr aus der Wildnis als Held zu gelten, ist eine kulturell tradierte, symbolische Deutung. Den Bezug auf kulturelle Deutungstraditionen bei der angstvollen oder faszinierten Wahrnehmung von Wildnis beschreiben einige Autoren explizit. Mario Broggi, der Landnutzung und Naturschutz vor allem in der Schweiz untersucht, führt als eine planerische Begründung dafür, dass Wildnisgebiete »frei erlebbar« sein sollten, folgende Funktion an: Sie lassen bei »sensiblen Menschen« »alte Mythen anklingen«.53 Wildnisgebiete gehören in der »uns umgebenden Welt«, meint der Naturschützer Hubert Weinzierl mit ähnlichem Impetus, zu den Orten, die »Märchen« bergen.54 In einem Reisemagazin beschreibt der Journalist Dieter Schweiger die Ostharzregion Bodetal explizit mit Bezug auf die regionalen Märchen und meint, dass »[k]aum einer, der diese zauberhafte Wildnis erkundet«, gegenüber ihren märchenhaften Bedeutungen skeptisch bleiben könne. 55 ClausPeter Lieckfeld, Journalist im Bereich Umwelt- und Naturschutz, hält die kulturellen Deutungstraditionen gleichfalls für wichtig, sieht aber auch einen negativen Bezug: Wildnis werde bisweilen gerade deshalb abgelehnt, weil »in unserem kollektiven Unterbewusstsein noch immer der Rotkäppchen verschlingende böse Wolf die Zähne« fletsche.56 An diesen Verweisen auf Märchen wird deutlich, dass eine romantisch-mythische Deutung in bestimmten Bedeutungsfacetten von Wildnis heute präsent ist: Wildnis gilt als Ort, wo man den aufklärerisch-rationalen Erklärungen entfliehen und sich einer magisch-mythischen Weltsicht, die tie-

50 Ein Hund beispielsweise könnte auch lernen, eine Gefahr zu bewältigen, um eine Belohnung zu erhalten (vgl. Cassirers Begriff des ›natürlichen Ausdrucks‹ im Gegensatz zum ›symbolischen Ausdruck‹ in Kapitel 3.1.2). 51 Girtler 2011: 27. 52 Ebd. 53 Broggi 1995: 114. 54 Weinzierl 2008: 8. 55 Schweiger 2016: 62. 56 Lieckfeld 2009: 50.

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fere Bedeutungen der Dinge zeigt, in einem unreflektierten Erleben hingeben kann.57 Im heutigen Naturschutzkontext ist, wie wir an den Beispielen gesehen haben, eine Auffassung von Wildnis als unbekannt und schauerlich etc. festzustellen, die mit Cassirer als moderne mythisch-emotionale Wahrnehmung zu interpretieren ist. In dessen kulturtheoretischer Erklärung kommt diese Art der Wildnisauffassung dem Menschen allerdings nicht a priori zu, sondern ist abhängig von den kulturellen Bezugsrahmen, in dem die jeweiligen Menschen stehen. Dieser hat eine bedeutungsgeschichtliche Dimension, hängt aber auch wesentlich von gegenwärtigen gesellschaftlichen Ideen und Wertsetzungen ab und unterliegt damit einem Wandel.58 So bezeichnet der Kulturlandschaftsforscher Gerhard Strohmeier die tradierte Wahrnehmung des Waldes im Waldviertel als »[d]üster und gefährlich«; er sei belebt von Geistern und einer »Urkraft«, »der man sich nicht entziehen« könne. Strohmeier stellt fest, dass dieser frühere »locus horribilis« heute umgedeutet zur »Attraktion« werde.59 Wildnis als kultureller Begriff ist, so fasst die Historikerin Franziska Torma zusammen, »der Raum außerhalb der menschlichen Kultur und Geschichte« und als solcher »genau ein Produkt derjenigen Zivilisation, deren Gegenpol sie zu sein scheint«.60 Dass hier 57 Zur romantisch-mythischen Raumformung in Märchen als eine typisch moderne siehe Kapitel 3.1.2. 58 Wie mit Cassirers Theorie die kulturelle Prägung von Raumauffassungen verstanden werden kann, habe ich in Kapitel 2.1 dargelegt. In die Kulturgeschichte der Deutung von Wildnis speziell mittels der Begriffe ›Angst‹ und ›Faszination‹ geben unter anderem Norbert Eliasin seinem »Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation« (Elias 1976: 405 f.), Robert P. Harrison in seiner abendländischen Kulturgeschichte der Wälder (Harrison 1992), Marcus Termeer in ›Verkörperung des Waldes‹ (Termeer 2005) sowie Stefan Bartilla in seiner Untersuchung von Berg- und Waldlandschaften in der Landschaftsmalerei Einblicke (Bartilla 2005). 59 Strohmeier 2001: 15. – Teilweise wird der Bedeutung historischer Mythen, in denen die Wildnis als schauerlich erscheint, in Analysen aktueller Wildnisdiskussionen sehr hohe, meines Erachtens nach zu hohe Relevanz beigemessen. Dass heute die Wildnis »als die Gegend der Wälder und Berge außerhalb der Dörfer der Ort geheimnisvoller und tückischer Wesen, wie Hexen und Zwerge« (Girtler 2011: 26) oder als »Sagenwald« (Gerndt 2011: 18) tatsächlich sehr bedeutungsvoll ist, erscheint mir überzogen. Ein typischer Teil unserer Kultur sind allerdings genau solche Interpretationen der aktuellen Wildnisauffassung als bruchlose Weiterführung historischer Deutungen, wie ich unter Aspekt 1 beispielhaft anhand von Duerrs ›Traumzeit‹ (Duerr 1978) und ihrer Rezeption gezeigt habe. 60 Torma (2008: 147) mit Verweis auf Cronon (1995).

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Wildnis ›produziert‹ wird, ist natürlich nicht räumlich gemeint: Wildnis wird nicht in einem Gebiet als materielle Realität hergestellt. Aber sie existiert auch nicht, wie vielfach bemerkt, ohne Weiteres »im Gegensatz zur menschlichen Präsenz«61. Vielmehr hat Wildnis ihre reale Existenz auf der Ebene von Bedeutungen, und hier handelt es sich um eine Bedeutung, die in einer bestimmten Kultur ›produziert‹ und die einem bestimmten Gebiet, also einem materiellen Objekt, zugeschrieben wird. Ambivalente Empfindungen von mystischer Ehrfurcht und Geborgenheit gegenüber der ›unbekannten Wildnis‹ Die mythisch-emotionale Atmosphäre der ›unbekannten Wildnis‹ kann neben dem angstvollen oder faszinierenden Schaudern noch eine weitere Dimension erhalten: Angesichts der äußeren Macht können sich ambivalente Empfindungen von mystischer Ehrfurcht und zugleich Geborgenheit einstellen. So suchen viele Extrembergsteiger neben der körperlichen Herausforderung auch eine »(spirituelle) Ganzheitserfahrung«, wie Stremlow und Sidler in ihrer kulturwissenschaftlichen Analyse zeigen.62 Wenn sich Extrembergsteiger in die machtvolle, fremde Wildnis des Hochgebirges begeben, kann, so der Soziologe Lutz, für sie der Berg sogar »zu einem Gott«63 werden. Den Bergen werden außergewöhnliche Qualitäten zugeschrieben, bei denen ein transzendenter Sinn erfahren werden kann; mit ihnen gewinnen die sonst lebensfeindlichen, abwiesenden, unzugänglichen Orte eine geheimnisvoll anziehende Wirkung. Solche Erfahrungen von Bergen können den mythisch-emotionalen Raumformungen eines Ortes als ›heilig‹ im Sinne Cassirers zugerechnet werden.64 Die »erlebte Wildnis« ermögliche – nach Äußerungen von Teilnehmern des Workshops ›Kraft der Wildnis‹ im Nationalpark Kalkalpen (Oberösterreich) 2010 – »Andacht und Bedachtsamkeit« und diese könne »in einer der Mystik aufgeschlossenen Haltung als Respekt einflößend« erlebt werden.65 Mit der Idee der Wildnis gehe, so der Naturschutzvertreter Hubert Weinzierl, heute ein »spirituelle[r], mystische[r] Aufbruch« einher: Wir können uns »wieder« mit der Tierund Pflanzenwelt als »eine Erde, ein gemeinsames Lebendiges« erleben.66 In der 61 Elfferding 2010: 27. 62 Stremlow & Sidler 2002: 67. 63 Lutz 1999: 128. 64 Die Bedeutung von Hochgebirgen als Reservate des »Heiligen« in der Kulturgeschichte stellt Helga Dirlinger dar (Dirlinger 2000: 246 ff.; vgl. Woźniakowski 1987: 72). 65 Steinwender & Pröll 2011: 38. 66 Weinzierl 1999: 64.

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Wildnis ist, wie Weinzierl später ausführt, die Idee des »ewigen Fließens und des Wiedererstehens aus der Endlichkeit« zu spüren.67 Der Publizist Teresio Valesesia aus der Region des Val Grande meint offenbar Ähnliches, wenn er die Bedeutung von Wildnisgebieten für ein »genussvolles und mit tiefem Respekt verbundenes Sich-wieder-Eingliedern in die Natur« heraushebt.68 Der Wildnis wohne ein »Zauber« inne.69 Analysiert man diese Äußerungen sehr unterschiedlicher Herkunft hinsichtlich ihrer Verweise auf Weltdeutungstheorien, so zeigt sich: Ihnen liegen vor allem Vorstellungen einer »atmosphärischen Einheit des Weltganzen, einer höheren Ordnung also, der selbst die fremde, wilde Natur angehört«70, zugrunde. Derartige Äußerungen mögen sich bei genauerem Hinsehen zuweilen als lose Bruchstücke von Gedanken erweisen, die mehr oder weniger kontextlos hochgradig artifiziellen Theorien oder Ideologien entnommen werden. Gegenstand meiner Analyse sind diese Bezüge dennoch, denn sie sind im aktuellen Reden über Wildnis nicht unbedeutend. Ich interpretiere sie als Ausdruck einer in unserer Gesellschaft präsenten Sehnsucht nach freier, nicht zivilisatorisch verschütteter Natur, die sich emotional unmittelbar erleben lässt und die eine spirituelle Sinnorientierung bietet. So nennen Vertreter der Naturschutzorganisation ›Mountain Wilderness‹ als eines ihrer zentralen Ziele, das Erlebnis ursprünglicher Natur »jenseits der gesellschaftlichen Konventionen, der zivilisierten, bürgerlichen Gesellschaft«71. Eine derartige Wildniserfahrung kann in der Moderne nur als Sehnsucht bestehen, in der ein unreflektiertes, schicksalergebenes Erleben von Sinn und des Glaubens an ihn vorübergehend in einer Gegenwelt möglich ist, die immer nur korrespondierend zur szientifisch-rationalen Weltsicht bestehen und diese nie ablösen kann.72 Das moderne Subjekt formt Raum willentlich auf mythische Weise, um die Welt zu verstehen und – insbesondere die unverständliche moder67 Weinzierl 2008: 8. 68 So wird eine Aussage zum Val Grande Teresio Vasesias vom Autorenkollektiv um Schwab referiert von (Schwab et al. 2012: 21). 69 Weinzierl 2011: 17. 70 Eisel 2007: 372. – Matthias Stremlow und Christian Sidler zeigen (mit Haubl 1999), dass in zivilisationskritischen Teilen unserer modernen Gesellschaft (zumindest im Bildungsbürgertum) das »Urvertrauen« »vermisst« wird und es daher eine Sehnsucht nach der »unbekannten Wildnis« gibt, die »eine metaphysische Überhöhung der Wildnis« mit einem »realistischen«, »nicht-idyllischen Naturbild« »verbindet« (Stremlow & Sidler 2002: 65). 71 Flüeler 2004: 135. 72 Vgl. Kapitel 3.1.2.

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ne Welt – zu bewältigen.73 Geht diese romantische Doppelbödigkeit verloren, kann es zu einer biedermeierlichen »Trivialisierung des neuen Mythos« kommen, in der das Subjekt seine freie Selbstbestimmung zugunsten einer äußeren Macht tatsächlich preisgibt.74 Ob ein modernes romantisches mythisches Wildnisempfinden gelingt, ist individuell und kulturell je nach Wahrnehmendem und Situation wohl sehr unterschiedlich. Die Sehnsucht allerdings kann im emotionalen Zugang offenbar – zumindest bis zu einem gewissen Grad – auch mit einem mitunter heterogenen ›Flickenteppich‹ an Prägungen und Assoziationen erfüllt werden. In anderen Fällen scheint diese Erfüllung nicht zu gelingen, und die Äußerungen etwa zu mystischer Ehrfurcht und Geborgenheit angesichts von Wildnis erscheinen als inkonsistente Aneinanderreihung von Klischees. Was heutige emotionale Erlebnisse am nicht-alltäglichen Ort Wildnis auszeichnen kann, machen folgende Zitate deutlich: Wildnisgebiete sind, so äußert Hubert Weinzierl, »Schutzgebiete« für »unsere Seele«, in denen eine »Wiedervereinigung von uns Menschen mit der Schöpfung« möglich ist.75 In »einer Zeit wachsender Orientierungslosigkeit und Entwurzelung« kann man der Ansicht des einflussreichen Naturschützers Martin Succow nach, in Wildnisgebieten wieder »zu Ehrfurcht, zu Spiritualität und zu Bescheidenheit gelangen«.76 In diesen Beispielen klingen vielerlei Bedeutungen an: Wildnis wird mit Ehrfurcht, also »Respekt vor Heiligtümern« und einem »Hintanstellen unserer arteigenen Arroganz gegenüber dem Rest der Schöpfung« verbunden.77 Manche finden in der Wildnis offenbar Orientierung und eine gewisse Geborgenheit, eine transzendente Geborgenheit im ewigen Werden und Vergehen,78 die im aufgeklärten Kontext vom Subjekt bewusst gesucht wird. Dass auch derartige mythische Raumauffassungen als Teil unserer modernen Welt zu sehen sind, die zur Ergänzung der aufklärerisch-rationalen Weltauffassung dienen,79 solange sie diese nicht un73 Vgl. Rudolph 1995: 146 74 Meier 1979: 170; vgl. Kapitel 3.1.2. 75 Weinzierl 1999: 64. 76 Succow et al. 2012b: 317; vgl. Succow 2008: 45. 77 Weinzierl 2008: 8. 78 Matthias Stremlow und Christian Sidler schreiben von »transzendentaler Geborgenheit« (Stremlow & Sidler 2002: 64), meinen aber wohl »transzendente«, denn sie beschreiben die Geborgenheit, die den Bereich menschlichen Bewusstseins und menschlicher Erfahrung überschreitet, nicht eine, die in Zusammenhang mit den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung steht (vgl. Schmidt & Schischkoff 1991: 732). 79 In diesem Sinne stellt Cordula Kropp die Vorstellung von der bewussten Zurückhaltung als eine zweite Implikation der heutigen Bedeutung von Wildnis neben die ›klassische‹ feindliche Gegenüberstellung von Wildnis und Kulturtätigkeit: »Heute ist

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reflektiert in einer vollkommenen Remythisierung zurücknehmen, konnte ich mit Cassirers Raumtheorie zeigen. Bei der »Suche nach dem Überirdischen« in der Wildnis ist Geborgenheit verbunden mit dem ambivalenten Gefühl des »heiligen Schauderns«, also einer Ehrfurcht.80 Hier klingt eine romantische Weltsicht an, bei der Wildnis zu einem heiligen Ort wird, an dem das Subjekt, ehrfürchtig gegenüber der Größe und Würde einer äußeren Macht, Geborgenheit und Schutz vor der emotionalen Kälte der aufgeklärten Welt zu suchen scheint – immer in dem kritischen Bewusstsein, diese Suche nie vollenden zu können. Wildnis als mythisch-emotionale Atmosphäre eines unbekannten Raumes, so konnte ich in diesem Kapitel zeigen, kann zwei ambivalente Bedeutungen haben, die Bedeutung des Schauderns, der Angst und Faszination oder aber die eines Mysteriums, das mit Ehrfurcht oder Geborgenheit verbunden ist. Dieser Dualismus kann sich in einer Spannung zwischen »Sehnsucht nach« und »Furcht vor Wildnis« zeigen, die die Umweltplanerin Sabine Hofmeister als einen Kern des aktuellen »Wildnisbooms« beschreibt.81 Diese moderne spannungsreiche Faszination einer ›unbekannten Wildnis‹ besteht idealtypisch auch heute in einer im weiteren Sinn romantischen mythischen Raumformung. Das Subjekt sucht eine geheimnisvolle Gegenwelt, in der es sich dem Erleben und emotionalen Spüren einer unbeeinflussbaren Wildnis hingeben kann, weiß zugleich aber, dass dies stets nur eine individuelle Idee zur Bereicherung der ansonsten alltäglichen szientifisch-rational geprägten Welt ist. Ursprüngliche, unberührte Atmosphäre und das Paradox der ›paradiesischen Wildnis‹ Mit modernen mythischen Sinngebungen wird Wildnis vor allem dann verbunden, wenn sie mit den atmosphärischen Eigenschaften ursprünglich und unberührt beschrieben wird: Zum Beispiel charakterisieren Besucher des Val Grande Wildnis mit den Begriffen »einsam, still, unverschmutzt, ursprünglich, natürlich«82. Der Biologe Michael Succow, der weltweit fachlich und politisch für Naturschutzgebiete tätig ist, meint, dass Gegenden als Wildnis zu begreifen, Ausdruck einer Sehnsucht nach »unberührter, unreglementierter Natur« sei.83 Bei der Bergwildnis, so die Pädagogin Birgit Planken und der Biologe Volker

Wildnis […] negativer Kontrast zu Zivilisation wie positiv als Kontrast zu deren totalem Zugriff und Omnipotenzphantasie« (Kropp 2010: 46). 80 Girtler 2011: 26. 81 Hofmeister 2008: 813. 82 Höchtl et al. 2005a: 523. 83 Succow 2008: 45.

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Schurig, ist vor allem das »Gefühl der Einzigartigkeit und Unberührtheit«84 wichtig. Diese Wildnis ist das äußere machtvolle Andere, das noch nicht berührt worden ist – oder vielmehr, das durch den letztlich unterlegenen Menschen nicht berührt werden kann. Diese Haltung lässt sich als eine typisch romantisch-mythische Auffassung verstehen, in der vom Subjekt absichtlich vorübergehend eine unreflektierte Haltung und machtlose Position eingenommen wird. Dieses »ganz Andere«, diese unbekannte Wildnis, kann, wie Wieland Elfferding kulturwissenschaftlich analysiert, letztlich nur »göttlich« sein,85 denn das ist der Gegenpol zu allem Menschlichen. Die »Wildnis als unberührte Schöpfung« gilt als »Heiligtum«,86 bemerkt ebenso der Naturschützer Hans Dieter Knapp. Unberührt erscheint eine Gegend insbesondere im Moment der Einsamkeit, 87 denn jeder andere Mensch könnte schon ›Berührung‹ verursachen oder zumindest symbolisieren. Touristen reisen in das Val Grande, »um in der Einsamkeit zu sich selbst zu finden und um sich aus der Zivilisation zurück zu ziehen [sic!]«88. In diesem Sinne scheint auch die »göttliche Ruhe in den Bergen«89 gemeint zu sein, die man einsam in der Bergwildnis erleben kann. In Kreisen des Naturschutzes und des Naturtourismus‹ wird mitunter von einer »paradiesischen Wildnis«90 gesprochen. Wie lässt sich das erklären? Der ersehnte Ort des Ursprünglichen und Unberührten kann auch das Paradies sein.91 84 Planken & Schurig 2000: 209. 85 Elfferding 2010: 27. 86 Knapp 2000: 12. 87 Dies führen beispielsweise Birgit Planken und Volker Schurig an: »Für das Wildniserleben ist Einsamkeit […] ein Schlüsselwert« (Planken & Schurig 2000: 209; vgl. Flüeler et al. 2004: 124). 88 Höchtl et al. 2005a: 469. 89 Planken & Schurig 2000: 209. 90 Vgl. Weinzierl 2008: 8; Thiessen 2011: 7. – Die Umweltpsychologin Nicole Bauer verknüpft Wildnis und Paradies in einem kulturgeschichtlichen Verweis: »Wildnis, vor allem Wald und Alpen, [wurde] bereits seit dem 18. Jahrhundert mit den Konnotationen von Paradies und Eroberung in Verbindung gebracht« (Bauer 2005: 13 f.). Sabine Hofmeister, die zu Umweltplanung forscht, meint, das weite Bedeutungsspektrum für Wildnis heute zu erkennen: Wildnis kann »der ›locus amoenus‹, ein Arkadien, ein Paradies« sein »oder vielmehr das Gegenteil davon: ein Ort des Schreckens und der Furcht oder die ›Hölle‹ selbst, sie kann beides sein: abstoßend und erschreckend, schön und idyllisch« (Hofmeister 2008: 813). 91 Einblicke in den kulturgeschichtlichen Hintergrund von Natur als Paradies geben unter anderem Woerdeman (2002: 157 ff.), Müllenmeister (2003: 589 ff.), Siegmund (2011: 37 ff.) und Haß et al. (2012: 114 ff.).

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Eine Gemeinsamkeit von Wildnis und dem Paradiesischen kann man darin sehen, dass beide im Gegensatz zu dem stehen, was kontrollierbar und formbar ist.92 Allerdings besteht ein wesentlicher Unterschied: Der friedvolle, sorglose, vollendete Garten Eden ist konträr zur Wildnis, die, sofern sie anziehend ist, diese Anziehung gerade durch ihren ungezähmten, bedrohlichen, rücksichtslos wuchernden und gefährlichen Charakter entwickelt. 93 Der Naturschützer Hubert Weinzierl spricht also gerade nicht über Wildnis, wenn er Nationalparke als »Heiligtümer unserer Heimat« bezeichnet, die »Erinnerungen an das Paradies« zu wecken vermögen.94 Gebiete, die aus der einen Perspektive als unbeherrschbare Wildnis empfunden werden, können allerdings aus einer anderen Perspektive die Bedeutung »unverletzter, ›heiler‹ Natur«95, die also verletzbar, schwach und bedroht ist, erhalten.96 Diese beiden Auffassungen können zwar dasselbe Gebiet betreffen, sind in ihrer Bedeutung aber nicht vereinbar. 97 Denn wenn ein Gebiet als das »letzte Paradies«98 gilt, das vor dem Untergang gerettet werden 92 Ute Jung-Kaiser, Germanistin und Musikwissenschaftlerin, stellt genau diese Gemeinsamkeit von Wildnis und Paradiesischem heraus, wenn sie den Wald (in der deutschen Romantik) beschreibt: »Wohl bildete er schon in Mythos und Märchen eine Art Durchgangstor zu alternativen Lebensentwürfen, zu fernen und fremden Welten oder zum Raum vor aller Zeit, nenne man ihn das Paradies oder das Totenreich; er konnte sowohl ein Ort der Selbstfindung, der Erleuchtung als auch der Verwirrung und Verirrung sein« (Jung-Kaiser 2008: 9). 93 Brigit Planken und Volker Schurig stellen die Begriffe ›Paradies‹ und ›Wildnis‹ einander als Pole gegenüber: »Natur als dämonische, unbezwingbare Wildnis einerseits und als ein paradiesches [sic!] Arkadien anderseits, das diese Wildnis domestiziert, sind zwei konträre Pole, die historisch verschieden stark ausschlagen und auch kulturell unterschiedlich umgesetzt werden« (Planken & Schurig 2000: 198). 94 Weinzierl 2010: 11; vgl. Spanier 2009b: 111. 95 Succow 2008: 45. 96 Vgl. Schwarzer 2007: 114; Schurig 1994: 41 ff.; Hupke 2009: 259; Schwab et al. 2012: 97; Langenhorst 2014: 81. 97 Franziska Torma arbeitet diese Gegenüberstellung am Beispiel Regenwald heraus: Der als Wildnis empfundene Regenwald gilt entweder a) als »Garten Eden«, als paradiesische Landschaft, die trotz des zivilisatorischen Fortschritts noch besteht, oder b) als »grüne Hölle«, als menschenfeindliche Wildnis; als Bedrohung und Ort scheinbar ursprünglicher Natur, wilder Tiere und »unzivilisierte[r]« Menschen (Torma 2004: 8, 41, 190). 98 Beispielsweise: »Okawango – Afrikas letztes Paradies« (Lanting 1995), »Galapagous – Das letzte Paradies« (Film von Carsten Thurau 2011), »Das letzte Paradies: Contdown am Amazonas« (Westphal 1991).

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muss, kann es in diesem Moment nicht die Bedeutung einer Wildnis haben, also einer übermächtigen, unkontrollierbaren Natur, die nicht entsprechende Gefühle hervorruft. Für den Nationalpark Val Grande findet sich eine Deutung, die ein zeitliches Nacheinander beider Bedeutungen nahelegt: Während es früher »viel Arbeit« bedeutete, »am Rand der Existenz« im Val Grande zu leben und der Wildnis kultiviertes Land abzuringen, ist es als Nationalpark »heute ein Paradies« für Besucher.99 Die paradoxe ›paradiesische Wildnis‹ kommt demnach offenbar zustande, weil in der Naturschutzargumentation oder in der Tourismuswerbung alle positiv wertgebenden Aspekte für ein bestimmtes Gebiet mit unberührter Natur nebeneinander gesammelt werden. Dass im Falle der Wildnis ein positiver Aspekt wie Faszination immer gebunden ist an einen negativen wie Abstoßung oder Bedrohung wird nicht bemerkt, und so steht Wildnis scheinbar in der gleichen Kategorie mit dem stets rein positiven Paradies. Dass Wildnis und Paradies letztlich verschiedene, und zwar extrem verschiedene Gegenstände sind, wird auf diese Weise übersehen. Spirituell-mystische Ehrfurcht und Geborgenheit in der Schöpfung Die Entgegensetzung von Heiligem und Profanem – das heißt von »Ungemeinem und Alltäglichem«100 – nennt Cassirer als zentral dafür, wie in mythischer Sinnordnung Orte und Richtungen unterschieden werden. Wenn Wildnis Bedeutsamkeit erlangt, weil dort spirituell-mystische Ehrfurcht oder Geborgenheit in der Schöpfung »erlebt« wird, (so möchte ich zusammenfassen) handelt es sich offenbar um die Zuschreibung solcher »heiligen« Eigenschaften.101 Denn diese vermeintlich unberührten, nur von äußeren Mächten beherrschten Räume sind keineswegs gänzlich unzugänglich – vielmehr sind sie besondere Orte, dem Alltag fern, die nur unter körperlicher Anstrengung und unter der Bedingung einer 99

Broggi 2011: 42. – Brigit Planken und Volker Schurig bemerken heute eine generelle derartige Tendenz: Die bis in das 19. Jahrhundert dominierende Bedeutung »riskante und bedrohliche Wildnis ist heute zwar auch noch existent, wird aber begrifflich als ›Naturkatastrophe‹ gesondert abgebucht, was den modernen Wildnisbegriff schnell in die Nähe einer erlebniswerten Idylle rückt« (Planken & Schurig 2000: 198).

100 Paetzold 1994: 8. 101 Mystisches und Heiliges in der Wildnis zu finden hat eine lange kulturelle Tradition, wie vielfach in der Literatur beschrieben wurde (vgl. beispielsweise Eliade 1957, Dirlinger 1997, Knapp 2000, Bartilla 2005, Schwarzer 2007, Pfaller 2009, Haß et al. 2012 und Trepl 2012).

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entsprechenden mentalen Bereitschaft zugänglich sind. An diesen Orten (Hochgebirge, undurchdringlicher Wald, Moor etc.) wird etwas Mahnendes, Respekt Einflößendes oder erschreckend Höheres wahrgenommen, das Orientierung für die Lebensführung gibt. Dies entspricht Cassirers Theorie, nach der mythische Raumqualitäten sich durch »eine magisch zwingende und magisch abstoßende Macht«102 auszeichnen. Damit ist verständlich, was mit »naturethischen«103 Aspekten in der Naturschützerargumentation gemeint ist, die als Grund für die Sehnsucht vieler moderner Menschen »nach wilder, ungezähmter Natur […], nach Einsamkeit und spirituellen Erlebnissen, nach einem Gegenpol von Verfügbarkeit der Zivilisation«104 beschrieben werden: In einer mythischen Formung symbolisiert Wildnis äußere Mächte, die körperlich und geistig bestimmend sind. Dabei gelangen diese Mächte in der modernen (romantischen) mythischen Auffassung nie tatsächlich zur alleinigen Bestimmung, sondern können vom freien Subjekt als Produkt und Ziel seiner Sehnsucht reflektiert werden. Ein Vertreter des Umweltbundesamtes, Heinrich Spanier, sieht im Kontext von Wildnis ein »magisch-mythische[s]« Naturverständnis »in unserer Zeit und in unseren Gesellschaften« »weithin verbreitet«, nicht nur »in verschiedenen esoterischen Lebensformen«, sondern »bei näherem Hinsehen auch im Alltagsleben breiter Bevölkerungskreise«.105 4.1.3 Aspekt 3: Wildnis als Ausdruck im unmittelbaren Erleben Die äußeren Mächte, die mythisch Raum bestimmen, sind vom Subjekt gefühlte Atmosphären, die unreflektiert als Ausdruck von Sinngehalten erlebt werden. Mit dieser Theorie Cassirers stimmt die Beobachtung der Autorengruppe um den Wildnispädagogen Sebastian Schwab überein, dass Wildnis Gefühl und Erlebnis sei: Das »individuelle Wildnisgefühl« im Val Grande erweist sich als ein »nicht alltägliches Erlebnis«.106 Idealtypisches physisches Wildniserleben durch den Extrembergsteiger Von dem Soziologen Roland Girtler wird die Wahrnehmung von Wildnis im Hochgebirge wie folgt beschrieben:

102 Cassirer 1929: 233; vgl. Kapitel 3.1.1. 103 Broggi 2011: 41. 104 Ebd. 105 Spanier 2009b: 109. 106 Schwab et al. 2012: 97.

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»Den Menschen fasziniert das Unbekannte, die Wildnis. Er will Neues entdecken. Er überwindet hohe Gebirge, um sich mit dieser Wildnis auseinander zu setzen [sic!].«107

Es ist also eine extreme körperliche Auseinandersetzung, die wegen eines emotionalen Erlebnisses gesucht wird. In dieser Weise stellen Planken und Schurig für das Matterhorn, den K2, den Monument Valley Nationalpark oder das Elbsandsteingebirge fest, dass sie immer auch »emotionale Werte« repräsentieren, weil die »Prozeßdynamik der Bergnatur« bei »Lawinen, Bergstürzen und Vulkanausbrüchen in dramatischer Weise aber auch als bedrohliche ›Wildnis‹ erlebt werden« kann.108 Der Reiz dieser Wildnis kann nur unmittelbar erlebt werden. Auch die riskante und bedrohliche Wildnis, deren Zumutungen unter anderen Kriterien möglicherweise als ›Naturkatastrophe‹ gelten würde, vor der man sich in Schutz nimmt, erscheint erlebenswert.109 Die »Grenze zum Tod zu berühren«110, nicht nur aus der Distanz, etwa in einer Erzählung, sondern tatsächlich physisch, gilt einigen als Voraussetzung dafür, die Atmosphäre von Wildnis emotional wahrzunehmen. Diese Wahrnehmung von Wildnis vollzieht sich im unmittelbaren Tun – ein typisches Merkmal der mythischen Raumformung, die ein ›dramatisch‹ fasziniertes Hingezogenwerden und zugleich einerschüttertes sich Abwenden umfasst.111 Im Moment der äußersten physischen Anstrengung des Hochgebirgssteigens erlebt sich das Subjekt als physischen Teil des Raumes – die Position eines distanzierten Betrachters im Sinne der ästhetischen Raumformung, ist ihm nun verschlossen. Es hat nicht die Absicht, Natur und Landschaft anzuschauen, sondern will die Wildnis – absichtlich unreflektiert – auf sich wirken lassen in einem rituellen Tun.112 Dies schließt nicht aus, dass das Subjekt im nächsten Moment, insbesondere auf dem Gipfel, bildlich gesprochen eine Brille mit einem anderen »Brechungsindex«113 aufsetzt und nun nicht mehr 107 Girtler 2007: 86. 108 Planken & Schurig 2000: 204, Hervorh. i. O. 109 Vgl. Planken & Schurig 2000: 198. 110 Elfferding 2010: 31. – »Die freiwillige Suche von Gefahren, das Spiel mit den Risiken ist eines der dunkleren Motive, warum Bergwildnis immer wieder aufgesucht wird« (Planken & Schurig 2000: 211). 111 vgl. Cassirer 1944/2007: 123. 112 Vgl. Cassirer 1925: 51 f.; siehe Kapitel 3.1.1. – So betont auch der Kulturtheoretiker Thomas Metscher, dass sich an Wildnis die Möglichkeit eines »unmittelbaren« Zugang zu der »sog. ›ursprünglichen‹ Natur« zeige (Metscher 2011: 63 f.). Dieser sei vermittelt durch das Handeln möglich und habe neben anderen heute eine Bedeutung. 113 Cassirer 1929: 3; vgl. Kapitel 2.

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distanzlos die (Berg-)Wildnis in mythischer Deutung auffasst, sondern ästhetisch als eine Landschaft vor sich wahrnimmt. Die unmittelbare körperliche Erfahrung von Wildnis nennt die Alpenschutzorganisation ›Mountain Wilderness‹ explizit als einen wesentlichen Beweggrund ihrer Schutzbestrebungen: »Unter Bergwildnis verstehen wir unberührte Gebirgslandschaften, in denen alle, die diesen inneren Wunsch wirklich verspüren, eine direkte Begegnung mit weitläufigen Räumen erfahren sowie der Wildnis Einsamkeit und Stille, Rhythmen und Dimensionen, Naturgesetze und Gefahren in Freiheit erleben können.«114

Hier werden bestimmte Bedeutungen (»Einsamkeit und Stille, Rhythmen und Dimensionen, Naturgesetze und Gefahren«115) genannt, durch die Gebirge zu Wildnis werden. Sie werden bei der »direkten Begegnung«116 als Ausdruck mythischer Raumqualitäten wahrgenommen, die aber eigentlich – ohne dass dies in diesem Moment reflektiert werden könnte – vom Bergsteiger jeweils im mythischen Bewusstsein gebildet werden. Darüber hinaus wird in dem Zitat der Hinweis gegeben, dass das Subjekt Interesse haben muss an der Wahrnehmung der äußeren Natur, damit sich beim Bergsteigen die ›mythisch-dramatische‹ Auffassung von Raum als Wildnis vollziehen kann. Richtet es seine Aufmerksamkeit nur auf die Selbsterfahrung seines Körpers, ist der Berg ein reines Sportgerät und eine symbolische Formung des Raumes zu Wildnis kann nicht zum Tragen kommen.117

114 Aus den ›Thesen von Biella – Das Manifest von Mountain Wilderness‹ (1987) zit. n. Flüeler et al. (2004: 124). –Elsbeth Flüeler gibt an, dass an dieser Stelle John Muirs Beschreibung von Wildnis übernommen wird (Flüeler 2004: 134; vgl. Muir 1901/1991). John Muir war Ende des 19. Jahrhunderts einer der Protagonisten der Nationalparkbewerbung in Nordamerika. Die Interessengruppe ›Mountain Wilderness‹ beruft sich also auf eine Deutungstradition, die aus der US-amerikanischen Kulturgeschichte stammt. Diese wurden heute in Europa von bestimmten Gesellschaftsgruppen übernommen (Bauer 2005: 14; Trommer 2011: 16 f.). – Zur Rolle Muirs in der Nationalparkbewegung sei auf Foreman (1995/1998), Spence (1999), Callicott & Nelson (2008) und Steiner (2011) verwiesen. Weitere Literaturhinweise zur US-amerikanischen Wildnisdebatte sind in der Einleitung, Kapitel 1.3, genannt. 115 Ebd. 116 Ebd. 117 Vgl. Stremlow 1998: 240 ff.; Elfferding 2000: 168.

252 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

Moderne Subjekte suchen das unmittelbare Spüren und Erleben von Wildnis Wildnis mythisch als unmittelbaren Ausdruck zu erleben ist nicht nur im idealtypischen Beispiel des Extrembergsteigers zu finden, sondern zeigt sich bei den Diskussionen im Naturschutzkontext auch für weniger extreme Formen der Bewegung in der Natur. Dies klang schon in den oben von mir analysierten Zitaten zu den Atmosphären von Wildnis an und sei hier zusammengefasst: Im Nationalpark Kalkalpen will die Verwaltung ermöglichen, Wildnis zu »erleben« und zu »spüren«.118 Als »Wildnis« werden von der Erlebnispädagogin Sybille Kalas Orte bezeichnet, an denen »das Leben um mich herum spürbar ist«.119 Dieses »Spüren« kann man als eine unmittelbare, in diesem Moment unreflektierte Wahrnehmung der Natur interpretieren. Entsprechend wird die »besondere Unmittelbarkeit der Wildnis« im »Wildnispark Zürich« ausdrücklich als ein Aspekt herausgehoben, der besonders für den kindlichen, also typischerweise unreflektierten, Zugang charakteristisch sei. Dem modernen Denken ist Reflexion wesentlich; allerdings ist es die Besonderheit der modernen mythischen Raumformung nach Cassirer, dass das Subjekt innerhalb von ihr die von ihm geleistete Konstitution des Raumes nicht reflektieren kann, sondern Orte und Dinge so erlebt, als wohne ihnen eine äußere Macht inne.120 Die Reflexion des Sinngehalts wird in der kritischen selbstbeobachtenden Außenperspektive geleistet. In folgendem Ausschnitt aus der Analyse sozio-kultureller Wahrnehmungen des Nationalparks Val Grande von einer Autorengruppe um Sebastian Schwab kommt ein nichtalltägliches Abenteuergefühl zur Sprache, das auch entfernt vom Hochgebirge möglich ist: Das »Sich-verirren ist ein Erlebnis, welches in unserer beschilderten, informations- und navigationsgesteuerten Umwelt heutzutage kaum mehr erfahrbar ist und demnach im Val Grande-Nationalpark eine Besonderheit darstellt. Hierdurch ausgelöste Gefühle der Angst und Abhängigkeit von der Natur stellen rückblickend für die Besucher ein entsprechend berichtenswertes Ereignis dar.«121

Diese Erfahrung einer Desorientierung, eines ›Sich-verirrens‹ suchen Menschen als moderne Subjekte offenbar absichtlich herzustellen, um sich vorübergehend in die Abhängigkeit einer ›unbekannten Wildnis‹ zu begeben.

118 Mayrhofer 2011b: 5. 119 Kalas 2011: 71. 120 Vgl. Cassirer 1929: 176; Cassirer 1925: 122; Paetzold 1994: 10; siehe Kapitel 3.1.1. 121 Schwab et al. 2012: 91.

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4.1.4 Zusammenfassung mythischer Eigenschaften und Formen von Wildnis – Wildnis als Ausdruck des machtvollen Anderen im ›Zauberhauch des Unbekannten‹ Bestimmte heute verbreitete Redeweisen über Raum als Wildnis lassen sich, so können wir zusammenfassend feststellen, mit den wesentlichen Aspekten moderner mythischer Qualitäten im Sinne Cassirers verstehen: Diese Qualitäten sind keine nüchtern-neutralen Beschreibungen eines objektiven Raumes, sondern negative oder positive Empfindungen, die den Raum als ›unbekannte Wildnis‹ konstituieren. Mythisch sind diese Qualitäten insbesondere insofern, als Raum als Wildnis durch sie eine zwingende Macht zukommt: Die Qualitäten gelten in dieser Auffassung nicht, wie in einer ästhetischen Formung, als Zuschreibungen des Subjekts. Dass und wie also Raum geformt wird, beruht in dieser Denkweise auf der Vorstellung einer magischen Bedeutsamkeit überlegener Kräfte, die einer immer letztlich undurchdringlichen, unbekannten Welt angehören. Diesem Unbekannten kann man sich emotional nähern, man kann seine Andersartigkeit und Irrationalität unmittelbar erleben. Das Erlebnis ist durch eine unbegreifliche äußere Macht bestimmt, die man mit Cassirer als im weiteren Sinn ›heilig‹ bezeichnen kann, eine Macht, wie es sie in der ›profanen‹ Alltagswelt nicht gibt. In einer mythischen Deutung – auch in der Moderne – ist Wildnis keine Zuschreibung, sondern gehört zum Wesen der Dinge, die es dort gibt; sie ist untrennbar mit ihnen verbunden.122 Das macht den »Zauberhauch«123 der Wildnis aus, den es nur in der mythischen Auffassung gibt, während in der ästhetischen Auffassung die emotionalen Atmosphären als durch die subjektive, innere Sinngebung des Betrachters entstanden bewusst sind. Die moderne mythische Wildnis lässt sich auf der philosophischen Metaebene jedoch auch als eine spezifische Raumkonstruktion des Subjekts erkennen, wie in diesem Kapitel gezeigt wurde. Bei der Eigenständigkeit und Unkontrollierbarkeit von Wildnis kann je nach Kontext die positive oder die negative Facette im Vordergrund stehen: Sie kann angenommen werden als freier, spiritueller Raum oder angsterfüllt abgelehnt werden als einengender, furchterregender Raum. Der Raum ist, wenn er in ›dramatischer‹ Auffassung als Ausdruck124 äußerer Mächte erfahren wird, also geprägt von einer mythisch-emotionalen Atmosphäre. Deren genauere Eigenschaften hängen nicht zuletzt vom kulturellen Kontext ab, in dem das moderne wahrnehmende Subjekt steht. Dass die Auffassung von Räumen – etwa von mythi-

122 Diese Wildnis ist »im profanen Leben unbekannt« (Koschorke 1990: 15). 123 Cassirer 1929: 175. 124 Zur Erklärung siehe Kapitel 3.1 und 3.2.1.

254 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

schen Wäldern – als ›unbekannte Wildnis‹ heute in unserer Gesellschaft bedeutsam ist, lässt sich mit diesem ambivalenten, modernen mythischen ›Zauberhauch‹ erklären und auf seine unterschiedlichen Bedeutungen hin analysieren. Mit Cassirer wurde in diesem Kapitel klar, welchen Stellenwert die Bedeutung ›unbekannte Wildnis‹ im heutigen kulturellen Kontext hat. Außerdem konnte ich zeigen, dass sich dieser mythische Wildnisbegriff, der oft romantische Züge hat, wesentlich von anderen unterscheidet, die im Denkzusammenhang anderer symbolischer Formungen (insbesondere der ästhetischen und der theoretischen) stehen.

4.2 ›BESTIMMTE WILDNIS‹ – MALERISCHE ORTE Im nachfolgenden Kapitel soll mit Cassirers Theorie die ästhetische Auffassung eines Raumes als Wildnis charakterisiert werden. Blicke in empirisches Material werden dabei insofern eine Rolle spielen, als sie Hinweise darauf liefern können, ob der Begriff ›Wildnis‹ heute überhaupt im Sinne der ästhetischen Raumauffassung gebraucht wird. Dabei wird sich eine charakteristische ästhetische Raumformung von Wildnis zeigen, die ich als ›bestimmte Wildnis‹ bezeichne. Das Adjektiv ›bestimmt‹ charakterisiert, dass, wie ich im Folgenden darlegen werde, Raum hier ästhetisch aufgrund von reflektiertem Sehen oder darstellender Gestaltung Bedeutung erlangt, die – vor allem im Gegensatz zur mythischen, aber auch zur theoretischen Raumformung – subjektiv bestimmt wird. Folgendes hat sich im Kapitel 3.2 als zentral für die Eigenschaften der ästhetischen Raumformung nach Cassirer herausgestellt: Ein Raum bildet sich ästhetisch in der reflektierten Wahrnehmung des Erscheinungsbildes einer Gegend; es bildet sich eine Landschaft. Diese Wahrnehmung ist veränderlich, sowohl in Bezug auf den Gegenstand der Betrachtung (Jahreszeiten etc.) als auch im Blick des Betrachters (sein kultureller und augenblicklicher Kontext etc.). So kann ein Subjekt eine Gegend als Landschaft sehen und ihr die ästhetischen Eigenschaften schön oder erhaben zusprechen. Eine Gegend erscheint ihm von einer ästhetischen ›Atmosphäre‹ zu einer Landschaft geformt, wobei diese Atmosphäre bestimmt ist von den Empfindungen und Bedeutungszuschreibungen des wahrnehmenden Subjekts, die in Beziehung zu dieser Gegend stehen. Die Darstellung – die künstlerische Gestaltung oder das reflektierende ästhetische Sehen – habe ich als Kern der Formung des ästhetischen Raums im Sinne Cassirers identifiziert. Entscheidend dabei ist – vor allem auch im Gegensatz zur Ausdruckswahrnehmung in der mythischen Raumformung –, dass das Subjekt frei ist und die Landschaft (oder einen Gegenstand in ihr) nicht einfach sieht, sondern sie in

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einer gewissen Distanz zur unmittelbaren Empfindung und allgemeinen Sinngebung entdeckt und gleichzeitig individuell formt. Diese Art der ästhetischen Wahrnehmung ist nicht nur explizit in künstlerischer Gestaltung (Landschaftsmalerei etc.) möglich, sondern auch im alltäglichen, laienhaften Blick. Namentlich in einem romantischen Weltzugang ist Ästhetik wesentlich. Wenn der Raum die Bedeutung ›Wildnis‹ erhält, spielt vor allem die Qualität der Erhabenheit eine Rolle. Wildnis analysiere ich im Folgenden in drei wesentlichen Aspekten: (1) Wildnis als subjektiv empfundenes Erscheinungsbild einer Gegend, (2) Wildnis als Landschaft, die individuelle Empfindungen und Sinngebungen mit kultureller Prägung darstellt, (3) Wildnis als ästhetisch romantisch-erhabene Naturerscheinung. Mit diesen Aspekten charakterisiere ich einen ästhetischen Wildnisbegriff, der eine bestimmten Strang im aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ erklärt. 4.2.1 Aspekt 1: Wildnis als subjektiv empfundenes Erscheinungsbild einer Gegend Wenn Gegenden ihres besonderen Erscheinungsbildes wegen als Wildnis aufgefasst werden, kann dies ohne allgemeine Sinngebung geschehen – insbesondere ohne eine mythische Bedeutung oder magische Atmosphäre. Cassirers Theorie zufolge ist für eine ästhetische Raumformung zunächst wesentlich, dass eine räumliche Gliederung mit Strukturen, wie Licht und Schatten – oder eine bestimmte Anordnung kontrastierender Farben etc. wahrgenommen wird.125 Durch solche Merkmale der Oberfläche bildet sich für den Betrachter individuell ein Raum (eine Landschaft) mit einem bestimmten Charakter, der im Moment der Betrachtung seiner Empfindung entspricht. Der Charakter Wildnis, der – wie in Kapitel 1.1 gezeigt wurde – mit Empfindungen wie unkontrollierbar, undurchdringlich, unheimlich, schaurig, überwältigend, erhaben etc. verbunden wird,126 zeigt sich dem Subjekt typischerweise in Erscheinungsbildern, die mit diesen Attributen in Korrespondenz stehen: ungeordneter Wald, entfesselt aufgewühltes Meer, undurchschaubare Anordnung unterschiedlicher Farben und Texturen eines Pflanzenbestandes, düster bedrohliche Kontraste eines ›giftigen‹ Himmels kurz vor einem Gewitter, schroffe, in maßloser Größe bis zum Horizont verschachtelte Gebirgsformationen, chaotische Erscheinung eines Waldes nach ei-

125 Siehe Kapitel 3.2. 126 Vgl. beispielsweise Höchtl & Burkart 2002: 225; Schuster 2010: 37 f.; Trepl 2010: 9; Kalas 2011: 71; Metscher 2011: 67; Langenhorst 2014: 59.

256 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

nem Orkan, ein durch mächtige Erosionen und Anladungen geprägtes Tal eines reißenden Flusses etc. Abbildung 1: Foto mit besonderen Farb- und Lichtspielen der Landschaft im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer auf der Internetseite des Projekts ›Wildniskommunikation in Deutschland‹ der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt von 1858 e. V. unter der Rubrik ›Wilde Schönheiten – Gebiete auf dem Weg zur Wildnis‹

Quelle: Schweiger & Ziesche 2017, Foto: © Martin Stock 2011

Wenn im aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ das »faszinierende, ›malerische‹ Durcheinander« als wesentlich für »wilde Wälder«, das Stefan Bartilla kunsthistorisch für die Landschaftsmalerei beschreibt, bemerkt wird, dann scheint die spezifische ästhetische Wahrnehmung von Naturerscheinungen bedeutsam zu sein.127 Mit solch einer Beschreibung könnte so etwas gemeint sein, wie Abbildung 2 wiedergibt. Anhand einer ganz anderen Landschaft, dem Wattenmeer, wird von Birgit Planken und Volker Schurig die ästhetische Auffassung von Wildnis herausgestellt: »Zu dem Wildniserlebnis Wattenmeer« gehören »die unvergleichlichen Farbenspiele des Lichtes«.128 Diese Beobachtung wird durch Abbildung 1 belegt: Es ist eines der Fotos, mit denen der Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer auf der Internetseite zum Projekt ›Wildniskommunikation in Deutschland‹ der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt von 1858 e. V. unter der Rubrik ›Wilde Schönheiten – Gebiete auf dem Weg 127 Bartilla 2005: 145. 128 Planken & Schurig 2000: 203.

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zur Wildnis‹ dargestellt wird. Die Spuren des machtvoll gestaltenden Meeres in der Fläche des Watts, die Nichtsichtbarkeit von Leben und die aufgewühlten Wolkenformationen in endloser Weite lassen manche Betrachter – zumindest die, die dieses Foto für den Kontext auf der Internetseite ausgewählt haben – subjektiv offenbar ›Wildnis‹ empfinden, deren ästhetische Faszination durch Lichtstrahlen und Spiegelungen gesteigert wird. Die Wahrnehmung des Spiels von Farben, Kontrasten, Strukturen etc. im spezifisch ästhetischen Blick unterscheidet sich nach Cassirers Theorie von mythischen Raumformungen, die wesentlich auf nicht-visuelle, unterschwellig emotionale Bedeutungen verweisen, und von theoretischen Raumformungen, die in erster Linie nicht-visuelle, abstrakte Bedeutungen beinhalten. Diese erste Skizzierung einer idealtypischen Ästhetik von Wildnis werde ich im zweiten Aspekt mit Cassirers Begriff der ›Darstellung‹ weiterentwickeln, an dem sich auch die subjektive Atmosphäre und die kulturelle Prägung der Landschaftswahrnehmung festmachen lassen. 4.2.2 Aspekt 2: Wildnis als Landschaft, die individuelle Empfindungen und Sinngebungen mit kultureller Prägung darstellt Der ästhetischen Formung ist eine gestalterische Herangehensweise wesentlich, die im Gegensatz zur Wahrnehmung eines zwingenden mythischen Ausdrucks steht. Eine Gegend wird einem Künstler oder alltäglichen Betrachter ästhetisch zu Landschaft, wenn er seine individuellen Empfindungen in einem schöpferischen Prozess von Ausdrücken und Reflektieren entwickelt und vorstellt – auf einer Leinwand oder nur im Kopf. Dabei werden individuelle Wahrnehmungen und Bedeutungen erkennbar. Dass es bestimmte Erscheinungsbilder gibt, die typischerweise mit der Eigenschaft ›wild‹ oder ›Wildnis‹ verbunden werden, habe ich oben bereits angesprochen. Wie ist eine ›Darstellung‹ von Wildnis zu verstehen? Das durch mächtige Erosionen und Anladungen geprägte Tal eines reißenden Flusses etwa kann in einem Gemälde dargestellt werden. Dabei kann der Künstler zunächst vom Anblick des Tales emotional überwältigt sein oder tatsächlich in diesem Fluss in eine physische Notlage gelangt sein. Für sein Gemälde muss er dann in eine gewisse Distanz eintreten, um das für ihn individuell Wesentliche in der Darstellung sichtbar werden zu lassen. Er reflektiert im Arbeitsprozess seine Eindrücke (unfassbare Naturgewalt des Flusses, unbeherrschbar scheinende Hangrutschungen, wirre Haufen angeschwemmten Treibzeugs etc.) und stellt sie so dar, dass sie seine Gefühle zum Ausdruck bringen und dem Betrachter vermit-

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telt werden. Maler oder Fotografen etc. überhöhen die »malerische[...] Wildnis«129 dabei mitunter auch idealtypisch. Der Maler Reinhold Koeppel etwa stellt seine Empfindungen eines von Sturm geprägten Waldes dar: Er zeigt dem Betrachter ein undurchdringliches, endloses Durcheinander an linearen Baumstämmen und Wurzeltellern, das er in kräftigen, dunklen Farbtönen kontrastiert zu den hellen Grüntönen der Baumkronen wiedergibt (siehe Abbildung 2). Abbildung 2: Künstlerische Darstellung der chaotischen Strukturen eines Windbruches im Bayerischen Wald des Malers Reinhold Koeppel von 1927

Wildnis kann durchaus Inhalt einer ästhetischen Darstellung im Sinne Cassirers sein, die subjektiven Bestimmungen unterliegt – eine ›bestimmte Wildnis‹. Sie ist dabei nicht ein mythischer, unreflektierter Eindruck im Sinne einer ›unbekannten Wildnis‹.

129 Bartilla 2005: 200.

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Abbildung 3: Ästhetik der Wildnis ist aktuell Thema in der Landschaftsarchitektur. Foto: ›Park am Gleisdreieck‹ in Berlin

Foto: © AnneLiWest|Berlin 2014

Es verwundert nicht, dass Wildnis in der Landschaftsmalerei seit ihren Anfängen tatsächlich ein wichtiges Thema war. 130 Aktuell ist die Ästhetisierung von Wildnis vielfach zu bemerken: Zum einen besteht ein Bestreben, Wildnis, die, wie vom deutschen Dachverband für Nationalparke plakativ zusammengefasst, Landschaft »von neuer ungeahnter Ästhetik«131 sei, mit zahlreichen Fotografien darzustellen (vgl. Abbildung 17).132 Zum anderen ist die Ästhetik der Wildnis in der Landschaftsarchitektur aktuell ein wichtiges Thema. So finden wir eine bewusste Inszenierung von Brachen und ausgedienten technischen Einrichtungen unter der Leitidee der »Gestaltung eines nur scheinbar Nicht-Gestalten[s]« etwa im Berliner ›Park am Gleisdreieck‹, der von Landschaftsarchitekten des ›Atelier Loidl‹ (Berlin) entworfen und bis 2014 fertiggestellt worden ist.133 Diese Ästhe-

130 Vgl. Kapitel 3.2.2. – »Addison [wendet] schon 1710 den Landschaftsbegriff auf die wilde Natur« an (Lobsien 2001: 649). 131 EUROPARC Deutschland 2010b: 1. – »›Wildnis‹ ist«, so schreiben auch Birgit Planken und Volker Schurig, ein »ästhetisches Ereignis«, das sich in der subjektiv erlebten »unvergängliche[n] Schönheit von Bergen, ihre[r] Erhabenheit und Unberührtheit« zeigt (Planken & Schurig 2000: 209). 132 NATIONAL GEOGRAPHIC 2009; Nationalpark O.ö. Kalkalpen Ges.m.b.H. 2009a; Brunner 2012; Nationalpark Schwarzwald 2014 etc. 133 Hennecke in Geiger & Hennecke 2015: 228.

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tik ist in Fotos der Designerin Annemone Schütz zu finden (Abbildung 3), die dazu Folgendes schreibt: »Viadukte, der alte Turmbahnhof ›Gleisdreieck‹, alte Ladeschuppen, hier und da ein paar ausgediente Gleise, in deren Mitte jetzt Wiesenblumen blühen, mit Graffiti bemalte Wände […]. Ihr könnt Euch auf Holzbänke oder auf die Wiese in den Schatten der Bäume setzen und die Bilder auf Euch wirken lassen. Über Euren Köpfen oder in der Ferne das Geratter der U-Bahnen und die Natur zu Euren Füßen. Der freie Blick tut gut.«134

Abbildung 4: Illustration zur Analyse der Wahrnhemung des alpinen Wildnisgebiets Val Grande der Auorengruppe um Sebastian Schwab: Blick in den Nationalpark Val Grande, der als ›einsam, wild und romantisch‹ und als eine Landschaft mit besonderen Farben beschrieben wird

Foto: © Sebastian Schwab 2010

Nicht nur Bilder, auch Texte lassen sich als Hinweise auf einen ästhetischen Gehalt im Wildnisdiskurs interpretieren. Beispielsweise gehöre zum »Wildniserlebnis«, so Planken und Schurig, »eine beängstigende Weite des Raumes mit dem Horizont als letzter Grenze der Landschaft«.135 Der Nationalpark Val Grande sei »einsam, wild und romantisch« und »wunderschön« wegen seiner schrof-

134 Schütz 2014. 135 Planken & Schurig 2000: 203.

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fen Gipfel, urteilt der Naturschutzforscher Mario Broggi.136 Aus Hüttenbucheintragungen lassen sich, so eine Autorengruppe um den Wildnispädagogen Sebastian Schwab, dahingehend deuten, dass die Wertschätzung des alpinen Wildnisgebietes Val Grande »eng mit der Wahrnehmung der Landschaft verbunden« sei, unter anderem Farben würden intensiv wahrgenommen (vgl. Abbildung 4).137 Die angeführten Zitate sind Anhaltspunkte dafür, dass der ästhetische Typ der Raumauffassung für die Analyse des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ fruchtbar ist. Mit Hilfe dieses Typs lassen sich abgrenzend auch die entgegengesetzten Positionen erkennen, die Wildnis gerade als etwas un- oder nicht-ästhetisches beschreiben, »als prädikatlose[n] Taburaum«138 – als einen Raum, der gar nicht in den Blick genommen wird. Ästhetisierung der Wildnis ist kulturell-gesellschaftlich geprägt In Bezug auf subjektive ästhetische Raumauffassungen habe ich mit Cassirer gezeigt, dass diese nicht beliebig und willkürlich sind, sondern kulturell geprägt und intersubjektiv geteilt werden. So ist die Ästhetisierung der Wildnis als breites gesellschaftliches Phänomen nur möglich, wenn sich künstlerische Darstellung und gesellschaftliche Auffassung aufeinander beziehen: Die Bilder und künstlerischen Fotos etc. werden einerseits nur dann konsumiert beziehungsweise sie funktionieren nur dann als »attraktive Sehenswürdigkeiten«139 etwa in der Reisewerbung, wenn sie zumindest teilweise auf Bekanntes und Verständliches rekurrieren. Individuelle (künstlerische) Darstellungen können andererseits in der breiten gesellschaftlichen Auffassung Bedeutungsinhalte und Bedeutungsträger bis zu einem gewissen Grad neu schaffen und prägen. Dies zeigt sich beispielsweise, wenn von der ›Arbeitsgemeinschaft Nationalparks in Deutschland‹ explizit formuliert wird: »Nationalparks in Deutschland liefern schon heute echte, glaubwürdige Wildnis-Bilder, – Erfahrungen und -Gefühle. […] Es ist eine wichtige Nationalparkaufgabe, Wildniskonzeptionen des Naturschutzes durch Umweltbildungs- und Naturerlebnisangebote einem großen Spektrum an Zielgruppen erlebbar zu machen. Mit diesen Angeboten und deren Vermittlung durch geeignete Kommunikations- und Marketingmaßnahmen soll ein ge-

136 Broggi 2011: 40, 42. 137 Schwab et al. 2012: 101. 138 Kropp 2010: 47. 139 Planken & Schurig 2000: 220.

262 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

sellschaftliches Interesse für Wildnis erzeugt werden, um diese als Wert an sich zu vermitteln.«140

Abbildung 5, links: ›Grenzenlose Waldwildnis‹, Informationsblatt des Nationalparks Bayerischer Wald Abbildung 6, Mitte links: ›Wildnis-Trail‹, Informationsblatt des Nationalparks Eifel, der mit den Schlagworten ›Wald Wasser Wildnis‹ charakterisiert wird Abbildung 7, Mitte rechts: ›EINE SPUR WILDER‹, Informationsblatt des Nationalparks Schwarzwald Abbildung 8, rechts:›Faszination Wildnis im Reich der urigen Buchen‹, Imageflyer des Nationalparks Kellerwald-Edersee

Abbildung 5: © Nationalpark Bayerischer Wald 2009 Abbildung 6: © Nationalpark Eifel 2014 Abbildung 7: © Charly Ebel/Nationalpark Schwarzwald Abbildung 8: © Nationalpark Kellerwald-Edersee 2016, Foto: Manfred Delpho

140 EUROPARC Deutschland 2010b: 2; vgl. Backhaus 2005: 108. – Der Kunsthistoriker Stefan Bartilla beschreibt beim historischen Phänomen der Ästhetisierung der Alpen, dass die Reisenden eine »ästhetische Schulung durch die Landschaftsmalerei« erfahren hätten, die sowohl »Augenlust« als auch »unterhaltsame Fremdheiten« angeboten hätte (Bartilla 2005: 115). Der Künstler ist dabei »Pionier der visuellen Neugier« (ebd.: 200).

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Abbildung 9: ›Abenteuer WaldWildnis‹, Ausschnitt aus der Internetseite des Nationalparks Kalkalpen

Quelle: Mayrhofer 2017, © Nationalpark Kalkalpen

Um das Thema ›Wildnis‹ in Nationalparken zu kommunizieren, werden aufwendig mit Bildern und Texten gestaltete Informationsblätter erstellt. Für die jeweilige Landschaft wird der Bedeutungsinhalt ›Wildnis‹ mit gesellschaftlich verbreiteten Bildern in Beziehung gesetzt – beispielsweise die ›Waldwogen‹ des Bayerischen Waldes (Abbildung 5), der von Wald umsäumte Urftsee in der Eifel (Abbildung 6), oder aber die überraschend ungewöhnlichen Bilder von liegendem Totholz und natürlichem, eigenständigen Baumjungwuchs im Schwarzwald (Abbildung 7). Auf einigen Veröffentlichungen wird die Idee ›Wildnis‹ mit einem ansprechenden Bild einer seltenen Tierart (Schwarzspecht, Luchs) illustriert (Abbildung 8, Abbildung 9). In dem Magazin ›National Geographic‹ wird ›Wildes Deutschland‹ mit konkreten Empfehlungen für die Reiseplanung beschrieben. Dies ist ein weiterer Beleg für den wechselseitigen Einfluss von individuellen Darstellungen und breiter gesellschaftlicher Auffassung der ästhetischen Wildnis. Denn obwohl einerseits die Ansicht weit verbreitet ist, dass es »echte Wildnis« in dem dicht besiedelten Deutschland und Mitteleuropa so gut wie gar nicht mehr gebe, 141 besteht offenbar eine große Nachfrage nach Bildern des ›wilden Deutschlands‹ (oder ›wilden Europas‹) (vgl. Abbildung 11, Abbildung 12, Abbildung 13). Dies ist nicht zuletzt an den äußerst zahlreichen aktuellen Veröffentlichungen in unterschiedlichen visuellen Medien (Bücher, Magazine, Kalender, Filme, Multivisionsshows, Internetseiten)142 erkennbar.

141 Scherzinger 2011: 18; Trommer 2011: 17; Succow et al. 2012a: 290; Scherfose et al. 2013: 19 und viele andere. 142 Siehe beispielsweise: Totz 2011; Brunner 2012; Carstens 2012; Nielsen 2016 Rosing 2017; Jürgens 2016; Gaddum 2016.

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Die Disposition, kulturelle Bezüge zu verstehen beziehungsweise neue Deutungen anzunehmen, ist allerdings individuell und je nach sozio-kulturellem Kontext sehr unterschiedlich. Die Sächsische Schweiz im Nationalpark beispielsweise als unzugängliche, unkontrollierbare und verwildernde Natur zu sehen, mag bei dem einen der Auslöser sein, die Gegend erstmals selbst zu bereisen. Einen anderen schreckt diese Bedeutungszuschreibung gerade ab, weil sie der traditionellen Idee von schönen und bekannten Landschaftsbildern in einem bequem erschlossenen Ausflugsgebiet zuwiderläuft.143 In der ästhetischen Auffassung einer Gegend als wilde Landschaft ist, so lässt sich zusammenfassen, die Atmosphäre der Wildnis individuell vom betrachtenden Subjekt bestimmt, und dies unterliegt einer kulturellen Prägung. Gegen den hohen Stellenwert des kulturell-gesellschaftlichen Kontextes werden allerdings auch folgende Argumente für eine ausschließlich individuelle Formung angeführt: Die Bedeutung einer Gegend als Wildnis kann nicht gemeinschaftlich (vor-)geprägt sein, weil dies der wesentlichen Eigenschaft des Neuen, Unbekannten, Eigenständigen, Unvorhersehbaren widerspricht. 144 Wildnis kann nur individuell und in jedem Augenblick neu entdeckt werden. Dieses Argument ist allerdings insofern nicht stringent, als dann textlich oder bildlich dokumentierte Wildnisdarstellungen für jeden anderen Betrachter außer den Autor unglaubwürdig oder unverständlich sein müssten. Jedoch können Kreuzungen unterschiedlicher kultureller Einflüsse in einem Individuum, wie in Kapitel 1.2.2 diskutiert, zu Irritation und zum Sehen von etwas Neuem führen. Zum Verständnis des Zusammenspiels von subjektivem Gefühl und kulturellen Mustern beim Erlebnis von Wildnis verweise ich beispielhaft auf die Analyse der Autorengruppe um die Landschaftsforscherin Deborah Hoheisel.145 Es gibt, so lässt sich resümieren, Bedeutungszuschreibungen von bestimmten Gegenden als Wildnis, die wesentlich auf dem ästhetischen Zugang beruhen und nicht darauf, ob eine Gegend physisch von Menschen unberührt ist oder my-

143 Es besteht aktuell ein Konflikt um die Leitidee ›Wildnis‹, die für Teile der 1990 als Nationalpark ausgewiesenen Sächsischen Schweiz gilt (vgl. beispielsweise Richter 2011; zur Geschichte von Landschaftswahrnehmung und Reisen in der Sächsischen Schweiz vgl. beispielsweise Dinnebier 2004b). 144 Hildegard Eissing vom Umweltministerium Rheinland-Pfalz formuliert dies so: Wildnis und Verwilderung bieten uns im Gegensatz zu Disneyland »ein Erfahrungsprogramm der ganz eigenen Art, dessen Ergebnisse nicht ›vorprogrammiert‹ wurden. Sie sind Angebote zu eigenständiger, selbstbestimmter Erfahrung« (Eissing 2002: 21). 145 Hoheisel et al. 2010: 45 ff.

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thisch als Ort wilder Tiere etc. gilt.146 Diese ›bestimmte Wildnis‹ typisiert als Landschaft im Sinne von Cassirers ästhetischer Raumformung prägt einen Diskursstrang in den Diskussionen um die Naturschutzidee ›Wildnis‹. Um die ästhetische Auffassung von Raum als Wildnis für die Diskursanalyse hinreichend zu verstehen, ist noch ein spezieller Aspekt zu beleuchten: die ästhetische Qualität des Erhabenen im Kontext von Wildnis. Dies führe ich im Folgenden aus. 4.2.3 Aspekt 3: Wildnis als ästhetisch romantisch-erhabene Naturerscheinung Wegen seiner großen Bedeutung für das Verstehen von Wildnis habe ich in Kapitel 3.2.2 den romantischen Erhabenheitsbegriff in seiner Bedeutung als typischen modernen Ästhetikbegriff beschrieben. Im Folgenden charakterisiere ich Wildnis als romantisch-erhabene Naturerscheinung so näher, dass sie zum Verständnis des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ beitragen kann. Das romantische Erhabenheitserlebnis – unabhängig von Wildnis – zeichnet, so wurde oben gezeigt, eine emotionale Faszination am Schrecklichen, maßlos Kraftvollen, Ungeheuerlichen, scheinbar Unerklärlichen, Geheimnisvollen oder Übermächtigen gegenüber der Ratio aus. Diese Eigenschaften überschneiden sich weitgehend mit denen, die in unserer Gesellschaft einer als Wildnis erscheinenden Gegend zugeschrieben werden: unkontrollierbar, undurchdringlich, unheimlich, schaurig, überwältigend, erhaben etc.147 Wildnis scheint ästhetisch also als romantisch-erhabene Naturerscheinung wahrgenommen werden zu können. Dabei sind – wie beim Erhabenheitserlebnis allgemein – zwei unterschiedliche Perspektiven denkbar: Die Faszination an erhabener, malerischer Wildnis stellt sich entweder beim verklärenden Blick auf eine ferne Gegend ein oder angesichts einer bedrohlichen Nahlandschaft. Die Erhabenheit wilder Landschaften entsteht primär aufgrund des Eindrucks von kraftvoll-dynamischer Übermächtigkeit. Darüber hinaus wird im aktuellen Diskurs zuweilen die Empfindung einer unermesslichen räumlichen Ausdehnung dieser Gegenden genannt, die se-

146 Die Landschaftsplanerin Ursula Schuster beobachtet selbst beim unter Naturschutzfachleuten diskutierten Prozessschutzgedanken eine entscheidende Orientierung an »bestimmte[n] naturnahe[n] Landschaften, die wir als Bilder im Kopf haben – zum Beispiel Auelandschaften, Gebirgswälder etc.« (Schuster 2010: 37 f.; vgl. Schwarzer 2014: 208 f.). 147 Vgl. beispielsweise Höchtl & Burkart 2002: 225; Schuster 2010: 37 f.; Trepl 2010: 9; Kalas 2011: 71; Metscher 2011: 67; Langenhorst 2014: 59.

266 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

kundär ihre Auffassung als Wildnis verstärkt. 148 Bei schönen Landschaften korrespondieren hingegen die Vorstellungen von Harmonie und Vollkommenheit mit der Wahrnehmung überschaubarer, klar proportionierter Strukturen einer Gegend. Unübersichtliche, unermesslich große Waldlandschaft mit geheimnisvoller Bedeutung Ein Erlebnis von erhabener Wildnis kann sich beispielsweise einstellen, wenn man, wie in Abbildung 10, von einer Anhöhe (hier vom Lusen) auf die Umgebung blickt und eine unübersichtlich von Schluchten durchzogene und mit dichtem Wald bestandene Landschaft (den Bayerischen Wald) sieht, die sich in alle Himmelsrichtung unermesslich ausbreitet. Die geheimnisvolle Anziehungskraft der Landschaft kann sich erhöhen, wenn man vom Hörensagen weiß, dass sich in dem Gebiet Wölfe aufhalten. Der Reiz am Ungeheuren, Überwältigenden zieht den Betrachter hier möglicherweise gerade deshalb an, weil er Sehnsucht nach einer geheimnisvollen Gegenwelt zu einer Welt empfindet, in der Bergformationen, Vegetation und das Vorkommen und Verhalten von Großprädatoren naturwissenschaftlich-rational erklärt werden. Das Foto verwendet die Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald auf ihrer Internetseite, versehen mit der Bildunterschrift ›Waldwoge steht hinter Waldwoge…‹, die auf die Landschaftsbeschreibungen Adalbert Stifters verweist.149 In dieser Verwendung wird die Gegend des Nationalparks Bayerischer Wald als wilde Landschaft mit bestimmten kulturellen Bedeutungen besetzt.

148 Beispielsweise Planken & Schurig 2000: 203. 149 Adalbert Stifter beschreibt in der Erzählung ›Aus dem baierischen Walde‹ den Bayerischen Wald wie folgt: »Und über allem ist der feeige Duft und Schmelz der Luft, der ausgedehnte Landschaften so unsäglich anmutig macht, und den der Pinsel so selten erreicht, wenn es nicht etwa Claude Lorrain gelungen ist, der aber nie so große Dehnungen gemalt hat. Gegen Nordwest, Nord und Nordost ist die Aussicht beschränkter, aber sehr ernst. Waldwoge steht hinter Waldwoge, bis eine die letzte ist und den Himmel schneidet.« (Stifter 1867/2005: 32 f.; vgl. Kapitel 1.2.3)

Drei Begriffe von Wildnis im aktuellen Diskurs | 267

Abbildung 10: Foto mit Blick vom Lusen verwendet mit der Bildunterschrift ›Waldwoge steht hinter Waldwoge…‹ auf der Startseite des Internetangebots zum Nationalpark Bayerischer Wald unter der Rubrik ›Willkommen im Nationalpark Bayerischer Wald‹

Quelle: Leibl 2017, Foto: © Reinhard Saiko

Überwältigender, dynamischer Wasserfall Erhabenheit repräsentieren aktuell beispielsweise bestimmte Bilder, die in den oben erwähnten Publikationen zum ›Wilden Deutschland‹ Verwendung finden: Der Fotograf Norbert Rosing stellt den Todtnauer Wasserfall bei Hochwasser (Abbildung 11) ästhetisch dar als eine überwältigende, dynamische Naturgewalt. Bei der Betrachtung kann sich das Erlebnis einer freien, nicht zivilisatorisch beherrschten und verschütteten Natur einstellen – eine typisch romantische Idee.150 Angesichts dieses Bildes wähnt sich die Autorin Bettina Gartner »in Amazonien«151. Sie verweist damit auf eine Gegend, die in unserem kulturellen Gedächtnis paradigmatisch mit Wildnis assoziiert wird, weil sie unkontrollierbar, undurchdringlich, unheimlich etc. erscheint. Ästhetisch ist dieser Verweis allerdings schief, da im flachen Amazonasgebiet keine großen Wasserfälle als Landschaftsbilder zu entdecken sind. Beim Blick hinunter in eine bedrohlich steile Felswand im Gebirge kann sich Erschrecken mit lustvollem Schwindel mischen. Ein schauerliches Moment kommt hinzu, wenn dort der Kadaver eines gestürzten Hirsches zu sehen ist.

150 Siehe Kapitel 3.2.2. 151 Gartner 2012: 85.

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Eine derartige abgründige Szenerie wurde beispielsweise im Nationalpark Kalkalpen (Oberösterreich) geboten, mit der Idee, dass Besucher »Wildnis spüren«152 sollen. Der romantisch-erhabene Anblick wird mit Wildnis verknüpft. Abbildung 11: Todtnauer Wasserfall; Foto von Norbert Rosing, das in der Ausgabe ›Wildes Deutschland‹ der Zeitschrift ›National Geographic‹ verwendet wurde

Quelle: Brunner 2012: 85, Foto: © Norbert Rosing

Unergründbare große und schroffe Felsenlandschaft Erhaben kann auch das winterliche Elbsandsteingebirge wirken (Abbildung 12): Durch die reduzierte grau-weiße Farbigkeit entsteht eine lebensfeindliche Atmosphäre, und die ungeheuerlich großen und schroffen Felsen wirken fast figurativ. Die genaue Ausdehnung der Berge bleibt unklar, denn sie versinken im Bildhin152 Dies wurde bei einer durch Nationalparkranger geführten Wanderung im September 2010, an der die Verfasserin teilgenommen hat, gezeigt und erläutert, dass man sich im Nationalpark bewusst dagegen entschieden habe, den Kadaver, wie sonst üblich, zu entfernen. Dabei trägt der Kadaver meiner Interpretation nach zum romantischerhabenen Schauer bei, symbolisiert daneben aber auch die scheinbare Unberührtheit von Wildnis, die in der mythischen ›unbekannten Wildnis‹ Bedeutung hat (siehe Kapitel 4.1.2; vgl. Nationalpark O.ö. Kalkalpen Ges.m.b.H. 2009b).

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tergrund im Nebel. Ästhetische Lust am Unergründbaren dieser Landschaft stellt sich ein. Für den Nationalpark Sächsische Schweiz, zu dem ein Teil des Elbsandsteingebirges erklärt worden ist, trifft Wieland Elfferdings Beobachtung besonders zu: Das Gebiet ist wegen seiner »Erhabenheit und Größe« und »Ruhe und Einsamkeit« eine »›echte[...]‹ Wildnis« im Nationalpark,153 weil es zum ästhetischen Erlebnis von Wildnis als erhabener Landschaft aufgesucht wird – und das schon in relativ langer kultureller Tradition.154 Abbildung 12: Schrammstein in der Sächsischen Schweiz; Foto von Norbert Rosing, das in der Ausgabe ›Wildes Deutschland‹ der Zeitschrift ›National Geographic‹ verwendet wurde

Quelle: Brunner 2012: 43, Foto: © Norbert Rosing

153 Elfferding 2000: 188. – Das Erhabene der Natur wurde auch in den wilden Landschaften gesucht, die als erste Nationalparke in den USA ausgewiesen wurden (Heininger 2001: 298). 154 Vgl. Hoch 1987; Martin 2001; Dinnebier 2004b; Richter 2011; Tourismusverband Sächsische Schweiz e. V. 2013. – Das Gebiet wurde unter anderem von dem Landschaftsmaler Caspar David Friedrich, dem Schriftsteller Hans Christian Andersen und den Komponisten Carl Maria von Weber und Richard Wagner für ein besonderes ästhetisches Erlebnis aufgesucht.

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Ambivalentes Changieren zwischen schöner, friedlicher Landschaft und erhabener, bedrohlicher, wilder Landschaft Wildnis zeigt sich »als unergründbar, ihre Kraft als übermächtige Urgestalt« und, so bringt es der Literaturwissenschaftler Thomas Metscher auf den Punkt, der »Begriff des Erhabenen bezeichnet [genau dieses] […] Inkommensurable in der Erfahrung von Natur: ein Gewaltiges, das die Erfahrung des Schönen übersteigt«.155 Nichtsdestotrotz kann ein und dieselbe physische Gegend im ästhetischen Blick mal als Wildnis und im nächsten Moment mit einem gleichfalls ästhetischen Blick als schön, als harmonische Landschaft wahrgenommen werden, je nach individuell-kulturellem Kontext. Abbildung 13: Kiefer an der Bastei, Sächsische Schweiz; Foto von Norbert Rosing, das als Titelbild der Ausgabe ›Wildes Deutschland‹ der Zeitschrift ›National Geographic‹ verwendet wurde

Quelle: Brunner 2012, Foto: © Norbert Rosing

155

Metscher 2011: 67.

Drei Begriffe von Wildnis im aktuellen Diskurs | 271

So mag etwa die Landschaft in Abbildung 13 für manchen eher schön sein: Der kräftig grüne, sonnenbeschienene Vordergrund wirkt ausgewogen und freundlich; die leicht rötlichen Nebel um die Felsen im Hintergrund ergänzen die friedliche Stimmung und wecken die Assoziation einsamer, unberührter Natur. Man kann aber auch vor dem jähen Abgrund im Bildvordergrund erschrecken und hier eine Kiefer sehen, die sich in »schwindelnder Höhe […] in den Felsenspalt«156 klammert. Die Empfindung, einer kraftvoll-erhabenen, übermächtigen und in der romantischen Deutung bedrohlichen Natur gegenüberzustehen, macht sich geltend, und das wird mit dem Begriff ›Wildnis‹ beschrieben. Wildnis im Nationalpark als ästhetische Landschaft Der Begriff von Wildnis als ästhetische Landschaft ist nicht nur ein Thema der Reisewerbung, sondern speziell im aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ in Nationalparken bedeutend. Dies zeigt sich an folgendem Beispiel: Der Nationalpark Berchtesgaden, so ein Artikel der Naturschutzvertreter Hans Dieter Knapp und Lebrecht Jeschke, gilt als Wildnis, und dazu soll zum einen das naturschützerische »Prinzip ›Natur – Natur sein lassen‹ auf möglichst großer Fläche« durchgesetzt werden;157 zum anderen wird die Landschaft des Nationalparks von den Autoren,wie folgt charakterisiert: »Die Hochgebirgslandschaft der Berchtesgadener Alpen mit dem Königssee zählt zu den grandiosen Naturlandschaften Europas. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts hat diese Landschaft Millionen von Menschen fasziniert.« 158

Das besonders Überwältigende an der Gegend um den Königssee ist, dass die Berge steil zum unergründlich tiefen See abfallen. Die Berge und der See erscheinen bei der Beschreibung oben als ›grandios‹ – offenbar als eine das Fassbare übersteigende Größe. Die Landschaft erscheint als erhaben. Das allein muss jedoch nicht mit Wildnis konnotiert sein. Faszinieren den Betrachter jedoch die Felsabstürze und Hangrutschungen, die vom Wetter geprägten Bäume an der Vegetationsgrenze und das lebensfeindlich-schroffe ›Steinerne Meer‹ etc., so nimmt er möglichweise eine erhabene Wildnis wahr, die mit der Leitidee Wildnis des Nationalparks korrespondiert. Eben diese Verbindung der Landschaft des ›Steinernen Meeres‹ im Nationalpark Berchtesgaden mit der Bedeutung ›Wildnis‹ wird in Abbildung 14, einem Ausschnitt aus der Internetseite zum Projekt ›Wildniskommunikation in 156 Brunner 2012: 39. 157 Knapp & Jeschke 2012: 207. 158 Ebd.: 206 f.

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Deutschland‹ der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt von 1858 e. V., hergestellt. Auf dem Foto wird eine karge, von Felsen und Schnee geprägte Gipfellandschaft gezeigt. Ästhetisch scheinen daran die besonders kargen Oberflächenstrukturen der Felskuppen in ihrer kaum fassbaren Weite und ihren Dimensionen zu faszinieren und mit ›Wildnis‹ verbunden zu werden. Die Auffassung dieses Gebietes im Nationalpark Berchtesgaden als Wildnis kann mit diesem Bild gelingen, weil Wildnis, wie ich in diesem Kapitel gezeigt habe, ästhetisch als romantisch-erhabene Landschaft wahrgenommen werden kann. Abbildung 14: Foto des ›Steinernen Meeres‹ im Nationalpark Berchtesgaden auf der Internetseite zum Projekt ›Wildniskommunikation in Deutschland‹ der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt von 1858 e. V. unter der Rubrik ›Wilde Schönheiten – Gebiete auf dem Weg zur Wildnis‹

Quelle: Schweiger & Ziesche 2017, Foto: © Nationalpark Berchtesgaden

4.2.4 Zusammenfassung von ästhetischen Eigenschaften und Formen von Wildnis – Wildnis als Landschaft, als malerischer Ort In den aktuellen mitteleuropäischen Diskussionen um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ besteht ein Diskursstrang, der Wildniswahrnehmungen ästhetisch verhandelt. Diesen habe ich mit Cassirers symbolischer Form des ästhetischen Raumes und meinen weiterführenden Interpretationen in drei Aspekten herausgestellt und diskutiert (Wildnis als subjektiv empfundenes Erscheinungsbild einer

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Gegend, Wildnis als Landschaft, Wildnis als ästhetisch romantisch-erhabene Naturerscheinung). In bestimmten Kontexten wird Wildnis als malerischer Ort in seinen Formen, Farbkontrasten etc. also als visuelle Struktur in einem subjektiven Erhabenheitserlebnis wahrgenommen, ohne dass Bezüge auf mythische Bedeutungen oder naturwissenschaftliche Erklärungen im Vordergrund stünden oder notwendig wären. Wildnis ist hier primär Landschaft, denn diese ist im Sinne Cassirers die individuelle ästhetische Wahrnehmung einer Gegend, bei der bestimmte sinnliche Phänomene mit bestimmten individuellen Empfindungen zusammentreffen, also eine bestimmte »visuelle Gestalt« und »Struktur« entdeckt wird.159 Ästhetische Darstellungen von Wildnis rekurrieren auf gesellschaftlich-kulturell verbreitete Bilder oder aber zeigen neue, bisher ungewöhnliche Bilder einer Gegend oder eines Ortes. Dass mitunter beabsichtigt wird, neue Wahrnehmungen gesellschaftlich zu etablieren, wird bei Illustrationen zur Kommunikation von Wildnis in Nationalparken deutlich. Im Moment der ästhetischen Entdeckung einer Gegend als romantisch-erhabene Wildnis (wilde Landschaft) trifft die subjektive Zuschreibung von Bedeutungen wie Gefahr, Unkontrollierbarkeit, Unsicherheit oder Fremdheit auf die sinnliche Wahrnehmung der Gegend (übermächtige Dynamik oder wirre Strukturen), die sich womöglich zudem als unermesslich groß zeigt. Es ist eine subjektiv ›bestimmte Wildnis‹ im reflektierten Blick, keine mythisch unmittelbare und ›unbekannte‹ Wildnis, die erspürt und durchlebt wird. Wildnis ästhetisch aufgefasst als Landschaft differiert vor allem in der freien, individuellen und reflektierten Sinngebung von einer mythischen Wildnis mit Verweis auf unbeeinflussbare Sinngebungen mit transzendenten Dimensionen. Wildnis als ästhetisch romantisch-erhabene Naturerscheinung habe ich an einigen Bildern und Texten diskutiert: eine unübersichtliche, unermesslich große Waldlandschaft, ein überwältigender, dynamischer Wasserfall, eine unergründbare große und schroffe Felsenlandschaft. Die Subjektivität der ästhetischen Wahrnehmung wird an einem Beispielfoto deutlich, das dem einen als schöne, friedliche Landschaft und dem anderen als erhabene, bedrohliche, wilde Landschaft erscheinen mag. Abschließend wurde die Bedeutung von Wildnis als ästhetische Landschaft im aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ an einigen Beschreibungen von Nationalparken gezeigt.

159 Cassirer 1944/2007: 222.

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4.3 ›ÖKOSYSTEM-WILDNIS‹ – DYNAMISCHE NATUR In den beiden letzten Kapiteln konnte ich zwei Begriffe von Wildnis identifizieren, ›unbekannte Wildnis‹ und ›bestimmte Wildnis‹. An ihnen zeigte sich, dass Wildnis in einem Fall als eine mythische Raumauffassung, im anderen als eine ästhetische Raumauffassung im Sinne Cassirers verstanden werden kann und wird. Nun werde ich abschließend einen weiteren Typ von Wildnisauffassung, der heute im Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ geläufig ist, beschreiben und untersuchen, wie weit sich dieser mit der dritten wesentlichen Cassirer’schen Raumauffassung, der theoretischen, erklären lässt. Dabei arbeite ich einen bestimmten Begriff von Wildnis heraus, den ich mit ›Ökosystem-Wildnis‹ benenne. Ein theoretischer Raum zeichnet sich nach Cassirer, wie in Kapitel 3.3 beschrieben, durch eine Formung mit reiner Bedeutung aus. Diese Formung folgt objektiven Gesetzen und geschieht mittels allgemeiner Begriffe. Die theoretische ist eine symbolische Formung unter mehreren. Alltagsweltlich verstandene theoretische Formungen können, wie wir gesehen haben, verbunden werden mit einer mythischen oder einer ästhetischen Formung.160 Die Relevanz dieser Art der Raumauffassung im aktuellen Wildnisdiskurs analysiere ich in folgenden Schritten: Zunächst zeige ich mit systematischen Überlegungen, dass sich Raum als Wildnis nicht mit theoretischer (naturwissenschaftlich-theoretischer) Formung konstituiert (Schritt 1). Sodann stelle ich am aktuellen Diskurs (Schritt 2) fest, dass von Wildnis als ›dynamischer Natur‹ in einer Art gesprochen wird, die sich maßgeblich von ›unbekannter Wildnis‹ (Kapitel 4.1) oder ›bestimmter Wildnis‹ (Kapitel 4.2) unterscheidet und – da sie sich an naturwissenschaftlich-theoretische Betrachtungsweisen und Erklärungen anlehnt – mit dem Begriff ›Ökosystem-Wildnis‹ charakterisieren lässt. Diese empirisch beobachtete Art, von Wildnis zu reden, steht im Widerspruch dazu, dass naturwissenschaftlich Raum nicht spezifisch als Wildnis aufgefasst werden kann. Zunächst versuche ich (Schritt 3), diese Wildnisauffassung mit einer alltagsweltlichen Naturauffassung161 zu erklären. Allerdings lässt diese Erklärung nicht hin-

160 Zum Verständnis der speziellen Begrifflichkeit Cassirers zur symbolischen Formung siehe Kapitel 2 und 3. 161 Naturauffassung ist eine spezielle Art von Raumauffassung. Diesen einschränkenden Begriff werde ich bei meiner Diskussion von Wildnis und theoretischer Raumauffassung deshalb hier und da verwenden, weil in diesem Kontext in erster Linie Raumvorstellungen von Natur – im Sinne eines Ausschnitts der Erdoberfläche – wesentlich sind und beispielsweise nicht Vorstellungen von Gebäudeinnenräumen.

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reichend den kulturellen Sinn verstehen, der das jeweilige Gebiet nicht nur als Natur auszeichnet, sondern erst – wie in Kapitel 1.2 belegt – wesentlich zu einer Wildnis macht: seine Unvorhersehbarkeit, Unwegsamkeit, schaurige Schönheit etc. Daher werde ich die Erklärung von ›Ökosystem-Wildnis‹ erweitern (Schritt 4) und stelle diese Art der Wildnisauffassung als einen Begriff vor, der sich mit Cassirers Raumtheorie fassen lässt – jedoch nicht mit einer einzelnen seiner Raumformungen, sondern als alltagsweltliche Verknüpfung einer naturkundlichen symbolischen Formung theoretischen Anspruchs mit einer der beiden anderen, teilweise der mythischen und teilweise der ästhetischen Raumformung. Diese Verbindung wird sich als in der Naturschutzidee ›Wildnis‹ so einflussreich zeigen, dass ›Ökosystem-Wildnis‹ ein unentbehrlicher Begriff ist, um das Bedeutungsfeld Wildnis, das man im gesellschaftlichen Diskurs aktuell vorfindet, zu ordnen. Im Gegensatz zur Darstellung in den Kapiteln 4.1 und 4.2, wird in Kapitel 4.3 ein bestimmter Wildnisbegriff nicht mit einer Art der Cassirer’schen Raumformung erläutert. Deshalb weicht der Aufbau des Kapitels 4.3 auch von den vorherigen ab. 4.3.1 Schritt 1: Raum als Wildnis konstituiert sich nicht mit theoretischer Formung Würde sich Wildnis mit theoretischer (naturwissenschaftlich-theoretischer)162 Formung konstituieren, müsste sie ein Begriff der Logik oder der Naturwissenschaften sein, müsste sich also mit allgemeinen, letztlich physikalischen Begriffen fassen und auf Basis allgemeiner Gesetze erklären lassen, müsste abstrakt sein, fern der sinnlichen Anschauung. Mit Qualitäten wie Länge, Breite, Höhe oder Anzahl an Arten und Biotoptypen, Hemerobiegrad oder Funktionen der biotischen und abiotischen Komponenten in einem Ökosystem müsste diese Wildnis sich beschreiben lassen, sie müsste objektive Eigenschaften unabhängig von lebensweltlichen, sinnlichen und sinnhaften Erfahrungen haben. Ob dies der Fall ist, diskutiere ich im Folgenden anhand verschiedener theoretischer und empirischer Aspekte. Ein Gebiet, das gesellschaftlich als ›Wildnis‹ gilt, lässt sich durchaus in naturwissenschaftlicher Art beschreiben. Dies zeigt sich beispielsweise am Val Grande, seit 1991 Nationalpark und ausdrücklich als ›Wildnis‹ charakterisiert. Der Nationalpark liegt in der italienischen Region Piemont und ist 142 Quadratkilometer groß. Seine höchsten Berge, die vor allem aus Gneisen bestehen, sind

162 Zum Verständnis der Cassirer’schen naturwissenschaftlich-theoretischen Perspektive, die ein Erkenntnisinteresse an empirischen Phänomenen hat, siehe Kapitel 3.3.

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2.100 bis 2.300 Meter hoch, so Broggi. 163 In einer Veröffentlichung der internationalen Naturschutzdachverbände ›International Union for Conservation of Nature‹ (IUCN) und EUROPARC wird der Nationalpark Val Grande als Wildnis benannt und unter anderem wie folgt beschrieben: »Vorherrschender Lebensraum sind Wälder, die 70 % der Fläche des Parks bedecken – das Bild bestimmen Kastanie, Buche, Fichte und Weißtanne. Alpine Matten und Gebüsch machen 18 % des Gebiets aus, Fels/Hochgebirge 10 % und Feuchtgebiete 1 % des Parks.«164

Wie die Landschaftsforscher Höchtl und Burkart zum Val Grande erläutern, entwickelt sich die ehemalige »[…] bergbäuerliche Kulturlandschaft mit ihrem je nach Höhenlage klein- oder großräumig parzellierten Mosaik aus unterschiedlich stark genutzten Flächen innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem Landschaftstyp, in dem die einstigen Nutzungsgrenzen allmählich verwischen. […] Im Zuge der Sukzession werden lichtbedürftige Pflanzenarten des Offenlandes, je nach Höhenlage und Exposition, von konkurrenzkräftigen Gebüsch- und Waldarten verdrängt.«165

Im Val Grande bestehen, so Broggi, große Populationen von Aspisvipern und Kreuzottern.166 In diesen Zitaten aus unterschiedlichen Kontexten gehen einige Erklärungen bis auf allgemeine naturwissenschaftliche Größen wie Stoffgehalte oder mechanische Faktoren zurück. Zudem werden landschaftsplanerische Aspekte wie Nutzung und Nutzungsgeschichte genannt. Dies geschieht offenbar mit einem objektivierenden Anspruch, der naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen zum Vorbild hat. Schon die Angabe der Anteile an Baumarten ist eine naturwissenschaftliche Charakterisierung der Vegetation, auch wenn ihre Entstehung nicht weiter erklärt wird. In den Passagen wird das Val Grande nicht als individueller Ort mit einzigartigen Eigenschaften und besonderen Werten beschrieben, sondern als ein Raum, der prinzipiell überall auf der Welt sein könnte, wo gleiche

163 Broggi 2011: 41. 164 Föderation EUROPARC & International Union for Conservation of Nature 2000: 38. – Mit ›Bild‹ ist in dem Zitat offenbar die Zusammensetzung der Wälder im Sinne eines von weitem erkennbaren Habitus’ gemeint. 165 Höchtl & Burkart 2002: 223. 166 Broggi 2011: 42.

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Bedingungen herrschen – also als ein »homogener Raum«167. Empirische Phänomene wie der Wald oder ehemals genutzte Hochflächen mit einem Mosaik aus Hochstauden und Gehölzen dienen als Repräsentanten theoretisch hergeleiteter allgemeiner Begriffe wie ›Lebensraumtypen‹, ›Sukzession‹ und ›Konkurrenz‹. Die empirischen Eigenschaften des Val Grande werden mittels dieser allgemeinen Begriffe dargelegt. Es kommt nicht darauf an, im Anblick des Val Grande seiner einmaligen Historie und seinen kulturellen Bedeutungen – unter anderem als Wildnis – nachzugehen und sie zu verstehen. Die genannten Charakterisierungen folgen vielmehr dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisziel, die allgemeine logische Ordnung und Gesetzlichkeit der Natur zu erkennen und Theorien und Modelle weiter zu verbessern, um künftige Entwicklungen des Gebietes, seiner Flora und Fauna, prognostizieren zu können. Mit dieser Art der Auffassung habe ich in Kapitel 3.3 Cassirer folgend den theoretischen, insbesondere den theoretisch-naturwissenschaftlichen Raum typisiert. Wollte man mit derartigen Charakterisierungen tatsächlich Wildnis beschreiben, müsste man Fragen folgender Art eindeutig beantworten: Welche Tierarten und Lebensräume ›sind‹ Wildnis und welche nicht? Ab welchem Hemerobiegrad besteht keine Wildnis mehr? Wie viel Hektar muss ein Gebiet haben, damit es für uns Wildnis ist? Legt man die kulturellen Bedeutungen des Begriffs ›Wildnis‹, wie unbeeinflusst, unkontrollierbar, unheimlich, erhaben, frei etc., 168 zugrunde, die zumindest im bisherigen und derzeitigen Gebrauch, wie in den Kapiteln 1, 4.1 und 4.2 festgestellt, für die gesellschaftliche Deutung eines Gebietes als ›Wildnis‹ entscheidend sind, so lassen sich auf diese Fragen keine Antworten finden. Mit naturwissenschaftlichen Untersuchungen kann man »nicht bemerken, dass das Gebiet eine Wildnis ist«169, denn es gibt keinen prinzipiellen naturwissenschaftlich erkennbaren Unterschied zwischen ›wilden‹ und ›nicht-wilden‹ Standorten und Lebensgemeinschaften. Aus der generalisierenden naturwissenschaftlichen Perspektive betrachtet sind die unterschiedlichen lebensweltlichen Bedeutungen einer lieblichen Kuhweide und eines undurchdringlichen Gehölzes mit Vipern irrelevant, wenn auch durchaus die unterschiedlichen Arten und Lebensbedingun-

167 Cassirer 1925: 108; vgl. Kapitel 3.3.1. 168 Vgl. Dierßen 2003: 40; Schuster 2010: 37 f.; Trepl 2010: 9; Langenhorst 2014: 59. 169 Trepl 2010: 10. – Ludwig Trepl veranschaulicht dies mit folgendem Vergleich: Man kann als Naturwissenschaftler das Vorhandensein von Wildnis nicht feststellen, »so wie der Zoologe, der ein Hühnerei untersucht, als Zoologe nicht bemerken kann, dass er einen Handelsartikel mit der Eigenschaft, einen Preis zu haben, oder ein Symbol für das Osterfest vor sich hat« (ebd.).

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gen festgestellt werden können.170 Für den Naturwissenschaftler als Naturwissenschaftler, so erläutert Gerhard Hard anschaulich, »[…] macht es […] im Prinzip keinen Unterschied, ob er einen Parkrasen, eine Kuhweide, einen Urwald oder eine Industriefläche ökologisch untersucht. […] Alle vier sind für ihn keine Symbole, sondern physisch-biotische Tatbestände, die er gleicherweise mit den Mitteln der Naturwissenschaft angeht.«171

Und so kann naturwissenschaftlich auch nicht analysiert werden, warum das Val Grande für die einen unkontrollierbare Wildnis symbolisiert, für andere jedoch die gegensätzliche Bedeutung einer historischen bäuerlichen Kulturlandschaft hat. So kann Werner Bätzing in seiner naturwissenschaftlich orientierten geografischen Beschreibung des Val Grande den Widerspruch, dass »das Gebiet heute sehr stark den Eindruck einer ›echten‹ Wildnis erweckt«, obwohl »die Relikte der traditionellen Nutzungsstrukturen immer noch wahrnehmbar sind«,172 nur bemerken. Die Erläuterung, dass die Vegetation sich wegen der tiefen Lage im Val Grande relativ schnell verändere, klärt den Widerspruch nicht auf. 173 Naturwissenschaftlich lässt sich das Val Grande in seinem Vegetationsbestand etc. (siehe oben) eindeutig beschreiben. Doch dann fehlen die kulturellen Bedeutungen und Ideen von Wildnis wie unbeeinflusst, unkontrollierbar, unheimlich, erhaben, frei etc.174 Diese werden subjektiv, sinnlich empfunden und lassen sich nicht naturwissenschaftlich mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit fassen. Die Fragen nach Tierarten, Lebensräumen, Hemeorbiegrad und Hektar erscheinen somit nicht beantwortbar und diese Aspekte als unsachgemäß für die Beschreibung einer Wildnis, beispielsweise des Val Grande, als Wildnis. Gegen diese Position, dass sich Raum als Wildnis mit naturwissenschaftlichtheoretischer Formung nicht konstituieren könne, lässt sich mit explizitem Verweis auf das Verständnis von Raum als Pluralität an Raumauffassungen, welche von den symbolischen Formungen der wahrnehmenden Subjekte geprägt sind, argumentieren. Wenn es je kontextbezogen unterschiedliche Raumauffassungen gibt, könnte dann nicht eine mögliche Auffassung von Wildnis allein auf theoretisch-naturwissenschaftlichen Kriterien beruhen? Im aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ werden auch Versuche unternommen beziehungsweise es wird gefordert, einen eindeutigen, naturwissenschaftlich definierten Begriff 170 Vgl. Vicenzotti 2007: 17. 171 Hard 1995: 15. 172 Bätzing 2005: 215. 173 Vgl. Höchtl & Burkart 2002: 225 f., 600 f.; Broggi 2011: 41; Schwab et al. 2012: 19. 174 Vgl. Dierßen 2003: 40; Schuster 2010: 37 f.; Trepl 2010: 9; Langenhorst 2014: 59.

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›Wildnis‹ einzuführen, der in Naturschutzdiskussionen alle bisherigen vielfältigen Bedeutungen ersetzen könnte.175 So wird in der Naturbewusstseinsstudie 2013 des Bundesamtes für Naturschutz folgende Definition versucht: »Für ein einheitliches Verständnis von Wildnis« wird »folgende Definition gegeben: ›Wildnisgebiete sind große, unzerschnittene Gebiete, in denen sich die Natur frei entfalten kann, weil sie vom Menschen nicht genutzt werden. […]‹«176.

Wesentlich für einen abstrakt konstruierten, naturwissenschaftlichen Wildnisbegriff wäre, dass er von den bisherigen kategorial verschieden wäre. Ein naturwissenschaftlicher Begriff von Wildnis würde prinzipiell nicht die lebensweltlichen Sinngehalte erfassen, auf welche sich die Gesamtheit der bisherigen Wildnisbegriffe bezieht. Gesellschaftlich bestehen können Raumauffassungen aber nur, wenn sie zumindest Bezug auf gebräuchliche Bedeutungen nehmen; ansonsten bleiben sie vereinzelt und unverständlich.177 Einen Bezug auf bestehende Wildnisbedeutungen nehmen naturwissenschaftliche Beschreibungen von Wildnisgebieten aber gerade nicht. Man könnte postulieren, dass naturwissenschaftliche Kriterien das Begriffsfeld Wildnis derzeit entscheidend erweitern und künftig zumindest in bestimmten Gesellschaftskreisen Selbstverständlichkeit haben werden. Jedoch zeigt sich im naturwissenschaftlichen Gebrauch ›Wildnis‹ als ein Wort ohne spezifische Bedeutungen, das verlustfrei durch Begriffe wie ›Natur‹, ›Naturgebiet‹ oder ›Habitat‹ bestimmter Arten etc. ersetzt werden könnte. Auf »unzerschnittene Gebiete«, die »vom Menschen nicht genutzt werden«,178 trifft die Bezeichnung Naturgebiete zu. Bedeutung als Wildnis aber haben sie nicht zwangsläufig, möglicherweise aber in bestimmten Kontexten. Wenn man Wildnis naturwissenschaftlich bestimmt, nennt man das Wort ›Wildnis‹ ohne den spezifischen Be175 Beispielsweise Jessel 1997: 9; Bauer 2005: 16; Weiger 2012: 10; Schenck 2013: 14; Trommer 2014: 49. – Nicole Bauer kommt in ihrer sozialempirischen Studie ›Für und Wider Wildnis‹ zu dem Schluss, dass deshalb »›naturwissenschaftliche[...]‹ oder ›offizielle[...]‹ Definitionen« notwendig seien, weil es ansonsten nur »individuelle Begriffsbestimmungen« gäbe. Diese hält sie für hinderlich bei »Diskussionen um Ausweisung von Wildnisgebieten zwischen Fachkreisen und der betroffenen Bevölkerung« (Bauer 2005: 16). 176 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit & Bundesamt für Naturschutz 2014: 23. 177 Vgl. Kapitel 1.2.3. 178 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit & Bundesamt für Naturschutz 2014: 23.

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griff ›Wildnis‹ zu benutzen. Warum der oft unternommene Versuch oder die Forderung, einen eindeutigen, naturwissenschaftlich definierten Begriff ›Wildnis‹ einzuführen, der in Naturschutzdiskussionen alle bisherigen vielfältigen Bedeutungen ersetzen könnte,179 immer wieder scheitert oder allenfalls die Verschwommenheit des Begriffs ›Wildnis‹ vermehrt, wird damit verständlich. Die Feststellung, dass in ausschließlich theoretisch-naturwissenschaftlicher Formung Raum nicht spezifisch als Wildnis erfasst werden kann, widerspricht nicht der nach Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ offenen Pluralität an Raumformungen: In dieser Kulturphilosophie werden allgemein denkbar mögliche Auffassungen von Wildnis um den kulturell-gesellschaftlichen Kontext des konkreten Lebens ergänzt, in dem Wildnis sich mit Eigenschaften wie Unvorhersehbarkeit, Unwegsamkeit, schaurige Schönheit etc. auszeichnet. Diese wesentlich lebensweltliche Bestimmung des Wildnisbegriffs ist beispielsweise im Gutachten ›Umsetzung des 2 %-Ziels für die Wildnisgebiete aus der Nationalen Biodiversitätsstrategie‹ der Autorengruppe um Rosenthal zu bemerken: Die Autoren gehen von der im Zusammenhang mit dieser umweltpolitischen Strategie vorgeschlagen Definition von Wildnisgebieten aus als »ausreichend große, (weitgehend) unzerschnittene, nutzungsfreie Gebiete, die dazu dienen, einen vom Menschen unbeeinflussten Ablauf natürlicher Prozesse dauerhaft zu gewährleisten«180. Dabei ermitteln sie konkret Räume und Flächen, die politisch-administrativ als Wildnisgebiete festgelegt werden sollen. Sie stellen zu dieser Definition jedoch dezidiert klar, dass sie »[…] keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit (im Sinne einer naturwissenschaftlich belegten Tatsache) erheben kann, sondern dass es sich um eine vor dem Hintergrund ganz bestimmter Bedeutungen und ganz bestimmter Vorstellungen von Wildnis sowie bestimmter Wert- und Zielsysteme entwickelte Definition handelt.«181

Bemerkenswerterweise wird auch an anderer prominenter naturschutzfachlicher Stelle, nämlich bei der Beschreibung der Kategorie Ib ›Wildnisgebiet‹ in der von der Föderation EUROPARC und der International Union for Conservation of Nature (IUCN) herausgegebenen ›Interpretation und Anwendung der Management-Kategorien für Schutzgebiete in Europa‹, festgestellt, dass es nicht möglich sei, Wildnis naturwissenschaftlich zu bestimmen:

179 Beispielsweise Jessel 1997: 9; Bauer 2005: 16; Weiger 2012: 10; Schenck 2013: 14; Trommer 2014: 49. 180 Finck et al. 2013: 343. 181 Rosenthal et al. 2015: 19.

Drei Begriffe von Wildnis im aktuellen Diskurs | 281

»Wildnis ist ein Begriff aus der menschlichen Erfahrungswelt und strenggenommen nicht ökologischer Art«182.

Auch in einem Statement der ›Arbeitsgemeinschaft Nationalparks in Deutschland‹ wird explizit festgestellt, dass sich »Wildnis […] nicht naturwissenschaftlich definieren« lasse.183 In der Naturschutzpraxis fällt zunächst oft nicht auf, dass eine naturwissenschaftlich-theoretische Raumformung eines Gebietes als Wildnis nicht möglich ist, weil die Parameter, mit denen Gebiete naturwissenschaftlich beschrieben werden, »stark positiv mit der Wahrscheinlichkeit, dass einer Gegend in der gerade vorherrschenden gesellschaftlichen Deutung die Bedeutung ›Wildnis‹ zugeschrieben wird«, korrelieren:184 Das Val Grande beispielsweise wird als Wildnis empfunden, weil es dort viele unheimliche Tiere wie Vipern gibt und weil das Landschaftsbild ›verwildert‹. Das Vorkommen der Vipern und die Gehölzsukzessionen, die Offenlandflächen einnehmen, sind naturwissenschaftliche Tatsachen. Keine naturwissenschaftliche Tatsache ist es jedoch, dass in einem bestimmten kulturellen Kontext derartige Tiere als unheimlich gelten und eine Sukzession als ›Verwilderung‹ empfunden wird. Wegen der genannten Wahrscheinlichkeit der Korrelation kann es mitunter auch gelingen, Gebiete in bestimmten (naturwissenschaftlich beschreibbaren) Eigenschaften, etwa Nutzungsintensität, Erschließungsgrad oder Artausstattung, so zu entwickeln, dass sie gesellschaftlich womöglich als Wildnis wahrgenommen werden. Eine zwingende Korrelation besteht allerdings nicht, da der jeweilige Betrachter dem Raum im Moment der Betrachtung subjektiv die kulturellen Bedeutungen von Wildnis beimisst oder nicht. Insofern ist die Ausweisung von Wildnisgebieten, wie in der Nationalen Biodiversitätsstrategie gefordert, nur sehr grob und nicht umfassend anhand von Kriterien wie »Flächengröße, Unzerschnittenheit, Störungsfreiheit, Kompaktheit und Naturnähe«185 möglich. Die Feststellung, dass kulturell-gesellschaftlich und naturwissenschaftlich je Verschiedenes wahrgenommen wird, schließt nicht aus, dass ein und dasselbe Gebiet lebensweltlich als Wildnis und naturwissenschaftlich als Standort mit be182 Föderation EUROPARC & International Union for Conservation of Nature 2000: 23. 183 EUROPARC Deutschland 2010b: 2. 184 Trepl 2010: 10. 185 Rosenthal et al. 2015: 13. – Die Autorengruppe um Gert Rosenthal erarbeitet mit diesen Kriterien eine Flächenkulisse, innerhalb derer anhand weiterer Kriterien, zu denen auch das »Wahrnehmen und Erleben von Natur und Landschaft« (ebd.: 21) zählt, die Wildnis- und Wildnisentwicklungsgebiete festgelegt werden sollen.

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stimmten abiotischen Eigenschaften sowie als Lebensraum bestimmter Arten beschrieben werden kann. Dies ist, wie wir oben am Beispiel des Eibenwaldes gesehen haben (Kapitel 3.3.2), zwar nicht gleichzeitig (innerhalb ein und derselben Gedankenwelt) möglich, denn die Rezeption von Natur als Wildnis und die naturwissenschaftliche (theoretische) Naturauffassung sind kategorial unterschiedliche Formungen.186 Jedoch kann der Betrachter von einem Moment zum anderen zwischen den unterschiedlichen »Brechungsindices«187 wechseln: Auch der Naturwissenschaftler kann in seinem Untersuchungsgebiet Wildnis erleben und über Wildnis als kulturellen Gegenstand reden, aber nicht in seiner naturwissenschaftlichen Perspektive, also als Naturwissenschaftler, sondern als Alltagsmensch.188 An dieser Stelle könnten wir unsere Diskussion der Wildnisbegriffe mit Cassirer im Grunde abbrechen und als Ergebnis konstatieren, dass Raum zwar mythisch und ästhetisch als Wildnis geformt wird, jedoch Wildnis in der dritten, der theoretischen Raumformung nicht fassbar ist. Allerdings gibt es derzeit noch einen weiteren nicht unbedeutenden Strang im Diskurs um Wildnisgebiete, der auf naturwissenschaftliche Begriffe rekurriert: Hier wird insbesondere von Wildnisgebieten als von ›Ökosystemen‹ beziehungsweise als von ›Gebieten mit (dynamischen) Ökosystemen‹ gesprochen. Dazu führe ich zunächst empirische Beispiele an, um diese Redeweise dann in zwei Schritten zu diskutieren. Es wird sich zeigen, dass es für das Verständnis des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ durchaus von Bedeutung ist, diese Facetten nicht einfach als kategorial falsche Begriffsverwendungen einzustufen, sondern ihre immanente Denkweise genauer zu analysieren. 4.3.2 Schritt 2: Empirisch ist ein Reden von ›Ökosystem-Wildnis‹ festzustellen »Wildnis nämlich bedeutet im Grunde nichts anderes als das Ablaufen[lassen] der natürlichen dynamischen Prozesse unserer Ökosysteme, ohne dass wir Menschen in diese Abläufe eingreifen«189,

186 Vgl. Kangler & Voigt 2010: 368 f. 187 Cassirer 1929: 3; vgl. Kapitel 3.3.2. 188 Vgl. Kangler & Voigt 2010: 375. 189 Vogtmann 2002: 6. – Der vor allem zu Nationalpark-Tourismus forschende Geograf Hubert Job formuliert fast wortwörtlich gleich: »Die Wildnis-Idee« ist »das LaufenLassen ungestörter ökosystemarer Prozesse« (Job 2010: 76). Und jüngst schrieb Sofie Delgado, eine Vertreterin von GREENPACE e. V., in gleichem Sinne: »[I]ntakte

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fasst beispielsweise Hartmut Vogtmann, der damalige Präsident des Bundesamtes für Naturschutz, zusammen. Wildnis ist danach ein Raum, in dem »eine weitgehend ungestörte natürliche oder naturnahe Lebensraumdynamik mit dem vollen Spektrum der Entwicklungsstadien und der ökosystemeigenen Dynamik« ablaufen solle.190 Der langjährige Leiter der Internationalen Naturschutzakademie des Bundesamtes für Naturschutz Hans Dieter Knapp formuliert diese Vorstellungen etwas anders. Alte Buchenwälder seien ein »[…] Beispiel für die regenerative Kraft eines Klimax-Ökosystems, das […] Strukturen und Prozesse ursprünglicher Wildnis bewahren und sogar regenerieren« könne.191

In Wildnisgebieten, so Christof Schenck, Geschäftsführer der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt, seien Menschen »den natürlichen Regelmechanismen der Ökosysteme unterworfen«192. Mit dem Ausweisen von Wildnisgebieten sei aber auch der »Schutz von Ökosystemen« »im Sinne der Biodiversitätskonvention« möglich.193 Die beiden Begriffe ›Wildnis‹ und ›Ökosystem‹ werden, wie an diesen Zitaten zu bemerken ist, bei der Beschreibung von (eigen-)dynamischer Natur in Naturschutzdiskursen also oft miteinander verbunden oder synonym verwendet. Ökosysteme der Wildnis oder Wildnis-Ökosysteme zeichnen sich, so wird vielfach geschrieben, dadurch aus, dass es »funktionierende Ökosysteme«194 von jeweils hinreichender Größe sind, die natürliche Lebensräume 195 enthalten und

Waldwildnis, das meiste davon wilde Wälder, aber auch Seen, Buschland, Grasland, Sümpfe, Felsen«, sei ein »Ökosystem«, in das durch Straßenbau und Holzeinschlag degradierend eingegriffen werde (Delgado 2014: 1). 190 Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. 2012: 24. 191 Knapp 2012: 289 f. 192 Schenck 2013: 14. – Sogar die Fachjournalistin Ulrike Fokken charakterisiert in ihrem Buch, in dem sie das Erlebnis von Wildnis in der Natur aus einer pädagogisch-soziologischen, nicht naturschutzfachlichen Perspektive beschreibt, Wildnis als System: »In der Wildnis erleben wir ein sich selbst regulierendes System aus Wachstum und Vergehen, das immer besser wird, je weniger wir uns einmischen« (Fokken 2014: 98). 193 Schenck 2008: 43. 194 EUROPARC Deutschland 2010a: 21. 195 Die »Bergwildnis« ist »Biotop« bestimmter »Vögel- und Säugetierarten« (Planken & Schurig 2000: 222).

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»dynamischen Prozessen«196 unterliegen, »frei von störender menschlicher Aktivität erheblichen Ausmaßes und von moderner Infrastruktur«197. So wird auch in der ›Agenda for Europe’s Wild Areas‹ explizit formuliert: »Wilderness is defined as a large area of terrestrial and/or marine natural habitat and ecological processes substantially unaltered by the hand of man.«198 Als ein Zweck dieser Wildnisgebiete wird genannt, dass sie als Referenz zur Analyse gesteuerter Systeme199 und zur Überprüfung von naturwissenschaftlichen Theorien (also als wissenschaftliches Freilandexperiment) dienen sollen. 200 Zur Erhaltung beziehungsweise Entwicklung derartiger Wildnis-Ökosysteme wird besonders die Strategie ›Prozessschutz‹ angewandt. Beispielsweise setzt die Autorengruppe um Kohler Prozessschutz unmittelbar gleich Wildnis: Bei der für »Wildnisgebiete« entsprechenden »Ausgangslage« und den entsprechenden »Rahmenbedingungen und Zielsetzungen« steht »Prozessschutz (d. h. Wildnis)« im Vordergrund.201 Auch wenn es sich in diesem Zitat nur um eine unbeholfen verkürzende Art des Schreibens handeln mag, stammt es doch von NaturschutzFachautoren. Die genannte Gleichsetzung scheint nicht zufällig, sondern typisch für einen bestimmten Strang im aktuellen Wildnisdiskurs. Nationalparkvertreter, so wird an anderer Stelle formuliert, »setzen auf Prozessschutz, die sich daraus zwangsläufig ergebende Wildnis ist ihr Ideal«202. Alexander Bittner von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt formuliert etwas differenzierter, dass »Waldwildnis« »im Rahmen des Prozessschutzansatzes« angestrebt oder bewahrt werde.203

196 Mayrhofer 2011b: 5; Vogtmann 2002: 6; Niebrügge & Wilczek 2011: 8; vgl. Broggi 1999: 4; Planken & Schurig 2000: 204; Stremlow & Sidler 2002: 88; Kropp 2010: 46. 197 EUROPARC Deutschland 2010a: 21; Vgl. Rink 2009: 285; Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. 2012: 24; Kohler et al. 2012: 45; Schenck 2013: 14; Scherfose et al. 2013: 9. 198 Grigoriev et al. 2009: 1. – »Wildnis [wilderness] ist definiert als ein großräumiges Gebiet mit natürlichen terrestrischen und/oder aquatischen Lebensräumen und mit ökologischen Prozessen, die im Wesentlichen unbeeinflusst von Menschen ablaufen.« (Übersetzung G. K.) 199 Kohler et al. 2012: 45. 200 Jessel 1997: 9. – Es werden noch andere Zwecke genannt, wie Erholungsnutzung, die ich unten erläutern werde. 201 Kohler et al. 2012: 5; Beckers et al. 2014: 17. 202 Job 2010: 76. 203 Bittner 2014: 107; vgl. Haller & Anderwald 2015: 450 ff.

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Beim ›Prozessschutz‹ sind das Schutzziel nicht bestimmte Arten oder Lebensräume, sondern die »natürliche Entwicklung«204, »eigendynamisch und ohne lenkende Eingriffe«205, »die Ermöglichung und der ungestörte Ablauf von natürlichen Prozessen, wie Überschwemmungen, Sturmwurf und Sukzessionen«206. Diese Naturschutzstrategie wird vor allem in Nationalparken verfolgt. In diesen sollen sich, wie in einer Studie zur biologischen Vielfalt des Bundesumweltministeriums genannt wird, »durch Prozessschutz über Jahre und Jahrzehnte einzigartige Wildnisgebiete entwickeln, die die Natur wieder in ihren eigenen Kreislauf zurückfinden lassen«207, und dies vollziehe sich in »Resten von natürlichen Ökosystemen« oder »naturnahen Ökosystemen«208. In »dauerhaft ungenutzte[n] Wildnisgebiete[n]« könnten sich, so eine Autorengruppe des Bundesamtes für Naturschutz, »die Ökosysteme« natürlich entwickeln, könnten sich (eigen-)dynamische »Prozesse ohne aktive menschliche Einflussnahme abspielen«.209 An den Zitaten ist zu erkennen, dass von Wildnis als ›dynamischer Natur‹ hier in einer Art gesprochen wird, die sich maßgeblich von den Bedeutungen ›unbekannte Wildnis‹ (Kapitel 4.1) oder ›bestimmter Wildnis‹ (Kapitel 4.2) unterscheidet, denn nicht mythische Sinngehalte oder ästhetische Anschauungen sind bei diesem Wildnisbegriff prägend, sondern der Verweis auf naturwissenschaftlich-rationale Erklärungen mit der Erwähnung entsprechender Begriffe wie ›Ökosystem‹. Diese Redeweise von Wildnis als dynamische Natur benenne ich mit ›Ökosystem-Wildnis‹ und möchte sie im Folgenden in zwei Schritten verständlich machen. 4.3.3 Schritt 3: Ist ›Ökosystem-Wildnis‹ Gegenstand einer alltagsweltlichen Naturkunde? Zu Anfang dieses Kapitels 4.3 habe ich gezeigt, dass Wildnis kategorial nicht mit einer naturwissenschaftlich-theoretischen Raumformung gefasst werden kann. Dies ist im Wesentlichen dadurch begründet, dass kulturelle Bedeutungen, die sich zumindest im bisherigen und derzeitigen Gebrauch für Wildnis als essenziell erweisen (unkontrollierbar, unberechenbar, undurchdringlich, unbekannt, unheimlich, schaurig, überwältigend, erhaben, aber auch ursprünglich,

204 Ott 2004: 305. 205 Niebrügge & Wilczek 2011: 8. 206 Rosenthal et al. 2015: 13. 207 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 2013: 122. 208 Ebd.: 87. 209 Scherfose et al. 2013: 6 f.

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unberührt oder frei)210 keine naturwissenschaftlichen Begriffe sind. Dennoch wird, wie wir gesehen haben, Wildnis als Ökosystem und als geprägt von dynamischen Naturprozessen thematisiert. Dies könnte sich weitgehend – wie etwa auch das aktuell gesellschaftlich weit verbreitete Reden vom Schutz seltener Arten oder von der Erhaltung größtmöglicher Biodiversität und von vielen weiteren Naturschutzbelangen – erklären lassen mit einer alltagsweltlichen Auffassung und Wertschätzung, die sich an der theoretischen orientiert. Dieser Vermutung gehe ich im Folgenden nach und fasse dabei den genannten alltagsweltlichen Zugang zu Wildnis als Ökosystem in diesem Schritt unter ›Naturkunde‹211 zusammen. Die alltagsweltliche, populär-naturwissenschaftliche Naturauffassung (Naturkunde) typisiere ich für den Kontext Wildnis im Folgenden in Abgrenzung zu einem tatsächlich naturwissenschaftlich-theoretischen Raumverständnis, das am Anfang dieses Kapitels dargestellt wurde. Naturkundliches Interesse am besonderen, einzelnen Naturding Naturkundliches Wissen zeichnet sich als vorwiegend deskriptiv und auf das Besondere gerichtet aus. Im Gegensatz zu einer theoretischen Naturwissenschaft, deren Ideal das Ziel ist, generalisierend allgemeine, falsifizierbare Gesetzeshypothesen aufzustellen und sie mit Experimenten unter Laborbedingungen zu überprüfen, möchte der idealtypische Naturkundler Kenntnisse über einzelne lebende und nicht lebende Naturdinge, über die Umwelt von Lebewesen und über Interaktionen und Abhängigkeiten sammeln.212 Er ordnet seine konkreten alltagsweltlichen Beobachtungen in anschaulichen Klassifikationssystemen (beispielsweise das auf der Morphologie der Arten beruhende). Er versucht im Allgemeinen nicht zu prognostizieren, sondern allenfalls bereits geschehene Ereig210 Vgl. beispielsweise Planken & Schurig 2000: 194 f.; Eickhoff 2002: 1050; Höchtl & Burkart 2002: 225; Flüeler et al. 2004: 104 ff.; Girtler 2007: 86; Schuster 2010: 37 f.; Trepl 2010: 9; von Lüpke 2010: 14; Kalas 2011: 71; Metscher 2011: 63; Scherzinger 2011: 20; Rasper 2013: 47; Langenhorst 2014: 59; Reppin & Mengel 2015: 108 f. 211 Damit lehne ich mich an Ludwig Trepls typisierende Abgrenzung der Naturkunde (Naturgeschichte) von den exakten Naturwissenschaften an, die er als einen wichtigen Aspekt in der Geschichte der Ökologie darstellt (Trepl 1994: 28, 42 f.; vgl. Hard 1982/2003: 207; Hard 1985/2003: 241). 212 Vgl. Trepl 1994: 26. – Die Unterscheidung wird anschaulich, wenn man sich »den Habitus des in Frage stehenden Forschertypus« vergegenwärtigt: den des Naturkundlers »mit Schmetterlingsnetz und Botanisiertrommel«, den des Vertreters der hard science »am Protonenbeschleuniger« (ebd.: 28; vgl. Kastenhofer 2004: 102).

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nisse kausal zu erklären – und zwar in dem Sinne, dass eine gemeinhin verständliche ›Geschichte‹ dazu erzählt wird.213 Phänomene und Ereignisse faszinieren ihn zudem speziell in ihrer Einmaligkeit und als Ausnahme von der Regel, nicht als durch andere ersetzbare Repräsentanten allgemeiner Gesetze. Naturwissenschaftlich-theoretische Ansätze suchen hingegen im Allgemeinen abstrakt die Übereinstimmungen unter den vielen Fällen und identifizieren die jeweiligen konkreten Umstände als ›Randbedingungen‹.214 Naturkunde ist dabei nicht getrennt vom Stand der theoretischen Wissenschaften, aber sie konsumiert nur Theorie, während Naturwissenschaft in analytischer, exakter Arbeitsweise Theorie produziert.215 Der hier beschriebene Typ des Naturkundlers wird heute besonders von naturinteressierten Amateuren repräsentiert. Sein Blick auf die Natur ist ein alltagsweltlicher, der mithilfe anschaulicher Vorstellungen und Allgemeinbildung Erfahrungen ordnet. Naturkunde ist dabei im Wesentlichen ›folk science‹, das heißt sie erklärt Naturphänomene aus der lebensweltlichen Sicht allgemein verständlich.216 In die Naturkunde sind Erklärungen aus den theoretischen Naturwissenschaften wenn überhaupt, dann in so umgedeuteter und an das Alltagsdenken angepasster Form integriert, dass sie alltagsverwertbar sind. Im aktuellen Wildnisdiskurs sind derartige auf das Besondere gerichtete naturkundliche Beschreibungen in großem Umfang zu finden – zum einen in Texten, zum anderen in Bildern und zugehörigen Beschreibungen. Dabei wird versucht, Wildnis naturkundlich zu erklären: Beispielswiese erläutern die Pädagogin Birgit Planken und der Biologe Volker Schurig autökologische Lebens- und Ernährungsmerkmale des Bartgeiers, seine »weit über Nationalparkgrenzen hinaus213 Vgl. Trepl 1994: 48 f.: 216. 214 Vgl. ebd.: 51. – Die »Expertenphysik« widerspricht »der Alltagsphysik« »bis zur völligen Verfremdung und Neukonstruktion aufgrund von alltagsweltlichen gänzlich unbekannten und unverständlichen Prinzipien und Beobachtungen« (Hard 1982/2003: 212). 215 Trepl 1994: 47. 216 Vgl. Kapitel 3.3; Hard 1982/2003: 174 f., 204, 218. – Dass das naturkundliche Wissen bei der Entstehung der Naturwissenschaft Ökologie eine wichtige Rolle spielt, zeigt Ludwig Trepl in seiner ›Geschichte der Ökologie‹ (Trepl 1994: 103 f.). Wie in Kapitel 3.3.2 dargestellt, unterscheidet Gerhard Hard bei seiner Analyse der Geografie die wissenschaftshistorisch (und bis heute) wichtige alltagsrelevante ›folk science‹ von einer ›popularisierten Wissenschaft‹. Letztere trete mit dem Anspruch auf, schwierige Theorien in leicht eingängigen Bildern und Geschichten zu vermitteln, begebe sich damit aber in die Gefahr, nur ein »Märchen für Laien« zu sein (Hard 1982/2003: 206 ff.).

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reichende Territorien und die besondere, auf Aas und Knochen spezialisierte Lebensweise«217. Bis hierhin ist dies durchaus eine naturwissenschaftliche Beschreibung. Jedoch schließen die Autoren daraus, dass die Art »ein guter ökologischer Indikator« für »die langsame Rückkehr von Wildnis im Alpenraum« sei.218 Der Bartgeier dient als Anzeichen für die Alltagserfahrung eines Naturraumes, der sich bei abnehmender Nutzungsintensität entwickelt. Alexander Bittner, Referent für Umweltbildung bei der Deutschen Bundesstiftung Umwelt, beschreibt als wichtiges Charakteristikum für die Entwicklung eines Wildnisgebietes seine raum-zeitliche Dynamik. Diese kann beim Durchwandern eines solchen Gebietes durchaus von jedermann wahrgenommen werden. Bittner führt jedoch zur Erklärung die ökologische Theorie des »zufallsbeeinflussten multivariablen Sukzessionsmosaik« an und begründet damit zudem eine zu erwartende hohe Artenvielfalt in der Wildnis.219 Hier geht die Erklärung über allgemeine Alltagserfahrung und Alltagsrelevanz hinaus und begibt sich ins Feld der ›popularisierten Wissenschaft‹, in der theoretisch-naturwissenschaftliche Erklärungen vereinfacht und dabei meist verkürzt werden. Gerhard Trommer, der als einer der Vorreiter für ›Wildnispädagogik‹ gilt, charakterisiert im folgenden Zitat lebensweltlich-deskriptiv den Wald am Bruchberg im Nationalpark Harz: »Durch die Massenentwicklung des Borkenkäfers und durch Bäume entwurzelnde Stürme nahmen Tot- und Faulholz zu. […] Grau verwittert stehen tote Baumstümpfe noch, während rotfaules, liegendes Stammholz vielfach schon von kleinen Fichten, die darauf keimten, zugewachsen wird […]. Der Wald verjüngt sich. Reitgras, Pilze, Moose, Blaubeersträucher und andere wildtypische Arten wachsen dazwischen. Ein buntes Durcheinander bietet sich mir dar, wirkt wie ein gemusterter Flickenteppich. […] Berechenbar ist hier kein herausgerissener Wurzelteller oder das im Faulholz entstandene Moospolster […]. Wer weiß schon, auf welchem Baum mit abgestorbenem Ast die Wacholderdrossel rastet, ob sie dann den gefressenen Samen einer Eberesche oder Blaubeere ausscheidet und ob der dann dort, wo er hinfällt, geeignete Umweltbedingungen zum Keimen und Wachsen hat. Ich sehe einen Buchfinken und höre einen Kolkraben.«220

In dieser naturkundlichen Schilderung ist auch eine explizite Absage enthalten an das naturwissenschaftlich-theoretische Streben, die Natur an diesem bestimmten Ort mit allgemeinen Gesetzen erklären und ihre weitere Entwicklung pro217 Planken & Schurig 2000: 222. 218 Ebd. 219 Bittner 2014: 106 f. 220 Trommer 2012: 82 f.

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gnostizieren zu wollen. Denn es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich ein »buntes Durcheinander« zeige, in dem nichts »berechenbar« sei, sondern nur beschrieben werden kann, was aktuell zu sehen und zu hören ist.221 Die naturkundliche Auffassung zeigt sich auch in bestimmten Fotomotiven, die regelmäßig in Naturschutzveröffentlichungen als Illustration zu Wildnis ausgewählt werden: Nahaufnahmen einzelner Pflanzen oder Tiere, die in Kontext von ›Wildnis‹ gestellt werden. Beispielsweise dient das Foto in Abbildung 15 als Illustration in der Veröffentlichung ›Wildnis in Schleswig-Holstein‹ des Landesamtes für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume des Landes Schleswig-Holstein. Dort ist es unterschrieben mit: »Der Rundblättrige Sonnentau und Wollgräser wachsen auf den Torfmoosen, welche das Niederschlagswasser halten und neues Hochmoorwachstum begründen.«222

Abbildung 15: Die Nahaufnahme eine Hochmoorvegetation dient mit naturkundlicher Erläuterung der Darstellung von ›Wildnis in Schleswig-Holstein‹

Quelle: Thiessen 2011, Foto: © Henning Thiessen

In naturkundlicher Faszination wird mit einem Fokus vor allem auf die einmalige Lebensstrategie und Ernährungsweise des Sonnentaus und der Torfmoose die 221 Zitate aus Ebd. 222 Thiessen 2011: 34.

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Hochmoorbildung erklärt. Moore, die sich wieder ungestört entwickeln können, werden hier »sekundäre Wildnisse« genannt.223 Das Bild einer Flechte aus der Fotosammlung des Projekts ›Wildniskommunikation in Deutschland‹ (Abbildung 16) kann ihn ähnlicher Weise interpretiert werden: Mit einer fotografisch anspruchsvollen Makroaufnahme wird die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das Erscheinungsbild der Flechte gelenkt. Diese fasziniert durch ihre Oberfläche, Farbe und Form, was das naturkundliche Interesse an der naturwissenschaftlichen Erklärung dieser Lebensgemeinschaft wecken kann. Die Bildunterschrift ›Wildnis darf wieder wachsen‹ mit Hinweis auf den Nationalpark Bayerischer Wald und der im Bild eingedruckte Text ›Wildnis in Deutschland‹ ruft beim Betrachter möglicherweise weitergehende Fragen nach den Besonderheiten bezüglich Lebensraumansprüchen und Vorkommen sowie nach dem naturschutzfachlichen Status dieser Flechten hervor. Abbildung 16: Makroaufnahme einer Flechte aus der Fotosammlung des Projektes ›Wildniskommunikation in Deutschland‹ mit dem Fotonamen ›Lichens im Nationalpark Bayerischer Wald‹ und der Bildunterschrift ›Wildnis darf wieder wachsen‹

© wildnis-in-deutschland.de, Daniel Rosengren, ZGF

Altholz, auf dem Moos und Baumschwamm wachsen, wie in Abbildung 17, ist ein häufiges Motiv in Wildnisveröffentlichungen. Es repräsentiert vor allem eine naturkundliche Faszination zum einen am Kreislauf der Natur, bei dem vom abgestorbenen Baum andere Pflanzen leben, zum anderen an der ungewöhnlichen

223 Ebd.: 33.

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Wuchsform des Baumschwammes. Im abgebildeten Beispiel dient es als Titelblatt zu ›Wildnis in deutschen Nationalparks‹, einer Veröffentlichung von EUROPARC Deutschland e. V., dem Dachverband der ›Nationalen Naturlandschaften‹.224 In Wildnisgebieten, so lässt sich die Illustration, so wie sie in den Kontext gesetzt ist, interpretieren, können solche Objekte der Naturkunde gefunden werden. Abbildung 17: Altholz mit Baumschwamm als Titelblatt zu ›Wildnis in deutschen Nationalparks‹

Quelle: EUROPARC Deutschland 2010b, © EUROPARC Deutschland e. V.

Ökosystembegriff in der Naturkunde Ergänzend zur allgemeinen Erklärung der alltagsweltlichen Naturkunde mit ihrem Interesse am besonderen, einzelnen Naturding, ist im Folgenden der speziellen Frage nachzugehen, wie Ökosysteme, insbesondere Wildnis, als Ökosysteme naturkundlich begriffen werden. Naturkundliche Beschreibungen von Lebensgemeinschaften und ihrer abiotischen Umwelt haben typischerweise einen räumlichen, physiognomischen Ökosystembegriff. In empirisch-analytischen, an exakten Naturwissenschaften orientierten Auffassungen werden Ökosysteme 224 EUROPARC Deutschland 2010b.

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hingegen nach bestimmten, doch grundsätzlich frei wählbaren Forschungsinteressen abgegrenzt: »Der Ökologe bestimmt nach seinem Interesse die Auswahl der zum Ökosystem gehörenden Objekte und ihrer Relationen aus der unbestimmten Mannigfaltigkeit der Natur und synthetisiert das Ökosystem aus ihnen.«225

Zum Ökosystem gehört nicht unbedingt das, was räumlich nebeneinander liegt, sondern das, was unter einer bestimmten Fragestellung (hypothetisch) funktional – materiell, energetisch oder auch informatorisch – in Beziehung miteinander steht. Das Ökosystem ist demnach ein abstrakter, gedachter Gegenstand der Naturwissenschaft.226 Diese Erklärung entspricht Cassirers Theorie der theoretischnaturwissenschaftlichen Raumauffassung als eine symbolische Formung, bei der die Vorstellung der Gegenstände vom Betrachter und seiner Fragestellung und Zielsetzung konstituiert wird. Dem analytisch-theoretischen Ökosystembegriff entgegengesetzt ist der klassische holistische. Im Holismus wird »nach Verfahren und Begriffen« gesucht, die das von den experimentell-theoretischen Wissenschaften »zerstückelte Ganze« wiederherstellen.227 In diesem Sinne wird die Aufgabe, eine Biozönose und ihre Relationen zu ihrer Umwelt zu beschreiben, räumlich verstanden: Gegenstand der Untersuchung ist ein konkreter, zusammenhängender, räumlicher Ausschnitt der physischen Realität – eine anschauliche Einheit, beispielsweise eine Wiese – und die Beziehungen innerhalb dieses Ausschnitts. Das »räumlich Beieinanderliegende« erscheint als das »funktional Zusammengehörige«.228 Obschon über den analytisch-theoretischen und den holistischen Ökosystembegriff hinaus eine Vielzahl mehr oder weniger unterschiedlicher wissenschaftlicher Theorien darüber im Umlauf sind, was ein Ökosystem ist, 229 dürfte die plakative Gegenüberstellung beider Ökosystembegriffe genügen, um im Folgenden das naturkundliche Reden von Ökosystem zu verstehen. Der deskriptiven, auf das Besondere gerichteten Naturkunde ist der anschaulich-holistische Ökosystembegriff zugänglich. 230 Ein Ökosystem wird meist ver225 Kangler & Voigt 2010: 371; vgl. Tansley 1935: 289 f.; Trepl 1994: 181. 226 Vgl. Trepl 1994: 184 f. 227 Trepl 1994: 183. 228 Ebd., Hervorh. i. O.; vgl. ebd.: 181. 229 Vgl. Trepl 1994: 188 ff.; Trepl 2005: 491; Voigt 2009: 15. 230 Dass in der heutigen Naturkunde dieser Anschluss möglich ist, kann auch damit verstanden werden, dass es sich um den umgekehrten Weg zur historischen Entwicklung der Naturauffassungen handelt, bei dem naturwissenschaftlich-theoretische Er-

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einfachend umgedeutet als eine physiognomische Einheit – beispielsweise ›See‹, ›Orchideenwiese‹, ›Hochwald‹ –, die durch augenfällige physische Grenzen beziehungsweise bestimmte Arten oder Standorteigenschaften geprägt ist. 231 Der Begriff »Ökosystem« wird also »auf mehr oder weniger dieselben Gegenstände angewandt wie lebensweltliche Begriffe«.232 Dies ist im Naturschutz – dort ist Naturkunde heute besonders lebendig – typischerweise anzutreffen: Die räumlich-konkreten Naturausschnitte sind es, für deren Schutz vor Zerstörung oder Fehlentwicklung man eintritt. Diese konkreten Gebiete liegen einem letztlich auch ›am Herzen‹, das heißt, sie verbindet man mit Werten und Bedeutungen. Den Schutz theoretisch gewählter Funktionszusammenhänge – beispielsweise zwischen dem Phosphatgehalt des Litorals eines Sees, der das Vorkommen von Stechmückenlarven beeinflusst, und dem Grauschnäpper im Garten – einzufordern hingegen ist ohne lebensweltlich verständliche Erklärung wenig gesellschaftlich und politisch wirksam. Die Autorengruppe um Bernhard Kohler mit Vertretern des Vereins World Wide Fund for Nature (WWF) Österreich und der Österreichischen Bundesforsten beschreiben »Wildnisgebiete« als »Systeme«, in denen »möglichst viele Prozesse ungesteuert ablaufen« und die als Referenz für die Forschung dienen.233 Diese Systeme sind nicht als analytisch konstruiert gedacht, denn »in« ihnen können durch Einflüsse von außen – auch für den Beobachter – »›überraschende‹, ›unvorhersagbare‹ Ereignisse« auftreten.234 Dass Naturschutzvertreter über herkömmlich naturkundliche Benennungen der anschaulichen Einheiten als ›See‹ oder ›Hochwald‹ hinaus den Begriff ›Ökosystem‹ in den Vordergrund stellen, kann man als argumentative Strategie interpretieren. Man bedient sich des Nimbus‹ der Naturwissenschaften: Mit »Ökosystem« verweist man darauf, dass »man wisse, wie Natur funktioniert, was ihr kenntnisse wieder vereinfacht alltagsweltlich rezipiert werden. In der historischen Entwicklung hingegen ist das »Verhältnis der experimentellen (physikalischen, physiologischen) Wissenschaften zur Naturgeschichte [Naturkunde]« wie folgt zu beschreiben: Es »war, von jenen aus gesehen, [keine Konkurrenz, sondern] vielmehr eines der Vor- und Zuarbeit. […] In Wissenschaftsgeschichten […] tauchen konsequenterweise Ansätze, Forschungsprogramme und Disziplinen, die dem Typus der Naturgeschichte angehören, als ›vorparadigmatische Wissenschaften‹ oder vorparadigmatische ›Phasen‹ im Sinne der Kuhnschen Schematik auf« (Trepl 1994: 42: 216). 231 Vgl. Trepl 1994: 123. – Zur großen Bedeutung der physiognomischen Auffassung in der Entwicklung der Synökologie siehe ebd.: 123 ff. 232 Kangler & Voigt 2010: 376. 233 Kohler et al. 2012: 45. 234 Ebd.

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schadet und wie man sie mit technischen Mitteln retten kann.«235 Alexander Bittner beschreibt beispielsweise, bestimmte Personengruppen brächten »das Ökosystem Wald mit Wildnis in Verbindung«236. Mit ›Ökosystem‹ ist hier der konkrete, mit dem Alltagsblick wahrnehmbare Naturausschnitt gemeint, nicht das, was man in der Naturwissenschaft Ökologie darunter versteht. Die Auffassung von konkreten Naturausschnitten als Ökosysteme ist eine wesentliche Grundidee, mit der es möglich ist, ›ecosystem management‹ zu betreiben, Ökosystemdienstleistungen (›ecosystem services‹) zu bilanzieren und gegebenenfalls technisch zu optimieren.237 Als »Ökosystemdienstleistung von Wildnisgebieten« wird beispielsweise »CO2-Speicherung« genannt.238 Die alltagsweltliche argumentative Strategie, auf Naturwissenschaften zu verweisen, gelingt aber dann nicht mehr, wenn versucht wird, sich im Detail auf die naturwissenschaftlichen Ökosystemtheorien zu beziehen, denn diese sind kategorial unterschiedlich vom naturkundlichen Erfassen der Natur. Dies erläutert Trepl folgendermaßen: »Lebensweltliches Wissen ist kontextgebunden und nur präzise, solange der Kontext nicht verlassen wird. Kontext bedeutet hier vor allem die Präsenz eines lebensweltlichen Hintergrundwissens, von dem die jeweilige Aussage sich nicht ablösen läßt und mit der sich der Sinn jeder Aussage verschiebt. In diesem Kontext besitzt es nicht nur eine oft wissenschaftlich kaum einholbare Präzision, sondern auch einen noch weniger einholbaren Reichtum.«239

Beispielsweise zeigt Alexander Bittner, dass Jugendliche Wildnis oft als räumlich abgegrenztes Ökosystem beschreiben, die allerdings einen invariablen oder sogar schrumpfenden Umfang hat. Für den Autor steht dies in Diskrepanz zu »aktuellen wissenschaftlichen Sichtweisen«, in denen von einer »Entwicklungsfähigkeit von Wildnis« ausgegangen werde und die auf den »dynamische[n] natürliche[n] Wachstums- und Konkurrenzprozesse[n]« in den Wildnis-Ökosys-

235 Kangler & Voigt 2010: 376. – Ebenso als argumentativer Verweis auf die Kenntnis davon, wie Natur funktioniert, ist die Gleichsetzung des alltagsweltlichen Wortes ›Verwilderung‹ mit dem naturwissenschaftlichen Begriff der Sukzession zu sehen: »Im Wesentlichen können sich daher Wildnisgebiete nur durch Verwilderung, also durch Sukzession regenerieren oder sich neu entwickeln« (Trommer 2011: 17). 236 Bittner 2014: 112. 237 Vgl. Voigt 2009: 14; Kangler & Voigt 2010: 376; Jessel et al. 2009: 137 ff. 238 Kohler et al. 2012: 47. 239 Trepl 1994: 59.

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temen beruhe.240 Dieser Widerspruch kommt zustande, da das konkrete abgegrenzte Gebiet Wildnis, das die Jugendlichen beschreiben, mit Theorien zu Ökosystemen als offene Funktionskomplexe verknüpft wird. Diese unterschiedlichen Vorstellungen passen in dieser vereinfachten Form der naturwissenschaftlichen Erklärung jedoch nicht ohne Weiteres zusammen. Gegenüber der analytischen Ökologie – ihrem Anspruch und ihrer Zielsetzung nach eine Naturwissenschaft – zeigt sich beim naturkundlichen Ökosystemverständnis, dass es im Wesentlichen aus veralteten wissenschaftlichen Erklärungen besteht, die vereinfacht in den als ›folk science‹ beschreibbaren Teilen der Ökologie (das heißt bestimmten Diskurssträngen und Gruppen von Biologie und Geografie und in deren Anwendungsfeld Naturschutz) weiterleben.241 Dabei kann das naturkundliche Ökosystemverständnis, auch wenn es nicht dem aktuellen naturwissenschaftlichen Stand entspricht, im alltäglichen Kontext durchaus nützlich sein. Denn eine »[…] Erklärung im Alltagsparadigma« ist möglicherweise »viel direkter am alltäglichen Herstellen, Handhaben, Funktionieren und Funktionieren-machen orientiert und deshalb in eben diesen Alltagsumwelten vielfach unmittelbar nützlich und gebrauchsfähig«242.

Ein solches Weiterführen anschaulicher, vergleichsweise einfacher Darstellung lässt sich als typisch für außerwissenschaftliche Bedürfnisse, Fragen und »Forschungsprinzipien« identifizieren.243 Verbindung von naturkundlichen Betrachtungen mit wertenden Beurteilungen Bisher haben wir gesehen, dass der Naturkundler den Anspruch hat, rationalkausale Erklärungen und anschauliche Systematisierungen für einzelne Phänomene und Zusammenhänge zu finden. Einen damit oft verbundenen Aspekt werde ich im Folgenden kurz beleuchten: den der – oft unbewussten – wertenden Beurteilung. Dass jemand das individuelle Verhalten des Bibers am Fluss hinter seinem Garten beobachtet und zu verstehen versucht, ist möglicherweise geprägt 240 Bittner 2014: 111. 241 Vgl. Hard 1985/2003: 238. 242 Hard 1982/2003: 215. 243 Ebd.: 212. – Mit Hards Erläuterung zu unterschiedlichen Arten der »Verwissenschaftlichung« könnte man auch soweit gehen: Die Naturkunde ist eine Integration wissenschaftlicher Erfahrung in die Alltagswelt, die sich sogar einem wissenschaftlichen Ersatz alltagsweltlich-lebensweltlicher Erfahrungen entgegensetzt (vgl. ebd.: 217).

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von einer Begeisterung für die Lebensweise dieses Tieres oder von einer Verärgerung über dessen Übergriff in den Garten, jedenfalls von einer Bewertung. Dieser wertende Aspekt in der naturkundlichen Auffassung ist aufgrund ihrer Entstehung im alltagsweltlichen Denken verständlich. Er ist jedoch ein kategorialer Gegensatz zum Ideal der naturwissenschaftlich-theoretischen Form, die prinzipiell wertneutral ist. Wertungen spielen bei der Naturkunde in zwei unterschiedlichen Momenten eine wichtige Rolle: zum einen bei der Motivation für die naturkundliche Betrachtung, zum anderen beim weiterführenden Anstreben von Schutzzielen. Diese beiden Momente führe ich im Folgenden kurz aus. Wertungen sind zum einen bei den Beweggründen für die naturkundliche Beschäftigung anzutreffen, vor allem bei der Faszination an besonderen Naturphänomenen. Dies wird beispielsweise deutlich, wenn Wolfgang Scherzinger, der lange Jahre als Zoologe bei der Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald tätig war, die »Entwicklung von ›Wildnis‹« als »in jedem Fall tiefgreifend« faszinierend beschreibt, da die »Einpassung der Organismen in das komplexe Raum-Zeit-Gefüge naturgegebener Abläufe vor Ort« bewundernswert sei.244 Die Organismen und ihr Verhalten werden hier nicht wertneutral aufgrund bestimmter wissenschaftlicher Fragestellungen analysiert, sondern aus Faszination und Bewunderung. Zum anderen ist die Wertsetzung essenzielles Element eines Naturschutzes, der sich naturkundlich wesentlich auf ›popularisierte Wissenschaft‹ bezieht. Die bloße Beschreibung oder Analyse von Naturzuständen, um ein Schutzziel formulieren zu können, muss immer einer Bewertung unterzogen werden. Erst dann kann ein Naturzustand geschützt, das heißt der eine Zustand anderen vorgezogen werden. Wildnis wird häufig nicht nur als Ökosystem beschrieben, sondern als »intaktes Ökosystem« 245 oder als »eigentliche«246 oder »echte«247 Natur bewertet. Dies kann soweit gehen, dass »Wildnis« deshalb »ökologisch« als »äußerst wertvoll« eingeschätzt wird, weil sie »als Folge der globalen Naturzerstörung« für die Erhaltung der »Biosphäre aus ökologischer Sicht unentbehrlich« sei.248

244 Scherzinger 2011: 23. 245 Rink 2009: 285; EUROPARC Deutschland 2010a: 17; Delgado 2014: 1; vgl. Schwab et al. 2012: 97; Düchs 2014: 39. 246 Planken & Schurig 2000: 202; Obermeier 2012: 20. 247 Ebd. 248 Planken & Schurig 2000: 219.

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Funktion der Naturkunde in der allgemeinen, nicht-wissenschaftlichen Bildung Meine Analyse zeigt bislang, dass einige Gesichtspunkte des Diskurses um Wildnis als ›Ökosystem-Wildnis‹ mit der alltagsweltlichen Naturkunde verstanden werden können. Abschließend betrachte ich, welche Funktion die allgemeine, nicht-wissenschaftliche Bildung dabei hat. Naturkunde ist ein wichtiges Element der allgemeinen, nicht-wissenschaftlichen Schul- und Erwachsenenbildung,249 in der Gegenstände für bestimmte Zielgruppen ausgewählt und aufbereitet werden. Ganz im Sinne einer ›folk science‹ werden in der Naturkunde alltagsweltliche Fragen und Erfahrungen »laienverständlich und alltagsbrauchbar«250 erklärt. Die Naturkunde in der allgemeinen Bildung kann auch in eine ›popularisierte Wissenschaft‹ hineingeraten, in der szientifische, nicht alltagsweltliche Gegenstände vereinfacht, letztlich wissenschaftlich nur ungefähr und nicht alltagsrelevant dargelegt werden. Gerade die Nationalparke sollen nach dem Bundesnaturschutzgesetz ausdrücklich der »naturkundlichen Bildung« (§ 24 Abs. 2 BNatSchG) dienen.251 Dabei hat neben der ›Umweltpädagogik‹ auch speziell die ›Wildnispädagogik‹ und ›Wildnisbildung‹ einen hohen Stellenwert.252 Die Besucher von Nationalparken und anderen mit Besucherzentren, Lehrpfaden oder Exkursionsangeboten ausgestatteten Gebieten sollen Natur nicht nur emotional erleben, sondern werden angeleitet, Natur durch unmittelbare Beobachtung zu studieren und Kenntnisse über Lebensgemeinschaften und ihre Umwelt in dem betreffenden Gebiet zu erwerben. »Wildnisbildung soll«, so auch ein Grundsatzpapier des Bund Naturschutz e. V. zu Bildungsarbeit in Nationalparken, nicht nur emotional »das Ursprüngliche vermitteln«, sondern auch »die dy-

249 Vgl. Hard 1982/2003: 207; Trepl 1994: 43. – Gemeint ist die naturkundliche Bildung, die früher vor allem in Naturkundevereine, Naturkundemuseen und dem allgemeinbildenden Unterricht der Volkshochschulen, heute eher in Fernsehfilmen etc. vermittelt wird. 250 Hard 1985/2003: 241; vgl. Kapitel 3.3.2. 251 Vgl. Roth 2009: 5 f.; EUROPARC Deutschland 2010b: 1 f.; Mayrhofer 2011a: 12; Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit & Bundesamt für Naturschutz 2014: 33; von Ruschkowski 2014: 135. 252 Trommer 1992; Trommer 2001: 8 ff.; Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. 2002: 9 ff.; Vössing & Pötter 2005: 25 ff.; Bauer 2005: 150; EUROPARC Deutschland 2010b: 2; Lieckfeld 2012: 56; Trommer 2012: 151 ff.; Fesq-Martin 2013: 26; Langenhorst et al. 2014: 8; Trommer 2014: 54; Rosenthal et al. 2015: 149. – Eine aktuelle, kritische Übersicht über die aktuellen Strömungen der ›Wildnispädagogik‹ in Großschutzgebieten gibt beispielsweise Langenhorst (2014).

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namischen Prozesse der Evolution verständlich machen«.253 Oft ist beabsichtigt, dass als Konsequenz dieser Wissensvermittlung auch die Bewertungen, mit denen die Unterschutzstellung des jeweiligen Gebietes begründet wird, – beispielsweise die Wertschätzung von Wildnis – nachvollzogen werden können. In den »Naturlandschaften Brandenburgs« etwa soll der Besucher »lernen und begreifen, wie faszinierend und vielfältig Natur sein kann, die nicht von Menschen gestaltet und geformt wurde«.254 Man strebt nicht zuletzt an, dass eine intellektuelle Vertrautheit mit der Natur eines Gebietes Akzeptanz für das dort verfolgte Naturschutzkonzept Wildnis stiften soll.255 Das erklärte Ziel des Oberösterreichischen Nationalparks Kalkalpen, unter anderem mit naturkundlichen Exkursionen die »Naturverbundenheit der Menschen zu stärken«256, ist dafür ein Beispiel. Teilweise geht dieses Argument der Akzeptanzförderung für Wildnisgebiete durch naturkundliches Verstehen soweit, dass letztlich das Empfinden von Sicherheit gegenüber diesem Gebiet entstehen solle.257 Das allerdings ist im Grunde ein Paradoxon, denn Wildnis fasziniert ja gerade durch ihre Unkontrollierbarkeit, Fremdheit etc. Ein Gebiet verliert für den Betrachter diese zentralen Eigenschaften, wenn er es sich gänzlich und nur durch Naturkunde erschließt. 258 Auf diesen besonderen Charakter der Wildnisidee komme ich gleich noch einmal zurück. Zunächst einmal ist festzuhalten: Die nahtlose Anschlussfähigkeit der Naturschutzziele an Bildung und Pädagogik ist ein Beleg mehr für die Bedeutung der alltagsweltlichen Naturkunde im Naturschutz. Empirisch-analytische Naturwissenschaft – eine theoretische Raumformung im Sinne Cassirers – ist im Ge253 Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. 2002: 9; vgl. Reppin & Mengel 2015: 106 f. 254 Mader 2011: 15. 255 Braun & Anetsberger 2012: 1; Langenhorst 2014: 74. 256 Mayrhofer 2011a: 12. 257 Vgl. Stoll 1999; Diemer 2014: 127; Fokken 2014: 264. – Die Kulturhistorikerin Helga Dirlinger stellt diesen bemerkenswerten Zusammenhang für die historische Entstehung des bildungsbürgerlichen Studiums der Natur allgemein fest: »Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Natur ließ Sicherheit und Vertrautheit im Umgang mit dieser entstehen. Der wissenschaftliche Blick erlaubte, in dem, was auf den ersten Blick unfaßbar und regellos erschien, Strukturen, Formationen und Ordnungen zu erkennen, und ermöglichte so, das Unbekannte begrifflich zu fassen und begreifbar zu machen. Auch Goethe formulierte dieses sicherheitsstiftende Element der Wissenschaft in Bezug auf seine Erfahrungen in der Schweiz« (Dirlinger 2000: 125). 258 Vgl. beispielsweise Planken & Schurig 2000: 217; Langenhorst et al. 2014: 7 f.; Trommer 2014: 50.

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gensatz zur allgemein verständlichen Naturkunde Expertenwissen, das mit lebensweltlicher Erfahrung gemeinhin nicht zugänglich ist oder ihr sogar widerspricht. Zusammenfassung zur Naturkunde Zusammenfassend ist zu erkennen, dass sich mit Naturkunde einige Argumentationen beim Reden über Wildnis als Ökosystem im Praxisfeld Naturschutz verstehen lassen, die, fasste man sie als naturwissenschaftlich-theoretische Analysen auf, widersprüchlich oder unsystematisch wären. Damit ist jedoch noch nicht hinreichend verständlich gemacht, was mit ›Ökosystem-Wildnis‹ oder Wildnis als Ökosystem genau gemeint sein könnte. Wenn ein Wald räumlich-physiognomisch als Ökosystem beschrieben wird und man auf die faszinierenden ›dynamischen Prozesse‹ und dabei auf das Verhalten einzelner Arten (etwa den Bartgeier im Nationalpark) aufmerksam macht, wird das zwar mitunter als eine Wildnisbeschreibung bezeichnet. Letztlich kann in dieser Naturkunde über Lebewesen und ihre Umwelt das Wort ›Wildnis‹ aber gleichbedeutend mit ›Natur‹ oder auch ›Gebiet‹ ausgetauscht werden. Denn unzugänglich bleiben dem alltagsweltlichen naturkundlichen Verständnis (ebenso wie den Naturwissenschaften, wie zu in Kapitel 4.3.1 dargestellt) die kulturellen Bedeutungen, die den Begriff ›Wildnis‹ wesentlich ausmachen, wie unbeeinflusst, unkontrollierbar, unheimlich, erhaben, frei etc.259 Mit der Identifikation von Naturkunde in den Naturschutzdiskussionen sind wir der Klärung des Begriffs ›Ökosystem-Wildnis‹ dennoch einen entscheidenden Schritt näher gekommen: Aufgrund der Eigenschaften von Naturkunde, durch Anschaulichkeit und durch den Blick auf das Besondere geprägt zu sein und im alltagsweltlichen Kontext zu bestehen, ist es prinzipiell möglich, sie mit anderen Formen der lebensweltlichen Natur- und Raumauffassungen zu verknüpfen. Dies wäre bei den exakt-analytischen Naturwissenschaften hingegen nicht denkbar. Auf die Erklärung der Vorstellung ›Ökosystem-Wildnis‹ als Verknüpfung unterschiedlicher Formungen gehe ich im folgenden Schritt 4 ein. 4.3.4 Schritt 4: ›Ökosystem-Wildnis‹ als alltagsweltliche Verknüpfung mehrerer Cassirer’scher Raumformungen Die Stiftung Naturlandschaften Brandenburg nutzt, so wird von ihren Vertretern dargestellt, auf drei ehemaligen Truppenübungsplätzen »die einmalige Chance, natürliche Dynamik in großen zusammenhängenden Wildnisgebieten zuzulas-

259 Vgl. Dierßen 2003: 40; Schuster 2010: 37 f.; Trepl 2010: 9; Langenhorst 2014: 59.

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sen.«260 Die Flächen, auf denen »natürliche Prozesse eigendynamisch und ohne lenkende Eingriffe« ablaufen sollen, seien »wichtige Trittsteine für einen bundesweiten Biotopverbund« und trügen dazu bei, die »Ziele der nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt« zu erfüllen.261 Gleichzeitig werden nach dem Selbstverständnis der Stiftung »faszinierende Landschaften in Teilbereichen erlebbar« gemacht und »die Schönheit der Wildnis« der Öffentlichkeit gezeigt – unter anderem in geführten Exkursionen und mit Wanderwegen. 262 Abbildung 18: Faszinierende, offene Fläche im ›Wildnisgebiet Heidehof‹

© Stiftung Naturlandschaften Brandenburg, Foto: Andreas Schulze

Mit den erwarteten Funktionen im Biotopverbund und bezüglich der Biodiversität werden naturschutzfachliche und naturschutzpolitische Aspekte beschrieben. Die Gebiete erscheinen dabei nicht unkontrollierbar, unheimlich oder erhaben etc., sondern mit dem Verweis auf ihre naturwissenschaftlich-ökologische Funktionen vielmehr umfassend erklärbar. Eine Bedeutung als Wildnis ergibt sich aus diesem Teil der Charakterisierung der Natur nicht. Diese tritt vielmehr hinzu, wenn die Ästhetik der Gebiete zur Sprache kommt: Auf den ehemaligen Truppenübungsplätzen, die keiner Nutzung mehr unterliegen, kann man besondere Landschaften erblicken, die den Betrachter offenbar wegen ihres ungewöhnli260 Niebrügge & Wilczek 2011: 8. 261 Ebd. 262 Ebd.

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chen, wilden Charakters einnehmen. Beim Durchwandern könnten, so wird beschrieben, »faszinierende« Räume erlebt werden.263 Diese Räume werden von der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg – unter anderem auf ihrer Internetseite264 – in zahlreichen Fotos dargestellt, beispielsweise das ›Wildnisgebiet Heidehof‹ (Abbildung 18). Diese Räume wirken auf den Betrachter je nach Perspektive eigendynamisch und frei oder auch unbeeinflussbar und unheimlich-anziehend. Der in der Darstellung der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg zu bemerkende unmittelbare Anschluss von Biotopverbund und biologischer Vielfalt an eine Schönheit (Ästhetik) der Wildnis ist nur deshalb unproblematisch, weil die gesamte Argumentation und Darstellung sich in einem alltagsweltlichen Verständnis vollzieht und keine theoretische Auffassung im eigentlichen Sinne enthält. In der Alltagswelt können die Erklärungen der ›folk science‹ zu außergewöhnlichen Tieren, Pflanzen, Lebensräumen etc. der ehemaligen Truppenübungsplätze und ihren überregionalen Bedeutungen einerseits, mit den Sinngehalten eines ästhetischen Erlebens von urtümlich, ungebändigt oder wirr anmutenden Landschaftsbildern andererseits verknüpft werden. Sowohl naturkundlich entdeckte Besonderheiten, als auch sinnlich-ästhetisch wahrgenommene Besonderheiten können Elemente einer Wertsetzung in der gesellschaftlichen Naturschutzbegründung sein, was in einer rein naturwissenschaftlich-theoretischen Beschreibung nicht möglich wäre. Wenn von natürlich ablaufenden Prozessen gesprochen wird,265 die in Wildnisgebieten zu ermöglichen, beziehungsweise zu schützen seien, wird der Anspruch, in den Naturschutz aktuelle ökologisch-naturwissenschaftliche Theorien einzubeziehen, in den Vordergrund gestellt: Die abiotische und biotische Natur soll sich unter dem Mandat des ›Prozessschutzes‹ weitgehend unbeeinflusst von Eingriffen, Nutzungen und Pflegemaßnahmen entwickeln. Dabei würden in sich selbst regulierenden Ökosystemen evolutionäre Prozesse ermöglicht, 266 die nicht zuletzt für die »Bewahrung der Biodiversität«267 entscheidend seien. Dies allerdings ist naturwissenschaftlich nicht haltbar, denn zum einen finden evolutive Vorgänge immer statt, auch bei Nutzungen oder lenkenden Maßnahmen, 268 zum anderen sind in den exakten Naturwissenschaften Ökosysteme nicht räumlich263 Ebd. 264 Meckelmann 2017. 265 Siehe Kapitel 4.3.2. 266 Vgl. Höchtl & Burkart 2002: 227; EUROPARC Deutschland 2010a: 20; Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. 2012: 24. 267 Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. 2012: 24. 268 Ott 2004: 307.

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physiognomisch fest abgegrenzte Gebiete, sondern je nach Fragestellung funktionale Beziehungsgeflechte. Für naturkundliche, alltagswissenschaftliche Auffassungen ist es jedoch typisch, Ökosysteme anschaulich als räumliche Einheiten von Lebensgemeinschaften und ihrer Umwelt zu beschreiben. 269 Ungeachtet dieser Einwände aus naturwissenschaftlich-theoretischer Sicht werden hier alltagsweltlich unregulierte, eigendynamische Gebiete gegenüber genutzten als wertvoller eingeschätzt. Naturkundliche Aufmerksamkeit genießen diese Gebiete vor allem, weil sie mit ihren seltenen Arten (Seeadler, Fischotter, Wolf) und ihrer Naturentwicklung auf ehemalig genutzten Sandflächen als außergewöhnlich, als Ausnahmen von der Regel erscheinen.270 Diese Einschätzung als wertvoll ist jedoch im Wesentlichen konnotiert mit der Charakterisierung als Wildnis. Außergewöhnliche Eigenschaften der Gebiete, ihre ungewöhnlichen baumfreien Flächen, ihre verwirrende, unerschlossene Größe oder ihre zuweilen unheimlich wirkenden, ehemals militärisch genutzten und jetzt langsam verbuschenden Zonen sind Anlass für das emotionale Erleben als Wildnis und für die sinnliche Wahrnehmung faszinierender Bilder (vgl Abbildung 19). Abbildung 19: Sinnlich ansprechende Heideblüte in ›Wildnisgebiet Jüterbog‹

© Stiftung Naturlandschaften Brandenburg, Foto: Andreas Hauffe

Die beschriebene Verknüpfung von Wildnis mit dem Verweis auf evolutionäre Prozesse in sich selbst regulierenden Ökosystemen ist innerhalb der naturkundli-

269 Vgl. Kapitel 4.3.3. 270 Vgl. Schumacher 2011: 37.

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chen und sonstigen alltagsweltlichen Argumentation nicht nur möglich, sondern man kann sie als naheliegend bezeichnen. Denn unter ihr wird alles zusammengefasst, was derartige Gebiete für den Alltagsmenschen bemerkenswert und attraktiv macht. Damit wird verständlich, wie es auch zu extrem verkürzenden Verknüpfungen von naturkundlicher Beschreibung und Wildnisbedeutung kommen kann. Die »Faszination von ›Wildnis‹«271 bestehe darin, so schreibt etwa der ehemalige Mitarbeiter der Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald, Wolfgang Scherzinger, dass es sich bei diesen Gebieten um eigendynamische Ökosysteme handle, in denen »[…] alle Organismen und Standortsfaktoren (inklusive Höhenlage, Exposition und Geschichte eines Gebiets) sowie äußere Einwirkungen (z. B. Sturm, Dürre, Feuer, Hochwasser – als exogene Störgrößen) bei der Ausformung der Artenausstattung, der Strukturen und der Entwicklungs-Dynamik mitwirken« könnten.272

Auf den Punkt gebracht wird die Verknüpfung unterschiedlicher Auffassungen in einer Veröffentlichung der Stiftung Wildpark Zürich: Der Sihlwald »verwildert« danach durch den »Schutz der natürlichen Prozesse« und entwickle sich dadurch »in seinem eigenen Rhythmus zurück zu einem Urwald«.273 Neben der Verbindung von naturkundlicher Erfassung mit dem kulturellen Begriff der Verwilderung klingt hier eine weitere Bedeutungsdimension von Wildnis an: In dem Gebiet laufen Prozesse ab, die von uns nicht beeinflussbar, eigendynamisch sind und als urtümlich-naturhaft erlebt werden können.274 Dies erinnert an Eigenschaften einer äußeren mythischen Macht, die uns unmittelbar emotional beeindrucken und möglicherweise rätselhaft erscheinen. Wenn langfristige Lebenszyklen der Lebensgemeinschaften und ihrer Umwelt in einem Wildnisgebiet beschrieben werden, wird typischerweise nicht nur naturkundlich auf die Selbstregulationsmechanismen in den ›Ökosystemen‹ hingewiesen, sondern zudem auf kulturelle Ganzheitsvorstellungen und Sinnsetzungen. So sollen sich für Kinder, die »ihr individuelles Heranwachsen im Vergleich mit den Lebenszyklen und Entwicklungsprozessen der Nationalparkorganismen erleben«, daraus »tiefe

271 Scherzinger 2011: 20. 272 Ebd. 273 Stiftung Wildnispark Zürich 2009. 274 Dass ein zukünftiger Wald als Urwald bezeichnet wird, erscheint widersinnig. In gewisser Weise verständlich ist dies aus der oben genannten Interpretation, dass dabei der Wald als eigenständig, unbeeinflussbar und unkontrollierbar wahrgenommen wird – also mit Eigenschaften, die ursprünglichen Wäldern zugeschrieben werden.

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emotionale Bindungen ergeben«.275 Hier wird im Sinne einer ›Wildnispädagogik‹ eine positive emotionale Beziehung erwartet oder angestrebt, aus der eine ehrfurchtsvolle, schützende Grundeinstellung zum Wildnisgebiet folgt. Basis für dieses Bildungsziel ist das kulturelle Paradigma, nach dem nicht die Vorstellung einer unheimlichen, bedrohlichen Wildnis besteht, vor der man sich schützen muss, sondern vielmehr einer bedrohten Wildnis, die unseres Schutzes bedarf.276 Die Wildnis hat dabei den Charakter einer sensiblen, verletzlichen Natur. Gerade wenn ein Wildnisgebiet im Naturschutz »als sich selbst regulierendes Ökosystem« beschrieben wird, ist meist ein »höchst komplexe[r] und empfindliche[r] Funktionszusammenhang« gemeint, in dem die Organismen dynamisch zusammenarbeiten und der von Menschen ge- und zerstört werden kann.277 Zur naturkundlich-holistisch geprägten Ökosystemvorstellung tritt hier die Idee einer wertvollen in ihrer Komplexität möglicherweise zauberhaft faszinierenden Ganzheit hinzu, die – besonders auch von Kindern – unmittelbar erlebt werden kann. Das sind Eigenschaften, die sich mit Cassirers Theorie als modern-mythisch beschreiben lassen. Im Gegensatz zu dieser ›empfindlichen‹ Wildnis steht die Vorstellung einer Wildnis mit uneingeschränkt robuster und vitaler Eigendynamik, in der Fressen und Gefressenwerden sowie extreme und wechselhafte Umweltbedingungen herrschen, mit der etwa der Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald, Franz Leibl, ein Waldgebiet beschreibt: »Abwechslungsreich, unvorhersehbar, mosaikartig aber dennoch mit hoher Vitalität organisiert sich hier nach dem flächenhaften Borkenkäferfrass der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, junger, wilder Hochlagenwald eigenständig und ohne menschliches Hinzutun. Dicht wachsende, undurchdringliche Baumgruppen unterschiedlicher Höhe stehen in konstantem Wechsel zu einzeln wachsenden Baumindividuen und lichten Freiflächen unterschiedlicher Größe.«278

Diese ist viel zu kraftvoll und eigenständig, als dass sie von Menschen ge- oder zerstört werden könnte. In ihr scheinen sich unheimliche, unkontrollierbare, subversive Prozesse zu vollziehen, die sich nicht genau räumlich abgrenzen lassen. 275 Fesq-Martin 2013: 26. 276 Vgl. Planken & Schurig 2000: 204; Hofmeister 2008: 813; Haß et al. 2012. 277 Fitzthum 2014: 77; vgl. beispielsweise Backhaus 2005: 107. – Diese Vorstellung, dass Natur gestört werden kann, zeigt sich nicht zuletzt, wenn Wildnis als ein Ökosystem »frei von störender menschlicher Aktivität« (EUROPARC Deutschland 2010a: 21) beschrieben wird (vgl. Kapitel 4.3.2). 278 Leibl 2012: 1; vgl. Trommer 2012: 82 f.

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Dieser Charakter jedoch passt kaum zur alltagsweltlichen Idee eines Ökosystems als eines konkreten, mit dem Alltagsblick wahrnehmbaren Naturausschnitts, der mit hinreichender Analyse durch ›folk science‹ als Funktionssystem beschrieben werden kann. Ein weiterer Aspekt, wie naturkundlich begriffene Natur ergänzt wird und die Bedeutung einer ›Ökosystem-Wildnis‹ erlangt, betrifft die Wahrnehmung: Bei der Auffassung von Wildnis steht das Erlebnis im Vordergrund. Dies geschieht in der mythischen Auffassung im emotionalen Spüren oder physischen Erleben des machtvollen Anderen oder des zauberhaften Unbekannten etc. (sekundär auch in Erzählungen davon). Ästhetisch entdecken wir landschaftliche Wildnis in erster Linie im individuellen Blick auf eine besondere Gegend mit sinnlichen Empfindungen (sekundär auch im Blick auf ein Gemälde etc.). Bei einer tatsächlich nur naturkundlichen Naturerklärung hingegen sind zwar in der Regel konkrete alltagsweltliche Beobachtungen der Ausgangspunkt, das emotionale Erlebnis hat aber keine Bedeutung. Die abstrakte Beschreibung des Luchses und Wolfes als seltene Tiere oder die Erklärung von Muren als Teil einer dynamischen Flussentwicklung etc. machen nicht die Bedeutung Wildnis aus. Sie bildet sich vielmehr vor allem beim »draußen [U]nterwegssein«, im »Erleben von Schönheit, Ehrfurcht und Grenzerfahrungen«,279 bei der Begegnung mit den Vipern im Val Grande oder angesichts eines durch Erosion zerstörten Wanderwegs.280 So wird die für Nationalparke gesetzlich verankerte Aufgabe der »naturkundlichen Bildung« (§ 24 Abs. 2 Bundesnaturschutzgesetz) nicht zuletzt in Angeboten zum Wildniserlebnis umgesetzt, in »Wildniscamps«, Wildnisaufenthalten oder »Wildnistrails« (vgl. Abbildung 6, Abbildung 20, Abbildung 21) etc.281

279 Halves & Heydenreich 2014: 141; vgl. Langenhorst 2014: 59. 280 Ludwig Trepl schließt auf das Ziel für Wildnisentwicklungsgebiete, »bestimmte Erfahrungen oder Erlebnisse zu ermöglichen« auch aus dem Symbolwert bestimmter Tierarten: »Warum sollte man sonst eigens betonen, das sich wieder Populationen großer Pflanzenfresser wie Wisent und Elch und Raubtiere wie Wolf und Luchs etablieren sollen? Ein ›dynamischer Entwicklungsprozess‹ wäre ja die Etablierung bestimmter Bodenarthropoden, die für keinen Menschen ein Erlebnis sind, kein bisschen weniger« (Trepl 2010: 11). 281 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 2013: 122; Scherfose et al. 2013: 10; Langenhorst 2014: 59; Vgl. Schenck 2008: 41; Schwab et al. 2012: 20; Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit & Bundesamt für Naturschutz 2014: 9; Nationalpark Schwarzwald 2016.

306 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

Abbildung 20, links: Foto ›Der Wildnispfad in Lieberose‹ auf der Internetseite der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg unter der Rubrik ›Wildnisgebiete‹, ›Galerie Lieberose‹ Abbildung 21, rechts: ›Der Wildnispfad‹, Flyer der Nationalparkverwaltung Schwarzwald

Abbildung 20: Quelle: Meckelmann 2017, Foto: © Stiftung Naturlandschaften Brandenburg Abbildung 21: © qu-int.gmbh/Nationalpark Schwarzwald

›Ökosystem-Wildnis‹ lässt sich also als alltagsweltliches Zusammenspiel mehrerer Cassirer’schen Raumformungen fassen, bei denen zu naturkundlichen Naturerklärungen vor allem im Erlebnis erfahrbare Sinngehalte von Wildnis wie unbeeinflussbar, unkontrollierbar, unheimlich, erhaben oder frei hinzutreten. Bei Beschreibungen von Wildnis als Ökosystem oder Ökosystem-Wildnis handelt es sich nicht um eine ›eigentlich‹ naturwissenschaftliche ›Wildnis‹-Auffassung, die mit gesellschaftlichen Wertsetzungen und Sinngebungen vermischt ist. Denn, wie wir gesehen haben, kann die Bedeutung Wildnis erst mit letzteren zu einer alltagsweltlich verstandenen naturkundlichen Naturvorstellung hinzutreten. Insofern sind solche Argumentationen nicht plausibel, die in Wildnis primär ihre »wesentlichen Beiträgen zur Vielfalt der Spechte, Amphibien, Fledermäuse und Schmetterlinge« sehen und nur zur Steigerung der Akzeptanz dieses Artenschutzziels den »persönlichen Zugang der Besucher zur Natur« fördern und »Werte der Wildnis« inszenieren.282 Wildnis ist nicht ein aus naturwissenschaftlichen Theorien abgeleitetes Naturschutzziel etwa der nationalen Biodiversitäts-

282 Mayrhofer 2011b: 5.

Drei Begriffe von Wildnis im aktuellen Diskurs | 307

strategie, das man »mit pädagogischen Inhalten und Marketing-Ansätzen«283 vermitteln muss. Vielmehr sind schon im Naturschutzziel selbst unterschiedliche Auffassungen verbunden, sonst könnte es nicht ›Wildnis‹ heißen. Wildnis wird im Diskurs mitunter ein »naturwissenschaftliche[r] Aspekt« zugeschrieben, der »Fakten über den Ablauf von Sukzessionsvorgängen und natürlichen Prozessen, als Tatsachenwissen, wie sich selbst überlassene Ökosysteme sich großflächig verhalten« umfasst.284 Dieser Aspekt, trifft er tatsächlich Wildnis und nicht Natur im Allgemeinen, kann, wie wir gerade gesehen haben, nur in einer naturkundlichen Form und verknüpft mit mythischen oder ästhetischen Bedeutungen bestehen. Und so ist für diese Wildniswahrnehmung gerade nicht entscheidend, ob die naturkundlichen Beschreibungen aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen, also »ob sich zyklische bzw. raumzeitlich versetzte dynamische Abläufe auch tatsächlich so abspielen wie sie Mosaik-Zyklus-Konzept oder Patch-dynamics in der Theorie formulieren«285. Ebenso wenig müssen es zwingend »ökologische Extrembereiche« sein, in denen tatsächlich »die Dynamik natürlicher Prozesse so stark ist, dass menschliche Einflüsse immer wieder überlagert und kompensiert werden«.286 Vielmehr besteht die Auffassung eines Gebietes als ›Ökosystem-Wildnis‹ in dem, was für den alltagsweltlichen Betrachter unbeeinflusst, unkontrollierbar, unheimlich, erhaben, frei etc. ausdrückt. Und das kann auch in einer Wahrnehmung mit wissenschaftlich überholten Vorstellungen von Ökosystemen geschehen – oder an einem Ort, der von menschlichen Einflüssen geprägt ist.

283 EUROPARC Deutschland 2010b: 2; vgl. Kangler & Voigt 2010: 379. 284 Jessel 1997: 9. 285 Ebd. 286 Knapp 2000: 13. – Hans Dieter Knapp, langjähriger Leiter der Internationalen Naturschutzakademie des Bundesamtes für Naturschutz, stellt diese naturwissenschaftlich formulierten Eigenschaften eines Gebietes als notwendig dafür heraus, um in Europa Wildnis real erfahren zu können. Dabei widerspricht er sich in gewisser Weise selbst, denn vorher nennt er als Grundsatz, dass Wildnis »naturwissenschaftlich nicht erklärbar«, »technisch nicht reproduzierbar und nicht erwerbbar als Massenartikel« sei (ebd.: 12 f.).

308 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

4.3.5 Zusammenfassung zur alltagsweltlichen Verknüpfung theoretisch verstandener Natur mit Wildnisbedeutungen – Wildnis als Ökosystem, als dynamische Natur Im aktuellen mitteleuropäischen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ lässt sich ein Reden von Ökosystem-Wildnis beziehungsweise Wildnis als Ökosystem und Wildnis als besonders dynamische Natur bemerken. Diese Wildnisbedeutungen werden durch eine mythische oder ästhetische Auffassung nicht hinreichend erklärt. Sie erscheinen zunächst eher als schiefe, unzulässige Verwendungen des Begriffs ›Wildnis‹ in einem naturwissenschaftlich orientierten Naturschutz, der primär auf eine theoretische Formung im Sinne Cassirers rekurriert. Diese diffuse Konstellation im Wildnisdiskurs lässt sich mit dem von mir entwickelten Begriff der ›Ökosystem-Wildnis‹ erhellen. ›Ökosystem-Wildnis‹ fasse ich als eine alltagsweltliche Verknüpfung von vereinfacht verstandenen theoretischen Erklärungen der Natur mit mythischen oder ästhetischen Bedeutungen auf: Es werden naturkundlich Räume als Einheiten von Lebensgemeinschaften und ihrer Umwelt begriffen, die als sich besonders dynamisch verändernde Funktionssysteme gedacht und dabei mit sinnlichen Wahrnehmungen von Unbeeinflussbarkeit, Unkontrollierbarkeit, Unheimlichkeit, Erhabenheit, Freiheit etc. verbunden werden. Dass in ›Ökosystem-Wildnis‹ eine Verbindung theoretischer mit anderen Cassirer’schen Formungen (mythischen oder ästhetischen) zu finden sei, nehme ich dabei ausdrücklich nicht an. Denn eine derartige Verknüpfung ist, wie in Kapitel 3.3.2 unabhängig von Wildnis dargestellt, kategorial unmöglich. Der Begriff ›Wildnis‹ hat in einer theoretischen (naturwissenschaftlich-theoretischen) Formung im Cassirer’schen Sinne keine Bedeutung, denn diese Formung erfasst nicht die lebensweltlichen Sinngehalte und kulturellen Bedeutungen, die zumindest im bisherigen und derzeitigen gesellschaftlichen Gebrauch für ›Wildnis‹ wesentlich sind. ›Ökosystem-Wildnis‹ ist vielmehr eine Verknüpfung des alltagsweltlich naturkundlichen Naturverständnisses (keine theoretische Formung im eigentlichen Sinn) mit mythischen oder ästhetischen Auffassungen. ›Ökosystem-Wildnis‹ ist damit kein systematisch konsistenter Begriff im kategorialen Sinne, aber es ist ein zentraler kulturell-empirischer Begriff, der eine typische und abgrenzbare Bedeutungsfacette des Sprechens über Wildnis im aktuellen mitteleuropäischen Diskurs fasst.

Drei Begriffe von Wildnis im aktuellen Diskurs | 309

4.4 RESÜMEE ZU DREI BEGRIFFEN VON WILDNIS IM AKTUELLEN DISKURS In diesem Kapitel wurden drei Begriffe von Wildnis herausgearbeitet, die dem systematischen Verständnis der aktuellen Diskussionen und Missverständnisse um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ dienen sollen. In der Analyse wird Wildnis als kulturell geprägte Raumauffassung verstanden: Eine unbestimmte Gegend wird mit dem Bedeutungsgehalt ›Wildnis‹ symbolisch zu einem konkreten Raum geformt. Die Bedeutung ›Wildnis‹ kann dabei unterschiedliche Sinngehalte haben und sich auf unterschiedliche Gegenden beziehen. Erste Einblicke in den aktuellen Diskurs (Kapitel 1) haben gezeigt, dass ›Wildnis‹ mit sehr unterschiedlichen Empfindungen und Wertungen verbunden wird, was mitunter zu Missverständnissen und Konflikten führen kann. In diesem Kapitel wurde der Versuch unternommen, diese Mannigfaltigkeit zu entflechten – zum einen mit den drei symbolischen Formen von Raum nach Cassirer (siehe Kapitel 3), zum anderen anhand konkreter Text- und Bildbeispiele aus dem aktuellen Wildnisdiskurs. Mit diesem Vorgehen, das die systematische Begriffsherleitung durch Analyse empirischer Auffassungen absichert, werden drei typische Begriffe von Wildnis dargelegt, die in den Diskurssträngen zur Naturschutzidee ›Wildnis‹ aktuell zu identifizieren sind: ›unbekannte Wildnis‹, ›bestimmte Wildnis‹ und ›Ökosystem-Wildnis‹. ›Unbekannte Wildnis‹ ist eine Gegend, die – wie etwa mythische Wälder – als ein nicht genauer bestimmbares Draußen außerhalb des gesellschaftlichen Einflusses wahrgenommen wird. Mit Cassirers Begriff der mythischen Raumformung werden wesentliche Eigenschaften und Formen einer derartigen ›unbekannten Wildnis‹ charakterisiert: Sie wird emotional erlebt als Ausdruck einer überlegenen Macht, die einer anderen, undurchdringlichen Welt angehört und unmittelbar zwingend wirkt. Diese Wirkung folgt einer bestimmten – nicht rationalen, aber mythisch geordneten – Formung und kann sowohl positive (etwa wenn die wilde Gegend Ort einer befreienden spirituellen Erfahrung ist) als auch negative (etwa wenn sie als bedrückend und furchterregend empfunden wird) Züge tragen. Die mythische Qualität ›Wildnis‹ wird innerhalb dieser Deutung nicht als ihr vom wahrnehmenden Subjekt zugeschrieben verstanden, sondern empfunden in einem ›Zauberhauch des Unbekannten‹, der unmittelbar mit dem Wesen der Dinge verbunden scheint. Auf einer philosophischen Metaebene lässt sich diese ›unbekannte Wildnis‹ jedoch modern reflektieren als mythisch geformt, abhängig vom kulturellen Kontext des Subjekts. Damit ist auch eine Gleichzeitigkeit mythischer und anderer Wildnisdeutungen in der Moderne zu verstehen.

310 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

Als ›bestimmte Wildnis‹ charakterisiere ich eine Gegend, die ästhetisch als wilde Landschaft wahrgenommen wird. Wesentliche Erkenntnisse bezüglich ihres Charakters und ihrer Form, in Abgrenzung gegenüber der mythischen ›unbekannten Wildnis‹, liefert Cassirers Begriff der ästhetischen Raumformung: Das Subjekt stellt seine Empfindung von Wildnis angesichts chaotischer Waldstrukturen, bedrohlich düsterer Himmelsfarben, schroffer Berge maßloser Größe und ähnlicher Phänomene dar in Bild, Fotografie etc. – oder nur im Kopf. In dieser ästhetischen Formung ist Wildnis eine Landschaft, ein malerischer Ort. Der Wahrnehmende reflektiert bei der Darstellung seine individuelle emotionale Auffassung in einer gewissen Distanz und durchlebt nicht unmittelbar den Ausdruck einer scheinbar von außen auf ihn wirkenden, unbeeinflussbaren mythischen Wildnis. Insbesondere in der ästhetischen Kategorie des Romantisch-Erhabenen können übermächtige dynamische Landschaften wie unübersichtlich große Waldlandschaften, überwältigende dynamische Wasserfälle oder große, schroffe Felsformationen als Wildnis erscheinen. Die hohe Bedeutung der ästhetischen Wahrnehmung und Darstellung von Wildnis in der aktuellen Kommunikation zum Thema ›Wildnis‹ zeigt sich in einschlägigen Bildern und Texten zu Nationalparken. Mit dem Begriff ›Ökosystem-Wildnis‹ schließlich bezeichne ich Auffassungen von Wildnis als Ökosystem und dynamische Natur. Wildnis wird hier, angelehnt an ökologisch-naturwissenschaftliche Erklärungen, als System von Lebensgemeinschaften und ihrer Umwelt beschrieben, das sich besonders durch dynamische Veränderung auszeichnet – etwa die Veränderungsprozesse in der Vegetation, das Vorkommen seltener Tierarten in Interaktion mit anderen Arten und die Mindestgröße von Habitaten bestimmter Arten. Dies sind zentrale Bestandteile der Gebietscharakterisierung, die mit sinnlichen Empfindungen wie unbeeinflussbar, unkontrollierbar, erhaben etc. verbunden werden. Die Analyse zeigt: In einer theoretischen oder naturwissenschaftlich-theoretischen Formung im Sinne Cassirers hat ›Wildnis‹ keine Bedeutung, denn lebensweltliche, emotionale Sinngebungen – die sich zumindest im gegenwärtigen Wildnisverständnis als wesentlich erweisen – sind prinzipiell nicht Gegenstand dieser Auffassung. Das Reden von Wildnis im Sinne von ›Ökosystem-Wildnis‹ ist aber weder allein als mythische noch allein als ästhetische Naturauffassung zu erklären. Entscheidend ist, dass es (wie ich über Cassirer hinausgehend analysiere) eine alltagsweltliche Naturkunde gibt, die sich an theoretischen Erklärungen der Natur orientiert, diese vereinfacht und mit Wertschätzungen verbindet. Diese populärnaturwissenschaftliche, naturkundliche Perspektive ist in Diskursen um Naturschutzideen weit verbreitet. In ›Ökosystem-Wildnis‹ wird das alltagsweltliche naturkundliche Naturverständnis mit mythischen oder ästhetischen Auffassungen

Drei Begriffe von Wildnis im aktuellen Diskurs | 311

verknüpft. So werden etwa Wildnisgebiete Brandenburgs als ästhetisch faszinierende Landschaften mit ökologischen Funktionen in einem Biotopverbund beschrieben. Reflexion des Vorgehens bei der Differenzierung dreier Begriffe von Wildnis Die drei Wildnisbegriffe habe ich mit Extrakten immanenter Bedeutungen und Sinnbezüge von Wildnis aus empirischen Beispielen aktueller Äußerungen zu Wildnis in Kombination mit der systematischen Ableitung aus Cassirers Raumformen beschrieben und gegeneinander abgegrenzt. Ziel war es, aktuelle, fundamental unterschiedliche Wildnisauffassungen in ihren kulturellen Kontexten herauszuarbeiten, um ein begriffliches Werkzeug zu gewinnen, mit dem Argumentationen, Diskussionen und Missverständnisse im aktuellen mitteleuropäischen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ entwirrt und verstanden werden können. Reflektiert man dieses Vorgehen kritisch, ließen sich vor allem zwei Einwände anführen: (1) bezüglich der Kombination von Theorie und empirischen Beispielen bei der Entwicklung der drei Wildnisbegriffe und (2) bezüglich der Beschränkung auf die drei wesentlichen Cassirer’schen Raumformen. Die möglichen Einwände möchte ich nachfolgend jeweils kurz diskutieren und entkräften: (1) Bei der Formulierung der drei Wildnisbegriffe wird die Ableitung aus einer Theorie unzulässig mit der Ableitung aus empirischen Beispielen vermischt. – Der Einwand verliert die hermeneutische Methode aus dem Auge: Diese zielt ab auf das immanente Verstehen des Materials und ist im Kern Auslegungsarbeit. Ausgehend von ersten Beobachtungen bestimmter Wildnisbegriffe im aktuellen vor allem textlichen, deutschsprachigen Material im aktuellen mitteleuropäischen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ wurde dieses systematisiert und daraufhin geprüft, ob mit diesen Deutungen Weiteres im Material zu verstehen war. Zur Systematisierung diente Cassirers Raumtheorie. Unfruchtbare Deutungen wurden fallen gelassen und fruchtbare verdichtet. Dabei wurden die Wildnisbegriffe so lang entwickelt, bis sie konsistent schienen und wesentliche Diskursstränge konturierten. Mit Cassirers Raumtheorie war es dabei möglich, Deutungskontexte der Wildnisvorstellungen (also die jeweiligen Bedingungen der Möglichkeiten der Raumauffassungen) zu rekonstruieren und damit zu verstehen, wie gedacht wird. Die Wildnisbegriffe nur theoretisch herzuleiten, hätte abstrakt-systematische Denkmöglichkeiten von Wildnis hervorgebracht, die zur Ordnung des empirisch bestehenden Diskurses kaum unmittelbar anwendbar wären. Dies zeigt sich deutlich an der Kategorie der theoretischen oder

312 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

theoretisch-naturwissenschaftlichen Raumauffassung, die als solche Wildnis nicht erklärt. Erst nach Diskussion alltagsweltlicher Auffassungen und Verknüpfungen im Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ kann der Begriff ›Ökosystem-Wildnis‹ als zentrale kulturell-empirische Vorstellung in diesem Diskurs erkannt werden. (2) Mit dem methodischen Ansatz, in der Deutung nur drei wesentliche Cassirer’sche Raumformen zu verwenden, werden möglichweise andere Wildnisauffassungen übersehen. – Auch diesem Einwand kann eine Erinnerung an die Vorgehensweise entgegengesetzt werden: Ihrer hermeneutischen Methodik entsprechend, verfolgt die Arbeit den Anspruch, für das Verständnis des aktuellen Diskurses wesentliche Wildnisauffassungen herauszufinden – nicht jedoch alle möglichen Wildnisauffassungen oder gar alle objektiv wahren. Ziel war es, mit den – mit Cassirer entwickelten – Begriffen zentrale Aspekte im aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ zu erklären. Die Vermutung, darüber hinaus könnten allgemein (oder speziell in diesem Diskurs) noch weitere Wildnisbegriffe bestehen, lässt die Verfolgung dieses Ziels nicht weniger lohnenswert erscheinen. Von Cassirers Raumformen habe ich in dieser Arbeit nur seine drei zentralen, die mythische, die ästhetische und die theoretische, herangezogen. Es ist durchaus denkbar, dass die Verwendung anderer, nicht von Cassirer beschriebener symbolischer Formen (etwa »virtueller Raum« oder »touristischer Raum« nach Jörn Bohr287) weitere Aspekte der Wildnisidee erhellen könnte. Diese Formen erscheinen mir im aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ jedoch nicht grundlegend. Wird etwa eine Gegend von einem Städter – geprägt durch Werbung und Reiseführerliteratur – als wilde Landschaft (im Sinne Jörn Bohrs »touristisch«288) wahrgenommen, spielen meinem Eindruck nach vor allem gesellschaftlich-kulturelle mythische und ästhetische Raumformungen eine Rolle. Ein darüber hinausgehender spezifisch ›touristischer‹ Blick auf Wildnis ist dabei meines Erachtens nicht zentral bemerkbar, wenn auch nicht ausgeschlossen. In »virtuellen Räumen« hingegen (Raumformungen in Internet und in Videospielen) tritt das Räumliche, wie Bohr bemerkt, »nur mehr als zugegebenermaßen starke Metaphorik« auf.289 Sie sind – wie alle metaphorischen Zustandsbeschreibungen der Innenwelt290 – nur Ableitungen der Auffassung der Außenwelt als Wildnis. Diese Raumformen erscheinen mir im aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ nicht als bestimmend und wurden deshalb in dieser Arbeit nicht behandelt. 287 Bohr 2008: 70 ff. 288 Ebd.: 76 f. 289 Ebd.: 73. 290 Siehe Kapitel 2.1.

Drei Begriffe von Wildnis im aktuellen Diskurs | 313

In diesem Kapitel wurden fundamental unterschiedliche Wildnisbegriffe, die Diskursstränge in den aktuellen mitteleuropäischen Diskussionen um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ prägen, analysiert und ihr kultureller Kontext erläutert. Wie fruchtbar dieser Ansatz ist, darüber soll im folgenden Kapitel ein Fazit gezogen werden (Kapitel 5).

5

Diskursstränge im Spannungsfeld ›Wildnis‹ – Ergebnis, Fazit und Ausblick

Abschließend möchte ich zunächst die wichtigsten inhaltlichen Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zusammenfassen und mein Vorgehen noch einmal reflektieren. Dann zeige ich, was das Ergebnis für die Forschung bedeutet und welche weiterführenden Themen sich anschließen. Mythische Wälder, malerische Orte und dynamische Natur im aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ – Ergebnisse Aktuell wird in Mitteleuropa ein gesellschaftlicher Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ geführt, der sich durch engagierte Stellungnahmen und leidenschaftliche Diskussionen, aber auch durch Missverständnisse und Auseinandersetzungen auszeichnet. Dies kann wesentlich darauf zurückgeführt werden, dass die Diskursakteure ›Wildnis‹ je ganz unterschiedlich verstehen. Um diese unterschiedlichen gesellschaftlichen Vorstellungen herauszuarbeiten, wurde ›Wildnis‹ in dieser Arbeit kulturwissenschaftlich erforscht. Mit ›Wildnis‹ ist in den Diskussionen etwas Sinnliches außerhalb von uns gemeint, also ein Raum. (Auch metaphorische Verwendungen leiten sich von diesem räumlichen Begriff ab.) Dieser Raum ist nicht objektiv gegeben, sondern wird durch die Auffassung des Betrachters bestimmt, die von kulturellen Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen geprägt ist (siehe Kapitel 1). Wildnis erweist sich in der kulturwissenschaftlichen Analyse als solch eine Zuschreibung, mit der Raum aufgefasst wird. Wildnis ist jedoch nicht eine kulturelle Raumauffassung, sondern der Begriff hat innerhalb verschiedener Kontexte unterschiedliche Bedeutungen. Im mannigfaltigen Reden von Wildnis zeigen sich unterschiedliche Wildnisbegriffe, die geprägt sind von bestimmten Vorstellungen über Raum, Natur und ihre Wahrnehmung.

316 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

Zur Analyse der gesellschaftlich-kulturellen Deutungsmuster, der Formen und Sinnbedeutungen, in deren Kontext unterschiedliche Wildnisvorstellungen stehen, dienten in dieser Arbeit drei Raumbegriffe des Kulturphilosophen Ernst Cassirer als heuristisches Instrumentarium: mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum (siehe Kapitel 2). Diese Begriffe aus der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ eignen sich für die Analyse besonders, da Cassirer explizit die Verschiedenartigkeit unserer kulturbezogenen Raumvorstellungen in den Fokus nimmt. Er arbeitet theoretisch und ergänzend empirisch die Deutungskontexte unterschiedlicher Raumvorstellungen heraus. In Cassirers Begrifflichkeit ausgedrückt analysiert er, wie Räume vom wahrnehmenden Subjekt durch bestimmte ›symbolische‹ Sinnordnungen (mythisch, ästhetisch oder theoretisch) ›geformt‹ werden. In diesen ›symbolischen Raumformungen‹ werden Räume in dem Moment gebildet, in dem das Subjekt seine Anschauung mit einem symbolischen Sinn (etwa einer mythischen Bedeutung oder einer physikalischen Theorie) ordnet. Die drei kulturellen Raumbegriffe zeichnen sich, wie aus Analyse und weiterführenden Interpretationen von Cassirers Darstellungen hervorgeht, durch folgende Eigenschaften aus: Mythischer Raum (siehe Kapitel 3.1) besteht aufgrund transzendenter Sinngehalte, die von höheren Mächten bewirkt erscheinen und dem Subjekt zwingend Orte und Richtungen vorgeben. Das moderne Subjekt kann mythische Raumauffassungen rational reflektieren, wenn auch nicht unmittelbar im Moment der Empfindung. Eine wesentliche Form der heutigen mythischen Naturauffassung ist die romantische, in der die ›Wiederverzauberung der Welt‹ mit dem aufgeklärten Denken korrespondiert. Den ästhetischen Raum (siehe Kapitel 3.2) bildet das Subjekt individuell, indem es visuelle Strukturen, Formen und Farben in bestimmten Rhythmen und Kontrasten mit immanenten, auf die eigene Innenwelt verweisenden Sinngebungen wahrnimmt. Das Subjekt kann eine Gegend ästhetisch als eine – je nach Bedeutungskontext und augenblicklichen Eigenschaften der Gegend unterschiedliche – Landschaft formen. Diese ›Darstellung‹ gelingt idealtypisch dem bildenden Künstler, jedoch auch jedem ästhetisch empfindenden Subjekt. Erscheint eine Landschaft durch übermächtige Dynamik erhaben, ist vor allem eine moderne romantische Lesart der ästhetischen Raumformung von Bedeutung. Theoretischer Raum (siehe Kapitel 3.3) wird vom Betrachter logisch oder naturwissenschaftlich bestimmt mit allgemeinen, abstrakten Begriffen und messbaren Merkmalen. Diese Raumauffassung ist objektiv, kann jedoch je nach der Theorie (mit ihrem bestimmtem Erkenntnisinteresse und Paradigma), auf die sie sich bezieht, unterschiedlich sein. (Die klassische euklidische Geometrie etwa

Diskursstränge im Spannungsfeld ›Wildnis‹ | 317

erklärt den Raum anderes als die abstrakte Geometrie der Relativitätstheorie.) Cassirer beschreibt die theoretisch-naturwissenschaftliche Raumauffassung als eine Variante des theoretischen Raumes. Im Gegensatz zur rein theoretischen Raumformung hat sie theoretisch-naturwissenschaftliche, empirische Phänomene zum Gegenstand. Zwischen den drei symbolischen Raumformungen bestehen spezifische strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede (siehe Kapitel 3.4): Während mythische und ästhetische Wahrnehmung beide auf emotionaler Empfindung des Raumes beruhen, besitzt die theoretische Wahrnehmung davon unabhängige rationale Bestimmungen. Sowohl in der ästhetischen als auch in der theoretischen Raumauffassung reflektiert und abstrahiert das Subjekt seine Formung; die mythische Auffassung hingegen zeichnet sich durch distanzlose, affektive Empfindung aus, die das moderne Subjekt im Moment der Wahrnehmung nicht distanziert analysieren kann. In der theoretischen und der mythischen Raumformung nimmt der Wahrnehmende Bezug auf ihm objektiv erscheinende Bedeutungen; die Empfindungen des Subjekts, die den Raum ästhetisch formen, verweisen hingegen immanent auf die Bedeutungszuschreibungen des Subjekts. Die Raumtheorie Cassirers wurde in dieser Arbeit beschrieben und weiterführend interpretiert, um mit ihr zentrale Stränge des aktuellen Diskurses um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ zu analysieren und verständlich zu machen. Im Hinblick darauf sind die drei Raumbegriffe nach Cassirer folgendermaßen zu charakterisieren: Sie sind eigenständig abgegrenzte Formungen, mit denen empirisch anzutreffende Raumvorstellungen in unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen und Sinngebungen geordnet und verstanden werden können. An ihnen werden die Strukturen spezifischer Verbindungen zwischen unterschiedlichen Raumvorstellungen fassbar: Insbesondere in einer ästhetischen Landschaftswahrnehmung kann eine Sehnsucht nach mythischer Sinngebung und eine Suche nach dem mythischen Ausdruck einer Gegend bestehen. Des Weiteren ist für die Analyse des Wildnisdiskurses von Bedeutung, dass naturwissenschaftlich-theoretische Erklärungen in alltagsweltlichen Raumauffassungen vereinfacht und mit mythischen oder ästhetischen Deutungen verbunden werden. An dieser Stelle möchte ich auf die zwei Fragen zurückkommen, die zu Anfang dieser Arbeit als leitend formuliert wurden (siehe Kapitel 1.3): Welche Vorstellungen prägen den aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹? Im Kontext welcher gesellschaftlich-kulturellen Deutungsmuster, also Ideen, Bedeutungen und Sinngebungen, stehen diese Vorstellungen jeweils, beziehungsweise auf welche dieser Deutungsmuster wird in typischen Aussagen explizit Bezug genommen? – Die Arbeit kann auf diese Fragen folgende Antworten geben: Es hat sich herausgestellt, dass der aktuelle Diskurs um die Natur-

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schutzidee ›Wildnis‹ zentral von drei Vorstellungen geprägt ist: der ›unbekannten Wildnis‹, der ›bestimmten Wildnis‹ und der ›Ökosystem-Wildnis‹. Diese Vorstellungen stehen im Kontext bestimmter gesellschaftlich-kultureller Deutungsmuster, also Ideen, Sinngehalte und Argumentationslogiken, deren Bedeutungen ich mit den drei Raumformungen Cassirers und weiterführenden Interpretationen erhellen konnte. Teilweise wird, wie ich gezeigt habe, im empirischen Textmaterial (und vereinzelt behandelten Bildmaterial) zum aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ auf bestimmte Deutungsmuster explizit Bezug genommen. Meine Arbeitsthese wurde bestätigt, was sich wie folgt zusammenfassen lässt: Eigenschaften einer ›unbekannten Wildnis‹ hat eine Gegend (Kapitel 4.1), die – wie etwa mythische Wälder – als ein nicht genauer bestimmbares Draußen außerhalb des gesellschaftlichen Einflusses aufgefasst wird. In einer mythischen Raumformung wird sie emotional als Ausdruck einer machtvoll überlegenen Kraft erlebt, die zwingend wirkt. Innerhalb dieser Deutung ist die mythische Qualität ›Wildnis‹ im ›Zauberhauch des Unbekannten‹ unmittelbar mit dem Wesen der Dinge verbunden; auf philosophischer Metaebene lässt sie sich erkennen als immer durch das wahrnehmende Subjekt geformt und abhängig von einem bestimmten kulturellen Kontext. Die Arbeit hat gezeigt, dass die Denkfigur ›unbekannte Wildnis‹ als eine moderne mythische Formung von Wildnis wesentlich zur Erklärung gegenwärtiger Äußerungen zu Wildnisgebieten im Naturschutzkontext beitragen kann. Die ambivalente, mythische, ›unbekannte Wildnis‹, die im Moment ihres Erlebens mit einem rational nicht auflösbaren Zauber verbunden ist, hat offenbar selbst in unserer modernen, aufgeklärten Gesellschaft noch Bedeutung. ›Bestimmte Wildnis‹ hingegen (Kapitel 4.2) ist eine ästhetisch als wilde Landschaft wahrgenommene Gegend, ein malerischer Ort. In dieser ästhetischen Raumformung stellt sich angesichts chaotischer Waldstrukturen, bedrohlich düsterer Himmelsfarben oder schroffer Berge maßloser Größe und ähnlicher sinnlicher Phänomene eine Empfindung von Wildnis in gewisser Distanz ein, die das Subjekt reflektiert und gegenständlich in Bild, Fotografie etc. oder nur vor seinem inneren Auge darstellt. Bedeutungsvoll für dieses Verständnis von Wildnis ist die ästhetische Kategorie des Romantisch-Erhabenen, denn insbesondere hier können übermächtig dynamische Landschaften als Wildnis erscheinen. Eine derartige ästhetische Wahrnehmung wilder Landschaft ohne Bezug zu mythischen Bedeutungen lässt sich, wie ich gezeigt habe, vor allem im alltagsweltlichen Deutungsrepertoire unserer Gesellschaft identifizieren.

Diskursstränge im Spannungsfeld ›Wildnis‹ | 319

Mit dem Begriff ›Ökosystem-Wildnis‹ schließlich (Kapitel 4.3) fasse ich bestimmte Auffassungen von Wildnis als Ökosystem und dynamischer Natur, die in Diskursen um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ weitverbreitet sind. Es handelt sich um ein alltagsweltliches, naturkundliches Naturverständnis, das naturwissenschaftlich-theoretische Erklärungen vereinfacht und mit mythischen oder ästhetischen Auffassungen und deren individuellen Bedeutungen und kulturellen Wertsetzungen verknüpft. Wildnis wird hier als System von Lebensgemeinschaften und ihrer Umwelt beschrieben, das sich vor allem durch dynamische Veränderungen auszeichnet und mit sinnlichen Empfindungen wie unbeeinflussbar, unkontrollierbar, erhaben etc. verknüpft ist. Fasst man einen Naturausschnitt als ›Ökosystem-Wildnis‹ auf, orientiert man sich alltagsweltlich vereinfachend an naturwissenschaftlichen Erklärungen, vollzieht aber keine naturwissenschaftlichtheoretische Raumauffassung im eigentlichen Sinn. ›Ökosystem-Wildnis‹ ist also kein systematisch kategorialer Begriff – jedoch ein zentraler Begriff im aktuellen mitteleuropäischen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹. Ergebnis der Arbeit ist, so könnte man sagen, die Herausarbeitung idealtypisch zugespitzter, fundamental unterschiedlicher Auffassungen von Raum als Wildnis, die im Spannungsfeld der Naturschutzidee ›Wildnis‹ wesentliche Diskursstränge prägen und charakterisieren. Damit wird nun verständlich, warum und mit welchem Hintergrund Wildnis mit sehr unterschiedlichen Empfindungen und Wertungen verbunden wird – etwa unkontrollierbar, unberechenbar, undurchdringlich, unbekannt, unheimlich, schaurig, überwältigend, erhaben, aber auch ursprünglich, unberührt oder frei. In diesem Spannungsfeld bewegen sich nicht nur Argumentationen dazu, was Wildnis eigentlich ist oder sein soll, sondern zudem individuelle Wildnisvorstellungen einzelner Akteure im Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹. Das Arbeitsergebnis möchte ich an einem Beispiel, das auf den einleitenden Problemaufriss (siehe Kapitel 1.1) zurückgreift, verdeutlichen. Auf Grundlage der drei entwickelten Wildnisbegriffe skizziere ich, was Unterschiedliches gemeint sein kann, wenn ein Gebiet des Bayerischen Waldes als ›Wildnis‹ beschrieben wird. Bei einer Wanderung durch den Grenzwald nordöstlich vom Lusen kann man sich an die ›Böhmischen Wälder‹ der Schiller’schen Räuber erinnert fühlen. Die schauerliche Atmosphäre eines wilden, scheinbar undurchdringlichen Waldes lässt den Glauben an höhere Mächte nicht abwegig erscheinen. Das faszinierende Erlebnis einer unbeeinflussbaren Natur kann darüber hinaus die Idee der Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen draußen, außerhalb gesellschaftlicher Ordnung, anklingen lassen. Das Subjekt empfindet dann individuell eine ›unbe-

320 | Der Diskurs um ›Wildnis‹

kannte Wildnis‹, die seine Handlungen zu leiten scheint – etwa, wohin und wie weit es in den Wald hinein geht. Abbildung 22: Waldwildnis ästhetisch als Landschaft dargestellt (›bestimmte Wildnis‹); Foto mit Sonnenaufgang am Steinfleckberg (nordöstliches Lusengebiet), verwendet auf der Startseite des Internetangebots zum Nationalpark Bayerischer Wald unter der Rubrik ›Willkommen im Nationalpark Bayerischer Wald‹

Quelle: Leibl 2017, Foto: © Rainer Simonis

An der Waldwildnis im Morgennebel nimmt man womöglich bizarre Formen, starke Kontraste und besondere Farbschattierungen, wie sie der Fotograf Rainer Simonis in Abbildung 22 in Szene setzt. Im Moment des Sonnenaufgangs sieht man den Wald möglicherweise in gewisser Distanz ästhetisch als Landschaft, wie ein Gemälde – als eine ›bestimmte Wildnis‹. Dieses Bild der Waldwildnis wird sich zu jeder Tages- und Jahreszeit und je nach Stimmung des Subjekts anders darstellen. Steht man im Wintersturm vor der Waldwildnis des Lusengebiets, kann man sie als eine erhabene, weil überwältigend dynamische Landschaft empfinden. An der Natur im Lusengebiet können die Prozesse in den von Borkenkäfern und Stürmen beeinflussten Baumbeständen, das Absterben und das Aufkommen neuer Vegetation und spezialisierter Tierarten in ihrer scheinbar unbeeinflussbaren, unkontrollierbaren, freien Naturdynamik faszinieren. Vom Nationalpark Bayerischer Wald naturkundlich informiert, erkundet der Besucher möglicherweise die eigendynamische Veränderung der Waldökosysteme und erlebt sie bei Verknüpfung mit sinnlichen Wahrnehmungen von Unbeeinflussbarkeit und Erhabenheit als ›Ökosystem-Wildnis‹.

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In der hier angerissenen Analyse, die in weiterführenden empirischen Forschungen zu vertiefen wäre, zeigt sich, dass mit der Beschreibung des Lusengebietes als ›Wildnis‹ sehr Unterschiedliches gemeint ist. Wird dies nicht differenziert und werden die verschiedenen Vorstellungen und Wahrnehmungen von Wildnis im Diskurs nicht offengelegt, kommt es zu Missverständnissen und unter Umständen zu Konflikten. So kann etwa jemand, den der unbewirtschaftete Wald im Lusengebiet als unbeeinflusste, eigenständige ›Ökosystem-Wildnis‹ fasziniert, die ablehnende Haltung anderer gegenüber Wildnis nur nachvollziehen, wenn er sich vergegenwärtigt, dass diese den Wald möglicherweise als unbeherrschbare, ›unbekannte Wildnis‹ empfinden, die Angst einflößt. Die Diskursakteure müssen ihre konträren Auffassungen von ›Wildnis‹ deshalb nicht ändern, doch eine Diskussion darüber, was mit ›Wildnis‹ gemeint ist – und warum sich ›Wildnis‹ wo etablieren kann –, kann erst geführt werden, wenn beide sich ihre unterschiedlichen Standpunkte vergegenwärtigen. Analyse des Diskurses in einem hermeneutischen Verstehensprozess mit symbolischen Raumformen und empirischem Material – Reflexion des Vorgehens Eine Aufgabe der vorliegenden Arbeit war es, für die Zielsetzung, das unterschiedliche Reden über die Naturschutzidee ›Wildnis‹ und ihre unterschiedliche Wertschätzung im aktuellen mitteleuropäischen Diskurs zu analysieren, geeignete Methoden auszuwählen. Mit einem hermeneutischen Vorgehen (siehe Kapitel 1.4) konnte ich aktuelle gesellschaftlich-kulturelle Wildnisbegriffe herausarbeiten, entwickeln und verdichten. Diesen qualitativen Verstehens- und Deutungsprozess habe ich zum einen mit Diskussionen der Bedingungen der Möglichkeiten der Raumauffassungen anhand dreier symbolischer Raumformen Cassirers, zum anderen mit Einblicken in empirisches Material abgesichert und nachvollziehbar gemacht. Es bleibt eine Aufgabe anschließender Arbeiten, die Deutungskontexte der gewonnenen drei Wildnisbegriffe mit Untersuchungen empirischer aktueller oder kulturhistorischer Beispiele weiter zu entwickeln und zu diskutieren. Ergänzend wäre zu erforschen, von welchen Diskursteilnehmern mit bestimmten Interessen und gesellschaftlich-politischem Hintergrund welcher Wildnisbegriff und Diskursstrang besonders vertreten wird. Die Arbeit habe ich in einer diskursanalytischen Forschungsperspektive angelegt und dabei Cassirers kulturphilosophischem Ansatz herangezogen. Die Auffassungen von Raum als Wildnis durch das Subjekt wurden anhand von symbolischen Sinnordnungen analysiert, die gesellschaftlich-kulturell geprägt sind: mit Formung als mythischer Raum oder ästhetischer Raum und nur in be-

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dingtem Bezug auf die Formung als theoretischer Raum. Die individuellen Wirklichkeitskonstitutionen konnte ich also mit kollektiv geteilten Bedeutungen und gesellschaftlichen Wissensordnungen erklären. Das heißt: Die Deutung und das Handeln einzelner Akteure im Kontext von ›Wildnis‹ sind Teil eines gesellschaftlichen – mehr oder weniger konflikthaften – Diskurses. Die Kohärenzen zwischen diskursanalytischer Perspektive und Cassirers Kulturphilosophie der symbolischen Formen (vgl. Kapitel 1.4) haben sich in der Arbeit bestätigt, und der heuristische Nutzen sowie die Aktualität der Cassirer’schen Raumtheorie wurde gezeigt. Die diskursanalytische Forschungsperspektive hat es ermöglicht, die Debatten um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ als begriffsbildende und begriffswandelnde Praktiken zu betrachten. Dabei konnten verschiedene Wildnisbegriffe als soziokulturelle Phänomene verstanden und ihre Kontexte in den Fokus genommen werden. In diesem Zusammenhang bin ich nicht vereinzelten Aussagen zu ›Wildnis‹ nachgegangen, sondern habe wiederholt gebrauchte, gesellschaftlich geteilte Vorstellungen herausgearbeitet mit dem Ziel, die symbolische Ordnung im öffentlichen Diskurs zu rekonstruieren. In der Arbeit konnten drei fundamental unterschiedliche Wildnisauffassungen identifiziert werden, welche die Diskursstränge in der Debatte um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ prägen: ›unbekannte Wildnis‹, ›bestimmte Wildnis‹ und ›Ökosystem-Wildnis‹. Die darin enthaltenen inhaltlichen Bedeutungen und Argumentationslogiken wurden analysiert und dargestellt. Entdeckt, beschrieben und gegeneinander abgegrenzt habe ich die drei Wildnisbegriffe zum einen mit empirischen Beispielen aktueller Äußerungen zu Wildnis, zum anderen mit den systematischen Raumformen Cassirers. Zwei mögliche Einwände gegenüber diesem Vorgehen konnte ich bereits entkräften (siehe Kapitel 4.4): (1) Die Kombination von Theorie und empirischen Beispielen bei der Entwicklung der drei Wildnisbegriffe ist nicht, wie man denken könnte, eine unzulässige Vermischung, sondern entspricht sowohl dem hermeneutischen Ansatz als auch der Kulturtheorie Cassirers. In dem sich wechselseitig ergänzenden Vorgehen wird die Auslegungsarbeit des Materials mit der Theorie systematisiert und werden die abstrakt weiterentwickelten Begriffe mit der Empirie rückversichert. (2) Es hat sich gezeigt, dass eine Beschränkung auf die drei wesentlichen Cassirer’schen Raumformen ermöglicht, für den aktuellen Diskurs wesentliche Wildnisauffassungen herauszuarbeiten. Daneben existieren möglicherweise weitere spezielle Wildnisauffassungen, die mit anderen Raumformungen verständlich gemacht werden können. Dies wäre in nachfolgenden Untersuchungen zu ergründen.

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Differenzierte gesellschaftliche Bedeutungen von ›Wildnis‹ und Anwendung von Cassirers Raumtheorie – Fazit zur Relevanz Allgemein leistet die vorliegende Arbeit einen wissenschaftlichen Beitrag zum Verständnis und zur Systematik der Idee ›Wildnis‹, ausgehend vom mitteleuropäischen, deutschsprachigen Wildnisdiskurs, der aktuell vor allem in Kontext des Naturschutzes geführt wird. Dies kann verschiedene kulturwissenschaftliche (literaturwissenschaftliche, historische, kunsthistorische etc.) Diskussionen befruchten, die sich oft zu wenig differenziert auf Landschaft im Allgemeinen beziehen und kaum die aktuelle ›ökologische Reduktion‹ von Wildnis im Blickfeld haben (können). Die aktuelle Diskussion in Naturschutz und Landschaftsplanung über Wildnis soll dem kulturwissenschaftlichen Fachdiskurs damit überhaupt erschlossen werden. Für die Disziplin Landschaftsplanung besteht der wissenschaftliche Ertrag der Arbeit nicht nur darin, die in der Planung derzeit so wichtig gewordene Wildnisidee sowie den diesbezüglichen Diskurs zu analysieren, sondern auch, die bislang nur wenig beachtete kulturwissenschaftliche Perspektive für die Landschaftsplanung im Allgemeinen weiter zu erschließen. Die Arbeit begreift sich nicht zuletzt als Teil der aktuellen wissenschaftlichen Renaissance von Cassirers Kultur- und Raumtheorie. Der hier unternommene Versuch, Wildnisauffassungen im aktuellen Diskurs mit Cassirer’schen Raumformungen zu differenzieren, bringt nicht nur die Wiederentdeckung dieser bedeutenden Theorie voran, sondern interpretiert sie weiter und konkretisiert ihre Anwendung im Kontext der Landschaftsplanung. Die Erklärungskraft der Cassirer’schen Theorie für Landschaft und sonstige Raumauffassungen habe ich differenziert untersucht und bestätigt. Für eine kulturwissenschaftliche Erforschung bestimmter Regionen – wie etwa den Bayerischen Wald oder das Val Grande – auf ihre Bedeutung ›Wildnis‹ nach dem zu Anfang (Kapitel 1.5) erläuterten ›Leipziger Ansatz‹ werden mit der Charakterisierung unterschiedlicher Wildnisvorstellungen notwendige Vorarbeiten geleistet. Bestehende Forschungen unterschiedlicher Disziplinen zum Thema ›Wildnis‹ (siehe Kapitel 1.5) ergänzt die vorliegende Arbeit insbesondere in folgenden Aspekten: Die gesellschaftliche Pluralität an Wildnisvorstellungen wird in ihrer Mannigfaltigkeit in die Analyse einbezogen. Weder werden bestimmte Bedeutungen von Wildnis als systematisch unzulässige Vermischungen beurteilt (und daher nicht näher beachtet), noch wird Wildnis reduziert auf eine eindimensionale Definition. Der Ansatz der Arbeit ist vielmehr ein für die aktuellen mitteleuropäischen Diskurse um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ umfassender Ansatz, der nicht nur einen sehr speziellen Diskursstrang oder eine auf ein Gebiet begrenzte Diskussion zum Gegenstand hat. Daher werden mit den drei Wildnisbegriffen sehr unterschiedliche gesellschaftliche Deutungsmuster charakterisiert,

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wobei vor allem folgende Aspekte zentral sind: Im Begriff ›unbekannte Wildnis‹ werden unmittelbare emotionale Auffassungen von Raum als Wildnis, mythisch auf transzendentale Sinngehalte verweisend, als typische, moderne Formungen verständlich gemacht. In ›Ökosystem-Wildnis‹ werden das alltagsweltliche Verständnis naturwissenschaftlich-theoretischer Erklärungen und ihre Verknüpfung mit emotionalen Raumauffassungen dargelegt. Die Wahrnehmung ›bestimmter Wildnis‹ individuell ästhetisch als Landschaft – als Entdeckung einer bestimmten visuellen Gestalt und Struktur – wird als eine weitere wesentliche Vorstellung im aktuellen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ identifiziert. Dieses Ergebnis steht in gewisser Hinsicht im Widerspruch zum eingangs dargestellten Ansatz der Landschaftsforscher Thomas Kirchhoff und Ludwig Trepl in der Veröffentlichung von 2009 (Kapitel 1.5). Diese grenzen drei Naturbegriffe voneinander ab (Natur als Landschaft, als Wildnis und als Ökosystem), indem sie davon ausgehen, dass sie auf unterschiedlichen Urteilen über Natur basieren. Dabei formulieren sie die These, dass Wildnis sich als moralisch beurteilte Natur auszeichnet – auch, wenn sekundär ein ästhetisches Wildnisverständnis (erhabene wilde Natur) im Mittelpunkt steht. Die ästhetische Wildnisauffassung differenziert mit Cassirers Raumtheorie erweist sich dagegen wesentlich als visuell und nicht moralisch. Vor allem in der romantischen Lesart konnte ich zeigen, wie die Gefühlsästhetik (etwa das Erlebnis von Erhabenheit in einer wilden Landschaft) die moralisch-vernünftige Bestimmung vergessen lassen kann, um sich dem Schauerlichen und Unergründlichen hinzugeben. Für die Landschaftsplanung möchte die Arbeit einen systematischen Beitrag zur Methodik und Begründungstheorie in Bezug auf die Aufgabe leisten, mit Naturschutz und Landschaftspflege den gesellschaftlichen Bedürfnissen nach Wahrnehmung und Erlebnis von Natur und Landschaft nachzukommen. Sie trägt damit zur Professionalisierung dieser Aufgabe bei, wie sie das eingangs genannte Autorenkollektiv der Universitäten Kassel und Freiburg um Gerd Rosenthal fordert (siehe Kapitel 1.5). Die drei Wildnisbegriffe – ›unbekannte Wildnis‹ als das nicht genauer bestimmbare Draußen, ›bestimmte Wildnis‹ als als individuell wahrgenommene wilde Landschaft und ›Ökosystem-Wildnis‹ als naturkundlich begriffene Einheit von Lebensgemeinschaften und ihrer Umwelt, die als sich dynamisch veränderndes Funktionssystem betrachtet wird, – lassen entscheidende Perspektiven im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ erkennen und ermöglichen es, sie in unterschiedliche kulturelle Bedeutungskontexte einzuordnen. Für die Praxis von Landschaftsplanung und Naturschutz ist diese theoretische Strukturierung relevant, weil erst nach dieser Explikation grundlegender Sinngebungen in ihrer Unterschiedlichkeit das missverständliche Konglomerat

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an Wildnisvorstellungen und die Konfliktpositionen um bestimmte Gebiete in Mitteleuropa als Wildnis plausibel und verhandelbar werden. Damit wird es möglich, im aktuellen Naturschutzdiskurs bei einem wichtigen Thema weniger ›aneinander vorbei zu reden‹. Die vorliegende Arbeit nimmt bewusst keine Bewertung verschiedener Vorstellungen von Wildnis – oder der Gegenden, denen man eine Bedeutung als Wildnis zuschreibt – vor, sondern möchte Grundlagen zur Verbesserung solcher Beurteilungen liefern. Dies ist von Nutzen für die Landschafts- und Naturschutzplanung, die sich auf Wildnis bezieht, denn diese muss, um nicht an den Bedürfnissen der Menschen vorbeizuplanen, zunächst die Bedürfnisse und Sinnzuweisungen begreifen, die sich im gesellschaftlichen Diskurs am konkreten Gebiet zeigen. Zudem müssen in einer Demokratie Leitideen und Maßnahmen derartiger Planung dem Anspruch intersubjektiver Nachvollziehbarkeit genügen, weil sie die Öffentlichkeit betreffen – im Gegensatz etwa zum öffentlichen Kunstwerk, das subjektive Empfindungen zur Diskussion stellt. Der aktuelle Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ anhand von Bildern, in konkreten Gebieten und über Mitteleuropa hinaus – Ausblick auf weiteren Forschungsbedarf Als Forschungsdesiderate, die sich an die vorliegende Arbeit anschließen, möchte ich drei Themenrichtungen herausgreifen: In dieser Arbeit wurde textliches Material zum aktuellen mitteleuropäischen Diskurs um die Naturschutzidee ›Wildnis‹ umfangreich gesammelt und exemplarisch analysiert, bildliches diente nur zur Illustration und zur Diskursanalyse der ästhetischen Formung. Diese Untersuchung könnte ergänzt werden um eine ausführliche, kunstwissenschaftliche Sammlung und Analyse von Bilderzeugnissen aus dem aktuellen Wildnisdiskurs, wie Gemälde, Fotografien, Titelblatt- und Internetseitengestaltungen etc. Dieses zusätzliche Material erscheint insbesondere in der zunehmend von visuellen Medien geprägten Gesellschaft erkenntnisreich. Die Begriffe ›unbekannte Wildnis‹, ›bestimmte Wildnis‹ und ›ÖkosystemWildnis‹ könnten damit geprüft, verdeutlicht und ergänzt werden. Mit den drei hier entwickelten Wildnisbegriffen können gesellschaftliche Diskussionen um die Bedeutung ›Wildnis‹ bestimmter mitteleuropäischer Gegenden analysiert werden, wie aktuell etwa in Bayern Regionen, für die eine Neuausweisung als Nationalpark geprüft wird. Ergebnis wären (kultur-)wissenschaftlich fundierte gutachterliche Grundlagen für diese Ausweisungsplanungen, auf die etwa auch sozialempirische Untersuchungen der gesellschaftlichen Auffassungen dieser Regionen aufbauen könnten. Des Weiteren erscheint es lohnend, die Untersuchungen in der vorliegenden Arbeit zu ergänzen um die Naturschutzidee ›Wilderness‹, wie sie im internatio-

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nalen Diskurs verhandelt und auf regionale Diskurse übertragen wird. Mit Forschungsarbeiten in diesen anschließenden Themen lassen sich gegebenenfalls noch weitere, spezielle Wildnisbegriffe identifizieren, gleichwohl können die drei Wildnisbegriffe – ›unbekannte Wildnis‹, ›bestimmte Wildnis‹ und Ökosystem-Wildnis‹ – um zusätzliche Facetten angereichert und kann ihre Erklärungskraft so weiterentwickelt werden.

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6.1 ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Foto mit besonderen Farb- und Lichtspielen der Landschaft im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer auf der Internetseite des Projekts ›Wildniskommunikation in Deutschland‹ der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt von 1858 e. V. unter der Rubrik ›Wilde Schönheiten – Gebiete auf dem Weg zur Wildnis‹ (Schweiger & Ziesche 2017), Foto: © Martin Stock 2011, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 2: Künstlerische Darstellung der chaotischen Strukturen eines Windbruches im Bayerischen Wald des Malers Reinhold Koeppel von 1927, mit freundlicher Genehmigung der Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald. Abbildung 3: Ästhetik der Wildnis ist aktuell Thema in der Landschaftsarchitektur. Foto: ›Park am Gleisdreieck‹ in Berlin, © AnneLiWest|Berlin 2014, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 4: Illustration zur Analyse der Wahrnhemung des alpinen Wildnisgebiets Val Grande der Auorengruppe um Sebastian Schwab: Blick in den Nationalpark Val Grande, der als ›einsam, wild und romantisch‹ und als eine Landschaft mit besonderen Farben beschrieben wird, Foto: © Sebastian Schwab 2010, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 5: ›Grenzenlose Waldwildnis‹, Informationsblatt des Nationalparks Bayerischer Wald (Landkreis Freyung-Grafenau et al. 2010), © Nationalpark Bayerischer Wald 2009, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 6: ›Wildnis-Trail‹, Informationsblatt des Nationalparks Eifel, der mit den Schlagworten ›Wald Wasser Wildnis‹ charakterisiert wird (Lammertz 2014), © Nationalpark Eifel 2014, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 7: ›EINE SPUR WILDER‹, Informationsblatt des Nationalparks Schwarzwald, © Charly Ebel/Nationalpark Schwarzwald, mit freundlicher Genehmigung.

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Abbildung 8: ›Faszination Wildnis im Reich der urigen Buchen‹, Imageflyer des Nationalparks Kellerwald-Edersee (Nationalpark Kellerwald-Edersee 2016), © Nationalpark Kellerwald-Edersee, Foto: Manfred Delpho, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 9: ›Abenteuer WaldWildnis‹, Ausschnitt aus der Internetseite des Nationalparks Kalkalpen (Mayrhofer 2017), © Nationalpark Kalkalpen, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 10: Foto mit Blick vom Lusen verwendet mit der Bildunterschrift ›Waldwoge steht hinter Waldwoge…‹ auf der Startseite des Internetangebots zum Nationalpark Bayerischer Wald unter der Rubrik ›Willkommen im Nationalpark Bayerischer Wald‹ (Leibl 2017), Foto: © Reinhard Saiko, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 11: Todtnauer Wasserfall; Foto von Norbert Rosing, das in der Ausgabe ›Wildes Deutschland‹ der Zeitschrift ›National Geographic‹ verwendet wurde (Brunner 2012: 85), Foto: © Norbert Rosing, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 12: Schrammstein in der Sächsischen Schweiz; Foto von Norbert Rosing, das in der Ausgabe ›Wildes Deutschland‹ der Zeitschrift ›National Geographic‹ verwendet wurde (Brunner 2012, 43), Foto: © Norbert Rosing, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 13: Kiefer an der Bastei, Sächsische Schweiz; Foto von Norbert Rosing, das als Titelbild der Ausgabe ›Wildes Deutschland‹ der Zeitschrift ›National Geographic‹ verwendet wurde (Brunner 2012), Foto: © Norbert Rosing, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 14: Foto des ›Steinernen Meeres‹ im Nationalpark Berchtesgaden auf der Internetseite zum Projekt ›Wildniskommunikation in Deutschland‹ der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt von 1858 e. V. unter der Rubrik ›Wilde Schönheiten – Gebiete auf dem Weg zur Wildnis‹ (Schweiger & Ziesche 2017), Foto: © Nationalpark Berchtesgaden, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 15: Die Nahaufnahme eine Hochmoorvegetation dient mit naturkundlicher Erläuterung der Darstellung von ›Wildnis in Schleswig-Holstein‹ (Thiessen 2011), Foto: © Henning Thiessen, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 16: Makroaufnahme einer Flechte aus der Fotosammlung des Projektes ›Wildniskommunikation in Deutschland‹ mit dem Fotonamen ›Lichens im Nationalpark Bayerischer Wald‹ und der Bildunterschrift ›Wildnis darf wieder wachsen, © wildnis-in-deutschland.de, Daniel Rosengren, ZGF, mit freundlicher Genehmigung.

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Abbildung 17: Altholz mit Baumschwamm als Titelblatt zu ›Wildnis in deutschen Nationalparks‹ (EUROPARC Deutschland 2010b), © EUROPARC Deutschland e. V., mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 18: Faszinierende, offene Fläche im ›Wildnisgebiet Heidehof‹, © Stiftung Naturlandschaften Brandenburg, Foto: Andreas Schulze, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 19: Sinnlich ansprechende Heideblüte in ›Wildnisgebiet Jüterbog‹, © Stiftung Naturlandschaften Brandenburg, Foto: Andreas Hauffe, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 20: Foto ›Der Wildnispfad in Lieberose‹ auf der Internetseite der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg unter der Rubrik ›Wildnisgebiete‹, ›Galerie Lieberose‹ (Meckelmann 2017), Foto: © Stiftung Naturlandschaften Brandenburg, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 21: ›Der Wildnispfad‹, Flyer der Nationalparkverwaltung Schwarzwald (Nationalpark Schwarzwald 2016), © qu-int.gmbh/Nationalpark Schwarzwald, mit freundlicher Genehmigung. Abbildung 22: Waldwildnis ästhetisch als Landschaft dargestellt (›bestimmte Wildnis‹); Foto mit Sonnenaufgang am Steinfleckberg (nordöstliches Lusengebiet), verwendet auf der Startseite des Internetangebots zum Nationalpark Bayerischer Wald unter der Rubrik ›Willkommen im Nationalpark Bayerischer Wald‹ (Leibl 2017), Foto: © Rainer Simonis, mit freundlicher Genehmigung

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Veronika Selbach, Klaus Zehner (Hg.)

London – Geographien einer Global City 2016, 246 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2920-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2920-4

Antje Schlottmann, Judith Miggelbrink (Hg.)

Visuelle Geographien Zur Produktion, Aneignung und Vermittlung von RaumBildern 2015, 300 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2720-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2720-0

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Geographie Christine Scherzinger

Berlin – Visionen einer zukünftigen Urbanität Über Kunst, Kreativität und alternative Stadtgestaltung 2017, 350 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3717-5 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3717-9

Nicolai Scherle

Kulturelle Geographien der Vielfalt Von der Macht der Differenzen zu einer Logik der Diversität 2016, 296 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3146-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3146-7

Raphael Schwegmann

Nacht-Orte Eine kulturelle Geographie der Ökonomie 2016, 180 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3256-9 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3256-3

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